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German Pages 909 Year 2018
Martin Buber Werkausgabe Im Auftrag der Philosophischen Fakultät der Heinrich Heine Universität Düsseldorf und der Israel Academy of Sciences and Humanities herausgegeben von Paul Mendes-Flohr und Bernd Witte
Gütersloher Verlagshaus
Martin Buber Werkausgabe 12 Schriften zu Philosophie und Religion Herausgegeben und eingeleitet von Ashraf Noor Kommentiert von Ashraf Noor und Kerstin Schreck
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1. Auflage Copyright © 2017 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der © Verlagsgruppe Random House GmbH, Copyright 2017 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, Neumarkter Straße 28, 81673 München in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
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Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Religion als Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Religion als Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Die religiöse Welterfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Die Bedeutung göttlicher Offenbarung in der allgemeinen Religionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Nach dem Tod. Antwort auf eine Rundfrage . . . . . . . . . . . . 189 Die Tränen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
Philon und Cohen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
Religion und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Was soll mit den zehn Geboten geschehen? . . . . . . . . . . . . . 205 In jüngeren Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 [Metanthropological Crisis] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Früchte eines Gedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Zu Bergsons Begriff der Intuition . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 [Rezension zu] Hugo Bergmann: Wissenschaft und Glaube . . . . 219 Das Problem des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Erster Teil Der Weg des Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
. . . . . . . . . . . . . . . . 224 Zweiter Abschnitt / Von Aristoteles bis Kant . . . . . . . . . . . . 231 Erster Abschnitt / Die Fragen Kants
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Inhalt
. . . . . . . . . . . . . . . . 242 Vierter Abschnitt / Feuerbach und Nietzsche . . . . . . . . . . . . 251 Dritter Abschnitt / Hegel und Marx
Zweiter Teil Die Versuche unserer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Erster Abschnitt / Die Krise und ihr Ausdruck . . . . . . . . . . . 264
. . . . . . . . . . . . . 271 . . . . . . . . . . . . . . . 289 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
Zweiter Abschnitt / Die Lehre Heideggers Dritter Abschnitt / Die Lehre Schelers Vierter Abschnitt / Ausblick
Zur Situation der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 . . . . . . . . . . . . . . .
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315 316 319 320 327 331 335 336 340 343 344 347 349 353 356
. . . . Die Liebe zu Gott und die Gottesidee . Religion und modernes Denken . . . Religion und Ethik . . . . . . . . . .
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359 361 366 375 389 399 421
Bilder von Gut und Böse . . . . . . Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . Erster Teil . . . . . . . . . . . . . . I. Der Baum der Erkenntnis . . II. Kain . . . . . . . . . . . . . III. Einbildung und Trieb . . . . . Zweiter Teil . . . . . . . . . . . . . . I. Die Urprinzipien . . . . . . . II. Die Lüge am Sein . . . . . . . Dritter Teil . . . . . . . . . . . . . . I. Wahrheit der Mythen . . . . . II. Unser Ausgangspunkt . . . . III. Das erste Stadium . . . . . . IV. Das zweite Stadium . . . . . . V. Das Böse und das Gute . . . .
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Gottesfinsternis . . . . . . . . . Vorspruch . . . . . . . . . . . Religion und Realität . . . . . Religion und Philosophie . . .
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Inhalt
. . . . . . . . . . . . . . . . 433 Gott und der Menschengeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Anhang: Replik auf eine Entgegnung C. G. Jungs . . . . . . . . . . 442 Von einer Suspension des Ethischen
Zwischen Religion und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Der Mensch und sein Gebild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Rosenzweig und die Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Gläubiger Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Fragmente über Offenbarung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
Aus: Philosophical Interrogations . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 Über Leo Schestow (1964) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542
Kommentar Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 Diakritische Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 Einzelkommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 858 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 862 Glossar
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 879 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881 Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887
Gesamtaufriss der Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 910
Vorbemerkung Der vorliegende Band ist der elfte, der nach der Übernahme der Arbeit an der Martin Buber Werkausgabe durch die Heinrich Heine Universität Düsseldorf publiziert werden kann. Er ist nach den neuen Editionskriterien gestaltet, wie sie erstmals in Band 9 der MBW angewandt und im vorliegenden Band in der Editorischen Notiz als Einleitung zum Kommentar erörtert werden. Dieser Band versammelt die Schriften Martin Bubers, die im Grenzbereich von Religion und Philosophie zu verorten sind und das Verhältnis beider Sphären zu reflektieren versuchen. Eingeleitet wird der Band von der umfangreichen, zu Lebzeiten Bubers unpublizierten Vorlesungsreihe Religion als Gegenwart, die eine Vorstufe von Ich und Du (1923) darstellt und zu Beginn des Jahres 1922 im Freien Jüdischen Lehrhaus gehalten wurde. Zentrale Motive, die Buber in späteren Arbeiten zu Problemen der Philosophie entwickeln sollte, klingen hier bereits an. Neben weiteren bislang unveröffentlichten Archivmaterialien, die Vorträge Bubers aus den zwanziger Jahren wiedergeben, sowie kleineren Aufsätzen, die Gelegenheitsarbeiten zu Tagesproblemen der zeitgenössischen Philosophie darstellen, enthält dieser Band der Werkausgabe Bubers umfangreiche Arbeiten Das Problem des Menschen (1948), Bilder von Gut und Böse (1952), sowie Gottesfinsternis (1953). In diesen Schriften führt Buber seine wohl intensivste Auseinandersetzung mit der Krisis der modernen Philosophie, wie sie im Angesicht der Katastrophen des Zweiten Weltkriegs und der Shoa sich darstellte. Zentrale Bedeutung gewinnen darin die Reflexionen zu einer religiös begründeten philosophischen Anthropologie des Menschen, deren Problematik Buber eher umreißt, statt eine systematische Lehre zu entwickeln. Mit Der Mensch und sein Gebild (1955) indes skizziert Buber prägnant und in höchster Verdichtung eine ästhetische Theorie auf dem Hintergrund der religiösen dialogischen Beziehung des Menschen. Der Band schließt ab mit den beiden umfangreichen Dialogen, in die Buber gegen Ende seines Lebens mit seinen Verehrern und Kritikern eintrat. Die »Antwort«, die Buber für den Sammelband diverser Kritiken aus der Reihe Philosophen des Zwanzigsten Jahrhunderts verfasste, wird in diesem Band gänzlich abgedruckt. Einzelne Abschnitte daraus – jener »Zur Bibel-Interpretation« wie der »Zur Darstellung des Chassidismus« – erscheinen im Rahmen der Werkausgabe auch gesondert in MBW 13 bzw. MBW 17, da diese Abschnitte teils eine eigene Textgeschichte besitzen, teils thematisch für diese Bände von großer Relevanz sind. Den
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Vorbemerkung
Herausgebern erschien es jedoch geboten, den Text an einer Stelle der Werkausgabe in seiner umfassenden Komposition wiederzugeben. Eine detailliertere Kommentierung der fraglichen Abschnitte erfolgt allerdings in den Bänden MBW 13 und 17. Die Philosophical Interrogations Bubers werden in ihrer englischen Druckfassung wiedergegeben. Die deutschen Typoskriptfassungen von Bubers Antworten, die sich im Martin Buber Archiv erhalten haben, werden im Kommentarteil zu diesem Text abgedruckt. * Die Israel Academy of Sciences and Humanities, deren erster Präsident Martin Buber war, hat im Jahre 2012 die Arbeit an der Werkausgabe als ein »highly important project« anerkannt und fördert sie seitdem mit einem jährlichen Beitrag. Ein Projekt wie diese Werkausgabe wäre ohne eine großzügige finanzielle Förderung nicht möglich. Wir danken insbesondere der Friede Springer Stiftung für die spezielle Förderung des Herausgebers dieses Bandes. Des Weiteren danken wir dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Gerda Henkel Stiftung für ihre nachhaltige Unterstützung des Gesamtprojekts der Martin Buber Werkausgabe. Nicht zuletzt sei der Heinrich Heine Universität Düsseldorf gedankt, die das Projekt logistisch und administrativ betreut. Düsseldorf, im Juni 2017
Paul Mendes-Flohr, Bernd Witte
Dank Paul Mendes-Flohr, der mich dazu einlud, den vorliegenden Band 12 der Martin Buber Werkausgabe herauszugeben, danke ich für sein Vertrauen. Meine Arbeit an Bubers Schriften zu Philosophie und Religion bildet die Fortsetzung des Gesprächs mit Paul über deutsch-jüdisches Denken, das 1994 am Franz Rosenzweig-Forschungszentrum in Jerusalem begann und seither durch unsere gemeinsamen wissenschaftlichen Projekte dort, unsere Begründung der Zeitschrift Naharaim und der Buchreihe Makom, die Organisation von Tagungen sowie die Teilnahme an einem Sonderforschungsbereich mit der Universität Bonn bereichert wurde. Die Freundschaft mit Rita und Paul Mendes-Flohr gehört zu meinen wichtigsten Jerusalemer Erfahrungen. Dafür danke ich herzlich. Bernd Witte, der Leiter der Martin Buber-Arbeitsstelle an der Universität Düsseldorf, seine Mitarbeiter Simone Pöpl und Arne Taube haben meine Tätigkeit als Herausgeber sachkundig und mit großer Umsicht begleitet. Kerstin Schreck hat wichtige, intensive Forschung benötigende Teile des Kommentars mit Sorgfalt erstellt. Caterina Rosato und Tim Willmann haben gewissenhaft zum Korrekturlesen beigetragen und die verschiedenen Textzeugen verglichen. Nicht zuletzt hat Karin Neuburger mit ihren Übersetzungen aus dem Hebräischen einen bedeutenden Beitrag zum Textbestand des Bandes geleistet. Ihnen allen gilt mein Dank. Die Arbeit an diesem Band habe ich in London, Zürich, Leipzig und Jerusalem durchgeführt. Den BibliothekarInnen der British Library, der Zentralbibliothek Zürich, der Albertina Leipzig sowie Grit Scheffer vom Dubnow-Institut Leipzig bin ich für ihre Hilfeleistungen angenehm verpflichtet. Yvonne Domhardt und Kerstin Paul haben mich in der Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, die Schätze des Breslauer Rabbinerseminars enthält, freundlich unterstützt. Im schönen, ruhigen Lesesaal der Museumsgesellschaft Zürich hat Beatrice Mascarhinhos meine Arbeit sachlich gefördert. Ich freue mich, ihnen danken zu können. Der Leiter der Zürich James Joyce Foundation, Fritz Senn, sowie deren Kuratorinnen, Ruth Frehner und Ursula Zeller, haben mir großzügige intellektuelle Gastlichkeit erwiesen und die Fertigstellung dieses Bandes in einer unvergleichlichen Umgebung ermöglicht. Ihre Leidenschaft für die Literatur und ihr Interesse für jüdisches Denken haben mir viel bedeutet, wofür ich mich gerne bedanke. Jeremy Hellmann und Kati Maltry haben mir in Zürich auf verschiedenste Weise geholfen. Ich erkenne ihre Offenheit mit großer Dankbar-
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Dank
keit an. Liliane Klapisch und Raffi Kaiser (Paris) haben mich in wichtigen Augenblicken unterstützt. Ihnen danke ich in Freundschaft. Caroline und Rudolf Weber (Zollikon) haben durch ihre anregenden Gespräche und ihre Gastfreundschaft meine Arbeit in jeder Hinsicht erleichtert. Ich bedanke mich herzlich dafür. Lilian Tomkins Noor (London) und André Noor (Lissabon) haben mich in meiner Befassung mit dem deutsch-jüdischen Denken bedingungslos gefördert. Ich danke ihnen innig. Strauhof, Zürich, im September 2017
Ashraf Noor
Einleitung 1. Philosophische Anthropologie und Philosophie der Religion Der vorliegende Band 12 der Martin Buber Werkausgabe enthält Schriften zur Philosophie und zur Religion aus der Zeit von 1922 bis 1964. Die Transkription einer Reihe von Vorträgen, die Buber unter dem Titel Religion als Gegenwart am Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt im Frühjahr 1922 hielt, ist der früheste hier wiedergegebene Text. Er stammt aus der Periode, in der Buber an seinem dialogphilosophischen Hauptwerk Ich und Du (1923) arbeitete, enthält Ansätze, die diesem entsprechen, weicht aber auch in wichtigen Aspekten von ihm ab. 1 Die weiteren Schriften in diesem Band stammen aus den Jahren nach der Veröffentlichung von Ich und Du und reichen bis kurz vor Bubers Tod. Band 12 enthält Schriften, die den philosophischen, philosophiegeschichtlichen und religionsphilosophischen Rahmen zu den zentralen dialogphilosophischen Texten bilden, die gesondert im vierten Band der Werkausgabe abgedruckt werden. Dieser Rahmen besteht einerseits aus Gedankengängen, die um den Beginn der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts bei Bubers Konzipierung der dialogischen Philosophie mitwirkten und teilweise über deren erste ausführliche veröffentlichte Fassung in Ich und Du hinausgingen, andererseits aus solchen, die im Zug der Weiterentfaltung dieser Philosophie deren Vergleich bzw. Konfrontation mit anderen Positionen in der Geistesgeschichte vollzogen und kommentierten. Hier nehmen die Bücher Das Problem des Menschen (Hebr. 1942, Engl. 1947, Dt. 1948), Gottesfinsternis (Engl. 1952, Dt. 1953, Hebr. 1962) und Bilder von Gut und Böse (Dt. 1952, Engl. 1953, Hebr. 1962) jeweils eine wichtige Stelle ein. Bei einer Vielzahl der in diesem Band versammelten Schriften wird 1.
Im Nachwort »Zur Geschichte des dialogischen Prinzips« zu seinem Buch Das dialogische Prinzip schreibt Buber, er habe im Kolleg über »Religion und Gegenwart« im Januar und Februar 1922 »den Gedankengang« von Ich und Du vorgetragen, das Buch selbst im Frühling 1922 abgeschlossen (vgl. Martin Buber, Das Dialogische Prinzip, Heidelberg: Lambert Schneider 1962, S. 308). In seiner Nachbemerkung zur 1. Auflage von Ich und Du schrieb Buber, er habe 1916 das Werk, aus dem Ich und Du ein Teil bilden sollte, entworfen, im Herbst 1919 die erste Fassung von Ich und Du geschrieben und im Frühling 1922 dieses Buch beendet. Rivka Horwitz (1926–2007) bietet in ihrem Buch Buber’s Way to I and Thou. An Historical Analysis and the First Publication of Martin Buber’s Lectures »Religion als Gegenwart«, Heidelberg 1978 eine ausführliche Erörterung der Zusammenhänge, in denen das Kolleg und das Buch entstanden, sowie eine systematische Gegenüberstellung der von Buber jeweils in ihnen formulierten Ideen.
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Einleitung
das Verhältnis der Philosophie zur Religion thematisiert, entweder ausdrücklich wie in der Vorlesungsreihe Religion als Gegenwart, im Vortrag »Religion und Philosophie« (1929) und im Buch Gottesfinsternis oder als Teil einer Reflexion über die Kunst im Artikel »Der Mensch und sein Gebild« (1955) bzw. den Mythos im Werk Bilder von Gut und Böse. Buber wehrt sich allerdings gegen die Auffassung seiner Gedanken als »Lehre« oder »System«: »Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas.« 2 Doch bedeutet dies nicht, dass die Weise dieses seines Zeigens der Ratio verschlossen ist. Es geht ihm vielmehr darum, die in der Erfahrung, von der sein Schreiben zeugt, enthaltene Ratio nachvollziehen zu lassen. Eine Reihe von Texten, die im zuletzt zitierten gipfeln, widmet sich der spezifischen Form, die der philosophische Gedankenvollzug, der für religiöse Erfahrung offen ist, annimmt. Buber weist der Philosophie eine »logisierende« Rolle bei der Bearbeitung von religiöser Erfahrung zu, betont aber, man müsse stets in Betracht ziehen, dass diese Rolle eine Grenze habe. Die Erfahrung, aus der die Beziehung zu Gott bestehe, zeige nämlich auf eine »Wirklichkeit«. Buber verwehrt es der philosophischen Vernunft, sich als Kriterium für diese Wirklichkeit aufzustellen. Es obliege ihr vielmehr, jener Erfahrung »treu« zu sein. Diesen Gedanken fasst Buber in seinen frühen Werken zum Chassidismus 3 unter dem Wort »Bewährung« zusammen. In seiner späten Schrift Zwei Glaubensweisen aus dem Jahr 1950 unterscheidet er zwischen zwei Bedeutungen zweier Verben, die jeweils Formen von emuna (hebr.: »Treue«) enthalten: haaminu (hebr.: »vertrauet«) und teamenu (hebr.: »ihr bleibet betreut«). Buber weist darauf hin, dass diese beiden hebräischen Bedeutungen auf eine ursprüngliche Bedeutung, die »standhalten« beinhaltet, zurückgehen. Zentral ist hier die Einsicht, die Buber mit dem folgenden Wort ausdrückt: »Die wahre Beständigkeit der Grundlagen eines menschlichen Daseins kommt von der wahren
2. 3.
Martin Buber, Antwort, in: Martin Buber. Philosophen des XX. Jahrhunderts, hrsg. v. Arthur Schilpp u. Maurice Friedman, Stuttgart: W. Kohlhammer 1963, S. 589-639, hier S. 593; jetzt in diesem Band, S. 467-524, hier S. 471. Zum Verhältnis zwischen Bubers Besinnung auf den Chassidismus und der Entwicklung seiner Gedanken zur Religionsphilosophie, spezifisch zur Dialogik, ist Michael Theunissens (1932-2015) Bemerkung zutreffend: »Die Frage, ob Buber im Umgang mit der chassidischen Lehre auf das dialogische Prinzip gestoßen ist oder den Chassidismus nicht vielmehr schon im Horizont des dialogischen Prinzips gesehen hat, […] ist […] nicht im Sinne eines einfachen Entweder-Oder zu beantworten.« Michael Theunissen, Der Andere: Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1977 [1965], S. 253.
Philosophische Anthropologie und Philosophie der Religion
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Beständigkeit im Grundverhältnis dieses Menschen zu der sein Sein stiftenden Macht.« 4 Zwei Aspekte werden von Buber hervorgehoben: »Treue« als aktive und »Vertrauen« als rezeptive Beständigkeit. Obwohl die »Seele« an beiden Anteil habe, deute »Treue« auf einen innerseelischen und »Vertrauen« auf einen darüber hinausweisenden Bestand. Bei beiden, betont er, sei »entscheidend«, dass »Seelenhaltung« zur »Lebenshaltung« werde. Sie gehörten beide zur vollen, reziproken Beziehungswirklichkeit. Im Hinblick auf die im obigen Zitat genannte, zweifach gerichtete, gründende und gegründete, »wahre Beständigkeit« bestimmt Buber, dass der damit zum Ausdruck gelangende »›existenzielle‹ Charakter der Emuna« durch das Wort »Glaube« nicht hinreichend getroffen werde. Um diesen existenziellen Charakter geht es in Bubers philosophischer Anthropologie. Bubers Erkundung der philosophischen Anthropologie, sowohl als Bereich der Philosophie im Allgemeinen als auch im Verhältnis zur Religion, bildet einen zentralen Zug der Schriften dieses Bandes. Es wurde deshalb die Vortragsreihe Religion als Gegenwart aufgenommen, setzt Buber hier doch beim »gegenwärtigen, wirklichen Menschen« an, um die Beziehung zu einem »Du« und zum »absoluten Du«, zu »Gott«, zu erläutern. Er betont diesen Ansatzpunkt in seiner Anrede an die Zuhörer: »Ich meine jeden von Ihnen, ich meine den gegenwärtigen, wirklichen Menschen, der zu sich ›Ich‹ und zu einem anderen, sei es ein Mensch oder ein Stück Natur, ein Wesen oder ein Ding, ein Werk oder eine Tat, ›Du‹ sagt.« 5 Noch fast vierzig Jahre später sollte Buber die maßgebliche Rolle betonen, die der philosophischen Anthropologie in seinem Denken zukommt, um das Verhältnis von Philosophie und Religion zu verankern. Wenn er in der »Antwort« auf seine Kritiker schreibt, dass er keine »theologische Anthropologie«, sondern nur eine philosophische kenne 6 , bedeutet das, dass er von der Erfahrung des Menschen Gott gegenüber ausgeht. Will Buber »das Faktum Mensch« erklären, so gehört zu diesem Faktum, dass der Mensch »Gott gegenüber lebt«. Auf eine Lehre von Gott, eine Theologie, kann er jedoch für die Erklärung dieses Verhältnisses nicht zurückgreifen. Buber schreibt: »ich kann Gott selber an keinem Punkte in meine Erklärung einbeziehen« 7 . Die »Glaubenserfahrung« bildet die Gewähr für die jeder prä-
4. 5. 6. 7.
Martin Buber, Zwei Glaubensweisen, Zürich: Manesse Verlag 1950, S. 27; jetzt in: MBW 9, S. 216. Martin Buber, Religion als Gegenwart, jetzt in diesem Band, S. 127. Buber, Antwort, S. 590; jetzt in diesem Band, S. 468. Ebd.
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Einleitung
sumtiven Theologie gegenüber behauptete »Selbständigkeit meines Denkens« 8 . Die Positionen, mit denen sich Buber in seiner späteren philosophischen Anthropologie kritisch befasst, werden zum einen von zentralen Denkern der abendländischen philosophischen Tradition wie Augustinus von Hippo (354-430), Immanuel Kant (1724-1804), G. W. F. Hegel (1770-1831) und Karl Marx (1818-1883) oder der fern- bzw. nahöstlichen Religion repräsentiert. Zum anderen sind es Bubers Lehrer Wilhelm Dilthey (1833-1911), den er als Begründer der Geschichte der philosophischen Anthropologie betrachtet, und dessen Schüler, Bernhard Groethuysen (1880-1946), die für ihn diese wissenschaftliche Disziplin vertreten. Die zeitgenössische Gestalt der philosophischen Anthropologie erörtert er indessen anhand von Denkern, die die Entstehung und Entwicklung der Phänomenologie maßgeblich prägten, wie Edmund Husserl (1859-1938), Martin Heidegger (1889-1976), Max Scheler (1874-1928) oder Jean-Paul Sartre (1905-1980). Als Ergänzung und Kommentar zu diesen Denkern verweist er auf Philosophen wie Karl Löwith (1897-1973) und Ludwig Landgrebe (1902-1991), die aus der phänomenologischen Bewegung hervorgingen. Spuren einer direkten Beschäftigung mit den Schriften Ernst Cassirers (1874-1945), Arnold Gehlens (1904-1976) 9 oder Helmuth Plessners (1892-1985) zur philosophischen Anthropologie fehlen hingegen. Auf das Werk Johann von Uexkülls (1864-1944) verweist Buber lediglich in der Schrift »Urdistanz und Beziehung« (1950), skizziert dessen Theorie der »Umwelt«, geht aber nicht detailliert darauf ein. Den »Funktionalkreis« des Tiers im Zusammenhang mit der Idee der »Umwelt« kommentiert Buber in seinem im vorliegenden Band enthaltenen Artikel »Der Mensch und sein Gebild« mit Hinweis auf Frederick Jacobus Buytendijk (1887-1974). Da dieser zeitweise in den dreißiger Jahren mit Plessner zusammen forschte und Werke verfasste, ist auf diesem Weg eine Bekanntschaft Bubers mit dessen Gedanken möglich. Im selben Artikel erwähnt Buber Viktor von Weizsäcker (1886-1957), mit dem er zuerst im Kreis Franz Rosenzweigs (1886-1929) und dann bei der Mitherausgabe der Zeitschrift Die Kreatur zusammen mit Joseph Wittig (1879-1949) von 1926 bis 1929 verbunden 8. 9.
Ebd. In einem Brief an Buber vom 27. Juli 1946 schreibt Hans-Joachim Schoeps (19091980) über zwei Vorlesungsreihen, die er gerade vorbereite. Bei der zweiten handele es sich um »die philosophische Anthropologie der Gegenwart als Einführung in die Weltanschauungslehre«. Er führt weiter aus: »Ich stelle alles dar von den Fachphilosophen über die Biologen (Gehlen) bis zu den Medizinern. Natürlich kommen auch Sie in dieser Reihe mit gebührender Achtung vor.« (B III, S. 112.)
Philosophische Anthropologie und Philosophie der Religion
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war. Durch Buytendijk und von Weizsäcker konnte Buber die Art, wie Phänomenologie, Gestaltpsychologie, Physiologie und Biologie in ihren jeweiligen Beiträgen zur Anthropologie zusammenflossen, näher kennenlernen. Die Werke Schelers, die Buber sowohl aus erster Hand als auch vermittelt durch die Schriften Heideggers, Löwiths und Groethuysens kannte, enthalten wichtige Ausführungen zu diesen Zusammenhängen. 10 Buber versteht die philosophische Anthropologie als Untersuchungsart, die an die Ontologie heranführt. Diese Position vertritt er in seinem Artikel »Der Mensch und sein Gebild«, in dem er sich ausdrücklich mit Heideggers 1950 veröffentlichter Textsammlung Holzwege befasst. Dabei wird einerseits eine Nähe zu Heideggers kritischer Destruktion 11 des Subjekts deutlich, während Buber sich andererseits von der aus seiner Sicht durch Heidegger vollzogenen Reduzierung der Idee der Anthropologie distanziert. Diese Distanzierung ging in seinen Büchern Das 10. Vgl. z. B. Max Schelers Erörterungen aus dem Jahr 1913 zum Milieu und zur Umwelt in seinem Buch Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1. Teil, Abschnitt III, Materiale Ethik und Erfolgsethik (Gesammelte Werke Bd. 2, hrsg. von Maria Scheler, Bern 1954, S. 158 ff., besonders S. 174 f.), wo er sich unter anderem mit der Umwelttheorie von Uexkülls befasst. Vgl. Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, hrsg. von Manfred S. Frings, Bern 1973 [1912, 1922, 1926], S. 44; ders., Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: Scheler, Späte Schriften, hrsg. von Manfred Frings, Bern u. München 1976 [1928]. Sowohl Martin Heidegger in Kant und das Problem der Metaphysik (Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 3, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Hermann, Frankfurt [4. Aufl.] 1991, § 37. Die Idee einer philosophischen Anthropologie, S. 208 ff.) als auch Karl Löwith in seiner Habilitationsschrift Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (in: Sämtliche Schriften, Bd. 1, hrsg. von Klaus Stichweh, Stuttgart 1981) aus dem Jahr 1928 beziehen sich in diesem Zusammenhang auf Schelers Werke, beide auf die Schriften Zur Idee des Menschen (1915) und Die Stellung des Menschen im Kosmos, Löwith noch auf Wesen und Formen der Sympathie (2. Aufl. 1923). Grundlegendes zur Kritik der Anthropologie hatte Heidegger in den §§ 9-11, besonders mit Bezug auf Scheler im § 10, von Sein und Zeit (1927) dargelegt. Mit der Umwelttheorie von Uexkülls setzte sich Heidegger in seiner Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit vom Wintersemester 1929/30 auseinander. Gedanken Schelers gehören zum Hintergrund der Untersuchungen Husserls sowohl zur Rolle des Gefühls in der Ethik als auch zur Anthropologie, die er der »mundanen«, im Unterschied zur transzendentalen, Phänomenologie zuordnet. Siehe Edmund Husserl, Les Annotations dans le Formalisme de Max Scheler, hrsg. von Heinz Leonardy, in: Études phénoménologiques, 13-14 (1991), S. 8-57. 11. Das Thema dieser »Destruktion« umriss Heidegger im § 6 von Sein und Zeit. Die dort vorgestellte »Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie« sollte maßgebende Etappen der Seinsauslegung freilegen, indem die »ursprünglichen Erfahrungen« enthüllt werden, aus denen die Grundbestimmungen des Seins hervorgehen. »Leitfaden« dieser Destruktion ist die Seinsfrage. Diese wird ihrerseits am Leitfaden der Problematik der »Temporalität« in ihrer eigentlichen Dimension aufgewiesen.
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Problem des Menschen sowie Gottesfinsternis mit einer Kritik an Heideggers Denken des Seins bzw. der Geschichte einher. Heidegger schreibt in seinem Aufsatz »Die Zeit des Weltbildes«: »Anthropologie ist jene Deutung des Menschen, die im Grunde schon weiß, was der Mensch ist und daher nie fragen kann, wer er sei. Denn mit dieser Frage müßte sie sich selbst als erschüttert und überwunden bekennen. Wie soll dies der Anthropologie zugemutet werden, wo sie doch eigens und nur die nachträgliche Sicherung der Selbstsicherheit des Subjekts zu leisten hat?« 12 Wie im nächsten Abschnitt dieser Einleitung indessen gezeigt wird, hängt für Buber die philosophische Anthropologie gerade mit der Verunsicherung des Menschen im Hinblick auf sein Selbstverständnis zusammen. Sie fragt eben nicht nur nach dem Was, sondern gerade nach dem Wer. Es herrscht eine Kontinuität des Stils und der Thematik zwischen den Texten zur Philosophie und Religion in diesem Band und den Büchern Zwiesprache (1929), Die Frage an den Einzelnen (1936) und der Abhandlung Elemente des Zwischenmenschlichen (1954). Bereits diese sind im Vergleich zu Ich und Du, Daniel (1913) zumal, nüchterner im Sinn der Diskursivität gehalten und weniger der Darstellungsform des Kunstwerks angenähert. Auf die Bemerkung Peter A. Bertoccis (1910-1989) in einer Sammlung kritischer Fragen an sein Werk, es wäre wünschenswert, in seinen Schriften »less of a declarative tone […] and more an expository-explanatory one« 13 anzutreffen, damit man die Begründung von Bubers Positionen gegenüber anderen abwägen könne, antwortet er: »das meiste von dem, was ich nach ›Ich und Du‹ auf diesem Gebiet geschrieben habe, scheint mir gerade einen expository-explanatory Charakter zu besitzen« 14 . Diese Texte sind jedoch nicht nur durch die Form ihrer Diskursivität geeint, sondern auch durch die Art, wie sie auf das sie durchdringende Thema der »Krisis« antworten.
12. Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: ders, Holzwege, in: ders., Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 5, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1977, S. 111 f. 13. Interrogation of Martin Buber, in: Philosophical Interrogations, hrsg. von Sydney u. Beatrice Rome, New York u. Evanston: Harper Torchbooks 1964, S. 13-117, hier S. 54; jetzt in diesem Band, S. 550. 14. Zitiert wird nach der deutschen Fassung des Typoskripts aus dem MBA (Arc. Ms. Var 350 bet 85); jetzt in diesem Band, S. 820-850, hier S. 831.
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2. Krisis Bubers spezifische Erörterung der »Krisis« in Das Problem des Menschen nimmt im zweiten Teil des Buchs ihren Ausgang von Edmund Husserls Gedanken zur »Krisis des europäischen Menschentums« 15 . Dieses Thema ist jedoch Teil einer größeren, immer dringlicheren Problemlage, der sich Bubers Denken philosophisch, philosophiegeschichtlich und religionsgeschichtlich widmet. Er betont, dass die philosophische Frage »Was ist der Mensch?« ihre Radikalität durch die Erfahrung der Krise erhalte. Für diese umfassende Verflechtung der anthropologischen, erkenntnistheoretischen und religionstheoretischen Aspekte der Krise ist Bubers Rückbesinnung auf das Denken Franz Rosenzweigs bedeutsam, über das er 1930 schreibt: »Die Katastrophen der historischen Wirklichkeiten sind oft zugleich Krisen des menschlichen Verhältnisses zur Wirklichkeit. Für die besondere Art, in der unsere Zeit dies erfahren hat, weiß ich kein größeres und deutlicheres Beispiel als das Franz Rosenzweigs.« 16 Buber versteht das Denken, das in Rosenzweigs Buch Der Stern der Erlösung (1921) seinen Niederschlag fand, als »System einer – der gegenwärtigen – Begegnung von Philosophie und Theologie.« 17 Wie Buber weiter ausführt, stehe bei dieser Begegnung, bei der es um Gott, Mensch und Welt gehe, die Überwindung der Krise des menschlichen 15. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, in: Philosophia 1 (1936), S. 77-176. Die in dieser Zeitschrift in Belgrad erschienenen Teile der Krisis-Arbeit sollten durch einen dritten Teil vervollständigt werden. Dieser wurde erst 1954 in der Edition der Krisis im von Walter Biemel (1918-2015) herausgegebenen sechsten Band der Husserliana veröffentlicht: Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, in: Husserliana. Gesammelte Werke Bd. 6, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1954. Heidegger hatte im § 3 von Sein und Zeit die Krisis der Wissenschaften erörtert. Dort galt die in der Krisis sich zeigende Fähigkeit einer Wissenschaft zur Infragestellung von ihren eigenen Voraussetzungen als Ausdruck ihres Niveaus. Mit der »Grundlagenkrisis« der Mathematik anfangend, skizzierte er dieses Thema in der Physik, der Biologie und in den »historischen Geisteswissenschaften«. Im Hinblick auf die Theologie schrieb er: »Die Theologie sucht nach einer ursprünglicheren, aus dem Sinn des Glaubens selbst vorgezeichneten und innerhalb seiner verbleibenden Auslegung des Seins des Menschen zu Gott. Sie beginnt langsam die Einsicht Luthers zu verstehen, daß ihre dogmatische Systematik auf einem ›Fundament‹ ruht, das einem nicht primär glaubenden Fragen entwachsen ist und dessen Begrifflichkeit für die theologische Problematik nicht nur nicht zureicht, sondern sie verdeckt und verzerrt.« Martin Heidegger, Sein und Zeit, in: ders., Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 2, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, S. 13 f. 16. Martin Buber, Franz Rosenzweig, Kant-Studien 4 (1930), S. 517-522, hier S. 517; aufgenommen in: JuJ, S. 819-824, hier S. 819. 17. Ebd.
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Verhältnisses zur Wirklichkeit durch die »Verwirklichung« im Zentrum. In theoretischen Kommentaren zum Chassidismus, die er zwischen 1940 und 1943 verfasste, also zur Zeit, in der er Das Problem des Menschen auf Hebräisch ausarbeitete und veröffentlichte, ist die Perspektive der Krisis in religionsgeschichtlicher bzw. religionsphilosophischer Hinsicht für ihn von großer Wichtigkeit. So bestimmt er in seiner Darstellung der religionsgeschichtlichen Situation, auf die der Chassidismus reagierte: »Die sabbatianisch-frankistische Krisis war vor allem andern eine Krisis der Lehre.« 18 In religionsphilosophischer Hinsicht konstatiert er bei seiner Besprechung des Phänomens, das er »sakramentale Existenz« nennt, im Zusammenhang der »Auswahl […] der Methoden und der günstigen Stunden« (anstatt der »Gegenstände und Tätigkeiten«), die der »primitive« Mensch als »Pansakramentalist« trifft: »Die Krisis alles primitiven Menschentums ist die Entdeckung des grundsätzlich Nichtheiligen, Asakramentalen, das den Methoden widersteht und keine ›Stunde‹ hat, eines Gebiets, das sich immer mehr vergrößert.« 19 Verallgemeinernd stellt Buber sodann die These auf: »Was wir Religion im engern Sinn nennen, ist vielleicht jeweils in solchen Krisen entstanden. Alle geschichtliche Religion ist Auslese der sakramentalen Stoffe und Handlungen. Durch die Scheidung des Heiligen vom preisgegebenen Profanen wird das Sakrament gerettet. Die Weihe der Verbundenheit wird gegenständlichfunktionell konzentriert.« 20
Bubers Analyse der Bedeutung des Sakraments für die religiöse Haltung zur Welt hebt die zentrale Wichtigkeit der konkreten Beteiligung des Menschen hervor. Er stellt die »erfüllende Gegenwärtigkeit des ganzen, ganz hingegebenen Menschen« den »Methoden«, die erworben werden können und die er beim Pansakralismus des »primitiven« Menschen ausmacht, sowie den aus genuinen Sakramenten zur Gewohnheit gewordenen Bräuchen oder zu bloß in Riten gebrauchten Symbolen gegenüber. Diese »erfüllende Gegenwärtigkeit« mache die »sakramentale Existenz« aus. Der Chassidismus ist für Buber »ein unvergleichlicher Versuch, das sakramentale Leben des Menschen aus dem Verderben der Geläufigkeit zu retten.« 21 Buber stellt den Zusammenhang dieser Ausführungen zur religionsgeschichtlichen bzw. religionsphilosophischen Dimension der Krisis mit 18. Martin Buber, Die chassidische Botschaft, Heidelberg: Lambert Schneider 1952, S. 76; jetzt in: MBW 17, S. 251-304, hier S. 282. 19. Ebd., S. 142; jetzt in: MBW 17, S. 169. 20. Ebd., S. 143; jetzt in: MBW 17, ebd. 21. Ebd., S. 145; jetzt in: MBW 17, S. 171.
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seinen zur gleichen Zeit ausgearbeiteten Gedanken zur Krisis im Bereich der philosophischen Anthropologie bereits dadurch heraus, dass er sein Buch Das Problem des Menschen mit einem Kommentar zu einem Wort des chassidischen Rabbi Bunam von Przysucha (1765-1827) beginnt. Grundlegende Bestimmungen, die Buber in diesem Buch vornimmt, wie etwa jene zur Bedeutung der Entscheidung und der Person für das Schicksal des Menschen, die hier in seine Diskussion des Individualismus bzw. des Kollektivismus hineingefügt werden, entsprechen der gleichzeitigen Erörterung der Frage der »rechten Unterscheidung« bei der Scheidung zwischen Heiligem und Profanem in seinen Schriften zum Chassidismus. Im Hinblick auf die Gegenwart antwortet Buber 1964 in den ebenfalls in diesen Band aufgenommenen Interrogations, auf die Frage, wie man zur »Wiederentdeckung« und »Wiederanerkennung« des Heiligen sowie zur Wiederherstellung der »totalité lesée de l’homme« finden könne: »Die Krise, die über die Menschenwelt gekommen ist, hat ihren Ursprung in der Entheiligung des Daseins. Es sieht zuweilen so aus, als ob die Krise das unheimliche Tempo der ›Weltgeschichte‹ annehmen wollte.« 22 Was Buber hier als »das Heilige« versteht, ist das »menschlich Heilige«, das sich im Alltag und in den Handlungen zeige. In Bubers Haltung, die seine Erkundung des Chassidismus widerspiegelt, sind es die größere »Wirklichkeit« und die Echtheit des alle menschlichen Kräfte konzentrierenden Einsatzes, die hierin bezeugt werden. Der Mensch öffne sich darin zunehmend »dem Bereich […], aus dem uns der Sinn unseres Daseins kommt« 23 . »Im Alltag Wirklichkeit« zu erlangen, sei ein Stadium, durch das der Mensch mit dem Bereich Gottes verbunden werden könne. Diese »Wirklichkeit« werde in dem Maße erlebt, als die menschliche Erfahrung von der Beziehung des Ich-Du geprägt wird. Buber bringt »Wirklichkeit«, die Haltung des »Ich-Du« und die Verbindung zu Gott in einer Dimension zusammen, die den Sinn bzw. den mangelnden Sinn der Geschichte bestimmt. In Gottesfinsternis schreibt er: »Das wahre Gepräge einer Epoche ist am zuverlässigsten an dem in ihr herrschenden Verhältnis zwischen Religion und Realität zu erkennen.« 24 Buber stellt die Beziehung des Menschen zu diesem Gepräge in seiner Zeit häufig als eine »unterirdische« dar. In Religion als Gegenwart 22. Zitiert nach der deutschen Fassung des Typoskripts, in diesem Band S. 833. Englische Druckfassung in: Buber, Interrogation of Martin Buber, in: Philosophical Interrogations, S. 62. 23. Ebd.; jetzt in diesem Band, S. 833. 24. Martin Buber, Gottesfinsternis, Zürich: Manesse Verlag 1953, S. 17; jetzt in diesem Band, S. 359-444, hier S. 365.
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sprach Buber davon, dass die Möglichkeit eines »Anrufs« an den Menschen sich im »Reifwerden der Zeit« 25 melde. Eine »unterirdische Bereitschaft« wurde im entsprechenden, diese Worte aufnehmenden Zusammenhang im dritten Teil von Ich und Du Thema. Buber hatte bereits im zweiten Teil dieses Buchs festgehalten: »In solchen Zeiten führt die Person im Menschen und in der Menschheit eine unterirdische, verborgne, gleichsam ungültige Existenz – bis sie aufgerufen wird.« 26 Die »unterirdische Bereitschaft« eigne dem unter »Drängung« und »Spannung« 27 stehenden Menschengeist. Die Dimension, in die diese Bereitschaft hineinführt, wurde am Ende von Ich und Du mit einem Ereignis gekennzeichnet, das menschliche Handlungen mit der göttlichen Seite verbindet. Buber schreibt: »Die Geschichte ist eine geheimnisvolle Annäherung. Jede Spirale ihres Wegs führt uns in tiefres Verderben und in grundhaftere Umkehr zugleich. Das Ereignis aber, dessen Weltseite Umkehr heißt, dessen Gottesseite heißt Erlösung.« 28 Den Gedanken, dass der Mensch in seinem wie auch immer beschränkten Kreis danach streben solle, dass die »Seelenfunken«, die »in allem, was ist« 29 , gefangen seien, gehoben werden, hatte Buber in seinen frühen Werken zum Chassidismus betont. Er hatte wiederholt herausgestellt, dass im Chassidismus die von der Kabbala übernommene Idee der Ausstreuung der Seelenfunken in der Welt mit einer tätigen Einstellung des Menschen im Alltag korreliere. So stellte er im Kapitel »Die jüdische Mystik«, dem einleitenden Teil seines Buchs Die Geschichten des Rabbi Nachman aus dem Jahr 1906, den Chassidismus in dessen Verbindung mit der Kabbala als »Ethos gewordene Kabbala« 30 dar. Bubers Ausführungen zu den »Funken des Lebens« in dieser frühen Besinnung über die Stellung der sich aus dieser Verbindung ergebenden Haltung zur Frage von Gut und Böse besitzen noch zentrale Gültigkeit für die Positionen, die er in seinem späten Denken im Buch Bilder von Gut und Böse vertritt. Ist in diesem Werk nicht mehr wie in seinem frühen Denken von einer »Vereinigung« des Menschen mit Gott, sondern von einem »Dialog« mit ihm die Rede, so beharrt Buber bis zuletzt aus religiöser Sicht auf der Position, dass das sogenannte »Böse« im Grund 25. 26. 27. 28. 29.
Buber, Religion als Gegenwart, jetzt in diesem Band, S. 158. Martin Buber, Ich und Du, Leipzig: Insel Verlag 1923, S. 78. Ebd., S. 135. Ebd., S. [138]. Martin Buber, Die Legende des Baalschem, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1908, S. 24. 30. Martin Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1906, S. 13.
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ein Mangel, nicht ein für sich bestehendes Prinzip oder »Wesen« sei. In seinem Werk Die Legende des Baalschem schrieb er 1908: »Nicht bloss warten, nicht bloss ausschauen: wirken kann der Mensch an der Erlösung der Welt.« 31 Später allerdings schränkt er eine der denkbaren Implikationen dieser Idee für die göttliche Seite insofern ein, als er den Gedanken an einen werdenden Gott, wie ihn Scheler exponiert 32 , verwirft, jedoch auch weiterhin die Beteiligung des Menschen an der Heiligung der Welt behauptet. Dem Menschen sei freilich die Erfassung der Wirkung dieser Beteiligung nicht aufgrund seiner Erfahrung möglich, sondern seine Kenntnis davon erfolge auf anderem Weg: »Es gibt eine unserer Erfahrung entrückte, nur unserer Ahnung zugängliche Kausalität der Tat« 33 schrieb Buber 1922 im »Geleitwort« zu seinem Buch Der große Maggid und seine Nachfolge. Diese Aussage übernahm er in die überarbeitete Fassung dieses Geleitworts im Buch Die chassidische Botschaft (Hebr. 1944, Dt. 1952). Jene 1907 vorgelegte Formulierung des größeren Zusammenhangs der Kawwana, der Intention, spannt sich zur Aussage am Schluss seiner 1929 in der Zeitschrift Die Kreatur, 1932 in erweiterter Fassung als eigenständiges Buch erschienenen Schrift Zwiesprache, wo es heißt: »All das geregelte Chaos des Zeitalters wartet auf den Durchbruch, und wo immer ein Mensch vernimmt und erwidert, wirkt er daran.« 34 Die Schriften Bubers, in denen er das Verhältnis des Ich-Du zum Ich-Es bestimmt und dieses in philosophie- oder religionsgeschichtlicher Perspektive betrachtet, stellen übereinstimmend das Übergewicht der Beziehung Ich-Es in der Geschichte fest. Dieses nimmt fortwährend zu. In Religion als Gegenwart entwirft Buber im achten Vortrag eine Deutung der Geschichte, die zwei »Welttendenzen« unterscheidet: die 31. Buber, Die Legende des Baalschem, S. 25. 32. Vgl. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos: »Es ist der alte Gedanke Spinozas, Hegels und vieler anderer: Das Urseiende wird sich im Menschen seiner selbst inne in demselben Akte, in dem der Mensch sich in ihm gegründet schaut. Wir müssen nur diesen bisher viel zu einseitig intellektualistisch vertretenen Gedanken dahin umgestalten, daß dieses Sich-gegründet Wissen erst eine Folge ist der aktiven Einsetzung unseres Seinszentrums für die ideale Forderung der Deitas und des Versuches, sie zu vollstrecken und in dieser Vollstreckung den aus dem Urgrunde werdenden ›Gott‹ als die steigende Durchdringung von Geist und Drang allererst mitzuerzeugen.« (S. 70). Bubers Einwand gegen diese Idee besteht darin, dass sie das Absolute, Gott, von der Zeit abhängig macht, es in die Zeit hineinversetzt, es zum »Produkt« der Zeit macht. Vgl. Martin Buber, Das Problem des Menschen, Heidelberg: Lambert Schneider 1948, S. 130; jetzt in diesem Band, S. 221-312, hier S. 291. 33. Martin Buber, Geleitwort, in: Der große Maggid und seine Nachfolge, Frankfurt a. M.: Rütten und Loening 1922, S. XVII; Die chassidische Botschaft, S. 97; jetzt in: MBW 17, S. 53-96, hier S. 55. 34. Martin Buber, Zwiesprache, Berlin: Schocken Verlag 1932, S. 101.
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»Weltausbreitung« und die »Gottumkehr«. Diese beiden Tendenzen sieht er »in der Dynamik des Weltgeschehens miteinander verbunden« 35 . Die Geschichte der Religion, der Religionen, versteht er als die Spannung, den Kampf und den Ausgleich zwischen diesen Tendenzen. Die Spanne der Zeit, in der das menschliche Leben abläuft, könne durch die »Entscheidung« eine »Richtung« erhalten, die sich auf die »Gottumkehr« hin öffne. In der Entscheidung werde das Leben durch »Wahrheit« bestimmt. In der Abhandlung Die Frage an den Einzelnen erörtert Buber den Begriff der »Person« gemeinsam mit dem der »Wahrheit« und bringt zum Ausdruck, dass in der Spanne zwischen Anthropologie und Religion das wahre Leben auf dem Spiel stehe. Im Kapitel »Die Frage« heißt es hier: »In der Krisis des Menschen, die wir in dieser Stunde erfahren, ist ein Zwiefaches in Frage gestellt: die Person und die Wahrheit.« 36 Das wahre Leben der Person ereigne sich darin, dass diese »der unaufgebbare Grund« ist, »von dem aus der Eintritt des Endlichen in das Gespräch mit dem Unendlichen allein möglich ward und wird.« 37 In diesem Zusammenhang entfaltet Buber systematisch den Gedanken der »Bewährung«. Dieser findet sich schon früh in seinem Werk. In Bubers Buch Die Legende des Baalschem deuten neben seinem Kommentar zur Hitlahawut, der Inbrunst, deren Stufe der Ektase Buber allerdings zur Zeit von Religion als Gegenwart und Ich und Du ablehnt, vor allem seine Kommentare zur Awoda (Dienst), zur Kawwana (Intention) und zur Shiflut (Demut) darauf, dass er die Struktur dieser Bewährung bereits in seiner Besinnung auf den Chassidismus entwarf. Schreibt Buber etwa im Hinblick auf die Shiflut, in ihr bewähre sich die »Einzigkeit des Menschen im Leben mit den anderen« 38 , dann denkt er eine Struktur, die sowohl in Ich und Du und den späteren dialogphilosophischen Werken Die Frage an den Einzelnen, Zwiesprache, Elemente des Zwischenmenschlichen als auch in den Schriften zur philosophischen Anthropologie und Religion in diesem Band exponiert wird. In der Anspannung der Zeit der Krisis, als die Buber zunehmend die Gegenwart bestimmt, gestalte sich die Bewährung »des angehaltenen Atems« 39 , der die »unterirdische Bereitschaft« des Menschen im Hinblick auf die Umkehr bestimme. Hierauf bezieht er sich in »Metanthropological Crisis«, einer kurzen in diesem Band abgedruckten Notiz: »I envisage the evolution of individualism, in a collectivist regime, as revolutionary; 35. 36. 37. 38. 39.
Buber, Religion als Gegenwart, jetzt in diesem Band, S. 156 f. Martin Buber, Die Frage an den Einzelnen, Berlin: Schocken Verlag 1936, S. 93. Ebd., S. 97. Buber, Die Legende des Baalschem, S. 32. Buber, Religion als Gegenwart, jetzt in diesem Band, S. 90.
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and the evolution of metaphysics as partaking of the mood of catacombs.« 40 Das letzte Kapitel in Gottesfinsternis, »Gott und der Menschengeist«, enthält das Wort: »die Ich-Du-Relation ist in die Katakomben gegangen« 41 . Die von Religion als Gegenwart über Ich und Du bis hin zu Gottesfinsternis entfaltete Konkretion des Ich-Du wird vom Bild der unterirdischen Existenz umspannt, das in der Rede von den »Katakomben« apokalyptisch-eschatologische Konnotationen aufweist. Damit wird es deutlich, wie sich Bubers philosophische Anthropologie auf die Dimension der Religion bezieht. Mit den Konnotationen der Rede von den Katakomben hat es eine Bewandtnis. Im Brennpunkt von Bubers Gedanken steht, wie sich der Mensch zu seinem geschichtlichen Augenblick verhält und wie die Krise, die Buber in seiner Gegenwart diagnostiziert, dem Kommentator grundlegende Aspekte der philosophischen Anthropologie in ihrem Verhältnis zur Frage nach dem absoluten Du, zu Gott, erschließt. In dem Artikel »Prophetie, Apokalyptik und die geschichtliche Stunde«, den Buber 1954 in der Zeitschrift Merkur ein Jahr nach dem Erscheinen der deutschen Fassung seines Buchs Gottesfinsternis veröffentlichte, legt er dar, warum aus seiner Sicht die Antwort des Menschen auf diesen Augenblick als »geschichtliche Stunde« in der Teilnahme am Wort der Prophetie eher denn in der Haltung des Apokalyptikers bestehen sollte. Die Gründe, die er nennt, verschränken Momente der persönlichen Situation, der Anrede, der Entscheidung, der temporalen Artikulation und schließlich der Geschichtlichkeit. Diese Schrift ist nicht zuletzt deshalb lehrreich, weil an ihrem Beispiel beobachtet werden kann, wie Buber zwischen der Mikroebene der menschlichen Person und der Makroebene der Geschichte strukturelle Parallelen herausstellt. Diese Vorgehensweise spielt auch in seinem Buch Bilder von Gut und Böse eine zentrale Rolle, setzt er hier doch die Mikroebene des Einzelmenschen zur Makroebene des Mythos in strukturelle Entsprechung. In seinem Artikel »Prophetie, Apokalyptik und die geschichtliche Stunde« betont er die persönlich-biographische Situation, in der sich der Mensch entscheidet, die Stunde und auch die künftigen Stunden durch Sammlung und Anspannung der Kräfte zu gestalten, im Gegensatz zu einer Haltung, die alles dem Lauf der Dinge überlässt. Diese Figur der Wahl zwischen der Entscheidung und dem Beschluss, sich nicht zu entscheiden, findet sich bereits in Daniel, wird im Zusam40. Martin Buber, [Metanthropological Crisis], in: Transition, Den Haag: Servire 1932, S. 112, jetzt in diesem Band, S. 210. 41. Buber, Gottesfinsternis, S. 153; jetzt in diesem Band, S. 440.
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menhang mit der Unterscheidung zwischen Gut und Böse in der Vortragsreihe Religion und Gegenwart entwickelt, und wirkt fort bis in Bubers späte Schriften. Seine Gedanken zu diesem Phänomen werden von Sören Kierkegaard (1813-1855), von seiner Interpretation des Chassidismus sowie später von Sartre angeregt. Der »diskursive Ausdruck« der von Buber dargestellten Gegenüberstellung zwischen »Wahlbejahung« und »Wahlverneinung« ist der Unterschied zwischen »indeterministischer und deterministischer Weltsicht«. Buber betont jedoch, dass die Philosophie nicht in der Lage sei, dem Menschen dabei zu helfen, »die rechte Wahl« vorzunehmen. Dass bei Bubers Fragestellung nicht nur Sartre, sondern auch Heidegger eine Rolle spielt, wird durch den von Buber benutzten Ausdruck »Eigentlichkeit« 42 nahegelegt. »Wage ich es, anders zu werden als ich bin, vertrauend, daß ich in der Eigentlichkeit eben doch anders bin und dies nur so erproben kann […]?« 43 Auf die Ebene der Geschichte übertragen, heißt dies nun: »erfährt eine geschichtliche Stunde ihre wirklichen Grenzen je anders, als indem sie die ihr geläufigen zu überschreiten sich unterfängt? Stiftet sich unsere Zukunft immer neu oder ist sie unrettbar verhängt?« 44 Buber bestimmt hier, dass die Struktur, die zwar zunächst auf persönlicher Ebene verortet ist, doch als »diese innerste Innerlichkeit unserer Praxis« 45 eine Entsprechung auf geschichtlicher Ebene aufweist. Die Hilfe, die dieser Praxis zugutekommt, heißt »Vertrauen«, in sakraler Wendung »Glaube«. Buber richtet wieder den Blick von der »personhaften« Ebene des Glaubens auf die Makroebene: »die Geschichte des menschlichen Glaubens«. 42. Bubers Gebrauch des Terminus »Eigentlichkeit« erhält in seinem in diesem Band abgedruckten Text »Antwort« aus dem Jahr 1964 eine deutliche Zuspitzung. Hier schreibt er: »Das ›vollständige‹, das rechtmäßig religiöse Dasein des Menschen steht nicht in einer Kontinuität, sondern in der wahrhaften Annahme und Bewältigung einer Diskontinuität. Es ist die Diskontinuität von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, die ich als die von Ich-Du-Verhältnis und Ich-Es-Verhältnis zu allem Seienden verstehe.« (Buber, Antwort, S. 637.) Wenn Buber weiter ausführt, dass der »Kern« des Problems, zu dem diese Unterscheidung gehört, »ontologisch« sei, so befindet sich sein Denken hier in nächster Nachbarschaft zum Denken Heideggers. Es handelt sich indessen, von Bubers Voraussetzungen her, zum einen um eine Haltung des Menschen, die zum anderen in eine Struktur integriert wird, die er als die Überwindung der Diskontinuität gerade durch die Verwirklichung des Primats des Dialogischen kennzeichnet. In beiden Hinsichten grenzt er sich von Heidegger ab. Heideggers »Dasein« sei der Mensch, bestimmt Buber in Das Problem des Menschen. Ontologische Dignität erhält das Dialogische, nicht die radikale Individuation des Seins zum Tod. 43. Martin Buber, Prophetie, Apokalyptik und die geschichtliche Stunde, Merkur 12 (1954), S. 1101-1114, hier S. 1102; jetzt in: MBW 15, S. 380-393, hier S. 381. 44. Ebd. 45. Ebd.
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Diese Geschichte ist es nun, die eine Hilfe bei der Suche nach einer Richtung für die Entscheidung bildet. Sie bietet »Beistand«, jedoch nicht eine unfehlbare Garantie, nicht eine »eindeutige« Wahrheit, die als Vorgabe für die Verwirklichung des Rechten fungieren und dem Einzelnen die Last der Entscheidung abnehmen könnte. Auf diesem Hintergrund erörtert Buber »zwei Grundhaltungen« oder »wesensverschiedene Sichten« in der jüdischen Geschichte des Glaubens: Prophetie und Apokalyptik. Bei der Unterscheidung zwischen diesen Grundhaltungen geht Buber idealtypisch vor, sieht also von der geschichtlichen Tatsache ab, dass es Mischformen gab, bei denen tendenziell jeweils eine größere Proportion der einen oder der anderen Haltung vertreten war. Dementsprechend hält er fest, dass bei den klassischen Propheten hier und da apokalyptische Momente sowie bei den Apokalyptikern bisweilen prophetische Momente anzutreffen seien. Verbunden seien die Wesenstypen erstens dadurch, dass beide an einen »Herrn der vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Geschichte alles Seienden« glauben. Zweitens gehen beide mit Sicherheit davon aus, dass der Herr seiner Schöpfung Heil stifte. Unterschieden seien die Wesenstypen jedoch in der Beurteilung der Art, wie der Herr seinen Willen dem Augenblick gegenüber, in dem der Prophet oder der Apokalyptiker spricht, kundtue. Desweiteren unterscheiden sie sich in der Auffassung, wie sich dieser Augenblick auf die Zukunft beziehe. Schließlich divergieren sie im Grad der Beteiligung jener, die den Sprecher erhören, an dieser Zukunft. Buber weist der Prophetie eine dialogische Auffassung des Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen zu. Der Zusammenhang zwischen der Handlung des Menschen und der Handlung Gottes sei dialogisch und nicht kausal. Durch das Wort des Propheten werde der Mensch vor die Alternative der Entscheidung gestellt. Der echte Prophet sei nicht ein Wahrsager, sondern ein Mensch, der die anderen Menschen auf die faktische Wahlmöglichkeit, die durch ihre Existenz gegeben sei, hinweise. Da der Mensch als »Überraschungszentrum der Schöpfung« erschaffen sei, ergebe sich die ständige Möglichkeit der Umkehr. Im Gegensatz zu diesen Bestimmungen trete in der Apokalyptik anstatt des Dialogs zwischen Gott und dem Volk die Zusicherung des Herrn, der die Erlösung herbeiführe. Diese Erlösung sei vorausgesagt. Da die Zukunft bereits beschlossen sei, gebe es keine Alternative mehr. Buber betont einen wichtigen Unterschied, der die Aktualität der geschichtlichen Stunde betrifft. Beim Propheten gehe es um die wirkliche, gegenwärtige Stunde der Entscheidung. Buber erörtert das, was er die »Entscheidungsdichte« der Situation nennt, in der es um bestimmte
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Menschen gehe, die direkt angesprochen werden, gleichgültig, ob dies mündlich oder schriftlich geschehe. Der Apokalyptiker habe seinerseits kein bestimmtes Publikum. In den meisten Fällen schreibe er im Medium einer literarischen Fiktion, die er erzeuge, indem er eine fremde aber analoge Situation der schriftlichen Ansprache vortäusche. Dass er schreibe und nicht rede, wird von Buber unterstrichen. Die zeitliche Verfassung der Geschichte, die beim jeweiligen Wesenstypus impliziert wird, hebt Buber ebenfalls hervor. Beim Propheten werde die Welt als Ort der freien Entscheidung gesehen, durch die der Mensch auf Gott antworten und den Weg der Umkehr wählen könne. Beim Apokalyptiker werde die Umkehr nicht als Wahl durch die Gemeinschaft aufgefasst, und sie habe keine Wirkung im Hinblick auf die Wende der Geschichte oder auf eine eschatologische Dimension. Das führe dazu, dass im Fall der vollentwickelten Apokalyptik die Zukunft als geschichtliche nicht vorhanden sei. Ob gehandelt wird oder wie gehandelt wird, sei unerheblich, wenn der Ausgang vorbestimmt ist. Radikal aufgefasst, wie in der Johannes-Apokalypse, heiße dies, dass es keine Zeit mehr geben werde. Buber weist das Schrifttum der Prophetie Zeiten der höchsten Kraft, das der Apokalyptik Zeiten des Niedergangs des Geists im Verhältnis zur Transzendenz zu. Konkret schreibt er: »Die erste stammt aus der Stunde der höchsten Kraft und Fruchtbarkeit des morgenländischen Geistes, die zweite aus der des Zerfalls seiner Kulturen und Religionen.« 46 Prophetie bringt er mit Dialogik des göttlichen und des menschlichen Handelns, Apokalyptik mit Flucht vor der »radikal fordernden Geschichtsstunde« 47 in Verbindung. 3. Verbundenheit Bubers frühe intensive Erkundung der Mystik und des Chassidismus war von der Suche nach Konkretion geprägt. Diese drückte sich in der Betonung von Begriffen wie »Leben«, »Unmittelbarkeit« oder »Gegenwärtigkeit« in seinen Schriften der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts aus. Er suchte in der Legende, im Mythos und in der Kunst den Niederschlag und die Weitergabe der Fülle an Deutungsversuchen des menschlichen Seins in der Welt. In der Reduzierung dieser Sinnfülle auf den Bereich der durch die Methoden der neuzeitlichen Naturwissenschaften 46. Ebd., S. 1111; jetzt in: MBW 15, S. 390. 47. Ebd.
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verbürgten Erkenntnis sieht Buber die Entsprechung des durch Kant philosophisch umgrenzten und eingeschränkten Bereichs der »Erfahrung«. Dem Bereich des gesicherten Bestands der Ausweisbarkeit und der Quantifizierbarkeit, den er in Daniel das Reich der »Orientierung« nennt, tritt der Bereich des »Wagnisses« gegenüber, den er als das Reich der »Verwirklichung« auffasst. Wenn Buber in Daniel, im Kapitel »Von der Wirklichkeit. Gespräch über der Stadt«, diese Unterscheidung vornimmt, so gilt seine Kritik nicht der Wissenschaft an sich, sondern der Art, wie sie betrieben wird, der Unterordnung des »schöpferischen« Wissens unter »einen kleinen Nutzen« 48 oder »eine kleine Sicherheit«. Bemerkenswert ist das Ausmaß, in dem hier, wie auch an anderen Stellen in Daniel, Friedrich Hölderlins (1770-1843) Dichtung und Denken sowie die Gedanken Friedrich Nietzsches (1844-1900) für Buber als Leitfaden dienen. Wie in Hyperion soll in Daniel weder dem wissenschaftlichen Zerpflücken noch einem bloß der genießerischen Empfindung hingegebenen Gemüt das Wort geredet werden. In Bubers Formulierungen verschmelzen Gedanken Nietzsches mit der Poetik Hölderlins. Um, wie Buber schreibt, »im gesteigerten, im schöpferischen Sinn von Wirklichkeit und Verwirklichung« 49 zu sprechen, bedürfe es eines Zusammenwirkens aller menschlichen Kräfte jenseits dessen, was er als die »kluge Ökonomie« 50 der »Orientierung« kennzeichnet. In dieser Sammlung der Kräfte heißt es: »das Erlebnis auf nichts anderes beziehen als auf es selber« 51 . Buber ist bedacht, das Phänomen, das er hier im Blick hat, von der Gefahr einer bloßen psychologischen Subjektivierung fernzuhalten. Dies ist der Grund, warum er – auch hier auf Hölderlin zurückgehend – der »Verbindung« und der »Verbundenheit« eine zentrale ontische Rolle zuschreibt: »Denn alles Erlebnis ist ein Traum von Verbundenheit; die Orientierung zerscheidet und entsondert, die Realisierung vollzieht und proklamiert sie.« 52 Das, was Buber allgemein als ontologisches Prinzip festhält – »So ist alle Wirklichkeit erfüllte Verbundenheit« 53 – hat wichtige Folgen für seine Bestimmung des Menschen. Auch im Hinblick auf seine philosophische Anthropologie soll nämlich das »Erlebnis« vom Bereich einer möglichen Missdeutung als bloß subjektives Phänomen 48. Martin Buber, Daniel, Leipzig: Insel Verlag 1913, S. 34; jetzt in: MBW 1, S. 183-245, hier S. 194. 49. Ebd., S. 37; jetzt in: MBW 1, S. 195. 50. Ebd., S. 39; jetzt in: MBW 1, S. 196. 51. Ebd. 52. Ebd., S. 44, jetzt in: MBW 1, S. 198. 53. Ebd.
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ferngehalten werden. Das Menschsein sei von möglicher Verbundenheit geprägt: »In jedem Menschen wohnt, geübt oder niedergedrängt, die Macht, verbunden zu werden und in die Wirklichkeit einzutreten.« 54 Indem Buber das Schöpfertum mit der Verbindung zusammenbringt, integriert er seine ursprüngliche Bestimmung des schöpferischen Wissens in ein größeres anthropologisches aber auch ontisch-weltliches Ganzes: »Die schöpferischen Stunden, handelnde und schauende, bildende und denkende, sind die verbindenden Stunden; ein Verbundener ist der Held und der Weise, der Dichter und der Prophet […].« 55 In Daniel wird diese Auffassung der Verbundenheit im Laufe des Kapitels »Von der Wirklichkeit« um den Begriff »echte Gemeinschaft« 56 erweitert. Um diesen Horizont der erweiterten Verbundenheit wird es Buber siebenundzwanzig Jahre später gehen, wenn er am Ende seines Buchs Das Problem des Menschen das »echte Dritte«, »das Reich des Zwischen«, das über Individualismus und Kollektivismus hinausgehe, ankündigt und dieses als »echte Gemeinschaft« kennzeichnet. 57 Dass diese Gemeinschaft sich als »Wir« im eminenten Sinn bilde, wenn die Verbundenheit, in der eine Welt »gebaut und ausgebaut« 58 werde, auf die Transzendenz gerichtet werde, betont Buber in seiner Schrift »Dem Gemeinschaftlichen folgen« aus dem Jahr 1954, in der er »die unverkürzte Existenz« 59 der Flucht vor der Verantwortung entgegensetzt, die er beim »typischen heutigen Menschen« feststellt. Als Fortsetzung seiner Untersuchung des Individualismus und des Kollektivismus in Das Problem des Menschen sowie in seinem Buch Pfade in Utopia (1950) weist er beide Phänomene als zwei maßgebende Weisen auf, wie dieser Mensch davor flüchte, »für die Echtheit seiner Existenz einzustehen« 60 . Den Individualismus deutet er als »die Sicherheit […] mit dem Selbst des Seins identisch zu sein«, als »den großen Generalablaß«, der den Menschen davor bewahre, jemandem anderen als sich selbst »Rede zu stehen« 61 . Das Selbst, das der moderne Individualismus als Grund des Ichs herauszustellen vermeint, interpretiert er auf der Grundlage einer Analyse der Selbstkonzeption in den frühen Upanishaden. In diesem altindischen Denken, das ein universales Selbst, das mit dem Sein iden54. 55. 56. 57. 58.
Ebd., S. 45; jetzt in: MBW 1, S. 199. Ebd., S. 44; jetzt in: MBW 1, S. 198. Ebd., S. 54; jetzt in: MBW 1, S. 204. Buber, Das Problem des Menschen, S. 168; jetzt in diesem Band, S. 311. Martin Buber, Dem Gemeinschaftlichen folgen, Die Neue Rundschau 4 (1956); S. 582-600, hier S. 598; jetzt in: MBW 6, S. 103-123, hier S. 121. 59. Ebd., S. 588; jetzt in: MBW 6, S. 110. 60. Ebd., S. 599; jetzt in: MBW 6, S. 122. 61. Ebd.
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tisch ist, als Grund des phänomenalen Ichs zu enthüllen sucht, erläutert Buber eine philosophie- und religionsgeschichtliche Struktur, die dem modernen Individualismus entspricht. Den modernen Kollektivismus hingegen kennzeichnet Buber als »Travestie« 62 des Gemeinschaftlichen, dessen Idee er zu Beginn seiner Schrift bei der Philosophie Heraklits (ca. 520 v. Chr.-ca. 460 v. Chr.) erörtert hatte. Er betont, dass das moderne Denken die Kollektivität über alles stelle und dem Menschen »die Verantwortung abnimmt« 63 , ihm also diese Form der Flucht ermögliche. Im Vergleich mit der von Buber dargelegten »Leugnung des Absoluten« im Kollektivismus beurteilt er freilich die »Prätention des falschen Absoluten«, die er im modernen Individualismus ausmacht, als »bedenklicher« 64 Die »unverkürzte Existenz«, die Buber diesen zwei Formen der Flucht entgegensetzt, denkt er in dieser Schrift in einer weltgeschichtlichen Dimension. Es geht ihm um eine Deutung des Zeitalters, dessen »Wahn« und »Lüge« er mit der Wiederfindung der »Unverfälschtheit der Sprache und der Wir-Existenz« entgegenzuwirken sucht. Er weist auf den Wink, den Heraklits Denken des Gemeinschaftlichen diesem Ansinnen zu geben vermag, deutet jedoch gleichzeitig darauf hin, dass die Idee der wahrhaften göttlichen Transzendenz bei Heraklit fehle. Diese Idee weist er hingegen als das in der »Glaubenssprache« des Judentums genannte Stehen »im Angesicht Gottes« 65 auf. Kennzeichnend für Bubers Denken von Daniel bis zu seinen späten Schriften ist die Tatsache, dass er das »vor dem göttlichen Angesicht stehende Wir« eminent bei Hölderlin bezeugt findet. Er spricht vom »höchsten Ausdruck«, der durch Hölderlin diesem gemeinschaftlichen Verhältnis zur Transzendenz verliehen werde. Hölderlins Wort »Seit ein Gespräch wir sind und hören können von einander« aus dem Gedicht »Versöhnender, der du nimmergeglaubt« versteht Buber als Evozierung der Tatsache, dass das Sein des Wir im Gespräch bestehe: »Wir sind ein Gespräch« 66 . Im Hinblick auf dieses Wort hatte Buber zwei Jahre zuvor, in seinem in der Zeitschrift Merkur erschienenen Artikel »Religion und modernes Denken«, den er ins Buch Gottesfinsternis aufgenommen hatte, Martin Heideggers Deutung dieses Wortes in dessen Buch Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1936) als »Zeugnis dafür, was ich das dialogische 62. 63. 64. 65. 66.
Ebd., S. 589; jetzt in: MBW 6, S. 111. Ebd., S, 599; jetzt in: MBW 6, S. 122. Ebd., S. 589; jetzt in: MBW 6, S. 111. Ebd., S. 600; jetzt in: MBW 6, S. 123. Ebd.
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Prinzip nenne« 67 , gekennzeichnet. Doch hatte er sich als darin getäuscht gesehen. Heideggers Ansätze zu einem dialogischen Verständnis des Verhältnisses zum Göttlichen im Sinne Bubers seien »durch eine Gewalt, die darüberfuhr, vernichtet worden« 68 . Gedichte bezeichnet Buber im Kapitel »Von der Wirklichkeit« in Daniel als »schwingende Erkenntnis« 69 . Mit diesem Adjektiv führt er ein Wort ein, das später in seinen Werken zumeist mit der Bedeutung versehen ist, das Ich auf ein Du hin zu transzendieren. 70 Die Bedeutung Hölderlins in Daniel wie für Buber 67. 68. 69. 70.
Buber, Gottesfinsternis, S. 92; jetzt in diesem Band, S. 406. Ebd.; jetzt in diesem Band, S. 407. Buber, Daniel, S. 36; jetzt in: MBW 1, S. 195. Das Wort »Schwung« und damit verwandte Formen, die die »Spannung« im religiösen Leben kennzeichnen, kommen wiederholt in Georg Simmels Werk Die Religion, das er zuerst 1906 in Bubers Sammlung »Die Gesellschaft« veröffentlichte und das 1912 in einer erweiterten Fassung erschien, vor. Vgl. die folgende Stelle: »Nicht weniger macht die formale Weite, unter all unseren Lebenskategorien gerade die das Schicksal besitzt, sie geeignet, die Schwingung des religiösen Lebens aus dem virtuellen in den aktuellen Zustand über- und zum Begriff des Göttlich-Absoluten aufzuführen.« (Georg Simmel, Die Religion, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 10, hrsg. von Michael Behr, Volkhard Krech u. a., Frankfurt a. M. 1995, S. 53.) In Bubers Frühschriften wird das Wort mit der Bewegung verbunden, die über die Verstrickung in den »Wirbel«, in das Gewühl, in die Welt also, wie sie in der Wahrnehmung gegeben ist, sich erhebt und Einheit erstrebt. So schreibt er 1909 im Geleitwort zu seinem Buch Ekstatische Konfessionen: »Aber das ist der Gottessinn des Menschenlebens, dass das Getriebe eben doch nur das Aussen ist zu einem unbekannten und allerlebendigsten Innen und dass dieses Innen sich nur der Erkenntnis, die eine Tochter des Getriebes ist, nicht aber der schwingenden und sich befreienden Seele zum Erlebnis versagen kann. Die Seele, die sich ganz gespannt hat, das Getriebe zu sprengen und ihm zu entrinnen, diese ist es, die die Gnade der Einheit empfängt.« (Martin Buber, Ekstase und Bekenntnis, in: Ekstatische Konfessionen, Jena: Eugen Diederichs 1909, S. XIf.; jetzt in: MBW 2.2, S. 50.) In der Rede »Der Geist des Orients und das Judentum«, die Buber 1916 in seinem Buch Vom Geist des Judentums veröffentlichte, heißt es: »Die Schwungkraft der Botschaft Jesu ist die altjüdische Forderung der unbedingten Entscheidung, die den Menschen wandelt und ins Gottesreich hebt. Und sie ist die Schwungkraft des Christentums geblieben, auf die es zurückgriff, sooft es sich erneuern wollte – und wenn es sich dabei noch so sehr zu entjuden vermeinte.« (Martin Buber, Vom Geist des Judentums, Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1916, S. 34; jetzt in: MBW 2.1, S. 197.) Für Bubers späteren Gebrauch der Formen des Worts »schwingen« vergleiche die Wendung an einer Schlüsselstelle in seinem Aufsatz »Prophetie, Apokalyptik und die geschichtliche Stunde«: »Dies ist es, was die Propheten Israels in ihrer Glaubenssprache unter Umkehr verstanden: nicht Rückkehr zu einem früheren, schuldlosen Stadium des Lebens, sondern ein Umschwingen dahin, wo das verzettelte Hin und Her zum Schreiten auf einem Weg wird und die Schuld sich sühnt in der entstandenen Echtheit der Erkenntnis.« (Buber, Prophetie, S. 1113 f.; jetzt in: MBW 15, S. 392 f.) Eine mit der Verwendung des Worts in den Frühschriften vergleichbare Stelle findet sich im zwei Jahre später veröffentlichten Aufsatz »Dem Gemeinschaftlichen folgen« (1956), wo Buber schreibt: »›Man soll dem Gemeinschaftlichen folgen.‹ Dieser große Spruch Heraklits erschließt sich uns erst dann, wenn wir seine Lehre von der Gemeinschaftlichkeit des Logos und des Kosmos aufgenommen haben. Wachen
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überhaupt gründet in der Verbundenheit, die der Dichter im Hinblick auf die Transzendenz im Wort bezeugt. Dabei verkörpert Hölderlins Dichtung die »Wahrheit des Wortes«, die Buber in seinem als Antwort auf Heideggers Hölderlin-Deutung gedachten späten Artikel »Das Wort, das gesprochen wird« als »Treue« kennzeichnet. Damit meint Buber nicht die »sublime« Wahrheit, die »dem Sein selber eignende ›Unverborgenheit‹, die ›Aletheia‹ der Griechen«, sondern »die schlichte Wahrheitskonzeption der hebräischen Bibel«. 71 Schreibt Buber: »Die Wahrheit des Wortes, das wahrhaft gesprochen wird, ist in ihren höchsten Formen, so im Gedicht und ungleich mehr noch so in dem botschaftsartigen Spruch, der aus der Stille über eine zerfallende Menschenwelt niedergeht, unzerlegbare Einheit« 72 , so denkt er eine Struktur, die die menschliche Existenz durchzieht und die sie mit dem menschlichen sowie mit dem absoluten Du verbindet. Die Struktur ist jedoch kein unpersönliches Gesetz, sondern besteht aus der Anrede und der Antwort, die im konkreten Menschen bezeugt werden. Sie wird von Buber wie folgt charakterisiert: »Diese konkrete Person steht mit ihrer Treue in dem ihr zugewiesenen Lebensraum für das Wort ein, das von ihr gesprochen wird« 73 . Hiermit kehrt in dieser späten Äußerung ein Echo dessen wieder, was er in seinen früheren Werken »Bewährung« genannt hatte: die im Alltag geübte Erprobung von Verbundenheit. 4. Wer redet? Bubers Besinnung über den Menschen als existierenden Menschen wird im hohen Maße durch seine frühe Wendung zum Denken Kierkegaards und Nietzsches mitbestimmt. Die Kritik, die Buber in Die Frage an den Einzelnen, sowie in zentralen Texten dieses Bands wie Das Problem des Menschen und Gottesfinsternis an diesen beiden Philosophen übt, soll nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr sein Denken von ihren Werken angeregt wurde. Ausdrücke Kierkegaards wie »Entscheidung«, »Kategound Schlaf sind eines von den Gegensatzpaaren, in denen sich nach Heraklit die Einheit des Seins, in ihnen schwingend und die eigene Spannung in ihnen austragend, erfüllt.« (Buber, Dem Gemeinschaftlichen folgen, S. 583; jetzt in: MBW 6, S. 109.) Weiter unten, im 10. Abschnitt dieser Einleitung, wird auf den Ausdruck »Einschwingen ins Andere« eingegangen. 71. Martin Buber, Das Wort, das gesprochen wird, in: Wort und Wirklichkeit, hrsg. v. d. Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München: R. Oldenburg 1960, S. 1531, hier S. 30; jetzt in: MBW 6, S. 125-137, hier S. 136. 72. Ebd. 73. Buber, Das Wort, das gesprochen wird, S. 31; jetzt in: MBW 6, S. 137.
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rie der Möglichkeit«, »Lebensweg«, »Stadien dieses Wegs« deuten auf diesen Hintergrund zurück. Die Tagebücher Kierkegaards und seine Fragestellung in Furcht und Zittern begleiten Buber, wie nicht zuletzt Gottesfinsternis bezeugt, bis in sein spätes Denken hinein. Was Nietzsche betrifft, ist es nicht nur der Verfasser von Also sprach Zarathustra und der späteren Werke zur kritischen Genealogie der Moral, sondern auch jener von Frühschriften wie »Schopenhauer als Erzieher«, dessen Gedanken von Buber aufgegriffen und in seinen Schriften weiterentwickelt werden. »Leben überhaupt«, schreibt Nietzsche hier, indem er die Bedrohung, der die »produktive Einzigkeit« des Menschen ausgesetzt ist, erörtert, »heisst in Gefahr sein.« 74 Wenn Buber im Kapitel »Von dem Sinn. Gespräch im Garten« in Daniel schreibt »Alles Erleben mit ganzem Wesen und mit ungehemmter Gewalt meint Gefahr« 75 , dann ist dies als Echo Nietzsches vernehmbar. Es ist indessen keine Idiosynkrasie Bubers, wenn er in Daniel Kierkegaard, Nietzsche und Hölderlin in seinem Denken zusammenfließen lässt. Sowohl Gershom Scholem (1897-1982) als auch Walter Benjamin (1892-1940), um nur diese unter anderen jüdischen Denkern der Zeit zu nennen, verflechten ihrerseits gerade in den Jahren um 1913/14 Themen dieser Philosophen und dieses Dichters mit ihren eigenen Gedanken und mit Motiven der jüdischen Tradition. Kierkegaard, aber auch Nietzsche aufnehmend, evoziert Buber eine »Religiosität« 76 , die sich von Religion und Kirche abgrenzt und die innig mit dem »Erlebnis« verquickt ist. Buber führt Gott in diesem Zusammenhang auf eine Weise ein, die er in seinem späteren Denken selbst kritisiert. Er schreibt, dass »Gott dem Menschen sich nicht anders verwirklichen kann, denn als die innerste Gegenwart eines Erlebnisses« 77 . Führt er weiter aus, dass Gott dem Menschen »also nicht der Gleiche, sondern ewig der Neue, der Äußerste, der Gott dieses Erlebnisses ist«, so gilt ihm dies später in Religion als Gegenwart und in den Schriften 74. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III, Schopenhauer als Erzieher, in: ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe, 3. Abt., 1. Bd., hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin u. New York 1972, S. 356. 75. Buber, Daniel, S. 70; jetzt in: MBW 1, S. 209 f. 76. Vgl. zu dieser für Buber grundlegenden Unterscheidung zwischen »Religiosität« und »Religion« Simmels Ausführungen zu diesen Begriffen in seiner Schrift Die Religion. Er schrieb hier: »Die Religiosität, als innerste Lebensbeschaffenheit, als die unvergleichliche Funktionsart gewisser Existenzen, erobert gleichsam erst auf der Wanderung durch die inhaltliche Mannigfaltigkeit der Welt eine Substanz für sich und stellt damit sich selbst sich gegenüber, die Welt der Religion dem Subjekt der Religion.« Simmel, Die Religion, S. 47 ff., hier S. 48. Simmels Gebrauch der Begriffe »Leben« und »Erlebensart« gehört zu diesem Zusammenhang. 77. Buber, Daniel, S. 72 f.; jetzt in: MBW 1; S. 211.
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danach als ein Indiz, dass er in jener früheren Schrift der Subjektivierung Gottes, seiner Reduktion auf die menschliche Psyche, verfallen war. Es tritt jedoch in Daniel auch das Motiv auf, das, wohl nicht zuletzt auf dem Hintergrund Hölderlins sowie des Symphilosophierens der frühromantischen Theorie, von großer Tragweite für Bubers Denken ist: das Gespräch. Daniel ist aus fünf Gesprächen konstruiert. Diese Denkfigur ist für das Werk bestimmend. Buber unterscheidet im Kapitel »Von der Polarität. Gespräch nach dem Theater« Lyrik, Epik und Dramatik als Formen des Gesprächs, in denen, je verschieden, Polarität auf Einheit hin gestaltet werde. Das Thema des Gesprächs wird in Bubers Denken im Hinblick auf die Philosophie erweitert. Seine philosophischen Schriften weisen dem sprechenden Ich eine wichtige Rolle zu. An diesem Aspekt seines Denkens haben die Werke Kierkegaards und Nietzsches einen bedeutenden Anteil. Demnach werden die Gedanken, die im philosophischen Werk vorkommen, von einer Stimme vorgetragen, die einem konkreten Leben entstammt. In der Sprache soll im philosophischen Text Bubers dieses Leben gemeinsam mit den Gedanken zum Ausdruck kommen. Dass es in der Philosophie auf die Stimme eines lebendigen Ichs ankommt, betonte eine Leserin, die auch Nietzsches philosophische Stimme kannte, in ihrem Kommentar zu Bubers Daniel. Die Bemerkungen, die sie zur Dialogform machte, zeugten auch von der Weise, wie Bubers Denken, wie stark er in dieser Zeit auch von Nietzsches Zarathustra angesprochen wurde, von dessen Faktur abzuweichen begann. Lou Andreas-Salomé (1861-1937) schrieb Buber in einem Brief vom 6. Juli 1913, kurz nach der Veröffentlichung seines Buchs Daniel: »Ich habe, an manchem ruhigen Maitag, zwischen Bäumen und in der Sonne, Ihren Daniel zu mir sprechen lassen, und, wie nicht zum ersten Mal, den freudigen Eindruck gewonnen von Gleichstimmung in dem was mir das allein Wichtige, Lebendige ist. Darf ich noch hinzufügen, daß ihre Stimme noch unmittelbarer zu mir kommt, wenn sie nicht, in Dialogform, sich künstlich zu zwei Tönen spaltet. Dies mag an einer ganz persönlichen Unwilligkeit gegen Dialogform für derartige Geistesvermittlungen liegen; es zerrt mich sozusagen hin und her zwischen einer künstlerischen und einer abstrakten Art, dem Gesprochenen hinzulauschen, und die Sehnsucht entsteht, nach einer der beiden Seiten sich ganz einstellen zu können, grade sobald eine im höchsten Masse lichtvolle Gedankenfassung oder wiederum eine wundervolle Versinnlichung besonders beredt wirken. Allein dieser Einwand kann auch gut einer gegen mich selber sein.« 78 78. B I, S. 337.
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Mit der letzten Zeile, jenseits der höflichen Floskel, könnte die Verfasserin des Briefs, die der Stimme Nietzsches in seinen Schriften ebenfalls gelauscht hatte, geahnt haben, dass es Buber, was die sprechende Stimme in der Philosophie betrifft, trotz aller Nähe zu Nietzsche um einen Horizont ging, den nicht beachtet zu haben Buber diesem Denker dann in Schriften wie Das Problem des Menschen und Gottesfinsternis später vorwerfen sollte. Dabei weist das Werk Nietzsches auf seine Art durchaus eine Mehrstimmigkeit auf. Der Nietzsche-Herausgeber Karl Schlechta (1904-1985) hebt wiederholt »die zweite Stimme in dem geheimnisvollen Gespräch, das Nietzsche so oft mit sich selbst führt« 79 , hervor. Im Hinblick auf Also sprach Zarathustra (1883-1885) verweist Schlechta auf: »jene zweite […] Gegenstimme, die so oft im Werke Nietzsches leise mit- und dazwischenredet, besonders aber ›Also sprach Zarathustra‹ vom Anfang bis zum Ende durchzieht, ja einen der wenigen Reize dieses Buches ausmacht.« 80 Entscheidend an dieser zweiten Stimme ist eben, inwieweit durch sie die Konkretion eines wirklichen Gesprächs ermöglicht wird. Schlechtas Hinweis, dass Nietzsche dieses Gespräch mit sich selbst führte, deutet darauf hin, dass die Öffnung zum Anderen, die Buber in der Folge seines Denkens vom Gespräch verlangen wird, etwas anderes ist als das lediglich formal als mehrstimmig gestaltete Selbstgespräch. Das »Ich«, das im konkreten Gespräch mit einem »Du« hervortritt, grenzt Buber später ausdrücklich vom Ich der falschen Konkretion ab. Buber wird in seinem Buch Das Problem des Menschen ausführen, dass Nietzsche das Problem der »Welt als Welt« nicht genug berücksichtigte, wohl nicht sah. In dieser kritischen Abgrenzung von Nietzsche formuliert Buber das, was er als die »anthropologische Grundtatsache« kennzeichnet: »Er hat sich dabei um das kaum gekümmert, was für uns die anthropologische Grundtatsache und die erstaunlichste aller irdischen Tatsachen ist: es gibt in der Welt ein Wesen, das eine Welt als Welt, einen Weltraum als Weltraum, eine Weltzeit als Weltzeit und sich selbst eben darin als dies erkennend erkennt.« 81
Um diese Einsicht zu gewinnen, konstatiert Buber, hätte Nietzsche sich der von ihm verhassten Soziologie annähern müssen, letztlich der »Soziologie des menschlichen Miteinanderdenkens, auf das schon Feuerbach grundlegend hingewiesen hatte. Der Mensch, der eine Welt erkennt,
79. Nachwort zu Schlechtas Nietzsche-Ausgabe, Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, 3. Bd., (Hrsg.) Karl Schlechta, München 1960 (2. Aufl.), 3. Bd., S. 1433. 80. Ebd., S. 1451. 81. Buber, Das Problem des Menschen, S. 75; jetzt in diesem Band, S. 260.
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ist der Mensch mit dem Menschen.« 82 Obwohl Buber – vermutlich durch die institutionellen Umstände seiner Professur an der Hebräischen Universität veranlasst – die Soziologie hier hervorhebt, geht der Zusammenhang seiner Gedanken darüber hinaus. In seiner Kritik an Nietzsche will er darauf hinweisen, dass die philosophische Wissenschaft vom Menschen, wie er am Ende seines Buchs Das Problem des Menschen schreibt, »die Sphäre des Zwischen« als »Urkategorie der menschlichen Wirklichkeit« 83 herausstellen und verstehen müsse. Über diese Wissenschaft, sagt er an weiterer Stelle, indem er den Ausdruck, den er im Zusammenhang mit seiner Kritik an Nietzsche benutzte, wieder aufnimmt: »Ihr zentraler Gegenstand ist weder das Individuum noch das Kollektiv, sondern der Mensch mit dem Menschen.« 84 Bubers Bemerkungen zur falschen Konkretion der Stimme in den philosophischen Schriften René Descartes’ (1596-1650) und seine Unterscheidung der Philosophie als Medium der Abstraktion von der Religion als Medium der Konkretion in Gottesfinsternis weisen darauf hin, dass er der Frage der Denkform in deren Verhältnis zum Gehalt entscheidende Bedeutung zumisst. Im Artikel »Cohen und die Gottesliebe« aus dem Jahr 1942, den Buber später in Gottesfinsternis aufnahm, wird eine Stelle, an der Hermann Cohen (1842-1918) in seiner Abhandlung Der Begriff der Religion im System der Philosophie (1915) in der ersten Person schreibt, wie folgt kommentiert: »dieses ›ich‹ schlägt dem Leser ans Herz wie jedes echte ›ich‹ in jedem echten Philosophenwerk« 85 . Im Hinblick auf Descartes weist Buber darauf hin, dass dessen Ich, das in der ersten Person redet, das »Subjekt des Bewusstseins« sei, nicht »die lebendige, leib-seelische Person«. Descartes’ ego cogito fasst Buber als das, was sich aus einer »dreifachen abstrahierenden Reflexion« ergebe: erstens biege sich die Person »aus dem in der konkreten Situation Erfahrenen« auf sich selbst zurück und »holt« auf diese Weise die cogitatio, das Bewusstsein, »hervor«; zweitens konstatiere sie, »daß zu einem Bewußtsein ein Subjekt gehört« und benutze die Bezeichnung »ich« für dieses Subjekt; drittens werde die »lebende leibseelische Person« mit dem Subjekt, das abstrahiert wurde, identifiziert. Die reale Existenz des Ichs hingegen lasse sich nur in der Konkretheit der Person erfahren, die sich erst im »echten Verkehr mit einem Du« ergebe. Gegenüber der Philosophie, deren Primat des Sehens bei den Griechen ein Schauen des Absoluten 82. 83. 84. 85.
Ebd., S. 76; jetzt in diesem Band, S. 260-261. Ebd., S. 156; jetzt in diesem Band, S. 309. Ebd., S. 168; jetzt in diesem Band, S. 311. Martin Buber, Cohen und die Gottesliebe, Mitteilungsblatt 30 (1942), S. 4; aufgenommen in Gottesfinsternis; jetzt in diesem Band, S. 389-398, hier S. 393.
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im Allgemeinen impliziere, führt Buber für die philosophische Bestimmung der Religion an, dass sie das Allgemeine mit dem Konkreten verbinden müsse. In der späten »Antwort« an seine Kritiker nennt Buber die Tendenz der Philosophen, aus dem »Ich-Du und als Ich-Du Erfahrenen ein Es [zu] machen« 86 , als einen Grund für die Eigenart seines Denkens, in der Philosophie nicht bis zur letzten Konsequenz jener »Transformation« zu gehen. Die »Glaubenserfahrung«, sagt er hier, sei es, die ihn davon abhalte. Dieser eigne wohl »die Ratio«, aber »eben nicht in ihrer abgelösten, selbstherrlichen Gestalt« 87 . Der Horizont des Ichs, das in Bubers philosophischen Schriften spricht, ist das Gespräch, in dem ein persönliches Ich zu einem anderen persönlichen Ich in Beziehung tritt. Nicht zuletzt deshalb sind weite Teile von Ich und Du als Gespräch verfasst, mit einem »Redner«, der sich einschaltet, Fragen stellt oder strittige Punkte vertritt. Die sich in vieler Hinsicht als Echo von Hölderlins Hyperion und Empedokles gestaltende Schrift Daniel lässt bei aller Stilisierung, die in der sprachlichen Überhöhung liegt, und bei allem Nietzsches Also sprach Zarathustra zu verdankenden Prophetenton, die Möglichkeit erblicken, im Gespräch die menschliche Rede als konkrete »Berührung des Wesens« 88 hervortreten zu lassen. In Zwiesprache wird an einer Stelle der »adversarius« zitiert, der »in Tonfall und Haltung des üblichen personfreien Universalduells« 89 redet, womit Buber aufzeigt, wie ein Gespräch verfehlt wird. Das Problem des Menschen endet mit Ausführungen, die »ein wirkliches Gespräch« 90 betreffen. Gottesfinsternis wird mit einem »Bericht von zwei Gesprächen« eingeführt. Wohl sei die Philosophie in ihrer Form als vergegenständlichender Rede oder als Text Teil der Welt des Ich-Es. Sie berge jedoch die Möglichkeit in sich, zum Gespräch zu werden. Buber widmet das Kapitel »Vom Denken« im zweiten Teil von Zwiesprache ausdrücklich dieser Frage. In dieser Schrift fordert er dazu auf, dass »die denkerische Dialektik zur Dialogik« 91 werde. Seine philosophischen Schriften suchen nach Wegen, die Philosophie für die Erfahrung des Zwischen zu öffnen. Die Dialogik besteht aus der Besinnung über diese Erfahrung. 86. Buber, Antwort, S. 589; jetzt in diesem Band, S. 467. 87. Ebd., S. 590; jetzt in diesem Band, S. 468. Die spezifischen Folgen für Bubers Auffassung von Vernunft und von Philosophie, die er in Gottesfinsternis erörtert, werden an späterer Stelle in dieser Einleitung besprochen. 88. Buber, Daniel, S. [5]; jetzt in: MBW 1, S. 183. 89. Buber, Zwiesprache, S. 90. 90. Martin Buber, Das Problem des Menschen, S. 166. 91. Buber, Zwiesprache, S. 74.
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5. Erlebnis und Ereignis In der Vortragsreihe Religion als Gegenwart legt Buber die Notwendigkeit dar, vorgefasste philosophische Begriffe einzuklammern, um zum Augenblick zu gelangen, in dem der Mensch das »Gegenwärtige« als »wirkliche Kraft« empfange. 92 Dieser Augenblick der »Verwirklichung« ist es, den er in seiner Erkundung des Menschen herauszustellen sucht. Der Weg dazu sei versperrt, wenn man den Menschen wissenschaftlich objektivierend in der »Es-Erfahrung« thematisiere. Die Weise, auf die der Mensch in seinem »Menschsein« aufgezeigt werde, entscheide darüber, ob seine Beziehung zum »absoluten Du« gesehen werden könne. Dieses sein Menschsein werde in der Beziehung des Ich-Du verwirklicht. Die Beziehung zum »absoluten Du« werde dadurch eröffnet. Sowohl in Das Problem des Menschen als auch im Artikel »Aus einer philosophischen Rechenschaft« (1961) wird die philosophische Anthropologie eigens als Form der wissenschaftlichen Erkundung von Buber bestimmt. Er ist bedacht, diese Form von der Theologie zum einen sowie von den Methoden der Naturwissenschaften zum anderen abzugrenzen. Im Einklang mit Religion als Gegenwart gilt aber für beide Schriften, wie es in Das Problem des Menschen heißt: »Nur in der lebendigen Beziehung ist die Wesenheit des Menschen, die ihm eigentümliche, unmittelbar zu erkennen.« 93 Die Tatsache, dass Buber in der »Rechenschaft« die Gegenwärtigkeit dieser lebendigen Beziehung – anders als in Religion als Gegenwart und in Ich und Du, wo dieses Wort die Einstellung auf die Es-Welt kennzeichnet – als »Erfahrung« versteht, deutet darauf hin, dass es ihm nicht so sehr auf terminologische Stringenz als 92. Vgl. hierzu Bubers Vorgehensweise im Vortrag »Das Judentum und die Juden«, seiner ersten Prager Rede über das Judentum, aus dem Jahr 1909. Dort unterscheidet er die Bedeutung des Judentums im »eigenen Leben« seiner selbst und seiner Zuhörer von den Abstraktionen, die »[i]n der großen Vorratskammer der Begrifflichkeit« vorliegen. Die Begriffe, die er heraussondert, »Religion« und »Nation«, werden gewöhnlich herangezogen, um Antworten auf die Frage nach der Bedeutung des Judentums zu geben. Wenn Buber unterstreicht, dass diese Antworten »unserem Blick nichts anderes als vermummte Fragen« sind, so ist dieser Blick nicht auf die »Formationen des äußeren Lebens«, sondern auf »die innere Wirklichkeit« gerichtet. Bubers Kriterium lautet: »Das Judentum hat für die Juden so viel Sinn, als es innere Wirklichkeit hat.« (Martin Buber, Drei Reden über das Judentum, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1911, S. 12; jetzt in: MBW 3, S. 219-256, hier S. 220.) Er skizziert bereits in dieser Rede ex negativo die Koordinaten, die den Fluchtpunkt der Frankfurter Vorlesungen vom Frühjahr 1922 vorzeichnen, wenn er konstatiert: »Auf die innere Wirklichkeit hin betrachtet, ist jüdische Religiosität eine Erinnerung, vielleicht auch eine Hoffnung, aber keine Gegenwart.« (Buber, Drei Reden über das Judentum, S. 14; jetzt in: MBW 3, S. 221.) 93. Buber, Das Problem des Menschen, S. 168; jetzt in diesem Band, S. 311.
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um die Mitteilung geht, die von einer Wirklichkeit Zeugnis ablegt. An exponierter Stelle in Religion als Gegenwart, an der er auf die Frage antwortet, ob das In-Beziehung-Treten zum »große[n] Du, das wir Gott nennen« die vielen Dus eine, sagt Buber: »Man kann es so ausdrücken. Es kommt im Grunde darauf an, daß man diese Dinge empfindet. Und wenn man es richtig empfindet, kommt es nicht so sehr darauf an, wie man es sagt.« 94 Eine solche Aussage scheint die Kritik, die Gershom Scholem 95 etwa an Buber richtet, er schwelge in Bildern, er verlasse sich im hohen Maße auf Rhetorik, pflege eine Sprache, die über notwendige begriffliche Abgrenzungen hinweg gleite und lasse seine Gedanken vom Affekt bestimmen, geradezu herauszufordern. Einerseits aber führt Bubers Aussage gerade methodisch an eine Erfahrung heran, die er sehr wohl von Fehlauslegungen fernhalten will. Sie ist also Teil eines strukturierten heuristischen Aufbaus. Andererseits wird er auf die Frage nach dem Kriterium von »richtig« im Ausdruck »wenn man es richtig empfindet« immer wieder darauf hinweisen, dass er lediglich von einer menschlichen Möglichkeit Zeugnis ablege. Ein Kriterium außer dem jeweiligen eigenen Vollzug dieser Möglichkeit gebe es nicht. Die Sprache, die Buber benutzt, beansprucht ihren Sinn innerhalb der Bezeugung. Diese sei persönlich, und das Ereignis, auf das er sich beziehe, sei auch persönlich, nicht aber, betont Buber, »subjektiv«. In der lebendigen Beziehung zu einem »Du« und zu einem »absoluten Du« zu stehen, heiße nicht, auf einen psychischen Inhalt bezogen zu sein, sondern sich auf etwas hin zu öffnen, das ontisch anders als das eigene Bewusstsein sei. Buber legt in der Vortragsreihe Religion als Gegenwart dar, auf welche Weise die philosophische Anthropologie mit der Religion in Verbindung gebracht und auf welche Weise diese Verbindung verfehlt werden könne. Er geht von der Frage aus, inwiefern Religion absolute Gegenwart sei. Wie in seiner Erörterung des Unterschieds zwischen Orientierung und Verwirklichung in Daniel und zwischen Ich-Es und Ich-Du in Ich und Du spielt hier eine wichtige Rolle, ob das thematisierte Phänomen an ein anderes angrenzen kann oder nicht. Bei der Idee der Religion als gelebte Gegenwart, die er hier erörtert, ist die Gegenwart nicht eine, die abfließen und zur Vergangenheit werden kann, nicht ein Jetztpunkt, der durch einen neuen Jetztpunkt ersetzt wird, der seinerseits durch einen Jetztpunkt in die Vergangenheit geschoben wird. Sie ist nicht lediglich ein immanentes Moment des menschlichen Bewusst94. Buber, Religion als Gegenwart, jetzt in diesem Band, S. 142. 95. Gershom Scholem, Martin Bubers Auffassung des Judentums, in: Ders., Judaica 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 133-192.
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seinsflusses. Buber denkt vielmehr an eine Gegenwart, »in der der Mensch stünde, etwas, worin der Mensch lebte und das zugleich nur er in seiner Innerlichkeit und mit Aufwand seiner ganzen Innerlichkeit zu erfüllen vermöchte.« 96 Seine Darlegungen wollen zeigen, dass Religion erstens absolute Gegenwart sei, dass sie zweitens unbedingte Wirklichkeit sei und dass sie drittens für jeden da sei. Die Ausgangssituation, der sich sein Denken stellen muss, ist eine Zeit, in der Religion hingegen als etwas Relatives aufgefasst wird, das von verschiedenen Sphären funktionell abhängt. Damit ist es für Buber notwendig, die Weisen zu besprechen, in denen die Einstellung dieser Zeit die Religion als abhängig betrachtet. Aufgrund dieser Einstellung bezeichnet Buber die Zeit als eine »der Talsenkung, der tiefsten Senkung zwischen zwei emporgewölbten Welten des Wortes, des Gesetzes, der Welthaftigkeit« 97 . Spricht er hier vom »Charakter des Schweigens, […] des angehaltenen Atems« 98 dieser Zeit, so nimmt dieses Wort das vorweg, was Buber dreißig Jahre später am Ende von Gottesfinsternis schreiben wird, nach einem Geschichtsverlauf, dessen er in diesem Buch gedenkt: »Es geht etwas in den Tiefen vor sich, das noch keines Namens bedarf; morgen schon kann es geschehen, daß ihm von den Höhen zugewinkt wird, über die Köpfe der irdischen Archonten hinweg.« 99 Der Hinweis Bubers auf die »irdischen Archonten« gesellt sich in Gottesfinsternis zu seinem Kommentar zur Art und Weise, auf die Heidegger »die sinistre Hauptperson des damaligen Geschichtsgeschehens« 100 zur Wirklichkeit und zum Gericht über die Geschichte machte. Er fügt sich aber auch zu Bubers Diskussion in Gottesfinsternis der »Stimmen der Moloche« und der »falschen Absoluta« in der zeitgenössischen Wirklichkeit, mit denen er die Unterminierung der Ethik durch die Bereitschaft zum Opfer vor Götzen »von links und von rechts« 101 verbunden sieht. Die Verwechslung, die das Bedingte für das Unbedingte nimmt, und die dadurch entstehende Unfähigkeit, das wahre Absolute zu sehen, stellt Buber sowohl bei Heidegger als auch in diesem zweiten Fall fest. Bubers Besinnung in Gottesfinsternis auf Kierkegaards Furcht und Zittern thematisiert die »Frage der Fragen, die Vortritt vor jeder anderen hat: ob du wirklich vom Absoluten angesprochen wirst oder von einem seiner Affen« 102 . Von Religion als Gegenwart 96. 97. 98. 99. 100. 101. 102.
Buber, Religion als Gegenwart, jetzt in diesem Band, S. 89. Ebd., S. 90. Ebd. Buber, Gottesfinsternis, S. 153; jetzt in diesem Band S. 440. Ebd., S. 93; jetzt in diesem Band, S. 407. Ebd., S. 144; jetzt in diesem Band, S. 435. Ebd., S. 142 f.; jetzt in diesem Band, S. 434.
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bis zu diesen Stellen in Gottesfinsternis wird Bubers Bestreben deutlich, Unterscheidungen vorzunehmen, die das wahre Absolute von seinen nachäffenden Gestalten zu trennen vermögen. Eine wichtige Stufe dieser Unterscheidungen bildet die kritische Betrachtung, die Buber in Religion als Gegenwart über die Arten vollzieht, auf die Religion, die als absolut verstanden werden sollte, von einer jeweils anderen Sphäre des Seins sowie der ihr entsprechenden Wissensdisziplin funktionell abhängig gemacht wird. Diese Sphären unterscheidet Buber einerseits in die »objektiven Sphären« – das Leben und die Biologie, die soziale Gruppe, die Kultur – andererseits in die »Sphären des personalen Geistes« 103 – die Kunst, die Ethik, die Wissenschaft, die Philosophie. Zur zweiten Gruppe gehört sodann die Sphäre, die aus der Seele und der sich darauf beziehenden Psychologie besteht, der Buber besondere kritische Aufmerksamkeit widmet. In diesem Zusammenhang vollzieht Buber im dritten Vortrag eine Unterscheidung, die für sein künftiges Denken über die Religion zentral ist. Es geht ihm um die Frage, ob die Religion von der Sphäre der Psychologie funktionell abhängig ist. Buber differenziert den Begriff der Seele, der hier im Spiel ist, indem er zunächst eine Auffassung erörtert, die nicht in der Psychologie vorkommt. »Seele« könne man als »Beziehung« verstehen. Diese sei »die Beziehung des Menschen zu Welt, zu Dingen, zu Wesen, zu Menschen, zu dem Sein, zu sich selbst.« 104 Diese Beziehung sei einerseits unmittelbar subjektiv: »ist diese Beziehung, insofern sie von Menschen unmittelbar gewußt wird, insofern der Mensch unmittelbar von ihr weiß, ohne Andere fragen zu müssen« 105 . Sie sei aber auch »etwas, in das der Mensch eingefügt ist, das sich immer wieder zwischen dem Menschen und allem Sein stiftet«. Der Mensch »weiß« das »als Person […] unmittelbar«. Diese Konstellation wird nunmehr in Bubers Denken konstant auftreten. Es wird eine Beziehung zwischen dem Menschen als Person und allem Sein gestiftet, die nicht bloß zum menschlichen Bewusstsein gehört, obwohl sich der Mensch dieser Beziehung unmittelbar bewusst werden kann. Wenn der Mensch in dieses Zwischen »eingefügt ist«, hat es einen bewusstseinstranszendenten ontischen Charakter. »Seele«, die auf diese Weise als »dieses brückenhafte Wesen […] zwischen Mensch und Welt« verstanden wird, ist mit Bubers Begriff von Religion vereinbar, mehr noch, sie »bildet […] eine wesentliche Voraussetzung des Religiösen« 106 . Die hier skizzierte Struktur trägt ausdrücklich 103. 104. 105. 106.
Buber, Religion als Gegenwart; jetzt in diesem Band, S. 106. Ebd., S. 107. Ebd. Ebd.
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oder unausdrücklich das Denken Bubers zur Religion, das nicht nur in Religion als Gegenwart, sondern auch in den anderen Schriften im vorliegenden Band zum Ausdruck gelangt. Die Auffassung von »Seele«, gegen die Buber sich im Zusammenhang mit der Religion richtet, ist Gegenstand der Psychologie. Diese trennt einen Bereich des Menschen ab und betrachtet die nunmehr von der Welt abgesonderte Psyche. Die Seele als »in sich geschlossener Apparat« wird in Phänomengruppen unterteilt. Als Denken, Fühlen, Wollen, usw. werden diese eigens untersucht. Buber bespricht kritisch den Begriff »Erlebnis« und den Versuch Max Schelers, das Religiöse als Akt darzulegen, als weitere Aspekte dieser psychologischen Betrachtung der Seele. Das, was Buber hier prüfend im Blick hat, ist die Subjektivierung der Einstellung zur Religion. In der dabei beanspruchten Subjektivität sieht er eine Unstetigkeit und Diskontinuität. Die Seele hingegen, die an der religiösen Einstellung teilhat, ist für Buber eine, die mit der Welt und mit Gott verbunden ist. Der Begriff »Erlebnis« ist ihm jetzt verdächtig, weil Buber mit der religiösen Einstellung die Teilnahme an einem Vorgang und nicht die Abkapselung im Bewusstsein denken will. Dem Begriff »Erfahrung« tritt er hier auch kritisch entgegen. Wie in Ich und Du versteht er die Erfahrung hauptsächlich als Einstellung auf einen Gegenstand. In der Erfahrung, die sich auf diese vergegenständlichende Weise gestaltet, hat für Buber die religiöse Einstellung keinen Platz. Bei seiner Kritik an der Subjektivität, die als Erlebnis auftritt, bezieht sich Buber auf das Unstete und das Zerrissene, das dieses beinhaltet. Einerseits rechtfertigt er seinen eigenen früheren Gebrauch des Wortes »Erlebnis«, der an bestimmten Momenten im Lebensablauf ihren besonderen Ichbezug betonen sollte. Es gilt bei diesen Momenten, über die Feststellung hinaus, dass das Ich »nominativ dieses Ichsubstantiv lebt« 107 , herauszustellen, dass das Ich spürbar in seiner Subjektivität lebt. »Ich lebe« werde dann zu »Ich erlebe«. Bei diesem Vorgang wird wohl ein Teil des Lebensablaufs ausgesondert, um es ganz als Subjektivität zu markieren. Bubers Kritik richtet sich indessen auf die Art, wie in diesem Verhältnis des Teilmoments zum Lebensablauf das Ausgesonderte sich aufspielt, zum Anlass des Genusses und zur »Kostbarkeit« gerät. Er kontrastiert die Tatsache, dass der Mensch einerseits in eine große raumzeitliche Stetigkeit eingefügt ist, mit dem »Herausholen« von Momenten dieses Kontinuums »zum Gebrauch und Geschmack unserer Subjektivität« 108 . Diese Subjektivierung des Lebens bedeute, dass die ausgesonder107. Ebd., S. 111. 108. Ebd.
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ten, unsteten Momente lediglich ergötzliche Fragmente seien und nicht »Ereignisse, die eingefügt sind in das Sein« 109 . Erhebe man diese derart präparierten Momente des erhöhten Lebens zum Religiösen, so führe das zu dessen Vernichtung. Gegenüber der »Wirklichkeit, […] etwas, worin man steht, worin man eingehüllt, eingewoben ist«, auf der einen Seite stellt Buber »die Flüchtigkeit, die Unverbundenheit, die Losgerissenheit von Lebensmomenten« 110 auf der anderen Seite. Wenn das Religiöse auf diese Seite gezogen werde, entarte es zur Fiktion, die »unter allen Fiktionen, die aus der Religion gemacht worden sind, die allerfiktivste« 111 sei. Der Weg, den Buber in Religion als Gegenwart geht, führt von der Darstellung der funktionellen Unterordnung der Religion zur Herausstellung der damit korrelierenden Einstellung zur Welt in den Es-Erfahrungen. Nachdem er diese analysiert hat, führt Buber die Beziehung des Ich zum Du als grundverschiedene Haltung ein. In der Erläuterung dieser Haltung stellt sich Buber die Frage der möglichen Einheit angesichts der Diskontinuität, der Zerrissenheit, auf die er in seiner Erörterung des Erlebnisses hingewiesen hatte. Die Frage der Einheit war für Buber in Daniel ein zentrales Thema. Dort stellte er dar, wie der Mensch danach strebe, die Polarität, die er in sich und in der Welt erlebe, auf eine Einheit zu bringen. Gespräch sei Polarität und alle Formen der Dichtung seien Gespräch, weil sie Arten seien, Polarität zu gestalten, bestimmt er dort. Im vierten Gespräch in Daniel, »Von der Polarität«, schreibt Buber, dass die Einheit nicht aus der Welt, sondern aus der Tat des Menschen entstehe. Im fünften Gespräch, »Von der Einheit«, zeigt er auf, dass der Mensch einerseits die Spannungen der Welt in sich aufnehme und als solche der Seele erlebe, andererseits in der Tat, die Buber »Verwirklichung« nennt, diese Spannungen auf die Erweckung des Unbedingten in sich hin durchlebe. Darin bilde sich im Ich als dem Unbedingten die Einheit von Leben und Tod. In Religion als Gegenwart indessen grenzt sich Buber vom mystischen Einheitsdenken ab. Das Ich, das in der Ich-Es-Beziehung lebt, ist schon Teil eines kontinuierlichen Weltgefüges, aber dessen Sinn wird erst in der Ich-Du-Beziehung enthüllt. Diese bleibt punktuell. Es ergibt sich also die Frage, wie die Diskontinuität der Einzelverwirklichungen der Ich-Du-Beziehung auf Einheit hin gedacht werden kann. Das Problem, mit dem Buber bei seiner Bestimmung der punktuellen Augenblicke der 109. Ebd. 110. Ebd. 111. Ebd.
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erfüllten lebendigen Beziehung sich konfrontiert sieht, hat eine strukturelle Ähnlichkeit mit demjenigen, das sich Descartes aufdrängte, als er sich fragen musste, worin die Kontinuität des Ichs zwischen den einzelnen Augenblicken der Selbstvergewisserung im ego cogito, ego sum besteht. Im Nachwort zu seinen dialogischen Schriften, »Zur Geschichte des dialogischen Prinzips«, schreibt Buber, dass er außer Descartes’ Discours de la méthode zwischen 1919 und 1923 »keine Philosophica las«. Diese Behauptung hat Rivka Horwitz mit Bezug auf Rosenzweigs Der Stern der Erlösung zu widerlegen versucht. 112 Während Bubers Behauptung bezüglich dessen, was er nicht las, strittig ist, sollte sie bezüglich dessen, was er ausdrücklich las, weniger problematisch sein, kann sich hier doch kein Grund für die Vermutung einer »anxiety of influence« empfehlen. Descartes versuchte das Problem durch die Idee des concours Gottes zu lösen. Buber geht das Problem der Diskontinuität so an, dass er die einzelnen Verwirklichungen der Ich-Du-Beziehung als Übergänge zur Beziehung zum absoluten Du auffasst. Die Einheit wird in der Bewährung der Beziehung zum absoluten Du durch die einzelnen Instanzen der Ich-Du-Beziehung hindurch gestiftet. 6. Zeichen und Augenblick Bubers Buch Zwiesprache ist das philosophische Scharnier zwischen Ich und Du und seinem späteren Denken. In den drei Hauptabschnitten »Beschreibung«, »Begrenzung« und »Bewährung« legt er in systematischer Dichte die erkenntnistheoretischen, sprachphilosophischen, sozialphilosophischen und religionsphilosophischen Aspekte, die »[d]ialogisches Leben« 113 und »[d]ialogisches Dasein« 114 betreffen, dar. »Zwiesprache« als Obertitel bezieht sich auf die Art, auf die der Mensch von der Welt wortwörtlich in Anspruch genommen wird, auf die er antwortet: »Zeichen geschehen uns unablässig, leben heißt angeredet werden« 115 . Das, was den Menschen in diesem Geschehen anrede, sei die Welt, »das Weltkonkretum, das mir jeweils in jedem Augenblick zugereicht wird.« 116 Buber führt weiter aus, dass jeder Mensch einen »Panzer« 117 trage, der die »Aufgabe« habe, diese Zeichen »abzuwehren«. Er stellt 112. 113. 114. 115. 116. 117.
Vgl. Horwitz, Buber’s Way to I and Thou, S. 21. Buber, Zwiesprache, S. 55. Ebd., S. 56. Ebd., S. 31. Ebd., S. 35. Ebd., S. 31.
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fest, dass dieser »Schutzapparat« durch die Generationen hindurch undurchlässiger werde. Die Wissenschaft übe diese Schutzfunktion systematisch aus, indem sie die Welt nach Gesetzen ordne. Dieses nach streng wissenschaftlich bestimmter Gesetzmäßigkeit ablaufende Weltgeschehen gehe den Menschen aber nichts an. Das Werk, in dem die Anrede des Weltgeschehens »sterilisier[t]« werde, »[d]as zusammenhängende, sterilisierte System, das in sich all dies nur einzufügen braucht«, nennt Buber »das Titanenwerk der Menschheit« 118 . Wichtig ist, dass Buber darauf hinweist, die Sprache werde diesem Werk »dienstbar« gemacht. Die Wissenschaft, die Sprache, die Mittel des Wissens, die in der Analogie und in der Typologie bestehen, aber auch die Methoden jenes Lesens der Zeichen, deren sich die Auguren bedienten, seien Formen der Neutralisierung der Anrede. Die Wissenschaft wird von Buber anerkannt und gewürdigt, doch betont er hier wie wiederholt in seinen anderen Schriften, dass sie sich ihrer Grenzen bewusst sein solle, dass sie das Wissen, das sie innerhalb eines Bereichs anwende, nicht auf die Bereiche der Anrede an den Menschen und der menschlichen Antwort darauf ausdehnen dürfe, für die ihr die Zuständigkeit fehle. Bubers im vorliegenden Band abgedruckten Bemerkungen zu Hugo Bergmanns (1883-1975) Buch Wissenschaft und Glaube und seine Ausführungen in Gottesfinsternis zu Carl Gustav Jungs (1875-1961) Bestimmung der Religion sind von dieser Position getragen, die ersteren in positiver, die letzteren in negativer Hinsicht. Im Hinblick auf die Formen des Wissens, die von den Auguren gebraucht werden, sowie auf den beanspruchten Ertrag ihres Wissens vertritt Buber den Standpunkt, den er sonst auch gegen die Gnosis einnimmt. Die Auguren, wie auch die Gnostiker, behaupten mehr zu wissen, als ihnen je zu wissen zustehen könnte. Um die Zeichen zu deuten, schlügen die Auguren in einem wie auch immer beschaffenen »Wörterbuch« nach. Im Gegensatz dazu sei die Antwort des Menschen auf »die Frage des Fragenden« 119 so unverfügbar wie diese Anrede selbst. Die Formulierung »heilige Unsicherheit«, die Buber in seinen Schriften für diese Anrede des Augenblicks benutzt, sowie seine Rede vom »schmalen Grat« 120 deuten auf diese Unverfügbarkeit des Augenblicks hin. Buber verwendet hierfür, wie bereits Kierkegaard und Heidegger und später Sartre in seiner Existenzphilosophie, das Wort »Situation«. 118. Ebd., S. 32. 119. Ebd., S. 35. 120. »Jenseits des Subjektiven, diesseits des Objektiven, auf dem schmalen Grat, darauf Ich und Du sich begegnen, ist das Reich des Zwischen.« Buber, Das Problem des Menschen, S. 168; jetzt in diesem Band, S. 311.
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Die Öffnung auf die Religionsphilosophie hin, die bei Buber in dieser Struktur der Anrede und Antwort gegeben ist, besteht darin, dass zum Sinn des Weltkonkretums gehöre, dass es »Schöpfung« sei. 7. Schwellen Für Bubers späteres Denken zu den Themen, die er in Religion als Gegenwart erörtert, ist sein 1929 auf der Frankfurter Tagung der Schopenhauer-Gesellschaft gehaltener Eröffnungsvortrag »Religion und Philosophie« ein wichtiger Beleg. Teile dieses Vortrags wurden später von Buber in sein Buch Gottesfinsternis, ins Kapitel das ebenfalls den Titel »Religion und Philosophie« trägt, integriert. Bubers Vortrag, dessen Titel den Gegenstand dieser Tagung namentlich aufnahm, widmet sich der Frage der möglichen Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Formen, Sinn in der Konkretion zu bewähren bzw. zu denken. Dies geschieht an einem Punkt seines Denkwegs, an dem er mitten in der Erkundung der Konsequenzen seiner Dialogphilosophie steht. Es weisen Denkstränge auf Religion als Gegenwart sowie auf Ich und Du zurück, während Buber zugleich Themen erörtert, die er im gleichen Jahr in Zwiesprache präsentiert und später in Die Frage an den Einzelnen und Gottesfinsternis weiterentwickeln sollte. Die Idee der »Erlösung des Alltags« – »Nur aus der Erlösung des Alltags wächst der All-Tag der Erlösung« 121 – oder der »Weihe des Alltags« 122 , die Buber in seiner Auffassung des Chassidismus betont und die er später mit derjenigen der existenziellen Bewährung verbinden wird, kommt hier in einem systematischen Zusammenhang vor. Die Frage des Mythos, mit der sich Buber in allen Perioden seines Denkens befasst, wird hier ebenfalls systematisch zum Thema. Buber bezeichnet den Gegenstand seiner Ausführungen in diesem Text als ein »Schwellenproblem«. Es geht nicht darum, die »Beziehung« zwischen Religion und Philosophie zu definieren, auf eine Formel zu bringen, in der jeweils das Wesen abgegrenzt und identifiziert würde. Er ist vielmehr bestrebt, »eine mögliche dialogische Auseinandersetzung« der einen mit der anderen herauszustellen. Dabei vollzieht er eine »Determination«, die er als »Ermittlung des gegenseitigen Verhältnisses« bestimmt. Buber unterscheidet zwei Abgrenzungsversuche zwischen Reli121. Buber, Geleitwort zu Die chassidischen Bücher, Hellerau: Jakob Hegner 1928, S. XXVI; jetzt in: MBW 17, S. 129-143, hier S. 139. 122. Buber, Geleitwort zu Der große Maggid und seine Nachfolge, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1922, S. XXXVIII; jetzt in: MBW 17, S. 66.
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gion und Philosophie, wobei er meint, psychologische und pragmatistische unberücksichtigt lassen zu können. Es gibt zwei Gründe für diese Ausschliessung: zum einen verkennen beide den »Ernst der Wahrheitsund Daseinsfrage« 123 ; zum anderen beachten sie nicht »die Gewißheit des F a k t i s c h e n « 124 , die immer zu einem religiösen Leben gehört. Die erste Unterscheidung, die er berücksichtigt, gründet in »Formen der Wahrheitswahrnehmung«. Eine »reine philosophische Form« einerseits und eine »allegorisch und mythisch gebrochene« Form andererseits werden voneinander abgegrenzt. Er unterstreicht, dass die Philosophie hier den Fehler begehe, »die Religion, wie sich selbst, als noetisch begründet« zu betrachten. Sie sehe die Religion als »eine unzulängliche Noësis« 125 . Die zweite Unterscheidung versteht die beiden als nach »Zielen oder Gehalten der Intention« abgegrenzt. Gerichtet sei die Philosophie demnach auf »Wesensforschung«, die Religion auf »Heilserkundung«. Während in der ersten Unterscheidung, die für die nach-kantische Philosophie kennzeichnend ist, das Wesen der Religion im Erkennen eines dieser Erkenntnis gegenüber gleichgültigen Gegenstands bestehe, vollziehe die Religion im Gegensatz hierzu eine »Gegenseitigkeit […] gegenwärtigen Kontakts von wirkender Existenz zu wirkender Existenz« 126 oder ein »Geloben«. Diese Gegenseitigkeit »in der Fülle des Lebens« sei gemeint, wenn es in der Religion irgend um das Erkennen gehe. Das »Geloben« sei gemeint, wenn es sich um Glauben handle. Dieser sei also nicht lediglich »ein zwischen klarem Wissen und trübem Meinen liegendes Fürwahrhalten« 127 , als welches er von der Philosophie betrachtet werde. Während Buber in dieser Fassung für seine Erörterung des Gelobens und der damit einhergehenden Idee der Verbindung auf Franz von Baader (1765-1841) verweist, der den Glauben dessen »Wortursprung gemäß als Geloben, d. h., ›als ein sich Verbinden, Vermählen oder Eingehen‹« 128 kennzeichnet, fällt dieser ganze Zusammenhang des Gelobens mitsamt dem Hinweis auf den Mystiker der deutschen Romantik in Gottesfinsternis weg. In diesem Buch spricht Buber vom Glauben als »Eintreten in diese Gegenseitigkeit, das Sich-Verbinden mit einem nicht aufzeigbaren, nicht feststellbaren, nicht beweisbaren, aber eben so, 123. Martin Buber, Religion und Philosophie, Europäische Revue 8 (1929), S. 325-335, hier S. 326; jetzt in diesem Band, S. 194-204; hier S. 195. 124. Ebd. 125. Ebd. 126. Ebd., S. 327; jetzt in diesem Band, S. 195. 127. Ebd., S. 326; jetzt in diesem Band, S. 195. 128. Ebd., S. 327; jetzt in diesem Band, S. 195.
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im Verbundenwerden, erfahrbaren Sein, von dem aller Sinn kommt.« 129 Gegenüber dem Vortrag »Religion und Philosophie« ist in Gottesfinsternis ein Schritt Bubers hin zu einer vermehrt ontologisierenden Sprache festzustellen. Dies, zusammen mit der Tatsache, dass er in Gottesfinsternis – neben den auch im Vortrag besprochenen Gestalten Epikur (340271/270 v. Chr.) und Buddha (563-483 v. Chr.) – in der Erörterung des Verhältnisses von Philosophie und Religion jetzt anders als im Vortrag von Heraklit (um 520-460 v. Chr.), Aischylos (525-456 v. Chr.) und Euripides (gest. 406 v. Chr.) ausgeht, deutet auf eine weit über die ausdrücklich sich mit Heidegger befassenden Stellen seines Buches hinausgehende Antwort auf dessen Denken. Buber, wie Kant, benutzt in seinen Schriften das Wort »Dasein« oft, um die empirische Wirklichkeit zu kennzeichnen. In seinem Vortrag gibt es jedoch mindestens einmal einen Gebrauch des Wortes, der es in die Nähe zu Heideggers Denken rückt. An einer Stelle, die ebenfalls in Gottesfinsternis vorkommt, schreibt Buber: »Alle religiöse Wirklichkeit beginnt mit dem, was die biblische Religion ›Gottesfurcht‹ nennt, mit dem Unbegreiflichwerden des Daseins zwischen Geburt und Tod, mit der Erschütterung aller Sicherheiten durch das Geheimnis […]«. 130 Seine Bezugnahme auf Heideggers Denken, in der er durchaus bereit ist, auf Gemeinsamkeiten hinzuweisen, lässt Bubers Nähe zu diesem erkennen, wenn es darum geht, die neuzeitliche Philosophie des Subjekts und die Dominanz der Ratio kritisch in den Blick zu nehmen. Wie Heidegger will Buber dabei allerdings nicht dem Irrationalismus das Wort reden. Desweiteren führt Bubers Denken gleich dem Heideggers ins Ontologische hinein. Schließlich teilt er mit Heidegger und Hölderlin die Einsicht in die Gegenwart als »eine Stunde der Nacht« 131 . In jeder dieser Hinsichten aber unterscheidet sich Buber auch von Heidegger. Buber erörtert Heideggers Denken an systematisch bedeutsamen Stellen in seinen Büchern und Aufsätzen der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre. Im Kapitel in Gottesfinsternis, in das Buber den Vortrag »Religion und Philosophie« integriert, thematisiert er kritisch, wie Heidegger auf der Grundlage seiner mit Hölderlins Dichtung ge129. Buber, Gottesfinsternis, S. 41; jetzt in diesem Band, S. 378. 130. Buber, Religion und Philosophie, S. 331 f.; jetzt in diesem Band, S. 200-201. Umgearbeitet ist die Stelle in Gottesfinsternis aufgenommen worden: »Alle religiöse Wirklichkeit beginnt mit dem, was die biblische Religion ›Gottesfurcht‹ nennt, das heißt mit dem Unbegreiflich- und Unheimlichwerden des Daseins zwischen Geburt und Tod, mit der Erschütterung aller Sicherheiten durch das Geheimnis […]«. (Buber, Gottesfinsternis, S. 45; jetzt in diesem Band S. 389.) 131. Buber, Gottesfinsternis, S. 29; jetzt in diesem Band, S. 371.
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dachten Abwesenheit des Göttlichen eine erneute Erscheinung »des Gottes und der Götter« als Möglichkeit verheißt. Hier betont Buber, dass in einem Augenblick der Geschichte, in der »unsere Schicksalsfrage, die Frage nach der wesenhaften Differenz zwischen aller Subjektivität und dem ihr Übermächtigen bevorsteht«, Heideggers Nebeneinander von Gott und Götter suggeriere, »es könnte nach der bildlosen Zeit der Zug der Bilder – Gottesbilder, Gottes- und Götterbilder – von neuem einsetzen […].« 132 Was Buber hier prinzipiell moniert, ist, dass die Dimension, in der die Begegnung mit dem Göttlichen stattfinde, in dieser Vision Heideggers fehle. Vom Denken Bubers her ist Heideggers Anspruch auf die Verheißung der Möglichkeit des Göttlichen in dreifacher Weise verfehlt. Erstens hat die Kombination von Gott im Singular und im Plural »einen anderen Klang« als sie bei Hölderlin hatte, der »Gott und dessen Erscheinungen in den wirkenden Naturmächten, die ›Götter‹ pries« 133 . Es handelt sich um eine geschichtliche Verschiedenheit des Anhalts an der Sprache in ihrem Verhältnis zum Sein sowie um einen anderen Sinn des Göttlichen. Zweitens, wie im Hinblick auf den »Zug der Bilder« angedeutet, »ohne daß der Mensch seine wirklichen Begegnungen mit dem Göttlichen erführe und annähme« 134 , können diese Bilder nicht »von neuem ansetzen«. Drittens bezieht sich Buber auf die »in dieser Stunde zu sprechende Sprache« 135 , um in Frage zu stellen, ob eine Zusammenstellung von Gott und Göttern »in der Dimension der wirklichen Begegnung« gegenwärtig möglich sei. Diese Gedanken Bubers bilden den Hintergrund für seine erneute Besinnung auf Heidegger im Zusammenhang der Gestalt und des Göttlichen Mitte der fünfziger Jahre. 8. Gestalt Der in diesem Band enthaltene Essay »Der Mensch und sein Gebild«, der 1955 erschien, wurde von Buber mit vier anderen Texten im ersten Band seiner 1962 veröffentlichten Werke unter dem Titel »Beiträge zu einer philosophischen Anthropologie« zusammengestellt. Jeder dieser Texte erläutert eine Dimension dessen, was Buber das »Menschsein« nennt. In 132. 133. 134. 135.
Ebd., S. 30; jetzt in diesem Band, S. 372. Ebd. Ebd. Ebd. Zur Frage der Sprache in der philosophischen Beziehung Bubers und Heideggers siehe Meike Siegfried, Zum Sprachdenken bei Heidegger und Buber, Freiburg 2010.
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»Urdistanz und Beziehung« von 1950, dem ersten Text in dieser Reihe, wird als »Prinzip des Menschseins« die doppelte Bewegung der Distanzierung und des In-Beziehung-Tretens bestimmt und die Begriffe von »Seinszusammenhang« und »Welt« erörtert. In einem Abschnitt dieses Artikels werden, wie zu Beginn dieser Einleitung erwähnt, Johann von Uexkülls Theorien zur »Umwelt« des Tiers skizziert. Bubers Kritik an diesem Gebrauch des Worts »Welt« für die Umgebung, auf die das Tier bezogen ist, zielt auf die Tatsache, dass erst der Mensch durch seine Distanzierung von den sich aufdrängenden Empfindungen in der Lage ist, das Wahrgenommene durch das Wahrnehmbare zu ergänzen und daraus eine Einheit zu machen, die ihm als Bestand entgegentritt. Der Bestand, der durch die Distanzierung entsteht, wird zu einem Ganzen zusammengefügt. Bubers Bestimmung dieses Sachverhalts ist für seine Auffassung vom Menschen zentral: »Erst wenn einem Seienden ein Seinszusammenhang selbständig gegenüber, selbständiges Gegenüber ist, ist Welt.« 136 Die philosophisch-anthropologischen Grundlagen für Bubers Herausstellung dieser Struktur liegen letztlich bei Johann Gottfried Herder (1744-1803), spezifisch in dessen Erörterung der Voraussetzungen der »Besonnenheit« beim Menschen, die er in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) vornimmt, sowie bei Wilhelm von Humboldts (1767-1835) Gedanken zu den kognitiven Strukturen, die mit der Sprache verwoben sind. In Ich und Du unterschied Buber drei »Sphären«, die die »Welt der Beziehung« ausmachen: erstens »das Leben mit der Natur«, zweitens »das Leben mit den Menschen« und drittens »das Leben mit den geistigen Wesenheiten«. Er kennzeichnet in der dritten Sphäre die verschiedenen Formen der Verwirklichung im »Beziehungsereignis« durch eine Thematisierung der Kunst und der Sprache. Die Anordnung der fünf Beiträge zur Anthropologie folgt dieser Struktur und schließt im fünften Artikel, »Schuld und Schuldgefühle«, mit einer Besinnung über den Glauben. Die eminente Rolle, die Buber der Kunst in den menschlichen Verwirklichungsweisen zuschreibt, wird unterstrichen, wenn er in seinem Essay »Der Mensch und sein Gebild« eine Grundbestimmung aus dem fünf Jahre früher erschienenen Text »Urdistanz und Beziehung« zitiert: »Kunst ist Werk und Zeugnis der Beziehung zwischen der substantia humana und der substantia rerum, das gestaltgewordene Zwischen.« 137 In dieser Hinsicht ist Bubers Unterscheidung zwischen 136. Martin Buber, Urdistanz und Beziehung, in: Studia Philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft, Vol. X, Basel: Verlag für Recht und Gesellschaft 1950, S. 7-19, hier S. 9 (aufgenommen in: Werke I, S. 411-423, hier S. 413).
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Formen der Mitteilung, die er in Gottesfinsternis trifft, aufschlussreich. Dort grenzt er die religiöse und die künstlerische Mitteilung von der Philosophie ab. In der religiösen Mitteilung werde ein »Seinsgehalt« 138 nur in der Paradoxie kundgetan. Darin ergibt sich ein für Buber wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Religion und Theologie. Die Paradoxie sei nicht eine »erweisliche Behauptung« 139 . Das ist ein Grund, warum Buber in der im vorliegenden Band abgedruckten Notiz zu Leo Schestow (1866-1938) diesen als einen »eminent religiösen Denker« kennzeichnet, dessen »unerschrockene Redlichkeit des Fragens« ihn dazu bringe, »zuweilen statt einer einzigen Antwort zwei zu finden, die einander widersprechen« 140 . Insofern die Theologie den Anspruch erhebe, einen Seinsgehalt in einer solchen Behauptung wiederzugeben, bestimmt sie Buber lediglich als »eine fragwürdige Art der Philosophie«. In Hinsicht auf die Religion ist »ein fragender Denker« wie Schestow, der »keine fertigen Antworten in seiner Tasche hat« 141 für Buber »ein repräsentativer Denker unserer Epoche«, weil er die Grenzen des Logos respektiere. Maßgebend für die künstlerische Mitteilung sei die Gestalt. Von dieser lasse sich ein mitgeteilter Inhalt nicht abtrennen. Zu »selbständigem Vorhandensein« des Gehalts könne es nicht kommen. Die Philosophie sei allein fähig, einen Seinsgehalt objektiv mitzuteilen und zu tradieren, und zwar durch ihre »objektivierende Bearbeitung der Situation« 142 . Die Gestalt trat bereits in Ich und Du als etwas auf, das dem Menschen »gegenübertritt«. Buber erörterte sie als ein Hervorrufen der wirkenden Kraft des Menschen, damit ein Werk entstehe. Gestalt sei nicht einfach etwas am äußeren Ding, das abgebildet wird, noch sei sie ein inneres Ding, ein Inhalt des Bewusstseins als Produkt der Einbildungskraft, sondern sie werde im schaffenden Vorgang verwirklicht. In Ich und Du kennzeichnete Buber die dem Menschen gegenübertretende Gestalt als »Erscheinung«. Wenn der Essay »Der Mensch und sein Gebild« nicht mehr von »Erscheinung« spricht, liegt ein wichtiger Grund hierfür in der Tatsache, dass Buber Heideggers »Ursprung des Kunstwerks« und andere Texte in dessen Sammlung Holzwege von 1950 im Blick hat und 137. Martin Buber, Der Mensch und sein Gebild, Heidelberg: Lambert Schneider 1955, S. 52 f.; jetzt in diesem Band, S. 449-463, hier S. 463. 138. Buber, Gottesfinsternis, S. 55; jetzt in diesem Band, S. 386. 139. Ebd., S. 54; jetzt in diesem Band, S. 386. 140. Martin Buber, Über Leo Schestow, in: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 35; jetzt in diesem Band, S. 574. 141. Ebd. 142. Buber, Gottesfinsternis, S. 55; jetzt in diesem Band, S. 386.
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ihnen gegenüber nicht in einen Idealismus zurückfallen will. Er schreibt in diesem Sinn: »Schau ist figurierende Treue zum Ungekannten, die im Zusammenwirken mit ihm ihr Werk tut. Sie ist Treue nicht zur Erscheinung, sondern zum Sein – dem unzugänglichen, mit dem wir umgehen.« 143 Er schließt sich wohl an Conrad Fiedlers These an, dass die Gestalt über die Wahrnehmung hinausgehe und sie natürlich fortentwickle, lehnt aber dessen Behauptung des Vorrangs des Erkenntnisvermögens und die Fiedler dabei leitende Konzeption eines weltproduzierenden Subjekts ab. Bubers Denken über die Beziehung zu Gott ist von einer entschiedenen Ablehnung des Subjektivismus geprägt. In der Begegnung mit dem »absoluten Du«, wie auch mit dem nicht-göttlichen Du, in dem das göttliche Du als Spur bezeugt wird, ist das Ich nicht lediglich auf ein bewusstseinsimmanentes Bild bezogen. Wie man auch das letztere Verhältnis auffasst, gleich ob transzendental-philosophisch oder psychologisch, es bleibt der Mensch innerhalb seines eigenen Ichs gefangen. In der Begegnung mit dem Du hingegen öffnet sich der Bereich des Zwischen. Buber versteht diese Öffnung als ein »Ereignis«, das ontisch ist. Im Zwischen findet eine Beziehung zum Anderen statt, die Seinscharakter hat. Dieses ontische Verhältnis gilt auch für das Gebilde und für dessen Verwirklichung der Gestalt. Im Zwischen der Beziehung zwischen dem Menschen und der Umgebung erheischt diese die Verwirklichung der Gestalt. Wird auch das Produkt dann unausweichlich zum Gegenstand und damit zum Pol einer Ich-Es-Einstellung, kann der Mensch doch zu ihm immer noch in die lebendige Ich-Du-Einstellung treten. 9. Existenz Buber antwortet auf die der Erkenntnistheorie gewidmete Gruppe von Fragen, die in diesem Band in den Philosophical Interrogations (1964) gestellt werden, indem er sich zum einen auf die Treue zu seiner Grunderfahrung des Ich-Du sowie zu dem damit verbundenen Glauben, zum anderen auf die »heilige Unsicherheit« 144 im Hinblick auf allgemeine Kriterien für diese Erfahrung bzw. diesen Glauben bezieht. Er rekurriert also auf dasselbe Wort, mit dem er fünfzig Jahre zuvor in seinem Buch Daniel das Reich Gottes gekennzeichnet hatte. Dieses nannte er im drit143. Buber, Der Mensch und sein Gebild, S. 35; jetzt in diesem Band, S. 457. 144. Interrogation of Martin Buber, S. 58 (Antwort auf eine Frage von Paul E. Pfuetze); deutsches Typoskript jetzt in diesem Band, S. 832.
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ten Gespräch des Buchs, »Von dem Sinn. Gespräch im Garten«, »das Reich der Gefahr und des Wagnisses, des ewigen Beginnens und des ewigen Werdens, des aufgetanen Geistes und der tiefen Verwirklichung, das Reich der heiligen Unsicherheit.« 145 Bubers »heilige Unsicherheit« ist ein Echo der Stelle, an der Kierkegaard die »heilige Hypochondrie« Johann Georg Hamanns (1730-1788) am Ende seines Buchs Der Begriff Angst (1844) zitiert und kommentiert hatte: »Diese Angst in der Welt ist aber der einzige Beweis unserer Heterogenität. Denn fehlte uns nichts, so würden wir es nicht besser machen als die Heiden und Transcendental-Philosophen, die von Gott nichts wissen und in die liebe Natur sich wie die Narren vergaffen; kein Heimweh würde uns anwandeln. Diese impertinente Unruhe, diese heilige Hypochondrie ist vielleicht das Feuer, womit wir Opfertiere gesalzen und vor der Fäulnis des laufenden seculi bewahrt werden müssen.« 146
Kierkegaard kennzeichnet in Der Begriff Angst (1844) diese Bemerkung Hamanns in einem Brief an Herder von 1781 als Zeugnis für einen Begriff der Hypochondrie »in einer höheren Bedeutung« als die übliche. Im Gegensatz zum Hypochonder im gewöhnlichen Sinn werde derjenige, der »durch die Möglichkeit gebildet« werde, der in der Angst »die Allmacht der Möglichkeit« 147 lerne, zur absoluten Bildung im Glauben gebracht. Die Angst des gewöhnlichen Hypochonders wird von Kierkegaard als zufällig betrachtet, weil sie »zum Teil vom Leiblichen abhängt« 148 . Die Hypochondrie »in einer höheren Bedeutung« hingegen sei mit derjenigen Möglichkeit, die den Menschen vor die Unendlichkeit bringe, zu vergleichen. Die religiöse Existenz werde durch diese Möglichkeit als Freiheit bestimmt. Buber vernahm sowohl bei Kierkegaard als auch bei Hamann die Evozierung einer religiösen Haltung, die sich von einer engen Auffassung der Vernunft und von einer lediglich äußeren Observanz des Ritus abgrenzte. Er fand bei beiden die Anerkennung dessen, was er in Ich und Du die »Paradoxie des Urgeheimnisses« 149 nennen sollte, als Charakter der religiösen Erfahrung. In Daniel tun sich beim »Weg der Entscheidung« zwischen der »menschlichen Bewahrung« in der »Orientierung« einerseits und dem Wagnis der »Verwirklichung« oder der »Realisierung« andererseits »Abgründe« auf. Buber kennzeichnet diese als äußere und in145. Buber, Daniel, S. 79; jetzt in: MBW 1, S. 214. 146. Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, übers. von Walter Rest, in: S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode und Anderes, hrsg. von Hermann Diem und Walter Rest, Köln u. Olten 1956, S. 640. 147. Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 638. 148. Ebd., 639. 149. Buber, Ich und Du, S. 117.
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nere. Er legt in Daniel die »Polarität« frei, die das Verhältnis des Menschen zur Welt, aber auch die Spannung innerhalb des Menschen und zwischen Dingen in der Welt bestimme. Es sind vier Arten von Abgründen, die den Menschen betreffen: bei den »Weltkundigen« der Abgrund zwischen Dingen und Bewusstsein; bei den »Gotteskundigen« jener zwischen Mensch und Gott; bei den »Geistkundigen« jener zwischen Idee und Erfahrung; bei den »Geheimniskundigen« jener zwischen Scheinwelt und wahrer Welt. Bei allen diesen Arten der »Zweiheit« biete die »Orientierung«, die in der Welt »bewahrt« werde, Wege der Sicherheit, die für die Überbrückung der Abgründe sorgten. Für den Menschen, der für die »Verwirklichung« lebe, gebe es nicht diese sanktionierten Wege. Buber schreibt: »Er ist unbewahrt in der Welt« 150 , und er entwirft einen Gegensatz zwischen dem Menschen, der sich im »Netz seines Orientierungssystems verstrickt« 151 , und dem Menschen, der frei handelt. Der erstere kenne sich in den Zusammenhängen von Ursache und Wirkung aus, konzipiere sein Handeln danach in Termini der Entwicklung und kalkuliere Gut und Böse in Verbindung damit. Der frei Handelnde hingegen sei der Mensch der Verwirklichung, der nicht konzipiere, kalkuliere oder wisse, was Gut und Böse sei. Er habe im Gegensatz dazu Richtung und Sinn. Der Mensch sei zwar »nicht zu Hause in der Welt« aber im Einvernehmen mit Richtung und Sinn erfülle sich sein Handeln als sein eigenes: »wenn er handelt, tut er seine Tat und keine andere, wählt er sein Los und kein anderes, entscheidet er sich mit seinem Wesen.« 152 Bubers Erläuterung dieses freien Handelns bestimmt es als gegen den Vorwurf der illusionären Subjektivität gefeit. Schreibt er, dass der Sinn »der Seele ureigen beigegeben [ist], entfaltet und bewährt zu werden an ihrem Erleben«, so denkt er hier an eine Erfüllung des individuierten Menschen, die nur durch die Entscheidung und durch die Wahl möglich ist. Die Richtung dieser Wahl gehe auf »Gott, der verwirklicht werden will.« 153 In der Erschaffung von Einheit aus der Zweiheit der Abgründe, vor die sich der Mensch gestellt finde, und nicht lediglich aus der Mischung, die in der Orientierung stattfinde, wirke der Mensch mit an der Verwirklichung Gottes: »vollendende Einheit aus Spannung und Strom, wie sie der polaren Erde taugt – daß Gottes des Verwirklichten Antlitz leuchte aus Spannung und Strom.« 154 Buber
150. 151. 152. 153. 154.
Buber, Daniel, S. 73; jetzt in: MBW 1, S. 211. Ebd., S. 74; jetzt in: MBW 1, S. 211 f. Ebd. Ebd., S. 84; jetzt in: MBW 1, S. 216 Ebd.
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kennzeichnet dies als »unendliche Aufgabe«, der sich der Mensch in der »heiligen Unsicherheit« stellen müsse. Die Momente von Entscheidung und Wahl, verbunden mit der Idee der freien Handlung, die sich nicht durch ein Register von Vorgaben bestimmen lässt und die sich zentral in je-eigener Verantwortung ausdrückt, gehören zum Grundbestand der auf Kierkegaard zurückgehenden Ideen des Existenzialismus. Darauf bezieht sich Buber spezifisch und namentlich in seinen späteren Schriften, wobei die leitenden Probleme dieser philosophischen und literarischen Richtung bereits in Umrissen in einem Frühwerk wie Daniel ausgemacht werden können. Der in diesem Band enthaltene Text »Rosenzweig und die Existenz« aus dem Jahr 1956 konzentriert wie in einem Brennpunkt die Frage nach dem Menschen im faktischen Dasein in der Existenz. Buber führt auf dieser thematischen Grundlage einen Vergleich zwischen Heidegger und Rosenzweig aus, der für seine Interpretation seines eigenen Denkens von Daniel an maßgebend ist. Zentral für diesen Vergleich ist der Begriff der Wahrheit. In seiner Erörterung dieses Begriffs nimmt er wörtlich Bestimmungen auf, die er in den Büchern Das Problem des Menschen, Bilder von Gut und Böse und Gottesfinsternis getroffen hatte. Mit dem Begriff »Wahrheit« führt er den Begriff der »Bewährung« zusammen. In Das Problem des Menschen hatte er die Frage der Bewährung im Zusammenhang mit Heidegger und Augustinus aufgegriffen. Bemerkenswert ist, dass er Rosenzweig nun an einer Stelle ins Spiel bringt, die er für diesen Begriff in diesem wie in den anderen zwei Büchern freigelegt hatte. Buber legt dar, wie das zeitgenössische Denken nicht mehr einen Bereich des »objektiv gegebenen Seins« als »Ausgangspunkt« für die Philosophie bestimme, etwa Natur, Geist oder Geschichte, sondern von der Konkretion des Philosophierenden selbst ausgehe. Das Denken über den Menschen, das bislang in der Philosophie vollzogen wurde, fand, so bestimmt Buber, auf einer vergleichsweise abstrakten Ebene statt. Er unterstreicht, dass in der zeitgenössischen Philosophie des Existenzialismus hingegen der Mensch in »den Momenten seines Elends, in der Angst, in der Verlassenheit, in der Langeweile« 155 untersucht werde. Dabei nimmt Buber den Leitfaden seiner Argumentation aus Das Problem des Menschen wieder auf, wonach die Frage, was der Mensch sei, besonders in Zeiten der Verunsicherung gestellt werde und jetzt, angesichts der mit der Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft immer größer gewor155. Martin Buber, Rosenzweig und die Existenz, Mitteilungsblatt XXIV/52, 28. Dezember 1956, S. 3; jetzt in diesem Band, S. 464-466, hier S. 464.
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denen Heimatlosigkeit des Menschen, am meisten Brisanz aufweise. Der Mensch sei Thema des Existenzialismus, weil »wir Menschen uns so ausgesetzt und preisgegeben empfinden wie nie vorher« 156 . Heidegger wird von Buber als Beispiel der Philosophen angeführt, deren Faszination in der Tatsache gründe, dass sie sich der »so herznahen und doch so unheimlichen Konkretheit« 157 des Menschen in ihrem Denken widmen. Den Begriff der Wahrheit bei Heidegger bringt Buber mit dieser Konkretheit zusammen. Im Sein verborgen, gar die Verborgenheit des Seins selbst bildend, beanspruche Heidegger, dass »durch das Denken des wirklich denkenden Menschen« 158 die Wahrheit »ans Licht« komme. Gegen diese Auffassung führt Buber die von Rosenzweig in seinem Artikel »Das neue Denken« und in seinem Buch Der Stern der Erlösung entfaltete Position an, dass »die« Wahrheit notwendig »vielfältig« sei, zur Wahrheit für einen Menschen werde. Buber leugnet, dass »ein lockerer und unverbindlicher Subjektivismus« darin zu sehen sei. Vielmehr drückt sich hier der Gedanke der Bewährung der Existenz aus. Rosenzweig konzipierte jedoch die Bewährung der existenzialistischen Wahrheit nicht bloß, sondern, wie Buber nachdrücklich betont, er lebte selbst diese Bewährung. Es gilt für Buber, Rosenzweigs Treue zu seinem Dienst zu bezeugen, in Rosenzweigs Glauben und Humor das Vertrauen zu jeder Situation, bzw. die Annahme von dessen dem körperlichen Verfall anheimgegebenen Dasein sichtbar zu machen. Bubers Erörterung der Idee des Dienstes im Hinblick auf Rosenzweig ist mit seiner Darstellung der chassidischen Awoda in Die Legende des Baalschem verbunden. Sie hängt ebenfalls mit seiner Entfaltung des Gedankens der Person als Bewährung sowie der Existenz als Bewährung in Bilder von Gut und Böse zusammen. 10. Der unbehauste Mensch und die Ganzheit der Person Bubers Buch Das Problem des Menschen enthält seine ausführlichste Untersuchung der Frage der philosophischen Anthropologie. Auf ein 1938 an der Hebräischen Universität Jerusalem gehaltenes Kolleg zurückgehend, wurde die ausgearbeitete Fassung 1942 auf Hebräisch, 1947 in teilweise veränderter Form auf Englisch, 1948 auf Deutsch veröffentlicht. Das Buch widmet sich in seinem ersten Teil einem allgemeinen 156. Ebd. 157. Ebd. 158. Ebd.
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problemgeschichtlichen Abriss der philosophischen Anthropologie, während es im zweiten Teil Versuche Husserls und seiner philosophischen Nachfolge zu diesem Thema behandelt. Im ersten Abschnitt des ersten Teils werden das Problem der »Ganzheit der Person« und das Verhältnis der Subjektivität zu dieser Ganzheit dargelegt. Im entsprechenden Abschnitt des zweiten Teils wird die Frage nach dem Menschen vom Thema der Krise her erörtert. Beide Fluchtlinien führen bei Buber in die Dimension des Zwischen, der Beziehung zum anderen Menschen und durch diese hindurch zu Gott. Buber geht von einer Gegenüberstellung zwischen Kant und Heidegger aus, um vom Menschen aufzuzeigen, dass »zugleich und in einem mit der Endlichkeit seine Teilnahme an der Unendlichkeit« 159 erkannt werden müsse. Auch wenn Kant in seinen 1800 von Gottlob Benjamin Jäsche (1762-1842) herausgegebenen Vorlesungen zur Logik mit den Fragen »1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch?« auf die Dimension der philosophischen Anthropologie deutete, reichte seine auf dem Menschenbild des 17. und 18. Jahrhunderts beruhende Bestimmung des Menschen nicht aus, um die Fülle an Möglichkeiten, die dessen Existenz kennzeichnen, zu erfassen. Heideggers Versuch, in seinem Buch Kant und das Problem der Metaphysik (1929) diese Fragen Kants als Indizien der Endlichkeit des Menschen auszulegen, weist Buber zurück. Das Bestreben Heideggers, seine Fundamentalontologie mit ihrer Analyse des Daseins an die Stelle der Anthropologie zu setzen, gehe, so Buber, an Kant vorbei. Buber versteht nicht wie Heidegger Kants Fragen als privativ, vielmehr als hinleitend auf die Teilnahme des Menschen am Wissen, am Tun, an der Hoffnung. Kant führt die ersten drei Fragen auf die vierte zurück. Heidegger legt in seinem Buch dar, die Fundamentalontologie sei für Metaphysik und alle Einzelwissenschaften die Grundlegung. Buber stellt für seinen Teil die Struktur eines solchen Fundierungsverhältnisses in Frage. Nicht darum gehe es, in der menschlichen Existenz »sozusagen von unten statt von oben zu begründen« 160 , sondern die Eigenart der Anthropologie als Denkweise zu wahren, in der es um diese »Selbstbesinnung des Menschen« gehe. Mit »Selbstbesinnung« ist nicht ein Verhältnis des Menschen zu sich selbst als die vergegenständlichende Thematisierung, die ein »unberührter Beobachter« vollzöge, gemeint. Es handelt sich hier vielmehr darum, die Subjektivität einzubringen und in einem »Lebens159. Buber, Das Problem des Menschen, S. 14 f.; jetzt in diesem Band, S. 227. 160. Ebd., S. 19; jetzt in diesem Band, S. 229.
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akt« ein Innewerden der »Ganzheit der Person« durchzuführen. Buber schreibt von der »Wirklichkeit des ›Dabeiseins‹« 161 , die sich hierbei im Gegensatz zur vergegenständlichenden Selbstthematisierung ergebe. Die Herkunft dieses Denkens aus Diltheys Schriften zur Grundlegung der Geisteswissenschaften und zur philosophischen Hermeneutik ist ersichtlich. Dilthey stellt in seinen Schriften zur beschreibenden und erklärenden Psychologie sowie in seinen Entwürfen zur Kritik der historischen Vernunft das Selbstverhältnis als Beziehung des Erlebten zur Gesamtheit des eigenen »Lebenszusammenhangs«, also als Verhältnis des Teils zum Ganzen, das Innewerden und die Verankerung des Selbstverhältnisses im »Leben« als Strukturen des geistesgeschichtlichen Verstehens heraus. Insofern von Buber jedoch das Sein betont wird, das »ist«, das sich nur einstellen kann, wenn der Mensch sich nicht mehr als Ding im Blick »hat«, geht er über Dilthey hinaus. Er behält jedoch dessen Kennzeichnung des Selbstverhältnisses als Innewerden mitsamt den anderen eben angeführten Strukturen bei. Jene Aspekte des Selbstverhältnisses bei Buber, die noch im Zusammenhang mit der Lebensphilosophie und mit einer Bewusstseinsphilosophie gesehen werden können, werden von Hans-Georg Gadamer (1900-2002) in Wahrheit und Methode (1960) der Philosophie des späten 19. Jahrhunderts und des frühen 20. Jahrhunderts zugeschrieben, die systematisch gesehen vor der durch Heidegger vollzogenen, zentral mit der Sprache verbundenen hermeneutischen Wende zu verorten sei. 162 Der Schritt, mit dem Buber hingegen über Dilthey hinausgeht, wird in seiner Erörterung von Kierkegaards Besinnung auf die »Menschenseite der Wahrheit« in Die Frage an den Einzelnen erkennbar. Diese Abhandlung bezeugt deutlich Bubers Auseinandersetzung mit Karl Löwiths Habilitationsschrift Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, die 1928 veröffentlicht wurde. Indem Buber Kierkegaard Max Stirner (1806-1856) gegenüberstellt, legt er die Bedeutung der Bewährung der Wahrheit in der menschlichen Existenz für Kierkegaard frei. Buber spricht hier von einer »Wahrheit, die man nicht mehr mit der Noesis allein bewähren und haben kann, die man existierend verwirklichen muß um ihrer innesein und sie mitteilen zu dürfen.« 163 Das Innesein und die Sprache sind hier mit der existierenden Verwirklichung verquickt, mehr: sie hängen von ihr ab. Bubers Strukturdarstellung der menschlichen Wahrheit in Die Frage an den Einzelnen bringt somit anhand der Erörterung Kierkegaards die 161. Ebd., S. 21; jetzt in diesem Band, S. 230. 162. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1990 (6. Aufl.) [1960], Zweiter Teil, Abschnitt I.2 und I.3; Abschnitt II.3. 163. Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 24.
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Momente der Verwirklichung in der Existenz, Innesein und Mitteilung zusammen. In der Abhandlung Zwiesprache hatte er 1929 in einem entscheidenden Schritt drei Wahrnehmungsweisen des Anderen herausgestellt und die Frage der Wahrnehmung überhaupt differenziert. Hier erörtert er das Innewerden als Weise der Wahrnehmung und unterscheidet es vom Beobachten und vom Betrachten. Die systematische Bedeutung, die er dem Innewerden zumisst, kommt in der folgenden Aussage zum Ausdruck: »Die Möglichkeitsgrenzen des Dialogischen sind die des Innewerdens.« 164 Bei der Unterscheidung von Beobachten, Betrachten und Innewerden geht es Buber zunächst darum, dass es drei Weisen sind, wie der Mensch wahrgenommen werden kann. Den Anwendungsbereich seiner Bestimmung des Innewerdens weitet er am Ende seiner Erörterung aus. Allgemein grenzt er in einem ersten Schritt alle drei Weisen, den »Menschen, der vor unsern Augen lebt«, wahrzunehmen, von der Erkenntnis eines Menschen als Objekt der Wissenschaft ab. Buber kennzeichnet die erste Weise, die Beobachtung, als eine Einstellung, worin der Beobachter »gespannt« sei, »Züge« des Beobachteten »aufzuzeichnen«, zu »notieren«. Er versuche, so viele Züge wie möglich zu sammeln. Der Gegenstand werde durch diese Züge bestimmt. Wichtig ist, dass diese Züge in einem festen, bekannten System enthalten seien. Dadurch wisse der Beobachter bei einem Zug »was dahintersteht«. Abweichungen oder Variationen des bereits Bekannten integrieren sich ins System. Diese »Kenntnis des menschlichen Expressionssystems« sei eine vom Gesicht als der Physiognomie und von der Bewegung als Ausdrucksgebärde. Vom Beobachten unterscheidet Buber das Betrachten zunächst darin, dass der Betrachter nicht gespannt sei. Es herrsche hier lediglich zu Beginn, wenn die Haltung angenommen werde, Absicht, und danach verlaufe die Wahrnehmung unwillkürlich. Der Betrachter vollziehe eine Einstellung, bei der sich der Gegenstand frei darstellen könne. Er bemühe sich nicht, alles zu notieren. Sein Gedächtnis speichere nicht alles nach einer Vorgabe des Sammelns auf, sondern, wie Buber schreibt, »er vertraut dessen organischer Arbeit, die das Erhaltenswerte erhält« 165 . Im Gegensatz zum Beobachter interessiere sich der Betrachter nicht für die Züge, für den Charakter oder für den Ausdruck. Buber ordnet alle großen Künstler den Betrachtern zu. Der Unterschied zwischen der Wahrnehmungsweise des Innewerdens 164. Buber, Zwiesprache, S. 30. 165. Ebd., S. 27.
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und den soeben skizzierten besteht erstens darin, dass diese letzteren eine beabsichtigende Einstellung haben. Sie wollen beide den Menschen wahrnehmen. Diese Intention auf Wahrnehmung hat, zweitens, den Menschen als Gegenstand vor sich, der von dem Wahrnehmenden abgetrennt ist und mit seinem persönlichen Leben nichts zu tun hat. Drittens geht von diesem so vergegenständlichten Menschen keine Aufforderung zur Tat aus. Er fügt dem beobachtenden oder betrachtenden Menschen kein »Schicksal« zu. Im Innewerden hingegen sei es so, schreibt Buber, dass »in einer empfänglichen Stunde meines persönlichen Lebens« der Mensch »mir etwas sagt, mir etwas zuspricht, mir etwas in mein eigenes Leben hineinspricht.« 166 Das, was in dieser Begegnung am wahrgenommenen Menschen etwas sagt, lässt sich nicht gegenständlich fassen. Es lässt sich nicht wie eine Art Einsicht in sein Gemüt herausstellen, wie dieser Mensch sei und was »in ihm«, in seinem Geist, für Vorkommnisse sind. Das Sagen, das Buber hier freilegt, ist auch nicht eine direkte Anrede, ein Adressieren seitens des anderen Menschen, sondern eines, in dem eine wirkliche Sprache auch im Schweigen sich als Wort einer Antwort überlässt. Im Vernehmen des »es sagt« sieht Buber eine eigene Weise der Wahrnehmung. Bubers Erläuterung dieser Wahrnehmung ging vom Menschen aus. Davon war der Vergleich mit dem Beobachten und dem Betrachten bestimmt. Die von ihm als Innewerden gekennzeichnete Wahrnehmung ergibt sich jedoch nicht nur im Hinblick auf Menschen, sondern Buber bezieht alle Bereiche des Seins hier ein: Tier, Gewächs, Stein. Bubers Charakterisierung der philosophischen Anthropologie in Das Problem des Menschen beginnt mit der Selbstbesinnung als innerer Erfahrung: »Hier, wo es um die Ganzheit geht, kann der Forscher sich nicht, wie in der Anthropologie als Einzelwissenschaft, damit begnügen, den Menschen wie irgend einen anderen Teil der Natur zu betrachten und davon abzusehen, daß er, der Forscher, selber Mensch ist und sein Menschsein in der inneren Erfahrung in einer Weise erfährt, wie er schlechthin keinen Teil der Natur zu erfahren imstande ist […].« 167
Doch zeigt Buber im Fortgang der Argumentation, dass einerseits die Tatsache, dass der Mensch auf sich als den Einzelnen zurückgeworfen ist, die Frage nach dem Menschsein hervorruft, andererseits die Wirklichkeit des Menschseins erst im Bereich jenseits dieser in der Individuation herausgestellten Instanz zu verorten ist. Mit Worten wie »Wirklichkeit«, 166. Ebd., S. 28. 167. Buber, Das Problem des Menschen, S. 19; jetzt in diesem Band, S. 229.
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»Zwischen« und »Ereignis« deutet Buber auf diesen Bereich hin. Es gelte, den Menschen zu sehen, »der die ihm möglichen Beziehungen mit seinem ganzen Wesen in seinem ganzen Leben verwirklicht« 168 . Buber versteht sowohl den modernen Individualismus als auch den modernen Kollektivismus als Reaktionen auf das »Zusammenströmen kosmischer und sozialer Heimlosigkeit, Weltangst und Lebensangst« 169 , das eine unvergleichliche »Daseinsverfassung der Einsamkeit« 170 der Gegenwart bilde. Es geht Buber darum, eine neue Lebensaufgabe des Menschen aufzuzeigen und den Menschen »von dieser Lage aus« 171 zu denken. Fünf Jahre nach der ersten deutschsprachigen Veröffentlichung des Buchs Das Problem des Menschen entwickelt Buber 1953 seine Gedanken zum Innewerden in seiner Schrift Elemente des Zwischenmenschlichen weiter. Hier wird das Innewerden als »personale Vergegenwärtigung« erörtert. Der Begriff »Vergegenwärtigung« wurde zwar bereits in Ich und Du gebraucht und beanspruchte dort eine systematische Rolle, aber sie wurde nicht eigens erörtert. So handelte Buber dort im dritten Teil vom Unterschied zwischen Menschen, die »Wesen« nur »gebrauchen« wollen und ihnen deshalb »verhaftet« seien, und Menschen, die mit diesen Wesen »verbunden« seien, weil sie, schreibt er, »in der Kraft der Vergegenwärtigung« 172 leben. Die konkreten Folgen dieser Vergegenwärtigung evozierte er mit einer gewissen, ihm wohl nicht nur in dieser Schrift eigenen Hyperbolik: »Wer ein Weib, ihr Leben im eignen vergegenwärtigend, liebt: das Du Ihrer Augen läßt ihn in einen Strahl des ewigen Du schauen.« 173 Wie auch immer es mit dem Stil dieses Beispiels beschaffen sein mag – wohl wirkt die Erwähnung Dantes kurz zuvor nach – systematisch ist hier mit dem Terminus etwas vorausgesetzt, das Buber erst später ausdrücklich einzulösen versucht. Den Begriff der »Vergegenwärtigung« hatte Edmund Husserl 1913 in seiner Schrift Ideen zu einer phänomenologischen Philosophie und Transzendentalphänomenologie als einen philosophischen Terminus für die erkennenden Akte eingeführt, die als Wiedererinnerung, Erwartung und Phantasievorstellung auf Gegenstände gerichtet sind, die nicht unmittelbar zum »Hof« des in der Wahrnehmung zentrierten »Jetzt« gehören. Die »Retention« als »Noch-da« und die »Protention« als »Nochnicht-da« schließen unmittelbar an das Jetzt an und gehören deshalb 168. 169. 170. 171. 172. 173.
Ebd., S. 158; jetzt in diesem Band, S. 306. Ebd., S. 160; jetzt in diesem Band, S. 307. Ebd. Ebd., S. 159; jetzt in diesem Band, S. 306. Buber, Ich und Du, S. 120. Ebd., S. 122.
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zur temporalen Erstreckung der Gegenwart. Die Gegenstände, auf die die Retention und die Protention gerichtet sind, bilden ebenfalls Korrelate der Wahrnehmung als retentional und protentional erstreckter Gegenwart. Ein Gegenstand der Wiedererinnerung, der Erwartung oder der Phantasie gehört nicht zu dieser Gegenwart. In seinen Schriften Formale und transzendentale Logik (1929) und Méditations Cartésiennes (1931, deutsche Fassung 1950) verwandte Husserl den Begriff »Vergegenwärtigung« auch für die Art des Gerichtetseins auf ein anderes Ego, das sich im leiblichen »Gebaren« des Anderen ausdrücke. Die folgenden Erläuterungen werden zeigen, dass Bubers Auffassung der »personalen Vergegenwärtigung« zum »Einschwingen ins Andere« als ontischem Ereignis führt. Der Weg, den Buber hiermit beschreitet, der über Husserl hinausgeht und Wahrnehmung mit Ontologie verbindet, lässt sich mit jenem des späten Maurice Merleau-Ponty 174 (1908-1961) vergleichen. Im dritten Abschnitt seiner Abhandlung Elemente des Zwischenmenschlichen entfaltet Buber den erweiterten Begriff des Innewerdens innerhalb seiner Analyse dessen, was zu einem »echten Gespräch« gehöre. Allgemein bedeutet der Begriff als Innewerden eines Dings oder eines Wesens: »es als Ganzheit oder zugleich ohne verkürzende Abstraktionen, in aller Konkretheit erfahren« 175 . Buber hingegen bestimmt das Innewerden eines anderen Menschen, unter Beibehaltung von Aspekten dieser Struktur, als Wahrnehmung der Ganzheit, Einheit und Einzigkeit des Anderen. In seiner Erläuterung des Innewerdens des Anderen richtet er die Entfaltung dieser Strukturmomente gegen die analytische, reduktive Auffassung des Anderen, die, betont er, das »spezifisch Moderne« 176 in der gegenwärtigen Menschenauffassung sei. Diese betrachte das »gesamte leibseelische Sein« des Menschen als »zusammengesetzt und daher zergliederbar« 177 . Das Innewerden des anderen Menschen sei im Gegensatz hierzu Beziehung zu ihm in seiner Ganzheit. Diese Beziehung ergebe sich nur, wenn ich nicht auf ihn als das »abgelöste Objekt meiner Betrachtung oder gar Beobachtung« 178 bezogen bin. Im Gegensatz zur vergegenständlichenden Haltung, werde das »Personsein« des Menschen in der »personalen Vergegenwärtigung« zugänglich. Im zweiten Teil von Ich und Du hatte Buber den Begriff der »Person« dort aus174. Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, Paris 1964. 175. Buber, Elemente des Zwischenmenschlichen, in: ders., Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg: Lambert Schneider 1954, S. 255-283, hier S. 270. 176. Ebd., S. 271. 177. Ebd. 178. Ebd., S. 270.
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geführt, wo er den grundlegenden Unterschied zwischen dem Ich des Ich-Es und dem Ich des Ich-Du, den er im ersten Teil des Buchs behandelt hatte, weiterentfaltet. Die erste Anzeige des Unterschieds wurde im zweiten Teil über die Erörterung des Ichs als Person im Unterschied zum Ich als Eigenwesen inhaltlich angereichert. Hier bestimmt Buber »Person« und »Eigenwesen« nicht nur als »zwei Pole des Menschentums«, sondern als das Spannungsgefüge, in dem »wahre Geschichte« stattfinde. Zwischen den personenbestimmten und den eigenbestimmten Menschen, behauptet er, »trägt sich die wahre Geschichte aus« 179 . Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen dem Sein und dem Sosein des Menschen, wobei im ersten Fall das Ich sich als eines »Mitseienden«, im zweiten als eines »So-und-nicht-anders-seienden« bewusst werde. Die Person sei »wirklich« durch den mit anderen geteilten Anhalt am Sein. Das Eigenwesen hingegen sei Sichabsetzen und Besitznahme am Es, somit, betont Buber, unwirklich. Er legt dar, dass der Mensch nie ganz Person bzw. Eigenwesen sei, sondern tendenziell mehr zum einen oder zum anderen Pol neige. Grundsätzlich gelte: »Jeder lebt im zwiefältigen Ich« 180 . Bei dieser Zwiefalt ist festzuhalten, dass die Person ebenso sehr wie im Fall des Eigenwesens von der Bestimmung ihrer Eigenheit ausgeht, aber dieser nicht verhaftet bleibt. Die Art, wie das Ich hier sein Eigenes ist, unterscheidet sich grundlegend von der Art des Eigenwesens. Für den Vergleich seines Gebrauchs des Terminus »Innewerden« im Hinblick auf den Anderen mit der Anwendung des Terminus auf das Ich selbst ist Bubers Aussage wichtig, dass »das Ich seiner Verbundenheit und seiner Abgelöstheit in einem innewird«. Auch, nachdem das Ich »aus dem Beziehungsereignis« herausfalle und ins Selbstbewusstsein der »Abgelöstheit« hineintrete, verbleibe eine Erinnerung an die Teilnahme an der Beziehung. Buber fasst die Subjektivität, innerhalb derer das Ich seiner inne wird, als dynamisch auf. Parallel zu diesem in Ich und Du herausgestellten dynamischen Selbstverhältnis legt Buber in der Abhandlung Elemente des Zwischenmenschlichen diese dynamische Struktur des Innewerdens in der Beziehung zum Anderen frei. Darin werden die Momente der Ganzheit, Einzigkeit und deren Konzentration in der Äußerung dessen, was Buber »die dynamische Mitte« nennt, zusammengefügt: »Eines Menschen innewerden heißt also im besonderen seine Ganzheit als vom Geist bestimmte Person wahrnehmen, die dynamische Mitte wahrnehmen, die all seiner Äußerung, Handlung und Haltung das erfassbare Zeichen der 179. Buber, Ich und Du, S. 77. 180. Ebd.
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Einzigkeit aufprägt.« 181 Diese Konstellation nimmt Momente des Denkens von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), Herder und Dilthey auf. Buber hebt hervor, dass die »Einebnung«, die die moderne Sicht auf den Menschen zur Folge habe, die »Personhaftigkeit, das unablässig nahe Mysterium« 182 betreffe. Die Methode, die zu dieser Einebnung führe, sei zum einen »reduktiv«, zum anderen »ableitend«. Die Person sei vielfältig, sie bestehe aus einer »mikrokosmischen Fülle des Möglichen«. Reduktiv sei die Methode, weil sie diese Vielfältigkeit auf »schematisch überschaubare und überall zurückkehrende Strukturen« bringen wolle. Ableitend sei die Methode, weil sie genetisch verfahre: sie wolle »genetische Formeln« herausstellen und sie auf das individuelle Werden anwenden. Ein Allgemeinbegriff ersetze dabei »das dynamisch zentrale Individualprinzip dieses Werdens« 183 . All diese Bestimmungen gehen auf Diltheys Forschungen zur beschreibenden und zur erklärenden Psychologie sowie zur Individuation zurück. In der zeitgenössischen Philosophie findet man sie bei Husserl, Scheler und auch bei Heidegger, wiewohl Husserl als Grund der Person das »transzendentale Ego« und dessen transzendentale Strukturen herauszustellen sucht und Heidegger die »Person« durch das »Dasein« ersetzt. Buber entfaltet seinen Begriff des Innewerdens als »personale Vergegenwärtigung« im Zusammenhang dieser Bestimmungen weiter, und zwar mittels der »Realphantasie«. Wie bei seiner allgemeinen Behauptung, dass Gott sich nicht auf einen psychologischen Inhalt des Menschen reduzieren lasse, argumentiert er hier für eine ähnliche Beschränkung im Verhältnis zum anderen Menschen. Die »entgegentretende reale Person« begegne dem Vollzieher der Realphantasie in der Welt. 184 Die Vergegenwärtigung vollziehe eine 181. 182. 183. 184.
Buber, Elemente des Zwischenmenschlichen, S. 270. Ebd., S. 271. Ebd. Zu dieser Frage der »Realphantasie« sollten die Ausführungen verglichen werden, die Buber im dritten Kapitel seines Buchs Die chassidische Botschaft aus dem Jahr 1952 der Phantasie im Zusammenhang mit der Lehre des Baal-Schem-Tow (17001760) widmet. Die Erörterung Bubers gehört zu den Teilen des Buchs, die er nach der Auskunft im Vorwort zwischen 1940 und 1943 in Jerusalem verfasste. Es handelt sich hier um die Besprechung der »fremden Gedanken«, die das Gebet und das »Lernen« stören und die vom Menschen verwandelt werden sollten. Die Phantasie wird hier als »notwendiges Element« im Dienst der Wahrheit gesehen. Wichtig ist Bubers Kommentar zum ontischen Charakter dieser Phantasiegebilde in der Sichtweise des Baal-Schem-Tow. Sie sind nicht ein psychologisches Phänomen, betont Buber, vielmehr »ein Phänomen, das der kosmischen Sphäre angehört und sogar über sie hinausreicht.« (Buber, Die chassidische Botschaft, S. 83; jetzt in: MBW 17, S. 286.) In der weiteren Entwicklung seines Kommentars zu diesem Thema unterstreicht er, dass es hier um eine »faktische Beziehung« geht: »Was wir als Phantasie bezeichnen, ist somit kein freies Spiel der Seele, sondern jeweils eine faktische Be-
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Verflechtung des Seins des einen Menschen mit dem anderen. Diese Vergegenwärtigung sei »nicht mehr ein Anschauen«, schreibt Buber, »sondern ein kühnes, fluggewaltiges, die intensivste Regung meines Seins beanspruchendes Einschwingen ins Andere« 185 . Der Anspruch der Vergegenwärtigung ist dieses ontische Verhältnis. Die »Realphantasie«, die Buber erläutert, ermöglicht gerade den Zugang zur Welt und zur Wirklichkeit durch den Anhalt am Sein des Anderen, den sie gewährt. Von dieser Warte aus enthüllt Buber die Reaktionen auf das oben dargelegte »Zusammenströmen kosmischer und sozialer Heimlosigkeit, Weltangst und Lebensangst« mitsamt der Flucht in den modernen Individualismus und den modernen Kollektivismus gerade als den Entzug von Welt. Während die erste oben gekennzeichnete Reaktion des Individualismus den Ausweg nehme, die Einsamkeit zu glorifizieren, schließe sich in der zweiten Ausflucht, dem Kollektivismus, der Einzelne an »das zuverlässig funktionierende ›Ganze‹, das die Menschenmassen umfaßt« 186 . Beide Auswege entlarvt Buber als illusionär. Von diesen Illusionen unterscheidet er den Einzelnen und die Gesamtheit als »Tatsachen der Existenz«. Er bestimmt zwei die »Menschenwelt« bildende grundlegende Strukturen. Erstens schreibt er: »Die fundamentale Tatsache der menschlichen Existenz ist der Mensch mit dem Menschen.« 187 Zweitens stellt er das heraus, was durch diese Tatsache entsteht. Wenn »ein Wesen ein anderes als ein anderes, als dieses bestimmte andere Wesen meint, um mit ihm in einer beiden gemeinsamen, aber über die Eigenbereiche beider hinausgreifenden Sphäre zu kommunizieren« 188 , dann ist diese so entstandene Sphäre das, was Buber »das Zwischen« nennt. Bemerkenswert ist, dass Buber hier die Sprache der Phänomenologie benutzt, um diese Beziehung zu kennzeichnen: etwas als etwas meinen. Die Entstehung dessen, was sich so zwischen den Men-
185. 186. 187. 188.
gegnung mit faktischen Elementen des Seins, die außerhalb von uns sind, und worauf es ankommt, ist, sich den uns erscheinenden Phantasiegebilden nicht hinzugeben, sondern den Kern von der Schale zu trennen und jene Elemente selber zu erlösen.« (Ebd. 84; jetzt in: MBW 17, S. 286 f.) Der Darstellung der Realphantasie in der Abhandlung Elemente des Zwischenmenschlichen geht also eine weitreichende Darlegung der Rolle der Phantasie und der Verwandlung ihrer Gebilde als Anhalt an der Welt im chassidischen Kontext voraus. Buber ist bestrebt, durch die Besprechung der Lehre des Baal-Schem-Tow zu zeigen, dass der Bereich des Subjekts über sich hinausweist und mit der Welt verbunden ist: »Was wir lediglich in unserer Seele zu wirken vermeinen, wirken wir in Wahrheit am Schicksal der Welt.« (Ebd.; jetzt in: MBW 17, S. 287.) Buber, Elemente des Zwischenmenschlichen, S. 272. Buber, Das Problem des Menschen, S. 162; jetzt in diesem Band, S. 308. Ebd., S. 164 f.; jetzt in diesem Band, S. 309. Ebd., S. 165; jetzt in diesem Band, S. 309.
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schen spannt und die »Menschenwelt« auszeichnet, hat Vorrang auch der Sprache gegenüber: »Die Sprache ist ihm nur Zeichen und Medium, alles geistige Werk ist durch es erweckt worden.« 189 In Ich und Du hatte Buber die Sprache im Verhältnis zum Geist bestimmt und zwar als eine der Arten, auf die dieser sich ausforme: »Der Mensch redet in vielen Zungen, Zungen der Sprache, der Kunst, der Handlung, aber der Geist ist einer […]« 190 . Doch genau so, wie Buber festsetzt, dass der Mensch »im« Geist lebe, unterstreicht er, der Mensch lebe im Wort. »Geist ist Wort« 191 – dies, weil sowohl Geist als auch Wort den Bereich des Zwischen ausmachen, der entsteht, wenn ein Mensch auf einen anderen antwortet. Sprachliche Rede ist eine der Ausformungen des so verstandenen Worts. Buber sucht in seiner philosophischen Anthropologie danach, einen »dritten Weg« zwischen individualistischer Anthropologie und kollektivistischer Soziologie aufzuzeigen. Dafür bilde der »Rest«, der »bleibt, irgendwo, wo die Seelen aufhören und die Welt noch nicht begonnen hat« 192 , den Leitfaden. Dieser müsse von möglichen Missdeutungen ferngehalten werden. Er sei nicht psychologisch, betont Buber, sondern ontisch. Um diesen ontischen Tatbestand, der den Leitfaden für sein Denken bildet, zu kennzeichnen, greift Buber mit »west« ein Wort auf, das Heidegger in seinem Denken nach Sein und Zeit (1927) benutzt, wenn er von der Seinsweise eines Seienden im Zusammenhang mit dem »Ereignis« der »Wahrheit des Seins« spricht. Das, was zwischen der Ontik zweier persönlicher Existenzen, indem es beide transzendiert, »west«, ist das Ereignis, von dem her die Ontologie der dialogischen Situation aufzuzeigen ist. Bubers problemgeschichtliche Darlegung der Frage nach dem Menschen verfolgt im ersten Teil des Buchs Das Problem des Menschen den Wechsel zwischen Denkentwürfen, die dem Menschen eine Stelle in einer Weltordnung zuweisen, und solchen, die ihn als »unbehaust« auffassen. Bei Aristoteles (384-322 v. Chr.), Thomas von Aquin (um 12251274), Baruch de Spinoza (1632-1677), Hegel auf der einen Seite, bei Augustinus, Blaise Pascal (1623-1662), Kant, Nietzsche, auf der anderen Seite, werde diese Frage unterschiedlich radikal gestellt. In Das Problem des Menschen führt Buber die Krise des Menschen in der Hauptsache darauf zurück, dass der Mensch im Individualismus auf der einen Seite und im Kollektivismus auf der anderen Seite in seinem Wesen reduziert 189. 190. 191. 192.
Ebd. Buber, Ich und Du, S. 49. Ebd. Buber, Das Problem des Menschen, S. 166; jetzt in diesem Band, S. 310.
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werde. Diese je anders geartete Reduktion der möglichen Fülle des Menschen weist Buber in den philosophischen Gedanken Heideggers, Nietzsches, Kierkegaards und Schelers nach. Die Einseitigkeit, die mit ihr einhergeht, betreffe auch das Verhältnis des Menschen zu Gott. Buber befasst sich im zweiten Teil von Das Problem des Menschen mit neueren Versuchen zur Anthropologie, wobei er, wie in dieser Einleitung zu Beginn hervorgehoben, von einer Thematisierung des Denkens Husserls zur Krisis-Problematik ausgeht. Bemerkenswert ist, wie Buber in seiner Besinnung auf Husserl zunächst ad hominem vorgeht. Die Tatsache, dass in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das anthropologische Problem zur Reife gelangt und »als selbständiges philosophisches Problem« 193 erkannt wurde, sieht Buber allgemein in zwei Phänomenen begründet. Das erste bildet »der fortschreitende Verfall der alten organischen Formen menschlichen Zusammenlebens« 194 . Das zweite kennzeichnet Buber als »das Zurückbleiben des Menschen hinter seinen Werken« 195 . Husserl, gerade als »ein Jude deutscher Kultur« 196 , bilde einen exemplarischen Fall der Zusammenwirkung dieser Phänomene. Buber drückt sich in diesem Zusammenhang gewiss nicht zaghaft aus. »Es ist kein Zufall, sondern sinnreiche Notwendigkeit« 197 , schreibt er, dass die philosophische Anthropologie ihre wichtigste Entwicklung seit dem ersten Weltkrieg verzeichnet habe und dass sie in der Philosophie Husserls sowie in derjenigen der auf ihr beruhenden Schule zur Selbstständigkeit herangewachsen sei. Nach dieser Konstatierung der persönlichen Bedeutung Husserls für die Fragestellung der philosophischen Anthropologie als aus der Krisis geboren, nennt Buber drei »Sätze« Husserls, die dieser in seiner Belgrader Krisis-Abhandlung vertreten habe, die zur Grundlegung der philosophischen Anthropologie dienen. Der erste beinhaltet, dass »das um sein Selbstverständnis ringende Menschentum« die größte historische Dignität erweise. Der zweite besagt, dass, wenn der Mensch zum »metaphysischen« Problem werde, dann sei er »in Frage als Vernunftwesen«. Der dritte betrifft die Gemeinschaft: »Menschtum überhaupt ist wesensmäßig Menschsein in generativ und sozial verbundenen Menschheiten«. In diesem Satz findet Buber die für die philosophische Anthropologie entscheidende Einsicht, dass das Wesen des Menschen in der »Verbundenheit« und »Gebundenheit« in der Generation sowie in der Gesell193. 194. 195. 196. 197.
Ebd., S. 81; jetzt in diesem Band, S. 264. Ebd., S. 85; jetzt in diesem Band, S. 266. Ebd. Ebd. Ebd.
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schaft bestehe. Die ersten zwei Teile von Husserls Schrift Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936) legen in einer geschichtlichen Erörterung der Krisis die intentionale Idealisierung, die in der neuzeitlichen Mathematisierung und Objektivierung der Natur besteht, frei. Sie stellen das Ringen zwischen Objektivismus und Transzendentalismus als zentral für die Philosophie der Neuzeit heraus. Husserl spürt Motive auf, die auf eine neuartige Transzendentalphilosophie vorausdeuten. Diese solle zum einen die unter dem »Ideenkleid« der Mathematisierung in Verbindung mit der Objektivierung verdeckte »Lebenswelt« 198 ans Licht bringen, zum anderen die subjektiven Bewusstseinsleistungen enthüllen, in denen der Sinn »Welt« gestiftet werde. Im zweiten Teil dieser Schrift weist er eine »Teleologie in dem geschichtlichen Werden der Philosophie« auf, die er von der Urstiftung der Philosophie bei den Griechen bis zur Entwicklung der neuzeitlichen Subjektphilosophie bei Descartes, David Hume (1711-1776) und Kant nachzeichnet. Der Vordeutung auf eine neuartige Transzendentalphilosophie im zweiten Teil folgt deren systematische Erforschung als transzendentale Phänomenologie im dritten Teil der Krisis-Schrift, den Buber zu dieser Zeit außer durch die Einleitung zu Husserls Buch Erfahrung und Urteil (1938) nicht kennen konnte. Beim zweiten Satz Husserls zur Grundlegung der Anthropologie geht es überhaupt um die Frage des Verhältnisses der Vernunft zu dem, was außerhalb ihrer liegt, und um die Frage, wie der Mensch eine Ganzheit bildet. Buber schreibt: »Die menschliche Vernunft ist nur im Zusammenhang mit der menschlichen Nichtvernunft zu verstehen.« 199 In Bezug auf die Frage der Ganzheit des Menschen behauptet Buber, dass sich die auf Husserl aufbauende phänomenologische Schule ihr vornehmlich gewidmet hätte, wobei Husserl selbst sich von dieser Schule in mancher Hinsicht distanziere. Buber meint gewiss damit die Tatsache, dass Husserl das Ausbleiben der methodischen Schritte zur transzendentalen Phänomenologie bei Denkern wie Scheler und Heidegger prinzipiell nicht billigte. Vor allem der dritte Satz ist für Bubers Kritik seinerseits an der phänomenologischen Schule im Hinblick auf sein eigenes Denken maßgebend. Er wirft ihr vor, die Frage der Verbundenheit und der Gebundenheit nicht beachtet zu haben. 200 198. Der Terminus »Lebenswelt« kommt sowohl in Simmels Buch Die Religion als auch in Bubers Abhandlung Die Frage an den Einzelnen vor. 199. Buber, Das Problem des Menschen, S. 87; jetzt in diesem Band, S. 267. 200. Wenn Buber schreibt, dass Husserl »selbst niemals das anthropologische Problem als solches behandelt«, so muss dieses Urteil angesichts einer Vielzahl von Texten, die in den Husserliana inzwischen erschienen sind, differenzierter gefällt werden.
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Für Max Scheler waren die Logischen Untersuchungen Husserls von zentraler Bedeutung, denn sie wiesen ihn auf die Möglichkeit, Husserls erweiterte Auffassung von der Anschauung, die mit dessen Methode der Erfassung des Wesens verbunden war, dessen Lehre von der Intentionalität und dessen Idee einer im Wesensgehalt begründeten Ordnung der Gegenstände seinerseits mit dem Bereich der Gefühle, der Werte und der Güter zu verbinden. Augustinus und Pascal spielen eine wichtige Rolle für Schelers Philosophie. In seinem phänomenologischen Hauptwerk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik 201 analysiert er Pascals Idee des »ordre du cœur« 202 . Dies führt ihn zur Feststellung der »Werte als unreduzierbare Grundphänomene der fühlenden Anschauung« 203 . Mit der Bestimmung dieser Unreduzierbarkeit des Fühlens auf den Verstand verbindet Scheler jedoch nicht einen ethischen Relativismus oder Skeptizismus. Seine Konzeption der »Person«, die er als Korrelat der Werte versteht, bedeutet »die konkrete, selbst wesenhafte Seinseinheit von Akten verschiedenartigen Wesens« 204 . Im »konkreten Personakt« 205 sind Verstand und Gefühl enthalten. Schelers Phänomenologie untersucht die Beziehung zwischen der Person und den Werten als »Urphänomenen«, die in einer Ordnung organisiert sind. In seiner Religionsphilosophie entwickelt Scheler später eine Aktlehre, die er als »religiöse Noetik« von der Religionspsychologie unterschied. Er entwirft eine »Wesensphänomenologie der Religion«, die in den »Sinngesetzen« des »religiösen Akts« ans Licht bringt, »wie es zu einer in sich selbst ruhenden Glaubensevidenz kommt und die Religion sich nach
201. 202. 203. 204. 205.
Stellvertretend für diese sei auf Husserls fünf Aufsätze über »Erneuerung« (19221924) hingewiesen: Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922-1937), hrsg. von Thomas Nenon und Hans Reiner Sepp, Dordrecht 1989 (Hua XXVII), S. 1-124. Die Veröffentlichung von Husserls Vorträgen zur Ethik aus drei Jahrzehnten, von seinen Vorträgen zum Thema Natur und Geist sowie von weiteren Texten zur Krisis-Problematik bietet so manchen Beleg für Husserls weitgefächerte Untersuchung der philosophischen Anthropologie. Prinzipiell, d. h. mit der systematischen Stoßrichtung der Transzendentalphänomenologie Husserls im Blick, sieht Buber jedoch richtig. Im Vortrag »Phänomenologie und Anthropologie« (1931) hebt Husserl entschieden hervor: »nachdem das ganze transzendentale Problem in seiner apodiktischen Notwendigkeit gewonnen ist«, kann es »keine Rückkehr« zur »Naivität« der »Philosophie des Daseins« geben, die den Boden der seienden Welt voraussetzt. Edmund Husserl, Phänomenologie und Anthropologie, in: ders., Aufsätze und Vorträge (1922-1937), S. 179. 1. Teil 1913 erschienen, 2. Teil 1916 erschienen, 1. Veröffentlichung der beiden Teile in einem Sonderdruck 1916. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, (2. Teil, Abschnitt V.2.), S. 268 ff. Ebd., (2. Teil, V.3.), S. 278. Ebd., (2. Teil, Abschnitt VI.A.3a) Person und Akt, S. 393 f. Ebd., S. 397; vgl. 394 ff.
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ihren autonomen Gesetzen entfaltet, fortbildet und höherbildet«. 206 In der Entfaltung seiner Phänomenologie der Religion strebt Scheler danach, dies zu zeigen: »Gottes Wesen und Dasein ist eines Aufweises und Nachweises, nicht aber eines Beweises aus Wahrheiten fähig, die nur Wahrheiten über die Welt sind.« 207 An früherer Stelle dieser Einleitung wurde festgehalten, dass Buber die Verzeitlichung Gottes zum Prozess der Gottwerdung, die in Schelers Denken über die Religion stattfindet, ablehnt. Er fügt in Das Problem des Menschen eine Auseinandersetzung mit Schelers Auffassung des den Menschen bestimmenden Weltgrunds hinzu, dessen gnostischen Ursprung er nachweist. Buber bringt diesen Zusammenhang bei Scheler in Beziehung zur seelischen Verfassung des zeitgenössischen Menschen. Er sieht in diesem gnostischen Hintergrund einen Ausdruck der Ohnmacht des Menschen. Demgegenüber setzt Buber die aktive Teilnahme an der Welt. Schließlich nimmt er Schelers Behauptung des Inneren und des Selbstbewusstseins als Diskrimen des Menschen in den Blick und stellt dieser anthropologischen Bestimmung die Hervorhebung der Zuwendung zum Anderen als Ursprung des Menschlichen entgegen. 11. Die Signatur der Stunde Die Studien, die Buber 1953 in seinem Buch Gottesfinsternis veröffentlichte, gehen zum Teil auf Vorlesungen, die er 1951 in den Vereinigten Staaten gehalten hatte, zurück; zum Teil bestehen sie aus Schriften der Jahre 1929, 1932, 1943 und 1952. Buber stellt in den Texten, die er in diesem Buch vereinigt, exponiert die Frage nach der Beziehung zwischen Religion und Philosophie: exponiert, weil sich beide, jede auf ihre je eigene Weise, in Bubers Gegenwart mit dem Verlust des Absoluten konfrontiert sehen. In der Religion wie in der Philosophie verfolgt Buber den Prozess der wachsenden Vorherrschaft der Ich-Es-Relation, die zwischen den Menschen und ein Absolutes, das sich als nicht-menschlichen Ursprungs manifestiert, trete. »Herr der Stunde« sei ein »Ich, das unfähig ist, Du zu sprechen, unfähig, einem Wesen wesenhaft zu begegnen« 208 und den Menschen daran hindere, zu diesem in Beziehung zu treten. Bereits in seinem Roman Gog und Magog (Hebr. 1943, Engl. 1945, Dt. 1949) hatte Buber die »Gottesfinsternis« mit »Zeiten der gro206. Max Scheler, Probleme der Religion, in: ders., Vom Ewigen im Menschen, hrsg. von Maria Scheler, Bern 1954, S. 159. 207. Ebd., S. 254. 208. Buber, Gottesfinsternis, S. 152; jetzt in diesem Band, S. 440.
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ßen Probe« 209 in Verbindung gebracht. Er ließ hier den »Juden«, Jaakob Jizchak von Pzysha (1766-1814), von der Notwendigkeit sprechen, dass die Menschen »die Bewegung vollziehen«, die aus der »Verzweiflung« geboren werde. Allein schon diese Wortwahl weist darauf hin, wie Buber das chassidische Gedankengut, dem er sich in diesem Roman widmet und das er philosophie- und religionsgeschichtlich in Zeitkritik verwandelt, mit Gedanken Kierkegaards verschränkt. In solchen Zeiten, in denen das Antlitz Gottes verstellt ist, zeigt sich die Umkehr in extremis als möglich. Sowohl in Gog und Magog als auch in Gottesfinsternis handelt es sich bei der Ermöglichung der Umkehr um die Freisetzung verborgener Kräfte, die die Wenden herbeiführen. Dies ist der Horizont, in den die Einzelanalysen dieses Buchs hineinreichen. Buber untersucht in einem wichtigen Kapitel des Buchs, das seinen Artikel »Religion und Philosophie« aufnimmt, die phänomenologische Ontologie Heideggers und Sartres neben der Psychologie Jungs im Hinblick auf ihre Bestimmung der »Bedingungen« und »Grenzen« von Religion als »einer menschlichen Lebenswirklichkeit«. Es geht ihm hierbei um die Art, wie das moderne Denken auf eine Situation antwortet, die durch Nietzsches Spruch »Gott ist tot«, an den sowohl Heidegger als auch Sartre anknüpfen, charakteristisch ist. Von diesen letzteren hält Buber Heideggers Gedanken zur Religion in der Gegenwart für wichtiger. Die Tendenz des Zeitalters, »einerseits die Idee des Göttlichen, als das eigentliche Anliegen der Religion, zu wahren, anderseits aber den Wirklichkeitscharakter der Gottesidee und damit auch die Wirklichkeit unserer Beziehung zu Gott zu tilgen« 210 will Buber in seiner Kritik an diesen Denkern beleuchten. Nach seinem ersten wichtigen philosophischen Werk Sein und Zeit, in dem er die Leitlinien einer »Fundamentalontologie«, die in der »Daseinsanalyse« gründet, freilegte, wandte sich Heidegger in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts dem Denken der Wahrheit des Seins zu. Die »Sterblichen« gehörten mit den »Göttern«, mit »Erde« und »Himmel« zu den Dimensionen, in denen die Offenheit des Seins sich ereigne. In Sein und Zeit ist es das Seiende, das Heidegger »Dasein« nennt, d. h. der Mensch als Seiendes, dessen Existenz in ihrer originären Zeitlichkeit als Seinsverstehen vollzogen wird, das den vorrangigen Ausgangspunkt für seine Analysen bildet. In seinem späteren Denken nähert er sich hingegen der Ebene der Geschichtlichkeit des Seins, das die Menschen als Sterbliche im »Geschick« 209. Martin Buber, Gog und Magog. Eine Chronik, Heidelberg: Lambert Schneider 1949, S. 151; jetzt in: MBW 19, S. 128. 210. Buber, Gottesfinsternis, S. 23; jetzt in diesem Band, S. 368.
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zu sich sammele. Die Dimensionen des Seins bilden die »Lichtung« als Ort, in dem das Sein sich als »Streit« ereigne. Heidegger bezieht sich auf diese Dimensionen in ihren Beziehungen zueinander als »Spielraum«. Sein Denken sucht danach, die Erkenntnistheorie und die mit ihr zusammenhängende Ontologie der Philosophie der Neuzeit zu überwinden, die ausgehend von Descartes auf der Grundlage des Subjekts konstruiert wurden. Die zentrale Beziehung zur Welt ist gemäß dieser Konstruktion diejenige der »Vorstellung«, der representatio, durch die ein Gegenstand als Korrelat eines Subjekts hingestellt wird und den Kategorien unterworfen wird, die dieses jenem aufzwingt. Heidegger widmete sich diesem Thema in seinen Vorlesungen zu Nietzsche, die er von 1931 bis 1941 in Freiburg hielt. Ihr Gehalt ist in den von Buber thematisierten Artikeln »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹« und »Die Zeit des Weltbilds« konzentriert enthalten. Heidegger verfolgt in der Philosophiegeschichte die Verwandlung der Welt zum Gegenstand der Vorstellung und weist sie als voluntaristisch auf. Bei Descartes ist der Wille ein Hauptattribut des Subjekts, und Heidegger enthüllt dem entsprechend die Geschichte des Subjekts gerade als voluntaristisches Sich-Aufdrängen gegenüber der Welt. Er schreibt: »Der Mensch steht innerhalb der Subjektivität des Seienden in die Subjektivität seines Wesen auf. Der Mensch tritt in den Aufstand. Die Welt wird zum Gegenstand.« Heidegger führt weiter aus, dass sich die »Erde« bei diesem Vorgang »nur noch als der Gegenstand des Angriffes […], der sich als die unbedingte Vergegenständlichung im Wollen des Menschen einrichtet« 211 , dem Menschen zeige. Seine Freilegung dieser Geschichte beginnt mit der Verwandlung von Aristoteles’ hypokeimenon in die substantia im Mittelalter und führt über Descartes’ subiectum als ego cogito sowie über Leibniz’ Bestimmung des subiectum als representatio und vis activa bis zum deutschen Idealismus, um schließlich bei Nietzsches »Wille zur Macht« den extremsten Punkt der Metaphysik als »Geschick des Seins« 212 zu erreichen. Von den dreißiger Jahren an ist diese Freilegung des »Geschicks« mit Heideggers Denken über die Sprache verquickt, das in den von Buber thematisierten Texten »Der Ursprung des Kunstwerks«, »Über den Humanismus«, »Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung« und »Unterwegs zur Sprache« eine zentrale Rolle erhält. Heidegger versteht Sprache hier nicht als Mittel der Kommunikation, sondern als »jenes Geschehnis […], in dem für den Menschen jeweils Seiendes als Seiendes sich er211. Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, in: ders., Holzwege, S. 256. 212. Ebd., S. 265.
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schließt« 213 . Schon in »Der Ursprung des Kunstwerks«, wo Heidegger die verschiedenen Weisen, wie Wahrheit als a-letheia, »Unverborgenheit« geschieht, erörtert, nimmt die Sprache eine vorrangige Stelle ein: »das Sprachwerk, die Dichtung im engeren Sinne« habe »eine ausgezeichnete Stellung im Ganzen der Künste« 214 . Dieser Vorrang hat sich deutlich etabliert, wenn Heidegger zehn Jahre später in »Über den Humanismus« schreibt: »Das Sein ist die Hut, die den Menschen in seinem eksistenten Wesen dergestalt zu ihrer Wahrheit behütet, daß sie die Ek-sistenz in der Sprache behaust.« 215 Der Sinn des Außer-sich-Seins, den Heidegger im Wort »Ek-sistenz« denkt, richtet sich gegen das Subjekt und die Subjektivierung. Wenn er schreibt, dass die Aufgabe darin bestehe, »gegen die Subjektivierung des Seienden zum bloßen Objekt die Lichtung der Wahrheit des Seins vor das Denken zu bringen«, ist das Wort »Denken« nicht länger die begriffliche Erkenntnis, die in der »Philosophie« in deren verschiedenen Bereichen stattfand, und in der, so Heidegger, das Sein vergessen wurde. Im Kontrast zur Philosophie achtet das Denken auf das Sein, und es hat eine andere Beziehung zur Sprache. Das Problem der Beziehung der Ebene der »Geschichtlichkeit«, des »Geschicks« und des »Ereignisses« zu den Tatsachen, aus denen die Geschichte als »Historie« besteht, ist ein herausragender Aspekt von Heideggers Denken in den dreißiger Jahren und danach. Er versucht, eine rigorose Unterscheidung zwischen den beiden Ebenen durchzuhalten, während er gleichzeitig betont, dass die Wahrheit der zweiten Ebene in der ersten liegt. Das Bestreben, individuelle historische Tatsachen und die Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen, herauszustellen, seien diese von der Art der Kausalität, der Finalität oder der Motivation, gehört zum Bereich des »rechnenden Verstands«. Dies ist der Zusammenhang, in dem, um ein besonders frappantes Beispiel zu nehmen, Heidegger in einem Brief an Hannah Arendt (1906-1975) aus dem Jahr 1950 schreibt, dass man sich darauf besinnen solle, dass »das Schicksal der Juden und der Deutschen ja eine eigene Wahrheit hat, die unser historisches Rechnen nicht erreicht« 216 . Buber thematisiert die Frage, wie Heideggers Lehre vom Sein eine Wendung vorzubereiten sucht, durch die »Gott«, »das Göttliche« oder 213. Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, in: ders., Holzwege, S. 62. 214. Ebd., S. 61. 215. Martin Heidegger, Brief über den »Humanismus«, in: ders., Wegmarken, in: ders., Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 9 Frankfurt a. M. 1976, S. 313-364, hier S. 361. 216. Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975, hrsg. von Ursula Ludz, Frankfurt a. M. 1998, S. 94 (12. April 1950).
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»das Heilige« erscheinen könne. Dies würde in »neuen Gestalten« geschehen. Gegenüber Heideggers Auffassung von der Prophetie in der jüdisch-christlichen Religion, die dieser mit »Sicherheit der Rettung in die überirdische Seligkeit« verbindet, hebt Buber gerade die radikale Verunsicherung, die mit der Prophetie verbunden sei, hervor. Heideggers Begriff des Seins beurteilt Buber als »unüberwindlich leer«. Buber geht Heideggers Reden über das Göttliche nach und konstatiert in dessen Hölderlin-Interpretation aus 1936, »Hölderlin und das Wesen der Dichtung«, eine Weise, die Antwort auf den Anspruch des Göttlichen zu sehen, die Buber als »Zeugnis« für das dialogische Prinzip auffasst. Dies beurteilt er indessen als vereinzelten Fall bei Heidegger. Inzwischen stelle sich Heideggers Denken der geschichtlichen Stunde einem dialogischen Verhältnis zu Gott in den Weg. Heidegger denke nicht das Gemeinsame der vergangenen »Gott-Eindrücke« der Menschheit mit dem Kommenden, behauptet Buber, sondern trenne das Kommende von allem Gewesenen. Es sei bei Heidegger die »geschehende Geschichte«, die den Platz für das ganz Neue leerfege. Dabei entziehe sich die Geschichte dem göttlichen Gericht, und sie selbst, die Buber als »die inappellable« kennzeichnet, rufe das Kommende hervor. Heideggers Denken der Wiedergeburt des Gottes aus der Wahrheit der Stunde sieht Buber als einem spezifischen politischen Augenblick verfallen. Jean-Paul Sartre entwickelt auf der Grundlage des Denkens vor allem Descartes’, Johann Gottlieb Fichtes (1762-1814), Kierkegaards, Husserls und Heideggers eine Philosophie, in der er die philosophischen und literarischen Formen dessen, was er das individuelle »projet« der Freiheit nennt, untersucht. Mit diesem »projet«, seinem Wort für Heideggers »Entwurf«, verbindet Sartre eine Erkundung der metaphysischen Dimension des menschlichen Seins. Wenn er in L’être et le néant schreibt »La liberté est totale et infinie, ce qui ne veut pas dire qu’elle n’ait pas de limites mais qu’elle ne les rencontre jamais. Les seules limites que la liberté heurte à chaque instant, ce sont celles qu’elle s’impose à ellemême […]« 217 , dann vertritt er eine extreme Form der Selbstbestimmung, deren Voraussetzung in seiner cartesianischen Auffassung des Subjekts liegt. Die Welt (monde), in der die »réalité-humaine«, womit Sartre Heideggers »Dasein« übersetzt, lebe, sei jedoch, wie er schreibt, »hanté par mon prochain« 218 . Die menschliche Freiheit müsse sich in einer Welt entwerfen, in der es Bedingungen gebe, die von der Sprache, der Gesellschaft, der Nationaltradition, der Ethnizität, der Physiologie, 217. Jean-Paul Sartre, L’être et le néant, Paris 1987 [1943], S. 589. 218. Ebd., S. 567.
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usw. gebildet werden. Diese Zusammenhänge, in denen das Subjekt sich konkret »wählen« (choisir) müsse, nennt Sartre die Situation (situation). Die metaphysische Bestimmung der Freiheit habe aber bis in die letzten Winkel solcher Situationen wie der Folter 219 (um deren stets vorhandener Möglichkeit während der deutschen Besatzung willen Sartre sein Buch geschrieben zu haben behauptete) Vorrang. Es gebe in der Situation mit Anderen zwei faktische Begrenzungen der menschlichen Freiheit, mit denen das Subjekt leben und angesichts derer es sich wählen müsse. Erstens erfolge eine Begrenzung, wenn der Andere das Subjekt als »autre-objet« setze und zweitens, wenn die Situation aufhöre, eine Situation für den Anderen zu sein, und zur Form des Gegenstandes werde, in der das Subjekt als objektive Struktur lebe. Lasse sich das Subjekt jedoch in seiner Beziehung zu sich selbst nicht von der ihm aufgezwungenen Setzung des Anderen bestimmen, und setze es seinerseits diesen als Gegenstand, so gewinne es »la simple conscience d’être libre transcendence inqualifiable« 220 In seinem Text »L’existentialisme est un humanisme« verteidigt Sartre seine Philosophie gegen zwei Hauptvorwürfe. Der erste kommt von kommunistischer Seite und besagt, dass Sartres Denken den Menschen in der Isolation zeige und deshalb einen Mangel an menschlicher Solidarität aufweise. Den Grund für diese Sicht des isolierten Menschen sehen die kommunistischen Kritiker in Sartres Ausgangspunkt in der »subjectivité pure«, d. h. in Descartes’ ego cogito. Von christlicher Seite kommt der zweite Vorwurf. Hier behauptet man, Sartre verneine die Wirklichkeit und den Ernst der menschlichen Handlungsentwürfe, dies, weil er die göttlichen Gebote und die ewigen Werte verwerfe. Ist Letzteres der Fall, so lautet das Argument, bahne sich der Weg zur völligen Willkür, und alles sei erlaubt. Sartre unternimmt eine Reihe von Schritten, um auf diese Kritik antworten zu können. Der erste besteht darin, seine Bestimmung, dass die Existenz der Essenz vorausgehe, zu erörtern. Er verweist auf Philosophen wie Denis Diderot (1713-1784), Voltaire (16941778) und Kant, denen zufolge das Wesen der Existenz vorausgehe, und die einen Begriff der menschlichen Natur postulieren, der für alle Menschen gelte. Diese Haltung besagt, dass jeder Mensch eine Einzelinstanz des universellen Begriffs »Mensch« sei. Dieser Position setzt Sartre das, was er seinen »atheistischen Existenzialismus« nennt, entgegen. Diesem zufolge gibt es keinen Gott, der den allgemeinen Begriff »Mensch« bestimme, dem die empirischen Menschen entsprechen. Die Konsequenz 219. Vgl. ebd., S. 456. 220. Ebd., S. 384.
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ist, dass jeder Mensch aufgrund seiner Freiheit sich selbst durch seinen Selbstentwurf bestimme. Bubers Auseinandersetzung mit Sartre geht von einer Kritik an diesem »atheistischen Existenzialismus« aus. Sartre konstatiert, dass das Bedürfnis der Gottessuche noch nach dem Tod Gottes beharre, sieht jedoch die Antwort auf dieses Bedürfnis darin, dass der Einzelne selbst neuen Sinn und neue Werte erfinde. Auf der Grundlage von Nietzsche, letztlich Feuerbach (1804-1872), hatte Sartre den Ursprung der Gottesvorstellung in den Bedürfnissen und Projektionen des Menschen gesehen. Buber setzt diesem Gedanken Sartres entgegen, es gehe nicht darum, dass der Einzelne aus einer Palette von gegebenen Möglichkeiten einen neuen Sinn wähle, sondern dieser ergebe sich, werde offenbar, in der Begegnung mit dem Sein. Allgemein sieht Buber die Positionen Sartres als Folgen der Tatsache, dass dieser die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt als primär und ausschließlich setze. Dieser Setzung widerspricht Buber vom Ausgangspunkt seines eigenen Denkens in der ursprünglichen und entscheidenden Beziehung zwischen Ich und Du her. Sartres Schluss aus dem festgestellten Schweigen Gottes in der Moderne gehe nach Buber auf jene primäre Setzung zurück. Ihr gemäß interpretiere Sartre Gottes Schweigen: Gott mache den Menschen zum Objekt, ohne dass der Mensch ihn seinerseits zum Objekt machen könne, also gehe Gott den Menschen nichts an. Sartre sehe, so Buber, Gott als die Quintessenz des Anderen, der den Menschen zum Objekt mache. In diesem Fall werde Gott zwar zum »unentfernbaren Zeugen«, dessen Funktion aber von jedem anderen Zeugen übernommen werden könne. Buber widmet die letzten Kapitel von Gottesfinsternis Fragen, die das Verhältnis zwischen Ethik und Religion betreffen. Dabei greift er, wie in Das Problem des Menschen, das Denken Kierkegaards und Nietzsches auf. Er bezieht sich auf Kierkegaard, weil dessen Werk Furcht und Zittern (1843) dem jungen Buber den »ersten Anstoß« gab, über dieses Verhältnis und die Kategorien, die dazu gehören, nachzudenken. Mit Kierkegaards Idee einer »teleologischen Suspension des Ethischen« führt Buber den Gedanken eines Gebots aus, das höher als die ethische Verpflichtung steht. Durch dieses Gebot werden das Allgemeine und die Allgemeingültigkeit jener Verpflichtung aufgehoben und durch die absolute Pflicht gegen Gott, die sich in einem persönlichen Verhältnis ausdrücke, ersetzt: »Gott setzt die Ordnung von Gut und Böse – und durchbricht sie, wo er sie durchbrechen will, und zwar von Person zu Person.« 221 Buber hebt hervor, dass Abraham, der von Gott den Befehl 221. Buber, Gottesfinsternis, S. 139; jetzt in diesem Band, S. 432.
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erhält, seinen einzigen Sohn Isaak zu opfern, die Entscheidung, diesem Befehl Folge zu leisten, in der »absoluten Vereinzelung« treffen müsse. Er betont den Unterschied zwischen Kierkegaards durch die christliche Tradition getragene Zuversicht, dass das Gebot tatsächlich von Gott ausgehe, und der in dem Alten Testament ausgedrückten Unsicherheit, ob nicht doch die Stimme Gottes von einer anderen Instanz gefälscht werde. Buber wendet diese Überlegungen auf die Gegenwart an, in der, wie er schreibt, »die Bildkraft des menschlichen Herzens im Absterben ist« 222 . Der Verlust betreffe die Fähigkeit, die »die geistige Pupille« 223 einst hatte, »die Erscheinung des Absoluten« aufzufangen. In diesem Zusammenhang führt er Nietzsches Wort vom Tod Gottes ein. Die Gegenwart werde, so setzt Buber fort, von den Geboten der Götzen bestimmt, die »im Osten und im Westen, von links und von rechts« 224 den Menschen bedrängen. Bezeichnend ist es, dass Buber hier in der IchForm von den Forderungen zur Aufopferung, die er selbst bei seiner Bekanntschaft mit jungen Menschen betrachtet hat, spricht. Es handelt sich hier um die Beschreibung der Wirkung von Ideologie. Freilich ohne dieses Wort zu gebrauchen, richtet er sich gegen die Denkweisen, die zum Verlust der »Echtheit der Person« führen: »im Bereich des Moloch lügen die Aufrichtigen und foltern die Barmherzigen und meinen wirklich und wahrhaftig, der Brudermord werde der Brüderlichkeit den Weg bereiten!« 225 Was er dagegen anführt, ist die Idee der kritischen Wachsamkeit, die sich aus Quellen speist, die Buber in seinen Ausführungen zur chassidischen Konzentration der geistigen Kräfte in religiöser sowie in ethischer Hinsicht betont hatte. Er spricht davon, dass, wenn »das neue Gewissen des Menschen erstanden ist«, dieses ihn dazu aufrufen werde, »sich mit der Urgewalt der Seele der Verwechslung von Bedingten mit dem Unbedingten zu erwehren, den Schein zu durchschauen und zu überführen.« 226 12. Anthropologie und Mythos Im Vorwort seines Buchs Bilder von Gut und Böse, das 1952 auf Deutsch erschien, weist Buber darauf hin, dass er hier »Gut und Böse in ihrer anthropologischen Wirklichkeit, das heißt, im faktischen Lebenszusam222. 223. 224. 225. 226.
Ebd., S. 143; jetzt in diesem Band, S. 435. Ebd. Ebd., S. 144; jetzt in diesem Band, S. 435. Ebd. Ebd.
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menhang der menschlichen Person« 227 als zwei strukturell verschiedene »Beschaffenheiten« aufzuzeigen suche. Sein Augenmerk gilt dem Verhältnis zwischen diesem anthropologischen Zusammenhang von Gut und Böse und »deren, den anthropologischen transzendierenden, Sinn« 228 . Er untersucht die Vermittlung zwischen diesen beiden Dimensionen des Sinns, die einerseits »in der mythischen Gestalt«, andererseits in Begriffen, die »eine zweckdienliche Brücke« 229 zwischen Mythos und Wirklichkeit ausmachen, gewährleistet wird. Im anthropologischen Bereich finde eine »Versinnlichung« von Wahrheiten, die den anthropologischen Sinn transzendieren, statt. Die Begriffe dienten der Erhellung des Verhältnisses zwischen der menschlichen Erfahrung von Tatbeständen und deren Gestaltung im Mythos. Buber stellt sich die Aufgabe, die Erfahrung von Chaos und Schöpfung mit deren ontischen Bestand zusammenzusehen. Wie in Gottesfinsternis und anderen Schriften in diesem Band geht es darum, in der Analyse die Subjektivität des Menschen, ihren Anteil an der Erfahrung zu würdigen, während gleichzeitig die in die Subjektivität aufgenommenen Gehalte in einem bewusstseinstranszendenten Horizont verortet werden. Buber betont die Kontinuität zwischen seiner Auffassung der »Anthropologie« und deren Sinn in »der modernen philosophischen Anthropologie«, die er in seinem Buch Das Problem des Menschen behandelt hatte. Es gibt nicht nur eine direkte Verbindung zu diesem Buch, sondern auch zu zentralen Fragen, die Buber in seinem Kommentar zum existenziellen Denken Sartres und Kierkegaards sowie zum Seinsdenken Heideggers in Gottesfinsternis aufgriff. Das Thema der Entscheidung hatte eine zentrale Rolle bei Bubers Erörterung des Denkens Kierkegaards in seinem Buch Die Frage an den Einzelnen gespielt. In Bilder von Gut und Böse erörtert Buber nun die Rolle der Entscheidung und der Entscheidungslosigkeit in der menschlichen Wirklichkeit. Die Ebene, auf der er der Frage der Entscheidung nachgeht, zeigt psychologische Koordinaten auf, aber die Dimension der Anthropologie, in der er seine Untersuchung schließlich durchführt, ist diejenige der »Existenz«. Der Fluchtpunkt seiner Gedanken hier ist die Unterscheidung zwischen »Leben« und »Existenz«. Letztere mache die »Bewährung« des Menschen aus. Diese Bewährung bestehe in der Richtung auf den Dienst als Ziel der Schöpfung. Bubers Erkundung der Anthropologie führt letztlich auf die Beziehung des Menschen zu Gott sowie zur Offenbarung. 227. Martin Buber, Bilder von Gut und Böse, Köln u. Olten: Jakob Hegner 1953, S. 10; jetzt in diesem Band, S. 315-358, hier S. 316. 228. Ebd., S. 12; jetzt in diesem Band, S. 317. 229. Ebd.
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Wie in den letzten Kapiteln von Gottesfinsternis ist die Frage nach dem Guten mit einer Problematisierung seiner rein ethischen Einbindung verbunden. Ein merklicher Unterschied zwischen Religion als Gegenwart und Ich und Du betrifft die Art, wie das Thema von Gut und Böse behandelt wird. In Ich und Du kommt diese Frage ansatzweise vor, wird jedoch nicht eingehend erörtert. An der Hauptstelle, an der »der Böse« zum Thema wird, behandelt ihn Buber als Teil einer Besinnung darüber, dass derjenige, der die Gegenwart Gottes verspüre, das sittliche Urteilen hinter sich lasse. Als Antwort auf den Bösen greift Buber zum Wort zurück, das er bereits in seinen Gedanken zum Chassidismus geprägt hatte: man solle den Bösen »mehr lieben« 230 . Anstatt des sittlichen Urteilens führt Buber das »Sichentscheiden« 231 an. Die Aufforderung zum Sichentscheiden »zum rechten Tun« sei im Leben bis zum Tod konstant. Buber zufolge entspringe das Sichentscheiden zum Tun einerseits in der Spontaneität, andererseits gehe es aus der Welt hervor »wie wenn es Nichttun wäre« 232 . Es gibt zwei Hauptpunkte, die in diesem Zusammenhang bedacht werden sollten. Buber weigert sich in seiner Thematisierung von Gut und Böse über die Jahrzehnte hinweg, das Böse als ein Absolutes neben dem absolut Guten zu setzen. Das würde nämlich heißen, dass es ein Prinzip außerhalb Gottes, des guten Prinzips, gäbe, worüber dieses keine endgültige Übermacht hätte. Eine solche Struktur würde direkt auf gnostisches Gedankengut zurückführen. Daher äußert sich Buber auch in den Tex230. Buber, Die Legende des Baalschem, S. 40. 231. Bubers Evozierung dieser Entscheidung findet in seinem Buch Ich und Du in einem Passus verdichteter expressionistischer Prosa statt: »Die feurige Materie all meines Wollenkönnens ungeheuer wallend, all das mir Mögliche vorwelthaft kreisend, verschlungen und wie untrennbar, die lockenden Blicke der Potenzen aus allen Enden flackernd, das All als Versuchung, und ich, im Nu geworden, beide Hände ins Feuer, tief hinein, wo die eine sich verbirgt, die mich meint, meine Tat, ergriffen: Nun! Und schon ist die Drohung des Abgrunds gebannt, nicht mehr spielt das kernlos Viele in der schillernden Gleichheit seines Anspruchs, sondern nur noch Zwei sind nebeneinander, das Andere und das Eine, der Wahn und der Auftrag. Nun aber erst hebt die Verwirklichung in mir an. Denn nicht das hieße entschieden haben, wenn das Eine getan würde und das Andere bliebe, erloschene Masse, gelagert und verschlackte mir die Seele Schicht auf Schicht. Sondern nur wer die ganze Kraft des Anderen einlenkt in das Tun des Einen, wer in das Wirklichkeitswerden des Gewählten die unverkümmerte Leidenschaft des Ungewählten einziehen läßt, nur wer ›Gott mit dem bösen Triebe dient‹, entscheidet sich, entscheidet das Geschehen. Hat man dies verstanden, so weiß man auch, daß eben dies das Gerechte zu nennen ist, das Gerichtete, wozu sich einer richtet und entscheidet; und gäbe es einen Teufel, so wäre es nicht, der sich gegen Gott, sondern der sich in der Ewigkeit nicht entschied.« (Buber, Ich und Du, S. 63.) 232. Buber, Ich und Du, S. 126.
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ten, die er nach den Greueltaten, die unter dem Nationalsozialismus gegen die Juden verübt wurden, schrieb, in dem Sinne, dass kein Mensch so verdorben sei, dass er nicht zum Guten geführt werden könnte. So heißt es in den Interrogations: »ich gestehe, dass ich keinen für ›absolut‹ unerlösbar halten kann.« 233 Anstatt von einem »radikal« Bösen, wie bei Kant, spricht Buber von einem »sich radikalisierenden« Bösen. Dies hängt mit seiner Theorie des »zweiten Stadiums« in der menschlichen Haltung zusammen. In Interrogations geht er folgendermaßen auf dieses Thema ein. Das »zweite Stadium« bedeute in der Lebenswirklichkeit des Menschen einen Zustand, »in dem der der Richtungs- und Entscheidungslosigkeit preisgegebene Mensch diese seine Beschaffenheit, eben als die seine, bejaht und in ihr als in der ihm eigenen Grundhaltung verbleiben zu wollen sich anmasst.« 234 Buber bestimmt das Böse als »Zustand« und als »Haltung« im Leben des einzelnen Individuums und nicht als ein sich außerhalb von ihm befindendes Prinzip. Er spricht von einem »sich radikalisierenden« Bösen, weil es sich hier um ein Stadium oder um Stadien eines individuellen Lebenswegs handelt, also innerhalb dieser persönlichen Struktur einen qualitativen Unterschied ausmacht. Vom Bösen als Zustand bzw. als Haltung sind laut Bubers eigenem Dafürhalten die Charakterisierungen, die er in den Texten Die Frage an den Einzelnen bzw. Bilder von Gut und Böse entwarf, die deutlichsten. In der ersteren Abhandlung nennt er das Böse als Zustand »das krampfige Ausweichen vor der Richtung« 235 , während er in der letzteren die Haltung, worin das Böse bestehe, als »die Selbstbejahung des in der Richtungslosigkeit Verbleibenden« versteht. 236 Der zweite Hauptpunkt betrifft die Art, wie das Böse in eine größere, mächtigere Struktur integriert wird. Diese, »die Richtung des Menschenwesens auf Gott«, nennt Buber das Gute. Die rein ethische Bindung nimmt bei Buber den Charakter einer begrenzten Befolgung von Regeln an, die lediglich einen Ausschnitt aus dem Leben bildet, nicht dessen Fülle. Umfassender als die rein ethische Bindung ist die Beziehung zum Du überhaupt, die von der Beziehung zum absoluten Du überwölbt wird. In Religion als Gegenwart wird die Frage von Gut und Böse angesichts der von anderen behaupteten funktionellen Abhängigkeit der Religion 233. Interrogation of Martin Buber, S. 111; deutsches Typoskript jetzt in diesem Band, S. 845. 234. Ebd. 235. Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 88. 236. Interrogation of Martin Buber, S. 114; deutsches Typoskript jetzt in diesem Band, S. 848.
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von der Ethik aufgeworfen und von Buber eingehend besprochen. Hier wie sonst in seinen Schriften wehrt sich Buber gegen den Versuch, Gott aus dem Sittlichen zu erschließen. Auch in der, wie er schreibt, »sublimsten« Form dieser Denkweise, die in Kants Postulaten der praktischen Vernunft vorliege, sieht Buber eine unzulässige Reduktion. Als indirekte Begründung hebe sie die Direktheit der Beziehung zu Gott auf. Weiter führt er an, dass, wenn das Religiöse lediglich auf dem Bereich, der von Gut und Böse ausgemacht wird, beruhen soll, es dann nur mit einem Ausschnitt der Wirklichkeit und nicht mit dieser selbst zu tun habe. Dann aber, so schließt Buber, wäre Schöpfung nicht mehr Offenbarung. Damit aber wäre, betont Buber, das Religiöse getilgt. Anstatt eines fordernden Gottes wird von Buber ein das Leben tragender Gott gedacht. Er weist auf den Sinn des Lebens als etwas, das nicht aussagbar ist und »in einem Sollen, in einem Gebot, in einem Gesetz, in einer Sittlichkeit« 237 ebenfalls nicht ausgesagt werden kann. Buber kommt auf diesem Weg zum Begriff der Entscheidung, der jenen Bereich des Sittlichen betrifft, der ins Religiöse hineinreicht. Anhand dieses Begriffs erfolgt eine Besinnung auf Gut und Böse, die schließlich im zweiten Vortrag auch an den Punkt heranführt, an dem dreißig Jahre später das Buch Bilder von Gut und Böse anknüpft: der altpersischen bzw. biblischen Idee von Gott. Der Frage von Gut und Böse war Buber in den letzten Kapiteln seines Kierkegaard-Buchs Die Frage an den Einzelnen nachgegangen. In den ersten drei Kapiteln setzte sich Buber mit Kierkegaards Rückzug auf den von anderen Menschen und von der Welt isolierten Einzelnen, der auf diese Weise seiner Beziehung zu Gott erst leben zu können vermeint, auseinander. Religiosität ist für Kierkegaard nur in der Absonderung von der Menge, die die »Unwahrheit« ist, erreichbar. Damit hängt eine Philosophie des Verzichts zusammen, die bei Kierkegaard eng mit seiner beendeten Verlobung mit Regine Olsen verknüpft ist. Ab dem Kapitel »Der Einzelne in der Verantwortung« widmet sich Buber der Frage der »persönlichen Richtigkeit der Entscheidung« im Horizont der Gruppe. Hier führt er eine Reflexion über die menschliche Person ein, die Person vom Individuum unterscheidet und sie als »den unverschiebbaren zentralen Platz des Kampfes zwischen der Bewegung der Welt von Gott weg und ihrer Bewegung auf Gott zu« 238 bestimmt. Dieser Gedankengang führt zur Frage, was das Rechte sei. Buber untersucht in Bilder von Gut und Böse, wie sich menschliche 237. Buber, Religion als Gegenwart, jetzt in diesem Band, S. 100. 238. Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 247.
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Erfahrung im Mythos verdichtet, und er legt den Punkt dar, an dem das wirklich erfahrene Böse mit der »mythischen Uranschauung« in Kontakt tritt. Die Deutung des mythischen Gebildes gehe von der persönlichen Erfahrung aus; der Mythos selbst stifte die Wahrheit dieser Erfahrung. Erst aus diesem Kontakt zwischen Erfahrung und Mythos entstehe die begriffliche Fassung dieses Bereichs. Im Geleitwort zu seinem Buch Der große Maggid und seine Nachfolge hatte Buber 1922 die Erzählgattung des Mythos zusammen mit der Legende und der Sage als »Gestalten« näher charakterisiert: »Legende bildet mit Mythus und Sage die Dreiheit der Gestalten, in denen der Mensch, der Mensch schlechthin, nicht Person, nicht dichterisches Subjekt, von der Berührung des Göttlichen zu erzählen weiß.« 239 Diese anfängliche Kennzeichnung wird sodann um detailliertere Bestimmungen ergänzt, die in der Tradition jener historischen Gattungspoetik stehen, die von Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik ausführlich formuliert wurde. Darin werden formale Aspekte mit Eigenschaften der die Gestalten hervorbringenden Menschengruppen sowie mit der Differenzierung der in den Formen geäußerten geistigen Haltungen vereinigt. Buber unterscheidet allgemein zwischen Gestalten, die die Beziehung zum Göttlichen betreffen, und literarischen Gestalten, dann differenziert er innerhalb dieser Gruppen. In der Folge Hegels grenzt Buber Formen im Hinblick auf die Art und den Grad der Differenz zwischen Subjekt und Welt, die sie ausdrücken, voneinander ab. Er schreibt: Mythus ist der Ausdruck einer Welt, in der das Göttliche und das Menschliche beisammen und ineinander wohnen, Sage der Ausdruck einer Welt, in der sie auseinander geraten und das Menschliche sein Gegenüber schon in einem Schauder verspürt; in der Legende äußert sich die Welt, in der die Scheidung vollzogen ist, nun aber von Sphäre zu Sphäre ein Verkehr, eine Zwiesprache, eine Wechselwirkung geschieht – von diesen erzählt sie. 240
In diesem Geleitwort skizziert Buber zwei Überlieferungen, die sich im Chassidismus verschmelzen: zum einen »die rituale Formung des Judentums« auf der Grundlage der Weitergabe des religiösen Gesetzes, zum anderen die Kabbala. Bubers Interpretation der Bedeutung des persönlichen Einsatzes im Alltag für den Chassidismus begründet sein Urteil, dass erst hier diese Überlieferungen »die eigentliche Verschmelzung einer Realität des Lebens und der Gemeinschaft« beinhalten. Wichtig ist Bubers Kennzeichnung des Prinzips, das hierbei vorherrsche: die »Ver239. Buber, Vorwort zu Der große Maggid, S. [V]; jetzt in: MBW 18.1, S. 51. 240. Ebd., S. VI; jetzt in: MBW 18.1, S. 51.
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antwortung des Menschen für das Schicksal Gottes in der Welt«. 241 Die Art, wie Buber das Verhältnis dieser »Verantwortung« der Moral gegenüber bestimmt, ist von zentraler Bedeutung für seine eigene Sicht auf die Beziehung zwischen Ethik und Religion bis in seine Spätwerke hinein. Eine Reihe von Texten in diesem Band belegt diese Sicht Bubers. Es handele sich hier um »Verantwortung, nicht in einem bedingten, moralischen, sondern in einem unbedingten, metaphysischen Sinn, heimlicher, unerforschlicher Wert der menschlichen Handlung, Einfluß des handelnden Menschen auf die Geschicke des Alls, ja auf dessen lenkende Kräfte […].« 242 Wenn Buber auf diese Art »das altneue Prinzip« darstellt, betont er eine Haltung des Menschen im Judentum, die mit der ontischen Struktur der Welt im Einvernehmen sei, auch wenn er darauf hinweist, dass die hier herrschende Kausalität die menschliche Erfahrung übersteige. Wie in Der große Maggid und seine Nachfolge stellt Buber dreißig Jahre später in Die chassidische Botschaft bei seiner Darstellung der chassidischen Lehre heraus, dass die Beziehung zwischen Gut und Böse über die gewöhnliche ethische Anschauung hinausgehe. Er legt dar, wie die talmudische Lehre, dass man Gott sowohl mit dem guten als auch mit dem bösen Trieb dienen müsse, mit der kabbalistischen Lehre von den gefallenen Funken vereint wurde. Die Einwohnung Gottes in der Welt, die Schechina, umfasse beide Triebe. Buber betont, dass das Böse keine selbständige Substanz sei, sondern als die niedrigste Stufe des Guten von der Richtung auf Gott verwandelt werden könne. Um dieses Phänomen zu erörtern, benutzt Buber den Begriff der Kraft. Die irregehende, richtungslose Kraft der Begierde könne in der »Umkehr« die Richtung auf die Wahrheit hin erhalten. Die chassidische Reaktion auf die durch den Sabbatianismus hervorgebrachte Krise bestand darin, die Lehre von der Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu erneuern. Während die Struktur dessen, was die Psychoanalyse unter »Sublimierung« versteht, hierzu eine Entsprechung bildet, kritisiert Buber diese Auffassung eines Vorgangs im Inneren des Menschen und setzt ihr die chassidische Idee der Erhebung der Funken entgegen, die »zwischen den Menschen und der Welt« stattfinde. Anstelle der Beschränkung auf psychische Vorgänge wird hier »die faktische Berührung mit anderen Wesenheiten« 243 betont. In Bilder von Gut und Böse nehmen Bubers Erläuterung des Bilds vom Guten sowie seine Interpretation des Bösen Gedanken wieder auf, 241. Buber, Geleitwort zu Der große Maggid, S. XVI; jetzt in: MBW 17, S. 55. 242. Ebd., S. XVI f.; jetzt in: MBW 17, S. 55. 243. Buber, Die chassidische Botschaft, S. 88; jetzt in: MBW 17, S. 289.
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die er in seinen Kommentaren zum Chassidismus entwickelt hatte und die er im gleichen Erscheinungsjahr wie die deutsche Fassung von Bilder von Gut und Böse in seinem Buch Die chassidische Botschaft parallel ausführt. Buber weist in Bilder von Gut und Böse eine Entsprechung zwischen Phänomenen, die sich im Leben der menschlichen Person ergeben, und Bildern, die in alttestamentlichen und iranischen Texten vorkommen, auf. Er unterscheidet in Bezug auf die Bilder des Bösen zwei verschiedene Stadien des Lebenswegs, die in den Vorgängen, die er beschreibt, verdichtet werden. Die früheren ordnet er den alttestamentlichen Texten, die späteren den iranischen Texten zu. Auf dieser Grundlage geht er zunächst auf ein psychisches Phänomen ein, das er als den fehlerhaften Versuch, auf einen Zustand des seelischen Chaos zu reagieren, versteht. Dabei sei der Mensch nur scheinbar bestrebt, dieses Chaos zu bezwingen. Anstatt seine Kräfte zu einigen und ihnen die notwendige Richtung zu geben, versuche er mit Gewalt eine Bresche in seine Situation zu schlagen, um ihr zu entkommen. Es gehe hier nicht um eine Wahl, sondern lediglich um ein Handeln. Diesem anthropologisch nachweisbaren Zustand entsprechen die von Buber ausgewählten alttestamentlichen Texte, die den Sündenfall, Kain und Abel sowie die Sintflut betreffen. Der zweite Fall, den er bespricht, betrifft die Reaktion des Menschen auf den widersprüchlichen Zustand seiner Psyche, der durch seine eigene »Richtungslosigkeit« und durch seine »Scheinentscheidungen« 244 entstanden sei. Diesen Zustand bejahe der Mensch, indem er ihn durch die »Beschaffenheit der Person überhaupt« erkläre. Dadurch erhoffe er sich, diesen Zustand erträglich und annehmbar zu machen. Anders als beim ersten Fall gehe es hier um eine Wahl, die vom Menschen getroffen werde. Diesem anthropologischen Phänomen entsprechen Stellen aus dem ältesten Teil des Awesta, die Buber kommentiert. Diesen zweiten Fall betrachtet Buber als die »Radikalisierung« des Bösen. Bubers Bestimmung des Guten führt die Stränge zu diesem Thema zusammen, die ansatzweise bereits in Die Legende des Baalschem und in Daniel erkundet wurden. Im Hinblick auf beide hier unterschiedenen Stadien stellt er fest, dass das Gute »den Charakter der Richtung« behalte. »Richtung« versteht Buber, wie in seinen früheren Schriften, in engster Verbindung mit der »geeinten Seele«. Damit wird die Entscheidung, die er im Sinne hat, näher gekennzeichnet. Er schreibt, dass es »für die wahre, für die mit der geeinten Seele vollzogene, menschliche
244. Buber, Bilder von Gut und Böse, S. 108; jetzt in diesem Band, S. 356.
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Entscheidung nur Eine Richtung gibt« 245 . Alle weiteren »in der Seinswirklichkeit« getroffenen Entscheidungen könnten nur »Variationen« der einzigen Richtung dieser Entscheidung sein. Hier setzt Buber stillschweigend etwas voraus, das er aber an anderen Stellen seines Werks und nicht zuletzt in den Interrogations ausdrücklich behauptet: die Tatsache, dass der Mensch sich nicht mit der ganzen gesammelten Kraft seiner Seele für das Böse entscheiden könne. Das ist die Konsequenz der bereits früh von Buber vollzogenen Interpretation der chassidischen Kawwana. In Bilder von Gut und Böse unterscheidet Buber zwei Aspekte der Richtung, die nach seinem Verständnis maßgebend seien. Zum einen konzentrierten sich die Kräfte unter der Vorherrschaft der Richtung auf den Menschen selbst, in seiner Einzigkeit, um hervortreten zu lassen, worauf es mit ihm hinauswolle. Buber schreibt von der »Person, die mit mir gemeint ist«. Zum anderen bilde die Richtung zu Gott das Zentrum der vereinten Kräfte. Zusammengenommen implizierten sie, dass der Einzelne in seiner Einzigkeit in und mit der Richtung zu Gott existiere. Hierdurch bestimmt Buber »das menschlich Rechte«, indem er es als den »Dienst des einzelnen, der die mit ihm schöpferisch gemeinte rechte Einzigkeit verwirklicht«, bezeichnet. Mit diesem Gedankengang will Buber das Gute aus der Beziehung zu Gott denken. Er betont ausdrücklich: »Das so begriffene Gute ist in kein ethisches Koordinatensystem einzuordnen« 246 . Diese Feststellung begründet er, indem er das Ethos auf die Offenbarung zurückführt. Darin habe es seinen Ursprung. Mit der Offenbarung meint Buber: »Offenbarung des menschlichen Diensts am Ziel der Schöpfung«. Auf diese Idee, die er bereits in Die Legende des Baalschem erörterte, ist der Gedanke der »Bewährung« abgestimmt. »Bewährung« hängt innig mit der Richtung zusammen. In der Erhaltung der Richtung bewähre sich der Mensch im Dienst an der Schöpfung. Darin, dass für Buber diese Bewährung und dieser Dienst je-eigen sind, manifestiert sich seine Anerkennung jener philosophischen Besinnung Kierkegaards, in der er nach eigenem Bekunden »den ersten Anstoß erhielt, über die Kategorien des Ethischen und des Religiösen in ihrem Verhältnis zueinander nachzudenken« 247 . Über die Bedeutung der Bewährung und der Richtung für den Menschen sagt Buber schlechtweg: »Existenz gibt es für ihn ohne sie nicht.« 248 245. 246. 247. 248.
Ebd., S. 109; jetzt in diesem Band, S. 356. Ebd., S. 111; jetzt in diesem Band, S. 357. Buber, Gottesfinsternis, S. 138; jetzt in diesem Band, S. 432. Buber, Bilder von Gut und Böse, S. 112; jetzt in diesem Band, S. 358.
Religion als Gegenwart
Erster Vortrag: 15. Januar 1922 Herr Dr. Franz Rosenzweig weist im Namen des Lehrhauses und zugleich auch im Auftrag des Redners die Teilnehmer darauf hin, dass sie gebeten sind, Fragen, die ihnen sofort aufsteigen oder sich hinterher aufdrängen, ihrem Lehrer zu Gehör zu bringen. Die Fragen können in mündlicher oder schriftlicher Form bei 5 allen Vorlesungen gestellt werden.
Aus der Bitte, die Ihnen auch in meinem Namen soeben vorgetragen worden ist, geht schon hervor, um was es hier zu tun ist. Nicht um eine Mitteilung sozusagen von oben nach unten, sondern um eine Zusammenarbeit, um das gemeinsame Beschreiten und Gehen eines Weges. Und zwar ist es Weg der Auskundschaftung, der Erkundung. Wir wollen gemeinsam zu erkunden suchen, inwiefern es Religion als Gegenwart gibt. Religion also nicht als Erinnerung und Hoffnung, sondern als gelebte Gegenwart. Das bedeutet aber auch, dass diese Frage nicht etwa gerichtet wird zur Erkundung, nicht etwa vorgenommen wird an diesem Zeitalter, in dem wir leben, so sehr gerade es uns diese Frage auferlegt, sondern dass notwendigerweise wir diese Frage richten müssen an alle Zeit, dass wir nicht fragen können, inwiefern Religion in dieser unserer Gegenwart Gegenwart ist, sondern dass wir fragen müssen, inwiefern Religion absolute Gegenwart ist, die nie zur Vergangenheit werden kann und somit in jeder Zeit und für jede Zeit Gegenwart werden und Gegenwart sein muss. Denn sonst wäre diese Frage in die ganze Problematik unserer Zeit und jeder Zeit wieder eingestellt, müsste immer neu gestellt werden und könnte nie wirklich beantwortet werden. Nur indem wir sie so absolut stellen, so zeitlos und allzeitlich, stellen wir sie restlos. Wir fragen uns: Inwiefern ist Religion absolute Gegenwart, die nicht zur Vergangenheit werden kann? Inwiefern ist sie eine Gegenwart, die von keiner anderen begrenzt wird und die daher auch von keiner andern aufgehoben werden kann? Das bedeutet zugleich: Inwiefern ist Religion unbedingte Wirklichkeit und dennoch an nichts Wirkliches grenzend, von keinem Wirklichen sich abhebend, von keinem andern Wirklichen zu berichtigen, sondern aus sich selbst, in sich selbst unbedingt wirklich? Und zum dritten bedeutet es: Inwiefern ist Religion für jeden gegenwärtig? Inwiefern ist sie etwas, was da ist für jeden? Ich möchte noch einmal diese drei Dinge Ihnen nahezubringen suchen. Ich sagte, es geht darum, vor allem inwiefern Religion eine Gegenwart ist, die nicht zur Vergangenheit werden kann. Alle Gegenwart, die wir kennen, wird eben dadurch, dass sie Gegenwart ist, im nächsten Augenblick, durch die nächste Gegenwart zur Vergangenheit. Sie wird es deshalb, weil alle Gegenwart in
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der Seele ist, weil alle Gegenwart ein Augenblick der Menschenseele ist, auf den ein anderer Augenblick folgt. Eine absolute Gegenwart, die nicht zur Vergangenheit wird, das müsste eine sein, die nicht bloss im Menschen wäre als ein Augenblick seiner Seele, sondern in der der Mensch stünde, etwas, worin der Mensch lebte und das zugleich aber er nur in seiner Innerlichkeit und mit Aufwand seiner ganzen Innerlichkeit zu erfüllen vermöchte. Und weiter: Ich sagte: Gegenwart in diesem Sinne bedeutet, dass es hier um ein Wirklichstes geht, das von keinem anderen Wirklichen, von keiner Wirklichkeit begrenzt wird, das an keine Wirklichkeit der uns bekannten Wirklichkeiten grenzt, von ihr sich abhebt, also von ihr aufgehoben, durch sie berichtigt werden kann. Alle Wirklichkeit, die wir kennen, ist ja eben dadurch wirklich, dass sie sich von anderm Wirklichen abhebt. Gerade an ihren Grenzlinien gegen die anderen Dinge bewährt sie ihre so und nicht anders beschaffene Wirklichkeit. Hier aber geht es um etwas, das nicht neben anderm Wirklichen als einer der Bestandteile einer Gesamtwirklichkeit seinen Ort hätte, sondern als das schlechthin Wirkliche, das nicht von anderm Wirklichen berichtigt, aufgehoben werden kann. Es geht also um etwas absolut Wirkliches. Und zum dritten: Gegenwart in diesem Sinne muss für alle sein. Es kann nicht so gemeint sein, dass irgendwo ein Teil der Menschen, ein Teil der geistigen Wesen diese Gegenwart sozusagen zu Besitz hätte, einen Anspruch auf sie hätte, gleichsam ein Monopol auf sie besässe kraft seiner Auserwähltheit, kraft seines höheren Anteils am Geist, sondern dem Sinn einer absoluten Gegenwart entspricht es notwendig, dass sie überall ist, wo Geist ist, dass nicht etwa Menschen sie aus besonderer geistiger Begabung heraus finden, sondern dass jeder Mensch sie kraft des Phänomens des Geistes, in dem er selbst ist, sich erschliessen kann. Frage: Dann ist man also nicht religiös, wie man musikalisch ist? Antwort: Ganz recht, es ist nicht eine Gabe neben andern Gaben, die man hat oder nicht hat. Man ist auch nicht so religiös, wie man künstlerisch ist, und auch nicht einmal so, wie man moralisch ist. Dies also, dieses Erschlossensein für alle, dieses Gestiftetsein einer unsichtbaren Menschheit kraft des Phänomens der Religion, das ist das Dritte, was sich daraus ergibt, dass und inwiefern Religion absolute Gegenwart ist. Ich sagte: eine unsichtbare Menschheit. Dies nämlich ist der einzige Weg und die einzige Möglichkeit, Menschheit zu konzipieren, dass das Phänomen des Geistes, in dem sie steht, sich ausspricht in einer absoluten Wirklichkeit und Gegenwart, in der alle stehen, und die in jedem ist und in jedem erschlossen werden kann. Frage: Ist man religiös, wenn man moralisch ist?
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Antwort: Ich werde darauf noch ausführlich zu sprechen kommen. Ich bin allerdings nicht dieser Meinung, jedenfalls glaube ich nicht, dass, wer moralisch ist, damit religiös ist. Frage: Aber religiös sein ist auch nicht gleichzeitig moralisch sein? Antwort: Jedenfalls möchte ich bestreiten, dass, wer moralisch sei, eben damit religiös sei und damit das Religiöse in sich erschlossen hat. Nur in diesem Sinne dürfen wir von Religiössein sprechen, nicht in dem Sinne eines Privilegs, das der Eine hat und der Andere nicht hat. Ich sagte schon, wir können die Frage nicht an unser Zeitalter allein stellen, sondern wir stellen sie an die Zeit schlechthin. Und dennoch, indem wir die Frage stellen, stellen wir sie aus unserem Zeitalter heraus bedingt durch das Faktum dieses Zeitalters mit allen seinen Bedingtheiten. Und darum müssen wir davon ausgehen, inwiefern in diesem Zeitalter eine ganz besondere Einstellung zur Religion oder eine ganz besonders gesteigerte Einstellung zur Religion sich kenntlich macht. Diese Einstellung, die, wie mir scheint, dem Charakter unserer Zeit als einer Zeit des Randes, oder vielleicht kann man anschaulicher sagen, als einer Zeit der Talsenkung, der tiefsten Senkung zwischen zwei emporgewölbten Welten des Wortes, des Gesetzes, der Welthaftigkeit ist. Diesem Zeitalter, das diesen Charakter hat, man könnte auch sagen, den Charakter des Schweigens, den Charakter des angehaltenen Atems, in diesem Sinne spreche ich von der Senkung, diesem Zeitalter entspricht eine bestimmte Einstellung oder eine auf bestimmte Weise gesteigerte Einstellung zur Religion, die man vielleicht auf den ersten Blick nennen möchte das Streben nach Relativierung, das heisst danach, etwas, was an sich unbedingt ist oder unbedingt sein kann, bedingt zu machen oder bedingt erscheinen zu lassen. Aber das würde doch wohl noch keine ganz zutreffende Bezeichnung sein. Relativierung ist etwas, was der Religion zu aller Zeit notwendig anhaftet. Alle Religion, insofern sie sich in der Zeit darstellt, schliesst Relativierung ein in dem Sinn, in dem wir vielleicht sagen dürfen, dass die Wirklichkeit eine Relativierung Gottes sei. In dem Sinn dürfen wir wohl sagen, dass Religion notwendigerweise in ihrer zeitlichen Darstellung eine Relativierung der Beziehung zum Absoluten einschliesst. Nicht also in dem Sinn sprechen wir von Relativierung in diesem Zeitalter, sondern hier kommt in einer ganz besonderen Zuspitzung eine andere Tendenz zur Geltung, und zwar wohl auf allen Gebieten, die man vielleicht, um sie von dieser allgemeinen Tatsache der Relativierung abzuheben, bezeichnen darf als Funktionalisierung, und zwar meine ich hier Funktion im mathematischen Sinn. Alle Religion also wird aufgefasst oder aufzufassen gesucht nicht als selbständige Grösse, sondern als etwas, was von einer anderen Grösse abhängt, mit
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ihr zunimmt und mit ihr abnimmt. Es handelt sich also um eine Tendenz nach Entselbständigung der religiösen Sphäre. Es geht darum, und zwar, wie ich zu zeigen versuchen will, auf allen Gebieten, es geht darum, die Religion ihrer Unabhängigkeit, ihrer selbstmächtigen Totalität zu berauben und sie zur abhängigen, zur Funktion einer anderen Sphäre, einer der Sphären des Kosmos zu machen. Das zeigt sich vielleicht am deutlichsten bei der Sphäre, die vielleicht in unserer Zeit am stärksten ihr Recht in diesem Sinne geltend gemacht hat, in der biologischen. Es wird gefordert, dass Religion nicht etwas sei, was aus eigenem Recht besteht, sondern Religion sei eine Funktion des Lebens. Die religiösen Konzeptionen gehörten zu den Mitteln, mit denen das Leben sich erhalte und sich steigere. Die Individuen und die Gruppen, die religiöse Konzeptionen hätten, entwickelten und gebrauchten sie dazu, um sich andern Individuen und andern Gruppen gegenüber im Leben zu behaupten und innerhalb des Lebens zu steigern. Dieser Biologismus unserer Zeit äussert sich vielleicht auf keinem Gebiet so deutlich und nachdrücklich wie gerade auf diesem. Die religiösen Konzeptionen, wie ich hier noch sagen wollte, werden zu Fiktionen, denen wesentlich der Charakter zukommt, als Mittel, Leben zu behaupten, Leben zu erhöhen, benützt zu werden. Ich kann hier, es sei denn, dass ich aus Ihrer Mitte jetzt oder später danach gefragt werde, in diesem Augenblick nicht auf die einzelnen Formen der Relativierung oder Funktionalisierung, von denen ich spreche, näher eingehen. Aber ich möchte schon jetzt sagen, dass diese Degradierung – anders kann ich es wohl nicht ausdrücken – dass diese Degradierung der religiösen Konzeptionen zu lebensbrauchbaren Fiktionen den eigentlichen Selbstmord des Geistes bedeuten würde. Der Geist baut seine Welt auf kraft dessen, dass er in ihr wurzelt. Wüsste er nicht zutiefst darum, dass er in einer Welt wurzelt, wüsste er nicht zutiefst darum, dass das, was er hervorbringt, eben das ist, woraus er kommt, dann würde all seine Schöpfung zu Willkür und Lüge. Eben das, dass der Geist nichts anderes machen kann, als was er entdeckt, dass er nichts anderes schaffen kann, als was er findet, eben das erhebt ihn zu einer allzeitlichen und allräumlichen Erscheinung. Das enthebt ihn der Bedingtheit der Zeiten und der Räume. Das macht, dass Geist nicht das Phänomen einer bestimmten Phase der kosmischen Evolution ist, dass nicht an irgend einem bestimmten Punkte der Zeit aus kosmischer Materie Geist geworden oder die kosmische Materie Geist entfaltet hat, sondern dass in Wahrheit Geist ist und der seiende Geist sich nur in diesen Formen des kosmisch gewordenen Geistes entfaltet. Ich sage, an diesem seinem Urphänomen verhebt sich notwendigerweise der Geist, der seine höchsten Konzeptionen als Fiktionen behandelt, die im Dienst des Le-
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bens stehen, die er also gebrauchen und handhaben kann, die seiner Willkür ausgeliefert sind und die er nun spinnen und fortspinnen und zerreissen kann nach Belieben oder nach den Erfordernissen des Lebens. Freilich enthält diese Relativierung, von der wir hier sprechen, eine eigentümliche Paradoxie, die uns wohl über ihre Problematik trösten kann. Wenn nämlich, wie die Vertreter dieser biologistischen Religionstheorie meinen, die religiösen Konzeptionen erkannt werden sollten als lebensbrauchbare Fiktionen, dann wären sie nicht mehr lebensbrauchbar. Denn lebensbrauchbar sind sie ja nur dadurch, dass sie nicht als Fiktionen erscheinen. Sie helfen das Leben erhalten, behaupten, steigern dadurch, dass der Mensch an diese unbedingt glaubt und dadurch seine Kraft in einer Art konzentrieren kann, dass er ohne diesen Glauben sie nicht konzentrieren könnte, sich an die Sache, die er will, mit einer Inbrunst hingeben kann, die er sonst, ohne diese Glaubensmacht, nicht aufzubringen vermöchte. Es liegt also in dieser Auffassung ihre eigene Aufhebung. Der Biologismus, der religionstheoretische Biologismus hebt sich selbst auf, und wir dürfen vielleicht schon jetzt sagen, auch von dieser Sphäre schon können wir lernen, dass Religion nicht etwas ist, was in ihr steht und von ihr ihre Gesetze empfängt, sondern Religion ist etwas, was diesem scheinbar so selbstherrlichen Leben das Gesetz zu bestimmen hat, was am Rande des Lebens, im Angesicht des Lebens steht und nicht aus ihm heraus, sondern zu ihm spricht, ihm befiehlt, freilich nicht als etwas, was am Rand stehend ausserhalb des Lebens steht, sondern was vor dem Leben steht als etwas, was es zugleich mit umfasst, und was eben dadurch ihm seine Grenze, seinen Rand, seinen Wall, seinen Damm bestimmen kann, über den hinaus es nicht walten darf. Von der biologischen Sphäre führt ein leicht überschaubarer Weg zu der, die ich die soziologische wohl nennen kann, von dem Anspruch des Lebens zum Anspruch der Gesellschaft und Gemeinschaft, auch wieder Sphären, die sich natürlich vielfach berühren, sodass scheinbar die der Gesellschaft und Gemeinschaft ganz eingebettet ist in die des Lebens, ihm aber doch mit ihrem besonderen Aspekt und ihren besonderen Forderungen gegenübersteht. Die Relativierung der Religion auf diesem Gebiet bedeutet, dass die religiösen Konzeptionen, wie man sich wohl ausdrückt, eine Projektion des gesellschaftlichen Lebens, eine Projektion des Lebens der sozialen Gruppe sind. Man drückt es religionsgeschichtlich so aus, dass man sagt: Eine Gruppe macht aus ihrer Besonderheit, aus ihrem besonderen Leben und ihrem besonderen Anspruch, indem sie dieses Leben, diesen Anspruch in die übermenschliche Sphäre projiziert, einen Gott. Dieser Gott ist nichts anderes als sozusagen das personifizierte Bewusstsein dieser sozialen Gruppe. Das ist religions-
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geschichtlich ausgedrückt. Religionstheoretisch drückt ja dasselbe die Folgerung Dostojewskis aus, der einmal in seinem Revolutionsroman »Die Teufel« davon spricht, dass die Völker ihre Götter haben, jedes Volk seinen Gott, und in der unbedingten Hingabe an diesen Gott, in der absoluten Unduldsamkeit gegen andere liege die Kraft und die Lebensfülle dieses Volkes, und indem die Völker um ihre Götter miteinander kämpften, kämpften sozusagen die Götter dieser Völker gegeneinander, jeder unerbittlich sein Recht und seinen Bestand gegen alle anderen behauptend und wahrend. Diese besondere Art der Relativierung bedeutet aber im Grunde nichts anderes, als dass der Mensch, der ja wohl empirisch notwendigerweise in einer Gruppe steht, das Leben dieser Gruppe mitmacht und, scheidet er sich von ihr, sich von einem Lebenselement seiner selbst scheidet. Dies ist gerade bei dem Volkstum, von dem Dostojewski spricht, am allerdeutlichsten, dass diese empirische geschichtliche Notwendigkeit des Menschenlebens zu einer Unentrinnbarkeit gemacht wird, zu etwas, was sozusagen nicht mehr die Freiheit, sondern die Schranke des Menschen bildet. Der Mensch kann nunmehr nur so weit gehen, als seine Gruppe ihm erlaubt, denn diese Gruppe ist ja nun nicht etwas, was neben anderen steht und sein Recht neben dem Recht der anderen fordern darf, sondern es ist die Gruppe, die der Gott beherrscht und von der er, der Gott, fordert, dass sie gegen alle anderen Gruppen und Götter ihm diene durch unbedingten und nie aufhörenden Kampf, durch das nie ermüdende Streben, andere Gruppen, den Geist der anderen Gruppen zu vernichten. Diese furchtbare Begrenzung des Menschen bedeutet, dass die Relativierung der Religion verschiedentlich zugleich eine Verabsolutisierung der sozialen Gruppe bedeutet, und zwar eine, die schlechthin die Idee der Menschheit, die Idee der unsichtbaren Menschheit, von der ich gesprochen habe, für alle Zeit aufhebt. Es gibt nunmehr keine Menschheit, es gibt keine mögliche Menschheit, und somit gibt es auch in Wahrheit keinen einigen, keinen Geist, denn ein Geist, der in absolute Gruppen gespalten ist, von denen jede ihre unübersetzbare, unübertragbare, nur im Kampf mitteilbare Art hat, dieser Geist besteht nicht. Die Gruppen können sich einigen, Gruppen, die Gruppengötter haben, nicht. Frage: Kann man es so ausdrücken, dass für Religiosität Religion gesetzt wird? Kann man die soziale Relativierung so ausdrücken? Antwort: Das möchte ich nicht sagen. Die Unterscheidung zwischen Religiosität und Religion, die mir persönlich sehr wichtig ist, die gehört in jene andere Sphäre, von der ich zuerst gesprochen habe, auf die wir noch zurückzukommen haben werden, und von der eigentlich diese Vorlesung handeln wird, nämlich in die Sphäre der notwendigen, der
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geschichtlich zeitlich notwendigen Relativierung der Religion. Religiosität relativiert sich immer zur Religion und muss sich notwendig relativieren. Insofern nämlich hat sie Dauer und insofern stellt sie Zusammenhang von Menschen dar. Sonst wären die Menschen jeder in seiner persönlichen Religiosität eingeschlossen und hätten miteinander nichts zu tun und untereinander nichts und hätten in der Zeit, in dem Zusammenhang der Geschlechter nichts zu tun. Sie hätten in allem miteinander zu tun und in diesem Letzten und Stärksten hätten sie nichts miteinander zu tun. Also diese notwendige Relativierung der Religiosität meine ich nicht, sondern ich meine dieses spezifische Streben, die Religion nur noch aufzufassen als Exponenten des Daseins, der Behauptung von sozialen Gruppen, nicht dass Religion ein soziales Phänomen ist, das muss sie sein, dass sie immer wieder sich an einem sozialen Phänomen darstellt, sondern dass Religion nichts anderes ist als eine Funktion des Gesellschaftslebens. Frage: Wir erreichen also dasselbe als vorhin beim Biologismus? Antwort: Nicht ganz, insofern nämlich nicht, als der Begriff des Lebens nicht individualistisch, sondern ganz allgemein ist. In ihm sind Individuen und die Gruppen eingefasst, es ist sozusagen das Leben selbst, das sich behauptet. Sie haben recht, das ist in der Tat ein Parallelismus. Aber dasselbe wird wohl auch zunächst für die anderen Sphären zutreffen, von denen ich zu sprechen habe. Die Sphäre, von der ich jetzt sprechen will, grenzt nun vielleicht etwas näher an die des Soziologischen als des Biologistischen. Ich meine die Sphäre der sogenannten Kultur, das heisst der Anspruch, den man als den kulturgeschichtlichen und kulturpolitischen bezeichnen kann. Dieser Auffassung nach ist Religion nur eine Funktion der Kultur. Sie bildet einen Teil dieser Kultur, eine bestimmte Erscheinungsform. Innerhalb der vielen Aeusserungen des kulturellen Lebens gibt es auch diese, dass der Mensch sich religiöse Weltbilder macht. Um Ihnen das am deutlichsten machen zu können, was ich meine, will ich Sie auf eine heute recht bekannte historistische Auffassung aufmerksam machen, der gemäss die Kulturen etwa Organismen sind, die werden und vergehen nach bestimmten Gesetzen, wie eben Organismen werden und vergehen, ihre bestimmten Lebensphasen haben. Diese Lebensphasen sind bei allen Kulturen die gleichen, und so wickelt sich eine Kultur nach der andern ab. Wenn die Kultur eines Volkstums oder einer Völkergruppe sich abgewickelt hat, ist das schon ein anderes Volkstum oder eine andere Völkergruppe, die eine Kultur aufzubauen begonnen hat usw. Ich vermute, dass diese Ablösung so lange dauern soll, als es noch unkultivierte Völker und Völkergruppen gibt. Ich möchte nicht etwa gegen diese Auffassung, ge-
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gen die ich sehr viel auf dem Herzen habe, polemisieren. Ich möchte nur davon sprechen, welchen Platz die Religion in dieser Auffassung hat. Eigentlich keinen. Das heisst, Religion hat in dieser Auffassung nur einen Platz, insofern sie, ich möchte sagen, statisch ist, insofern sie eine bestimmte Dogmatik und eine bestimmte Ritualistik so ausgebildet hat, dass das ganze religiöse Leben sich in diese Formen des Denkens und Tuns eingetan hat und nicht mehr für sich selbst lebt. Das bedeutet, von der Religion, von der geschichtlichen Religion haben gerade die Epochen Raum in dieser kulturgeschichtlichen Auffassung, die nicht die schöpferischen Epochen oder mit anderen Worten nicht die Epochen der tiefsten Selbstbesinnung und Gottbesinnung des religiösen Menschen sind. Denn diese Epochen, die schöpferischen Epochen der Religiosität, die lassen sich in dieses Weltbild, in dieses Weltgeschichtsbild nicht einzwingen. Denn es ist ja je und je so, dass, wenn eine Kultur sich nun abgewikkelt zu haben scheint und wenn es so zu sein scheint, dass man nun an eine andere, kommende appellieren und deren Werke erwarten muss, dass da von irgendwoher aus dem Namenlosen, aus dem Unvorhergesehenen und Unmittelbaren plötzlich eine Kraft sich erhebt, die das Angesicht der Erde, das Angesicht der Geschichte ändert, die religiöse Kraft, das heisst, von allen sogenannten revolutionierenden Kräften die grosse revolutionierende Kraft der Geschichte. Wenn alles sich in dieses Schema einer nach dem Bild des Organismus, des Werdens und Vergehens von Organismen voraussehbaren Abwicklung, Evolution einfügen lässt, diese Kraft lässt sich nicht einfügen, ihre Welt ist nicht voraussehbar, und wenn man schon so und so viel von der Geschichte der Kulturen weiss und sagt, wir befinden uns an diesem und diesem Punkt der Kulturabwicklung und nun wird es so und so kommen – diese Kraft braucht je und je nur aufzustehen und sie wirft alle Berechnungen über den Haufen. So ist auch hier Religion ihrem Wesen nach und ihrem innersten Wesen nach nicht einfügbar, und man darf wohl auch hier sagen, ebenso wie Religion nicht vom Leben ihr Gesetz empfing, sondern dem Leben das Gesetz diktieren muss, ebenso wie sie von der Gesellschaft nicht ihr Gesetz empfing, sondern der Gesellschaft vorschreibt: Bis hierher gehen dein Recht und deine Gesetze, bis hierher kannst du dem Menschen angeben, wie er zu leben hat, nun aber ist er aufgenommen in meine Wesenheit, ebenso verhält es sich hier. Der Kultur gegenüber spricht die Religion immer wieder ihr kulturkritisches, kulturaufhebendes und kulturerneuerndes Wort. Es ist nicht so, dass die Kulturen einander ablösen, sondern es ist so, dass die Kulturen immer wieder erweckt werden durch die religiöse Kraft. Ich werde bald für heute schliessen müssen, möchte Ihnen aber noch
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gleichsam zum Ueberlegen für das nächste Mal und damit ich auf die nächsten Sphären nicht so ausführlich einzugehen brauche, denn ich möchte nicht sehr lange bei der negativen Seite stehen bleiben und nicht zu lange bei den Prämissen dieses Zeitalters, sondern zunächst nur Ihnen andeuten, um welche andern Sphären es sich handelt: um die ästhetische, das heisst um die Auffassung, dass Religion eine freie, sozusagen künstlerische (sozusagen!) künstlerische Schöpfung sei; um die ethische, das heisst um die Auffassung, dass Religion nur ein notwendiger Ueberbau der Ethik des moralischen Lebens sei, gleichsam die formulierte absolute Sanktion des Ethos; um die logische, das heisst um die Auffassung, dass Religion entweder eine Abart oder eine Fortsetzung oder eine Ergänzung der nach logischen und methodologischen Prinzipien verfahrenden Wissenschaft sei; endlich um die, deren tiefer Grundirrtum vielleicht dem meisten von dem, was ich in diesem Abschnitt zu besprechen habe, zugrunde liegt: um die Psychologie.
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Zweiter Vortrag: 22. Januar 1922 Ich hatte begonnen, von den Hörigkeiten der Religion zu sprechen, das heisst von jenen Ansprüchen der verschiedenen Lebenssphären, die Religion von ihnen abhängig zu machen, in ihre Abhängigkeit zu zwingen, sie als ihre, als dieser Lebenssphäre Funktion darzustellen, jede Sphäre, jede Religion als ihre Funktion. Von dieser Tendenz der Funktionalisierung der Religion habe ich gesprochen, und zwar zunächst innerhalb der Sphären, in denen der Geist, der persönliche Geist noch eingebettet ist in das Gegenständliche, Objektive, Allgemeine, in das Objektive des Lebens, das der Gesellschaft, das der Kultur. Dasselbe möchte ich jetzt aufzeigen innerhalb der Sphären, so der persönliche Geist nicht mehr eingebettet, sondern schöpferisch, personal auftritt, und zwar zunächst innerhalb der des Ästhetischen, der Kunst. Die ästhetische Betrachtungsweise, oder sagen wir die Uebertragung der ästhetischen Betrachtungsweise auf ausserästhetische Gegenstände, ist ja etwas, was Ihnen in unserer Zeit wohl schon häufig entgegengetreten ist. Es ist einer gewissen philosophischen Art unserer Zeit eigentümlich, Weltanschauungen, Religionen an sich vorüberziehen zu lassen wie Landschaften, wie Kunstwerke, wie Schauspiele, das heisst, sie als Fläche zu betrachten, das heisst, in ihnen gerade die Dimension, die die ihnen eigentümliche, die an ihnen die entscheidende ist, nicht zu betreten, das heisst, ihr Geheimnis ungeschaut zu lassen. Dieser Betrachtungsweise entspricht es gleichsam als ihrem Gegenbild, wenn heute vielfach die religiösen Konzeptionen
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und Formungen aufgefasst werden als, wie man es so ausdrückt, freie Schöpfungen des Menschengeistes. Dieser Ausdruck, frei, freie Schöpfung tut ja eigentlich schon auch der Kunst selbst Unrecht. Denn jede Kunst steht unter einem Gesetz. Jeder künstlerische Akt folgt dem Gesetz der Gestalt, die dieser Akt meint, oder, wir können’s wohl richtiger sagen, die ihn meint, die durch ihn verwirklicht werden will. Aber in einem besonderen Sinn noch und ein viel tieferes Unrecht geschieht durch diesen Ausdruck der Religion. Wohl ist beides, Kunst und Religion, ein Tun in einem Auftrag. Aber die Kunst, die künstlerische Schöpfung entstammt dem Auftrag eines Werdenwollenden, eines Gestalthaften, das noch nicht wirklich ist, das noch im Wirklichen schlummert, angelegt ist, aus ihm heraus gelebt werden will, verwirklicht werden will. Ich wiederhole: Es ist der Auftrag eines Dinges, das werden will. Anders der Auftrag, dem die religiöse Konzeption entspringt. So anders dieser Auftrag, dass hier nicht mehr von einer in diesem menschlichen Sinn gefassten Schöpfung, geschweige denn von einer in diesem allzu menschlichen Sinn gefasst freien Schöpfung die Rede sein kann. Denn dies ist der Auftrag eines Seienden, der Auftrag des Seienden. Alle religiöse Konzeption ruht auf dem Fundament einer Seinsbindung, einer Bindung an das Seiende, und ohne dieses Fundament, ohne diese Bindung sind die religiösen Konzeptionen nicht sie, sind nichts. Diese Seinsbindung wird häufig fälschlich Glauben genannt, fälschlich, denn Glauben schliesst eine bestimmte Art von Zweiheit in sich. Da ist ein Ding, das geglaubt wird, und einer, der es glaubt, das heisst, der es für wahr hält. Zum mindesten müsste das, was hier mit Glauben gemeint ist, ungeheuer abgegrenzt werden gegen alles. Diese Seinsbindung ist allen Konzeptionen und Formungen des Religiösen durchaus notwendig eigen. Ohne diese Bindung an das Seiende wären sie alle nichts anderes als andere Abart der Kunst, das heisst, eine weniger gestalthafte Abart der Kunst und deshalb eine verwerfliche. Denn das Gestalthafte, das kann nirgendwo so rein erreicht werden wie im Werk des Künstlers, in keinem anderen menschlichen Beginnen. Aber es gibt anderes als das Gestalthafte. Es gibt andere Verwirklichungen. Freilich, es können die religiösen Gebilde auch auf ihr Künstlerisches hin betrachtet werden. Aber ihre eigentliche, entscheidende Dimension bleibt so unerfasst. Wenn etwa das Gebet als künstlerisches Gebilde betrachtet wird, so ist es nicht etwa mehr, sondern weniger als ein Gedicht. Wenn etwa das religiöse Fest als ein künstlerisches Gebilde betrachtet wird, so ist es nicht etwa mehr, sondern weniger als ein Theater. Die Dimension dieser Dinge wird so, ich sagte es schon, überhaupt nicht betreten. Alle diese Dinge bekommen ihren entscheidenden Sinn und Bestand durch die Bindungen an ein Seiendes,
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durch die Bindung an das Seiende, dadurch dass sie dem Auftrag eines Seienden entspringen. Und darum ist es eine der grössten oder vielleicht die allergrösste Torheit und Leichtfertigkeit unserer Zeit, von einem werdenden Gott zu faseln. Gewiss, Gott wird von uns, davon werden wir noch zu reden haben, in dieses Leben, in diese Wirklichkeit gezogen. Gott wird in einem Sinn, den ich in diesem Augenblick nur andeuten kann, von uns verwirklicht. Gott wird aber, der Seiende wird. Unfug aber und Libertinismus der Zeit ist es, diesem Geheimnis gegenüber, sich an diesem Geheimnis dadurch zu verheben, dass man davon spricht, der Mensch, der Menschengeist hätte irgendwann und irgendwo einmal den Gott hervorzubringen. Sie wissen, dass dies in bestimmten naturwissenschaftlichen Theorien seinen Ursprung hat, dann durch die ungeheure geistige Leidenschaft Nietzsches schon eine Form angenommen hat und schliesslich in ein – ich kann es nicht anders nennen, als ich es schon getan habe – höchst unerquickliches Gefasel ausartet. Aber es gibt noch etwas anderes, wodurch sich grundsätzlich und unbedingt das Religiöse vom Künstlerischen abhebt. Alle Künste und alle künstlerischen Schöpfungen stehen ihrem Sinn nach in der Pluralität, in der Vielheit. Dass es viele Künste gibt, viele Künste im Sinn gleichsam von vielen Sprachen, die nebeneinander bestehen, dass es viele Künste nebeneinander gibt, die sich berühren und sich nicht stören, dass es innerhalb jeder Kunst viele Werke und immer wieder neue, viele Werke gibt, dass immer wieder der Geist in die Welt der Dinge Neues, Vieles, Verschiedenartiges hineinstellt und dass diese Werke wieder einander berühren und nicht stören, dies gehört zum letzten Sinn der Kunst, zum unaufhebbaren Sinn der Kunst. Es ist nicht so, dass irgendwie diese Pluralität überwunden werden könnte, ohne dass die Kunst selbst aufgehoben wird. Anders ist es mit den religiösen Konzeptionen. Auch sie stehen in einer Pluralität, in einer Vielheit. Aber diese Vielheit hat notwendigerweise den Charakter des gleichsam Vorläufigen. Jede religiöse Konzeption steht dadurch, dass sie ist, zunächst den anderen Konzeptionen ausschliessend gegenüber. Aber jede steht zugleich im Willen nach einer Universalität, nach einer dereinstigen, sich vollendenden Universalität der Religion, in der die Vielheit der religiösen Konzeptionen aufgehoben ist. Hier ist die Vielheit ein Stadium, ein Durchgang, der Weg. Dort ist es die Grundverfassung selbst und wie hier wie in jeder früheren Sphäre zugleich Gegensatz, Abhebung gegen das Religiöse war und doch Berührung, so ist es auch hier: Mit seiner Innerlichkeit, mit seiner schöpferischen Selbsterfahrung rührt das Künstlerische an das Religiöse. Und auch hier wieder, wie am Rande jeder Sphäre, auch hier steht am Rande mit ausgebreiteten Armen die Religion, umfangend
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und Grenze gebietend, auch hier am Rande der Gestalt und des Gestaltreiches, hindeutend auf das Ungestaltete und trotz allen ewigen Versuchen der Gestaltung Ungestaltbare. Ich darf hier vielleicht ein Wort Goethes anführen, das sich nicht ganz deckt mit dem, was ich meine, aber auch damit berührt. Er sagt: »Das Höchste, das Vollkommenste im Menschen ist gestaltlos. Man soll sich hüten, es anders als in edler Tat zu gestalten.« Dies rührt zugleich an die andere Sphäre des Geistes, von der ich hier zu sprechen habe: an die ethische. Sie alle kennen den immer wieder auftauchenden Versuch, das Religiöse als eine Funktion des Ethischen anzusehen, als etwas, was von der Ethik als sozusagen ihre Voraussetzung oder als ihre Sanktion, wie man sagt, postuliert, gefordert wird. In der allerrohesten Form stellt das der bekannte Satz dar, die Religion müsse dem Volk erhalten bleiben, damit es nicht ausarten und ausschweifen kann. Diese roheste Form dürfen wir hier wohl unbesprochen lassen. Aber es geht von dieser Form ein fast lückenloser Weg bis zu jener sublimsten, die Kants Postulate der praktischen Vernunft darstellen. Nicht als ob ich meine, dass Kant die Postulate als eine Aufstellung von Fiktionen aufgefasst hat, wie es ja wohl in einer bestimmten Schule heute üblich ist, diese Dinge durch die Einklammerung des »als ob« dem Menschen näher zu bringen. Nicht so, sondern Kant meinte nicht etwa, wir müssen uns Gott aussinnen, weil das Sittengesetz eine oberste Sanktion, eine oberste Unbedingtheit braucht, sondern Kant meinte vielmehr, nur so, nur von dem Sittengesetz aus kann die Freiheit und Unsterblichkeit, kann Gott erschlossen werden. Aber auch diese Form der Fundierung des Religiösen durch das Ethische, auch diese beraubt das Religiöse mit seiner Selbständigkeit zugleich seiner eigentlichen Existenz. Denn diese religiöse Beziehung, die da noch verbleibt, ist eine indirekte. Es ist Einbeziehung durch das Sittengesetz hindurch. Es ist eine Erschliessung durch das unmittelbar Gegebene oder unmittelbar gestellte Sittliche, und alle Indirektheit hebt das Religiöse auf. Religion ist Direktheit oder sie ist nicht. Sie kristallisiert um die unmittelbare Beziehung oder sie ist Fiktion. Und weiter. Wenn der Zugang zum Religiösen, der einzige und unerlässliche Zugang, das Sittliche ist, wenn das Religiöse nur dazu dient, dieses Sittliche zu fundieren und zu krönen, dann freilich ist das Religiöse irgendwo in irgend einem Winkel heimisch oder nicht heimisch. Aber dann hat das Religiöse mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun. Dann hat es nur noch zu tun mit diesem schmalen Ausschnitt der Wirklichkeit, der durch das Sittliche, durch Gut und Böse abgrenzt, der in diese Polarität hineinzufassen ist. Dann ist Gott nur ein Gott dieses Teils der Welt, dann ist – man kann es wohl auch so sagen – Schöpfung nicht mehr Offenbarung, und damit
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bricht der Bestand des Religiösen zusammen. Ich möchte es ganz klar machen: Dann bleibt wohl noch Offenbarung, aber es bleibt nicht mehr Schöpfung als Offenbarung. Und wohl, wohl hat der religiös lebendige, der religiös erschlossene Mensch auch in seinem Handeln eine Weihe, eine Getragenheit, die kein anderer, kein religiös Unerschlossener haben kann. Aber diese Weihe, die kommt nicht daher, dass das Sittliche ins Religiöse hinaufgehoben wird. Sie kommt daher, dass der Mensch in einem unerschütterlichen Grunde steht. Ich möchte sagen, sie kommt nicht von einem fordernden Gott, sondern sie kommt daher, dass Gott dieses Leben trägt. Nicht von einem Gott des Sittengesetzes, sondern von einem Gott der Schöpfung. Sie kommt davon, dass dem religiösen Menschen notwendigerweise das Leben, alles Leben den Sinn hat, den nicht aussagbaren, den auch nicht in einem Sollen, in einem Gebot, in einem Gesetz, in einer Sittlichkeit aussagbaren Sinn, den Sinn. Dies zeigt sich vielleicht am deutlichsten auf dem Gebiet, auf jenem Gebiet des Sittlichen, das an das Religiöse rührt, das unmittelbar an die Sphäre des Religiösen rührt, ja ich möchte sagen, in sie heraufreicht, auf dem Gebiet der Entscheidung. Da wird es ganz deutlich, dass es nicht so ist, als ob die Entscheidung irgendwie dadurch in ihrer Realität gestärkt würde, als ob sie dann wahrhaft Entscheidung wäre, wenn über ihr, ihr bewusst, in ihr als Element gegenwärtig die religiöse Sanktion lebt, wenn das Sittengesetz als ein von Gott gefordertes in die Elemente, aus denen die Entscheidung heraufwächst, hineingenommen, gezogen wird, sondern ich möchte geradezu sagen: im Gegenteil. Es gilt nicht, wie es die Vertreter der Fiktionsphilosophie meinen, es gilt hier nicht: Handle, als ob es einen Gott gäbe, sondern ich möchte fast sagen, ich glaube, ich kann es Ihnen auf keine andere Weise so nahe bringen, als wenn ich sage: Handle so, als ob es keinen Gott gäbe. Und gerade dadurch, dass die religiöse Sanktion gar nicht in die Elemente der Entscheidung hineingenommen wird, gerade dadurch, dass der religiös erschlossene Mensch und gerade auch er in seiner Entscheidung das Sanktionierende in der Religion, das Fordernde, das Gesetzgeberische nicht einbezieht in das Element seiner Entscheidung, dass er sie gerade ganz auf die Freiheit stellen kann, gerade das, dass er ihr selbst, scheinbar heraustretend aus der religiösen Sphäre, in Wahrheit zutiefst in ihr bleibend, gerade dadurch, dass er ihr so ihre Autonomie sichert, gerade dadurch berührt er mit ihr selbst die Sphäre des religiösen Seins. Gerade durch die Freiheit, die nicht ein Element absoluter Abhängigkeit, absoluter Bestimmtheit zu ihren Voraussetzungen macht, sondern sich gleichsam auf das Nichts stellt, gerade mit dieser Freiheit berührt der sich entscheidende Mensch die göttliche Freiheit. Wahrlich, so möchte man es ausdrücken, indem
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der handelnde Mensch sich um Gott nicht kümmert, rührt er an das Göttliche. Freilich, das meint vor allem andern Wahrheit, Unbefangenheit. Diese Freiheit darf nicht erspekuliert werden, diese Freiheit darf nicht Willkür sein. Man möchte vielleicht demgegenüber hinweisen auf den Menschen, der scheinbar nicht in der Entscheidung steht und doch das Rechte tut. Auf die sogenannte schöne Seele, auf den Menschen, der, wie man wohl zu sagen pflegt, instinktmässig das Gute, das Richtige tut. Das wäre und das ist ein Missverstehen. Der Mensch, auf den so hingewiesen ist, das ist der Mensch, bei dem sich die Entscheidung in jenen elementaren Tiefen der Seele vollzieht, die der Reflexion verschlossen und der Analyse unzugänglich sind. Das ist der Mensch der reinen letzten Unbefangenheit der Entscheidung und der letzten in dem Sinn, in dem, von dem ich gesprochen habe, der innersten Unbewusstheit Gottes als eines Fordernden. Dies ist aber vielleicht etwas, was vielleicht noch nicht in diesem Augenblick zu seiner letzten Klarheit gebracht werden kann. Ich glaube aber, dass Sie wohl verstanden haben, dass es hier um eine Polarität, auch hier um ein Wissen und Nichtwissen geht. Hier in der Sphäre der Entscheidung, in dem Gebiet des Sittlichen, das, wie ich sagte, an das religiöse Sein rührt, da gibt es nicht eigentlich Gut und Böse. Für den sich entscheidenden Menschen gibt es nicht Gut und Böse. Er entscheidet sich nicht zu dem Guten und dem Bösen, sondern da gibt es nur, wenn man es in einem spezifischen Sinn sagen darf, das Gerechte und das Ungerechte, das heisst das Gerichtete, das entscheidungshaft, wahlhaft Gerichtete und das Ungerichtete. Und hier steigt freilich ein Komet auf, mit dem wir uns in diesem Augenblick nicht befassen dürfen, aber mit dem wir uns noch zu befassen haben: das grosse Problem des Gesetzes. Ich möchte es an dieser Stelle nur erwähnt haben. Aber Gut und Böse gibt es und gilt es in der andern Sphäre des Ethischen, in der Sphäre, in der das sittliche Urteil waltet. Hier gibt es in der Tat zweierlei Sein, zweierlei Wirklichkeit, ganz anders als in der Entscheidung, wo es ja nur das Wirkliche gibt, das getan wird, und dann das Unwirkliche, das eben nicht entschieden, nicht getan wird. Hier in der Sphäre des Urteils, da gibt es diese Begrenzung. Aber wenn man das Religiöse zu einer Funktion des Sittlichen macht, wenn man die religiöse Sanktion als notwendige Fundierung einbezieht in diese Sphäre, dann wird diese Zweiheit zu einem Absoluten erhoben. Wir sprachen von der Entscheidung. Für die Entscheidung gibt es keine abgegrenzte Wirklichkeit. Für die Entscheidung gibt es nur das Unbegrenzte, innerhalb dessen entschieden wird. Die einzige Begrenzung dieses Unbegrenzten ist das ewige Sichentscheiden. In der Welt des Urteils, da gibt es eine abgegrenzte, eine in Gut und Böse getrennte, geschiedene Welt. Aber diese
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Scheidung hat ihr menschliches Recht. Ich sage ihr menschliches Recht deshalb, weil sie eigentlich gegen das Menschliche geht. Sie hat trotzdem ihr menschliches Recht nur dadurch, weil sie relativ ist, weil sie fliessend ist, weil sie menschlich bleibt. Wird das Religiöse nicht etwa als das Ueberwölbende geschaut, an das diese Sphäre wie jede andere rührt, sondern wird das Religiöse zu einer Funktion dieser Sphäre gemacht, wird das Religiöse in diese Sphäre einbezogen, sodass es ihr diente als Voraussetzung oder Sanktion, dann wird gerade die Verneinung des Bösen und die Bejahung des Guten zu etwas Starrem, Unzulänglichem, Unbrechbarem, Unmenschlichem. Dadurch dass Gott nicht in der Unmittelbarkeit, sondern durch das Gute hindurch erschlossen wird, dadurch dass Gott nichts anderes mehr ist als die Hypostasierung, die Zursubstanzerhebung des Guten, dadurch zerfällt nicht etwa bloss die Menschenseele, sondern zerfällt das All. Wie in der Gesellschaftssphäre, in der soziologischen Sphäre, von der wir das vorige Mal gesprochen haben, die unsichtbare Menschheit zerfiel, so zerfällt hier das All in eine gute und eine böse Welt, und dies geschieht freilich immer und immer wieder auch in Religionen, aber gerade das ist der Punkt, an dem Religionen immer wieder ihre Krise erlebt haben, von der auch ich hier nur andeutend sprechen kann. Immerhin an einem Beispiel möchte ich es erläutern, was ich meine, vielleicht an dem deutlichsten Beispiel, an dem der Avestareligion. Die persische Religion, die zoroastische Religion, die scheint ja das eben getan zu haben, wovon wir hier sprechen, die scheint ja die Welt geteilt zu haben in eine gute und eine böse. Hier scheint doch eben das Ethische und das Religiöse gerade in dieser Weise verquickt zu sein. Und dennoch, wer der Geschichte dieser Religion folgt, wird gerade hier merken, dass es nicht so ist. Denn in dieser Religion gibt es zwei Phasen. In der ersten ist das Böse nicht dem Guten ebenbürtig, gegenüberstehend, sondern da ist in Wahrheit doch Gott der Gott des Guten und des Bösen, der Gott des Alls und das Böse die Trübung, die hineingeschlichene Dämonie, die im Namen Gottes zu bekämpfen ist. Freilich entwickelt sich Religion immer mehr darauf hin, dass dieses Böse selbst verabsolutiert, dass dem guten Gott immer mehr ein böser Gott gegenübergestellt wird und dadurch wird erst Gott der »gute« Gott, der Gott des Guten als ausschliessend, als Gegenstand zu böse. Dadurch entsteht diese Dualität. Aber je stärker diese Dualität sich verfestigt, umso stärker erwacht in dieser Religion das Verlangen nach einer überwölbenden, übereinenden Gottheit. Gerade diese zweite Phase der Avestareligion ist dadurch charakterisiert, dass immer deutlicher das Bild aufsteigt eines über der Zweiheit in Einheit thronenden äonhaften Gottes, mag er nun als unendliche Zeit oder wie immer gedeutet
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werden. Der Ausdruck gibt wohl das, was da gemeint war, am ehesten wieder in seinem Raumzeitlichen, oder auch der hebräische Ausdruck Ola. Gerade hier offenbart das Religiöse seinen Charakter als Uebereinung aller Zweiheit. Für den in seiner Sittensphäre eingeschlossenen Menschen gilt Bejahung des Guten und Verneinung des Bösen, Aufnehmen des Guten und Verwerfen des Bösen. Für den religiös erschlossenen Menschen, der aus seiner Religiosität auch handelt, für den gilt gerade dem Bösen Liebe, dem Bösen leben, mit dem Bösen sein. So steht auch hier am Rande dieser Welt, am Rande des Sittengesetzes, so dass diese Welt in ihm mündet und von ihm umschlossen wird, das Böse. Und zum dritten: der Anspruch der logischen Sphäre, oder deutlicher ausgedrückt, der wissenschaftlich-philosophischen Sphäre. Ich darf mich hier vielleicht kurz fassen, da wir auf diese Dinge wohl auch noch zu sprechen kommen werden. Nur auf einiges heute besonders Aktuelle möchte ich hinweisen. Es wird heute versucht, das Religiöse, die Religion gleichsam als eine Fortsetzung der Wissenschaft erscheinen zu lassen, und zwar so, dass man etwa sagt: Bis hierher geht der Gegenstand der Wissenschaft und hier ist das Reich der Empirie, und hier fängt nun die Sphäre der Religion an, und zwar so, auch für diese sozusagen höhere Empirie gelten noch dieselben logischen Prinzipien wie für die Wissenschaft. Aber es gelten nicht mehr ihre Methoden, sondern es gelten nun neue Methoden, besonders hierfür geeignete, etwa Übungen, Visionen, Meditationen allerlei Art, und so, dadurch wird nun eine wissenschaftliche Erkenntnis des Uebersinnlichen wie man es nennen mag, erreicht, die schliesslich dazu führt, dass eine vollständige Topographie, eine vollständige Ortskunde des Geheimnisses entworfen werden kann. Ich möchte nur andeutend sagen, dass man in dieser Hinsicht beruhigt sein kann, immerhin werden diese Tendenzen in der Zeit, die uns bevorsteht, noch sehr viel mächtiger werden. Immerhin muss wohl gesagt werden, Wissenschaft würde durch ein solches Verfahren zersetzt. Denn eine Trennung der logischen Prinzipien und der aus ihnen abgeleiteten Methoden, so dass die eine noch walten könnte, nicht aber die andere, hebt die Wissenschaft auf, und ebenso würde Wissenschaft dadurch zersetzt, dass eine gegenständliche Abgrenzung der Wissenschaft, eine Abgrenzung des Rechts der Wissenschaft in dem Sinne, dass man sagt: Dein Gegenstand geht so weit und nicht weiter, mit diesem Gegenstand hast du dich innerhalb deiner Methoden zu befassen, und von da an ist ein Gegenstand, für den nicht mehr deine Methoden gelten. Durch dieses Verfahren würde die Wissenschaft über Religion zersetzt. Denn was hier eigentlich mit diesem ganzen Beginnen jenseits der Sphären der wissenschaftlichen Methodologie, was
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mit diesem Verfahren eigentlich geschieht, das ist eine Übertragung des wissenschaftlichen Koordinatensystems, der wissenschaftlichen Koordinate nicht etwa auf einen Gegenstand, der ihr nicht unterworfen wäre, dieses gibt es nicht, sondern auf das Nichtgegenständliche. Die Welt, mit der die Wissenschaft es zu tun hat und mit Recht zu tun hat und innerhalb deren sie mit Recht zu fordern hat, dass nichts ihr vorenthalten bleibe, dass nicht geschieden werde zwischen einer sinnlichen und einer übersinnlichen Erfahrung, diese Welt ist die Welt der Orientierung. Das ist die Welt, die wir um unsere Selbstbehauptung im Unendlichen und im Menschengeist uns zurechtgezimmert haben, das ungeheure räumlich zeitliche vielfältige Koordinatensystem, in dem wir die Dinge und die Geschehnisse einzuzeichnen haben und durch die wir diese zu ordnen uns unterfangen haben, und dieses Koordinatensystem besteht zu Recht. Aber es darf nicht zu einem Seinssystem umgefälscht werden. Es darf nicht aus einem Schema zu einer Substanz, zur Substanz umgelost werden. Und ebenso sinnlos und verderblich wie all dieses Beginnen, ebenso sind alle jene Versuche, die Wissenschaft nicht etwa dadurch, dass neben ihr eine andere Sphäre eröffnet wird, sondern eben dadurch, dass innerhalb ihrer überall kleine Lücken aufgespürt werden, in die die Religion oder das Religiöse hineinschlüpfen kann, ebenso sinnlos und verderblich ist das. Frage: Mit dem ersten wenden Sie sich also an die Steinersche Philosophie? Antwort: Auch an sie. Frage: Und bei dem zweiten? Antwort: Ich möchte nicht so lokalisieren. Ich habe es absichtlich vermieden, auf solche Zeiterscheinungen hinzuweisen. Das können wir, wenn es notwendig ist, nach der Vorlesung einer besonderen Stunde vorbehalten zur Besprechung. Ich meine nicht bloss diese Dinge, sondern vor allem die Dinge, die kommen werden, vor allem die Dinge, die noch keinen Namen haben und die ich kommen sehe. Ich meine nicht die Lücken, auf die ich hinzeigen kann mit dem Finger, sondern die Lücken, die ich erst ahnen kann als die Signatur einer Zeit, der wir entgegengehen. Lokalisieren wäre hier eine Vorwegnahme der Dinge, die ungeheuer viel grösser und verderblicher und giftreicher kommen werden. Und ich gestehe es, Aufruf zur Rüstung gegen diese Dinge ist eine Hauptintention für mich, die mich zum Sprechen über all diese Dinge veranlasst. Nur hinweisen möchte ich noch darauf, dass alle jene Versuche einer Ergänzung der Wissenschaft durch die Religion, die etwa davon sprechen: Religion, ich meine eigentlich dasselbe wie die Wissenschaft, nur
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nicht in der Form des Begriffs wie Hegel, sondern der Vorstellung – alle, die darauf hinweisen, die Religion bestehe aus Symbolen, die lediglich in einer andern Sprache dasselbe sagen wie die Wissenschaft, die aus der Religion sozusagen eine ungeheure Metapher gemacht haben, gehören eigentlich unter die Kategorie des Künstlerischen, des Anspruchs der ästhetischen Sphäre. Das heisst wieder, Religion als eine freie Schöpfung, als eine metaphorische Ausdrucksweise auffassen. Und auch hier steht das Religiöse am Rande, am Rande der Aussage, der logisch bestimmten, logisch beherrschten Aussage, innerhalb deren die logischen Prinzipien und die wissenschaftlichen Methoden uneingeschränkt walten sollen und an deren Rand mahnend und hinaus-, hinüberweisend das Religiöse steht. Nicht ist das freilich so misszuverstehen, als ob irgendwie die Religion dem Gegenstand der Wissenschaft entrückt wäre. Keineswegs. Die Religion ist auch Gegenstand der Wissenschaft. Berechtigt sind Religionskunde, Religionsphilosophie, Religionspsychologie und wie sie heissen mögen, denn es darf nichts aus der Wissenschaft, aus dem Gegenstand der Wissenschaft herausgeschnitten werden. Aber das religiöse Sein, von dem wir hier sprechen, das bleibt von dieser Behandlung der Religion in der Welt, in dem Bau der Orientierung unberührt. Und so möchte ich von da aus das nächste Mal Ihnen noch einen Ausblick geben auf die letzte Problematik der Abhängigkeitstendenzen, auf die Psychologie, um dann die eigentliche Frage, die ich zu Anfang angedeutet habe, nun nach diesen Ablenkungen wieder aufzunehmen. Dritter Vortrag: 5. Februar 1922
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Ehe ich von unserem Gegenstand zu sprechen beginne, möchte ich mich mit Ihnen ein wenig auseinandersetzen über die Fragen, die einige von Ihnen mündlich und schriftlich an mich gerichtet haben. Manche von diesen werden vielleicht in dem, was ich, nachdem diese Fragen an mich gerichtet wurden, gesprochen habe, eine Antwort vermisst haben. Aber dann mögen sie sich fragen, ob ihre Frage richtig gestellt war. Ich sagte zu Anfang, Sie sollten dann fragen, wenn in einem Augenblick Ihnen das, was ich sagte, nicht klar, nicht eindeutig genug ist, wenn Ihnen irgend demgegenüber ein Zweifel, eine Unsicherheit bleibt, wenn Sie, falls Sie nun über das hinaus weiter mit mir gehen würden, sozusagen über diese dunkle, unsichere Stelle hinweggehen müssten. Aber nicht habe ich gemeint, dass Sie irgendwie dem, was ich zu sagen habe, vorgreifen. Was ich an einzelnen Fragen, die an mich gestellt worden sind, ein Vorgreifen nennen muss, das ist, dass hier in diesen Fragen ein bestimmter, fest
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überkommener oder gelesener oder gehörter Begriff von Religion angewandt wird auf das, wovon ich sprach. Und das ist nicht recht. Denn Sie können das, was ich zu sagen habe, nicht aufnehmen, wenn Sie daran herantreten mit einem festen Begriff, dies und dies sei Religion, und wenn Sie nun das anwenden darauf, was ich zunächst negativ, ablehnend, ausscheidend sage. Dann gehen wir nicht zusammen, dann machen wir den Weg, den diese Vorlesung bedeuten soll, nicht wahrhaft zusammen. Denn ich will ja versuchen, mit Ihnen zusammen zu einer zulänglichen Konzeption dessen, was wir Religion nennen, zu kommen. Nehmen wir da aber vorweg und stellen etwas Festes, Starres, Abgeschlossenes schon in dieses erste Stadium hinein, dann kann es jedenfalls so, wie wir hier zusammen sind, nicht geraten. Ich möchte Sie also bitten, zu fragen und möchte Sie noch einmal bitten, die Fragen aber doch nicht auf etwas, das Sie wissen oder zu wissen glauben, anzuwenden und dazu in Gegensatz zu bringen, das eine am andern zu messen, sondern einfach zu fragen: Wie ist dies gemeint? Was ist darunter zu verstehen? Ich kann hier nicht weiter, hier ist etwas dunkel für mich. Dadurch fördern Sie nicht etwa bloss die Verständigung zwischen mir und dem Fragenden, sondern Sie fördern das Ganze, das, was wir hier als Ganzes tun. Dem möchte ich noch hinzufügen: Es ist auch in Fragen darauf hingewiesen worden, dass die Religion mit den Sphären, von denen ich hier gesprochen habe, auf diese und diese Weise zusammenhänge. Das ist sozusagen als Einwand formuliert worden. Aber darüber brauche ich wohl gar nicht zu sprechen, dass die Religion mit allen diesen Sphären aufs engste zusammenhängt, dass eine gegenseitige Beeinflussung auf allen diesen Gebieten herrscht. Wenn ich zum Beispiel die Abhängigkeit der Religion von der Kunst negiert habe, so wollte ich damit selbstverständlich nicht sagen, dass die Religion nicht auf die Kunst die stärksten Einflüsse stets ausgeübt habe, dass sie sich in ganz besonderer Weise in der Kunst auspräge und dass auch die Kunst in ihrem Schöpfertum immer wieder an das Religiöse rühre. Ich habe hier und da etwas von diesen Wechselwirkungen angedeutet, aber von ihrem ungeheuren Bereich wollte ich hier und will ich hier nicht sprechen. Es gilt nur und gilt auch jetzt noch nur, das eine abzulehnen, dass Religion irgend abhängig sei von einer dieser Sphären, dass sie irgend Funktion sei einer dieser in sich beschlossenen Tätigkeiten des Menschengeistes. In diesem Sinne habe ich bisher gesprochen von der Sphäre des Lebens, der Gesellschaft, der Kultur, von diesen objektiven Sphären, wenn man es so nennen will. Ich habe das vorige Mal gesprochen von den Sphären des personalen Geistes, von der ästhetischen, der ethischen, der logischen Sphäre, und es bleibt mir jetzt hier in diesen einleitenden Darlegungen nur noch übrig, von der
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einen zu sprechen, die scheinbar die Grundlage aller ist, und der man immer wieder die Religion als ein von ihr abhängiges, in ihr wurzelndes zuzuschreiben versucht hat und versucht. Ich meine die psychologische Sphäre. Was ist nun eigentlich, was bedeutet nun eigentlich diese Sphäre? Es ist hier, wie mir scheint, schwerer als bei einer der Sphären, von denen ich bisher gesprochen habe, die Abgrenzung genau zu treffen, und zwar deshalb, weil der Begriff, der der Sphäre zu grunde liegt, der Begriff der Seele, voller Klippen ist, weil er nicht so eindeutig ist wie einer der Begriffe, die den andern Sphären zu grunde liegen, sondern weil hier in der psychologischen Sphäre von Seele gesprochen wird in einem ganz bestimmten Sinn. Und über diesen Sinn wollen wir uns zunächst klar werden. Vielleicht geht es am ehesten dadurch, dass wir uns klar werden, in welchem Sinne nicht von Seele gesprochen wird, wenn man Psychologie treibt. Wenn nämlich Seele, wie es mir scheint, nichts anderes bedeutet als die Beziehung des Menschen zu Welt, zu Dingen, zu Wesen, zu Menschen, zu dem Sein, zu sich selbst, ist dies diese Beziehung, insofern sie von Menschen unmittelbar gewusst wird, insofern der Mensch unmittelbar von ihr weiss, ohne Andere fragen zu müssen, insofern Seele einfach diese Beziehung bedeutet, also etwas, in das der Mensch eingefügt ist, das sich immer wieder zwischen den Menschen und allem Sein stiftet, und das der Mensch nun als Person weiss, unmittelbar weiss. Wenn Seele dieses brückenhafte Wesen bedeutet zwischen Mensch und Welt, insofern der Mensch unmittelbar davon weiss, ja dann freilich brauchen wir Religion nicht gegen die Abhängigkeit davon zu verteidigen, wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf. Denn die Seele in diesem Sinne bildet in der Tat eine wesentliche Voraussetzung des Religiösen, nicht das Religiöse, aber eine wesentliche Voraussetzung. Aber diese Seele ist nicht Gegenstand der Psychologie, sondern das, was Gegenstand der Psychologie ist, womit Psychologie sich befasst, das ist etwas von der menschlichen Weltbeziehung Herausgehobenes, Isoliertes, Abgehobenes, es ist sozusagen der isolierte Anteil des Menschen, der so betrachtet wird, als ob er für sich bestünde, als ob er ein in sich geschlossener Apparat wäre, und in dem man sich nun als in einem solchen beschlossenen Bereich auskennt gerade so wie in irgendeinem Teil der Welt, der ebenfalls so isoliert und für sich betrachtet wird, und in dem man nun verschiedene Arten, verschiedene Gruppen von Phänomenen unterscheidet, den man in verschiedene Teilbezirke einteilt, Denken, Fühlen, Wollen, und wie immer diese Dinge heissen mögen, an dem man verschiedene Empfindungscharaktere und dergleichen kennt, innerhalb der Sphäre der orientierenden Wissenschaft sicherlich von Interesse und von Bedeutung, für das, wovon wir sprechen, nicht unmittelbar
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wichtig. Ich möchte aber, ehe ich weiter gehe, fragen, ob ich verstanden werde. Wenn hier etwas unklar ist, so bitte ich, mich jetzt zu fragen. Ich meine unklar in dieser Unterscheidung zwischen der Seele, die nichts anderes ist als die Beziehung des Menschen zur Welt, insofern er unmittelbar von ihr weiss, und zwischen der Seele als Gegenstand der Psychologie, das heisst, etwas von der Welt Abgehobenem, etwas, was im Menschen vor sich geht, ein[em] Prozess, der im Menschen beschlossen ist. Und da gibt es nun verschiedene Gruppen, Arten von Phänomenen, die zueinander in verschiedenen Beziehungen stehen und über die man verschiedene Dinge, über deren Art, Ablauf, Verbindungen man verschiedene Dinge aussagen kann. Diese Seele in letzterem Sinne, das ist es, von der man die Religion funktionell abhängig machen will, wenn man sie psychologisch betrachtet. Das heisst, ich sagte es schon das vorige Mal, das, was ich sage, wendet sich nicht gegen die psychologische, die wissenschaftlich-psychologische Behandlung der Religion, nicht gegen die Wissenschaft der Religionspsychologie, die innerhalb der Weltorientierung ihren bestimmten Platz hat, sondern dagegen, dass die Religion in ihrem Wesen von dieser Sphäre abhängig gemacht wird, dass sie nicht in einer selbständigen Existenz, sondern in einer durch diese Sphäre bedingten Existenz gesehen wird. Vielleicht wird das, was ich meine, deutlicher, wenn ich Ihnen ein Beispiel dessen gebe, wie etwa mit dieser Funktionalisierung, dieser Psychologie verfahren wird. Innerhalb dieses seelischen, dieses psychischen Apparats werden verschiedene Gruppen von Phänomenen unterschieden. Notwendigerweise muss also das Religiöse, wenn es davon abhängig gemacht wird, einer dieser Gruppen zugeschrieben, zugeteilt werden, etwa der Gruppe der Gefühle. Und Sie wissen ja, wie das Religiöse gerade in der deutschen Religionsphilosophie besonders als Gefühl aufgefasst worden ist, etwa als das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl, oder, wie es neuerdings etwas anders formuliert worden ist, als das Kreaturgefühl. Nun möchte ich davon absehen, dass damit, mit jeder solchen Bestimmung nur ein kleiner Teil, ein bestimmter, dem philosophierenden Menschen vertrauter Teil der religiösen Ausdehnung umschlossen wird. Nur andeuten will ich, dass man mit nicht wesentlich geringerer Berechtigung wie von dem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl auch von einem schlechthinnigen Unabhängigkeitsgefühl im Religiösen sprechen kann, und dass grosse Religionen, nicht bloss persönliche Religiositäten, sondern grosse Religionen gerade in dem Unabhängigwerden des Geistes, dass gerade dieses Faktum der Geist von allem, was er irgend sein zu nennen gewohnt ist, unabhängig wird. Freilich ist das ein anderes Unabhängigkeitsgefühl, anders verstanden als das Abhängigkeitsgefühl, von dem die
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Rede war, und anders bezogen. Aber es zeigt sich, wie gefährlich es ist, wie verengend und verarmend es wirkt, wenn man ein Gefühl, ein bestimmtes Gefühl zum Wesen des Religiösen macht, wo doch Gefühle notwendigerweise in einer Polarität stehen, jedem Gefühl sein Gegengefühl notwendig entspricht und es erst in diesem Gegengefühl sich selbst deutlich macht, die Lust am Schmerz und der Schmerz an der Lust, die Spannung an der Lösung und die Lösung an der Spannung, dass also hier eines dieser polaren Gefühle aus irgend einer solchen Polarität herausgegriffen und als das religiöse benannt wird. Aber davon abgesehen, was bedeutet eigentlich für diese Psychologie, von der wir sprechen, das Gefühl? Doch wohl nichts anderes, es ist im Grunde genau so wie alles in dieser Psychologie eigentlich nur negativ bestimmbar, es bedeutet an einem seelischen Phänomen das, was nicht als ein Draussen aufgefasst werden kann. Was nicht irgendeinem Teil der sogenannten Aussenwelt, also was nicht der von der Seele abgehobenen Aussenwelt zugewiesen werden kann, das nennt man Gefühl, was, wenn man all das aus einem seelischen Vorgang abzieht, was auf dieses oder dieses Ding bezogen werden kann, dann bleibt so etwas übrig, was dem Kein-Ding entspricht, und das nennt man Gefühl. Ja, ich weiss vom Standpunkt dieser Psychologie aus keine zulänglichere Definition, aber wenn mir vielleicht einer von Ihnen eine sagen kann …, wohlgemerkt vom Standpunkt dieser Abhängigkeitsphilosophie aus, von dem wir sprechen, ich weiss jedenfalls keine andere, und zwar weiss ich wohl, dass diejenigen, die die Definition aufstellen, von der ich spreche, etwa die des Abhängigkeitsgefühls, Psychologie nicht so meinen, aber alle diese Definitionen werden unvermeidlich, unüberwindlich hineingezogen in diese Grundeinstellung des Psychologischen überhaupt. Gewiss, es mag betont werden, dass dieses Abhängigkeitsgefühl nicht psychologisch, sondern metapsychologisch gemeint ist, dass nicht etwas damit gemeint ist, was der Subjektivität anhaftet, was von der Verschiedenheit der Individuen abhängig ist, sondern etwas darüber Hinausgreifendes, Gemeinsames, Allgemeines, Substantielles oder wie man das nennen mag. Aber das kann immer nur postuliert, niemals wirklich gesetzt und aufgeschlossen werden, weil es innerhalb der psychologischen Sphäre eben nur dieses gibt, diese Stücke dieses so konstruierten Apparats, weil es dieses Metapsychologische da, wo man von Gefühlen redet, nicht gibt. Gefühle sind in einer Vielheit von Gefühlen und andern Dingen drin. Da grenzt eins ans andere, ein Gefühl wird durch das andere begrenzt, durch das andere berichtigt, durch das andere übertroffen, durch das andere aufgehoben. Und in dieser Welt der Gefühle soll es nun etwas geben, was das Religiöse zum Wesen oder zum Gegenstand
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hat. Ja, ich weiss nicht, wie man es fertig bringen will, dieses Religiöse dem Ganzen, der Enge, der Subjektivität zu entheben. Das ist und bleibt ein Abgeschnittensein, das ist und bleibt etwas, was nicht wirklich mit dem Menschen, am Menschen geschieht, sondern etwas, was angeblich im Mensch[en] vor sich geht, eingepresst in dieses Geschehen im Menschen, von seinen Kammern begrenzt, von seinen andern Vorgängen vorn und hinten eingeschränkt und eingeengt. Das soll das Religiöse sein. Das soll die Beziehung zum Absoluten betreffen. Und es wird nicht besser, wenn man irgendeine andere Kategorie statt des Gefühls nimmt. Es wird nicht besser, wenn man etwa statt von Gefühlen von Vorstellungen oder von Trieben spricht, wie man neuerdings von einem religiösen Trieb gesprochen hat, als ob Trieb in der psychologischen Welt irgend etwas anderes wäre als das Streben nach Beseitigung eines Mangels, und als ob Mangel in dieser psychologischen Welt irgendwie fassbar wäre, anders als im Gegensatz zu einem Haben, zu einem Besitzen. Und da versagt freilich diese Psychologie ganz und gar, wenn sie dieses Korrelat, diesen Gegensatz, diesen notwendigen Gegensatz zu diesem Mangel, dieses Haben, dieses Besitzen, irgendwie in dieser ihrer Welt der Psychologie aufzeigen soll. Auf eine Frage: Sie begehen den Fehler, den ich vorhin gemeint habe. Wir wollen jetzt doch uns auf die Sprache, die Begriffssprache dieser Einstellung einlassen. Wir wollen nicht davon sprechen, wie etwa diese Einstellung zu überwinden wäre, sondern fragen: Lässt sich von dieser Einstellung aus das Religiöse irgend zulänglich fassen? Und da möchte ich diejenigen, die von dieser Einstellung aus das Religiöse fassbar meinen, bitten, das vorzubringen von dieser psychologischen Einstellung aus. Diese Einstellung ist in unserer Zeit, ich möchte sagen, noch auf die Spitze getrieben worden durch einen Begriff, den wir leider nicht unbesprochen lassen dürfen, obwohl ich das Wort nachgerade ungern in den Mund nehme. Ich meine den Begriff des Erlebnisses. Ich darf Ihnen versichern, dass ich im allgemeinen ein geduldiger Mensch bin. Aber einmal wurde ich sehr ungeduldig und sehr unduldsam, ich kann es nicht anders nennen. Das war, als mir einmal jemand über einen ziemlich bekannten Schriftsteller sagte, er habe Gott erlebt. Ich bin einigermassen an die Hölle gewöhnt, die der Missbrauch dieses Wortes bedeutet. Ich weiss ganz genau, wie es in dieser Welt, in dieser höllischen Welt, in der wir leben, deren Pein wir alltäglich, allmorgendlich ausgesetzt sind, zugeht. Aber da wurde es mir unheimlich. Da hatte der Missbrauch doch offenbar seine Grenze erreicht. So weit musste er in der Tat gedeihen. Erleben, ja, das Wort Erleben, Erlebnis hatte zweifellos und hat auch jetzt seine Berechtigung, wo es gilt, innerhalb des Lebens, des Ablaufs des Lebens, an ein-
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zelnen Punkten die Subjektivität zu unterstreichen, darauf hinzuweisen, dass es diesem Leben gegenüber, oder sagen wir besser, dass es innerhalb dieses Lebens Momente gibt, wo wir unseren Ichbezug besonders stark fühlen, wo wir nicht einfach es hinnehmen können wie immer, dass es mit uns lebt, dass es dieses Ich lebt, nicht nur, dass es nominativ dieses Ichsubstantiv lebt, dass einfach dieses unser Leben gelebt wird, sondern dass wir besonders spüren und vielleicht auch bedenken müssen, dass wir es leben. Und dieser Ichbezug kristallisiert sich manchmal an einzelnen Vorgängen, sodass wir nicht mehr sagen können: Ich lebe, sondern: Ich erlebe das, ich hole mir dies heraus als etwas, was nun ganz als Subjektivität schwingt. Es geht etwas vor sich, was ich, um ihm gerecht zu werden, nicht anders als Erlebnis nennen will. Diese intimen Dinge der Subjektivität sind wirklich da, und ich selbst bin dafür eingetreten, dass man sie Erlebnis nennt. Aber es möchte mich fast gereuen. Denn was seither Erlebnis genannt wird, das bedeutet eigentlich fast das Umgekehrte. Es bedeutet, dass das Leben subjektiviert wird, dass das Leben aus einem grossen Kontinuum, aus einer grossen Stetigkeit, raumzeitlichen Stetigkeit, in der wir stehen, in die wir eingefügt sind, an der wir teilnehmen, verwandelt wird in so ein Herausholen von Dingen zum Gebrauch und Geschmack unserer Subjektivität, und zwar so, dass die Stetigkeit ganz und gar zerrissen wird und nichts anderes übrig bleibt als unstete Momente, und zwar nicht etwa Ereignisse, die eingefügt sind in das Sein, sondern Erlebnisse, Kostbarkeiten der Seele, wie man wohl sagt. Und zu einer dieser Kostbarkeiten sozusagen, zu einem wirklichen Raffinement dieses erhöhten Lebens wird das Religiöse gemacht. Hier also der letzte Abschied an Zusammenhang, an Wirklichkeit, an etwas, worin man steht, worin man eingehüllt, eingewoben ist. Hier ganz und gar das Religiöse hereingenommen in die Flüchtigkeit, die Unverbundenheit, die Losgerissenheit von Seelenmomenten. Das ist unter allen Fiktionen, die aus dem Religiösen gemacht worden sind, die allerfiktivste. Das ist nicht mehr das Zuschreiben des Religiösen an irgend eine Sphäre, sondern das ist die Vernichtung, die Vernichtung des Religiösen. Man hat in der letzten Zeit dies wohl zu spüren begonnen, und einer der Versuche, auf diesen Unfug zu reagieren, ist ein sehr interessanter psychologischer Versuch immerhin doch, obwohl er sich nicht psychologisch meint, doch noch psychologischer Versuch. Das ist der Versuch von Max Scheler, das Religiöse aufzufassen in seinem wesentlichen Vorgang als einen Akt. Es wird unterschieden zwischen zwei verschiedenen Arten von Akten der Seele. Es wird also gesagt: Nicht so ist es, als ob das Religiöse da irgendwo in den Gruppen der psychischen Phänomene drinsteckt, oder ein Gefühl oder Trieb oder Vorstellung
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oder wie man es nun nennt das gleiche wäre, sondern es tut eine ganz andere Einstellung not. Alle seelischen Vorgänge, sie mögen Vorgänge, Gefühle oder Willensstrebungen sein, die können entweder religiöse oder nichtreligiöse Akte sein, und dieser Akt soll nun nicht bloss auf die psychische Seite beschränkt sein, sondern er fordert sozusagen seinen Gegenstand als notwendige Ergänzung, als notwendiges Substrat des Aktes. Ich sehe darin einen entschiedenen Fortschritt über die psychologischen Formulierungen hinaus. Dennoch scheint es mir, dass auch diese Formulierung im Psychologischen stecken bleibt. Es ist ja nicht möglich, in diesem Zusammenhang auf den Gegenstand ganz einzugehen, aber ich möchte es Ihnen an etwas deutlich machen. Es wird da davon ausgegangen, dass sozusagen im Psychischen es zwei Dinge gibt, religiöse und nichtreligiöse Akte. Die nichtreligiösen Akte scheinen so gemeint zu sein, dass sie immer auf etwas Begrenztes, auf einen bestimmt vorfindbaren Gegenstand gingen, auf Welt oder einen Teil der Welt, während die religiösen Akte sich dadurch auszeichnen, dass sie schlechthin die Welt und alles irgendwie in die Welt Einreihbare transzendieren, überschreiten. Es ist nun schwer zu fassen, inwiefern es in dem psychischen Leben solche zwei verschiedenen Arten von Dingen geben, nebeneinander geben soll. Aber es zeigt sich bald, dass es eigentlich gar nicht zwei verschiedene Arten sind, denn es wird weiter gesagt: Jeder Mensch vollzieht eigentlich den religiösen Akt. Aber dieser religiöse Akt bezieht sich entweder auf Gott oder einen Götzen. Dieser Götze kann nun irgendwie heissen: Macht, Besitz, Weib, Geld oder irgendwie sonst. Und es genüge durchaus, wenn man dem Menschen zeige, dass er seinen religiösen Akt auf einen Götzen richte. Es genüge durchaus, diesen religiösen Akt auf Gott zu lenken, um nun diesen religiösen Akt sozusagen zu seiner Erfüllung zu bringen. Der Mensch vollzieht etwa den religiösen Akt an dem Götzen Geld und nun nimmt man ihm diesen Götzen, indem man ihm zeigt, dass das Geld der Götze ist. Aber eben dies zeigt, dass es mit dieser Zweiteilung gar nicht letzter Ernst ist. Denn wenn der religiöse Akt nicht notwendig in der einen absoluten Seinsbindung begründet ist, sondern wenn er sich auf irgend einen empirischen Gegenstand beziehen kann, nur fälschlich beziehen kann, dann gibt es keine zwei Arten von Akten, sondern dann ist das in Wirklichkeit nur ein bestimmter gesteigerter seelischer Akt überhaupt. Und es ist nicht erfindlich, inwiefern die Transzendenz des Gegenstandes, das Überschwingen der Welt und alles Welthaften zum religiösen Akt gehöre, eben das, was vorausgesetzt wird, und dann kann sich ja der Akt an irgendeinen gar nicht transzendenten Gegenstand heften und solange damit auskommen, bis man ihn über die Unangemessenheit dieses
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Gegenstandes aufklärt. Somit bleibt auch für diese Formulierung noch das Religiöse im Psychologischen, wenn es sich auch dem Psychologischen zu entwinden scheint. Ich kenne keinen von der Welt, von der psychologischen Methode aus keinen entschiedeneren Versuch, sie zu überwinden. Aber auch dieser Versuch scheitert notwendigerweise. Es bleibt immer dabei: Wird das Religiöse eingebettet in die psychologische Welt, dann wird es zugleich notwendigerweise abhängig, verhaftet in der Subjektivität, und es bleibt notwendig verhaftet in der Unstetigkeit, in der Diskontinuität, darin die Vorgänge der Seele beginnen und enden, und unter diese Vorgänge gehört dann auch das Religiöse, ebenso beginnend und endend, von andern Vorgängen begrenzt, abgehoben und von ihnen aufgehoben. Der religiöse Vorgang ist ein korrigierbarer in dieser Fassung notwendigerweise. Er ist von andern Erfahrungen begrenzt, kann von andern Erfahrungen berichtigt, aufgehoben, überholt werden. Allen diesen Auffassungen ist gemeinsam und notwendig gemeinsam, dass das Religiöse im Menschen geschieht, also an dieser Abgeschnittenheit, die diese Psychologie Seele nennt, in diesem im Menschen Eingekapselten, was sie Seele nennt. Nicht aber geschieht hier das Religiöse so, wie es in Wahrheit geschieht, am Menschen, mit dem Menschen. Psychologisch angesehen, haftet es an ihm als eine rechtmässige oder unrechtmässige Erfahrung, aber nicht in ihm als in einer Gegenwart, in einer Wirklichkeit. Ich sagte schon, unter allen Voraussetzungen ist diese die gefährlichste. Denn von allen andern abgesehen, sie führt am meisten zum eigentlichen Verderben unseres Zeitalters, zur Vermischung, zur Vermischung hier der religiösen Begebenheit mit illusionären und halluzinatorischen psychologischen und psychopathologischen Vorgängen. Und so dürfen wir auch dieser Sphäre die Religion gleichsam entgegenstellen, an ihrem Rande, wahrhaft am Rande der so verstandenen Seele. Ist Seele die Abgehobenheit des Menschen gegenüber der Welt, ist sie die innere Dispensierung des Menschen, die Scheidung des Menschen in verschiedene Phänomene und Vorgänge, dann steht Religion als Mahner und Warner am Rande dieser Seele, sie umfassend und ihr die Grenze weisend. Hierher reicht all dieses Abgeschnittensein und Geschiedensein nicht. Hier gilt nur das Ganze und Verbundene. Und wenn auch hier Seele Eingang findet, dann nur die Seele des gegenwärtigen, des wirklichen, nicht die Seele des psychologischen Menschen. So haben wir den Kreis der Funktionalisierungen durchmessen. Und noch einmal, ehe ich in einigen Worten das Ergebnis zu umschreiben suche, das vorläufige Ergebnis, bitte ich Sie: Ist etwas unklar geblieben, so fragen Sie. Denn wir müssen jetzt bald einen starken Schritt über all dies Nein hinausgehen. Wir haben erfahren, dass
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Religion am Rande aller geistigen Teilwelten steht, am Rande aller, alle jene einzelnen umfassend, jeder die Grenze weisend. Sie kann also selber keine Teilwelt sein. Sie, die alle Sphären des Geistes umfängt, kann keine Sphäre des Geistes sein. Es genügt also nicht, ihr eine selbständige Sphäre neben den andern zu finden. Es genügt nicht, sie von allen diesen Abhängigkeiten zu befreien und sie nun auf einen dieser Throne zu setzen, ihr einen Platz neben den andern zu finden, sondern wenn sie ist, muss sie sie alle umschliessen, umfassen, umfangen. Aber nicht als ein Zusammengesetztes, sondern als ein Einfaches. Wohl trägt sie ihrer, aller dieser Sphären, Elemente an sich, das haben wir gesehen und werden wir noch sehen, aller dieser Sphären, und Sie mögen sich selbst, wenn Sie an die einzelnen Sphären zurückdenken, eins nach dem anderen vergegenwärtigen, wie in der Religion alle diese Elemente beisammen wohnen, und doch ist sie nicht aus diesen Elementen aufgebaut. Und noch eins. Zumeist hatten diese Versuche der Funktionalisierung, diese Versuche, Religion von einer Geistsphäre abhängig zu zeigen, unter anderem die Absicht, die Universalität des Religiösen aufzuzeigen. Das heisst, in den Religionen, in der Vielheit der Religionen das gemeinsame Religiöse, das ihnen allen innewohnende gleiche Religiöse hervorzurufen. Und in der Tat, wenn das Religiöse ist, wenn es ein Religiöses gibt, dann muss es in allen Religionen und Religiositäten aufgezeigt, geschaut werden können. Und doch nicht als etwas Allgemeines, nicht als etwas Vages und Farbloses, das innerhalb der farbigen Fülle, der Eindeutigkeit, der Plastizität der Religionen nun bestünde, als so ein allgemeiner Begriff, den man aufzeigen kann: den gibt es hier und hier und hier, das heisst, als ein Nichts, sondern als grosse, lebendige, sichtbare, gelebte Gegenwart. Das heisst: das Religiöse hat notwendigerweise den Charakter der Totalität und notwendigerweise den Charakter der Wirklichkeit, der Unaufgebbarkeit. All dies zusammen bedeutet – wir können es nun noch einmal wieder aufnehmen, nachdem wir diesen Kreis der Verneinungen und Ablehnungen durchmessen haben – absolute Gegenwart. Wie dies sei, danach wollen wir von jetzt ab fragen.
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Vierter Vortrag: 12. Februar 1922 Ich hatte Ihnen schon gesagt, dass wir jetzt, nachdem wir die einzelnen Versuche, die Religion zu einer Funktion eines geistigen Gebietes zu machen, indem wir diese einzelnen Versuche geprüft und abgelehnt hatten, dass wir nun sozusagen von vorn anfangen würden, dass wir, nachdem wir all dieses Nein festgestellt hatten, nunmehr die Frage nach dem Ja
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ganz von vorn stellen würden, also so, als ob wir all das gar nicht besprochen hätten, und in einem letzten Sinn, wenn nicht dieser ganz bestimmte Zeitmoment wäre, brauchten wir es nicht zu besprechen. Aber auf diesem neuen Stück Wegs, das wir zusammen gehen wollen, wird es, so vermute ich, manchem von Ihnen schwer oder unbequemer werden, mitzugehen, und zwar nicht etwa deshalb, weil die Dinge, die wir jetzt zu besprechen haben, komplizierter werden, vielmehr gerade weil sie einfacher sind. So einfach nämlich, dass ihnen eine gewisse Begrifflichkeit, eine gewisse philosophische Terminologie, die sich nun einmal in den meisten Köpfen festgesetzt hat, widerstreitet und dass, wenn ich einen Schritt nach dem anderen gehe, ich befürchten muss, dass mancher von Ihnen sich von jener Begrifflichkeit aus fragen wird, wie sich denn das damit und damit verhalte. Ich möchte daher an Sie die Bitte richten, soweit es Ihnen möglich ist, das, was ich sage, nicht zu halten neben fertige überkommene Formulierungen, sondern es lediglich zu halten neben Ihre Selbsterfahrung, neben das, was Sie von sich aus von diesen Dingen wissen, und die Formulierungen so weit als möglich zu vergessen, also nicht von vornherein davon auszugehen, dass jene philosophische Formulierung recht habe, sondern zunächst einmal das ganz dahingestellt sein zu lassen und sich ganz von neuem zu fragen, wie es mit diesen Dingen ist, als ob es gar keine Terminologie und Formulierung gäbe. Es ist mir einmal in einem Buch ein Satz aufgestossen, der lautete etwa: »Und da unser bewusstes Leben aus Erfahrungen besteht …«, und so ging es weiter. Und dieser Satz kam mir etwas sonderbar vor. Was bedeutet das eigentlich, dass unser bewusstes Leben aus Erfahrungen besteht? Entweder bedeutet das nichts anderes, als dass unser bewusstes Leben aus bewussten Vorgängen besteht, dann sagt der Satz gar nichts, oder aber er sagt mehr als das, denn dann bedeutet er, unser bewusstes Leben bestehe aus Vorgängen, in denen wir etwas erfahren. Erfahrungen wären also Vorgänge, in denen etwas, ein Etwas, ein Gegenstand erfahren wird. Sie wissen ja, wie dieses Wort, dieses merkwürdige Wort »erfahren« entstanden ist. »Erfahrungen« ist ja ein sehr später Plural, ursprünglich gibt es das Wort nur im Singular: »Erfahrung«, und das ist nämlich das, was man sich erwirbt, wenn man fährt, wenn man die Welt oder ich möchte fast sagen die Dinge befährt. Man erfährt die Dinge und holt sich aus ihnen, indem man sie erfährt, Erfahrung heraus, man bekommt ein Wissen von den Dingen sozusagen aus den Dingen heraus und dieses Wissen hat eben die Dinge zum Gegenstand. Man erfährt, was die Dinge sind, was an den Dingen ist. Immer also handelt es sich um ein Etwas, das erfahren wird. Man bekommt die Beschaffenheit der Dinge zu wissen, also ein Wissbares und Aussagbares zu fassen. Wenn jener Satz also etwas
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besagen soll, jener Satz, dass unser bewusstes Leben aus Erfahrungen besteht, so dürfte er wohl dies besagen: Unser bewusstes Leben bestehe aus solchen Vorgängen, worin wir etwas Wissbares, Aussagbares von der Beschaffenheit der Dinge, das heisst, der äusseren und inneren Dinge erfahren. Denn selbstverständlich gehören zu dem Bezirk dieser Erfahrungen auch die inneren Erfahrungen. Es müssen durchaus nicht Dinge der Aussenwelt sein, die wir erfahren, sondern es können auch innere Vorgänge sein. Und dieser Satz würde nur verschoben werden, wenn es wahr wäre, dass wir auch irgendwelche über den Bereich der sinnlichen und im engeren [Lücke im Typoskript] Erfahrungen hinausgehende hätten. Wenn das, was man gewöhnlich von irgend geheimen Erfahrungen oder wie man es nennt, wahr wäre (was ich dahingestellt sein lassen möchte), so würden das auch nur immer Vorgänge sein, in denen wir ein Etwas aus irgend einem Bereiche erfahren, indem wir etwas Wissbares und Aussagbares, einen wissbaren und aussagbaren Inhalt gleichsam zugeführt bekommen. Und nun ist die Grundfrage, von der wir ausgehen wollen: Besteht in der Tat unser bewusstes Leben aus solchen Vorgängen? Machen in der Tat solche Vorgänge, solche Erfahrungen unser bewusstes Leben aus? Und da möchte ich Sie selbst bitten, sich ganz unabhängig von irgendwelchen fertigen Formulierungen zu fragen: Wie verhält es sich damit? Wenn Sie nicht unter dem Einfluss irgend einer Begrifflichkeit, sondern ganz unbefangen sich auf sich selbst besinnen, gibt Ihnen Ihr Gedächtnis in der Tat Ihr bewusstes Leben wieder als eine Reihe von Erfahrungen und nichts weiter? Oder gibt es Dinge, gibt es Momente, gibt es Vorgänge in Ihrem Leben, die Sie nicht als Erfahrungen bezeichnen können? Das heisst: Gibt es Vorgänge in Ihrem Leben, bei denen Sie nicht ein Etwas, die Beschaffenheit eines Etwas, ein Wissbares und Aussagbares zugeführt bekommen, sondern wo Sie zu irgend einem Ding, einem sogenannten äusseren oder sogenannten inneren Ding – wir werden auf diese Unterscheidung noch zu sprechen kommen – wo Sie irgend einem Ding anders gegenüberstehen als einem erfahrbaren Gegenstand, als einem Gegenstand, über dessen Beschaffenheit ich etwas wissen und aussagen kann, zu wissen und auszusagen bekomme. Ist Ihnen allen meine Frage klar? Denn wir können nicht weiter, wenn dies nicht der Fall ist. Frage: Ist auch zu unterscheiden zwischen Erlebnissen und Erfahrungen? Antwort: Ja. Ich habe den Begriff Erlebnis ja schon einmal besprochen. Der Begriff kommt mir sehr unbestimmt und unzulänglich vor, weil das etwas Seelisches ist, was in mir vorgeht, nicht also ein Vorgang, an dem ich teilnehme. Zweitens aber, weil damit eigentlich gar nichts
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Bestimmtes, Fassbares gesagt ist. Ich kann ja auch die Erfahrungen Erlebnis nennen, wenn ich will. Erlebnis bedeutet nichts anderes, als dass ich irgend ein Stück meines Lebens sozusagen mir als einem Subjekt zuschreibe, auf mich beziehe. Aber was das eigentlich ist, das ist damit nicht gesagt, wie ich diesen Ausdruck schon seines schwankenden, vagen Charakters wegen vermeide. Ich glaube aber, dass es ein viel einfacheres und richtigeres Wort gibt, um das zu bezeichnen, was es ausser Erfahrungen in unserem bewussten Leben gibt. Ehe ich aber darauf komme, will ich vielleicht die Sache noch von einer anderen Seite fassen. Es wäre mir lieb, wenn möglichst Sie selbst an diesen Punkt, den ich meine, kämen. Das, was mit Erfahrungen gemeint ist in dem Sinn, in dem wir eben sprachen, das könnte man vielleicht auch etwas enger bezeichnen als Es-Erfahrungen. Ich erfahre immer ein Etwas, einen Inhalt, einen Gegenstand, etwas, was sich auch in der Welt der Dinge, der inneren und äusseren, befindet als ein Es. In dem Sinne kann ich vielleicht sagen: Diese Erfahrungen bedeuten Es-Erfahrungen. Und wenn wir den Ausdruck Erfahrungen noch einen Augenblick beibehalten wollen, ehe wir ihn aufgeben, so könnte man vielleicht zunächst einmal fragen: Gibt es vielleicht eine andere Art von Erfahrungen? Gibt es nur EsErfahrungen? Gibt es nur solche Vorgänge, wo uns die Dinge als ein Es, als ein Etwas in der Welt der Dinge zugeführt werden? Oder gibt es Vorgänge, in denen uns ein Ding oder Wesen aus der äusseren oder inneren Welt anders entgegentritt? Frage: Das Fühlen, das Erfühlen? Antwort: Ja, Fühlen ist auch eine Art von Erfahrung, wo wir immerhin ein Es, wenn auch seelischer Art, möge es nun ein Gefühl der Spannung oder der Lösung, der Lust oder Unlust sein, haben. Wir lokalisieren es nicht in eine Aussenwelt, aber immerhin ist es ein bestimmter Inhalt, den wir auf diese Weise erfahren. Wir können irgendwie dieses Gefühl beschreiben, es ist ein Gefühl unter Gefühlen, wir können davon aussagen: So und so verhält es sich damit. Frage: Ich glaube allerdings, dass alle Erfahrungen Es-Erfahrungen sind. Ob allerdings diese aussagbar sind, ist die zweite Frage. Mir ist der Gedanke aufgekommen, als ob Es-Erfahrungen mit aussagbaren Erfahrungen zusammenhingen. Antwort: Aussagbar, damit meinen wir natürlich nicht, von diesem Individuum, in diesem Moment aussagbar, sondern überhaupt aussagbar. Frage: Ja. Dann wäre noch die Frage, ob dieses Es in seiner Ganzheit aussagbar wäre, ob nicht ein letzter Rest übrig bliebe, während die Erfahrung natürlich immer eine Es-Erfahrung sei.
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Antwort: Das ist ganz richtig. Nun wäre die Frage, ob dieses Uebrigbleibende auch wirklich noch als ein Es erfahren wird. Ich gebe zu, dass es eigentlich nur Es-Erfahrungen gibt, aber scheinbar möchte man sagen, dass es noch andere Erfahrungen gibt. Frage: Es sind keine Erfahrungen, sondern es ist ursprünglich Wissen, ein Wissen um, ein Offenbartwerden. Antwort: Ich meine etwas ganz Einfaches. Frage: Gibt es nur Objekterfahrung oder eine Erfahrung aus dem Subjekt als solchem ohne Objekt? Antwort: Das würde doch eine seelische Erfahrung sein. Ich erfahre etwas, eine seelische Tatsache. Frage: Aus dem Innern der Sache nach aussen, nicht über die Aussenwelt hinüberfahrend. Antwort: Sie meinen, es wäre dann beschränkt auf etwas, was im Subjekt selbst vor sich geht. Frage: Nein, dann trifft eben das Wort nicht mehr zu. Antwort: Ich meine etwas Einfacheres. Nicht irgend eine ganz besondere Abteilung, die nur in besonderen Augenblicken der Gnade betreten wird, sondern etwas, was jeder von Ihnen immer wieder erlebt hat und erlebt. Frage: Vom Ich und Du? Antwort: Ganz recht, das ist es. In der Tat ist es das ganz Einfache, was anderer Art ist als eine Erfahrung, die wir zunächst einmal einen Augenblick als Du-Erfahrung bezeichnen können. Das ist die einfache Tatsache des Gegenübertretens eines Du. Vielleicht vergegenwärtigen Sie sich auch wieder aus Ihrem Selbstwissen, aus Ihrem Gedächtnis, wie es sich damit verhält. Ich stehe einem Menschen gegenüber, um das deutlichste Beispiel zu geben, den ich liebe. Was bedeutet das, was ist das für ein Vorgang, wenn ich diesem Menschen wirklich gegenüberstehe als einem Du? Bedeutet das, dass ich nun von diesem Menschen jetzt etwas über seine Beschaffenheit erfahre, dass mir nun dieser Mensch irgendwie als ein Er oder eine Sie gegeben ist in der Welt der Dinge und dass ich nun diesen Menschen als eine Summe von Eigenschaften, die ich kenne und aussagen kann, aufnehme? Wer diese ganz einfache Tatsache der Beziehung kennt (ich glaube, jeder Mensch kennt sie), weiss das. Es ist etwas, was von den Es-Erfahrungen völlig abgehoben ist. Oder mit einem anderen und einem richtigeren Wort bezeichnet, es sind überhaupt keine Erfahrungen, es ist überhaupt nicht etwas, was wir subjektiv bezeichnen können – Erfahrung klingt immer noch subjektiv –, sondern etwas, was wir nur objektiv bezeichnen können als einen Vorgang, an dem wir teilnehmen, mit einem Wort, es sind Beziehungen.
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Unser bewusstes Leben, um den Satz wieder aufzunehmen, besteht nicht bloss aus Erfahrungen, sondern auch aus Beziehungen. Und wenn Sie nun in dieser Selbstbesinnung, zu der ich Sie auffordere, noch ein Stück weitergehen, so merken Sie, dass diese Beziehungen, das Verhältnis zu einem Du, zum Du, die ursprünglichen, die wesentlichen Vorgänge des Lebens sind. Ich möchte es vielleicht noch an ein paar andern Beispielen klar machen. Wir sind ausgegangen von der Beziehung zu einem geliebten Menschen. Dieser Mensch kann mir selbstverständlich auch zu einem Gegenstand der Erfahrung werden. Ich kann ihn in die Welt der Dinge einstellen und nun von ihm, von seinen Eigenschaften etwas zu wissen, zu erfahren, auszusagen bekommen. Er kann mir zu einem Komplex von Qualitäten, einem Ding unter Dingen werden, zu einer Erfahrung. Aber das entscheidende Verhältnis zu ihm habe ich in diesem Moment, oder sagen wir richtiger: für diesen Moment verloren. Und ich kann es nur wiedergewinnen, wenn es mir wieder als Du, als etwas, wozu ich in Beziehung stehe und was ich nicht erfahre, gegenübertritt. Nun einen Schritt weiter zu einem vielleicht nicht so selbstverständlichen Beispiel. Wie ist es mit der Natur? Welches sind unsere entscheidenden Beziehungen zur Natur? Wie sehen die aus? Welches sind die entscheidenden Momente, in denen wir von der Natur etwas in unser Leben aufnehmen? Sind das die, in denen wir Bestandteile, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, Bestandteile der Natur in unsere Erfahrung aufnehmen? Oder sind es die, in denen wir der Natur gegenüberstehen als einem Du, das uns gegenübertritt und zu dem wir nun diese einzigartige, diese einmalige, unvergleichbare Beziehung haben, die sich in ihrem Wesen eben nur leben, aber ihr Wesen nicht in Erfahrung umsetzen lässt, aus der wir freilich immer wieder in das Reich der Erfahrung hineintreten können und nun von eben dem, wozu wir in der Beziehung standen, nunmehr etwas wissen, erfahren und aussagen können, aber sichtbar, nachdem wir eine Wendung, eine Wegkehr, eine Abkehr vollzogen haben. Frage: Dürfte man zu dem Wort Beziehungen dann das Beiwort nehmen: Nicht bewusste Beziehungen? Antwort: Das möchte ich nicht sagen. Wenn Sie »nicht bewusst« sagen, so klingt das so, als ob es sich um das »ungewusste Leben« handelt. Frager: Das meine ich eigentlich auch nicht. Antwort: Gewiss, aber es klingt an. Nicht bewusst, ja, insofern nicht bewusst, als wir es eben, wenn wir wissen, im Sinne der Erfahrung meinen als ein Etwas-Wissen. Aber wir dürfen nicht sagen: Nicht bewusst. Ich vermeide den Ausdruck deshalb, weil er an unbewusst anklingt, weil wir das hier festhalten wollen; es ist durchaus etwas, was unserem be-
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wussten Leben angehört, und ich möchte auch sagen, wir wissen es, aber nicht als ein Es, paradox ausgedrückt. Wir wissen den geliebten Menschen und die Natur, zu der wir in Beziehung stehen, aber nicht als ein Es, das wir erfahren. Ein anderes Beispiel: der Akt des Künstlers. Ich meine die eigentliche schöpferische Konzeption. Dem Künstler erscheint sein Werk, das was er in einem sehr ursprünglichen, sehr richtigen Wort die Idee des Werkes nennt, in dem Sinn der Urgestalt des Werkes. Dem Künstler erscheint sein Werk, aber nicht etwa als ein Es in der Welt der Dinge, etwa der inneren Dinge, keineswegs, sondern als ein Du schlechthin, gerade so wie der geliebte Mensch, gerade so wie die Natur, als etwas Ausschliessliches. Gerade so wie in der Beziehung zum geliebten Menschen nicht etwa nun allerlei Dinge um diesen Menschen herum sind, in denen er als eins von ihnen steht, sondern er ist in der Ausschliesslichkeit der Beziehung sozusagen – ich komme darauf noch zurück – die Welt, das Du schlechthin, zu dem man in einer ausschliesslichen Beziehung steht. Gerade so wie wir wirkliche Beziehungen zur Natur nur insofern haben, insofern wir uns zu nichts anderem verhalten als zur Natur. Nur dann besteht wirkliche künstlerische Konzeption, wenn die Idee des Werkes oder ich möchte lieber sagen das Werk entgegentritt als ein Du in der Ausschliesslichkeit der Beziehung, die alles Erfahrbare ausgeschieden hat. Sie sehen schon hier, dass man unrecht daran täte, das Du von dem Es aus zu fassen, also zu sagen: Das Du ist ein Gegenstand, zu dem wir in Beziehung treten. Denn dieses Werk, das ist von dem Gegenständlichen aus gefasst sozusagen noch gar nicht da. Von der erfahrbaren Welt aus gefasst ist das noch nicht da, sondern ich soll es erst schaffen. Und dennoch stehe ich in Beziehung dazu. Es ist mir in der Beziehung gegenwärtig. Sie sehen also, dass die ganze Ebene der erfahrbaren Welt hier gar nicht mehr zureicht. Denn von der erfahrbaren Welt aus gesehen, müsste man diese Konzeption des Werkes als eine Fiktion bezeichnen, das Werk als etwas Fiktives, das mir bloss in der Vorstellung gegeben ist. In der Welt des Du aber hat dieses geschaute Werk, zu dem ich in Beziehung stehe als einem Du, durchaus unmittelbare und unbedingte Realität. Mit anderen Worten: Das Schaffen, von dem wir hier sprechen, das Schaffen dieses Werks, das mir als ein Du gegenübertritt, das bedeutet nichts anderes als ein Entdecken, ein Aufdecken dieses Du, ein Hinüberführen dieses Du, allerdings, wie wir gesehen haben, ein Hinüberführen, das notwendigerweise dieses Du auch zu einem Es macht. Auf diesen Vorgang werden wir noch zu sprechen kommen, auf dieses Es-Werden des Du. Und noch ein Beispiel. (Ich glaube, wir wollen diese Dinge uns immer wieder an Beispielen klar machen, weil sie sonst drohen in eine Starrheit zu fallen, die dem Wesen
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dieser Erkenntnis widersprechen würde.) Noch ein Beispiel, das vielleicht noch mehr verdeutlicht, um welche Ebene es sich handelt. Wir sprachen schon von der Entscheidung des handelnden Menschen. Auch die Entscheidung, der Moment, in dem ein Mensch sich entscheidet, dieses zu tun, auch dies ist ein Beziehungsvorgang. Denn wie dem Künstler in der künstlerischen, der schöpferischen Konzeption das Werk entgegentrat als ein Du in der Ausschliesslichkeit, die alles andere versinken lässt, so tritt dem sich entscheidenden Menschen seine Tat, die Tat, die er wählt, gegenüber, sie wird ihm gegenwärtig als ein Du in einer Ausschliesslichkeit, die alle anderen Möglichkeiten des Handelns versinken lässt, ebenso wie in der künstlerischen Konzeption alle Möglichkeiten des künstlerischen Aktes versanken. Alles übrige wird gleichsam durch die Ausschliesslichkeit dieser Beziehung verworfen und dieses eine gewählt. Wenn sie sich auch hier scheinbar noch mehr als in den künstlerischen Vorgängen, scheinbar von der Welt der Objekte, der Erfahrung aus gesehen etwas Fiktives, etwas, was noch nicht da ist, in Wirklichkeit von dem Du selbst aus gesehen, also auf der Ebene, von der wir hier sprechen, durchaus etwas Seiendes, wozu ich in Beziehung stehe und was ich nun zu verwirklichen habe. Denn das ist allen gemeinsam, all diesen Beziehungen ist es gemeinsam: Ich habe das Du, das mir gegenübersteht, nicht zu erfahren, sondern zu verwirklichen. Ich mache es nicht zu einer Erfahrung, indem ich in die Beziehung zu ihm trete, sondern ich mache es zu einer Wirklichkeit, zu einer Gegenwart, oder richtiger gesagt, es wird mir, es wird durch mich, es wird mir gegenüber zu einer Wirklichkeit, zu einer Gegenwart. Dies ist allen Beziehungen gemeinsam. Ich möchte jetzt einen Augenblick innehalten und Sie bitten, wenn irgendwie entweder etwas noch nicht klar ist oder wenn Ihnen noch irgendwie andere Formulierungen diesen Gang durchkreuzen, es mir zu sagen. Sonst möchte ich von einem andern Punkt aus nun Ihnen dasselbe noch einmal klar zu machen suchen. Wie ist es mit der Entwicklung des Menschen? Oder richtiger gefragt, wie entsteht, wie entwickelt sich das Ich des Menschen? Wir können die Frage ja zwiefach fassen: in der Entwicklung des einzelnen Menschen, des Individuums und in der Entwicklung des Menschengeschlechts. Die uns unmittelbar gegebene Form ist die des einzelnen Menschen. Wir kennen die Anfänge des Menschengeschlechts nicht, und was wir aus dem Leben der sogenannten Naturvölker erschliessen durch Analogie, ist auch ziemlich problematisch, denn wir wissen ja in Wirklichkeit nicht, in welchem Entwicklungsstadium sich diese sogenannten Naturvölker befinden. Dagegen gibt es die unendliche Tatsache des Kindes. Die Entstehung des Ich im einzelnen Menschen ist uns unübersehbar immer
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wieder neu gegeben. Nun antwortet man gewöhnlich darauf: Das Ich entsteht auf die Weise, und ich möchte nur einfügen, dass hier Entstehung des Ich und Entstehung des Ichbewusstseins ein und dasselbe sind, Ich das heisst eben, dass der Mensch sich als Subjekt der Welt gegenüberstellt. Also diese Entstehung des Ich wird gewöhnlich auf diese Weise ausgelegt, dass man sagt: Er, der Mensch, das Kind lernt eben sich von der übrigen Welt abheben. Auf diese Weise, dass er es merkt, dass dieser sein Körper Träger der Empfindungen, seiner Empfindungen ist, auf diese Weise werden die übrigen Dinge, die nicht Träger seiner Empfindungen sind, von ihm selbst abgehoben und so es in die Sonderstellung eingeführt, die es mit dem Wort ich, die der Mensch mit dem Wort »ich« bezeichnet. Ist diese Beschreibung aber auch wirklich richtig? Ist das richtig, dass das Ich sich auf diese Weise entwickelt, oder nur auf diese Weise entwickelt, dass der Mensch, das Kind sich von den Dingen abhebt, gewissermassen die Dinge um sich herumstellt als ein Es, Es, Es, Es, um die herum als Dinge, Wesen, Personen um sich herum von ihnen er sich abhebt. Ist es richtig, dass dies das ganze Bild der Entwicklung des Ich ist? Also wohlverstanden, die Abhebung des Ich gegen eine Welt des Es, gegen eine Es-Welt. Oder gibt es nicht eine ganz andere wesentliche Abhebung des Ich? Nun, wer Kinder beobachtet hat gerade im ersten Jahr, der wird bemerkt haben, dass, und zwar sowohl in der Art des Blicks als in der Art mancher Bewegungen – wir können ja darauf noch näher eingehen – eine ganz bestimmte Art der, man kann es nicht anders ausdrücken, Beziehung zu einem Du, und zwar nicht bloss zu einem für das Kind, etwa für die Selbsterhaltung des Kindes wesentlichen Du, also etwa zu der Mutter und dergleichen oder zu der Milchflasche, sondern zu irgend etwas manchmal scheinbar ganz willkürlich Herausgehobenem, ja manchmal zu etwas, was wir gar nicht sehen, was gleichsam in der Luft ist, wonach das Kind aber dennoch irgendwie zu greifen, zu fassen, ihm entgegenzustreben scheint. Wenn wir dann weiter betrachten, wo schon bewusste Aeusserungen mit einzubeziehen sind, dann merken wir, das Kind hebt sich nicht etwa bloss und vielleicht nicht einmal wesentlich ab gegen ein Es, sondern es hebt sich wesentlich ab gegen ein Du, zu dem es in Beziehung steht, oder wir können es noch prägnanter sagen: Das wesentliche Leben des Kindes vollzieht sich in Beziehungen zu einem Du. Und diese Abhebung gegen dieses Du, das Gegenüberstehen zum Du, das ist das, was zunächst das Gefühl des Ich erzeugt, das freilich dann, je mehr es sich in der Welt zu orientieren, zu behaupten, durch Kenntnis zu behaupten sucht, immer mehr sich in eine Welt des Es eingefügt sieht. Wie dies zugeht, darauf kommen wir noch zu sprechen. Das, worauf ich im Augenblick eingehe,
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das ist, dass das Ich aus dieser Beziehung, das Ichbewusstsein aus der Beziehung zu einem Du entsteht. Wenn wir das erste, das früheste Leben des Kindes als eine Ungeschiedenheit auffassen, in dem das Ich und das Andere in einer ununterscheidbaren Einheit miteinander verbunden sind, so hebt sich das Ich heraus zunächst als einem Du gegenüberstehend und dann erst als gegenüberstehend einer Vielheit von Er, Sie Es, von Dingen. Dieses Du, dem das Kind zunächst gegenübersteht, braucht natürlich durchaus nicht etwa ein lebendes Wesen zu sein, sondern das kann irgend ein Ding sein, dem aber das Kind als einem Du gegenübertritt, das heisst mit der Ausschliesslichkeit der Beziehung, die alles andere versinken lässt, sodass dieses eine gleichsam die Welt des Gegenüber, das Du schlechthin repräsentiert. Wir können schon von hier aus, auch von hier aus sagen, dass es nicht eine Schicht oder nicht eine Welt des bewussten Lebens gibt, sondern zwei, eine Es-Welt und eine Du-Welt, und zwar so, dass nicht etwa bloss sich das ergäbe aus der Aussenwelt, die an den Menschen herantritt, vielmehr ist im Menschen selbst irgendwie diese Dubeziehung angelegt, das Du ist ihm eingeboren und es entfaltet sich in den Dubeziehungen. Alle elementaren Emotionen des Kindes und, soweit wir erschliessen können, auch des primitiven Menschen sind auf Du-Beziehungen aufgebaut. Wir haben auf der einen Seite also eine Es-Welt, die zur reinen Trennung zwischen dem Menschen und der Welt tendiert, und wir haben auf der anderen Seite eine Du-Welt, die zur reinen Verbindung des Menschen mit der Welt tendiert, Verbindung, aber nicht Vereinigung. Dieses Gegenüberstehen von Ich und Du bedeutet immer eine Verbindung, Verknüpfung, aber nicht eine Vereinigung. Welthaft formuliert, kosmologisch welthaft formuliert könnte man sagen, es gibt drei Weltschichten: die Schicht Ungeschiedenheit, die Schöpfungswelt, die überhaupt nicht Gegenstand unseres Bewusstseins ist, sondern aus der wir herauswachsen als die nicht individualisierte Welt, als das Wir, als Individuum heraufsteigen, und dann die zwei Aspekte der Welt, die zwei Weltschichtungen, die uns in einem bewussten Leben möglich sind, die Welt der Wahrnehmung, des Wahrnehmens, des Herausnehmens und Wahrmachens von Gegenständen, von Es-Inhalten, von Erfahrungen, und die Verwirklichungswelt, die Du-Welt der Beziehung zu einem Du, das wir wirklich gegenwärtig machen oder das uns wirklich gegenwärtig macht. Diese zweite, das möchte ich hier schon andeuten, diese zweite Welt ist die wahre Welt des Geistes. Ich möchte hier innehalten und Sie bitten, sich bis zum nächsten Mal diese Dinge, die ganz einfach sind, aber die schwierig scheinen, weil die Begrifflichkeit, die uns eingewohnt ist, anderer Art ist, sich diese Dinge
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recht unbefangen von Ihrem eigenen Leben aus zu vergegenwärtigen, damit es uns dann vielleicht leichter ist, zusammenzugehen. Ich will nur andeuten, welche Schritte wir etwa noch zunächst weitergehen wollen. Wir wollen nun davon sprechen, inwiefern dieses angelegte Du, die angelegte Beziehung für den Menschen eine Aufgabe bedeutet, für den Menschengeist, inwiefern nun der Konstruktion der Es-Welt, die der Menschengeist vollzieht, der Aufbau einer Du-Welt, einer möglichen Du-Welt gegenübersteht und was den Aufbau dieser Du-Welt hindert. Ich kann das vielleicht auch jetzt schon andeuten, die Tatsache nämlich, dass jedes Du seinem Wesen nach, der Begrenzung seines Wesens nach immer wieder zu einem Es zu werden droht, immer wieder zu einem Es wird. Jedes Du, von dem wir gesprochen haben, jedes endliche Du, zu dem wir in Beziehung stehen, wird immer wieder zu einem Es, wird in den Zusammenhang der erfahrbaren Welt einbezogen. Es scheint also so zu sein, dass ein Kontinuum einer Du-Welt unmöglich ist. Vielleicht können Sie sich diese Dinge zunächst weiter vergegenwärtigen.
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Fünfter Vortrag: 19. Februar 1922 Der Gedankengang, den ich das vorige Mal dargelegt habe, ist für den Weg, den wir zusammen gehen wollen, von so entscheidender Wichtigkeit, dass ich ihn noch einmal, wenn auch zum Teil wieder von etwas anderem Standort aus, Ihnen mitteilen möchte. Das Leben ist im Gegensatz zu der geläufigen, durch die Schulphilosophie verbildeten Auffassung kein einheitlicher Verlauf der Erfahrung. Das heisst, die geläufige Auffassung ist die, wir lebten in einer zusammenhängenden, in der Zeit zusammenhängenden Erfahrungswelt, die der Grundbestand, die einzige Materie, möchte ich sagen, unseres Lebens sei, wir erfahren immer irgend ein Etwas, das nun äussere, wie man sagt – diese ganze Terminologie ist falsch wie die ganze Grundauffassung, nebenbei gesagt, aber bleiben wir dabei – die äussere und innere Art Erfahrung sein kann. Man kann auch darüber hinausgehen und sozusagen von einer gewissermassen nicht erfahrbaren Erfahrung, von der sogenannten übersinnlichen Erfahrung sprechen, also die Grenzen des Erfahrbaren erweitern und in die Erfahrungswelt einbeziehen wollen. Es bleibt aber immer das Gleiche, immer bleibt es sozusagen ein Haben des Gegenstandes. Man erfährt ein Etwas, man befährt es, ich habe schon das vorige Mal darauf hingewiesen, dass dieses Wort »erfahren« eigentlich bedeutet ein Befahren der Dinge, man macht, sozusagen, seine Reise durch die Dinge und holt jeweils aus ihnen das heraus, was man nun von ihnen zu wissen
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glaubt. Nur freilich hat die Philosophie sich bemüht, über dieser EtwasWelt, über dieser Es-Welt der Erfahrung eine andere Welt aufzubauen, die Welt der Idee, die Welt der Werte. Aber diese Welt zeichnet sich merkwürdigerweise dadurch aus, dass wir mit ihr nichts zu schaffen haben, dass wir mit ihr keinen Verkehr haben, dass sie uns nicht unmittelbar ist, dass sie nicht wirklich ist, dass sie sich nur irgendwie uns kundgibt. Und das bedeutet, dass sie uns als lebende, in Wahrheit ichhafte Wesen nicht angeht. Ich kann es jetzt nur andeuten, aber wir werden im letzten Teil der Vorlesung wohl auch darauf noch zu sprechen kommen, diese ganze Welt, mit der wir keinen unmittelbaren Zusammenhang haben, ist eine Welt nicht bloss der Unwirklichkeit, sondern wahrhaftig eine Welt des Spuks, des Unwirklichen in diesem ganz besonderen Sinn. Nun aber, von diesem philosophischen Überbau abgesehen, ist es denn wahr, dass unser unmittelbares Leben ein einheitliches Leben der Erfahrung, des Etwas-Erfahrens, eine zusammenhängende Es-Welt, also eine Welt, die zusammengefügt ist aus soundsovielen Es, aus soundsovielen Dingen, die auch Er und Sie heissen mögen, ist es denn wahr, dass dies unser Leben, dass dies unsere Welt ist? Zur Antwort genügt es, dass Jeder sich vergegenwärtige, was es in seinem Leben an, sagen wir zunächst nur Momenten gibt, die er selbst als entscheidend, als eigentlich, als die Substanz des Lebens empfunden und bewahrt hat. Alle diese Momente wird er, wenn er sich in letzter Redlichkeit befragt, nicht als Momente der Erfahrung verstehen können, sondern ihnen allen eignet etwas Besonderes. Ihnen allen eignet, dass nicht ein Etwas, ein aus Eigenschaften zusammengesetztes und in diesen Eigenschaften aufzeigbares Etwas erfahren wird, sondern dass in ihnen der Mensch in Beziehung zu einem Du stand und dass gerade dies das Wesentliche dieser Beziehung war, dass sie, solange sie währte, keinen Raum für ein Es liess und dieses Du selbst nur als Du, aber nicht als Es, nicht als Er, nicht als Sie sich kundgab. Es gibt also zweierlei qualitativ Verschiedenes im Leben. Es gibt zweierlei Welthaftigkeit. Es gibt Es-Welt und es gibt Du-Welt, Beziehungswelt. Ich sage qualitativ Verschiedenes, obgleich ich schon jetzt andeuten möchte, dass diese zwei Welten verschieden sind in der Art, in der Nähe und Ferne verschieden sind. Wir werden sehen, und ich möchte das jetzt nur andeuten, wir werden sehen, dass diese zwei Welten hinführen auf etwas, was man als Gottnähe und Gottferne bezeichnen kann. Und doch sind in der Wirklichkeit unseres Lebens diese beiden Grundstellungen qualitativ, wesenhaft, nicht quantitativ, nicht gradhaft verschieden. Ich will bei denen, die der vorigen Vorlesung beigewohnt haben, die Erinnerung ihres Lebens heraufrufen, die Beispiele, die Grundbeispiele, der Beziehung zu einem Du, die deutlichsten Formen, etwa die Beziehung zu einem Men-
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schen, zu einem, um das allerdeutlichste Beispiel zu geben, zu einem geliebten Menschen. Ich meine aber die reine wahrhafte Beziehung, in der man diesem Menschen gegenübersteht, wahrhaft als meinem Du. In dieser Beziehung erfährt man nicht etwas von diesem Menschen. Dieser Mensch erweist sich hier nicht als eine Summe erfahrbarer Eigenschaften, er ist nicht ein Gegenstand, den ich zu wissen bekomme, von dem ich nun etwas weiss, von dem ich nun auch wohl etwas aussagen kann, sondern er ist eben nichts anderes als mein Du, und in dieser Ausschliesslichkeit des Du – das Du ist niemals neben anderen wie Er und Sie und Es, sondern es ist immer ausschliesslich – in dieser Ausschliesslichkeit des Du, in dieser Welthaftigkeit der Beziehung liegt ihr Wesen. Oder: Die Beziehung zu irgend einem Stück Natur, zu der Natur. Wenn ich die Natur, das was ich von ihr in diesem Augenblick fasse, nicht einstelle in eine raumzeitliche, so und so beschaffene, so und so verlaufende Welt, sondern diesem Ding oder Wesen gegenüberstehe als einem Du, zu ihm wirklich unmittelbar Du sage, dann ist dieses Ding für mich nicht ein Erfahrungsinhalt, sondern es ist etwas Ausschliessliches, Einziges und nur in dieser Beziehung Erschlossenes, nur in ihr Gegenwärtiges. Aber es kann auch durchaus nicht der Sphäre, es muss nicht durchaus der Sphäre angehören, die sich unmittelbar in Erfahrung umsetzen lässt. Wenn wir etwa uns den Künstler vergegenwärtigen, der die Konzeption seines Werks hat und diesem Werk nun gegenübersteht als einem, als seinem Du, und zwar jetzt so, dass er nichts weiss von früheren Werken, die etwa schon in der Es-Welt um ihn herum sind, sondern nur dieses eine Werk, wenn wir so sagen wollen, weiss, das heisst, nur zu diesem einen Beziehung hat, welthaft, so dass dies sozusagen den ganzen Horizont erfüllt, aber dieses weiss er nicht so, dass er von ihm etwas sagen, es beschreiben könnte, dass er seinen Ort im Raum und in der Zeit aufzeigen könnte, sondern nur so, dass er es verwirklichen kann. Und dennoch würde man durchaus im Bann der Schulphilosophie sich täuschen, wenn man das so auffassen wollte, als ob dieses Werk ein psychischer Vorgang, eine Fiktion sei, etwas, was dieser Mensch sich aussinnt, und was er erst dann nun wirklich macht, sondern in Wahrheit in dieser Welt des Wirklichen, von der wir sprechen, ist das Werk so sehr wie der geliebte Mensch oder die als Du angesprochene Natur ist. Diese Beziehung ist nicht eine Beziehung zu etwas Fiktivem, sondern zu etwas, was da ist, aber nicht als Es, sondern als Du. Und um es noch deutlicher zu machen: Der Mensch, der sich entscheidet zu einer Tat, ich sprach schon einmal von ihm, als ich von der Beziehung des Religiösen zum Sittlichen sprach, der Mensch, der sich entscheidet zu einer Tat, für den ist diese Tat in Wahrheit gegenwärtig als etwas, was ihm gegenübertritt, und
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zwar in der Entscheidung ausschliessend, sodass alles Dinghafte, alles was sonst vorgefunden, erfahren werden kann, abfällt und nichts mehr da ist als dieses welthafte Du der Tat, die er zu tun hat, die er zu tun sich entschieden hat. Und auch sie ist nichts Fiktives, nichts was erst wirklich werden soll, sondern in diesem Moment der Entscheidung ist sie durchaus wirklich und gegenwärtig, aber eben als ein Gegenüber, als ein Du. Diese elementare Beziehung können wir vielleicht, um es zu verdeutlichen, mit einem objektiven Ausdruck auch bezeichnen als im Gegensatz zu dem, was man sonst etwa in der Naturerkenntnis oder auch in der Seelenerkenntnis als Polarität bezeichnet und was gebundene Polarität ist, ich werde es gleich zu erklären suchen. Könnte man diese Beziehung bezeichnen als freie Polarität? Gebundene Polarität, damit meine ich, dass sozusagen beide Pole der Beziehung objektivierbar sind, festgelegt und objektivierbar. Alles was man in der Naturerkenntnis oder auch in der seelischen Erkenntnis Polarität nennt, ist solcher Art, dass wir beide Pole sozusagen als gegenständlich fassen können, fassen müssen, dass beide sozusagen angepflöckt sind. Was wir in der Physik oder in der Biologie oder in der Philosophie oder auch in der Psychologie polar nennen, das bedeutet immer, dass zwei Gegensätze, wie man es wohl nennen kann, zueinander in einem bestimmten Verhältnis der Reziprozität, des Übergangs, des Zueinanderströmens stehen, und dass diese ganze Reziprozität durchaus objektiven oder objektivierbaren Charakter hat. Mit der Polarität, von der wir hier sprechen, ist es nicht so, sondern es ist eine freie Polarität, das heisst, der andere Pol, das Du, ist, solange die Beziehung besteht, nicht objektivierbar. Die Polarität ist frei. Nur der eine Punkt, dieser Punkt des sogenannten Ich ist verfestigt. Das andere ist schwebend, ist nicht gegenständlich, sondern gegenwärtig. Ich glaube, dass Sie die Einstellung, die ich meine, schon bisher soweit verstehen, dass ich nicht näher zu erklären brauche, was ich unter Ich verstehe. Immerhin will ich es noch einmal andeuten. Ganz und gar nicht irgend ein psychologisches Ich und ganz und gar nicht irgend ein erkenntnistheoretisches Ich, nicht irgend etwas, was von dem wirklichen Leben erst abstrahiert wird, sondern ich meine einfach den Menschen, der »Ich« sagt. Ich meine jeden von Ihnen, ich meine den gegenwärtigen, wirklichen Menschen, der zu sich »Ich« und zu einem anderen, sei es ein Mensch oder ein Stück Natur, ein Wesen oder ein Ding, ein Werk oder eine Tat, »Du« sagt. Dies bitte ich immer festzuhalten, sonst kann in Wahrheit diese Ebene der Wirklichkeit, von der wir sprechen, nicht betreten werden. Was erfährt man also vom Du? Man erfährt nichts. Es ist keine Summe von Eigenschaften, es ist kein Objekt, es ist nicht irgend etwas, was ich, auch das nicht, auch nicht etwas, was ich
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zwar weiss, aber weil meine Sprache, die Sprache, zu schwach, zu unzulänglich ist, nicht aussagen kann, sondern es ist überhaupt kein Objekt. Ich erfahre nicht[s] von ihm. Was weiss man also von dem Du? Nur alles. Das heisst also, nichts, nichts Einzelnes, nichts Objektivierbares, nur alles. Kann man also die Du-Relation, kann man also die Beziehung durch Erkenntnis erfüllen? Nein. Nur durch Verwirklichung. Wenn Sie mir bis hierher gefolgt sind, dann verstehen Sie in diesem Augenblick schon, was es bedeutet, wenn ich diese Vorlesung genannt habe Religion als Gegenwart. Zumindest stehen wir jetzt bei dem ersten Sinn dieses Wortes. Gegenwart gibt es im Leben insofern und nur insofern, Gegenwart gibt es nur insofern, als es Beziehung gibt, als es Du, als es Beziehung zu einem Du gibt. Aus solcher Beziehung, aus ihr allein entsteht Gegenwart. Dadurch, dass uns etwas entgegentritt, dass es unser Gegenüber, unser ausschliessliches Gegenüber wird, dadurch, dass uns etwas gegenwärtig wird, entsteht Gegenwart, und nur kraft dessen gibt es Gegenwart. Um es noch deutlicher zu machen: Alle diese Dinge, von denen wir sprachen, alles, was uns als ein Du gegenübertritt, kann, muss sogar zu einem Es werden. Eben jener geliebte Mensch, der für uns in der Du-Beziehung nicht eine Summe von Eigenschaften war, der nicht so und so beschaffen war, sondern durchaus einzig und unbeschaffen, nur gegenwärtig, ausschliesslich gegenwärtig, nicht wissbar, nur lebbar, nur verwirklichbar, eben dieser Mensch tritt notwendig kraft der Begrenztheit all des Du, von dem wir gesprochen haben, kraft der Begrenztheit alles Dings in die Es-Welt über. Er wird zu einem Er oder einer Sie, von dem man allerdings allerlei wissen, allerlei Beschaffenheit kennen, allerlei Eigenschaft aussagen kann und muss. Eben jenes Stück Natur, das in der Du-Beziehung nicht an andere Stücke grenzte, wird zu einem erfahrbaren und den sogenannten Naturgesetzen unterworfenen und unter ihrem Aspekt zu betrachtenden, zu beobachtenden, festzustellenden Inhalt. Und um mit dem nächsten Beispiel vielleicht noch tiefer in die besondere, vielleicht darf man sagen: tragische Verknüpfung und Verstrickung dieser Dinge einzutreten, in die das Werk des Künstlers tritt durch eben seine Verwirklichung, eben dadurch, dass er es schafft, das heisst, dass er es aus einer Gegenwart zu einer gegenständlichen Wirklichkeit macht, eben dadurch tritt es in die Wirklichkeit der Dinge ein, wird es zu einem Ding unter Dingen, von dem man jetzt freilich, von dem auch der Künstler jetzt freilich nicht umhin kann allerlei zu wissen. Jetzt freilich ist es etwas, was er schon beschreiben kann, wovon er etwas weiss, was aus Qualitäten zusammengesetzt ist. Und die Tat, die der Mensch tut, der sich entscheidet, ist eben dadurch, dass sie getan ist, in die Welt des Es, des Erfahrbaren eingetreten. Sie ist gegen-
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ständlich geworden. So wird aus Gegenwart Gegenstand, und ich möchte Sie bitten, sich diese zwei Worte recht unmittelbar gegenüberzuhalten. Dann werden Sie finden, dass das eine, das etwas bezeichnet, das man gewöhnlich für etwas gebraucht, was scheinbar ganz vorübergehend ist, was immer nur im Augenblick besteht und mit dem Augenblick schon vergangen ist, dass das Wort Gegenwart in Wahrheit das Dauernde bezeichnet, das was, man darf es wohl sagen, hinüberführt, was in Wahrheit wartet, das dauernd mir gegenübersteht, was ewig ist. Das Wort Gegenstand, das Innehalten, das Abbrechen, das Verfestigen, Verdichten, Verströmen zu etwas, was nun in die Es-Welt eingepresst, eingezwängt ist. Gegenstand gibt es nur in der Vergangenheit. Vergangenheit ist Gegenstand. Indem die Gegenwart zu Gegenstand wird, wird sie zur Vergangenheit. Wir können es auch so ausdrücken: Wesenheiten werden in der Gegenwart gelebt, Gegenständlichkeiten in der Vergangenheit. Ich habe darauf hingewiesen und ich möchte es jetzt nur noch kurz wiederholen, dass diese Zweiheit entspricht der Entwicklung des Menschen und wohl auch der Entwicklung des Menschengeschlechts, dass sie sich wie in dem Leben, in dem unmittelbaren Leben jedes Einzelnen, und ich wiederhole, davon ist die Rede, es ist nicht von etwas Begrifflichem die Rede, sondern nur von dem Leben, von dem wirklichen Leben eines jeden von uns, ebenso wie in dem unmittelbaren Leben erweist es sich in der Entwicklung des Lebens. Wenn wir etwa das Kind betrachten, die Entwicklung des Ich beim Kinde, und die Entwicklung des Ich ist dasselbe wie die Entwicklung des Ichbewusstseins, beide sind voneinander gar nicht zu trennen. Die Entwicklung des Ich geschieht auf zweierlei Art. Ich wird nur durch Abhebung. Im Ursprung gibt es kein Ich. Das ursprüngliche, ungeschiedene Leben, das Naturhafte, aus dem der Mensch heraufwächst, in dem er wächst, dieses Leben kennt kein Ich, allerdings auch kein Du und kein Er, sondern es ist eben nur das ungeschiedene Leben, es ist die Schöpfung. Aus dieser Ungeschiedenheit der Schöpfungswelt, als die der Mensch geboren wird, bildet sich das Ich auf zweierlei Art heraus durch Abhebung, entweder durch Abhebung gegen eine Welt des Er, Sie, Es, wie man gewöhnlich annimmt, oder richtiger: diese Abhebung hält man gewöhnlich für die einzige, man sagt gewöhnlich: »Ich kommt zum Bewusstsein«. Das ist nun wieder die falsche Einstellung, dass man glaubt, das Bewusstsein von dem Werden des Ich zu trennen, wenn man sagt: Also das Ich kommt zum Bewusstsein, indem es sich gegen andere Dinge abhebt. Aber gerade diese Einstellung, die man für die entscheidende ansieht, ist erst sekundär, die primäre und entscheidende Ausbildung des Ich, Abhebung des Ich geschieht nicht als Abhebung gegen ein Es, sondern
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als Abhebung gegen ein Du. Der primäre Akt des Kindes, das über die ungeschiedene Schöpfung und sozusagen aus ihr herauslangt, ist das Greifen nach einem Du, und zwar nicht etwa bloss nach einem bestimmten erfahrenen Du, nach der Mutter, nach einem Gegenstand, sondern nach dem Du, nach dem noch namenlosen, noch ungewussten, unbestimmten Du schlechthin. Und an diesem Du, je stärker dieses Du dem Kinde gegenübertritt, um so stärker lernt es sich als Ich davon abheben, nämlich als das danach Langende und nicht dieses Du Seiende, als das, was zu ihm in Beziehung steht. Schon hier sind diese zwei Welten angelegt, die Welt des Du, die zur reinen Verbindung tendiert, Verbindung nicht Einung tendiert, denn Beziehung ist Verbindung, und die Welt des Es, die zur reinen Trennung, Sonderung tendiert. Objektiv formuliert: Es gibt drei Weltschichten, die Welt der Ungeschiedenheit, die Schöpfungswelt, die Welt des Es, die Erfahrungswelt, oder, wie man gewöhnlich sagt, Wahrnehmungswelt, man nimmt etwas als wahr, und die Duwelt, die Verwirklichungswelt. Und dieses Du ist nicht etwas, was erst herankommt an den Menschen, was erst hinzutritt, nicht ein empirisches Faktum, was dem Menschen dargeboten wird, sondern es ist etwas, was im Menschen schon angelegt ist. Es gibt ein eingeborenes Du. Dieses eingeborene Du entfaltet sich an dem dem Kinde Gegenübertreten, und darum ist schon hier deutlich, dass all dies nicht von der Erfahrung einzelner Objekte aus gefasst werden kann, sondern es ist etwas, was an sich besteht und sich in den sogenannten Objekten erst darlegt. Und ich möchte das nur andeuten, soweit wir es zu erschliessen vermögen beim primitiven Menschen ebenso wie beim Kinde, alle elementaren Vorgänge des Lebens des Kindes und des primitiven Menschen, das heisst, des Menschen insofern er der Ungeschiedenheit noch nahe ist, alle elementaren Vorgänge, alle elementaren Erschütterungen dieses Lebens beruhen auf der Beziehung zu einem Du, auf dem Ungeheuren, das damit dem Kinde, dem primitiven Menschen geschieht, dass dieses eingeborene Du ihm nun leibhaft, und das kann auch ein Traum sein, was man so doch nennen muss, das heisst, es kann in der Welt der Erfahrung lokalisiert ein Traum, ein Bild sein, so leibhaft entgegentritt. Denn für die Welt des Kindes und des primitiven Menschen ist das Leibhafte eben nicht von der Erfahrung aus bestimmt, und ein Bild ist ihm so leibhaft als uns nur irgend etwas, was wir durch Erfahrungskriterien als leibhaft festgestellt haben. Sind nun diese Du-Beziehungen einzelne Momente nur? Ich meine, da jedes Du kraft seiner Begrenztheit als Ding oder seines Begrenztwerdens als Ding, ich erinnere an das Werk und an die Tat, aus einem Du ein Es werden muss, sind also die Du-Beziehungen notwendigerweise Momente des Lebens, die kommen
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und gehen, Blitze am Himmel des Lebens, die verschwinden, zwischen denen es keinen Zusammenhang gibt. Wenn es so ist, und es scheint so zu sein, dann wäre ja eine Du-Welt unmöglich, sondern es wäre nur eine Unendlichkeit von Du-Momenten, Weltmomenten möglich und die zusammenhängende Welt bliebe die Welt des Es, die Welt der Orientierung, die Welt, in der es Dinge gibt, Beschaffenheiten, Gegenstände. Was könnte dann diese Wirklichkeit des eingeborenen Du bedeuten? Wäre dies nur etwas in uns Angelegtes, in uns hineingelegt, uns aufgegeben, das wir nicht zu erfüllen vermögen? Denn wie sollte eine Welt des Du, eine Welt der unmittelbaren Wahrheit aufgebaut werden, wenn notwendigerweise es unzusammenhängende Momente, vergängliche Momente sind, die allein davon in unser Leben treten? Wenn wir die zwei elementaren Grundeinstellungen, von denen ich sprach, nebeneinander betrachten, dann mögen wir wohl zunächst fühlen, die Konstruktion einer Es-Welt bedeutet irgendwie einen Verrat, einen Abfall, eine Entfernung von einer Aufgabe, die in uns angelegt ist, die Welt aus dem Du aufzubauen. Freilich eine notwendige, eine durch unser menschliches Wesen gegebene, aber immerhin eine Entfernung, einen Verrat, einen Abfall. Aber wenn in Wirklichkeit die Du-Beziehungen isolierte Momente wären, dann wäre ja dieser Abfall nicht nur notwendig, sondern ewig unüberwindlich, dann könnten wir nie aus dieser Welt der Orientierung zu einer wahren Welt aufsteigen, zumindest nicht, solange wir Wesen, Menschenwesen sind, wenn es so ist. Es gibt immer Versuche, die Welt des Geistes besteht aus Versuchen, die Welt als Ganzes, die EsWelt zu verselbständigen, sie von der Beziehung abzulösen, sie als seiend zu erkennen, ihr Geheimnis zu ergründen. Und wir fassen es von dem Du aus, von dem Wissen um das Du aus, dass alle diese Versuche vergeblich sein müssen, dass alle diese Welt, die man so nennt, nichts anderes ist als Gott entlaufene Schöpfung. Aber wenn die Du-Beziehung in isolierten Momenten besteht, dann wäre dies unüberwindliches Schicksal, dann wäre diese Flucht vor dem Du die einzige Möglichkeit, im Leben zu beharren. Wenn alles Du aus dem Wissen des jeweiligen Du gegenständlich wird, Es wird, dann gibt es, so scheint es, keine Kontinuität der Du-Welt, also keine Gegenwart, die nicht Vergangenheit wird. Dann gibt es also keine dauernde, keine lebenerfüllende Gegenwart. Dies ist die Grundfrage, von der aus, wie ich glaube, allein wir das zu fassen vermögen, was rechtmässig Religion genannt werden darf. Es ist die Frage nach der Kontinuität des Du, nach der Unbedingtheit des Du. Gott ist das absolute Du, das seinem Wesen nach nicht mehr Es werden kann. Wenn wir nicht irgend ein begrenzbares, aus seinem Wesen notwendig zum Gegenstand Werdendes, sondern das Unbedingte,
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das Seiende selbst als Du ansprechen, ist die Kontinuität der Du-Welt erschlossen. Der Du-Sinn des Menschen, jenes eingeborene Du, das in ihm liegt und sich in den Beziehungen entfaltet, der Du-Sinn des Menschen, der immer wieder die Enttäuschung des Es-Werdens leben muss, strebt über sie alle nach seinem adäquaten Du hinaus, nicht wie man etwas sucht, es gibt in Wahrheit kein Gottsuchen, sondern wie man etwas, was ganz ursprünglich bei einem ist, über alle Hindernisse hinaus, entdeckt. Es ist kein Suchen, sondern ein Finden. Es ist ein Finden ohne Suchen, es ist ein Entdecken dessen, was das Ursprünglichste und Unmittelbarste ist. Der Du-Sinn des Menschen, der sich nicht ersättigen kann, bis er das Du an sich findet, hatte es von Anfang an sich gegenwärtig und brauchte nur diese Gegenwart herauszuholen und ganz wirklich zu machen. Es ist nicht so, dass dieses Du aus irgend etwas anderem erschlossen werden muss, etwa aus der Natur als ihrem Urheber, aus der Geschichte, als das in ihr und über ihr Waltende, aus dem Subjekt als seine letzte Subjektivität und Ichhaftigkeit, die im reinen Denken erschlossen werden kann. Nicht so ist es, dass irgend etwas anderes primär wäre und dies erst daraus heraus geschlossen, sondern auch das, was uns unmittelbar und zunächst und vor allem gegenwärtig ist und dem gegenüber alles, was Aussage ist, notwendigerweise Beschränkung, notwendigerweise Verhebung, Versuch eines Abfalls bedeuten. Die reine Beziehung, die die Wahrheit des Lebens ist, findet hier ihre Erfüllung und ihren Zusammenhang zugleich. Hier liegt die Bürgschaft für den Aufbau einer Welt aus dem Du. Es wird zum nächsten unsere Aufgabe sein, von diesem erreichten Punkt aus nun jene Sphäre zu überschauen, die ich zu Anfang als notwendige Relativierung des Religiösen bezeichnet habe, das heisst, die Sphäre dessen, was man im allgemeinen Religion nennt.
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Sechster Vortrag: 26. Februar 1922 Ich habe das vorige Mal davon gesprochen, was das ist, das den Aufbau einer Du-Welt erschwert, den Aufbau einer Welt aus den Du-Beziehungen, was es ist, das es so schwer gemacht hat und macht, der Es-Welt eine Du-Welt gegenüberzustellen. Das ist die Diskontinuität der Du-Momente, die scheinbare Zusammenhanglosigkeit dieser Momente. Und es erhob sich demgegenüber die Frage nach der möglichen, das heisst nach der in der Tiefe der Wirklichkeit wirklichen Kontinuität der Du-Momente, nach dem Sein einer verborgenen, herauszuhebenden Du-Welt. Wir fragten danach, ob denn es allen Beziehungen eigne, notwendig eigne, dass sie aus Gegenwart, aus unmittelbarer Gegenwart zu Vergangenheit
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werden, dem Wesen des jeweiligen Du nach, ob es ihnen allen notwendig eigne, dass sie aus Gegenwart zu Gegenstand werden, also notwendig jedes Du zu einem Es, zu einem Er oder Sie, zu einem Ding oder Wesen in der Es-Welt werden muss. Und darauf fanden wir die Antwort, dass es eine, die entscheidende Beziehung gibt, der das nicht eignet, die Beziehung zum absoluten Du, das seinem Wesen nach nicht Es werden kann. Dieses absolute Du, das nicht aus Naturgeschichte [als] Subjekt erschlossen wird, sondern unmittelbar gegenwärtig ist, dieses absolute Du in unserer Beziehung zu ihm ist der unverbrüchliche Kern einer zusammenhängenden Du-Welt. Von hier aus kann sich der Zusammenhang der Du-Momente stiften. Diese Beziehung können wir zum Unterschied von allen andern, in deren Wesen schon der Keim zu ihrem Übergang in die Es-Welt liegt, diese Beziehung können wir zum Unterschied von allem die reine Beziehung nennen. Und ich wiederhole, was ich zu Anfang sagte, was ich Sie dauernd während dieses ganzen Wegs, den wir zusammen machen, festzuhalten bitte: alles dies, was wir hier betrachten, ist nicht psychologisch zu fassen. Das gilt von allen Beziehungen, von denen wir gesprochen haben. Die Beziehung – ich erinnere Sie an die Beispiele, von denen wir das vorige Mal sprachen – die Beziehung zum geliebten Menschen, die Beziehung zur Natur als einem Du, die Beziehung zum konzipierten Werk, zur eigenen Schöpfung als einem Du, die Beziehung zur Tat in der Entscheidung als einem Du, alles dies ist nicht psychologisch zu fassen, nicht als etwas, was im Menschen vorgeht, sondern was zwischen dem Menschen und einem seienden Du geschieht. Sonst haben wir kein Ganzes in den Händen, sondern ein Fragment, mit dem wir nichts anfangen können. Seiend ist dieses Du, nur eben seiend nicht in der Art irgend eines vorhandenen, vorgefundenen Es, sondern seiend in der Art des Sein, das sich nur in der Beziehung erschliesst. Und dies gilt mit besonderer, unvergleichlicher Kraft von der reinen Beziehung. Auch sie, und mehr als jede, sie ist nicht psychologisch zu fassen, sondern als ein Geschehen, in dem wir stehen, eine Beziehung, so real, unmittelbar präsent gefasst, wie wir nur irgend eine zu fassen vermögen. Wie wir, wenn wir eines Wegs gehen, einem Menschen begegnen, der uns entgegen kam und auch [eines] Wegs ging, nur dass wir eben unser Stück kennen, das andere aber nur in der Begegnung leben, so ist es hier. Jedes wirkliche Geschehen des Geistes ist Begegnung, und dieses vor allem, ein Ausgehen und ein Begegnen. Wir wissen, in der Art des Gelebthabens wissen wir unser Ausgehen, unser Ausgegangensein, dieses Stück unseres Wegs. Das andere widerfährt uns nur, wir wissen es nicht. Es widerfährt uns in der Begegnung. Dieses Andere können wir Gnade nennen. Aber wir verheben uns an ihm, wenn wir davon reden,
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wenn wir davon als einem Es, etwas anderem, als in der Begegnung besteht, reden. Was uns in der Begegnung angeht, das heisst, das, was wir mit unserem Leben davon wissen, von uns aus, das ist nicht etwa ein Warten, nicht etwa ein Offensein, nicht was man Rezeptivität nennt, sondern von uns aus ist es gesammelte Tätigkeit. Aber freilich, gesammelte, geeinte, ganze, das heisst, eine Tätigkeit, die nicht als solche empfunden wird, weil sie von der Tätigkeitsempfindung, die wir von allen andern her kennen, wesentlich verschieden ist, weil sie von der Tätigkeitsempfindung, die wir von aller schiedlichen, von aller gespaltenen Tätigkeit, das heisst, von aller Tätigkeit aller unserer Tage her kennen, wesenhaft verschieden ist. Das ist die Tätigkeit des ganz gewordenen Menschen, die man in einzelnen Religionen das Nichttun genannt hat, wo sich nichts Einzelnes mehr, nichts Teilhaftes mehr am Menschen rührt, also auch nichts von Menschen in die Welt eingreift, sondern der ganze, in sich geschlossene, ruhende Mensch wirkt, ausgeht, wo der Mensch eine wirkende, eine ausgehende Ganzheit geworden ist. Denn nur ein Ganzes kann das Ich der reinen Beziehung sein, nur ein Ganzes kann zu dem absoluten Du Du sagen. Dazu bedarf es nicht etwa eines Abstreifens der Sinnenwelt als einer Scheinwelt. Es gibt keine Scheinwelt, sondern es gibt nur unser zulängliches oder unzulängliches Verhältnis zur Welt. Unser unzulängliches Verhältnis zur Welt, das ist eben das Erfahren, von dem wir gesprochen haben, das Die-Welt-Haben als eine Summe von Es-Inhalt. Aber nur dies ist aufzuheben, nicht die Welt. Es bedarf keines Ueberschreitens der sinnlichen Erfahrung, wie man wohl sagt. Jede Erfahrung, wie immer sie beschaffen sei, könnte uns nur ein Es geben. Es bedarf keiner Hinwendung zu einer Welt der Ideen und Werte, denn diese Welt der Ideen und Werte kann nur der Ueberbau einer Es-Welt sein und nicht Du, nicht Gegenwart, nicht das, was zu uns in unmittelbare, gegenwärtige Beziehung tritt. Alles dessen bedarf es nicht. Kann man sagen, wessen es bedarf? Ja und Nein. Nicht im Sinne einer Vorschrift. Alles das, was je in der Geschichte des Menschengeistes viele Male und viele Zeiten durch je und je ersonnen und erfunden worden ist an Vorschrift, an vorgeschriebener, angebbarer Vorbereitung, Uebung, Meditation, alles das hat mit dem ganz Einfachen und Entscheidenden, wovon wir sprechen, nichts zu tun. Was immer für Vorteile an Erkenntnis oder Kunst, Macht, Wirkung dieser oder jener Uebung zu verdanken sein mag, all das bleibt unzulänglich, bleibt unsinnig und wirklich töricht gegenüber dem, wovon wir sprechen, es rührt nicht daran. All das gilt in der Welt, die es eigentlich meint, und alles, was so gewonnen wird, hat nur in der Es-Welt seinen Platz und führt nicht einen Schritt, führt nicht den Schritt aus ihm. Im
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Sinne von Vorschriften ist das Ausgehen unlehrbar. Und dennoch ist es aufzeigbar, aber aufzeigbar nur in dieser ganz einfachen Weise, wie all dies aufzeigbar ist, wovon wir sprechen, dass man gleichsam einen Kreis zieht, der all das ausscheidet, was nicht hierher gehört, dass man gleichsam diesen bannenden Kreis zieht und aufzeigt, und damit ist freilich dem Menschen, dem einzelnen Menschen, der Person je und je der Wink gegeben, der dann freilich erst von der Person mit ihrem eigenen persönlichen, nicht vorschreibbaren, nicht allgemein zu fassenden, sondern eben nur in ihrem einzigen Leben präsenten Wirklichen wirklich zu machen, zu erfüllen ist. In diesem Sinne meine ich es, dass es gilt, nicht aus der Welt zu gehen, sondern mit ihr, sie nur nicht zur Es-Welt werden zu lassen, sie nur nicht zur Es-Welt gerinnen zu lassen, das heisst, sie mitzunehmen, sie, um ein chassidisches Wort zu gebrauchen, zu erheben, das heisst wohl auch zu ihrer Wurzel zu erheben, nichts draussen lassen, alles bejahen, aber alles, alles nicht als eine endliche oder unendliche Zahl von Dingen oder von Vorgängen, sondern alles im All-Du. Und weiter, nicht aus den einzelnen Du-Beziehungen treten, nicht etwa auf sie Verzicht leisten, sie gleichsam zurückdrängen, sondern sie alle einströmen lassen in die absolute Beziehung, in die Beziehung, die weder aus ihrer Sammlung entsteht noch aber aus ihrem Abscheiden, sondern aus ihrem All-Werden. Und ich bitte Sie, dies alles so konkret zu fassen, als Sie es jeder aus seinem Leben, aus dem, was er selbst unmittelbar von der Du-Beziehung weiss, zu fassen vermögen. All dies soll nicht draussen bleiben. Und weiter, kein Mittel bestehen lassen, in dieser entscheidenden Beziehung kein Mittel bestehen lassen, sondern jedes Mittel, alles was noch Mittel und Mittler sein will, mitnehmen in die Unmittelbarkeit. Es gibt eine indische Legende, die Ihnen vielleicht bildhaft das noch verdeutlichen kann. Es wird von einem Asketen erzählt, M …, der sammelte ungeheure Zeiten (in diesen indischen Legenden wird gewöhnlich von tausenden und tausenden von Jahren gesprochen), ungeheure Zeiten sammelte er all seine Kraft. Er zog gleichsam all seine Kraft in sie selbst ein, und diese Kraft strahlte immer mächtiger aus. So mächtig, dass sie schliesslich die Götter anrührte. Und als die Götter ihm nun Versuchung um Versuchung sandten, um von seiner Kraft Stücke abzulösen, um seine Kraft zu zerstreuen, und er ihren Versuchungen widerstand und seine Kraft nur noch mehr wuchs, da zwang sie schliesslich die Götter, herniederzusteigen und ihn nach seinem Wunsch zu fragen. Und es wird erzählt, wie Indra, der Fürst der Götter, vor dem Asketen erscheint und ihn fragt, was sein Begehr sei. Und er antwortet ungefähr: Ich möchte schauen. Ich möchte das Wesen selbst schauen. Und in diesem Augenblick ist ihm die Bitte
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gewährt, und all das Feste, worin er stand, diese ganze wohlgeordnete Welt der Formen und Farben, der Dinge und Wesen, des Raumes und der Zeit, all diese klare übersichtliche, geordnete, aufgebaute Welt zerfällt. Er steht in einem ungeheuren Wirbel des Unendlichen, des Chaos. Er kann nichts mehr fassen, er kann nichts mehr wahrnehmen, er steht in nichts, auf nichts mehr. Er ist von dem Wirbel hingenommen und kann sich an nichts mehr halten, mit keinem Sinn und mit keinem Organ. Aber in dem Augenblick, wo er sich ganz verloren glaubt, da spaltet sich gleichsam, klärt sich der Wirbel, und M … sieht aus dem Wirbel emportauchend ein neugeborenes Kind, und er schaut dieses Kind an, gewinnt gleichsam das Sein aus diesem Anschauen und verehrt das Kind und fühlt, dass er dieses Kind liebt, und in diesem Augenblick tut das Kind den Mund auf und atmet ein, und atmet ihn ein. Und er fühlt, wie er in das Kind eingeht, und nun plötzlich sieht er in dem Kinde diese ganze Welt der Dinge und Wesen, der Räume und Zeiten wieder, alles das in seiner Fügung und Notwendigkeit. Und da atmet ihn das Kind wieder aus und alles ist vorüber, er steht wieder an der Schwelle seiner Einsiedelei und schaut in die vertraute Welt. Dieses einfache Gegenübertreten ist das, was immer wieder in allen Religionen als das Wirkliche ihrer Wirklichkeit gefasst worden ist. Es ist aber damit – und da müssen wir nochmals den Kreis ziehen und das ausscheiden, was nicht dies ist –, es ist auch damit, mit diesem ganz einfachen Sich-in-Beziehung-setzen auch kein sogenannter mystischer Akt gemeint, es ist nichts anderes gemeint als die Akzeptation, die Annahme der unmittelbaren Gegenwart. Freilich je weiter der Mensch sich in die Es-Welt verlaufen hat, je weiter er sich in ihr verloren hat, um so grösseren Einsatz setzt diese Akzeptation voraus, um so schwereres Wagnis, um so gewaltigere Umkehr, ein Aufgeben nicht etwa, wie die Mystik zumeist meint, des Ich, das Ich ist wie zu jeder Beziehung zur reinen Beziehung unerlässlich, denn jede Beziehung ist es eben als das zwischen einem Ich und einem Du Geschehene, ein Aufgeben also nicht des Ich, sondern jenes falschen Selbstbehauptungstriebs, der den Menschen vor der Beziehung in die Orientierung, in die Es-Welt, in das Haben der Dinge flüchten lässt. Ich erinnere Sie an das, was ich von den Schichten gesagt habe, die wir sowohl im Leben des einzelnen Menschen als im Leben des Menschengeschlechts unterscheiden können, von der Schicht der Ungeschiedenheit, aus der nun hervorgeht die Schicht der Scheidung, der Erfahrung, und verborgen, sich aber immer offenbarend zugleich die Schicht der Verwirklichung, der Einung. Wenn man das biblische Gleichnis gebrauchen darf, zunächst der Mensch, der vom Baum der Erkenntnis noch nicht gegessen hat, der in der Ungeschiedenheit, bi-
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blisch gesprochen, in der Ungeschiedenheit von Gut und Böse steht. Zum zweiten der Mensch, der vom Baum der Erkenntnis isst, ohne auch vom Baum des Lebens zu essen, der Mensch, der in der Scheidung von Gut und Böse steht, in der Trennung der Welt. Und zum dritten der umkehrende Mensch, aber es gibt keine Umkehr zu Nicht-gegessen-haben, sondern Umkehr bedeutet den Weg zum Baum des Lebens, zur Uebereinung der weltgetrennten Welten im absoluten Ich, in der reinen Beziehung und der Welt, die aus ihr aufgebaut wird. Ich kann dies hier, gerade diese Folge hier an dieser Stelle nur andeuten, wir werden wohl von ihr noch zu sprechen haben. Ich sagte, es ist kein mystischer Akt gemeint, es ist nicht etwas gemeint, was einem in irgend einer bestimmten Weise gearteten oder disponierten Menschen vorbehalten wäre, sondern das jedem Menschen, der es tut, erschlossen wird. Es ist also auch nicht gemeint das, was man Exstase nennt. Und es wird wohl gut sein, wenn wir uns einen Augenblick vergegenwärtigen, in welchem Verhältnis der Akt der Exstase zu diesem ganz Einfachen und Allmenschlichen steht, wovon wir reden. Man spricht in der Mystik wohl beim exstatischen Akt von einer Vereinigung. Es wird so gesprochen, als ob es ein Jenseits der Beziehung, ein Jenseits des Ich und Du gäbe, eine Einheit über diese Zweiheit hinaus. Es ist dies etwas, wovon es schwer ist zu reden und wovon es mir mit der Zeit immer schwerer geworden ist zu reden. Dennoch will ich es mit ein paar andeutenden Worten, sofern es uns hier angeht, versuchen. Das, was man in der Mystik zumeist Vereinigung, Union nennt, bedeutet, ich möchte es zunächst begrifflich formulieren, ich werde dann erklären, bedeutet eine Hypostasierung der reinen Beziehung. Ich will das erklären. Hypostase ist ein zur selbständigen, zur Würde der selbständigen, einer selbständigen Substanz erhobenes Attribut, etwas was nur besteht, in Wirklichkeit nur dadurch besteht, dass es einer Substanz anhaftet, nun aber gefasst wird als selbständige Substanz, so etwa in der Geschichte der Mystik das Wort Gottes, die Weisheit Gottes und dergleichen. Es ist aber möglich, nicht bloss Attribute, sondern auch Beziehungen zu Hypostasen, zu solchen selbständigen Substanzen zu erheben. Ich meine damit, was in der Mystik Einheit genannt wird, das ist nichts anderes als die Dynamik der Beziehung, also es ist nicht eine entstandene, in diesem Augenblick entstandene Einheit, die über die Beziehung hinausgeht, die Ich und Du aufhebt, verschmilzt, sondern es ist die Dynamik der Beziehung selbst, welche Dynamik sich gleichsam vor die Glieder der Beziehung stellt, sie verdrängt, verdeckt, wo die zwei Glieder der Beziehung, die in der Wahrheit der Beziehung einander unverrückbar gegenüberstehen. Wohl ist auch hier Beziehung, aber mit einer seltsamen Gefahr, mit der Ge-
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fahr einer Uebersteigerung des menschlichen Anteils, des menschlichen Aktanteils an der Beziehung, eine Uebersteigerung, welche die Beziehung aufheben will und dadurch die Beziehung trübt, gleichsam ihre Umrisse, ihre Wirklichkeit schwankend macht. Dadurch, durch diese Uebersteigerung wird es unmöglich, die Beziehung in den Fortgang des Lebens zu überleiten, sie einströmen zu lassen in den Aufbau einer DuWelt. Ich möchte schon jetzt vorwegnehmend sagen, es ist das Thema, das uns noch beschäftigen wird, wie auf der andern Seite das, was man geschichtliche Religion nennt, so ist auf dieser Seite, von der wir jetzt sprechen, die Mystik die Gefahr des Abbrechens, das Hindernis der Bildung einer Kontinuität der Du-Welt. Diese esoterische, privileghafte Mystik und die theologische Dogmatik sind die zwei Pole, die die DuBeziehung jeweilig anziehen und aufheben. Ehe ich nun weiter gehe, möchte ich, da wir nun wieder ein Stück Wegs gleichsam abgrenzen können, Sie wieder auffordern, wenn etwas in dem bisher Bestimmten unklar geblieben ist, zu fragen. Es ist vielleicht jetzt von besonderer Wichtigkeit, weil wir nun gleichsam in eine neue Dimension einzutreten haben, nämlich in die Frage nach dem Geschichtlichen, nach der Religion im engeren Sinne, nach der Versetzung Gottes in die Es-Welt. Es war gerade im letzten Teil notwendig, manches Grenzhafte begrifflicher zu sagen, als es im Lauf dieser Vorlesung geschehen ist, und zwar deshalb, um das, wovon wir sprechen, mit aller Schärfe abzugrenzen gegen das Andere. Aber gerade das Begriffliche ist auch immer notwendig das Differenzierende und darum ist es mir lieb, wenn Sie mich jetzt, ehe wir aus dieser Sphäre in eine andere treten, fragen, wenn etwas unklar geblieben ist. Frage: … warum ist diese Beziehung zu dem Du nicht in der Realität, warum muss es dann zu dem transzendenten Du in Beziehung treten? Antwort: Ich meine durchaus das Du in der Realität. In dem, was ich sage, ist von Transzendenz gar nicht die Rede. Ich möchte wiederholen: Ob Gott transzendent oder immanent ist, ist nicht eine Sache Gottes, sondern eine Sache des Menschen. Es ist durchaus gar nicht irgend etwas Transzendentes gemeint. Transzendent, das hiesse doch etwas, wozu wir uns nicht in unmittelbare Gegenwartsbeziehung setzen können. Also ich meine gar nichts Transzendentes. Solange wir von transzendent sprechen, meinen wir offenbar nicht das Gleiche. Ich meine das einfache, in unmittelbarer Präsenz gegenwärtige Du, so gegenwärtig wie nur irgend ein Du einer menschlichen Beziehung, nur dass dieses Du seinem Wesen nach nicht … Frage: Dann kann ich also statt »Du« auch »mein anderes Ich« sagen? Antwort: Was Sie sagen, darauf kommt es ja gar nicht an. Wie Sie das
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Du nennen, darauf kommt es nicht an. Nur, ich weiss kein besseres Wort in der Menschensprache als Du, wenn ich »Ich« sage, so meine ich eben durchaus etwas anderes, als wenn ich »Du« sage. Also wenn Sie diese Dinge, diese ganz klaren, bedeutsamen Grundworte verschieben, so scheint mir, dass das was gemeint ist, an unmittelbarer Klarheit verliert. Denn was das ist, das »Ich«- und »Du«-Sagen, das wissen wir doch aus unserem ganzen Leben so deutlich, wie ein anderer Mensch es uns gar nicht sagen kann. Frage: Ich meine, wenn der Künstler von diesem Künstlerischen erfasst wird, von dem wir gesprochen haben, zu dem er »Du« sagt, so ist es doch genau so gut, von uns aus gesprochen, sein Ich. Antwort: Nein, ganz und gar nicht. Niemals wird der wirkliche Künstler im wirklichen Moment der Konzeption das Werk, das er schaffen, finden, herausholen, wirklich machen will, als sein Ich empfinden, im Gegenteil, er empfindet es durchaus als das andere, zu dem er in dieser einzigartigen Beziehung steht, das heisst, in dieser Beziehung des Schauens und Verwirklichenwollens, dieses Entdeckens, dieses Schaffenmüssens, also durchaus nicht als eine Spiegelung, als eine Ablösung, als ein Fragment, sondern durchaus als das ihm gegenüberstehende Werk, das gar nicht so beschaffen ist wie er, von dem er freilich auch nicht sagen kann, wie es beschaffen ist, ebensowenig von sich, wenn er von sich gegenwärtig weiss, sondern wenn er weiss, wie es beschaffen ist, dann ist er nicht mehr in der Konzeption. Aber er weiss, dass es sein Werk ist, wie er seinem Ich gar nicht gegenüberstehen kann, es sei denn, dass das Ich sich spaltet, dass in dem Ich selbst sein Gegenüber entsteht und dass der Mensch allerdings an den Rand tritt. Denn hier steht er dann nicht mehr im Zusammenhang mit seinem Leben, sondern in ihm geschieht das, was man gewöhnlich in der Wissenschaft das Pathologische nennt, aber was ich gar nicht so nennen will. Wenn das Ich sein natürliches Du nicht findet, dann entfaltet sich dieses eingeborene Du sozusagen am unnatürlichen, am unmöglichen Gegenstand, am Ich, es entfaltet sich da, wo es eigentlich gar keinen Raum zur Entfaltung hat. Es entsteht der Widerspruch, der Sprung, das Gegenübertreten in sich selbst. Das ist ein Problem für sich. Manches, was manche Menschen als religiös ausgedeutet haben, war vielleicht nichts anderes. Aber das scheitert stets dann, wenn der Mensch die einfache Forderung des natürlichen Lebens, einem wirklichen Du wirklich gegenüberzutreten, irgendwie nicht erfüllen kann, das heisst im Grunde Leben, das heisst nicht Starrheit, da flüchtet dieses Bedürfnis dahinein, wo es rechtmässigerweise nicht erfüllt werden kann. Frage: Sie sprachen von Beziehung zum absoluten Ich. Ich kann ver-
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stehen, wenn man Du-Beziehungen absolute Beziehungen nennt, aber ist das nicht dann vielleicht auch eine Hypostasierung, wenn ich sage: reine Beziehung zum absoluten Du? Die Du-Beziehung kann ich absolute Beziehung nennen, aber die Beziehung zum Absoluten … Antwort: Ich habe nicht gesagt zum Absoluten, sondern ich habe gesagt zum absoluten Du, das heisst zu dem Du, das seinem Wesen nach nicht mehr Es werden kann, nichts weiter. Und darum nannte ich jedes andere Du relativ, weil es seinem Wesen nach Es wird. Es wird also nicht hypostasiert. Es wird durchaus nicht von der Beziehung an sich, also einem Absoluten gesprochen, und erst recht nicht von dem Du etwa als einem Gegenstand, der an sich anders denn als Du einer Beziehung absolut wäre. Von alledem sprechen wir nicht, sondern wir sprechen nur von der Beziehung zum absoluten Du, der gegenüber freilich jede andere relativ ist, nicht absolut, sondern relativ, denn jede andere ist so beschaffen, dass sie dem Wesen des Du nach – das können Sie ja an dem Beispiel nachprüfen – dem Wesen des Du nach in eine Es-Relation übergehen muss. Sie kann nicht Gegenwart bleiben dem Wesen des Du nach. Hier ist aber die Beziehung, die vielleicht, davon werden wir noch sprechen, unserem Wesen nach, nicht Du-Beziehung bleibt, aber dem Wesen des Du nach nicht aufzuhören braucht, nicht Vergangenheit, nicht gegenständlich zu werden braucht. Also in diesem Sinne, ich gebrauche das Wort »absolut« wie die andern Worte, die ich gebrauche, nicht im Sinne irgendeiner Begriffswelt, irgendeiner philosophischen Begriffswelt, sondern in diesem ganz bestimmten konkreten Sinn, von dem wir sprechen. Ich gebrauche also das Wort »absolut« in dem durchaus konkreten Sinn: Hier ist eine Beziehung, die nicht dem Wesen des Du nach umgebogen werden muss. Darum sage ich: reine Beziehung. Auch dies ist nicht schulphilosophisch gemeint, sondern in diesem ganz bestimmten Sinn des Lebens. Frage: … Gebrauchen Sie noch das Mittel der Sprache, dann ist die Beziehung nicht so unmittelbar, als wenn sie etwa nur einander anzuschauen brauchen … Antwort: Ich habe durchaus hervorgehoben, dass von einer Verschmelzung nicht die Rede ist, sondern von einem Gegenübertreten, aber von Wesen zu Wesen, von ganzem Ich zu ganzem Du. Das heisst, nicht also irgendwie das, was Absplitterung vom Ich, Mittel ist immer Differenzierung, Mittel ist immer ein Teil, wenn ich sage, das Mittel hinübernehmen in die Unmittelbarkeit, das heisst nichts anderes als die Totalität. Mittel ist immer etwas Abgesplittertes. Wenn Sie etwa in den Religionen nachprüfen werden, was Mittler ist, so werden Sie sehen, es ist immer …
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Frage: Was meint die Mystik, wenn sie von Union spricht? Antwort: Das, was wir meinen, ist nicht Union. Union, das meint jene seltsame wirklich randhafte Uebersteigerung der Du-Beziehung, wo die Beziehung selbst, ihre Einheit so ungeheuer stark, vehement gelebt wird, dass ihre Glieder zu verblassen, abzusterben scheinen. Es ist das etwas Randhaftes, gewissermassen eine neue Einheit, die entsteht. Was man aber so nennt, ist in Wahrheit nichts als die so vehement gelebte Beziehung, dass Ich und Du darüber, über dem Leben dieser Beziehung vergessen werden. Solange Sie da noch vom Ich irgendetwas hinübernehmen, dann stimmt es ganz und gar nicht. Frage: … nicht vom körperhaften Ich, sondern von dem wesenhaften, in dem ich das Göttliche schauen möchte. Antwort: Das kann ich nicht vollziehen. Ich weiss, dass ich »Ich« sagen kann. Alles andere ist allegorisch. Daher, dass ich selbst »Ich« sagen kann, nur daher weiss ich vom Ich. Das, was ich meine, ist nichts Abgeleitetes, sondern Unmittelbares. Wenn ich »Du« sage, so ist das nicht abgeleitet. Das ist nicht irgend ein psychologischer Prozess vom Ich aus. Es gibt natürlich in all dem eine Grenze der Mitteilung. Das glaube ich schon angedeutet zu haben, will es aber noch einmal ganz klar sagen. Die Grenze der Mitteilung, das ist das Leben jedes Einzelnen von Ihnen, das Leben. Frage: Es gibt doch keine Scheinwelt, wie Sie sagen? Antwort: Dann sprechen wir schon aneinander vorbei. Ich wüsste nicht, was es so Wirkliches, so Konkretes, so Unverbrüchliches und Unerschütterliches geben kann, als wenn ich »Ich« sage. Wenn Sie von sich selbst das Ich als Schein empfinden, ich kann es nicht. Auch nicht im Sinne Buddhas. Hier wird nur gesprochen von einem Abstreifen der bestimmten, dieses Ich störenden Festigung. Scheinwelt und alle diese Dinge sind sekundärer Art, sind erst Ueberbau. Ich appelliere an nichts anderes als an das, was jeder Einzelne von Ihnen unmittelbar von sich weiss, wenn er es nur wissen will, das heisst, wenn er um alle die Dinge, die er erfahren hat, sich fragt, ganz redlich sich besinnt auf seine letzte Lebenswirklichkeit, dann allerdings sprechen wir die gleiche Sprache. Dies ist die Grenze, diese Grenze kann ich nicht durchbrechen. Frage: Kommt man zu dieser Beziehung, zum absoluten Du, das ich, weil ich es mir selbst so besser klar machen kann, Gott nennen möchte, kommt man dazu dadurch, dass man zu den einzelnen Dingen Du sagt und erst einmal die Welt mit sich eint, oder dadurch, dass man sich zu Gott durchgerungen hat? Antwort: Beides. Von dem einen haben wir schon gesprochen, dass es der Du-Beziehungen, der reinen Du-Beziehungen bedarf, die alle ein-
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strömen sollen in die entscheidende Beziehung. Davon haben wir gesprochen als von der einen Seite. Frage: Das heisst also, dass man sich in Beziehung zu Gott bringt? Antwort: Nein. Das eine, dass jede wirkliche Beziehung, in die wir treten, die entscheidende Beziehung nur zu fördern, ihr zu helfen geeignet ist, wenn wir sie einströmen lassen, davon haben wir gesprochen. Das ist die eine Seite dessen, was Sie sagen. Von der andern Seite, wie nun aber die Beziehungen bestimmt, verwandelt, die Beziehungen, die einzelnen Beziehungen zu dem jeweiligen Du, die Welt-Beziehungen, die menschlichen Beziehungen, wie sie verwandelt werden durch die absolute, durch die reine Beziehung, davon wollen wir eben noch sprechen das nächste Mal. Das heisst, ich sprach, ich erinnere Sie daran, von dem Aufbau einer Du-Welt und sagte: Hinderlich ist ihre Diskontinuität, ihre Zusammenhanglosigkeit, es sind immer einzelne Du-Momente, Du-Beziehungen, die zwischeneinander in keinem Zusammenhang stehen, und ich sagte: Es gibt etwas, was diesen Zusammenhang zu schaffen vermag, das ist die reine Beziehung zum absoluten Du. Frage: Dann kommt man aber doch erst dadurch, dass man an Gott glaubt, dazu, dass man zu den andern Dingen Du sagen kann und in allen das Du sieht. Antwort: Nein, so ist es nicht, sondern man kommt erst dann zum Zusammenhang alles dessen, wozu man Du sagen kann, zur Einheit des Du und der Welt, an sich kann man immer, kann jedes Kind Du sagen, das Du-sagen ist das Einfachste, wovon wir sprechen, wie ja schon das Einfachste, das Ursprünglichste des menschlichen Lebens überhaupt, das Nach-dem-Du-Greifen, das Zum-Du-Hinströmen, dazu bedarf es gar nichts Persönlichen, auch nicht einmal des An-Gott-Glaubens, wie Sie sagen. Das Glauben würde ich für keinen ganz adäquaten Ausdruck halten. Aber darauf kommt es nicht an, das, worauf es ankommt, ist der fehlende Zusammenhang, das kann erst hervorgehen aus dieser entscheidenden Beziehung. Die Einheit des Du in der Welt, nicht die einzelnen Dubeziehungen, aber ihr lebendiger Zusammenhang, dass sie nicht eine von der andern abgelöst bleiben, nicht Atome, die wir nicht zusammenzufügen vermögen, sondern Teile eines Lebendigen. Frage: Also das, was […], das ist also die Einung all der vielen Du, die man erst gewinnt, wenn man das eine grosse Du erkennt, das wir Gott nennen, wenn man zu ihm in Beziehung tritt. Antwort: Man kann es so ausdrücken. Es kommt im Grunde darauf an, dass man diese Dinge empfindet. Und wenn man es richtig empfindet, kommt es nicht so sehr darauf an, wie man es sagt.
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Wir stehen an einem sehr schwierigen, wohl dem schwierigsten Punkte dieses Weges, den wir zusammen gehen. Schon bisher bestand die eigentliche Verantwortung bei jedem Schritt darin, wohl entschlossen und entschieden hinauszugehen über den gegenwärtigen Individualismus und Relativismus hinaus, dennoch aber nicht einen Schritt zu wagen dahin, wo nicht wahrhaft echter, zulänglicher Geistesboden unter unseren Füssen ist. Wohl hinauszugehen über die Betrachtung, dass das Religiöse beschlossen sei im menschlichen Individuum, dieser Betrachtung abzusagen, aber doch mit der uns auferlegten Bescheidung die menschliche Person als den Ausgangsort und als den Ort des entscheidenden religiösen Vorgangs zu fassen, hinauszugehen über die Auffassung, dass es verschiedene sozusagen gleichberechtigte, weil von gleichen berechtigten Subjektivitäten ausgehende religiöse Betrachtungen gebe, und doch stehen zu bleiben bei der Subjektivität und nicht den Boden eines Objektivums zu betreten, den zu betreten wir nicht befugt sind. Diese besondere Verantwortung, die wir als eine zeitgebundene nehmen können, als entsprechend dieser bestimmten Zeit, diesem Augenblick, in dem wir leben, dem Augenblick zwischen den Worten, zwischen den Welten, dem Augenblick der tiefsten Talsenkung, man kann diese selbe Verantwortung vielleicht auch anders über die Zeitgebundenheit hinaus fassen. Wie immer dem sei, sie wird besonders schwierig und streng an diesem Punkt, an dem wir jetzt stehen, wo wir das, was wir als das Wesen des religiösen Vorgangs erkannt haben, nun gegenüberhalten sollen der Religion und den Religionen, wie sie sich in der Geschichte des Menschen entfaltet haben. Wir haben gesehen, dass aus der Urschicht der Ungeschiedenheit in der menschlichen Person wie wohl im Menschengeschlecht zwei Wege führen: der Es-Weg, der zur reinen Trennung führen will, das heisst, zu der sogenannten Weltkenntnis, Orientierung in der Welt und zur Weltbenützung, das ist der Aspekt, dass einem die Welt gegeben ist, sich in ihr auszukennen und sie zu gebrauchen; und der Du-Weg, der führen will zur reinen Verbindung, das heisst, zu Weltliebe und Welterschliessung, das ist der Aspekt, der die Welt nicht nimmt als ein Gegebenes, so und nicht anders Beschaffenes, das man nur zu kennen und zu gebrauchen hat, sondern als etwas, das man ihm gegenübertretend in der Du-Beziehung zu lieben und es durch diese Liebe und mit ihr zu erschliessen, also erst zu seinem wahrhaften Sein zu bringen hat. Die Es-Welt, das haben wir gesehen, hat ihre natürliche raumzeitliche Kontinuität, da alle Dinge und Vorgänge unmittelbar in diese Welt eingestellt werden können, also einen lückenlosen Zusammenhang in Raum und Zeit bilden. Diese Es-
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Welt entsteht und erhält sich durch unsere stete Orientierung in der raumzeitlichen Welt. Eine Du-Welt, das haben wir auch gesehen, ist nicht entstanden zunächst, so mussten wir es fassen, infolge der Diskontinuität, also infolge der Zusammenhanglosigkeit der einzelnen Du-Beziehungen, der einzelnen Du-Momente in Raum und Zeit. Diese Beziehungen, diese Momente bleiben nicht Gegenwart dem Wesen des jeweiligen Du nach, das immer wieder aus Gegenwart zu Gegenstand werden muss. Nur die Beziehung zum absoluten Du ist wesenhaft anderer Art. Aber auch in ihr, in der reinen Beziehung kann der Mensch, nicht mehr dem Wesen des Du nach, aber seinem Menschenwesen nach nicht verharren. So scheint also auch die Du-Beziehung, die reine Du-Beziehung keine Kontinuität zu gewähren. Aus diesem ungeheuren übermächtigen Schein des Nichtgewährens, und von der Ueberwindung dieses Scheins zu sprechen, das wird unsere letzte Aufgabe sein, davon haben wir in dem Augenblick noch nicht zu sprechen, ich sage, aus diesem übermächtigen Schein der Nichtgewährung einer Kontinuität der Du-Welt durch die reine Du-Beziehung ist zunächst die Existenz der Religionen und ist die Paradoxie der Religionen insbesondere als eines Plurals zu erfassen. Und hier ist der Augenblick, in dem im Zusammenhang dieses gemeinsamen Weges ich nicht umhin kann, um das, was ich meine, wie ich immer bestrebt gewesen bin, so deutlich zu machen, als es möglich ist, das ist der Augenblick, wo ich in diesem Zusammenhange notwendigerweise Ich sagen muss, in einem andern Sinn, als ich es schon getan habe in einem persönlich bekennenden Sinn. Und zwar gerade deshalb, weil es, wie wir gesehen haben, Notwendigkeit ist, sinnvolle Nötigung, vom Ich auszugehen. Die religiöse Wirklichkeit geht niemals von einem Wir aus, sie kommt zum Wir. Sie geht immer aus von dem Ich, das allein der eine Träger der Du-Beziehung, aller Du-Beziehungen, also auch der reinen Du-Beziehung ist. Wir lehnen ab den falschen religiösen Individualismus, der das religiöse Leben im Ich beschlossen glaubt. Wir stehen festen Fuss fassend auf, wenn man will, kann man ihn auch so nennen, einem religiösen Individualismus, der das Ich nimmt als den unbedingten Ausgangsort, das Ich, das erst durch seine absolute Beziehung befähigt wird, wahrhaft in ein wahres Wir einzutreten. Es war kurz nach Ostern des Jahres 1914, als mich ein alter Bekannter, ein alter englischer Geistlicher, den ich schon seit vielen Jahren kannte, in einem Vorort Berlins, wo ich damals wohnte, besuchte. Dieser alte Mann, ein sehr schlichter gläubiger Christ (der darum vieles, gerade darum vieles für die Wiederkehr der Juden nach Palästina getan hat) – Sie werden, wenn die Tagebücher Theodor Herzls erscheinen, darin viel von ihm lesen –, dieser Mann, den ich seit einigen Jahren nicht gesehen hatte, sagte sich
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unvermutet an einem Morgen bei mir an und fragte, ob er gleich zu mir kommen könne. Ich bat ihn darum. Nach einer Stunde etwa war er bei mir. Ich erzähle Ihnen das, um Sie in die Atmosphäre der Begebenheit einzuführen. Das, was ich zunächst zu sagen habe, ist nicht das, um wessenwillen ich es Ihnen erzähle. Nachdem er mich begrüsst hatte, sagte er: »Mein lieber Freund, ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass in diesem Jahre der Weltkrieg sein wird«, und er entfaltete eine graphische Darstellung der Weissagungen Daniels und bewies mir, dass das gerade in diesem Jahre stattfinden müsse. Nun, das ist nicht das Wichtige dabei. Denn kein Mensch braucht zu wissen, aus welchen Quellen ihm ein Vorgefühl zufliesst. Aber als ich diesen kindlichen alten Mann, der mich durch die Art, wie er mir das alles vorbrachte – es dauerte einige Stunden – recht gerührt hatte, zur Bahn begleitete, da fasste er mich plötzlich beim Arm, es war an einer Strassenbiegung, und sagte mir: »Lieber Freund, wir leben in einer grossen Zeit«, – das bedeutete für ihn in der vorparakletischen, in der vormessianischen Zeit –, »wir leben in einer grossen Zeit – sagen Sie mir: Glauben Sie an Gott?« Das war so menschlich gewichtig in all seiner Kindlichkeit und Naivetät gesagt, dass es mir eigentlich recht schwer ums Herz wurde, dem Mann zu antworten. Denn ich konnte in dem Verstand, wie er das Wort sagte, es wohl weder bejahen noch verneinen. Ich versuchte in seiner Sprache, in einer Sprache, die er verstehen konnte, ihn zu beruhigen, denn er war beunruhigt. Aber das ist nicht das Entscheidende, denn eine eigentliche Antwort habe ich ihm jedenfalls damals nicht gegeben. Vor einigen Monaten nun, es ist etwa ein halbes Jahr her, als ich im Zug zu einer Zusammenkunft mit einigen Freunden fuhr, kam mir plötzlich, ohne dass ich vorher darüber nachgedacht hätte (ich denke über solche Dinge nicht nach), ohne dass ich darüber nachgedacht hätte, kam mir urplötzlich aufs Wort genau, also nicht aus Worten zusammengesetzt, die ich etwa vorher überlegt hatte, sondern in einer gefügten Wortfolge – die meisten von Ihnen wissen das wohl, wie das manchmal kommt, dass plötzlich ein ganzer Satz, nicht bloss ein einzelnes Wort einem ganz fertig eingegeben ist – die Antwort, nicht wie ich sie etwa dem alten Mann hätte sagen können oder mögen, sondern wie ich sie, wenn ich an sich gefragt würde, auf die rechte Weise und doch mit diesen Worten gefragt würde, geben dürfte, diese Antwort war: Wenn an Gott glauben bedeutet, von ihm in der dritten Person reden können, dann glaube ich wohl nicht an Gott, oder zumindest, ich weiss nicht, ob ich sagen darf, dass ich an Gott glaube. Denn ich weiss es wohl, wenn ich von ihm in der dritten Person rede, dann wenn es je und je geschieht, und es kann ja gar nicht anders sein, dass es je und je geschieht, dann erlahmt meine
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Zunge so schnell, dass man das gar nicht ein Reden nennen kann. Diese Antwort ist aber, wenn ich es recht verstanden habe, keine negative. Ich habe sie in dem Moment, als ich diese Worte wusste, nicht als eine negative empfunden, ganz und gar nicht. Was ich meine, das kann ich Ihnen vielleicht an einem Beispiel aus der antiken Literatur darlegen. In einem euripidäischen Fragment »Die Troerinnen«, da ruft – es kommt nicht darauf an, wer – der bedrängte Mensch ruft die Gottheit oder was er als das Anrufenswürdige empfindet, etwa so an: Wer immer du seist, unergründlich dem Wissen, Zeus oder die Notwendigkeit der Natur oder der Geist der Sterblichen, nus proton, zu dir erhebe ich meine Stimme. Dies ist es nicht, was ich meine, denn wir, die wir in dieser Armut der nackten Du-Beziehung stehen und nichts haben, worein wir sie hüllen könnten, wir wissen doch, wir wissen, dass es nicht Zeus ist, ein Name, ein Göttername unter Götternamen, ein Er aus einer Versammlung unsterblicher Wesen. Wir wissen aber auch, dass es nicht die Notwendigkeit der Natur ist, denn in der reinen Beziehung fühlen wir, wie all dies, was wir im Zwang der Es-Welt als eine Verkettung von Ursachen und Wirkungen empfinden, in die wir eingebannt, in die wir verstrickt sind, dass all das von uns abfällt, dass wir diese ganze Welt, die wir eben noch als uns, als mit in ihr gezwungen? vorfanden, dass wir diese ganze Welt mitnehmen in die Beziehung und mitnehmen als eine freie, so frei wie wir sind, die wir gegenübertreten. Und wir wissen, dass es nicht der Menschengeist ist, zu dem wir Du sagen, denn der Menschengeist, das ist eben dies, dessen Träger und lebendiges Gefäss wir sind. Ich bin das Ich, wenn ich dem Du gegenüber trete. So wissen wir, wie es Euripides nicht wusste, und so dürfen wir sagen, dass dies, diese Armut, diese Beschränktheit unserer Beziehung, diese Negativität unserer Antwort nicht einfach zeitgebunden ist, nicht einfach das Produkt einer Zeit ist, in der wie in der euripidäischen schon Erbgut, das grosse Erbgut zu zerfallen beginnt. Wir rufen nicht in den blinden, irren Raum hinein, dessen Namen wir nicht kennen und der sich uns nie gestaltet. Sondern wir sprechen, wenn wir wahrhaft sprechen, aus der Gegenwart, in der Gegenwart. Religion eingeschränkt, zurückgezogen hier auf diese schmale Brücke, auf diesen schmalen Grat zwischen den Abgründen und dennoch darauf stehend, schauend, redend, Religion in diesem letzten Sinne ist Gegenwart, ist Gegenwart, die ihrem Wesen nach nicht Vergangenheit wird und werden kann. Und wenn wir dies recht fassen, wenn wir fühlen, dass hier etwas ist, was nicht mehr zeitgebunden ist, was vielleicht nicht zu allen Zeiten so zugleich so unbefangen arm, so unbefangen einsam sich bekennt, das nicht zu allen Zeiten so sich auf sich selbst, auf seine Untiefe besinnt, aber das das
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Gemeinsame, das Ewige in allen Zeiten ist, wenn wir das fühlen, dann fühlen wir auch, dass diese Gegenwart, von der wir reden, die Gegenwart Gottes ist. Und diesem ganz einfachen und unantastbaren, diesem letzten und substantiellen Punkt gegenüber die ungeheure Breite der Religionen in der Geschichte, was bedeuten sie? Sie bedeuten zunächst und vor allem, das werden Sie ja wohl, wenn Sie diesen Weg Schritt für Schritt mitgegangen sind, schon wissen, sie bedeuten vor allem die Versetzung Gottes in die Es-Welt. Wir sehen, wie in jeder Du-Beziehung – erinnern Sie sich an die Beispiele, die ich gegeben habe – wie in jeder Du-Beziehung das Du dieser Beziehung, wie die Beziehung abbricht, wie das Du seinem Wesen nach zu einem Es wird, der geliebte Mensch, der eben noch den Horizont ausfüllte, zu einem Wesen unter Wesen, dieses Stück Natur, das sich uns anders als raumzeitlich und ursächlich erschloss, zu einem bestimmten Fleckchen, das so und so begrenzt und determiniert ist. Das Werk, das eben in der Konzeption mit ungeheurer schöpferischer Ausschliesslichkeit uns entgegentrat als ein Werk in dem grossen Zusammenhange der geistigen, der kulturellen Welt. Die Tat, die eben noch unser ganzes Wesen auf sich, auf diesen Blickpunkt des zu Tuenden eingesammelt hatte, nun als etwas, was nicht bloss von andern Menschen, sondern auch von uns selbst betrachtet werden kann als etwas, das geschehen ist aus Ursache zu Wirkung, eingefügt in die Kette der Kausalität. Und, wie wir wohl sagen, es konnte gar nicht anders geschehen, wie es geschehen ist, die wir doch eben in der Freiheit standen und wussten, dass es ganz und gar an unserer Entscheidung hängt, was geschieht. Nicht mehr dem Wesen des Du nach, aber unserem Menschenwesen nach wird Gott in die Es-Welt, wird das absolute Du in die Es-Welt versetzt. Die Religionen reden von Gott als von einer dritten Person, zumeist als von einem Er. Man vergegenwärtigt sich selten, wie weit schon dieses Pronomen einen Anthropomorphismus, oder richtiger gesagt, wie weit schon dieses Pronomen eine Versetzung Gottes in die Welt der Dinge und Wesen bedeutet, wie sehr schon das Genus dieses Pronomens eben dies bedeutet. Gott wird in die Es-Welt, das heisst, in die gottentlaufene Schöpfung hineinversetzt. Mit anderen Worten: In der Geschichte ist Gott ein Ding. Dies dass es so ist, das macht auch die Vielheit der Subjektivität der Religionen, ihr Einanderausschliessen, ihr Einander-bekämpfen, um was eben?, um die Beschaffenheit des Er, um die Art, wie er will, dass man ihm diene, dieses Bekämpfen der Religionen um dies, um die allgemeine Geltung des Inhalts einer jeden, dieses Bekämpfen und alles, was dazu gehört, dieses Einanderpeinigen und Einandermorden der Menschen durch die Zeiten der Geschichte hindurch um diese Dinge, nicht aus Willkür. Der ver-
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stünde mich schlecht, der meinte, dass ich Willkür oder Zufall oder irgend etwas eigentlich nicht Notwendiges und durch den guten Willen leicht Ueberwindliches meine. Ich meine die erhabene Tragödie des Menschengeistes, nichts Geringeres, und wer von Ihnen sich recht damit befasst hat, was Tragödie ist, der weiss, dass Tragödie bedeutet nicht etwa, wie manche gemeint haben, vermeidbare Schuld, die sich rächt, sondern Tragödie bedeutet die Nötigung des Geschehens aus dem SoSein der Menschen. Daraus dass dieser Mensch Antigone so beschaffen ist und dieses Gesetz über sich hat, dieses notwendige und unüberwindliche Gesetz, und dass dieser Mensch Kreon so anders beschaffen ist und dieses andere, ebenso notwendige und unüberwindliche Gesetz über sich hat und ihm gehorcht, daraus entsteht die Tragödie, damit ist sie da. In der Tragödie hat man nicht recht. In diesem Sinne sehe ich die Geschichte der Religionen, die Geschichte der Versetzung Gottes in die Es-Welt als die Tragödie, nicht eine, sondern als die Tragödie des Menschengeistes an. Somit, ich wiederhole es, nicht als Willkür, sondern als schicksalmässige, nicht menschenschicksalmässige, als weltschicksalmässige, als geschichtliche, nicht einfach menschengeschichtliche, als kosmisch-geschichtliche, als wahrhaft weltgeschichtliche Notwendigkeit, gottentlaufene Schöpfung, Abfall, aber der Abfall, den alle Religionen in verschiedener Weise irgendwo in die Urzeit setzen, der auch ein, der wohl das Urbild des Abfalls ist, der Abfall, aller wahre Abfall überhaupt bedeutet Menschwerden. Jener Abfall, von dem die Religionen erzählen, bedeutet Menschwerden, und so bedeuten sie selbst, jede von ihnen bedeutet ein neues Menschwerden durch den Abfall hindurch, das heisst, durch die Gestalt hindurch. Und dieser Abfall wie aller wahre Abfall gehört zu Gottes Einschränkung in der Welt. Irgendwie dürfen wir uns auch des Weltvorganges als ein Atemholen und Entlassen, als einen Rhythmus des Göttlichen selbst vorstellen in der Welt. Weg in Gestalt hinein, zugleich Weg in das Gefängnis, in ein neues Gefängnis hinein, zugleich aber Weg in das, was schlechthin und immer allein dem Menschen sichtbar, bildhaft, leibhaft gegeben ist, Gestalt. Weg aus dem Gefängnis heraus in die nackte, freie Beziehung, in die Freiheit und Einsamkeit der Gestaltlosigkeit, das heisst, der Wertlosigkeit, des Schweigens, des Harrens, der Bereitschaft. Und durch all dies hindurch geht ein Weg, all dies ist nicht ein in sich wiederkehrender Kreis, dieses Werden und Entwerden ist nicht etwa ein ewig neues gleiches, im Grunde wesensgleiches Irren, sondern durch all dies geht ein Weg, ein wahrhafter Weg irgendwohinein. Wenn wir’s fassen können, soweit wir’s fassen können, wollen wir sagen in der Sprache, in der wir hier geredet haben: in den Aufbau einer Du-Welt hinein. Aber wir stehen an dem Punkt des
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Weges, an dem wir stehen, und wollen und dürfen nichts vorweg nehmen wollen und dürfen nur bekennen, was wir sind und was wir haben, dies aber ganz rechtschaffen, nicht weniger und nicht mehr. Was bedeuten Religionen? Was enthalten sie? Ganz vereinfacht zwei Dinge: ausgesagtes Wissen und gesetztes Tun. Und da ist zu fragen: Ergeben sich aus der reinen Beziehung nicht auch ein Wissen und ein Tun? Geht der Mensch aus der Beziehung zum absoluten Du nicht auch mit einem Wissen und einem Gebot hervor, aus jedem religiösen Akt, aus jedem Vorgang der reinen Beziehung? Aber es kommt darauf an, recht zu fassen, was das für ein Wissen und ein Tun ist und wie es sich unterscheidet von dem Wissen und dem Tun, das die Religionen lehren, damit wir verstehen können, wie eins aus dem andern oder anstatt des andern werden kann. Das Wissen, das aus der reinen Beziehung hervorgeht, ist das Wissen um den Sinn, das heisst dieses ganz Einfache: Wer die reine Du-Beziehung kennt, für den ist die Frage nach dem Sinn des Lebens gar nicht mehr da, und sie wäre, wenn sie da wäre, nicht zu beantworten. Verstehen Sie mich recht? Er kann nicht sagen, welches der Sinn sei, er kann ihn nicht aufzeigen, und er kann ihn nicht definieren, er kann keine Formeln dafür finden. Aber er kann eher an seinem Körper und an seinen Körperempfindungen zweifeln als an dem Sinn. Das Wissen um den unbestimmbaren Sinn, das ist das Wissen, das aus der reinen Beziehung hervorgeht. Und das Tun, vielleicht kann man auch sagen, das Sollen, aber das Wort »Sollen« ist mir irgendwie zu schwach dafür, das Müssen, das Können, das Tun, das aus der reinen Beziehung hervorgeht, das ist das Tun in der Bewährung des Sinns, in der Bewährung, die nicht vorgeschrieben werden kann, die nicht für alle gilt, die nicht in einem über den Köpfen Aller aufzustellenden Gesetz aufgeschrieben werden kann. Jeder muss es bewähren mit seiner Kraft, nach seiner Art, in seinen Grenzen, in seiner Sprache, in seinem Leben, an dem Ort, wo er steht und in dem Augenblick, in dem er steht, in der Einzigkeit seines Lebens. Und doch ist Gebot, doch geht der Mensch aus der reinen Beziehung mit dem unverkennbaren und unmissdeutbaren Anruf zu dieser Bewährung des Sinns hervor. Das worin wir Menschen stehen, das Geheimnis ist nicht überwunden in Wissen und wird nicht überwunden durch Gebot, es bleibt, wir haben es nicht durchbrochen, wir haben es nicht enträtselt, wir haben keine Lösung, wir haben keine Formel, und wir wissen nicht, wie wir es anzuwenden haben, sodass einer zum andern gehen könnte und sagen: Bruder, oder zu mehreren Brüdern und Schwestern, also sollt ihr tun. Sondern nichts anderes, als den Anruf wahrhaft empfangen wollen, ihm bereit sein, ausgehen, entgegengehen, ganz, gesammelt, ungebrochen, unabgelenkt, eintreten in das, woraus
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man ihn empfängt. Dagegen stehen das Wissen und das Tun in den Religionen. Das Wissen der Religionen ist das Wissen um Gott, das Wissen in der dritten Person, das Wissen um Beschaffenheit, und es kommt nicht darauf an, dass etwa einzelne Religionen in ihrer Theologie an irgend einem Punkte sich damit bescheiden, negativ Beschaffenheit auszusagen, also nicht allerlei Eigenschaften, die wir aus unserem menschlichen Leben kennen, nacheinander vorzunehmen und zu erklären, jede dieser Beschränktheiten, Begrenztheiten komme Gott nicht zu, sondern er habe alle diese Relativitäten nicht, sondern er sei zu alledem das Unbedingte. Auch dies ist nicht der Fall. Und es kommt auch nicht darauf an, ob es frühe Religionen sind, Religionen einer träumenden, sinnlich, traumsinnlich schauenden Menschenwelt, die Religionen, die einfach erzählen: So und so leben die Götter, dies und dies widerfährt ihnen, ist ihnen widerfahren, es kommt nicht darauf an, ob man das Göttliche als Begebenheit berichtet, als Mythos am einen Ende, oder ob man das Göttliche fasst und bindet im für alle Zeiten und Vorgänge gleich gültigen Wort des Dogmas. Ob das Wissen mehr ins Dynamische oder ins Statische ruft, es ist im Grunde, im letzten Grunde, vor dem Letzten gleich. Das Tun, das die Religionen kennen, ist das Tun aus dem Gesetz, das heisst, ein Tun, das in seinen Einzelheiten nicht etwa durch Verabredung normiert ist, sondern das in allen seinen Einzelheiten gewusst wird als etwas, was von dem Gott, den man weiss, von jenem Er eingesetzt und verordnet ist. Und es kommt wieder nicht darauf an, ob dieses Gesetz mehr Kultgesetz ist, ob es mehr den Dienst in den Formen betrifft, oder ob es mehr Sittengesetz ist, oder ob es mehr betrifft die Art, wie dieser Gott, diese Religion will, dass man seine Gebote in der Menschenwelt erfüllt. Auf all dies kommt es im Letzten, im Letzten nicht an. Die Grundfrage ist, eine Frage, die wir selbstverständlich uns nicht so beantworten können, wie wir die Fragen bisher beantwortet haben, sondern zu deren Beantwortung wir einfach die Geschichte anrufen müssen, die wir nur andeutend aufzeigen können, die Frage ist: Wie entsteht dieses Wissen und dieses Tun in den Religionen, aus jenem Wissen und Tun, oder statt jenes Wissens und Tuns? Diese Frage bedeutet das Urphänomen, die Frage nach dem Urphänomen der Religionen, der geschichtlichen Religionen. Von hier aus kann man nicht erkennen, von hier aus kann man, glaube ich, ahnen, warum der Weg zur Gestalt bisher und für die uns bekannte Zeitstrecke notwendigerweise ein Weg zum Gefängnis war. Wir stehen hier an der Schwelle des Grundproblems der Religionen, des Problems der Offenbarung, und wir wollen dieses so betrachten, wie wir alles bisher betrachtet haben, so uns bescheidend auf das, wozu wir befugt sind, unbedingt befugt sind, das
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heisst, auf den Aspekt vom Menschen aus, von unserer schmalen, aber unantastbaren Wahrheit aus. Und machen Sie sich klar: Offenbarung in dem Sinn, von dem wir hier sprechen, ist nicht etwa das Vorrecht einzelner Religionen, sondern in dem Sinn, von dem wir sprechen, gibt es nur Offenbarungsreligionen. Ob sich diese, dass die Offenbarung, von der die Religionen ihr Recht herschreiben, nun aus dem – das sind ja wohl die drei grossen Formen solcher Offenbarung, die in der Geschichte uns entgegengetreten sind – aus dem Selbstbewusstsein der Menschen auftut oder aus dem Weltbewusstsein des Menschen oder in den Religionen, die wir in einem bestimmteren Sinn die Offenbarungsreligionen zu nennen pflegen, im Wort, davon wollen wir das nächste Mal zum vorläufigen Abschluss sprechen. Achter Vortrag: 15. März 1922
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Wir waren zuletzt herangetreten an das Problem der Offenbarung, und ich hatte Sie darauf hingewiesen, dass es im Grunde nur Offenbarungsreligionen gibt. Nun wollen wir aber uns fragen, und zwar gerade so einfach und so auf das Wirkliche hin, wie wir es auf diesem ganzen Weg immer wieder versucht haben, so auf das ganz Wirkliche hin wollen wir uns fragen, was Offenbarung sei. Sie haben gewiss verstanden, dass für mich alles Religiös-Wirkliche in seinem innersten Grunde eine Sache des Jetzt und Hier ist, nicht eine Sache irgend eines geschichtlichen Ereignisses, das seinem Wesen nach einmalig und unvergleichbar ist, sondern die Sache des ewigen und allgegenwärtigen Vorgangs, der sich nur in der Mannigfaltigkeit der Geschichte mannigfach gestaltet. Und in diesem Sinn fragen wir jetzt danach, was Offenbarung sei. Damit ist nun zugleich notwendig abgelehnt aller Versuch, Offenbarung zu symbolisieren, aller Versuch, in dem, was als Ergebnis der Offenbarung auftritt, nun eine lediglich sinnbildliche Hindeutung auf irgend eine anders beschaffene Erkenntnis zu finden. Dann, davon haben wir zu Anfang gesprochen, dann wäre Religion nichts anderes als eine Abteilung der Kunst, und zwar eine überflüssige Sonderabteilung. Was ist das Urphänomen, das ewige, allgegenwärtige Urphänomen das im Jetzt und Hier gegenwärtige Urphänomen dessen, was wir Offenbarung nennen? Es ist dies, dass der Mensch aus dem Moment der reinen Beziehung nicht als der Gleiche hervorgeht, als der er in ihn eingetreten ist. Sie haben wohl noch gegenwärtig, was ich von der reinen Beziehung, von der Beziehung zum absoluten Du gesagt habe. Dieser Moment der Beziehung zum absoluten Du ist nicht ein Durchgang, nicht ein Tor, aus dem der Mensch heraustrete
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als der, als der er darein eintrat, sondern es ist ein wirkliches Geschehen, es geschieht etwas am Menschen, mit dem Menschen. Und der Mensch, der jeweilig aus der reinen Beziehung hervortritt, hat in seinem Wesen, in seinem Leben, in seiner Person ein Mehr, ein Hinzugetretenes, das er zuvor nicht hatte, von dem er zuvor nicht wusste und dessen Ursprung er nicht zu bezeichnen vermag. Natürlich hat die Weltorientierung auch diesen Vorgang in ihre Betrachtung einbezogen, und es ist auf wissenschaftliche und nicht wissenschaftliche Art verschiedentlich versucht worden, irgendwie einen empirischen Ursprung aufzuzeigen, und Sie wissen, ich habe die relative Berechtigung der Weltorientierung immer gelten lassen und bin der Meinung, dass die Wissenschaft, das wissenschaftliche Weltsystem durchaus keine Lücke dulden darf, also auch einen empirischen Ursprung dafür aufzeigen muss. Für die Betrachtung, für diese wirkliche Betrachtung des Wirklichen aber, die wir hier versuchen, da taugt es nicht, uns irgendwie zu begnügen mit einem Unterbewusstsein, aus dem dieses Neue aufsteigt, oder irgendwelchen Dingen, irgendwelchen Apparaten, die sozusagen zu diesem Zweck hergestellt werden. Die Wahrheit und Wichtigkeit des Vorgangs ist, es geschieht uns etwas, wir empfangen etwas, was wir zuvor nicht hatten, und wir empfangen es so, dass wir zuinnerst wissen, es ist uns etwas gegeben worden. Alle Deutungsversuche sind unendlich schwächer, sind unendlich eitel gegen diesen ungeheuer wirklichen Vorgang. Das ist der Offenbarungscharakter der reinen Beziehung. Biblisch gesprochen heisst es: das Auf-Gott-Harren, jachlifu chauch, die werden eine neue Kraft eintauschen. Oder in der Sprache eines modernen Philosophen, es ist Friedrich Nietzsche, der einmal diesen Vorgang, und zwar mit aller Wirklichkeitstreue des religiösen Menschen, beschreibt, ohne ihn zu psychologisieren, Nietzsche schliesst seine Beschreibung mit den Worten: Man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt. Der Mensch empfängt, aber er empfängt nicht einen Inhalt, sondern eine Gegenwart, eine Gegenwart als Kraft. Und diese Gegenwart, diese Kraft, die in den Menschen eintritt, schliesst dreierlei ein, aber in einem, nicht drei Dinge nebeneinander. Sie schliesst dreierlei ein. Sie schliesst ein die ganze Fülle der wirklichen Gegenseitigkeit, das Nichtmehr-Abgetrennt-, Nicht-mehr-Aufsichangewiesen-, Nicht-mehr-Preisgegebensein, obwohl man nicht anzugeben vermag, was das ist, wie das beschaffen ist, an das man geknüpft, mit dem man verbunden ist. Es schliesst zum zweiten ein – es ist eigentlich dasselbe, nur von einer andern Seite betrachtet – die Bestätigung des Sinns, also gibt es unverbrüchlich einen Sinn, aber nicht einen aufzeigbaren und aussagbaren Sinn, sondern einen Sinn, der einem so bestätigt und verbürgt wird, den man nicht übertragen kann. Und zum dritten
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schliesst diese Gegenwart und diese Kraft ein einen Anruf zur Bewährung dieses Sinns im Leben des Menschen, durch die Tat des Menschen. Dass dies, dieser Sinn, dessen Bürgschaft er empfangen hat, nicht etwas sei, was in ihm beschlossen, in ihm eingesperrt bleibe, sondern das aus ihm nun als Wirklichkeit hinaustrete in die Welt und in der Welt, an der Welt bewährt werde. Der Sinn kann empfangen, aber er kann nicht erkannt werden. Er kann nicht erkannt werden, aber er kann getan werden, empfangen und getan, nicht erkannt, aufgezeigt, ausgesprochen. Diese drei in einem schliesst die Kraft ein, die der Mensch empfängt. Diese drei in einem sind nun, wirken nun als wirkliche Kraft in das Leben dieses Menschen ein. Wie wird nun das, was der Mensch empfängt, aus einer Kraft zu einem Inhalt? Denn immer wieder, das haben wir gesehen, behandelt der Mensch, behandeln die Menschen dies als einen Inhalt, als etwas, was aufgezeigt, ausgesagt, behandelt werden kann, als etwas Erfahrenes, Erfahrbares, als Gegenstand. Wie wird das, was nicht Gegenstand ist, zum Gegenstand? Das Gegenwärtige, aber das nicht Gegenstehende, wie wird das zum Gegenstand? Wie wird es zu einem Inhalt, der aussagt über das Wesen, die Taten, den Willen Gottes, aussagt über den Ursprung, die Bestimmung, die Zukunft, über den Tod hinausgreifende Zukunft der Seele, aussagt über das Werden, den Bestand, die Vollendung der Welt? Ich sagte, der Sinn wird nicht erkannt, aber vielleicht ist dieser Ausdruck doch nicht ganz zulänglich, denn Erkennen, das wird gewöhnlich im Sinn von Erkenntnis gebraucht, also von Erfahrung irgendeiner wenn auch intellektualen Art. Dafür trifft es in der Tat zu, dass der Sinn nicht erkannt werden kann. Aber Erkennen hat ja ursprünglich einen lebendigeren, wirklicheren Sinn, den Sinn einer realen Beziehung. In der Ursprache bedeutet Erkennen unmittelbare Beziehung, und in diesem Sinn freilich kann von einem Erkennen gesprochen werden, aber nicht von einer Erkenntnis. Wie wird dieses lebendige wirkliche Erkennen, dieses In-die-unmittelbare-Beziehung-treten zu einem Du, das nicht ein Es ist unter Es, nicht ein Er, sondern nur lebendiges, gebendes, offenbarendes Du, wie wird das zu Erkenntnis eines Es oder eines Er? Ich habe schon angedeutet, dass im Menschen unmittelbar notwendigerweise eine Objektivierungstendenz waltet. Der Mensch verlangt danach, das absolute Du zu haben und es zusammenhängend in Raum und Zeit zu haben. Der Mensch verlangt nach einer Kontinuität des Gott-Habens in Zeit und Raum. Er will sich nicht mit der Bürgschaft begnügen, sondern er will sie ausgebreitet sehen als etwas, was man immer wieder vornehmen und handhaben kann, als etwas, was keine Lücke hat im Raum und in der Zeit, was ein Kontinuum bildet und sein Leben an jedem Punkt und jedem Moment versichert. Der Akt der reinen Beziehung besteht
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sozusagen im Augenblick, er hat keine Kontinuität in der Zeit. Der Mensch verlangt danach, ihm Dauer zu geben, ihn in der Zeit auszubreiten. So wird Gott zum Glaubensobjekt. Denn es gibt zwar keine Kontinuität der reinen Beziehung, aber es gibt eine Kontinuität des Glaubens. Der Beziehungsakt besteht in der Einsamkeit, in der Einsamkeit der Person, des Ich mit dem Du. Es ist immer das Ich des Menschen, das gegenübertritt dem Du. Das ist, wie wir schon sagten, der Ausgangspunkt. Der Mensch verlangt nun nach Gemeinschaft. Wie er nach Dauer verlangt, verlangt er nach Gemeinschaft, nach einer Gemeinsamkeit der Beziehung. Und so wird Gott zum Kultobjekt. Der Glauben gibt den Zusammenhang in der Zeit, der Kult den im Raum. Die reine Beziehung kann nicht festgehalten werden, sie kann nur Objekt werden, nur verwirklicht werden an der ganzen Materie des Lebens. Sie kann nicht als reine Beziehung festgehalten, sozusagen bewahrt werden, sie kann nur bewährt werden, erfüllt, verwirklicht, bestätigt. Sie kann nicht geäussert werden, sondern sie kann nur getan werden, eingetan werden in das Leben. Der Mensch, der aus der reinen Beziehung hervortritt, kann wenn er ihr gerecht werden, wenn er ihr Gebot erfüllen will, nichts anderes tun als Gott in der Welt verwirklichen. Wer das recht versteht, sieht, dass darin die wahre, die einzig wahre Bürgschaft des Zusammenhangs liegt, die einzig wahre Bürgschaft der Dauer in der Zeit und im Raum, der gegenüber alle Versuche, Kontinuität in der Zeit und im Raum zu schaffen, Scheinversuche sind und bleiben müssen. Die wahre Bürgschaft der Dauer liegt darin, dass die reine Beziehung universal erfüllt werden kann, in der Welt erfüllt werden kann, dass die Beziehung zum absoluten Du bewährt werden kann im Du-Werden jedes Es, in der Erhebung jedes Dings und Wesens zum Du, dass das grosse Du-Sagen-Können sich in allen Wesen auswirkt. Durch diese Auswirkung der Beziehung in der Welt, in der Gemeinschaft, in der ganzen Fülle des wirklichen Lebens dadurch kann, muss ein Zusammenhang der Beziehung in der Zeit entstehen, aus der die reine Beziehung, die Beziehung zum absoluten Du immer wieder aufleuchten kann. Sie erinnern sich daran, was ich zu Anfang von der Aufgabe sagte, eine Du-Welt, eine zusammenhängende Du-Welt aus den Du-Momenten aufzubauen. Ich hatte darauf hingewiesen, dass sie sich aus den Beziehungen zu den einzelnen Dingen und Wesen nicht aufbauen lässt, dass das immer isolierte Du-Momente bleiben, aus denen sich keine Welt aufbaut, und ich wies darauf hin, in der reinen Beziehung, der Beziehung zum absoluten Du, da ist der Weg gegeben, diese Du-Momente zu vereinigen zu einem Zusammenhang. Wir sehen jetzt, wie das gemeint ist: durch die Bewährung, dass der aus der reinen Beziehung Hervortretende alles Es zum Du erhebt, dass dieses absolute Du hineinstrahlt
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in alle Beziehung, in alles Leben. Und wie die Bürgschaft, die wahre Bürgschaft des Zusammenhangs in der Zeit gegeben ist, so ist die wahre Bürgschaft des Zusammenhangs im Raum der Gemeinschaft, die Bürgschaft der wahren Gemeinschaft gegeben dadurch, dass sich zwischen den Menschen stiftet nicht die Gemeinsamkeit eines Bewusstseins, nicht die Gemeinsamkeit einer Handlung, nicht Glaubensgemeinsamkeit und Kultgemeinsamkeit, nicht all dies ist das Entscheidende, sondern dass, wenn ich das Bild gebrauchen darf, dass die Linien der reinen Du-Beziehungen der Menschen zusammentreffen in Gott, dass jeder Mensch aus sich selbst in die reine Beziehung tritt und dass diese Beziehungen zusammenströmen in dem einen absoluten Du. Die wahre Menschengemeinschaft ist nur in Gott möglich, nur eben dadurch, dass die wahren Beziehungen der Menschen zum absoluten Du zum Zentrum, all diese Radien, die von den Ichs der Menschen ausgehen zu der Mitte, einen Kreis schaffen. Nicht zuerst ist der Kreis, sondern zuerst sind die Radien, die zur Mitte führen. Dadurch ist der Kreis wirklich. Das bedeutet es wohl, wenn es heisst, die Schechina sei zwischen den Wesen. So stehen einander gegenüber die Scheinbürgschaft, die den Menschen versichert in einer aussagbaren und austubaren Erfahrung, die dem Menschen einen Inhalt gibt, einen Inhalt des Glaubens und einen Inhalt der Handlung, etwas Fassbares, Gemeinsames, Vorgeschriebenes, Aufgeschriebenes und in diesem Sinn Offenbartes, inhaltlich Offenbartes. Und die andere wahre Bürgschaft, die dem Menschen nichts gibt als den Sinn und die Kraft zu seiner Wirkung, die dem Menschen nicht das Geheimnis entgeheimnist, nicht das Beschlossene entriegelt, aber die den Menschen einstellt in das Leben der Gegenwart. Jene andere, jene scheinhafte Bürgschaft bedeutet im Grunde eine Rückbiegung. Ich will das zu erklären versuchen. Dass der Grundsinn der Offenbarung in diesem zunächst ganz persönlichen Sinn, wie wir sie jetzt gefasst haben, also als etwas, was immer und überall geschieht, was jedem Menschen geschehen kann, jedem Menschen, der sich selbst ganz erschliesst, ganz gesammelt, ganz geeint erschliesst, der Grundsinn dieser Offenbarung und demnach aller ist eine Aussendung des Menschen. Der Mensch wird in dem Sinn gefasst und zu seiner Bewährung ausgesandt. Diese Berufung, diese Sendung dahin, ins Bewähren, in die Tat, in die Menschheit, in die Welt, in das Wir, an den Ort der Verwirklichung, das ist die Kraft, das ist es, was die Offenbarung gibt. Nun kann es aber geschehen und geschieht es je und je wieder, dass der Mensch, statt die Richtung einzuhalten, statt dahin zu gehen, wohin er gesandt ist, aus den Gründen, die ich vorhin dargelegt habe, aus diesem natürlichen Verlangen, das sich schnell und leicht befriedigen will, sich rückbiegt auf die Aussendung, auf den Aussendenden,
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dass der Mensch, statt die Offenbarung an der Welt zu bewähren, sich mit der Offenbarung befassen, sich mit dem Offenbarenden befassen will, und das kann er nun nicht anders, als dass er es als ein Es in die Welt der Dinge einstellt und als von einem Es nun von ihm zu wissen glaubt und von ihm redet. Es ist vielleicht nach einer Analogie zu verstehen aus dem einfachen Vorgang, den Sie alle kennen: Der Mensch nimmt etwas wahr, irgend ein Stück Welt, er fühlt etwas, empfindet etwas, er will etwas und strebt nun einfach diesem Vorgang ganz zu folgen, diese Empfindung, dieses Gefühl, diesen Willen ganz und gar sich auswirken zu lassen, reflektiert der Mensch auf sich selbst, er befasst sich mit seiner Empfindung, mit seinem Gefühl, mit seinem Willen, er macht die Empfindung, den Willen, das Gefühl zum Gegenstand. Er biegt sich zurück auf sein Ich und verfährt die Wahrheit des Vorgangs. Der Vorgang wirkt sich nun nicht in seiner Wahrheit aus. Das ist etwas, was gerade in unseren Tagen ein ganz typischer Vorgang ist. In einer gewissen Analogie steht dazu dieser Vorgang der Rückbiegung auf das Gebende, statt die Gabe sich auswirken zu lassen. In dem ausgesandten Sein ist Gott Gegenwart, in dieser Rückbiegung wird er zum Gegenstand. Aber in einem möchte ich zuallermindest nicht missverstanden werden: Das wahre Gebet ist keine Rückbiegung, das wahre Gebet ist nichts anderes als eben das In-der-Gegenseitigkeit-Stehen, das Du-Sagen, also ganz rechtmässig in der reinen Beziehung Eingeschlossene. Denn der Ausgesandte geht nicht von Gott weg, sondern der Ausgesandte hat stets Gott vor sich. So kann er sich nicht wahrhaft mit Gott befassen. Er kann nur zu ihm sprechen, er kann ihn anreden, er kann zu ihm beten. Aber er kann ihn nicht rechtmässig zum Gegenstand machen. Auch dafür gibt es ein Wort, das es vollkommen ausdrückt: Chiwisi -------. Die ewige Gegenwart, das ewige Gegenwärtigsein Gottes und das immer wieder In-Beziehung-treten zu dieser ewigen Gegenwart. Das aber kann nicht in Einsamkeit mehr geschehen, sondern eben dadurch, dass man in die Welt auch eintritt, in der Welt den Sinn bewährt, aus der Welt leuchtet diese Beziehung immer wieder auf. Und dennoch – ich habe es schon das vorige Mal angedeutet und möchte es jetzt ganz klar sagen –, wenn wir auch diese Doppelheit klar erkennen, so dürfen wir es nicht etwa auffassen, dass diese Rückbiegung, dieses Gegenstandwerden, dieses Vergangenheitwerden des Göttlichen, dass dieses Willkür wäre. Ich sagte es schon und ich bitte Sie, dies recht zu verstehen: Willkür ist die Objektivierungstendenz nicht, sondern sie ist eine Notwendigkeit der Menschengeschichte, sie gehört notwendig zum Weg des Menschen. Sie hat eine Urbedeutung, die mit der Bedeutung der Schöpfung zusammenhängt. Es gibt zwei Welttendenzen, die in dem Weltgeschehen, in der Dynamik des Weltgeschehens mitein-
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ander verbunden sind. Es gibt ganz real die Weltausbreitung und ganz real die Gottumkehr. Die Umkehr ist nicht etwas, wozu nur der Mensch aufgerufen wird, sondern es ist etwas, was eingetan ist als ewiger Anruf in das ganze Geschehen in der Welt. Die Welt will immer wieder Gott entlaufen in ein für sich seiendes Es und sie möchte immer wieder Gott noch in dieses Es hineinziehen und sich damit die Umkehr zu Gott verschliessen, und immer wieder lebt auch über ihr und in ihr, in sie eindringend und sie bewegend der Ruf zur Umkehr, jener Gottesruf: Genug!, der einst zur sich ausbreitenden, über ihre Masse und Grenzen in die Selbstheit hinein sich ausbreitenden Welt gesprochen worden ist, gesprochen wird, ewig gesprochen wird: Halt ein, kehre um! Das ist der Ruf des Du, der Ruf zum Du, die Bürgschaft der Du-Welt, die werden will durch den Menschen. Und ganz gegenwärtig, ganz zuinnerst, stark, mächtig, lebendig und so deutlich, so gewaltig deutlich wie nirgendwo anders, so in ihrer Nacktheit deutlich wie nirgendwo anders stehen einander diese zwei Welttendenzen gegenüber im Werden der Religion selbst. Die Geschichte der Religion und der Religionen ist die Geschichte des ewigen Kampfes und Ausgleichs der Gegeneinander-Bewegung und des Miteinanderverbundenseins beider Tendenzen. Das Gott-Entlaufen hat seinen Platz in der Religion selbst, und die Umkehr, das Immerwieder-Du-Sagen-Können hat seinen wahren Platz in der Religion selbst. Hier geschieht das Innerste von dem, wovon wir sprechen. Die Offenbarungen der Religionen sind in ihrem Grundwesen nichts anderes als die ewige, allgegenwärtige Offenbarung, die Offenbarung des Jetzt und Hier. Niemals und nirgendwo ist geschehen, was nicht auch jetzt und hier geschieht. Aber es gibt eine Geschichte, es gibt trotzdem eine qualitative Verschiedenheit der Geschichtszeiten. Ich will das zu erklären versuchen. Es gibt die Offenbarung, die ewige Offenbarung, und es gibt die Freiheit des Menschen, und der Mensch ist in die Freiheit gestellt. Dies, dass dieses unlösbare Paradoxe, in dem wir stehen, in dem sich unser Leben vollzieht, das unser Leben trägt, das Paradoxe, dass Gott die Welt bestimmt und dass der Mensch frei ist, dieser Widerspruch, der keiner ist, aber der sich als Widerspruch entfaltet, der führt uns auch in dieses Problem, von dem wir hier sprechen. Jeder wirkliche Vorgang in der Welt ist Begegnung. In jedem wirklichen Vorgang des menschlichen Lebens ist nicht nur Mensch. Die Geschichte ist nicht in den Kräften des Menschen und der Natur allein beschlossen, obwohl man nicht scheiden kann und sagen: Dies ist den Kräften des Menschen und der Natur zuzuschreiben und dies einer andern Kraft, denn in Wahrheit gibt es nur das Eine, aus dem wir die Abstraktionen schaffen, aber wir können es nicht anders fassen als in diesen Abstraktionen. Wir leben im Gegenüber der Abstrak-
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tionen, sie bestimmen dieses, unser konkretes Leben. Das sind die Grenzen unseres Lebens, diese Polarität, dieses gegenüber Ich und Du. Ich wiederhole: Jeder wirkliche Vorgang ist ein Vorgang der Begegnung. Die Geschichte ist nicht nur Mensch, und doch ist nirgends eine Beschränkung seiner Freiheit. Das bedeutet, es gibt keine inhaltliche Offenbarung, jede inhaltliche Offenbarung wäre Beschränkung. Es gibt keine Beschränkung einer der Waagschalen der menschlichen Entscheidung. Es gibt keine Selbstbenennung Gottes, es gibt keine Selbstbestimmung Gottes vor den Menschen. Das Wort der Offenbarung ist Aeje Ascher Aeje, das heisst, das Offenbarende ist der Offenbarende. Das Seiende ist, nichts weiter. Der ewige Kraftquell strömt, die ewige Berührung harrt, die ewige Stimme tönt, nichts weiter. Ich sagte schon, es gibt nur Offenbarungsreligionen. Jede Religion beruft sich auf das offenbarte Wort, auf dem sie steht, und aus dem sie ihren Bestand holt. Aber die Offenbarungen, auf die sich die Religionen berufen und die ich vielleicht die gewaltigen nennen darf im Gegensatz zu jenen stillen Offenbarungen, die sich jetzt und hier allerorten und allerzeit ereignen, die gewaltigen Offenbarungen, die zum Anfang grosser Gemeinschaften, zum Anfang von Völkern, von Religionen, von Weltzeiten werden, sind nichts anderes als die ewige Offenbarung. Nicht die Stimme ist verschieden, sondern der Hörer und der Moment sind verschieden. Es gibt eine qualitative Verschiedenheit der Geschichtszeiten, es gibt ein Reifwerden der Zeit, das heisst, es sammelt sich die Materie des Menschengeistes je und je so ungeheuer an, dass sie nur noch des einen Anrufs bedarf, um umgeschmolzen zu werden in die Schöpfung, in das neue Wort. Die gewaltige Offenbarung ergreift die ganze Materie des Menschengeistes, schmilzt sie um und schafft aus ihr eine neue Gestalt, eine neue Gestalt Gottes in der Welt. Die latente Objektivierungstendenz wird aus der Berührung schöpferisch. Vielleicht dürfen wir sagen mit einem Bild, wir müssen immer wieder zu Bildern greifen, die doch nicht metaphorisch sind, die Stimme, die ewige Stimme, wird am Menschen, sozusagen an der Fläche des Menschen, die sie berührt, an der Haut, am Ohr, am lebenden Menschen, den sie berührt, sie wird am Menschen zum Wort. Sie wird am Menschen zum Wort Gottes. Aber sie wird erst im Menschen zu einem Wort von Gott, zu einem Wort das von Gott redet. Der Mensch schafft ganz gewiss nicht Gott. Aber er schafft immer wieder Gottes Gestalt. Und da der Mensch nicht der Mensch ist, sondern die Menschen, die vielen Menschen, die unzählbaren toten und lebenden, vergangenen und kommenden Menschen, da der Mensch die Menschen ist, schafft er Gottes Gestalt als Gestalten. Aber dies, noch einmal sage ich es, dies ist nicht Willkür und nicht beiläufig, sondern dadurch wird in der Geschichte, im Weg der
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Geschichte immer neuer Bezirk der Welt und des Geistes in die Gestalt hinaufgehoben, zur göttlichen Gestalt berufen, zur gleichsam Verleiblichung Gottes berufen. Immer neue Sphären werden in die Theophanie einbezogen. Das ist eine Spiegelung jenes Paradoxen, von dem wir sprachen, das Paradoxe des Gestaltwerdens. Das ist nicht Eigenmacht und Eigenmächtigkeit des Menschen, die hier wirkt, und es ist auch nicht reiner Durchgang Gottes durch den Menschen, sondern es ist Mischung, Vermischung von Göttlichem und Menschlichem, von Du und Es. Stimme, die offenbarende, aussendende Stimme ist nicht Gestalt, Tat, das, wozu der Mensch ausgesandt ist. Seine Bewährung der Wahrheit ist nicht Gestalt. Nur durch die Rückbiegung auf die Offenbarung, nur durch das Gegenstand-Werden der göttlichen Gegenwart entsteht je und je immer wieder Gestalt Gottes. So entsteht Gott als Gestalt, entstehen Religionen als Gestalten. Hier ist Gott Gegenstand geworden, aber die Essenz lebt fort. Gott kann immer wieder Gegenwart werden und wird es immer wieder in den Religionen, im wahren Gebet, in dem sich Kult und Glauben vereinigen und einigen zur reinen Beziehung. Dass das wahre Gebet in den Religionen lebt, ist eine Bürgschaft ihres wahren Lebens. Solange es in ihnen wahrhaft lebt, solange leben sie wahrhaft. Wenn wir von der Erstarrung von Religionen sprechen, so meinen wir damit zuinnerst, dass das wahre Gebet in ihnen erstarrt, dass es in ihnen immer schwerer wird, wahrhaft Du zu sagen mit dem ganzen ungeteilten Wesen, dass der Mensch, um Du sagen zu können, aus ihnen in die Freiheit der Beziehung zu flüchten beginnt. Und auch dies müssen wir klar sehen, schon im Faktum der Gestalt liegt das der Erstarrung angelegt. Es ist die fortschreitende Uebermacht der Objektivierung, und wieder sehen wir die zwei Tendenzen, das sich Ausbreiten, das Gottentlaufen und den ewigen Rückschwung. Immer wieder kommen Zeiten der Befreiung, des Atemhaltens, des Schweigens zwischen Wort und Wort, zwischen Offenbarung, zwischen gewaltiger Offenbarung und gewaltiger Offenbarung. Und immer wieder führt die Offenbarung zu Gestalt. Aber dies ist nicht ein Kreislauf, ich habe es schon einmal angedeutet, sondern durch diese Gestalten, durch die Gestaltungen Gottes in den Religionen, durch sie hindurch führt der Weg. Das ist der wesenhafte Unterschied zwischen Religionen und Reich Gottes. Der Weg führt durch die Religionen, notwendig dieser Weg durch diese Gestalten in etwas, was nicht mehr Gestalt ist. Gemeinschaft war bisher, insoweit wir’s fassen können, immer nur durch Gestalt und in Gestalt möglich. Und dennoch können wir vielleicht sagen, durch die Gestalten führt es irgendwie nicht bloss in das, was wir ahnen können, sondern auch in der [das] Nächste, Uebernächste, hin zu einer Form der Gemeinschaft, wo die Menschen verbunden
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sind durch die Reinheit ihrer Beziehung. Auch da waltet noch, wird noch irgend das Gestalthafte walten, aber es wird immer reiner. Immer stärker gebietet das Du dem Es. Wir dürfen wohl sagen, die Geschichte ist eine geheimnisvolle Annäherung. Wir Menschen kommen irgendwie durch all das hindurch näher. Diese Perspektive, die ich hier nur andeuten kann, ist das, wozu wir in diesen paar Schritten, die wir gemeinsam gemacht haben, gelangen konnten. Es sind Schritte durch den Torgang, die Schritte bis zum Ende des Anfangs. Denn dieser Weg, den wir zusammen gemacht haben, ist der Anfang eines Weges. Es ist gleichsam die Einleitung des Weges. Und es wäre nun auf dem Weg selbst, auf dem Hauptstück des Wegs wäre nun zu schauen, wie die beiden Tendenzen, von denen wir gesprochen haben, in den Religionen, in dem ganzen religiösen Leben der Menschheit gewaltet haben und walten. Dies wäre Sache eines weiteren Wegstücks. Das Stück, das wir zusammen jetzt beschliessen, das führt uns in gewissem Sinne zu einem Ueberschauen des Ausgangs zurück, wie jedes weitere Stück uns dazu führen wird. Wir stehen und bleiben im Geheimnis. Wir können es nicht befahren, ebenso wenig wie wir es werden können. Aber wir stehen ihm wahrhaft gegenüber, wir stehen in Gemeinschaft zu ihm. Wir stehen in seiner Gegenseitigkeit. Wir stehen – dieses Wort sagt mir doch immer wieder alles – wir stehen in seiner Gegenwart.
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Was bedeutet das, wenn besonders betont wird, dass von der Religion als Wirklichkeit die Rede sein soll? Ist das nicht eigentlich etwas Selbstverständliches? Warum muss der Akzent darauf gelegt werden, dass nicht von Religion als etwas Anderem als Wirklichkeit – und das heisst als von der Wirklichkeit – die Rede sein soll? Das ist deshalb notwendig, weil wir in der Zeit leben, in der wir leben, und das ist die Zeit, um es zu Anfang schon mit ein paar Schlagworten zu sagen, das ist die Zeit des Fiktionismus und Aspektivismus; das heisst, es ist eine Zeit, in der die eine Wirklichkeit des Seins aufgelöst wird in eine Reihe von möglichen und nebeneinander zulässigen, von einander unabhängigen WeltAspekten, es ist eben die Zeit, in der die Frage, auf was das Leben des Menschen in der Welt steht, die Frage nach der Wahrheit aufgelöst wird durch die Behauptung, dass es sich auch mit dem System von Fiktionen an Stelle der einen Wahrheit leben lasse und gerade mit ihm recht gut leben lasse. Eben dies, dass die Zeit so ausschaut, ist der Grund, weshalb von der Religion als Wirklichkeit mit äusserstem Ernst der Betonung die Rede sein soll. Wenn die Zeit sich bereit erklärt, die Religion zuzulassen als eine brauchbare Fiktion oder als einen Aspekt der Welt unter anderen Aspekten, so ist das eben das, was der religiöse Mensch nicht ertragen kann. Er kann sich mit irgend einem Atheisten vertragen auf der Grundlage, dass, was ihm den tiefsten Ernst des Lebens bedeutet, nicht anerkannt wird. Aber er kann sich nicht vertragen mit der Leugnung des Ernstes der Frage. Ich sage also: wenn angeboten wird, das Religiöse zuzulassen als brauchbare Fiktion, das heisst also entweder, weil es für die Erhaltung des Lebens zweckmässiger ist, weil es Sicherheiten gibt, mit denen es sich leichter leben lässt oder wenn man die Religion als brauchbare Fiktion annimmt zur Vervollständigung des Geisteslebens und der Kultur, weil diese dazu gehören, oder wenn man für das sittliche Leben die religiöse Fundierung eben als Fiktion verwendet oder indem man vom ästhetischen Betrachten aus als freie Schöpfung des Menschengeistes diese religiöse Fiktion zulässt – es bleibt sich immer gleich. Immer ist es das Eine, das anstelle einer Frage, auf die es nur Ja oder Nein gibt, anstelle einer letzten, aus tiefem Ernst gestellten Frage, um die sich nicht herumgehen lässt, doch nun etwas Bequemes, Brauchbares gestaltet, das eben nicht ein »ja« oder »nein«, sondern ein »als ob« darstellt. Ich sage, dieser Fiktionierung gegenüber erklärt die Religion, dass es eine Grenze dieser Fiktionierung gibt, und dass die Grenze eben da beginnt, wo im Ernst von religiösem Leben die Rede ist,
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d. h. also auf welchem Gebiet immer des Lebens, der Wissenschaft, der Kunst, etwa auch der Medizin oder des Rechts Fiktionen brauchbar sind – hier hört ihr Reich auf. Es ist verwerflich, zu sagen, dass man leben wolle oder solle, als ob es einen Gott gäbe. Eher könnten wir uns denken, dass der Menschheit eröffnet würde, dass es keinen Gott gäbe, dass man so zu leben hätte, als ob es keinen Gott gäbe – wie dann die Sicherheiten zu fundieren wären, ist eine Frage, die uns hier nichts angeht. Also entweder ist das Religiöse der wahrhafte Grund unseres Lebens oder es ist aus dem Leben zu schaffen, und ebenso steht es mit seiner Zulassung als eines Aspektes neben anderen. Es ist heute üblich, die Welt so zu betrachten, als ob es verschiedene Betrachtungsweisen gäbe, die man nach Belieben hervorziehen und wieder einschieben könnte, aber über all diesen sehr interessanten Betrachtungsweisen geht das eine Grundgefühl, die eine Gewissheit verloren, dass es nur eine Wirklichkeit gibt, zu der diese Aspekte ein Verhältnis haben, das nicht durch sie ersetzt werden darf. Es gibt verschiedene Aspekte, aber nur eine Wirklichkeit. Diese Scheinlegitimierung lehnt die religiöse Wirklichkeit also ab, so wie sie die Fiktionierung ablehnt. Entweder besteht ihr Anspruch zu Recht, nicht eine Abteilung des Lebens, sondern seine Ganzheit, sein Zusammenschliessen zu einer lebendigen Einheit zu sein, oder sie hat keinen Anspruch mehr zu erheben. Entweder ist sie die Totalität oder nichts. Eine Kammer, eine stimmungsvolle Kapelle, die man aufsucht, nachdem man andere Gemächer des Schlosses durchwandert hat, und der man auch ein gewisses Interesse bezeigt – das ist sie auf keinen Fall. So verhält es sich mit der Zeit und der Antwort an sie. Aber die Frage der Religion als Wirklichkeit ruht noch tiefer und reicht weiter zurück; sie ist nicht nur Zeitfrage, sondern Auffassung des Religiösen, so finden wir, dass es je und je aufgefasst worden ist und leider oft auch von Menschen, die im Leben der Religion standen und es verkannten als die Summe von Glaube und Kult. Glaube wohlgemerkt im Sinne eines Glaubens, dass etwas ist und dass es eben so und so beschaffen ist, nicht im Sinne eines Verhältnisses. Und Kult in dem Sinn, dass es ausgesparte Zeiten im Leben gibt, ausgesparte Sonntage, an denen eine besondere Art festgesetzter Andacht gepflegt wird, die nun der Dienst Gottes ist. Beides ist ein Irrtum. Am Glauben, dass etwas ist, ist der religiösen Wirklichkeit nichts gelegen, wenn dieser Glaube nicht eine lebendige Beziehung zum Sein ist, und an dem Kult ist ihr nichts gelegen, wenn er nicht eingefügt im Leben wird, nicht allumfassender, alles umfassender, alle Tage umfassender Dienst. Ich will dies an zwei Gestalten der Geschichte verdeutlichen: Epikur und Buddha.
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Der grosse spätgriechische Philosoph Epikur erfüllte alle Voraussetzungen, die die Auffassung einer Religion als Summe von Glaube und Kult erfordert. Er glaubte an Götter, an Göttergestalten, aus feinsten Elementen gebildet, vollkommene Göttergestalten, die in den ungeheuren Zwischenräumen der Welt leben und sich nicht um die Welt bekümmern; diese ist ihnen fern und gleichgültig. Er glaubt nicht nur an diese Wesen, sondern er verehrt sie auch auf seine Weise; er dient ihnen, er opfert ihnen. Es wird berichtet, dass er den Göttern opferte, dann ging er von dannen und sagte mit einem Wort des Komödiendichters Menander: »Ich habe Gottheiten meine Gabe dargebracht, die meiner nicht achten.« Es ist also dieses Opfern etwas, was genau wie dieser Glaube ein Verhältnis zum Göttlichen garnicht begründen kann, sondern dieser Glaube ist leer und dieser Dienst ist leer. Unabhängig, von weitem vollzieht sich das wirkliche Leben des Menschen. Wir sehen, hier sind die Voraussetzungen gegeben, aber die religiöse Wirklichkeit besteht nicht. Und nun sehen wir uns daneben den bekanntlich atheistischen Buddha an. Er glaubt an Götter nicht, d. h. wohl zeugen die Legenden davon, dass die Götter bei Buddha erschienen, um sich von ihm verehren zu lassen und dass er sie mit überlegener Ironie behandelt habe als Schüler, die nicht der wahren Belehrung würdig sind, aber es gibt keine Aeusserung Buddhas, die darauf schliessen lässt, dass er an die Existenz dieser Götter geglaubt hat oder gar an die Macht und Verehrungswürdigkeit dieser Götter. Und selbstverständlich gibt es auch keinen Kult von ihm zu Göttern. An Aeusserungen Buddhas über die Götter gibt es nur eine, die wir anführen können. Das ist, wo er einmal sagt: »Es gibt, ihr Mönche, ein Ungeborenes, ein Ungeschaffenes, ein Ungewordenes, ein Ungemachtes.« Es ist viel für Buddha, was er hier spricht, denn immer wieder sagt er, dass man über die letzten Dinge zu schweigen habe; und wer dies nicht versteht, versteht die religiöse Haltung Buddhas nicht: »man sagt nicht aus, dass etwas ist, ebensowenig wie, dass etwas nicht ist.« Wenn auch hier die Voraussetzungen nicht gegeben sind, weder das, was man Glauben nennt, noch das, was man Kult nennt, so fühlen wir doch in allem, was uns vom Leben dieses Menschen berichtet wird, dass von ihm aus etwas geschieht, was gleichsam ins Herz der Welt hinein wirkt; dass, was er die Erlösung nennt, nicht etwas ist, was sich in der einzelnen Seele vollzieht, sondern zwischen ihr und dem Sein der Welt begibt, etwas, was an das Sein der Welt rührt. Das heisst, es ist ein Leben, das die Grenzen der Person überschreitet. Von da aus können wir verstehen, was es bedeutet, dass Religion Wirklichkeit ist. Man kann auch so sagen, es sei der Eintritt des Menschen in die Wirklichkeit, in die ganze, vollständige, nicht mehr bruchstückhafte,
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abgeschnittene des Seins. Denn machen wir es uns nur recht bewusst: Wir glauben ja, in der Wirklichkeit festzustehen. Was heisst, Religion sei Eintritt in die Wirklichkeit? Wir leben naturhaft, als Lebewesen, als Dinge in ihr, aber das besagt doch nicht, dass wir mit der Wirklichkeit des Geistes in der Wirklichkeit der Welt sind, besagt nicht, ob wir nicht an ihr vorbeileben und vorbeisterben. Das allermeiste von dem, was sich Menschenleben nennt, ist ein solches Vorbeileben und -sterben. Es gibt – das wage ich zu sagen – zahllose Sterbestunden, die eben diese Erkenntnis bedeuten. Eintritt in die Wirklichkeit – was heisst das? Es heisst jedenfalls nicht etwas, was sich im Menschen allein, in der Seele allein begibt, sondern etwas, was zwischen Mensch und zwischen Seele, was nicht Mensch, nicht Seele, nicht Welt ist. Es bedeutet mit einem Wort nicht eine Auffassung, nicht eine Anschauung, nicht ein Erleben, sondern Verhältnis, Beziehung und zwar das Verhältnis zum Geheimnis des Seins. Aber wieder müssen wir einen Missbrauch des Wortes abwehren, denn kaum ein Wort wird so missbraucht wie »Geheimnis«. Unter Geheimnis ist zu verstehen: nicht was noch unerkannt, was nach dem Stand menschlicher Erkenntnisfähigkeit nicht erkannt ist, sondern das Nichterkennbare. Nicht Funktion menschlichen Erkennens – wie weit sie auch vorgerückt würde – die Grenze zwischen uns und dem Unerkennbaren wird nicht gemindert und um nichts geringer wird unser Abstand vom Geheimnis, wie das Geheimnis der Charakter des Seins ist. Es geht nicht um etwas, was unser Erkennen angeht. Das Geheimnis ist das seinem Wesen nach Unerkennbare, also dass auch die Schranke, die zwischen uns und dem Geheimnis sich aufrichtet, nicht bloss Erkenntnis-Schranke, sondern Wesens-Schranke bedeutet. Mit unserem ganzen Wesen geraten wir an diese. Nun gibt es in Zeiten wie der unseren allerlei Versuche, diese Schranke zu durchbrechen, etwa indem man an eine Ergründung dieses Geheimnisses, Beschreibung des Geheimnisses geht, wie manche Geheimlehre ein topographisches Bild des Geheimnisses entwirft. All diese Scheindurchbrüche sind nur eine Verstellung des Geheimnisses. Es bedeutet nichts anderes, als dass anstelle [Textverlust] neue Aspekte des Geheimnisses treten und letzten Endes beruht all dieser Phanthasmus auf dem Grundirrtum, dass es »Geheimnisse« gibt. »Geheimnisse« ist Plural, das Unerkennbare hat keinen Plural. Und dass wir uns recht verstehen: diesem Unerkennbaren im Geheimnis des Seins begegnen wir überall, in allen Dingen, wenn wir wahrhaft sie betrachten, und nicht begnügen, sie in eine Anzahl von Eigenschaften zu zerlegen, sondern wenn wir wahrhaft vor ein Wesen hintreten. Ueberall in der Welt begegnen wir dem Geheimnis und weichen ihm immer wieder
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aus – das ist das dauernde Faktum unseres Lebens. Immer wieder aber begegnen wir ihm, das von der Welt und Seele nicht umfasst wird, das sich in allen Dingen zeigt, aber nicht in ihnen besteht. Dies ist der Punkt von dem wir ausgehen müssen, um zu erfassen, was Religion wirklich ist. Wenn einer einmal nicht mehr ausweicht, sondern sich einsetzt und geschehen lässt, dann ist ein Beginn geschehen. Wieder fragen wir: Was bedeutet das? Es bedeutet, dass es einen Moment geben kann, welcher alle seine Sicherheiten zusammenbrechen lässt, wenn er nicht ausweicht. Dass alles, was er sich zurechtgemacht hat, zusammenbricht und dass der Mensch sich vorfindet im Chaos, da, wo es kein Zurechtfinden mehr gibt. Und in Wirklichkeit, wenn all diese Gerüste, die der Menschengeist aufgerichtet hat, um den Abgrund nicht schauen zu müssen, zusammenbrechen, dann findet sich der Mensch im Chaos, dann überfällt ihn die grosse Angst, nicht vor dem Chaos, die wirkliche Angst [des] Menschen im Chaos, im richtungslosen Chaos, in dem es keine Richtpunkte, sondern einen ungeheuren Wirbel gibt. Auch jetzt noch kann er sich wegwenden. Er kann sich wegwenden entweder in das leere Verleben, aus dem er gekommen ist oder in irgend eine Sicherung durch irgend eine Institution oder durch irgend eine von den immer den Menschen angebotenen Theosophien – aber er kann sich auch hinwenden. Was heisst das? Beschreiben lässt sich das freilich nicht; man kann nur hindeuten. Es ist eben etwas, das man nicht bereden kann, sondern auf das man nur hinzeigen kann, als auf etwas, was möglich und wirklich ist. Wenn der Mensch sein ganzes Wesen hineinwirft, dann durchstösst er es; in diesem äussersten Augenblick des Wagnisses der Lebenseinsetzung geschieht die Durchstossung des Chaos. Wenn der Mensch nicht nach irgend einer feststehenden Richtung sucht, sondern blindlings sein Wesen hingibt, dann hat er die Richtung. Man darf sich das Hindurchfinden zum Sein nicht vorstellen als absichtliche Handlung, nicht vornehmen und ausführen. In diesem äussersten Augenblick verwandelt sich die Angst in das, was die Religion mit einem sehr missverständlichen, aber doch treu zu wahrenden Wort »die Furcht Gottes« nennt, d. h. die Erkenntnis der Unfasslichkeit Gottes. Ueber diese Furcht Gottes gibt es Worte, von denen das eine Ihnen allen bekannt ist; es heisst, dass »die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit« sei, und das ist der Anfang, der einzige Anfang, der immer wiederkehrende Anfang. Denn immer wieder gibt es Abirrungen. Das andere Wort stammt aus dem Talmud: »Alles ist in der Hand des Himmels, nur die Furcht Gottes nicht.« Was bedeutet dies? Alles, was wir tun, ist in der Hand des Himmels, alles muss als Bestimmung aufgefasst wer-
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den, bis auf eines, bis auf diesen Anfang, dieses Ausgehen, was hier Furcht Gottes genannt wird. Denn in diesem Punkt offenbart sich der Ernst unseres Geschaffenseins, dass der Mensch in die Welt gesetzt ist als etwas Seiendes, nicht bloss als Wahrzeichen, als Ding, nicht etwas, woran sich das Leben ereignet, sondern als Wesen, das selber ist, berechnen, tun kann, das wollen, sich entscheiden kann. Aber das ist eben dieses innerste Moment, wo sich die Wahrheit eben dieses Grundfaktums offenbart, das Wunder des Anbeginns. Denn wenn der Mensch geschaffen ist, wählen zu können, so heisst das, dass er in Wahrheit Gott wählen oder auch ihn verwerfen kann. Und in dieser Perspektive müssen wir betrachten, was Furcht Gottes, Durchstossung des Chaos heisst. Die Durchstossung des Chaos ist, was Gott nicht vermögen will, wo es auf uns ankommt. Wo wir uns schlechthin auf nichts, auch nicht auf Gott, verlassen können, ohne das Sein selber zu verlassen, das Geheimnis der Verbundenheit mit dem Urgrund. Ich sage, es ist das Ereignis, es ist in der Schranke der Abgrund der Anderheit Gottes. Damit, dass wir dies fassen, dass Gott das ganz Andere ist, dies fassen, dass seine Wege nicht unsere Wege sind, das ist ein Durchgang; der Durchgang, die Schwelle, aber nur ein Tor, das man durchgehen muss, um ins Leben zu kommen, kein Haus, in dem man wohnen kann. Davon haben wir auszugehen, um Wirklichkeit zu finden, dass es kein Verweilen gibt. Denn beides gehört zusammen: Die Ehrfurcht vor dem Geheimnis, vor der Schranke, aber auch das Wissen um die Unmittelbarkeit und die Möglichkeit und Wirklichkeit der Beziehung. Wenn es so ist, wenn die Unmittelbarkeit der Beziehung [Textverlust] Warum Furcht als Schwelle und nicht gleich Liebe? Mir scheint aus zwei Gründen: der eine Grund ist, dass man nicht statt Gottes einen Götzen zu lieben bekommt, denn man macht sich das Leben mit Liebe zurecht, dann [meint] man mit ihm nicht den furchtbaren, den alle Vorstellungen von Recht und Unrecht, von Zuverlässigkeit, Uebereinstimmung, von Logik über den Haufen werfenden Gott, dann meint man nicht Gott, sondern einen Götzen, einen aus bestimmten, uns wertvollen Eigenschaften zusammengemachten Götzen und seien diese Eigenschaften auch Barmherzigkeit und Liebe. Der zweite Grund ist, dass man sich, wenn man nicht über die Schwelle getreten ist, wenn man nicht über die Furcht getreten ist, dass man sich nicht wie einst über Gott, über die Welt entsetzt. Was ich damit meine, das wird allen deutlich werden, wenn sie an Dostojewskis »Karamassow« denken, der an Gott zu glauben denkt, aber weil er nicht über die Schwelle der Unendlichkeit, der Un-
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fassbarkeit, die Schwelle der grossen Furcht gegangen ist, sich nun entsetzen muss über die Fügung der Welt.
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Aber dies ist das Unentrinnbare, wenn man nicht über die Schwelle der Furcht gegangen ist. Und noch etwas: Es gibt auf diesem Weg keine Sicherung, man glaube nicht, dass dieser Weg der Weg des zuverlässigen Weitergehens ist, sondern immer wieder muss man an den Eingang zurück, immer wieder muss der Mensch umkehren, aber freilich, der Sinn des Umkehrens ist wohl zur Schwelle, aber nicht zum früheren Stadium des Wegs. Denn nun ist die Schwelle, die er wieder betritt, ein anderes Stück.
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Dies ist, was ich meine, die Notwendigkeit, die sich immer recht auf diesen Weg einstellt. Dies spricht der Stifter des Chassidismus, der Baalschem aus, wo er von dem Verhältnis des Menschen zur Welt spricht: Zuweilen muss der Mensch die Scheidung ertragen, dass unendlich viele Firmamente sind, er aber steht auf einem Fleck.
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Ich sage noch einmal, dass es hier keine Sicherheit gibt und das zeigt sich am deutlichsten daran, dass auch nun noch eine ganz wesentliche, das Wesen selber antastende und in Frage stellende Gefahr, eine letzte Gefahr des Verfehlens ist, nämlich, dass der Mensch auch jetzt noch glaubt, zu Gott stehen zu können, jenseits des eigenen Lebens und jenseits der Welt. Also nicht in der Fülle des Lebens in der Welt, sondern sich hinüberschwingend über Leben und Welt. Aber dann, wenn dies geschieht, wenn der Mensch dies will, dann ist ja Religion doch nur wieder eine Sphäre unter Sphären, eine Geistessphäre unter anderen Sphären des Geistes, wenn auch die höchste, nicht alles umfassende. Dann ist Gott doch wieder nur ein Sein ausser der Welt, dann ist er auch über ihr, aber nicht sie tragend und durchdringend. Dann ist die Schöpfung ein Gefängnis, aus dem die Seele je und je Urlaub nimmt, um sich zu Gott, zu dem Schöpfer dieses Gefängnisses aufzuschwingen und das eigene Leben des Menschen zerfällt bis auf den Wurzelgrund in resigniertem Alltag, untröstlichen Feststand in dem Bereich der Extase. Demgegenüber bedeutet die Religion als Wirklichkeit, um auch dies in nicht mehr begrifflichem, sondern religiösen Wort zu sagen: Gott im Geist und in der Wahrheit dienen und anbeten. Im Geist der Einsicht [Textverlust] In der Wahrheit, wie und wo sie einzig im Menschen [Textverlust] durch die Bewährung der Wahrheit im eigenen Leben und das bedeutet, dass der Mensch immer wieder ausgeht vom Jetzt und Hier seiner persön-
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lichen Situation. Dass er nicht glaubt, die Beziehung zu Gott schwebe, wie der Geist über dem Wasser, über der Persönlichkeit des Menschen. Und weiter bedeutet dies, dass das Geschehen des eigenen Lebens und das Geschehen der Welt dem Menschen zur Sprache wird. Es wird manchmal gefragt, wenn der Mensch so zu Gott steht, was ändert sich für ihn in der Welt? Und darauf ist zu antworten: Nichts. Aber eben das religiöse Geschehen in der Welt und Seele wird ihm zur Sprache Gottes. Das ist die wirkliche, die ewige Offenbarung, nicht [Textverlust] von Welt und Leben wird ihm zur Zeichenrede, die Dinge und Ereignisse werden zu Worten, mit denen er angeredet wird, eine unübertragbare, unübersetzbare, aber unmittelbar verständliche Sprache. Und das bedeutet diese Sprache – Werden der Dinge, bedeutet nun weiter und damit zeigt sich die Innerlichkeit dessen, wovon wir sprechen, dass die Dinge nun nicht mehr abgeschnitten, nicht mehr auf sich stehend, ihm erscheinen, sondern in ihrem Ursprung, in ihrer Verbundenheit mit dem Ursprung eingetaucht in die Schöpfung, die sich an jedem Tag ewig erneuert, in jedem Augenblick neu geschaffen wird, stehen ihm die Dinge und er mit ihnen, – und schliesslich, wenn in der Sphäre jenes Glaubens, dass etwas ist und etwas so ist, zuweilen zwischen der Furcht und der Notwendigkeit, wenn in der Welt, die logisch ist, zwischen der Weltanschauung der Furcht und Notwendigkeit, wenn der Satz und Gegensatz sich gegenüberstehen – hier ist es nicht mehr so – hier wissen wir, dass wir uns in Wahrheit entscheiden und wissen zugleich, dass wir in Gottes Hand sind. Dieser logische Unterschied ist in der gelebten Wirklichkeit des Lebens unlösbar eins. Und nun kann noch gefragt werden: wie wirkt sich dies im Leben, im Verhältnis zu den Dingen und Wesen aus? Ebenso, dass er die Dinge und Wesen nun in Wirklichkeit liebt, lieb bekommt. Es wird gewöhnlich von einem Gebot der Nächstenliebe gesprochen und das Bibelwort angeführt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Aber dies steht nicht da, sondern »Und du wirst lieben deinen Nächsten als dich selbst«. Das heisst: im Verein mit diesem Wort steht das andere, das Grundwort aller Gebote, das am Anfang der Gebote steht: »Ich bin der Ewige, dein Gott.« D. h.: Aus der Akzeptation, dem Eintritt in das Verhältnis zum Sein, aus der Akzeptation des dem Menschen angebotenen, das bedeutet: Ich bin der Ewige, dein Gott, aus dem geht hervor gerade die Liebe. Wenn du dies annimmst, wirst du das Wesen, jedes Wesen lieben als dich selbst und dies bedeutet, wenn Sie wollen, auch eine Erkenntnis. Aber eine Erkenntnis wie sie in dem anderen Wort der Bibel geäussert ist, wo von Adam erzählt wird »und er erkannte sein Weib«. Diese Liebe im Bild des Erkennens gesehen bedeutet etwas sehr Tiefes im Verhältnis des Menschen zum anderen Wesen. Es
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gibt [Textverlust] wenn der Mensch zum anderen Wesen in Wahrheit »du« sagt. Der Gedanke an das Verhältnis von Mann zum Weib bringt jene merkwürdige jüdische Trauformel ins Gedächtnis: »Du bist mir geheiligt.« Dies sagt der Mensch, von dem wir sprechen, zu allen Dingen. Sie werden ihm, sie werden von ihm geheiligt, in seinem täglichen Leben, in das die Dinge eingehen, durch die Reinheit, durch die Weihe, in [Textverlust] und dieser Dienst an der Welt, in den alles Tun einbezogen werden kann, um des Gottes willen, der sich in der ganzen Welt offenbart, ist der rechte Gottesdienst und der Alltag, in dem sich dieser Dienst entfaltet, ist in Wahrheit der Tag des Alls. Es gibt ein merkwürdiges Wort von Malebranche, das in Kants Werk kommt: [Textverlust] Nur wer die Welt, die Dinge der Welt wie sie sich eben in seinem Leben darbieten, schaut [Textverlust] Es bedeutet nichts als – das Leben in der Religion als Wirklichkeit mit einem Wort: das vollständige Leben. Dies ist dreifach zu verstehen: Das Leben in der vollständigen Welt, nicht mehr bruchstückhaften Welt, mit vollständiger Seele, die nicht mehr in verschiedene Reiche auseinanderfällt, mit eins gewordener Seele und drittens das Leben, in dem die Sphären des Geistes sich zusammenschliessen zur lebendigen Einheit. Die Religion ist nicht eine der geistigen Sphären, sondern die Einheit, sie verhält sich zu ihnen wie das Licht zu den Farben, d. h. es vermag sie alle. Das Religiöse tut die Sphären nicht zusammen, es gibt kein religiöses Weltbild, sondern je und je geschieht es, dass die geistigen Sphären, die in der Entwicklung der Kultur sich verselbständigen, sich so weit von einander getrennt haben, dass gleichzeitig die geistige Welt zu zerfallen droht, dass dann ein Augenblick kommt, wo sie alle zusammenstürzen in die Einheit der religiösen Wirklichkeit, wo sie sich alle selbst aufgeben, um aus ihr neu aufzustehen. Dieses sind die Zeiten, von denen die Religion lehrt [Textverlust] wo es keine Scheidung mehr gibt zwischen Person und [Textverlust]
Die religiöse Welterfassung Vortrag von Martin Buber in Karlsruhe, am 29. November 1924. Ich bitte den Titel dieses Vortrages ganz ernst zu nehmen. Ich meine in der Tat die Frage nach der religiösen Welterfassung. Ich meine diese drei Worte ernst. Als auf ernste Wirklichkeit hinweisend. Ich meine also, wenn ich Welt sage, nicht irgend etwas in uns, nicht eine Welt, die unsere Vorstellung ist, sondern die Welt, in der wir leben, und anderen lebenden Wesen, die in ihr leben, begegnen. Und wenn ich Erfassung sage, so meine ich nicht: Auffassung, nicht, was man gewöhnlich: Weltanschauung nennt. Nicht Lucus a non lucendo; sondern ich meine das wirkliche Erfassen, Ergreifen der Welt also. Nicht irgend eine Regung, bei der es gleichgültig ist, ob etwas mit dem erfassenden Menschen, mit dem erkennenden Menschen, dem Subjekt, und der Welt, seinem Objekt, vorgeht oder nicht. Das heisst, ob es gleichgültig ist, ob es sich um einen psychologischen Vorgang oder um etwas wirklich Geschehenes handelt. Ich meine einen Vorgang zwischen dem Menschen und der Welt. Und wenn ich Erfassen sage, so meine ich das wirkliche Erfassen der Welt, damit etwas geschieht. Damit nicht ich Subjekt und Gott Objekt bleiben, sondern auf dass der Mensch mit seinem sogenannten Objekt wirklich zu Gott komme. Ich meine damit, was man Weltaspekt nennt, Religiöser Weltaspekt. Nicht ein Aspekt unter anderen, eine Betrachtungsweise, eine Art des Erkennens, sondern ich meine ein wirkliches Verhältnis zum Sein. Ein Verhältnis der Erfassung, d. h., einen Eintritt, den Eintritt des Menschen in die Wirklichkeit der von ihm erfassten Welt. Das ist es, was ich zunächst erklären möchte, um Missverständnissen vorzubeugen. Ich sage, ich meine nicht Aspekt der Welt; Sie wissen, gerade unsere Zeit sucht uns diese Aspekte, die verschiedenen Welt-Aspekte gewissermassen als nebeneinander möglich, als nebeneinander gleichberechtigt, zu proklamieren: Einen philosophischen, einen ethischen, einen ästhetischen. Es wird jede geistige Sphäre in das Absolute erhoben und daraus ein Weltaspekt gemacht. Alle diese Weltaspekte sind relativ bedingt. Sie können nebeneinander bestehen, sie vertragen sich miteinander. Und als solche lässt man auch den religiösen gelten. Aber diese ganze Betrachtungsweise vergisst das Eine, worauf es ankommt: Dass es eine Wirklichkeit gibt, die nicht Aspekt ist und nicht sein kann, weil wir in ihr leben. Und dass dies die eine Wirklichkeit ist, uns bekannt oder unbekannt, die eine Wirklichkeit, in der wir miteinander leben. Also wieviele Aspekte sich
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um diese Wirklichkeit hinlagern mögen, sei eins. Und also das Verhältnis, das Lebensverhältnis zu ihr ist eins und eindeutig. Dieses Lebensverhältnis ist nicht, besteht nicht in der Vielheit der Aspekte. Es ist nicht relativiert, es ist wie die Wirklichkeit. Hier gilt also nicht jenes freundliche Einander-Ablösen verschiedener Aspekte, die der moderne Mensch nach Belieben zurückstellt oder hervorholt. Hier ist alles eindeutig, unser Sein einschliessend wie ausschliessend. Wenn nun von jener Weltanschauung die Rede ist, so kann man das Wort in seiner ganzen heutigen Trivialität gebrauchen, die alle die Aspekte nebeneinander gelten lässt, nennen wir sie den Aspektivismus. Wenn diese Anschauung das Religiöse als einen Aspekt neben den andern gelten lässt, so lehnt die religiöse Wirklichkeit diese Einbeziehung unbedingt ab. Wäre das Religiöse ein Aspekt, dann hätte es seine Kammer, seine Abteilung im Geistigen, dann hätte es keine Richtung. Ist es nicht ein Verhältnis zur Wirklichkeit selbst? Ist es ein Ding neben anderen Dingen, wie der Sonntag ein Tag neben den anderen ist? Dann wäre es in der Tat, wie manche Leute vorgeschlagen haben, an der Zeit, diese ganzen Dinge, die sich Religiosität nennen, abzuschaffen. Das Religiöse als Aspekt unter Aspekten ist dem religiös-lebenden Menschen eine unerträgliche Last, unerträgliche Legitimierung. Diese Scheinlegitimierung will er in der ganzen Illegitimität seiner Ausgeschiedenheit bewahren, oder aber erkannt werden, als der Ausdruck der Ganzheit. Zu diesem Aspektivismus gehört nun auch die Auffassung, dass alles Bewusstsein subjektiv sei. Dass der Mensch ja gar kein Verhältnis zu einer Wahrheit, zu einem objektiv Seienden habe, sondern nur ausgesprochen subjektive, relativierte Aspekte. Aber diese Auffassung beruht auf einem Grundirrtum. Es ist nicht wahr, dass alles Bewusstsein subjektiv ist; das können wir aus unserer täglichen Erfahrung beweisen. Es gibt eine grosse Ausnahme: es ist alles Totalitäts-Bewusstsein; alles Bewusstsein einer Totalität. Ein paar zutage liegende Beweise: das Bewusstsein der eigenen Existenz, des eigenen Lebens. Oder das Bewusstsein der Beziehung zu einem geliebten Menschen. Nicht das Einzelne, das von diesem Bewusstsein mitgetragen wird, gibt diesem Bewusstsein der Totalität Leben. In ihrer Konkretheit, in ihrer Begrifflichkeit. Das ist nicht subjektiviertes, sondern reales, objektives Bewusstsein, das sich freilich subjektiviert, sowie es sich differenziert. Ich nenne dieses Bewusstsein, das nicht subjektiv ist, Bewusstsein eines Totalitätsfaktums: Mein Leben. Ich bin da. Ich liebe. Ich werde geliebt. Da ist zu trennen: das Faktum der Gegenseitigkeit und das des Bewusstseins. Ist das Bewusstsein, das Bewusstwerden des religiösen Verhältnisses? Es ist das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und einem Partner, der Geheimnis
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ist. Einem Partner, der das Geheimnis ist. Damit meine ich nicht, das noch Unerkannte, wie man wohl von einem Geheimnis spricht. Es ist an einem Ding noch wenig oder schon viel erforscht worden; aber es ist noch Geheimnis geblieben, das noch zu erforschen bleibt. Geheimnis ist nicht das noch Unerkannte, sondern das seinem sonstigen Wesen nach Unerkennbare. Solche Geheimnisse charakterisieren sich nicht als eine Funktion der menschlichen Erkenntnis; nicht die Unzulänglichkeit unserer Erkenntnis ergibt den geheimen Charakter, sondern: Geheimnis ist eben der Urcharakter des Seins selbst. Und dieses Geheimnis, das Geheimnis in jedem Ding, ist des Wesens wesenhaftes Sein. Besser möchte ich es umstellen und sagen: Das Geheimnis, das eine Geheimnis ist in jedem Ding dessen wesenhaftes Sein. Die Dinge, die wirklichen Dinge, ohne ihr Geheimnis betrachten, das ist nämlich das, wie es der sogenannte Naturalismus tut; der die Dinge ohne ihr Geheimnis betrachtet. Also die Weltanschauung, die von ihrem Realitätsfühlen, ihrer Realitätstüchtigkeit am stärksten überzeugt ist. Die Dinge ohne ihr Geheimnis betrachten, heisst, sie imaginär machen, das heisst mit Gespenstern leben. Denn das Ding ohne sein wesenhaftes Sein, ohne sein geheimes unerkennbares Sein, zu dem wir aber in keinem unmittelbaren Verhältnis stehen können; das Ding ohne sein Geheimnis ist Schatten, ist Spuk. Ohne sein Geheimnis, damit meine ich: ohne Sein am Geheimnis der Welt, sein geistiges Sein. Nun wäre das freilich eine schwere Verkennung, ja geradezu eine Verkennung dessen was ich meine; dieser Grundwahrheit, auf die ich hier zu deuten versuche. Wenn man nun von einer Erforschung dieses Geheimnisses, einer Ergründung dieses Geheimnisses spricht, wie es ja (wie Sie wissen) gewisse Lehren tun, die nun in Aussicht stellen, dass dieses Geheimnis nun doch irgendwie etwas zu Erforschendes und Erkennbares sei, und eine richtige Topographie, eine Landkarte des Geheimnisses liefern, auf der man sich auskennen und die einzelnen Partien des Geheimnisses finden kann, Landkarten und Chroniken des Geheimnisses. Damit geschieht aber nichts anderes, als dass damit das Geheimnis aspektiviert wird. Dass aus dem Verhältnis zum Geheimnis, aus dem lebendigen Verhältnis zum Geheimnis, der einzigen Art, wie man die Wahrheit aufnehmen sollte, wieder ein Aspekt gemacht wird. Wieder etwas Relativiertes. Ein Aspekt, neben Aspekten; wobei ich nach dem Wahrheitswert dieses Aspektes jetzt gar nicht frage. Das also, sage ich, ist die völlige Verkehrung dessen, was ich meine. Verkehrung schon deshalb, weil es von dem Grundirrtum der Täuschung ausgeht, dass es Geheimnisse gäbe. Das ist ein Plural, den es nicht gibt. Es gibt nur ein Geheimnis in der Welt: In mir und in ihm. Geheimnisse als Plural sind das noch Unerkannte. Das Unerkennbare hat keinen Plural.
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Was meine ich nun, wenn ich von religiöser Welterfassung spreche? Ich möchte das deutlich machen durch einen Vergleich zwischen der wissenschaftlichen und der philosophischen Weltauffassung. Ich kann hier nicht mehr Welterfassung sagen. Man versucht gewöhnlich, diesen beiden Dingen, die man als Aspekte nebeneinander gestellt hat, eine relative Richtung zu geben. Die wissenschaftliche Weltkonzeption habe verschiedene Lücken, und diese müssten durch religiöse Ideen aufgefüllt werden. Oder die philosophische Auffassung, die Welt sei zweiteilig; die Natur und das Geistige. Das eine falle der Wissenschaft und das andere der Religion zu. Irgend welche Theorie des Nebeneinanders, des Unterbaus und Ueberbaus und wie die Dinge heissen. Alles dies gilt nur für die fiktive Religion, nur für die Religion als Aspekt. Die wirklichen Religionen wehren sich, verwahren sich gegen alle diese Einreihungen und die wirkliche Wissenschaft auch. Denn die wirkliche Wissenschaft macht den Anspruch, die ganze Welt irgend einmal in ihre Orientierung einzubeziehen, ohne Lücken, ohne Rest. Ich habe mich gefreut, neulich in einer Rede von Bergson zu hören, dass gerade diese Forderung aufgestellt wurde; kein Ignorabimus! Für ihn sind diese Dinge alle gegeben, und das ist der gerechte Anspruch der Wissenschaft. Von der Religion aus sind aber alle diese Relativierungen hinfällig. Was ist die Differenz zwischen der einen und der anderen? Zunächst: Alle philosophischen Aussagen schliessen ihr Gegenteil aus. Darauf steht die Wissenschaft, darauf steht jedes philosophische System, dass wenn von einem Ding oder einem Zusammenhang etwas ausgesagt wird, eben dies alles wahr und sein Gegenteil als unwahr gilt. Diesem Gesetz der Wissenschaft, der wissenschaftlichen Regionalität steht die Religiosität, steht das Gesetz der religiösen Weltauffassung entgegen. Ich gebe ein Beispiel und bitte Sie, wenn ich von Religiosität spreche, sich nun ja nicht irgend etwas anderes vorzustellen, als gelebtes Leben. Gerade so, wie im gelebten Leben, die Gegensätze einander anziehen und bedingen. Nehmen Sie die Frage des Handelns, der menschlichen Entscheidung. Wenn ich mich zu entscheiden habe, ob ich etwas tue, oder ob ich dies oder etwas anderes tue, dann weiss ich (nicht fühle ich) mich frei. Ich weiss, dass diese Entscheidung eine wirkliche Entscheidung ist, dass dies, was ich jetzt tun werde, noch nicht entschieden war, ehe ich mich eben entschieden habe. Diese Wirklichkeit meines Jetzt, meine vollendete Entscheidung, jetzt oder nicht, ist unantastbar. Und dennoch weiss ich zugleich, dass ich anheim gegeben bin, dass ich getragen bin, dass bestimmt ist, dass mein Leben eingezogen ist in das Unendliche, der Religiöse sagt, dass ich in der Hand Gottes bin. Alle logische Formulierung, alle philosophischen Systeme, alle wissenschaftliche Hypothetik muss das Eine oder das Andere als wahr, seinen
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Gegensatz als unwahr aussprechen. Ja, in der Wirklichkeit sind beide nicht etwa nebeneinander, sondern beide sind oft in Eins. Beide sind Eins. Beide, das gelebte Leben, das die Widersprüche umschliesst, umfängt. Im Leben, wo die Widersprüche zum gelebten Augenblick verschmelzen, dies ist der Ort der Wirklichkeit. Dies ist der Ort des religiösen Verhältnisses, der religiösen Welterfassung. Und weiter: Ich habe noch gesagt: Für die Wissenschaft gilt als Voraussetzung die Erforschbarkeit, für die Religiosität ist Voraussetzung, ja eine Selbstverständlichkeit, das wesenhaft Unerforschliche. Und diesem wesenhaft Unerforschlichen steht der Mensch gegenüber, auch wieder in einem logischen Betracht, in einem Widerspruch. Denn er steht ihm gegenüber zugleich als das ihm Dargebotene und das ihm ganz Unzugängliche. Und wie die Bibel richtig sagt, in der Furcht und zugleich als zu dem, zu dem er in unmittelbare Beziehung treten kann und das auch zu ihm auch in unmittelbare Beziehung tritt. Unzugänglichkeit und Dargebotenes, Gegenseitigkeit, beides in einem. Für die Wissenschaft, ist das Verhältnis, das Grundverhältnis, das von Subjekt zu Objekt, das Verhältnis von einem »Es«. Alle Objekte der Wissenschaft sind »Es«, das ich untersuchen, erforschen kann. Das religiöse Grundverhältnis ist das der Verbundenheit und Beziehung. Da gilt nicht das Es, sondern das Du. Da ist die religiöse Wirklichkeit erfüllt, wo das Wesen eines Menschen, wo der Mensch mit seinem ganzen Wesen ist. Wo der Mensch mit seinem ganzen Wesen Du sagt. Und weiter: der Unterschied des Ortes. Denn alle Wissenschaft, alle Philosophie, alle Dinge begeben sich wo? Im Menschen. Wo begibt sich das Religiöse? Es kann nicht drin eingeschlossen werden, es begibt sich zwischen den Menschen. Auch noch da, wo es in der Verhohlenheit, in der Sehnsucht des Menschen besteht. In der Potenz der Möglichkeit, in dem Unentfalteten. In der Wirklichkeit des Menschen, und dem, was nicht Mensch und nicht Welt ist, und dennoch in die Welt eintritt und vom Menschen erfasst wird, indem er die Welt und die Dinge und das Wesen der Welt erfasst. Und jetzt scheidet die religiöse von der wissenschaftlich-philosophischen Betrachtung. Alles Erkennen im Sinne der Wissenschaft und der Philosophie geschieht mit einem (wir wollen nicht darüber streiten, ob es der höchste ist, mag es der höchste sein!) mit einem Teil des Menschen. Die religiöse Haltung ist die der Totalität des Wesens. Des Zusammenstimmens aller Teile, aller Kräfte des Menschen, zu einem Ganzen, da allein in diesem Zusammenschluss Einheit in das Verhältnis eintreten kann. Und wenn man von Gefühl gesprochen hat, als Kennzeichen des Religiösen, so ist das nur insofern richtig, dass Gefühl als Antrieb auftritt, was den Menschen, die Menschenseelen zusammenschliesst. Wenn das Gefühl der Träger der religiösen Wirklichkeit
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ist, so zeigt das zugleich an, dass die Seele sich zusammenschliessen will. Und wie Totalität der Haltung vom Menschen aus, so ist seine Totalität vom Erfassten aus. Und zwar nicht synthetische Totalität durch Zusammenfassung, Zusammenbringung unter einen Hut der verschiedenen Partikel, sondern Totalität in Allem, in jedem Ding. Es tut nicht Not, diese Totalität zu suchen, sondern sie ist zu finden. Sie ist in jedem Ding, diese Ganzheit zu finden. So hebt sich die religiöse Welterfassung gegen das wissenschaftliche, philosophische Denken und Erkennen ab. Und nun dürfen wir noch konkreter, noch positiver hinzeigen darauf: was sie selbst bedeutet. Ich habe schon angedeutet: Vor allem: die religiöse Welterfassung geht nicht auf etwas Allgemeines, nicht auf eine Idee. Und sie geht nicht von einer allgemeinen Situation aus. Die religiöse Welterfassung steht immer in einem Menschen, jetzt und hier! Das ist eine persönliche Situation, nicht also eine, in der sich der Mensch irgendwie vom Ich, von seinem persönlichen Leben und der Situation, in der er jetzt steht, von dieser seiner Not oder diesem seinem Zwang, abtrennt, imaginär wird, sondern allein von dieser persönlichen Situation, von diesem Leid, von diesem Glück aus, findet er den Weg. Nicht indem er sich von sich entfernt und irgendwo an irgendeine nicht persönliche allgemeine Sache anknüpft, sondern indem er auf diesem Jetzt und Hier, auf diesem ungeheueren, herzbeklemmenden Augenblick wirklich steht, und von da die wirkliche Verbundenheit findet. Ja, dass er auch sein kann, faktisch noch Du sagt. Und so einfältig er es sagt, es ist gesagt, wenn es von da aus geschieht. Dies ist das Eine. Dass das Religiöse also immer konkret ist, niemals eine abstrakte Konzeption, sondern immer das ganz Konkrete, aus diesem Jetzt und Hier aufblühende Werden. Was ist das aber nun? Was einzig in diesem Jetzt und hier offenbart ist? Wie ist dies sichtbar, ohne es in die Geistigkeit einzubauen?, ohne es zu einem Aspekt zu machen? Ja, ich glaube, dass man das ganz einfach sagen kann. Es geschieht nichts Neues, die Welt ändert sich nicht. Es gibt kein Faktum, das es nicht schon früher gegeben hat in der Welt. Die Welt ist wie sie war, nur dass [Textverlust] mehr die Welt Gesetz und Weltsprache geworden ist. Ist das deutlich, was ich meine? Dieselbe Welt, die Welt der Dinge, der diesen Menschen umgebenden Dinge, ist Sprache geworden; ein Gesprochenes. Die Welt der Dinge und mit ihr, die Welt des eigenen Lebens. Das was sich an diesem Menschen begibt, das ist dieselbe Art, wie das, was sich vorher begeben hat; nur dass es Sprache geworden ist. Eine Sprache, die nicht übertragbar ist; aber die verständlich ist, die diesen Menschen verständlich ist. Ein Wort, von dem er sich ausgesprochen weiss, nicht irgend ein Wort aus der Finsternis. Nicht ir-
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gend ein Wort, das unerhört ist, nein, eben in dieser Welt. Diese Welt. Eben dieses gelebte Leben. Ich bin zum Wort geworden; zum Zeichen und zur Offenbarung. Nicht anderswo, sondern eben in diesem seinem gelebten Leben, jetzt und hier, wird ihm zugesprochen, was er zu hören hat; was ihm zu vernehmen Not tut. Und wenn es so ist, wenn der Mensch so die Dinge als Worte, als Worte Gottes aufnimmt, das bedeutet, dass jedes Ding im Menschen, in seinem Ursprung steht. Ursprung, das ist etwas ganz anderes, als was man mit einem allzu zeitlichen Ausdruck die erste Ursache nennt; ich meine in dem ewigen Ursprung. Kein Ding ist nun da, sondern jedes Ding hat noch seinen Ursprung an sich und kündet ihn. Das heisst, alle Dinge stellen den Menschen in die lebendige Schöpfung, alle Dinge sind ihm als Dinge der Schöpfung gegenwärtig, also als mit dem Ursprung verbunden. Das bedeutet aber weiter, und das habe ich schon angedeutet, dass für uns Menschen die Gegensätze keine Gegensätze mehr sind. Freilich, wenn ich denke, wenn ich logisch formuliere, steht es genau wie jedes andere unter dem logischen Gesetz des Widerspruchs. Aber in seinem Leben sind alle Antinomien nicht etwa aufgehoben, sondern selbstverständlich; rechtmässig. Wenn Sie mich recht verstehen wollen: die Antinomien sind lebbar. Sie sind zu leben in ihrem ganzen Widerspruch. Der Widerspruch ist hier, damit er bejaht werde. So nun zu den Dingen stehen, heisst: sie erfassen. Nicht dadurch, dass man sie irgendwie erforscht, sie erkennt, sondern erfasst. Und jetzt dürfen wir auch in der religiösen Sprache es sagen: Erfassen durch Leben und Heiligung. Erkennen hat freilich von jeher, urher einen doppelten Sinn. In der Bibel heisst es: und Adam erkannte sein Weib Chawa. Diese Erkenntnis in der Einigung mit dem Wesen, das ist die Erfassung, die ich meine. Und Heiligung, das heisst, in der jüdischen Ehetrauungsformel, da spricht der Mann zum Weibe: Du bist mir geheiligt. Die Dinge werden geheiligt. Die Dinge werden dem Menschen, der sie in Wahrheit und Leben erfasst geheiligt. Und dann dieses: Was in dem nachgelassenen Werke von Kant gesagt wird: (desselben Kant, der in früheren Werken sagt, Glauben sei blos etwas zwischen Wissen und Meinen, so eine schlechtere Art von Wissen und eine bessere Art von Meinen) der selbe Kant schrieb dann einmal: Es gilt die Welt der Dinge in Gott zu schauen. Das ist die Erfassung, die ich meine. Wie verhält sich nun diese Welterfassung zu all den geistigen Sphären, von denen ich früher sprach? Dass sie allerlei nebeneinander berechtigte Weltaspekte offenbart? Ich sagte so und möchte es wiederholen: Religion ist nicht eine der geistigen Sphären. Und sie ist auch nicht eine von deren Verbindungen. Sie steht wie das Licht mit den Farben. Sie ist deren All-ur-eins. Sie tut sich nicht zur Welt zusam-
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men. Es gibt kein religiöses Weltbild. Religion, die das will, treibt schlechte Metaphysik und verleugnet ihren Sinn. Alle die geistigen Sphären, die heute und in Zeiten wie diese so auseinander streben, dass jede dieser Welten für sich zu sein prätendiert, alle diese haben in der Geschichte ihren Ursprung in der religiösen Einheit. Sie treten aus der religiösen Einheit heraus und verselbständigen sich. Das ist in Wirklichkeit die Entwicklung eine Kulturwelt. Das Auseinandertreten in geistige Sphären, die immer in der Geschichte da ist, wo das Wort leibhaft in einem Menschen sich darstellt. Ich sage, aus dieser lebendigen, immer wieder in der Geschichte lebendigen religiösen Einheit tritt die geistige Sphäre heraus, auseinander, in ihre äusserste Selbstständigkeit hinein, die zugleich der Beginn ihrer Selbstaufhebung ist. Denn wenn es so weit kommt, dass geistige Sphären neben Sphären, Weltaspekte neben Weltaspekten stehen, sodass sie nichts miteinander anfangen können, und so wie Welt neben Welt unverträglich stehen, jedes für sich behauptet, die ganze Welt vorzustellen und doch nicht vorstellen kann, das ist der Beginn der Aufhebung all dieser Sphären als Sphären. Das ist der Beginn des Wiedereinstürzens all dieser verselbständigten Sphären in die religiöse Wirklichkeit. Wenn Erfassen der Welt der Weg der Kunst ist, ist deutlich, was die Kunst kann und darstellt in der religiösen Wirklichkeit. Wenn ein ägyptischer Bildhauer einen sitzenden König macht, dann will er nicht ein Kunstwerk unter andere Kunstwerke setzen, sondern er will den Tod besiegen. Er will den Weg der Verselbständigung der Kunst gehen aus dieser Bindung in die Einheit. Der Weg, den wir gehen, ist der Weg der Kulturentwicklung, wo jeder Einzelne seine Isolierung nicht mehr ertragen kann und in den Abgrund stürzt, aus der die Welt des Geistes sich wieder erneuert. Nun wäre es falsch zu sagen: in der Religion einigen sich die geistigen Sphären. Der religiöse Mensch sagt rechtmässig: In Gott. Wir leben auch heute noch in einer Zeit des Polytheismus; nur dass die Götter solche Namen haben, dass man nicht merkt, dass Götter gemeint sind. Damit glaubt man die Welt einfangen zu können. Alle diese Mächte sind jetzt das, was dem mythologischen Polytheisten der Urzeit seine Götter waren. Der Polytheist der Griechen war immer nur soweit Polytheist, wenn er von den Göttern »Er« sprach, wenn er zu einem Gotte sprach, dann meinte er den wirklichen Gott. Das ist die Unterlegenheit, dass man nicht Du zu ihm sagen, dass man sie nicht anreden kann. Was dann, wenn nun dieser Polytheismus als Forderung aufgestellt wird? Ich hörte eine Rede, wo es als herrlich bezeichnet war, dass jeder die eigene Herrschaft habe. So finde ich, dass alle diese Ausartungen nur möglich sind, wenn man Gott viel zu klein nimmt. Diese Götter können nur deshalb ihre Selbständigkeit präten-
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dieren, weil man, wenn man heute von Gott spricht nicht wirklich Gott meint. Weil man Gott hineinzieht in die Vielfältigkeit, weil man ihn mitten hineinstellt unter die kleinen Götter. Aber Gott ist gross genug, um alle diese Götter beherrschen zu können: die Götter der Kunst, der Wissenschaft und wie sie sonst alle heissen mögen. Ich sagte schon: eine Zeit wie die unsrige, ist eine Zeit der bedingten Selbstaufhebung, aber zugleich eine, in der sich die künftige Wiederermächtigung der geistigen Sphären aus der religiösen Einheit anknüpft. Ich möchte das noch an unserer Zeit verdeutlichen. Was wir heute wahrnehmen an Dingen unserer Zeit ist vor allem: wachsende Diskrepanz, ein wachsendes Auseinandergehen von Weltbegriff und Weltvorstellung. Mit einem Wort gesagt: die Welt wird immer begrifflicher und immer unvorstellbarer. Früher gab es Weltbilder. Der Ptolomäische Weltaspekt ist ein wirkliches Weltbild. Die ptolomäische Welt konnte man sich vorstellen: diese Erdkugel mit Sonnen, Sternen und Planeten. Die Keplersche Welt der zahllosen Weltkörper im unendlichen Raum kreisend, die freilich schon grössere Schwierigkeiten bot; aber auch da war noch die Vorstellung eines Weltbildes möglich. Die Einsteinsche Welt ist nicht mehr oder fast nicht mehr vorstellbar; und bald wird sie gar nicht mehr vorstellbar sein. Man kann es auch so ausdrücken: die Welt wird perspektiviert. Wir leben in einer Welt, aber wir können sie nicht mehr leibhaftig uns vergegenwärtigen, und die ganze moderne Naturwissenschaft und die ganze moderne Philosophie dienen dieser Entbildung der Welt. Sie lassen die Welt auseinanderfallen in eine Sinnenwelt, eine Welt der Substrate. In der zugrunde liegenden Naturwissenschaft heisst es: Energie der Aetherschwingung, die ein Unsinnliches an diese Sinnenwelt legt und den die moderne Philosophie konstatiert oder entdeckt hat. Auch dieses wieder in derselben Richtung: dieses unvorstellbare Wirken der Welt. Sie ist nicht mehr fassbar. Und fassbar nur in der pneumatischen Welt, in der Welt der geistigen Vielheit. In der Welt, zu der der Mensch in ein Verhältnis treten kann; nicht in irgendwelchen esoterischen Methoden, in dem Hinfinden zum Geheimnis des ganzen Wesens. Auch die moderne Wissenschaft und die moderne Philosophie in dieser Relativierung der Welt führt an die Schwelle, wo die Wissenschaft sich selbst aufheben muss, um dann in die Einheit zu stürzen, aus der sie einst wieder ermächtigt werden wird. Das ist die grosse Bewegung des Geistigen im Menschen, Systole und Diastole, das Ein- und Ausatmen des Grundwesens, Auseinandertreten in getrennte Es-Welt und Zusammenschliessen zur geeinten Du-Welt. Und beides: diese Vielheit und diese Einheit, beides zusammen, in seinem Wechsel, Gott bezeugend.
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Bisher wurde von vielen nicht erkannt, von welch großer Bedeutung für die allgemeine Religionsgeschichte die Geschichte göttlicher Offenbarung ist, wie sie sich uns in den fünf und vor allem in den beiden ersten der Bücher Mose darstellt. Ihre Bedeutung liegt darin, daß göttliche Offenbarung – und wir sind uns des mangelnden Inhalts dieses Begriffes bewußt – allein in der Thora wirklich vorkommt und nur hier beschrieben wird. Offenbarung setzt Verborgenheit einer Sache, deren Verhüllung, voraus, aus der sie ausbricht, um in die konkrete Welt hinauszutreten. Keine andere Religion kennt göttliche Offenbarung in diesem Sinne. Von den Göttern Homers will ich erst gar nicht reden. Doch sehen wir uns an, wie in der persischen Religion der Lichtgott zu seinem Propheten und wie Krishna in der Mahabharata zu Ardjuna spricht, so zeigt sich uns, daß wir mit einer Verhandlung zwischen zwar auf einer Ebene befindlichen Körpern allerdings verschiedener Art, von höherer und von niedererer Art, zu tun haben und nicht mit einem Hinaustreten aus einer oberen in eine untere Welt. Die Offenbarungsgeschichte der Thora ist deshalb für die Erkenntnis der Religionsgeschichte von so großer Bedeutung, weil sie uns ermöglicht, die religiöse Entwicklung des menschlichen Geschlechts nachzuvollziehen, und darüberhinaus Inhalte ganz besonderer Art vermittelt. Spreche ich von Religionsgeschichte, so meine ich nicht das Erbe einiger Hunderter vergangener Jahre religiöser theologischer Geschichte und auch nicht die auf den Katastrophen gegründete der letzten Jahre. Die unter dem Namen vergleichende Geschichte bekannte, moderne Religonsgeschichte sieht ihre Aufgabe darin, den organischen, Religion genannten Gebilden einzelne Motive zu entnehmen und zu zeigen, in welchen anderen Religionen ähnliche Formen vorkommen. In Frazers Buch über die Folklore im Alten Testament sehen wir z. B., wie aus den Thorageschichten einzelne Motive herausgelöst und ihrem Kontext entrissen wurden, um mit ihrer Hilfe zu beweisen, daß es bei anderen Völkern Gebote und Bräuche derselben Art gibt. Diese Abspaltung ist nichts anderes als ein Akt der Vergewaltigung und läßt das eigentliche Wesen der Religion außen vor. Das eigentliche Wesen der Religion liegt nämlich nicht in einzelnen Motiven, sondern im Kontext, mit dem sie verwoben sind, und in der von ihnen in der Verbindung miteinander angenommenen Form. Die vergleichende Religionsgeschichte bleibt im Vorzimmer der wissenschaftlichen Religionsforschung. In den
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Salon führt nur die Betrachtung der organischen Ganzheit des religiösen Konstrukts. Hierüberhinaus habe ich eine weitere allgemeine Bemerkung philologischen Charakters vorauszuschicken: Sage ich Geschichte, so meine ich die mit der Anordnung der Abschnitte der uns heute vorliegenden Fassung der Thora vorgegebene, geschichtliche Entwicklung. An dieser Stelle treffen wir auf ein Problem, entspricht doch diese Anordnung nicht der chronologischen Folge. Zu diesem von der modernen Bibelkritik aufgeworfenem Problem habe ich folgendes zu sagen: Hätte die Erforschung der Quellengeschichte eine wirkliche Grundlage, hätten wir eine verläßliche Quellengeschichte und dazu auch eine Geschichte mündlicher Traditionen – kann es doch späte, auf sehr alte mündliche Traditionen zurückgehende Bücher geben –, könnte man sich unter dieser Bedingung auf diese Geschichte verlassen und sie zur Grundlage nehmen. Doch ist diese Vorbedingung nicht gegeben, insbesondere heutzutage, wo die führende Schule der Quellenforschung eine schwere Krise durchläuft. Derzeit haben wir nur eine feste Basis zur Erforschung der Religionsgeschichte, der sogenannte R, Redaktor-Editor – mag es sich dabei um eine Person, eine Gruppe von Personen oder um eine ganze Generation handeln –, dem oblag, die verschiedenen überlieferten Quellen zu sammeln, miteinander zu verknüpfen und die einzelnen Schriftstücke zusammenzufügen. Allein das religiöse Bewußtsein dieser Gruppe von Personen bietet uns festen Grund und dient uns als Ausgangspunkt für eine Religionsgeschichte. Es ist ein Irrtum der modernen Wissenschaft, davon auszugehen, daß jener R weniger verstanden hat, als wir verstehen. Ich glaube, er hat mindestens so viel verstanden wie wir, und es ist beinahe sicher, daß er mehr als wir verstanden hat. Einer meiner Freunde hat treffend vorgeschlagen, die Bedeutung der Abkürzung R umzuändern und anstelle des Redaktors Rebbenu, unser Rabbi, zu setzen. Unsere Annahme, jener R biete uns festen Grund, findet darin Bestätigung, daß die Ergebnisse der allgemeinen Religionsgeschichtsforschung der Anordnung der einzelnen Ereignisse in der letzten, uns vorliegenden Fassung der Thora entsprechen. Nun will ich eine Übersicht über die Stufen der göttlichen Offenbarung geben. Man kann vier oder fünf unterscheiden, zunächst die Stufe vor der Geschichte der Stämme, d. h. der Geschichte vor Abraham. In dieser Epoche gibt es noch keine Erscheinung Gottes im genauen Sinne. Gott spricht zu den Menschen, bewegt sich mit ihnen auf einer Ebene. Es besteht noch keine Dualität der Ebenen. Und sie hörten Gott den Herrn wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war, usw. Die zweite Stufe ist die des Beginns der Stammesperiode, die Väterzeit. Erst hier
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treffen wir auf die Erscheinung der Gottheit. Die Offenbarung trägt dabei persönlich-objektiven Charakter. Die Erscheinung ist objektiv. Das Sichtbare – wie z. B. die drei Männer, die Abraham erschienen – ist vor den Augen aller offen, doch nur einer, derjenige, für den die Offenbarung bestimmt ist (Abraham), erkennt das Zeichen der Botschaft als Zeichen Gottes. Die Offenbarung ist also persönlich (auf einen Menschen gerichtet), doch ist sie objektiv und nicht Vision. Vorbedingung für diese erste Offenbarungsform ist die Verhüllung der zuvor selbstverständlichen Gegenwart Gottes. Um Offenbarung zu ermöglichen, mußte zunächst Verborgenheit sein. Die dritte Stufe gehört in die Zeit der plastischen Formung des Volkes, jenes einzigartigen Ereignisses am Berg Sinai, welches allein Bewegung in die Stammesgesellschaft brachte und diese in ein Volk umformte, offenbarte sich die Gottheit hier doch dem ganzen Volk. Diese Offenbarung trägt den Charakter einer universalen Erscheinung. Bei genauer Betrachtung sehen wir, daß sich die beiden biblischen Beschreibungen der Offenbarung am Sinai voneinander unterscheiden und ein gewisses Schwanken sichtbar wird. An einer Stelle wird gesagt, Gott habe sich dem ganzen Volk offenbart, und anderer Stelle wird gesagt, daß allein Mose, Aharon und die siebzig Ältesten zu Gott aufstiegen. Die vierte Stufe ist die der Staatsgründung und der Geschichte des Staates. Die universale Offenbarung hat schon zu existieren aufgehört. Im Buch der Richter sehen wir wohl noch deren Spuren. Gott spricht noch zum Volk, doch von der Landnahme an gibt es überhaupt keine universale Erscheinung mehr. Im bekannten Sinne ist hier schon der Abstieg sichtbar. Es erscheint die neue Form der prophetischen Offenbarung. Diese trägt persönlich-subjektiven Charakter. Die Erscheinung ist einer einzelnen Person bestimmt, doch handelt es sich nicht mehr um eine vor der menschlichen Welt offene Erscheinung, sondern um eine nur von dem Menschen, an den sie gerichtet ist, gesehene Vision. Diese Offenbarungsform zeichnet sich durch zwei wichtige Aspekte aus: abgesehen davon, daß es sich um eine Vision handelt, gilt, daß die Offenbarung nicht mehr an einen Stamm, sondern nur an eine Einzelperson gerichtet ist. Die Offenbarung Gottes vor den Vätern, den Stammesrepräsentanten, war gänzlich dem Stamm bestimmt und wurde über die Väter an deren Nachkommen vermittelt. Doch jetzt ist dies nicht mehr so. Die Menschen, an die die Offenbarung gerichtet ist, sind nicht mehr Repräsentanten, sondern Einzelpersonen, und nicht die Häupter des Volkes oder seine Herrscher, sondern im Gegenteil, diejenigen, die sich gegen die Herrschaft erheben und gegen das Volk und seine Repräsentanten ankämpfen. Die fünfte Stufe ist die des Staatsuntergangs. Die Tradition der göttlichen Offenbarung wird nun als literarische Form von sich mit
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Literatur beschäftigenden Menschen genutzt. Dies ist die Epoche apokalyptischer Literatur. Diese ist persönlich und intellektuell. Die Menschen machen sich Gedanken, stellen verständliche Fragen an Gott und erhalten verständliche Antworten, wobei sowohl Fragen als auch Antworten einer absolut menschlichen Sphäre angehören. In Bezug auf die ersten vier Stufen als Gesamtheit – die fünfte wollen wir vernachlässigen – stellt sich eine Frage: an wen richtet sich und wann geschieht göttliche Offenbarung? Die Quellen geben eine sehr klare Antwort: die Offenbarung richtet sich nie an einen Seßhaften, weder Mensch noch Volk; sie erscheint nicht einem in Ruhe niedergelassenen Menschen, sondern dem Entwurzelten, einem Menschen oder einer Menschengemeinde auf der Wanderung, gleich ob sie sich schon im Zustand der Wanderung befinden oder ob ihnen erst vermittels göttlicher Rede geboten wird, sich auf Wanderung zu begeben. Erst als Abraham seine Wanderschaft aufgenommen hat – heißt es: »und Gott erschien ihm«. Nun wenden wir uns der Frage nach der historisch-religiösen Entwicklung zu. In diesem Zusammenhang möchte ich mich nur auf die ersten drei Epochen konzentrieren. Die erste Epoche ist unter historisch-religiösem Aspekt als primitiver Monotheismus zu bezeichnen. Aus den Forschungen Andrew Langs und Peter Schmidts zur Entwicklung der Gottesidee und aus dem Buch »Dio« des Italieners Petazzoni ist uns bekannt, daß unter den Völkern, die als primitiv zu bezeichnen wir anerkanntes Recht besitzen, wie z. B. die Völker Zentralafrikas, daß unter diesen Völkern primitiver Monotheismus herrscht. Diese den Glauben an einen Himmelsgott als althergebrachten Glauben betrachtende Anschauung stößt auf großen Widerstand von Seiten der modernen Religionsgeschichte, vor allem von Seiten der unter dem Namen dynamistische Schule bekannten Richtung, als deren Vertreter der Engländer Markt gelten kann. Letzterer zufolge besteht die primitive Form des religiösen Glaubens nicht im Glauben an einen Menschen, sondern im Glauben an eine auf viele Gegenstände sich ausbreitende Kraft, deren Wirkung sich unter anderem in heldenhaften Menschen zeigt und der sich auch Zauberer bedienen können. Diese Kraft bezeichnet man mit dem australischen Namen »Mana« oder mit dem indischen »Orenda«. Ich bin in der Tat der Überzeugung – und hier gehe ich einen nicht unbedeutenden Schritt weiter, über diese beiden Anschauungen hinaus –, daß sich die beiden Anschauungen einander nicht widersprechen. Den Beweis hierfür können einige indische Stämme liefern, bei denen mit einem gemeinsamen Wort sowohl eine als gesondertes Wesen existierende Gottheit als auch eine dem »Mana« ähnliche Kraft bezeichnet werden. Der primitive Glaube hat die Tendenz, an eine in kosmischen Erscheinungen verbreite-
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te, herrschende Kraft, zugleich aber auch an eine höchste Konzentration dieser Kraft zu glauben. Vielleicht ist in solch einer Anschauung – ich formuliere dies allein als Hypothese und verbunden mit vielen Fragezeichen – der Ursprung der Pluralform des Namens ELOHIM zu suchen. Diesen Zeiten, den Zeiten des primitiven Menschen, entspricht soziologisch jene Epoche, in der die Stämme noch keine Kriege gegeneinander führten, da die Menschen als Jäger, Fischer oder Hirten an einem der fruchtbaren Orte der Erde lebten und so keinerlei Bedürfnis hatten, zu wandern oder andere Stämme ihres Landes zu berauben. In dieser Epoche ist es natürlich, daß ein Stamm einen einfachen, nicht aufgrund einer Tradition, sondern aufgrund der natürlichen Bedingungen gültigen und allen Stammesmitgliedern gemeinen Begriff von Gott hat. Wanderten einzelne Menschen aus einem der Stämme zu einem anderen Stamm über, fanden sie dort ihre Gottheit eben nur unter anderer Bezeichnung wieder. In dieser Epoche gab es noch keine Namen für die Götter, sondern man bezeichnete und beschrieb sie. Dieser Entwicklungsstufe entspricht die frühe Gottheitsgeschichte. Die Gottheit offenbart sich nicht, weil sie, wenn man so sagen kann, selbstverständlich ist und mit den Menschen auf einer Ebene in Berührung kommt. Das in der Thora als Bündniszeichen zwischen Gott und den Menschen genannte Zeichen, der Regenbogen, ist universal und gehört nicht nur einem Stamm allein. In der zweiten Epoche beginnen die Stammeswanderungen, Kriege zur Eroberung von Land um dieses zu bewirtschaften. An der Frontlinie treffen so Sprache auf Sprache, Gott auf Gott. Die wandernden Stämme werden von ihren Göttern angeführt. Der Gott des einen muß den Gott des anderen besiegen. Auf diese Weise entsteht Krieg zwischen den Göttern. Die ursprüngliche einheitlich-naïve Anschauung der Gottheit zerbricht und wird durch eine Mehrzahl von Stammesgöttern ersetzt. Nun tragen die Götter auch verschiedene Namen. Dieses Ringen wird in der Bibel mit dem Namen »Babel« bezeichnet. Neben diesem primären Zerfall der göttlichen Substanz und deren Ablösung durch die Stammesgötter ereignet sich in dieser Epoche in allen Stammesreligionen ein weiterer Zerfall – und trotz ihrer großen Bedeutung wurde dieser Angelegenheit bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt –: ein dualistisches Zerbrechen aus dem Inneren. Der Zerfall setzt sich in einer Weise fort, daß selbst der Gott eines Stammes nicht in seiner Einheit bestehen bleibt, sondern sich immer mehr verzweigt. Diese Erscheinung nenne ich primitiven Dualismus. Es kann sich dabei um einen systematischen Dualismus handeln, wie er in der persischen Religion zu beobachten ist, in der der Gott des Lichts und der Gott der Finsternis einem System angehören und im Rahmen einer Welt gegeneinander einen solange diese besteht währenden
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Krieg führen; anders kann er eine mit der Dualität der frühen und der mittleren Gottheit der Babylonier repräsentierte Form annehmen. Des weiteren besteht die Möglichkeit eines konkreten Dualismus: die beiden Götter sind einander nicht Widersacher oder gegenseitige Helfer, auch ergänzen sie sich nicht gegenseitig, sondern befinden sich in zwei völlig getrennten Systemen. Mir scheint, letztere stellt die allen semitischen Völkern gemeinsame Grundform dar. Vernachlässigen wir Zwitterformen, so finden wir einerseits – darauf wies schon Robertson Smith hin – den Stammesgott, den göttlichen Herrscher, den den Stamm anführenden und sich um dessen Fruchtbarkeit und Unbesiegbarkeit kümmernden Gotteskönig. Diesen Stammesgöttern steht andererseits der Landesgott gegenüber, welcher Herr über ein gewisses Land ist, über jenes vom wandernden Volk von Zeit zu Zeit aufgefundene Land. Das ist der Gott Baal. Der Unterschied zwischen diesen beiden Göttern zeigt sich vor allem im Gottesdienst. Der primitive Gottesdienst war mit Zaubereien und mit Sexualität verbunden. Man gibt Gott, was man von ihm zu erlangen sucht. Man wünscht sich vom König, daß er den Boden fruchtbar mache – aus diesem Grund beschreibt man ihn immer in Verbindung mit einer weiblichen Gottheit, der Erdgöttin – aus diesem Grund veranstaltet man zu seinen Ehren mit besonderen Gebräuchen verbundene Fruchtbarkeitsfeste, wie sie uns im antiken Griechenland unter dem Namen »Hieros Gamos« begegnen: ein Menschenpaar betritt das Bündnis der Ehe und will, daß Gott ihm gleichtut. Nur mit diesem mächtigen Ereignis in der Geschichte des menschlichen Geistes, mit dem Sich-Verbergen der Gottheit, erfüllt sich die notwendige Bedingung für die göttliche Offenbarung. Das Sich-Verbergen ist Vorbedingung der Offenbarung, wie die Sünde der Sündenvergebung vorausgeht. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Geschichte der im Alten Testament von der Zeit der Väter bis zur Landnahme beschriebenen göttlichen Offenbarung zu verstehen. Diese biblische Gottesoffenbarung ist eine Form des Protestes gegen die Aufteilung in zwei Götter. Anstelle des ersten naiven, keinerlei Dualität kennenden Einheitsglaubens erscheint nun ein zweiter, als göttliche Offenbarung sich darstellender Einheitsglaube, welcher von der Dualität weiß und gegen sie ankämpft. Es wird sich zeigen, daß Gott inmitten des Volkes geht und sich dennoch an seinem Ort befindet; diese Gottheit ist eine die Dualität ausmerzende Gottheit. In der Geschichte von Jakob in Beit El sehen wir, daß Gott mit Jakob ist und doch an den Ort seiner Residenz zurückkehrt. In diesem Zusammenhang erscheint auch der doppelte Gottessegen: Vermehrung des Stammes und Fruchtbarkeit der Erde. Die göttlichen Aufgaben des Königs und des Baal sind vereint. Zeigt sich Gott Abraham und sagt ihm:
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»Geh vor mir her«, so ist dies nicht als gleichnishafte oder figurative Rede zu verstehen, sondern in einfacher wörtlicher Bedeutung: Geh mir als Bote voran, vermittels der Offenbarung gehe ich mit dir. Auch steht geschrieben: Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr. Doch trotz dieses Versprechens kehrt Gott nicht zurück. Stattdessen heißt es: Hier ist ein Sohn, die Leibesfrucht der Mutter ist die Tat Gottes. Oder Gott erscheint Jakob auf dem Weg seiner Wanderungen, wie geschrieben steht: »Und der Herr stand oben darauf« – ein ganz besonderer Ausdruck; als würde Gott Jakob bedecken – und Jakob errichtet diesem mit ihm gehenden und dennoch am Ort seiner Gegenwart bleibenden Gott ein Steinmal. Diese Einheit an jedem Ort ist Ausdruck des Protests gegen die Dualität, gegen die Aufteilung Gottes in Erdgötter und Stammesgötter. Dieser Entwicklungsstufe entspricht das zweite, schon nicht mehr universale Bündniszeichen der Vermehrung und Fruchtbarkeit, die Beschneidung. In dieser Stufe bestehen Beschreibung Gottes und Gottesname nebeneinander. Erst jetzt werden Gottesnamen eingeführt, da erst jetzt ein Gegensatz in Gott besteht. In der Bibel gibt es in dieser Epoche nur einen Gottesnamen, das Tetragramm. Doch der Gottesname ist noch unklar, sein Wesen ist noch nicht bekannt. Der Protest manifestiert sich hier in Form eines Versprechens. Gott verspricht Vermehrung des Volkes, Landnahme, Fruchtbarkeit der Erde. Dennoch erkennt das Volk nicht, daß Gott seinem Wesen nach Einer ist und seinen Geschöpfen zur Seite steht und sie rettet. Darauf folgt das unsere Aufmerksamkeit verdienende Intermezzo der Niederlassung Israels in Ägypten. Wir haben keinerlei Kenntnisse bezüglich der Gefährdung der hebräischen Religion durch den ägyptischen Dualismus. Die grundlegende ägyptische Form des Dualismus besteht in der Unterteilung in Ober- und Unterwelt, Lebensgötter und Todesgötter. In der Geschichte der hebräischen Religion können wir keinerlei Spuren derselben entdecken. Was bei uns in Sachen Unterwelt verblieben ist, ist von so geringer Bedeutung, daß man darin kaum einen Einfluß der ägyptischen Religion wird sehen können. Ich erlaube mir, anzunehmen, daß der Stamm gegen fremden Dualismus immun ist. Doch das Volk war durch den semitischen Dualismus bedroht. Der Auszug aus Ägypten erhöhte diese Gefahr die eine dreifache war: Zunächst bestand wegen der Gefahr der dualistischen Mythologie immer auch die Gefahr, daß der Glauben an den einen Gott durch den Glauben an Baal oder an den König überlagert wird. Des weiteren bestand die Gefahr von den Gebräuchen des Gottesdienstes abzukommen. Da waren Menschen, die zwar an den einen Gott glaubten, den Gottes-
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dienst aber auf eine Baal oder dem König angemessene Weise verrichteten: durch die Opferung der erstgeborenen Söhne wollte man Gott nötigen, den Stamm fruchtbar zu machen. Gegen Verstöße gegen den Gottesdienst gibt es viele Formen des Protestes. Die Bindung Isaaks ist vielleicht eine davon. Die Geschichte will uns sagen: der wahre Gott will keine Kinderopfer. Einmal verlangte er solch ein Opfer, doch nur um Abraham zu versuchen. Letztendlich gebot er, es in ein Tieropfer zu verwandeln. Ein Protest dieser Art ist die Auslösung der eigentlich Gott geweihten erstgeborenen Söhne. Wir begegnen in diesem Zusammenhang Jeremias, der sagt: ich habe nicht geboten, die Söhne zu verbrennen. Dies ist als Protest gegen den Glauben zu werten, demzufolge man dem wahren Gott mit magischen Taten dienen kann. Damit haben wir die dritte Gefahr benannt, die Magie, der Glaube, daß Menschen die Gottheit zwingen können, in der ihnen notwendigen und nützlichen Form zu erscheinen. Diese dritte Gefahr ist die tiefste und läßt die meisten Übel erwarten. Die entscheidende, mit der endgültige Entdeckung des Gottesnamens verbundene Manifestation stellt die Erscheinung im Dornbusch dar. Hier sehen wir Gott auf Moses Frage »Wer bin ich, daß ich zum Pharao gehe« antworten: »Ich will mit dir sein«. Ich will mit dir sein, ich will auf deinem Weg zu Pharao gegenwärtig sein, und dies ist das Zeichen. Am Ende des Gesprächs, als Mose sich weigert, den Auftrag Gottes anzunehmen, finden wir wiederum das Versprechen von der Anwesenheit Gottes: »Ich will mit deinem Munde sein«. Zwischen diesen beiden Versprechen des »ich werde sein« steht das zweifache »ich werde sein«, »ich werde sein, der ich sein werde« – wie mir scheint, das erhabenste Offenbarungswort. Das Volk fragt Mose: »Wie ist sein Name?« Es kann nicht sein, daß Moses meint, das Volk frage ihn nach dem Namen Gottes, war dieser doch schon den Vätern bekannt. Antwortet die moderne Bibelforschung hierauf, R habe das Buch Genesis nicht gekannt, benimmt sie sich der Möglichkeit, sich ernsthaft mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. Die uns diese Verse bewahrt haben, wußten, was sie tun, als sie sie nicht ausstrichen. Der Name war zwar schon bekannt, doch war er unklar. Worin besteht die Bedeutung des Gottesnamens für den primitiven Menschen? Mit dem Namen Gottes kann man diesen beschwören, ihn zwingen, in der jeweils erwünschten Gestalt zu erscheinen. Das Volk fragt: Was ist der Inhalt des Namens? Wir befinden uns in Not, wie können wir den Namen Gottes für unsere Rettung nutzen? Die Antwort ist: ich werde sein, der ich sein werde. Maimonides hat diese Antwort ausgelegt, als beinhalte sie die Kunde Gottes von seiner Ewigkeit. Doch stimmt diese theologische Interpretation nicht. Gott predigt keine Theologie, sondern
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reagiert auf das, was die Menschen zum gegebenen Zeitpunkt fordern. Gott antwortet auf göttliche Weise auf die Not der Menschen. Gott verkündet hier nicht seine Existenz, sondern sagt, daß er armen und hilfsbedürftigen Menschen helfen wird. Dies wurde schon vom Midrasch und sehr deutlich von Jehuda Halevi erkannt. Das erste »ich werde sein« lehrt: ich befinde mich meinem Wesen gemäß hier. Ich bin der in seiner Schöpfung anwesende Gott, deswegen müßt ihr mich nicht beschwören und meine Gestalt hervorbringen. Das zweite, darauffolgende »ich werde sein«, in dem das Wort »der« als Verbindungswort zwischen den beiden gleichen oder ähnlichen Verben erscheint, hat die Bedeutung: »es wird sein, wer sein wird, wo er sein wird, wann er sein wird«. Ich befinde mich hier der Substanz meines Wesens gemäß, doch immer in derselben von mir gewollten Gestalt, und diese Gestalt ist nicht gegen meinen Willen zu erobern. Die Absicht des ersten »ich werde sein« ist also: Ihr habt es nicht nötig, mich zu beschwören. Das zweite besagt: Ihr seid auch nicht in der Lage, dies zu tun. Hier zeigt sich Gottes Sein in seiner ganzen Tiefe. Der Protest gegen die Dualität erhält positive Formen: Das Geschöpf kann sich an Gott wenden. Gott befähigt das Geschöpf, sich an ihn zu wenden, zu ihm zu sprechen, mit ihm zu reden, nicht ihn zu beschwören, sondern sich mit ihm in eine wahre gegenseitige Handlung zu begeben und seine rettende Anwesenheit zu erkennen. Dieser entscheidende Moment ist frei von dem der Religion als solcher innewohnenden magischen Element. Zweifelsohne kommt dies Ereignis der Klärung des Gottesnamens gleich. Ich möchte mich hier nicht in wissenschaftliche Hypothesen religionshistorischer oder philologischer Art ergehen. An oberster Stelle steht die traditionelle Anschauung der Thora selbst. Von hier aus entwikkelte sich das religiöse Leben der Söhne Israels. Dies ist recht eigentlich das Geheimnis des israelitischen Glaubens. Wir haben keine Mysterien, unser Geheimnis ist nicht verschlossen und allein den Heiligen vorbehalten, sondern allen offen. Zum Schluß werfen wir einen Blick auf das Volk. Ohne Magie war es gezwungen, die Verkündigung der göttlichen Einheit – wie in den ersten drei der Zehn Gebote überliefert – allem voranzustellen. Das Mysterium des Wortes zeigt sich und gelangt zur Vollendung im Stiftszelt, der wandernden Residenz, die gleichermaßen feste Residenz und umhergetragenes Zelt ist. Mit der Errichtung des Zeltes hört Gott auf, zu erscheinen, tritt er doch nicht mehr aus dem Versteck seines Geheimnisses heraus. Die Offenbarung hat schon stattgefunden. Gott befindet sich inmitten. Er offenbart sich nicht mehr, sondern ist anwesend. Indem er sich unter den Söhnen Israels aufhält, verkündet er seine Anwesenheit. Was in dem
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Wort »ich werde sein« zum Ausdruck kommt, wird durch das Zelt versinnbildlicht: dem Symbol der Anwesenheit Gottes in der Welt.
Nach dem Tod. Antwort auf eine Frage
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Wir wissen nichts vom Tod, nichts als die eine Tatsache, daß wir »sterben« werden – aber was ist das, sterben? Wir wissen es nicht. So geziemt uns anzunehmen, daß es das Ende alles uns Vorstellbaren ist. Unsere Vorstellung ins Jenseits des Sterbens verlängern wollen, in der Seele vorwegnehmen wollen, was der Tod allein uns in der Existenz zu offenbaren vermag, scheint mir eine als Glaube verkleidete Ungläubigkeit zu sein. Der echte Glaube spricht: Ich weiß nichts vom Tod, aber ich weiß, dass Gott die Ewigkeit ist, und ich weiß dies noch, daß er mein Gott ist. Ob das, was wir Zeit nennen, uns jenseits unseres Todes verbleibt, wird uns recht unwichtig neben diesem Wissen, daß wir Gottes sind – der ja nicht »unsterblich«, sondern ewig ist. Statt unser Selbst uns lebend wiewohl tot vorzustellen, sollten wir uns auf einen wirklichen Tod bereiten, der vielleicht die Endschranke der Zeit, der aber, wenn es sich so verhält, gewiß die Schwelle der Ewigkeit ist.
Die Tränen Cohen schreibt (in seinem großen Nachlaßwerk): »Es gilt nun, den Begriff Gottes so zu bestimmen, daß die Schöpfung kein eigenes Rätsel bildet, sondern in der Definition Gottes seine Lösung findet. Die Mythologie wird sonach durch die Definition Gottes überwunden.« Und nach 60 Zeilen einer meisterlichen Dialektik: »Logisch ist damit das Problem gelöst. Und logisch bildet die Schöpfung kein Rätsel mehr. Nur im Begriffe Gottes könnte es noch gefunden werden, hier aber wird es durch die Einzigkeit gelöst. So ist die Schöpfung die Konsequenz der Einzigkeit.« Als ich dies zum erstenmal las, wurde mir meine bewundernde Aufmerksamkeit von einem in dieser Kraft selten erfahrenen Gefühl zerspalten: mir wurde unheimlich zumut. Nicht bloß lyrisch-unheimlich, wie als mir in meiner Jugend Nietzsches Zarathustra weismachen wollte, Gott seit tot; das war ja, so großartig es auftrat, doch erkennbar als die alte Feuerbachsche Verwechslung einer menschlichen Gottesvorstellung mit dem wirklichen Gott. Eben den aber meinte Cohen, zu ihm bekannte er sich in diesem Buch. Mitten im Bekenntnis nun dies von der Definition zu hören, durch die das Problem gelöst und das Rätsel aufgehoben werde, das war um so realer unheimlich, als ich zehn Seiten zuvor gelesen hatte: »Es ist die Probe des wahren Gottes, daß es kein Bild von ihm geben kann. Er kann nie durch ein Abbild zur Erkenntnis kommen« – also auch durch kein logisches Abbild, durch keinen Begriff! – »sondern einzig und allein nur als Urbild, als Urgedanke, als Ursein.« Urgedanke – und Definition! Aller Zugriff der Kunst erschien mir rechtmäßig neben diesem Uebergriff der Logik. Michelangelo wußte in der sixtinischen Kapelle, daß er das Geheimnis nicht abkonterfeite, nur eben seine unberührbare Geheimnishaftigkeit, sein unwandelbares Rätselbleiben in der bildnerischen Sprache aussprach. Hier aber redete dieser prächtige, prächtig musikverständige alte Mann, den ich gekannt hatte, aus dem Grab hervor und vergaß, daß alle begriffliche Rede um das Geheimnis nichts andres sein darf, als je und je das Heben des Taktstocks, ehe ein neuer Chorgesang an das Geheimnis ertönt. Das Herz, mein, des Ueberlebenden leibliches Herz wurde mir unheimlich schwer. Ich dachte: »Damals, vor drei Jahren, ist es zwischen ihm und mir doch noch um andres gegangen als um Völker, Staaten und Zion.« Und dann dachte ich: »Ach, darauf kommt es ja gar nicht an, nur – wie geht das zu? Wie ist es mit dem Geist, wenn er bekennt? kann er da noch – widerstehn?!«
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Aber einige Jahre danach las ich im Manuskript einer Anmerkung zu Franz Rosenzweigs »Jehuda Halevi«: »Als Hermann Cohen noch in Marburg war,« – also lange vor der Stunde des Bekennens!– »setzte er einmal einem alten Marburger Juden die Gottesidee seiner Ethik auseinander. Der hörte ehrfurchtsvoll zu, nur als Cohen fertig war, fragte er: ›Und wo bleibt der Baure Aulom?‹ Da antwortete Cohen nichts und brach in Tränen aus.« Mein erster Gedanke war: »Bin ich denn legitimiert, die Frage zu wiederholen?« Aber mein zweiter: »Und wenn ichs wäre, – sie i s t beantwortet.« Als ich heute den Abschnitt des Nachlaßwerkes wieder las, hörte ich jene Tränen in der Stimme des Sprechers und war daheim.
Philon und Cohen (Ein Fragment) Zwei Juden einer »späten« Zivilisation, beide zwiefältig gebunden, an die biblische Ueberlieferung und an das System eines philosophischen Genius, jene mit diesem zu versöhnen bestrebt – aber was heißt das, versöhnen? Platon und die Schrift, Kant und die Schrift, was ist das für ein Gegenüberstehen? Die Schrift, jenes sogenannte Alte Testament, ist im Schrifttum aller Völker die einzige Urkunde eines konkreten Handelns zwischen Gott und den G e s c h l e c h t e r n der Menschen, in der Form des Berichts an den Ursprung, in der Form der Verheißung an das Ziel dieses Handelns rührend. Dieses konkrete Handeln, von Gott auf die Menschen, von den Menschen auf Gott zu, beides in und an dieser unserer sinnenfälligen Welt, dieses handelnde Zwiegespräch ist, von der Schrift aus betrachtet, eben das, was wir Welt-Geschichte nennen. Für dieses konkrete Handeln ist in dem großen Gedankenbau Platons, in dem großen Gedankenbau Kants nicht etwa bloß kein Platz, sondern schlechthin kein Raum; es könnte von einem Geist wie Plato, wie Kant, nur in einem Augenblick anerkannt werden, in dem er seinen eigenen Bau verließe. Ich habe Grund zu vermuten, daß es solche Augenblicke im Leben des Menschen Platon, des Menschen Kant gegeben hat; innerhalb ihres Systems haben sie davon nur indirektes Zeugnis abgelegt. Es ist da etwas, was auf Seiten der Philosophie dem »edlen Schweigen« Buddhas entspricht und dem wir eben die Philosophie verdanken. Nicht als ob Platon oder Kant das Wort »Gott« zu vermeiden suchte. Aber ehe sie es gebrauchen, nehmen sie diesem gewagtesten und zuverlässigsten Wort der Menschensprache die ihm innewohnende Fähigkeit, zu einem Namen zu werden, mit dem man den Träger des Namens anrufen kann. Gott, das ist hier eine »Idee«, bei Platon eine »geschaute«, bei Kant eine nur »postulierte« Idee. Das bedeutet keineswegs, wie man es zuweilen mißverstanden hat, etwas nur »im Geist« Existierendes, vielmehr eine Art des Seins, die von der alles uns bekannten Seins so unbedingt verschieden, ihr so unbedingt überlegen ist, daß eine reale Beziehung zu ihr unmöglich, ja undenkbar wird. Diesem Gott Teilnahme an einem konkreten Handeln, an einem Zwiegespräch der Weltgeschichte zuzuschreiben, wäre sowohl Platon wie Kant, dem griechischen und dem deutschen Denker, wider den Sinn gegangen. Nicht so dem jüdischen, der Platons, der Kants Philosophie in das Herz seines Gedankens aufgenommen hat. Was für jene nur verschwie-
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gene Augenblicke füllt, die Einsicht in die Konkretheit göttlichen Wirkens, das dialogische Weltgefühl, ihm, dem Juden, ist es das ganze Leben! In seiner großen Urkunde hat er es überliefert bekommen, aber in immer neuen Zielen liest er es aus seinem eigenen Schicksal. Und nun tritt ihm wieder und wieder jenes große System der Ideation entgegen, nicht mit dem bloßen Anspruch auf Wahrheit: mit den leuchtenden Zügen der Wahrheit im Antlitz. Dieser so ihm sichtbar werdende Bildner oder Baumeister des Geistes bekennt sich mit seinem Werk zur Einheit des Seienden. Aber ist es nicht eben dies, was die Schrift verkündet? Und muß es nicht so sein? Muß nicht die Sprache des Denkens demselben Urwort dienen wie die der biblischen Offenbarung? Kann es denn zwei Wahrheiten geben? Es will mir fast scheinen, es sei jener Grieche von keinem Griechen, jener Deutsche von keinem Deutschen so leibhaft ernst genommen worden wie hier von dem »intellektualen« Juden, der sich, dem sich die Aufgabe stellte, die Wahrheit Platons, die Wahrheit Kants in der Bibel wiederzufinden. Aber dergleichen ist vergebliches Bemühen. Zwei Wahrheiten kann es gewiß nicht geben, sondern nur Eine, die aber ist nicht des Menschen. Unser kann nur unser Realverhältnis zur Wahrheit werden, vielfältig gemäß der Vielfältigkeit des Menschengeschlechts; die großen Systeme sind Aeußerungen denkerischer Realverhältnisse zur Wahrheit, – daher das Leuchten auf ihrem Gesicht. Es gibt jedoch ein Drittes: das ist die lebendige Wirklichkeit, in der wir stehen, nie als Wahrheit erfaßbar, aber uns lebend und von uns gelebt, auf uns wirkend und durch uns gewirkt. Von ihr aus, wie kein anderes Buch, redet die Bibel, auf sehr menschliche Weise, nicht in reinem, einigem, streng gegliedertem Laut wie die Systeme, vielmehr stammelnd, brüchig und ungefüg, aber von der Wirklichkeit aus. Platons Realverhältnis zur Wahrheit, Kants Realverhältnis zur Wahrheit ist nicht in der Bibel »wiederzufinden«, nicht mit ihr zu »versöhnen«, ob man sie nun allegorisch auszudeuten sucht wie Philon, oder begrifflich zu umschreiben wie Cohen. Sie spricht aber auch nicht ein eigenes Realverhältnis zur Wahrheit aus, das neben jene zu stehen kommen könnte; sie spricht ja gar nicht wie sie über die Wahrheit, sondern nur eben von der Wirklichkeit aus. Dort ist Aether und Sphärenklang, hier ist die Heimat des Menschen. Dorthin denken wir mit, hier leben wir unser Leben und sterben unsern Tod.
Religion und Philosophie 1 Ich will nur ein Schwellenproblem von neuem aufwerfen, – nicht die Beziehungen zwischen Religion und Philosophie darstellen oder erörtern, sondern auf eine mögliche echt dialogische Auseinandersetzung zwischen beiden hinweisen und als deren unumgänglichen Anfang die gegenseitige Determination aufzeigen. Nicht Definition ist zu suchen, also eine Formel, in der der Definierte sein Wesen wiederzuerkennen hätte, sondern Determination als Ermittlung des wesensmäßigen gegenseitigen Verhältnisses. Es geht nicht um eine Abgrenzung zweier benachbarten Teile einer Fläche gegeneinander, sondern um eine Bestimmung zweier Ebenen in ihrer gegenseitigen Lage; somit sind weder die beiden Gebiete noch auch nur die sie scheidende Linie aufzuzeichnen, es ist bloß ihr Neigungswinkel anzugeben. 2 Die Schwierigkeit einer radikalen Unterscheidung der beiden Begriffe ist am besten an vertreterischen Personen zu vergegenwärtigen. Epikur lehrt nicht bloß, daß es Götter gebe, nämlich unvergängliche, in den Räumen zwischen den Gestirnen lebende Wesen von reiner Vollkommenheit, aber ohne Macht über die Welt und ohne Interesse an ihr, sondern er unterweist auch, man solle diese »Götter« verehren, ihnen fromm und geziemend opfern; er selbst verehrt und opfert, aber im Fortgehen zitiert er eine Komödienfigur: »Ich habe Göttern geopfert, die meiner nicht achten.« Hier ist ein Dogma und eine Kultübung, und doch offenkundig keine religiöse sondern eine philosophische Lage. Buddha behandelt die Götter des Volksglaubens, wenn er sie überhaupt erwähnt, mit gelassener Ironie, diese sterblichen, fragwürdigen, mit der Fessel des Begehrens gebundenen, ins »Rad der Geburten« verflochtenen Gestalten; Verehrung gebührt ihnen auf keinen Fall, die Legende läßt sie folgerichtig ihm, dem »Erwachten«, Verehrung darbringen. Ein wahrhaft Göttliches, ein »Ungeborenes, Ungewordenes, Unerschaffenes«, kennt Buddha wohl, aber nur in solcher völlig negativer und entpersönlichender Umschreibung; er weigert sich, über das Seiende eine Aussage zu machen und es damit unter den Satz vom Widerspruch
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zu stellen. Hier ist weder Gotteskunde noch Gottesdienst, und doch unverkennbare religiöse Wirklichkeit. 3
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Von den Abgrenzungsversuchen sind hier zur Verdeutlichung unseres Anliegens nur zwei heranzuziehen. (Die psychologischen und pragmatistischen bleiben schon deshalb unberücksichtigt, weil sie den Ernst der Wahrheits- und Daseinsfrage verkennen und den entscheidenden Umstand vernachlässigen, daß, wo immer unzweideutig religiöses Leben zu finden ist, auch die Gewißheit des F a k t i s c h e n besteht.) Die eine Abgrenzung, der klassische Versuch der nachkantischen Philosophie, ist die nach Formen der Wahrheits-Wahrnehmung. Man unterscheidet etwa eine »reine« philosophische und eine »allegorisch« und »mythisch« gebrochene religiöse Form. Zuweilen tritt eine ergänzende Abgrenzung nach den persönlichen Trägern der Wahrnehmung, dem rohen »Volk« und der Auslese, hinzu, eine abartende Wiederkehr vorkantischer Gedankengänge. – Der Irrtum dieser Abgrenzung beruht in der Neigung der Philosophie, die Religion wie sich selbst als noëtisch begründet anzusehen, nur eben als eine unzulängliche Noësis, ihr Wesen also im Erkennen eines Objekts zu erblicken, das sich zu diesem Erkenntnisakt gleichgültig verhält; den Glauben versteht die Philosophie dann als ein zwischen klarem Wissen und trübem Meinen liegendes Fürwahrhalten. Wogegen die Religion, insofern sie überhaupt von Erkennen spricht, darunter kein noëtisches Verhalten eines Denksubjekts zu einem neutralen Denkobjekt versteht, sondern die reale Gegenseitigkeit eines in der Fülle des Lebens gegenwärtigen Kontakts von wirkender Existenz zu wirkender Existenz, also ein »Erkennen« im biblischen Sinn – wie es von Adam heißt, daß er sein Weib erkannte; und den Glauben versteht sie dem Wortursprung gemäß als Geloben, d. h. »als ein sich Verbinden, Vermählen oder Eingehen« (Franz Baader). Die andere Abgrenzung, der reife Versuch der modernen Philosophie, ist die nach Zielen oder Gehalten der Intention. Danach ist die Philosophie auf Wesenserforschung, die Religion auf Heilserkundung gerichtet. Nun ist das Heil freilich eine echt und eigentümlich religiöse Kategorie, aber seine Erkundung ist nur betrachtungsmäßig von der Wesenserforschung geschieden. Es ist vielmehr die vornehmste Tendenz der Religion, die wesenhafte Einheit beider darzustellen. So ist der alttestamentliche,
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auch in der Sprache des Evangeliums bewahrte, »Weg Gottes«, – worunter keineswegs eine Summe von Vorschriften für den menschlichen Wandel, sondern primär wirklich der Weg Gottes an der Welt und durch sie zu verstehen ist – zugleich der eigentliche Bereich des Gotteserkennens, da er Gottes Sichtbarwerden in seinem Wirken bedeutet, und als das Urbild für die Imitatio Dei der Heilsweg des Menschen. Ebenso ist das chinesische Tao, die »Bahn«, in der die Welt schwingt, zugleich der kosmische Ursinn und, indem der Mensch diesem sein Leben konformiert und »Nachahmung des Tao« übt, die höchste Vollendung der Seele. – Aber darüber hinaus ist zu beachten, daß die Religion, so hoch sie jene Intention stellt, sie nicht als das Höchste und Eigentliche faßt: was hier in der intendierenden Haltung eigentlich intendiert wird, ist die intentionsbefreite Haltung; worum es der Heilssuche zu tun ist, ist die A u s w i r k u n g des Heils, – der »Weg« ist das Unwillkürliche, die Übereinstimmung. Philosophie meint wirklich das Philosophieren, Religion meint, je realer sie ist, um so mehr ihre eigene Überwindung: sie will aufhören, die Spezialität »Religion« zu sein, und will das Leben werden, es ist ihr letztlich nicht um die spezifischen religiösen Akte, sondern um die Erlösung von allem Spezifischen zu tun, historisch und biographisch strebt sie zum reinen Alltag hin. Religion ist in der religiösen Anschauung das Exil des Menschen; seine Heimat ist das unwillkürliche Leben »im Angesicht Gottes«. Es geht gegen den realsten Willen der Religion, sie von dem Ausbau ihrer Spezifikationen aus zu umschreiben statt von ihrer Lebensmäßigkeit aus – dies freilich muß so geschehen, daß sich ihre Spezifikation nicht in einer Universalität verflüchtige, sondern in einer Fundamentalität verfestige.
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4 Religion ist nicht eine übergeschichtliche Wesenheit, die sich historisch und biographisch nur kundgäbe; sondern das Historische und Biographische, die Lebensgeschichte der Religionen und die der religiösen Menschen, ist der Religion ihr Dasein selber: keine religiöse Äußerung kann von ihrer raumzeitlichen Einmaligkeit, von ihrer historisch oder legendär erinnerten Situation abgelöst werden, ohne ihren religiösen Charakter einzubüßen. Da überdies das Biographische hier überall in das Geschichtliche eingebettet liegt, ist die Gesamtheit der Religionen der angemessene Ausgangspunkt unserer Betrachtung. Es geht nicht an, etwelche aus der Reihe der Religionen »streichen« zu wollen, weil sie einer gegenständlichen oder funktionalen Definition des Religiösen nicht
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entsprechen. Auf der einen Seite ist das »edle Schweigen« einiger östlichen Religionen über jenes »Ungewordene« zu beachten (als welches nicht logisiert werden darf), auf der andern die Tatsache, daß auch für den Gläubigen des Judentums und des Christentums im Herzensgrund der substantivische Gottesbegriff nur eine unentbehrliche vereinfachende Metapher ist. Er merkt ja lebensmäßig immer wieder, daß er Gott nicht wahrhaft in die Nominalsphäre einschränken, ihn nicht in das Gehege eines der zehn Redeteile einschließen, geschweige wie Spinoza ihn als Substanz definieren darf. Wenn er Gott auch pronominal anzureden und nominal auf ihn zu deuten wagt, so bekommt er doch unmittelbar auch die Verbalität Gottes zu spüren, und nicht umsonst werden Interjektionen – durch deren Auswicklung und Auseinanderlegung ja die Sprache des Menschen entstanden ist – zu Götternamen, wie etwa Iakchos. Die Vereinfachung, die der Gläubige zu üben scheint, wenn man ihn auf seine »Glaubensinhalte« untersucht, ist keine erkenntnismäßige, sondern eine lebensmäßige: weil die lebensmäßige Gegenseitigkeitsbeziehung dieses Menschen zu Gott ihrem Wesen nach personhaft ist, wird Gott auf seine Personhaftigkeit eingeschränkt, d i e a b e r k e i n e g e g e n s t ä n d l i c h e ist. 5 Wenn wir demgemäß von der Gesamtheit der Religionen ausgehen, sehen wir alsbald, daß, was das gemeinsame »religiöse« Element in ihnen ist, sich nicht durch eine vergleichende Analyse der »Glaubensinhalte« ermitteln läßt, die uns, wenn überhaupt zu etwas, nur zu einer Abstraktion außerreligiösen Charakters führen kann. Zu helfen vermag uns hier einzig die Frage danach, was etwa in der k o n k r e t e n H a l t u n g des gläubigen Menschen in allen Religionen das Gemeinsame sei. Dazu gilt es nun doch, eine Scheidung zu vollziehen, aber nicht zwischen anzuerkennenden und nicht anzuerkennenden Religionen, vielmehr mitten durch jede. Es geht um Erkenntnis der Dynamik innerhalb jeder Religion, des Kampfes des Religiösen gegen das von allen Seiten eindringende Nichtreligiöse – Metaphysik, Gnosis, Magie, Politik usw. –, dessen Gemenge das Gebild »Religion« zu verewigen strebt, während das Religiöse selbst dessen Überwindung ersehnt. Dieser Kampf, der sich in prophetischem Protest, ketzerischer Auflehnung, reformatorischem Abbau und wiederherstellenwollender Neubegründung vollzieht, ist in der Einheitlichkeit seiner Art erkennbar: es ist ein Kampf um die Wahrung der gelebten Konkretheit als des unentwertbaren Ortes der Begegnung
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zwischen Menschlichem und Göttlichem. Die jeweils gelebte Konkretheit, der »Augenblick« in seiner Unvorhersehbarkeit und Unwiederbringlichkeit, in seiner unableitbaren Einmaligkeit, in seiner Entscheidungsmacht, in seiner geheimen Dialogik von Widerfahrendem und Gewolltem, von Schicksal und Handlung, von Anrede und Antwort, ist es, der von den eindringenden außerreligiösen Elementen bedroht und von dem religiösen in seiner rüstungslosen Einsamkeit an allen Fronten verteidigt wird.
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6 Nicht in ihrem gemeinsamen primitivsten Schauer, zu dem uns der erkennerische Zugang fehlt, sondern nur in ihrer gemeinsamen höchsten Gewißheit kann die Religion determiniert werden. Das ist die Gewißheit, daß der S i n n in der jeweils gelebten Konkretheit aufgetan und erlangbar ist – nicht über dem Handgemenge mit der geschehenden Wirklichkeit, sondern in ihm. Daß der Sinn in der jeweils gelebten Konkretheit aufgetan und erlangbar ist, bedeutet nicht, daß er durch irgendeine analytische oder synthetische Erforschung, durch irgendein Bedenken oder Betrachten der gelebten Konkretheit aus ihr zu gewinnen sei, vielmehr, daß er eben in ihr, also im lebendigen Tun und Leiden selber, in der unverkürzten Augenblickhaftigkeit des Augenblicks erfahren wird – wenn man nur nicht auf das Erfahren ausgeht und dadurch die Spontaneität des Geheimnisses verletzt, sondern dem ganzen Walten der Wirklichkeit ohne Rückhalt und Vorbehalt standhält und ihm lebensmäßig antwortet. Alle religiöse Äußerung ist nur Hinweis, Hindeutung auf diesen Modus des Erfahrens. Die Entgegnung des Volkes Israel am Sinai »Wir tuns, wir hörens« spricht ihn mit naiver und unüberbietbarer Prägnanz aus. Sinnwahrheit wird nicht in der Besinnung gefunden, sondern in der Bewährung. Man findet sie, indem man sich mit dem Einsatz der eignen Person daran beteiligt, daß sie sich begibt.
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7 Die Bewährung im historischen oder biographischen Jetzt und Hier in ihrer Brüchigkeit, in ihrer unlösbaren Verschweißung von Erfüllen und Versagen kann aber naturgemäß nicht die einzige Konkretion sein, auf die eine Religion sich gründet. Vielmehr ist diese immer in einem andern
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zurückliegenden Zeitmoment verfestigt, der durch die Generationen hin erinnert wird: dem Moment einer vollkommenen Begegnung, einer widerspruchslosen Leibhaftigkeit der Sinn-Offenbarung, der allen Zeiten die Vollkommenheit und Widerspruchslosigkeit verbürgt. Die Verbindung beider Konkretionsgeschehnisse, jenes gewaltigen und reinen der »Stiftung« und dieses schwebenden und fraglichen des jeweiligen Augenblicks in seiner Unentschiedenheit und Entscheidungsfülle, ist der eigentliche Körper jeder Religion. Dabei ist es wesentlich, daß jenes einstmalige Ereignis, sei es nun das Leben einer stifterischen Persönlichkeit oder die gemeinsame stifterische Stunde einer Schar, sich im lebendigen Gedächtnis der Geschlechter überliefert. Daß es in »mythischer« oder »legendärer« Eingestaltung überliefert wird, tut dem keinen Abbruch. Auch Mythen sind Erinnerungen, Berichte, – Produkte eines organischen, organisch sich fortpflanzenden Gedächtnisses, das an keinem Punkte willkürlich das Erfahrene bearbeitet, sondern es in solcher Weise bewahrt, wie eben der noch plastische Mensch das bewahrt, was seinen Bestand erschüttert und erneuert hat: er mythisiert es, aber ohne zu wissen, daß er etwas anderes tut, als Erinnerung zu erhalten und weiterzugeben. 8 Die Dynamik der Religionen, der Kampf um die Wahrung der gelebten Konkretheit, hat demgemäß zwei Grundformen. Es wird entweder um den Augenblick gekämpft oder um die Erinnerung. Der Kampf um den Augenblick muß dann entbrennen, wenn die Bewährungsfrage der jeweils gelebten Konkretheit durch kultische Scheinerfüllung verschleiert oder durch metaphysische Entzeitlichung aufgelöst wird. Ein Beispiel für das erste ist der Protest der israelitischen Propheten gegen den entseelten Opferdienst, ein Beispiel für das zweite die Reaktion des indischen Theismus gegen die Lehre vom Illusionscharakter der Konkretheit. Der andere Kampf, der um die Erinnerung, wird dann notwendig, wenn diese in ihrer lebendigen Überlieferung bedroht wird – sei es durch die Theologie, die zuweilen auf den Irrweg gelangt, zeitliche Fakten in zeitloser Symbolik aufgehen zu lassen, sei es durch die Mystik, die die Vollkommenheit als zugängliches Erlebnis verkündigt und duldet, daß darüber deren Gedächtnisbild verblasse. Die Geschichte des späteren Buddhismus und die des neuzeitlichen Christentums bieten Beispiele für beides.
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9 Als Einwand gegen die hier versuchte Determination wird man vielleicht die asketischen Tendenzen in einigen Religionen anführen wollen. Aber diese Tendenzen bedeuten, sofern nur das Religiöse selbst nicht geschwächt wird, keine Abkehr von der gelebten Konkretheit. Die Einrichtungsweise des Lebens und die Auswahl der zu bejahenden Lebenselemente hat sich hier verändert, aber nicht durch Lockerung des Verhältnisses zum Augenblick, das man vielmehr gerade dadurch zu intensivieren sucht: man will das Verhältnis zum Augenblick in der Askese retten, weil man an der religiösen Bewältigung der nichtasketischen Elemente, also der Lebensfülle, verzweifelt, d. h. der Sinn in ihnen nicht mehr aufgetan und erlangbar erscheint. Die asketische »Erhebung« ist etwas ganz anderes als die philosophische. Auch sie ist eine Form der Konkretion, freilich eine durch Abstrich erzielte.
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10 Einem Mißverstehen nach einer anderen Richtung hin ist vorzubeugen. Daß der religiöse Mensch die Situation (den »Augenblick«) anerkennt, annimmt, in sie eingeht, bedeutet keineswegs, daß er das jeweils ihm gegenüber Geschehende als »gottgegeben« in seiner puren Tatsächlichkeit hinzunehmen geneigt sein müßte. Vielmehr kann er diesem Geschehenden die äußerste Feindschaft ansagen und dessen »Gegebenheit« nur als eine behandeln, die seine eigenen Gegenkräfte herauszufordern bestimmt ist. Aber er wird sich dem konkreten Sosein, Sogeschehen der Situation nicht entheben, sondern eben auch in der Form der Bekämpfung auf sie und in sie eingehen. Arbeitsfeld oder Schlachtfeld, er nimmt das Feld an, in das er gestellt ist. Er kennt kein Darüberschweben des Geistes, ihm erscheint auch die sublimste situationsunverbundene Geistigkeit als dem Schein preisgegeben – nur der, gleichviel wie revolutionäre, situationsverbundene Geist gilt ihm als dem Pneuma verbunden. 11 Alle religiöse Wirklichkeit beginnt mit dem, was die biblische Religion »Gottesfurcht« nennt, mit dem Unbegreiflichwerden des Daseins zwischen Geburt und Tod, mit der Erschütterung aller Sicherheiten durch
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das Geheimnis – nicht das relative, der menschlichen Erkenntnisbeschaffenheit entsprechende, also prinzipiell aufhebbare Geheimnis: das noch Unerkannte, sondern das wesenhafte Geheimnis, zu dessen Wesen seine Unerforschlichkeit gehört: das Unerkennbare. Durch dieses dunkle Tor (das eben ein Tor und nicht, wie manche Theologen meinen, ein Wohnhaus ist) tritt der Gläubige in den erneuerten Alltag als in den Raum, in dem er mit dem Geheimnis zu leben hat. Er ist nunmehr auf die konkrete Situation hin- und angewiesen. Dagegen beginnt die Philosophie damit, daß einer von seiner konkreten Situation entscheidend absieht, also mit dem elementaren Abstrahieren. Das Ich in dem kartesianischen ego cogito ist nicht die lebendige Person, von deren Leibhaftigkeit ja eben erst als anzweifelbar abgesehen worden war, sondern das Subjekt des Bewußtseins, als der angeblich allein unsrer Natur durchaus zugehörigen Funktion; und in der gelebten Konkretheit, in der das Bewußtsein Primgeiger, aber nicht Kapellmeister ist, ist dieses ego gar nicht gegenwärtig, – es wird erst durch ihre »Überwindung«, durch die späte Abstraktion des Satzes »ich denke das« (Descartes läßt das unentbehrliche Das weg) und durch dessen Zerlegung in ein Das (oder Etwas oder Es) und ein Ich hergestellt. Wogegen das Ich des angeblich aus dem cogito deduzierten sum das Ich der lebendigen Person meint, das sich aber nie in solch einer Ableitung, vielmehr nur im Verkehr mit einem Du zu erfahren vermag. Nun ist es aber ein hohes Recht der Philosophie, als den obersten Preis dieses unerläßlichen Absehens ein Hinaufsehen – nicht mehr ein Herzusehen, sondern ein Hinaufsehen, auf die Gegenstände der wahren Schau, die »Ideen«, zu verkünden und zu verheißen. Diese Konzeption, durch die indische Lehre von der Lösung des Erkennenden aus der Welt der Erfahrung vorbereitet, ist erst von den Griechen ausgebildet worden. Wie sie die Hegemonie des Gesichts über die anderen Sinne aufrichteten, die optische Welt also zur Welt schlechthin machten, in die die Daten der anderen Sinne nur einzutragen seien, so verliehen sie auch dem Philosophieren – das für den Inder noch das Unterfangen war, das eigene Selbst zu ergreifen – einen (keineswegs gleichnishaft) optischen Charakter. Die Geschichte der griechischen Philosophie ist die einer – in Plato sich klärenden, in Plotin sich vollendenden – Optisierung des Denkens. Das Objekt dieser Denkschau ist das Allgemeine als das Seiende oder Überseiende. Die Philosophie ist auf der Voraussetzung gegründet, daß man das Absolute im Allgemeinen schaue. Im Gegensatz zu ihr muß die Religion, wenn sie sich philosophisch zu determinieren hat, sagen, daß sie den Bund des Absoluten mit dem Besondern, mit dem Konkreten meint. Darum ist der zentrale Vorgang der
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christlichen Philosophie, der scholastische Universalienstreit, ein philosophischer Kampf zwischen Religion und Philosophie, und das ist seine dauernde Bedeutung. Aber auch in religiös klingenden Formeln wie etwa der Malebranches, wir sähen die Dinge in Gott, redet das philosophische Absehen; denn diese »Dinge« sind nichts anderes als die platonischen Ideen. Wenn der religiöse Mensch (oder Malebranche als religiöser Mensch) denselben Satz spricht, verwandelt er ihn; denn für ihn bedeutet »Dinge« nicht die Urbilder der Arten, sondern die wirklichen Exemplare, die Wesen und Gegenstände, mit denen er, diese leibhafte Person, sein Leben verbringt, und wenn er zu sagen wagt, er sehe sie in Gott, so redet er nicht vom Hinaufsehn, sondern vom Herzusehn: er bekennt, daß der Sinn in der jeweils gelebten Konkretheit aufgetan und erlangbar ist.
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12 Aber die Religion darf auch dem selbstsichersten Stolz der Philosophie gegenüber nicht blind sein für deren großes Inpflichtgenommensein, zu dem der Verzicht auf die ursprüngliche Verbundenheit, auf die Wirklichkeit, die sich zwischen Ich und Du begibt, auf die Augenblickhaftigkeit des Augenblicks notwendig gehört. Die Religion weiß, wie um die Erkenntnisnot, so auch um die Erkenntnispflicht des Menschen, und sie weiß, daß eben über diese Not und Pflicht die G e s c h i c h t e geht – biblisch gesprochen, daß das Essen vom Baum der Erkenntnis aus dem Paradies, aber in die Welt führt.
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13 Dadurch, daß sie die Konkretheitsbindung aufgibt, erkauft sich die Philosophie die Mitteilbarkeit; nur so ist jene ungeheure Herstellung eines objektiven Denkkontinuums möglich geworden, mit einem statischen System von Begriffen und einem dynamischen von Problemen, – eines Kontinuums, in das jeder Mensch, der »denken« kann, durch bloße Ausübung dieser Fähigkeit, durch bloßes »Verstehen« einzutreten vermag. Nur von hier aus gibt es eine »objektive« Verständigung, d. h. eine, die nicht wie die religiöse dadurch herbeigeführt wird, daß zwei Menschen einander an dem von beiden vollzogenen Lebenseinsatz erkennen, sondern dadurch, daß beide eine keinen Lebenseinsatz erfordernde Denkfunktion vollziehen und die Spannung zwischen den beiderseitigen Be-
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griffsgehalten und Problemstadien in fruchtbarer Dialektik auswerten. Die religiöse Mitteilung geschieht in der Paradoxie, d. h. nicht als erweisliche Behauptung (Theologie, die dies prätendiert, ist schlechte Philosophie), sondern als Hinzeigung auf den verhüllten Daseinsbereich des Hörenden und das darin und allein darin zu Erfahrende. 14
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Damit soll aber durchaus nicht ein skeptisches Urteil über den Wahrheitszugang und die Wahrheitshaltigkeit der Philosophie ausgesprochen sein. Freilich darf unter der möglichen Denkwahrheit nicht ein erkennerischer Seinsbesitz, wohl aber ein erkennerisches Realverhältnis zum Sein verstanden werden. Die Denksysteme sind nicht Fiktionen, sondern Bekundungen echter (und nur durch das Absehen ermöglichter) Denkrelationen zum Sein; nicht bloße »Aspekte«, sondern Dokumente dieser denkerischen Entdeckungszüge zum Seienden, insofern es sich den menschlichen Denkgehalten, als dem eigentlichen und rechtmäßigen Gegenstand des Philosophierens, zuteilt. Die Logik ist weder absolut noch fiktiv, weder allmächtig noch ohnmächtig, denn das Sein ist a u c h im Denken des Menschen. 15
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Der Augenblick kann im wesentlichen auf vierfache Art enteignet werden. Man stelle sich diese vierfache Enteignung im Bild eines Kreuzes vor, dessen Querbalken die Enteignung aus der Gegenwärtigkeit in den Zeitablauf, dessen Längsbalken die Enteignung aus dem Gegenwartströmen in die Isolation bedeutet. Der linke Arm des Querbalkens wäre die Historisierung des Augenblicks: er wird, mitten im Gelebtsein, als bloßes Produkt der Vergangenheit betrachtet und damit in sie einbezogen: er ist nun nur noch bestimmt, nicht bestimmend, die Realität seiner Entscheidungsfülle ist ihm genommen. Der rechte Arm des Querbalkens wäre die Technisierung des Augenblicks: er wird, mitten im Gelebtsein, nur als Mittel zur Erreichung eines Zwecks behandelt und so sein Daseinsgrund in die Zukunft verlegt; er ist nur noch brauchbar, ausnützbar, er hat keinen Stand und keine Luft, keinen Eigensinn. Der untere Arm des Längsbalkens wäre die Psychologisierung des Augenblicks: statt seinen unverkürzten Gehalt aufzunehmen und zu bewältigen, reflektiert man, mitten im Gelebtsein, auf seinen Charakter als »Seelenvorgang«, als »Erlebnis
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der Seele« – man beobachtet seinen Prozeß, man analysiert seine Motivationen, oder auch man genießt die eigene Erlebensintensität, das Funktionieren des Selbst; man hat sich am Augenblick, ihn hat man nicht mehr. Der obere Arm des Längsbalkens wäre die Verbegrifflichung des Augenblicks. Die Religion wohnt im Herzpunkt dieses Kreuzes.
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16 Eine Verwandtschaft und ein Unterschied im Persönlichen zwischen Religion und Philosophie sei noch erwähnt. In der religiösen Wirklichkeit hat sich die Person zu einer Ganzheit zusammengeschlossen, als die allein sie religiös zu leben vermag. In dieser Ganzheit ist naturgemäß auch das Denken beschlossen, als eigengesetzlicher, aber nicht mehr zur Verabsolutierung seiner Eigengesetzlichkeit strebender Bereich. – Auch im echten Philosophen (der andere denkt mit einem selbständig organisierten Teil seines Wesens) vollzieht sich eine Totalisierung, jedoch kein Zusammenschluß; vielmehr überzieht und überwältigt hier das Denken alle Mächte und Reiche der Person, so daß im großen Akt des Philosophierens auch noch die Fingerspitzen denken, – aber nicht mehr tasten.
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17 Dieser und alle Unterschiede jedoch, auf die ich hingewiesen habe, gelten nur für den Akt des Philosophierens und seine Atmosphäre, nicht für das Leben des Philosophen. Und es gibt einen möglichen Moment in diesem Leben, wo aller Unterschied vergeht. Das geschieht, wenn der Philosoph seine Wahrheit lebens- und sterbensmäßig z u b e z e u g e n berufen wird. Da wird der Gedanke verbindlich, also religiös, das erkennerische Realverhältnis wird zum Glauben, zum Angelobtsein – jeder »Martys«, jeder Zeuge zeugt für den wirklichen Gott, wie immer er ihn nennt, sei’s auch mit dem Namen einer Idee. Wo der Philosoph Zeugnis ablegt, schlägt die Geschichte der Philosophie in Religionsgeschichte um.
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Sie wollen meine Ansicht darüber hören, was mit den zehn Geboten anzufangen sei, um ihnen eine Sanktion und eine Gültigkeit zu verschaffen, die sie nicht besitzen. Ich meine, daß die geschichtliche und gegenwärtige Lage der zehn Gebote sich aus einer doppelten (von Ihnen bereits, aber nur ihrer negativen Seite nach, angedeuteten) Tatsache erklärt: 1. Die zehn Gebote stehen nicht in dem personenfreien Kodex eines Menschenverbandes, sondern werden von einem Ich zu einem Du gesprochen – mit dem Ich beginnen sie, und das Du wird in jedem persönlich angeredet: ein Ich also »gebietet«, und einem Du, nämlich jedem, der dieses »Du« hört, »wird geboten«. 2. Das Wort des hier Gebietenden ist mit keiner auf der Ebene der zuverlässigen Kausalität sich auswirkenden Vollstreckungskraft ausgestattet. Es erzwingt sich kein Gehör; wer sich mit diesem Du nicht anreden lassen will, kann anscheinend unbehelligt seinen Geschäften nachgehn. Wenn der Sprecher des Wortes Macht hat (und die zehn Gebote setzen voraus, daß er Macht genug hatte, um Himmel und Erde zu erschaffen), hat er sich dieser Macht hinreichend begeben, um jeder Menschenperson faktisch freizustellen, sich seiner Stimme aufzutun oder zu verschließen, also ihn selber, das Ich dieses »Ich bin«, zu erwählen oder zu verwerfen. Wer ihn verworfen hat, den trifft kein Blitzschlag; wer ihn erwählt hat, der findet keinen verborgenen Schatz; Alles bleibt anscheinend, wie es war. Gott hat offenbar seinem Willen nach keine Orden und keine Zuchthauszellen zu vergeben. Das ist die Situation des »Glaubens«. Das Hören Dessen, was es zu hören gibt, ist nach allen Kriterien der zuverlässigen Kausalität nicht lohnend. Der Glaube ist nicht eine bloße Unternehmung mit einem Risiko, dem die Chance des unermeßlichen Gewinns gegenüberstünde, sondern das Wagnis schlechthin, jenseits der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Zumal für jenen ausgepichten Gläubigen, der es mit dem Tod und dessen Danach so hält, daß dies zu seiner Zeit zu erfahren, aber nicht in der Vorstellung – auch nicht in der »religiösen« – vorwegzunehmen sei. Nun ist die »menschliche Gesellschaft« – d. h. die jeweils lebende Gesamtheit, soweit sie in den von ihr getragenen Einrichtungen einen Gesamtwillen erkennen läßt – von je daran interessiert, daß von den zehn Geboten, wenn auch nicht die ersten, auf das Verhältnis zu Gott bezüglichen, so doch die übrigen gehalten werden, da es ihrem, der Gesellschaft, Bestande nicht zuträglich wäre, wenn z. B. das Morden aus einem
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Verbrechen zu einem Laster würde. Das gilt in einem gewissen Maße sogar für das Verbot des Ehebrechens, solange die Gesellschaft nicht etwa ohne die Ehe auskommen zu können meint, was sie bekanntlich noch nie, auch nicht in polyandrer oder polygyner »Primitivität« gekonnt hat, und für das Gebot der Eltern-Ehrung, solange der Gesellschaft an einem Zusammenhang zwischen ihren Generationen und an einer geordneten Übernahme der jeweils zu übergebenden Formen und Gehalte gelegen ist, woran, wie wir an Moskau sehen, auch einer von einer »kommunistischen« Zielsetzung her sich aufbauenden Gesellschaft gelegen sein muß. Und da die Gesellschaft eine ihr so lebenswichtige Angelegenheit begreiflicherweise nicht auf eine so unsichere Grundlage wie die der Glaubensfrage – Hörenwollen oder Gehörverweigern – stellen mag, ist sie von je bestrebt, die ihr erforderlich scheinenden Gebote und Verbote aus dem Bereich der »Religion« in den der »Moral« zu überführen, d. h. aus der Sprache der persönlichen Imperativ-Rede in die der unpersönlichen Soll-Satzung zu übertragen, und sie, statt von dem in seiner Wirksamkeit so problematischen Willen Gottes, von der einigermaßen kontrollierbaren öffentlichen Meinung schützen zu lassen. Da aber auch diese Sicherung noch recht unvollkommen ist, werden die Gebote und Verbote weiter in die Sphäre des »Rechtes« geleitet, d. h., in die Sprache der Wenn-Festsetzung übertragen: »Wenn Einer das und das tut, wird ihm solches und solches getan«; wobei als der Zweck des »solchen und solchen« nicht die Beschränkung der Handlungsfreiheit des Rechtbrechers, sondern seine »Bestrafung« bezeichnet wird – die Gesellschaft will also das mathematisch-übersichtlich regeln, was Gott so zu regeln verschmäht hat, die Relation zwischen dem, was einer anstellt, und dem, was ihm widerfährt. Und nun gibt es endlich auch Vollzugsorgane, die – wenigstens grundsätzlich – präzise Arbeit leisten, Tribunal und Polizei, Kerkerwärter und Henker. Eigentümlicherweise läßt das Ergebnis immer noch zu wünschen übrig, wenn man etwa nach dem statistisch belegten Ausbleiben eines mindernden Einflusses der Todesstrafe auf die Zahl der Morde urteilen darf. Das Alles (was ich hier der größern Deutlichkeit halber stark vereinfacht dargestellt habe, in der Geschichte nehmen sich die Vorgänge natürlich sehr viel verschlungener und umständlicher aus) ist so lange in Ordnung, als die »Übertragung« nicht beansprucht, eine Übertragung zu sein. Hier ist Plagiat rechtmäßig, Zitat nicht. Wenn die Gesellschaft in ihrer Vermoralisierung und Verjurisierung der zehn Gebote nur nicht behauptet, daß das Produkt – also das des Ich und des Du beraubte Ichzu-dir – noch die zehn Gebote sei, ist gegen ihre Tätigkeit nichts einzuwenden, da ja nicht zu erdenken ist, wie sie anders ihr Dasein fristen
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könnte. Unberührt von diesem massiven Betrieb bleibt die Situation der menschlichen Kreatur, die sich mitten in einer Begebenheit ihres persönlichen Lebens angeredet, mit Du angeredet erfährt: »Trage nicht SEINEN deines Gottes Namen auf den Wahn« oder »Aussage nicht gegen deinen Genossen als Lugs Zeuge«; unberührt die Situation zwischen dem ohnmächtig-allmächtigen Sprecher und dem von ihm Angesprochnen, unberührt die gewagte, katastrophale, erlösende Situation des Glaubens. Wenn aber die Gesellschaft sich unterfinge, ihre stimmlose Moral und ihr gesichtsloses Recht für ebendasselbe, für das Wort, nur zeitgemäß aus dem überholten abergläubigen Drum und Dran hervorgeschält, auszugeben, dann wäre etwas geschehen, was noch nicht geschehen ist; und vielleicht wäre es dann für die Gesellschaft zu spät, zu merken, daß es Einen gibt, der es sich verbittet, von Bütteln und Henkern bedient zu werden. Wenn Sie, sehr werter Herr Haas, mich nunmehr nicht kurzerhand als einen für »unsere Zeit« Verlorenen aufgeben, mich vielmehr nun erst recht fragen sollten, was denn also mit den zehn Geboten anzufangen sei, würde ich antworten: Das, was ich selber zu meinem Teil versuche: zu ihnen hinzuführen. Nicht zu einer Buchrolle, nicht einmal zu den Steintafeln, auf die sie einst, nachdem sie gesprochen waren, »der Finger Gottes« grub, sondern zu der Gesprochenheit des Wortes, zur Schrift der Stimme.
In jüngeren Jahren In jüngeren Jahren war mir das »Religiöse« die Ausnahme. Es gab Stunden, die aus dem Gang der Dinge herausgenommen wurden. Die feste Schale des Alltags wurde irgendwoher durchlöchert. Da versagte die zuverlässige Stetigkeit der Erscheinungen, der Überfall, der geschah, sprengte ihr Gesetz. Die »religiöse Erfahrung« war die Erfahrung einer Anderheit, die in den Zusammenhang des Lebens nicht einstand. Das konnte mit etwas Geläufigem beginnen, mit der Betrachtung irgendeines vertrauten Gegenstandes, der dann aber unversehens heimlich und unheimlich wurde, zuletzt durchsichtig in die Finsternis des Geheimnisses selber mit ihren zuckenden Blitzen. Doch konnte auch ganz unvermittelt die Zeit zerreißen, – erst der feste Weltbau, danach die noch festere Selbstgewißheit versprühte, und man, das wesenlose Man, das man eben nur noch war, das man nicht mehr wußte, wurde der Fülle ausgeliefert. Das »Religiöse« hob einen heraus. Drüben war nun die gewohnte Existenz mit ihren Geschäften, hier aber waltete Andacht, Erleuchtung, Verzückung, zeitlos, folgelos. Das eigene Dasein umschloß ein Dies- und ein Jenseits, und es gab keine andere Brücke als jeweils den faktischen Augenblick des Übergangs. Die Unrechtmäßigkeit einer solchen Aufteilung des auf Tod und Ewigkeit zuströmenden Zeitlebens, das sich ihnen gegenüber nicht anders erfüllen kann, als wenn es eben seine Zeitlichkeit erfüllt, ist mir durch ein Ereignis des Alltags aufgegangen, ein richtendes Ereignis, richtend mit jenem Spruch geschlossener Lippen und unbewegten Blicks, wie ihn der gängige Gang der Dinge zu fällen liebt. Es ereignete sich nichts weiter, als daß ich einmal, an einem Vormittag nach einem Morgen »religiöser« Begeisterung, den Besuch eines unbekannten jungen Menschen empfing, ohne mit der Seele dabei zu sein. Ich ließ es durchaus nicht an einem freundlichen Entgegenkommen fehlen, ich behandelte ihn nicht nachlässiger als alle seine Altersgenossen, die mich um diese Tageszeit wie ein Orakel, das mit sich reden läßt, aufzusuchen pflegten, ich unterhielt mich mit ihm aufmerksam und freimütig – und unterließ nur, die Fragen zu erraten, die er nicht stellte. Diese Fragen habe ich später, nicht lange darauf, von einem seiner Freunde – er selber lebte schon nicht mehr – ihrem wesentlichen Gehalt nach erfahren, erfahren daß er nicht beiläufig, sondern schickalhaft zu mir gekommen war, nicht um Konversation, sondern um Entscheidung, gerade zu mir, gerade in dieser Stunde. Was erwarten wir, wenn wir verzweifeln
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und doch noch zu einem Menschen gehen? Wohl eine Gegenwärtigkeit, durch die uns gesagt wird, daß es ihn dennoch gibt, den Sinn. Seither habe ich jenes »Religiöse«, das Ausnahme ist, aufgegeben oder es hat mich aufgegeben. Ich besitze nichts mehr als den Alltag, aus dem ich nie genommen werde. Das Geheimnis tut sich nicht mehr auf, es hat sich entzogen oder es hat hier Wohnung genommen, wo sich alles begibt. Ich kenne keine Fülle mehr als die Fülle jeder sterblichen Stunde an Anspruch und Verantwortung. Weit entfernt ihr gewachsen zu sein, weiß ich doch, daß ich im Anspruch angesprochen werde und in der Verantwortung antworten darf, und weiß, wer spricht und Antwort heischt. Viel mehr weiß ich nicht. Wenn das Religion ist, so ist sie einfach a l l e s , das schlichte gelebte Alles in seiner Möglichkeit der Zwiesprache, die ganze Verbundenheit.
[Metanthropological Crisis] Your question is very difficult. I envisage the evolution of individualism, in a collectivistic regime, as revolutionary; and the evolution of metaphysics as partaking of the mood of catacombs.
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In Leopardis wunderbarem Dialog »Kopernikus« wendet sich die von unablässiger Bewegung müde gewordene Sonne an »den Philosophen« Kopernikus mit der Bitte, die Erde dazu zu bringen, die Mühsal der Bewegung von nun an auf sich zu nehmen. Angesichts der Schwierigkeit der Aufgabe zögert Kopernikus eine kleine Weile; er weiß, die geforderte Sache bedeutet nichts anderes, als die Erde vom Weltenthron abzusetzen, womit die Bedeutungsstufen der Dinge und die Ordnung der Gegenstände verändert werden und so auch eine ungeheure Umwandlung der Metaphysik herbeigeführt werden wird. Schließlich verspricht er, zu versuchen, die Gebote der Sonne auszuführen. Die in ihren Anfängen, zur Zeit ihrer Herrschaft über die Poesie, für eine Prophetin gehaltene Sonne sagt ihm voraus, ihm werde aus seiner Tat kein Schaden erwachsen. Leopardi kann diese Prophezeiung als erfüllt betrachten, doch nur, weil Kopernikus, dessen 400. Geburtstag die Kulturwelt in diesen Tagen feiert, nach der Veröffentlichung seines Buches bekannterweise nicht mehr lange lebte. Ungefähr ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod schreibt Galilei, der ihn als »philosophischen Astronomen« verehrte, dessen hauptsächliches Anliegen nicht in sich geschlossene Berechnungen und reibungslos anwendbare Axiome, sondern die Wahrheit sei – Galilei, der Kopernikus’ wissenschaftliches Unternehmen fortsetzte und vollendete, schreibt an Kepler, er habe Befürchtungen, seine Forschungsarbeiten zu veröffentlichen: »Kopernikus’ Schicksal läßt Furcht in mir aufkommen, dies gestehe ich ein; hat er auch in den Augen Einzelner ewigen Ruhm erworben, war er doch für die Masse des Volkes nicht mehr als eine Zielscheibe von Spott und Verachtung.« Galileis Befürchtung erfüllte sich in seinem eigenen Schicksal mehr als er erahnte; und schon drei Jahre nach dem genannten Schreiben bestieg der herausragendste Denker jener Generation, Giordano Bruno, den Scheiterhaufen, da er aufgrund der kopernikanischen Lehre philosophische – vortreffliche, wenngleich nicht die einzig möglichen – Schlüsse zog und so jene von Leopardi angesprochene ungeheure Umwandlung der Metaphysik in die Wege leitete. Goethe schrieb der Lehre Kopernikus’ von allen Entdeckungen den größten Einfluß auf den menschlichen Geist zu. Zugleich begriff er wohl mehr als je ein anderer, was es heißt, von der Erde zu verlangen, wie er sagt, »auf das ungeheure Vorrecht Verzicht [zu] tun, Mittelpunkt des
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Weltalls zu sein.« »Vielleicht ist noch nie«, schreibt er in seiner Farbenlehre über Kopernikus’ Lehre, »eine größere Forderung an die Menschheit geschehen: denn was ging nicht alles durch diese Anerkennung in Dunst und Rauch auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmigkeit, das Zeugnis der Sinne, die Überzeugung eines poetisch-religiösen Glaubens; kein Wunder, daß man dies alles nicht wollte fahren lassen, daß man sich auf alle Weise einer solchen Lehre entgegensetzte, die denjenigen, der sie annahm, zu einer bisher unbekannten, ja ungeahnten Denkfreiheit und Großheit der Gesinnungen berechtigte und aufforderte.« Wollen wir uns das Wesen dieser geistigen, dank Kopernikus’ sich ereignenden, doch noch nicht vollendeten Umwandlung vorstellen, so begegnen wir zunächst dem Problem des Standpunkts. Die vorkopernikanische Weltanschauung machte den Standpunkt, von dem aus man die Welt betrachtet, zu deren Zentrum; Kopernikus selbst tut zwar nichts anderes, als das Zentrum in die Sonne zu verlagern, doch erhebt er sich damit in seinem Denken über seinen Standpunkt und bereitet so den Weg für eine Anschauung, in welcher die Bestimmung des Weltzentrums von dem in Gedanken gewählten Standpunkt abhängt. So wurde der Begriff des Zentrums von einer absoluten zu einer relativen Größe. Mit anderen Worten: Die aristotelische Welt wird als unabhängig von ihrem Betrachter existierende und als solche erkennbare Welt gedacht, während die kopernikanische Entdeckung zu einer Denkart drängte, derzufolge es erkennbare Welt allein in Relation zum Betrachter, dessen Standpunkt und Beschaffenheit gibt. Mit tiefster Absicht verglich Kant seine Vorstellung, derzufolge die Gegenstände unserer Erkenntnis vom Wesen derselben abhängen, mit der Vorstellung Kopernikus’ und der aufgrund dieser verursachten, grundlegenden Wandlung in der Bindung des Menschen zur Welt. Die problemlose Geschlossenheit der aristotelischen Welt wurde von Kopernikus nicht in dem Sinne aufgebrochen, daß der endlose Raum sozusagen an die Stelle des endlichen Raumes tritt, wie Bruno meinte, während weder Kepler noch Galilei noch Kopernikus selbst dies so auslegten. Letzterer sagt allein, daß kein Mensch die Grenze der Welt je wußte noch irgendwann wissen wird; sondern in dem Sinne, daß die ganze Frage bezüglich der Endlichkeit bzw. Unendlichkeit der Welt einen qualitativen, grundlegenden Wandel erfährt und sich mit der Frage nach dem Bezug zwischen Mensch und Welt verbindet. Damit, daß die geozentrische Anschauung der heliozentrischen Anschauung wich, war der erste Schritt in Richtung einer neuen Sichtweise getan, derzufolge der Mensch als existierendes Wesen nicht mehr im Zentrum der Welt steht, d. h. im Zentrum einer Welt, die von ihm gedacht wird, einer Welt, die
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seinem Denken gegeben ist, sondern sich als existierendes Wesen in einer abgelegenen Ecke derselben befindet; als denkendes Wesen jedoch steht er im Zentrum seiner Welt, weil er die Welt denkt und insofern, als er sie denkt. Auf ähnliche Weise hat schon Pascal diese Relation begriffen, als ihn – seinen Worten nach – »die ewige Stille dieser unendlichen Räume« erschreckte, doch seine Überzeugung bezüglich der Widerstandskraft des betrachtenden Geistes beruhigte seine Seele; von hier aus überwand Kant die Antinomie zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit; und hier befand sich Einsteins Ausgangspunkt, als er die Zeit als vierte Dimension der Welt definierte und damit den Betrachter, den Moment seines Betrachtens, einer objektiven Weltformel einarbeitete. Und das Absolute: das aristotelische und nach ihm das scholastische Denken wähnte, es liege in seinem Vermögen, diesem einen Platz in den höchsten Sphären der Fixsterne einzuräumen; infolge der kopernikanischen Entdeckung wurde es zwar von dort vertrieben, doch allein in dem Sinne, daß jeglicher Versuch, ihm einen bestimmten Platz einzuräumen, zu einem Unternehmen wurde, das keinerlei Aussicht auf Erfolg hat. Es ist nun möglich, mit Bruno zu denken, daß es sich im ganzen Raum der Welt und in uns selbst ausbreitet und dort tätig ist; doch kann man mit Spinoza darüber hinausgehen und den Raum als solchen und somit auch den Geist als solchen, Ausbreitung und Denken, allein als zwei unter unendlich vielen Eigenschaften zu begreifen und somit den Begriff des Unendlichen in einer ganz anderen, ihm aus der Kabbala bekannten Tiefenebene zu verorten. Dies ist die von Kopernikus verursachte »ungeheure Umwandlung« der Metaphysik, dies ist die durch seine Entdeckung erregte »Großheit der Gesinnungen«. In diesen Tagen, in denen der von seinem Weg abgekommene Mensch das Werk des Geistes zu vernichten droht, feiern wir das Andenken Kopernikus’, feiern wir in ihm den starken, gegen die Vernichtung anstehenden Geist. Wie er es tat, blicken wir in Mäßigung und Glauben zu den Sternen, und wir schwören, nach der gemeinsamen Rettung bei der Errichtung einer Basis für ein dem der Sternenbahnen nicht unwürdigen System menschlichen Lebens Hilfe zu leisten, ein System, an dem das befreite Volk Kopernikus’ und das befreite Volk Spinozas und Einsteins mitwirken werden und an dem auch die Völker Kants und Goethes, Galileis, Brunos und Leopardis, wenn sie wieder zu Bewußtsein gekommen sind, den Anteil nehmen können, der ihnen aufgrund ihrer Vergangenheit zusteht.
Zu Bergsons Begriff der Intuition (1943* ) Descartes verstand unter Intuition »die Konzeption eines reinen und aufmerksamen Geistes«; nur durch eine solche seien »die ersten Prinzipien« zu erkennen. Spinoza hat das, was er »klare Erkenntnis« nennt, definiert als eine, die »nicht durch vernunftgemäße Überzeugung, sondern durch ein Fühlen und Genießen des Gegenstands selber entsteht«. Der reine und aufmerksame Geist, den Descartes für den Akt der Intuition voraussetzt, soll sich somit einem Gegenstand so zuwenden, daß er ihn nicht bloß gedanklich innehat, sondern ihn unmittelbar fühlt und genießt. Hier setzt Bergson ein, wenn er Intuition die Sympathie nennt, durch die man sich in das Innere eines Gegenstands versetzt. Für das Verhältnis zu den Menschen hatte insbesondere Goethe von sich eine solche Intuition ausgesagt; es sei ihm angeboren gewesen, sich in die Zustände anderer zu finden, eine jede besondere Art des menschlichen Daseins zu fühlen. Noch genauer beschreibt es Balzac: »Bei mir«, sagt er, »war die Beobachtung intuitiv geworden; sie gab mir die Fähigkeit de vivre de la vie de l’individu, an dem sie sich betätigte, indem sie mir erlaubte, mich an seine Stelle zu setzen.« Von einer so verstandenen Intuition ist die beharrende Zweiheit von Anschauendem und Angeschautem nicht wegzudenken. Der Anschauende versetzt sich an die Stelle des Angeschauten und erfährt dessen besonderes Leben, seine Empfindungen und Antriebe von dessen Innerem aus. Daß er das kann, erklärt sich aus einer tiefen Gemeinsamkeit zwischen beiden, wie Goethe es ja auch für die Anschauung der Natur erklärt hat. Die Tatsache der Zweiheit wird dadurch nicht abgeschwächt, im Gegenteil: gerade daß das Urgemeinsame sich so aufspaltet, begründet den Akt der Intuition in seinem spezifischen Wesen. Auch die intuitive Erkenntnisweise baut sich, wie jede, auf der ungemindert fortbestehenden Zweiheitspräsenz von Betrachtendem und Betrachtetem auf. Bergson will diese aufheben, wie Schelling, aber nicht wie er durch Selbsterfassung des Ich als solchen, sondern dadurch, daß wir uns in den unmittelbaren Ablauf des erlebten Geschehens versenken, dahin, »wo wir uns nicht mehr handeln sehen, sondern wo wir handeln«. Das erinnert zunächst doch an Schelling, für den es darum geht, »gewisse Handlungen des Geistes zugleich zu produzieren und anzuschauen, so daß das Produzieren des Objekts und das Anschauen selbst absolut eines *
Schlußabschnitt einer damals als Einleitung zu der hebräischen Bergson-Übersetzung veröffentlichten Abhandlung.
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ist«; man muß an Bergsons Formel denken, wonach der Akt der Erkenntnis mit dem die Wirklichkeit erzeugenden zusammenfalle. Aber obgleich es für Bergson die wesentliche Aufgabe der intuitiven Metaphysik ist, den Geist zu erkennen, meint er mit dem »Handeln« nicht speziell Handlungen des Geistes, sondern das Handeln des Menschen überhaupt. In der von der Reflexion durchdrungenen Erfahrung sieht der Mensch sich handeln, das heißt, die Zweiheit von Betrachtendem und Betrachtetem ist in die menschliche Person selber eingegangen; es gelte von da zur ursprünglichen Einheit zurückzufinden, und zwar erkennend. Aber darin liegt ein Widerspruch. Jene Einheit besteht doch eben darin, daß der Mensch da handelt, ohne zu erkennen. Nicht bloß wenn er »sich handeln sieht«, sondern mit jedem, auch mit dem »intuitiven« Erkenntnisakt beeinflußt er den Vorgang der Handlung und beeinträchtigt dessen Einheit, vorausgesetzt, daß er den Erkenntnisakt wirklich zugleich mit dem Handeln vollziehen will; denn will er dies nicht, ist also in dem Augenblick, in dem er erkennt, der entscheidende Akt des Handelns schon vorüber, dann verhält er sich zu etwas Vergangenem und Erinnertem, zu einem »Gegenstand«, nicht aber zum Geschehen selber. Bergson meint, das schwierige Unternehmen könne durch eine gewaltsame, ja »gewaltantuende« Anstrengung gelingen; aber jede Gewaltsamkeit dieser Art ist geeignet, die Verfassung des Geschehens in Tempo, Rhythmus, Intensität, in der ganzen Struktur seines Verlaufs zu beeinflussen und zu verändern. Sicherlich ergeben sich bei solchen Versuchen merkwürdige und anregende Aspekte, die zu bedeutenden Einsichten hinführen können; aber eine absolute Erkenntnis, wie Bergson sie meint, ist auch so nicht zu erreichen. Das Urproblem des Widerspruchs zwischen Sein und Erkennen wird in seinem vitalen Charakter am deutlichsten, wenn wir uns die Realität unseres Verhältnisses zu anderen lebenden Wesen, insbesondere aber zu unseren Mitmenschen vergegenwärtigen. Wir leben im Kontakt mit ihnen, und in diesem Kontakt nehmen wir mancherlei von ihnen wahr; aber das von mir wahrgenommene, von mir »erkannte« Wesen ist mit dem seienden, mit dem, mit dem ich Kontakt habe, nicht identisch und kann mit ihm nicht identisch werden. Jene Intuition, vermöge deren wir uns »ins Innere des andern versetzen«, vermag die Differenz herabzumindern, aber nicht, sie aufzuheben. Die Spannung zwischen dem Bild der Person, die wir in unserem Kontakt im Sinn haben, und der tatsächlich seienden Person ist jedoch keineswegs bloß negativ zu verstehen; sie leistet einen wesentlichen Beitrag zur eigentümlichen Dynamik des zwischenmenschlichen Lebens. Wie im Gespräch die Spannung zwischen der Bedeutung, die ein darin gebrauchtes Wort für mich hat, und der
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Bedeutung, die es für meinen Gesprächspartner hat, sich fruchtbar erweisen und eine tiefere persönliche Verständigung fördern kann, so kann aus der Spannung zwischen Bildperson und seiender Person ein echtes Verstehen aufbrechen: die fruchtbare Begegnung zwischen zwei Menschen erfolgt gerade in einem Durchbruch vom Bild zum Sein. Das Du, dem ich so begegne, ist keine Summe von Vorstellungen mehr, kein Gegenstand der Erkenntnis mehr, sondern eine in Geben und Nehmen erfahrene Substanz. In dem Augenblick freilich, in dem ich die so gewonnene Nähe und Vertrautheit für die Erkenntnis auszunützen versuchte, würde ich die Dimension des Ich–Du aufgeben und, ohne eine adäquate Erkenntnis zu gewinnen, die Berührung mit der Substanz verlieren. Wiederholt hat Bergson zum Verständnis der philosophischen Intuition auf die des Künstlers hingewiesen; diese erreiche nur das Individuelle, es komme darauf an, sie auf das Leben im allgemeinen zu erstrecken. Die großen Maler bemerken in der Natur Aspekte, die bis dahin nicht wahrhaft bemerkt worden waren, und legen uns ihre Vision auf; so könne der Philosoph das Leben selber unmittelbar betrachten und sichtbar machen. Aber Bergson meint zugleich, diese philosophische Schau sei, wenn sie gelinge, eine absolute Erkenntnis und setze eine einzige Philosophie an Stelle der widerstreitenden Systeme. Dieser Anspruch jedoch ist dem Wesen der Kunst und ihrer Intuition so fremd, ja zuwider, daß der Vergleich mit ihr den Kern seiner Geltung verliert. Gewiß ist jeder große Maler ein Entdecker, aber eben der Entdecker eines »Aspektes«, das heißt eines Weltanblicks, in dem sich eine bestimmte Art des Sehens bekundet, die ihm, diesem Maler, eigentümlich ist; freilich ist dieser Aspekt etwas, was ohne Hinzutreten dieses Auges nicht sichtbar geworden wäre; aber er ist nicht etwas, was außerhalb dieses Auges für sich existierte, er ist eine Beziehungswirklichkeit, das Produkt einer Begegnung. Die Malerei lebt in der unabsehbaren Vielheit und Verschiedenheit dieser Aspekte, von denen keinem, aber auch nicht allen zusammen der Charakter einer absoluten Wahrnehmung zugeschrieben werden kann. Mit der wirklichen Philosophie verhält es sich nicht wesentlich anders. Dazu kommt aber noch etwas. Wenn wir die Künste mitsammen betrachten, merken wir, daß der entscheidende Vorgang, der das Kunstwerk erzeugt, nicht die Wahrnehmung eines Seins, sondern der vitale Kontakt mit dem Sein ist, ein stets erneuter vitaler Kontakt mit ihm, in den sich die Erfahrungen der Sinne nur einfügen. Selbstverständlich kann man von ihm nicht sagen, daß er sich in dem Werk abbilde oder darstelle: Wellen gehen von ihm aus, die sich in Produktion umsetzen, Kräfte werden durch ihn rege, durch deren Umwandlung das Werk entsteht. Der Künstler holt nicht ein Stück des Seins ans Licht; er empfängt vom Sein und bringt das Niege-
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wesene hervor. Mit dem echten Philosophen verhält es sich nicht wesentlich anders, nur daß hier eine große Bewußtheit am Werke ist, die nicht weniger als ein Gleichnis des Ganzen hervorbringen will. Die Kluft zwischen Sein und Erkennen versucht Bergson dadurch zu überbrücken, daß er die Intuition sich aus dem Instinkt entwickeln läßt. Das Lebensprinzip habe sich in seinem Verhalten zur Umwelt und zu sich selbst in Instinkt und Intellekt aufgespalten; aber der Intellekt biete uns nur ein unter dem Einfluß der Nutzzwecke bearbeitetes Bild der Welt und der Instinkt gar keins. Nur wenn der Intellekt sich von der Herrschaft der Nutzzwecke befreie und zum Verlangen nach adäquater Erkenntnis erhebe, finde er den Weg zu ihr, aber auch dann nicht einen, den er selber gehen kann. Es liege ihm nun ob, den Instinkt selbstbewußt zu machen, ihn dahin zu bringen, daß er »sich zu Erkenntnis verinnerliche, statt sich in Handlung zu veräußerlichen«, daß er »sich auf seinen Gegenstand besinne und ihn ins Unbestimmte erweitere«, aber auch, daß er sich auf sich selbst besinne. Aber was ist denn der Instinkt? Bergson sagt, er sei eine Erkenntnis auf Entfernung, nämlich eine auf »Sympathie«, das heißt auf unmittelbarer Teilnahme am fremden Leben begründete. Damit wird jedoch das Wesen des Instinkts, der uns solche Rätsel aufgibt, nicht erfaßt. Betrachten wir ein besonders charakteristisches unter den von Bergson angeführten Beispielen, das bekannte von der Wespe und der Grille. Eine Wespenart lähmt die Grillenraupe, in deren Körper sie ihre Eier deponieren will, genau an den drei Nervenzentren, die ihre drei Fußpaare in Bewegung setzen. Die Wespe, sagt Bergson, weiß, daß die Grille drei Nervenzentren hat, oder tut zumindest, als ob sie es wüßte. Darum aber geht es eben: »weiß« sie wirklich oder handelt sie nur, wie ein wissendes Tier handeln würde? In Wahrheit können wir freilich nicht wissen, ob und inwiefern sie es weiß. Wollen wir es aber annehmen, um die Handlung zu verstehen, so berechtigt uns doch jedenfalls nichts, daraus zu schließen, daß sie es »erkannt« habe, in irgendeiner Erkenntnisweise, die sich in uns zur Intuition zu entfalten vermöchte. Es ist, sagt Bergson, eine »connaissance implicite«; es ist eine »connaissance innée«, und zwar eine, die »virtuelle ou inconsciente« ist. Aber dann wäre sie eben nur ein Wissen, ein Kennen, und nicht ein Erkennen, nicht ein von diesem Wesen vollzogener Akt des Erkennens. Wie immer dieses Wesen zu seinem Kennen gelangt ist, jedenfalls nicht dadurch, daß es erkannt hat. Zwischen der Wespe und ihrem Opfer, sagt Bergson, bestehe eine Sympathie im etymologischen Wortsinn, ein MitErleiden oder Mit-Empfinden also, das der Wespe »von innen gleichsam« über die Verwundbarkeit der Raupe Auskunft gibt. Die beiden Tiere stünden einander nicht als zwei Organismen, sondern als zwei Aktivi-
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täten innerhalb des Lebensstroms gegenüber. »Die instinktive Kenntnis, die eine Art in einem bestimmten Belang von einer andern Art hat, hat ihre Wurzel in der Einheit des Lebens selber, die, um den Ausdruck eines antiken Philosophen zu gebrauchen*, ein sich selber sympathisches Ganzes ist.« So Bergson. Aber ist das Leben dies, so ist es doch nicht ein sich selber erkennendes Ganzes; vielmehr ist es für das Erkennen auf die Individuation angewiesen; es kann sich nur durch Erkenntnisakte lebender Individuen erkennen, das heißt in der Beschränktheit und in der Verschiedenheit. Darüber hinaus gibt es den Kontakt, den lebendigen Zusammenhang zwischen den lebenden Wesen, der sich auch darin äußern kann, daß eines von ihnen mit seinen Handlungen sich unmittelbar der Beschaffenheit und Daseinsweise eines andern anpaßt und einfügt (wenn auch zuweilen eben nur, um das andre zum eignen Nutzen zu lähmen). Dies aber kann uns nur daran gemahnen, wie zwei Muskeln in einem Organismus zusammenwirken oder ein Muskel mit einem Darm, nicht aber daran, wie mein Auge meine Hand betrachtet. Die im Instinkt tätigen Kräfte, die durch den vitalen Kontakt erregten Energien können wir, wie der Künstler, unserer Intuition dienstbar machen; aber vom Instinkt zur Intuition führt kein Weg. Der Intellekt waltet, wo wir erkennen, um zweckmäßig zu handeln und so zwischen beide Aktivitäten aufgeteilt sind, der Instinkt, wo wir zweckmäßig handeln, ohne der Erkenntnis zu bedürfen, die Intuition, wo unser ganzes Wesen im Akt des Erkennens eins geworden ist. Der Intellekt, der unser Selbst aufteilt, hält uns von der Welt geschieden, die zu benützen er uns hilft; der Instinkt hält uns mit der Welt vereinigt, aber nicht als Personen; die Intuition verbindet uns als Personen mit einer uns gegenüberstehenden Welt durch die Schau, verbindet uns mit ihr, ohne uns mit ihr einen zu können, durch eine Schau, die nicht absolut sein kann, die wie alle Wahrnehmung von unserer Beschaffenheit, unserer allgemein-menschlichen und unserer persönlichen, bestimmt ist und uns doch in unsäglicher Intimität einen Blick in verborgene Tiefen gewährt. Bergson hat für die Intuition einen Anspruch erhoben, die ihr nicht und überhaupt keiner sterblichen Erkenntnis zukommt; aber es bleibt sein hohes Verdienst, daß er wie kein anderer in unserm Zeitalter auf sie hingewiesen hat.
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Bergson hat einen Spruch des Stoikers Chrysippos über den Kosmos im Sinn.
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[Rezension zu] Hugo Bergmann: Wissenschaft und Glaube
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Ich messe diesem Büchlein große Bedeutung zu, da es sich ausgesprochen klar und direkt mit einer der grundlegenden Fragen unserer Zeit auseinandersetzt. Die Frage lautet: was ist die Bedeutung davon, daß die wissenschaftliche Vernunft ihre Schatten auf die reale Glaubenswelt wirft? Mit anderen Worten: Hat die wissenschaftliche Vernunft die reale Welt des Glaubens außer Kraft gesetzt oder eben nur verdeckt? Und wenn sie, wie sich zeigt, diese nur verdeckt hat, wie ist es dann möglich, sie aufzudecken, ohne dabei die unabdingbare wissenschaftliche Vernunft zu schädigen? Wie kann beiden ein Existenzrecht eingeräumt werden, ohne dabei die Glaubenswelt zur neben anderen Kategorien bestehenden Kategorie des Seins, zu einer Vision unter vielen zu machen und sie damit ohne realen Wert zu belassen? Problematisiert wird hier offensichtlich die Frage der Grenzen des Geltungsbereichs – im exakten und tiefgreifenden Sinne dieses Begriffes – des wissenschaftlichen Denkens. Demnach lautet die sich hier letztendlich stellende Frage nicht: »Wo endet der Geltungsbereich der Wissenschaft und beginnt derjenige des Glaubens«, haben sie doch keine gemeinsame Grenze; sondern: wie räumt der seinem Wesen nach nicht anders, denn als in seinem Geltungsbereich unbegrenzt zu fassende Glaube der wissenschaftlichen Erkenntnis begrenzte Geltung ein? Lev Schestov brachte in unserer Generation das ewige Streitgespräch zwischen Vernunft und Glauben auf die Spitze, doch war sein einziger Standpunkt – trotz der seinem Denken innewohnenden starken dialektischen Energie eben doch nur ein Punkt – die zweifelhafte Qualität des menschlichen Seins. Bergmann nimmt den Diskurs von dieser Spitze herunter und führt ihn auf die breite Basis der Epistemologie. Dies bedeutet: Sein Ausgangspunkt ist nicht, wie der Schestovs, der von der Vernunft gekreuzigte Glaube, der verzweifelt, jedoch ohne sich zu ergeben, an seiner widerspruchsvollen Wirklichkeit festhält, sondern die sich der Notwendigkeit ihrer Selbstbegrenzung bewußte und sich zu dieser bekennende Vernunft. Damit gibt die Vernunft dem Glauben das, was von diesem erwartet wird, und das, wozu die Vernunft ihrer Erkenntnis nach an diesen abzugeben verpflichtet ist. Mit unbedingter Aufrichtigkeit fällt Bergmann auf der Basis der Vernunft das Urteil des Glaubens. Diese Aufrichtigkeit erwächst ihm aus seinem Glauben.
Das Problem des Menschen
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Das Problem des Menschen
Diese in ihrem ersten Teil wesentlich problemgeschichtliche, im zweiten wesentlich erörternde Schrift soll die in anderen Arbeiten dargelegte Erkenntnis des dialogischen Prinzips historisch einordnen und gegen einige zeitgenössische Theorien kritisch abheben. Zugleich mag sie als Einleitung zu einer noch ausstehenden Veröffentlichung dienen. Sie ist die Ausarbeitung eines Kollegs, das ich im Sommersemester 1938 an der Hebräischen Universität Jerusalem gehalten habe. Die hebräische Buchausgabe erschien 1942. Das letzte Kapitel ist hier in einer veränderten, für die englische Ausgabe – enthalten in meinem Buch ›Between Man and Man‹, 1947 – niedergeschriebenen Fassung gegeben. M. B.
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Erster Teil
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Erster Abschnitt
Die Fragen Kants 1 Von Rabbi Bunam von Przysucha, einem der letzten großen Lehrer des Chassidismus, wird erzählt, daß er einmal zu seinen Schülern sprach: »Ich habe ein Buch verfassen wollen, das sollte, ›Adam‹ heißen, und es sollte darin stehen der ganze Mensch. Dann aber habe ich mich besonnen, dieses Buch nicht zu schreiben.« In diesem naiv klingenden Wort eines wirklichen Weisen spricht sich – wiewohl dessen eigentliche Absicht auf Anderes geht – die ganze Geschichte des menschlichen Nachdenkens über den Menschen aus. Der Mensch weiß von Urzeiten her, daß er sich selbst der würdigste Gegenstand ist, aber er scheut sich auch, gerade diesen Gegenstand als ein Ganzes, also seinem Sein und Sinn nach zu behandeln. Er nimmt zuweilen einen Anlauf dazu, aber bald überwältigt und erschöpft ihn die Problematik dieser Beschäftigung mit seinem eigenen Wesen, und er zieht sich mit einer verschwiegenen Resignation zurück, – sei es, um alle anderen Dinge zwischen Himmel und Erde mit Ausnahme des Menschen zu bedenken, sei es, um den Menschen in Bezirke aufzuteilen, mit denen man sich einzeln, in einer weniger problematischen, weniger beanspruchenden und weniger verbindlichen Weise zu befassen vermag. Der Philosoph Malebranche, der bedeutendste unter den französischen Fortsetzern der kartesianischen Untersuchungen, schreibt in der Vorrede seines 1674 erschienenen Hauptwerkes »De la recherche de la vérité«: »Von allen menschlichen Wissenschaften ist die Wissenschaft vom Menschen die des Menschen würdigste. Dennoch ist diese Wissenschaft nicht die am meisten gepflegte, noch die am meisten ausgebildete, die wir besitzen. Die Allgemeinheit der Menschen vernachlässigt sie völlig. Unter denen selber, die sich der Wissenschaft befleißigen, gibt es sehr wenige, die sich ihr widmen, und es gibt noch viel weniger, die sich ihr mit Erfolg widmen.« Er selbst wirft zwar in seinem Buch so echt anthropologische Fragen auf wie die, inwiefern das Leben der Nerven, die zu den Lungen, zum Magen, zur Leber führen, die Entstehung von Irrtümern beeinflußt; aber eine Lehre vom Wesen des Menschen hat auch er nicht begründet.
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I.1. Die Fragen Kants
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Am eindringlichsten hat Kant die Aufgabe, die einer philosophischen Anthropologie gestellt sei, ausgesprochen. In dem »Handbuch« zu seinen Vorlesungen über Logik, das zwar nicht von ihm selbst herausgegeben worden ist und auch seine zugrundeliegenden Aufzeichnungen nicht wortgetreu wiedergibt, das er aber ausdrücklich anerkannt hat, unterscheidet er eine Philosophie nach dem Schulbegriff und eine Philosophie nach dem Weltbegriff (in sensu cosmico). Diese bezeichnet er als die »Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft« oder als die »Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauches unserer Vernunft«. Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich nach ihm auf folgende Fragen bringen: »1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie.« Und Kant fügt hinzu: »Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.« Diese Formulierung wiederholt die drei Fragen, von denen Kant in dem Abschnitt seiner »Kritik der reinen Vernunft«, welcher »Von dem Ideal des höchsten Guts« überschrieben ist, sagt, daß alles Interesse der Vernunft, das spekulative sowohl als das praktische, sich in ihnen vereinige. Zum Unterschied von der »Kritik der reinen Vernunft« führt er sie hier aber auf eine vierte Frage, die nach dem Wesen des Menschen, zurück, und weist diese einer Disziplin zu, welche Anthropologie genannt wird, worunter, da es sich um die Grundfragen des menschlichen Philosophierens handelt, nur die philosophische Anthropologie verstanden werden kann. Diese wäre also die fundamentale philosophische Wissenschaft. Aber merkwürdigerweise leistet Kants eigene Anthropologie, sowohl die von ihm selbst herausgegebene, als auch seine reichhaltigen Vorlesungen über Menschenkunde, die erst lange nach seinem Tode erschienen, ganz und gar nicht, was er von einer philosophischen Anthropologie fordert. Sowohl ihrer ausgesprochenen Absicht als ihrem ganzen Inhalt nach bietet sie etwas anderes: eine Fülle wertvoller Bemerkungen zur Menschenkenntnis, z. B. über Egoismus, über Aufrichtigkeit und Lüge, über Phantasie, über Wahrsagen, über den Traum, über Geisteskrankheiten, über den Witz. Aber danach, was der Mensch ist, wird hier überhaupt nicht gefragt, und von den Problemen, die für uns zugleich mit dieser Frage implizit gegeben sind, wie: die Sonderstellung des Menschen im Kosmos, sein Verhältnis zum Schicksal, seine Beziehung zur Welt der Dinge, sein Verstehen des Mitmenschen, seine Existenz als Wesen, das
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weiß, daß es sterben muß, seine Haltung in all den gewöhnlichen und außergewöhnlichen Begegnungen mit dem Geheimnis, die sein Leben durchziehen, wird auch nicht eines ernstlich berührt. Die Ganzheit des Menschen geht in diese Anthropologie nicht ein. Es ist, als hätte Kant Bedenken getragen, die von ihm als die Grundfrage formulierte Frage nun auch wirklich philosophierend zu stellen. Ein Philosoph unserer Tage, Martin Heidegger, der sich (in seiner Schrift »Kant und das Problem der Metaphysik«, 1929) mit diesem seltsamen Widerspruch befaßt hat, erklärt ihn aus der Unbestimmtheit der Frage, was der Mensch sei. Die Art des Fragens nach dem Menschen sei selber fraglich geworden. In den drei ersten Fragen Kants gehe es aber durchaus um die Endlichkeit des Menschen: »Was kann ich wissen?« involviere ein Nichtkönnen, also eine Beschränktheit, »Was soll ich tun?« schließe ein, daß man etwas noch nicht erfüllt habe, also eine Beschränktheit, und »Was darf ich hoffen« bedeute, daß dem Fragenden eine Erwartung zugestanden und eine andere versagt sei, also bedeute es eine Beschränktheit. Die vierte Frage sei die Frage nach der »Endlichkeit im Menschen«, diese aber sei überhaupt keine anthropologische Frage mehr, denn sie sei die Frage nach dem Wesen des Daseins selber. Als Grundlegung der Metaphysik trete an Stelle der Anthropologie die »Fundamentalontologie«. Was immer dieses Ergebnis darstellt, Kant ist es nicht mehr. Heidegger hat die Akzente der drei Fragen Kants verlagert. Kant fragt nicht »Was kann ich wissen?«, sondern: »Was kann ich wissen?« Das Wesentliche ist hier nicht, daß ich nur etwas kann und anderes also nicht kann; das Wesentliche ist aber nicht einmal, daß ich nur etwas weiß und anderes also nicht weiß; das Wesentliche ist, daß ich überhaupt etwas wissen kann, und daß ich danach fragen kann, was das ist, was ich wissen kann. Nicht um meine Endlichkeit geht es hier, sondern um meine reale Teilnahme am Wissen dessen, was es überhaupt zu wissen gibt. Und ebenso bedeutet »Was soll ich tun?«, daß es ein Tun gibt, das ich soll, daß ich also von dem »rechten« Tun nicht abgetrennt bin, sondern, eben dadurch, daß ich mein Sollen erfahren kann, den Zugang zum Tun finde. Und schließlich besagt »Was darf ich hoffen?« nicht, wie Heidegger meint, daß hier ein Dürfen fraglich werde, und daß sich in dem Erwarten eine Entbehrung dessen offenbare, was man nicht erwarten darf, sondern es besagt, erstens, daß es für mich etwas zu hoffen gibt (denn Kant meint offenkundig nicht, daß die Antwort auf die dritte Frage laute: »Nichts!«), zweitens, daß es mir erlaubt ist das zu hoffen, und drittens, daß ich, eben weil es mir erlaubt ist, erfahren kann, was das ist, das ich hoffen darf. Das ist es, was Kant sagt. Und also ist der Sinn der vierten
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I.1. Die Fragen Kants
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Frage, auf die die drei ersten zurückgeführt werden können, bei Kant dieser: Was ist das für ein Wesen, das wissen kann, das tun soll, das hoffen darf? Und daß die drei ersten Fragen auf diese zurückgeführt werden können, bedeutet: Die Wesenserkenntnis dieses Wesens wird mir eröffnen, was es, eben als ein solches Wesen, wissen kann, was es, eben als ein solches Wesen, tun soll, und was es, eben als ein solches Wesen, hoffen darf. Damit ist aber auch gesagt, daß mit der Endlichkeit, die damit gegeben ist, daß man nur dies wissen kann, unlösbar verbunden ist die Teilnahme an der Unendlichkeit, welche Teilnahme damit gegeben ist, daß man überhaupt wissen kann. Es ist also damit gesagt, daß wir zugleich und in einem mit der Endlichkeit des Menschen seine Teilnahme an der Unendlichkeit erkennen müssen, nicht als zwei Eigenschaften nebeneinander, sondern als die Doppelheit der Prozesse, in der als solcher erst das Dasein des Menschen erkennbar wird. Das Endliche wirkt an ihm, und das Unendliche wirkt an ihm; er hat teil an der Endlichkeit und hat teil an der Unendlichkeit. Gewiß, Kant hat in seiner Anthropologie die Frage, die er der Anthropologie stellte: Was ist der Mensch? weder beantwortet, noch zu beantworten unternommen. Er trug eine andere, ich möchte philosophiegeschichtlich sagen: frühere, noch mit der unkritischen »Menschenkunde« des 17. und 18. Jahrhunderts verknüpfte, Anthropologie vor als die er forderte. Aber die Formulierung der Aufgabe, die er der geforderten philosophischen Anthropologie stellte, bleibt als Vermächtnis. 3
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Ob eine solche Disziplin dazu taugen wird, eine Grundlegung der Philosophie oder, wie Heidegger formuliert, eine Grundlegung der Metaphysik zu liefern, ist freilich auch mir fraglich. Denn es ist zwar wahr, daß ich immer wieder erfahre, was ich wissen kann, was ich tun soll und was ich hoffen darf; und es ist weiter wahr, daß die Philosophie dazu beiträgt, daß ich es erfahre, nämlich zur ersten Frage, indem sie als Logik und Erkenntnistheorie mir sagt, was Wissenkönnen bedeutet, und als Kosmologie, Geschichtsphilosophie usw. mir sagt, was es zu wissen gibt, zur zweiten Frage, indem sie als Psychologie mir sagt, wie Tunsollen sich seelisch vollzieht, und als Ethik, Staatslehre, Ästhetik usw., was es zu tun gibt, und zur dritten Frage, indem sie mir wenigstens als Religionsphilosophie sagt, wie Hoffendürfen sich in dem konkreten Glauben und der Glaubensgeschichte darstellt, wogegen sie mir freilich nicht mehr sagen kann, was es zu hoffen gibt, denn die Religion selbst und ihre begriffliche
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Explikation, die Theologie, die sich dies zur Aufgabe machen, gehören nicht der Philosophie an. All dies halte ich für wahr. Aber dazu, mir solche Hilfe zu leisten, gelangt die Philosophie in ihren einzelnen Disziplinen eben dadurch, daß jede dieser Disziplinen nicht auf die Ganzheit des Menschen reflektiert und nicht reflektieren kann. Entweder schaltet eine philosophische Disziplin den Menschen in seiner komplexen Ganzheit aus und betrachtet ihn nur als ein Stück Natur, wie es die Kosmologie tut; oder aber (so tun es alle anderen Disziplinen) sie entreißt der Ganzheit des Menschen ihr eigenes Sondergebiet, grenzt es gegen die anderen Gebiete ab, legt seine eigenen Grundsätze fest und bildet seine eigenen Methoden aus. Dabei muß sie offen und zugänglich bleiben, erstens den Ideen der Metaphysik selber als der Lehre vom Sein, vom Seienden und vom Dasein, zweitens den Ergebnissen der philosophischen Teildisziplinen und drittens den Entdeckungen der philosophischen Anthropologie. Aber abhängig machen darf sie sich gerade von dieser am wenigsten; denn die Möglichkeit ihrer eigenen denkerischen Arbeit beruht gerade auf ihrer Objektivierung, auf ihrer Entmenschlichung gleichsam, und sogar eine so dem konkreten Menschen zugewandte Disziplin wie die Geschichtsphilosophie muß, um den Menschen als Geschichtswesen erfassen zu können, auf die Betrachtung des ganzen Menschen, zu dem der geschichtslose, im gleichbleibenden Rhythmus der Natur lebende Mensch wesentlich mitgehört, verzichten. Was die philosophischen Disziplinen dazu beitragen können, mir die drei ersten Fragen Kants zu beantworten, sei es auch nur dadurch, daß sie diese Fragen selbst klären und mich die Probleme erkennen lehren, die in diesen Fragen eingeschlossen sind, – das können diese Disziplinen nur dadurch, daß sie auf die Beantwortung der vierten Frage nicht warten. Aber auch die philosophische Anthropologie selbst kann sich nicht zur Aufgabe setzen, eine Grundlegung sei es der Metaphysik, sei es der einzelnen philosophischen Wissenschaften zu schaffen. Sie würde, wenn sie die Frage »Was ist der Mensch?« in solcher Allgemeinheit zu beantworten suchte, daß daraus Antworten auf die anderen Fragen abzuleiten wären, gerade die Wirklichkeit ihres Gegenstandes verfehlen. Denn sie würde statt seiner echten Ganzheit, die nur durch Zusammenschau all seiner Vielfältigkeit sichtbar werden kann, eine falsche, wirklichkeitsfremde, wirklichkeitsleere Einheit erreichen. Eine legitime philosophische Anthropologie muß wissen, daß es nicht bloß eine Menschengattung, sondern auch Völker, nicht bloß eine Menschenseele, sondern auch Typen und Charaktere, nicht bloß ein Menschenleben, sondern auch Altersstufen gibt; erst aus der systematischen Erfassung dieser und aller anderen Differenzen, aus der Erkenntnis der innerhalb jeder Son-
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I.1. Die Fragen Kants
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derheit und zwischen ihnen waltenden Dynamik und aus dem stets neuen Erweis des Einen im Vielen kann sie die Ganzheit des Menschen erblicken. Aber eben deshalb kann sie den Menschen nicht in jener Absolutheit fassen, wie sie zwar nicht aus der vierten Frage Kants spricht, aber sich sehr leicht einstellt, wenn man sie zu beantworten sucht, – was Kant selbst wie gesagt vermieden hat. Wie sie innerhalb des Menschengeschlechts unterscheiden und immer wieder unterscheiden muß, um rechtschaffen zusammenfassen zu können, so muß sie den Menschen in allem Ernst in die Natur einstellen, muß ihn mit den anderen Dingen, den anderen Lebewesen, den anderen Bewußtseinsträgern vergleichen, um ihm seine Sonderstellung zuverlässig zu bestimmen. Erst auf diesem Doppelweg der Unterscheidung und Vergleichung erreicht sie den ganzen, wirklichen Menschen, der, welchem Volk, Typus, Alter er auch angehört, weiß, was außer ihm kein Erdenwesen wissen kann: daß er den schmalen Weg von der Geburt auf den Tod zu geht, erprobt, was außer ihm keins erproben kann: das Ringen mit dem Schicksal, Auflehnung und Versöhnung, und zuweilen sogar, einem anderen Menschen aus Wahl zugesellt, im eigenen Blut erfährt, was sich geheim im andern begibt. Die philosophische Anthropologie geht nicht darauf aus, die philosophischen Probleme auf die menschliche Existenz zurückzuführen und die philosophischen Disziplinen sozusagen von unten statt von oben zu begründen. Sie geht lediglich darauf aus, selber den Menschen zu erkennen. Aber damit ist ihr freilich eine von allen anderen Aufgaben des Denkens schlechthin verschiedene Aufgabe aufgestellt. Denn in der philosophischen Anthropologie ist dem Menschen eben er selbst im genauesten Sinn zum Gegenstand gegeben. Hier, wo es um die Ganzheit geht, kann der Forscher sich nicht, wie in der Anthropologie als Einzelwissenschaft, damit begnügen, den Menschen wie irgend einen anderen Teil der Natur zu betrachten und davon abzusehen, daß er, der Forscher, selber Mensch ist und sein Menschsein in der inneren Erfahrung in einer Weise erfährt, wie er schlechthin keinen Teil der Natur zu erfahren imstande ist, in einer ganz anderen Perspektive nicht nur, sondern in einer ganz anderen Dimension des Seins, in einer Dimension, in der er von allen Teilen der Natur eben nur diesen einen erfährt. Philosophische Erkenntnis des Menschen ist ihrem Wesen nach eine Selbstbesinnung des Menschen, und der Mensch kann sich auf sich selbst eben nur so besinnen, daß sich zunächst die erkennende Person, der Philosoph also, der Anthropologie treibt, auf sich selber als Person besinnt. Das Prinzip der Individuation, das grundlegende Faktum der unendlichen Mannigfaltigkeit der menschlichen Personen, von denen diese eben nur eine, so und nicht anders beschaffe-
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ne ist, relativiert die anthropologische Erkenntnis nicht, im Gegenteil, sie gibt ihr den Kern und das Gerüst. Um das, was der sich auf sich besinnende Philosoph entdeckt, muß sich alles, was er sonst am geschichtlichen und am gegenwärtigen Menschen, an Männern und Frauen, Indianern und Chinesen, Landstreichern und Imperatoren, Schwachsinnigen und Genies findet, aufbauen und kristallisieren, um echte philosophische Anthropologie zu werden. Das ist aber ein ganz anderer Vorgang, als wenn etwa der Psycholog das, was er aus der Literatur und Beobachtung weiß, durch Selbstbeobachtung, Selbstanalyse, Experiment an sich selbst ergänzt und erklärt. Denn hier geht es immer um einzelne, objektivierte Prozesse und Phänomene, um etwas aus dem Zusammenhang der ganzen leibhaften Person Gelöstes. Der philosophische Anthropolog aber muß nicht weniger als seine leibhafte Ganzheit, sein konkretes Selbst einsetzen. Und mehr noch. Es genügt nicht, wenn er sein Selbst als Objekt des Erkennens einsetzt. Die Ganzheit der Person und durch sie die Ganzheit des Menschen erkennen kann er erst dann, wenn er seine Subjektivität nicht draußen läßt und nicht unberührter Betrachter bleibt. Sondern er muß in den Akt der Selbstbesinnung in Wirklichkeit ganz eingehen, um der menschlichen Ganzheit inne werden zu können. Mit anderen Worten: er muß diesen Akt des Hineingehens in jene einzigartige Dimension als Lebensakt vollziehen, ohne vorbereitete philosophische Sicherung, er muß sich also alledem aussetzen, was einem widerfahren kann, wenn man wirklich lebt. Hier erkennt man nicht, wenn man am Strande bleibt und den schäumenden Wogen zusieht, man muß sich dran wagen, sich drein werfen, man muß schwimmen, wach und mit aller Kraft, und mag da sogar ein Augenblick kommen, wo man fast die Besinnung zu verlieren meint: so und nicht anders wird die anthropologische Besinnung geboren. Solang man sich »hat«, sich als ein Objekt hat, erfährt man vom Menschen doch nur als von einem Ding unter Dingen, die zu erfassende Ganzheit ist noch nicht »da«; erst wenn man nur noch ist, ist sie da, wird sie erfaßbar. Man nimmt nur so viel wahr, als einem die Wirklichkeit des »Dabeiseins« wahrzunehmen freigibt, das aber nimmt man wahr, und der Kristallisationskern bildet sich aus.
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Zu der Selbstbesinnung, von der ich spreche, ist am ehesten der sich vereinsamt fühlende Mensch geneigt und am ehesten befähigt, der Mensch also, der seiner Art nach oder seinem Schicksal nach oder beiden nach mit sich und seiner Problematik allein ist und dem es in dieser ausgesparten Einsamkeit gelingt, sich selbst zu begegnen, in seinem eigenen Selbst den Menschen und in seiner eigenen Problematik die menschliche Problematik zu entdecken. Die Zeiten der Geistesgeschichte, in denen bisher der anthropologische Gedanke seine Erfahrungstiefe fand, waren eben jene Zeiten, in denen sich des Menschen das Gefühl einer strengen, unausweichlichen Einsamkeit bemächtigte; und es waren die Einsamsten, in denen da der Gedanke fruchtbar wurde. Im Eis der Einsamkeit wird sich der Mensch am unerbittlichsten zur Frage, und eben daher, da die Frage grausam sein Heimlichstes aufruft und ins Spiel zieht, wird er sich zur Erfahrung. In der Geschichte des Menschengeistes unterscheide ich Epochen der Behaustheit und Epochen der Hauslosigkeit. In den einen lebt der Mensch in der Welt wie in einem Hause, in den andern lebt er in der Welt wie auf freiem Feld und hat zuweilen nicht einmal vier Pflöcke, ein Zelt aufzuschlagen. In den ersten gibt es den anthropologischen Gedanken nur als einen Teil des kosmologischen, in den zweiten gewinnt der anthropologische Gedanke seine Tiefe und mit ihr seine Selbständigkeit. Für beides will ich hier ein paar Beispiele geben und damit einen Blick in ein paar Kapitel der Vorgeschichte einer philosophischen Anthropologie. Bernhard Groethuysen, ein Schüler meines Lehrers Wilhelm Dilthey, der die Geschichte der philosophischen Anthropologie begründet hat, hat in einer Arbeit, die »Philosophische Anthropologie« betitelt ist (1931), mit Recht von Aristoteles gesagt, der Mensch höre hier auf problematisch zu sein, der Mensch spreche hier gewissermaßen stets von sich in dritter Person, der Mensch sei für sich selbst nur »ein Fall«, er gelange nur als »er«, nicht als »ich« zum Bewußtsein seiner selbst. Die Sonderdimension, in der der Mensch sich selbst erkennt wie nur er sich selbst erkennen kann, bleibt unbetreten, und eben deshalb bleibt die Sonderstellung des Menschen im Kosmos unentdeckt. Der Mensch wird nur in der Welt, nicht auch die Welt in ihm erfaßt. Die Tendenz der Griechen,
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die Welt als einen in sich geschlossenen Raum zu fassen, in dem auch der Mensch seinen festen Platz hat, hat sich in dem geozentrischen Kugelsystem des Aristoteles vollendet. Die Hegemonie des Gesichtsinns über die anderen Sinne, die im griechischen Volk zum ersten Mal und als ungeheures Novum in der Geschichte des Menschengeistes erscheint, ebendie Hegemonie, die dieses Volk befähigt hat, ein Leben aus dem Bilde zu führen und eine Kultur auf das Bilden zu gründen, waltet auch in seiner Philosophie. Ein optisches Weltbild entsteht, aus den optischen Sinneseindrücken geschaffen, gegenständlich objektiviert wie nur der Gesichtsinn gegenständlich zu objektivieren vermag, und die Erfahrungen der anderen Sinne sind in dieses Bild gleichsam nachträglich eingetragen. Auch die Ideenwelt Platons ist eine optische Welt, eine Welt geschauter Gestalten. Aber erst bei Aristoteles erfährt das optische Weltbild seine unüberbietbar deutliche Realisierung, als eine Welt von Dingen, und der Mensch ist nun ein Ding unter diesen Dingen der Welt, eine objektiv erfaßbare Gattung neben anderen Gattungen, nicht mehr ein Gast in der Fremde wie der platonische Mensch, sondern mit einer eigenen Wohnstätte im Welthaus belehnt, nicht in einem der obersten Stockwerke zwar, aber auch nicht in einem der untern, vielmehr in einer ansehnlichen Mitte. Für eine philosophische Anthropologie im Sinne der vierten Frage Kants fehlt hier die Voraussetzung.
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2 Der erste, der, mehr als sieben Jahrhunderte nach Aristoteles, die echte anthropologische Frage neu stellt, und zwar in der ersten Person, ist Augustinus. Die Einsamkeit, aus der hervor er sie stellte, kann erst verstanden werden, wenn man sich vergegenwärtigt, daß jene runde einige Welt des Aristoteles längst zerfallen war. Sie zerfiel, weil die Seele des Menschen, in sich entzweit, nur noch eine in sich entzweite Welt als Wahrheit fassen konnte. An die Stelle der zerfallenen Kugel sind nun zwei selbständige und einander feindliche Reiche, die Reiche des Lichtes und der Finsternis getreten. Wir finden sie in fast allen Systemen der weiten und vielfältigen Geistesbewegung wieder, die damals den ratlosen Erben der großen altorientalischen und antiken Kulturen ergriff, ihm die Gottheit zerspaltete und die Schöpfung entwertete, der Gnosis; und in dem folgerichtigsten dieser Systeme, dem Manichäismus, gibt es folgerichtigerweise sogar eine doppelte Erde. Hier kann der Mensch nicht mehr Ding unter Dingen sein, und er kann keinen festen Platz auf der Welt haben. Er ist, weil er aus Seele und Körper besteht, zwischen die beiden Reiche auf-
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geteilt, ist Kampfschauplatz und Kampfpreis zugleich. In jedem Menschen stellt sich der Urmensch dar, der gefallen ist, in jedem trägt sich die Problematik des Seins lebensmäßig aus. Aus der Schule des Manichäismus ist Augustin hervorgegangen. Hauslos in der Welt, einsam zwischen oberen und unteren Gewalten, bleibt er beides, auch nachdem er sich ins Christentum, als in die schon geschehene Erlösung gerettet hat. So fragt er die Frage Kants in der ersten Person, und zwar nicht wie Kant als objektiviertes Problem, das die Hörer seiner Logikvorlesung gewiß nicht als an sie gerichtete Frage verstehen konnten, sondern in wirklicher Anrede nimmt er die Frage des Psalmisten »Was ist der Mensch, daß du sein gedenkest?« mit anderem Sinn und Ton wieder auf: er fragt einen, der Auskunft geben kann, um Auskunft: quid ergo sum, Deus meus? quae natura mea? Er meint nicht nur sich selbst; das Wort natura sagt deutlich, daß er in der Person des Menschen meint, eben den Menschen, den er das grande profundum, das große Geheimnis nennt. Und er zieht auch schon die anthropologische Folgerung, dieselbe, die wir von Malebranche gehört haben; er tut es in jenem berühmten Satz, der die Menschen anklagt, daß sie Bergesgipfel, Meeresflut und den Lauf der Sterne bewundern, sich selber aber »verlassen« ohne über sich zu erstaunen. Dieses Staunen des Menschen über sich selbst, das Augustinus von seiner Selbsterfahrung aus fordert, ist etwas ganz anderes als das Staunen, mit dem Aristoteles in Platons Gefolgschaft alles Philosophieren beginnen läßt. Der aristotelische Mensch staunt unter anderem auch über den Menschen, aber eben nur als über einen Teil einer durchaus erstaunlichen Welt. Der augustinische Mensch staunt über das am Menschen, was nicht als ein Teil der Welt, als ein Ding unter Dingen zu verstehen ist, und als jenes andere Staunen schon längst in methodisches Philosophieren übergegangen ist, wird das seine erst ganz tief und unheimlich. Das ist nicht Philosophie, aber es wirkt in alle künftige Philosophie hinaus. Nicht die Naturbetrachtung, wie bei den Griechen, sondern der Glaube ist es, der im nachaugustinischen Abendland für die einsame Seele ein neues kosmisches Haus baut. Der christliche Kosmos entsteht, so wirklich für jeden Christen des Mittelalters, daß jeder, der die Divina Commedia las, die Reise zur untersten Höllenspirale und über Lucifers Rükken durch das Fegefeuer hinauf zum Dreifaltigkeitshimmel nicht wie eine Expedition in noch unbekannte Länder, sondern wie ein Befahren von Gegenden, von denen es bereits Landkarten gibt, im Geiste mitmachte. Wieder ist es eine in sich geschlossene Welt, wieder ein Haus, in dem der Mensch wohnen darf. Diese Welt ist noch endlicher als die des Aristoteles, denn hier ist auch die endliche Zeit in allem Ernst mit ins
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Bild genommen, die biblische endliche Zeit, die hier aber ins Christliche verwandelt erscheint. Das Schema dieses Weltbildes ist ein Kreuz, als dessen Längsbalken der endliche Raum vom Himmel bis zur Hölle mitten durch das Herz der menschlichen Person führt, und dessen Querbalken die endliche Zeit von der Erschaffung der Welt zum Ende der Tage ist, wobei ihre Mitte, der Tod Christi, bedeckend und erlösend auf die Mitte des Raumes, das Herz des armen Sünders, fällt. Um dieses Schema baut sich das mittelalterliche Weltbild auf. Dante hat das Leben, Leben der Menschen und der Geister, hineingemalt, aber die begrifflichen Umrisse hat ihm Thomas von Aquino vorgezeichnet. Auch von Thomas, obgleich er Theolog war, und also verpflichtet war, um den wirklichen Menschen zu wissen, der »ich« sagt und mit »du« angeredet wird, gilt wie von Aristoteles, daß der Mensch hier »gewissermaßen stets in der dritten Person« spricht. Der Mensch ist in Thomas’ Weltsystem zwar eine eigene Gattung ganz besonderer Art, weil in ihm die Menschenseele, der niederste der Geister, mit dem Menschenleibe, dem höchsten der körperlichen Dinge, substantiell vereinigt ist, so daß er gleichsam als »der Horizont und die Grenzscheide der geistigen und der körperlichen Natur« erscheint. Aber ein besonderes Problem und eine besondere Problematik des menschlichen Wesens, wie Augustin sie mit zitterndem Herzen empfand und aussprach, kennt Thomas nicht. Die anthropologische Frage ist hier wieder zur Ruhe gekommen; in dem behausten und unproblematischen Menschen regt sich zur fragenden Selbstkonfrontierung kaum noch ein Antrieb, der nicht bald beschwichtigt wäre. 3 Schon im späten Mittelalter taucht ein neues Ernstnehmen des Menschen als Menschen auf. Noch hegt die endliche Welt den Menschen sicher ein; hunc mundum haud aliud esse, quam amplissimam quandam hominis domum, sagt Carolus Bovillus noch im 16. Jahrhundert. Aber derselbe Bovillus ruft dem Menschen zu: homo es, sistere in homine, und nimmt damit das Motiv auf, das vor ihm der große Cusanus ausgesprochen hatte: homo non vult esse nisi homo. Damit allein war freilich nicht gesagt, der Mensch trete seinem Wesen nach aus der Welt hervor. Für Cusanus gibt es kein Ding, das nicht sein eigenes Sein allem Sein und seine eigene Seinsart allen anderen Seinsarten vorziehen würde; alles was ist, wünscht in Ewigkeit nichts anderes zu sein als es selbst, dieses eine nur immer vollkommener in der seiner Natur gemäßen Weise; und
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eben daraus erwächst die Harmonie des Universums, denn jedes Wesen enthält alles in einer besonderen »Zusammenziehung«. Aber beim Menschen kommt das Denken, die messende und wertende Vernunft, hinzu. Er hat alle geschaffenen Dinge in sich wie Gott, aber dieser hat sie in sich als die Urbilder, der Mensch als Beziehungen und Werte; Cusanus vergleicht Gott mit dem prägenden Münzmeister, den Menschen mit dem schätzenden Wechsler; Gott kann alles schaffen, wir können alles erkennen; wir können es deshalb, weil auch wir alles potentiell in uns tragen. Und aus dieser stolzen Selbstgewißheit zieht bald nach Casanus Pico della Mirandola die anthropologische Folgerung, die uns wieder an den Satz von Malebranche erinnert: nos autem peculiare aliquid in homine quaerimus, unde et dignitas ei propria et imago divinae substantiae cum nulla sibi creatura communis comperiatur. Hier erscheint das Thema der Anthropologie schon deutlich. Aber es erscheint ohne die zur echten Grundlegung der Anthropologie unentbehrliche Problematik, ohne den tödlichen Ernst des Fragens nach dem Menschen. Der Mensch tritt hier so autonom und machtbewußt auf, daß er die eigentliche Frage gar nicht wahrnimmt. Diese Denker der Renaissance versichern, daß der Mensch wissen könne, aber die kantische Frage, was er wissen könne, ist ihnen noch ganz fremd: er kann alles wissen. Zwar nimmt der letzte in der Reihe dieser Denker, Bovillus, Gott aus: ihn könne der menschliche Geist nicht erreichen; aber er läßt die ganze Welt vom Menschen erkennbar sein, der außerhalb ihrer als ihr Zuschauer, ja als ihr Auge erschaffen worden sei. So sicher sind auch diese Bahnbrecher einer neuen Zeit noch in einer sicheren Welt behaust. Zwar spricht Cusanus die räumliche und zeitliche Unendlichkeit der Welt aus, spricht damit der Erde den Charakter des Mittelpunkts ab und vernichtet im Gedanken das mittelalterliche Schema. Aber diese Unendlichkeit ist nur erst eine gedachte, noch nicht eine geschaute und gelebte. Der Mensch ist noch nicht wieder einsam, er hat noch nicht wieder gelernt, die Frage des Einsamen zu fragen. Aber in derselben Stunde, in der Bovillus die Welt als die amplissima domus des Menschen preist, brechen schon tatsächlich alle Mauern des Hauses unter den Schlägen des Kopernikus zusammen, von allen Seiten dringt das Unbegrenzbare ein, und der Mensch steht in einer Welt, die sich konkret nicht mehr als Haus empfinden läßt, ungesichert, aber erst mit einer heroischen Begeisterung für die Größe dieser Welt wie Bruno, dann mit einer mathematischen Begeisterung für ihre Harmonie wie Kepler, schließlich jedoch, mehr als ein Jahrhundert nach dem Tode des Kopernikus und dem Erscheinen seines Werkes, erweist sich die neue Wirklichkeit des Menschen stärker als die neue Wirklichkeit der Welt.
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Ein großer Forscher, ein Mathematiker und Physiker, jung und zu frühem Sterben bestimmt, Pascal, erfährt unter dem gestirnten Himmel nicht bloß wie später Kant, dessen Erhabenheit, sondern gewaltiger noch dessen Unheimlichkeit: le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie. Mit einer Klarheit, die bis auf unsere Tage nicht überboten worden ist, durchspürt er die beiden Unendlichkeiten, die des unendlich Großen und die des unendlich Kleinen, und lernt so die Beschränktheit, die Unzulänglichkeit, die Beiläufigkeit des Menschen erkennen: combien de royaumes nous ignorent! Die den Menschen gleichsam überspringende Begeisterung der Bruno und Kepler ist hier durch eine furchtbar klarsichtige, schwermütige, aber gläubige Nüchternheit ersetzt. Es ist die Nüchternheit des noch tiefer als je zuvor vereinsamten Menschen, und mit einem nüchternen Pathos spricht sein Mund die anthropologische Frage neu aus: qu’est-ce qu’un homme dans l’infini? Der Selbstherrlichkeit des Cusanus, in der der Mensch alles in sich zu tragen und daher alles erkennen zu können sich rühmte, tritt hier die Einsicht des Einsamen entgegen, der es aushält, der Unendlichkeit als Mensch ausgesetzt zu sein: Connaissons donc notre portée: nous sommes quelque chose, et ne sommes pas tout; ce que nous avons d’être nous dérobe la connaissance des premiers principes, qui naissent du néant; et le peu que nous avons d’être nous cache la vue de l’infini. Aber gerade aus der Tatsache, daß die Selbstbesinnung mit solcher Klarheit vollzogen wird, ergibt sich in dieser Erneuerung des anthropologischen Gedankens die Sonderstellung des Menschen im Kosmos. L’homme n’est qu’un roseau, le plus faible de la nature; mais c’est un roseau pensant. Il ne faut pas que l’univers entier s’arme pour l’écraser: une vapeur, une goutte d’eau, suffit pour le tuer. Mais, quand l’univers l’écraserait, l’homme serait encore plus noble que ce qui le tue, parce qu’il sait qu’il meurt et l’avantage que l’univers a sur lui. L’univers n’en sait rien. Das ist nicht etwa eine Wiederholung der stoischen Haltung, es ist die neue Haltung der in der Unendlichkeit hauslos gewordenen Person, denn alles hängt hier an dem Wissen, daß die Größe des Menschen aus seinem Elend geboren wird, daß der Mensch nämlich deshalb ein anderer ist als alles, weil er noch im Vergehen ein Sohn des Geistes sein kann. Der Mensch ist das Wesen, das seine Lage in der Welt erkennt und, solang es bei Sinnen ist, diese Erkenntnis fortzusetzen vermag. Das Entscheidende ist nicht, daß diese Kreatur unter allen es wagt, an die Welt heranzutreten und sie zu erkennen – so erstaunlich dies auch an sich ist; das Entscheidende ist, daß sie das Verhältnis zwischen der Welt und ihr selbst erkennt. Damit ist der Welt mitten aus der Welt ein Gegenüber entstanden. Das bedeutet aber, daß dieses »mitten heraus« seine besondere Problematik hat.
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Wir haben gesehen, daß die strenge anthropologische Frage, die den Menschen in seiner spezifischen Problematik meint, in Zeiten laut wird, in denen gleichsam der Urvertrag zwischen der Welt und dem Menschen gelöst wird und der Mensch sich in der Welt als ein Fremder und Einsamer vorfindet. Auf das Ende eines Weltbildes, d. h. einer Welt-sicherheit, folgt bald ein neues Fragen des unsicher, heimlos und daher sich selbst problematisch gewordenen Menschen. Aber es kann gezeigt werden, daß von einer derartigen Krisis zur nächsten und von dieser wieder zur nächsten ein Weg führt. Die Krisen haben Wesentliches gemeinsam, aber sie gleichen einander nicht. Das kosmologische Weltbild des Aristoteles zerbricht von innen her, dadurch daß die Seele das Problem des Bösen in seiner Tiefe erfährt und eine entzweite Welt um sich fühlt; das theologische Weltbild des Thomas zerbricht von außen her, dadurch, daß die Welt sich als unbegrenzt kundtut. Wodurch also die Krisis bewirkt wird, ist das eine Mal der Mythus, der dualistische Mythus der Gnosis, das andere Mal ist es der von keinem Mythus mehr umkleidete Kosmos der Wissenschaft selber. Die Einsamkeit Pascals ist wirklich geschichtlich später als die Augustins; sie ist vollständiger und schwerer zu überwinden. Und in der Tat ergibt sich etwas Neues, noch nicht Dagewesenes: es wird zwar an einem neuen Weltbild gearbeitet, aber ein neues Welthaus wird nicht mehr gebaut. Hat man erst einmal den Begriff der Unendlichkeit ernst genommen, dann kann man aus der Welt keine Wohnung des Menschen mehr machen. Und in das Weltbild muß man die Unendlichkeit selbst einbeziehen – ein Paradox, denn ein Bild, wenn es wirklich ein Bild, eine Gestalt also ist, ist begrenzt, nun aber muß das Unbegrenzte selber ins Bild hinein. Mit andern Worten: ist man da angelangt, wo das Bild endet, also etwa, um in der Sprache unserer heutigen Astronomie zu sprechen, bei Sternnebeln, die hundert Millionen Lichtjahre von uns entfernt sind, so muß man mit äußerster Dringlichkeit spüren, daß es nicht endet und nicht enden kann. Ich bemerke nebenbei, obgleich es sich von selbst versteht, daß Einsteins Begriff eines endlichen Weltraums keineswegs etwa die Welt wieder zu einem Haus des Menschen umzubauen geeignet wäre, da diese »Endlichkeit« eine wesensmäßig andere ist als diejenige, die das Gefühl eines Welthauses erzeugt hat. Mehr noch: Es ist zwar recht wohl möglich, daß dieser heute von dem sinnlichkeitsbefreiten Ingenium des Mathematikers erschlossene Weltbegriff einst dem natürlichen Menschenverstand zugänglich werden kann; aber ein neues Weltbild wird er nicht mehr zu erzeugen imstande sein, auch nicht ein paradoxes wie es der kopernika-
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nische vermochte. Denn der kopernikanische erfüllte nur das, was die Menschenseele geahnt hatte in den Stunden, wo ihr das Haus des Weltraums, das aristotelische oder das thomistische, eng schien und sie an seine Mauern zu schlagen wagte, ob man da nicht Fenster in ein Drüben durchbrechen könnte, – er erfüllte es freilich in einer Weise, die eben diese Menschenseele tief beängstigte: so ist sie nun einmal; der Einsteinsche Weltbegriff aber bedeutet keinerlei Erfüllung einer Ahnung der Seele, sondern den Widerspruch zu allen ihren Ahnungen und Vorstellungen, diese Welt kann noch gedacht, aber nicht mehr vorgestellt werden, der Mensch, der sie denkt, lebt nicht mehr wirklich in ihr. Die Generation, die die moderne Kosmologie in ihr natürliches Denken verarbeitet haben wird, wird nach einigen Jahrtausenden wechselnder Weltbilder die erste sein, die darauf wird verzichten müssen, ein Bild ihrer Welt zu besitzen; eben dies, in einer nicht bildbaren Welt zu leben, wird wohl ihr Weltgefühl, sozusagen ihr Weltbild sein: imago mundi nova – imago nulla.
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5 Ich habe dem Gang unserer Untersuchung weit vorgegriffen. Kehren wir nun zu unserem zweiten Beispiel zurück und fragen wir, wie wir von da aus zu unserem Zeitalter, zu seiner besonderen Hauslosigkeit und Einsamkeit des Menschen und zu seiner neuen Stellung der anthropologischen Frage gelangen. Der größte Versuch, die neue Situation des nachkopernikanischen Menschen, wie Pascal sie uns vermittelt, zu bewältigen, ist kurz nach Pascals Tod von einem Mann unternommen worden, dem es bestimmt war, fast ebenso jung zu sterben. Spinozas Versuch bedeutet, von unserem Problem aus betrachtet, daß die astronomische Unendlichkeit zugleich unbedingt akzeptiert und ihrer Unheimlichkeit beraubt wird: die Ausdehnung, von der diese Unendlichkeit ausgesagt und dargetan wird, ist nur eins von unendlich vielen Attributen der unendlichen Substanz, und zwar ist sie eins von den nur zweien, von denen wir überhaupt wissen – das andere ist das Denken. Die unendliche Substanz aber selber, von Spinoza auch Gott genannt, im Verhältnis zu der diese Raumunendlichkeit nur eins von unendlich vielen Attributen sein kann, liebt, sie liebt sich selber, und sie liebt sich selber auch und besonders im Menschen, denn die Liebe des Menschengeistes zu Gott ist nur pars infiniti amoris, quo Deus se ipsum amat. Hier wird gleichsam auf Pascals Frage, was ein Mensch im Unendlichen sei, geantwortet: ein Wesen, in dem Gott sich
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selber liebt. Kosmologie und Anthropologie erscheinen hier auf eine großartige Weise versöhnt, aber der Kosmos ist nicht wieder dazu geworden, was er bei Aristoteles und bei Thomas war: zu einer bildhaft geordneten Vielfältigkeit, in der jedes Ding und jedes Wesen seinen Platz hat und das Wesen »Mensch« sich im Verein mit ihnen allen daheim fühlt. Eine neue Sicherheit des In-der-Welt-seins ist nicht gegeben; jedoch für Spinoza bedarf es ihrer nicht: seine Andacht zur unendlichen natura naturans hebt sich über den rein umrißhaften Charakter seiner natura naturata empor, die nur dem Begriff nach, als Inbegriff des göttlichen Modi, nicht aber der realen Erfassung und Zusammenschließung der Arten und Ordnungen des Seins nach in das System einbezogen ist. Da ist kein neues Welthaus, da ist kein Grundriß zu einem Haus und kein Baustoff dazu: ein Mensch nimmt seine Hauslosigkeit, seine Weltlosigkeit an, weil sie ihn zur adaequata cognitio aeternae et infinitae essentiae Dei befähigt, ihn also befähigt zu erkennen, wie Gott in ihm sich selber liebt. Ein Mensch aber, der das erkennt, kann sich nicht mehr problematisch sein. In der denkerischen Abgelöstheit Spinozas war die Versöhnung vollzogen. Aber in dem konkreten Leben des faktischen Menschen mit der faktischen Welt, in dem unabgelösten und unablösbaren Leben, von dem aus Pascal sprach und die Brüchigkeit des Menschen zugleich mit der Furchtbarkeit der Welt aussprach, wurde es immer schwerer, sie zu vollziehen. Das Zeitalter des Rationalismus, das Spinozas Objektivierung des Seins, in dem Welt und Mensch vereint sind, abschwächte und mundgerecht machte, bricht den Stachel der anthropologischen Frage ab; aber seine Spitze bleibt im Fleisch stecken und schwärt heimlich. Gewiß, man kann auf einen Menschen hinweisen, der im nachrationalistischen Zeitalter als echter Erbe Spinozas und von dessen »Friedenslust« beglückt, »ein Kind des Friedens« und gesonnen Frieden zu halten »für und für mit der ganzen Welt«, diese Welt in ihrer lebendigen Fülle faßt und durchdringt, als ein Ganzes, das uns in seiner Synthese mit dem Geist »von der Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt«. Aber Goethe, der uns an seiner geschichtlichen Stelle in manchem Belang wie eine gnädige Euphorie vor dem Ende eines Zeitalters anmutet, hat es zwar wirklich noch vermocht, real im Kosmos zu leben; aber er, der die Tiefe der Einsamkeit ausgelotet hatte (»über viele Dinge kann ich nur mit Gott reden«), war der anthropologischen Frage im Innersten ausgesetzt. Wohl war ihm der Mensch »das erste Gespräch, was die Natur mit Gott hält«, aber er hat doch wie Werther »die Stimme der ganz in sich gedrängten, sich selbst ermangelnden und unaufhaltsam hinabstürzenden Kreatur« vernommen.
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6 Erst Kant hat die anthropologische Problematik kritisch so erfaßt, daß damit Pascal auf sein wirkliches Anliegen eine Antwort gegeben war, eine Antwort, die zwar nicht metaphysisch auf das Sein des Menschen, sondern erkenntnistheoretisch auf sein Verhältnis zur Welt gerichtet war, aber hier die fundamentalen Probleme ergriff: Was ist das für eine Welt, die der Mensch erkennt? Wie kann der Mensch, so wie er in seiner konkreten Wirklichkeit ist, überhaupt erkennen? Wie steht der Mensch in der so von ihm erkannten Welt, was ist sie ihm und was ist er ihr? Um zu verstehen, inwiefern die »Kritik der reinen Vernunft« als Antwort auf Pascals Frage aufgefaßt werden darf, müssen wir diese selbst noch einmal betrachten. Der unendliche Weltraum ist Pascal unheimlich und bringt ihm die Fragwürdikeit des Menschen, der dieser Welt ausgesetzt ist, zum Bewußtsein. Aber was ihn so schreckt und aufrührt, das ist ja nicht die neu entdeckte Unendlichkeit des Raumes im Gegensatz zu seiner vorher geglaubten Endlichkeit. Vielmehr ist es dies, daß durch den Eindruck der Unendlichkeit der Raum überhaupt ihm unheimlich wird, ein endlicher nicht weniger als ein unendlicher, denn einen endlichen Raum wirklich vorstellen wollen ist ein ebenso halsbrecherisches Unternehmen und bringt dem Menschen ebenso nachdrücklich zum Bewußtsein, der Welt nicht gewachsen zu sein, wie einen unendlichen wirklich vorstellen wollen. Ich selbst habe dies mit etwa vierzehn Jahren in einer Weise erlebt, die mein ganzes Leben tief beeinflußt hat. Es war damals eine mir unbegreifliche Nötigung über mich gekommen: ich mußte immer wieder versuchen, mir den Rand des Raums oder seine Randlosigkeit, eine Zeit mit Anfang und Ende oder eine Zeit ohne Anfang und Ende vorzustellen, und beides war ebenso unmöglich, ebenso hoffnungslos, und doch schien nur die Wahl zwischen der einen und der anderen Absurdität offen. Unter einem unwiderstehlichen Zwang taumelte ich von der einen zur anderen, zuweilen von der Gefahr des Wahnsinnigwerdens in solcher Nähe bedroht, daß ich mich ernstlich mit dem Gedanken trug, ihr durch einen rechtzeitigen Selbstmord zu entweichen. Die Erlösung brachte dem Fünfzehnjährigen ein Buch, Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, das ich zu lesen wagte, obgleich es mir in seinem ersten Satze sagte, daß es nicht zum Gebrauch für Lehrlinge, sondern für künftige Lehrer bestimmt sei. Dieses Buch erklärte mir, Raum und Zeit seien nur die Formen, in denen meine menschliche Anschauung dessen was ist sich notwendig vollzieht, sie hafteten also nicht dem Innern der Welt an, sondern der Beschaffenheit meiner Sinne. Und weiter lehrte es, es sei für alle meine Begriffe ebenso unmöglich zu sagen,
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die Welt sei dem Raum und der Zeit nach unendlich, als sie sei endlich. »Denn keins von beiden kann in der Erfahrung enthalten sein« und keins von beiden kann in der Welt selber liegen, da diese uns eben nur als Erscheinung gegeben ist, »deren Dasein und Verknüpfung nur in der Erfahrung stattfindet«. Beides kann behauptet und beides bewiesen werden; zwischen These und Antithese besteht ein unauflösbarer Widerspruch, eine Antinomie der kosmologischen Ideen; das Sein selber wird durch keine von beiden berührt. Ich war nun nicht mehr genötigt, mich damit zu peinigen, daß ich mir erst das eine Unvorstellbare, dann das entgegengesetzte ebenso Unvorstellbare vorzustellen versuchte: ich durfte denken, daß das Sein selber der raumzeitlichen Endlichkeit und der raumzeitlichen Unendlichkeit gleicherweise entrückt ist, weil es in Raum und Zeit nur erscheint, aber in diese seine Erscheinung nicht selber eingeht. Damals begann ich zu ahnen, daß es das Ewige gibt, das etwas ganz anderes ist als das Unendliche, genau ebenso wie es etwas ganz anderes ist als das Endliche, und daß es doch zwischen mir, dem Menschen, und dem Ewigen eine Verbindung geben kann. Kants Antwort an Pascal läßt sich so etwa formulieren: Was dir aus der Welt, dich schreckend, entgegentritt, das Geheimnis ihres Raums und ihrer Zeit, ist das Geheimnis deines eigenen Fassens der Welt und deines eigenen Wesens. Deine Frage »Was ist der Mensch?« ist also eine echte Frage, der du die Antwort suchen mußt. Hier erweist sich Kants anthropologische Frage in aller Deutlichkeit als ein Vermächtnis an unser Zeitalter. Es wird kein neues Welthaus für den Menschen entworfen, es wird von ihm als vom Baumeister der Häuser Besinnung gefordert, sich selber zu erkennen. Kant versteht die nach ihm kommende Stunde in all ihrer Unsicherheit als eine Stunde der Selbstbescheidung und Selbstbesinnung, als die anthropologische Stunde. Erst sah er, wie aus jenem bekannten Brief von 1793 hervorgeht, in der Behandlung der vierten Frage eine Aufgabe, die er sich selbst stellte und deren Lösung auf die der drei ersten folgen sollte; er ist nicht mehr wirklich daran gegangen, aber er hat sie in solcher Klarheit und Eindringlichkeit gestellt, daß sie den folgenden Geschlechtern gestellt blieb, bis das unsere sich endlich anschickt, sich in ihren Dienst zu stellen.
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Dritter Abschnitt
Hegel und Marx 1 Zunächst freilich erfolgt eine so radikale Abwendung von der anthropologischen Fragestellung, wie es sie wohl nie vorher in der Geschichte des menschlichen Denkens gegeben hat. Ich meine das System Hegels, das System also, das nicht bloß auf die Denkweise eines Zeitalters, sondern auch auf sein soziales und politisches Handeln einen entscheidenden Einfluß ausgeübt hat, – einen Einfluß, der die Depossedierung der konkreten menschlichen Person und der konkreten menschlichen Gemeinschaft zugunsten der Weltvernunft, ihrer dialektischen Prozesse und ihrer objektiven Gebilde gefördert hat. Dieser Einfluß hat sich bekanntlich auch in Denkern ausgewirkt, die von Hegel ausgegangen sind, aber sich von ihm entfernt haben, wie einerseits Kierkegaard, der Kritiker des modernen Christentums, der zwar wie kein anderer Denker unserer Zeit die Bedeutung der Person erfaßt hat, aber das Leben der Person noch durchaus in den Formen der Hegelschen Dialektik, als ein Umschlagen vom Ästhetischen zum Ethischen und von da zum Religiösen sieht, anderseits Marx, der so vordringlich wie kein anderer auf die Tatsächlichkeit der menschlichen Gesellschaft eingeht, aber ihre Entwicklung in Formen Hegelscher Dialektik, als Umschlagen von der primitiven Gemeinwirtschaft zum Privateigentum und von da zum Sozialismus betrachtet. In seiner Jugend hat Hegel die anthropologische Fragestellung Kants, die zwar damals in ihrer endgültigen Fassung noch nicht publiziert, aber ihrem Sinn nach dem tief mit Kant befaßten jungen Menschen sicherlich bekannt war, in sich aufgenommen und von hier aus echt anthropologisch weiter gedacht, indem er durch das Verständnis des organischen Zusammenhangs der Seelenvermögen zu dem zu gelangen suchte, was Kant selbst nur als regulative Idee, nicht als lebendiges Sein kannte, zu dem was der junge Hegel selbst (um 1798) die »Einigkeit des ganzen Menschen« nannte. Was er damals anstrebte, hat man mit Recht eine anthropologische Metaphysik genannt. Dabei nimmt er die konkrete menschliche Person so ernst, daß er gerade an ihr seine Auffassung der Sonderstellung des Menschen demonstriert; ich führe dafür einen schönen Satz (aus der Aufzeichnung »Der Geist des Christentums und sein Schicksal«) an, weil er deutlich zeigt, in welcher Weise Hegel über Kant hinaus in das anthropologische Problem einzudringen sucht. »In jedem
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Menschen selbst ist das Licht und Leben, er ist das Eigentum des Lichts; und er wird von einem Lichte nicht erleuchtet, wie ein dunkler Körper, der nur fremden Glanz trägt, sondern sein eigner Feuerstoff gerät in Brand, und ist eine eigene Flamme«. Hegel redet hier bemerkenswerterweise nicht von einem Allgemeinbegriff des Menschen, sondern von »jedem Menschen«, von der wirklichen Person also, von der die echte philosophische Anthropologie in allem Ernst ausgehen muß. Aber diese Problemstellung wird man in dem späteren Hegel, dem also, der das Denken eines Jahrhunderts beeinflußt hat, vergebens suchen. Ich möchte geradezu sagen: man wird den wirklichen Menschen darin vergebens suchen. Wenn man etwa den Abschnitt der »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« aufschlägt, der »Anthropologie« überschrieben ist, sieht man, daß er mit Aussagen über Wesen und Sinn des Geistes beginnt, von denen dann zu Aussagen über die Seele als Substanz vorgeschritten wird; wertvolle Hinweise über die Unterschiede innerhalb des Menschengeschlechts und des Menschenlebens, insbesondre über die Unterschiede der Lebensalter, der Geschlechter, des zwischen Schlaf und Wachen usw. folgen, aber ohne daß wir all dies auf eine Frage nach der Wirklichkeit und Bedeutung dieses menschlichen Lebens zu beziehen vermöchten; auch die Kapitel über das Gefühl, das Selbstgefühl, die Gewohnheit helfen uns hierin nicht weiter, und sogar in dem Kapitel, das »Die wirkliche Seele« überschrieben ist, erfahren wir nur, die Seele sei wirklich als die »Identität des Innern mit dem Äußern«. Der Systematiker Hegel geht nicht mehr, wie der junge Hegel, von dem Menschen aus, sondern von der Weltvernunft; der Mensch ist für ihn nur noch das Prinzip, in dem die Weltvernunft zu ihrem vollkommnen Selbstbewußtsein und damit zu ihrer Vollendung gelangt; aller Widerspruch im Leben und in der Geschichte des Menschen führt nicht auf die anthropologische Fraglichkeit und Frage hin, sondern erklärt sich als eine bloße »List«, deren sich die Idee bedient, um gerade durch die Überwindung des Widerspruchs zu ihrer eigenen Vollendung zu gelangen. Kants Grundfrage »Was ist der Mensch?« ist hier dem Anspruch nach endgültig beantwortet, in Wahrheit als Frage verdunkelt, ja aufgehoben. Aber auch schon die erste der drei philosophischen Fragen Kants, die der anthropologischen Frage vorausgehen, die Frage »Was kann ich wissen?«, ist zum Schweigen gebracht. Ist der Mensch der Ort und das Medium, darin die Weltvernunft sich selber erkennt, dann gibt es schlechthin keine Begrenzung dessen, was der Mensch wissen kann. Der Idee nach weiß der Mensch alles, wie er der Idee nach alles, nämlich alles was in der Vernunft ist, verwirklicht. Beides geschieht in der Geschichte, in der der vollkommene Staat als Vollendung des Seins und die vollkommene Me-
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taphysik als Vollendung der Erkenntnis erscheinen. Indem wir beides erfahren, erfahren wir zugleich den Sinn der Geschichte und den Sinn des Menschen in adäquater Weise. Hegel unternimmt es, dem Menschen eine neue Sicherheit zu geben, ihm ein neues Welthaus zu bauen. Im kopernikanischen Raum läßt sich kein Welthaus mehr bauen; Hegel baut es in der Zeit allein, die »die höchste Macht alles Seienden« 1 ist. Die Zeit, in der Form einer in ihrem Sinn vollkommen erfahrbaren und begreifbaren Geschichte, soll das neue Haus des Menschen sein. Hegels System ist innerhalb des abendländischen Denkens der dritte große Sicherungsversuch: nach dem kosmologischen des Aristoteles und dem theologischen des Thomas der logologische Versuch. Alle Unsicherheit, alle Unruhe um den Sinn, aller Schrecken um die Entscheidung, alle abgründige Problematik ist bewältigt. Die Weltvernunft hat ihren unverschiebbaren Weg durch die Geschichte, und der erkennende Mensch erkennt ihn, vielmehr, seine Erkenntnis ist erst das eigentliche Ziel und Ende des Wegs, in dem die sich verwirklichende Wahrheit in ihrer Verwirklichung sich selber weiß. Die Stadien des Wegs folgen aus absoluter Ordnung aufeinander: das Gesetz der Dialektik, wonach These durch Antithese und Antithese durch Synthese abgelöst wird, waltet souverän in ihnen. Wie man sicheren Fußes, von Stockwerk zu Stockwerk und von Zimmer zu Zimmer eines wohlgebauten, an Fundamenten, Wänden und Dach unerschütterlichen Hauses geht, so geht der alles wissende Mensch Hegels durch das neue Welthaus der Geschichte, die er ihrem ganzen Sinn nach erkannt hat. Wenn er die endgültige Metaphysik nur redlich mitdenkt, ist sein Blick vor dem Schwindel behütet, denn alles ist überschaubar. Der junge Mensch, den seit der kopernikanischen Achsendrehung die Bangigkeit des Unendlichen überströmte, wenn er nachts das Fenster seines Kämmerleins öffnete und einsam in der Finsternis stand, soll die Beruhigung erfahren; wenn auch der Kosmos, im unendlich Großen und im unendlich Kleinen, sich seinem Gemüte versagt, die zuverlässige Ordnung der Geschichte, die »nichts ist als die Verwirklichung des Geistes«, nimmt ihn heimatlich auf. Die Einsamkeit ist überwunden und die Frage nach dem Menschen ausgetilgt. Nun ergibt sich aber ein merkwürdiges geschichtliches Phänomen. In früheren Zeiten bedurfte es des kritischen Werkes einiger Jahrhunderte, um eine kosmische Sicherheit zu zerstören und die anthropologische Frage wieder mächtig zu machen. Jetzt aber wirkt zwar das Hegelsche Weltbild mit ungebrochener Stärke über ein Zeitalter hin und in alle Be1.
Jenenser Realphilosophie von 1805/06
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reiche des Geistes hinein; aber die Auflehnung dagegen stellt sich sogleich ein und mit ihr erneut sich die Forderung einer anthropologischen Perspektive. Das Hegelsche Welthaus wird bewundert, erklärt und nachgeahmt; aber es erweist sich als unbewohnbar. Der Gedanke bestätigt es und das Wort verherrlicht es; aber der wirkliche Mensch betritt es nicht. In der Welt des Aristoteles hat sich der wirkliche antike Mensch heimisch gefühlt, in der Welt des Thomas der wirkliche christliche Mensch; die Welt Hegels ist für den wirklichen modernen Menschen nie die wirkliche Welt geworden. Im Denken der Menschheit hat Hegel die anthropologische Frage Kants nur für einen Augenblick zurückzudrängen vermocht; im Leben des Menschen hat er die große anthropologische Unruhe, die sich in der neuen Zeit zuerst in der Frage Pascals äußert, auch nicht für einen Augenblick gestillt. Von den Ursachen dieser Erscheinung will ich hier nur auf eine hinweisen. Ein auf der Zeit aufbauendes denkerisches Weltbild kann niemals jenes Gefühl der Sicherheit verleihen wie ein auf dem Raum aufbauendes. Um diese Tatsache zu erfassen, müssen wir aufs bestimmteste zwischen der kosmologischen und anthropologischen Zeit unterscheiden. Die kosmologische Zeit können wir gleichsam umfassen, das heißt, ihren Begriff verwenden, als ob die gesamte Zeit in einer relativen Weise vorhanden wäre, wiewohl die Zukunft uns überhaupt nicht gegeben ist. Dagegen läßt sich die anthropologische Zeit, das heißt, die Zeit in Hinsicht auf die besondere Wirklichkeit des konkreten, bewußt wollenden Menschen, nicht umfassen, weil die Zukunft nicht vorhanden sein kann, da sie nach meinem Bewußtsein und Willen in einem gewissen Maße von meiner Entscheidung abhängt. Die anthropologische Zeit ist nur demjenigen Teil nach wirklich, der zu kosmologischer Zeit geworden ist, d. h. dem Teil nach, der Vergangenheit heißt. Die Unterscheidung ist somit nicht mit der bekannten von Bergson identisch, dessen durée eine fließende Gegenwart bedeutet, wogegen das Organ für die von mir gemeinte anthropologische Zeit im wesentlichen das Gedächtnis ist, freilich das stets nach der Gegenwart zu »lockere« Gedächtnis: sowie wir etwas als Zeit erfahren, die Zeitdimension als solche uns bewußt wird, ist bereits das Gedächtnis im Spiel; mit anderen Worten: die reine Gegenwart kennt kein spezifisches Zeitbewußtsein. Zwar ist uns auch die kosmologische Zeit, trotz unserer Kenntnisse über die regelmäßigen Bewegungen der Sterne usw., nicht zur Gänze bekannt, aber auch damit, was uns davon nicht bekannt ist, und selbstverständlich auch was uns an künftigen Handlungen der Menschen nicht bekannt ist, dürfen wir uns in unseren Gedanken als mit etwas Wirklichem befassen, da im Augenblick des Denkens all ihre Ursachen vorhanden sind. Dagegen dür-
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fen wir uns mit der anthropologischen Zukunft in unseren Gedanken nicht als mit etwas Wirklichem befassen, da meine Entscheidung, die im nächsten Augenblick erfolgen wird, noch nicht erfolgt ist. Das gleiche gilt von den Entscheidungen der andern Menschen, da ich auf Grund des anthropologischen Begriffs des Menschen, als eines meinend wollenden Wesens, weiß, daß man ihn nicht einfach als einen Teil der Welt verstehen kann. Im Umkreis der Menschenwelt, der durch das Problem des menschlichen Seins gegeben ist, gibt es keine Sicherheit der Zukunft. Die Zeit, die Hegel in die Grundlagen seines Weltbilds aufnahm, die kosmologische Zeit, ist nicht die konkrete Zeit des Menschen, sondern seine gedankliche. Die Vollendung in die Wirklichkeit des Seienden einzubeziehen liegt im Vermögen des menschlichen Gedankens, aber es liegt nicht im Vermögen der lebendigen, menschlichen Vorstellung; es ist etwas, was man denken kann, aber mit dem man nicht leben kann. Ein denkerisches Weltbild, das »das Ziel der Weltgeschichte« in sich aufnimmt, hat in diesem seinem Teil keine sichernde Kraft; die ungebrochene Linie geht hier gleichsam in eine punktierte über, die auch der gewaltigste Philosoph für uns nicht in Wahrheit in eine feste Linie zu verwandeln vermag. Eine Ausnahme bildet nur ein Weltbild, das auf dem Glauben gegründet ist: die Kraft des Glaubens – und sie allein – kann auch die Vollendung als etwas Gesichertes erfahren, weil als etwas, das uns verbürgt ist von jemand, dem wir vertrauen, – dem wir als einem Bürgen auch für das noch nicht in unserer Welt Seiende vertrauen. Wir kennen in der Religionsgeschichte vor allem zwei große Weltbilder dieser Art: das des iranischen Messianismus, in dem der künftige endgültige und vollkommene Sieg des Lichtes über die Finsternis auf die Stunde genau verbürgt ist, und das des israelitischen Messianismus, der eine solche Festlegung ablehnt, weil er den Menschen selbst, den brüchigen, widerspruchsvollen, fragwürdigen Menschen selbst als ein Element versteht, das sowohl zur Erlösung beitragen als sie behindern kann; aber auch ihm ist die endgültige und vollkommene Erlösung verbürgt in dem Glauben an die erlösende Macht Gottes, die mitten in der Geschichte ihr Werk an dem ihr widerstrebenden Menschen tut. In dem christlichen Weltbild, wie wir es bei Thomas fertig ausgebildet sahen, wirkt der Messianismus, wenn auch abgeschwächt, nach. In Hegels System wird der Messianismus säkularisiert, d. h. er wird aus der Sphäre des Glaubens, in der der Mensch sich mit dem Gegenstand seines Glaubens verbunden fühlt, in die Sphäre der evidenten Überzeugung übertragen, in der der Mensch den Gegenstand seiner Überzeugung betrachtet und bedenkt. Das ist wiederholt ausgesprochen worden. Man hat aber nicht genügend beachtet, daß in einer solchen Übertragung das
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Element des Vertrauens nicht mit übertragen werden kann. Mag auch der Glaube an die Schöpfung durch die Überzeugung von der Entwicklung ersetzt werden, der Glaube an die Offenbarung durch die Überzeugung von der zunehmenden Erkenntnis, der Glaube an die Erlösung wird durch die Überzeugung von der Vollendung der Welt aus der Idee nicht wirklich ersetzt, weil nur das Vertrauen zu einem Vertrauenswürdigen ein Verhältnis unbedingter Gewißheit zur Zukunft zu begründen vermag. Ich sage: nicht wirklich ersetzt, d. h.: nicht im wirklichen Leben und für das wirkliche Leben. Denn im bloßen Denken leistet die Überzeugung von der Selbstverwirklichung einer absoluten Vernunft in der Geschichte auch für das Verhältnis des Menschen zur Zukunft nicht weniger als ein messianistischer Gottesglaube, ja, sie leistet sogar mehr, weil sie sozusagen chemisch rein ist und keinerlei störende konkrete Beimischung aufweist; aber das Denken allein hat nicht die Macht, das wirkliche Leben des Menschen aufzubauen, und die straffste philosophische Sicherheit kann der Seele jene intime Gewißheit nicht schenken, daß die so unvollkommene Welt zu ihrer Vollendung geführt wird. Hegel freilich ist die Problematik der Zukunft letztlich nicht gegeben, da er im Grunde in seinem eigenen Zeitalter und in seiner eigenen Philosophie den Anbruch der Erfüllung erblickt, so daß die dialektische Bewegung der Idee durch die Zeit eigentlich bereits zu ihrem Ende gelangt ist; aber welcher hingegebene Verehrer des Philosophen hat diesen weltlichen Automessianismus je wahrhaft mitgemacht, d. h. nicht bloß mit dem Denken, sondern mit dem ganzen wirklichen Leben, wie es in der Religionsgeschichte immer wieder geschehen ist? 2
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Freilich gibt es im Umkreis des Einflusses Hegels eine bedeutsame Erscheinung, die dem, was ich von dem Verhältnis zur Zukunft sagte, zu widersprechen scheint. Ich meine die auf der Hegelschen Dialektik gegründete Geschichtslehre von Marx. Auch hier ist ja eine Sicherheit hinsichtlich der Vollendung verkündigt, auch hier ist der Messianismus säkularisiert; und doch ist der wirkliche Mensch in der Gestalt der proletarischen Massen unseres Zeitalters in diese Sicherheit eingegangen und hat aus diesem säkularisierten Messianismus seinen Glauben gemacht. Wie ist das zu verstehen? Marx hat der Methode Hegels gegenüber etwas vollzogen, was man die soziologische Reduktion nennen kann. Das heißt, er will kein Weltbild mehr geben, es bedarf keines Weltbildes mehr. (Was Engels später – 1880 – unter dem Titel »Dialektik der
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Natur« an Darlegung eines Weltbildes versucht hat, eine ganz unselbständige Wiedergabe der Lehre Haeckels und anderer Evolutionisten, widerspricht völlig der von Marx geübten grundsätzlichen Beschränkung.) Was Marx dem Menschen seines Zeitalters geben will, ist kein Weltbild, sondern nur ein Gesellschaftsbild, genauer gesagt: das Bild des Weges, auf dem die menschliche Gesellschaft zu ihrer Vollkommenheit gelangen muß. An die Stelle der Hegelschen Idee oder Weltvernunft treten die menschlichen Produktionsverhältnisse, aus deren Wandlung die Wandlung der Gesellschaft hervorgeht. Die Produktionsverhältnisse sind für Marx das Wesentliche und Tragende, das wovon er ausgeht und worauf er zurückführt; es gibt für ihn keinen anderen Ursprung und kein anderes Prinzip. Gewiß kann man sie nicht wie die Weltvernunft Hegels als das Erste und Letzte betrachten; aber die soziologische Reduktion bedeutet eben den unbedingten Verzicht auf eine Perspektive des Seins, in der es Erstes und Letztes gibt. Aus den Produktionsverhältnissen allein baut sich nach Marx das Heim auf, in dem der Mensch wohnen kann, d. h. in dem er, wenn es einst fertig sein wird, wird wohnen können. Die Welt des Menschen ist die Gesellschaft. Durch diese Reduktion wird in der Tat eine Sicherheit errichtet, die die proletarischen Massen, zumindest für die Dauer eines Zeitalters, wirklich angenommen und in ihr Leben aufgenommen haben. Wo man innerhalb des Marxismus versucht hat, wie Engels die Reduktion aufzuheben und dem Proletarier ein Weltbild zu liefern, hat man die erprobte vitale Sicherheit mit einer ganz grundlosen intellektuellen vermengt und dadurch ihrer eigentlichen Kraft beraubt. Zu der Reduktion tritt freilich noch etwas anderes, besonders Wichtiges hinzu. Hegel erblickt den Anbruch der Erfüllung in seiner eigenen Zeit, in der der absolute Geist zu seinem Ziele gelangt. Marx kann die Erfüllung schlechthin nicht in der Zeit der Hochblüte des Kapitalismus, der vom erfüllenden Sozialismus abgelöst werden soll, schon anheben sehen. Er sieht aber in seiner Zeit etwas Existierendes, in dessen Existenz die Erfüllung bekundet und verbürgt erscheint: eben das Proletariat. In dessen Existenz sagt sich die Aufhebung des Kapitalismus, die »Negation der Negation«, leibhaft an. »Wenn das Proletariat«, sagt Marx, »die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eigenen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung.« Diese Grundthese ermöglicht es Marx, dem Proletariat eine Sicherheit zu geben. Es braucht an nichts anderes zu glauben als an sein eigenes Weiterleben bis zu der Stunde, in der aus seiner Existenz seine Tat wird. Die Zukunft erscheint hier an die unmittelbar erlebte Gegenwart gebunden und durch sie gesichert. Das Denken hat danach nicht die Macht, das wirkliche Leben des Menschen aufzubauen; aber das
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Leben selbst hat diese Macht, und der Geist hat sie, wenn er die Macht des Lebens anerkennt und seine eigene Macht, die nach Art und Wirkung eine andere ist, der Macht des Lebens verbindet. In dieser seiner Anschauung von der Macht des gesellschaftlichen Lebens selber hat Marx recht und unrecht. Er hat recht, da in der Tat das gesellschaftliche Leben, wie alles Leben, selber die Kräfte hervorbringt, die es zu erneuern vermögen. Aber er hat unrecht, da das menschliche Leben, zu dem das gesellschaftliche gehört, sich von allen andern Arten des Lebens darin unterscheidet, daß es hier eine von allen andern Arten der Kraft unterschiedene Kraft der Entscheidung gibt: sie ist von ihnen allen dadurch verschieden, daß sie nicht eine Quantität darstellt, sondern das Maß ihrer Stärke nur in der Handlung selber zu erkennen gibt. Und nun hängt es von der Richtung und Gewalt dieser Kraft ab, wie weit die erneuernden Lebenskräfte als solche wirken können, und sogar, ob sie sich nicht in zerstörende Kräfte verwandeln. Die Entwicklung hängt wesentlich von etwas ab, was sich nicht aus ihr erklären läßt. Mit anderen Worten: man darf die anthropologische Zeit weder im persönlichen Leben des Menschen noch in seinem gesellschaftlichen Leben mit der kosmologischen Zeit verwechseln, auch nicht, wenn man dieser die Form des dialektischen Prozesses verleiht, wie es Marx z. B. in seinem berühmten Ausspruch tut, die kapitalistische Produktion erzeuge ihre Negation »mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses«. Bei all seiner soziologischen Reduktion führt er nur in den Spuren Hegels die kosmologische Zeit in die Betrachtung der Zukunft ein, das heißt eine Zeit, der die Wirklichkeit des Menschen fremd ist. Das Problem der menschlichen Entscheidung als Ursprung von Geschehen und Schicksal, und auch von gesellschaftlichem Geschehen und Schicksal, besteht hier überhaupt nicht. Solch eine Lehre kann nur so lange in der Herrschaft beharren, als sie nicht mit einem historischen Moment zusammenstößt, in dem die Problematik der menschlichen Entscheidung sich in einem erschreckenden Grade fühlbar macht. Ich meine einen Moment, in dem katastrophale Vorgänge einen bestürzenden und unterbindenden Einfluß auf die Entscheidungskraft ausüben und sie häufig zum Verzicht zugunsten einer negativen Elite von Menschen bewegen, Menschen, die innerlich hemmungslos sind und sich daher nicht aus wirklicher Entscheidung so verhalten, wie sie sich verhalten, sondern nur ihre Macht behaupten. In solchen Situationen kann der Mensch, der nach der Erneuerung des Gesellschaftslebens strebt, der sozialistische Mensch, an der Entscheidung des Schicksals seiner Gesellschaft nur dann teilnehmen, wenn er an seine eigene Entscheidungsmächtigkeit glaubt, wenn er weiß, daß es auf sie ankommt, denn nur dann aktualisiert er im Wirken seiner Entscheidung
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die höchste Stärke seiner Entscheidungskraft. In solch einem Moment kann er an der Entscheidung des Schicksals seiner Gesellschaft nur dann teilnehmen, wenn seine Lebensanschauung in keinem Widerspruch zu seiner Lebenserfahrung steht. Hegel verband gleichsam zwangsweise die Sternenbahn und den Weg der Geschichte zu einer spekulativen Sicherheit. Marx, der sich auf die Menschenwelt beschränkte, sprach ihr allein eine Zukunftssicherheit zu, die ebenfalls dialektisch ist, aber wie eine faktische wirkt. Heut ist die Sicherheit im geordneten Chaos einer furchtbaren geschichtlichen Wendung untergegangen. Vorbei ist die Beruhigung, eine neue anthropologische Bangigkeit ist emporgekommen, die Frage nach dem Wesen des Menschen steht vor uns in all ihrer Größe und ihrem Schrecken wie nie zuvor, und nicht mehr in philosophischer Gewandung, sondern in der Nacktheit der Existenz. Keine dialektische Garantie hindert den Menschen vor dem Sturz; ihm selber liegts ob, den Fuß zu heben und den Schritt zu tun, der ihn vom Abgrund entfernt. Die Kraft, diesen Schritt zu tun, kann ihm aus keiner Zukunftssicherheit kommen, sondern allein aus jenen Tiefen der Unsicherheit, in denen der Mensch, von der Verzweiflung überschattet, die Frage nach dem Wesen des Menschen durch seine Entscheidung beantwortet.
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I.4. Feuerbach und Nietzsche
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Mit Marx sind wir aber auch schon mitten in der anthropologischen Auflehnung gegen Hegel. Und zwar nehmen wir an Marx zugleich in voller Deutlichkeit den eigentümlichen Charakter dieser Auflehnung wahr: man greift auf die anthropologische Beschränkung des Weltbilds zurück, ohne auf die anthropologische Problematik, auf die anthropologische Fragestellung zurückzugreifen. Der Philosoph, der sich so gegen Hegel auflehnt und als dessen Schüler in dieser Hinsicht wir Marx trotz aller Unterschiede und sogar Gegensätze zwischen ihnen anzusehen haben, ist Feuerbach. Der soziologischen Reduktion Marxens geht die anthropologische Reduktion Feuerbachs voraus. Um Feuerbachs Kampf gegen Hegel und die Bedeutung dieses Kampfes für die Anthropologie recht zu verstehen, geht man am besten von der Grundfrage aus: welches ist der Anfang der Philosophie? Kant hatte, dem Rationalismus entgegentretend und auf Hume gestützt, das Erkennen als das für den philosophierenden Menschen unmittelbar Erste an den Anfang gesetzt; er hatte damit zum entscheidenden philosophischen Problem gemacht, was Erkennen sei und wie es möglich sei. Dieses Problem hatte ihn dann, wie wir sahen, zur anthropologischen Frage geführt: was denn das für ein Wesen sei, das solchermaßen erkenne, der Mensch? Hegel überspringt dieses Erste, und zwar mit äußerster Bewußtheit. An dem Anfang der Philosophie darf nach ihm, wie er es mit aller Deutlichkeit schon in der ersten Auflage seiner »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« (1817) ausspricht, gerade kein unmittelbarer Gegenstand stehen, weil die Unmittelbarkeit dem philosophischen Denken ihrem Wesen nach widerstrebe; mit anderen Worten, die Philosophie darf nicht, wie Kant und vor ihm Descartes es tat, von der Situation des Philosophierenden ausgehen, sondern sie muß »antizipieren«. Dieses Antizipieren vollzieht er durch den Satz: »Das reine Sein macht den Anfang«, was sogleich in folgender Weise erläutert wird: »Das reine Sein ist nun die reine Abstraktion«. Von dieser Grundlage kann Hegel die Entwicklung der Weltvernunft an Stelle des menschlichen Erkennens zum Gegenstand der Philosophie machen. Dies ist der Punkt, an dem Feuerbachs Kampf ansetzt. Weltvernunft ist nur ein neuer Begriff für Gott; und wie die Theologie, wenn sie »Gott« sagte, nur das menschliche Wesen selbst von der Erde in den Himmel versetzte, so
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versetzt die Metaphysik, wenn sie Weltvernunft sagt, nur das menschliche Wesen vom konkreten Sein in ein abstraktes Sein. Die neue Philosophie – so formuliert es Feuerbach in seiner Programmschrift, den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« (1843) – hat zu ihrem Prinzip »nicht den absoluten, d. i. abstrakten Geist, kurz nicht die Vernunft in abstracto, sondern das wirkliche und ganze Wesen des Menschen«. Demnach will Feuerbach nicht, wie Kant, das menschliche Erkennen zum Anfang des Philosophierens machen, sondern den ganzen Menschen. Auch die Natur ist nach ihm nur als »Basis des Menschen« zu verstehen. »Die neue Philosophie«, so sagt er, »macht den Menschen … zum alleinigen, universalen … Gegenstand der Philosophie, die Anthropologie also … zur Universalwissenschaft«. Damit ist die anthropologische Reduktion, die Reduktion des Seins auf das menschliche Dasein, vollzogen. Man könnte sagen: Hegel folgt in der Stellung, die er dem Menschen anweist, der ersten Schöpfungsgeschichte, der des ersten Genesiskapitels, der Schöpfung der Natur, wo der Mensch zuletzt geschaffen und an seinen Platz im Kosmos gesetzt wird, so aber, daß damit die Schöpfung nicht nur endet, sondern sich auch ihrem Sinn nach vollendet, da nun erst das »Bild Gottes« erstanden ist; Feuerbach folgt der zweiten Schöpfungsgeschichte, der des zweiten Genesiskapitels, der Schöpfung der Geschichte, wo es keine andere Welt gibt als die Welt des Menschen, der Mensch in ihrem Mittelpunkt, jedem Lebenden dessen wahren Namen gebend. Nie zuvor ist eine philosophische Anthropologie mit solchem Nachdruck gefordert worden. Aber Feuerbachs Postulat führt nicht über die Schwelle hinaus, an die Kants vierte Frage uns geführt hatte. Mehr noch: in einer entscheidenden Hinsicht fühlen wir uns hier nicht bloß nicht weiter als bei Kant, sondern weniger weit. In Feuerbachs Forderung ist nämlich die Frage »Was ist der Mensch?« gar nicht eingegangen; ja, seine Forderung bedeutet recht eigentlich den Verzicht auf diese Frage. Seine anthropologische Reduktion des Seins ist die Reduktion auf den unproblematischen Menschen. Aber der wirkliche Mensch, der Mensch, der einem nicht menschlichen Sein gegenübersteht, der von ihm immer wieder als von einem unmenschlichen Schicksal überwältigt wird und der dennoch dieses Sein und dieses Schicksal zu erkennen wagt, ist nicht unproblematisch; vielmehr, er ist der Anfang aller Problematik. Eine philosophische Anthropologie ist nicht möglich, wenn sie nicht von der anthropologischen Frage ausgeht. Nur dadurch kann man zu ihr gelangen, daß man diese Frage noch tiefer, noch schärfer, noch strenger, noch grausamer faßt und ausspricht, als es bisher geschehen ist. In dem Unternehmen solch einer Vertiefung
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I.4. Feuerbach und Nietzsche
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und Verschärfung der Frage liegt, wie wir noch sehen werden, die eigentliche Bedeutung Nietzsches. Aber wir müssen zunächst noch bei Feuerbach verweilen, um einer Sache willen, die für das Denken unserer Weltstunde über den Menschen von außerordentlicher Wichtigkeit ist. Feuerbach meint nämlich mit dem Menschen, den er als den höchsten Gegenstand der Philosophie ansieht, nicht den Menschen als Individuum; er meint den Menschen mit dem Menschen, die Verbindung von Ich und Du. »Der einzelne Mensch für sich«, heißt es in der Programmschrift, »hat das Wesen des Menschen nicht in sich, weder in sich als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten – eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt.« Diesen Satz hat Feuerbach in seinen späteren Schriften nicht weiter ausgeführt. Marx hat in seinen Gesellschaftsbegriff das Element der realen Beziehung zwischen den real verschiedenen Ich und Du nicht aufgenommen und eben deshalb dem wirklichkeitsfremden Individualismus einen ebenso wirklichkeitsfremden Kollektivismus entgegengestellt. Aber über ihn hinaus hat Feuerbach mit seinem Satze jene Du-Entdeckung eingeleitet, die man »die kopernikanische Tat« des modernen Denkens und »ein elementares Ereignis« genannt hat, »das genau so folgenschwer ist wie die Ich-Entdeckung des Idealismus« und »zu einem zweiten Neuanfang des europäischen Denkens führen muß, der über den ersten Cartesianischen Einsatz der neueren Philosophie hinausweist« 1 . Mir selbst hat er schon in meiner Jugend die entscheidende Anregung gegeben. 2
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Nietzsche fußt weit stärker, als man gewöhnlich annimmt, auf Feuerbachs anthropologischer Reduktion. Er bleibt hinter Feuerbach zurück, indem er die selbständige Sphäre des Verhältnisses zwischen Ich und Du aus den Augen verliert und sich hinsichtlich der zwischenmenschlichen Beziehungen damit begnügt, die Linie der französischen Moralphilosophen des 17. und 18. Jahrhunderts fortzusetzen und durch eine Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Moral zu vollenden. Aber er geht weit über Feuerbach hinaus, indem er, wie kein Denker vor ihm es 1.
Karl Heim, Ontologie und Theologie. Zeitschrift für Theologie und Kirche. Neue Folge XI (1930) 333. Karl Heim, Glaube und Denken, 1. Auflage (1931) 405 (in die Neubearbeitung von 1934 hat Heim diese Stelle nicht aufgenommen). Ähnlich insbes. Emil Brunner.
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getan hat, den Menschen und zwar nicht wie Feuerbach den Menschen als klares und eindeutiges Wesen, vielmehr den Menschen als problematisches Wesen in den Mittelpunkt der Weltbetrachtung rückt und damit der anthropologischen Frage eine beispiellose Kraft und Leidenschaft verleiht. Die Problematik des Menschen ist Nietzsches eigentliches großes Thema, das ihn von den ersten philosophischen Versuchen bis zum Ende beschäftigt. Schon in der Betrachtung über Schopenhauer als Erzieher (1874) stellt er eine Frage, die wie eine Randbemerkung zu Kants vierter Frage wirkt und in der sich unser Zeitalter spiegelt wie das Zeitalter Kants in seiner Frage: »Wie kann sich der Mensch kennen?« Und er fügt erklärend hinzu: »Er ist eine dunkle und verhüllte Sache«. Ein Jahrzehnt danach folgt eine Erklärung dieser Erklärung: der Mensch ist »das noch nicht festgestellte Tier«. Das heißt: er ist keine bestimmte, eindeutige, endgültige Gattung wie die andern, er ist nicht eine fertige Gestalt, sondern etwas, das erst wird. Wenn wir ihn als eine fertige Gestalt ansehen, dann muß er uns »als die höchste Verirrung der Natur und als Selbstwiderspruch« erscheinen, denn er ist das Wesen, das, als »Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der tierischen Vergangenheit« an sich selbst, an dem Problem seines Sinns, leidet. Aber das ist nur ein Übergang. In Wahrheit ist der Mensch, wie Nietzsche es zuletzt, in den Aufzeichnungen, die man aus seinem Nachlaß unter dem Titel »Der Wille zur Macht« vereinigt hat, ausdrückt, »gleichsam ein Embryo des Menschen der Zukunft«, des eigentlichen Menschen, der eigentlichen Gattung Mensch. Die Paradoxie der Lage besteht aber darin, daß die Entstehung dieses eigentlichen, zukünftigen Menschen durchaus nicht gesichert ist; der jetzige Mensch, der Mensch des Übergangs, muß ihn erst aus dem Stoff schaffen, der er selbst ist. »Der Mensch ist etwas Flüssiges und Bildsames – man kann aus ihm machen, was man will.« Der Mensch, das Tier Mensch hatte »bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; ›wozu Mensch überhaupt?‹ war eine Frage ohne Antwort.« Er litt, »aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der Frage, ›wozu leiden?‹« Das asketische Ideal des Christentums will den Menschen von der Sinnlosigkeit des Leidens befreien; es tut das dadurch, daß es ihn von den Grundlagen des Lebens abtrennt und auf das Nichts zu führt. Den Sinn, den der Mensch sich selbst geben soll, muß er dem Leben entnehmen. Das Leben aber ist »Wille zur Macht«; alles große Menschentum, alle große Kultur hat sich aus dem Willen zur Macht und dem guten Gewissen zu ihm entfaltet. Diesen Willen haben die asketischen Ideale, die dem Menschen das »schlechte Gewissen« gaben, niedergehalten. Der
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eigentliche Mensch wird der sein, der zu seinem Willen zur Macht das gute Gewissen hat. Das ist der Mensch, den wir »erschaffen« sollen, den wir »züchten« sollen, um dessen willen wir das, was Mensch genannt wird, »überwinden« sollen. Der jetzige Mensch ist »kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein großes Versprechen«. Das unterscheidet ja nach Nietzsche den Menschen von allen Tieren: er ist »ein Tier, das versprechen darf«; das heißt, er behandelt ein Stück Zukunft als etwas, das von ihm abhängt und wofür er einsteht. Das kann kein Tier. Erst aus dem Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, aus der Verpflichtung des Schuldners, ist diese menschliche Eigenschaft entstanden. »Der moralische Hauptbegriff ›Schuld‹ hat seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff ›Schulden‹ genommen«. Und die menschliche Gesellschaft hat die so entstandene Eigenschaft mit allen Mitteln hochgezogen, um das Individuum zur Erfüllung seiner sittlichen und sozialen Pflichten anzuhalten. Als des höchsten Mittels bediente sie sich eben der asketischen Ideale. Der Mensch muß von alledem, von seinem schlechten Gewissen und von der schlechten Erlösung von diesem Gewissen frei werden, um in Wahrheit Weg zu werden. Nun verspricht er nicht mehr anderen Erfüllung von Pflichten, sondern er verspricht sich selbst die Erfüllung des Menschen. Alles, was an diesen Gedankengängen Nietzsches Antwort ist, ist falsch. Falsch ist erstens die soziologische und ethnologische Voraussetzung über die Urgeschichte des Menschen. Der Begriff der Schuld findet sich in stärkster Ausbildung schon in den primitivsten uns bekannten Gesellschaftsformen, denen das Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner fast fremd ist: Schuld trägt, wer eins der Urgesetze verletzt, die die Gesellschaft beherrschen und zumeist auf einen göttlichen Stifter zurückgeführt werden; versprechen lernt der Knabe, der in die Stammesgemeinschaft aufgenommen wird und ihre Gesetze erfährt, die ihn fortan binden; dieses Versprechen steht oft unter dem Zeichen des Todes, der sinnbildlich, mit sinnbildlicher Wiedergeburt, an dem Knaben vollzogen wird. Gerade weil der Mensch so versprechen gelernt hat, kann sich dann auch das privatwirtschaftliche Vertragsverhältnis zwischen dem Schuldner, der verspricht, und dem Gläubiger, dem versprochen wird, entwickeln. Und falsch ist zweitens die psychologische und geschichtliche Ansicht vom Willen zur Macht. Nietzsches Begriff eines Willens zur Macht ist nicht so eindeutig wie Schopenhauers Begriff des Willens zum Leben, dem er ihn nachgebildet hat. Er versteht darunter einmal den Willen, Macht zu gewinnen und immer mehr Macht zu gewinnen; »alles Geschehen aus Absicht« sagt er, »ist reduzierbar auf die Absicht der Mehrung von Macht«; alles Lebende strebt dem zufolge
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»nach Macht, nach Macht in der Macht«, »nach einem Maximalgefühl von Macht«. Ein andermal aber definiert er den Willen zur Macht als das »unersättliche Verlangen nach Bezeigung der Macht, oder Verwendung, Ausübung der Macht«. Das ist zweierlei. Immerhin mögen wir es als die zwei Seiten oder die zwei Momente des gleichen Vorgangs ansehen. Jedenfalls erkennen wir, daß die wirkliche Größe in der Geschichte, in der Geschichte des Geistes und der Kultur, aber auch in der Geschichte der Völker und der Staaten, weder durch das eine noch durch das andere charakterisiert werden kann. Größe umfaßt ihrem Wesen nach eine Macht, aber nicht einen Willen zur Macht. Zur Größe gehört eine innere Mächtigkeit, die zuweilen jäh und unwiderstehlich zur Macht über die Menschen erwächst, zuweilen still und langsam in eine still und langsam zunehmende Schar hineinwirkt, zuweilen auch gar nicht zu wirken scheint, sondern in sich besteht und ausstrahlt, Strahlen die vielleicht erst den Blick einer fernen Zeit erreichen werden. Zur Größe gehört aber weder das Streben nach »Mehrung« der Macht, noch nach »Bezeigung« der Macht. Der große Mensch, ob wir ihn in der intensivsten Tätigkeit an seinem Werk oder im ruhenden Gleichgewicht seiner Kräfte erfassen, ist mächtig, unwillkürlich und gelassen mächtig, aber er begehrt nicht nach Macht. Wonach er begehrt, ist Verwirklichung dessen, was er im Sinn hat, Fleischwerden des Geistes. Zu dieser Verwirklichung bedarf er selbstverständlich einer Macht; denn Macht – wenn wir den Begriff der dithyrambischen Pathetik entkleiden, mit der Nietzsche ihn ausgestattet hat – bedeutet nichts anderes als einfach das Vermögen, das zu realisieren was man realisieren will; aber er begehrt eben nicht nach diesem Vermögen, das ja nur ein selbstverständliches, unumgängliches Mittel ist, sondern er begehrt jeweils nach dem, was er vermögen will. Von hier aus verstehen wir die Verantwortung, in der der Mächtige steht, nämlich ob und wiefern er wirklich seinem Ziele dient; von hier aus aber verstehen wir auch die Verführung der Macht, dem Ziel untreu zu werden und sich ihr allein zu ergeben. Wo wir einen großen Menschen statt seines wirklichen Zieles die Macht begehren sehen, erkennen wir bald, daß er erkrankt ist, oder genauer, sein Verhältnis zu seinem Werk ist erkrankt. Er überhebt sich, das Werk versagt sich ihm, das Fleischwerden des Geistes vollzieht sich nicht mehr, und um der drohenden Sinnlosigkeit zu entgehen, greift er nach der leeren Macht. Diese Erkrankung wirft das Genie auf die gleiche Stufe mit jenen Hysterikern der Geschichte, die, unmächtig von Natur, sich nach Macht, nach immer neuer Bezeigung der Macht und nach immer neuer Mehrung der Macht abhetzen, um die Illusion der inneren Mächtigkeit zu genießen, und in diesem Streben nach Macht keine Pause eintreten lassen
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dürfen, da eine Pause ja die Möglichkeit der Selbstbesinnung und diese den Zusammenbruch mit sich führen würde. Von da aus ist auch das Verhältnis von Macht und Kultur zu beurteilen. Es ist ein wesentliches Element fast aller Völkergeschichte, daß die geschichtlich wichtige politische Führung einer Nation nach Machterwerb und Machtzuwachs für diese Nation strebt, das heißt, daß eben das, was im persönlichen Leben, wie wir sahen, einen pathologischen Zug hat, in der Beziehung zwischen dem geschichtlichen Repräsentanten eines Volkes und diesem Volk das Normale ist. Aber nun scheiden sich wieder die Arten in entscheidender Weise. Es kommt entscheidend darauf an, ob der führende Mensch in seinem innersten Herzen, in seinem tiefsten Wunsch und Traum, nach dem Machtgewinn für sein Volk um des Machtgewinns willen begehrt oder damit das Volk das Vermögen erlange, das zu verwirklichen, was in seiner, des führenden Menschen Schau als das Wesen und die Bestimmung dieses Volkes erscheint, ja, was er in seiner eigenen Seele entdeckt hat als die Zeichen einer Zukunft, die auf dieses Volk wartet, um durch es verwirklicht zu werden. Begehrt der historische Mensch so nach Macht für seine Nation, dann wird das, was er im Dienste seines Willens oder seiner Berufung tut, zu einer Förderung, Bereicherung, Erneuerung der nationalen Kultur; begehrt er nach der nationalen Macht an sich, dann mag er die größten Erfolge erringen, – das was er tut wird die nationale Kultur, die er verherrlichen will, nur schwächen und lähmen. Die Zeiten der Kulturhöhe eines Gemeinwesens sind nur selten mit den Zeiten seiner Machthöhe identisch; die große echte unwillkürliche kulturelle Produktivität geht zumeist der Zeit des starken Machtstrebens und Machterkämpfens voraus, und die kulturelle Tätigkeit, die auf diese folgt, ist zumeist nur noch ein Sammeln, Ergänzen und Nachbilden, – es sei denn, daß ein besiegtes Volk dem mächtigen Sieger eine neue elementare Kulturkraft zubringt und mit ihm eine Verbindung eingeht, in der gerade das politisch machtlos gewordene Volk kulturell das mächtige, das befruchtende und erneuernde Prinizip darstellt. Daß die politische Übermacht und das kulturerzeugende Vermögen, die heimliche Gestalt zu verwirklichen, sich nur selten miteinander vertragen, hat niemand so klar gewußt wie der Mann, den Nietzsche wie kaum einen anderen Zeitgenossen verehrte, der sich aber zu ihm in zunehmenden Maße mit stiller Ablehnung verhielt: der Historiker Jacob Burckhardt. Merkwürdigerweise kam der Funke, der Nietzsches Begeisterung für den Willen zur Macht entzündete, wahrscheinlich aus einem Vortrag Burckhardts, den er 1870 hörte. Wir besitzen diese Vorträge jetzt in dem aus Burckhardts Nachlaß unter dem Titel »Weltgeschichtliche Betrachtungen« veröffentlichten Buch, einem der
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wenigen wichtigen Bücher über die Mächte, welche das bestimmen, was wir Geschichte nennen. Da lesen wir, der eigentliche innere Sporn des großen geschichtlichen Individuums sei nicht der Ruhmessinn und Ehrgeiz, sondern »der Machtsinn, der als unwiderstehlicher Drang das große Individuum an den Tag treibt«. Aber Burckhardt versteht darunter etwas ganz anderes als den Willen zur Macht an sich. Er sieht »die Bestimmung der Größe« darin, »daß sie einen Willen vollzieht, der über das Individuelle hinausgeht«. Dieser Wille kann der Gemeinschaft, dem Zeitalter unbewußt sein; »das Individuum weiß, was die Nation eigentlich wollen müßte, und vollzieht es«, weil in ihm »Kraft und Fähigkeit von unendlich vielen konzentriert ist«. Es zeigt sich hier, wie Burckhardt sagt, »eine geheimnisvolle Koinzidenz des Egoismus des Individuums« mit der Größe der Gesamtheit. Aber die Koinzidenz kann zerreißen, wenn nämlich die angewandten Machtmittel »auf das Individuum zurückwirken und ihm auf die Länge auch den Geschmack an den großen Zwecken nehmen«. Auf Grund dieser Einsicht hat Burckhardt in einer anderen Vorlesung der gleichen Zeit, indem er das Wort eines früheren Historikers, Schlossers, aufnahm, die denkwürdigen, viel wiederholten, aber auch viel mißverstandenen Sätze ausgesprochen: »Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also andere unglücklich machen.« Man kann diese Sätze nur dann im Zusammenhang der Burckhardtschen Gedanken verstehen, wenn man beachtet, daß hier von der Macht an sich die Rede ist. Solange die Macht eines Menschen, d. h. sein Vermögen, das zu verwirklichen, was er im Sinn hat, an eben dies, an das Ziel, an das Werk, an die Berufung gebunden ist, so lange ist seine Macht, für sich betrachtet, weder gut noch böse, sie ist nur ein geeignetes oder ungeeignetes Werkzeug. Sobald aber die Bindung an das Ziel sich löst oder lockert, sobald dieser Mensch nicht mehr die Macht als Vermögen etwas zu tun, sondern die Macht als Besitz, also die Macht an sich meint, dann ist seine Macht, die abgelöste, sich selbst befriedigende Macht böse; es ist die Macht, die sich der Verantwortung entzieht, die Macht, die den Geist verrät, die Macht an sich. Sie ist die Verderberin der Weltgeschichte. Die echte Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit muß Nietzsches falsche Antwort auf die anthropologische Frage, die Antwort, der Mensch sei vom Willen zur Macht aus zu verstehen und von ihm aus seiner Problematik zu befreien, so richtigstellen. Eine positive Grundlegung einer philosophischen Anthropologie hat Nietzsche, wie wir sehen, nicht gegeben. Aber indem er, wie kein Denker vor ihm, die Problematik des menschlichen Lebens zum eigentlichen Ge-
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genstand des Philosophierens erhob, hat er der anthropologischen Frage einen neuen gewaltigen Antrieb gegeben. Dabei ist jedoch besonders, bemerkenswert, daß er von den Anfängen bis zum Ende seines Denkens bestrebt ist, das Sonderproblem Mensch in dessen strengem Sinne zu überwinden. Das Pathos der anthropologischen Frage war bei Augustin, bei Pascal und auch noch bei Kant darin begründet, daß wir an uns selbst etwas wahrnehmen, was wir uns nicht aus der Natur und ihrer Entwicklung allein zu erklären vermögen. »Mensch« ist für die Philosophie bis auf Nietzsche, soweit sie anthropologisch interessiert ist, nicht bloß eine Gattung, es ist eine Kategorie. Nietzsche aber, der sehr stark vom 18. Jahrhundert bestimmt ist und den man zuweilen geradezu einen Mystiker der Aufklärung nennen möchte, erkennt eine solche Kategorie, ein solches Urproblem nicht an. Er versucht einen Gedanken durchzuführen, den schon Empedokles angedeutet hat, der aber seither niemals in echt philosophischer Weise erörtert worden ist: er will den Menschen rein genetisch verstehen, als ein aus der Tierwelt herausgewachsenes und ausgetretenes Tier. »Wir leiten«, schreibt er, »den Menschen nicht mehr vom ›Geist‹ ab, wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt.« Das ist ein Satz, der bei einem der französischen Enzyklopädisten stehen könnte. Aber Nietzsche bleibt sich dabei der spezifisch menschlichen Problematik tief bewußt. Eben diese Problematik will er daraus verstehen, daß der Mensch aus der Tierwelt ausbrach, daß er von seinen Instinkten abirrte; er ist problematisch, weil er eine »überspannte Tierart« ist und also eine »Krankheit« der Erde. Das Problem des Menschen ist für Kant ein Grenzproblem, d. h. das Problem eines Wesens, das zwar der Natur, aber nicht ihr allein, angehört, eines Wesens, das an der Grenze zwischen der Natur und einem anderen Reich angesiedelt ist; für Nietzsche ist das Problem des Menschen ein Randproblem, das Problem eines Wesens, das aus dem Innern der Natur an ihren äußersten Rand geraten ist, an das gefährliche Ende des natürlichen Seins, wo nicht wie für Kant der Äther des Geistes, sondern der schwindelerregende Abgrund des Nichts beginnt. Nietzsche sieht in dem Menschen nicht mehr ein Sein für sich, ein schlechthin »Neues«, das zwar aus der Natur hervorgegangen ist, aber so, daß die Tatsache dieses Hervorgehens und die Weise dieses Hervorgehens nicht mit Naturbegriffen zu erfassen sind; er sieht nur ein Werden, »ein Versuchen, Tasten, Fehlgreifen«, eigentlich kein Wesen, sondern bestenfalls die Vorform eines Wesens, eben »das noch nicht festgestellte Tier«, also ein äußerstes Stück Natur, wo etwas Neues zu werden erst begonnen hat, das bisher zwar sehr interessant, aber auf seine Ganzheit hin betrachtet nicht eben geglückt erscheint. Es kann jedoch, so meint er, aus diesem Unbestimmten zweier-
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lei Bestimmtes entstehen. Entweder wird der Mensch vermöge seiner »wachsenden Moralität«, die seine Instinkte unterdrückt, »nur das Herdentier« in sich entwickeln und damit das Tier, Mensch genannt, »feststellen« als die Gattung, in der die Tierwelt niedergeht, als das dekadente Tier. Oder aber der Mensch wird das, was an ihm »fundamentalverfehlt« ist, überwinden, seine Instinkte neu beleben, seine unausgeschöpften Möglichkeiten ans Licht holen, sein Leben auf der Bejahung des Willens zur Macht aufbauen und sich zum Übermenschen heraufzüchten, der erst der wirkliche Mensch, das geglückte Neue sein wird. Bei dieser Zielsetzung bedenkt Nietzsche anscheinend nicht, wie es zugehen könnte, daß ein so »mißratenes« Tier sich selbst aus dem Sumpf seiner Zweideutigkeit zieht; er fordert eine bewußte Züchtung größten Ausmaßes und bedenkt nicht, was er selbst geschrieben hat: »wir leugnen, daß irgend etwas vollkommen gemacht werden kann, solange es noch bewußt gemacht wird«. Aber nicht diese inneren Widersprüche des Nietzscheschen Gedankens gehen uns hier an, sondern etwas anderes. Nietzsche hat, wie wir sahen, mit leidenschaftlichem Ernst es unternommen, den Menschen aus der Tierwelt zu verstehen; dabei ist aber die spezifische Problematik des Menschen nicht verblaßt, sie ist sichtbarer als je geworden. Nur wird auf dem Boden dieser Auffassung nicht mehr gefragt: wie ist es zu verstehen, daß es ein Wesen wie den Mensch gibt?, sondern: wie ist es zu verstehen, daß ein Wesen wie der Mensch aus der Tierwelt hervorgegangen und herausgetreten ist? Das aber hat Nietzsche trotz allem, was er vom Anfang bis zum Ende seines Denkens herangetragen hat, uns nicht verständlich gemacht. Er hat sich dabei um das kaum gekümmert, was für uns die anthropologische Grundtatsache und die erstaunlichste aller irdischen Tatsachen ist: es gibt in der Welt ein Wesen, das eine Welt als Welt, einen Weltraum als Weltraum, eine Weltzeit als Weltzeit und sich selbst eben darin als dies erkennend erkennt. Das bedeutet aber nicht, daß es die Welt, wie man gesagt hat, im Bewußtsein des Menschen »noch einmal« gibt, sondern, daß es eine Welt in unserem Sinn, eine einheitliche, raumzeitliche Sinnenwelt erst durch den Menschen gibt, weil erst die menschliche Person ihre eigenen Sinnesdaten mit den überlieferten des ganzen Geschlechts zu einer kosmischen Einheit zusammenzuschließen vermag. Freilich, hätte Nietzsche sich um diese Grundtatsache bekümmert, so hätte sie ihn zu der von ihm verachteten Soziologie hingeführt, nämlich zur Soziologie der Erkenntnis und zur Soziologie der Überlieferung, zur Soziologie der Sprache und zur Soziologie der Generation, mit einem Wort: zur Soziologie des menschlichen Miteinanderdenkens, auf das schon Feuerbach grundlegend hingewiesen hatte. Der Mensch, der eine
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Welt erkennt, ist der Mensch mit dem Menschen. Das von Nietzsche vernachlässigte Problem aber, daß es ein solches Wesen gibt, wird durch seine Auffassung nur von dem Bereich des Seins einer Gattung auf den Bereich des Werdens dieser Gattung verschoben. Ist aus der Tierwelt ein Wesen hervorgetreten, das um das Sein und um sein eigenes Sein weiß, dann ist die Tatsache dieses Hervorgehens und die Weise dieses Hervorgehens eben doch nicht aus der Tierwelt selbst zu verstehen und eben doch nicht mit Naturbegriffen zu erfassen. Mensch ist für die nachnietzschesche Philosophie erst recht nicht bloß eine Gattung, sondern eine Kategorie. Kants Frage »Was ist der Mensch?« ist uns durch Nietzsches leidenschaftliche anthropologische Bemühung mit neuer Dringlichkeit gestellt. Wir wissen, daß wir, um sie zu beantworten, nicht bloß den Geist, sondern auch die Natur anrufen müssen, daß sie uns sage, was sie zu sagen hat; aber wir wissen, daß wir auch eine andere Macht um Auskunft anzugehen haben, die Gemeinschaft. Ich sage: »wir wissen«. Freilich aber hat die philosophische Anthropologie unserer Zeit dieses Wissen auch in ihren bedeutendsten Vertretern noch nicht realisiert. Ob sie sich mehr an den Geist oder mehr an die Natur wandte, die Macht der Gemeinschaft ist von ihr nicht angerufen worden. Ohne diese Anrufung aber führen die anderen nicht lediglich zu fragmentarischer Erkenntnis, sondern notwendig auch zu einer in sich unzulänglichen.
Zweiter Teil
Die Versuche unserer Zeit
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Erster Abschnitt
Die Krise und ihr Ausdruck 1 Erst in unserer Zeit ist das anthropologische Problem zu seiner Reife gelangt, d. h. es ist als selbständiges philosophisches Problem erkannt und behandelt worden. Außer der philosophischen Entwicklung selbst, die zu wachsender Einsicht in die Problematik des menschlichen Daseins führte und deren wichtigste Momente ich dargelegt habe, und in vielfältiger Verbindung mit dieser Entwicklung haben zwei Faktoren dazu beigetragen, das anthropologische Problem zur Reife zu bringen. Ich darf nicht zur Erörterung der gegenwärtigen Situation übergehen, ohne auf den Charakter und die Bedeutung dieser Faktoren hingewiesen zu haben. Der erste ist überwiegend soziologischer Art. Es ist der fortschreitende Zerfall der alten organischen Formen direkten menschlichen Zusammenlebens. Darunter sind Gemeinschaften zu verstehen, die quantitativ nicht größer sein dürfen, als daß die durch sie verbundenen Menschen immer wieder zusammengeführt und in unmittelbare Beziehung zueinander gesetzt werden, und die qualitativ so beschaffen sind, daß immer wieder Menschen in sie hineingeboren werden oder hineinwachsen, die eigene Zugehörigkeit zu ihnen also nicht als das Ergebnis einer freien Vereinbarung mit anderen, sondern als Schicksal und vitale Überlieferung verstehen. Solche Formen sind Familie, Werk-Genossenschaft, Dorf- und Stadt-Gemeinde. Ihr fortschreitender Zerfall ist der Preis, der für die politische Freimachung des Menschen in der französischen Revolution und für die dadurch begründete Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft zu zahlen war. Damit kommt aber zugleich eine neue Steigerung der menschlichen Einsamkeit auf. Für den Menschen der Neuzeit, der wie wir sahen das Gefühl der Behaustheit in der Welt, die kosmologische Sicherheit verloren hat, boten die organischen Gemeinschaftsformen eine Heimatlichkeit des Lebens, ein Ruhen in der direkten Verbundenheit mit seinesgleichen, eine soziologische Sicherheit, die ihn vor dem Gefühl der völligen Preisgegebenheit bewahrte. Nun entglitt ihm auch dies mehr und mehr. Die alten organischen Formen blieben vielfach in ihrem äußeren Bestande gewahrt, aber sie zersetzten sich innerlich, sie wurden immer leerer an Sinn und Seelenmacht. Die neuen Gesellschaftsformen, die die menschliche Person von neuem in den Zusammenhang mit anderen zu bringen unternahmen, wie der Verein, die Gewerkschaft,
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die Partei, haben zwar kollektive Leidenschaften zu entzünden vermocht, die das Leben des Menschen, wie man zu sagen pflegt, »ausfüllen«, aber sie haben die zerstörte Sicherheit nicht wiederaufrichten können; die gesteigerte Einsamkeit wird durch das geschäftige Treiben nur betäubt und niedergehalten, aber wo immer ein Mensch in die Stille, in die eigentliche Wirklichkeit seines Lebens einkehrt, da erfährt er die Tiefe der Einsamkeit, und in ihr erfährt er, mit dem Grund seines Daseins konfrontiert, die Tiefe der menschlichen Problematik. Der zweite Faktor kann als ein geistesgeschichtlicher oder besser seelengeschichtlicher bezeichnet werden. Der Mensch ist seit einem Jahrhundert immer tiefer in eine Krisis geraten, die zwar manches gemein hat mit anderen, die wir aus der früheren Geschichte kennen, aber in einem wesentlichen Punkt eigentümlich ist. Dieser Punkt betrifft die Beziehung des Menschen zu den durch sein Handeln oder unter seiner Mitwirkung entstandenen neuen Dingen und Verhältnissen. Ich möchte diese Eigentümlichkeit der modernen Krisis das Zurückbleiben des Menschen hinter seinen Werken nennen. Der Mensch vermag die durch ihn selbst entstandene Welt nicht mehr zu bewältigen, sie wird stärker als er, sie macht sich von ihm frei, sie steht ihm in einer elementaren Unabhängigkeit gegenüber, und er weiß das Wort nicht mehr, das den Golem, den er geschaffen hat, bannen und unschädlich machen könnte. Unser Zeitalter hat dieses Erlahmen und Versagen der Menschenseele nacheinander in drei Bereichen erlebt. Der erste war die Technik. Die Maschinen, erfunden um dem arbeitenden Menschen zu dienen, nahmen ihn in ihren Dienst; sie waren nicht mehr, wie die Werkzeuge, eine Verlängerung des menschlichen Arms, sondern der Mensch wurde zu ihrer Verlängerung, zu einem herbeitragenden und hinwegtragenden Glied an ihrer Peripherie. Der zweite Bereich war die Wirtschaft. Die Produktion, ins Ungeheure gesteigert, um die wachsende Zahl der Menschen mit den Gegenständen ihres Bedarfs zu versehen, ist nicht zur vernünftigen Koordination gelangt; es ist, als wüchse der Betrieb der Erzeugung und Verwertung von Gütern über den Menschen hinaus und entzöge sich seinem Gebot. Der dritte Bereich war das politische Geschehen. Mit immer größerem Erschrecken erfuhr der Mensch im vorigen Weltkrieg, und zwar in allen Lagern, wie er unerfaßlichen Mächten ausgeliefert war, die zwar mit dem Willen von Menschen zusammenzuhängen schienen, aber immer wieder, entfesselt, alle menschlichen Zielsetzungen niederrannten und zuletzt allen, hüben und drüben, Vernichtung brachten. So fand sich der Mensch der furchtbaren Tatsache gegenüber, daß er ein Vater von Dämonen war, deren Herr er nicht werden konnte. Und die Frage, was für einen Sinn diese Macht und Machtlosigkeit in einem habe, mündete in
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die nach dem Wesen des Menschen, die nun eine neue, eine gewaltig praktische Bedeutung bekam. Es ist kein Zufall, sondern sinnreiche Notwendigkeit, daß die wichtigsten Arbeiten auf dem Gebiet der philosophischen Anthropologie in dem Jahrzehnt nach dem ersten Weltkrieg entstanden sind, aber es scheint mir auch kein Zufall zu sein, daß der Mann, in dessen Schule und in dessen Methode die stärksten Versuche unserer Zeit entstanden sind, eine selbständige philosophische Anthropologie aufzubauen, Edmund Husserl, ein Jude deutscher Kultur war, d. h. der Sohn eines Volkes, das am schwersten und verhängnisvollsten von allen Völkern den ersten jener beiden Faktoren, den fortschreitenden Zerfall der alten organischen Formen menschlichen Zusammenlebens erfuhr, und der Zögling und vermeintliche Adoptivsohn eines Volkes, das am schwersten und verhängnisvollsten von allen Völkern den zweiten der beiden Faktoren, das Zurückbleiben des Menschen hinter seinen Werken erfuhr. Husserl, der Schöpfer der phänomenologischen Methode, in der die zwei Versuche einer philosophischen Anthropologie, von denen ich zu sprechen haben werde, der von Martin Heidegger und der von Max Scheler, unternommen worden sind, hat selbst niemals das anthropologische Problem als solches behandelt. Aber in seiner letzten, unvollendeten Arbeit, der Abhandlung über die Krisis der europäischen Wissenschaften, hat er in drei einzelnen Sätzen Beiträge zu diesem Problem geliefert, die mir um des Mannes willen, der sie geäußert hat, und um der Stunde willen, in der sie geäußert worden sind, wichtig genug erscheinen, um an dieser Stelle, ehe wir zur Erörterung und Kritik der phänomenologischen Anthropologie übergehen, angeführt und auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft zu werden. Der erste der drei Sätze besagt, das größte historische Phänomen sei das um sein Selbstverständnis ringende Menschentum. Damit sagt Husserl, daß all die wirkungsreichen Vorgänge, die immer wieder, wie man es zu nennen pflegt, das Gesicht der Erde veränderten, und die die Bücher der Geschichtsschreiber füllen, weniger wichtig sind als das sich in der Stille vollziehende, von den Historikern kaum verzeichnete immer neue Bemühen des menschlichen Geistes, das Geheimnis des menschlichen Seins zu verstehen. Husserl bezeichnet dieses Bemühen als ein Ringen. Damit sagt er, daß der Menschengeist dabei großen Schwierigkeiten, großen Widerständen der problematischen Materie, um deren Verständnis er sich bemüht, also seines eigenen Wesens, begegnet und daß er mit ihnen einen Ringkampf ausfechten muß, der andauert, seit es eine Geschichte gibt, und dessen Geschichte eben die Geschichte des größten unter allen Phänomenen der Geschichte darstellt.
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So bestätigt uns Husserl die Bedeutung des geschichtlichen Wegs der philosophischen Anthropologie, des Wegs von Frage zu Frage, von dem ich hier einige Stadien gezeigt habe, für das Werden des Menschen. Der zweite Satz lautet: »Wird der Mensch zum ›metaphysischen‹, zum spezifisch philosophischen Problem, so ist er in Frage als Vernunftwesen.« Dieser Satz, auf den Husserl besonderen Wert legt, ist nur dann wahr oder wird erst dann wahr, wenn damit gemeint wird, daß das Verhältnis der »Vernunft« zur Nichtvernunft im Menschen in Frage gestellt werden muß. Mit anderen Worten: es geht nicht an, die Vernunft als das spezifisch Menschliche, hingegen das am Menschen, was nicht Vernunft ist, als das nicht Spezifische, als das dem Menschen mit nichtmenschlichen Wesen Gemeinsame, als das »Naturhafte« am Menschen zu betrachten, wie es besonders seit Descartes immer wieder unternommen worden ist. Vielmehr wird die Tiefe der anthropologischen Frage erst dann berührt, wenn wir auch an dem im Menschen, was nicht Vernunftwesen ist, das spezifisch Menschliche erkennen. Der Mensch ist kein Zentaur, sondern durchaus Mensch. Man kann ihn nur verstehen, wenn man einerseits weiß, daß in allem Menschlichen, auch im Denken, etwas ist, was der allgemeinen Natur der Lebewesen angehört und von ihr aus zu erfassen ist, andererseits aber, daß es nichts Menschliches gibt, das der allgemeinen Natur der Lebewesen ganz angehört und nur von ihr aus zu erfassen ist. Auch der Hunger des Menschen ist nicht der Hunger eines Tieres. Die menschliche Vernunft ist nur im Zusammenhang mit der menschlichen Nichtvernunft zu verstehen. Das Problem der philosophischen Anthropologie ist das Problem einer spezifischen Ganzheit und ihres spezifischen Zusammenhangs. So ist es auch in Husserls Schule gesehen worden, die Husserl selbst freilich gerade in entscheidenden Punkten nicht als seine Schule anerkennen wollte. Der dritte Satz lautet: »Menschentum überhaupt ist wesensmäßig Menschsein in generativ und sozial verbundenen Menschheiten.« Dieser Satz widerspricht grundsätzlich der gesamten anthropologischen Arbeit der phänomenologischen Schule, sowohl der Schelers, der, obgleich er Soziolog war, in seinen anthropologischen Gedanken die sozialen Zusammenhänge des Menschen kaum beachtete, als auch der Heideggers, der diese Zusammenhänge zwar als primär erkannte, sie aber im wesentlichen als das große Hindernis für die menschliche Person behandelte, zu ihrem Selbst zu gelangen. Husserl sagt in diesem Satz, das Wesen des Menschen sei nicht in isolierten Individuen zu finden, denn die Verbundenheit der menschlichen Person mit ihrer Generation und mit ihrer Gesellschaft sei wesensmäßig, wir müßten also das Wesen dieser Gebundenheit erkennen, wenn wir das Wesen des Menschen erkennen wollen.
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Damit ist gesagt, daß eine individualistische Anthropologie entweder nur den Menschen im Stande der Isolierung, also in einem seinem Wesen nicht entsprechenden Stande zum Gegenstand hat, oder daß sie den Menschen zwar im Stande der Verbundenheit betrachtet, aber in den Wirkungen dieser Verbundenheit eine Beeinträchtigung seines eigentlichen Wesens erblickt, also nicht jene fundamentale Verbundenheit meint, von der Husserls Satz spricht.
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2 Ehe ich zur Erörterung der phänomenologischen Anthropologie übergehe, muß ich auf den Mann hinweisen, auf dessen Einfluß ihr individualistischer Charakter zu einem großen Teil zurückzuführen ist: auf Kierkegaard. Dieser Einfluß ist freilich von einer besonderen Art. Die phänomenologischen Denker, von denen ich zu reden habe, vornehmlich Heidegger, haben zwar die Denkweise Kierkegaards übernommen, aber sie haben ihre entscheidende Voraussetzung herausgebrochen, ohne die Kierkegaards Gedanken, insbesondre die über das Verhältnis zwischen Wahrheit und Existenz, ihre Farbe und ihren Sinn ändern. Und zwar haben sie, wie wir sehen werden, nicht bloß das Theologische an dieser Voraussetzung herausgebrochen, sondern die ganze, also auch das Anthropologische an ihr, so daß der Charakter des von Kierkegaard vertretenen »existenziellen« Denkens und damit auch seine Wirkung sich fast ins Gegenteil verkehrt. Kierkegaard hat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ein Einzelner und Einsamer das Leben der Christenheit mit ihrem Glauben konfrontiert. Er war kein Reformator, er betonte immer wieder, daß er keine »Vollmacht« von oben habe, er war nur ein christlicher Denker, aber er war unter allen Denkern derjenige, der am eindringlichsten darauf hingewiesen hat, daß das Denken sich selbst nicht beglaubigen kann, sondern nur von der Existenz des denkenden Menschen aus beglaubigt wird. Doch war das Denken ihm nicht im letzten Sinn der wichtige Gegenstand, er sah eigentlich darin nur eine begriffliche Übersetzung des Glaubens, je nachdem eine gute oder schlechte Übersetzung. Für den Glauben aber galt es ihm noch mit besonderer Intensität, daß er nur dann echter Glaube sei, wenn er in der Existenz des Glaubenden gegründet sei und in ihr bewährt werde. Kierkegaards Kritik des bestehenden Christentums ist eine innere; er stellt das Christentum nicht, wie z. B. Nietzsche, mit einem angenommenen höheren Wert zusammen und prüft und verwirft es daran; es gibt für ihn keinen höheren und im Grund keinen anderen
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Wert; er mißt das von den Christen gelebte sogenannte Christentum an dem wirklichen, an das sie zu glauben vorgeben und das sie verkündigen, und verwirft dieses ganze sogenannte christliche Leben mitsamt seinem falschen, weil nicht zur Verwirklichung gelangenden Glauben und mitsamt seiner Verkündigung, die zur Lüge geworden ist, weil sie sich selbst genügt. Kierkegaard erkennt keinen unverbindlichen Glauben an. Der sogenannte religiöse Mensch, der mit noch so großem Enthusiasmus an den Gegenstand seines Glaubens denkt und von ihm redet, auch wohl dem, was er für seinen Glauben hält, Ausdruck im Mitmachen von Gottesdiensten und Zeremonien verleiht, bildet sich nur ein zu glauben, wenn sein Leben dadurch nicht im Kern verwandelt wird, wenn die Präsenz dessen, woran er glaubt, nicht seine, des religiösen Menschen Wesenshaltung von der heimlichsten Einsamkeit bis zum öffentlichen Handeln bestimmt. Glaube ist Lebensbeziehung zum Geglaubten, das ganze Leben umfassende Lebensbeziehung, oder er ist unwirklich. Das kann aber selbstverständlich nicht bedeuten, daß das Verhältnis des Menschen zum Gegenstand seines Glaubens durch den Menschen gestiftet werde oder gestiftet werden könnte. Dieses Verhältnis ist seinem Wesen nach, nach Kierkegaards Einsicht ebenso wie nach der jedes religiösen Denkers, erstens ein ontisches, d. h. ein nicht bloß die Subjektivität und das Leben des Menschen, sondern ein objektives Sein betreffendes, und zweitens wie jedes objektive Verhältnis ein doppelseitiges, von dem wir aber nur eine Seite, die des Menschen, zu kennen vermögen. Es kann aber, jedenfalls dieser einen Seite nach, vom Menschen beeinflußt werden; d. h. es ist in einem gewissen, von uns nicht abmeßbaren Grade die Sache des Menschen, ob und inwieweit er seine Seite des Verhältnisses in seiner Subjektivität und in seinem Leben verwirklicht. Nun aber entsteht die Schicksalsfrage: ob und inwieweit die Subjektivität dieses Menschen in sein Leben eingeht, mit anderen Worten ob und inwieweit sein Glaube zu Substanz und Gestalt des von ihm gelebten Lebens wird. Sie ist die Schicksalsfrage, weil es eben nicht um ein vom Menschen gesetztes Verhältnis geht sondern um eins, durch das der Mensch gesetzt ist; weil es darum geht, daß dieses das menschliche Sein konstituierende und ihm seinen Sinn gebende Verhältnis nicht bloß in der Subjektivität der religiösen Anschauung und des religiösen Gefühls gespiegelt werde, sondern daß es sich in der Ganzheit des menschlichen Lebens leibhaft erfülle, daß es »Fleisch werde«. Das Streben nach dieser Verwirklichung und Verleiblichung des Glaubens nennt Kierkegaard das existenzielle Streben, denn Existenz ist der Übergang von der Möglichkeit im Geist zur Wirklichkeit in der Ganzheit der Person. Um der Schicksalsfrage willen macht Kierkegaard die Stadien und Zustände der Existenz selber, Schuld, Angst, Ver-
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zweiflung, Entscheidung, den Ausblick auf den eigenen Tod und den Ausblick auf die Erlösung, zu Gegenständen eines metaphysischen Denkens. Er enthebt sie der lediglich psychologischen Betrachtung, für die sie indifferente Vorgänge innerhalb des seelischen Ablaufs sind, er erkennt in ihnen Glieder eines Daseinsprozesses im ontischen Verhältnis zum Absoluten, Elemente eines Daseins »vor Gott«. Die Metaphysik bemächtigt sich hier, zum erstenmal in der Geschichte des Denkens mit solcher Stärke und Folgerichtigkeit, der Konkretheit des lebenden Menschen. Daß sie sich ihrer bemächtigen konnte, liegt daran, daß der konkrete Mensch nicht als isoliertes Wesen, sondern in der Problematik seiner Verbundenheit mit dem Absoluten betrachtet worden ist. Es ist nicht das selber absolute Ich des deutschen Idealismus, das hier Gegenstand des philosophischen Denkens ist, das Ich, das sich eine Welt schafft, indem es sie denkt, sondern die wirkliche menschliche Person, diese aber im Zusammenhang des ontischen Verhältnisses, das sie mit dem Absoluten verbindet. Dieses Verhältnis ist für Kierkegaard ein reales gegenseitiges Verhältnis von Person zu Person, d. h. auch das Absolute geht in dieses Verhältnis als Person ein. Seine Anthropologie ist demgemäß eine theologische Anthropologie. Aber die philosophische Anthropologie unserer Zeit ist durch sie ermöglicht worden. Diese philosophische Anthropologie mußte, um ihre philosophische Grundlage zu gewinnen, der theologischen Voraussetzung entsagen. Das Problem war, ob es ihr gelingen würde das zu tun, ohne auch die metaphysische Voraussetzung der Verbundenheit des konkreten Menschen mit dem Absoluten zu verlieren. Das ist ihr, wie wir sehen werden, nicht gelungen.
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II.2. Die Lehre Heideggers
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Wir haben bei der Besprechung von Heideggers Interpretation der vier Fragen Kants gesehen, daß Heidegger als Grundlegung der Metaphysik nicht die philosophische Anthropologie, sondern die »Fundamentalontologie«, d. h. die Lehre von dem Dasein als solchem, einsetzen will. Unter Dasein versteht er ein Seiendes, das ein Verhältnis zu seinem eigenen Sein und ein Verständnis dieses Seins hat. Als ein solches Seiendes kennen wir nur den Menschen. Die Fundamentalontologie hat es aber nicht mit dem Menschen in seiner konkreten Vielfältigkeit und Komplexheit zu tun, sondern einzig mit dem Dasein an sich, das sich durch ihn darstellt. Alle Konkretheit des Menschenlebens, die von Heidegger herangezogen wird, geht ihn nur an, weil und insofern daran sich die Arten des Verhaltens des Daseins selber zeigen lassen, sowohl das Verhalten, in dem es zu sich selbst kommt und ein Selbst wird, als das Verhalten, in dem und durch das es verfehlt und versäumt, zu sich selbst zu kommen und ein Selbst zu werden. Wenn auch Heidegger selbst seine Philosophie nicht als philosophische Anthropologie versteht und verstanden wissen will, müssen wir sie doch, da sie die Konkretheit des Menschenlebens, also den Gegenstand der philosophischen Anthropologie auf philosophische Weise heranzieht, auf die Echtheit und Richtigkeit des anthropologischen Gehalts prüfen, d. h. wir müssen sie ihrer Absicht entgegen als Beitrag zur Beantwortung der anthropologischen Frage der Kritik unterwerfen. 2
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Es ist zu allererst dem Ausgangspunkte Heideggers gegenüber zu fragen, ob die Herauslösung des »Daseins« aus dem wirklichen Menschenleben anthropologisch gerechtfertigt ist, d. h. ob Aussagen, die über das ausgesonderte Dasein gemacht werden, überhaupt noch als philosophische Aussagen über den tatsächlichen Menschen anzusehen sind, und ob nicht vielmehr die »chemische Reinheit« dieses Daseinsbegriffs die Konfrontation der Lehre mit der Wirklichkeitsvoraussetzung ihres Themas, die Probe also, die alle Philosophie, auch alle Metaphysik, bestehen können muß, vereitelt.
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Das wirkliche Dasein, also der wirkliche Mensch in seinem Verhalten zu seinem Sein, ist nur in Verbindung mit der Beschaffenheit des jeweiligen Seins, zu dem er sich verhält, erfaßbar. Zur Erläuterung dessen, was ich meine, wähle ich eins der kühnsten und tiefsinnigsten Kapitel des Heideggerschen Buches, das das Verhältnis des Menschen zu seinem Tode behandelt. Da ist alles Perspektive, es geht durchaus um die Art, wie der Mensch auf sein Ende hinsieht, es geht darum, ob er den Mut dazu aufbringt, das Ganzsein des Daseins, das sich erst im Tode erschließt, vorwegzunehmen. Aber nur wenn vom Verhalten des Menschen zu seinem Sein die Rede ist, ist der Tod auf den Endpunkt zu beschränken; meint man das objektive Sein selbst, dann ist er auch in der gegenwärtigen Sekunde als Kraft da, die mit der Kraft des Lebens ringt; der jeweilige Stand dieses Kampfes bestimmt die gesamte Beschaffenheit des Menschen in diesem Augenblick mit, er bestimmt sein Dasein in diesem Augenblick, sein Verhalten zum Sein in diesem Augenblick mit, und wenn der Mensch eben jetzt auf sein Ende hinsieht, so ist die Art dieses Hinsehens von der Realität der Todesmacht in eben diesem Augenblick nicht zu trennen. Mit anderen Worten: der Mensch als Dasein, als das Verständnis des Seins auf den Tod zu, ist von dem Menschen als Wesen, als Wesen, das zu sterben beginnt, wenn es zu leben beginnt, und das Leben nie ohne das Sterben, die erhaltende Kraft nie ohne die zerstörende und zersetzende haben kann, nicht zu trennen. Heidegger entnimmt der Wirklichkeit des menschlichen Lebens Kategorien, die in dem Verhältnis des einzelnen Menschen zu dem, was nicht er selbst ist, ihren Ursprung und ihren Geltungsbezirk haben, und wendet sie auf das »Dasein« im engeren Sinn, also auf das Verhalten des einzelnen Menschen zum eigenen Sein an. Und zwar tut er das nicht etwa bloß zur Erweiterung ihres Bezirks, sondern erst im Bereich des Verhältnisses des Einzelnen zu sich selbst soll uns nach Heideggers Ansicht die wahre Bedeutung, die wahre Tiefe, der wahre Ernst dieser Kategorien erschlossen werden. Aber was wir dabei erfahren, ist einerseits ihre Verfeinerung, ihre Differenzierung und Sublimierung, anderseits ihre Entkräftung, ihre Entvitalisierung. Die modifizierten Kategorien Heideggers erschließen uns einen merkwürdigen Teilbezirk des Lebens, nicht ein Stück des ganzen wirklichen Lebens, wie es tatsächlich gelebt wird, sondern einen Teilbezirk, der seine Selbständigkeit, seinen selbständigen Charakter und seine selbständigen Gesetze dadurch erhält, daß man gleichsam den Blutkreislauf des Organismus an einer Stelle abschnürt und nun zusieht, was sich in dem abgeschnürten Teil vollzieht. Wir betreten ein seltsames Gemach des Geistes, aber es ist uns zumute, als sei der Boden, auf dem wir wandeln, ein Brett, auf dem ein Brettspiel ge-
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spielt wird, dessen Regeln wir erfahren, indem wir vorwärts dringen, tiefsinnige Regeln über die wir nachdenken und nachdenken müssen, die aber doch nur dadurch entstanden sind und dadurch bestehen, daß man sich einmal entschlossen hat, dieses geistvolle Spiel zu spielen, es eben so zu spielen. Freilich empfinden wir zugleich, daß dieses Spiel keine Willkür des Spielenden ist, sondern seine Notwendigkeit und sein Verhängnis. 3
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Zur Erläuterung wähle ich den Begriff der Schuld. Heidegger, der immer von der »Alltäglichkeit« ausgeht (wovon noch zu reden sein wird), geht hier von der durch die deutsche Sprache dargebotenen Situation aus, daß jemand einem Anderen »schuldig ist«, sodann von der Situation, daß jemand an etwas »schuld ist«, und dringt von da aus zu der Situation vor, daß jemand an einem Andern »schuldig wird«, d. h. daß er einen Mangel im Dasein eines Anderen verursacht, daß er Grund wird für einen Mangel im Dasein eines Anderen. Aber auch dies ist nur eine Verschuldung und nicht das ursprüngliche und eigentliche Schuldigsein, aus dem es erst hervorgeht und durch das es ermöglicht wird. Das eigentliche Schuldigsein ist nach Heidegger, daß das Dasein selbst schuldig ist. Das Dasein ist »im Grunde seines Seins ›schuldig‹«. Und zwar ist das Dasein dadurch schuldig, daß es sich selbst nicht erfüllt, daß es in dem sogenannten Allgemeinmenschlichen, in dem »Man« stecken bleibt und nicht das eigene Selbst, das Selbst des Menschen, zum Sein bringt. In diese Lage hinein erklingt der Ruf des Gewissens. Wer ruft hier? Das Dasein selbst ruft. »Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst«. Das Dasein, das durch die Schuld des Daseins nicht zum Sein des Selbst gelangt ist, ruft sich selber auf, sich auf das Selbst zu besinnen, sich zum Selbst freizumachen, aus der »Uneigentlichkeit« zur »Eigentlichkeit« des Daseins zu kommen. Heidegger hat recht darin, daß alles Verständnis von Verschuldung auf ein ursprüngliches Schuldigsein zurückgehen muß. Er hat recht darin, daß wir ursprüngliches Schuldigsein zu entdecken vermögen. Aber wir vermögen es nicht dadurch, daß wir einen Teil des Lebens abschnüren, den Teil, wo das Dasein sich zu sich selber und zu seinem eigenen Sein verhält, sondern dadurch, daß wir des ganzen Lebens ohne Reduktion inne werden, des Lebens, darin der einzelne Mensch sich gerade zu etwas anderem als er selbst wesentlich verhält. Das Leben vollzieht sich nicht darin, daß ich mit mir selbst das rätselhafte Brettspiel spiele, sondern darin, daß ich vor die Gegenwärtigkeit eines Seins gestellt bin, mit dem
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ich keine Spielregeln vereinbart habe und mit dem sich keine vereinbaren lassen. Die Gegenwärtigkeit des Seins, vor die ich gestellt bin, wechselt ihre Gestalt, ihre Erscheinung, ihre Offenbarung, sie ist anders als ich, oft erschreckend anders, und anders als ich sie erwartet habe, oft erschrekkend anders. Halte ich ihnen stand, gehe ich auf sie ein, begegne ich ihnen wirklich, d. h. mit der Wahrheit meines ganzen Wesens, dann, und nur dann, bin ich »eigentlich« da: ich bin da, wenn ich da bin, und wo dieses »Da« ist, das wird jeweils weniger von mir, als von der ihre Gestalt und Erscheinung wandelnden Gegenwärtigkeit des Seins bestimmt. Wenn ich nicht wirklich da bin, bin ich schuldig. Wenn ich auf den Ruf des gegenwärtigen Seins »Wo bist du?« antworte: »Da bin ich«, aber ich bin nicht wirklich da, d. h. nicht mit der Wahrheit meines ganzen Wesens, dann bin ich schuldig. Das ursprüngliche Schuldigsein ist das Bei-sich-bleiben. Zieht aber eine Gestalt und Erscheinung des gegenwärtigen Seins an mir vorüber, und ich war nicht wirklich da, dann kommt aus der Ferne ihres Verschwindens ein zweiter Ruf, so leise und heimlich, als käme er aus mir selbst: »Wo bist du gewesen?« Das ist der Ruf des Gewissens. Nicht mein Dasein ruft mich, sondern das Sein, das nicht ich ist, ruft mich. Antworten aber kann ich nun erst der nächsten Gestalt; die gesprochen hat, ist nicht mehr zu erreichen. (Diese nächste Gestalt kann selbstverständlich zuweilen derselbe Mensch sein, aber eben eine andere, spätere, veränderte Erscheinung von ihm.)
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4 Wir haben gesehen, wie in der Geschichte des menschlichen Geistes der Mensch immer wieder einsam wird, d. h. er findet sich allein mit einer ihm fremd und unheimlich gewordenen Welt, er kann den Weltgestalten des gegenwärtigen Seins nicht mehr standhalten, ihnen nicht mehr wirklich begegnen. Dieser Mensch, wie er sich uns in Augustin, in Pascal, in Kierkegaard darstellte, sucht nach einer nicht in die Welt einbezogenen, also nach einer göttlichen Gestalt des Seins, mit der er, einsam wie er ist, Umgang haben kann; dieser Gestalt streckt er, über die Welt hinweg, die Hände entgegen. Aber wir haben auch gesehen, daß von einer Einsamkeitsepoche zur nächsten Einsamkeitsepoche ein Weg führt, d. h. jede Einsamkeit ist kälter, strenger als die vorhergehende, und die Rettung aus ihr schwerer als die aus der vorhergehenden war. Schließlich aber gelangt der Mensch in eine Verfassung, wo er aus seiner Einsamkeit die Hände nicht mehr einer göttlichen Gestalt entgegen strecken kann. Dies ist es, was dem Wort Nietzsches zugrunde liegt, Gott sei tot. Es bleibt
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nun dem Einsamen scheinbar nichts mehr übrig, als intimen Umgang mit sich selbst zu suchen. Das ist die situationsmäßige Grundlage der Philosophie Heideggers. Damit aber wird an die Stelle der anthropologischen Frage, die der einsam gewordene Mensch immer wieder neu entdeckt, der Frage nach dem Wesen des Menschen und nach seinem Verhältnis zum Sein des Seienden, eine andere Frage gesetzt, eben die, die Heidegger die fundamentalontologische nennt, die Frage nach dem menschlichen Dasein in seinem Verhältnis zum eigenen Sein. Es bleibt jedoch eine unumstößliche Tatsache, daß man zwar seinem Bild oder Spiegelbild, aber nicht seinem wirklichen Selbst die Hände entgegenstrecken kann. Heideggers Lehre ist bedeutsam als Darstellung der Beziehungen verschiedener, aus dem menschlichen Leben abstrahierter Wesenheiten zu einander, aber für das menschliche Leben selbst und für sein anthropologisches Verständnis ist sie nicht gültig, so wertvolle Hinweise sie auch dafür liefert. 5
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Das menschliche Leben hat seinen Absolutheitssinn darin, daß es seine eigene Bedingtheit faktisch transzendiert, d. h. daß der Mensch das, dem er gegenübersteht und mit dem er in ein reales Verhältnis von Wesen zu Wesen treten kann, als nicht weniger wirklich sieht denn sich selbst, es nicht weniger ernst nimmt als sich selbst. Das menschliche Leben rührt an die Absolutheit durch seinen dialogischen Charakter, denn trotz seiner Einzigkeit kann der Mensch, wenn er auf seinen Grund taucht, nie ein Sein finden, das in sich ganz ist und als solches schon das Absolute rührt; nicht durch ein Verhältnis zu seinem Selbst, sondern nur durch ein Verhältnis zu einem anderen Selbst kann der Mensch ganz werden. Dieses andere Selbst mag ebenso begrenzt und bedingt sein wie er, im Miteinander wird Unbegrenztes und Unbedingtes erfahren. Heidegger wendet sich nicht bloß von dem Verhältnis zu einem göttlich Unbedingten ab, sondern auch von einem Verhältnis, in dem der Mensch ein anderes als sich selbst im Unbedingten erfährt und das Unbedingte daran erfährt. Heideggers »Dasein« ist ein monologisches Dasein. Und der Monolog mag sich wohl eine Weile kunstreich als Dialog verkleiden, wohl mag eine unbekannte Schicht des menschlichen Selbst nach der andern auf die Innenanrede antworten, so daß der Mensch immer neue Entdeckungen macht und dabei vermeinen kann, wirklich ein »Rufen« und ein »Hören« zu erfahren; aber die Stunde der nackten, letzten Einsamkeit kommt, wo die Stummheit des Seins unüberwindlich wird und die onto-
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logischen Kategorien sich auf die Wirklichkeit nicht mehr anwenden lassen wollen. Wenn der einsam gewordene Mensch zu dem »toten« bekannten Gott nicht mehr »du« sagen kann, kommt alles darauf an, ob er es noch zu dem lebenden unbekannten dadurch sagen kann, daß er mit seinem ganzen Wesen zu einem lebenden bekannten anderen Menschen »du« sagt. Kann er auch das nicht mehr, dann bleibt ihm wohl noch die erhabene Einbildung des abgelösten Denkens, ein in sich geschlossenes Selbst zu sein, als Mensch ist er verloren. Der Mensch des »eigentlichen« Daseins im Sinne Heideggers, der Mensch des »Selbstseins«, der nach Heidegger das Ziel der Existenz ist, ist nicht der Mensch, der wirklich mit dem Menschen lebt, sondern der Mensch, der nicht mehr wirklich mit dem Menschen leben kann, der Mensch, der ein wirkliches Leben nur noch im Umgang mit sich selbst kennt. Das aber ist nur ein Schein des wirklichen Lebens, ein hohes und unseliges Spiel des Geistes. Dieser Mensch von heute, dieses Spiel von heute haben ihren Ausdruck in Heideggers Philosophie gewonnen. Heidegger schnürt den Bereich, in dem der Mensch sich zu sich selbst verhält, von der Ganzheit des Lebens ab, weil er die zeitlich bedingte Situation des radikal vereinsamten Menschen verabsolutiert, weil er aus dem Alptraum einer mitternächtigen Stunde das Wesen des menschlichen Daseins bestimmen will.
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6 Dem scheint zu widersprechen, daß Heidegger erklärt, das Sein des Menschen sei seinem Wesen nach ein Sein in der Welt, in einer Welt, in der der Mensch nicht bloß von Dingen umgeben sei, die sein »Zeug« sind, d. h. die er benütze und verwende, um zu »besorgen« was zu besorgen ist, sondern auch von Menschen, mit denen er in der Welt ist. Diese Menschen sind nicht wie die Dinge bloßes Sein, sondern wie er selbst Dasein, d. h. ein Sein, das im Verhältnis zu sich selbst steht und sich selbst weiß. Sie sind für ihn ein Gegenstand nicht des »Besorgens«, sondern der »Fürsorge«, und zwar sind sie es dem Wesen nach, existenziell, auch dann, wenn er an ihnen vorübergeht und sich um sie nicht kümmert, wenn sie ihn »nichts angehen«, ja, wenn er sie mit völliger Rücksichtslosigkeit behandelt. Sie sind des weiteren dem Wesen nach ein Gegenstand seines Verständnisses, da erst durch das Verständnis anderer Erkenntnis und Kenntnis überhaupt möglich wird. So verhält es sich in der Alltäglichkeit, von der Heidegger in einer ihm besonders wichtigen Weise ausgeht. Aber auch auf der höchsten Stufe, die Heidegger das eigentliche Selbstsein oder die Entschlossenheit, genauer: die Entschlos-
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senheit zu sich selbst, nennt, betont er, daß sie das Dasein nicht von seiner Welt ablöse, es nicht auf ein freischwebendes Ich isoliere. »Die Entschlossenheit«, sagt er, »bringt das Selbst gerade in das jeweilige besorgende Sein bei Zuhandenem und stößt es in das fürsorgende Mitsein mit den Anderen.« Und weiter: »Aus dem eigentlichen Selbstsein der Entschlossenheit entspringt allererst das eigentliche Miteinander.« Es hat demnach den Anschein, als kennte und anerkennte Heidegger durchaus das Verhältnis zum Anderen als wesentlich. Aber in Wahrheit ist dem nicht so. Denn das Verhältnis der Fürsorge, das allein er im Auge hat, kann als solches kein wesentliches Verhältnis sein, weil es nicht das Wesen des einen Menschen zu dem Wesen des anderen unmittelbar in Beziehung setzt, sondern eben nur die fürsorgende Hilfe des einen zu dem fürsorgebedürftigen Mangel des anderen. Ein solches Verhältnis kann nur dann der Wesentlichkeit teilhaftig sein, wenn es nur Auswirkung eines in sich wesentlichen bedeutet, wie zwischen Mutter und Kind; es kann natürlich zur Entstehung eines solchen führen, wie wenn zwischen dem Fürsorgenden und dem Gegenstand seiner Fürsorge eine echte Freundschaft oder Liebe entsteht. Fürsorge geht ja wesentlich in der Welt nicht aus dem bloßen Mitsein mit den Anderen hervor, das Heidegger meint, sondern aus wesentlichen, unmittelbaren, ganzheitlichen Beziehungen von Mensch zu Mensch, sei es solchen, die durch bluthafte Zusammengehörigkeit objektiv fundiert sind, sei es solchen, die der Wahl entstammen und entweder objektive, institutionelle Formen annehmen können oder, wie die Freundschaft, sich aller institutionellen Formung entziehen und doch die Tiefe der Existenz berühren. Aus diesen unmittelbaren Beziehungen, sage ich, die am Aufbau der Lebenssubstanz wesentlich wirken, entsteht nebenbei auch das Element der Fürsorge, das sich dann weit ins nur Objektive und Institutionelle außerhalb der wesentlichen Beziehungen ausdehnt. Nicht die Fürsorge ist also im Dasein des Menschen mit dem Menschen das Ursprüngliche, sondern die wesentliche Beziehung. Und nicht anders verhält es sich, wenn wir vom Problem der Entstehung ganz absehen und reine Daseinsanalyse treiben. In der bloßen Fürsorge bleibt der Mensch, auch wenn er von stärkstem Mitleiden bewegt wird, wesentlich bei sich; er neigt sich handelnd, helfend dem Anderen zu, aber die Schranken seines eigenen Seins werden dadurch nicht durchbrochen; er erschließt dem Anderen nicht sein Selbst, sondern gibt ihm seinen Beistand; er erwartet ja auch keine wirkliche Gegenseitigkeit, ja er wünscht sie wohl kaum, er »geht«, wie man sagt, »auf den Anderen ein«, aber er begehrt nicht, daß der Andere auf ihn eingehe. Durch die wesentliche Beziehung hingegen werden die Schranken des individuellen Seins faktisch
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durchbrochen, und es entsteht ein neues Phänomen, das nur so entstehen kann: eine Aufgeschlossenheit von Wesen zu Wesen, die zwar nicht gleichmäßig bleibt, sondern ihre äußerste Wirklichkeit nur sozusagen punkthaft erreicht, aber doch auch in der Kontinuität des Lebens Gestalt gewinnen kann; eine Vergegenwärtigung des Anderen nicht in der bloßen Vorstellung, und auch nicht einmal im bloßen Gefühl, sondern in der Tiefe der Substanz, so daß man im Geheimnis des eigenen Seins das Geheimnis des anderen Seins erfährt; eine faktische, nicht bloß psychische, sondern ontische Partizipation aneinander. Gewiß ist das etwas, was dem Menschen im Lauf seines Lebens nur in einer Art von Gnade widerfährt, und mancher wird sagen, er kenne es nicht; aber auch wem es nicht widerfahren ist, in dessen Dasein ist es als konstituierendes Prinzip, weil der Mangel daran, mit oder ohne Bewußtsein dieses Mangels, Art und Beschaffenheit des Daseins wesentlich mitbestimmt. Gewiß wird auch manchem im Lauf seines Lebens eine Möglichkeit dazu gegeben, die er nicht daseinsmäßig erfüllt; er gewinnt Relationen, die er nicht verwirklicht, d. h. von denen er sich nicht aufschließen läßt; er verschleudert das kostbarste, unersetzlichste, nicht wieder zu gewinnende Material; er lebt an seinem Leben vorbei. Aber auch hier dringt eben diese Unerfülltheit in das Dasein ein und durchdringt es in seiner tiefsten Schicht. Die »Alltäglichkeit« ist in ihrem unauffälligen, kaum wahrnehmbaren, aber der Daseinsanalyse immerhin noch zugänglichen Teil von dem »Unalltäglichen« durchwoben. Aber wir haben ja gesehen, daß nach Heidegger der Mensch auch auf der höchsten Stufe des Selbstseins nicht über »das fürsorgende Mitsein mit den Anderen« hinausgelangt. Die Stufe, die der Heideggersche Mensch erreichen kann, ist eben die des freien Selbst, das sich, wie Heidegger betont, nicht von der Welt ablöst, sondern nun erst zum rechten Dasein mit der Welt reif und entschlossen ist. Aber dieses reife entschlossene Dasein mit der Welt kennt die wesentliche Beziehung nicht. Heidegger würde vielleicht erwidern, auch zu Liebe und Freundschaft sei erst das freigemachte Selbst wirklich fähig. Da aber das Selbstsein hier ein Letztes ist, eben das Letzte, wozu das Dasein gelangen kann, ist gar kein Ansatz dazu vorhanden, Liebe und Freundschaft hier noch als wesentliche Beziehung zu verstehen. Das freigemachte Selbst wendet der Welt nicht den Rücken zu, seine Entschlossenheit schließt den Entschluß ein, wirklich mit der Welt zu sein, in ihr zu handeln, auf sie zu wirken, aber sie schließt nicht den Glauben ein, daß in diesem Sein mit der Welt die Schranken des Selbst durchbrochen werden könnten, und sie schließt nicht einmal den Wunsch ein, daß es geschehe. Das Dasein vollendet sich im Selbstsein; einen ontischen Weg darüber hinaus gibt
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es für Heidegger nicht. Worauf Feuerbach einst hingewiesen hatte: daß der einzelne Mensch das Wesen des Menschen nicht in sich trägt, daß das Wesen des Menschen in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten ist, davon ist in die Philosophie Heideggers nichts eingegangen. Der einzelne Mensch trägt bei ihm das Wesen des Menschen in sich und bringt es zum Dasein, indem er zu einem »entschlossenen« Selbst wird. Das Selbst Heideggers ist ein geschlossenes System. 7
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»Jeder soll«, hatte Kierkegaard gesagt, »nur mit Vorsicht sich mit den ›Anderen‹ einlassen und wesentlich nur mit Gott und mit sich selbst reden.« Und dieses »Soll« hatte er im Hinblick auf das Ziel und die Aufgabe ausgesprochen, die er dem Menschen stellt: ein Einzelner zu werden. Scheinbar stellt Heidegger dem Menschen das gleiche Ziel. Aber bei Kierkegaard bedeutet »ein Einzelner werden« nur die Voraussetzung für den Eintritt in die Beziehung zu Gott: erst wenn er ein Einzelner geworden ist, kann der Mensch in diese Beziehung eintreten. Der Einzelne Kierkegaards ist ein offenes System, wenn es auch lediglich zu Gott offen ist. Heidegger kennt keine solche Beziehung; und da er auch keine andere wesentliche Beziehung kennt, bedeutet bei ihm »ein Selbst werden« etwas völlig anderes als bei Kierkegaard »ein Einzelner werden«. Der Mensch Kierkegaards wird ein Einzelner für etwas, nämlich für den Eintritt in eine Beziehung zum Absoluten; der Mensch Heideggers wird ein Selbst nicht für etwas, denn er kann seine Schranken nicht durchbrechen: seine Teilnahme am Absoluten, sofern es für ihn eine solche gibt, besteht in seinen Schranken und in nichts anderem. Heidegger spricht davon, daß der Mensch zu seinem Selbst »erschlossen« wird; aber dieses Selbst selber, zu dem er erschlossen wird, ist seinem Wesen nach die Verschlossenheit. Der Satz Kierkegaards erscheint hier modifiziert: »Jeder soll wesentlich nur mit sich selbst reden.« Aber auch das »Soll« fällt bei Heidegger im Grunde weg. Was er meint, ist: Jeder kann wesentlich nur mit sich selbst reden; was er mit den anderen redet, kann nicht wesentlich sein – d. h. das Wort kann nicht das Wesen des Einzelnen transzendieren und ihn in eine andere Wesenheit, in eine erst zwischen den Wesen und durch ihr wesentliches Verhältnis zu einander entstehende, versetzen. Wohl ist der Mensch Heideggers auf das Sein mit der Welt und auf das verstehende und fürsorgende Leben mit den Anderen hingewiesen; aber in aller Wesenhaftigkeit des Daseins, überall wo das Dasein wesenhaft wird, ist er allein. Die Sorge und die Angst des Menschen wurden bei Kierkegaard
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wesenhaft als Sorge um die Beziehung zu Gott und Angst vor dem Verfehlen dieser Beziehung; sie werden bei Heidegger wesenhaft als die Sorge um das Werden des Selbstseins und die Angst vor dem Verfehlen dieses Selbstseins. Der Mensch Kierkegaards steht in seiner Sorge und Angst »allein vor Gott«, der Mensch Heideggers steht in seiner Sorge und seiner Angst vor sich selbst, vor nichts als sich selbst, und da man in letzter Wirklichkeit nicht vor sich stehen kann, steht er in seiner Sorge und Angst vor dem Nichts. Der Mensch Kierkegaards muß dem wesentlichen Verhältnis zu einem Anderen entsagen, um der Einzelne zu werden und in das Verhältnis des Einzelnen zum Absoluten einzutreten, wie Kierkegaard selbst dem wesentlichen Verhältnis zu einem Anderen, dem zu seiner Braut, entsagt hat, – eine Entsagung, die das große Thema seiner Werke und seiner Tagebücher bildet; der Mensch Heideggers hat kein wesentliches Verhältnis, dem er zu entsagen hätte. In der Welt Kierkegaards gibt es ein Du zum anderen Menschen, das mit dem Wesen selbst gesprochen wird, wenn auch nur um diesem Menschen unmittelbar (wie in einem Brief Kierkegaards an seine Braut lange Zeit nach Lösung des Verlöbnisses) oder mittelbar (wie mehrfach in seinen Büchern) zu sagen, warum man auf das wesentliche Verhältnis zu ihm verzichtet hat; in der Welt Heideggers gibt es kein solches Du, kein wahrhaftes, von Wesen zu Wesen, mit dem ganzen eigenen Wesen gesprochenes Du. Zu dem Menschen, an dem man bloße Fürsorge übt, sagt man dieses Du nicht.
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8 Die Heideggersche »Erschlossenheit« des Daseins zu sich selbst ist also in Wahrheit seine endgültige, wenn auch in humanen Formen auftretende, Verschlossenheit gegen alle echte Verbindung mit den Anderen und der Anderheit. Das wird uns noch klarer, wenn wir von dem Verhältnis der Person zu einzelnen Menschen übergehen zu ihrem Verhältnis zur anonymen Allgemeinheit, zu dem was Heidegger das »Man« nennt. Auch darin ist ihm Kierkegaard mit seinem Begriff der »Menge« vorangegangen. Die Menge, in der der Mensch sich vorfindet, wenn er zur Besinnung auf sich selbst vordringen will, d. h. das Allgemeine, Unpersönliche, Gesichtlose, Gestaltlose, Durchschnittliche, Ausgleichende, diese »Menge« ist nach Kierkegaard »die Unwahrheit«. Der Mensch hingegen, der aus ihr herausbricht, sich ihrer Einwirkung entzieht und ein Einzelner wird, ist, eben als Einzelner, die Wahrheit. Denn es gibt nach Kierkegaard keine andere Möglichkeit für den Menschen, Wahrheit, menschliche, d. h. bedingte Wahrheit zu werden, als die, der unbedingten oder gött-
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lichen Wahrheit gegenüberzutreten und in die entscheidende Beziehung zu ihr einzugehen; dies aber vermag man nur als Einzelner, wenn man ein personhaftes Wesen mit ganzer selbständiger eigener Verantwortung geworden ist. Ein Einzelner vermag man aber nur zu werden, wenn man sich der Menge entwindet, die einem eben die persönliche Verantwortung abnimmt oder doch abschwächt. Heidegger übernimmt den Begriff Kierkegaards und bildet ihn aufs subtilste aus. Aber das Werden des Einzelnen oder, wie er sagt, des Selbstseins hat für ihn das Ziel verloren, in die Beziehung zur göttlichen Wahrheit zu treten und dadurch eine menschliche Wahrheit zu werden. Die Lebenstat des Menschen, sich von der Menge zu befreien, behält bei Heidegger ihren zentralen Charakter, aber sie verliert ihren Sinn, den Menschen über sich selbst hinauszuführen. Fast mit denselben Worten wie Kierkegaard sagt Heidegger, das Man nehme, dem jeweiligen Dasein seine Verantwortung ab. Statt im Selbst gesammelt zu sein, ist das Dasein des menschlichen Seins in das Man zerstreut. Es muß sich erst finden. Die Macht des Man wirkt dahin, das Dasein völlig in ihm aufgehen zu lassen. Das Dasein, das dem folgt, vollzieht eine Flucht vor sich selbst, vor seinem Selbst-sein-können, es verfehlt seine eigene Existenz. Nur das Dasein, das sich aus der Zerstreuung in das Man »zurückholt« (übrigens ein gnostischer Begriff, mit dem die Gnostiker die Sammlung und Rettung der in die Welt hinein verlorenen Seele meinten) gelangt zum Selbstsein. Wir haben gesehen, daß Heidegger die höchste Stufe nicht als Isolierung, sondern als Entschlossenheit zum Mitsein mit den Anderen versteht; wir haben freilich auch gesehen, daß diese Entschlossenheit nur das Verhältnis der Fürsorge auf höherer Ebene bestätigt, aber kein wesentliches Verhältnis zu den Anderen, kein wirkliches Ich-Du zu ihnen kennt, das die Schranken des Selbst durchbräche. Während aber hier in der Relation zwischen Person und Person immerhin eine Beziehung auch für das freigemachte Selbst bejaht wird, die der Fürsorge, fehlt bei Heidegger jeder entsprechende Hinweis auf die Relation zur unpersönlichen Vielheit der Menschen. Das Man und alles was dazu gehört, das »Gerede«, die »Neugier« und die »Zweideutigkeit«, die darin herrschen und die der dem Man verfallene Mensch mitmacht, all das ist rein negativ, das Selbst zerstörend, nichts Positives tritt an seine Stelle, die anonyme Allgemeinheit wird als solche verworfen, aber es gibt auch nichts, was sie ablöste. Was Heidegger über das Man und das Verhältnis des Daseins zu ihm sagt, ist im wesentlichen richtig. Auch das ist richtig, daß das Dasein sich ihm entwinden muß, um zum Selbstsein zu kommen. Nun aber folgt etwas, ohne dessen Vorhandensein das an sich Richtige unrichtig wird.
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9 Es hat sich uns ergeben, daß Heidegger den Einzelnen Kierkegaards säkularisiert, d. h. die Beziehung zum Absoluten abschneidet, für die der Mensch Kierkegaards ein Einzelner wird, sowie daß er an die Stelle dieses »Für« kein anderes, weltliches, menschliches »Für« setzt. Er geht damit an der entscheidenden Tatsache vorbei, daß erst der Mensch, der zum Einzelnen, zum Selbst, zur wirklichen Person geworden ist, ein vollkommenes Wesensverhältnis zum anderen Selbst haben kann, ein Wesensverhältnis, das nicht unterhalb der Problematik der Beziehung von Mensch zu Mensch, sondern oberhalb ihrer steht, das all diese Problematik umfängt, aushält und überwindet. Die große Beziehung gibt es nur zwischen wirklichen Personen. Sie kann stark wie der Tod sein, weil sie stärker als die Einsamkeit ist, weil sie die Schranken der hohen Einsamkeit durchbricht, ihr strenges Gesetz besiegt und die Brücke über den Abgrund der Weltangst von Selbstsein zu Selbstsein schlägt. Zwar sagt das Kind erst Du, ehe es Ich sagen lernt; aber auf der Höhe des persönlichen Daseins muß man wahrhaft Ich sagen können, um das Geheimnis des Du in seiner ganzen Wahrheit zu erfahren. Der Mensch, der zum Einzelnen geworden ist, ist, auch wenn wir uns auf das Innerweltliche beschränken, für etwas da, er ist für etwas dieser Einzelne geworden: für die vollkommene Verwirklichung des Du. Gibt es aber auf dieser Stufe etwas Entsprechendes in dem Verhältnis zur Vielheit der Menschen, oder behält Heidegger doch hier recht? Das Entsprechende zum wesenhaften Du auf der Stufe des Selbstseins im Verhältnis zu einer Schar von Menschen nenne ich das wesenhafte Wir 1. Der Mensch, der Gegenstand meiner bloßen Fürsorge ist, ist kein Du, sondern ein Er oder eine Sie. Die namenlose, gesichtlose Menge, in die ich verschlungen bin, ist kein Wir, sondern ein Man. Aber wie es ein Du gibt, so gibt es ein Wir. Es handelt sich hier um eine für unsere Betrachtung wesentliche Kategorie, die es zu klären gilt. Von den geläufigen soziologischen Kategorien aus ist sie nicht ohne weiteres zu erfassen. Zwar kann in jeder Art von Gruppe ein Wir entstehen, aber aus dem Leben keiner der Gruppen allein kann es verstanden werden. Mit Wir meine ich eine Verbindung mehrerer selbständiger, zum Selbst und zur Selbstverantwortung erwachsener Personen, die gerade auf dem Grunde dieser Selbstheit und 1.
Ich sehe in diesem Zusammenhang von dem primitiven Wir ab, zu dem sich das wesenhafte verhält wie das wesenhafte Du zum primitiven Du.
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Selbstverantwortung beruht und durch sie ermöglicht wird. Die besondere Beschaffenheit des Wir bekundet sich darin, daß zwischen seinen Gliedern eine wesentliche Beziehung besteht, oder zeitweilig entsteht; d. h. daß in dem Wir die ontische Unmittelbarkeit waltet, die die entscheidende Voraussetzung des Ich-Du-Verhältnisses ist. Das Wir schließt das Du potenziell ein. Nur Menschen, die fähig sind, zueinander wahrhaft Du zu sagen, können miteinander wahrhaft Wir sagen. Man kann, wie gesagt, keine bestimmte Art der Gruppenbildung als solche als Beispiel für das wesenhafte Wir heranziehen, aber man kann bei manchen besonders genau die Abart bezeichnen, die die Entstehung des Wir begünstigt. Bei revolutionären Gruppen z. B. finden wir ein Wir am ehesten dann, wenn es sich um solche handelt, die sich eine stille langsame weckende und lehrende Arbeit im Volke zur Aufgabe setzen, bei religiösen Gruppen unter solchen, die eine unpathetische und opferwillige Verwirklichung des Glaubens im Leben anstreben. In beiden Fällen wird die Aufnahme eines einzigen machtgierigen, die anderen als Mittel zu seinem Zweck benutzenden, oder eines einzigen geltungssüchtigen, sich zur Schau stellenden Menschen genügen, um die Entstehung oder Erhaltung des Wir unmöglich zu machen. Das wesenhafte Wir ist bisher in der Geschichte und Gegenwart allzu wenig erkannt worden, weil es selten ist, und weil man die Gruppenbildungen bisher zumeist nur auf ihre Energien und ihre Wirkungen, nicht aber auf ihre innere Struktur hin betrachtet hat, von der freilich die Richtung der Energien und die Art der Wirkungen aufs stärkste abhängt, wenn auch oft nicht ihr sichtbarer und meßbarer Umfang. Zum genauen Verständnis will ich noch darauf hinweisen, daß es neben den konstanten Formen des wesenhaften Wir auch flüchtige gibt, die aber dennoch Beachtung verdienen. Zu diesen ist z. B. zu zählen, wenn beim Tod eines bedeutenden Führers einer Bewegung sich für etliche Tage ein engerer Zusammenschluß seiner echten Schüler und Mitarbeiter bildet, alle Hemmungen und Schwierigkeiten zwischen ihnen beseitigt und eine seltsame Fruchtbarkeit oder doch Leidenschaft des Miteinanderseins begründet, oder wenn einer unabwendbar erscheinenden Katastrophe gegenüber das wirklich heroische Element einer Gemeinschaft sich konzentriert, von allem Gerede und Getue abrückt, innerhalb seiner aber alle sich einander aufschließen und die bindende Gewalt des gemeinsamen Todes in einem kurzen gemeinsamen Leben vorwegnehmen. Es gibt aber noch andere, merkwürdige Strukturen, die einander bisher unbekannte Menschen umfassen, und die dem wesenhaften Wir zumindest benachbart sind. Eine solche kann etwa unter einem terroristischen Regime entstehen, wenn bisher einander fremde Anhänger einer
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von ihm bekämpften Anschauung einander als Brüder wahrnehmen und sich nicht parteihaft, sondern echt gemeinschaftlich zusammenfinden. Wir sehen, daß es auch in der Sphäre der Relation zu einer Schar von Menschen ein Wesensverhältnis gibt, das den zum Selbstsein Gelangten aufnimmt, ja, nur ihn wahrhaft aufnehmen kann. Dies erst ist der Bereich, wo der Mensch wahrhaft vom Man erlöst wird. Nicht schon die Aussonderung erlöst wahrhaft vom Man, sondern erst die echte Verbundenheit.
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10 Vergleichen wir zusammenfassend den Menschen Kierkegaards und den Heideggers. Der Mensch hat seiner Beschaffenheit und seiner Lage nach ein dreifaches Lebensverhältnis. Er kann seine Beschaffenheit und seine Lage in seinem Leben zur vollen Wirklichkeit bringen, indem bei ihm alle Lebensverhältnisse wesentliche Verhältnisse werden. Und er kann Elemente seiner Beschaffenheit und seiner Lage in der Unwirklichkeit belassen, indem er nur einzelne Lebensverhältnisse zu wesentlichen werden läßt, die anderen aber als unwesentliche betrachtet und behandelt. Das dreifache Lebensverhältnis des Menschen ist: sein Verhältnis zu der Welt und den Dingen, sein Verhältnis zu den Menschen, und zwar sowohl zu einzelnen als zur Vielheit, sein Verhältnis zu dem zwar auch durch all dies durchscheinenden, aber all dies unendlich transzendierenden Geheimnis des Seins, das der Philosoph das Absolute und der Gläubige Gott nennt, das aber auch für den, der beide Bezeichnungen verwirft, nicht faktisch aus seiner Situation ausgeschaltet werden kann. Das Verhältnis zu den Dingen fehlt bei Kierkegaard. Er kennt die Dinge nur als Gleichnisse. Bei Heidegger ist es nur als technisches, zweckhaftes zu finden. Ein rein technisches Verhältnis aber kann kein wesentliches sein, weil hier nicht das ganze Wesen und die ganze Wirklichkeit des Dinges, zu dem man sich verhält, in das Verhältnis eingeht, sondern eben nur seine Verwendbarkeit zu einem bestimmten Zweck, seine technische Eignung. Ein wesentliches Verhältnis zu den Dingen kann nur ein die Dinge in ihrer Wesenheit anschauendes und ihnen zugeneigtes Verhältnis sein. Die Tatsache der Kunst kann nur aus diesem in Verbindung mit jenem verstanden werden. Es ist aber auch für eine Analyse des alltäglichen Daseins nicht zutreffend, daß die Dinge sich darin nur als »Zeug« vorfinden ließen. Das Technische ist nur das leicht Übersehbare, das leicht Erklärbare, das Koordinierte. Aber daneben und dazwischen gibt
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es ein vielfältiges Verhältnis zu den Dingen in ihrer Ganzheit, Unabhängigkeit und Zwecklosigkeit. Der Mensch, der einen Baum ohne Zweck anstarrt, ist keineswegs weniger »alltäglich« als der, der einen Baum ansieht, um zu ermitteln, welcher Ast sich am besten zu einem Stecken eignet. Die erste Art des Ansehens gehört zur Konstituierung der »Alltäglichkeit« nicht weniger als die zweite. (Es läßt sich übrigens zeigen, daß auch genetisch, in der Entwicklung des Menschen, das Technische keineswegs das zeitlich Frühere und das, was man in seiner Spätform das Ästhetische nennt, keineswegs das zeitlich Spätere ist.) Das Verhältnis zu einzelnen Menschen ist für Kierkegaard bedenklich, weil durch ein wesentliches Verhältnis zu menschlichen Genossen ein wesentliches Verhältnis zu Gott behindert werde. Bei Heidegger kommt das Verhältnis zu einzelnen Menschen nur als Verhältnis der Fürsorge vor. Ein Verhältnis der bloßen Fürsorge kann nicht wesentlich sein; in einem wesentlichen Verhältnis, das Fürsorge einschließt, stammt die Wesentlichkeit aus einem anderen Bereich, der bei Heidegger fehlt. Ein wesentliches Verhältnis zu einzelnen Menschen kann nur ein unmittelbares Verhältnis von Wesen zu Wesen sein, in dem die Verschlossenheit des Menschen sich löst und die Schranken seines Selbstseins durchbrochen werden. Der Zusammenhang mit der gesichtlosen, gestaltlosen, namenlosen Vielheit, mit der »Menge«, dem »Man«, erscheint bei Kierkegaard und im Anschluß an ihn bei Heidegger als die Ausgangssituation, die überwunden werden muß, um zum Selbstsein zu gelangen. Das ist in sich wahr; jenes namenlose menschliche Alles und Nichts, in das wir eingetaucht sind, ist in der Tat gleichsam ein negativer Mutterschoß, dem wir entsteigen müssen, um als Selbst zur Welt zu kommen. Aber es ist nur die eine Seite der Wahrheit und wird ohne die andere unwahr. Die Echtheit und Zulänglichkeit des Selbst kann sich nicht im Verkehr mit sich selbst bewähren, sondern erst im Umgang mit der ganzen Anderheit, mit dem Wirrwarr der namenlosen Menge. Das echte und zulängliche Selbst entzündet auch überall da, wo es die Menge berührt, den Funken des Selbstseins, es läßt Selbst an Selbst sich binden, es stiftet den Gegensatz zum Man, die Verbundenheit der Einzelnen, es bildet im Stoff des gesellschaftlichen Lebens die Gestalt der Gemeinschaft. Das dritte Lebensverhältnis des Menschen ist jenes, das man je nachdem das zu Gott, das zum Absoluten oder das zum Geheimnis nennt. Wir haben gesehen, daß es bei Kierkegaard das einzige wesentliche Verhältnis ist, dagegen bei Heidegger völlig fehlt. Das wesentliche Verhältnis zu Gott, das Kierkegaard meint, hat, wie wir sahen, zur Voraussetzung, daß auf alles wesentliche Verhältnis zu
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etwas anderem, zur Welt, zur Gemeinschaft, zu einem einzelnen Menschen, verzichtet wird. Es läßt sich als eine Subtraktion verstehen, die, auf eine rohe Formel gebracht, so aussieht: Sein – (Welt + Mensch) = G (d. h. Gegenstand oder Partner des wesentlichen Verhältnisses); es entsteht durch wesentliches Absehen von allem, was außer Gott und mir überhaupt ist. Aber ein Gott, zu dem man nur durch Verzicht auf die Beziehung zum ganzen Sein gelangen kann, kann nicht der Gott des ganzen Seins sein, den Kierkegaard meint, nicht der Gott, der alles Seiende geschaffen hat und es erhält und beieinander hält; mag die Geschichte des sich überlassenen Geschaffenen auch Trennung heißen, das Ziel des Weges kann nur Verbundenheit sein, und alles wesentliche Verhältnis zu diesem Gott kann nicht schlechthin außerhalb dieses Zieles stehen. Der Gott Kierkegaards kann nur entweder ein Demiurg sein, den seine Schöpfung überwachsen hat und der an ihr leidet, oder ein der Schöpfung fremder, von außen an sie herantretender und sich ihrer erbarmender Erlöser; beides sind gnostische Gestalten. Von den drei großen Einsamkeitsdenkern des Christentums, Augustin, Pascal, Kierkegaard, ist der erste durchaus gnostisch bedingt, der dritte rührt, offenbar ohne es zu wissen, in seinen Voraussetzungen an die Gnosis; nur Pascal hat mit ihr nichts zu schaffen, – vielleicht weil er aus der Wissenschaft kommt und sie nie aufgibt, und weil die Wissenschaft sich zwar mit dem Glauben, aber nicht mit der Gnosis, die selber die wahre Wissenschaft sein will, vertragen kann. Die philosophische Säkularisierung Kierkegaards durch Heidegger mußte die religiöse Konzeption einer Verbindung des Selbst mit dem Absoluten, einer Verbindung in einem realen gegenseitigen Verhältnis von Person zu Person, aufgeben. Aber sie kennt auch keine andere Gestalt einer Verbindung zwischen dem Selbst und dem Absoluten oder zwischen dem Selbst und dem durchscheinenden Geheimnis des Seins. Das Absolute hat hier seinen Ort nur in der Sphäre, zu der das Selbst in seinem Verhältnis zu sich selbst durchstößt, d. h. es erscheint jenseits der Frage nach dem Eingehen in eine Verbindung mit ihm. Und das Geheimnis des Seins, das in allem Seienden durchscheint und uns erscheint, hat Heidegger, der von dem großen Dichter dieses Geheimnisses, Hölderlin, beeinflußt worden ist, zweifellos tief erfahren, aber nicht als eins, das vor uns tritt und uns herausfordert, das Letzte, so schwer Erkämpfte, eben das Ruhen im eigenen Selbst, herzugeben, die Schranken des Selbst zu durchbrechen und uns hinauszubegeben zur Begegnung mit der wesenhaften Anderheit.
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Es gibt außer dem dreifachen Lebensverhältnis des Menschen noch ein Verhältnis, das zum eigenen Selbst. Dieses Verhältnis ist aber nicht, wie die andern, als ein als solches reales anzusehen, da die notwendige Voraussetzung dafür, die reale Zweiheit fehlt. Daher kann es auch nicht in Wirklichkeit zu einem wesentlichen Lebensverhältnis erhoben werden. Das spricht sich in der Tatsache aus, daß jedes wesentliche Lebensverhältnis seine Vollendung und Verklärung gefunden hat, das zu den Dingen in der Kunst, das zu den Menschen in der Liebe, das zum Geheimnis in der religiösen Verkündigung, daß aber das Verhältnis des Menschen zum eigenen Dasein und zum eigenen Selbst eine solche Vollendung und Verklärung nicht gefunden hat und offenbar auch nicht finden kann. (Man könnte vielleicht vorbringen, die Lyrik sei eine solche Vollendung und Verklärung des Verhältnisses des Menschen zum eigenen Selbst. Aber sie ist vielmehr gerade die gewaltige Weigerung der Seele, am Umgang mit sich selbst Genüge zu finden. Das Gedicht ist ihre Kundgebung, daß sie, auch wenn sie mit sich allein weilt, nicht auf sich bedacht ist, sondern auf das Sein, das nicht sie selber ist, und daß das Sein, das nicht sie selber ist, sie hier heimsucht, sie bestürzt und beseligt.) Dieses Verhältnis erhält bei Kierkegaard seinen Sinn und seine Weihe von dem Gottesverhältnis. Bei Heidegger ist es sich wesenhaft und es ist das einzige wesenhafte. Das bedeutet, der Mensch könne zu seinem eigentlichen Dasein nur als ein hinsichtlich seines wesentlichen Verhaltens geschlossenes System gelangen. Dem gegenüber muß die anthropologische Anschauung, die den Menschen in seinem Zusammenhang mit dem Sein meint, diesen Zusammenhang als nur in einem offenen System aufs höchste realisierbar ansehen. Zusammenhang kann nur heißen: Zusammenhang mit der Restlosigkeit meiner menschlichen Situation. Der Situation des Menschen kann weder die Welt der Dinge, noch der Mitmensch und die Gemeinschaft, noch das über jene und diese, aber auch über ihn selbst hinausweisende Geheimnis enthoben werden. Der Mensch kann zum Dasein nur gelangen, indem sein Gesamtbezug zu seiner Situation Existenz wird, d. h. indem alle Arten seines Lebensverhältnisses wesentlich werden. 12 Die Frage, was der Mensch sei, kann nicht durch Betrachtung des Daseins oder des Selbstseins als solches beantwortet werden, sondern nur
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durch Betrachtung des Wesenszusammenhangs der menschlichen Person mit allem Sein und ihrer Beziehung zu allem Sein. Aus der Betrachtung des Daseins oder des Selbstseins als solcher ergibt sich nur Begriff und Umriß eines fast spukhaften Geistwesens, das zwar auch leibliche Inhalte seiner Grundempfindungen, seiner Weltangst, seiner Daseinssorge, seines Urschuld-Gefühls hat, aber auch sie auf eine ganz unleibliche, allem Leiblichen fremde Weise hat. Dieses Geistwesen steckt im Menschen, lebt sein Leben und rechnet mit sich selbst darüber ab, aber es ist nicht der Mensch, und wir fragen nach dem Menschen. Versuchen wir den Menschen jenseits seines Wesenszusammenhangs mit dem übrigen Sein zu erfassen, so fassen wir ihn als entartetes Tier wie Nietzsche, oder als abgeschnürtes Geistwesen wie Heidegger. Nur wenn wir die menschliche Person in ihrer ganzen Situation, in ihren Beziehungsmöglichkeiten auch zu allem, was nicht sie ist, zu fassen versuchen, fassen wir den Menschen. Der Mensch ist als das Wesen zu verstehen, das des dreifachen Lebensverhältnisses fähig ist und jede Form des Lebensverhältnisses zur Wesentlichkeit zu erheben vermag. »Keine Zeit«, sagt Heidegger in seiner Schrift »Kant und das Problem der Metaphysik«, »hat so viel und so Mannigfaltiges vom Menschen gewußt wie die heutige … Aber auch keine Zeit wußte weniger, was der Mensch sei, als die heutige.« In seinem Buch »Sein und Zeit« hat er versucht, uns ein Wissen vom Menschen zu geben durch Analyse seines Verhältnisses zum eigenen Sein. Diese Analyse hat er in der Tat gegeben, und zwar auf Grund einer Abschnürung dieses Verhältnisses von allem übrigen wesentlichen Verhalten des Menschen. So aber gelangt man nicht zum Wissen, was der Mensch sei, sondern nur zum Wissen, was der Rand des Menschen ist. Man kann auch sagen: zum Wissen, was der Mensch am Rande ist, – der an den Rand des Seins gelangte Mensch. Als ich in meiner Jugend Kierkegaard kennen lernte, habe ich den Menschen Kierkegaard als den Menschen am Rande empfunden. Aber der Mensch Heideggers ist ein großer, entscheidender Schritt von Kierkegaard aus auf den Abgrund zu, wo das Nichts beginnt.
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Der zweite bedeutende Versuch unserer Zeit, das Problem des Menschen als ein selbständiges philosophisches Problem zu behandeln, ist ebenfalls aus der Schule Husserls hervorgegangen; es ist die Anthropologie Schelers. Scheler hat zwar sein Werk über den Gegenstand nicht vollendet, aber was an anthropologischen Aufsätzen und Vorträgen von ihm selbst und aus seinem Nachlaß veröffentlicht worden ist, genügt, um uns seine Anschauung kennen zu lehren und uns eine Urteilsbildung zu ermöglichen. Scheler spricht die anthropologische Ausgangssituation unserer Zeit deutlich aus: »Wir sind das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos ›problematisch‹ geworden ist; in dem er nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, daß er nicht weiß.« Es gilt nun, gerade in dieser Situation seiner äußersten Problematik mit der systematischen Erfassung seines Wesens zu beginnen. Scheler will nicht, wie Heidegger, von der Konkretheit des ganzen vorgefundenen Menschen abstrahieren und nur sein »Dasein«, nämlich sein Verhalten zum eigenen Sein, als das metaphysisch allein Wesentliche betrachten. Es ist ihm um die restlose Konkretheit des Menschen zu tun, d. h. er will auch das, was den Menschen seiner Auffassung nach von den anderen Lebewesen scheidet, nur im Zusammenhang damit behandeln, was er mit den anderen Lebewesen gemein hat, und zwar will er es so behandeln, daß es gerade an diesem Gemeinsamen, durch die Abhebung von diesem Gemeinsamen in seinem spezifischen Charakter erkennbar werde. Für eine solche Behandlung kann, wie Scheler richtig erkennt, die Geschichte des anthropologischen Denkens im weitesten Sinn, sowohl des philosophischen als auch – diesem vorausgehend – des vorphilosophischen und außerphilosophischen, also die »Geschichte des Selbstbewußtseins des Menschen von sich selbst« nur eine einleitende Bedeutung haben. Auf dem Weg über die Erörterung aller »mystischen, religiösen, theologischen, philosophischen Theorien vom Menschen« muß man von ihnen allen frei werden. »Nur indem man«, sagt Scheler, »einmal mit allen Traditionen über diese Frage völlig tabula rasa zu machen gewillt ist und in äußerster methodischer Entfremdung und Verwunderung auf das Mensch genannte Wesen blicken lernt, wird man wieder zu haltbaren Einsichten gelangen können.«
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Das ist ja nun wirklich die echte philosophische Methode, und einem so problematisch gewordenen Gegenstand wie diesem gegenüber besonders zu empfehlen. Alle philosophische Entdeckung ist Aufdeckung eines durch den Schleier Verdeckten, der aus den Fäden der tausend Theorien gewoben ist, und ohne eine solche Aufdeckung werden wir das Problem des Menschen in dieser späten Stunde nicht zu bewältigen vermögen. Es ist aber zu prüfen, ob Scheler die von ihm angegebene Methode in seinem anthropologischen Denken mit aller Strenge anwendet. Wir werden sehen, daß er das nicht tut. Hat Heidegger statt des wirklichen Menschen nur eine metaphysische Essenz und Komposition, einen metaphysischen Homunculus betrachtet, so läßt Scheler seine Betrachtung des wirklichen Menschen von einer Metaphysik durchdringen und zwar einer, die wohl selbständig erarbeitet ist und selbständigen Wert hat, aber doch von Hegel und Nietzsche tief beeinflußt ist, so sehr sie sich auch dieser Einflüsse zu entledigen sucht. Eine Metaphysik aber, die solcherweise die Betrachtung durchdringt, kann nicht weniger als alle anthropologischen Theorien den Blick behindern, sich in äußerster Entfremdung und Verwunderung auf das Mensch genannte Wesen zu richten. Von den beiden genannten Einflüssen ist zu sagen, daß Schelers ältere anthropologische Arbeiten mehr von Nietzsche, die späteren mehr von Hegel bestimmt sind. Beiden, Hegel und Nietzsche, ist Scheler, wie wir sehen werden, in seiner Überschätzung der Bedeutung der Zeit für das Absolute gefolgt. Nietzsche freilich will vom Absoluten selbst nichts wissen, aller Absolutheitsbegriff ist ihm, nicht wesentlich anders als Feuerbach, nur ein Spiel und eine Spiegelung des Menschen; indem er jedoch den Sinn des menschlichen Seins in seinem Übergang zu einem »Übermenschen« finden will, setzt er sozusagen ein relatives Absolutes ein, und dieses hat seinen Gehalt nicht mehr in einem überzeitlichen Sein, sondern nur noch in dem Werden, in der Zeit. Hegel aber, zu dem Scheler von Nietzsche her gelangt, läßt das Absolute selber erst im Menschen und in dessen Vollendung die ganze und endgültige Verwirklichung seines eigenen Seins und Bewußtseins gewinnen; er sieht das Wesen des Weltgeistes eben darin, »daß er sich hervorbringt«, daß er in einem »absoluten Prozeß«, einem »Stufengang«, der in der Weltgeschichte gipfelt, »sich selbst, seine Wahrheit weiß und verwirklicht«. Von hier aus ist Schelers Metaphysik zu verstehen, die seine Anthropologie in deren späterer Gestalt wesentlich bestimmt hat, – die Lehre nämlich von dem »Grund der Dinge«, der »im zeithaften Ablauf des Weltprozesses sich selbst verwirklicht«, und von dem menschlichen Selbst als »dem einzigen Ort der Gottwerdung, der uns zugänglich ist, und der zugleich ein wahrer Teil des Prozesses dieser Gottwerdung ist«, so daß sie auf ihn
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angewiesen ist wie er auf sie. Damit wird das Absolute oder Gott noch weit radikaler als bei Hegel in die Zeit eingesetzt und von ihr abhängig gemacht; Gott ist nicht, sondern er wird, er ist also eingetan in die Zeit, ihr Produkt geradezu, und ob auch im Vorübergehen von einem überzeitlichen Sein die Rede ist, das sich in der Zeit nur darstellt, in einer Lehre von einem werdenden Gott ist für ein solches Sein kein echter Platz, es gibt in ihr in Wahrheit kein anderes Sein als das der Zeit, in der sich das Werden vollzieht. Man darf diese Grundvoraussetzung der Schelerschen Metaphysik übrigens keineswegs mit Heideggers Lehre von der Zeit als Wesen des menschlichen Daseins und damit des Daseins überhaupt verwechseln. Heidegger bezieht eben nur das Dasein auf die Zeit und überschreitet die Grenze des Daseins nicht; Scheler aber läßt das Sein selber sich in Zeit auflösen. Heidegger schweigt von der Ewigkeit, in der die Vollkommenheit ist; Scheler verneint sie. 2
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Zu dieser seiner späteren Metaphysik ist Scheler nach einer katholischen Periode gelangt, in der er sich zu einem Theismus bekannte. Aller Theismus ist eine Abart jener Ewigkeitskonzeption, für die die Zeit nur Darstellung und Auswirkung, nicht aber Entstehung und Entwicklung eines vollkommen Seienden bedeuten kann. Heidegger kommt vom Nachbarbereich desselben christlichen Theismus. Aber er grenzt sich nur vom Theismus ab, Scheler bricht mit ihm. Ich will hier eine persönliche Erinnerung einschalten, weil ihr eine, wie mir scheint, über das Persönliche hinausgehende Bedeutung innewohnt. Ich habe, seit meine eigenen Gedanken über die höchsten Dinge im vorigen Weltkrieg eine entscheidende Wendung nahmen, Freunden gegenüber meinen Standort zuweilen als den »schmalen Grat« bezeichnet. Damit wollte ich zum Ausdruck bringen, daß ich nicht auf der breiten Hochebene eines Systems weile, das eine Reihe sicherer Aussagen über das Absolute umfaßt, sondern auf einem engen Felskamm zwischen den Abgründen, wo es keinerlei Sicherheit eines aussagbaren Wissens gibt, aber die Gewißheit der Begegnung mit dem verhüllt Bleibenden. Als ich mit Scheler ein paar Jahre nach dem Krieg zusammenkam, nachdem wir uns einige Zeit nicht gesehen hatten – er hatte damals gerade jenen Bruch mit dem kirchlichen Denken vollzogen, ohne daß ich es wußte – überraschte er mich durch die Anrede: »Ich bin Ihrem schmalen Grat sehr nahe gekommen.« Im ersten Augenblick war ich betroffen,
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denn wenn ich etwas nicht von Scheler erwarten konnte, war es das Aufgeben des vermeintlichen Wissens um den Grund des Seins. Im nächsten Augenblick aber antwortete ich: »Er ist anderswo als Sie annehmen.« Ich hatte nämlich inzwischen verstanden: Scheler meinte gar nicht wirklich jenen meinen damaligen – und seitherigen – Standort, sondern er verwechselte ihn mit einer Anschauung, die ich lange Zeit gehegt und vertreten hatte und der seine neue Philosophie vom werdenden Gott in der Tat nicht fern stand. Ich hatte seit 1900 zuerst unter dem Einfluß der deutschen Mystik von Meister Eckhart bis Angelus Silesius gestanden, für die der Urgrund des Seins, die namenlose, personlose Gottheit, erst in der Menschenseele zur »Geburt« kommt, dann unter dem Einfluß der späteren Kabbala, nach deren Lehre der Mensch die Macht erlangen kann, den der Welt überlegenen Gott mit seiner der Welt einwohnenden Schechina zu vereinigen. So entstand in mir der Gedanke einer Verwirklichung Gottes durch den Menschen; der Mensch erschien mir als das Wesen, durch dessen Dasein das in seiner Wahrheit ruhende Absolute den Charakter der Wirklichkeit gewinnen kann. Diese meine Anschauung meinte Scheler mit seinem Wort, er sah mich noch als ihren Träger; aber sie war mir längst vernichtet worden. Er hingegen überbot sie noch durch seinen Begriff der »Gottwerdung«. Auch er hatte jedoch während des Krieges eine entscheidende Erfahrung gemacht; sie übersetzte sich ihm in die Überzeugung von der ursprünglichen und wesenhaften Ohnmacht des Geistes.
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3 Das urseiende Sein, der Weltgrund, hat nach Scheler zwei Attribute, den Geist und den Drang. Man denkt vor dieser Zweiheit der Attribute an Spinoza; aber bei ihm sind die zwei nur zwei von unendlich vielen, die zwei nämlich, die wir kennen, für Scheler besteht in dieser Dualität das Wesen des absoluten Seins; und ferner stehen bei Spinoza die zwei Attribute des Denkens und der Ausdehnung zueinander im Verhältnis einer vollkommenen Einigkeit, sie entsprechen einander und ergänzen einander, bei Scheler stehen die Attribute des Geistes und des Dranges in einer Urspannung zueinander, die sich in dem Weltprozeß austrägt und ausgleicht. Mit anderen Worten: Spinoza gründet seine Attribute in einer ewigen Einheit, die Welt und Zeit unendlich transzendiert; Scheler beschränkt – zwar nicht programmatisch, aber faktisch – das Sein auf die Zeit und den in ihr sich vollziehenden Weltprozeß. Bei Spinoza haben wir, wenn wir uns von der Welt dem zuwenden, was nicht Welt ist, das
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Gefühl einer unfaßbaren, überwältigenden Fülle, bei Scheler haben wir, wenn wir es tun, das Gefühl einer kargen Abstraktion, ja ein Gefühl von Leere. Scheler, der in seiner Rede über Spinoza von der »Ewigkeitsluft der Gottheit selbst« spricht, die der Leser Spinozas »in tiefsten Atemzügen« einatme, gibt seinem eigenen Leser diese Luft nicht mehr zu atmen. In Wahrheit weiß der Mensch unserer Tage mit lebendigem Wissen kaum noch etwas von einer Ewigkeit, die alle Zeit trägt und verschlingt, wie das Meer eine flüchtige Welle, wiewohl auch ihm noch ein Zugang zum ewigen Sein offen steht, nämlich in dem Ewigkeitsgehalt jedes Augenblicks, der mit dem Einsatz des ganzen Daseins gelebt wird. Aber noch in einem anderen wichtigen Punkte scheidet sich Scheler von Spinoza. Er nennt das zweite seiner Attribute nicht wie Spinoza mit einer statischen Bezeichnung, wie Ausdehnung, Körperlichkeit, Stofflichkeit, sondern mit der dynamischen Bezeichnung Drang. Das heißt: er ersetzt die Attribute Spinozas durch die beiden Urprinzipien Schopenhauers, den Willen, den er Drang nennt, und die Vorstellung, die er Geist nennt. 4
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Das Attribut des Geistes im Grunde des Seins erklärt Scheler in einer beiläufigen Bemerkung, der aber für das Verständnis seines Gedankens wesentliche Bedeutung zukommt, auch die Gottheit, deitas, in diesem Grunde nennen zu können. Die Gottheit ist also für ihn nicht der Weltgrund selbst, sondern innerhalb seiner nur das eine von zweien einander entgegengesetzten Prinzipien. Und zwar ist sie dasjenige von beiden, das »als geistiges Sein keinerlei ursprüngliche Macht oder Kraft« besitzt und daher auch keinerlei positive schöpferische Wirkung auszuüben vermag. Ihr steht der »allmächtige« Drang gegenüber, die Weltphantasie, die mit unendlich vielen Bildern geladen ist und sie zu Wirklichkeit werden läßt, aber für die geistigen Ideen und Werte ursprünglich blind ist. Um die Gottheit mit der in ihr angelegten Fülle der Ideen und Werke zu verwirklichen, mußte der Weltgrund den Drang »enthemmen« und damit den Weltprozeß in Gang bringen. Da der Geist von Haus aus aber keine eigene Energie hat, kann er auf den Weltprozeß nur dadurch einwirken, daß er den Urmächten, den Lebenstrieben die Ideen, den Sinn vorhält und sie dadurch leitet und sublimiert, bis in immer höherem Aufstieg Geist und Drang ineinander eingehen, der Drang vergeistigt und der Geist verlebendigt wird. Die entscheidende Stätte dieses Vorgangs ist das Wesen, »in dem das Urseiende sich selbst zu wissen und zu erfassen, zu verstehen und sich zu erlösen beginnt«, und in dem damit »das rela-
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tive Gottwerden beginnt«, – der Mensch. »Das Sein durch sich wird nur in dem Maße zu einem Sein, das würdig wäre, göttliches Dasein zu heißen, als es im Drange der Weltgeschichte im Menschen und durch den Menschen die ewige Deitas verwirklicht.« Dieser von Schopenhauers Philosophie gespeiste Dualismus geht letztlich auf die gnostische Vorstellung von zwei Urgöttern zurück, einem niedrigeren, dem Stoff zugewandten, der die Welt erschafft, und einem höheren, rein geistigen, der sie erlöst. Nur daß in Schelers Gedanken die beiden zu Attributen des einen Weltgrunds geworden sind. Einen Gott kann man diesen Weltgrund nicht nennen, da er eine »Gottheit« nur neben einem ungöttlichen Prinzip enthält und zu einem Gott erst werden soll; aber menschenähnlich erscheint auch er uns wie nur irgend ein Götterbild: er erscheint uns wie das verklärte Abbild eines modernen Menschen. In diesem Menschen sind die Sphäre des Geistes und die Sphäre der Triebe wohl stärker als je vorher auseinandergefallen; er spürt mit Bangigkeit, daß dem abgelösten Geiste die unfruchtbare ohnmächtige Lebensferne droht, und er spürt mit Grauen, daß die verdrängten, verbannten Triebe seine Seele zu vernichten drohen; seine große Sorge geht darauf, zur Einheit, zum Einheitsgefühl und zum Einheitsausdruck zu gelangen, und tief mit sich selbst befaßt sinnt er auf den Weg; er glaubt ihn zu finden, indem er seine Triebe losläßt, und erwartet von seinem Geist, daß er ihr Wirken nun leiten werde. Es ist ein Irrweg, denn der Geist, wie er hier ist, kann zwar den Trieben noch Ideen und Werte vorhalten, aber er kann sie ihnen nicht mehr glaubhaft machen. Immerhin, dieser Mensch und sein Weg haben in Schelers »Weltgrund« ihre Verklärung gefunden.
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5 Schelers Weltgrund-Vorstellung weist hinter den philosophischen Einflüssen, die sie empfangen hat, einen Ursprung aus der seelischen Verfassung unseres Zeitalters auf. Dieser Ursprung hat einen tiefen und unlöslichen Widerspruch in sie gebracht. Die Grundthese Schelers, die aus den Erfahrungen des Geistes in unserer Zeit vollauf zu verstehen ist, besagt, der Geist in seiner reinen Form sei schlechthin ohne alle Macht. Diesen ohnmächtigen Geist findet er im Ursein selbst als dessen Attribut vor. Damit macht er eine vorgefundene gewordene Ohnmacht zu einer urseienden. Aber es ist ein innerer Widerspruch seiner Konzeption des Weltgrundes, daß der Geist in diesem ursprünglich ohnmächtig sei. Der Weltgrund »enthemmt« den Drang, daß er die Welt hervorbringe, und
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zwar damit in der Geschichte dieser Welt der Geist verwirklicht werde. Aber aus welcher Kraft hatte der Weltgrund seinen Drang gehemmt, aus welcher enthemmt er ihn nun? Aus welcher andern als aus der des einen seiner beiden Attribute, das nach Verwirklichung strebt, der Deitas, des Geistes? Der Drang kann doch nicht selbst die Macht hergeben ihn gehemmt zu halten, und soll er enthemmt werden, so kann auch dies nur durch eben die Macht geschehen, die seiner Macht so überlegen ist, daß sie ihn gehemmt halten konnte. Schelers Konzeption des Weltgrundes fordert geradezu eine ursprüngliche Übermacht des Geistes – eine Macht, die so groß ist, daß sie alle Bewegungskraft, aus der die Welt hervorgeht, zu hemmen und zu enthemmen vermag. Man mag einwenden, dies sei eben doch keine eigene positive schöpferische Macht. Aber dieser Einwand beruht auf einer Verwechslung von Macht und Kraft, die freilich Scheler selbst mehrfach begeht. Begriffe werden nach unseren höchsten als wiederkehrend erkannten Erfahrungen einer bestimmten Art gebildet. Und unsere höchsten Erfahrungen von Macht sind nicht die einer Kraft, die unmittelbare Veränderung hervorbringt, sondern die einer Fähigkeit, solche Kräfte unmittelbar oder mittelbar in Bewegung zu setzen. Ob man aber für diese Wirkung der Macht den positiven Ausdruck »in Bewegung setzen« oder den negativen »enthemmen« gebraucht, ist irrelevant. Schelers Wortwahl verdeckt die Tatsache, daß auch in seinem »Weltgrund« der Geist die Macht hat, die Kräfte in Bewegung zu setzen. 6
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Scheler erklärt, vor seiner These einer ursprünglichen Ohnmacht des Geistes zerfalle der Gedanke einer »Weltschöpfung aus nichts«. Er meint natürlich die biblische Schöpfungsgeschichte, für die eine spätere Theologie die irreführende Umschreibung einer Schöpfung aus nichts geprägt hat. Die biblische Geschichte kennt den Begriff eines Nichts nicht: er würde das Geheimnis des »Anfangs« verletzen. Das babylonische Epos der Weltschöpfung läßt den Gott Marduk die Götterversammlung in Erstaunen versetzen, indem er ein Gewand aus dem Nichts auftauchen läßt; der biblischen Schöpfungsgeschichte sind solche Zauberkunststücke fremd. Was sie im ersten Anfang mit einem Wort, das wohl »aushauen« bedeutet, das »Schaffen« von Himmel und Erde nennt, ist ganz im Geheimnis, in einem innerhalb der Gottheit sich vollziehenden Vorgang gelassen, den die spätere Theologie in der Sprache einer schlechten Philosophie falsch umschreibt, die Gnosis aber aus dem Geheimnis in die
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Welt zieht und damit das Alogische der in der Welt als solcher waltenden Logik unterwirft; nach diesem Anfang aber gibt es schon einen »Geist« – der freilich etwas ganz anderes als ein »geistiges Wesen«, nämlich der Ursprung aller Bewegung, aller geistigen und aller natürlichen ist – über einem »Wasser«, das offenbar mit Keimkräften geladen ist, da es lebende Wesen aus sich »hervorzuwimmeln« vermag, und das Schaffen durch das Wort, das berichtet wird, ist von der Wirkung des Geistes, der die Kräfte in Bewegung setzt, nicht zu trennen. Kräfte sind eingesetzt, und der Geist ist ihrer mächtig. Auch Schelers »Weltgrund« ist nur einer der zahllosen gnostischen Versuche, den biblischen Gott zu entgeheimnissen.
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7 Aber wenden wir uns von der Entstehung der Welt ihrer Existenz zu, von dem göttlichen Geist unserem uns aus unserer Erfahrung bekannten. Wie ist es um ihn bestellt? Im Menschen, sagt Scheler, wird das geistige Attribut des Seienden selbst manifest, »in der Konzentrationseinheit der sich zu sich ›sammelnden‹ Person«. Auf der Stufenleiter des Werdens beugt sich im Aufbau der Welt das urseiende Sein immer mehr auf sich selbst zurück, »um auf immer höheren Stufen und in immer neuen Dimensionen sich seiner selbst inne zu werden, um schließlich im Menschen sich selbst ganz zu haben und zu erfassen«. Der menschliche Geist aber, in dem diese Hegelsche Stufenleiter gipfelt, ist, eben als Geist, ursprünglich ohne alle Macht; er gewinnt sie nur dadurch, daß er sich durch die Lebenstriebe »mit Energie beliefern« läßt, d. h. daß der Mensch seine Triebenergie zu geistiger Fähigkeit sublimiert. Diesen Vorgang schildert Scheler so, daß der Geist zuerst den Willen leitet, indem er ihm die Ideen und Werte eingibt, die verwirklicht werden sollen; der Wille hungert nun gleichsam die Impulse des Trieblebens aus, indem er ihnen die Vorstellungen vermittelt, die sie brauchen würden, um zu einer Triebhandlung zu gelangen, und »stellt den lauernden Trieben« sodann »die den Ideen und Werten angemessenen Vorstellungen« »wie Köder vor Augen«, bis sie das vom Geist gesetzte Willensprojekt ausführen. Ist der Mensch, von dessen innerem Leben diese auf den Begriffen der modernen Psychoanalyse begründete Darstellung gegeben wird, wirklich der Mensch? Oder ist es nicht vielmehr eine bestimmte Menschenart, die nämlich, bei der die Sphäre des Geistes und die der Triebe sich so voneinander gesondert und verselbständigt haben, daß der Geist den Trieben von seiner Höhe aus die lockende Herrlichkeit der Ideen vor-
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führen kann, wie in einer gnostischen Vorstellung die Töchter des Lichts den mächtigen Planetenfürsten erscheinen, um sie zur Begier zu erregen und ihre Lichtkraft verschütten zu lassen? 8 5
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Auf manche Asketen aus Willensentschluß, die durch die Askese zur Kontemplation gelangt sind, mag Schelers Beschreibung zutreffen. Aber die existenziale Askese so vieler großer Philosophen ist nicht so zu verstehen, daß der Geist in ihnen den Trieben die Lebensenergie entzieht oder sie sich zuleiten läßt, sondern daß schon in der Urverfassung ihres Daseins dem Denken ein hohes Maß konzentrierter Mächtigkeit zugeteilt und eine unbedingte Herrschaft verliehen worden ist. Was in ihnen zwischen dem Geist und den Trieben geschieht, ist nicht, wie bei dem Menschen Schelers, eine Auseinandersetzung, die von seiten des Geistes mit großen strategischen und pädagogischen Mitteln geführt wird, denen die Triebe einen zunächst heftigen, allmählich überwundenen Widerstand entgegensetzen, sondern es ist gleichsam die beiderseitige Ausführung eines Urvertrags, der dem Geist die unanfechtbare Herrschaft sichert und den die Triebe nun – in einzelnen Fällen knirschend, in den meisten geradezu heiter – vollziehen. Aber die asketische Menschenart ist gar nicht, wie es Scheler erscheint, der Grundtypus des geistigen Menschen. Am deutlichsten läßt sich das im Bereich der Kunst zeigen. Man versuche einen Mann wie Rembrandt, wie Shakespeare, wie Mozart von dieser Menschenart aus zu verstehen, und man wird merken: es ist geradezu das Kennzeichen des künstlerischen Genies, daß es in seinem Wesen nicht asketisch zu sein braucht. Asketische Akte des Neinsagens, des Verzichts, der inneren Verwandlung wird auch es immer wieder vollziehen müssen, aber die eigentliche Führung seines geistigen Lebens ist nicht auf Askese gegründet. Hier gibt es keine ewige Verhandlung zwischen Geist und Trieben; die Triebe hören auf den Geist, um die Verbindung mit den Ideen nicht zu verlieren, und der Geist hört auf die Triebe, um die Verbindung mit den Urmächten nicht zu verlieren. Gewiß verläuft das innere Leben dieser Menschen nicht in einer glatten Harmonie, ja gerade sie kennen wie kaum andere das dämonische Reich des Widerstreits. Aber es ist eine irrige und irreführende Vereinfachung, die Dämonen mit den Trieben zu identifizieren; sie haben oft ein rein geistiges Antlitz. Die wahren Verhandlungen und Entscheidungen geschehen hier und überhaupt im Leben der großen Menschen nicht zwischen Geist und Trieben, sondern
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zwischen Geist und Geist, zwischen Trieben und Trieben, zwischen einem Gebilde aus Geist und Trieb und einem andern Gebilde aus Geist und Trieb. Das Drama des großen Lebens läßt sich nicht auf die Dualität von Geist und Trieb reduzieren. Es ist überhaupt mißlich, das Wesen des Menschen und seines Geistes vom Typus des Philosophen aus, von dessen Eigenschaften und Erfahrungen aus aufzeigen zu wollen, wie es Scheler tut. Der Philosoph ist zwar eine überaus wichtige Menschengattung, aber er stellt eher einen merkwürdigen Sonderfall des geistigen Lebens als dessen Grundform dar. Auch er jedoch ist nicht aus jener Dualität zu verstehen.
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9 Scheler will uns die Eigenart des Geistes, als eines spezifischen Gutes des Menschen, zum Unterschied von der technischen Intelligenz, die der Mensch mit den Tieren gemeinsam habe, an dem Akt der Ideierung darlegen. Er gibt dieses Beispiel: Ein Mensch hat Schmerz im Arm. Die Intelligenz fragt, wie er entstanden sei und wie er beseitigt werden könne, und beantwortet die Frage mit Hilfe der Wissenschaft. Der Geist aber faßt denselben Schmerz als Exempel des Wesensverhalts, daß die Welt von Schmerz durchsetzt ist, er fragt nach dem Wesen des Schmerzes selbst, und darüber hinaus fragt er, wie der Grund der Dinge beschaffen sein müsse, damit so etwas wie »Schmerz überhaupt« möglich sei. Das heißt: der Geist des Menschen hebt den Wirklichkeitscharakter der Erscheinung des Schmerzes, den der Mensch verspürt hat, auf, und zwar schaltet er nicht bloß, wie Husserl meinte, das Urteil über das Tatsächlich-sein des Schmerzes aus und behandelt ihn seinem Wesen nach, sondern er beseitigt »versuchsweise« den ganzen Realitätseindruck, er vollzieht den »im Grunde asketischen Akt der Entwirklichung« und erhebt sich so über den schmerzgeplagten Lebensdrang. Ich bestreite sogar für den Philosophen, sofern er aus Entdeckung eines Seins denkt, daß der entscheidende Akt der Ideierung so beschaffen sei. Das Wesen des Schmerzes wird nicht so erkannt, daß der Geist sich von ihm gleichsam entfernt, sich gleichsam in eine Loge setzt und das Schauspiel des Schmerzes als ein unwirkliches Beispiel betrachtet; wessen Geist das tut, der vermag allerlei geistvolle Gedanken über den Schmerz bekommen, das Wesen des Schmerzes wird er nicht erkennen. Es wird erkannt, indem der Schmerz faktisch entdeckt wird. Das heißt: der Geist bleibt durchaus nicht draußen und er entwirklicht nicht, er wirft sich selber in die Tiefe dieses wirklichen Schmerzes, er nimmt Wohnung im
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Schmerz, er gibt sich ihm hin, er durchgeistigt ihn, und nun gibt sich ihm gleichsam der Schmerz selber in solcher Nähe zu erkennen. Die Erkenntnis geschieht nicht durch Entwirklichung, sondern gerade durch ein Eindringen in diese bestimmte Wirklichkeit, und zwar durch ein Eindringen solcher Art, daß sich eben im Innern dieser Wirklichkeit das Wesen erschließt. Ein solches Eindringen nennen wir ein geistiges. Man fragt also zunächst nicht, wie Scheler meint: »was ist denn eigentlich der Schmerz selbst, abgesehen davon, daß ich ihn jetzt hier habe?« Man sieht überhaupt nicht ab. Gerade der Schmerz, den ich jetzt hier habe, sein Meinsein, sein Jetztsein, sein Hiersein, sein Sosein, gerade die vollkommene Gegenwärtigkeit dieses Schmerzes erschließt mir das Wesen des Schmerzes selbst. Unter der eindringenden Berührung des Geistes teilt gleichsam der Schmerz selber dem Geist sich in dämonischer Sprache mit. Der Schmerz – und jedes wirkliche Geschehen der Seele – ist nicht einem Schauspiel, sondern frühen Mysterien zu vergleichen, deren Sinn niemand erfährt, der nicht selber im Reigen mittanzt. Aus der dämonischen Sprache, die der Geist in der intimen Berührung mit dem Schmerz erfuhr, überträgt er in die Sprache der Ideen. Erst diese Übertragung findet in einer Abhebung und Entfernung vom Gegenstande statt; der entscheidende Akt des Geistes hat schon vor ihr stattgefunden; die primäre Ideierung geht der abstrahierenden voraus. Das »betrachtende« Denken ist auch beim Philosophen, sofern er wirklich vom Sein der Welt ermächtigt ist, es zu künden, nicht das erste, sondern das zweite. Das erste ist die Entdeckung eines Seins in der Kommunion mit ihm, und diese Entdeckung ist ein eminent geistiger Akt. Jede philosophische Idee stammt aus solch einer Entdeckung. Nur einer, der in der letzten Tiefe des eigenen Schmerzes, ohne irgend von ihm abzusehen, in seinem Geiste mit dem Schmerz der Welt kommunizierte, kann das Wesen des Schmerzes erkennen. Dafür, daß er es könne, ist aber freilich eine Voraussetzung; nämlich, daß dieser Mensch schon die Tiefe des Schmerzes anderer Wesen wirklich – und das heißt, nicht mit dem »Mitleid«, das gar nicht zum Sein vordringt, sondern mit der großen Liebe – erfahren hat; dann erst wird ihm der eigene Schmerz in seiner letzten Tiefe transparent ins Leid der Welt. Nur die Teilnahme am Sein der seienden Wesen erschließt den Sinn im Grunde des eigenen Seins. 10 Aber um genauer zu erfahren, was Geist ist, darf man sich nicht damit begnügen, ihn zu erforschen, wo er zu Werk und Beruf geworden ist;
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man muß ihn auch da aufsuchen, wo er noch Ereignis ist. Denn der Geist in seiner ursprünglichen Wirklichkeit ist nicht etwas, was ist, sondern etwas, was sich ereignet, genauer: etwas, was nicht erwartet wird, sondern plötzlich geschieht. Man achte auf das Kind, besonders in dem Alter, wo es die Sprache bereits in sich aufgenommen hat, aber noch nicht die in der Sprache aufgespeicherten Traditionsgüter. Es lebt bei den Dingen, drin in der Welt der Dinge, mit dem, was auch noch wir Erwachsenen kennen, und auch mit dem, was wir nicht mehr kennen, was uns durch die Traditionsgüter, durch die Begriffe, durch all das sicher Feststehende verscheucht worden ist. Und unvermittelt fängt es an zu erzählen, erzählt, verfällt ins Schweigen, wieder bricht etwas hervor. Wie erzählt das Kind, was es erzählt? Es gibt keine andere Bezeichnung dafür als: mythisch. Es erzählt genau so, wie der frühe Mensch seine aus Traum und wacher Schau, aus Erfahrung und »Phantasie« (aber ist Phantasie im Ursprung nicht auch eine Art Erfahrung?) zur unlöslichen Einheit gewordenen Mythen erzählt. Da ist plötzlich der Geist da. Aber ohne alle vorhergehende »Askese« und »Sublimierung«. Der Geist war selbstverständlich schon im Kinde, ehe es erzählt, aber nicht als solcher, nicht für sich, sondern verbunden mit dem »Triebe« – und mit den Dingen! Jetzt tritt er selber, selbständig auf – im Wort. Das Kind »hat Geist« erst wenn es spricht, es hat ihn, weil es sprechen will. Ehe es jetzt gesprochen hat, waren die mythischen Bilder nicht gesondert da, sondern eingetan, eingemengt in die Substanz des Lebens. Jetzt aber sind sie da – im Wort. Erst weil das Kind den geistigen Trieb zum Wort hat, treten sie nun überhaupt hervor, werden sie zugleich selbständig existent und sagbar. Der Geist beginnt hier als Trieb, als Trieb zum Wort, d. h. als der Trieb, zusammen mit den anderen in einer Welt strömender Mitteilung, gegebenen und empfangenen Bildes dazusein. Oder man achte auf einen Bauerntypus, den es noch immer gibt, obgleich die sozialen und kulturellen Voraussetzungen für ihn geschwunden zu sein scheinen. Ich meine einen Bauern, der zeitlebens nicht anders als zweckhaft und technisch denken zu können schien, der immer nur das jeweils für die Wirtschaft und die unmittelbare Lebenslage Notwendige im Sinne trug. Nun aber beginnt er zu altern, beginnt sich anstrengen zu müssen, um bei der Arbeit seinen Mann zu stellen. Und da kommt es vor, daß man ihn einmal am Ruhetag dastehen und in die Wolken starren sieht, und wenn man ihn fragt, antwortet er erst nach einer Weile, er habe nach dem Wetter ausgeschaut, und man merkt, daß das nicht wahr ist. Um die gleiche Zeit aber sieht man zuweilen ganz unerwarteterweise seinen Mund sich öffnen – zu einem Spruch. Er hatte
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freilich schon früher Sprüche geäußert, aber traditionelle, bekannte, zumeist pessimistisch-humoristische über den »Gang der Dinge«, und dergleichen äußert er auch jetzt noch, und zwar vorzugsweise, wenn ihm etwas verquer gegangen ist, wenn er den Widerstand der Dinge erfahren hat, den Scheler für das Grundwesen der Welterfahrung hält, d. h. wenn er wieder einmal den Widerspruch, der in der Welt waltet, erfahren hat. Aber dazwischen sagt er auch Worte ganz anderer Art, wie man sie von ihm früher nicht hörte, aus der Tradition nicht bekannte Worte, und er sagt sie vor sich hinstarrend, oft nur flüsternd, wie zu sich selbst, man fängt sie nur eben auf; er äußert eigene Einsichten. Das tut er aber nicht, wenn er den Widerstand der Dinge erfahren hat, sondern z. B. wenn die Pflugschar so weich und tief in die Erde fuhr, als tue sich der Acker mit Willen ihr auf, oder wenn die Kuh so schnell und leicht ihr Kalb warf, als wirke eine unsichtbare Macht als Geburtshelferin mit. Das heißt: er äußert eigene Einsichten, wenn er die Gnade der Dinge erfahren hat; wenn er wieder einmal erfahren hat, trotz allen Widerstandes, daß es eine Teilnahme der Menschen an dem Sein der Welt gibt. Gewiß, die Erfahrung der Gnade ist erst durch die Erfahrung des Widerstands und in der Abhebung von ihr ermöglicht; aber auch hier gilt es, daß der Geist sich aus der Eintracht mit den Dingen und in der Eintracht mit den Trieben erhebt. 11
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In seiner ersten anthropologischen Abhandlung, die noch aus seiner theistischen Periode stammt, läßt Scheler den wahren Menschen erst beim »Gottsucher« anfangen. Zwischen dem Tier und dem homo faber, dem Verfertiger von Werkzeugen und Maschinen, bestehe nur ein Gradunterschied; zwischen dem homo faber und dem Menschen, der anfängt, über sich hinauszugehen und Gott zu suchen, bestehe dagegen ein Wesensunterschied. In seinen letzten anthropologischen Arbeiten, deren Grundlage nicht mehr der Theismus, sondern jene Vorstellung eines werdenden Gottes ist, tritt an Stelle des religiösen Menschen der Philosoph. Zwischen dem homo faber und dem Tier, so führt er hier aus, bestehe kein Wesensunterschied, denn Intelligenz und Wahlfähigkeit seien auch dem Tier zuzusprechen; erst durch das Prinzip des Geistes, das aller Intelligenz absolut überlegen sei und überhaupt außerhalb alles dessen stehe, was wir Leben nennen, werde die Sonderstellung des Menschen begründet. Der Mensch als Vitalwesen sei »ganz ohne Zweifel eine Sackgasse der Natur«, dagegen »als mögliches ›Geistwesen‹« sei er »der helle
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und herrliche Ausweg aus dieser Sackgasse«. Der Mensch sei also »nicht ein ruhendes Sein, nicht ein Faktum, sondern nur eine mögliche Prozeßrichtung«. Das ist fast genau dasselbe was Nietzsche vom Menschen sagt, nur daß an der Stelle seines »Willens zur Macht«, der den Menschen erst zum eigentlichen Menschen mache, hier der »Geist« tritt. Die Grundbestimmung eines »geistigen« Wesens aber ist nach Scheler seine existenzielle Ablösbarkeit vom Organischen, vom »Leben« und von allem, was zum »Leben« gehört. Das trifft in einem gewissen Maße – mit den wesentlichen Einschränkungen, die ich vorhin formuliert habe – auf den Philosophen zu; auf das geistige Wesen des Menschen überhaupt, besonders aber auf den Geist als Ereignis trifft es nicht zu. Scheler zieht in seiner frühen und in den späteren Arbeiten zwei verschiedene Trennungsstriche durch das Menschengeschlecht, aber beide sind unzulässig und in sich widerspruchsvoll. Wenn der religiöse Mensch etwas anderes ist als die existenzielle Aktuierung all dessen, was in all den »nichtreligiösen« Menschen als stumme Not, als stammelnde Verlassenheit, als aufschreiende Verzweiflung lebt, dann ist er ein Monstrum; der Mensch fängt nicht da an, wo man Gott sucht, sondern wo man an der Gottferne leidet, ohne zu wissen, woran man leidet. Und ein »geistiger« Mensch, in dem ein Geist wohnt, den es anderswo nicht gibt, ein Geist, der die Kunst versteht, sich von allem Leben abzulösen, ist nur eine Kuriosität. Wenn der Geist als Beruf etwas dem Wesen nach anderes sein will als der Geist als Ereignis, dann ist er gar nicht mehr der wahre Geist, sondern ein dessen Platz usurpierendes Kunstprodukt. Der Geist ist in Funken dem Leben aller eingetan, aus dem Leben der Lebendigsten schlägt er in Flammen hervor, und zuweilen brennt irgendwo ein großes Geistesfeuer. All dies ist eines Wesens und einer Substanz. Es gibt keinen anderen Geist, als der sich aus der Einheit des Lebens und der Einheit mit der Welt nährt. Wohl widerfährt es ihm, daß er von der Einheit des Lebens abgetrennt und in einen abgründigen Gegensatz zur Welt gestürzt wird; aber auch im Martyrium der geistigen Existenz verleugnet der wahre Geist nicht seine Urgemeinschaft mit dem ganzen Sein, er behauptet sie vielmehr gegen die falschen Vertreter des Seins, die sie leugnen.
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12 Der Geist als Ereignis, der Geist, den ich an Kind und Bauer aufgezeigt habe, beweist uns, daß es nicht zum ursprünglichen Wesen des Geistes gehört, wie Scheler meint, durch Verdrängung und Sublimierung der Triebe zu entstehen. Diese psychologischen Kategorien entnimmt Sche-
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ler bekanntlich dem Begriffsschatz Sigmund Freuds, zu dessen großen Verdiensten es gehört, sie geprägt zu haben. Aber wiewohl diesen Kategorien eine allgemeine Geltung zukommt, so ist doch die zentrale Stellung, die Freud ihnen verleiht, ihre beherrschende Bedeutung für den ganzen Aufbau des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens und insbesondre auch für die Entstehung und Entwicklung des Geistes, nicht im allgemeinen Wesen des Menschen, sondern nur in der Lage und Beschaffenheit des typischen heutigen Menschen begründet. Dieser Mensch aber ist erkrankt, sowohl in seinem Verhältnis zu den anderen als auch in seiner Seele selbst. Die zentrale Bedeutung von Verdrängung und Sublimierung in Freuds System ergibt sich aus der Analyse eines pathologischen Zustands und gilt für diesen Zustand; die Kategorien sind psychologische, ihre beherrschende Macht ist eine pathopsychologische. Es läßt sich freilich erweisen, daß trotzdem ihre Bedeutung nicht für unsere Zeit allein, sondern auch für andere, ihr artverwandte gilt; nämlich für Zeiten, denen eine ähnliche Pathologie wie der unseren innewohnt, Zeiten der ausbrechenden Krise wie die unsere; aber ich kenne in der Geschichte keine so tiefreichende und umfassende Krise wie unsere, und dem entspricht das Maß der Bedeutung jener Kategorien. Wenn ich unsre Krise auf eine Formel bringen soll, möchte ich sie die Krise des Vertrauens nennen. Wir haben gesehen, wie Epochen der Sicherheit menschlichen Seins im Kosmos mit Epochen der Unsicherheit abwechseln, aber in diesen waltet zumeist noch eine soziale Gewißheit, das Getragenwerden von einer kleinen, in wirklichem Miteinandersein lebenden organischen Gemeinschaft; das Vertrauendürfen innerhalb dieser Gemeinschaft entschädigt für kosmische Unsicherheit, es gibt Zusammenhang und Gewißheit. Wo das Vertrauen herrscht, muß der Mensch zwar oft seine Wünsche den Geboten seiner Gemeinschaft anpassen, aber er muß sie nicht in solchem Maße verdrängen, daß diese Verdrängung beherrschende Bedeutung für sein Leben gewinnt; sie verschmelzen vielfach mit den Bedürfnissen der Gemeinschaft, deren Ausdruck ihre Gebote sind. Diese Verschmelzung kann sich wohlgemerkt nur da wirklich vollziehen, wo innerhalb der Gemeinschaft wirklich alles mit allem lebt, wo also nicht ein gefordertes und eingebildetes, sondern ein echtes, elementares Vertrauen waltet. Erst wenn die organische Gemeinschaft von innen her zerfällt und das Mißtrauen der Grundton des Lebens wird, gewinnt die Verdrängung ihre beherrschende Geltung. Die Unbefangenheit des Wünschens wird vom Mißtrauen erstickt, alles um einen her ist feindlich oder kann feindlich werden, man erfährt keine Übereinstimmung mehr zwischen dem eignen Verlangen und dem der andern, denn es gibt keine wahre Verschmelzung oder Versöhnung
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mit dem, was einer tragenden Gemeinschaft nottut, und hoffnungslos verkriechen sich die dumpfgewordenen Wünsche in die Höhlen der Seele. Nun aber ändern sich auch die Wege des Geistes. Vorher war es die wesentliche Art seiner Entstehung, als konzentrierte Kundgebung der Ganzheit des Menschen aus dem Gewölk hervorzublitzen. Jetzt gibt es eine menschliche Ganzheit mit der Kraft und dem Mut sich kundzugeben nicht mehr; damit Geist werde, muß zumeist erst die Energie der verdrängten Triebe »sublimiert« werden, die Spuren dieser Entstehung haften dem Geist an, und er kann sich zumeist nur in krampfhafter Entfremdung gegen die Triebe behaupten. Die Scheidung zwischen Geist und Trieben ist hier wie oft die Folge der Scheidung zwischen Mensch und Mensch.
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13 Im Gegensatz zu Schelers Auffassung ist vom Geist zu sagen, daß er in seinem Anfang reine Macht ist, die Macht des Menschen nämlich, aus inniger Teilnahme an der Welt und aus engem Nahkampf mit ihr, sie im Bild, im Klang, im Begriff zu fassen. Das erste ist die intime Teilnahme des Menschen an der Welt, intim im Streit wie im Frieden mit ihr. Hier ist der Geist als Sonderwesen noch nicht da, er ist aber mit drin in der Kraft der primitiv-konzentrierten Teilnahme. Erst mit dem wachen Antrieb, die Welt nicht bloß mit ihr ringend oder mit ihr spielend zu spüren, sondern sie auch zu erfassen, erst mit der Leidenschaft, das erfahrene Chaos zum Kosmos zu binden, ersteht der Geist als Sonderwesen. Aus dem wilden Geflimmer des Lichts löst sich das Bild, aus dem wilden Lärm der Erde löst sich der Klang, aus dem wilden Durcheinander aller Dinge löst sich der Begriff. So entsteht der Geist als Geist. Aber es ist kein Urstadium des Geistes zu denken, in dem er sich nicht auch schon äußern wollte – das Bild selbst will an die Decke einer Höhle gemalt werden und schon ist ein Rötel zur Hand, der Klang will gesungen werden und schon gibt im Zauberlied die eigene Kehle sich her. Das Chaos ist bezwungen durch die Gestalt. Aber die Gestalt will wahrgenommen werden von anderen als von dem, der sie hervorbrachte: das Bild wird mit Leidenschaft gezeigt, der Singende singt die Hörenden mit Leidenschaft an. Der Trieb zur Gestalt ist vom Trieb zum Wort nicht zu scheiden. Aus der Teilnahme an der Welt gelangt der Mensch zur Teilnahme an den Seelen. Die Welt wird gebunden, wird geordnet, die Welt wird sagbar zwischen den Menschen, jetzt erst wird sie zu einer Welt zwischen den Menschen. Und wieder ist der Geist reine Macht; mit Gebärde und Spruch bezwingt
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der Mann des Geistes den Widerstand der Chaosfreunde und ordnet die Gemeinschaft. Die Ohnmacht des Geistes, die Scheler für ursprünglich hält, ist stets ein Begleitumstand des Gemeinschaftszerfalls. Das Wort wird nicht mehr aufgenommen, es bildet und ordnet das Menschliche nicht mehr, dem Geist wird die Teilnahme an den Seelen verwehrt, und er kehrt sich ab, er schneidet sich von der Einheit des Lebens los, er flüchtet in seine Burg, die Burg des Gehirns. Bis dahin dachte der Mensch mit dem ganzen Leibe, und noch mit den Fingerspitzen, von da an denkt er nur noch mit dem Gehirn. Erst jetzt erhält Freud den Gegenstand seiner Psychologie und Scheler den seiner Anthropologie: den erkrankten Menschen, der von der Welt getrennt und in Geist und Triebe gespalten ist. Solang wir wähnen, dieser kranke Mensch sei der Mensch, der normale Mensch, der Mensch überhaupt, werden wir ihm keine Heilung bringen. Hier muß ich die Darstellung und Kritik der Anthropologie Schelers abbrechen. Es wäre noch in einer genetischen Betrachtung zu zeigen, daß der wesentliche Unterschied zwischen dem Menschen und dem Tier, der Unterschied, der das Wesen des Menschen begründet, nicht seine Ablösung von der triebhaften Verbindung mit den Dingen und Wesen ist, sondern im Gegenteil seine andere, neue Art von Zuwendung zu den Dingen und Wesen. Es wäre zu zeigen, daß nicht das technische, Tier und Mensch gemeinsame Verhältnis das Primäre ist, über das sich der Mensch sodann erhebt, sondern daß die spezifische primitive Technik des Menschen, die Erfindung selbständiger, ihrem Zweck angepaßter und immer wieder verwendbarer Werkzeuge, erst durch das neue Verhältnis des Menschen zu den Dingen, als zu etwas Angeschautem, Selbständigem und Dauerndem, ermöglicht worden ist. Es wäre weiter zu zeigen, daß ebenso in dem Verhältnis zu anderen Menschen nicht das allgemein Triebhafte das ursprünglich Bestimmende ist, über das der Mensch sich erst später in der Auseinandersetzung des Geistes mit den Trieben erhebt, sondern daß das Menschliche erst im Zusammenhang mit einer Zuwendung zu den Menschen beginnt als zu Personen, die unabhängig von einem Bedürfnis selbständig und dauernd da sind, und daß die Entstehung der Sprache erst aus einer solchen Zuwendung heraus zu verstehen ist. Sowohl hier wie dort steht offenbar eine Einheit von Geist und Trieb, die Ausbildung neuer geistiger Triebe am Anfang. Und sowohl hier wie dort ist das Wesen des Menschen nicht von dem aus zu erfassen, was sich im Innern des Einzelnen abspielt, und nicht von seinem Selbstbewußtsein aus, das Scheler für den entscheidenden Unterschied zwischen Mensch und Tier hält, sondern von der Eigenart seiner Beziehungen zu den Dingen und den Wesen.
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Vierter Abschnitt
Ausblick Wir haben an zwei bedeutenden Versuchen unserer Zeit gesehen, daß eine individualistische Anthropologie, die sich im wesentlichen nur mit dem Verhältnis der menschlichen Person zu sich selbst, mit dem Verhältnis zwischen dem Geist und den Trieben in ihr usw., beschäftigt, nicht zu einer Erkenntnis des Wesens des Menschen führen kann. Die Frage Kants »Was ist der Mensch?«, deren Geschichte und Nachwirkung ich im ersten Teil dieser Arbeit behandelt habe, kann, soweit sie überhaupt eine Antwort zu finden vermag, nie von der Betrachtung der menschlichen Person als solcher, sondern nur von ihrer Betrachtung in der Ganzheit ihrer Wesensbeziehungen zum Seienden aus beantwortet werden. Erst der Mensch, der die ihm möglichen Beziehungen mit seinem ganzen Wesen in seinem ganzen Leben verwirklicht, hilft uns wahrhaft den Menschen erkennen. Und da, wie wir gesehen haben, erst dem einsam gewordenen Menschen sich die Frage nach dem Wesen des Menschen in ihren Tiefen eröffnet, weist der Weg zur Antwort auf den Menschen hin, der die Einsamkeit überwindet, ohne ihre fragende Kraft einzubüßen. Damit ist schon gesagt, daß hier dem menschlichen Denken eine lebensmäßig neue Aufgabe gestellt ist. Und zwar eben eine lebensmäßig neue. Denn sie bedeutet, daß der Mensch, der sich selber erfassen will, die Spannung der Einsamkeit und den Brand ihrer Problematik hinüberrette in ein trotz allem erneutes Leben mit seiner Welt und von dieser Lage aus denke. Dabei ist freilich eben vorausgesetzt, daß ungeachtet all der ungemein erschwerenden Momente ein neuer Prozeß der Überwindung der Einsamkeit beginnt, im Hinblick auf den jene denkerische Sonderaufgabe wahrgenommen und ausgesprochen werden kann. Es ist offenbar, daß ein solcher Prozeß an diesem Punkte des Menschenwegs nicht vom Geist allein zu bewirken ist; aber in einem bestimmten Maße wird auch die Erkenntnis ihn zu fördern vermögen. Dies andeutungsweise klarzustellen steht uns hier zu. Die Kritik an der individualistischen Methode geht gewöhnlich von der kollektivistischen Tendenz aus. Wenn aber der Individualismus nur einen Teil des Menschen erfaßt, so erfaßt der Kollektivismus nur den Menschen als Teil: zur Ganzheit des Menschen, zum Menschen als Ganzes dringen beide nicht vor. Der Individualismus sieht den Menschen nur in der Bezogenheit auf sich selbst, aber der Kollektivismus sieht den Menschen überhaupt nicht, er sieht nur die »Gesellschaft«. Dort ist das Antlitz des Menschen verzerrt, hier ist es verdeckt.
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Beide Lebensanschauungen – der moderne Individualismus und der moderne Kollektivismus –, wie verschieden auch ihre sonstigen Ursachen sein mögen: im wesentlichen sind sie Ergebnisse oder Äußerungen des gleichen menschlichen Zustands, nur in verschiedenen Stadien. Dieser Zustand ist durch das Zusammenströmen kosmischer und sozialer Heimlosigkeit, Weltangst und Lebensangst, zu einer Daseinsverfassung der Einsamkeit gekennzeichnet, wie es sie in diesem Ausmaß vermutlich noch nie zuvor gegeben hat. Die menschliche Person fühlt sich zugleich als Mensch ausgesetzt von der Natur, wie man ein verleugnetes Kind aussetzt, und als Person isoliert mitten in der tosenden Menschenwelt. Die erste Reaktion des Geistes auf die Erkenntnis der neuen unheimlichen Lage ist der moderne Individualismus, die zweite der moderne Kollektivismus. Im Individualismus unterfängt sich die menschliche Person, diese Lage zu bejahen, sie in eine bejahende Reflexion, einen universalen amor fati zu tauchen; sie will die Trutzburg eines Lebenssystems bauen, in dem die Idee erklärt, die Wirklichkeit wie sie ist zu wollen. Eben als von der Natur ausgesetzt ist der Mensch Individuum in dieser besonderen radikalen Weise, in der kein anderes Wesen in der Welt Individuum ist, und er akzeptiert sein Ausgesetztsein, weil es sein Individuumsein bedeutet. Und ebenso akzeptiert er sein Isoliertsein als Person, weil erst die mit anderen unverbundene Monade sich als Individuum im äußersten Sinn erfahren und verherrlichen kann. Um sich vor der Verzweiflung zu retten, mit der ihn seine Vereinsamung bedroht, ergreift der Mensch den Ausweg, diese zu glorifizieren. Der moderne Individualismus hat im wesentlichen eine imaginäre Grundlage. An diesem seinem Charakter scheitert er; denn die Imagination reicht nicht zu, die gegebene Situation faktisch zu bewältigen. Die zweite Reaktion, der Kollektivismus, folgt im wesentlichen auf das Scheitern der ersten. Die menschliche Person sucht hier ihrem Schicksal der Vereinsamung zu entgehen, indem sie sich völlig in eins der massiven modernen Gruppengebilde einbettet. Je massiver, lückenloser und leistungsstärker dieses ist, umso mehr kann sie sich als von beiden Formen der Heimlosigkeit, der sozialen und der kosmischen, erlöst empfinden. Es ist offenbar kein Anlaß zur Lebensangst mehr, da man sich doch nur in den »allgemeinen Willen« einzufügen und die eigene Verantwortung für das allzu kompliziert gewordene Dasein in der kollektiven aufgehen zu lassen braucht, die sich als allen Komplikationen gewachsen erweist. Und ebenso ist offenbar kein Anlaß zur Weltangst mehr, da an die Stelle des unheimlich gewordenen Weltalls, mit dem sich sozusagen kein Vertrag mehr machen läßt, die technisierte Natur getreten ist, mit der die Gesellschaft als solche fertig wird oder fertig zu werden scheint. Das Kol-
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lektiv macht sich anheischig, die totale Sicherung zu liefern. Imaginär ist hier nichts, hier waltet eine dichte Realität, das Allgemeine selber scheint real geworden; aber illusionär ist der moderne Kollektivismus im wesentlichen. Der Anschluß der Person an das zuverlässig funktionierende »Ganze«, das die Menschenmassen umfaßt, ist vollzogen; aber es ist kein Anschluß des Menschen an den Menschen. Der Mensch im Kollektiv ist nicht der Mensch mit dem Menschen. Nicht wird hier die Person von ihrer Vereinsamung befreit, indem sie Lebendem verbunden wird, das fortan mit ihr lebt; das »Ganze« mit seinem Anspruch an die Ganzheit eines jeden geht folgerichtig und mit Erfolg darauf aus, alle Verbindung mit Lebendem zu reduzieren, zu neutralisieren, zu entwerten, zu entheiligen. Jene zarte Fläche des persönlichen Wesens, die nach Fühlung mit anderem Wesen verlangt, wird fortschreitend abgetötet oder doch unempfindlich gemacht. Die Vereinsamung des Menschen wird hier nicht überwunden, sondern übertäubt. Man verdrängt das Wissen um sie, aber der tatsächliche Stand wirkt unüberwindlich in der Tiefe und steigert sich insgeheim zu einer Grausamkeit, die mit dem Zersprühen der Illusion in die Erscheinung treten wird. Der moderne Kollektivismus ist die letzte Schranke, die der Mensch vor der Begegnung mit sich selbst aufgerichtet hat. Die nach dem Ende der Imaginationen und Illusionen mögliche und unvermeidliche Begegnung des Menschen mit sich selbst wird sich nur als Begegnung des Einzelnen mit dem Mitmenschen vollziehen können und wird sich als sie vollziehen müssen. Erst wenn der Einzelne den Anderen, in all seiner Anderheit, als sich, als den Menschen erkennt und von da aus zum Anderen durchbricht, wird er, in einer strengen und verwandelnden Begegnung, seine Einsamkeit durchbrochen haben. Es ist offenbar, daß ein solcher Vorgang nur aus einer Aufrüttelung der Person als Person hervorgehen kann. Im Individualismus ist die Person, infolge der nur-imaginären Bewältigung ihrer Grundsituation, von dem Kernschaden der Fiktivität befallen, so sehr sie auch meint oder zu meinen sich anstrengt, daß sie sich als Person im Sein behaupte; im Kollektivismus gibt sie, mit dem Verzicht auf die Unmittelbarkeit persönlicher Entscheidung und Verantwortung, sich selber auf. In beiden Fällen ist sie unfähig, den Durchbruch zum Anderen zu vollziehen: nur zwischen echten Personen gibt es echte Beziehung. Trotz aller Wiederbelebungsversuche ist die Zeit des Individualismus vorüber. Der Kollektivismus hingegen steht auf der Höhe seiner Entwicklung, obgleich da und dort einzelne Zeichen der Auflockerung sich zeigen. Hier gibt es keinen anderen Ausweg als den Aufstand der Person um der Befreiung der Beziehung willen. Ich sehe am Horizont, mit der
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Langsamkeit aller Vorgänge der wahren Menschengeschichte, eine große Unzufriedenheit heraufkommen, die allen bisherigen unähnlich ist. Man wird sich nicht mehr bloß wie bisher gegen eine bestimmte herrschende Tendenz um anderer Tendenzen willen empören, sondern gegen die falsche Realisierung eines großen Strebens, des Strebens zur Gemeinschaft, um der echten Realisierung willen. Man wird gegen die Verzerrung und für die reine Gestalt kämpfen, wie sie die gläubigen und hoffenden Geschlechter des Menschen geschaut haben. Ich rede hier von Taten des Lebens; aber wodurch sie allein erweckt werden können, ist eine vitale Erkenntnis. Ihr erster Schritt muß die Zerschlagung einer falschen Alternative sein, die das Denken unserer Epoche durchsetzt hat, der Alternative »Individualismus oder Kollektivismus«. Ihre erste Frage muß die nach dem echten Dritten sein; wobei unter einem »echten« Dritten eine Anschauung zu verstehen ist, die weder auf eine der beiden genannten zurückgeführt werden kann, noch einen bloßen Ausgleich zwischen beiden darstellt. Das Leben und das Denken stehen hier in der gleichen Problematik. Wie das Leben fälschlich meint, zwischen Individualismus und Kollektivismus wählen zu müssen, so meint das Denken fälschlich, zwischen einer individualistischen Anthropologie und einer kollektivistischen Soziologie wählen zu müssen. Das echte Dritte, gefunden, wird auch hier den Weg weisen. Die fundamentale Tatsache der menschlichen Existenz ist weder der Einzelne als solcher noch die Gesamtheit als solche. Beide, für sich betrachtet, sind nur mächtige Abstraktionen. Der Einzelne ist Tatsache der Existenz, sofern er zu andern Einzelnen in lebendige Beziehung tritt; die Gesamtheit ist Tatsache der Existenz, sofern sie sich aus lebendigen Beziehungseinheiten aufbaut. Die fundamentale Tatsache der menschlichen Existenz ist der Mensch mit dem Menschen. Was die Menschenwelt eigentümlich kennzeichnet, ist vor allem andern dies, daß sich hier zwischen Wesen und Wesen etwas begibt, dessengleichen nirgends in der Natur zu finden ist. Die Sprache ist ihm nur Zeichen und Medium, alles geistige Werk ist durch es erweckt worden. Es macht den Menschen zum Menschen; aber auf dessen Wegen entfaltet es sich nicht bloß, es verkommt und verkümmert auch. Es wurzelt darin, daß ein Wesen ein anderes als anderes, als dieses bestimmte andere Wesen meint, um mit ihm in einer beiden gemeinsamen, aber über die Eigenbereiche beider hinausgreifenden Sphäre zu kommunizieren. Diese Sphäre, mit der Existenz des Menschen als Menschen gesetzt, aber begrifflich noch unerfaßt, nenne ich die Sphäre des Zwischen. Sie ist eine Urkategorie der menschlichen Wirklichkeit, wenn sie sich auch in sehr verschiedenen Graden realisiert. Von hier wird das echte Dritte ausgehen müssen.
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Die den Begriff des Zwischen begründende Anschauung ist zu gewinnen, indem man eine Beziehung zwischen menschlichen Personen nicht mehr, wie man gewohnt ist, entweder in den Innerlichkeiten der Einzelnen oder in einer sie umfassenden und bestimmenden Allgemeinwelt lokalisiert, sondern faktisch zwischen ihnen. Das Zwischen ist nicht eine Hilfskonstruktion, sondern wirklicher Ort und Träger zwischenmenschlichen Geschehens; es hat die spezifische Beachtung nicht gefunden, weil es zum Unterschied von Individualseele und Umwelt keine schlichte Kontinuität aufweist, sondern sich nach Maßgabe der menschlichen Begegnungen jeweils neu konstituiert; man hat daher naturgemäß, was ihm zukommt, an die kontinuierlichen Elemente, Seele und Welt angeschlossen. Ein wirkliches Gespräch (d. h. ein nicht vorher in seinen einzelnen Beiträgen verabredetes, sondern ein völlig spontanes, in dem jeder unvorhersehbare Erwiderung hervorruft), eine wirkliche Lehrstunde (d. h. weder eine betriebsmäßig wiederholte, noch aber eine, deren Ergebnisse der Lehrende schon vorweg weiß, sondern eine sich in gegenseitigen Überraschungen entwickelnde), eine wirkliche, nicht gewohnheitliche Umarmung, ein wirklicher, nicht gespielter Zweikampf, – das Wesentliche davon vollzieht sich nicht in dem einen und dem andern Teilnehmer, noch in einer beide und alle anderen Dinge umfassenden neutralen Welt, sondern im genauesten Sinn zwischen beiden, gleichsam in einer nur ihnen beiden zugänglichen Dimension. Etwas widerfährt mir – das ist ein Sachverhalt, der exakt auf Welt und Seele, auf einen »äußeren« Vorgang und einen »inneren« Eindruck, verteilt werden kann; aber wenn ich und ein anderer (um einen gewaltsamen, aber kaum umschreibbaren Ausdruck zu gebrauchen) einander widerfahren, geht die Rechnung nicht auf, ein Rest bleibt, irgendwo wo die Seelen aufhören und die Welt noch nicht begonnen hat, und dieser Rest ist das Wesentliche. Man kann diesen Tatbestand auch noch in kleinsten, momenthaften, kaum ins Bewußtsein tretenden Vorgängen ermitteln. Im tödlichen Gedränge des Luftschutzkellers treffen plötzlich die Blicke zweier Unbekannter sekundenlang aufeinander, in staunender, bezugloser Gegenseitigkeit; wenn die Entwarnungssirene ertönt, ist es schon vergessen, und doch wars geschehen, in einem Bereich, der nicht länger als jenen Augenblick bestand. Es kann sich begeben, daß im verdunkelten Opernsaal zwischen zwei einander fremden Hörern, die in der gleichen Reinheit und mit der gleichen Intensität einige Mozartsche Töne vernehmen, ein kaum spürbares und doch elementares dialogisches Verhältnis sich errichtet, das längst versunken ist, wenn die Lichter aufflammen. Man muß sich hüten, in das Verständnis solcher flüchtigen und doch konsistenten Ereignisse
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Gefühlsmotive hineinzutragen: was hier erscheint, ist psychologischen Begriffen nicht erreichbar, es ist etwas Ontisches. Von diesen geringsten, im Erscheinen schon entschwindenden Vorgängen bis zum Pathos der reinen, unaufhebbaren Tragik, wo zwei einander artmäßig entgegengesetzte Menschen, in eine gemeinsame Lebenssituation verstrickt, einander stumm und eindeutig einen unversöhnlichen Widerspruch des Daseins offenbaren, ist die dialogische Situation nur ontologisch zulänglich erfaßbar. Aber eben nicht von der Ontik der persönlichen Existenz aus, und auch nicht von der zweier persönlichen Existenzen aus, sondern von dem aus was, beide transzendierend, zwischen ihnen west. An den gewaltigsten Momenten der Dialogik, wo wahrhaft »Abgrund dem Abgrund ruft«, wird es unverkennbar deutlich, daß hier weder des Individuellen, noch des Sozialen, sondern eines Dritten Stab den Kreis um das Geschehen zieht. Jenseits des Subjektiven, diesseits des Objektiven, auf dem schmalen Grat, darauf Ich und Du sich begegnen, ist das Reich des Zwischen. Für die Lebensentscheidung der kommenden Geschlechter ist durch diese Wirklichkeit, deren Entdeckung in unserem Zeitalter begonnen hat, der Weg gewiesen, der über Individualismus und Kollektivismus hinausführt. Hier deutet sich das echte Dritte an, dessen Erkenntnis dazu helfen wird, dem menschlichen Geschlecht echte Person wiederzugewinnen und echte Gemeinschaft zu stiften. Für die philosophische Wissenschaft vom Menschen aber ist in dieser Wirklichkeit der Ausgangspunkt gegeben, von dem aus sie einerseits zu einem gewandelten Verständnis der Person, anderseits zu einem gewandelten Verständnis der Gemeinschaft fortzuschreiten vermag. Ihr zentraler Gegenstand ist weder das Individuum noch das Kollektiv, sondern der Mensch mit dem Menschen. Nur in der lebendigen Beziehung ist die Wesenheit des Menschen, die ihm eigentümliche, unmittelbar zu erkennen. Auch der Gorilla ist ein Individuum, auch der Termitenstaat ist ein Kollektiv, aber Ich und Du gibt es in unserer Welt nur, weil es den Menschen gibt, und zwar das Ich erst vom Verhältnis zum Du aus. Von der Betrachtung dieses Gegenstandes »der Mensch mit dem Menschen« muß die philosophische Wissenschaft vom Menschen ausgehen, die Anthropologie und Soziologie umfaßt. Betrachtest du den Einzelnen an sich, dann siehst du vom Menschen gleichsam nur so viel wie wir vom Mond sehen; erst der Mensch mit dem Menschen ist ein rundes Bild. Betrachtest du die Gesamtheit an sich, dann siehst du vom Menschen gleichsam nur so viel wie wir von der Milchstraße sehen; erst der Mensch mit dem Menschen ist umrissene Form. Betrachte den Mensch mit dem Menschen, und du siehst jeweils die dynamische Zweiheit, die das Menschen-
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wesen ist, zusammen: hier das Gebende und hier das Empfangende, hier die angreifende und hier die abwehrende Kraft, hier die Beschaffenheit des Nachforschens und hier die des Erwiderns, und immer beides in einem, einander ergänzend im wechselseitigen Einsatz, miteinander den Menschen darzeigend. Jetzt kannst du dich zum Einzelnen wenden und du erkennst ihn als den Menschen nach seiner Beziehungsmöglichkeit; du kannst dich zur Gesamtheit wenden und du erkennst sie als den Menschen nach seiner Beziehungsfülle. Wir mögen der Antwort auf die Frage, was der Mensch sei, näher kommen, wenn wir ihn als das Wesen verstehen lernen, in dessen Dialogik, in dessen gegenseitig präsentem Zuzweien-sein sich die Begegnung des Einen mit dem Anderen jeweils verwirklicht und erkennt.
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Es ist an der Zeit, das Philosophieren wieder aufs höchste ernst zu nehmen. Die herrschende Funktionalisierung des Wahrheitsbegriffs droht die Substanz des Menschengeistes zu zersetzen, der keinen Bestand mehr hat, wenn er den Glauben an die Wahrheit verliert. Diesem drohenden Verfall ist nur dadurch zu begegnen, dass die Frage nach der Wahrheit neu-ursprünglich gestellt wird. Dies darf aber nicht so verstanden werden, wie es in einem bedeutenden Versuch unserer Tage, dem von Martin Heidegger in seinen jüngsten Publikationen über das Wahrheitsproblem unternommenen, geschieht. Mit Recht postuliert Heidegger, dass wir nicht von der Wahrheit als einer »Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Gegenstande« auszugehen haben, sondern von ihr als inhärenter Eigenschaft des Seins, somit von dessen »Unverborgenheit«. Aber der Ertrag dieser Einsicht entgleitet uns wieder, wenn wir, wie Heidegger es tut, die Unverborgenheit schlechtweg auf den Menschen und sein Wesen beziehen, als schickte das Sein den Menschen hervor, um durch ihn zur zulänglichen Offenbarheit zu gelangen. Es kann nicht Auftrag noch Befugnis dieser Stunde der härtesten Probe sein, die Last des denkerischen Gewissens, die die kritische Selbsterkenntnis des Menschen uns aufgeladen hat, als eine uns letztlich ungemäße abzuwerfen. Der Weg des nachkartesianischen Denkens hat uns insbesondre über drei Stationen entdeckender Kritik geführt, über deren jeder das Verbot der Rückkehr unmissverständlich geschrieben stand: die Entdeckungen der Gebundenheit unserer Erkenntnis an die Geschichtlichkeit unseres Daseins (Vico), an die Formen unserer Anschauung (Kant) und an die soziologisch und psychologisch determinierte Seinsverschiedenheit der erkennenden Individuen (die moderne Gesellschafts- und Seelen-Analytik). Freilich hat der vielfältige theoretische und praktische Pragmatismus unserer Zeit die so gewonnenen kritischen Einsichten zu einer – biologisch oder gar krass-utilitarisch fundierten – Entwertung und Entwirklichung des Wahrheitsbegriffs verkehrt. Aber dieser erfolgreiche Missbrauch kann uns nicht veranlassen, den großen Weg der kritischen Entdeckungen als unmaßgeblich zu behandeln und uns zu unterfangen, mit einer vorkritischen und vorgeblich in sich unanfechtbaren Wahrheitskonzeption neu zu beginnen. Es ist unrettbar illusorisch, den dogmatisch verabsolutierten Bedingtheitsthesen eine axiomatische Unbedingtheitslehre entgegensetzen zu wollen. Das Licht der dem Sein inhärenten Wahrheit bricht sich im Menschengeist und wird in solcher Gebrochenheit, und
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eben in ihr, also spezifisch nicht-zulänglich, weltoffenbar. Der Mensch verleugnet diese ihm eigentümliche Realität, wenn er sich als »Lichtung« des Seins deklariert. Wie sein Geist nichts vom Urlicht ungebrochen durchlässt, so ist das hier gebrochene nirgendwo zusammenzuholen. Aber mit dieser prismatisch bunten Helligkeit ist eine andere, spezifische Wahrheit zugleich Möglichkeit und Aufgabe geworden, eine Menschenwahrheit. Es kann in dieser Stunde des Geistesschicksals nicht mehr darum gehen, für die Adäquatheit und gegen die Inadäquatheit des menschlichen Denkens zu votieren, so wenig wie umgekehrt, vielmehr die Relation beider und ihre gegenseitige Begrenzung zu bestimmen und auszutragen. Die künftige Zuständigkeit des philosophierenden Menschen hängt davon ab, dass er um die Bedingtheit und Unbedingtheit seines Denkens in einem wisse und in solcher Umfassung die personale Devotion des ungeteilten erkennenden Wesens an das Sein des Seienden vollziehe.
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Vorwort In den von meinem unvergeßlichen Freund Paul Desjardins begründeten und geleiteten Entretiens de Pontigny ist im Sommer 1935, gelegentlich einer Diskussion über die Askese das Problem des Bösen erörtert worden. Dieses Problem hatte mich seit meiner Jugend beschäftigt, aber erst in dem Jahr nach dem ersten Weltkrieg war es von mir selbständig erfaßt worden; ich hatte es seither mehrfach in meinen Schriften und Vorträgen behandelt, und das erste Kolleg meines Lehrauftrags für allgemeine Religionswissenschaft an der Universität Frankfurt am Main hatte es zum Gegenstand. Ich nahm daher intensiv an der Aussprache teil, und der lebhafte Gedankenaustausch, insbesondere mit Nikolai Berdjajew und Ernesto Buonaiuti, die nun auch schon dahingegangen sind, hat mich zu erneutem Nachdenken über das, wie Berdjajew sagte, »paradoxale« Problem veranlaßt. In den Entretiens des darauffolgenden Jahres, in einer nunmehr ausschließlich diesem Problem gewidmeten Dekade, habe ich meine Auffassung genauer dargelegt, wobei ich eine Vergleichung zweier historischer Anschauungen, der des alten Iran und der Israels, einbezog. Es ging mir vor allem darum, zu zeigen, daß Gut und Böse in ihrer anthropologischen 1 Wirklichkeit, das heißt, im faktischen Lebenszusammenhang der menschlichen Person, nicht, wie man zu meinen pflegt, zwei strukturell gleichartige, nur eben polar entgegengesetzte, sondern zwei strukturell durchaus verschiedene Beschaffenheiten sind. Impossible de le résoudre, hatte Berdjajew von dem Problem gesagt, ni même de le poser de manière rationnelle, parce qu’alors il disparaît. Und in unmittelbarem Anschluß an diese »Unmöglichkeit« hatte er die Frage aufgeworfen, wo der Kampf gegen das Böse anzusetzen habe. Zur Antwort auf jenes Bedenken versuchte ich nun in meinem Vortrag, statt einer »Lösung« des Problems des Bösen eine synthetische Beschreibung des geschehenden Bösen zu geben und damit zu helfen, es zu verstehen. Meine Antwort auf die Frage nach dem Ansatzpunkt des Kampfes konnte wesentlich knapper sein; sie lautete: Der Kampf muß in der eigenen Seele ansetzen – alles andere kann sich erst von da aus ergeben. Diese zweite Antwort habe ich ein paar Jahre danach, schon in Jerusalem, in der Form einer Erzählung oder richtiger Chronik ausgearbeitet, die ich nach dem sagenhaften Gog von Magog [Hesekiel 38,2], auf dessen Kriege, wie einige eschatologische Texte verkündigen, das Kommen des 1.
Das Wort »anthropologisch« gebrauche ich hier durchweg im Sinn der modernen philosophischen Anthropologie; vgl. meine Abhandlung »Das Problem des Menschen«.
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Messias folgen soll, »Gog und Magog« nannte. 1 Sie zentriert in den folgenden Worten eines Schülers zu seinem Meister: »›… Rabbi‹, sagte er mit fast versagender Stimme, ›was ist es mit diesem Gog? Es kann ihn doch da draußen nur geben, weil es ihn da drinnen gibt.‹ Er zeigte auf seine eigene Brust. ›Die Finsternis, aus der er geschöpft ist, braucht nirgendwo anders hergenommen zu werden als aus unserm trägen oder tückischen Herzen. Unser Verrat an Gott hat den Gog so groß gepäppelt‹«. Zum vollen Verständnis der Stelle muß man sich die Zeit vergegenwärtigen, in der ich die Erzählung niedergeschrieben habe. Die Ausarbeitung meiner Antwort auf Berdjajews Hinweis auf die »Unmöglichkeit der Lösung« konnte erst ein Jahrzehnt später erfolgen. Sie wird in diesem Buch gegeben. Es ist vor allem deshalb so langsam gereift, weil mir erst allmählich aufgegangen ist, daß den biblischen Hypothesen von Gut und Böse einerseits, den awestischen und nachawestischen anderseits zwei grundverschiedene Arten und Grade des Bösen entsprechen. Um deren, den anthropologischen transzendierenden, Sinn deutlich zu machen, habe ich ihrer Beschreibung eine Interpretation der beiden Gruppen von Mythen vorausgeschickt. Es handelt sich um Wahrheiten von einer Art, die, wie schon Platon wußte, der menschlichen Allgemeinheit nur in der mythischen Gestalt zureichend übermittelt werden kann. Die anthropologische Darstellung zeigt den Bereich auf, in dem sie sich immer wieder versinnlichen. Alles Begriffliche ist dabei nur Hilfsmittel, eine zweckdienliche Brücke zwischen Mythus und Wirklichkeit. Sie zu bauen, ist unerläßlich. Der Mensch weiß um Chaos und Schöpfung im kosmogonischen Mythus, und er erfährt unmittelbar, daß Chaos und Schöpfung sich in ihm begeben, er sieht aber jene und diese nicht beieinander; er lauscht dem Mythus von Luzifer und vertuscht ihn im eigenen Leben. Er bedarf der Brücke.
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Erst hebräisch niedergeschrieben, hernach auch deutsch. Hebräischer Erstdruck 1941; hebräische Buchausgabe 1943; deutsche Ausgabe 1949.
Erster Teil
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I Der Baum der Erkenntnis Dem biblischen Bericht von dem sogenannten Sündenfall mag ein uralter, von Götterneid und Götterrache erzählender Mythus zugrunde liegen, dessen Inhalt wir nur eben zu ahnen vermögen: die niedergeschriebene und uns erhaltene Geschichte hat ganz anderes zu sagen bekommen. Auf das Gotteswesen, das hier handelt, wird immer wieder [bis auf das Gespräch zwischen der Schlange und dem Weib] in einer dem biblischen Stil sonst fremden Weise mit einer Bezeichnung hingewiesen, die aus einem Eigennamen – anderswo [Exodus 3, 14 f.] als Erist-da gedeutet – und einem Gattungsbegriff in pluralischer Wortform – dem am ehesten unser »Gottheit« entspricht – zusammengesetzt ist. Dieser Gott hat sowohl allein die schaffende als auch allein die schicksalbestimmende Macht; andere Himmelswesen umgeben ihn, aber alle als ihm untertan, ohne Eigennamen und Eigenmacht. Dem Menschen freilich, dem letzten seiner Werke, erlegt er seinen Willen nicht auf; er zwingt ihn nicht, er befiehlt oder vielmehr verbietet ihm nur, obzwar unter einer schweren Drohung. Der Mensch – und mit ihm sein Weib, das erst nach der Kundgabe des Verbots erschaffen wurde, das dieses aber anscheinend auf eine besondere Art vernommen hatte, als sie noch als Rippe dem Leib des Mannes eingefügt war – kann den Gehorsam erfüllen oder versagen, denn er ist freigesetzt; sie beide sind frei, ihrem Schöpfer zu willfahren oder sich ihm zu weigern. Daß sie das Verbot übertreten, wird uns aber nicht als eine Entscheidung zwischen Gut und Böse, sondern als etwas anderes berichtet, auf dessen Anderheit wir zu achten haben. Schon in dem Gespräch mit der Schlange geht es wunderlich genug zu. Sie redet nicht bloß doppelsinnig, sondern auch, als wüßte sie sehr ungenau, was sie offenbar sehr genau weiß. »Ob wohl Gott sprach: Ihr sollt von allen Bäumen des Gartens nicht essen … !« sagt sie und bricht ab. Nun redet das Weib, aber auch es verschärft Gottes Verbot und fügt ihm Worte hinzu, die Gott nicht gesprochen hat: »… rühret nicht dran, sonst müßt ihr sterben.« Daß die Schlange bestreitet, dies würde dann geschehen, ist, wie sich hernach zeigt, so wahr wie unwahr: sie müssen nicht sterben, sowie sie gegessen haben; sie stürzen nur in die menschliche Sterblichkeit, das ist, in das Wissen, daß man sterben muß – die Schlange spielt mit Gottes Wort, wie Eva mit ihm gespielt hat. Und jetzt beginnt der Vorgang selber: das Weib betrachtet den Baum. Es sieht
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nicht bloß, daß er eine Wollust für die Augen ist, es sieht ihm auch an, was nicht zu sehen ist: wie gut seine Frucht schmeckt und daß sie zum Begreifen tauglich macht. Man erklärt dieses Sehen als einen metaphorischen Ausdruck für merken, aber wie wäre all dies dem Baume anzumerken? Es muß schon ein Schauen gemeint sein; aber es ist eine seltsame, eine traumhafte Art von Schau. Und so, in die Schau versunken, pflückt das Weib, ißt, reicht dem Mann, und nun ißt auch er, von dem uns bisher weder Wort noch Regung gemeldet worden war – traum-gelüstig scheint sie, aber geradezu traum-lässig scheint er zu nehmen und zu essen. Der ganze Vorgang ist aus Spiel und Traum gesponnen; Ironie, eine geheimnisvolle Ironie des Erzählers ist es, die ihn spinnt. Es ist offensichtlich: die zwei Täter wissen nicht, was sie tun, mehr noch: sie können nur tun, nicht wissen. Für das Pathos der zwei Prinzipien, wie wir es etwa aus der altiranischen Religion kennen, das Pathos der Wahl, die die Zwei selber und in ihrer Gefolgschaft die Menschen vollziehen, ist hier kein Raum. Und dennoch sind ja die beiden, Gut und Böse, schon hier zu finden, nur eben in einer wunderlichen, ironischen Gestalt, die die Erklärer nicht als solche verstanden und daher überhaupt nicht verstanden haben. Der Baum, von dessen ihnen verbotenen Früchten die ersten Menschen essen, heißt der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse; so nennt auch Gott ihn. Die Schlange verspricht, sie würden durch den Genuß wie Gott werden, Gut und Böse Erkennende; und Gott scheint dies zu bestätigen, wenn er hernach sagt, sie seien dadurch an Erkennen von Gut und Böse »wie unser einer« geworden. Das ist biblischer Wiederholungsstil, in immer neuen Zusammenhängen erscheinen die Gegensätze miteinander: es soll überdeutlich werden, daß es eben um sie geht. Aber nirgends wird angedeutet, was damit gemeint ist. Die Wörter können den sittlichen Gegensatz, sie können aber auch den von Heilsam und Schädlich, den von Wonnig und Widrig bezeichnen; unmittelbar nach der Rede der Schlange »sieht« das Weib, der Baum sei »gut zum Essen«, und unmittelbar auf das Verbot Gottes folgte sein Spruch, es sei »nicht gut«, daß der Mensch allein sei – ebenso unbestimmt ist das Adjektiv, das mit »böse« übersetzt wird. Im wesentlichen sind im Gang der Zeiten immer wieder drei Interpretationen aufgetaucht, uns zu erklären, was es sei, das die ersten Menschen durch den Genuß der Frucht erwarben. Die eine, auf die Erwerbung des geschlechtlichen Verlangens hinweisende, verbietet sich wie durch die Tatsache der Erschaffung von Mann und Weib als geschlechtsreifer Wesen, so durch den Begriff des mit der »Erkenntnis von Gut und Böse« verknüpften »Wie-Gott-Werdens«: dieser Gott ist übergeschlecht-
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lich. Der andern Deutung, der auf die Erwerbung des sittlichen Bewußtseins, steht das Wesen dieses Gottes nicht minder entgegen: man denke nur in dessen Munde die Deklaration, der Mensch, als der nunmehr das sittliche Bewußtsein erworben hat, dürfe nicht auch noch das äonische Leben gewinnen! Der dritten Auslegung nach wäre der Sinn dieser »Erkenntnis von Gut und Böse« nichts anderes als: Erkenntnis überhaupt, Kenntnis der Welt, Wissen um alle guten und schlimmen Dinge, die es gibt, denn das entspreche dem biblischen Sprachgebrauch, wo die Antithese von Gut und Böse zuweilen zur Bezeichnung von »irgend etwas, dies und jenes« verwendet werde. Aber auch diese, heute wohl beliebteste Interpretation ist unbegründet. Es gibt keine Stelle in der Schrift, wo die Antithese schlechtweg »irgend etwas« oder »dies und jenes« bedeutete; prüft man alle, die man so verstehen will, genau auf die Konkretheit der jeweiligen Situation und der jeweiligen Absicht der Sprecher hin, so ergibt sich, daß stets wirklich auf eine Bejahung oder Verneinung sowohl von Gut wie von Schlimm oder Übel oder Böse, sowohl von Günstig wie von Ungünstig hingedeutet wird. Bei dem »Sei es … sei es …«, das hier stets vorliegt, geht es nicht um die ganze Skala des Seienden, einschließlich all des Neutralen, sondern eben um die Gegensätze und die Unterscheidung zwischen ihnen, wenn auch das Wissen um sie mit dem Wissen um »alles in der Welt« zusammenhängt. So heißt es etwa, wie von dem Engel als dem himmlischen, so von dem König als dem irdischen Statthalter Gottes, er wisse alles [2. Samuel 14, 20], aber wo von ihm gesagt wird, er vernehme das Gute und das Böse [ebenda Vers 17], geht es genau um das Recht und das Unrecht, um das Schuldig und das Unschuldig, das die Richter, wie die himmlischen, über den Völkern amtenden [vgl. Psalm 82, 2 und 58, 2], so die irdischen, von ihrem göttlichen Auftraggeber vernehmen, um es in die Wirklichkeit einzusetzen. Dazu kommt aber, daß die Wortfolge »Gut und Böse« [ohne Artikel] – die außer in unserer Erzählung nur noch ein einziges Mal, in einer späten, von dieser abhängigen Stelle [Deuteronomium 1, 39], vorkommt – in der Paradiesgeschichte durch die Wiederholung und andere Stilmittel mit einer Emphatik ausgestattet ist, die uns nicht erlaubt, sie als Redefloskel zu verstehen. Es ist ja auch keineswegs so, daß die ersten Menschen »das Wissen überhaupt« erst dem Genuß der Frucht zu verdanken hätten: nicht vor einen Unwissenden bringt Gott die Tiere, daß er ihnen die ihnen zukommenden Namen gebe, sondern vor den Träger seines Atemhauchs, das Wesen, in dem er offenbar schon in der Schöpfungsstunde die Wissensfülle der Sprache angelegt hat und das nun mit ihr zu schalten weiß. »Erkenntnis von Gut und Böse« bedeutet nichts anderes als: Erkennt-
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nis der Gegensätze, die das frühe Schrifttum des Menschengeschlechts mit diesen beiden Begriffen bezeichnet. Es sind hier noch primitiv-umfassende Begriffe; sie umfassen noch ebenso Glück und Unheil oder Ordnung und Störung, die man erfährt, wie jene, die man selber stiftet. So ist es ja noch in den früh-awestischen Texten, und eben auch so in den der Schriftprophetie vorausgehenden biblischen, zu denen der unsere gehört. In der Terminologie des modernen Denkens können wir das Gemeinte umschreiben durch: zureichendes Bewußtsein der Gegensätzlichkeit alles innerweltlichen Seins, und das heißt vom biblischen Schöpfungsglauben aus: zureichendes Bewußtsein der in der Schöpfung latenten Gegensätzlichkeit. Ein volles Verständnis ist jedoch nur zu gewinnen, wenn wir der Grundkonzeption aller alttestamentlichen Theo- und Anthropologie, nämlich der ungeachtet der Urtatsache der Ebenbildlichkeit und der jeweiligen Tatsache der »Nähe« [Psalm 73, 28] unwandelbar bestehenden Differenz und Distanz zwischen Gott und Mensch, auch für die Erkenntnis von Gut und Böse unverkürzt eingedenk bleiben. Diese Erkenntnis als göttlicher Urbesitz und eben sie als magische Erlangung des Menschen sind himmelweit, abgrundweit voneinander verschieden. Gott kennt die Gegensätze des Seins, die seinem Schöpfungsakt entstammen, er umfängt sie, von ihnen unberührt, er ist, wie ihnen unbedingt überlegen, so mit ihnen unbedingt vertraut, er geht mit ihnen unmittelbar um [das ist offenbar die ursprüngliche Bedeutung des hebräischen Verbs »erkennen«: in unmittelbarem Kontakt stehen], und zwar eben als mit den gegensätzlichen Polen des Weltseins. Denn als solche hat er sie – diese späte biblische Lehre [Jesaia 45, 7] dürfen wir in ihrem elementaren Bestand unserem Erzähler wohl zueignen – erschaffen. So geht Gott, der aller Gegensätzlichkeit Überlegene, mit den von ihm gesetzten Gegensätzen von Gut und Böse um; und etwas von dieser seiner Urvertrautheit mit ihnen scheint er, wie aus den Worten »unser einer« [Genesis 3, 22] zu entnehmen ist, den »Gottessöhnen« [6, 2] kraft ihres Anteils am Schöpfungswerk [1, 26] zugeteilt zu haben. Wesensverschiedener Art ist die vom Menschen durch das Essen der Wunderfrucht erworbene »Erkenntnis«. Ein überlegen-vertrautes Umfangen der Gegensätze ist dem trotz seiner Ebenbildlichkeit nur am Geschöpftum, nicht an der Schöpfung Beteiligten, dem nur zu zeugen und zu gebären, nicht zu schaffen Befähigten versagt. Gut und Böse, die Ja-Lage und die Nein-Lage des Daseins, treten in sein lebendiges Wissen ein; aber nie können sie ihm miteinander gegenwärtig werden. Er erkennt die Gegensätzlichkeit nur, indem er sich in ihr findet; und das heißt de facto [da dem Menschen erfahrungsgemäß und sinngemäß in der Nein-Lage das Ja, aber nicht in
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der Ja-Lage das Nein gegenwärtig werden kann]: er erkennt sie unmittelbar jeweils von jenem »Bösen« aus, wenn er sich darin befindet; genauer: er erkennt sie, indem er einen Zustand, darin er sich jeweils befindet, wenn er sich gegen den Anspruch Gottes vergangen hat, als das Böse und den ebendadurch verlorenen, ihm gegenwärtig unzugänglichen als das Gute erkennt. Es ist nun aber so, daß hier der Vorgang in der Seele des Menschen zum Vorgang in der Welt wird: durch das Erkennen der Gegensätzlichkeit bricht die in der Schöpfung immer schon latent vorhandene Gegensätzlichkeit in die aktuelle Wirklichkeit aus: sie wird existent. Ebenso »erkennen« die ersten Menschen, sowie sie von der Frucht gegessen haben: daß sie nackt sind. »Da klärten sich ihnen beiden die Augen«: sie sehen sich, wie sie sind, aber sie sind es erst jetzt, da sie sich so sehen, nicht mehr bloß kleiderlos, sondern »nackt«. Dieses Erkennen, das einzige uns berichtete Ergebnis des magischen Genusses, läßt sich von der Geschlechtlichkeit aus, ohne die es freilich undenkbar ist, nicht zulänglich verstehen. Gewiß, sie hatten sich nicht voreinander geschämt, und nun schämen sie sich, nicht bloß voreinander, sondern auch miteinander vor Gott [3, 10], weil sie, von der Erkenntnis der Gegensätzlichkeit überwältigt, den natürlichen Zustand der Kleiderlosigkeit, in dem sie sich finden, als ein Böses oder ein Übel oder vielmehr beides zugleich empfinden und ihn eben hierdurch dazu machen, ihm entgegen aber das »Gute« der Bekleidung konzipieren, wollen und herstellen. Man schämt sich, daß man ist, wie man ist, weil man nun dieses Sosein in seiner Gegensätzlichkeit zu einem gemeinten, gesollten Sein »erkennt«; aber nun ist es wirklich etwas zum Sichschämen geworden. An sich haben selbstverständlich weder Bekleidet- noch Unbekleidetsein, auch nicht das von Mann und Weib voreinander, irgend etwas mit Gut und Böse zu tun; nur die menschliche »Erkenntnis« der Gegensätzlichkeit bringt das Faktum ihrer Bezogenheit auf Gut und Böse zustande. In dieser kläglichen Wirkung der großen Magie des Wie-Gott-Werdens wird die Ironie des Erzählers augenscheinlich: als eine, die einem großen Leiden am Menschen entsproß. Bestätigt denn nicht aber Gott selbst, die Verheißung der Schlange habe sich erfüllt? Er tut es; aber auch dieses Äußerste, dieser Spruch »Der Mensch ist an Erkennen von Gut und Böse wie unser einer geworden«, ist noch in die ironische Dialektik des Ganzen getaucht, die, hier zeigt es sich am stärksten, nicht von einer frei gefaßten Absicht des Erzählers herrührt, sondern ihm von dem Thema – das genau seinem Leiden am Menschen entspricht – in diesem Stadium von dessen Entwicklung auferlegt worden ist. Weil der Mensch nunmehr zu denen gehört, die Gut
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und Böse erkennen, will Gott verhüten, daß er auch vom Baum des Lebens esse und »in Weltzeit lebe«. Das Motiv mag der Erzähler dem alten Mythus von Götterneid und Götterrache entnommen haben: dann hat es in dieser Rezeption einen von seinem ursprünglichen grundverschiedenen Sinn erhalten. Eine Befürchtung, der Mensch vermöchte es nun mit den Himmelswesen aufzunehmen, kann hier nicht mehr geäußert sein: wir haben ja eben gesehen, eine wie irdische Bewandtnis es mit dieser »Erkenntnis von Gut und Böse« des Menschen hat. Das »wie unser einer« kann hier nur noch in der ironischen Dialektik geäußert sein. Aber nun ist es die Ironie eines »göttlichen Mitleidens«. 1 Gott, der dem Staubgebild seinen Atem eingehaucht, es in den Vierströmegarten gesetzt und ihm die Gefährtin geschenkt hatte, wollte, daß es sich weiter von ihm anleiten lasse; er wollte es vor der latenten Gegensätzlichkeit des Daseins behüten. Der Mensch aber hat sich – in eine Dämonie verfangen, die der Erzähler uns mit seinem Gespinst aus Spiel und Traum verbildlicht – dem Willen Gottes und seiner Hut in einem entzogen und hat, zwar ohne recht zu wissen, was er tut, doch mit dieser seiner im Wissen unrealisierten Tat die latente Gegensätzlichkeit am gefährlichsten Punkt, dem der größten Gottnähe der Welt, zum Ausbruch gebracht. Fortan haftet ihm die Gegensätzlichkeit, zwar nicht als Sündigenmüssen – davon, von einer »Erbsünde« also, ist hier nicht die Rede –, wohl aber als die immerwiederkehrende Reduktion zur Nein-Lage und deren heillose Perspektivik an; immer wieder wird er sich »nackt« finden und nach Feigenblättern Ausschau halten, sich draus einen Gurt zu flechten. Diese Situation müßte zur erfüllten Dämonie werden, wenn ihr nicht ein Ende gesetzt wäre. Daß das leichtherzige Geschöpf nicht, wieder ohne zu wissen, was es tut, auch nach der Frucht des andern Baumes lange und sich äonische Pein eresse, wehrt Gott ihm die Rückkehr in den Garten, aus dem er es strafend verschickt hat. Für den Menschen als »lebende Seele« [2, 7] ist der gewußte Tod die drohende Grenze; für ihn als das in der Gegensätzlichkeit umgetriebene Wesen kann er zum Hafen werden, um den zu wissen heilsam ist. Dieser strengen Wohltat geht der ahndende Spruch voraus. Er sagt keine radikale Änderung des Bestehenden an; es wird nur alles in die Atmosphäre der Gegensätzlichkeit gerückt. Das Weib soll beim Gebären, für das es schon von seiner Erschaffung her zubereitet ist, Schmerzen wie keine andere Kreatur erfahren, denn für das Menschsein ist nunmehr Zahlung zu leisten; und das Verlangen, mit dem Mann wieder zu Einem 1.
So Procksch in seinem Genesis-Kommentar, dem einzigen, soweit ich sehe, der hier richtig interpretiert.
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Leib zu werden [vgl. 2, 24], soll es von ihm abhängig machen. Für den Mann soll sich die Arbeit, die ihm schon vor der Einsetzung in den Garten her zugedacht war [2, 15], zur Mühsal wandeln. Aber der Fluch birgt einen Segen. Der Mensch wird aus dem Sitz, der ihm gerichtet war, auf einen Weg, seinen, den Menschenweg, geschickt. Daß es der Weg in die Geschichte der Welt ist, daß die Welt erst durch ihn eine Geschichte – und ein Geschichtsziel – hat, ist dem Erzähler wohl, auf seine Weise, zu Gefühl gekommen.
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Auf die Erzählung vom Baum der Erkenntnis folgt in der Schrift die vom Brudermord, verschieden von jener in Führung und Stil, ohne Ironie und ohne Verweilen, ein knapper und spröder Bericht, der archaische Elemente in sich bewahrt hat, aber in seiner gegenwärtigen Sprachfassung unverkennbar mit jener verknüpft ist. Er und nicht jene ist die Geschichte der ersten »Missetat« [4, 13] im allgemein menschlichen Sinn, einer also, die von je in allen uns bekannten Gesellschaften, wenn sie, wie hier, innerhalb der Sippe geschah, als solche geahndet wird. Jene weiß von einer Handlung zu sagen, die nicht an sich, nur eben als Ungehorsam strafwürdig ist, dieser von einem wesensmäßigen Frevel. Wie immer der Bericht in seiner ursprünglichen und selbständigen Gestalt beschaffen und intendiert gewesen sein mag, erst die Verbindung mit der Erzählung vom Essen der verbotenen Frucht hat aus ihm einen großen Sinn hervorgeholt: so, wird uns nun gesagt, wirkt sich die vollzogene menschliche »Erkenntnis von Gut und Böse« in den nachfolgenden Geschlechtern aus – nicht zwar als »Erbsünde«, aber als die nur im Verhältnis zu Gott mögliche spezifische Sünde, die die allgemeine, die am Mitlebenden und damit freilich auch wieder an Gott als dessen Hüter [2. Samuel 12, 13], erst ermöglicht. Die Tat der ersten Menschen gehört der Sphäre des Vorbösen an, die Tat Kains der des Bösen, die als solche erst durch den Akt der Erkenntnis entstanden ist. Wir Spätgeborenen, um das Erkennen jener Erkenntnis und zugleich um ihre Überwindung Bestrebten, müssen uns an die auf Grund der Verbindung beider Erzählungen bestehende Perspektive halten. Das erste, was wir vom Los des aus dem Paradies vertriebenen Paars erfahren, ist, daß der Mensch sein Weib »erkannte« [4, 1]. Mit diesem Wort bezeichnen die urgeschichtlichen Genealogien nur Geschlechtsakte Adams und Kains [Vers 17 und 25]; es darf angenommen werden, daß die Bezeichnung uns in der Atmosphäre jenes ersten »Erkennens« erhalten soll; nicht als ob dem Geschlechtsakt als solchem etwas von jener aufgerissenen Polarität anhaftete, sondern er geschieht eben nun zwischen Erkannthabenden, und so geht aus jenem etwas in das Einandererkennen ein. Zu Unrecht wird der Erzählung vom »Sündenfall« von alten und neuen Exegeten eine Unterscheidung zwischen einer ungeheiligten, gottwidrigen Paarung – worin angeblich die Sünde der ersten Menschen eigentlich bestanden hätte – und einer geheiligten, gottgenehmen zugeschrieben; zu Distinktionen solcher Art besteht hier keinerlei Grundlage,
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und ebensowenig ist anzunehmen, daß der eheliche Umgang zwischen Adam und Eva erst nach der Vertreibung beginne. Aber auf die biblische, nicht aussagende, sondern nur durch den Wortgebrauch aussprechende Weise wird hier angedeutet, daß ihre nachparadiesische Intimität nicht mehr die gleiche wie die paradiesische war, daß sie erkenntnishaft, und das heißt, der Gegensätzlichkeit alles innerweltlichen Daseins durch deren Bewußtsein ausgesetzt geworden war. Aus eben dieser ersten nachparadiesischen Paarung geht nun der erste Menschensohn hervor, und das ist der erste Mensch, der im genauen Menschensinn schuldhaft wird. Eben bei seiner Geburt aber läßt die Schrift [4, 1] die Kindesmutter, zur Begründung des Namens, den sie ihm gibt, einen Spruch sprechen, sonderbar und allen andern biblischen Muttersprüchen unähnlich. Sie sagt, sie habe mit Jhwh ein Männliches »hervorgebracht«; denn das bedeutet ursprünglich das Verb, wie sich sowohl aus andern Bibelstellen wie besonders aus der der hebräischen verwandten Sprache der nordsyrischen Epik ergibt, wo die Mutter der Götter mit demselben Wort, als deren »Hervorbringerin«, genannt wird, das die »Mutter alles Lebendigen« [3, 20] hier gebraucht. Das hängt offenbar mit der Vorstellung zusammen, daß der Vorgang der ersten Geburt erst durch eine besondere göttliche Einwirkung, wohl in der Zeit der einsetzenden Wehen, ermöglicht werde, weshalb auch alle Erstgeburt von Mensch und Tier, als die »Sprengung des Mutterschoßes« [Exodus 13, 2. 12. 15; 34, 19; Numeri 3, 12; 18, 15], Gott gehört. Aber nur hier wird unmittelbar darauf hingedeutet, daß er selber ein Erstgeborenes zur Welt befördere, und dieses Erstgeborene ist eben der erste Mörder. Der erst in später Zeit begrifflich formulierte Glaube, daß Gott den Menschen als ein urfreies Wesen in die Welt setze, hat hier seinen seltsamsten und furchtbarsten Ausdruck gefunden. Kain und sein Bruder stehen einander nun in einer Opferhandlung gegenüber. Kain, der Bauer, bringt Bodenfrüchte dar; ihm folgt der Hirt mit Erstlingsschafen. Gott achtet auf diese und nicht auf jene Gabe. Weil er dem Viehzüchter günstiger gesinnt ist als dem Mann der Scholle? Nichts erlaubt das anzunehmen. Auch daß der Ackerboden verwünscht worden war, kann hier kaum bestimmend sein; der Verfasser hat zweifellos die schon früh auftretende tägliche Gabe der »Brote des Angesichts« [1. Samuel 21, 7] gekannt. Eher noch mag in Betracht kommen, daß wir mehrfach in semitischen Religionen eine Ablösung der in Entscheidungsstunden dem Sippen- oder Stammeshaupt eigentlich obliegenden Selbstdarbringung durch ein Tieropfer, nie durch ein Pflanzenopfer, finden. Aber auch dies kann hier nicht als das zentrale Motiv angesehen werden, da nichts darauf hinweist. Vielmehr ist offenbar zunächst ge-
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meint, Gott sehe, daß Kain es nicht »gut meint« [Genesis 4, 7]. Weit gewichtiger jedoch ist etwas anderes. Was hier vorliegt, scheint mir ein Beispiel jener unheimlichen Begebenheit zu sein, die die Schrift selber als göttliche Versuchung versteht. Genannt wird so erst die dritte in der Reihe dieser Gotteshandlungen, radikaler und positiver als die beiden vorhergehenden und im Gegensatz zu ihnen auch im Ergebnis radikal-positiv, aber noch unheimlicher als sie: das an Abraham ergehende Geheiß des Sohnesopfers [22, 1]; aber auch die Ansiedlung am verbotenen Baum ist solch eine Versuchung, nur eben eine, die nicht bestanden wird, und eine ebensolche ist das Nichtachten auf Kains Gabe. Mit dem zornentflammten Mann, dessen Antlitz »gefallen« oder »verfallen« ist, tritt Gott nun ins Gespräch, wie mit den ersten Menschen nach ihrer Sünde; solche Gespräche sind ja die großen Atemzüge der biblischen Erzählung. Was er Kain sagt, besteht aus einer einleitenden Frage und einem Spruch, der anscheinend – wenn man ihn nicht mit manchen Kommentatoren als korrupt ansehen will – zum größeren Teil [10 Wörter von 15] aus früher Überlieferung stammt und archaischen Charakter trägt, wogegen der abschließende Restteil offenbar dazu bestimmt ist, die Verbindung mit der Paradieserzählung hervorzuheben. Man kann die ganze Gottesrede nur vermutungsweise übersetzen, am ehesten so: »Warum entflammt es dich? warum ist dein Antlitz gefallen? Ist’s nicht so: meinst du Gutes, trag’s hoch, meinst du nicht Gutes aber – vorm Einlaß Sünde, ein Lagerer, nach dir seine Sucht, du aber walte ihm ob.« Hier erst steht das Wort, das in der Erzählung vom »Sündenfall« fehlt, das Wort »Sünde«, und hier ist es anscheinend der Name eines Dämons, der, seinem Wesen nach ein »Lagerer«, jeweils am Eingang zu einer Seele, die das Gute nicht meint, kauert und lauert, ob sie ihm zu eigen werde, sie, in deren Macht es immer noch steht, ihn zu übermächtigen. Darf man den Spruch so verstehen, so ist er innerhalb des frühen epischen Schrifttums der Welt der eigentlichste Ruf eines Gotteswesens an den Menschen, sich für das »Gute« zu entscheiden, das heißt, die Richtung auf das Göttliche anzunehmen. Es ist aber zum Verständnis grundwichtig, die beiden Stufen oder Schichten, von denen hier die Rede ist, genau zu unterscheiden. Wir befinden uns zunächst gleichsam im Vorhof der Seele. Hier gibt es in aller Klarheit einen statischen Gegensatz, der an den awestischen von »gutem Sinn« und »schlimmem Sinn« erinnert: es wird zwischen einem Stande der Seele unterschieden, in dem sie das Gute meint, und einem, in dem sie es nicht meint, also nicht eigentlich zwischen einer guten und einer unguten »Gesinnung« sondern zwischen einer guten Gesinnung und ihrem Fehlen. Erst wenn wir uns mit diesem zweiten Stand, mit dem Mangel an der Richtung auf Gott zu, befassen, dringen wir zum innern
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Seelengemach vor, an dessen Eingang wir dem Dämon begegnen. Hier erst haben wir es mit der echten Dynamik der Seele zu tun, wie sie sich durch die »Erkenntnis von Gut und Böse«, als durch die Selbstaussetzung des Menschen an die Gegensätzlichkeit des innerweltlichen Daseins, nun aber in ihrer sittlichen Ausprägung, gegeben ist. Von der ganz allgemeinen Gegensätzlichkeit, die wie Gut und Übel, so Gut und Schlecht, und so Gut und Böse umfaßt, sind wir in den eingeschränkten, dem Menschen eigentümlichen Bezirk gelangt, in dem nur noch Gut und Böse einander gegenüberstehen. Er ist dem Menschen eigentümlich – so dürfen wir Spätgeborenen es formulieren –, weil er nur introspektiv wahrgenommen, nur im Verhalten der Seele zu sich selbst erkannt werden kann: was »böse« heißt, weiß ein Mensch faktisch nur, insofern er von sich selber weiß, alles andere, was er so nennt, ist nur Spiegeltrug; Selbstwahrnehmung und Selbstverhältnis aber sind das ausgespart Menschliche, der Einbruch in die Natur, das Innenlos des Menschen. Hier also erst auch ist das Dämonische, das nach einem süchtig ist, wie ein Weib nach einem Manne – um diese Assoziation im Leser zu erwecken, ist ein Spruch Gottes an Eva dem an Kain einverleibt –, unmittelbar kennenzulernen, erst von hier aus wird es uns auch in der Welt zugänglich und deutbar. Hier, an der innern Schwelle, ist denn freilich auch kein Raum für Gesinnung mehr; der Kampf muß nun ausgekämpft werden. Zum Unterschied von den ersten Menschen antwortet Kain nicht auf Gottes Anrede; er weigert sich, ihm Rede und Antwort zu stehen. Er weigert sich, dem Dämon an der Schwelle entgegenzutreten; damit liefert er sich dessen »Sucht« aus. Die Vertiefung und Bestätigung der Entscheidungslosigkeit ist die Entscheidung zum Bösen. So mordet Kain. Er redet zum Bruder daher, wir erfahren nicht was, er geht mit ihm aufs Feld, er erschlägt ihn. Warum? Kein Motiv reicht zu, auch nicht das der Eifersucht, um das Ungeheure zu erklären. Man muß bedenken, daß es der erste Mord ist: Kain weiß noch nicht, daß es das gibt, er weiß nicht, daß man morden kann, daß man, wenn man auf einen heftig genug losschlägt, ihn erschlägt. Er weiß noch nicht, was Tod und Tötung ist. Nicht ein Motiv entscheidet, sondern ein Anlaß. Im Wirbelsturm der Entscheidungslosigkeit schlägt Kain los, am Punkt der stärksten Anreizung und des geringsten Widerstandes. Er mordet nicht, er hat gemordet. Wenn Gottes Fluch – wieder in Worten, die auf die Verfluchung der ersten Menschen zurückgreifen und über sie hinausführen – ihn vom Ackerboden in die offene Welt hinausschickt, um »schwank und schweifend auf Erden zu sein«, teilt er ihm ein Schicksal zu, in dem sich das leibhaft darstellt, was in seiner Seele geschah.
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III. Einbildung und Trieb
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Die biblische Erzählung von der Sintflut ist von zwei Sätzen gleicher Sprache, aber verschiedenen Gehalts umrahmt, die in der Bezogenheit aufeinander verstanden werden wollen. Der eine [Genesis 6, 5] läßt Gott sehen, »daß der Bosheit des Menschen viel ist auf Erden und alles Gebild der Entwürfe seines Herzens nur böse all den Tag«, und es ist ihm leid, daß er den Menschen gemacht hat. Im zweiten [8, 21] redet Gott selber: er wolle nicht wieder die Erde des Menschen wegen verwünschen, »denn das Gebild des Herzens des Menschen ist böse von Jugend an«. »Und Jhwh sah«: hier bezieht sich der Erzähler offenkundig auf jenes siebenfache »Und Gott sah« der Schöpfungsgeschichte. Sechsmal sieht Gott, »daß es gut ist«; das siebente Mal aber, nach der Erschaffung des Menschen, sieht er alles, was er gemacht hatte, an und sieht, »daß es sehr gut ist«. Wie ist seither das Sehrgute der ersten Menschen zum Nur-bösen des Menschengeschlechtes geworden? Es ist ja aber nicht der Mensch, der als böse gesehen wird. Die »Bosheit« meint nicht eine Verderbnis der Seele, der dem Menschen eingehauchten lebendigen, sondern eine des »Weges« [6, 12], die die Erde mit »Gewalttat« füllt [Vers 11] – und dazu tritt nicht die böse Seele, wohl aber das böse »Gebild«. Die Bosheit der Handlungen wird von seiner, des Gebildes, Bosheit abgeleitet. Das »Gebild« oder die Bilderei entspricht in einer Begriffswelt, die einfacher, aber mächtiger als die unsere ist, unserer »Einbildung« – nicht der Einbildungskraft, sondern deren Werk. Das Menschenherz entwirft Entwürfe, in Bildern des Möglichen, das zu Wirklichem gemacht werden könnte. Die Bilderei, »die Malereien des Herzens« [Psalm 73, 7], ist das Spiel mit der Möglichkeit, das Spiel als Selbstversuchung, der je und je, sprunghaft, die Gewalttat entspringt. Auch sie geht, wie die Tat der ersten Menschen, nicht aus einer Entscheidung hervor; aber an die Stelle der wirklichen, der wahrgenommenen Frucht ist eine mögliche, ersonnene, erdichtete gekommen, die man nur eben doch zu einer wirklichen machen kann, machen könnte – macht. Diese Möglichkeitsbilderei, und in diesem ihrem Wesen, wird böse genannt. Das Gute wird nicht ersonnen; jene ist böse, weil sie von der Wirklichkeit, der von Gott gegebenen, ablenkt. Die Veränderung gegen die Verfassung der ersten Menschen stammt aus der Erkenntnis von Gut und Böse; nicht aus dem Ungehorsam als
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solchem, sondern aus seinen unmittelbaren Folgen. Der Mensch ist darin »wie Gott« geworden, daß er nun, wie er, die Gegensätzlichkeit »erkennt«; aber er kann ihr nicht, wie Gott, überlegen sein, er geht in sie ein, er geht in ihr auf. So wird er aus der ihm angewiesenen Gotteswirklichkeit, aus der »guten« Tatsächlichkeit der Schöpfung in das schrankenlos Mögliche gejagt, das er mit seiner Bilderei füllt, die »böse« ist, weil sie fiktiv ist: auch noch im Exil wiederholt sich, immerzu, von dem Menschen selber bewerkstelligt, seine Vertreibung aus der Gotteswirklichkeit. Im wirbelnden Bilderraum, durch den er schweift, reizt alljedes ihn an, von ihm verleiblicht zu werden; wonach er, entscheidungslos, nur eben um die Spannung der Allmöglichkeit zu überkommen, wie ein leichtfertiger Einbrecher greift, wird Wirklichkeit, aber nicht mehr Gottes, sondern seine eigene, seine willkürgemachte, schickungslose Wirklichkeit, seine Gewalttat, die ihn überwältigt, sein Gemächt und Verhängnis. Daß der Mensch, der Erkenntnis von Gut und Böse preisgegeben, ohne ihrer Gegensätzlichkeit überlegen werden zu können – es gibt keine andere Überlegenheit als die des Schöpfers –, die in der Schöpfung bezwungene Chaotik des Möglichen, willkürhaft je und je sich verleiblichend, über die geschaffene Welt bringt, das ist es, was es Gott leid sein läßt, daß er den Menschen gemacht hat; »auswischen« will er ihn »vom Antlitz des Erdbodens« und mit ihm alles Lebendige, das von dem Gewalttäter in seine Verderbnis gezogen wird – leid ist es ihm, daß er sie alle gemacht hat [6, 7]. In ebenderselben Sprache aber, unter stärkstem sprachlichem Rückbezug auf das so Berichtete, begründet Gott nach dem Vernichtungswerk seine Vergebung, seinen Entschluß, das Lebendige, das er gemacht hatte, nicht mehr zu schlagen, eben damit, daß »das Gebild des Menschenherzens böse von seiner Jugend an« sei. Nicht mehr »alles Gebild«, nicht mehr »nur böse«, und seltsam neu hinzutretend »von seiner Jugend an«. Es ist gar nicht anders zu verstehen, als daß Gott einräumt: die Einbildung ist nicht ganz böse, sie ist böse und gut, denn mitten in ihr und aus ihr kann, wie sie es vor der Erkenntnis von Gut und Böse noch nicht konnte, die Entscheidung, die wollende Richtung des Herzens auf ihn erwachen, des Möglichkeitswirbels Herr werden und die in der Schöpfung gemeinte Menschengestalt verwirklichen. Denn das Schweifen und die Willkür sind dem Menschen nicht eingeboren, er ist nicht erbsündhaft, er fängt trotz all der Last der gewesenen Geschlechter immer von neuem als Person an, und erst der Jugendsturm der Phantasie überschüttet ihn mit der Unendlichkeit des Möglichen – äußerste Gefahr und die höchste Chance. Hier hat nach vielen Jahrhunderten die talmudische Lehre von den beiden Trieben eingesetzt. Sie fand das Wort jēzer, das ich mit »Gebild«
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wiedergegeben habe, bereits in gewandelter Bedeutung vor: schon bei Jesus Sirach ist damit der eigene Antrieb gemeint, in dessen Hand der erschaffene Mensch von Gott gegeben worden sei, aber mit der Freiheit, Gebot und Treue zu halten, um den göttlichen Willen zu tun. Talmudisch ist der Begriff, unter dem Einfluß der zunehmenden Reflexion, teils in einen »guten« und einen »bösen« Trieb zerspalten, teils wird er ohne Attribut zur Bezeichnung des zweiten, als des elementaren, verwendet. Zwei Triebe sind in der Schöpfung des Menschen gegeneinander gesetzt. Der Schöpfer hat sie dem Menschen als dessen zwei Diener mitgegeben, die ihren Dienst aber nur im echten Zusammenwirken vollziehen können. Der »böse Trieb« ist nicht weniger notwendig als sein Geselle, ja notwendiger noch als er, denn ohne ihn würde der Mensch kein Weib freien und keine Kinder zeugen, kein Haus bauen und keinen Wirtschaftsverkehr pflegen, ist doch auch »alle Arbeitsmüh und alle Werktüchtigkeit das Wetteifern eines Menschen mit seinem Gefährten« [Prediger 4, 4]. Darum wird dieser Trieb »die Hefe im Teig« genannt, als der von Gott in die Seele gelegte Gärstoff, ohne den der Menschenteig nicht aufgeht. So hängt denn der Rang eines Menschen notwendigerweise mit der Menge der »Hefe« in ihm zusammen; »wer größer als ein anderer ist, dessen Trieb ist größer als der des andern«. Seinen stärksten Ausdruck findet der Hochwert des »bösen Triebs« in einer Deutung jenes Schriftverses [Genesis 1, 31], der Gott am Abend des Tags, an dem er den Menschen erschaffen hatte, alles von ihm Gemachte ansehn und es »sehr gut« finden läßt; dieses »sehr gut« gehe auf den bösen Trieb, wogegen dem guten nur das Prädikat »gut« zukomme; unter beiden ist eben der böse der grundlegende. Daß er aber der böse heißt, kommt daher, daß der Mensch ihn böse gemacht hat. So dürfte Kain zwar [wie im Midrasch gesagt wird] dem ihn zur Rechenschaft ziehenden Gott entgegnen, er, Gott, selber sei es, der ihm den bösen Trieb eingepflanzt habe; aber die Antwort wäre doch unwahr, denn erst durch ihn, den Menschen, ist er böse geworden. Er ist es geworden und wird es je und je, weil der Mensch ihn von dem Gesellen trennt und in solcher Verselbständigung eben den, der ihm zu dienen bestimmt war, zu seinem Götzen macht. Die Aufgabe des Menschen ist daher nicht, den bösen Trieb in sich zu vertilgen, sondern ihn wieder mit dem guten zu vereinen. David, der ihm nicht standzuhalten wagte und ihn daher in sich »erschlug« – wie es in einem seiner Psalmen [109, 22] heißt: »Durchbohrt ist mein Herz mir im Innern« –, hat sie nicht erfüllt, wohl aber Abraham, dessen ganzes Herz vor Gott treu befunden wurde, der nun den Bund mit ihm schloß [Nehemia
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9, 8] 1 . Es ist dem Menschen geboten [Deuteronomium 6, 5]: »Liebe Jhwh deinen Gott mit deinem ganzen Herzen«, und das bedeutet: mit deinen beiden geeinten Trieben. Man muß den bösen Trieb mit hereinnehmen in die Liebe zu Gott, so und nur so wird sie vollkommen, und so und nur so wird er wieder, wie er geschaffen war: »sehr gut«. Damit man aber zu diesem Ziel gelange, muß man damit beginnen, beide Triebe im Dienste Gottes zusammenzuspannen. Wie wenn ein Bauer zwei Rinder besitzt, eins, das schon gepflügt hat, und eins, das noch nicht gepflügt hat, und nun soll ein neues Feld urbar gemacht werden: da bringt er die beiden gemeinsam unters Joch. Wie aber ist der böse Trieb zu bewältigen, daß er solches mit sich geschehen lasse? Nun denn, er ist ja nichts andres als ein rohes Erz, das man ins Feuer tun muß, um es formen zu können; so tauche man ihn ganz und gar in das große Feuer der Thora. Und auch das vermag der Mensch nicht aus eigener Kraft; wir müssen beten, daß Gott uns helfe, seinen Willen mit dem ganzen Herzen zu tun. Darum bittet der Psalmist [86, 11]: »Eine mein Herz, deinen Namen zu fürchten«; ist doch die Furcht das Tor zur Liebe. Diese bedeutsame Lehre kann nicht verstanden werden, solange man Gut und Böse, wie üblich, als zwei einander polar entgegengesetzte Mächte oder Richtungen auffaßt. Ihr Sinn erschließt sich uns erst, wenn wir sie als wesensungleich erkennen, den »bösen Trieb« als die Leidenschaft, als die dem Menschen eigentümliche Kraft also, ohne die er weder erzeugen noch hervorbringen kann, die aber, sich selber überlassen, richtungslos bleibt und in die Irre führt, und den »guten Trieb« als die reine Richtung, das heißt, als die eine unbedingte Richtung, die auf Gott zu. Die beiden Triebe einen, das will sagen: die richtungslose Potenz der Leidenschaft mit der einen Richtung versehen, die sie zur großen Liebe und zum großen Dienste tauglich macht. So und nicht anders kann der Mensch ganz werden.
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Daß in den Schriftvers die reduplizierte Form des Wortes für »Herz« (lebāb statt lēb) steht, wird auf die durch die Einung der Triebe wiederhergestellte Einheit des Herzens gedeutet.
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I Die Urprinzipien Im ältesten Teil des Awesta, den hymnenartigen Reden und Unterredungen Zarathustras, lesen wir von den zwei urbewegenden »Bewirkern«: dem Guten, gut im Sinn, im Wort und im Werk, und dem Bösen, böse im Sinn, im Wort und im Werk. »Zwillinge durch Schlaf« seien sie gewesen, »wie vernommen ward«, das heißt, einst Schlafgefährten im Urleibe 1 . Dann aber standen sie einander gegenüber, und der Heilsame sprach zum Argen: »Nicht unsre Gesinnungen noch unsre Urteile, nicht unsre Neigungen noch unsre Wahlrichtungen, nicht unsere Worte noch unsre Werke, nicht unsre Selbste noch unsre Seelen stimmen überein«. Und weiter setzten sie, einander gegenüberstehend, mitsammen Leben und Tod, und daß am Ende für die dem Trug Anhangenden das Böseste bestehe, für die der Wahrheit Anhangenden aber der Beste Sinn. So wählten die zwei Bewirker denn: der Trughafte wählte, das Böseste zu tun, aber das Wahrsein wählte der Heilsamste Bewirker, der mit den härtesten Himmeln bekleidete. Wie nirgendwo anders in dem uns erhaltenen frühen Schrifttum des Menschengeschlechts werden hier Gut und Böse als Principia gesellt und gesondert. Aus der uranfänglichen Gemeinschaft sind sie getreten, als »Zwillinge«. Von welchem Samen und Schoß sie stammen, wird uns nicht gesagt, aber ein andermal hören wir, der oberste Gott, Ahura Mazdah, der »Weise Herr«, sei der Vater des Heilsamen Geistes. So sind denn die beiden Urgegensätze aus ihm hervorgegangen. Von einer Mutter, aus deren Anteil der Widerspruch erklärt werden könnte, erfahren wir nichts. Der Gott umgibt sich zwar mit den guten Mächten, läßt sie mit den bösen kämpfen und wird sie über diese siegen lassen; aber der Gegensatz, den er bekriegt, war offenbar von ihm selbst umfangen, und er hat ihn aus sich ins Sein der Principia gesetzt. Es ist, als ob er sich des Bösen erst entäußern müsse, um es bezwingen zu können. Wenn mit dem Gegenüberstehn der Zwillinge die Schöpfung anheben will, die durch sie gewirkt wird, so ist der Gott vor der Schöpfung der Nochnicht-gute, in der Schöpfung aber ringt der gutgewordene Gott mit seinem Ausgeschiedenen. So verstanden, ist der Urakt Gottes eine Entscheidung in ihm selber, eine Urwahl zwischen den noch einander zugesellten Gut und Böse also, die deren Wahlhandlungen vorbereitet und ermög1.
Bernhard Geiger sei hier für seine ausführliche briefliche Darlegung, mit der er mir meine Auffassung von Yasna 30, 3 bestätigt hat, besonders gedankt.
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I. Die Urprinzipien
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licht: die Selbstwahl des Guten, die es erst zum wirkenden und wirklichen Guten, und die Selbstwahl des Bösen, die es erst zum wirkenden und wirklichen Bösen macht. Die Urwahl aber ist nicht auf die Schöpfung intendiert, diese geschieht um der »Wende« am Ende des Ringens willen, durch die das Sein zu seinem Heil gelangt. In das Ringen um das Heil aber ist der erschaffene Mensch als selber zum Wählen zwischen Gut und Böse Berufener gefügt. Seit ihm der Weise Herr durch seinen Geist schaffend das Leben verleiblichte, ist ihm die Macht der Entscheidung anvertraut. Mit einer Wahl hat seine Daēna, sein Selbst, den irdischen Weg angetreten; aber immer von neuem muß er, immer neue Vermischungen von Trug und Wahrheit vor sich, scheiden und sich entscheiden. Man muß ihm von oben helfen: »weil der bessere Weg nicht offen zur Wahl steht«, sagt Zarathustra, »komme ich zu euch allen, damit wir nach der Wahrheit leben«; seine Aufgabe ist, die Menschen »vor die Wahl zu stellen« und ihnen den rechten Weg zu zeigen, damit sie, wie es am Schluß jenes Verses heißt, der von der Wahl der Zwillinge handelt, aus eigner Entscheidung dem Weisen Herrn mit wahrhaftigen Werken willfahren. Die es tun, helfen ihm »dieses Dasein zur Verklärung zu bringen«. Wie der Himmelsgott, so trifft der Mensch in sich die Wahl zwischen Gut und Böse, die er wie jener beide in sich trägt. Zwischen dem Gott und dem Menschen aber stehen die Urgeister, auch sie wählend, aber im reinen Paradox. Sie haben ja nicht zweierlei in, noch vor sich; jeder hat nur sich selber in der äußersten Sonderung; den Andern, das Andere, hat er nur als seinen schlechthinnigen Widerpart; solcherart ist die Situation, in der er sich selber wählt, seine eigene Art und das ihr gemäße Werk. Wählend bestätigt jeder sich selber. Der Böse wählt und bestätigt sich selber, aber nicht bloß als so und nicht anders beschaffen, sondern eben als den Bösen, und für seine Gefolgschaft bestimmt er nicht bloß, daß sie nach dem Tode bei ihm weile, sondern daß es eben das böseste Dasein sei, das ihr dann zuteil werden solle [zwischen dem Bösen und dem Übel wird in dieser Lehre nicht kategorial geschieden: das Böse ist eben das Übelstiftende, und es gibt letztlich kein anderes Übel als das von ihm gestiftete]. Er will das Böse als solches; und damit erfüllt er den Willen des obersten Gottes, der ihn und seinen Zwilling hervorgebracht hat: nur durch die Bezwingung des ungemildert Bösen kommt das Dasein zur Verklärung. Ungefragt bleibt hier die bedrängendste der Fragen: wie denn kann im Himmelsgott, wie kann im Ursein das Böse, als davon umfangen, gewesen sein? Rings um die zarathustrische Lehre, die ihr widerstrebt, wächst und wächst die Frage, bis die westiranische Religion den alten Mythus von Zurvān, der Schrankenlosen Zeit, ihr zur Antwort
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Bilder von Gut und Böse · Zweiter Teil
ausbildet. Wir kennen ihn nur aus später Bearbeitung 1 , aber sein urtümlicher Gehalt ist unverkennbar. Zurvān steht auf aus dem Urschlaf, wie es scheint, und opfert murmelnd [das Lied von der Götterzeugung, von dem wir durch Herodot wissen, ist wohl gemeint], tausend oder zehntausend Jahre lang, um den Sohn, Ahura Mazdāh, zu erlangen, der Himmel und Erde schaffen würde. Es wäre uneigentlich, zu fragen, wem Zurvān opfere: so empfängerlos opfern [oder opfern sich] auch indische Urgötter, damit aus ihnen die Welt entstehe. Nach all der vergeblichen Opferung wird Zurvān vom Zweifel überkommen: »Was frommt das Opfern? vielleicht ist das Sein Nichts?« Da waren im Mutterleib zwei entstanden: der Weise Herr aus dem Opfer, aus dem Zweifel der Arge Geist. Zurvān ist aber offenbar ein doppelgeschlechtiger Gott. Das Böse entsteht in ihm durch seinen Sündenfall. Er wählt nicht, er zweifelt. Der Zweifel ist die Unwahl, die Entscheidungslosigkeit. Aus ihm entsteht das Böse. Zu beachten ist, daß der Arge Bewirker, Angra Mainyu, der wohlbekannte Ahriman, hier nicht der Sohn Ahura Mazdāhs, sondern sein Bruder ist; Ahura Mazdāh, Ormuzd, aber ist kein Urgott mehr, er tritt im Anfang ins Sein, und nun eben als der Nur-gute. So stehen auch hier die Zwillinge im radikalen Gegensatz zueinander; aber hier wird nicht, wie im Zwillingsmythus des Awesta, der Gegensatz vom einen zum andern ausgesprochen und der kommende Weltvorgang zwischen beiden angemeldet, wir hören nichts von Gut und Böse und ihrer gegenseitigen Beziehung, nur die Protagonisten des nunmehr beginnenden kosmischen Kampfes erscheinen. Doch werden wir durch das, was vom Urgott selber erzählt wird, nicht untiefer als dort, vielleicht sogar tiefer, in den Bereich der Frage, was Gut und was Böse sei, geführt. Dort waren es Trug und Wahrheit, Trug im Sinn von Trughaftsein, Wahrheit im Sinn von Wahrsein, die einander gegenübertraten; hier ist Zweifel am Sein das Böse, das Gute ist das »Wissen«, der Glaube ans Sein, gegen den Zurvān sich vergeht. Es geht hier letztlich wohl um Treue und Untreue zum Sein. Es haben aber innerhalb der Zurvān-Gemeinschaft etwelche den Gedanken eines göttlichen Sündenfalls nicht ertragen. Von ihnen haben die einen angenommen, nicht in einem bestimmten Augenblick sei der Zeitgott am Sein irre geworden, sondern von je sei ihm etwas Schlechtes, ob ein schlechtes Denken oder eine Wesensverderbnis, beigetan gewesen, 1.
Die wichtigsten Texte bei Nyberg, Questions de cosmogonie et de cosmologie mazdéennes, Journal asiatique 1931, 72 ff. Die denkwürdige Lesart des Zweifelsspruchs habe ich asch-Schahrastani entnommen.
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I. Die Urprinzipien
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und davon habe der Böse seinen Anfang genommen; diese kehren offenkundig zur awestischen Lehre, wiewohl in modifizierter Gestalt, zurück. Andere aber sagten, Zurvān habe die beiden hervorgebracht, um das Gute mit dem Bösen zu vermischen, wobei ersichtlich angenommen wird, nur durch die abgestufte Fülle solcher Vermischungen könne die volle Mannigfaltigkeit der Dinge entstehen; hier wird der Boden der iranischen Überlieferung verlassen: Gut und Böse sind keine unversöhnlichen Principia mehr, sondern verwendbare Beschaffenheiten, vor deren Verwendbarkeit die Frage nach einem unbedingten Wert und Unwert verschwindet. Der Boden einer andern Überlieferung wird betreten, wenn nach der Meinung einer dritten dieser Sekten Ahriman »ein verstoßener Engel ist, der seines Ungehorsams wegen verflucht wurde«. »Darüber«, so endet im Anschluß daran der Bericht, »kann viel gesagt werden.« Es gibt jedoch ein Fragment des Awesta, darin heißt es: »Alle guten Gedanken, alle guten Worte, alle guten Taten, ich tue sie bewußt. Alle bösen Gedanken, alle bösen Worte, alle bösen Taten, ich tue sie unbewußt.« Von hier führt ein Weg zum psychologischen Problem des Bösen, wie es erst im frühen Christentum sich entfaltet.
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II Die Lüge am Sein In sehr verschiedenen Schichten des iranischen Schrifttums, von den ältesten Texten des Awesta bis zur Dichtung Firdusis, finden wir Elemente der Sage 1 von dem Urkönig Yima oder Yama, einer aus indo-arischer Urüberlieferung in indische und iranische Mythologie eingewandelten Gestalt. Er, der »sonnengleich Blickende«, der »große Hirt«, – man hat ihn wohl mit Recht als den alten Hirtengott des Perservolks, mit den Augen des Bauern angesehen, erklärt – ist als unsterblich geboren, aber durch seine Schuld sterblich geworden. Der höchste Gott, Ahura Mazdāh, fordert ihn auf, die Religion, seine, Ahura Mazdāh’s Religion, zu pflegen und zu hüten, und sodann, als Yima erklärt hat, dazu untauglich zu sein, gebietet er ihm, die Welt, seine, Ahura Mazdāh’s Welt zu fördern, zu mehren und zu schützen. Hierzu ist Yima bereit; er nimmt die Herrschaft der Welt auf sich, und es soll eine Welt sein, in der keine der vernichtenden Mächte Bestand haben wird, weder kalter noch heißer Wind, nicht Krankheit, nicht Tod. Schon vorher hatte er den Göttern opfernd sie gebeten, ihn zu begnaden, daß in seinem Reich Mensch und Vieh vom Tode, Wasser und Bäume von der Dürre befreit seien. Er bat sie, ihn Herrscher aller Länder werden zu lassen, vor allem aber Herr der Dämonen, der sie niederzwingend alle Übel von den Geschöpfen Ahura Mazdāh’s hinweghebt. Das wird ihm nun zuteil. Dreihundert Jahre vergehen, und da keins der Wesen stirbt, wird die Erde übervoll »an Kleinvieh und Großvieh und Hunden und Vögeln und rot flammenden Feuern«. Von Ahura Mazdāh berufen, geht Yima »zum Licht vor, am Mittag, dem Pfad der Sonne entgegen« und treibt mit dem vom Gott empfangenen goldgeschmückten Stachel und freundlichen Spruch die Erde an, sich auseinanderzustrecken, bis sie um ein Drittel größer geworden ist. Das wiederholt sich zu zwei Malen: die Erde ist nun zu ihrer doppelten Größe erwachsen, und alle Geschöpfe leben auf ihr, wie es ihnen beliebt. Nun aber versammelt Ahura Mazdāh die Götter und die besten Menschen, Yima an deren Spitze. Ihm sagt er an, es werde über die der Stofflichkeit überantwortete Welt [hier klingt an, daß sie infolge jener Weigerung Yimas der Geistigkeit entbehrte] der große Winter kommen, der sie erst mit Schnee deckt und dann in der Schmelze überflutet, daß kein Geschöpf mehr auf ihr Fuß fassen kann. Dann wird Yima angewiesen, eine gewaltige burgartige Hürde zu errichten und darin den Samen des 1.
Die Texte bei Christensen, Les types du premier homme et du premier roi II (1934).
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Besten und Schönsten von allem Lebenden und Wachsenden zu bergen. Es geschieht. Da jedoch gewährt Yima der Dämonie, die er bisher bezwungen hielt, den Zutritt und nimmt die Lüge in seinen Sinn auf, indem er sich selber preist und segnet. Sogleich verläßt die königliche Glorie, der Glücksglanz, der bisher seine Stirn umstrahlte, ihn in der Gestalt eines Raben, und er wird sterblich. Friedlos muß er über die Erde irren und sich Mal um Mal verstecken. Er tut sich mit den Dämonen zusammen und vermählt sich mit einer Hexe, mit der er allerhand Unwesen zeugt. Seine Schwester verkleidet sich als die Hexe und legt sich zu ihm. Wir erfahren nicht, was nun geschieht, anscheinend aber behandeln die Dämonen ihn als einen Empörer, denn zuletzt wird er von ihnen mit einer tausendzahnigen Säge zersägt. Er ist [so auch schon in früh-indischen Liedern, wo er als der König der Toten erscheint], der erste der Gestorbenen; ihm erst sterben die andern nach. Manche Forscher finden es unverständlich und daher unursprünglich, daß Yimas Schuld, die seinen Sturz herbeiführte, in einer Lüge bestanden habe. Seine Hybris und Selbstanbetung sei ein spätes Motiv, das überdies zur Erklärung des Wesens jener Lüge untauglich sei. In der Tat finden wir es nur in späteren und späten Texten; aber seine Verknüpfung mit der Lüge geht auf sehr alte Zusammenhänge zurück, wie denn in der großen Inschrift des Darius der prahlerische Rebell als »Lügner« bezeichnet wird. Daß der Urkönig sich selber zu preisen und zu segnen beginnt, ist nicht bloß zu Recht als Lüge bezeichnet: es weist in der Tat auf die Urlüge des über Menschheit Gesetzten, ja auf die des Menschen überhaupt hin, der die Überwindung der Naturmächte seiner eignen Übermacht zuschreibt. Es ist nicht eine Wortlüge, die einer Wortwahrheit gegenüberstände; es ist eine Daseinslüge am Sein. Yima hatte von der Gottheit erfleht, unsterblich zu werden und alles Lebende unsterblich zu machen; er hatte gebetet, daß er zum Bezwinger der Dämonen werde, und er ist es geworden. Nun aber wähnt er, das, was nur seine Begnadung ist, selber gemacht zu haben; er versteht sich als Selbstschöpfer, durch sich unsterblich und verunsterblichend, versteht es als selbstgestiftete Selbstherrlichkeit, daß er der Dämonen waltet; er lebt und handelt nun von da aus; so begeht er, wie man es ausgedrückt hat 1 , »die innere Unwahrheit gegen Gott und sich selbst«, genauer: er begeht mit seinem Dasein die Lüge am Sein. Um der existentiellen Tiefe des hier berichteten Übergangs eines Urwesens von der Wahrheit zur Lüge zulänglich inne zu werden, müssen wir sie innerhalb des Weltkampfes zwischen den beiden Prinzipien be1.
Lommel, Die Religion Zarathustras (1930) 46.
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trachten. Denn Wahrheit und Lüge sind die beiden Grundhaltungen oder vielmehr Grundbeschaffenheiten, in deren Gegeneinander das Gegeneinander der Prinzipien, Gut und Böse, sich darstellt. Nur muß man darauf achten, daß mit Wahrheit hier etwas anderes als bewußte Übereinstimmung, mit Lüge etwas anderes als bewußte Nichtübereinstimmung zwischen einem Geäußerten und einem Wirklichen gemeint ist. Mit ebendem Begriff der Lüge wird in den Veden zuweilen das unheimliche Versteckspiel im Dunkel der Seele bezeichnet, darin sie, die einzelne Menschenseele, sich selber ausweicht, sich selber umgeht, sich vor sich selber verstellt. Diese Lüge am eigenen Sein bricht nun in der Beziehung zur andern Seele, in der zur Weltwirklichkeit, in der zum Göttlichen aus. Im Awesta ist sie zunächst der Treubruch [dem Vertragsgott Mithra lügen heißt den Vertrag verletzen], sodann die Verfälschung einer Situation durch die Haltung, ja die Beschaffenheit der in sie gestellten Person. Die Haltung weist auf die Beschaffenheit zurück, diese aber ist keineswegs eine letzte, nicht weiter zurückführbare Tatsache, sondern entstammt der je und je, zeitlich und zeitlos, im Wegbeginn und in den entscheidenden Stunden, durch die personhafte Wesenheit vollzogenen und zu vollziehenden Wahl zwischen Wahrheit und Lüge, existentiell ausgedrückt: zwischen Wahrsein und Falschsein. Wahrsein aber bedeutet letztlich: das Sein im Punkte des eigenen Daseins stärken, ja decken und bestätigen, und Falschsein bedeutet letztlich: das Sein im Punkte des eigenen Daseins schwächen, ja schänden und entrechten. Wer die Lüge der Wahrheit vorzieht, sie statt der Wahrheit wählt, greift unmittelbar mit seiner Entscheidung in die Entscheidungen des Weltkampfes ein. Das wirkt sich aber zu allererst an eben seinem Punkte des Seins aus: da er sich der Seinslüge, also dem Nichtsein ergab, das sich für das Sein ausgibt, verfällt er ihm. So verfällt Yima, der Herr der Dämonen, ihrer Macht, da er von dem Wahrsein zum Falschsein übergeht; er wird erst ihr Gefährte, dann ihr Opfer. Er bewirkt wirklich einen Sturz des Seins: an eben diesem Punkte, der Yima heißt. Nach Augustin, dem ein später Anhauch des zarathustrischen Glutwinds das Herz versengt hat, geht es bei Wahrheit und Lüge nicht um Wahrheit und Falschheit der Dinge selber, sondern um einen Spruch der Seele. Die Seele spricht sich selber der Wahrheit oder der Lüge zu. Die menschliche Wahrheit ist eine Bewährung durch Wahrsein.
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I Wahrheit der Mythen Ich habe in den zwei vorhergehenden Teilen Bilder erläutert, die sich eine frühe Menschheit vom Gegensatz des Guten und des Bösen, genauer: vom Bösen in seiner Entgegensetzung zum Guten gemacht hat. Wohl ist es ihre Absicht, vom Ursprung, vielmehr von den Ursprüngen des Bösen zu erzählen, aber über die Erfüllung dieser Absicht hinaus geben sie uns Struktur-Darstellungen des Bösen, und zwar naturgemäß auf solche Weise, daß wir darin auch Hinweise auf die Beschaffenheit des Guten erhalten. Sie gehen uns aber hier insofern und nur insofern an, als es wahre Darstellungen sind, insofern also, als sie uns zu der Erlangung der uns nötigen Einsicht in die Natur des Bösen und seines Verhältnisses zum Guten wesentliche Hilfe zu leisten vermögen. Das Mythische ist in diesen unsern Gesichtskreis um der Wahrheit der Mythen willen eingetreten. Damit kann selbstverständlich nicht gemeint sein, es sei einst eine in nichtmythischer Gestalt vorhandene Wahrheit in die mythische »eingekleidet« worden; gemeint ist, daß die in den faktischen Begegnungen mit dem Bösen in Welt und Seele geschehene [nicht »gewonnene«] Erfahrung sich, ohne den Umweg über begriffliche oder halbbegriffliche Determinationen zu nehmen, unmittelbar im Mythus verdichtet. Dazu aber kommt, daß wir, die wir all die Allegorien und Mystosophien, unwissenschaftliche und wissenschaftliche, der Mythendeutung durchschritten haben, willens und fähig sind, zu vernehmen, was im mythischen Bereich uns von der menschlichen Wirklichkeit mitgeteilt wird. Menschliche Wirklichkeit, das bedeutet für unsern Gegenstand: wie es spezifisch in Seele und Leben des Menschen zugeht, der sich mit dem »Bösen« befaßt, und insbesondere dessen, der im Begriff ist, ihm zu verfallen. Ich habe damit aber auch schon die Voraussetzung ausgesprochen, die wir machen und machen müssen, um von den Mythen zu lernen, was sie uns über unsern Gegenstand zu lehren bereit sind. Sie erzählen uns von der menschlichen Beschaffenheit und Bewegung des Bösen; wenn wir ihrer Erzählung aber jene Art des Glaubens schenken sollen, die unentbehrlich ist, um sie in unserm Sinne, im Sinne einer Erkenntnis des Gegenstands selber, rechtmäßig deuten zu dürfen, müssen wir mit ihnen annehmen, daß es eine solche spezifische dynamische Struktur wirklich gibt. Wir müssen trotz aller Problematik des moralischen Urteils, trotz der konstitutiven Unbeständigkeit der moralischen Wertungen, erkennen und anerkennen, daß in der menschlichen Wirklichkeit ein Spezi-
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fisches dieser Art existiert, ein Spezifisches nicht nach Wertung und Urteil, sondern im Sein selber, und daß seine Spezifität sich eben darin kundgibt, daß es da in Seele und Leben des Menschen anders als sonst zugeht. Es würde also keineswegs genügen, das Vorhandensein von seelischen Vorgängen heranzuziehen, deren Wesen und Verlauf von der »moralischen Zensur« der Gesellschaft beeinflußt wird, sei es, daß sie zur Unterwerfung oder zur Auflehnung Ursache gibt; es kann sich hier überhaupt nicht um die Psychologie von »Inhibitionen« und »Verdrängungen« handeln, die den Vergehen gegen diese oder jene soziale Konvention gegenüber nicht weniger funktionieren als wenn es um das im prägnanten Sinn als das Böse Empfundene geht. Wir müssen vielmehr diese Empfindung selber in unsrer Selbsterfahrung da aufsuchen, wo ihre Unterschiedenheit von jeder anderen Seelenverfassung unverkennbar ist, ja wo diese psychologische Unterschiedenheit mit Macht uns nach dem Bestehen einer ontologischen fragen heißt. Diese ist es, wovon der Mythus uns ihm entwachsenen und doch wieder ihm erschlossenen Spätlingen des Geistes erzählt. Nichts als unsere eigne Erfahrung jenes Geheißes der psychologischen Eigentümlichkeit, nach der ontologischen zu fragen, kann uns befähigen, die kostbarste Gabe des Mythus, die nur von ihm aussprechbare Wahrheit, von ihm entgegenzunehmen und sie durch die echte Deutung uns einzueignen. Wir können die Mythen vom Ursprung des Bösen nur durch unsre persönliche Erfahrung von ihm zuständig interpretieren, aber nur sie verleihen ihr den Charakter der Wahrheit. Erst aus dem Kontakt dieser beiden, der mythischen Uranschauung und der unmittelbar erfahrenen Realität, ersteht auch dieser Sphäre, wohl der dunkelsten von allen, das Licht des befugten Begriffes. Die Mythen, die hier erläutert worden sind, entstammen zwei historischen Gebieten: die des ersten Teils, die von einem Gleiten und Fallen ins Böse erzählen, den israelitischen Berichten von der ersten Frühe des Menschen, die des zweiten Teils, die von einem Eintreten oder Niedergehen ins Böse handeln, dem altiranischen Schrifttum über die Anfänge göttlicher und menschlicher Entscheidung für das Nein. Damit soll aber keineswegs gesagt sein, daß im Alten Testament die erste der beiden Auffassungen dominierte. Schon die Geschichte vom Aufstand der nach der Flut wiedererwachsenen Menschheit, die sich einen Turm baut, um eine große Magie [eine große »Namens-Aktion«] gegen den Himmel zu unternehmen, erinnert an die Sage von Yimas Empörung, und erst recht die in Prophetensprüchen bewahrten Überlieferungen von den übermütigen Engeln, Luzifer, Sohn der Morgendämmerung [Jesaias 14], und dem großen Cherub [Hesekiel 28], die wie Yima sich gottgleich dünkten und hinabgeschleudert wurden. Und immer wieder erscheinen im Alten Testa-
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ment, wie im Awesta und von ihm abhängigen Texten, Gut und Böse als die Alternative der Wege, vor der der Mensch steht, um zwischen ihnen, und das heißt [Deuteronomium 30, 19] zwischen Leben und Tod zu wählen; wir atmen hier und hier die strenge Luft der Entscheidung. Anderseits geht, wie wir sahen, die iranische Lehre von der Entstehung der Gegensätze aus einer Urentscheidung mancherorten in eine von ihrer Entstehung aus einem Urzweifel der allumfassenden Gottheit über, allmählich aber entwickelt sich daraus eine ganz andere Lehre, deren letzter und extremer Ausdruck der Manichäismus ist, wonach der Gegensatz der beiden Prinzipien nicht durch einen Urakt entstanden, sondern ewig ist. Die zwei Grundtypen des Bösen aus Entscheidungslosigkeit und des Bösen aus Entscheidung sind daher nicht als ethnisch basiert zu verstehen. Wie aber können diese zwei einander scheinbar ausschließenden Aspekte, von denen uns der eine das Böse als Ereignis, der andere als Tat zeigt, uns miteinander die Wahrheit über die dynamische Beschaffenheit des Bösen in der Wirklichkeit des menschlichen Lebens lehren? Nur eben, wenn der Widerspruch zwischen ihnen ein scheinbarer ist, wenn sie einander vielmehr ergänzen. So ist es auch, und zwar ergänzen sie einander nicht wie die zwei Seiten einer Sache, was anzunehmen hier offenkundigerweise nicht angeht, wohl aber als die zwei Stadien oder Stufen eines Prozesses. Die biblischen Erzählungen weisen auf das erste, die iranischen auf das zweite Stadium hin, wobei aber im Blick zu behalten ist, daß der Prozeß nicht notwendig über das erste hinaus vorzuschreiten braucht. Wenn in dem ersten Bild der ersten Reihe das Motiv des Wie-GottWerdens gewaltig anklingt, aber ironisch aufgehoben wird, das gleiche Motiv hingegen, nur in das des Wie-Gott-Seins gewandelt, im letzten Bild der zweiten Reihe das Feld beherrscht, sind wir darauf hingewiesen, daß ihm für den ganzen Prozeß eine besondere Bedeutung zukommt.
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II. Unser Ausgangspunkt
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Es ist hergebracht, sich Gut und Böse als zwei Pole, zwei einander entgegengesetzte Richtungen, die zwei nach rechts und links gestreckten Arme eines Wegweisers zu denken; man versteht sie als der gleichen Ebene des Seins zugehörig, als von gleicher Art, nur eben einander widersprüchlich. Wir müssen, wenn wir nicht Abstraktionen der Ethik, sondern Wesensstände der menschlichen Wirklichkeit im Sinne haben, vorerst mit dieser Konvention aufräumen und die Grundverschiedenheit der beiden nach Art, Struktur und Dynamik innerhalb der menschlichen Wirklichkeit erkennen. Es empfiehlt sich, mit dem Bösen zu beginnen, da, wie sich noch zeigen wird, im ursprünglichen Stadium, von dem zunächst zu handeln ist, der Wesensstand des Guten den des Bösen in einer gewissen Weise voraussetzt. Nun aber ist dieses zwar in seinen Aktionen und Wirkungen, seinen Mienen und Gebärden auch der extraspektiven Sicht konkret gegeben, in seinem Wesensstande jedoch nur unsrer Introspektion, und nur unser Selbstwissen – das freilich überall und immer der Ergänzung durch unsre Kenntnis des Selbstwissens anderer bedarf – vermag auszusagen, wie es zugeht, wenn man das Böse tut [nur daß wir dieses Selbstwissen viel zu wenig anzuwenden pflegen, wenn wir uns in den Kreisen des Bösen umsehn und dabei doch wohl auch einigermaßen darauf aus sind, es zu verstehen]. Da hinwieder solch eine Erfahrung einen hohen Grad von Objektivierung erreicht haben muß, um für die Erkenntnis des Gegenstands brauchbar zu sein, ist es nötig, von der Haltung eines auf sein Leben zurückblickenden Menschen auszugehen, der die unerläßliche Distanz auch zu jenen unter den erinnerten inneren und äußeren Begebnissen gewonnen hat, die für ihn mit der Tatsächlichkeit des Bösen verknüpft sind, dessen Gedächtnis aber die nicht minder erforderliche Kraft und Frische nicht eingebüßt hat. Es ergibt sich aus dem Gesagten, daß er um die existentielle Tatsächlichkeit des Bösen als Bösen wissen, ja daß es ihm um sie spezifisch ernst sein muß. Wer es zu einer mehr oder weniger zweifelhaften Sphäre der sogenannten Werte zulänglich unterzubringen gelernt hat, für wen Schuldigwerden nur der zivilisierte Ausdruck für die Übertretung eines Tabu ist, dem keine andere Realität als die Kontrolle der Gesellschaft und in ihrem Gefolge des »Über-Ich« über das Spiel der Triebe entspricht, ist für das hier gemeinte Geschäft naturgemäß untauglich. Es ist jedoch, um einem heute jeder Erörterung dieser Art drohenden Mißverständnis vorzubeugen, an dieser Stelle vonnöten, eine wesentliche
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Abgrenzung vorzunehmen. Um was es hier geht, ist gattungsmäßig verschieden von dem, was man in der modernen Psychologie die Selbstanalyse nennt. Diese, wie im allgemeinen die psychologische Analyse in unserer Zeit, geht darauf aus, »hinter« das Erinnerte zu gelangen, es auf die als »verdrängt« angenommenen Realelemente »zurückzuführen«. Uns ist es um die Vergegenwärtigung des so zuverlässig, so konkret und vollständig wie möglich erinnerten, durchaus unreduzierten und unzerlegten Vorgangs zu tun. Selbstverständlich muß das Gedächtnis dabei von allen je erfolgten Abstrichen und Zutaten, Beschönigungen und Dämonisierungen freigemacht werden; dies aber kann, wem die Konfrontation mit sich selbst, dem wesentlichen Umfang des Vergangenen nach, sich als eine der wirkenden Mächte im Prozeß des »Werdens zu dem, was man ist« erwiesen hat. Führend in diesem Werk der großen Reflexion wird ihm die unvergessene Reihe jener Momente elektrischer Spontaneität sein, da unversehens das Wetterleuchten des Gewesenen am Himmel des Jetzt aufzog. Versucht der Fragende, in seinem so gewonnenen Selbstwissen und dem ihm bekannt gewordenen analogen Selbstwissen anderer das grundlegend Gemeinsame zu erfassen, dann ergibt sich ihm ein Bild der biographisch maßgebenden Anfänge von Böse und Gut, das sich von den hergebrachten Darstellungen bemerkenswert unterscheidet und jene Erzählungen des Alten Testaments von der Menschenfrühe bedeutsam bestätigt. Die Einsicht in das zweite Stadium, auf das die altiranischen Erzählungen zu beziehen sind, wird freilich auf einem andern Wege gewonnen werden müssen.
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III. Das erste Stadium
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Das menschliche Leben in seinem eigentlichen, aus der Natur tretenden Sondersinn beginnt mit der Erfahrung des Chaos als eines in der Seele wahrgenommenen Zustands. Nur durch diese Erfahrung und als ihre Versinnlichung hat der keiner andern Empirie zu entnehmende Begriff des Chaos entstehen und in die mythischen Kosmogonien eingehen können. In einer Werdezeit, die zumeist mit der Pubertät koinzidiert, ohne an sie gebunden zu sein, wird die menschliche Person unausweichlich der Seinskategorie der Möglichkeit inne, die sich ja unter allen Lebewesen eben im Menschen darstellt, dem offenbar einzigen unter den uns bekannten, für den das Wirkliche dauernd vom Möglichen umrandet ist. Die werdende menschliche Person, von der ich rede, wird von der Möglichkeit als einer Unendlichkeit überstürzt. Die Fülle der Möglichkeiten flutet über ihre schmale Wirklichkeit hin und überwältigt sie. Die Phantasie, mit den Potentialitäten spielend, die Möglichkeitsbilderei, die jener alttestamentliche Gottesspruch als böse bezeichnet, weil sie von der von Gott gegebenen Wirklichkeit ablenkt, erlegt die Daseinsform ihrer Unbestimmbarkeit der Bestimmtheit des Augenblicks auf. Die Substanz droht in der Potenz unterzugehn. Das wirbelnde Chaos, »Irrsal und Wirrsal« [Genesis 1, 2], ist eingedrungen. Wie aber in dem Stadium, von dem ich rede, für den Menschen alles, was ihm erscheint oder widerfährt, sich ins Motorische, in ein Tunkönnen und Tunwollen wandelt, so wird auch das eingedrungene Chaos der Seinsmöglichkeiten zu einem Chaos der Tunsmöglichkeiten. Nicht die Dinge kreisen im Wirbel, sondern die möglichen Weisen, sich ihnen zuzutun und anzutun. Diese treibende All-Leidenschaft ist nicht mit der sogenannten Libido zu verwechseln, ohne deren vitale Kraft sie freilich nicht bestehen könnte, auf die sie zu reduzieren aber eine Simplifikation und Animalisation der menschlichen Wirklichkeit bedeutet. Triebe im Sinn der Psychologie sind erforderliche Abstraktionen; wir aber sprechen von einem konkreten Gesamtvorgang in einer Lebensstunde der Person. Zudem sind jene Triebe per definitionem »auf etwas gerichtet«; dem in sich kreisenden Wirbel aber ist die Richtungslosigkeit eigentümlich. Die im schwindligen Taumel umgetriebene Seele kann in ihm nicht beharren; sie entstrebt ihm. Wenn nicht die in die geläufige Normalität zurückführende Ebbe eintritt, bestehen für sie zweierlei Ausgänge. Der
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eine bietet sich ihr immer wieder dar: sie kann nach irgendeinem Gegenstand, an den der Wirbel sie eben heranführt, greifen und ihre Leidenschaft darauf werfen; oder sie kann, in einer ihr selber noch unverständlichen Eingebung, das verwegene Werk der Selbsteinung beginnen. Im ersten Fall tauscht sie die richtungslose Möglichkeit gegen eine richtungslose Wirklichkeit ein, in der sie tut, was sie nicht tun will, das ihr Widersinnige, das Fremde, das »Böse«; im zweiten hat sie, wenn das Werk gerät, die richtungslose Fülle für die eine gespannte Sehne, den einen gestreckten Balken der Richtung hergegeben. Wenn aber das Werk nicht gerät, was ja bei einer so abgründigen Unternehmung nicht wunder nehmen darf, hat sie doch zu ahnen bekommen, was Richtung, vielmehr die Richtung ist, – denn es gibt in diesem strengen Sinn nur eine. In dem Maße nämlich, in dem die Seele sich eint, erfährt sie die Richtung, erfährt sie sich als auf die Suche nach ihr geschickt. Sie kommt in den Dienst des Guten oder in den Dienst um das Gute. Endgültigkeit waltet hier nicht. Immer wieder taucht mit dem Wogen ihrer Lockungen die Allversuchung auf und reißt die Kraft der Menschenseele hin; immer wieder manifestiert sich ihr die eingeborene Gnade und verheißt das schier Unglaubliche: du kannst ganz und eins werden. Immer aber sind da nicht Links und Rechts, sondern der Chaoswirbel und der darüber schwebende Geist. Von den zwei Wegen ist der eine die eingeschlagene Weglosigkeit, die Scheinentscheidung, die die Entscheidungslosigkeit ist, die Flucht in den Wahn und zuletzt in die Sucht; der andere ist der Weg, denn es gibt nur einen. Aber die gleiche Grundstruktur des Vorgangs, nur knapper und härter geworden, finden wir in zahllosen Situationen unseres späteren Lebens wieder. Es sind die Situationen, in denen wir uns angefordert fühlen, die Entscheidung zu treffen, die von unserer Person aus, und zwar von unserer Person aus, wie wir sie als mit uns »gemeint« empfinden, dieser uns antretenden Situation antwortet. Eine solche Entscheidung kann nur mit der ganzen, einsgewordenen Seele getroffen werden, die ganze Kraft der Seele, wohin immer sie gewandt oder geneigt war, als die Situation uns antrat, muß in sie eingehen, sonst werden wir nichts als ein Stottern, eine Scheinantwort, einen Antwortersatz hervorbringen. Die Situationen, ob mehr biographischen, ob mehr historischen Charakters, sind immer – wenn auch oft hinter Verhüllungen – grausam streng, weil der unredressierbare Zeit- und Lebensablauf es ist, und nur mit der Strenge der geeinten Entscheidung können wir uns ihnen gewachsen erweisen. Es ist ein grausames Wagnis, dieses Ganzwerden, Gestaltwerden, Kristallwerden der Seele. Es muß ja alles überwunden werden, was an Neigungen, an Bequemlichkeiten, an Gewohnheiten, an Betriebsamkeiten, an Lieb-
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haberei der Möglichkeiten sich in uns breitgemacht hat, und überwunden werden muß es nicht durch Ausschaltung, durch Niederwerfung, denn nie ist so die echte Ganzheit zu erreichen, wo keine niedergetretenen Lüste in den Ecken lauern. Vielmehr müssen all diese bewegten oder festgelegten Kräfte, vom Schwung der Seele ergriffen, sich gleichsam aus freien Stücken in die Mächtigkeit der Entscheidung stürzen und in ihr aufgehen. Bis die Seele als Gestalt so Großes über die Seele als Materie vermag, bis das Chaos zum Kosmos gebändigt und geformt wird, welch ungeheuerer Widerstand! So ist es verständlich genug, daß der Vorgang – der zuweilen, wie wir es von ein ganzes Drama umfassenden Träumen wissen, nicht länger als eine Minute dauert – so oft in einer beharrenden Entscheidungslosigkeit mündet. Der anthropologische Rückblick der Person [der zu Unrecht »Blick« heißt, wir erfahren ja, wenn unser Gedächtnis sich bewährt, die vergangenen Begebenheiten dieser Art mit allen Sinnen, mit der Erregung der Nerven und der Spannung oder Schlaffheit der Muskeln] sagt uns alle diese und all unsre andern Entscheidungslosigkeiten, alle die Momente, wo wir nichts anderes taten, als daß wir das als das Rechte Erkannte nicht taten, als böse an. Aber ist denn das Böse nicht wesensmäßig ein Handeln? Durchaus nicht: das Handeln ist nur die Art des bösen Geschehens, die das Böse kundbar macht. Aber entstammt das böse Handeln nicht eben doch einer Entscheidung zum Bösen? Es ist der letzte Sinn unsrer Darlegung, daß auch es primär der Entscheidungslosigkeit entstammt, vorausgesetzt, daß wir unter Entscheidung nicht eine partielle, eine Scheinentscheidung, sondern die der ganzen Seele meinen. Denn eine partielle Entscheidung, eine, die die ihr entgegenstehenden Kräfte unberührt läßt, und gar eine, der die höchsten Kräfte der Seele, die eigentliche Aufbausubstanz der mit mir gemeinten Person, zurückgedrängt und ohnmächtig, aber im Protest des Geistes wesend zusehn, ist in unserem Sinne nicht Entscheidung zu nennen. Das Böse kann nicht mit der ganzen Seele getan werden; das Gute kann nur mit der ganzen Seele getan werden. Es wird getan, wenn der Schwung der Seele, von ihren höchsten Kräften ausgehend, alle ergreift und sie sich in das läuternde und einwandelnde Feuer, als in die Mächtigkeit der Entscheidung, stürzen läßt. Das Böse ist die Richtungslosigkeit und was in ihr und aus ihr, als Ergreifen, Packen, Schlingen, Verführen, Nötigen, Ausnützen, Niederbeugen, Peinigen, Vernichten dessen, was sich bietet, getan wird. Das Gute ist die Richtung und was in ihr getan wird; was in ihr getan wird, wird mit der ganzen Seele getan, so daß in die Tat all die Kraft und Leidenschaft, mit der das Böse hätte getan werden können, miteingeht. In diesem Zusammenhang ist an jene talmudische Interpretation des biblischen Gottesspruchs von der Einbil-
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dung oder dem »bösen Trieb« zu erinnern, dessen ganze Kraft man in die Liebe zu Gott hereinnehmen muß, um Ihm wahrhaft zu dienen. Mit dem Gesagten soll und kann nichts andres gegeben sein als eine anthropologische Bestimmung von Gut und Böse, wie sie sich in letzter Instanz dem Rückblick der menschlichen Person, ihrem Erkennen ihrer selbst im Ablauf ihres gelebten Lebens ergibt. Diese anthropologische Bestimmung lernt sich verstehen als wesensähnlich den biblischen Erzählungen der Ursprünge von Gut und Böse, deren Erzähler so Adam wie Kain im Abgrund seines eigenen Herzens erfahren haben muß. Nicht aber soll und kann darüber hinaus ein Kriterium gegeben sein, weder zum Gebrauch der theoretischen Meditation über die Wesenheiten »Gut« und »Böse«, noch gar zum Gebrauch des entwerfenden Menschen, dem das Fragen und Forschen, was im Sinn des Entwurfs gut, was böse sei, das Tasten und Tappen im Dunkel der Problematik, ja auch die Zweifel an der Gültigkeit der Begriffe selber nicht erspart bleiben. Jener und dieser werden sich ihr Kriterium oder ihre Kriterien anderswo holen, anders erringen müssen; der Meditierende will anderes erfahren als wie es zugeht, der Entwerfende kann seine Wahl nicht danach treffen, ob seine Seele daran ganz werden wird. Zwischen ihrem Bedürfen und unsrer anthropologischen Einsicht gibt es nur eine Verknüpfung, die freilich eine gewichtige ist. Es ist die jedem, ja: jedem Menschen eingepflanzte, aber ungebührlich vernachlässigte Ahnung des Wesens, das mit ihm, und mit ihm allein – gleichviel, schöpfungsmäßig oder »individuationsmäßig« – gemeint, intendiert, vorgebildet und das zu vollenden, das zu werden ihm zugemutet und zugetraut ist, und die dadurch ermöglichte jeweilige Vergleichung. Auch hier ist ein Kriterium, und es ist ein anthropologisches; freilich kann es seinem Wesen nach nie über den Bereich des einzelnen hinauslangen. Es kann so viele Gestalten annehmen als es menschliche Individuen gibt – und wird doch nie relativiert.
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Weit schwerer ist es, die menschliche Wirklichkeit zu ermitteln, die den Mythen von der ahrimanischen Wahl und dem luziferischen Abfall entspricht. Es liegt im Wesen der Sache, daß uns hier die Hilfe des Rückblicks nur sehr selten geboten ist; die sich einmal mit dem innersten Wesen dem Bösen ergeben haben, werden kaum je in ihrem späteren Leben, auch nicht nach einer vollkommenen Umkehr, zu jenem gelassenen, zuverlässig entsinnenden und deutenden Rückblick befähigt sein, der allein unsere Einsicht fördern kann. Im Schrifttum derer, die ihr Schicksal zu erzählen wissen, werden wir fast nie solch einem Bericht begegnen; was uns auf diesem Gebiet vorliegt, ist – anscheinend zwangsweise – pathetisiert oder sentimentalisiert, und zwar so gründlich, daß wir die Vorgänge selbst, innere und äußere gleicherweise, nicht herauszudestillieren vermögen. Was die psychologische Forschung an Phänomenen ähnlicher Art zutage gebracht hat, sind naturgemäß lediglich neurotische Grenzfälle und mit sehr wenigen Ausnahmen nicht geeignet, unser Problem zu erhellen. Eigene, methodisch auf das hierfür Wesentliche gerichtete Beobachtung muß hier einsetzen. Das weitaus ergiebigste Material zu deren Ergänzung bietet sich uns in der historischen und insbesondere der biographischen Literatur. Es kommt darauf an, unsere Aufmerksamkeit jenen persönlichen Krisen zuzuwenden, die auf die Seelendynamik der Person eine spezifische Wirkung zum Starrwerden, Verhohlenwerden ausüben. Wir finden dann, daß diese Krisen von zwei verschiedenen, deutlich unterscheidbaren Arten sind: der einen liegen negative Erfahrungen mit der Umwelt zugrunde, als die einem die Bestätigung seines Wesens verweigert, nach der er begehrt, der andern, die uns hier allein angeht, negative Erfahrungen mit sich selbst, indem die menschliche Person selber zu sich nicht mehr Ja sagen kann; von den Mischformen sei abgesehen. Wir haben gesehen, wie der Mensch immer wieder die Dimension des Bösen als Entscheidungslosigkeit erfährt. Die Vorgänge, in denen er sie erfährt, bleiben aber in seinem Selbstwissen nicht eine Reihe isolierter Momente des Sich-nicht-entscheidens, des vom Spiel der Phantasie mit den Potentialitäten Besessenwerdens, des sich in eben dieser Besessenheit auf das sich Darbietende Werfens: sie schließen im Selbstwissen sich zu einer Folge der Entscheidungslosigkeit, gleichsam zu einer Beharrung in ihr zusammen. Diese Negativierung des Selbstwissens wird natürlich immer wieder »verdrängt« werden, solange der Wille zur puren Selbsterhal-
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tung den zum Sich-selbst-bejahen-können überwältigt. In dem Maße hingegen, als dieser sich behauptet, wird der Zustand in eine akute Auto-Problematik übergehen: der Mensch stellt sich selbst in Frage, weil sein Selbstwissen ihm nicht mehr ermöglicht, sich zu bejahen und zu bestätigen. Diese Lage nimmt nun entweder eine pathologische Form an, das heißt, das Verhältnis der Person zu sich selbst wird brüchig und verworren, oder die Person findet den Ausgang, wo sie ihn kaum noch erwartete, nämlich durch eine äußerste, an Gewalt und Wirksamkeit sie selbst überraschende Anstrengung des Einswerdens, einen entscheidenden Akt der Entscheidung, eben das also, was in der erstaunlich treffenden Sprache der Religion »die Umkehr« heißt; oder es geschieht ein Drittes, etwas, dem unter den Seltsamkeiten des Menschen ein Sonderrang zukommt und dessen Betrachtung wir uns nun zuwenden müssen. Weil der Mensch das einzige uns bekannte Lebewesen ist, in dem sich gewissermaßen die Kategorie der Möglichkeit verkörpert hat, und dessen Wirklichkeit unablässig von den Möglichkeiten umwittert wird, bedarf er als das einzige unter allen der Bestätigung. Jedes Tier ist in seinem Diessein gefestigt, seine Modifikationen sind ihm vorbestimmt, und wenn eins sich zur Raupe und zur Puppe wandelt, ist auch seine Wandlung noch Grenze; es ist eben in alledem mitsammen das, was es ist, und so kann ihm keine Bestätigung not tun, ja es wäre ein Widersinn, wenn ihm jemand oder wenn es sich selber sagte: Du darfst sein, was du bist. Der Mensch ist als Mensch ein Wagnis des Lebens, undeterminiert und ungefestigt; er bedarf daher der Bestätigung, und diese kann er naturgemäß nur als der einzelne Mensch empfangen, indem die andern und er selbst ihn in seinem Dieser-Mensch-Sein bestätigen. Immer wieder muß das Ja zu ihm gesprochen werden, vom Blicken des Vertrauten und von der Regung des eigenen Herzens her, um ihn von der Bangigkeit des Preisgegebenseins zu befreien, die ein Vorgeschmack des Todes ist. Zur Not kann man auf die Bestätigung durch die andern verzichten, wenn die eigne sich so steigert, daß sie die Ergänzung durch jene entbehrlich macht. Nicht aber umgekehrt: der Zuspruch der Mitmenschen reicht nicht hin, wenn das Selbstwissen die innere Ablehnung gebietet, denn das Selbstwissen ist ja unbestreitbar das zuständigere. So muß denn der Mensch, wenn er das Selbstwissen nicht dadurch zu berichtigen vermag, daß er umkehrt, ihm die Macht über das Ja und Nein nehmen; er muß die Bejahung von allem Befund unabhängig machen und sie statt auf ein »über sich selber Urteilen« auf ein souveränes Sich-selber-wollen gründen; er muß sich selber wählen, und zwar nicht, »wie er gemeint ist« – dieses Bild muß vielmehr völlig ausgelöscht werden –, sondern wie er eben ist, wie er selber sich entschlossen hat, sich zu meinen. Man erkennt
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IV. Das zweite Stadium
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sie, die das eigne Selbstwissen Bezwingenden, zumeist an der krampfhaften Pressung der Lippen, der krampfhaften Spannung der Handmuskeln oder dem krampfhaften Auftritt des Fußes. Diese Haltung ist jenes seltsamste Dritte, das aus der Auto-Problematik »ins Freie« führt: man braucht nicht mehr nach dem Sein hinauszuschauen, es ist hier, man ist was man will, und man will was man ist. Das ist es auch, wovon der Mythus redet, wenn er erzählt, Yima habe sich zum Schöpfer seiner selbst proklamiert. Eben dies weiß noch Prudentius vom Satan zu berichten, und das große Sagenmotiv des Pakts mit ihm geht offenbar darauf zurück: der sich das Selbstschöpfertum errang, ist bereit, dem Menschen zu ihm zu verhelfen. Von hier aus erschließt sich auch der Sinn jenes paradoxen Mythus von den zwei Geistern, von denen der eine das Böse wählte, nicht unwissend, daß es das Böse sei, sondern als das Böse. Der »arge Geist« – in dem also das Böse bereits, sei es auch nur in statu nascendi, besteht – hat zwischen zwei Bejahungen zu wählen: der Bejahung seiner selbst und der Bejahung der Ordnung, die Gut und Böse, das erste als das Bejahte, das zweite als das Verneinte, gesetzt hat und ewig setzt. Bejaht er die Ordnung, so muß er selbst »gut« werden, das heißt, er muß seinen gegenwärtigen Wesensstand verneinen und überwinden; bejaht er sich selber, so muß er die Ordnung verneinen und verkehren, er muß an die Ja-Stelle, die das »Gute« einnahm, das Prinzip seiner eigenen Selbstbejahung bringen, es darf kein Bejahenswertes mehr geben als eben das von ihm Bejahte, sein Ja zu sich selber bestimmt Grund und Recht der Bejahung. Wenn er dem Begriff »gut« noch einen Sinn zugesteht, so ist es dieser: das, was ich eben bin. Er hat sich gewählt, und nichts, keine Beschaffenheit und kein Schicksal, kann mehr mit einem Nein signiert sein, wenn es das Seine ist. So erklärt sich denn auch vollends, daß Yimas Abfall als Lüge bezeichnet wird. Indem er sich als Schöpfer seiner selbst preist und segnet; begeht er die Lüge am Sein, ja er will sie, die Lüge, zur Herrschaft über das Sein erheben, denn Wahrheit soll nicht mehr sein, was er als solche erfährt, sondern was er als solche bestimmt. Die Erzählung von Yimas Leben nach dem Abfall sagt überdeutlich, was hier noch zu sagen ist.
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V Das Böse und das Gute Die Bilder von Gut und Böse, die hier erläutert worden sind, entsprechen, wie ich gezeigt habe, bestimmten, anthropologisch erfaßbaren Vorgängen im Lebensweg der menschlichen Person, und zwar die Bilder des Bösen zwei verschiedenen Stadien dieses Wegs, die alttestamentlichen einem frühen, die iranischen einem späteren Stadium, wogegen die Bilder des Guten im wesentlichen auf den gleichen Moment hinweisen, der sich sowohl im ersten wie im zweiten Stadium begeben kann. Den biblischen Bildern vom Bösen entspricht im ersten Stadium der Lebenswirklichkeit das Vorhaben des Menschen, den chaotischen Zustand der Seele, den Zustand der richtungslos wogenden Leidenschaft scheinbar statt wirklich zu überwinden, aus ihm gewaltsam auszubrechen, wo eben eine Bresche zu schlagen ist, statt durch die Einung der Kräfte die Richtung zu gewinnen, die nur so gewonnen werden kann. Den altpersischen Bildern entspricht im zweiten Stadium der Lebenswirklichkeit das Unterfangen des Menschen, den durch seine Richtungslosigkeit und seine Scheinentscheidungen entstandenen widersprüchlichen Zustand dadurch zu einem tragbaren und sogar befriedigenden zu machen, daß dieser Zustand, im Zusammenhang der Beschaffenheit der Person überhaupt, schlechthin bejaht wird. Im ersten Stadium wählt der Mensch noch nicht, er handelt nur; im zweiten wählt er sich selbst, im Sinn seines So-beschaffen-seins oder So-geworden-seins. Ein »radikal Böses« gibt es im ersten Stadium noch nicht; welche Übeltaten auch vollbracht werden, das Handeln ist nicht ein Tun der Handlung, sondern ein in sie Geraten. Im zweiten Stadium radikalisiert sich das Böse, weil das Vorgefundene gewollt wird; wer dem, das ihm je und je in der Tiefe der geeinten Selbstbesinnung als das zu Verneinende einsichtig wurde, das Vorzeichen des Bejahten, weil Seinen, verleiht, gibt ihm den substantiellen Charakter, den es bis dahin nicht hatte. Wenn wir den Vorgang des ersten Stadiums mit einer exzentrischen Wirbelbewegung vergleichen dürfen, so mag, um den des zweiten zu verdeutlichen, der Prozeß des Gefrierens eines fließenden Wassers als Gleichnis dienen. Das Gute hingegen bewahrt in beiden Stadien den Charakter der Richtung. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß es für die wahre, für die mit der geeinten Seele vollzogene menschliche Entscheidung nur Eine Richtung gibt. Das bedeutet, daß, wofür immer die jeweilige Entscheidung getroffen wird, in der Seinswirklichkeit alle die so verschiedenen
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V. Das Böse und das Gute
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Entscheidungen nur Variationen einer einzigen, in einer einzigen Richtung immer neu vollzogenen sind. Diese Richtung kann auf zweierlei Weise verstanden werden. Entweder man versteht sie als die Richtung auf die Person, die mit mir gemeint ist und die ich eben nur in solcher Selbstbesinnung, die scheidet und entscheidet, keine Kraft zurückdrängend, aber die richtungslosen Kräfte durch Richtungsverleihung an sie verwandelnd, erfasse: ich erkenne das mit mir Gemeinte je und je und immer klarer, eben indem ich die Richtung darauf verleihe, die Richtung darauf nehme, – die Erfahrung der wesentlichen Stunden erschließt uns diese Paradoxie, ihre Tatsächlichkeit und ihren Sinn. Oder aber man versteht die einzige Richtung als die Richtung zu Gott. Diese Doppelheit des Verständnisses ist aber nichts anderes als eine Doppelheit der Aspekte, wofern ich nur mit dem Namen »Gott« nicht eine Projektion meines Selbst oder dergleichen, sondern meinen Schöpfer nenne, das heißt, den Urheber meiner Einzigkeit, die innerweltlich unableitbar ist. Meine Einzigkeit, diese unwiederholbare Wesensform hier, in keine Elemente zerlegbar und aus keinen zusammensetzbar, erfahre ich als eine entworfene oder vorgebildete, mir zur Ausführung anvertraut, wiewohl alles, was auf mich einwirkt, an ihr mitwirkt und mitwirken muß. Daß ein einmaliges Menschenwesen erschaffen ist, bedeutet, daß es nicht zu einem bloßen Dasein, sondern zur Erfüllung einer Seinsintention ins Sein gesetzt ist, einer Seinsintention, die personal ist, aber nicht im Sinn einer freien Entfaltung unendlicher Sonderheiten, sondern einer Verwirklichung des Rechten in unendlichen Persongestalten. Denn Schöpfung ist zielhaft, und das menschlich Rechte ist der in der Einen Richtung gerichtete Dienst an dem nur eben so weit als dazu not tut zu ahnen gegebenen Ziel der Schöpfung; das menschlich Rechte ist ja der Dienst des einzelnen, der die mit ihm schöpferisch gemeinte rechte Einzigkeit verwirklicht. In der Entscheidung die Richtung annehmen bedeutet somit: die Richtung auf den Punkt des Seins nehmen, an dem ich, den Entwurf, der ich bin, an meinem Teil ausführend, dem meiner harrenden Gottesgeheimnis meiner erschaffenen Einzigkeit begegne. Das so begriffene Gute ist in kein ethisches Koordinatensystem einzuordnen, denn alle, die wir kennen, entstanden um seinetwillen und bestanden oder bestehen kraft seiner. Alles Ethos hat seinen Ursprung in einer Offenbarung, ob es nun noch um sie weiß und ihr botmäßig ist oder nicht, alle Offenbarung aber ist Offenbarung des menschlichen Dienstes am Ziel der Schöpfung, in welchem Dienst der Mensch sich bewährt. Ohne die Bewährung, und das heißt, ohne das Einschlagen und Einhalten der Einen Richtung, soviel er vermag, quantum satis, gibt es für den Menschen wohl, was er das Leben nennt, auch das Leben
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der Seele, auch das Leben des Geistes, in allen Freiheiten und Fruchtbarkeiten, allen Graden und Rängen, – Existenz gibt es für ihn ohne sie nicht.
Gottesfinsternis Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie
Vorwort Dieses Buch ist aus Gastvorlesungen entstanden, die ich gegen Ende 1951 an den Universitäten Columbia, Yale, Princeton und Chicago gehalten habe. An seinen Anfang habe ich, als angemessenen Vorspruch, den 1932 niedergeschriebenen »Bericht von zwei Gesprächen« gesetzt, und den Aufsatz »Die Liebe zu Gott und die Gottesidee« von 1943 habe ich zur Ergänzung des Abschnitts »Religion und Philosophie« aufgenommen. Für den letztgenannten Abschnitt habe ich einiges aus einem Vortrag verwendet, mit dem ich 1929 in Frankfurt a. M. die diesem Gegenstande gewidmete Tagung der Schopenhauer-Gesellschaft eröffnet habe. Der Abschnitt »Religion und modernes Denken« ist zuerst im Februarheft 1952 der Monatsschrift »Merkur« erschienen. In deren Maiheft folgten eine Entgegnung C. G. Jungs und meine hier im Anhang wiederabdruckte Replik.
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Vorspruch Bericht von zwei Gesprächen
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Ich will von zwei Gesprächen erzählen. Einem, das scheinbar so zu Ende kam, wie nur irgendein Gespräch zu Ende kommen kann, und das doch in Wahrheit unausgetragen blieb; und einem, das scheinbar abgebrochen wurde, und das doch eine Vollendung gefunden hat, wie sie Gesprächen nur selten zuteil wird. Beidemal war es ein Kampf um Gott, um den Begriff, um den Namen, aber in sehr verschiedener Weise. * An drei aufeinanderfolgenden Abenden sprach ich in der Volkshochschule einer mitteldeutschen Industriestadt über den Gegenstand »Religion als Wirklichkeit«. Was ich damit meinte, war eine einfache Feststellung: daß »Glaube« nicht ein Gefühl in der Seele des Menschen ist, sondern sein Eintritt in die Wirklichkeit, in die ganze Wirklichkeit, ohne Abstrich und Verkürzung. Diese Feststellung ist einfach; aber sie widerspricht der Denkgewohnheit. Und so bedurfte es, um sie deutlich zu machen, dreier Abende, und zwar nicht bloß dreier Vorträge, sondern auch noch dreier Aussprachen, die auf sie folgten. Bei diesen Aussprachen fiel mir etwas auf und war mir beschwerlich. Einen großen Teil der Hörerschaft machten ersichtlich Arbeiter aus; aber keiner von ihnen ergriff das Wort. Die Redenden, die Fragen, Zweifel, Bedenken vorbrachten, waren zumeist Studenten (denn die Stadt hat eine berühmte alte Universität), doch auch allerlei andere Kreise waren vertreten; nur die Arbeiter schwiegen. Erst am Schluß des dritten Abends klärte sich der mir schon schmerzlich gewordene Umstand auf. Ein junger Arbeiter trat auf mich zu und sagte: »Wissen Sie, wir mögen da so mitten drin nicht reden; aber wenn Sie sich morgen mit uns zusammensetzen wollen, könnten wir das Ganze mal miteinander besprechen.« Selbstverständlich stimmte ich zu. Der nächste Tag war ein Sonntag. Nach dem Mittagessen kam ich an den vereinbarten Ort, und nun redeten wir miteinander wohl bis an den Abend. Unter den Arbeitern war einer, ein nicht mehr junger Mann, den ich immer wieder ansehen mußte, weil er zuhörte wie einer, der wirklich hören will. Das ist nämlich selten geworden, und am ehesten noch unter Arbeitern zu finden, denen es ja nicht um die redende Person zu tun ist,
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wie dem bürgerlichen Publikum so oft, sondern um das, was sie zu sagen hat. Zu dem Mann gehörte ein kurioses Gesicht. Auf einem altflämischen Altarbild, das die Anbetung der Hirten darstellt, hat einer von ihnen solch ein Gesicht; der streckt die Arme der Krippe entgegen. Der Mann mir gegenüber sah nicht so aus, als ob er zu dergleichen Lust hätte, auch sein Gesicht war nicht aufgeschlossen wie das auf dem Bild; aber anzumerken war ihm, daß er hörte und bedachte, beides auf eine ebenso langsame wie nachdrückliche Weise. Schließlich tat auch er die Lippen auf. »Ich habe«, erklärte er langsam und nachdrücklich, eine Wendung wiederholend, die der Astronom Laplace, der Mitschöpfer der Kant-Laplaceschen Weltentstehungstheorie, im Gespräch mit Napoleon gebraucht haben soll, »die Erfahrung gemacht, daß ich diese Hypothese ›Gott‹ nicht brauche, um mich in der Welt auszukennen.« Er sprach das Wort »Hypothese« so aus, als hätte er die Vorlesungen des bedeutenden Naturforschers besucht, der in dieser Industrie- und Universitätsstadt gelehrt hatte und kurz vorher, fünfundachtzigjährig, gestorben war; der mochte, wenn er nicht Zoologie, sondern Weltanschauung trieb, in ähnlichem Tonfall reden, wiewohl er die Bezeichnung »Gott« für seine Idee von der Natur nicht verschmähte. Der knappe Spruch des Mannes traf mich; ich fühlte mich tiefer als von den andern angefordert, herausgefordert. Bisher hatten wir zwar sehr ernst, aber auf eine etwas lockere Weise verhandelt; nun war alles auf einmal streng und hart geworden. Von woher sollte ich dem Mann antworten, damit ihm geantwortet war? Ich überlegte eine Weile in dieser streng gewordenen Luft. Es ergab sich mir, daß ich von seiner naturwissenschaftlichen Weltanschauung aus die Sicherheit erschüttern mußte, mit der er an eine »Welt« dachte, in der man »sich auskennt«. Was war das für eine Welt? Was wir Welt zu nennen pflegen, die Welt, in der es Zinnoberrot und Grasgrün, C-Dur und H-Moll, Apfel- und Wermutgeschmack gibt, die »Sinnenwelt« – war sie etwas andres als das Ergebnis des Zusammentreffens unsrer eigentümlich beschaffenen Sinne mit jenen unvorstellbaren Vorgängen, um deren Wesensbestimmung die Physik sich je und je vergeblich bemüht? Das Rot, das wir sahen, war weder dort, in den »Dingen«, noch hier, in den »Seelen« – aus dem Aneinandergeraten beider schlug es jeweils auf und leuchtete so lange, als eben ein rotempfindendes Auge und eine roterzeugende »Schwingung« sich einander gegenüber befanden. Wo blieb die Welt und ihre Sicherheit? Die unbekannten »Objekte« dort, die scheinbar so bekannten und doch unerfaßlichen »Subjekte« hier, und beider so wirkliche und doch so hinschwindende Begegnung, die »Erscheinungen« – waren das nicht schon drei Welten, die gar nicht mehr von einer einzigen zu umgreifen waren?
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Was war der »Ort«, in dem wir uns diese voneinander so abgehobnen Welten miteinander zu denken vermochten, was war das Sein, das dieser so fragwürdig gewordenen »Welt« ihren Halt gab? Als ich zu Ende war, waltete in dem nun dämmernden Raum ein hartes Schweigen. Dann hob der Mann mit dem Hirtengesicht die schweren Lider, die die Zeit über gesenkt geblieben waren, zu mir und sagte langsam und nachdrücklich: »Sie haben recht.« Bestürzt saß ich ihm gegenüber. Was hatte ich getan? Ich hatte den Mann an die Schwelle des Gemachs geführt, in dem das majestätische Gebild thront, das der große Physiker, der große Gläubige Pascal den Gott der Philosophen nennt. Hatte ich das gewollt? War der, zu dem ich ihn hinführen wollte, nicht der andere, der, den Pascal den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nennt, der, zu dem man du sagen kann? Es dämmerte, es war spät. Am nächsten Morgen mußte ich abreisen. Ich konnte nicht, wie ich nun hätte eigentlich tun müssen, dableiben, in die Fabrik eintreten, wo der Mann arbeitete, sein Kamerad werden, mit ihm leben, sein lebensmäßiges Vertrauen gewinnen, ihm helfen, gemeinsam mit mir den Weg der Kreatur zu gehen, die die Schöpfung annimmt. Ich konnte nur noch seinen Blick erwidern. * Einige Zeit danach war ich bei einem edlen alten Denker zu Gast. Ich hatte ihn einst bei einer Tagung kennengelernt, bei der er einen Vortrag über die Volksschule und ich einen über die Volkshochschule hielt; das brachte uns zusammen; denn wir waren einig darin, daß man das Wort »Volk« beidemal im gleichen umfassenden Sinn zu verstehen habe. Damals hatte es mich freudig überrascht, wie der Mann mit den stahlgrauen Locken uns zu Beginn seiner Rede ersuchte, alles zu vergessen, was wir von seinen Büchern her über seine Philosophie zu wissen glaubten: in den letzten Jahren – und das waren Kriegsjahre gewesen – sei ihm die Wirklichkeit so nahgerückt, daß er alles habe neu besehen und dann eben auch neu bedenken müssen. Altsein ist ja ein herrliches Ding, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heißt; dieser alte Mann hatte es vielleicht gar im Alter erst gründlich erlernt; er tat gar nicht jung, er war wirklich so alt wie er war, aber auf eine junge, anfangskundige Weise. Er lebte in einer andern, westlicher gelegenen Universitätsstadt. Als mich die dortige Theologenschaft einlud, zu ihr über Prophetie zu sprechen, wohnte ich bei dem alten Mann. Es war ein guter Geist in seinem Haus: der Geist, der ins Leben will und dem Leben nicht vorschreibt, wo es ihn einlassen soll.
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An einem Morgen stand ich früh auf, um Korrektur zu lesen. Am Abend vorher hatte ich Bürstenabzüge der Vorrede eines Buches von mir bekommen, und da diese Vorrede ein Bekenntnis war, wollte ich sie recht sorgfältig noch einmal lesen, ehe sie gedruckt wurde. Nun nahm ich sie in das Arbeitszimmer hinunter, das mir für den Fall, daß ich es brauchen würde, angeboten war. Hier aber saß schon der alte Mann an seinem Schreibtisch. Unmittelbar an den Gruß knüpfte er die Frage, was ich da in der Hand hätte, und als ich es ihm sagte, fragte er weiter, ob ich ihm nicht vorlesen wolle. Ich tat es gern. Er hörte freundlich, aber offenbar erstaunt, ja mit wachsendem Befremden zu. Als ich zu Ende war, sagte er zögernd, dann, von dem gewichtigen Anliegen hingerissen, immer leidenschaftlicher: »Wie bringen Sie das fertig, so Mal um Mal ›Gott‹ zu sagen? Wie können Sie erwarten, daß Ihre Leser das Wort in der Bedeutung aufnehmen, in der Sie es aufgenommen wissen wollen? Was Sie damit meinen, ist doch über alles menschliche Greifen und Begreifen erhoben, eben dieses Erhobensein meinen Sie; aber indem Sie es aussprechen, werfen Sie es dem menschlichen Zugriff hin. Welches Wort der Menschensprache ist so mißbraucht, so befleckt, so geschändet worden wie dieses! All das schuldlose Blut, das um es vergossen wurde, hat ihm seinen Glanz geraubt. All die Ungerechtigkeit, die zu decken es herhalten mußte, hat ihm sein Gepräge verwischt. Wenn ich das Höchste ›Gott‹ nennen höre, kommt mir das zuweilen wie eine Lästerung vor.« Die kindlich klaren Augen flammten. Die Stimme selber flammte. Dann saßen wir eine Weile schweigend einander gegenüber. Die Stube lag in der fließenden Helle des Frühmorgens. Mir war es, als zöge aus dem Licht eine Kraft in mich ein. Was ich nun entgegnete, kann ich heute nicht wiedergeben, nur noch andeuten. »Ja«, sagte ich, »es ist das beladenste aller Menschenworte. Keines ist so besudelt, so zerfetzt worden. Gerade deshalb darf ich darauf nicht verzichten. Die Geschlechter der Menschen haben die Last ihres geängstigten Lebens auf dieses Wort gewälzt und es zu Boden gedrückt; es liegt im Staub und trägt ihrer aller Last. Die Geschlechter der Menschen mit ihren Religionsparteiungen haben das Wort zerrissen; sie haben dafür getötet und sind dafür gestorben; es trägt ihrer aller Fingerspur und ihrer aller Blut. Wo fände ich ein Wort, das ihm gliche, um das Höchste zu bezeichnen! Nähme ich den reinsten, funkelndsten Begriff aus der innersten Schatzkammer der Philosophen, ich könnte darin doch nur ein unverbindliches Gedankenbild einfangen, nicht aber die Gegenwart dessen, den ich meine, dessen, den die Geschlechter der Menschen mit ihrem ungeheuren Leben und Sterben verehrt und erniedrigt haben. Ihn meine ich ja, ihn, den die höllengepeinigten, himmelstürmenden Geschlechter
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der Menschen meinen. Gewiß, sie zeichnen Fratzen und schreiben ›Gott‹ darunter; sie morden einander und sagen ›in Gottes Namen‹. Aber wenn aller Wahn und Trug zerfällt, wenn sie ihm gegenüberstehn im einsamsten Dunkel und nicht mehr ›Er, er‹ sagen, sondern ›Du, Du‹ seufzen, ›Du‹ schreien, sie alle das Eine, und wenn sie dann hinzufügen ›Gott‹, ist es nicht der wirkliche Gott, den sie alle anrufen, der Eine Lebendige, der Gott der Menschenkinder?! Ist nicht er es, der sie hört? Der sie – erhört? Und ist nicht eben dadurch das Wort ›Gott‹, das Wort des Anrufs, das zum Namen gewordene Wort, in allen Menschensprachen geweiht für alle Zeiten? Wir müssen die achten, die es verpönen, weil sie sich gegen das Unrecht und den Unfug auflehnen, die sich so gern auf die Ermächtigung durch ›Gott‹ berufen; aber wir dürfen es nicht preisgeben. Wie gut läßt es sich verstehen, daß manche vorschlagen, eine Zeit über von den ›letzten Dingen‹ zu schweigen, damit die mißbrauchten Worte erlöst werden! Aber so sind sie nicht zu erlösen. Wir können das Wort ›Gott‹ nicht reinwaschen, und wir können es nicht ganzmachen; aber wir können es, befleckt und zerfetzt wie es ist, vom Boden erheben und aufrichten über einer Stunde großer Sorge.« Es war sehr hell geworden in der Stube. Das Licht floß nicht mehr, es war da. Der alte Mann stand auf, kam auf mich zu, legte mir die Hand auf die Schulter und sprach: »Wir wollen uns du sagen.« Das Gespräch war vollendet. Denn wo zwei wahrhaft beisammen sind, sind sie es im Namen Gottes.
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Religion und Realität I Das wahre Gepräge einer Epoche ist am zuverlässigsten an dem in ihr herrschenden Verhältnis zwischen Religion und Realität zu erkennen. In den einen ist das, woran die Menschen als an etwas von ihnen selber schlechthin Unabhängiges und in sich Bestehendes »glauben«, eine Wirklichkeit, zu der sie in einer realen Beziehung stehen und von der sie sich freilich, wie sie wohl wissen, nur eine höchst unzulängliche Vorstellung machen können. In den andern hingegen tritt an die Stelle der Wirklichkeit die jeweilige Vorstellung von ihr, die man eben »hat« und demgemäß handhaben kann, oder auch sodann das Residuum der Vorstellung, der Begriff, an dem nur noch verblaßte Spuren des einstigen Bildes haften. Die Menschen, die in solchen Zeiten noch »religiös« sind, merken zumeist nicht, daß das von ihnen als religiös verstandene Verhältnis sich nicht mehr zwischen ihnen und einer von ihnen unabhängigen Wirklichkeit, sondern nur noch innerhalb ihres eignen Geistes vollzieht, eines Geistes, der eben verselbständigte Bilder, verselbständigte »Ideen« umfaßt. Es stellt sich dann wohl aber auch, mehr oder weniger deutlich, eine besondere Menschenart ein, die diesen Stand der Dinge als den rechtmäßigen auffaßt. Nie, so meinen sie, sei Religion etwas anderes gewesen als ein innerseelischer Prozeß, dessen Gebilde auf eine an sich fiktive, von der Seele jedoch mit Wirklichkeitscharakter ausgestattete Ebene »projiziert« werden. Die Kulturepochen mögen immerhin, so sagen sie, nach der Stärke der Bildkraft unterschieden werden, mit der diese Projektion geschieht – endlich muß der Mensch doch, zur Klarheit des Wissens aufgestiegen, erkennen, daß alle vermeintliche Zwiesprache mit dem Göttlichen nur ein Selbstgespräch, vielmehr nur ein Gespräch zwischen verschiedenen Schichten des Selbst gewesen ist. Dann muß, wie ein Vertreter dieser Menschenart in unserer Zeit erklärt hat, verkündigt werden, Gott sei »tot«. Mit welcher Verkündigung aber in Wahrheit nichts anderes gesagt ist, als daß der Mensch unfähig geworden sei, eine von ihm schlechthin unabhängige Wirklichkeit zu fassen und sich zu ihr zu verhalten – unfähig, heißt das auch, sie bildkräftig, in Bildern, die sie für die an sie selbst nicht heranreichende Betrachtung vertreten, vor- und darzustellen. Denn nicht aus der Phantasie, sondern aus wirklichen Begegnungen mit wirklicher göttlicher Macht und Herrlichkeit gehen die großen Gottesbilder des Menschengeschlechts hervor. In demselben Maße, wie die Fähigkeit erlahmt, der von uns schlechthin unabhängigen,
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wenn auch unsrer Hinwendung und Hingabe zugänglichen Wirklichkeit zu begegnen, erlahmt auch die menschliche Kraft, Göttliches in Bildern zu fassen. II 5
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Das Gesagte ist natürlich keineswegs so zu verstehen, als ob ein Gottesbegriff als solcher, eine begriffliche Erfassung des Göttlichen als solche das konkrete religiöse Verhältnis zu beeinträchtigen geeignet wäre. Es kommt alles darauf an, inwieweit dieser Gottesbegriff der Wirklichkeit, die damit gemeint ist, ihr eben als Wirklichkeit gerecht zu werden vermag. Je höher seine Abstraktheit geht, um so stärker muß sie durch das Zeugnis der lebendigen Erfahrung ausgeglichen werden, mit der sie nicht bloß im Gedankensystem verknüpft, sondern zuinnerst verbunden ist. Je weiter der Begriff von allem Anthropomorphismus entfernt erscheint, um so mehr bedarf er der organischen Ergänzung durch den Ausdruck der Unmittelbarkeit und gleichsam leibhaften Nähe, die den Menschen in seinen Begegnungen mit dem Göttlichen, bedrohend oder beseligend oder nur einfach hinweisend, heimsucht. Aller Anthropomorphismus hängt ja doch mit unsrem Bedürfnis zusammen, die Konkretheit der Begegnung in ihrer Bezeugung zu wahren, und auch dies ist noch nicht seine eigentliche Wurzel: in der Begegnung selber tut sich uns etwas zwingend Anthropomorphes an, ein die Gegenseitigkeit Anforderndes, ein allerursprünglichstes Du. Das gilt für jene Momente unsres kleinen Lebens, in denen wir der von uns schlechthin unabhängigen Wirklichkeit gewahr werden, sei es als Macht, sei es als Herrlichkeit, nicht minder als für die Stunden der großen Offenbarungen, von denen stammelnde Kunde zu uns gelangt ist. Ein grundwichtiges Beispiel für die notwendige Ergänzung eines echten Gottesbegriffs durch die Auslegung des vom Menschen menschlich Erfahrenen ist jenseits der Schwelle unseres Zeitalters, aber nicht fern von ihm zu finden: in der Lehre Spinozas. In seiner Auffassung der göttlichen Attribute scheint er mir die größte anti-anthropomorphe Anstrengung des menschlichen Geistes unternommen zu haben. Er bezeichnet die Zahl der Attribute der göttlichen Substanz als unendlich; die zwei unter ihnen aber, die er mit Namen nennt, sind die »Ausdehnung« und das »Denken«, mit anderen Worten: der Kosmos und der Geist. Alles uns wie außer so in uns Gegebene miteinander also macht zusammen nur zwei von unendlich vielen Attributen Gottes aus. Diese Aussage Spinozas bedeutet unter anderem eine Warnung davor, Gott mit
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einem »geistigen Prinzip« zu identifizieren, wie es besonders in unserem Zeitalter immer nachdrücklicher versucht worden ist: auch der Geist ist ja nur gleichsam eine der Engelsgestalten, in denen Gott erscheint. Vor allem aber ist hier die Größe Gottes auf eine bei aller Abstraktheit unüberbietbar anschauliche Weise ausgesprochen. Dennoch bliebe dieser höchste Gottesbegriff in die Sphäre des diskursiven Denkens gebannt und von der religiösen Konkretheit geschieden, wenn Spinoza in seine Lehre nicht ein Element einführte, das, wie rein »intellektual« auch es gemeint ist, sich doch mit Notwendigkeit auf jene Erfahrung gründet, die den Menschen ihrem Wesen nach aus dem Bereiche des abstrahierenden Gedankens herausholt und in die wirkliche Beziehung zu Wirklichem setzt: die Liebe. Spinoza geht hier, wiewohl seine Darstellung hier wie überall eine streng begriffliche ist, in Wahrheit nicht von einem Begriff, sondern von einer konkreten Tatsache aus, ohne die die begriffliche Fassung unmöglich wäre: der Tatsache, daß es Menschen gibt (viele oder wenige, gleichviel, er jedenfalls wußte es offenbar aus seiner Erfahrung), die Gott lieben. Diese ihre Gottesliebe aber versteht er als Gottes Liebe zu sich selbst, die sich durch seine Schöpfung aktualisiert und sowohl die Liebe der Menschen zu ihm wie seine Liebe zu den Menschen einschließt. Gott also, eben der Gott, dem Natur und Geist nur zwei aus der Unendlichkeit seiner Eigenschaften sind, liebt – und da seine Liebe in unserer Liebe zu ihm offenbar wird, muß sie ihr wesensgleich sein. So mündet der äußerste Antianthropomorphismus in eine sublime Anthropomorphie. Auch hier stehen wir am Ende vor der Anerkennung unsrer Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes – Begegnung wahrlich, denn sie geschieht hier in der Wahrnehmung der Identität (»unum et idem«) seiner Liebe mit der unsern, die wir endlichen Natur- und Geistwesen mit ihm, dem Unendlichen, doch schlechthin unidentisch sind.
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III Spinoza begann mit Sätzen, die aussagen, daß Gott ist, und zwar nicht in der Weise eines geistigen Prinzips, das vielleicht nirgendwo anders als im Denken des es Denkenden existiert, sondern in der Weise der Wirklichkeit, nämlich einer in sich bestehenden, von unsrem Dasein völlig unabhängigen Wirklichkeit; eben dies drückte er durch den Begriff der Substanz aus. Er schloß aber mit Sätzen, die involvieren, daß dieser Gott in einer wirklichen Beziehung zu uns und wir in einer wirklichen Beziehung zu ihm stehen; beides in einem drückte Spinoza durch den Begriff der »intellektualen« Liebe Gottes aus, wobei das Adjektiv »intellektual«
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von der antianthropomorphen Tendenz des Philosophen aus zu verstehen ist, dem es darum zu tun war, dem menschlichen Konzipieren von Gottesbildern ein Ende zu machen, somit dem biblischen Bilderverbot die äußerste Umfänglichkeit zu verleihen – ohne aber, wie gesagt, die Wirklichkeit der Beziehung zwischen Gott und Mensch zu verletzen. Daß ihm dieses letztere nicht geglückt ist, liegt daran, daß er von der Beziehung nur ihre höchste Aufgipfelung, nicht aber ihren Grundbestand, die Dialogik zwischen Gott und Mensch, göttliche Anrede in dem, was uns widerfährt, und menschliche Antwort in dem, was wir tun und lassen, kennen wollte; aber seine Absicht hat er mit hinlänglicher Klarheit ausgesprochen. Das Denken unseres Zeitalters ist durch eine wesentlich verschiedene Bestrebung gekennzeichnet. Es geht darauf aus, einerseits die Idee des Göttlichen, als das eigentliche Anliegen der Religion, zu wahren, anderseits aber den Wirklichkeitscharakter der Gottesidee und damit auch die Wirklichkeit unserer Beziehung zu Gott zu tilgen. Das geschieht auf sehr mannigfaltige Art, offenkundig oder verhüllt, apodiktisch oder hypothetisch, in der Sprache der Metaphysik oder in der der Psychologie. Am Eingang des Zeitalters steht eine lang unbekannt gebliebene, auch heute noch nicht zureichend beachtete Polemik gegen Spinoza. Es ist der Satz, den wir (neben manchen Varianten) in Kants merkwürdigen Aufzeichnungen seiner Spätzeit finden: »Gott ist keine äußere Substanz, sondern bloß ein moralisches Verhältnis in uns.« Wohl ist Kant selber bei diesem Satz nicht stehengeblieben; in einer stets erneuten Unruhe hat er in denselben Aufzeichnungen auch durchaus gegensätzliche Thesen aufgestellt; aber der Leser, der die Mühsal und Pein dieser Lektüre nicht scheut, erkennt am Ende, daß es doch dies ist, was Kant letztlich gesucht und zu erfassen versucht hat: ein Gott, der das leistet, was der Philosoph einst als ein »Postulat der praktischen Vernunft« bezeichnet hatte, die Überwindung des Widerspruchs zwischen der Unbedingtheit der Forderung und der Bedingtheit aller immanenten Begründung, den »Grund aller Verbindlichkeit überhaupt«. Daß ein Gott, der nichts andres als ein Verhältnis in uns ist, dies gar nicht zu leisten vermag, daß nur ein selber Absolutes eine absolute Verbindlichkeit delegieren kann, ist der Antrieb jener Unruhe Kants. Einst hatte er dieser fundamentalen Schwierigkeit in seiner Moralphilosophie dadurch zu entgehen versucht, daß er an die Stelle des einzelnen Menschen die menschliche Gesellschaft setzte, deren Bestand durch das sittliche Prinzip ermöglicht werden sollte. Aber erfahren wir nicht in der Tiefe jeder echten Einsamkeit, daß es auch noch jenseits aller Sozialität, ja dort erst recht, eine Spannung zwischen Gut und Böse, zwischen Erfüllen und Verfehlen dessen gibt, was mit uns, mit die-
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sem einzelnen Menschen gemeint ist? Und doch bin ich konstitutiv unvermögend, mich als den letzten Ursprung dieses Ja- und Neinsagens zu mir selbst zu verstehen, als den Bürgen der Unbedingtheit, die ich in diesem Ja- und Neinsagen zwar nicht besitze, aber doch intendiere. Die Begegnung mit dem Ursprechen, dem Ursprecher von Ja und Nein kann durch keine Selbstbegegnung ersetzt werden.
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IV Begreiflicherweise hat das Denken des Zeitalters sich auf seinem Wege zur Irrealisierung Gottes mit dessen Reduktion auf das moralische Prinzip nicht zufrieden gegeben. Die wesentliche Bestrebung der auf Kant folgenden Philosophie geht darauf, das Absolute als solches – somit als nicht »in uns« oder doch nicht in uns allein Existierendes – wiedereinzusetzen; der überlieferte Name »Gott« soll, um der Tiefe seines Hintergrundes willen, bewahrt werden, aber so, daß jede Verbindung mit der Konkretheit unseres Lebens, als eines den Manifestationen Gottes ausgesetzten, sinnlos werden muß. Was den Denkern Platon und Plotin, Descartes und Leibniz fundamental gewiß war, die Wirklichkeit einer Schau oder eines Kontakts, die unser Dasein unmittelbar bestimmen, gibt es in der Welt Hegels (wenn man von seinen auf ganz anderes gerichteten Jugendarbeiten absieht) nicht mehr. »Das Geistige, das was wir Gott nennen«, und das »allein das Wirkliche ist«, ist seinem Wesen nach nur der Vernunft, nicht der Ganzheit des sein konkretes Leben lebenden Menschen zugänglich. Die radikale Abstraktion, mit der für Hegel das Philosophieren beginnt, läßt mit aller anderen Daseinswirklichkeit auch die von Ich und Du versinken. Das Absolute, die Weltvernunft, die Idee, also »Gott«, bedient sich nach Hegel, wie alles Bestehens und Geschehens in Natur und Geschichte, so auch des menschlichen, um zu seiner, Gottes, Selbstverwirklichung und vollkommenem Selbstbewußtsein zu gelangen; aber er tritt nie in eine reale, unmittelbare Beziehung zu uns und gewährt uns keine zu ihm. Dabei nimmt Hegel aber zu Spinozas »amor Dei« eine eigentümliche Doppelstellung ein. »Das Leben Gottes und das göttliche Element«, sagt er, »mag wohl als ein Spielen der Liebe mit sich selbst ausgesprochen werden«, fügt aber sogleich hinzu: »diese Idee sinkt zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und die Arbeit des Negativen darin fehlt.« Für Hegel folgt aus dieser durchaus richtigen Einsicht (die den Gedanken Spinozas freilich gar nicht trifft), daß Gott selber in den dialektischen Prozeß gezogen werden
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müsse, in dem die Negationen erscheinen und überwunden werden. Damit wird aber die konkrete Begegnung Gottes mit dem Widerspruch, wie er sich innerhalb des menschlichen Daseins, des persönlichen und des geschichtlichen, dokumentiert, ins Gebiet der Fiktion verwiesen. Aus der Substanz, die aus der Unendlichkeit ihrer Attribute uns nur zwei, Natur und Geist, bekanntgibt und doch ihre unendliche Liebe in unsrer endlichen leuchten läßt, ist hier das Subjekt eines Natur und Geist umfassenden absoluten Prozesses geworden, das eben in diesem Prozeß in einem »unwiderstehlichen Drang« seine Wahrheit, das Selbstbewußtsein über sich erlangt. In diesem Prozeß, in dem die List der Weltvernunft »die Leidenschaften für sich wirken läßt«, werden »die Individuen aufgeopfert und preisgegeben«. Das Grundthema aller Religion, das auch die »atheistischen« Philosophien nur hatten variieren können, das dramatische Gegenüber eingeschränkten und schrankenlosen Seins, ist ausgelöscht, weil durch das partnerlose, alles verwendende, alles verzehrende Walten eines mit sich und um sich ringenden Weltgeistes ersetzt. Hegel, der die Religion in erneuter Gestalt erhalten wollte, in der die »offenbarte« zu ihrer Vollendung als »offenbare« kommen würde, hat ihre Realität für das Zeitalter ausgehöhlt, an dessen Ende wir stehen. »Es ist nichts Geheimes mehr an Gott«, sagt er von dieser, seiner Ansicht nach höchsten Stufe. Nichts in der Tat, nur daß, was nun und hier Gott genannt wird, dem Menschen nicht mehr Gott, als der ihm in seinen Verzweiflungen und Entzückungen urgeheim und offenbar zugleich Begegnende, sein kann. V
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Nietzsches Spruch, Gott sei tot, wir hätten ihn getötet, faßt die Endsituation des Zeitalters pathetisch zusammen. Aber deutlicher noch als diese einen Satz Hegels 1 in verändertem Ton und Sinn wiederaufnehmende Kundgebung sprechen die Versuche, die so angezeigte Leere des SeinsHorizonts wieder zu füllen. Nur auf zwei besonders gewichtige sei hier hingewiesen. Bergsons Ausgangspunkt ist die Tatsache des effort créateur que manifeste la vie. Dieser effort, sagt er, »ist Gottes (est de Dieu), wenn er nicht 1.
Auf den Zusammenhang hat neuerdings auch Heidegger hingewiesen. Hegel hat (in der Abhandlung »Glauben und Wissen« von 1802) mit den Worten »Gott selbst ist tot« das Wesen des Gefühls darlegen wollen, »worauf die Religion der neuen Zeit beruht«. Er beruft sich zur Erklärung auf Pascals Wort vom »verlorenen Gott«. Aber die drei Sprüche bezeichnen drei unter sich sehr verschiedene Stadien eines Wegs.
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Gott selbst ist«. Der zweite Teil dieses Satzes macht den ersten zunichte. Zunächst weil ein Streben, also ein Vorgang oder die Vorform eines Vorgangs, nicht Gott genannt werden kann, ohne dem Gottesbegriff vollends seinen Sinn zu nehmen. Dann aber und besonders deshalb, weil die entscheidenden religiösen Erfahrungen des Menschen sich nicht in einem Bereich vollziehen, wo die schöpferische Kraft ohne Widerspruch wirkt, sondern da, wo Unheil und Heil, Verzweiflung und Vertrauen, die Macht des Verderbens und die Macht der Erneuerung beieinander wohnen. Das Göttliche, dem der Mensch in seinem Leben real begegnet, schwebt nicht über der Dämonie, sondern durchdringt sie. Wer Gott auf eine hervorbringende Funktion beschränkt, entzieht ihm die wirkliche, überall im brennenden Widerspruch stehende und überall nach der Erlösung langende Welt, in der wir leben. Von wesentlich verschiedener Art ist die durch Heidegger vertretene Auffassung. Zum Unterschied von Bergson geht er nicht auf einen neuen Gottesbegriff aus. Er akzeptiert Nietzsches Spruch vom Tode Gottes und interpretiert ihn. Er interpretiert ihn zunächst zweifellos richtig. Die Aussage »Gott ist getötet« versteht er dahin, daß der Mensch unseres Zeitalters den Gottesbegriff aus dem objektiven Sein in »die Immanenz der Subjektivität« hereingenommen hat. In der Tat, das spezifisch moderne Denken mag einen Gott, der nicht bloß in unserer Subjektivität vorfindlich, nicht bloß ein »höchster Wert« ist, nicht mehr ertragen, und in der Richtung auf dieses Denken führt, wie wir sahen, ein zwar keineswegs geradliniger, aber letztlich eindeutiger Weg. Nun aber fährt Heidegger fort: »Das Töten meint die Beseitigung der an sich seienden übersinnlichen Welt durch den Menschen.« Dieser Satz trifft für sich betrachtet zu; aber er führt auf eine entscheidende Problematik hin, die weder Nietzsche – wenn Heidegger ihn richtig deutet – noch Heidegger erkannt oder anerkannt hat. Unter der »an sich seienden übersinnlichen Welt« versteht Heidegger nämlich »die obersten Ziele, die Gründe und Prinzipien des Seienden, die Ideale und das Übersinnliche, Gott und die Götter«. Aber der lebendige Gott, der einen in den Situationen des gelebten Lebens antritt und anspricht, ist kein Bestandteil solch einer »übersinnlichen Welt«, er ist in ihr ebensowenig wie in der sinnlichen als ein Gegenstand der Subjektivität unterzubringen, und wenn der Mensch es trotzdem unternimmt, die Begegnungen mit ihm als Selbstbegegnungen zu verstehen, wird sein, des Menschen Gefüge zersprengt. Das ist die Signatur der gegenwärtigen Stunde. Diese Stunde sieht Heidegger mit Recht als eine Stunde der Nacht. Er knüpft damit an ein Wort des Dichters an, dessen Auslegung er einige seiner bedeutendsten Arbeiten gewidmet hat, Hölderlins. Dort heißt es:
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Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus, Ohne Göttliches unser Geschlecht.
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Heidegger verheißt freilich, wenn auch nur als Möglichkeit, eine denkerische Wandlung, von der aus der Tag wieder dämmern und »das Erscheinen des Gottes und der Götter neu beginnen kann«. Jedoch die Verkoppelung dieses absoluten Singulars mit diesem perspektivenreichen Plural hat anderen Klang als die Verse, in denen vor anderthalb Jahrhunderten Hölderlin Gott und dessen Erscheinungen in den wirkenden Naturmächten, die »Götter«, pries. Heute, da uns unsere Schicksalsfrage, die Frage nach der wesenhaften Differenz zwischen aller Subjektivität und dem ihr Übermächtigen, bevorsteht, zeigt jenes Nebeneinander von Singular und Plural, daß hier angesagt werden soll, es könnte nach der bildlosen Zeit der Zug der Bilder – Gottesbilder, Götterbilder, Gottesund Götterbilder – von neuem einsetzen, ohne daß der Mensch seine wirklichen Begegnungen mit dem Göttlichen wieder als solche erführe und annähme. Aber ohne die Wahrheit der Begegnung sind alle Bilder Spiel und Trug. Und wer wagte, im tödlichen Ernst der in dieser Stunde zu sprechenden Sprache, Gott und die Götter in der Dimension der wirklichen Begegnung nebeneinander zu stellen? Wohl ist es einst so gewesen, daß, wer einen Gott in der Wahrheit als ein ihm Geweihter anrief, Gott selber, Gottes Göttlichkeit selber meinte, wie sie sich ihm dort und damals als Gewalt oder Gestalt wahrzunehmen gab. Aber es ist nicht mehr an dem. Und auch Hölderlin, als er selber einmal Singular und Plural verband, hat, ahnend, um was es geht, »der Götter Gott« gesagt, was nicht etwa bloß »der höchste Gott« bedeutet, sondern: der auch den »Göttern« Gott ist. VI
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Verfinsterung des Himmelslichts, Gottesfinsternis ist in der Tat der Charakter der Weltstunde, in der wir leben. Aber das ist kein Vorgang, den man von Veränderungen aus, die sich im Menschengeist vollzogen haben, zulänglich erfassen kann. Daß die Sonne sich verfinstert, ist ein Geschehen zwischen ihr und unserem Auge, nicht in diesem darin. Die Philosophie hält uns auch nicht für gottblind. Sie meint, es ermangle uns nur heute an der Geistesverfassung, die ein Wiedererscheinen von »dem Gott und den Göttern«, ein neues Vorüberziehen erhabner Bilder zu ermöglichen vermag. Wo jedoch, wie hier, sich etwas zwischen Himmel und Erde ereignet, verfehlt man alles, wenn man darauf beharrt, die das Geheimnis
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erschließende Kraft innerhalb des Erdendenkens zu entdecken. Wer sich weigert, die wirkende Wirklichkeit der Transzendenz, unser Gegenüber, als solches auszustehn, arbeitet an der menschlichen Seite der Verfinsterung mit. Es sei angenommen, der Mensch habe nunmehr »die Beseitigung der an sich seienden übersinnlichen Welt« völlig zustande gebracht, und es gebe die Prinzipien und die Ideale nicht mehr, die irgendwie, in irgendeinem Maße, an ihm, am Menschen, gehangen haben: sein wahres Gegenüber, das nicht, wie sie alle, als Es zu umschreiben, aber als Du anzureden und zu erreichen ist, mag sich ihm im Zusammenhang dieser Auseinandersetzung verfinstern – es selber lebt unberührbar hinter der Wand der Finsternis. Der Mensch schaffe immerhin auch den Namen »Gott« ab, der ja notwendigerweise eigentlich einen Genetiv nach sich zieht und, wenn der Inhaber des Genetivs ihm absagt, wenn es keinen »Gott des Menschen« mehr gibt, seinen Grund verloren hat: der mit dem Namen Gemeinte lebt im Lichte seiner Ewigkeit. Wir aber, die »Tötenden«, bleiben, als dem Tod Überlassene, in der Finsternis behaust. Als die ersten Menschen, erzählt die jüdische Sage, am Tag ihrer Erschaffung Gott verworfen hatten und aus dem Garten vertrieben worden waren, sahen sie zum ersten Male die Sonne untergehen. Sie entsetzten sich, denn sie konnten es nicht anders verstehn, als daß durch ihre Schuld die Welt ins Chaos rückversinken solle. Die beiden weinten, einander gegenübersitzend, die ganze Nacht, und ihre Umkehr geschah. Da dämmerte der Morgen. Adam erhob sich, fing ein Einhorn und brachte es an seiner Statt zum Opfer dar.
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Die Schwierigkeit, zwischen den Bereichen der Philosophie und der Religion radikal zu unterscheiden, zugleich aber auch die rechte Überwindung dieser Schwierigkeit, zeigen sich am deutlichsten, wenn wir zwei für die beiden Bereiche in dieser Hinsicht repräsentative Personen, Epikur und Buddha, einander gegenüberstellen. Epikur lehrt nicht nur, daß es Götter gebe, nämlich unvergängliche, in den Räumen zwischen den Welten lebende Wesen von reiner Vollkommenheit, aber ohne Macht über die Welt und ohne Interesse an ihr, sondern er unterweist auch, man solle diese Götter durch fromme Vorstellungen und durch die überlieferten Bräuche verehren, insbesondere ihnen fromm und geziemend opfern. Er selbst verehrt und opfert; aber im Fortgehen spricht er, indem er Worte einer Komödienfigur zitiert: »Ich habe Göttern geopfert, die meiner nicht achten.« Hier ist eine Art Dogma und daneben eine Kultübung, und doch offenkundig keine religiöse, sondern eine philosophische Lage. Buddha behandelt die Götter des Volksglaubens, soweit er sie überhaupt der Erwähnung würdigt, mit gelassenem, überlegenem Wohlwollen und nicht ohne Ironie, diese zwar mächtigen und – zum Unterschied von den Göttern Epikurs – auch der Menschenwelt zugewandten, aber wie die Menschen mit der Fessel des Begehrens gebundenen, wie die Menschen ins »Rad der Geburten« verflochtenen Himmelsgestalten; man mag ihnen Verehrung spenden, aber die Legende läßt sie folgerichtig ihm, Buddha, dem »Erwachten«, dem vom Rad der Geburten Befreiten und Befreienden, Verehrung darbringen. Hingegen kennt Buddha ein wahrhaft Göttliches, ein »Ungeborenes, Ungewordenes, Unerschaffenes«; er kennt es zwar nur in solcher völlig negativen Umschreibung und weigert sich, darüber irgendeine Aussage zu machen; aber er steht zu ihm in einer Wesensbeziehung seines ganzen Seins. Hier ist weder Gotteskunde noch Gottesdienst und doch unverkennbare religiöse Wirklichkeit. II
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Somit ist nicht die personenhafte Erscheinung des Göttlichen für die Echtheit der Religion entscheidend, sondern daß ich mich zu ihm als zu einem mir gegenüber Seienden, wenn auch nicht nur mir gegenüber
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Seienden verhalte. Völlige Einbeziehung des Göttlichen in die Sphäre des menschlichen Selbst hebt die Göttlichkeit des Göttlichen auf. Es ist nicht nötig, etwas über Gott zu wissen, um wirklich Gott zu meinen, und mancher wahre Gläubige weiß zwar zu Gott, aber nicht von ihm zu reden. Der unbekannte Gott, wenn man nur auf ihn zu zu leben, ihm entgegenzugehen, ihn anzurufen wagt, ist legitimer Gegenstand der Religion; wer sich weigert, Gott auf die Transzendenz zu beschränken, faßt ihn größer auf, als wer ihn darauf beschränkt; wer ihn aber auf die Immanenz beschränkt, meint etwas anderes als ihn. Der ungeheure Abstand zwischen beiden geht einem auf, wenn man die religiöse Sprache bei Aischylos mit der bei Euripides vergleicht. Im Agamemnon spricht der Chor: »Zeus, wer immer er sei, wenn ihm So genannt zu werden gefällt, Mit dem Namen ruf ’ ich ihn an.«
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Wie dieses »wer immer er sei« zu verstehen ist, sagt ein Fragment desselben Dichters, das seinem Gefühl einen paradoxen Ausdruck verleiht: »Zeus ist das All und was darüber ist.« Hier ist Immanenz mit Transzendenz vereinigt. Zu dem jenem nachfolgenden Satz aber, »wenn ihm so genannt zu werden gefällt«, verweist der Scholiast mit Recht auf den Satz in Platons »Kratylos«: »Wir kennen weder das Wesen noch die wahren Namen der Götter«, und daß dort anschließend erklärt wird, eben deshalb nennten wir sie im Gebet, wie sie eben genannt zu werden belieben. In den »Troerinnen« des Euripides hingegen ruft die alte Königin solchermaßen Zeus an:
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»Du Grund der Erde und darüber thronend, Wer du auch seist, unfaßbar unsrer Kenntnis, Zeus oder Schicksal oder Geist der Menschen, Ich fleh’ dich an.« Wiewohl der Anfang an das aischyleische Fragment anklingt, wird dadurch allein, daß in der Folge die vollkommene Immanenz als eine der gegebenen Möglichkeiten angesehen wird – als ob man zum »Geist der Sterblichen« beten könnte! –, die religiöse Situation aufgehoben. Und wieder lehren uns Bruchstücke anderer Tragödien des Euripides das Gemeinte besser verstehen. In einem heißt es:
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»Sklaven von Göttern sind wir, was auch Götter seien«, und in einem anderen: »Zeus, wer Zeus auch sein mag – Nur vom Hörensagen kenne ich ihn.« 5
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Es ist ein entscheidend bedeutsamer Weg, der von jenem »wer immer er sei« des Aischylos zu diesem scheinbar so ähnlichen »wer Zeus auch sein mag« des noch zu dessen Lebzeiten geborenen letzten der großen Tragiker führt. Gewiß, es ist nicht der Dichter, der hier spricht, sondern seine Figuren; aber es ist unverkennbar, daß sie die innere Situation der Menschenseele aussprechen, in der er lebt. Es ist die Situation des Menschen, der das Göttliche nicht, nicht mehr, als sein Gegenüber erfährt – es nicht zu erfahren wagt oder es nicht zu erfahren vermag, gleichviel: da er sich ihm existentiell entzogen hat, hat er es als Gegenüber verloren. Der aischyleische Chor, ob er vom Gott auch in der dritten Person redet, vollzieht einen echten Anruf von menschlicher zu göttlicher Wesenheit; der Pathetik Hekabes ist, ungeachtet ihres dreifachen Du-Sagens, im Unbedingten kein Du erschlossen. Der berühmte Satz des Protagoras, er könne weder erkunden, daß es Götter, noch daß es keine gebe, denn an der Erkundung hindere die Unoffenbarkeit des Gegenstandes und die Kürze des menschlichen Lebens, übersetzt die Situation in die Sprache des philosophischen Bewußtseins, aber eines sehr zeitbedingten. Für dieses spezifische, alles Absolute im Spiegel einer universalen Relativität auffangende und absorbierende Bewußtsein war die Frage nach den Göttern nur noch die Frage nach der Möglichkeit der Erkundung, ob es sie gebe, geworden. Den großen Denkern des vorangegangenen Zeitalters wäre diese Frage widersinnig erschienen. In Heraklits Spruch »Auch hier sind Götter« ist das Wort »auch« ein großer Hinweis auf die Existenz in der unmittelbaren Gegenwart göttlichen Seins; und wenn er erklärt, das Eine und allein Weise wolle und wolle nicht mit Zeus’ Namen benannt werden, hat er eine ursprüngliche Verbindung von Religion und Philosophie als zwischen der Begegnung mit dem Göttlichen und seiner Objektivierung im Gedanken philosophisch ausgesprochen. Die Auflösung dieser Verbindung ist es, was der Sophist proklamiert, dem Mythos und Kult, die von ihm in der Volkstradition vorgefundenen, nicht mehr Zeugnis und Zeichen einer transzendenten Präsenz, sondern vermutlich nur noch so etwas wie Einbildung und Spiel sind. Dem nicht mehr begegnungsfähigen, aber ungeschmälert denkfähigen Menschen stellt sich aus dem Bereich der Reli-
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gion nur noch die Frage nach der Erkundbarkeit des Vorhandenseins von Göttern, und diese Frage muß, aller Erfahrung ledig, folgerichtigerweise verneint werden. Mit der völligen Ablösung der Philosophie von der – ihr nun bestenfalls nur noch geistesgeschichtlich beachtenswerten – Religion aber sind erstmalig Möglichkeit und Aufgabe einer radikalen Unterscheidung zwischen beiden Bereichen gesetzt. Diese Möglichkeit und diese Aufgabe umfassen selbstverständlich nicht bloß die Epochen der Getrenntheit, sondern auch jene Frühzeiten der Philosophien, in denen jede von ihnen noch mit einer Religion verbunden ist und doch schon Denkwahrheit und Glaubenswirklichkeit sich scharf voneinander abheben; ja, manche grundwichtige unterscheidende Merkmale treten gerade in der Betrachtung jener Frühzeiten am klarsten zutage.
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III An aller großen Religiosität zeigt sich uns, daß Glaubenswirklichkeit bedeutet: der »geglaubten«, das heißt bedingungslos bejahten, unbedingten Wesenheit zugewandt leben. An aller großen Philosophie hingegen zeigt sich uns, daß Denkwahrheit bedeutet: das Unbedingte zu seinem Gegenstand machen, von dem sich aller andere Gegenstand herleiten muß. Mag es auch das Schrankenlose, Namenlose, in keinerlei Personhaftigkeit Erfaßliche sein, was der Glaubende meint: wenn er es lebensmäßig als sein Gegenüber meint, ist sein Glaube existent. Und wieder, mag das Absolute noch so personhaft eingeschränkt besonnen werden: wenn ich es als meinen Gegenstand besinne, philosophiere ich. Die Religion gründet, auch wenn das »Ungewordene« gar nicht mit Mund oder Seele angesprochen wird, in der Zweiheit von Ich und Du, die Philosophie, auch wenn der philosophische Akt in eine Schau der Einheit mündet, in der Zweiheit von Subjekt und Objekt. Die Zweiheit von Ich und Du findet in der religiösen Beziehung ihre Vollendung; von der Zweiheit von Subjekt und Objekt ist die Philosophie getragen, solange philosophiert wird. Die erste erwächst aus der ursprünglichen Situation des Einzelnen: er im Angesicht des Seienden, das auf ihn zu west wie er auf es zu; die zweite geht aus der Aufspaltung dieses Miteinanders in zwei durchaus wesensverschiedene Seinsweisen hervor: ein Sein, das im Betrachten und Besinnen seine Aktualität erschöpft, und eines, das nichts anderes vermag als betrachtet und besonnen zu werden. Ich und Du bestehen kraft der gelebten Konkretion und in ihr; Subjekt und Objekt, die Produkte der Abstraktionsgewalt, währen nur, solange sie wirkt. Die religiöse Beziehung ist, wie verschieden sie sich auch ausformt
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und konstelliert, in ihrem Grunde nichts anderes als die Entfaltung des uns verliehenen Daseins; die philosophische Haltung ist das Werk des sich verselbständigenden, sich als selbständig fassenden und wollenden Bewußtseins. In ihr, in der Philosophie, sammelt im geistigen Werk der Geist des Menschen sich selber; ja, man darf sagen, daß erst hier, erst auf dem steilen Kamm des geleisteten Gedankens die gleichsam über die Person ausgestreute Geistigkeit zum Geiste wird; aber in der Religion, da wo diese nichts ist als das entfaltete schlichte Dasein, als ein Ganzes standhaltend dem Ewigseienden ihm gegenüber, fügt sich auch alle Geistigkeit in die so existente Einheit des Einzelwesens an ihrem Teile ein. Die Philosophie neigt irrtümlich dazu, die Religion als noëtisch begründet anzusehen, nur eben als eine unzulängliche Noësis, ihr Wesen also im Erkennen eines Objekts zu erblicken, das sich zu diesem Erkenntnisakt gleichgültig verhält; den Glauben versteht die Philosophie dann als ein zwischen klarem Wissen und trübem Meinen liegendes Fürwahrhalten. Wogegen die Religion, insofern sie überhaupt von Erkennen spricht, darunter kein noëtisches Verhalten eines Denksubjekts zu einem neutralen Denkobjekt versteht, sondern die reale Gegenseitigkeit eines in der Fülle des Lebens gegenwärtigen Kontakts von wirkender Existenz zu wirkender Existenz; und den Glauben versteht sie als das Eintreten in diese Gegenseitigkeit, das Sich-Verbinden mit einem nicht aufzeigbaren, nicht feststellbaren, nicht beweisbaren, aber eben so im Verbundenwerden, erfahrbaren Sein, von dem aller Sinn kommt. IV
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Eine andere Abgrenzung, der reife Versuch der modernen Philosophie, ist die nach Zielen oder Gehalten der Intention. Danach wäre die Philosophie auf Wesenserforschung, die Religion auf Heilserkundung gerichtet. Nun ist das Heil freilich eine echt und eigentümlich religiöse Kategorie; aber seine Erkundung ist nur betrachtungsmäßig von der Wesenserforschung geschieden. Es ist vielmehr die vornehmste Tendenz der Religion, die wesenhafte Einheit beider darzustellen. So ist der alttestamentliche, auch in der Sprache des Evangeliums bewahrte »Weg Gottes« – worunter keineswegs eine Summe von Vorschriften für den menschlichen Wandel, sondern primär wirklich der Weg Gottes an der Welt und durch sie zu verstehen ist – zugleich der eigentliche Bereich des Gotteserkennens, da er Gottes Sichtbarwerden in seinem Wirken bedeutet, und als das Urbild für die imitatio Dei der Heilsweg des Menschen. Ebenso ist das chinesische Tao, die »Bahn«, in der die Welt schwingt,
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zugleich der kosmische Ursinn und, indem der Mensch diesem sein Leben konformiert und »Nachahmung des Tao« übt, die höchste Vollendung der Seele. – Aber darüber hinaus ist zu beachten, daß die Religion, so hoch sie jene Intention stellt, sie nicht als das Höchste und Eigentliche faßt: was hier in der intendierenden Haltung eigentlich intendiert wird, ist die intentionsbefreite Haltung; worum es der Heilssuche zu tun ist, ist die Auswirkung des Heils – der »Weg« ist das Unwillkürliche, die Übereinstimmung. Philosophie meint wirklich das Philosophieren, Religion meint, je realer sie ist, um so mehr ihre eigene Überwindung: sie will aufhören, die Spezialität »Religion« zu sein, und will das Leben werden; es ist ihr letztlich nicht um die spezifischen religiösen Akte, sondern um die Erlösung von allem Spezifischen zu tun; historisch und biographisch strebt sie zum reinen Alltag hin. Religion ist in der religiösen Anschauung das Exil des Menschen; seine Heimat ist das unwillkürliche Leben »im Angesicht Gottes«. Es geht gegen den realsten Willen der Religion, sie von dem Ausbau ihrer Spezifikationen aus zu umschreiben statt von ihrer Lebensmäßigkeit aus – dies freilich muß so geschehen, daß sich ihre Spezifikation nicht in einer Universalität verflüchtige, sondern in einer Fundamentalität verfestige. V Wenn wir die Geschichte einer der geschichtlichen Religionen beobachten, sehen wir, in verschiedenen Epochen und in verschiedenen Phasen, einen im wesentlichen gleichbleibenden inneren Kampf wiederkehren. Es ist der Kampf des religiösen Elements gegen das von allen Seiten eindringende Nichtreligiöse – Metaphysik, Gnosis, Magie, Politik usw. –, dessen Gemisch sich an die Stelle des fließenden und im Fluß sich erneuernden Glaubenslebens zu setzen sucht und das dabei auch an dem Mythischen und dem Kultischen, beide ursprünglich nur der religiösen Beziehung als Sprache dienend, Helfer findet. Das religiöse Element muß, um seine Echtheit zu schützen, die Verselbständigung des so entstandenen Konglomerats bekämpfen, das sich von ihm, von dem religiösen Leben der Person, unabhängig zu machen strebt. Dieser Kampf, der sich in prophetischem Protest, ketzerischer Auflehnung, reformatorischem Abbau und wiederherstellen wollender Neubegründung vollzieht, ist, wie gesagt, in seiner Einheitlichkeit erkennbar: es ist ein Kampf um die Wahrung der gelebten Konkretheit als des unentwertbaren Ortes der Begegnung zwischen Menschlichem und Göttlichem. Die jeweils gelebte Konkretheit, der »Augenblick« in seiner Unvorhersehbarkeit und Unwie-
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derbringlichkeit, in seiner unableitbaren Einmaligkeit, in seiner Entscheidungsmacht, in seiner geheimen Dialogik von Widerfahrendem und Gewolltem, von Schicksal und Handlung, von Anrede und Antwort ist es, der von den eindringenden außerreligiösen Elementen bedroht und von dem religiösen in seiner ausweglosen Einsamkeit an allen Fronten verteidigt wird. In keinem anderen Glaubensgehalt als in ihrer höchsten Gewißheit kann in allen Religionen die Religion determiniert werden. Das ist die Gewißheit, daß der Sinn des Daseins in der jeweils gelebten Konkretheit aufgetan und erlangbar ist – nicht über dem Handgemenge mit der geschehenden Wirklichkeit, sondern in ihm. Daß der Sinn in der jeweils gelebten Konkretheit aufgetan und erlangbar ist, bedeutet nicht, daß er durch irgendeine analytische oder synthetische Erforschung, durch irgendeine Reflexion auf die gelebte Konkretheit aus ihr zu gewinnen und innezuhaben sei, vielmehr, daß er eben in ihr, also im lebendigen Tun und Leiden selber, in der unverkürzten Augenblicklichkeit des Augenblicks erfahren wird. Freilich, wer auf das Erfahren der Erfahrung ausgeht, verfehlt sie mit Notwendigkeit, weil er die Spontaneität des Geheimnisses verletzt. Nur der erlangt den Sinn, der dem ganzen Walten der Wirklichkeit ohne Rückhalt und Vorbehalt standhält und ihm lebensmäßig, das heißt in der vollen Bereitschaft, den erlangten Sinn mit dem Leben zu bewähren, antwortet. Jede religiöse Aussage ist ein vergeblicher Versuch, dem erlangten Sinn gerecht zu werden. Alle religiöse Äußerung ist nur Hindeutung auf seine Erlangung. Die Entgegnung des Volkes Israel am Sinai. »Wir tun’s, wir hören’s«, spricht das Entscheidende mit naiver und unüberbietbarer Prägnanz aus. Der Sinn wird gefunden, indem man sich mit dem Einsatz der eigenen Person daran beteiligt, daß er sich kundtut. VI
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Alle religiöse Wirklichkeit beginnt mit dem, was die biblische Religion »Gottesfurcht« nennt, das heißt mit dem Unbegreiflich- und Unheimlichwerden des Daseins zwischen Geburt und Tod, mit der Erschütterung aller Sicherheiten durch das Geheimnis – nicht das relative, nur der menschlichen Erkenntnisbeschaffenheit unzugängliche, also prinzipiell erschließbare, das noch Unerkannte, sondern das wesenhafte Geheimnis, zu dessen Wesen seine Unerforschlichkeit gehört: das Unerkennbare. Durch dieses dunkle Tor (das eben ein Tor und nicht, wie manche Theologen meinen, ein Wohnhaus ist) tritt der Glaubende in den nunmehr
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geheiligten Alltag als in den Raum, in dem er mit dem Geheimnis zu leben hat, auf den konkreten Situationszusammenhang seines Daseins hingewiesen und angewiesen. Daß er fortan die Situation als ihm von dem Geber gegeben entgegennimmt, ist, was die biblische Religion »Gottesfurcht« nennt. Ein namhafter Philosoph unserer Tage, Whitehead, fragt, wie sich denn der alttestamentliche Spruch, die Furcht Gottes sei der Anfang der Weisheit, mit dem neutestamentlichen Spruch vereinbaren lasse, daß Gott die Liebe sei. Er hat eben den Sinn des Wortes »Anfang« nicht voll erfaßt. Wer mit der Liebe beginnt, ohne zuvor die Furcht erfahren zu haben, liebt einen Götzen, den er sich zurechtgemacht hat und den es leicht ist zu lieben, nicht aber den wirklichen Gott, der zunächst furchtbar und unverständlich ist. Merkt er es dann nachträglich, wie Hiob und Iwan Karamasow merken, daß Gott furchtbar und unverständlich ist, dann entsetzt er sich und verzweifelt an Gott und der Welt, wenn Gott sich seiner nicht, wie Hiobs, erbarmt und ihn dazu bringt, ihn selber zu lieben. Das ist es doch wohl, was Whitehead selbst meint, wenn er sagt, Religion sei der Übergang von God the void zu God the enemy und von ihm zu God the companion. Daß der Gläubige, der durch das Tor der Furcht ging, auf den konkreten Situationszusammenhang seines Daseins hingewiesen und angewiesen ist, bedeutet eben dies: daß er die Wirklichkeit des gelebten Lebens, furchtbar und unverständlich auch sie, im Angesicht Gottes aushalte und daß er in der Liebe Gottes, den er lieben gelernt hat, sie liebe. Darum hat jede echte religiöse Äußerung einen – offenkundigen oder verborgenen – persönlichen Charakter, das heißt, sie ist von einer konkreten Situation aus gesprochen, an der die Person als Person teilnimmt. Das tritt auch in Bezirken zutage, wo das Wort »Ich« aus einer edlen Scheu grundsätzlich vermieden ist. Konfuzius, der von sich selber fast ebenso ungern redet wie von Gott, sagt einmal: »Ich murre nicht wider Gott und grolle nicht den Menschen. Ich forsche hier unten, aber ich dringe durch nach oben. Wer mich kennt, das ist Gott.« Die religiöse Äußerung ist an die konkrete Situation gebunden. Daß einer die konkrete Situation als ihm gegeben entgegennimmt, bedeutet aber keineswegs, daß er das jeweils ihm gegenüber Geschehende als »gottgegeben« in seiner puren Tatsächlichkeit hinzunehmen geneigt sein müßte. Vielmehr kann er diesem Geschehenden die äußerste Feindschaft ansagen und dessen »Gegebenheit« nur als eine behandeln, die seine eigenen Gegenkräfte herauszufordern bestimmt ist. Aber er wird sich dem konkreten Sosein, Sogeschehen der Situation nicht entheben, sondern eben auch in der Form der Bekämpfung auf sie und in sie eingehen.
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Arbeitsfeld oder Schlachtfeld, er nimmt das Feld an, in das er gestellt ist. Er kennt kein Darüberschweben des Geistes; ihm erscheint auch die sublimste situationsunverbundene Geistigkeit als dem Schein ausgesetzt – nur der situationsverbundene Geist gilt ihm als dem Pneuma verbunden. Als Einwand gegen die von mir angedeutete Determination der Religion könnte man etwa die asketischen Tendenzen in einigen Religionen anführen. Aber diese Tendenzen bedeuten, sofern nur das Religiöse selbst nicht geschwächt wird, keine Abkehr von der gelebten Konkretheit. Die Einrichtungsweise des Lebens und die Auswahl der zu bejahenden Lebenselemente hat sich hier verändert, aber nicht durch Lockerung des Verhältnisses zum Augenblick, das man vielmehr zu intensivieren sucht: man will das Verhältnis zum Augenblick auf dem Weg der Askese retten, weil man an der religiösen Bewältigung der nicht asketischen Elemente, also der Lebensfülle, verzweifelt, das heißt der Sinn in ihr nicht mehr aufgetan und erlangbar erscheint. Die asketische »Erhebung« ist etwas ganz anderes als die philosophische. Auch sie ist eine Form der Konkretion, freilich eine durch Abstrich erzielte. VII
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Dagegen beginnt das Philosophieren, beginnt immer neu die Philosophie damit, daß einer von seiner konkreten Situation entscheidend absieht, also mit dem elementaren Abstraktionsakt. Was hier mit Abstraktion gemeint ist, ist als schlichter anthropologischer Tatbestand zu verstehen, nicht also, womit als mit der »radikalen Abstraktion« zu beginnen Hegel vom Philosophen fordert. Hegel kann die Schöpfung der Welt eine Abstraktion vom Nichts nennen; uns bedeutet sie gerade die Einsetzung der konkreten Wirklichkeit, von der der philosophierende Mensch eben entscheidend absieht und absehen muß. Anderseits kann Hegel »das höchste Wesen« als »die reine Abstraktion« bezeichnen, wogegen der religiöse Mensch eben dessen gewiß ist, im Verlaufe dieser seiner Sterblichkeit Gott gerade in dessen Geben und seinem, des Menschen, Annehmen der konkreten Situation begegnen zu können. Unter elementarem Abstrahieren verstehen wir einfach die innere Bewegung des Menschen, sich über diese konkrete Situation in die Sphäre der strengen Begrifflichkeit zu erheben, in der die Begriffe nicht mehr wie dort Hilfsmittel zur Erfassung der Wirklichkeit sind, sondern das von den Bedingtheiten befreite Sein als den Gegenstand des Denkens darstellen.
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Die Entschiedenheit dieses Absehens, dieser Abwendung wird zuweilen dadurch verdeckt, daß ein Philosoph sich so verhält, als wolle und könne er innerhalb seiner konkreten Situation philosophieren. Das deutlichste Beispiel bietet uns Descartes. Wer ihn in der ersten Person reden hört, dem ist zumute, als hörte er die Stimme der unmittelbaren Selbsterfahrung. Aber dem ist nicht so. Das Ich in dem kartesianischen ego cogito ist nicht die lebendige leibseelische Person, von deren Leibhaftigkeit ja eben erst als anzweifelbar abgesehen worden war, sondern das Subjekt des Bewußtseins, als der angeblich allein unserer Natur durchaus zugehörigen Funktion. In der gelebten Konkretheit, in der das Bewußtsein Primgeiger, aber nicht Kapellmeister ist, ist dieses ego gar nicht gegenwärtig. Ego cogito bedeutet ja bei Descartes nicht einfach »Ich habe Bewußtsein«, sondern: »Ich bin es, der Bewußtsein hat« – also das Produkt einer dreifachen abstrahierenden Reflexion. Zunächst holt die Reflexion, die »Zurückbiegung« der Person auf sich selbst, aus dem in der konkreten Situation Erfahrenen das »Bewußtsein« (cogitatio) hervor, das dort als solches gar nicht zu erfahren war; sodann stellt sie fest, daß zu einem Bewußtsein ein Subjekt gehört, und bezeichnet dieses mit dem Wort »ich«; und schließlich identifiziert sie die Person selbst, diese lebende leibseelische Person, mit jenem »Ich«, das heißt mit dem abstrakten, in der Abstraktion hergestellten Subjekt des Bewußtseins. Aus dem »Das« der konkreten Situation, welches Empfinden und Empfundenes, Vorstellen und Vorgestelltes, Denken und Gedachtes umschließt, entsteht zunächst ein »Ich denke das«, das heißt: ein Subjekt denkt dieses Objekt, dann wird das im Grunde unentbehrliche »Das« (oder Etwas oder Es) weggelassen; und nun gewinnen wir die Aussage der Person über sich selbst: also habe ich (nicht mehr das Subjekt, sondern die lebendige Person, die zu uns spricht) reale Existenz; denn im ego soll nun diese Existenz involviert sein. Descartes versucht somit auf dem Wege der Abstraktion die Konkretheit der Ausgangssituation als Erkenntnis zu gewinnen, aber vergeblich. Das Ich der lebendigen Person läßt sich nie in solch einer Ableitung, wohl aber im echten Verkehr mit einem Du als existent erfahren. Auf dem Weg der philosophischen Abstraktion ist die Konkretheit, von der alles Philosophieren ausgeht, nicht wieder zu erreichen: sie ist aufgehoben. Nun ist es aber ein hohes Recht der Philosophie, als den obersten Preis dieses unerläßlichen Absehens ein Hinaufsehen, nicht mehr ein Herzusehen, sondern ein Hinaufsehen, auf die Gegenstände der wahren Schau, die »Ideen«, zu verkünden und zu verheißen. Diese Konzeption, durch die indische Lehre von der Lösung des Erkennenden aus der Welt der Erfahrung vorbereitet, ist erst von den Griechen ausgebildet worden.
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Wie sie die Hegemonie des Gesichtssinnes über die anderen Sinne aufrichteten, die optische Welt also zur Welt schlechthin machten, in die die Daten der anderen Sinne nun einzutragen seien, so verliehen sie auch dem Philosophieren – das für den Inder noch das Unterfangen war, das eigene Selbst zu ergreifen – einen optischen Charakter, das heißt den der Betrachtung eines Sonderobjekts. Die Geschichte der griechischen Philosophie ist die einer – in Platon sich endgültig klärenden, in Plotin sich vollendenden – Optisierung des Denkens. Das Objekt dieser Denkschau ist das Allgemeine als das Seiende oder Überseiende. Die Philosophie ist auf der Voraussetzung gegründet, daß man das Absolute im Allgemeinen schaue. Im Gegensatz zu ihr muß die Religion, wenn sie sich philosophisch zu determinieren hat, sagen, daß sie den Bund des Absoluten mit dem Besondern, mit dem Konkreten meint. Darum ist der zentrale Vorgang der christlichen Philosophie, der scholastische Universalienstreit, in dem es um die Realität oder Irrealität des Allgemeinen ging, im Grunde ein philosophisches Gefecht zwischen Religion und Philosophie, und das ist seine dauernde Bedeutung. Aber auch in religiös klingenden Formeln wie etwa der von Malebranche, wir sähen die Dinge in Gott, redet das philosophische Absehen; denn diese »Dinge« sind nicht die der konkreten Situation, sondern so allgemein wie die platonischen Ideen (»les idées intelligibles«). Wenn hingegen der religiöse Mensch (oder Malebranche nicht mehr als der philosophische Systematiker, sondern als der religiöse Mensch, der er war) denselben Satz spricht, verwandelt er ihn; denn für ihn bedeutet »Dinge« nicht die Urbilder oder »Vollkommenheiten«, sondern die wirklichen Exemplare, die Wesen und Gegenstände, mit denen er, diese leibliche Person, sein Leben verbringt; und wenn er zu sagen wagt, er sehe sie in Gott, so redet er nicht vom Hinaufsehen, sondern vom Herzusehen: er bekennt, daß der Sinn in der jeweils gelebten Konkretheit aufgetan und erlangbar ist. Herrlich erstattet Platon seinen menschlichen und dichterischen Bericht von der Geheimnisfülle der konkreten Situation und weiß auch herrlich zu schweigen; dann jedoch, da er, in jener unvergänglichen Briefstelle, über sein Schweigen Rechenschaft ablegt und es zu erklären sucht, geht er zwar von der Konkretheit des »Zusammenlebens« aus, wo »im Nu wie von springendem Feuer ein Licht entzündet wird«, wendet sich aber zur Erklärung sogleich einer Darlegung der Erkenntnis des Erkannten zu, welches das Allgemeine ist. In der konkreten Situation stehend und auch noch sie bezeugend, ist der Mensch vom Regenbogen des Bundes zwischen dem Absoluten und dem Konkreten überzirkt; will er philosophierend das weiße Licht des Absoluten als den Gegenstand sei-
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ner Erkenntnis ins Auge fassen, bieten sich ihm immer nur die Urbilder oder Ideen, die Verklärungen des Allgemeinen dar – die farbenfreie, die überfarbige Brücke bleibt aus. Hier, so scheint mir, ist auch der Grund zu suchen, weshalb Platon von der Identifizierung der Idee des Guten mit Gott, wie wir sie aus seiner Politeia kennen, zur Konzeption des die Ideen anschauenden Demiurgen, wie sie im Timäus erscheint, übergegangen ist.
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VIII Aber die Religion darf auch dem selbstgewissesten Stolz der Philosophie gegenüber nicht blind sein für deren großes In-Pflicht-genommen-sein, zu dem der jeweilige, immer wiederkehrende Verzicht auf die ursprüngliche Verbundenheit im Gegenüber, auf die Wirklichkeit, die sich zwischen Ich und Du begibt, auf die Augenblickhaftigkeit des Augenblicks notwendig gehört. Die Religion muß, wie um die Erkenntnisnot, so auch um die Erkenntnispflicht des Menschen wissen. Sie muß wissen, daß eben über diese Not und Pflicht der Weg der Geschichte geht – biblisch gesprochen, daß das Essen vom Baum der Erkenntnis aus dem Paradies, aber in die Welt führt. Welt, Welt als objektiver und in sich geschlossener Zusammenhang alles Seienden, des naturhaften und des geistigen, bestünde für uns nicht, wenn nicht unser Denken, das sich im Philosophieren entfaltet, die Weltkonkreta, die uns dargereicht werden, einschmölze, sie untereinander und mit allem je von Menschen Erfahrenen und als erfahrbar Erfaßten verschmölze. Und erst recht bestünde für uns der Geist als objektiver Zusammenhang nicht, wenn der Gedanke ihn nicht, wenn er selber als Philosophie sich nicht objektivierte und zusammenschlösse. Nur dadurch, daß die Philosophie die Konkretheitsbindung radikal aufgab, ist jene ungeheure Herstellung eines objektiven Denkkontinuums möglich geworden, mit einem statischen System von Begriffen und einem dynamischen von Problemen – eines Kontinuums, in das jeder Mensch, der »denken« kann, durch bloße Ausübung dieser Fähigkeit, durch denkendes Verstehen des Gedachten einzutreten vermag. Nur von hier aus gibt es eine »objektive« Verständigung, das heißt eine, die nicht wie die religiöse dadurch herbeigeführt wird, daß zwei Menschen einander an dem von beiden vollzogenen persönlichen Lebenseinsatz erkennen, sondern dadurch, daß beide eine keinen Lebenseinsatz erfordernde Denkfunktion vollziehen und die Spannung zwischen den beidseitigen Begriffsgehalten und Problemstadien in fruchtbarer Dialektik austragen. Die religiöse
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Mitteilung eines Seinsgehalts aber geschieht in der Paradoxie, das heißt nicht als erweisliche Behauptung (Theologie, die dies prätendiert, ist vielmehr eine fragwürdige Art der Philosophie), sondern als Hinzeigung auf den verhüllten Daseinsbereich des Hörenden und das darin und allein darin zu Erfahrende. Die künstlerische Mitteilung, die hier nicht unerwähnt bleiben darf, geschieht in der Gestalt, aus der ein mitgeteilter Gehalt nicht zu selbständigem Vorhandensein herausgelöst werden kann. Objektiv mitteilbar und tradierbar ist ein Seinsgehalt nur in der Philosophie und kraft ihrer, somit nur durch die objektivierende Bearbeitung der Situation und von da aus. Ein skeptisches Urteil über den Wahrheitszugang und die Wahrheitshaltigkeit der Philosophie soll hier keineswegs ausgesprochen sein. Freilich darf unter der möglichen Denkwahrheit nicht ein erkennerischer Seinsbesitz, wohl aber ein erkennerisches Realverhältnis zum Sein verstanden werden. Die Denksysteme sind Bekundungen echter (und nur durch das Absehen ermöglichter) Denkrelationen zum Sein; nicht bloße »Aspekte«, sondern gültige Dokumente dieser denkerischen Entdekkungszüge. Eine Verwandtschaft und ein Unterschied im Persönlichen zwischen Religion und Philosophie sei noch erwähnt. In der religiösen Wirklichkeit hat sich die Person zu einer Ganzheit zusammengeschlossen, als die allein sie religiös zu leben vermag. In dieser Ganzheit ist naturgemäß auch das Denken beschlossen, als eigengesetzlicher, aber nicht mehr zur Absolutisierung seiner Eigengesetzlichkeit strebender Bereich. Auch im echten Philosophen findet eine Totalisierung statt, jedoch kein Zusammenschluß; vielmehr überzieht und überwältigt hier das Denken alle Mächte und Reiche der Person, so daß im großen Akt des Philosophierens auch noch die Fingerspitzen denken – aber sie tasten nicht mehr. IX Das Seiende ist dem Menschen entweder Gegenüber oder Gegenstand. In dieser Zwiefalt des Verhältnisses zum Seienden – Begegnung und Betrachtung – baut sich das Menschenwesen auf. Dies sind nicht zwei Erscheinungsformen, sondern die zwei Grundarten des Daseins mit dem Seienden. Das Kind, das seine Mutter anruft, und das Kind, das sich seine Mutter ansieht, in genauerer Beispielgebung: das Kind, das die Mutter stumm, durch nichts anderes als durch sein In-ihre-Augen-sehen, anspricht, und dasselbe Kind, das etwas an der Mutter wie irgendein ande-
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res Objekt in Augenschein nimmt, zeigen die Zwiefalt an, in der der Mensch steht und besteht, und etwas von ihr ist zuweilen noch an dem Sterbensnahen wahrzunehmen. Was hier offenbar wird, ist die Doppelstruktur des menschlichen Daseins selber: weil es die zwei Grundarten unseres Daseins mit dem Seienden sind, sind es die zwei Grundarten unseres Daseins überhaupt – Ich-Du und Ich-Es. Ich-Du findet seine höchste Verdichtung und Verklärung in der religiösen Wirklichkeit, in der das uneingeschränkt Seiende als die absolute Person zu meinem Partner wird; Ich-Es findet seine höchste Verdichtung und Verklärung in der philosophischen Erkenntnis, in der die Herausholung des Subjekts aus dem Ich des unmittelbar gelebten Zusammenseins von Ich und Es und die Verwandlung des Es in das prinzipiell abgesonderte Objekt das strenge Denken des gedachten Seienden, ja des gedachten Seins stiftet. Die göttliche Wahrheit will, nach einem Worte Franz Rosenzweigs, »mit beiden Händen«, der der Philosophie und der der Theologie, »angefleht werden«. »Wer sie«, fährt er fort, »mit dem doppelten Gebet des Gläubigen und des Ungläubigen anruft, dem wird sie sich nicht versagen.« Aber was ist das Gebet des Ungläubigen? Kritischer »Atheismus« (Atheoi nannten die Griechen ja die Leugner des überlieferten Götterwesens) ist das in der dritten Person, in der Form eines Redens von der Idee gesprochene Gebet des Philosophen zu dem wieder unbekannt gewordenen Gott. Es ist geeignet, die religiösen Menschen aufzurühren und sie mitten durch die entgottete Wirklichkeit zu einer neuen Begegnung ausziehen zu lassen. Auf ihrem Weg stürmen sie Bilder, die offenkundig Gott nicht mehr gerecht werden können. Der Geist treibt sie, der den Philosophen trieb.
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In den hastig aufgezeichneten, wie Schreie der Seele wirkenden Zeilen, die Pascal 1654, nach zwei Stunden der Verzückung niederschrieb und bis zum Tode im Futter seiner Kleider eingenäht trug, heißt es nach der Überschrift »Feuer«: »Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und der Gelehrten.« Das ist die Bekehrung des Herzens, die sich in ihm vollzogen hat: nicht von einem Sein, in dem es keinen Gott gibt, hat er sich zu einem Sein gewandt, in dem es einen Gott gibt, sondern von dem Gott der Philosophen zu dem Gott Abrahams. Vom Glauben überwältigt, weiß er mit dem Gott der Philosophen, das heißt mit einem Gott, der einen bestimmten Platz in einem Gedankensystem einnimmt, nichts mehr anzufangen. Der Gott Abrahams, der Gott, den Abraham glaubt, der Gott, den Abraham liebt (»die ganze Religion der Juden«, sagt Pascal, »hat lediglich in der Liebe Gottes bestanden«), kann, eben weil er Gott ist, nicht in einem Gedankensystem untergebracht werden, er transzendiert jedes schlechthin und seinem Wesen nach. Was die Philosophen Gott nennen, ist, notwendigerweise, eine Idee; aber Gott, der »Gott Abrahams«, ist keine Idee, in ihm heben sich alle Ideen auf, ja, wenn ich sogar ein Sein, in dem sich die Ideen aufheben, philosophisch, das heißt als Idee, denke, meine ich den Gott Abrahams nicht mehr. Die »spezifische Konkupiszenz« der Philosophen ist nach einer Andeutung Pascals der Hochmut: sie bieten ihren Mitmenschen statt Gottes ihr System an. »Wie? sie haben Gott gekannt und haben nicht einzig begehrt, daß die Menschen ihn lieben, sondern daß die Menschen bei ihnen innehalten!« Gerade weil sie das Bild der Bilder, die Idee, an seine Stelle setzen, entfernt sie sich und entfernen sie uns am weitesten von ihm. Es geht nicht anders, man muß wählen; Pascal hat gewählt, in jenen alles umstürzenden Stunden, da ihm in Erfüllung ging, was er, anscheinend kurz zuvor, in seinem Krankengebet erbeten hatte: sich wie im Augenblick des Todes zu befinden, »getrennt von der Welt, entblößt von allen Dingen, allein in deiner Gegenwart, um deiner Gerechtigkeit mit allen Bewegungen meines Herzens zu erwidern«. Pascal war freilich selber kein Philosoph, er war Mathematiker, und einem Mathematiker ist es unvergleichlich leichter als einem Philosophen, sich von dem Gott der Philosophen abzuwenden. Müßte der Philosoph doch, um diese Wendung wahrhaft zu vollziehen, darauf verzichten, Gott in irgendeiner begrifflichen Form in sein System einzube-
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ziehen; statt Gott als einen Gegenstand unter Gegenständen, den höchsten eben, zu enthalten, müßte seine Philosophie als Ganzes und in allen ihren Teilen auf ihn hinweisen, ohne von ihm selber zu handeln. Das heißt aber: der Philosoph müßte erkennen und bekennen, daß seine Idee des Absoluten da aufgehoben wird, wo das Absolute lebt; daß sie da aufgehoben wird, wo man das Absolute liebt; weil da das Absolute eben nicht mehr »das Absolute«, über das philosophiert werden kann, sondern Gott ist.
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II Wer deutlich erfassen will, welches endlose, aussichtslose Ringen damit einem Philosophen des kritischen Zeitalters auferlegt ist, lese die Aufzeichnungen Kants aus sieben Altersjahren zu seinem unvollendeten Nachlaßwerk 1 . Es ist das Bild einer existentiellen Tragik ohnegleichen, das sich uns darstellt. Kant nennt das Prinzip, das den Übergang zur Vollendung der Transzendentalphilosophie macht, das Prinzip der »transzendentalen Theologie« und sieht es in der Frage »Was ist Gott?« und »Ist ein Gott?« Er erklärt: »Die Aufgabe der Transzendentalphilosophie bleibt noch immer unaufgelöst: Ist ein Gott?« Solange diese Frage nicht beantwortet ist, ist für ihn geradezu »die Aufgabe« seiner Philosophie nicht erfüllt; auch jetzt, in der Späte des Lebens, da die geistigen Kräfte erlahmen, ist sie »noch immer unaufgelöst«. In immer neuen Anstrengungen müht er sich darum, webt immer wieder die Antwort und trennt das Gewobene immer wieder auf. Er formuliert das Äußerste: »Ihn [Gott] sich zu denken und zu glauben, ist ein identischer Akt« und »Der Gedanke von ihm ist zugleich der Glaube an ihn und seine Persönlichkeit«; aber dieser Glaube führt nicht dazu, daß für die Philosophie des Philosophen Gott zur Wirklichkeit werde: »Gott ist nicht ein Wesen außer mir, sondern bloß ein Gedanke in mir«, oder wie es ein andermal heißt: »sondern bloß ein moralisches Verhältnis in mir«. Dennoch kommt ihm eine »Realität« zu: »Gott ist eine bloße Vernunftidee, aber von der größten inneren und äußeren praktischen Realität.« Das ist jedoch offenbar eine Art von Realität, die nicht recht geeignet erscheint, den Gedanken an ihn mit dem »Glauben an ihn und seine Persönlichkeit« identisch zu machen, und dieselbe Transzendentalphilosophie, de-
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Sie sind 1936 und 1937 in der Akademieausgabe der Schriften Kants, Band XXI und XXII, veröffentlicht worden.
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ren Aufgabe es ist, zu erkennen, ob ein Gott ist, sieht sich schließlich genötigt zu erklären: »Es ist ungereimt, zu fragen, ob ein Gott sei.« Der Widerspruch vertieft sich noch, wo Kant sich mit dem Glauben als solchem befaßt. Er skizziert flüchtig eine fundamentale Unterscheidung: zwischen »einen Gott glauben« und »an einen Gott glauben«. Mit »einen Gott glauben« ist offenbar gemeint: einen Gott zum ideellen Gegenstand seines Glaubens haben; das geht daraus hervor, daß »an einen Gott glauben« für Kant, wie er ausdrücklich sagt, soviel bedeutet wie: an einen lebendigen Gott glauben. An einen Gott glauben heißt also: zu einem Gott in einem persönlichen Verhältnis stehen, in dem man nur zu einem lebenden Wesen zu stehen vermag. Das wird noch verdeutlicht durch Kants Zusatz: »nicht an ein Wesen, das bloß Götze ist und keine Person«. Ein Gott also, der keine lebendige Person ist, ist ein Götze. So nah kommt Kant hier der Wirklichkeit des Glaubens. Aber er läßt es nicht gelten: das System nötigt ihn, das Gesagte entscheidend einzuschränken. Auf derselben Seite des Manuskripts steht: »Die Idee von Gott als lebendiger Gott ist nur das Schicksal, was dem Menschen unausbleiblich bevorsteht.« Ist sie aber »nur« das, dann kann man ja gar nicht rechtmäßig »an einen Gott glauben«, das heißt zu einem Gott in einem persönlichen Verhältnis stehen. Der Mensch – so sagt der Philosoph – muß glauben, sowie er Gott denkt; aber der Philosoph muß diesem Glauben den Charakter der Wahrheit und damit den der Wirklichkeit (einer mehr als nur psychischen Wirklichkeit) nehmen. Was für Pascal (wie für Abraham) das Entscheidende war, die Liebe zu Gott, fehlt hier anscheinend notwendigerweise. III
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Aber der Philosoph, der vom Glauben überwältigt wird, muß von der Liebe reden. Der letzte in der Reihe der großen Schüler Kants, Hermann Cohen, ist ein hohes Beispiel des Philosophen, der vom Glauben überwältigt wird. Der Gottesglaube ist für sein Denken schon in der Jugend ein grundwichtiger Gegenstand gewesen, und zwar ein psychologischer, wovon seine Ausführungen über »die Frage nach der Entstehung des Göttermythos«, über die »poetische Tat« der »götterschaffenden Phantasie«, in der 1868 in Steinthals »Zeitschrift für Völkerpsychologie« erschienenen Abhandlung »Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele« eine beachtenswerte Kundgebung sind. Ist hier der Glaube psychologisch relativiert, so muß er mit der Entwicklung des philosophischen Systems
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grundsätzlich als selbständiger, vom Wissen unterschiedener Begriff in Frage gestellt werden. In der »Ethik des reinen Willens« (1904) heißt es: »Gott darf nicht zu einem Inhalte des Glaubens werden, wenn dieser Glaube einen Unterschied von Wissen bedeuten soll.« Von den zwei Arten des Glaubens, die Kant im Opus postumum unterscheidet, »einen Gott glauben«, das heißt eine Gottesidee in sein Wissenssystem aufnehmen, und »an einen lebendigen Gott glauben«, das heißt sich lebensmäßig zu ihm als zu einem Lebendigen verhalten, lehnt Cohen noch nachdrücklicher als Kant die zweite Art ab, wodurch für ihn die »große Zweideutigkeit« des Wortes Glauben überwunden wird. Während Kant in ihr nur ein »Schicksal« des Menschengeschlechts anerkennt, will Cohen, unter Berufung auf Maimonides (die er drei Jahre später einschränkt: Maimonides habe behutsamerweise nur den Begriff des Lebens bei Gott und beim Menschen unterschieden – was aber in Wahrheit etwas ganz anderes ist) »den Begriff des Lebens von dem Begriffe Gottes abtrennen«. Wie für Kant, so ist für Cohen Gott eine Idee; »wir nennen«, sagt Cohen, »Gott eine Idee, und zwar das Zentrum aller Ideen, die Idee der Wahrheit«. Gott ist keine Person; als eine solche erscheint er nur »im Bannkreis des Mythos«. Er ist aber auch keine Existenz, weder eine naturhafte noch eine geistige, »sowenig die Idee überhaupt mit dem Begriffe des Daseins verknüpfbar ist«. Der Gottesbegriff wird in das Lehrgebäude der Ethik aufgenommen, weil durch ihn als die Idee der Wahrheit die Einheit von Natur und Sittlichkeit gestiftet wird. In dieser Auffassung Gottes als Idee sieht Cohen die »wahrhafte Religiosität«, die somit erst dadurch zustandekommen kann, daß jedes Glaubensverhältnis zu einem lebendigen Gott in seiner Problematik durchschaut und zunichte gemacht wird; Gott hat hier keinen anderen Ort als innerhalb des Denksystems. Das System wehrt sich mit erstaunlicher Kraft gegen einen lebendigen Gott, der dessen Vollkommenheit, ja dessen absolute Befugnis in Frage stellen würde. Der Denker Cohen wehrt sich gegen den Glauben, der, aus uraltem Erbgut aufsteigend, ihn zu überwältigen droht. Er wehrt sich mit Erfolg, mit systemschöpferischem Erfolg. Cohen hat dem Gott der Philosophen noch einmal ein Haus gebaut. Und doch wird er, exemplarisch wie kein andrer Philosoph des Zeitalters, vom Glauben überwältigt – freilich ohne daß deshalb seine Arbeit an der Einbeziehung Gottes in das System nachließe; vielmehr wird sie von da an zu einem bewundernswürdigen Ringen mit der eigenen Erfahrung. Cohen hat die Ergebnisse seiner Überwältigung durch den Glauben philosophisch objektiviert und sie seinem Begriffssystem einverleibt; er
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hat nirgends in seinen Schriften direktes Zeugnis für sie abgelegt; aber die Zeichen sind unverkennbar. Wann ist die entscheidende Wendung geschehen? IV 5
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Die Antwort auf diese Frage gewinnt man, wenn man die Wandlung betrachtet, die in Cohens Gedankengängen der Liebe zu Gott widerfährt. Cohen, der parallel mit der Entwicklung des Systems das Erbgut der jüdischen Religion in einer Reihe von Aufsätzen behandelt hat, hat dem Eckpfeiler dieser Religion, durch den sie die Vollendung ihres Einzigkeitswerts gewann, dem Gebot der Gottesliebe, erst spät eine seiner würdige Stätte eingeräumt. Erst drei Jahre nach der »Ethik«, in der wichtigen Abhandlung »Religion und Sittlichkeit«, die im übrigen die Formulierungen der »Ethik« noch überspitzt, das »Interesse an der sogenannten Person Gottes und an dem sogenannten lebendigen Gotte« verpönt und von den Propheten Israels sagt, sie hätten das direkte Verhältnis zwischen Mensch und Gott »bekämpft«, hören wir Worte über die Gottesliebe, die einen neuen Ton anschlagen. »Je mehr die Gotteserkenntnis«, heißt es hier, »sich zugleich als Gottesliebe fühlt, desto leidenschaftlicher wird der Glaubenskampf, der Kampf um die Erkenntnis und die Liebe Gottes.« Es ist unverkennbar, daß Cohen sich hier gerade dem Lebendigkeitscharakter des Glaubens nähert. Aber die Gottesliebe selber bleibt hier noch etwas Abstraktes und Unanschauliches. Und weitere drei Jahre danach beginnt der kleine Aufsatz »Die Liebe zur Religion« mit dem wunderlichen Spruch: »Die Liebe zu Gott ist die Liebe zur Religion«, und der erste Absatz schließt mit dem nicht minder wunderlichen: »Die Liebe zu Gott ist demnach die Erkenntnis der Sittlichkeit.« Man muß nur die beiden »ist« ernstlich beachten, um zu merken, daß es darum geht, etwas noch Unklassifiziertes, aber sich als zentral Aufdrängendes dadurch zu klassifizieren, daß man es mit schon Erfaßtem und Eingeordnetem gleichsetzt – und daß die Gleichsetzung nicht gelingt. Um das letztere festzustellen, braucht man die angeführten Sätze nur mit einem der Sprüche der Bibel zu konfrontieren, die die Liebe zu Gott gebieten oder preisen und denen ja dieser ihr Begriff entnommen ist: was hier geboten und gepriesen wird, ist etwas Wesensanderes als die Liebe zur Religion und die Erkenntnis der Sittlichkeit, wiewohl es beide einschließt. Aber in der Ausarbeitung von Cohens Berliner Vorlesungen von 1913-1914, die 1915 unter dem Titel »Der Begriff der Religion im System der Philosophie« erschien, kommt eine Liebe zum Ausdruck, die
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jenes »ist« umwirft. »Wenn ich Gott liebe«, sagt Cohen – und dieses »ich« schlägt dem Leser ans Herz, wie jedes echte »ich« in jedem echten Philosophenwerk – »so denke ich ihn nicht mehr« (dieses »nicht mehr« ist doch beinah ein direktes Zeugnis) »nur als den Bürgen der Sittlichkeit auf Erden«, sondern? Sondern als den Rächer des Armen in der Weltgeschichte: »Diesen Rächer der Armen liebe ich.« Und weiter im gleichen Sinn: »Ich liebe in Gott den Vater des Menschen.« »Vater« bedeutet hier: »Schutz und Beistand der Armen«, denn »an dem Armen geht mir der Mensch auf«. Welch ein großes Stück Wegs sind wir über die »Liebe zur Religion« hinausgekommen! Aber das Neue wird noch deutlicher und nachdrücklicher ausgesprochen: »Daher soll die Liebe zu Gott alle Erkenntnis übertreffen … Es bleibt nichts übrig im Bewußtsein des Menschen, wenn er Gott liebt. Daher heißt diese allen sonstigen Inhalt resorbierende Erkenntnis nicht mehr nur Erkenntnis, sondern Liebe.« Und so ist es denn zuhöchst folgerichtig, daß in diesem Zusammenhang das biblische Gebot der Gottesliebe angeführt und ausgelegt wird: »Ich kann Gott nicht lieben, ohne mein ganzes Herz, wie es für die Mitmenschen lebt, ohne meine ganze Seele, wie sie in allen Richtungen des Geistes der Mitwelt zugekehrt ist, ohne meine ganze Kraft für diesen Gott in seiner Korrelation zum Menschen einzusetzen.« Hier sei ein Einwand eingeschaltet, der sich jedoch nicht auf diese Sätze Cohens, sondern auf einen an sie geknüpften bezieht. Cohen spricht von der »Paradoxie«, »daß ich den Menschen lieben soll«. »Wurm, der ich bin«, fährt er fort, »von Leidenschaften zerfressen, der Selbstsucht zum Köder hingeworfen, soll ich dennoch den Menschen lieben. Wenn ich dies kann, und sofern ich dies kann, kann ich auch Gott lieben.« Eindringliche Worte – aber dem letzten Satz widerspricht die Tatsächlichkeit so vieler wichtiger Menschen. Und die biblische Lehre bewältigt die Paradoxie genau umgekehrt. Sie weiß, daß man nicht gebieten kann, den Menschen zu lieben: ich kann nicht zu jedem Menschen Liebe empfinden, und wenn es mir Gott selber gebietet. Die Bibel gebietet die Menschenliebe direkt nur in der Gestalt der Liebeserweisung (III. M. 19, V. 18 und 34): ich soll meinem »Gefährten«, das heißt jedem einzelnen Menschen, mit dem ich je und je auf den Wegen meines Lebens zu tun bekomme, jedem, dem ich auf ihnen begegne, auch dem »Ger«, dem Gastsassen, als einem mir Gleichen Liebe erweisen, ihm liebemäßig zugewandt sein (ich soll »ihm« lieben, eine Dativkonstruktion, die charakteristischerweise nur an diesen zwei Stellen der Bibel vorkommt), selbstverständlich nicht mit äußeren Gebärden, sondern in wahrhafter Wesenshaltung – die kann ich wollen, dies also mir gebieten lassen; was an Liebesgefühl für meinen Gefährten dabei aus meinem Verhalten in
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mein Herz fällt, wird mir nicht von meinem Willen gegeben. Wohl aber gebietet die Schrift dem Menschen (V. M. 6, 5; 10, 12; 11, 1), als Gefühl, Gott zu lieben, und nur im Zusammenhang damit gebietet sie ihm (10, 19), den Gastsassen, der mein Gefährte ist, zu lieben: weil nämlich Gott ihn liebt (10, 19). Wenn ich Gott liebe, über den Weg meiner Gottesliebe, bekomme ich auch den zu lieben, den er liebt. Gott aber kann ich in der Tat lieben wollen, sowie ich ihn nur kenne – und das angesprochene Israel kennt ihn –, und so kann ich mir dies gebieten lassen. Cohen meint es in der Tat anders. Denn nun wirft er die Frage auf, ob er etwa daran Anstoß nehmen solle, daß Gott »nur Idee ist«. »Sollte ich etwa«, antwortet er, »Ideen nicht lieben können? Was ist denn aber der Mensch anderes als eine soziale Idee, und doch kann ich ihn nur in dieser und kraft dieser als Individuum lieben: also, strenggenommen, nur diese soziale Idee vom Menschen lieben.« Mir scheint es sich damit anders zu verhalten: nur wenn und weil ich den und den Menschen liebe, kann sich meine Beziehung zur sozialen Idee vom Menschen zu jenem vom Gefühl getragenen Verhältnis meines ganzen Wesens erheben, das ich Liebe nennen darf. Und Gott? Franz Rosenzweig hat davor gewarnt, Cohens Gottesidee so zu verstehen, als ob Gott für ihn »nur eine Idee« wäre. Die Warnung besteht zu Recht; mit Recht weist Rosenzweig darauf hin, daß eine Idee für Cohen nicht »nur eine Idee« ist. Aber man darf auch das freilich ganz anders geartete »nur« in Cohens Worten »Gott, der nur Idee ist« nicht überhören. Wir mögen unser Verhältnis zur Idee des Schönen, zur Idee des Guten eine Liebe nennen, obgleich, wie mir scheint, auch es seinen Gemütsgehalt und Gemütswert erst von den Konkretionen her erhält: Gott lieben ist von alledem wesensverschieden. Wer Gott liebt, liebt ihn gerade insofern er nicht »nur Idee« ist; und weil er nicht »nur Idee« ist, kann er ihn lieben. Und ich wage zu sagen: auch Cohen hat Gott zwar als Idee gedacht, aber geliebt hat auch er ihn als – Gott. V In dem in den Jahren nach dem »Begriff der Religion« entstandenen großen Nachlaßwerk, »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«, hat Cohen die Frage wiederaufgenommen, und mit noch größerer Prägnanz. »Wie kann man eine Idee lieben?«, läßt er fragen, und er antwortet: »Wie kann man etwas anderes lieben als eine Idee?« Begründend fährt er fort: »Liebt man doch sogar in der sinnlichen Liebe nur die idealisierte Person, nur die Idee der Person.« Aber wäre es sogar richtig, daß man in der »sinnlichen« Liebe (vielmehr: in der sinnlichkeitumfas-
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senden Liebe) nur die idealisierte Person liebe, so wäre damit keineswegs gesagt, daß man da nur die Idee der Person liebe: auch die idealisierte Person bleibt eine Person und wird nicht zur Idee; nur weil es die Person, die ich idealisiere, wirklich gibt, kann ich die idealisierte lieben. Mag Dante auch la gloriosa donna della mia mente im Sinn haben, entscheidend ist, daß seinen Augen zunächst die leibhafte Beatrice erschien und ihm den »Geist des Lebens« erbeben ließ. Aber geht nicht die Kraft, die einen zur Idealisierung eines geliebten Menschen bewegt, befähigt und ermächtigt, von der Urwesenstiefe eben dieses geliebten Menschen aus? Ist die echte Idealisierung nicht letztlich Entdeckung des Wesens, das mit dem von mir geliebten schöpfungsmäßig gemeint ist? »Die Liebe des Menschen zu Gott«, sagt Cohen, »ist die Liebe zum sittlichen Ideal. Nur das Ideal kann ich lieben, und das Ideal kann ich nicht anders fassen, es sei denn, daß ich es liebe.« Auch auf dieser höchsten Stufe des vom Glauben überwältigten Philosophen sagt er von der Liebe zu Gott noch aus, was sie »ist«, und nicht, was sie einschließt. Die Liebe des Menschen zu Gott ist aber nicht die Liebe zum sittlichen Ideal, sie schließt sie nur ein. Wer Gott nur als das sittliche Ideal liebt, kann leicht dazu gelangen, an der Führung einer Welt zu verzweifeln, deren Augenschein Stunde um Stunde allen Prinzipien seiner sittlichen Idealität widerspricht. Hiob verzweifelt, weil ihm Gott und sein sittliches Ideal auseinanderzugehen scheinen. Der ihn aus dem Sturme anredet, überragt auch noch die Sphäre der Idealität. Er ist nicht ihr Urbild, ihr Urbild ist in ihm. Er gibt das Ideal, aber er gibt sich darin nicht aus. Die Einheit Gottes ist nicht das Gute, sondern das Übergute. Er will, daß man seiner Offenbarung folge; aber angenommen und geliebt werden will er bis in seine Verborgenheit hin. Wer Gott liebt, liebt das Ideal und liebt Gott mehr als es. Und von ihm, nicht von einem Ideal, nicht von einer Idee, sondern eben von ihm, den zu erfassen die Idealität nicht zulangt, von ihm, der absoluten Person Gott, weiß er sich geliebt. Heißt das, daß Gott Person »ist«? Der Absolutheitscharakter seiner Person, die Paradoxie der Paradoxien, verbietet solch eine Aussage. Es heißt nur, daß er als Person liebt und als Person geliebt werden will. Und wäre es nicht anders, so ist er, als er den Menschen schuf, Person geworden, um ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden, um mich zu lieben und von mir geliebt zu werden. Denn mag es so sein, daß auch Ideen geliebt werden: nur Personen lieben. Und auch der vom Glauben überwältigte Philosoph, der – das System auch jetzt noch, ja heftiger als je mit beiden Händen umklammernd – die Liebe zwischen Gott und Mensch als Liebe zwischen Idee und Person deutet, bezeugt doch jene in ihrer Wirklichkeit, die aus Gegenseitigkeit besteht. Auch die Philosophie, die, um das
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Sein Gottes rein zu halten, ihm das Dasein abspricht, weist gegen ihren Willen auf den Brückenbogen des Daseins hin, der sich über den beiden Pfeilern, dem allmächtigen und dem hinfälligen, unerschütterlich spannt.
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VI Cohen hat einmal von Kant gesagt: »Was seiner Gotteslehre charakteristisch ist, das ist das Unpersönliche im üblichen Sinne, das wahrhaft Geistige: die Erhebung Gottes zur Idee.« Er fügt hinzu: »Und nichts Geringeres ist der tiefste Grund der jüdischen Gottesidee.« Was Kant angeht, besteht das Urteil zwar zu Recht; aber wir lesen im Opus postumum Seite um Seite, wie in ihm selber immer wieder Widerspruch gegen eine Durchführung dieser Erhebung Gottes zur Idee rege wird, die, wie es dann bei Cohen geschieht, eine Verknüpfung der Idee mit dem Begriffe des Daseins ablehnt. »Unter dem Begriffe von Gott«, schreibt Kant, »denkt sich die Transzendentale Philosophie eine Substanz von der größten Existenz«, um freilich ein andermal zu präzisieren: »Das Ideal einer Substanz, welches wir uns selbst schaffen« und wieder ein andermal: »Der Begriff von einem solchen Wesen ist nicht der von einer Substanz, das ist von einem Dinge, das unabhängig existiere.« Was uns in diesen zuweilen chaotisch anmutenden Aufzeichnungen vorliegt, sind die Akten des Prozesses, in den das Denken der Gottesidee bei ihrem Denker verläuft, des Prozesses nämlich zwischen dem Element »Idee« in der Gottesidee und dem Element »Gott« in ihr, eines Prozesses, der immer wieder an den gleichen Punkt zurückkehrt, bis er abgebrochen wird. Cohen hatte es unternommen, die Idee in einen so folgerichtigen Zusammenhang einzustellen, daß kein Antrieb zu einem Widerspruch aufkommen könne; auch als ihn der Glaube überwältigte, ließ er nicht ab, um die Erhaltung dieses Zusammenhangs zu ringen. Dabei meinte er den »tiefsten Grund der jüdischen Gottesidee« auf seiner Seite zu haben. Aber auch der tiefste Grund der jüdischen Gottesidee kann nur durch Vertiefung in jenes »Ehje« erreicht werden, jenes von Gott zu Mose gesprochene »Ich-bin-da«, das für alle Zeiten über Sinn und Gehalt dieser Idee entschieden hat und in dem gerade das persönliche »Dasein« Gottes, ja seine lebendige Gegenwart, als das Attribut angesprochen wird, das unter allen den Menschen, dem er sich kundgibt, am unmittelbarsten angeht. Und unauflösbar ist mit der Kundgebung des »Ehje« die Selbstbezeichnung des Sprechers als Gottes Abrahams, Gottes Isaaks und Gottes Jakobs verbunden: ihn kann
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man nicht zum Gott der Philosophen machen. Aber wer sagt: »Ich liebe in Gott den Vater des Menschen«, hat, möge er es selber im übrigen nicht wahrhaben wollen, dem Gott der Philosophen mit der Urkraft seines Herzens schon abgesagt. In seinem Selbstverständnis hat Cohen nicht zwischen ihm und dem Gott Abrahams gewählt, sondern er glaubt bis ans Ende, sie miteinander identifizieren zu können; aber die Urkraft seines Herzens, sie, von der aus auch dem Denken seine Vitalität zukommt, hatte für ihn gewählt und entschieden. Die Identifizierung ist mißglückt und sie mußte mißglücken. Denn die Gottesidee, das Meisterwerk des Menschen, ist nichts als das Bild der Bilder, das sublimste unter den Bildern, die sich der Mensch von Gott, dem Bildlosen, macht; und eben dies zu erkennen und sich damit zu bescheiden, widerstrebt seinem Wesen. Aber der Mensch erfährt, wenn er Gott lieben lernt, eine Wirklichkeit, die die Idee überwächst. Er mag immerhin die große Anstrengung des Philosophen machen, um den Gegenstand seiner Liebe als einen Gegenstand seines philosophischen Denkens festzuhalten: die Liebe zeugt für das Dasein ihres Partners.
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Ich will von dem Verhältnis des modernen Denkens zur Religion reden. Damit sollen aber weder die Versuche gemeint sein, von der Glaubenswirklichkeit aus zu denken, noch auch die, zwischen ihr und der Philosophie ein auf gegenseitige Toleranz begründetes Einvernehmen zu schaffen. Mein Gegenstand soll vielmehr das moderne Denken nur insofern sein, als es sich das Verdikt darüber zuspricht, ob oder unter welchen Bedingungen oder in welchen Grenzen der Religion der Charakter einer menschlichen Lebenswirklichkeit beizumessen sei. Ein Urteilen dieser Art finden wir einerseits im ontologischen Sinn, in dem sogenannten Existentialismus Heideggers und Sartres, anderseits im psychologischen Sinn, in Jungs Theorie des kollektiven Unbewußten. Beiderlei Haltung liegt die Auffassung zugrunde, der Verlauf der Krisis, in die die Religion eingetreten sei, hänge im wesentlichen von den Bestimmungen ab, die das moderne Denken, das ontologische oder das psychologische, treffe. Diese Auffassung gilt es zu prüfen. Wenn ich Heidegger und Sartre nebeneinander genannt habe, so soll damit keineswegs eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen in ihrem Verhältnis zur Religion behauptet werden. Im Gegenteil, sie sind zweifellos in dieser Hinsicht, wie in so vielen anderen, von Grund aus verschieden, und demgemäß muß die Antwort an den einen von der an den andern grundverschieden sein. Sartre proklamiert seinen Atheismus; er sagt 1 : »Der atheistische Existentialismus, den ich vertrete …« Zu den Vertretern dieser Anschauung zählt er zwar auch Heidegger, der es aber abgelehnt hat, so klassifiziert zu werden; wir müssen uns also an Sartre selber halten. Er will offenbar, daß sein Atheismus als ein folgerichtiges Ergebnis der Existentialphilosophie verstanden werde. Und zweifellos haben wir hier einen etwa von dem materialistischen wesensverschiedenen Atheismus vor uns; daß er sich aber aus der existentiellen, das heißt von der Wirklichkeit des menschlichen Daseins ausgehenden Weltkonzeption ergäbe, läßt sich nicht begründen. Sartre nimmt Nietzsches Ruf oder besser Schrei »Gott ist tot!« als gültige Aussage über einen Tatbestand auf. Unser Zeitalter erscheint ihm spezifisch als das Gott überlebende. Daß aber Gott tot ist, darunter
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soll, sagt er einmal 1 – wiewohl er an anderer Stelle 2 höchst nachdrücklich als ein Wissender versichert: »Dieu n’existe pas« – nicht verstanden werden, daß es ihn nicht gebe, noch auch nur, daß es ihn nicht mehr gebe. An Stelle dieser Interpretationen setzt er die seine, die absonderlich genug ist. »Er ist tot«, sagt er 3, »er sprach zu uns, und nun schweigt er; wir berühren nur noch seinen Leichnam.« Der erschreckend triviale Schlußsatz bleibe hier unerörtert. Aber hören wir auf das Vorhergehende: »Er sprach zu uns, und nun schweigt er«, und versuchen wir, es ernst zu nehmen, das heißt, ignorieren wir, was Sartre damit eigentlich sagen will, nämlich, daß der Mensch in früheren Zeiten Gott zu hören meinte, jetzt aber unfähig geworden sei, das noch länger zu meinen, und fragen wir uns, ob es nicht wörtlich wahr sein könnte, daß Gott vordem zu uns sprach und nun schweigt, und ob dies nicht so zu verstehen ist, wie die hebräische Bibel es verstanden haben will, nämlich, daß der lebendige Gott ein nicht bloß sich offenbarender, sondern auch »sich verbergender« Gott 4 ist. Vergegenwärtigen wir uns, was es bedeutet, in dem Zeitalter solch einer Verborgenheit, solch eines göttlichen Schweigens zu leben, und wir werden vielleicht darüber, was daraus für unser eigenes Dasein folgt, ganz anderes erfahren, als was Sartre uns lehren will. Was Sartre uns lehren will, sagt er uns deutlich genug 5 : »Dieses Schweigen des Transzendenten, verbunden mit der Fortdauer des religiösen Bedürfnisses beim modernen Menschen, das ist die große Angelegenheit, heute wie gestern. Es ist das Problem, das Nietzsche, Heidegger, Jaspers peinigt.« Mit anderen Worten: der Existentialismus muß Mut zu sich selber bekommen, er muß das unzeitgemäße religiöse Bedürfnis abschaffen, muß die Gottsuche endgültig aufgeben, er muß Gott »vergessen« 6 . Der Mensch muß endlich, nach einer jahrhundertelangen Krisis sowohl des Glaubens wie der Wissenschaft, die schöpferische Freiheit wiedererlangen, die er einst in Gott versetzt hatte, und sich als das Wesen erkennen, dessen Erscheinen bewirkt, daß es eine Welt gibt. »Denn«, sagt Sartre 7 , »es gibt kein anderes Universum als das menschliche, das Universum der menschlichen Subjektivität.« Der Satz, den ich eben angeführt habe, klingt wie die These eines erneuerten Idealismus. Das Problem, das die existentialistischen Denker unseres Zeitalters – 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Situations I. (1947) 153, Abschnitt »Un nouveau mystique« von 1943. L’existentialisme 33 f. Situations a. a. O. Jesaia 45, 15. Situations I. a. a. O. Ebd. 154. L’existentialisme 93.
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soweit sie es nicht wie Sartre kurzerhand loswerden – »peinigt«, liegt tiefer, als er meint. Es geht letztlich um die Frage, ob das Beharren des »religiösen Bedürfnisses« nicht auf etwas der menschlichen Existenz Inhärentes hinweist. Bedeutet existieren wirklich, wie Sartre es versteht, »für sich« dasein, in seiner Subjektivität eingekapselt, oder bedeutet es nicht wesentlich: dem x – nicht einem x, für das eine bestimmte Größe einzusetzen wäre, sondern dem X schlechthin, dem Unbestimmbaren und Unergründlichen gegenüber dasein? »Gott«, sagt Sartre 1 , »ist die Quintessenz des Andern.« Der Andere aber, das ist für Sartre 2 der, der mich »ansieht«, der mich zum Objekt macht, wie ich ihn; auch den Gottesbegriff versteht er als den eines unentfernbaren Zeugen, und wenn dem so ist, »was bedürfen wir Gottes? Der Andere genügt, jeder beliebige Andere« 3 . Wie aber, wenn Gott nicht die Quintessenz des Andern, sondern seine Absolutheit ist? Und wenn zwischen mir und dem Andern primär nicht das gegenseitige Verhältnis von Subjekt und Objekt, sondern das gegenseitige Verhältnis von Ich und Du waltet? Jeder empirische Andere bleibt freilich nicht mein Du; er wird mir zum Es, zum Gegenstand, wie ich ihm; nicht so aber das absolute Andere, mein absolutes Gegenüber, das unbestimmbare und unergründliche X, das ich »Gott« nenne: Gott selber kann mir nie zum Gegenstand werden; ich kann kein andres Verhältnis zu ihm gewinnen als das des Ich zu seinem ewigen Du – das des Du zu seinem ewigen Ich. Wenn der Mensch aber dieses, eben dieses Verhältnis nicht mehr zu gewinnen vermag, wenn Gott ihm schweigt und er Gott, dann ist etwas geschehen, nicht in der menschlichen Subjektivität, sondern im Sein selber geschehen, und es wäre dessen würdiger, es sich nicht in großen und unzuständigen Sprüchen, wie jenen vom »Tode« Gottes, zurechtzulegen, sondern es, wie es ist, auszuhalten und zugleich auf ein anderes Geschehen, auf eine neue Wandlung im Sein existentiell zuzugehen, auf das Wiederlautwerden des Wortes zwischen Himmel und Erde zuzugehen, über den eignen Tod hinweg. Das von Sartre beanstandete Beharren des »religiösen Bedürfnisses«, von dem er meint, daß es dem Schweigen des Transzendenten widerspreche, weist also vielmehr gerade auf die Situation hin, in der der Mensch dieses Schweigens als solches inne wird. Noch fragwürdiger ist Sartres an Ludwig Feuerbach erinnernde Forderung 4 , der Mensch solle die Gott zugeschriebene schöpferische Freiheit wieder an sich nehmen und sich als das Wesen bejahen, durch das es eine 1. 2. 3. 4.
Situations I. 237, Abschnitt »Aller et retour«, vermutlich von 1942. L’être et le néant (1943), Abschnitt »L’existence d’autrui«. Situations I. a. a. O. Situations I. 334. Abschnitt »La liberté cartésienne«.
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Welt gibt. Die Zusammenordnung der uns kenntlichen Phänomene, die wir Welt nennen, ist freilich das kompositionelle Werk von tausend Menschengenerationen; aber es ist daraus entstanden, daß das vielfältige Seiende, das nicht unser Werk ist, uns begegnet, uns, die wir ebenfalls, mitsamt unsrer Subjektivität, nicht unser Werk sind; und auch die Begegnung, aus der die Gesamtheit der Phänomene hervorgeht, die wir zur »Welt« ordnen, ist nicht unser Werk. All jenes Seiende ist eingesetzt, wir sind eingesetzt, unsre Begegnung mit ihm ist eingesetzt, und so ist das Weltwerden, das durch uns geschieht, eingesetzt. Dieses Eingesetztsein des Universums, einschließlich unser selbst und unseres Werkes, ist die uns als Existierenden zugängliche Grundtatsache des Seins. Die Forderung, der Mensch solle die schöpferische Freiheit wiedererlangen, nimmt sich ihr gegenüber wie eine demagogische Phrase aus. Was uns an »schöpferischer Freiheit« wirklich zugehört, unsre Teilnahme an der Schöpfung, ist eingesetzt wie wir selber; es geht darum, diese Freiheit richtig, das heißt des Eingesetztseins würdig, zu gebrauchen, nicht weniger und nicht mehr. Wer an die Stelle davon das Postulat der »Wiedererlangung der Freiheit« setzt, weicht der wahren menschlichen Existenz aus, die Schickung und Aufgabe ist. Sartre ist von Gottes »Schweigen« ausgegangen, ohne sich zu fragen, welchen Anteil daran unserem Nichthören und unserem Nichtgehörthaben zukommt. Aus dem Schweigen hat er gefolgert 1 , daß es Gott nicht oder jedenfalls für uns nicht gebe; denn ein Gott, dessen Objekt ich bin, ohne daß er meines ist, geht mich nichts an. Diese Folgerung ist Sartre dadurch ermöglicht worden, daß er die Subjekt-Objekt-Relation für die primäre und ausschließliche zwischen zwei Wesen hält und die ursprüngliche und entscheidende Beziehung zwischen Ich und Du nicht sieht, der gegenüber die Subjekt-Objekt-Relation nur zusammenordnende Bearbeitung ist. Nun aber geht Sartre weiter 2 : Man »muß die Konsequenzen ziehen«. Gott schweigt, das heißt, es wird einem nichts Unbedingtes und unbedingt Verbindliches gesagt. »Es gibt kein Zeichen in der Welt« 3 . Da somit keine allgemeine Moral uns anzugeben vermag, was zu tun ist, da mit Gott alle Möglichkeit, absolute Werte zu finden, entschwunden ist, und da der Mensch, dem nunmehr »alles erlaubt ist« 4 , endlich frei, ja die Freiheit selber ist, ist es an ihm, die Werte zu bestim1. 2. 3. 4.
L’être et le néant 286 f., 341. L’existentialisme 33 ff. Ebd. 47. Ebd. 36. Vgl. (außer den bekannten Stellen bei Dostojewski und Nietzsche) Joseph von Hammer, Die Geschichte der Assassinen (1818) 34: »Daß nichts wahr und alles erlaubt sei, blieb der Grund der geheimen Lehre«; s. auch a. a. O. 93.
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men. »Wenn ich Gott-Vater abgeschafft habe (si j’ai supprimé Dieu le père)«, sagt Sartre wörtlich 1 , »muß wohl jemand da sein, um die Werte zu erfinden (pour inventer les valeurs) … Das Leben hat keinen Sinn a priori … es ist deine Sache, ihm einen Sinn zu geben, und der Wert ist nichts andres als dieser Sinn, den du wählst.« Das ist fast genau das, was schon Nietzsche gesagt hat, und es ist seither nicht wahrer geworden. Einen Sinn oder Wert kann man dann glauben, annehmen, als weisendes Licht über das eigne Leben stellen, wenn man ihn gefunden, nicht wenn man ihn erfunden hat; er kann mir enträtselnder Sinn, richtunggebender Wert nur sein, wenn er mir in meiner Begegnung mit dem Sein offenbar geworden ist, nicht wenn ich ihn mir unter den vorhandenen Möglichkeiten frei gewählt habe und ich etwa noch mit etwelchen Mitmenschen ausgemacht habe: Das soll von nun an gelten. Die These erinnert mich an jenen kuriosen Begriff Georges Sorels, den mythe social, dessen klassisches Beispiel der Mythus des Generalstreiks ist: Dieser unrealisierbare Mythus soll den Arbeitern die Richtung weisen, in der sie tätig sein sollen; aber das kann naturgemäß nur so lange funktionieren, als sie nicht Sorel lesen und erfahren, daß es sich um einen Mythus handelt. *
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Wichtiger als diese Erörterungen eines bedeutenden psychologischen Beobachters und hochbegabten Literaten, für den sich die echte ontologische Betrachtung immer wieder mit ganz anderen vermengt, ist, was einer, der zweifellos in die historische Reihe der Philosophen gehört, Heidegger, zum Problem der Religion in unserer Zeit vorbringt. Diese Gedanken sind zwar erst in den Schriften seiner zweiten Periode, etwa von 1943 an, wesentlich ausgesprochen, aber Hindeutungen darauf finden wir schon früh. Wie Sartre knüpft auch Heidegger an Nietzsches Spruch »Gott ist tot« an, den er ausführlich erläutert hat 2 . Offenbar ist ihm, daß Nietzsche damit nicht bloß Gott, sondern auch das Absolute in allen seinen Gestalten, also im Grunde nicht bloß die Religion, sondern auch die Metaphysik verabschieden wollte. Heidegger glaubt freilich, am Punkte dieser äußersten Negation mit einer neuen Position einsetzen zu können, mit einem rein ontologischen Denken, der Lehre vom Sein, das im Menschen oder durch ihn zu seiner Erhellung gelangt – einer Lehre, in der die parmenideische Setzung des Seins als des vor- und übergestaltigen Absolu1. 2.
Ebd. 89. Holzwege (1950) 193 ff., Abschnitt »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«.
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ten sich mit Hegels Theorie des im Menschengeist zum Selbstbewußtsein gelangenden Urprinzips seltsam verwebt. Diese neue Position unerachtet des »Todes Gottes« zu errichten, ist Heidegger dadurch möglich geworden, daß das Sein für ihn mit Schicksal und Geschichte des Menschen, darin es seine Erhellung gewinnt, verbunden ist, ohne daß es damit zu einer Funktion der menschlichen Subjektivität würde. Damit ist aber auch schon angedeutet, daß – um ein Bild zu gebrauchen, das Heidegger selbst vermeidet – Gott auferstehen könnte, das heißt, daß die Entfaltung des neuen ontologischen Denkens eine Wendung vorbereiten könnte, in der das Göttliche oder, wie Heidegger im Anschluß an Hölderlin lieber sagt, das Heilige in neuen, noch ungeahnten Gestalten erscheint. Dieses Denken ist daher, wie Heidegger immer wieder betont, nicht Atheismus, denn es ist dadurch »weder positiv noch negativ über ein mögliches Sein zu Gott entschieden« 1 ; vielmehr mache es durch seinen »zureichenden Begriff des Daseins« erst möglich, rechtmäßig zu fragen, »wie es mit dem Gottesverhältnis des Daseins ontologisch bestellt ist«. Heidegger verwahrt sich aber nicht bloß dagegen, daß diese Anschauung als Atheismus, sondern auch 2 dagegen, daß sie als ein Indifferentismus angesehen werde, der dem Nihilismus verfallen müsse. Er lehre keineswegs eine Indifferenz der religiösen Frage gegenüber. Vielmehr komme es ihr gegenüber in dieser Stunde einzig auf das Durchdenken der religiösen Grundbegriffe, die denkerische Klärung des Sinns von Worten wie Gott oder das Heilige an. »Müssen wir«, fragt er, »nicht erst diese Worte alle sorgsam verstehen und hören können, wenn wir als Menschen, das heißt als eksistente Wesen, einen Bezug des Gottes zum Menschen sollen erfahren dürfen?« Dies aber gehöre zu einem neuen Denken des Seins durch den Menschen. Wohl entscheidet nach Heideggers Auffassung 3 nicht der Mensch darüber, ob und wie das Göttliche wieder erscheint; vielmehr kann, so erklärt er, solch ein Erscheinen nur aus dem Geschick des Seins selber geschehen. Da aber als die Voraussetzung dafür genannt wird 4 , daß »zuvor und in langer Vorbereitung das Sein selbst sich gelichtet hat und in seiner Wahrheit erfahren ist«, kann kein Zweifel daran bestehen, welcher Anteil hier dem menschlichen Denken der Wahrheit, das ja eben das ist, worin das Sein sich erhellt, daran beigemessen wird, »ob und wie der Tag des Heiligen dämmert«. Heidegger pflegt diesen noch ungewissen Sonnenaufgang des Heiligen als den lichten Hinter1. 2. 3. 4.
Vom Wesen des Grundes (1929) 28. Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den Humanismus (1947) 102 f. Ebd. 75. Ebd. 85 f.
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grund zu verstehen, vor dem sodann »ein Erscheinen des Gottes und der Götter neu beginnen kann«. Einmal 1 erklärt er sogar, Hölderlin interpretierend, der unsere Zeit eine dürftige genannt hat, sie als »die Zeit der entflohenen Götter und des kommenden Gottes«; dürftig sei sie, weil sie in einem gedoppelten Mangel stehe: »im Nichtmehr der entflohenen Götter und im Nochnicht des Kommenden.« Wie das benennende Wort fehlt, zu sagen, »wer Er selbst ist, der im Heiligen wohnt« 2 , so fehlt der Gott selber; dies ist »das Weltalter, da der Gott fehlt« 3 – beides, das Wort und der Gott, fehlen in einem. Das Wort fehlt nicht, weil der Gott fehlt, und der Gott fehlt nicht, weil das Wort fehlt, sondern beide fehlen in einem und erscheinen in einem, wegen der Nähe des Menschen zum Sein, das sich jeweils, geschichtlich, in ihm erhellt. So dürfen, ermahnt Heidegger, die in dieser Stunde lebenden Menschen nicht danach trachten, sich einen Gott selbst zu machen, noch aber auch sich weiterhin auf einen gewohnten Gott berufen. Heidegger warnt in diesem Sinn vor der »Religion« im allgemeinen, im besondern aber vor dem prophetischen Prinzip in seiner jüdisch-christlichen Bedeutung. »Die ›Propheten‹ dieser Religionen«, sagt er 4, »sagen nicht erst das Wort des Heiligen voraus. Sie sagen sogleich vorher den Gott, auf den die Sicherheit der Rettung in die überirdische Seligkeit rechnet.« Nebenbei vermerkt, ich habe nirgends in unserer Zeit ein so weitgehendes Mißverstehen der Propheten Israels auf hoher philosophischer Warte gefunden. Die Propheten Israels haben nie den Gott angesagt, auf den die Sicherheitssucht ihrer Hörer rechnete; sie sind je und je darauf ausgegangen, alle Sicherheit zu zerschlagen und im aufgerissenen Abgrund der letzten Unsicherheit den unerwünschten Gott zu verkünden, der das Wirklichwerden seiner Menschengeschöpfe, ihr Menschwerden von ihnen erheischt und alle, die in die Sicherheit ausweichen zu können vermeinen, daß der Tempel Gottes bei ihnen ist, zuschanden macht. Dies ist der Gott der geschichtlichen Forderung, wie ihn die Propheten Israels schauten. Die elementare Wirklichkeit dieser Prophetie läßt sich nicht in die Rumpelkammer der »Religionen« werfen: sie ist in dieser Geschichtsstunde lebendig und aktuell wie nur je. Es ist hier nicht der Ort, Heideggers Lehre vom Sein kritisch zu erörtern. Ich will nur gestehen, daß für mich der Begriff eines Seins, der etwas anderes meint als die allem Seienden inhärente Tatsache, daß es ist, un1. 2. 3. 4.
Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1944), 2. Aufl. (1951) 44, Abschnitt »Hölderlin und das Wesen der Dichtung« von 1936. Ebd. 26. Ebd. 27. Ebd. 108, Abschnitt »Andenken« von 1943.
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überwindlich leer bleibt, es sei denn, ich nähme meine Zuflucht zur Religion und sähe, wie es einige christliche Scholastiker und Mystiker getan haben, darin die philosophische Bezeichnung für die Gottheit, sofern man sie in ihr selber, also als vorschöpferisch, betrachtet oder zu betrachten glaubt; wozu aber zu bemerken ist, daß einer von ihnen und der größte, Meister Eckhart, über das esse est Deus, in Platons Spuren wandelnd, als die höhere Wahrheit den Satz stellt: Est enim [Deus] super esse et ens. Man halte Heideggers Spruch 1 dagegen: »Das ›Sein‹ – das ist nicht Gott und nicht ein Weltgrund. Das Sein ist weiter denn alles Seiende und ist gleichwohl dem Menschen näher als jedes Seiende, sei dies … ein Engel oder Gott. Das Sein ist das Nächste.« Wenn mit dem letzten Satz aber etwas anderes gemeint ist, als daß ich selber – und zwar nicht als das Subjekt eines cogito, sondern als diese meine leibhafte Gesamtperson – bin, dann verliert für mich der Begriff des Seins den Charakter der echten Denkbarkeit, den er für Heidegger offenbar eminent besitzt. Aber ich will mich auf seine Thesen über das Göttliche beschränken, Thesen, die sich, aus äußerster Bewußtheit selbstgezogener Grenzen, nur mit dessen »Erscheinen« und insbesondere mit jenen Voraussetzungen seines künftigen Wiedererscheinens befassen, die dem menschlichen Denken, und zwar dem menschlichen Denken des Seins zugehören. Am auffälligsten und am fraglichsten an diesen Thesen ist mir, daß sie das oder den, dessen mögliches Erscheinen oder Wiedererscheinen sie zum Gegenstand haben, als das Göttliche oder den Gott bezeichnen. Mit diesem Wort sind doch immer wieder, seit der Mensch dem ewig Namenlosen Namen fand, in allen Zungen transzendente, das heißt uns ihrem Wesen nach nicht als kenntliches Objekt gegebene Wesen genannt worden, deren wir dennoch als zu uns in Beziehung tretend innewurden, die zu uns in Beziehung traten, Gestalten wechselnd, gestaltbewahrend, gestaltlos, und uns gewährten, zu ihnen in Beziehung zu treten. Wesen wandte sich aus seiner Transzendenz uns zu, stieg zu uns nieder, zeigte sich uns, redete zu uns, in der Immanenz. Selbstwollend kam der Kommende aus dem Geheimnis seiner Entrücktheit – nicht wir machten, daß er kam. Das hat von je Religion von Magie geschieden; denn wen man beschworen zu haben wähnte, konnte – mochte er noch als Gott figurieren – nicht mehr als Gott geglaubt werden; er war für den Menschen ein Bündel von Kräften geworden, über das des Menschen geheimes Wissen und geheime Macht verfügten; wer beschwört, wird nicht mehr angesprochen, nicht mehr erwacht Antwort in ihm, und auch wenn er ein Gebet rezitiert, betet er nicht mehr. Und wohl bedürfen, wie Heidegger 1.
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einmal sagt 1 , ebenfalls Worte Hölderlins deutend, der den Gesang als der begeisternden Götter und der von ihnen begeisterten Menschen gemeinsames Werk versteht – wohl bedürfen nicht bloß die Menschen der Götter, sondern auch »die Himmlischen bedürfen der Sterblichen«; Gott bedarf des selbständigen Menschen – das hat der Mensch von urher geahnt – als Gesprächspartners, als Werkgesellen, als des ihn Liebenden; er bedarf seiner so oder will seiner so bedürfen. Nicht aber trifft auf irgendeine Sphäre oder Zeit in der Geschichte der Beziehungen zwischen Göttlichem und Menschlichem zu, was Heidegger darüber hinaus meint, nämlich daß »weder die Menschen noch die Götter je von sich her den unmittelbaren Bezug zum Heiligen vollbringen können«. Immer tritt, je und je, von sich her Einer bestürzend und verzückend den Menschen an, und, wiewohl überwältigend, betet der Anbetende ihn von sich her an; der Gott läßt sich nicht beschwören, aber er will auch nicht zwingen – von sich her ist er, und er läßt das Seiende von ihm, dem Seienden, her sein. Beides scheidet göttliche von dämonischen Mächten. Wohl mag es für Gott nicht unerheblich sein, ob der Mensch sich ihm ergibt oder ihm versagt, und so mag der Mensch, der ganze Mensch, mit seiner ganzen Wesensentscheidung einen unabmeßbaren Anteil an der jeweiligen göttlichen Offenbarheit oder Verborgenheit haben; aber für einen Einfluß des begriffklärenden Denkens ist zwischen Himmel und Erde kein Raum. Der also, dessen Erscheinen durch einen solchen modern-magischen Einfluß bewirkt oder mitbewirkt gedacht wird, hat mit dem, den wir Menschen, trotz all der Verschiedenheit unserer Glaubenslehren im Letzten übereinstimmend, als Gott ansprachen, offenbar nur den Namen gemein, und von einem Wiedererscheinen zu reden, erweist sich als unzulässig. Nicht daß Heidegger etwa nicht wüßte, um was es hier geht. Einmal, wieder in einer Hölderlin-Interpretation, von 1936, ist er der Urwirklichkeit, auf die ich soeben hingewiesen habe, bemerkenswert nahgekommen. Es heißt bei Hölderlin von uns Menschen: »Seit ein Gespräch wir sind / Und hören können voneinander.« Das erläutert Heidegger so 2 : »Die Götter können nur dann ins Wort kommen, wenn sie selbst uns ansprechen und unter ihren Anspruch stellen. Das Wort, das die Götter nennt, ist immer Antwort auf solchen Anspruch.« Das ist ein Zeugnis dafür, was ich das dialogische Prinzip nenne – für die dialogische Beziehung zwischen einem göttlichen und einem menschlichen Von-sich-her. Aber seither haben wir desgleichen von Heidegger nicht mehr gehört; ja, 1. 2.
Erläuterungen 66, Abschnitt »Wie wenn am Feiertage« von 1941. Erläuterungen 37.
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wenn wir all seine späteren Äußerungen über das Göttliche danebenstellen, ist es uns, als seien hier bedeutsame Keime durch eine Gewalt, die darüberfuhr, vernichtet worden. Nie mehr erweist sich Heidegger als von dem Gemeinsamen zwischen den großen Gott-Eindrücken der Menschheit und dem »Kommenden« berührt; er bietet vielmehr alle Kraft seines Gedankens und Wortes auf, um ihn, den Kommenden, von allem Gewesenen abzurücken. Es kann für den, der darauf achtet, wie Heidegger nunmehr vom Geschichtlichen redet, kaum ein Zweifel sein, daß es die geschehende Geschichte ist, die jene Keime ausgerissen und einen Glauben an das ganz Neue an ihre Stelle gepflanzt hat. Wie diese Wirkung sich vollzogen hat, sieht man genau, wenn man Gelegenheitsäußerungen verschiedener Stadien miteinander vergleicht, etwa die Rektoratsrede vom Mai 1933, in der 1 Heidegger in allgemeinen Wendungen »die Herrlichkeit und die Größe« des »Aufbruchs« preist, mit einem Manifest an die Studenten vom November des gleichen Jahres, in dem 2 die sinistre Hauptperson des damaligen Geschichtsgeschehens als »die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz« verkündet wird. Hier steht die Geschichte nicht mehr, wie in allen gläubigen Zeiten, unter göttlichem Gericht; sie selber, die inappellable, weist dem Kommenden seinen Weg an. Wohl versteht Heidegger unter Geschichte etwas anderes als eine Reihe datierter Begebenheiten; »Geschichte«, sagt er 1939 3 , »ist selten.« Und er erläutert: »Geschichte ist nur dann, wenn je das Wesen der Wahrheit anfänglich entschieden wird.« Aber eben seine Stunde versteht er ja als solche, eben dieselbe, deren Problematik ihn in ihrer grausamsten Erscheinungsform geirrt hat. Er hat sein Denken, das Denken des Seins, an dem er teilhat und dem er die Macht zuspricht, den Aufgang des Heiligen zu bereiten 4 , dieser von ihm als Geschichte bejahten Stunde verbündet; er hat sein Denken an seine Stunde gebunden wie kein anderer der Philosophen, auch Hegel nicht. Kann nach alledem er, der existentielle Denker, eine dem Ewigen geweihte Freiheit der Stunde gegenüber existentiell erringen? Oder muß er ihrem Schicksal verfallen und mit ihm auch ein »Heiliges«, dem kein menschlich Heiliges mehr, kein heiliges Standhalten des Menschen vor dem geschichtlichen Trug verantwortend antwortet? Die Fragen, die ich frage, sind keine rhetorischen, es sind echte Fragen. Von den beiden, die Nietzsches Wort vom Tode Gottes wieder auf1. 2. 3. 4.
Die Selbstbehauptung der deutschen Universität 22. Freiburger Studentenzeitung vom 3. November 1933. Erläuterungen 73. Es ist zu beachten, daß die Bezeichnung »das Denken« in den späten Schriften Heideggers im wesentlichen sein eignes Denken deckt.
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genommen haben, hat der eine, Sartre, ihn und sich selber mit seinem Postulat der freien Erfindung von Sinn und Wert ad absurdum geführt; des andern, Heideggers, Gedanke einer Wiedergeburt des Gottes aus dem Denken der Wahrheit ist in die uns unzerreißbar anmutenden Netze der Zeit geraten. Der Weg dieses Existentialismus scheint sich zu verlieren. II
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Zum Unterschied von Heidegger und Sartre hat Jung, der führende Psycholog unserer Tage, die Religion in ihren historischen und biographischen Gestaltungen zum Gegenstand umfassender Betrachtungen gemacht. Daß er in diese Betrachtungen eine Fülle von Phänomenen miteinbezogen hat, die ich als pseudoreligiös bezeichnen muß, weil sie nicht eine persönliche Wesensbeziehung zu einem als unbedingtes Gegenüber Erfahrenen oder Geglaubten bezeugen, ist ihm nicht zum Vorwurf zu machen. Die Psychologie, deren selbstgezogene Grenzen er berechtigterweise nicht überschreiten zu wollen erklärt, bietet kein Kriterium der qualitativen Unterscheidung zwischen beiden Bereichen, so wenig wie etwa die Soziologie, wie Max Weber sie verstand, ihm ermöglicht hätte, zwischen dem Charisma Moses’ und dem Hitlers gattungsmäßig zu unterscheiden. Was Jung zum Vorwurf zu machen ist, ist vielmehr, daß er in seiner Behandlung des Religiösen die Grenzen der Psychologie in den wesentlichsten Punkten mit souveräner Freiheit, aber zumeist ohne anzumerken oder gar zu begründen, daß er es tut, überschreitet. Es fehlt gewiß bei Jung nicht an streng psychologischen Aussagen über religiöse Gegenstände, manchmal sogar unter ausdrücklicher Betonung der begrenzten Gültigkeit der Aussage, etwa wenn 1 die Revelation »als Eröffnung der menschlichen Seelentiefe zunächst ein psychologischer Modus« genannt wird, »womit bekanntlich nichts ausgemacht ist darüber, was sie sonst noch sein könnte«. Mitunter 2 wird auch grundsätzlich erklärt, es solle »jegliche Aussage über das Transzendente vermieden werden«, denn sie sei »stets nur eine lächerliche Anmaßung des menschlichen Geistes, der seiner Beschränktheit unbewußt ist«; wenn Gott ein Zustand der Seele genannt werde, so sei damit »nur über das Erkennbare 1. 2.
Psychologie und Religion, Vorlesungen von 1937 (englische Ausgabe 1938, deutsche Ausgabe 1942) 133. Wilhelm-Jung. Das Geheimnis der goldenen Blüte (1929) 73.
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etwas ausgesagt, nicht aber über das Unerkennbare, über welches [hier kehrt die soeben zitierte Formulierung wörtlich wieder] schlechthin nichts ausgemacht werden kann«. In solchen Sätzen kommt die legitime Haltung der Psychologie zum Ausdruck, die wie jede Wissenschaft zu objektiv begründbaren Aussagen autorisiert ist, sofern sie dabei nur den Blick auf ihre Grenzen als auf solche gerichtet bewahrt, die nicht überschritten werden dürfen. Sie sind schon überschritten, wenn es von der Religion heißt 1 , sie sei »eine lebendige Beziehung zu den seelischen Vorgängen, die nicht vom Bewußtsein abhängen, sondern jenseits davon im Dunkel des seelischen Hintergrundes sich ereignen«. Diese Definition der Religion wird nicht bloß ohne jede Einschränkung ausgesprochen, sondern sie würde auch keine dulden; denn ist die Religion eine Beziehung zu seelischen Vorgängen, und das kann nichts andres heißen als: zu Vorgängen der eigenen Seele, dann ist eben damit gesagt, sie sei nicht eine Beziehung zu einem Sein oder Wesen, das, wie sehr es sich je und je zu ihr neigt, ihr stets transzendent bleibt, genauer: sie sei nicht die Beziehung eines Ichs zu einem Du; als das jedoch haben die unverkennbar Religiösen aller Zeiten ihre Religion auch dann verstanden, wenn es sie am mächtigsten verlangte, ihr Ich in jenem Du mystisch aufgehen zu lassen. Aber die Religion ist ja immerhin nur eine Sache der menschlichen Beziehung zu Gott, nicht Gottes selber. Darum ist uns wichtiger, zu hören, was Jung von Gott selber hält. Er versteht ihn im allgemeinen 2 als einen »autonomen, psychischen Inhalt« – wohlgemerkt, nicht als ein Sein oder Wesen, dem ein psychischer Inhalt entspricht, sondern als eben diesen; wenn dem nicht so ist, fügt er hinzu, »so ist auch Gott nicht wirklich, denn dann greift er nirgends in unser Leben ein« – demnach würde alles, was nicht selber ein autonomer psychischer Inhalt ist, sondern einen psychischen Inhalt in uns erzeugt oder bewirkt oder mitbewirkt, nicht als in unser Leben eingreifend, somit auch nicht als wirklich zu verstehen sein. Ungeachtet dessen kennt auch Jung 3 eine »wechselseitige und unerläßliche Beziehung zwischen Mensch und Gott«; damit aber meint er, der Mensch sei als »eine psychologische Funktion Gottes« und Gott als »eine psychologische Funktion des Menschen« anzusehen. Ich gestehe, daß ich nicht imstande bin, mir bei »einer psychologischen Funktion Gottes« – womit Gott allen Ernstes eine Psyche und Psychologie zugeschrieben wird – etwas auch nur halbwegs Faßliches zu den1. 2. 3.
Jung-Kerényi, Einführung in das Wesen der Mythologie (1941) 109. Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten (1928) 205. Psychologische Typen (1921) 340.
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ken. Gewiß vermerkt Jung sogleich 1 , Gott sei »für unsere Psychologie eine Funktion des Unbewußten«; aber als eine nur innerhalb der Grenzen der Psychologie gültige These ist diese keinesfalls gemeint; denn sie wird der »orthodoxen Auffassung« 2 gegenübergestellt, wonach Gott »für sich existiert«, was psychologisch bedeute, »daß man sich der Tatsache, daß die göttliche Wirkung dem eigenen Innern entspricht, nicht bewußt ist«. Hier wird doch wohl unzweideutig erklärt, was der Gläubige Gott zuschreibe, habe seinen Ursprung in seiner eignen Seele. Wie sich diese Erklärung mit Jungs Versicherung 3 vereinbaren läßt, er meine mit alledem »ungefähr dasselbe, was Kant meinte, als er das Ding an sich einen ›lediglich negativen Grenzbegriff‹ nannte«, ist mir unerfindlich. Bekanntlich hat Kant von den Dingen an sich erklärt, sie seien, weil keine Erscheinung, durch keine Kategorien zu erkennen, sondern nur unter dem Namen eines unbekannten Etwas zu denken; daß aber zum Beispiel die Erscheinung des Baums vor meinem Fenster nicht meiner Begegnung mit einem unbekannten Etwas, sondern meinem eigenen Innern entspringe, hat Kant eben nicht gemeint. Entgegen seiner Erklärung, jegliche Aussage über das Transzendente vermeiden zu wollen, identifiziert Jung sich 4 mit einer Ansicht, »nach der Gott nicht ›absolut‹, das heißt losgelöst vom menschlichen Subjekt und jenseits aller menschlichen Bedingungen existiert«. Wohlgemerkt, die Möglichkeit wird nicht freigelassen, daß Gott – der doch wohl, wenn das singularische und exklusive Wort »Gott« (ohne Artikel) nicht allen Sinn verlieren soll, nicht, wie wenn es sich nur um einen unter mehreren Göttern handelt, auf eine einzige Existenzweise beschränkt ist – sowohl losgelöst vom menschlichen Subjekt als in Verbindung mit ihm existiert, sondern es wird erklärt, er existiere nicht losgelöst von ihm. Das ist doch wohl eine Aussage über das Transzendente, über das, was es nicht ist, und ebendamit über das, was es ist. Jungs Äußerungen über die »Relativität« des Göttlichen sind nicht psychologische, sondern metaphysische Aussagen, wie nachdrücklich er auch »Begnügung mit dem psychisch Erfahrbaren und Ablehnung des Metaphysischen« betont 5 . Jung mag demgegenüber geltend machen, was er einmal 6 so formuliert: »Metaphysische Behauptungen sind Aussagen der Seele, und darum sind sie psychologisch.« Da aber alle Aussagen schlechthin, wenn sie 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Ebd. 341. Ebd. 341. Geheimnis 73. Typen 340. Geheimnis 73. Evans-Wentz, Das tibetanische Totenbuch (1936) 18.
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nicht nach Sinn und Absicht auf ihren Gehalt hin, sondern auf den Prozeß ihrer seelischen Entstehung hin betrachtet werden, als »Aussagen der Seele« zu bezeichnen sind, werden, wenn mit jenem Satz Ernst gemacht wird, die Grenzen der Psychologie aufgehoben, dieselben Grenzen, von denen Jung anderswo 1 wieder sagt, die Psychologie müsse sich davor hüten, sie »durch metaphysische Behauptungen oder sonstige Glaubensbekenntnisse zu überschreiten«. In äußerstem Widerspruch dazu wird hier die Psychologie die einzige zulässige Metaphysik; zugleich soll sie aber empirische Wissenschaft bleiben; beides zu vereinigen ist aber unmöglich. Jung liefert auch den zu dieser Konzeption gehörigen Seelenbegriff. »Die Seele ist es«, sagt er 2, »die aus eingeborener göttlicher Schöpferkraft die metaphysische Aussage macht; sie ›setzt‹ die Distinktionen der metaphysischen Wesenheiten. Sie ist nicht nur die Bedingung des metaphysisch Realen, sondern sie ist es selbst.« Der Terminus »setzen« ist nicht umsonst gewählt; was hier vorliegt, ist in der Tat eine Übertragung des nachkantischen Idealismus ins Psychologische 3 . Aber was, von einem Erzeugnis philosophischer Reflexion wie Fichtes Ich ausgesagt, seinen Platz innerhalb des metaphysischen Denkens hat, kann auf einen solchen keinen Anspruch machen, wenn es auf die konkrete Einzelseele oder genauer, auf das Seelische an einer existenten menschlichen Person angewandt wird – und etwas anderes als dies kann Jung ja nicht meinen, da seiner Erklärung nach 4 auch das kollektive Unbewußte, die Sphäre der Archetypen, jeweils nur durch die Psychik des Individuums, dem sich diese »typischen Verhaltensformen« vererbt haben, in die Erfahrung treten kann. Die reale Seele hat unbestreitbar hervorbringende Kräfte, in denen sich Urenergien der Menschengattung individuell verdichtet haben; »eingeborene göttliche Schöpferkraft« scheint mir dafür freilich eine allzu hohe und allzu unpräzise Bezeichnung zu sein. Wenn diese Seele aber Aussagen macht, seien es auch metaphysische, so kann sie das rechtmäßig je und je nicht aus irgendeiner Schöpferkraft tun, sondern nur aus dem verbindlichen Realverhältnis zu einer von ihr auszusprechenden Wahrheit, deren Einsicht ihr aus dem, was ihr widerfahren ist und was ihr zu erfahren gegeben worden ist, denkerisch erwuchs; was darüber ist, ist keine echte Aussage, sondern schlechte Dichtung oder fragwürdige 1. 2. 3. 4.
Psychologie und Alchemie (1944) 28. Totenbuch 19. Bei den Philosophen der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, die, wie Fries und Beneke, die Metaphysik auf die Psychologie gründen wollen, ist kein diesem ähnlicher Gedanke zu finden. Vgl. Der Geist der Psychologie (Eranos-Jahrbuch 1946) 460 ff.
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Kombination. Die reale Einzelseele kann niemals als »das metaphysisch Reale« angesehen werden; denn ihr wesentliches Leben, ob sie das wahrhaben will oder nicht, besteht aus realen Begegnungen mit anderen Realitäten, seien es andere reale Seelen oder was sonst – man müßte sie denn als Leibnizsche Monade verstehen, eine Konzeption, deren ideelle Konsequenzen, insbesondere die auf Gottes prästabilierende Intervention, Jung wohl kaum wird ziehen wollen. Oder aber, es wäre etwa wirklich der empirische Realbereich der Einzelseelen, das der Psychologie überantwortete Gebiet, dezidiert zu überschreiten und ein in ihnen allen nur erscheinendes, also transzendentes Gesamtwesen, »Seele« oder »die Seele« genannt, anzunehmen – eine metaphysische »Setzung«, die denn doch wohl einer zureichenden philosophischen Determinierung und Fundierung bedürfte, wie wir sie bei Jung, soweit ich sehe, nirgends finden. Welche entscheidende Bedeutung aber diesem unbestimmten Seelenbegriff für Jungs eigentliche Stellungnahme zur Religion zukommt, geht aus folgenden zwei Sätzen 1 hervor, die durch das gleiche Subjekt verknüpft sind: »Das moderne Bewußtsein wendet sich im Gegensatz zum 19. Jahrhundert mit seinen intimsten und stärksten Erwartungen der Seele zu« und »Das moderne Bewußtsein perhorresziert den Glauben und darum auch die darauf basierten Religionen«. Daß Jung sich trotz jener früheren Verwahrung 2 , man dürfe in seiner Lehre keine »Spitze gegen den Glauben oder Vertrauen in höhere Mächte« finden, mit dem den Glauben »perhorreszierenden« modernen Bewußtsein identifiziert, ist für jeden aufmerksamen Leser unzweifelhaft 3 . Dieses moderne Bewußtsein nun wendet sich nach Jung mit seinen »intimsten und stärksten Erwartungen« der Seele zu. Das kann nicht anders verstanden werden, als daß es mit dem in den Religionen geglaubten Gott, der der Seele zwar präsent wird, sich ihr kundtut, mit ihr kommuniziert, aber in seinem Sein ihr transzendent bleibt, nichts mehr zu tun haben will und sich von ihm der Seele als der einzigen Sphäre zukehrt, von der man erwarten kann, daß sie ein Göttliches in sich trage. Grob gesagt: ob diese Psychologie auch versichert, »keine Weltanschauung, sondern eine Wissenschaft« zu sein, sie begnügt sich nicht mehr mit der Rolle einer Interpre-
1. 2. 3.
Seelenprobleme der Gegenwart (1931) 417. Geheimnis 73. Man vergleiche insbesondere den zweiten Teil des aus »Seelenprobleme« 417 angeführten Satzes: »Das moderne Bewußtsein … will wissen, d. h. Urerfahrung haben« mit dem im gleichen Buche (S. 83) enthaltenen: »Wir Modernen sind darauf angewiesen, den Geist wieder zu erleben, d. h. Urerfahrung zu machen.«
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tin der Religion; sie verkündigt die neue, die einzig noch wahr sein könnende, die Religion der reinen psychischen Immanenz. Jung spricht einmal 1 , und mit Recht, von Freuds Unvermögen, das religiöse Erleben zu verstehen. Er selber beschließt seine Wanderungen durch Gründe und Abgründe des religiösen Erlebens, auf denen er Erstaunliches, alle Unternehmungen der bisherigen Psychologie weitaus Überholendes geleistet hat, mit der Entdeckung, der religiös Erlebende, die Seele, erlebe schlechthin sich selber. Ähnliches haben Mystiker aller Zeiten verkündet, auf die Jung sich denn auch beruft; doch gibt es da zwei Unterschiede, die zu beachten sind: erstens hinsichtlich des Erlebenden, daß sie mit der solchermaßen erlebenden Seele diejenige allein meinten, die sich vom irdischen Getriebe, von der Widersprüchlichkeit des kreatürlichen Daseins losgemacht habe und daher fähig sei, das überwidersprüchliche Göttliche aufzufangen und in ihr wirken zu lassen; und zweitens hinsichtlich des Erlebten, daß sie als dieses die Einheit und das Einswerden der Seele mit dem in sich wesenden Gott verstanden, der, um in die Wirklichkeit der Welt einzugehen, immer wieder in der Seele »geboren wird«. An Stelle jener Losmachung des ganzen Menschen vom Getriebe setzt Jung den von einer Ablösung des Bewußtseins bestimmten Prozeß der »Individuation«, an Stelle jenes Einswerdens mit dem in sich Seienden setzt er das »Selbst«, bekanntlich auch wieder einen ursprünglich mystischen Begriff, der aber bei Jung nicht mehr genuin-mystisch, sondern ins Gnostische gewendet ist. Diese Wendung ins Gnostische spricht Jung selber aus; auf den zitierten Satz, das moderne Bewußtsein wende sich der Seele zu, folgt die Erläuterung: »und zwar … im gnostischen Sinne.« Wir haben hier, wenn auch in der Form einer bloßen Andeutung, den reifen Ausdruck einer Tendenz vor uns, die Jung von den Anfängen seines geistigen Lebens an eigentümlich ist; in einer sehr früh gedruckten, aber nicht in den Handel gekommenen Schrift tritt sie in geradezu religiöser Sprache als Bekenntnis zu einem eminent gnostischen Gotte auf, in dem Gut und Böse miteinander verbunden sind und einander gleichsam ausbalancieren. Diese Vereinigung der Gegensätze in einer allumfassenden Ganzheitsgestalt geht seither durch Jungs Gedankenwerk; sie ist auch für unsere Betrachtung der Lehre von der Individuation und vom Selbst von wesentlicher Bedeutung. Um was es hier letztlich geht, hat Jung am präzisesten in einer seiner Mandala-Analysen zum Ausdruck gebracht. Mandalas sind kreisförmige Symbolbilder, wie sie Jung nicht bloß in verschiedenen religiösen Kulturen, insbesondere des Orients und des frühen christlichen Mittelalters, 1.
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sondern auch auf Zeichnungen von Neurotikern und Geisteskranken gefunden hat. Er versteht sie als aus dem kollektiven Unbewußten stammende Darstellungen der Ganzheit oder Vollständigkeit, die als solche eine Vereinigung der Gegensätze ist; es seien »vereinigende Symbole«, die so Weibliches wie Männliches und so Böse wie Gut in ihre in sich geschlossene Einheit einbeziehen, deren Zentrum im allgemeinen – nach Jungs Interpretation als Sitz der Gottheit – besonders betont sei. Es gebe nun aber einzelne alte Mandalas und viele moderne, in deren Mittelpunkt »keine Spur einer Gottheit zu finden ist« 1 ; das auf den modernen Bildern deren Stelle einnehmende Symbol wird, wie Jung sagt 2 , von den Urhebern dieser Mandalas als »ein Zentrum in ihnen selbst« verstanden. »Der Platz der Gottheit«, erklärt Jung 3 , »scheint durch die Ganzheit des Menschen eingenommen zu werden.« Diese zentrale Ganzheit, die das Göttliche versinnbildlicht, nennt Jung im Anschluß an altindische Lehren das Selbst. Er meint damit freilich ausgesprochenerweise nicht, daß es in diesen Bildern, in denen sich das Unbewußte des modernen Menschen äußere, die Gottheit ersetze. Man wird Jungs Ansicht eher treffen, wenn man sagt, daß nunmehr die Gottheit nicht mehr, wie in der bisherigen Menschheit, das menschliche Selbst ersetze. Der Mensch zieht die Projektion seines Selbst auf einen Gott außerhalb seiner nunmehr zurück, ohne daß er damit sich selber vergotten wollte, (wie Jung 4 hier betont, wogegen in anderem Zusammenhang, wie wir sehen werden, die Vergottung als Absicht unzweideutig zum Ausdruck kommt). Der Mensch leugnet einen transzendenten Gott nicht, er schaltet ihn nur aus. Er kennt den Unkenntlichen nicht mehr, er braucht nicht mehr vorzugeben, ihn zu kennen; an seiner Stelle kennt er die Seele oder vielmehr das Selbst. Es ist ja nicht ein Gott, den »das moderne Bewußtsein« perhorresziert, sondern der Glaube. Was immer es um Gott sei, es kommt für den Menschen des modernen Bewußtseins einzig darauf an, in keiner Glaubensbeziehung mehr zu ihm zu stehen. Dieser Mensch des »modernen Bewußtseins« ist freilich nicht mit dem heute lebenden Menschengeschlecht zu identifizieren. »Die Menschheit«, sagt Jung 5 , »ist in der großen Hauptsache psychologisch noch in einem Kindheitszustand – eine Stufe, die nicht übersprungen werden kann.« Das wird daran veranschaulicht 6 , die paulinische Überwindung 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Psychologie und Religion 145. Ebd. 146 f. Ebd. 147 f. Beziehungen 203. Ebd. 204. Ebd. 205.
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des Gesetzes falle nur dem zu, der es versteht, an Stelle des Gewissens die Seele zu setzen, wozu nur sehr wenige befähigt seien. Was bedeutet das? Gewissen nennt man doch herkömmlich – gleichviel ob man ihm göttlichen oder gesellschaftlichen Ursprung zuschreibt oder es einfach als dem Menschen als Menschen zugehörig ansieht – jene innerseelische Instanz, die sich mit der Scheidung zwischen dem Rechten und dem Unrechten innerhalb des Getanen und des zu Tuenden befaßt und gegen das als Unrechtes Determinierte vorgeht. Es handelt sich hier natürlich nicht schlechthin um die Vertretung eines tradierten Gesetzes, ob göttlichen oder sozialen Ursprungs; vielmehr weiß zum Beispiel jeder, der ein Werk, zu dem er sich berufen fühlte, nicht getan, der eine Aufgabe, die er als die seine erkannte, nicht erfüllt hat, jeder, der seiner ihm gewiß gewordenen Bestimmung nicht die Treue hielt – jeder solche weiß, was es heißt, daß einem »sein Gewissen schlägt«. Und was »Bestimmung« zu nennen ist, darüber finden wir bei Jung selbst 1 die schöne Erläuterung: »Wer Bestimmung hat, hört die Stimme des Innern.« Jung meint zwar damit 2 eine Stimme, die gerade das anscheinend Böse an uns heranbringe und der »zum Teil« zu unterliegen erforderlich sei, damit Erneuerung und Heilung stattfinde; ich denke aber, daß, wer Bestimmung hat, zu Zeiten eine innere Stimme ganz anderer Art zu hören bekommt, eben die Stimme des Gewissens, die ihn, wie er jetzt ist, mit dem vergleicht, der zu werden ihm bestimmt war; nur daß ich, im offenbaren Unterschied zu Jung, dafürhalte, daß jeder Mensch, in irgendeinem Maße, zu etwas bestimmt worden ist, dem er freilich im allgemeinen erfolgreich aus dem Wege geht. Nun aber noch einmal: was bedeutet es, an Stelle des richtunggebenden und richtunghütenden, des rechtenden und richtenden Gewissens die Seele zu setzen? Es kann in dem Zusammenhang von Jungs Gedanken nicht anders verstanden werden als »im gnostischen Sinne«, das heißt, daß die im Selbst integrierte Seele, als die Vereinigung der Gegensätze, insbesondere der Gegensätze Gut und Böse, in einer allumfassenden Ganzheit, das Gewissen als eine zwischen Gut und Böse, zwischen dem Rechten und dem Unrechten scheidende und entscheidende Instanz ausschaltet und die Schlichtung zwischen den Prinzipien oder die Wahrung des Einvernehmens zwischen ihnen oder ihre Ausbalancierung oder, wie immer man es nennen mag, selber vollzieht. Dieser »Weg«, den Jung, gewiß mit Recht, als »schmal wie die Schneide eines Messers« 1. 2.
Wirklichkeit der Seele (1934), Vortrag »Vom Werden der Persönlichkeit« von 1932, 194. Ebd. 208 f.
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bezeichnet 1 , ist nicht zur Darstellung gelangt und offenbar auch nicht zur Darstellung geeignet; die Frage nach ihm führt auf die Frage nach der positiven Funktion des Bösen; denn ohne Integration des Bösen gibt es keine Ganzheit 2 . Etwas deutlicher immerhin spricht Jung anderswo 3 von der Bedingung für »die Geburt des pneumatischen Menschen« 4 : es ist die »Befreiung von jenen Gelüsten und Ambitionen und Leidenschaften, die uns ans Sichtbare verhaften«, durch »sinnvolle Erfüllung der instinktiven Forderungen«; denn »wer seine Instinkte lebt, kann sich auch von ihnen trennen«. Das taoistische Buch, das Jung so auslegt, enthält diese Lehre nicht; aus gewissen gnostischen Kreisen ist sie uns wohlbekannt 5 . Der »der Psyche eigentümliche Entwicklungsprozeß«, den Jung als Individuation bezeichnet, führt durch Integration der unbewußten Inhalte, der persönlichen und besonders der kollektiven, archetypischen, ins Bewußtsein zur Verwirklichung einer »neuen ganzheitlichen Gestalt«, die er wie gesagt das Selbst nennt. Hier bedarf es eines klärenden Verweilens. Jung will das Selbst dahin verstanden wissen 6 , es sei »ebenso der oder die andern wie das Ich«, und die Individuation dahin, sie »schließe die Welt nicht aus, sondern ein«. Es tut not, genau zu erfassen, in welchem Sinne das zutrifft und in welchem nicht. In der Persönlichkeitsgestaltung, die aus dem »relativ seltenen Vorkommnis« 7 der von Jung erörterten Entwicklung hervorgeht, sind »die andern« wohl mitumfaßt, aber nur als Inhalte der individualen Seele, die durch die Individuation ja zu ihrer Vollendung, eben als individuale Seele, gelangen soll. Der Andere selber, der mir begegnet, so begegnet, daß meine Seele an die seine als an etwas rührt, was sie nicht ist und nie werden kann, was sie nicht einschließt und nie einschließen kann, und zu dem sie dennoch in diesen allerrealsten Kontakt zu treten vermag, dieser Andere ist und bleibt auch dem Selbst gegenüber, zu welcher Vollständigkeit immer dieses gelangen mag, der Andere; wie das Selbst, und wenn es all sein Unbewußtes integriert haben sollte, dieses einzelne, in sich gebannte Selbst bleibt. Alle mir gegenüber existierenden Wesen, die von meinem Selbst »eingeschlossen« werden, werden in solchem Einschluß von ihm als ein Es besessen; erst wenn ich, der uneinschließbaren Anderheit eines Wesens gewahr wer1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Beziehungen 205. Symbolik des Geistes (1948) 385. Geheimnis 62. Ebd. 62. Vgl. Religion 139 ff. Der Geist der Psychologie 477. Ebd. 474.
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dend, darauf Verzicht leiste, es mir irgend einzuverleiben, einzuverseelen, wird es mir wahrhaft zum Du. Das gilt für Gott wie für Mensch. Dies ist gewiß kein Weg, der zu dem Ziel führte, das Jung ein Selbst nennt; aber es ist ebensowenig ein Weg der Entselbstung. Er führt einfach zum echten Kontakt mit dem mir begegnenden Seienden, zur vollen unmittelbaren Gegenseitigkeit mit ihm; er führt von der Seele, die die Wirklichkeit sich einträgt, zur Wirklichkeit, in die die Seele sich fügt. Der andere Weg, den Jung im Sinne hat, bedeutet dem gegenüber die Entwirklichung des Verhältnisses zum Seienden durch Verlegung des Existenz-Schwerpunkts in die »Individuation«. Jung meint, seinen Begriff eines Selbst bei Meister Eckhart wiederzufinden. Das ist ein Irrtum. Eckharts Seelenlehre gründet sich auf die Glaubensgewißheit, daß die Seele zwar Gott an Freiheit gleiche, daß sie aber erschaffen, er unerschaffen sei 1 . Diese Wesensverschiedenheit liegt allem zugrunde, was Eckhart von Verwandtschaft und Nähe zwischen Gott und der Seele zu sagen weiß. Das Selbst als Ziel des Individuationsprozesses versteht Jung als die »hochzeitliche Vereinigung der Gegensatzhälften« 2 in der Seele. Das bedeutet, wie gesagt, vor allem andern die »Integration des Bösen«, ohne die es keine Ganzheit im Sinne dieser Lehre geben kann. Die Individuation verwirklicht somit den ganzen Archetypus des Selbst, wogegen dieser in der christlichen Symbolik auf Christus und den Antichrist verteilt ist, die seinen hellen und seinen dunklen Aspekt veranschaulichen; im Selbst sind beide Aspekte vereint. Das Selbst ist daher eine reine Totalität und als solche »ununterscheidbar von einem Gottesbild«, und die Selbstverwirklichung ist recht eigentlich als »die Inkarnation Gottes« zu bezeichnen. Dieser Gut und Böse in sich vereinigende Gott, dessen Gegensatznatur sich auch in seiner Mannweiblichkeit ausdrückt 3 , ist eine gnostische Gestalt, die letztlich wohl auf die (von Jung übrigens, soweit ich sehe, unter seinen zahlreichen religionsgeschichtlichen Hinweisen nicht erwähnte) altiranische Gottheit Zurvãn zurückzuführen ist, als aus welcher der lichte Gott und sein dunkler Widerpart hervorgehen. Von dieser gnostischen Grundanschauung aus bearbeitet Jung die jüdischen und christlichen Gotteskonzeptionen. Aus dem Gott des Alten Testaments, für den der Satan, der »Hinderer«, nur ein dienendes Element ist, von dem er, Gott, sich insbesondere zum Zweck der »Ver1. 2. 3.
»Und got der ist aleine vrî und ungeschaffen und dar umbe ist er ir aleine glîch nach der vrîheit und niht nach der ungeschaffenheit, wan si ist geschaffen« (Predigten ed. Quint 13 f.). Über das Selbst (Eranos-Jahrbuch 1948) 315, vgl. Psychologie und Alchemie 61. Symbolik 410.
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suchung« vertreten läßt, das heißt, um durch Drangsal und Verzweiflung die äußerste Entscheidungsmöglichkeit des Menschen zu aktualisieren, aus diesem Gott macht Jung einen selber halbsatanischen Demiurgen, der denn auch sodann – dies die Bedeutung des Sühnetods Christi – um seiner »Schuld«, der mißglückten Weltschöpfung willen, (ich zitiere nun Jungs Sprache von 1940 1 , derengleichen in dem gnostischen Schrifttum, auf das er sich beruft, nirgends zu finden ist, wörtlich) »der rituellen Tötung unterworfen werden mußte«, womit die Kreuzigung Christi gemeint ist; und die Trinität wird zur Quaternität erweitert, indem in sie der autonome Teufel als »der Vierte« einbezogen wird 2 . Dies alles sind freilich, wie Jung betont, »Projektionen von psychischen Vorgängen, menschliche Geistesprodukte, denen man keine metaphysische Gültigkeit anmaßen darf« 3 , und das Selbst erscheint ihm als das Urbild aller monotheistischen Systeme, die hier als heimliche Gnosis entlarvt werden. Anderseits aber sieht er es zugleich als imago Dei in homine: es müsse ja, sagt er einmal 4 in solchem Zusammenhange in einer bei ihm, soweit ich sehe, durchaus analogielosen Formulierung, die Seele eine Entsprechung zum Wesen Gottes in sich haben. Jedenfalls wird von ihm das Selbst, die hochzeitliche Vereinigung von Gut und Böse, als die neue »Inkarnation« auf den Thron der Welt erhoben. »Wenn wir wissen wollen«, sagt er 5, »was geschehen wird in einem Falle, wo die Gottesidee nicht länger projiziert ist als eine autonome Wesenheit, so ist dieses die Antwort der unbewußten Seele: das Unbewußte schafft die Idee eines deifizierten oder göttlichen Menschen.« Diese in sich Christus und Satan umfassende Figur 6 ist die als die Realisierung der »Identität Gottes mit dem Menschen« 7 zur Erde herabgestiegene letzte Gestalt jenes gnostischen Gottes, zu dem Jung sich einst bekannt hatte und dem er, immer wieder auf dessen bevorstehende Erscheinung hindeutend 8 , treu geblieben ist. Jungs Religionspsychologie ist als die Ankündigung dieses Gottes als des Kommenden zu verstehen. Zu Nietzsches Wort »Tot sind alle Götter, nun wollen wir, daß der Übermensch lebe!« schreibt Heidegger 9 in einem ihm sonst fremden 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Das Wandlungssymbol in der Messe (Eranos-Jahrbuch 1940-1941) 153 f. Symbolik 439, vgl. Religion 108 ff., Zur Psychologie der Trinitätsidee (Eranos-Jahrbuch 1940-1941) 51 ff., Alchemie 212. Symbolik 417. Alchemie 22 f. Psychologie und Religion 65. Symbolik 409, vgl. Selbst 304. Psychologie und Religion 111. Vgl. insbesondere ebd. 175 f. Holzwege 235. Es empfiehlt sich, Jungs fast gegensätzlich gemeinte Äußerung »Das
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Ton diese Warnung: »Nie kann sich der Mensch an die Stelle Gottes setzen, weil das Wesen des Menschen den Wesensbereich Gottes nie erreicht. Wohl kann dagegen, gemessen an dieser Unmöglichkeit, etwas weit Unheimlicheres geschehen, dessen Wesen zu bedenken wir noch kaum begonnen haben. Die Stelle, die, metaphysisch gedacht, Gott eignet, ist der Ort der verursachenden Bewirkung und Erhaltung des Seienden als eines Geschaffenen. Dieser Ort Gottes kann leer bleiben. Statt seiner kann sich ein anderer, das heißt metaphysisch entsprechender Ort auftun, der weder mit dem Wesensbereich Gottes noch mit demjenigen des Menschen identisch ist, zu dem aber wiederum der Mensch in eine ausgezeichnete Beziehung gelangt. Der Übermensch tritt nicht und nie an die Stelle Gottes, sondern die Stelle, auf die das Wollen des Übermenschen eingeht, ist ein anderer Bereich einer anderen Begründung des Seienden in einem anderen Sein.« Die Worte zwingen einen, aufzuhorchen.
Interregnum ist voll Gefahr« in ihrem Zusammenhang (Psychologie und Religion 158) zu vergleichen.
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Man erfährt ein Wesentliches von dem historisch überschaubaren Weg des Menschengeistes, wenn man diesen Weg auf die Wandlungen des Verhältnisses zwischen dem Ethischen und dem Religiösen hin betrachtet. Nur muß man beides, das Ethische und das Religiöse, nicht in dieser oder jener seiner Erscheinungsformen, sondern in seinem Grunde ins Auge fassen. Unter dem Ethischen in diesem strengen Sinn verstehen wir das Ja und Nein des Menschen zu den ihm möglichen Haltungen und Handlungen, die radikale Unterscheidung zwischen ihnen, die sie dieser Radikalität gemäß nicht nach ihrem Nutzen und Schaden für Individuen und Gesellschaften, sondern nach dem ihnen selber innewohnenden Wert und Unwert bejaht und verneint. Wir erfassen das Ethische in seiner Reinheit nur da, wo die menschliche Person sich mit ihrer eigenen Möglichkeit konfrontiert und innerhalb ihrer scheidet und entscheidet, ohne nach anderem zu fragen, als was jetzt und hier, in dieser ihrer eigenen Situation das Rechte und was das Unrechte ist. Das Kriterium, nach dem jeweils diese Scheidung und Entscheidung geschieht, mag ein überkommenes oder ein der menschlichen Person selber, die sie vollzieht, einsichtig oder offenbar gewordenes sein: es geht darum, daß die kritische, die erst erhellende, dann brennende und läuternde Flamme immer neu aus der Tiefe schlage. Die echteste Voraussetzung dafür ist ein fundamentales Wissen, das allen Menschen, wenn auch in sehr verschiedener Stärke und Bewußtheit, innewohnt und von ihnen zumeist übertäubt wird: das Wissen des Einzelnen um das, was er »eigentlich« ist, wie er zu sein bestimmt ist, als was er in seinem einmaligen und einzigen Erschaffensein gemeint ist; aus welchem Wissen je und je, wenn es ganz aktuell wird, die Vergleichung mit dem, was er da faktisch ist, entspringen kann und das nun eben Bestehende sodann an dem Bilde gemessen wird, das aber kein sogenanntes Idealbild, nichts von Menschen Erträumtes ist, sondern ein aus dem Seinsgeheimnis selber, das Person heißt, Erscheinendes. So tritt denn der Dämonie der dem Einzelnen in diesem Augenblick gegebenen Fülle möglicher Haltungen und Handlungen der Genius, der seinen Namen führt, gegenüber. Scheidung und Entscheidung, die solcher Tiefe entsteigt, darf man die Tat des Vorgewissens nennen. Unter dem Religiösen in diesem strengen Sinn aber verstehen wir die Beziehung der menschlichen Person zum Absoluten, wenn und insofern die Person als ein Ganzes in diese Beziehung eintritt und in ihr dauert. Mit diesem Satz wird die Existenz einer Wesenheit vorausgesetzt, die
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zwar in sich durch keine Schranken begrenzt und von keinen Bedingungen abhängig ist, dennoch aber andere, und zwar eingeschränkte und bedingte Wesen außer sich existieren läßt, ja ihnen gewährt, zu ihr in eine Beziehung zu treten, die scheinbar nur zwischen eingeschränkten und bedingten Wesen bestehen kann. Es ist somit in der von mir gegebenen Begriffsbestimmung mit »dem Absoluten« nicht etwas gemeint, was die menschliche Person dafür hält, ohne daß damit etwas über sein Sein gesagt wäre, sondern die absolute Wesenheit selber, möge die Gestalt, in der sie sich dieser menschlichen Person in diesem Augenblick darstellt, welche auch immer sein. In der Wirklichkeit der religiösen Beziehung personalisiert sich das Absolute zumeist, zuweilen freilich erst – wie in dem aus einer persönlichen Beziehung zum »Ungewordenen« hervorgegangenen Buddhismus – in der Entwicklung einer Religion, allmählich und gleichsam widerstrebend. Innerhalb der religiösen Beziehung und in ihrer Sprache ist es legitim, von der Person Gottes zu sprechen; aber damit ist nicht eine Wesensaussage über das Absolute getan, die es auf die Personhaftigkeit reduzierte, sondern es ist gesagt, daß es in die Beziehung als die absolute Person eintrete, die wir Gott nennen – man darf die Personhaftigkeit Gottes als seine Tat verstehen, ja, dem Gläubigen wäre das Bekenntnis gestattet, Gott sei ihm zuliebe Person geworden, weil es unserer menschlichen Wesensart nach eine gegenseitige Beziehung mit uns nur als eine personhafte gibt. Hingegen ist vom Religiösen in dem hier gemeinten strengen Sinn nicht zu reden, wo die Beziehung nicht gegeben ist und es nicht sein kann. So verhält es sich, wenn eine menschliche Person mit dem Gottesbegriff das Allsein schlechthin intendiert, außerhalb dessen sie selber gar nicht mehr als ein Sonderwesen existiert, das als solches in die Beziehung zu ihm zu treten vermöchte, sei es auch nur, um sich immer wieder darin zu verlieren; es verhält sich so aber auch, wenn eine menschliche Person mit dem Gottesbegriff ihr eigenes Selbst intendiert, gleichviel unter wie komplizierten Verhüllungen sie dies tut: was sich hier in der Spuk- und Spiegelkammer begibt, hat nichts mehr mit der wirklichen Beziehung, aber auch nichts mehr mit dem wirklichen Selbst zu tun; denn das wirkliche Selbst tritt nur in die Erscheinung, indem es in die Beziehung zu dem Anderen tritt, und wo dieser Beziehung abgesagt wird, stirbt das Selbst ab – ein Vorgang, der zuweilen freilich sehr phosphoreszierende Effekte hervorrufen kann. Diese Einsichten müssen wir festhalten, wenn wir den Weg des Menschengeistes auf die Wandlungen des Verhältnisses zwischen dem Ethischen und dem Religiösen hin betrachten. Das Wesen des Verhältnisses zwischen dem Ethischen und dem Religiösen läßt sich nicht dadurch bestimmen, daß man die ethischen und
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die religiösen Lehren miteinander vergleicht. Man muß vielmehr in beide Sphären da eindringen, wo sie sich in einer konkreten persönlichen Situation verdichten; es ist also einerseits die faktische sittliche Entscheidung des Einzelnen, anderseits seine faktische Beziehung zum Absoluten, was uns angeht, und beide Male ist nicht eine bloße Fakultät der Person im Spiel, sei es ihr Denken oder ihr Gefühl oder ihr Wille, sondern die Gesamtheit dieser Fakultäten und mehr als das, der ganze Mensch. Eine beiden Sphären überlegene dritte ist uns nicht gegeben; wir vermögen nur, die beiden einander gegenübertreten zu lassen, und zwar so, daß in dieser Begegnung jede ihr Verhältnis zu der andern determiniert. Betrachten wir in solcher Konkretheit das Verhältnis zwischen beiden Sphären vom Religiösen aus, so sehen wir dessen große Tendenz, in das ganze Leben der Person seine Strahlen zu entsenden, die eine umfassende Strukturwandlung bewirken: lebendige Religiosität will lebendiges Ethos hervorbringen. Wesentlich anderes eröffnet sich unserem Blick, wenn wir das Verhältnis zwischen beiden Sphären vom Ethischen her zu sichten suchen: der nach Scheidung und Entscheidung in der eigenen Seele strebende Mensch kann aus ihr, aus seiner Seele, die Absolutheit für seine Wertskala nicht schöpfen, nur aus der persönlichen Beziehung zum Absoluten geht die Absolutheit der ethischen Koordinaten hervor, ohne die es keine vollkommene Selbstbesinnung gibt. Auch wenn der Einzelne ein aus religiöser Tradition überkommenes absolutes Kriterium sein eigen nennt, muß es in der Wahrheit seiner personhaften Wesensbeziehung zum Absoluten umgeglüht werden, um die wahre Gültigkeit zu gewinnen. Immer aber ist das Spenden auf der Seite des Religiösen, das Empfangen auf der des Ethischen. Man würde mich von Grund aus mißverstehen, wenn man annähme, daß ich der sogenannten sittlichen Heteronomie oder Fremdgesetzlichkeit gegen die sogenannte sittliche Autonomie oder Eigengesetzlichkeit das Wort rede. Wo das Absolute in der gegenseitigen Beziehung spricht, gibt es diese Alternative nicht mehr: der ganze Sinn der Gegenseitigkeit liegt ja eben darin, daß es sich nicht auferlegen, sondern frei ergriffen werden will. Es gibt uns etwas zu ergreifen, aber es gibt uns nicht das Ergreifen; unser Akt muß von Grund aus unser eigener sein, damit sich uns das zu Erschließende erschließe, das ja jedem Einzelnen ihn selber erschließen soll. In der Theonomie sucht das göttliche Gesetz dein eigenes auf, und die wahre Offenbarung macht dir dich selbst offenbar. *
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Von hier aus, von der Realität des Verhältnisses zwischen den Sphären im Leben der Person aus, und nur von hier aus läßt sich ihr Verhältnis in der Geschichte des Menschen zulänglich erfassen. Zweimal hat sich, soweit sich die bisherige Geschichte des Menschen überblicken und vom Menschen aus begreifen läßt, das große Unternehmen des Geistes ereignet, die radikale Scheidung von Gut und Böse an das Absolute zu binden. Die beiden Erscheinungsformen dieses Unternehmens sind freilich nach Art und Verlauf höchst verschieden. Die erste ist in der orientalischen und hellenischen Antike hervorgetreten. Es ist die Lehre einer universalen Sinneskontinuität, deren Prinzip in China als Tao, in Indien als Rita, in Iran als Urta (traditionell Ascha gelesen), in Griechenland als Dike erscheint. Himmlische Mächte, so wird gelehrt, haben den Menschen das Urbild des rechten Verhaltens übergeben. Aber das ist nicht eine Ordnung, die sie für den Menschen ersonnen haben: es ist ihre eigene Ordnung. Der Himmel will nicht eine besondere Ordnung für die Erde herstellen; er will seine eigene Ordnung ihr zuteil werden lassen. Die sittliche Ordnung ist mit der kosmischen identisch. Die Gesamtheit des Seienden ist ihrem Wesen nach eine Gesellschaft mit einer Gesetzesverfassung. Gleichviel ob die Ahnen selber als Götter dargestellt werden oder ob zwischen den Göttern und den Ahnen ein Verhältnis von Geben und Nehmen besteht, letztlich, nach Sinn und Bestimmung, bilden Götter und Menschen eine einzige Gesellschaft mit einer einzigen Ordnung, und es ist eine Ordnung der Gerechtigkeit. Wohl mögen sich die Menschen, wie ja nicht selten sogar die Götter des Mythos, ihr entziehen; die Macht dieser Ordnung waltet doch über allen und bestimmt letztlich den Zusammenhang des Geschehens. Das Rita, das in der uns bekannten Welt zwischen dem Richtigen und dem Falschen, zwischen Recht und Unrecht scheidet und entscheidet, ist ein kosmisches, aber auch ein metakosmisches Ethos des Seins; »euer Rita«, so werden die Götter in einem vedischen Hymnus angeredet, »das hinter dem Rita (dem in der Empirie des Lebens wahrnehmbaren) verborgen ist, steht ewig fest, dort, wo die Sonnenrosse ausgespannt werden«. Nach einem frühen zarathustrischen Text ist der höchste Gott, der das körperliche Dasein erschaffen hat, auch der Vater der wirksamen guten Gesinnung und der Hingegebenheit, die gute Taten tut. »Himmel und Erde«, heißt es in dem, in seinem Kern sehr alten chinesischen ›Buch der Wandlungen‹, »bewegen sich in Hingegebenheit; darum überschreiten Sonne und Mond nicht ihre Bahn.« Anders, und doch im Grunde wesensgleich, sagt es Heraklit von Ephesus: »Die Sonne wird ihre Maße nicht überschreiten, sonst werden die Erinyen, die Helfer der Dike, sie ausfindig machen.« Die Rächerinnen der mensch-
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lichen Schuld wachen auch über der »heiligen Ordnung der Welt«. Als Weltgesetz formuliert es noch vor Heraklit Anaximander von Milet, alle Seienden müßten für das von ihnen verübte Unrecht einander Gerechtigkeit und Buße leisten. Und aus der konfuzianischen Schule hören wir: »Ein Mann wird der genannt, der dem Tao von Himmel und Erde gegenüber die Verantwortung übernimmt.« All die Sätze ergänzen einander, als stünden sie in einem Buch beisammen. Die Krisis dieser in den großen Kulturen des Orients, einschließlich des kleinasiatischen Griechentums, hervorgetretenen Welt- und Lebenslehre bricht auf europäischem Boden, in Griechenland, aus. Den gedanklichen Ausdruck dieses Vorgangs kennt man unter dem Namen der Sophistik. Ihre eigentlichste Kritik greift die Verbindung zwischen dem Ethischen und dem Absoluten an, indem sie den Kosmos als einheitliches Vorbild in Frage stellt, und zwar von den biologischen Tatsachen aus. Wohl erscheinen uns die Himmelskörper in jener vollkommenen Übereinstimmung, die ein aischyleischer Chor »die Harmonie des Zeus« nennt; aber wo Leben ist, herrscht ein anderes Gesetz, nach dem der Stärkere über den Schwächeren verfügt. Mögen etliche Sophisten, die radikal individualistisch Gesinnten unter ihnen, daraus folgern, das Recht des Stärkeren habe auch innerhalb des Menschengeschlechts zu gelten – die meisten verfechten das Recht der Gesellschaft, die die Schwächeren zu einer Macht zusammenschließt. Die menschliche Gesellschaft bestimmt, was gut und gerecht ist; sie nennt so, was ihr zum Nutzen gereicht; vielmehr, da es nicht eine einzige Gesellschaft, sondern viele und verschiedene gibt, die Gesellschaften verhalten sich so. Das Gute ist also nicht eines und in sich bestehend, es ist »bunt und mannigfaltig«; mit anderen Worten, es gibt nur die wechselnden Sitten und Bräuche, Wertungen und Anordnungen, es gibt keine all dieser Buntheit und Mannigfaltigkeit zugrunde liegende und sie recht eigentlich ermöglichende Urfunktion des Ja und Nein, die dem Sein selbst innewohnt. »Der Mensch«, so faßt der größte der Sophisten seine Ansicht zusammen, »ist das Maß aller Dinge.« Als Protest gegen diese Relativierung aller Werte, als der große Versuch des antiken Gedankens, die Verbindung des Ethischen mit dem Absoluten wiederherzustellen und damit den konkreten handelnden Menschen von neuem dem Urgrund des Seins begegnen zu lassen, ist Platons Ideenlehre zu verstehen, und dieser seiner Intention gemäß hat er, am Ende seines Wegs, in genauer Entsprechung zu jenem Spruch des Protagoras ihm den Widerspruch entgegengestellt, Gott sei das Maß aller Dinge. War erst einmal die den großen morgenländischen Frühkulturen gemeinsame Einsicht in eine das Richtige darstellende Einheit des Uni-
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versums verstört, die erscheinende Natur in einen einträchtigen Kosmos und einen unendlich zwieträchtigen Bios aufgespalten, dann gab sich die Welt der Dinge dem Menschen nicht mehr zum Ur- und Vorbild her – ihr selber mußte eine unantastbar urbildhafte Welt der reinen Gestalten gegenübertreten. Aber auch auf den Aufbau dieser oberen Welt, dessen höchster First die Idee des Guten oder Gott ist, führt die Absicht wie mit Notwendigkeit hin: das ewige Ethos selber, der Seinsgrund jener allmenschlichen Funktion, die das Ja gegen das Nein absetzt und zur Entscheidung treibt, wird zur höchsten »Gestalt« des Absoluten. Das »Gute und Seinsollende« ist es, das alles Sein aneinander bindet und zusammenhält. In einer denkerischen Klarheit wie nie zuvor wird hier dem Menschen die Aufgabe zugewiesen, die Unbedingtheit des Rechten mit seiner Person zu verwirklichen: die objektive »Nachbildung« der Ideen durch die Dinge wandelt sich in der Subjektivität und durch sie zur geistigen Tat des Richtigwerdens. Diese Setzung der ethischen Funktion als einer transzendentalen wird durch einen der kühnsten Menschengedanken ermöglicht: daß das Gute »über das Sein an Würde und Macht hinausragt«, als »die Ursache alles Richtigen und Schönen«, die jedes Einzelne ins Sein bringt, nicht damit es schlechthin da sei, sondern damit es das vollkommen werden könne, als was es gemeint ist. Die Scheidung zwischen dem Bejahten und dem Verneinten, die zur Überwindung des Nein durch das Ja führt, steht über dem als solches noch ungeschiedenen Sein. In ihr, in ihrer letzten Tiefe, naht man dem Geheimnis Gottes; denn nicht das Sein, wohl aber das Vollkommensein darf Gott genannt werden. »Wenn einer nicht abläßt«, sagt Platon, »bis er das Gute selber mit der Erkenntnis selber gefaßt hat, dann gelangt er ans Ende des Erkennbaren.« Wo aber wird das Gute erkannt? Platon gibt uns auf diese Frage keine spezifische Antwort; wir knüpfen aber an ihn an, wenn wir erwidern: Das Gute wird erkannt, wo es sich dem Einzelnen erschließt, der sich mit seinem ganzen Wesen entscheidet, der zu werden, als der er gemeint ist. Und in der Tat: ob es sich in der Seele oder in der Welt ereignet, nichts ist so geheimnisvoll wie das Erscheinen des Guten. In seinem Lichte erweist sich alle Geheimlehre als erlernbare Konvention; nicht erlernbar, nur erweckbar aber ist die Wesensbeziehung der menschlichen Person zu dem, das »über das Sein hinausragt«. * Platons Denkwagnis, eine Welt der Ideen an die Stelle der zusammenbrechenden vorbildlichen Himmelswelt zu setzen, die den großen orientalischen Kulturen die Absolutheit der obersten Werte verbürgte, ist –
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wie gewaltig und wie nachhaltig auch seine Wirkung gewesen ist – nicht geglückt. Der angehobene Prozeß schritt fort, der zur Auflösung der Absolutheit der ethischen Koordinaten und in steter Wechselwirkung mit ihr zur Chaotisierung der alten Welt führte. Längst aber hatte, nach Art und Ablauf, wie gesagt, grundverschieden, der andere große Versuch in der Geschichte des Menschengeistes, die radikale Scheidung von Gut und Böse an das Absolute zu binden, sein erstes Stadium vollendet. Er hatte seinen Ursprung nicht, wie jener, in einem über einen Kontinent sich erstreckenden Zusammenhang hoher Kulturen, sondern in einer Schar von Viehzüchtern und Gelegenheitsbauern, die sich mitten aus einer hohen Kultur, aus Ägypten, wo sie eine volksfremde, halb autonome, halb verfronte Existenz fristete, auf die Wanderschaft und Landsuche begeben hatte und sich unterwegs, in einer Oase, als einen Gottesbund konstituierte. Dieser »Gott Israels« war ein Walter und Schützer des Rechts, wie manche anderen semitischen Stammesgötter, nur daß der mit ihm geschlossene Bund auf eine so ernste, so real geforderte und gehütete Scheidung zwischen Recht und Unrecht gestellt war, wie man sie in keinem all der Stämme kannte, und daß dem damals entstandenen Volk seine geistigen Führer immer wieder und immer deutlicher erklärten, es sei »der Richter der ganzen Erde«, der nun eben es, dieses Volk, sich als seine unmittelbare Gefolgschaft hervorgeholt habe, damit es seine Gerechtigkeit zu erfüllen beginne. Sie, die Gerechtigkeit, die Bestätigung des Rechten und Überwindung des Unrechten, galt nicht als bereits in einer himmlischen Gesellschaft verkörpert, die der menschlichen zum Vorbild dienen sollte; nicht die kosmische Ordnung war das Bestimmende, sondern der ihr überlegene Herr von Himmel und Erde, der die von seiner Hand gebildeten Menschengeschöpfe unterwies, in ihrer Seele zwischen dem Guten und dem Bösen zu scheiden, wie er selber, die Welt schaffend, zwischen Licht und Finsternis geschieden hatte. Man pflegt die Bindung des Ethischen an das Religiöse in Israel ausschließlich im Bilde eines himmlischen Befehlens nebst Strafandrohung zu sehen. Damit verfehlt man das Eigentliche. Denn die Gesetzgebung am Sinai will als Verfassung verstanden sein, die der göttliche Herrscher in der Stunde der Thronbesteigung dem Volke erteilt, und alle Bestimmungen dieser Verfassung, wie die ritualen so auch die ethischen, sind darauf angelegt, es über sich hinaus in die Sphäre des »Heiligen« zu tragen: als die Zielsetzung wird dem Volke nicht geboten, daß es ein »gutes«, sondern daß es ein »heiliges« werde. Alle sittliche Forderung wird hier somit als eine kundgetan, die den Menschen, das Menschenvolk in den Bereich erheben soll, wo das Ethische im Religiösen aufgeht, vielmehr wo
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die Differenz zwischen dem Ethischen und dem Religiösen im Atemraum des Göttlichen selber aufgehoben wird. Das wird unüberbietbar deutlich in der Begründung jener Zielsetzung ausgesprochen: Israel soll heilig werden, »denn ich bin heilig«. Die Nachahmung Gottes durch den Menschen, das »ihm in seinen Wegen Folgen«, kann sich naturgemäß nur an den dem menschlichen Ethos zugewandten göttlichen Attributen, an Gerechtigkeit und Liebe vollziehen, und alle Attribute sind durchsichtig in die überattributhafte Heiligkeit, die durch den Menschen nur in der von ihr urverschiedenen, der menschlichen Dimension nachgebildet werden kann. Die absolute Norm wird als die Weisung für den Weg gegeben, der vors Angesicht des Absoluten führt. Voraussetzung für diese Verbindung von Ethischem und Religiösem aber ist die Grundanschauung, daß der Mensch, indem er von Gott erschaffen wurde, von ihm in eine Selbständigkeit gesetzt worden ist, die seither ungemindert verblieb, und daß er in dieser Selbständigkeit Gott gegenübersteht. So nimmt am Dialog zwischen beiden, der die Essenz des Daseins bildet, der Mensch in völliger Freiheit und Ursprünglichkeit teil. Daß dem trotz der Schrankenlosigkeit Gottes in Macht und Wissen so ist, macht eben das Schöpfungsmysterium des Menschen aus. Darin ist die unverbrüchliche Realität der Scheidung und Entscheidung begründet, die der Mensch in seiner Seele vollzieht. Der Strom des Christentums, der sich von der Quelle Israels, um mächtige Zuflüsse, insbesondere die aus Iran und Hellas gekommenen, verstärkt, über die Welt ergoß, ist in einer Stunde entstanden, da im hellenistischen Kulturkreis, und ganz besonders in dessen religiösem Leben, das Element des Volkes durch das des Einzelnen verdrängt worden ist. Das Christentum ist »hellenistisch«, insoweit es die Konzeption des »heiligen Volkes« aufgibt und nur noch eine personhafte Heiligkeit kennt. Die individuelle Religiosität gewinnt dadurch eine bisher unerhörte Intensität und Innerlichkeit, zumal das stets gegenwärtige Bild Christi eine erheblich konkretere Beziehung des Einzelnen in Nachfolge und Nachahmung gewährt als die bildlose Wesenheit des Gottes Israels, der ein sich offenbarender, aber nicht minder ein sich verbergender (freilich keineswegs, wie man zu sagen pflegt, ein verborgener) Gott ist; zu diesem sich auf keine Gestalt festlegenden, sich aus jeder Manifestation wieder zurückziehenden Gott hätten die für das Christentum gewonnenen Völker, die nicht wie Israel als Bundesvolk in einem Fundamentalverhältnis zu ihm standen, auch gewiß in keine mittlerlose Beziehung treten können. Anderseits erfährt im Zusammenhang damit die Verbindung zwischen dem Ethischen und dem Religiösen eine Beeinträchtigung. Denn da eine Heiligung des Volkes als Volk nicht mehr oder nicht mehr ernst-
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lich gekannt wird, nehmen die Völker eben nicht als Völker, nur als Gesamtheiten von Einzelnen den neuen Glauben an, und auch wo die Bekehrung sich massenweise vollzieht, bleibt das Volk als Volk ungetauft; in den neuen Bund, der verkündigt wird, tritt es als Volk nicht ein. Das bedeutet, daß hier nicht mehr eine große Geistesmacht, wie es in Israel die Prophetie war, den Auftrag verwaltet, dem Unheiligen im öffentlichen Leben und im Leben des an diesem, sozusagen mit gutem Gewissen, teilnehmenden Menschen um der Heiligung des Volkes willen rügend und rechtend entgegenzutreten. Gewiß hat es in der Geschichte der christlichen Völker nicht an entflammten und martyriumsbereiten Männern des Geistes im Ringen um die Gerechtigkeit gefehlt; aber jenes »Ihr sollt mir ein heiliges Volk werden« stand nicht mehr lebendig hinter ihnen. Ein andres und noch tiefer Greifendes kam dazu, und auch dieses hing mit der an sich sinngemäßen und legitimen Entwicklung der grundsätzlichen Suprematie des Religiösen zusammen. Was in Israel den Kern der prophetischen Lehre bildete, war das aus der vollen Glaubensintention zu vollbringende Werk des Lebens, und die Glaubensintention war die innerste Tat des Menschen. Gegen das von der Glaubensintention entleerte rituale Werk war der Kampf der Propheten gerichtet, gegen das von der Glaubensintention entleerte sittliche Werk der Kampf ihrer Nachfolger zur Zeit Jesu, zu denen die großen pharisäischen Lehrer und Jesus selber gehörten. Die paulinische und paulinistische Theologie deprezierte die Werke um des Glaubens willen und ließ die beide verbindende Forderung der Glaubensintention, der Intention des Werkes aus dem Glauben, die Forderung der Verkünder des Gottgefälligen von den ersten Schriftpropheten bis zur Bergpredigt, unentfaltet. Den Glauben aber war man, von Augustin bis zu den Reformatoren, geneigt, als Gabe Gottes zu verstehen. Diese sublime Vorstellung mit allem, was sich an sie knüpft, hatte freilich zur Folge, daß das israelitische Mysterium des Menschen als eines selbständigen Partners Gottes ins Dunkel zurücktrat, und auch das Dogma der Erbsünde war nicht angetan, jene eigentümliche Verbindung des Ethischen mit dem Religiösen zu fördern, die die wahre Theonomie durch die gläubige Autonomie des Menschen verwirklichen will. In den Lehren der großen asiatischen Kulturen von der Entsprechung zwischen Himmel und Erde ist das normative Prinzip vom theologischen (Theologie als die Selbstdeutung der Religion verstanden) noch gar nicht unterschieden; es gibt nur eben eine normative, dem Menschen zugewandte Seite der Wahrheit; in der Lehre Israels ist das Ethos eine inhärente Funktion der Religion, nicht mehr eine Seite, aber eine unmittel-
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bare Auswirkung; im Christentum, das dem israelitischen Glauben an die unentbehrliche Gnade Gottes den Charakter der Ausschließlichkeit verleiht, kann die Norm, auch wenn sie als das »neue Gesetz« auftritt, keine zentrale Stellung mehr einnehmen. Dadurch wird es der säkularen Norm erleichtert, ihr immer mehr Boden abzugewinnen. In ihrer staatlichen Gestalt sucht diese freilich, durch den Begriff des Gottesgnadentums des Monarchen und auf anderen Wegen, sich einer absoluten Basis vom Religiösen her zu bemächtigen; die echte Bindung des Ethischen an das Absolute ist hier immer weniger gegeben.
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Die Krisis des zweiten großen Versuches, das Ethische an das Absolute zu binden, reicht in unsere Zeit hinein. Wie die des ersten, so hat auch sie ihren gedanklichen Ausdruck in einer die Werte relativierenden philosophischen Bewegung gefunden, die freilich weit differenzierter ist, als die sophistische war. Ihr präludieren schon im 17. Jahrhundert Anschauungen wie die von Hobbes, die in einigen Punkten an die Formulierungen eines bedeutenden sophistischen Textes des 5. vorchristlichen Jahrhunderts (Anonymus Iamblichi) erinnern; aber die entscheidende Entwicklung vollzieht sich im 19. Jahrhundert mit einer Betrachtungsweise, die man als Philosophie der Zurückführung oder des Durchschauens bezeichnen kann; ihr Vollender, Nietzsche, nennt sie »die Kunst des Mißtrauens«. Diese Philosophie, die, wie einst die Sophistik, die biologische Perspektive mit der soziologischen und psychologischen verbindet, will die geistige Welt als einen Zusammenhang von Täuschungen und Selbsttäuschungen, von »Ideologien« und »Sublimierungen« entlarven. Ihren eigentlichen Anfang hat sie in Feuerbachs Religionskritik, die den Spruch des Protagoras vom Menschen als dem Maß der Dinge auf eine ihn scheinbar umkehrende Weise ausgebaut hat und die in dem Satz zusammengefaßt ist: »Was der Mensch nicht ist, aber sein will oder zu sein wünscht, das eben, und nur das, sonst nichts, ist Gott.« Von Feuerbach führt ein gerader Weg zu Marx, nur daß für Marx eine Behauptung dieser Art, als metaphysisch und ungeschichtlich, keinen wirklichen Sinn hat; es gibt für ihn, in der Gefolgschaft Vicos, keine andere Erkenntnis als die geschichtliche. Er verwandelt die These Feuerbachs, indem er sie einerseits auf alle religiösen, moralischen, politischen, philosophischen Ideen erstreckt, anderseits aber alle diese in den geschichtlichen Prozeß einstellt, der hinwieder einzig vom Wechsel der Produktionsbedingungen und den sich daraus ergebenden Konflikten zu erfassen sei: In der je-
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weiligen Moral seien die Existenzbedingungen der herrschenden Klasse ideell ausgedrückt, und solange der Klassenkampf besteht, sei alle Unterscheidung von Gut und Böse nichts als dessen Funktion, alle Lebensnorm nichts als Ausdruck der Herrschaft oder Waffe in ihrer Durchsetzung, und das gilt letztlich nicht bloß für die wechselnden moralischen Inhalte, sondern auch für die moralische Wertung als solche. Soweit Nietzsches Moralkritik in der geschichtlichen Sphäre bleibt, darf man sie objektiv als eine – Nietzsche selbstverständlich nicht bewußte – Modifikation von Marxens Ideologienlehre verstehen. Die geschichtlichen Moralen erscheinen auch ihm als Äußerung und Mittel im Machtkampf zwischen herrschenden und beherrschten Schichten, nur eben auch von der Seite der letzteren, und auf diese Seite, die »Sklavenmoral«, als welche er das Christentum versteht, hat er sein Augenmerk gerichtet. Dieser Auffassung des geschichtlichen Auftretens von Moralen liegt die wertgenetische Ansicht zugrunde, die Werte und deren Veränderung stünden »im Verhältnis zu dem Machtwachstum des Wertsetzenden«, und dieser Ansicht wieder die metaphysische, das Leben des Geistes sei, wie alles Leben, auf den »Willen zur Macht« als alleiniges Prinzip zurückzuführen. Nun aber vollzieht sich bei Nietzsche eine seltsame Wendung: die »Sklavenmoral«, die sich gegen den Willen zur Macht richtet, wird mit der Moral überhaupt identifiziert – als ob es die von ihm, Nietzsche, bejahte »Herrenmoral« gar nicht gäbe. Einerseits verkündigt er eine biologisch fundierte Moral: »Ich lehre das Nein zu allem, was schwach macht. Ich lehre das Ja zu allem, was stärkt«. Anderseits aber erklärt er, die Skepsis an der Moral sei das Entscheidende und unser Zeitalter sei das des Untergangs der moralischen Weltauslegung, der im Nihilismus ende, zu dem er sich bekennt, und dieser bedeute, daß »die obersten Werte sich entwerten«, so daß nunmehr das Ziel des Daseins fehle. Der Nihilismus jedoch soll nun dadurch überwunden werden, daß ein Ziel geschaffen wird, »das über der Menschheit stehenbleibt und über dem Einzelnen«, und das heißt, daß durch Nietzsches Lehre vom Übermenschen ein neues Ziel, ein neuer Sinn des Daseins und neue Werte gesetzt werden. Daß all dies durch seine andre Lehre, die von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, die er selber »die extremste Form des Nihilismus« und die Verewigung des Sinnlosen nennt, im Grunde schon aufgehoben ist, hat er freilich nicht beachtet. Nietzsche hat, so gründlich wie nicht viele moderne Denker vor ihm, gewußt, daß die Absolutheit der ethischen Werte in unserer Beziehung zum Absoluten wurzelt. Und er hat diese Stunde der Menschengeschichte als die verstanden, in der »der Glaube an Gott und eine essentiell mo-
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ralische Ordnung nicht mehr zu halten ist«. Seine entscheidende Äußerung ist der Ruf »Gott ist tot«. Aber er hat diese Proklamation nicht als Endpunkt, nur als Wendepunkt ertragen können. Immer wieder versucht er den Gedanken eines Ausgangs zu fassen, der Gott für die gottlos Gewordenen rettete. »Die Religionen«, sagt er, »gehen am Glauben an die Moral zugrunde. Der christlich-moralische Gott ist nicht haltbar«; aber daraus folgt der schlechthinnige Atheismus noch nicht, »als ob es keine andre Art Götter geben könne«. Wenn nicht der neue Gott selber, so muß doch ein gültiger Gottersatz aus dem Menschen selber hervorgehen, als der »Übermensch«. Dieser aber ist zugleich das Maß der neuen, der lebensbejahenden Werte; auf seinen Begriff gründet sich die neue biologische Wertskala, an der die Werte Gut-Böse durch Stark-Schwach ersetzt worden sind. Und wieder beachtet Nietzsche nicht, daß alle Zweideutigkeit, die sich je den Werten Gut-Böse angeheftet hat, durch die in der Natur der Sache selbst liegende Zweideutigkeit der Werte Stark-Schwach heillos übertroffen wird. »Die Sophisten«, sagt Nietzsche, »haben den Mut, den alle starken Geister haben, um ihre Unmoralität zu wissen. Die Sophisten waren Griechen; als Sokrates und Plato die Partei der Tugend und Gerechtigkeit nahmen, waren sie Juden oder ich weiß nicht was.« Nietzsche hat den Nihilismus, den er selber vollendete, auch selber überwinden wollen; damit ist er gescheitert. Das ist nicht so gemeint, wie man von Plato sagen könnte, er sei gescheitert, weil er im geschichtlichen Verlauf der Dinge keinen Erfolg hatte, sondern gemeint ist, daß, zum Unterschied von der Ideenlehre, die »Lehre vom Übermenschen« keine Lehre und daß, zum Unterschied von der durch die Idee des Guten bestimmten Wertskala, die Wertskala Stark-Schwach keine Wertskala ist. Die Situation, in der wir stehen, ist mitbedingt durch dieses gescheiterte Unternehmen des Nihilismus, sich zugleich zu vollenden und zu überwinden. Aber eins können wir von ihm, vom Nihilismus, lernen: eine nur-moralische Instanz wird uns aus dieser Situation nicht in eine gewandelte führen.
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Das erste Buch Kierkegaards, des großen Erzprüfers der Christenheit im 19. Jahrhundert, das ich als junger Mensch gelesen habe, war »Furcht und Zittern«, das sich ganz auf der biblischen Erzählung von der Opferung Isaaks aufbaut. Ich denke noch heute an jene Stunde zurück, weil ich damals den ersten Anstoß erhielt, über die Kategorien des Ethischen und des Religiösen in ihrem Verhältnis zueinander nachzudenken. In diesem Buch wird an dem Beispiel der Versuchung Abrahams dargelegt, es gebe eine »teleologische Suspension des Ethischen«, das heißt, die Gültigkeit der ethischen Verpflichtung könne jeweils durch ein Höheres, durch das Höchste, dessen Absichten gemäß suspendiert werden. Wenn Gott einem gebietet, seinen Sohn zu morden, so ist für die Dauer dieser Situation die Unsittlichkeit des Unsittlichen aufgehoben, mehr noch, das sonst schlechthin Böse ist für die Dauer dieser Situation das schlechthin Gute, weil Gottgefällige geworden. An die Stelle des Allgemeinen und Allgemeingültigen tritt etwas, was ausschließlich in dem persönlichen Verhältnis zwischen Gott und dem Einzelnen gegründet ist. Eben damit aber wird das Allgemeine und Allgemeingültige, das Ethische, relativiert, seine Werte und Gesetze werden aus dem Unbedingten in die Bedingtheit verwiesen; denn dem, was im Bereiche des Ethischen Pflicht ist, kommt keine Absolutheit mehr zu, sowie es mit der absoluten Pflicht gegen Gott konfrontiert wird. »Aber was ist denn«, fragt Kierkegaard, »Pflicht? Pflicht ist doch gerade Ausdruck für Gottes Willen«. Mit anderen Worten: Gott setzt die Ordnung von Gut und Böse – und durchbricht sie, wo er sie durchbrechen will, und zwar von Person zu Person. Auf den tödlichen Ernst dieses »von Person zu Person« hat Kierkegaard zwar mit dem äußersten Nachdruck hingewiesen. Aufs deutlichste erklärt er, nur einem, der würdig sei, Gottes Auserwählter genannt zu werden, werde solch eine Probe auferlegt; »wer aber«, fragt er, »ist ein solcher?« Insbesondere versichert er uns Mal um Mal, er selber habe diesen Mut des Glaubens nicht, der erforderlich sei, um sich mit geschlossenen Augen vertrauensvoll in das Absurde zu stürzen; es sei ihm unmöglich, jene paradoxe »Bewegung des Glaubens« zu vollziehen, die Abraham vollzieht. Man muß jedoch daran denken, daß Kierkegaard auch erklärt, er habe darum gekämpft, im strengen Sinn »der Einzelne« zu werden, habe es aber nicht ergriffen, und daß er dennoch einmal im Sinne hatte, auf sein Grab die Worte »Jener Einzelne« setzen zu lassen. Es ist aus verschiedenen Zeichen zu entnehmen, daß ihm, als er beschrieb, wie Abraham seinen Sohn hergab und doch daran glaubte, er werde ihn
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nicht verlieren (so versteht Kierkegaard den Vorgang), die Erinnerung an den Tag in der Seele stand, da er selber, wenig mehr als ein Jahr vorher, den Bund mit der geliebten Braut löste und doch meinte, ihn in einer unfaßbaren Dimension bewahren zu können. Gegen diesen Bund, so deutete er es einmal, »lag ein göttlicher Protest vor« 1 , dessen er freilich nicht dauernd sicher war, so wenig, daß er im Jahr der Veröffentlichung von »Furcht und Zittern« den Satz niederzuschreiben vermochte: »Hätte ich den Glauben gehabt, so wäre ich bei ihr geblieben.« Aus der Situation zwischen Abraham und Gott, der die von ihm selber gesetzte ethische Ordnung durchbricht, ist der Vorgang hier in eine Sphäre gerückt, in der es weit weniger eindeutig als in der biblischen Erzählung zugeht. »Jede nähere Erläuterung, was mit Isaak gemeint sein soll«, sagt Kierkegaard, »vermag der Einzelne stets nur sich selber zu geben.« Das bedeutet klar und präzis, daß er es von Gott nicht, jedenfalls nicht unmißverständlich, erfährt. Gott fordert das Opfer von ihm; aber welches Opfer, das bleibt offenbar dem Einzelnen zur Interpretation überlassen, die immerhin durch seine Lebensumstände in dieser Stunde bestimmt wird. Wie anders redet hier die biblische Stimme! »Deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, den Isaak.« Da ist nichts mehr zu interpretieren, der hörende Mensch erfährt restlos, was von ihm gefordert wird; der Gott, der hier redet, gibt keine Rätsel auf. Aber noch sind wir nicht bei der entscheidenden Problematik angelangt. Diese tut sich uns erst dann auf, als Kierkegaard seinen Abraham mit Agamemnon vergleicht, der sich anschickt, Iphigenien zu opfern. Agamemnon ist der tragische Held, der vom »Allgemeinen«, von dem Vorhaben seines Volkes angefordert wird, also »in den Grenzen der Ethik bleibt«, die Abraham, »der Ritter des Glaubens«, überschreitet. Alles kommt darauf an, daß er sie mit der paradoxalen Bewegung des Glaubens überschreitet; denn sonst ist alles eine »Anfechtung« gewesen, die Opferbereitschaft eine Mordbereitschaft, »Abraham ist verloren«. Auch das entscheidet sich in der »absoluten Vereinzelung«. »Der Glaubensritter«, sagt Kierkegaard, »hat einzig und allein sich selber, und darin liegt das Furchtbare.« Das ist insofern richtig, als es niemand auf Erden gibt, der ihm helfen könnte, die Entscheidung zu treffen. Aber Kierkegaard setzt hier etwas voraus, was nicht einmal in der Welt Abrahams, geschweige denn in unserer Welt vorausgesetzt werden darf. Er beachtet nicht, daß der Problematik der Glaubensentscheidung eine Problematik des Hörens selber vorausgeht: Wer ist es, dessen Stimme man vernimmt? Für Kierkegaard ist es von der christlichen Tradition aus, in der er auf1.
Auch sie selber äußerte einmal, viel später, er habe sie Gott geopfert.
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gewachsen ist, selbstverständlich, daß der das Opfer Fordernde kein andrer als Gott ist. Für die Bibel, jedenfalls für das Alte Testament, ist das nicht ohne weiteres selbstverständlich; wird hier doch sogar eine bestimmte »Anstiftung« zu einer verbotenen Handlung an einer Stelle (II, Samuel 24, 1) Gott zugeschrieben und an einer andern (I, Chronik 21, 1) dem Satan. Wohl hat Abraham die Stimme, die ihn einst aus der Heimat gehen hieß und die er damals, ohne daß der Redende ihm sagte, wer er sei, als die Stimme Gottes erkannte, nie mehr mit einer andern zu verwechseln vermocht. Und wohl »versucht« Gott ihn nur, das heißt, er holt durch die äußerste Forderung die innerste Hingabebereitschaft aus den Tiefen des Menschenwesens hervor und ermöglicht diesem, sie zur vollen Tatintention erwachsen zu lassen und sein Verhältnis zu ihm, Gott, ganz wirklich zu machen; dann jedoch, wenn nichts mehr hemmend zwischen der Intention und der Tat steht, läßt er sich an der so erfüllten Bereitschaft genügen und verhindert die Handlung. Aber es kann doch geschehen, daß ein sündiger Mensch ungewiß ist, ob er nicht zur Sühne Gott den, vielleicht auch sehr geliebten, Sohn zu opfern habe (Micha 6, 7). Der Moloch ahmt die Stimme Gottes nach, wogegen Gott selber (ebenda, Vers 8) von diesem Menschen – nicht von Abraham, seinem Auserwählten, wohl aber von dir und mir nichts weiter fordert als Gerechtigkeit und Liebe, und daß dieser Mensch mit ihm, mit Gott, »bescheiden umgehe«, mit anderen Worten, nicht viel mehr als das grundlegend Ethische. Wo es um die »Suspension« des Ethischen geht, ist also die Frage der Fragen, die den Vortritt vor jeder anderen hat: ob du wirklich vom Absoluten angesprochen wirst oder von einem seiner Affen. Wobei zu beachten ist, daß, wie die Bibel zu berichten weiß, die göttliche Stimme, die zum Einzelnen spricht, die »Stimme eines verschwebenden Schweigens« ist (I, Könige 19, 12), die Stimmen der Moloche hingegen zumeist ein großmächtiges Gebrüll vorziehen. Dennoch scheint es, insbesondere in unserem Zeitalter, überaus schwer zu sein, sie von jener zu unterscheiden. Es ist ein Zeitalter, in dem die Suspension des Ethischen in einer karikaturhaften Gestalt die Menschenwelt füllt. Wohl haben sich immer schon die Affen des Absoluten auf Erden getummelt, immer und immer wieder sind Menschen aus dem Dunkel angeheischt worden, ihren Isaak herzugeben, und hier gilt’s, nur der Einzelne selber könne erdenken, was eben für ihn mit Isaak gemeint ist. Aber in all jenen Zeiten gab es auch, den Herzkammern der Menschen eingetan, Bilder des Absoluten, teils blasse, teils krasse, allesamt untreu und doch richtig, vergänglich wie ein Traumbild und doch in der Ewigkeit beglaubigt. Wie unzulänglich
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diese Präsenz auch war, dennoch brauchte einer, sofern er sie konkret im Sinne trug, nur an sie zu appellieren, um dem Trug der Stimmen nicht erliegen zu müssen. Das ist anders geworden, seit nach Nietzsches Wort »Gott tot ist«, das heißt, realistisch gesprochen, seit die Bildkraft des menschlichen Herzens im Absterben ist – seit die geistige Pupille die Erscheinung des Absoluten nicht mehr auffängt. Die falschen Absoluta gebieten über die Seele, die nicht mehr fähig ist, sie durch das Bild des wahren in die Flucht zu treiben. Überall, über die ganze Fläche der Menschenwelt hin, im Osten und im Westen, von links und von rechts, durchstoßen sie unbehindert die Schicht des Ethischen und fordern von dir »das Opfer«. Immer wieder, wenn ich wohlbeschaffene junge Seelen befrage: »Warum gibst du dein Teuerstes, die Echtheit der Person hin?«, wird mir erwidert: »Dies eben, dieses schwerste Opfer ist es, das gebracht werden muß, damit …« – gleichviel, »damit die Gleichheit komme« oder »damit die Freiheit komme« oder wie immer. Und sie bringen das Opfer zuverlässig: im Bereich des Moloch lügen die Aufrichtigen und foltern die Barmherzigen und meinen wirklich und wahrhaftig, der Brudermord werde der Brüderlichkeit den Weg bereiten! Es scheint vor dem übelsten aller Götzendienste kein Entrinnen zu geben. Es gibt vor ihm kein Entrinnen, bis das neue Gewissen des Menschen erstanden ist, das ihn aufruft, sich mit der Urgewalt seiner Seele der Verwechslung von Bedingtem mit dem Unbedingten zu erwehren, den Schein zu durchschauen und zu überführen. Je und je mit dem unbestechlich prüfenden Blick in das falsche Absolute eindringen, bis man dessen Grenze, dessen Grenzhaftigkeit entdeckt hat – vielleicht gibt es heute keinen andern Weg mehr, um jene Kraft der Pupille wiederzuerwecken, die die nie verschwindende Erscheinung des Absoluten auffängt.
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Dieses Buch handelt, auf dem Grunde einer geistesgeschichtlichen Erörterung der Beziehungen zwischen Religion und Philosophie, von dem Anteil dieser in ihrer Spätphase an der Irrealisierung Gottes und aller Absolutheit. Wenn ihr, der Philosophie, hier die Religion gegenübergestellt wird, so ist damit demgemäß nicht die massive Fülle von Äußerungen, Darstellungen und Veranstaltungen gemeint, die man mit diesem Namen zu bezeichnen pflegt und nach der es die Menschen zuweilen mehr als nach Gott verlangt, sondern wesentlich das Festhalten Gottes. Und das soll nicht heißen: Festhalten eines Bildes, das man sich von Gott gemacht hat, und nicht einmal: Festhalten des Glaubens, den man zu Gott gefaßt hat, sondern es soll heißen: Festhalten des seienden Gottes. Die Erde hält nicht an ihrer Vorstellung (wenn sie eine hat) von der Sonne, noch auch an ihrem Zusammenhang mit ihr, sondern an der Sonne selber fest. Der so verstandenen Religion gegenüber wird hier die Philosophie als der von der frühen Verselbständigung der Reflexion an bis zu deren gegenwärtiger Krisis reichende Prozeß betrachtet, dessen letztes Stadium das gedankliche Loslassen Gottes ist. Dieser Prozeß beginnt so, daß man sich nicht mehr damit begnügt, wie der vorphilosophische Mensch, den lebendigen Gott, den man vorerst nur angerufen hat – mit einem Ruf der Verzweiflung oder Verzükkung, der mitunter sein erster Name wurde – sich als ein Etwas, ein Ding unter Dingen, ein Wesen unter Wesen, ein Es vorzustellen. Der Anfang des Philosophierens bedeutet, daß dieses Etwas aus einem Gegenstand der Imagination, der Wünsche und Gefühle zu einem begrifflich erfaßbaren, einem Denkobjekt wird, mag dieses »die Rede« (Logos) genannt werden – weil man es in allem und jedem reden, antworten, einen ansprechen hörte – oder »das Schrankenlose« (Apeiron) – weil es jede Schranke, die man ihm zu setzen versuchte, schon übersprungen hatte – oder wie immer. Wenn die Lebendigkeit der Gottvorstellung sich weigert, in dieses Begriffsgebild einzuziehen, wird sie entweder, gewöhnlich in unpräziser Form, daneben geduldet – als letzten Endes damit identisch, zumindest als davon wesentlich abhängig – oder aber als ein schlechtes Surrogat zum Behelf der denkunfähigen Menschen degradiert. Im Fortgang seines Philosophierens neigt der Menschengeist immer mehr dazu, diese seine Konzeption, das Absolute als Objekt eines adäquaten Denkens, mit ihm selber, dem Menschengeist, eigentümlich zu verschmelzen. Die Idee, die zuerst denkerisch angeschaut wurde, wird im
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Verlauf dieses Prozesses schließlich zur Potentialität des sie denkenden Geistes selber, die in ihm ihre Aktualität gewinnt; das Subjekt, das als dem Sein beigegeben erschien, um ihm den Dienst des Betrachtens zu leisten, erklärt, selber das Sein erzeugt zu haben und zu erzeugen. Bis dann alles Gegenüber, alles was uns antritt und uns überkommt, alle partnerische Existenz in der freischwebenden Subjektivität aufgelöst ist. Der nächste Schritt schon führt zu dem uns vertrauten Stadium, das sich als letztes versteht und mit seiner Letztheit spielt: der Menschengeist, der sich die Herrschaft über sein Werk zuspricht, annihiliert begrifflich die Absolutheit und das Absolute. Er mag sich noch einbilden, er, der Geist, bleibe doch noch da, als Träger aller Dinge und Präger aller Werte; in Wahrheit hat er mit der Absolutheit überhaupt auch die eigene vernichtigt. Den Geist als selbständige Wesenheit kann es nun nicht mehr geben, es gibt nur noch ein so benanntes Produkt menschlicher Individuen, die Geist enthalten und absondern wie Schleim und Harn und ihn in der Stunde ihrer allerrealsten Agonie »aufgeben« werden, wenn er ihnen nicht etwa schon vorher »gestört« worden ist. Erst in diesem Stadium ereignet sich das gedankliche Loslassen Gottes, weil erst jetzt die Philosophie sich die Hände abhaut, mit denen sie ihn hat fassen und halten können. Aber ein analoger Prozeß vollzieht sich auf der anderen Seite, in der Entwicklung der Religion (in dem üblichen weiten Sinn des Wortes) selber. Von der Urfrühe an wird die Wirklichkeit der Glaubensbeziehung, das Stehen des Menschen im Angesicht des Göttlichen, das Weltgeschehen als Unterredung, von dem Antrieb bedroht, über die Macht da drüben zu verfügen. Statt die Begebenheiten als Rufe zu verstehen, die einen anfordern, will man selber anheischen, ohne vernehmen zu müssen. »Ich bin«, sagt der Mensch, »der Mächte mächtig, die ich beschwöre.« Und das setzt sich dann, mit allerhand Modifikationen, überall da fort, wo man Riten begeht, ohne, dem Du zugewandt, dessen Präsenz wirklich zu meinen. Der andere pseudoreligiöse Widerpart der Glaubensbeziehung, nicht so elementar wirksam wie die Beschwörung, aber mit der reifen Kraft des Intellekts, ist die Enthüllung. Hier nimmt der Mensch die Haltung ein, den Vorhang, der das Offenbare, das Offenbarte vom Verborgenen scheidet, aufzuziehn und die göttlichen Geheimnisse vorzuführen. »Ich bin«, sagt der Mensch, »des Unbekannten kundig und gebe es zu wissen.« Das vorgeblich göttliche Es, das der Magier handhabte wie der Techniker seinen Dynamo, legt der Gnostiker bloß, die ganze divine Apparatur. Nicht »Theosophien« allein und ihre Nachbarn haben ihn beerbt, auch in man-
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chen Theologien ist die enthüllende Gebärde hinter der auslegenden zu entdecken. In mannigfachen Gestalten finden wir diese Ersetzung des Ich-Du durch ein Ich-Es in jener neueren Religionsphilosophie, die die Religion zu »retten« sucht; wobei das »Ich« dieser Relation, als »Subjekt« des »religiösen Gefühls«, als Nutznießer eines pragmatistischen Glaubensentschlusses und dergleichen immer mehr in den Vordergrund tritt. Weit wichtiger als all dies aber ist ein ins Innerste des religiösen Lebens dringender Vorgang, der als Subjektivierung der Glaubenshandlung bezeichnet werden mag. Sein Wesen läßt sich am Beispiel des Gebets am deutlichsten machen. Gebet im prägnanten Sinn nennen wir jenes Sprechen des Menschen zu Gott, das, um was immer auch gebeten wird, letztlich die Bitte um Kundgabe der göttlichen Gegenwart, um das dialogische Spürbarwerden dieser Gegenwart ist. So ist denn die einzige Voraussetzung des echten Gebetsstands die Bereitschaft des ganzen Menschen für diese Gegenwart, das schlichte Hingewandtsein, die rückhaltlose Spontaneität. Ihr, der von den Wurzeln her steigenden Spontaneität, gelingt es je und je, all das Störende und Ablenkende zu bewältigen. In diesem unserm Stadium der subjektivierenden Reflexion aber wird nicht allein die Konzentration des Beters, sondern seine Spontaneität selber angegriffen. Der Angreifer ist das Bewußtsein, das Überbewußtsein dieses Menschen hier, daß er betet, daß er betet, daß er betet. Und der Angreifer scheint unüberwindlich. Das Subjektwissen des sich Hinwendenden um seine Hinwendung, dieser Rückhalt des nicht in den Akt mit eingehenden Rest-Ich, dem er ein Gegenstand ist, depossediert den Augenblick, despontaneisiert ihn. Was das bedeutet, weiß der spezifisch moderne, aber noch nicht loslassende Mensch: der Unpräsente gewahrt keine Präsenz. Man muß das recht verstehen: es geht hier nicht um einen bloßen Sonderfall der bekannten Krankheit des modernen Menschen, den eignen Handlungen als Zuschauer beiwohnen zu müssen. Es ist das Bekenntnis zum Absoluten, darein er die Untreue am Absoluten trägt, und es ist das Verhältnis zwischen dem Absoluten und ihm, worauf diese Untreue mitten in der Äußerung des Vertrauens wirkt. Und jetzt trifft auch sein, des scheinbar Festhaltenden Blick auf die verfinsterte Transzendenz. Was ist es, das wir meinen, wenn wir von einer, eben jetzt sich begebenden Gottesfinsternis reden? Wir machen bei diesem Gleichnis die ungeheure Voraussetzung, daß wir mit unserem »Geistesauge«, vielmehr: Wesensauge, zu Gott hinzublicken vermögen wie mit dem leiblichen zur Sonne und daß etwas zwischen unsere Existenz und die seine
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treten kann wie zwischen Erde und Sonne. Daß es den Wesensblick gibt, einen ganz unillusionären, einen, der kein Bild liefert, aber alle Bilder erst möglich macht, das sagt keine andere Instanz in der Welt als der Glaube, und es ist nicht zu beweisen, es ist nur zu erfahren, der Mensch hat es erfahren. Das andere aber, das Dazwischentretende, auch es erfährt man heute. Ich habe davon gesprochen, seit ich es erkannt habe, und so genau als es mir meine Erkenntnis gewährt hat. Die Doppelnatur des Menschen, als des Wesens, das sowohl von »unten« hervorgebracht als von »oben« entsandt ist, bedingt die Zweiheit seiner Grundbeschaffenheiten. Diese sind nicht in Kategorien des Fürsich-Seins des einzelnen Menschen, sondern nur in Kategorien des Mensch-mit-Mensch-Seins zu erfassen. Als entsandtes Wesen existiert der Mensch dem Seienden gegenüber, vor das er gestellt ist. Als hervorgebrachtes Wesen befindet er sich neben allem Seienden in der Welt, neben das er gesetzt ist. Die erste dieser Kategorien hat ihre lebendige Wirklichkeit an der Relation Ich-Du, die zweite die ihre an der Relation Ich-Es. Die zweite Relation bringt uns jeweils nur zu Aspekten eines Seienden, nicht zu dessen Sein selber; auch der intimste Kontakt mit einem andern bleibt vom Aspekt überdeckt, wenn der andere mir nicht zum Du geworden ist. Die erste Relation allein, die die wesenhafte Unmittelbarkeit zwischen mir und einem Seienden stiftet, bringt mich eben dadurch nicht zu Aspekten von ihm, sondern zu ihm selber – freilich nur eben in die existentielle Begegnung mit ihm, nicht etwa in die Lage, es selber in seinem Sein objekthaft zu betrachten; sowie eine objekthafte Betrachtung einsetzt, ist uns wieder nur Aspekt und immer wieder nur Aspekt gegeben. Es ist nun aber auch die Relation Ich-Du allein, in der wir zu Gott stehen können, weil von ihm, im unbedingten Gegensatz zu allem andern Seienden, kein objekthafter Aspekt zu gewinnen ist; auch die Vision liefert keine gegenständliche Betrachtung, und wer sich, nach einem Aussetzen der vollen Ich-Du-Beziehung, anstrengt, ein Nachbild festzuhalten, hat die Schau schon verloren. Es verhält sich aber nicht so, daß in den beiden Relationen, Ich-Du und Ich-Es, das Ich das gleiche wäre. Sondern wo und wann die Wesen um einen herum als Gegenstände der Beobachtung, des Bedenkens, der Benützung, etwa auch der Fürsorge oder Förderung gesehen und behandelt werden, da und dann wird ein anderes Ich gesprochen, ein anderes Ich betätigt, da besteht ein anderes Ich, als wo und wann einer mit der Ganzheit seines Wesens einem andern Wesen gegenüber und in die Wesenbeziehung zu ihm tritt. Jeder, der an sich beides kennt – und das ist das Leben des Menschen, daß man an sich beides zu kennen bekommt und immer wieder beides –, weiß, wovon ich rede. Beide zusammen bau-
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en das menschliche Dasein auf; es kommt nur darauf an, wer von beiden je und je der Baumeister und wer sein Gehilfe ist. Vielmehr, es kommt darauf an, ob die Ich-Du-Relation der Baumeister bleibt; denn als Gehilfe ist sie selbstverständlich nicht zu verwenden, und gebietet sie nicht, dann ist sie schon im Verschwinden. In unserem Zeitalter hat die Ich-Es-Relation, riesenhaft aufgebläht, sich fast unangefochten die Meisterschaft und das Regiment angemaßt. Das Ich dieser Relation, ein alles habendes, alles machendes, mit allem zurechtkommendes Ich, das unfähig ist, Du zu sprechen, unfähig, einem Wesen wesenhaft zu begegnen, ist der Herr der Stunde. Diese allgewaltig gewordene Ichheit mit all dem Es um sie her kann naturgemäß weder Gott noch irgendein echtes, dem Menschen sich als nichtmenschlichen Ursprungs manifestierendes Absolutes anerkennen. Sie tritt dazwischen und verstellt uns das Himmelslicht. So ist diese Stunde beschaffen. Wie aber die nächste? Es ist ein moderner Aberglaube, daß der Charakter eines Zeitalters als Fatum des nächsten fungiere. Man läßt sich von ihm vorschreiben, was zu tun möglich und somit erlaubt sei. Man werde, sagt man, doch nicht gegen den Strom schwimmen können. Vielleicht aber mit einem neuen, dessen Quelle noch verborgen ist? In einem andern Bilde: die Ich-Du-Relation ist in die Katakomben gegangen – wer kann sagen, in welcher größeren Macht sie hervortreten wird! Wer kann sagen, wann die Ich-Es-Relation erneut an ihren gehilflichen Platz und Betrieb gewiesen wird! Das Wichtigste an der Geschichte des Menschen, dieser verkörperten Möglichkeit, sind die jeweils sich ereignenden, von bisher unsichtbaren oder unbeachteten Kräften bestimmten Wenden. Selbstverständlich ist jedes Zeitalter eine Fortsetzung des vorhergehenden; aber eine Fortsetzung kann Bestätigung und sie kann Widerlegung sein. Es geht etwas in den Tiefen vor sich, das noch keines Namens bedarf; morgen schon kann es geschehen, daß ihm von den Höhen zugewinkt wird, über die Köpfe der irdischen Archonten hinweg. Die Finsternis des Gotteslichts ist kein Verlöschen; morgen schon kann das Dazwischengetretene gewichen sein.
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Anhang Replik auf eine Entgegnung C. G. Jungs Der Erwiderung C. G. Jungs gegenüber genügt es, an der Hand seiner Argumentation mein Anliegen erneut klarzustellen. Ich habe nicht, wie er meint, irgendwelche Bestandteile seines psychiatrischen Erfahrungsmaterials in Frage gezogen; das wäre gewiß unbefugt. Ich habe ebensowenig an einer seiner psychologischen Thesen Kritik geübt; auch das ist nicht meine Sache. Ich habe lediglich nachgewiesen, daß er über die religiösen Gegenstände Behauptungen formuliert, die den Bereich des Psychiatrischen und Psychologischen – entgegen seiner Versicherung, streng innerhalb seiner zu verbleiben – überschreiten. Ob ich diesen Nachweis geführt habe, kann der gewissenhafte Leser durch Nachprüfung meiner Zitate in ihrem Kontext feststellen, was ich ihm durch sorgfältige Quellenangaben zu erleichtern bemüht gewesen bin. Jung bestreitet es. Welcher Methode er sich dabei bedient, sei an seiner Entgegnung erläutert. Ich habe darauf hingewiesen, Jung bezeichne es als eine »Tatsache«, »daß die göttliche Wirkung dem eigenen Innern entspringt«, und er stelle diese Tatsache der »orthodoxen Auffassung« gegenüber, wonach Gott »für sich existiert«; er erklärt, Gott existiere nicht losgelöst vom menschlichen Subjekt. Die kontroverse Frage lautet somit: Ist Gott lediglich ein psychisches Phänomen oder existiert er auch unabhängig von der Psychik des Menschen? Jung antwortet: Gott existiert nicht für sich. Man kann die Frage auch so fassen: Entspringt das, was der Gläubige die göttliche Wirkung nennt, lediglich seinem eigenen Innern, oder kann darin auch die eines überpsychischen Seins befaßt sein? Jung antwortet: Es entspringt dem eigenen Innern. Dazu habe ich vermerkt, das seien nicht legitime Aussagen eines Psychologen, dem es als solchem nicht zustehe, zu deklarieren, was jenseits des Psychischen bestehe und was nicht, oder inwiefern es anderswoher kommende Wirkungen gebe. Nun aber erwidert Jung: Ich habe ja nur über das Unbewußte geurteilt! Und: »Ich sage doch ausdrücklich, daß alles, schlechthin alles [von mir hervorgehoben], was von Gott ausgesagt wird, menschliche Aussage, das heißt psychisch sei.« Was er freilich, merkwürdigerweise, dann wieder so einschränkt, er sei der Ansicht, »daß alle Aussagen über Gott aus der Seele in erster Linie [von mir hervorgehoben] hervorgehen.« Man halte zunächst den ersten dieser Sätze mit den von mir angeführten Thesen Jungs zusammen. Über eine der Mächte des Unbewußten mit Nachdruck zu erklären, ihre Wirkung entspringe dem eigenen Innern,
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oder sie existiere nicht losgelöst vom menschlichen Subjekt, wäre, nachdem einmal die Terminologie des »Unbewußten« festgesetzt worden ist, eine sinnwidrige Tautologie; denn es würde nichts anderes bedeuten als: der als das Unbewußte bezeichnete psychische Bereich ist psychisch. Einen Sinn bekommen die Thesen erst dadurch, daß sie, mit ihrem Nein, über die Sphäre der Mächte des Unbewußten und die psychische Sphäre überhaupt hinauslangen. Daß sie diesen Sinn hätten, stellt Jung nun freilich in Abrede. Und er beruft sich darauf, alle Aussagen über Gott seien »menschliche Aussagen, das heißt psychisch«. Dieser Satz verdient eine genauere Betrachtung. Ich sehe gewiß keine Möglichkeit, eine Diskussion anders als auf dem Boden dieser Voraussetzung zu führen. (Ganz allgemein trage ich meinen Glauben nicht in die Diskussion, sondern halte darin die um des menschlichen Gesprächs willen auferlegte Askese ein. Es sei aber der völligen Klarheit halber hier erwähnt, daß mein eigener Glaube an Offenbarung – der mit keinerlei »Orthodoxie« verquickt ist – nicht bedeutet, zu glauben, daß fertige Aussagen über Gott vom Himmel zur Erde niedergereicht würden, sondern, daß die menschliche Substanz von dem sie heimsuchenden Geistesfeuer geschmolzen wird, und nun bricht aus ihr Wort hervor, Aussage, die nach Sinn und Gestalt menschlich ist, Menschenfassung und Menschensprache, und doch für ihren Erreger und seinen Willen zeugt. Wir werden uns offenbart – und können es nicht aussagen, es sei denn als ein Offenbartes.) Nicht bloß die Aussagen über Gott, sondern alle Aussagen überhaupt sind »menschlich«. Aber ist denn damit irgend etwas, Positives oder Negatives, über ihren Wahrheitsgehalt konstatiert? Die Unterscheidung, um die es hier geht, ist doch nicht die zwischen psychischen und nichtpsychischen Aussagen, sondern zwischen psychischen Aussagen, denen eine außerpsychische Wirklichkeit entspricht, und psychischen Aussagen, denen keine entspricht. Solche Unterscheidung zu vollziehen ist die psychologische Wissenschaft aber nicht befugt; sie überhebt, sie verhebt sich, wenn sie es tut. Was der psychologischen Wissenschaft hier zusteht, ist ausschließlich eine motivierte Zurückhaltung. Jung übt sie nicht, wenn er erklärt, Gott könne nicht losgelöst vom Menschen existieren. Denn, noch einmal: ist das eine Aussage über einen Archetypus, Gott genannt, so bedarf es doch wohl der emphatischen Versicherung nicht, er sei ein psychischer Faktor (was könnte er denn sonst sein?); ist es aber eine Aussage über ein diesem psychischen Faktor irgend entsprechendes überpsychisches Sein, nämlich die Aussage, es gebe ein solches Sein nicht, so waltet hier statt der gebotenen Zurückhaltung eine unerlaubte Überschreitung der Grenzen. Wir wollen doch endlich einmal aus dieser geistvollen Zweideutigkeit herauskommen!
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Nun aber macht mich Jung darauf aufmerksam, die Menschen hätten von Gott doch nur viele und verschiedene Bilder, die sie selber machen. Das meine ich schon gewußt und auch mehrfach ausgesprochen und erläutert zu haben. Aber das Wesentliche bleibt, daß es eben Bilder sind. Kein Glaubender wähnt, eine Photographie oder ein magisches Spiegelbild Gottes zu besitzen; jeder weiß: ich habe, wir haben das gemalt. Aber eben als Bild, als Bildnis; das heißt, in der Glaubensintention auf den Bildlosen, den die Bilder »darstellen«, das heißt meinen. Diese Glaubensintention auf ein Seiendes, auf einen Seienden, ist den aus mannigfacher Erfahrung glaubenden Menschen gemeinsam, und wenn sonst nichts ihnen gemeinsam wäre. Gewiß, »das moderne Bewußtsein«, mit dem Jung sich an unmißverständlichen Stellen seiner Schriften identifiziert hat, »perhorresziert« den Glauben. Aber die Ergebnisse dieses Perhorreszierens in Aussagen einzuführen, die als streng psychologische auftreten, geht nicht an. Weder die psychologische noch sonst eine Wissenschaft ist zuständig, den Wahrheitsgehalt des Gottesglaubens zu untersuchen. Es steht ihren Vertretern zu, ihm fernzubleiben; es steht ihnen nicht zu, innerhalb ihrer Disziplin über ihn zu urteilen als über etwas, das sie kennen. Die es tun, kennen ihn nicht. Die Seelenlehre, die die Geheimnisse behandelt, ohne die Glaubenshaltung zum Geheimnis zu kennen, ist die moderne Erscheinungsform der Gnosis. Die Gnosis ist nicht als eine nur-historische, sondern als eine allmenschliche Kategorie zu verstehen. Sie – und nicht ein Atheismus, der, weil er Gottes bisherige Bilder verwerfen muß, ihn annihiliert – ist der eigentliche Widerpart der Glaubenswirklichkeit. Ihre moderne Erscheinungsform geht mich nicht bloß ihres massiven Anspruchs wegen spezifisch an, sondern insbesondere auch der von ihr als Psychotherapie gelehrten Wiederaufnahme des karpokratianischen Motivs wegen, die Instinkte mystisch zu vergotten, statt sie im Glauben zu heiligen. Daß C. G. Jung in diesem Zusammenhang zu sehen ist, habe ich aus seinen Äußerungen belegt und kann es noch weit reichlicher tun.
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Hugo Bergmann hat in seiner Besprechung meines Buches »Gottesfinsternis« 1 nachdrückliche Bedenken gegen meine scharfe Scheidung zwischen dem, was der Religion – genauer: dem Glauben – und dem, was der Philosophie – genauer: dem begrifflichen Denken – zugänglich ist, geäußert. Der Gegenstand ist so wichtig, daß ich mich verpflichtet fühle, einige Hinweise zu seiner Klärung aufzuzeichnen. Daß, wie Bergmann sagt, »in der Wirklichkeit des Lebens Ich-Du und Ich-Es unentwirrbar in verschiedenen Stufen untereinander verwoben« sind, gebe ich nicht bloß zu: ich habe seit dem ersten Buch, in dem ich den Unterschied zwischen diesen beiden Grundhaltungen des Menschen darzulegen versucht habe, seit »Ich und Du« (1923), immer wieder betont, daß es keineswegs um Zustände geht, die einander stets »reinlich ablösen«, daß vielmehr in Wirklichkeit unser Dasein gerade in dieser Hinsicht »oft ein in tiefer Zwiefalt wirr verschlungenes Geschehen« ist (»Ich und Du« S. 25). Deshalb habe ich ja in dem neuen Buch das von Bergmann angeführte Beispiel vom Kinde gebracht, dem die Mutter in einem bestimmten Augenblick das angerufene hilfreiche Gegenüber, aber schon im allernächsten, etwa weil sie ein neues, buntes Seidentuch um den Kopf schlingt, ein Gegenstand der Neugier ist. Und mit aller erwünschten Präzision sage ich auch hier (»Gottesfinsternis« S. 152) von den beiden Relationen: »Das ist das Leben des Menschen, daß man an sich beides zu kennen bekommt und immer wieder beides.« Aber die strenge Scheidung zwischen den beiden Haltungen scheint mir dennoch unerläßlich; unerläßlich, zu zeigen, was beim Übergang von der Ich-DuHaltung zur andern verlorengeht: die Aktualität einer Lebensbeziehung, und freilich auch, was dabei gewonnen wird, eine objektiv charakterisierte Apperzeption. Wie verhält es sich in diesem Belange zwischen der Glaubenshandlung und dem begrifflichen Denken, und zwar gerade »im wirklichen Leben«, an das Bergmann appelliert? Jeder Beter, dem von der vollen Gebetserfahrung nichts versagt, aber auch nichts erspart geblieben ist, weiß um den furchtbaren Moment, da Gott, der eben erst, wie die Mutter zu dem hilflos am Boden kauernden Kinde, sich zu ihm herabneigte und ihn emporhob, unversehens sich ihm entzieht. Ich schrecke aus der Inbrunst meines Gebets auf, die meinem Selbstwissen nach bis zu diesem Augenblick angehalten hatte, und alsbald spinnt sich der Gedanke an: Gott ist 1.
Septemberheft der »Neuen Wege«.
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gut, also kann er mich meiner Not nicht preisgeben. Aber zunächst ändert sich nichts; ich bleibe meiner Not preisgegeben. All das vollzieht sich innerhalb der religiösen Sphäre, aber das begriffliche Denken ist eingedrungen, das einen allgemeinen Satz über Gott (Gott ist gut) vorträgt und daraus folgert. Aber Gott gibt sich nicht zum Subjekt eines Satzes her, aus dem etwas abzuleiten ist; Attribute offenbart er nur, damit es uns leichter werde, zu ihm aufzusehen und ihm nachzufolgen; er läßt sich dem logischen Satz vom Widerspruch nicht unterwerfen; mit »Also« ist ihm gegenüber nichts anzufangen. In der Glaubenswirklichkeit vertraut man Gott nicht deshalb, weil er einem theologischen Satz nach so und so ist, sondern weil »Du da bist«. Der Begriff des so und so zu definierenden Guten, welcher das so und so zu definierende Nichtgute ausschließt, wie a das non-a, erliegt der nicht begrifflich zu definierenden, nicht syllogistisch zu handhabenden Ahnung eines unseren Maßstäben entrückten Überguten, dessen Urstrahl sich auch im höchsten Menschenethos nicht spiegelt, sondern bricht. »Das Gebet zu Gott«, sagt Bergmann, »und das Denken über Gott werden [von Buber] auseinandergerissen.« In Wahrheit reißt das faktische Denken über Gott, das ihn den Gesetzen der menschlichen Logik unterwirft, das faktische Gebet auseinander. Von hier aus verdeutlicht sich die Auseinandersetzung zwischen Religion und Philosophie. »Gott kann vom Philosophen nicht erkannt werden«, läßt Bergmann mich sagen. Aber das ist nicht meine Meinung. Was ich meine, ist, daß Gott philosophisch – das heißt gegenständlich-begrifflich auf Grund der logischen Gesetze – nicht erkannt werden kann. Es hat immer wieder Philosophen gegeben, die aus tiefer Erfahrung der gesetzten Grenze auf die Gefahr ihrer Überschreitung hingewiesen haben. Die stärkste Warnung hat wohl, am Eingang des modernen Denkens, Nikolaus von Cues ausgesprochen: Gott sei nicht ein Etwas (aliquid), zu dem ein Gegensatz und Widerspruch denknotwendig ist, sondern übergegensätzlich, woraus sich ergibt, daß er dem Satz vom Widerspruch nicht untertan ist. Es ist das hohe Recht der Philosophie, aber auch ihre Pflicht, die Grenze, die ihre Grundgesetze ihr ziehen, in klarem Wissen innezuhaben und diesem Wissen gemäß zu tun und zu lassen. Freilich hat nicht bloß die nachcusanische Philosophie, sondern zuweilen auch Cusanus selber sich gegen diese Maxime vergangen; und bekanntlich hat sogar der Denker, der auf der Warnung sein kritisches System erbaut hat, Kant, in dem langen, schweren und vergeblichen Ringen um sein Alterswerk, das ein »System der reinen Philosophie in ihrem ganzen Inbegriff« werden sollte, immer wieder, und in wechselnder Begrifflichkeit, Gott als ein so und nicht anders beschaffenes Aliquid zu fassen gesucht.
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Wir dürfen, dem verschiedenen Grundsinn des Verbums in zwei großen Sprachstämmen entsprechend, zwei Arten des Erkennens unterscheiden. Das eine, von der griechischen Philosophie klassisch konstituierte, bedeutet (nach Bultmanns vortrefflicher Definition) das distanznehmende »Einsehen« eines gegenständlich Verfügbaren; ein solches aber ist uns Gott eben nie. Kein Erschließen kann hier Ersatz schaffen; denn aus dem Sein des Relativen, der durch einander bedingten Dinge und Wesen, auch aus dem Sein alles Relativen insgesamt, läßt sich das Sein eines Absoluten, einzig durch sich selber Bedingten und somit Unbedingten, nur als »Postulat«, als Idee im kantischen Sinne, nicht aber als Tatsache erschließen; alle Gottesbeweise trügen als solche, mag man sie auch mit Jaspers als »Vergewisserung des Glaubens in Gedankengängen« gelten lassen. Das andere »Erkennen«, von den heiligen Schriften des Volkes Israel gültig ausgesagt, bedeutet nicht ein Einsehen, sondern einen unmittelbaren Kontakt, für den im Gegensatz zu jenem – wo das Erkannte am Vorgang nicht aktiv beteiligt ist, sondern ihn nur an sich geschehen läßt – die Wechselseitigkeit wesentlich ist. Wie Mann und Weib ihren vertrauten Umgang als ein »Erkennen« erfahren, so erkennt Gott Israel, daß es ihn erkenne (Amos 3, 2; Hosea 6, 6), und das ungetreue Israel ist eben eines, das, von Gott »erkannt«, dessen Erkennen nicht erwidert (Hosea 5, 3 f.). Man muß sich diese Gottessprüche als im Anfang der Schriftprophetie verlautbart gegenwärtig halten; aber noch bei Paulus wirkt, in eigentümlicher Verquickung mit gnostischem Sprachgebrauch, die Korrelation nach. Im Kontakt mit Gott beharren, an ihm festhalten liegt dem Glaubensbegriff der hebräischen Bibel zugrunde. Hier tritt nicht ein erkennendes Subjekt einem erkannten Objekt gegenüber, sondern die Person begegnet der Person – meinem Verständnis nach: der um des Umgangs mit seiner Kreatur willen je und je Person werdende Gott begegnet je und je dem personhaften Menschenwesen –, und das Glaubensverhältnis ist ein Geschehen zwischen ihnen. Die Aggada weist emphatisch darauf hin, daß Gott jedem seiner Offenbarungsempfänger in anderer Persongestalt erscheine; aber keiner von ihnen hat die Erscheinung mit ihm identifiziert. Die Philosophen identifizieren immer wieder ihre objektivierenden Perspektiven des Absoluten mit ihm selber; ich ziehe hier nicht den Ursprung aus der Erfahrung in Zweifel, wohl aber die rechte Treue der Erfahrung gegenüber. Selbstverständlich ist dem gläubigen Philosophen nicht zuzumuten, daß er die Auswirkung seiner Glaubenserfahrung an der Schwelle seiner Philosophie haltmachen lasse. Weit entfernt davon, von ihm, wie Bergmann mir zuschreibt, zu verlangen, daß er »sich jedes Urteils in der entscheidendsten Frage enthalte«, habe ich ihm sogar ausdrücklich (»Got-
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tesfinsternis« S. 57) das Recht zugebilligt, jeweils Kritik an einem »unglaubhaft« gewordenen Gottesbild zu üben, in welcher Kritik, wenn sie legitim geübt wird, ich sogar, im Anschluß an ein Wort Rosenzweigs, eine Art »Gebet des Philosophen an den wieder unbekannt gewordenen Gott« erblickt habe, ein implizites Gebet um eine neue Offenbarung, die eine neue Gottesschau ermögliche. »Wenn sie legitim geübt wird«, sage ich: Nietzsches waghalsiges Spiel mit assoziationsreichen Götternamen, wie Dionysos, oder Gebilden dichterischer Anschauung, wie Goethes »Übermensch«, kann ich freilich nicht als legitim anerkennen und noch weniger Heideggers radikal-phänomenologische Verheißung einer denkerischen Wandlung, die dazu führen werde, daß »das Erscheinen des Gottes und der Götter« (der Plural entzieht hier dem Singular allen echt ontischen Gehalt) wieder beginne. Worauf es ankommt, ist, daß der Philosoph, wenn er sich anschickt, von Gott zu reden, von Grund aus dessen innewerde, daß er eben damit die Grenze seiner Methode erreicht hat. Ich will ihm gewiß nicht verwehren, in seinem System den Gottesnamen durch einen Begriff zu ersetzen; aber rechtmäßig wird er das nur tun können, wenn er sich zuvor vor das Angesicht des lebendigen Gottes gestellt, ihn angesprochen und sich seinem Anspruch ausgesetzt hat; dann und dann allein wird in dem »Er« oder »Es«, das er zu determinieren unternimmt, das Du der Begegnung nachzittern und wie die zitternde Magnetnadel Zeugnis ablegen. Ich fordere meinen Freund Bergmann auf, sich die Philosophen und ihre Systeme erneut, mit strenger Intuition, daraufhin anzusehen.
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Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Wesen des Menschen und dem Wesen der Kunst ist erneut zu stellen. Das bedeutet: die Kunst ist als das Gebild des Menschen, das eigentümliche Gebild seiner Eigentümlichkeit zu betrachten. Wir fragen nach dem Zusammenhang zwischen dem, was dem Menschen wesenhaft eigentümlich, und dem, was der Kunst wesenhaft eigentümlich ist. Am Anfang eines Weges des Fragens und Antwortsuchens muß stets die Klärung der Ausgangsfrage, die aller Verwechslung vorbeugende Sicherung ihrer Eindeutigkeit stehn. Es muß somit klarwerden, daß unsere Frage weder mit der historisch-prähistorischen nach dem Ursprung der Kunst in der Entwicklung des Menschengeschlechts noch mit der psychologischen nach ihrem Ursprung im Seelenleben der Künstler verwechselt werden darf – zwei Fragen übrigens, die essentiell Verborgenes, im Damals der Urzeit oder im Dort der bildnerischen Person Verborgenes, als ein essentiell Gegebenes behandeln, statt ihm mit strenger Selbstbescheidung, die gegebenen Werke vorsichtig interpretierend, zu nahen. Wir fragen nicht: Wie ist die Kunst einst entstanden? noch auch: Wie entsteht sie je und je in jedem echten Werke neu?, sondern: Was ist es um die Kunst als um ein Wesen, das dem Wesen des Menschen entspringt? Unsere Frage ist eine anthropologische im philosophischen Sinn des Wortes, wobei freilich bedacht werden muß, daß jede Anthropologie eines Gegenstands an dessen Ontologie rührt, daß also jede Erforschung des Gegenstands auf seine Bedingtheit durch die Art, die Beschaffenheit, das Verhalten des Menschen hin uns an seinen, dieses Gegenstands, Ort im Sein und seine Funktion am Sinn heranführt. Werden wir doch stets in dem Maße, als wir das Verhältnis eines Umkreises von Wirklichkeit zu uns ergründen, auf dessen noch unergründetes Verhältnis zu Sein und Sinn hingewiesen! Nun aber, nachdem die mögliche Verwechslung und Umrißverwischung der Frage ausgeschaltet worden ist, eröffnet sich ein Problem in ihrem Innern. Wir fragen nach der Kunst; aber gibt es diese in hinlänglicher Konkretion, um die Frage nach ihr zu beglaubigen? Gibt es in solcher Konkretion nicht lediglich Künste? Das gemeinsame Prinzip, das wir in jeder der Künste in hinlänglicher Konkretion wirksam vorfinden, das Künstlerische ist es, wonach wir fragen. Als Johann Georg Hamann den Aufstand der lebendigen Sprache gegen die Routine erregte und so mit dem bald danach von seinem Antagonisten Immanuel Kant erregten
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Aufstand der unbefangenen Begrifflichkeit gegen den Denkbetrieb letztlich nur zusammenwirkte, kam die Bezeichnung des Schöpferischen auf. Unsrer zwar »dürftigen«, aber einer löblichen Nüchternheit beflissenen Zeit hat diese allzu pathetische Metapher zu widerstreben begonnen; aber für unser Anliegen ist die ursprünglich biblische Kategorie vor allem deshalb unbrauchbar, weil sie das spezifisch Menschliche, um das es uns geht, überfordert. Es liegt uns Heutigen ob, hier exakter vorzugehen. Schöpfertum bedeutet ursprünglich und entscheidend ein Hervorbringen, wohl nicht aus dem Nichts, aber aus dem Schaffenden selber, es ist von aller Anderheit unabhängig; auf eine anthropologische Erfassung der Kunst aber dürfen wir nur hoffen, wenn wir der Abhängigkeit des Menschen von dem auch ohne ihn Seienden Rechnung tragen. Der Weg unserer Frage muß in der Sphäre beginnen, in der das Leben der menschlichen Sinne beheimatet ist; sie ist es, in der die Abhängigkeit des Menschen vom Seienden sich recht eigentlich konstituiert, und sie ist es, die den Realitätscharakter aller Kunst bestimmt, so daß kein geistiges und kein gefühlhaftes Element anders in Kunst einzugehen vermag, als indem es sinnenhaft wird. Einen anderen Weg konnte nur ein radikaler Idealismus einzuschlagen unternehmen, der alle Anschauung der Sinne als Erzeugnis des selbstherrlichen Subjekts zu verstehen meinte; wir unausweichlich vor eine Welt Gestellten, die zwar je und je unserer Seele immanent wird, aber eben nicht ursprünglich ihr immanent ist und sich gerade im Gange der jeweils sich ereignenden Immanenzwerdung als die Seele transzendierend erweist, können es nicht mehr. Der Künstler ist der Natur nicht hörig; aber so frei er sich auch von ihr halte und so weit er sich auch von ihr entfernte, er vermag sein Werk nur kraft dessen zu errichten, was ihm in der Sphäre des gebundenen Sinnenlebens, in den fundamentalen Vorgängen der Wahrnahme geschah, die eine Begegnung mit der Welt und immer wieder eine Begegnung mit der Welt ist. 2. Es ist beachtenswert, daß jener Ästhetiker der bildenden Künste, der, soweit ich sehe, als erster die Frage nach dem Ursprung der Kunst aus der Beschaffenheit des Menschen stellte, Conrad Fiedler, ein Anhänger des nachkantischen Idealismus war. Im Übergang zwischen zwei Zeitaltern stehend, hat er unsere anthropologische Frage vorweggenommen, aber ohne ihren eigentlichen Gehalt, der Begegnung heißt. Der Übergangscharakter seines Denkens kommt in einem entscheidenden Wort seiner Formulierung der Frage zu deutlichem Ausdruck. »Die Frage nach dem
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Ursprung der Kunst aus der Beschaffenheit der geistigen Natur des Menschen«, schreibt er, »ist die erste und wichtigste, die im Bereiche philosophischer Betrachtungen der Kunst gestellt werden kann.« Das Wort in diesem Satze, das ich meine, ist das Attribut »geistigen«. Wir schränken nicht mehr so ein. Das Spezifische am Menschen, das ihn von allen anderen Lebewesen dezisiv abhebt und dessen Tatsächlichkeit auch für unsere Erörterung grundlegend sein muß, ist nicht im Begriff der Geistigkeit einzufangen: die ganze leibseelische Person ist das Menschliche am Menschen, ihre Ganzheit ist es, die in seiner Begegnung mit der Welt eingesetzt wird. Daraus ergibt sich, daß die Frage, die wir fragen, ihr gilt. Wir fangen nicht mehr oben an, freilich erst recht nicht unten, sondern überall. Fiedler ist, vor nahezu achtzig Jahren, erstaunlich nah an die Einsicht unserer Tage herangekommen; am nächsten Schritt hinderte ihn seine Befangenheit im Idealismus. »Das Erkenntnisvermögen«, so lautet seine prägnanteste These, »enthält eine Gesetzgebung, die die künstlerische Gestaltung der Sinneswahrnehmungen notwendig macht.« Richtig ist daran, daß die Gestaltung über die Wahrnehmung hinausgeht, unrichtig, daß dies vom Erkenntnisvermögen bestimmt sei. Fiedler sieht »die erkennende Durchdringung« als eine Art Gestaltung an, die durch die künstlerische ergänzt werde; aber man verfehlt das verleiblichende Grundwesen der Kunst, wenn man sie so nah an die Erkenntnis rückt, ja dieser geradezu subsumiert. Wohl ergänzen das Denken und die Kunst einander, aber nicht wie zwei zusammenhängende Organe, sondern wie die elektrischen Pole, zwischen denen der Funke zuckt. Zu Recht sieht Fiedler in der künstlerischen Tätigkeit eine »natürliche Fortentwicklung« des Wahrnehmungsvorgangs; aber er beeinträchtigt seine Einsicht, indem er sie an die Lehre vom weltproduzierenden Subjekt knüpft. Als auf ein Korrektiv zu ihr müssen wir auf Dürers vielzitierten, aber selten von Grund aus durchdachten Spruch zurückgehen, der auch für Fiedler maßgebend gewesen ist: »Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie.« Doch sind wir gehalten, diese denkwürdige Äußerung einer großen Erfahrung schonsam zu interpretieren. Ein Denker unsrer eigenen Zeit, Martin Heidegger, hat eine Deutung des Dürerschen Spruchs unter die Begriffsanalysen aufgenommen, aus denen seine Abhandlung über den Ursprung des Kunstwerks besteht, meisterlich durchgeführte Operationen, die aber der Sprache und ihrem Gesprochenen mit allzu harter, allzu absichtsgeladener Hand an den Leib rücken. »Reißen«, so wird da interpretiert, »heißt hier Herausholen des Risses und den Riß reißen mit der Reißfeder auf dem Reißbrett«, wozu
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noch Aufriß und Grundriß, aber auch der Streit als Riß herangeholt wird; Dürers schlichter Tiefsinn 1 wird von dem ganz andersartigen Tiefsinn wortassoziativer Kombinationen und Komplikationen verschlungen. Dem schlichten Leser, zu dem Dürer spricht, wage ich so großzügiger Gewalttat gegenüber sein schlichtes Verständnis zu bestätigen, das ihm sagt, was in einer andern Substanz verhaftet ist, könne zuweilen nicht sacht aus ihr gezogen, sondern müsse aus ihr mit Kraft »gerissen« werden, und solche Handlung traue Albrecht Dürer der gelassenen Kraft des starken Künstlers zu. Der eigentlich angesprochene Leser, der junge Maler, soll fühlen: »So tief also steckt sie, so widerstrebend wird sie hergegeben, so stark und gut muß ich arbeiten.« Er kann es auch heute noch fühlen. Und auch wir nachdenklichen Laien von heute lassen Dürer noch zu uns sprechen – nicht um eigne Gedankengänge von der prismatischen Assoziationsfülle seiner leuchtenden Formulierung illuminieren zu lassen, sondern um mit ihm selber zu kommunizieren und verstehend zu erfahren, wie und inwieweit wir sein Wort annehmen dürfen. Was Dürer hier mit Kunst meint und gleich danach als »gelernte Kunst« erläutert, »die sich besamt, erwächst und seins Geschlechts Frücht bringt«, das ist das von lehrendem zu lernendem Künstler überlieferte Wissen um den herausholenden Umgang mit der Natur: durch ihn erst und aus ihm wird rechtmäßig, ohne Eigenwilligkeit »der versammelte heimliche Schatz des Herzens offenbar durch das Werk und die neue Kreatur«. Diesen Begriff der Kunst könnten wir Heutigen redlich und getreulich in Empfang nehmen, wenn sich nur erst erwiese, daß er nicht für das allein gilt, was Dürer Natur nannte, sondern auch für das, was wir so nennen. Heidegger behandelt in seiner Interpretation das Wort »Natur« als keiner Erörterung bedürftig. Ich meine, wir dürfen so nicht vorgehn. Wir müssen jetzt fragen, was uns Heutigen, uns staunenden und standhaltenden Zeugen der modernen Kernphysik, das Wort Natur bedeutet. Worin hat es für uns seine Wirklichkeit?
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3. Was Dürer Natur nennt, ist einfach die Sinnenwelt, als unabhängig von uns bestehend gedacht. Unser Leben in der Welt ist an eine unüberwindbare Differenz gebunden. Es ist die allbekannte zwischen den eindringlichen Bildern unserer 1.
Der zuständige Zeitgenosse Camerarius übersetzt: quam si extrahere potueris.
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Wahrnahme, die aber nur eben in der Sphäre unserer Beziehung zum Seienden und nirgendwo sonst vorzufinden ist, und einem ihnen, wie wir zu sagen pflegen, zugrunde Liegenden, einem physikalisch oder zumindest mathematisch Faßbaren, das aber nirgends und niemals in einer Wirklichkeit uns zugänglich ist. Wir teilen die beiden zwei oder mehreren methodisch strikt getrennten Bezirken wissenschaftlicher Erkenntnis zu und bescheiden uns damit, eine Einheit des denkenden Lebens in der Welt sei uns eben unerreichbar. Dürer brauchte sich um diese Differenz nicht zu kümmern. Die Sinnenwelt, für deren Phänomene man immerhin forschend und wägend Erklärungen suchte, wurde doch bedenkenlos entgegengenommen als das, worin wir leben, eben als die Natur, in die wir eingewiesen und auf die wir angewiesen sind. Dieses Einvernehmen ist es, das noch drei Jahrhunderte danach in dem menschlichen Umkreis, in dem sich die eigentliche Euphorie vor dem Sterben eines Weltalters vollzog, im Umkreise Goethes trotz all dem ungeheuren Forschen und Wägen aufrechterhalten worden ist. Sein gültiger Ausdruck ist jenes Fragment von 1782, das »Die Natur« überschrieben ist. Sie, die Natur, die unaufhörlich zu uns Sprechende, verrät uns zwar ihr Geheimnis nicht, aber sie wird als zuverlässig bis zur »Gütigkeit« gepriesen. Man weiß hier zwar bereits – eine Weile vor Hegels »Weltvernunft« – von einer »List« zu sagen, die sie übe, aber auch von einem »guten Ziel« dieser List. »Ich vertraue mich ihr« – so lautet hier das Bekenntnis zur Natur. So können wir nicht mehr vertrauen. Eine Natur, zu der man sich so zu bekennen vermöchte, kennen wir nicht mehr. Wie sehr auch uns jener hymnische Ausdruck eines großen Enthusiasmus für eine All-Einheit ergreift, die als wirkend, als lebend, als sinnend, ja geradezu als liebend geschaut und gerühmt wird – ein nicht minder großer, ein unbrechbarer Widerstand ist in uns gegen den Glauben, der ihn trägt. Die Bereiche der Betrachtungsweisen, in die unser Verhältnis zur Welt zerfallen ist, geben eine Einheit dieser Art, zu deren Leben sich unser Leben als Einheit verhalten könnte, nicht mehr her. Das neue »Weltbild« besteht letztlich darin, daß es kein Bild der Welt mehr gibt. Und dennoch dürfen wir, die wir auf der Suche nach dem anthropologischen Sinn der Kunst sind, an Dürers Spruch anknüpfen. Es ist klarzustellen, warum und wie wir es dürfen. Der Künstler, sagt Dürer, reißt die Kunst aus der Natur, in der sie steckt. Für die Sinnenwelt können wir den Spruch nicht gelten lassen: sie hat für uns ihr Sein nur noch in der Bedingtheit der Wahrnahme, die aus einer von uns unabhängigen Welt zwar auffängt, was sie auffängt, aber uns lauter Eigenschaften übermittelt, die in jener unauffindbar sind.
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Man hat unser Zeitalter mit Recht das heroische Zeitalter der Physik genannt. Ich füge hinzu, daß es das Zeitalter einer heroischen Resignation ist, die mit diesem Heroismus der Physik zusammenhängt. Es ist nicht eigentlich die Wissenschaft, die resigniert. Daß etwa eine Gruppe von Phänomenen durch zwei einander ausschließende Theorien erklärt werden muß, die einander nunmehr paradox ergänzen, ficht sie, die Wissenschaft, nicht an. Sie sieht darin etwa einen »wunderbaren Kunstgriff« der Natur (Pascual Jordan) oder begnügt sich damit zu konstatieren – wie Niels Bohr es einmal getan hat –, daß infolge der neuen physikalischen Situation sogar die Verben »sein« und »wissen« ihren eindeutigen Sinn verloren haben. Mit dem Menschen, insofern er Nichtphysiker ist, steht es anders. Ihn verlangt es auch im nachgoethischen Zeitalter noch, in einer vorstellbaren – nicht bloß gleichnishaft, sondern real als so beschaffen vorstellbaren – Welt zu leben; denn in einer unvorstellbaren Welt leben schließt einen Widerspruch ein, der, in undurchsichtiger Immanenz ausgetragen, hoffnungslos werden kann. Nun aber sind zugleich die Seinsweise der Raumzeitwelt als Ganzes und die eines jeden ihrer Teilchen unvergegenwärtigbar geworden, ja sie laufen allem als Welt Vergegenwärtigtwerden stracks zuwider, das heißt, sie sind ins gelebte Leben als die Welt dieses Lebens nicht mehr aufnehmbar. Unser gegenwärtiges Verhältnis zur Welt ähnelt dem im ägyptischen Mythus erzählten zu dem Gott, dessen geheimen Namen man erfahren hat und den man vermöge dieses Wissens wie ein Kräftebündel verwendet. Die mathematischen Grundformeln stimmen, eine Art zugleich abstrakter und praktischer Symbole, das Experiment bestätigt sie, und die technische Anwendung bestätigt sie; aber nun erst wird die unheimliche Fremdheit der Welt verspürt. Die, die ich benenne und benütze, und die, vor deren Unerfaßlichkeit ich erschaure, sind furchtbar zweierlei; an der Stelle der gewaltig Vertrauten, der ich mich vertraute, steht der leibhafte Widerspruch. Ich entsinne mich einer Stunde, die ich vor etwa dreißig Jahren im Gespräch mit Albert Einstein verbrachte. Ich hatte ihm mit einer verhohlenen Gretchenfrage vergeblich zugesetzt. Endlich brach er aus. »Was wir (und mit diesem ›wir‹ meinte er: wir Physiker) erstreben«, rief er, »ist doch, ihm seine Linien nachzuziehn.« Nachzuziehn – wie man eine geometrische Figur abpaust! Das schien mir schon damals eine fromme Hybris zu sein; seither ist die Fragwürdigkeit solchen Strebens noch weit ernster geworden. Die grundsätzliche Unerforschlichkeit des Elektrons, die »Komplementarität« kontradiktorischer Erklärungen – und die Gotteslinien des Seins! Und dennoch – von dieser unbildlich, unwirklich, unheimlich, unheimhaft gewordenen Welt müssen wir ausgehn, wenn
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wir die Natur finden wollen, von der wir, wir selber sagen dürften, die Kunst stecke in ihr und aus ihr sei sie zu »reißen«. 4.
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Unser Verhalten baut sich auf unzähligen Verbindungen von Bewegungen zu etwas und Wahrnehmungen von etwas auf 1 . Da ist keine Bewegung, die nicht, unmittelbar oder mittelbar, mit einer Wahrnehmung, und keine Wahrnehmung, die nicht, mehr oder minder bewußt, mit einer Bewegung zusammenhinge. Es gibt nichts in und an uns, das diesem Grunde völlig enthoben wäre; auch noch die Bilder der Phantasie, der Träume, des Wahnsinns ziehen ihren Stoff aus ihm; unsere Sprache wurzelt in ihm, ihre feinsten Verzweigungen holen aus ihm ihren Saft, und mit der Sprache wurzelt in ihm unser Denken, das sich nicht von ihr lossagen kann, ohne seine Lebensbindung zu verlieren; die Mathematik selber muß sich immer wieder in der Bezogenheit auf sie konkretisieren. Das, auf das zu wir uns bewegen und das wir wahrnehmen, ist, von meiner Intention aus gefaßt, stets sinnenhaft, und auch wenn ich selber der Gegenstand meiner wahrnehmenden Bewegung und bewegten Wahrnehmung bin, muß ich in irgendeinem Maße meine Körperlichkeit zu Hilfe nehmen, um meine Beziehung zu mir so zu vollziehen, daß ich meiner Intention Genüge tue. Anders verhält es sich, wenn ich den Gegenstand als unabhängig von meiner Bewegung und Wahrnehmung zu fassen suche. Bin ich selber es, um den es geht, dann höre ich, sowie ich nun solchermaßen Ich werde, schlechthin auf, Gegenstand zu sein. Das gleiche gilt für jedes andere Ich in der echten Kommunikation mit mir: es ist mir nur Partner, nicht Gegenstand; als Partner, als mein Du kann der andere in seiner vollen Selbständigkeit gefaßt werden, ohne daß seine Sinnenhaftigkeit verkürzt würde. Nicht so alles eigentlich Gegenständliche oder als gegenständlich Behandelte, dem ich entweder kein Ich zuschreibe oder dessen Ich von mir jetzt und hier nicht vergegenwärtigt wird. All dies kann ich in seine Selbständigkeit nur so stellen, daß ich es von der Sinnenwelt, von seinem sinnenhaften Vertretensein in ihr frei mache. Was dann als Es-selber verbleibt, aller Eigenschaften entledigt, die ihm in der Begegnung mit mir, in der Sinnenwelt zu eigen geworden 1.
Aus der Psychologie der jüngsten Zeit ist hier vor allem auf die Werke von Erwin Straus (»Vom Sinn der Sinne«) und Viktor von Weizsäcker (»Der Gestaltkreis«) zu verweisen.
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waren, sei jeweils als kleines x bezeichnet. Es existiert aber nicht als vorstellbar. Wir können freilich versuchen, ihm etwelche Eigenschaften zu belassen, die es in der Sinnenwelt besaß; aber dann setzen wir es nur in ein fiktives Zwischenreich, das mittendrin zwischen der Sinnenhaftigkeit und der Selbständigkeit schwebt. Von x wissen wir, was Kant uns vom Ding an sich wissen heißt, nämlich, daß es ist – Kant würde sagen: »und nicht mehr«, wir heute Lebenden aber müssen hinzufügen: »und daß das seiende uns begegnet«. Das ist, wenn wir es ernst genug nehmen, ein gewaltiges Wissen. Denn in all der Sinnenwelt ist nicht ein Zug, der nicht aus Begegnungen stammte, nicht von der Mitwirkung des x in der Begegnung herrührte. Eine uralte Linde stand einst an dem Weg, den ich Mal um Mal gegangen bin. Immer nahm ich sie an, wie sie mir gegeben war, und damit war’s genug. Bis mich einmal die Frage überkam: »Jetzt, da ich ihr begegne, ist die Linde so – wie ist sie vor, wie nach unsrer Begegnung? Was ist sie, wenn ihr keine Wahrnehmung naht?« Die philosophische Denkschulung befahl mir, die Frage als sinnlos zu verwerfen, aber ich widerstand. Die Botanik antwortete auf die Frage mit einer Rechenschaft über Struktur und Dynamik der Linde, aber von den Eigenschaften der Linde, die ich wahrnahm, konnte ich dabei nichts beibehalten; das Grün des Blattes, das auf meine Hand niedergeweht war, mußte gegen das Chlorophyll eingetauscht werden, und dieses, wie alles, was mir von den biochemischen Befunden im Leben des Baums gesagt wurde, zog mich in die Welt des x, wo es nur noch das Unvorstellbare gab, sogar der Raum war es, in dem die Linde haftete, unvorstellbares Mathema. Aber ich ließ es mir gefallen, ich nahm das eigenschaftslos und unheimlich gewordene Ding oder Unding an, das auf mich gewartet hatte, um wieder einmal zur blühenden und duftenden Linde meiner Sinnenwelt zu werden, ich sagte zum entsinnlichten Linden-x, wie Goethe zur sinnenfälligen Rose: »Du bist es also.« Wie die Linde auf mich gewartet hat, um sich zu begrünen, so hat die Natur, die unwahrgenommene, die x-Natur, vormals darauf gewartet, daß Lebewesen entstehen, durch deren begegnende Wahrnahme das Grün, das Weich, das Warm, die sinnebedingten Qualitäten in die Welt kommen. Aber das Tier lebt, wie die Biologie unserer Tage erkannt hat (ich zitiere Buytendijk), »mit seiner Umwelt wie mit seinen Organen«, es nimmt nicht mehr und nicht anders wahr, als was und wie die jeweilige Situation wahrzunehmen fordert, es geht im Funktionalkreis auf und weiß außerhalb der eigenen Bedürfnisse und Bedrohungen kaum etwas von Dingen und Wesen. So hat denn die Natur, weil sie nach Vollständigkeit, und das heißt, auch nach Wahrgenommenheit strebt, nach einem
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ausgeschaut, dem seine neue Beschaffenheit ermöglichte, das Seiende distanzhaft, als ein jenseits seiner Nöte und Wünsche Bestehendes sich erscheinen zu lassen, es von sich abzuheben und abzusetzen; sie ist erst durch ihn recht eigentlich zur Natur geworden, als zu einer Ganzheit, die Teil um Teil in die Erscheinung zu treten vermag. Nicht bloß mit seinen vitalen Akten, nicht bloß als sich Bewegender, auch als Wahrnehmender gehört der Mensch in die Natur. Meine Wahrnahme ist unbeschadet aller Geisthaftigkeit des Subjektseins ein naturhafter Akt, an dem ich und x teilnehmen. Gehen wir getrost von x aus, von seinem unergründlichen Dunkel: sein Sein hat Umgang mit meinem Sein, wenn es zu meinen Sinnen die Vertreter entsendet, denen die wissenschaftliche Sprache den zweideutigen Namen von Reizen verliehen hat, und aus unsrem Umgang steigen die klarumrissenen Gestalten auf, die farbig und tönend meine Sinnenwelt bevölkern. Sie selber, die Sinnenwelt, steigt aus dem Umgang von Sein mit Sein auf. Welche Zusammenhänge entsprechen in der Ontik des x den Gestalten dieser unserer Welt? Wir wissen nichts davon. Aber wenn wir in die Lebenstiefe unsrer Wahrnahme schauen, erfahren wir, daß das Gestalten hier wie überall kein Machen ist. Von jedem unvorstellbaren Zusammenhang in der x-Welt schießt eine Vielheit, eben die jener sogenannten Reize, zu uns auf; es ist, als zerfiele er in sie, um zu uns zu gelangen. Hier aber wird jede Vielheit in gestalteten Einheiten aufgefangen, in tiefer Gesellung wirken meine Sinne zusammen – und die einige Linde steht vor mir, ja auch das Rauschen und Duften ist nicht bloß in oder an ihr, sie selber rauscht und duftet, und sie selber ist es, die ich verspüre, wenn meine Hand ihre Rinde betastet. Dem ganz unanschaulichen Zusammenhang in x, der mir begegnet, ist die ganz anschauliche Entsprechung erstanden, die nun an seiner Statt als ein Wesen in der Natur steht, mit ihrem Dasein auf mich und meinesgleichen angewiesen. Auch noch, wenn ich in der Wüste wandre und nirgends eine Form sich meinem Auge bietet, auch noch wenn ein krasser Lärm mein Ohr trifft, ereignet sich in meiner Wahrnahme Binden und Begrenzen, Gliedern und Rhythmisieren, das Werden gestalteter Einheit. Je wahrer, je existentiell zuverlässiger es sich ereignet, um so mehr wandelt sich in allen Bereichen der Sinne die Betrachtung zur Schau. Schau ist figurierende Treue zum Ungekannten, die im Zusammenwirken mit ihm ihr Werk tut. Sie ist Treue nicht zur Erscheinung, sondern zum Sein – dem unzugänglichen, mit dem wir umgehen.
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5. In der menschlichen Wahrnahme, so dürfen wir sagen, wird etwas, was in der Natur steckt, aus ihr gezogen und gehoben. Kunst ist es freilich nicht. Aber man darf es die Schaubarkeit nennen. Alle Schaubarkeit, die Schaubarkeit aller Sinne, hat eine Richtung zur Figuration. Wenn es in x, was ich nicht für unmöglich halte, auch etwas wie Chaotik gibt, so geht davon in die Schaubarkeit nichts ein. Alle Wahrnahme, aber zumal die zur Schau vertiefte, legt es auf Figur an. Figurierend gibt sie den unanschaulichen Zusammenhängen der xWelt die ganz präsente Entsprechung. Erst der Künstler jedoch ist »voller Figur«. Erst seine Schau, die eine Werkschau ist, bringt zur ersten, vom Menschen als solchem vollbrachten Weltformung die zweite, die völlige Figuration hinzu, die freilich in noch weit höherem Maße als jene personenhaft, also unabsehbar vielfältig ist. Alle Wahrnahme aller Menschengeschlechter steht als figurierend in der Vorläufigkeit. Die Sinnenwelt ist eine Etappe. Der Weltfilter im Bau der Menschensinne liefert zwar sehr viel mehr als der irgendeines andern uns bekannten Lebewesens, aber er ist nicht anders beschaffen: er soll hergeben, was die Gattung homo sapiens braucht, um zu bestehen, und das ist zwar eine ganze Menge, aber technisch beschränkt. Auf das Ausfigurieren in der Schau ist der Mensch gattungsmäßig noch nicht eingerichtet. Personen erlangen Personenhaftes, in den Grenzen der Filterkonstruktion. Aber es gibt ein Darüberhinaus, das jeweils da ansetzt, wo die Funktion des Filters am Ende ist, ein leibhaftes Element, das gleichsam sich selber ausschickt, um eines Grundes teilhaftig zu werden, der anders nicht erfaßt würde, in ungeheurer Verschiedenheit der Weisen und Personen, dennoch eine Einheit der Einheiten hervorbringend und mit jedem neuen Werk erneuernd. Ich meine die Existenz des Künstlers, ich meine die Kunst. Die Wahrnehmung holt aus dem Sein die Welt, die wir brauchen; erst die Schau und von ihr geführt die Kunst dringen über das Brauchen hinaus und machen das Überflüssige zum Notwendigen. Der Künstler ist der Mensch, der, statt das ihm Gegenüberstehende zum Gegenstand zu objektivieren, es zum Gebild gestaltet. Hier genügt die Art der Aktion nicht mehr, die in der Wahrnahme vollzogen wird: das Werken muß wesenhaft mit heran, um das Gegenüberstehende zum Gebild werden zu lassen. Das Gegenüberstehende, sagte ich – das heißt nicht etwa dieses oder jenes Phänomen, dieses oder jenes Stück Außenwelt, irgendein dem Gesicht oder Gehör in der jeweiligen Erfahrung gegebener Erscheinungskomplex, sondern was alles in die ganze mögliche
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Weltsphäre jenes Sinns eingeht, dem diese bestimmte Kunst zugeordnet ist, die ganze mögliche Weltsphäre des Gesichts, die ganze mögliche Weltsphäre des Gehörs. Dies und nicht weniger als dies ist es, woran der Künstler das übt, was Jean Paul – zum Unterschied von der Einbildungskraft, »welche auch die Tiere haben, weil sie träumen und weil sie fürchten« – die Bildungskraft nennt, sie, die »alle Teile zu Ganzen macht« und die Freiheit stiftet, »womit in ihrem Äther die Wesen als Sonnen gehen«. Dürer denkt an den Künstler als der Sinnenwelt gegenüberstehend – aber diese entsteht doch erst je und je im Gegenüberstand, wenn auch gleichsam unter Assistenz aller gewesenen Geschlechter, die unser Sehverhältnis, unser Hörverhältnis zur Welt ausgebildet haben. Der künstlerische Gegenüberstand selber jedoch ereignet sich zwischen dem Sein des Künstlers – nicht seinem Wahrnehmen allein, sondern seinem Sein – und dem Sein des x. Insofern er Künstler ist, nimmt er es künstlerisch wahr, das heißt auf die vollkommene Figurierung, das Werden des Gebildes hin. Ein Dichter unserer Zeit, Paul Valéry, ist an die uns gemäße Wahrheit nah herangekommen, aber nur um sich alsogleich von ihr zu entfernen. Er läßt die Weltordnung, »die der Demiurg aus der Unordnung des Anfangs gehoben hat«, dem Architekten als Chaos und Urstoff gegeben sein, woraus er, um dem Menschen besonders Genüge zu tun, das unvollendete Werk vollende. Man achte darauf, wie wunderlich hier Wahr und Falsch sich mischen. Die dorische Säule ist nicht zu einer vorgefundenen Weltordnung hinzugebracht, sondern aus bis dahin verborgenen Proportionen im Werk hervorgeholt worden. Die Architektur entdeckt die Verhältnisse immer neu – durch das Werk und in ihm; sie müssen immer neu entdeckt werden. Als der junge Goethe einmal für sich selber festzulegen unternahm, was es sei, das er die Schöpfungskraft im Künstler nannte, schrieb er: »aufschwellendes Gefühl der Verhältnisse, Maße und des Gehörigen«. Was uns von Beethovens Spaziergängen berichtet wird, »wie er, ein Notenblatt und einen Bleistift in der Hand, öfters wie lauschend stehenblieb, auf- und niedersah und dann auf das Blatt Noten verzeichnete«, ist ein uns fast mythisch anmutendes Bild für ebendiese Tatsächlichkeit. Die künstlerische Phantasie ist in ihrem innersten Wesen Entdeckung durch Figurierung. Aus den Erfahrungen des künstlerischen Gegenüberstandes zur Welt und den Bedingungen der Figurationen fügt sich für den Künstler die seine Kunst bestimmende, für den bildenden Künstler eine optische, für den Musiker die akustische Seinssphäre zusammen. Mit einer Ausnahme ist jede dieser Sphären von einem einzigen Sinn determiniert; Erfahrun-
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gen anderer Sinne können in ihr nicht Fuß fassen, sie können auf sie nur bezogen werden. Jede künstlerische Tätigkeit ist durch einen elementaren Verzicht ermöglicht, durch eine produktive Einschränkung der Welt auf die Ausschließlichkeit einer einzigen Sphäre. In ihr lebt der Künstler, insofern er als Künstler lebt, in ihr schaltet er figurierend, in der Großheit solches Verlusts und Gewinns. Nur einer Kunst ist ihre Sphäre nicht durch einen der Sinne zureichend bestimmt, sondern erhebt sich über der Sinnenschicht; es ist die Dichtung. Ihre Herkunft ist nicht aus dem Gegenüberstand eines Sinnes zur Welt, sondern aus dem Urbau des Menschen als Menschen, seinem von Sinneserfahrungen fundamentierten, von der Symbolmacht des Geistes überwölbten Urbau, aus der Sprache. Auch wenn man die Determination der Sphären objektiver zu fassen sucht und anstatt von Gesicht und Gehör von Raum und Zeit redet, bleibt für die Dichtung die Sprache als Drittes. Die andern Künste schöpfen aus den Sphären des Raums und der Zeit, sie sind ihnen pflichtig und werden ihnen gerecht, so die Malerei, indem sie im optischen Raum die Verbundenheit der Dinge unter Verzicht auf ihre Körperlichkeit hütet, die Plastik, indem sie in diesem Raum das körperhafte Einzelsein unter Verzicht auf die Verbundenheit errichtet, die Architektur, indem sie in ihm die Proportionen, die funktionalen Verhältnisse, die geometrischen Strukturen in die unmathematische Wirklichkeit einwandelt, der sie sich doch auch verschließt, so die Musik, indem sie die Zeit selber tonleiblich gliedert, und zwar, als gäbe es keinen Raum; die Dichtung aber ist keinem andern botmäßig als der Sprache, ob sie nun ruft und rühmt oder erzählt oder das Geschehen zwischen Menschen sich im Dialog entfalten läßt.
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6. Man mag fragen, woher der Antrieb zur Figuration und mit ihm das Wachstum der Eignung zu ihr stamme. Warum hat sich die Gattung Mensch nicht damit begnügt, aus ihren Begegnungen mit x die geformte Sinnenwelt hervorgehen zu lassen? Warum diese Superposition einer Überformung der Form? Über x-Welt und Sinnenwelt diese dritte? Warum hat die Gattung aus sich dieses Sonderwesen, das sich den Normen entzieht, den »Künstler« entsandt? Wie ist das Überflüssige zu solchen Kräften gediehen? Zur Antwort auf diese Fragen müssen wir zunächst wieder von der Begegnungssituation ausgehen. Dem ihm begegnenden x gegenüber ist der Mensch zunächst auf seine Sinne angewiesen, die das Urfremde ihm
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als ein Vertrautes zu eigen machen. Aber er greift darüber hinaus, was sie ihm geben, er mutet ihnen mehr zu, die Vertiefung in der figurativen Schau, um der Figuration im Werke willen. Er überschreitet das Gebrauchte um des Gemeinten willen. Was bedeutet das? Hier im Antwortsuchen weitergehn muß zugleich der Kunst ihren anthropologischen Ort unter den vier Potenzen ermitteln, mit denen der Mensch seine Naturhaftigkeit transzendiert und das Menschentum als eigentümlichen Seinsbereich stiftet. Im Gange des Menschwerdens erscheinen, in ihrem Ursprung unfaßbar, zwei eng miteinander verbundene Verfassungen der menschlichen Person: das Ungenügen an dem Beschränktsein auf das Gebrauchte und das Verlangen nach der vollkommenen Relation. Das Hinauslangen über die Bedürfnisbefriedigung ist Mensch und Tier gemeinsam. Der Ausdruck dieser Gemeinsamkeit ist das Spiel. Aber beim Menschen als Menschen setzt darüber hinaus ein Neues, Unerhörtes ein. Womit die menschliche Gattung auskommt, die feste Gesamtstruktur des Brauchens und Bekommens und ringsum das Gekräusel des lockernden, lösenden Spiels, genügt je und je der menschlichen Person nicht. Mit dem Erwachen der Personhaftigkeit erwacht das Ungenügen an dem ganzen naturhaften Zugemessenbekommen mitsamt dem »freien« Zuschuß, den der homo ludens sich spendet. Zugleich aber erhebt sich in der Person und verbündet sich auf das merkwürdigste mit jenem das, was ich das Verlangen nach der vollkommenen Relation oder nach der Vollkommenheit in der Relation nenne. Die unvollkommenen Relationen gehören der Welt des Brauchens und Bekommens oder deren Spiel-Annexen an. Aber die menschliche Person überlangt sie. Sie begnügt sich nicht mit dem Maße und Grade der Relationsentfaltungen, die zur Bewältigung der jeweiligen Daseinsnöte und zum Eingehn in die geregelten Freiheiten des Spiels erheischt werden: der höhere Wunsch erscheint. An ihm wird die Echtheit der Person kundbar. Hier tut sich uns die Vorhalle auf, aus der sich die Pforten der vier Potenzen in die Innenräume der Erkenntnis, der Liebe, der Kunst und des Glaubens öffnen. Sie alle stehen gegen das Fremdwerden der Welt, stehen uns gegen ihre Verfremdung bei. Der zur Person gewordene Mensch erkennt, wie jeder Mensch, Gegenstände aller Art. Jedes menschliche Erkennen ist Relation zu einem Gegenstand. Dem vorpersonhaften Individuum tun die Erkenntnisse genug, die ihm ermöglichen, mit der gegenwärtigen und etwa noch der nächsten Daseinsstunde zurechtzukommen, sozusagen kraft einer lebenstechnischen Vereinbarung mit dem Gegenstand. Der persongewordene Mensch hat daran schlechthin nicht genug. Er will mit seinem Er-
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kennen dem Gegenstand »auf den Grund kommen«. Er legt es immer wieder darauf an, die Vollkommenheit der erkenntnishaften Relation zu erreichen. Das kann er freilich nur dadurch, daß er, jeweils einen Gegenstand ergründend, alle anderen verbannt, soweit sie nicht zur Klärung des einen benötigt sind. Vollkommene Erkenntnisrelation heißt ausschließendes Erkennen, das nun freilich, zu seiner Höhe gelangt, in gastfreier Verantwortung alles rechtmäßig Zugehörige aufnimmt. Die andere Potenz ist die Liebe. Das Gebiet des Brauchens und Bekommens ist hier selbstverständlich nicht lediglich psychophysisch, in Geschlechtshandlungen und den sie umspielenden Regungen, sondern auch soziologisch, im Bestand von Ehe und Familie zu erfassen; so weit reicht ja der Tier und Mensch gemeinsame Bezirk. Aber die hinzukommende, die beides, Geschlechtskontakt und Geschlechterstiftung, durchdringende und zu ganz menschlich Existentem verwandelnde Wesensliebe zweier Wesen stammt aus einem andern Bereich, in dem das Ungenügen an der Welt des Brauchens und Bekommens und das Verlangen nach der Vollkommenheit der Beziehung verschmelzen. Und wieder tritt die Ausschließlichkeit in ihr Recht: Vollkommenheit der Liebesbeziehung gibt es nur zwischen zweien. Aber wieder waltet in der Ausschließung die Einschließlichkeit. In alle Liebe zu Menschen – ich meine natürlich nicht den Pflichtbetrieb einer sogenannten Nächstenliebe, sondern die inständige Bejahung menschlicher Personen als solcher – strahlt die vollkommene Relation aus. All dies, Ungenügen und Verlangen, Ausschließlichkeit und Einschließlichkeit, finden wir im Bereiche der Kunst wieder. Der Künstler, dessen Begegnungen mit x von einer ihm eigentümlichen Intensität sind, begnügt sich nicht mit der Anschauung dessen, was die gemeinmenschliche Sinnenwelt ihm wahrnehmbar macht. Er begehrt, in der Sphäre desjenigen unter den Sinnen, dem seine Kunst zugeordnet ist, die Vollkommenheit der Beziehung zu den Substraten der Sinnendinge zu erfahren und zu verwirklichen: durch die Figuration in der Schau und im Werk. Er bildet die Gestalt nicht ab, er bildet sie nicht eigentlich um, er treibt sie, – nicht eben am einzelnen Objekt, sondern in der ganzen Möglichkeitsfülle dieses einen Sinns, soweit sie sich ihm auftut, treibt er sie in ihre Vollkommenheit, in ihre voll figurierte Wirklichkeit, und das ganze optische, das ganze akustische Feld wird immer neu durchgestaltet. Und schon hat sich uns auch die Macht der Ausschließlichkeit gezeigt: das Wirken aller andern Sinne muß ausgeschieden sein, damit das Wirken dieses einen in der Ausprägung dieser einen Kunst zu solcher Vollkommenheit gelange. Aber das Leben aller andern Sinne ist hier in Wirkung und Werk insgeheim eingeschlossen; es gibt hier tiefe Korrespondenzen,
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zaubrige Evokationen, und unser konkretes Verständnis wird bereichert, wenn es uns etwa glückt, an einer Skulptur des Rhythmus gewahr zu werden. Auf die letzte Potenz, die höchste, alle andern umfangende und übergreifende, den Glauben, kann ich in diesem Zusammenhang nur hinweisen. Wie Ungenügen und Verlangen, Ausschließlichkeit und Einschließlichkeit sich hier wandeln, ist jedem einsichtig, der diesen Bereich hat betreten dürfen. Es kann sich für uns nicht darum handeln, die vorgeschichtlich oder ethnologisch erfaßbaren Vorzeiten oder Vorstufen der Erkenntnis oder der Liebe oder der Kunst oder der Religion zu untersuchen. Unbeachtet können sie nicht bleiben. Soweit sie in ihren Motivationen uns irgend zugänglich sind, mögen sie dem Anschein nach noch ganz der Welt des Brauchens und Bekommens angehören – eine Vorform des Ungenügens und des Verlangens, von denen wir sprechen, dürfte dennoch in mancher dieser Motivationen zu entdecken sein. Wenn, wie uns Ethnologen berichten, in einem exogamen Stamm ein Bursche, dem unerbittlichen Stammesgesetz zum Trotz, ein Mädchen der eigenen Sippe freit und seine Rebellion bis zu dem schließlich unvermeidlichen Selbstmord durchhält, so ist diese Individualaktion von den Normen des Brauchens und Bekommens aus nicht zu erklären. Und wenn im Paläolithikum ein andrer Bursche auf die Decke seiner Höhle einen braunroten Wisent malte, dessen Konzentriertheit durch kein Gebilde der folgenden Jahrzehntausende überholt worden ist, so spricht zwar kaum etwas gegen eine Erklärung als Jägermagie, aber ist nicht hinter dieser ein dumpfes, vorbewußtes Begehren zu spüren, dem verborgenen Kern des Tierphänomens dadurch beizukommen, daß man seine Sichtbarkeit überfiguriert? Es ist freilich weder das Geheimnis der Dinge noch das des Geistes, das sich in der Kunst darstellt, sondern das Verhältnis zwischen beiden. Ich darf mich selbst zitieren: 1 »Kunst ist Werk und Zeugnis der Beziehung zwischen der substantia humana und der substantia rerum, das gestaltgewordene Zwischen.« Deshalb ist es auch uns noch erlaubt zu sagen, daß es einer absonderlichen Sonderart des Menschen gegeben ist, die Kunst aus der Natur zu reißen, in der sie steckt. Der Künstler tut es, nicht indem er hinter die Sinnenwelt einzudringen sucht, sondern indem er deren Gestalthaftigkeit zum vollkommnen Gebild vollendet. In der Vollendung aber finden wir den Ursprung.
1.
»Urdistanz und Beziehung« (1951), p. 28.
Rosenzweig und die Existenz Im philosophischen Denken hat sich in unserer Zeit eine grosse Wandlung vollzogen. Man bezeichnet sie gewöhnlich als Existentialismus. Damit erfasst man aber nur die eine Seite dieser Erscheinung, und zwar die weniger wichtige von beiden. Man will damit auf die freilich recht merkwürdige Tatsache hinweisen, dass Denker unserer Zeit zum Ausgangspunkt ihres Philosophierens nicht mehr wie die früheren die Natur oder den Geist oder die Geschichte oder irgend einen andern Bereich des uns objektiv gegebenen Seins machen, sondern das menschliche Dasein selber, ja vor allem andern das eigene Dasein des Philosophierenden, und zwar wesentlich nicht in den Momenten der Höhe dieses Daseins, sondern gerade in den Momenten seines Elends, in der Angst, in der Verzweiflung, in der Verlassenheit, in der Langeweile. Wohl hat der Mensch, seit er zusammenhängend zu denken gelernt hat, immer wieder auch über sich selber nachgedacht; aber erst in diesen unseren Tagen, wo wir Menschen uns so ausgesetzt und preisgegeben empfinden wie nie vorher, erst jetzt werfen wir das Senkblei in die Tiefe unsres Stunde um Stunde gelebten, Stunde um Stunde abgelebten Lebens. Aus dieser so herznahen und doch so unheimlichen Konkretheit des Themas erklärt sich die faszinierende Wirkung einzelner dieser Philosophen, wie etwa Martin Heideggers. Aber bei alledem handelt es sich eben nur um eine Wandlung des Themas, nicht um eine Wandlung des Philosophierens selber, seiner Art und seines Wesens. Zu gleicher Zeit jedoch hat sich eine andere, tiefere, bis auf den Grund der wirklich zu denken wagenden menschlichen Person als solcher reichende Wandlung zu vollziehen begonnen, und ein Träger dieses Beginns, sein Träger nicht bloss dem Charakter und der Tendenz seines Denkens nach, sondern der Gesamtheit seines Lebensschicksals nach war Franz Rosenzweig. Um zu verstehen, was das für eine Wandlung ist, gehen wir am besten davon aus, was der Begriff der Wahrheit für Heidegger und was er für Rosenzweig bedeutet. Für Heidegger ist die Wahrheit etwas im Sein Verbogenes, sozusagen die Verborgenheit selber des Seins, die ans Licht will und auf keinem anderen Wege ans Licht gelangen kann als durch das Denken des wirklich denkenden Menschen. Rosenzweigs Anschauung ist dieser Lehre, die, als er seine Grundsätze formulierte, noch gar nicht bekanntgegeben war, genau entgegengesetzt. Nach seiner Anschauung gibt es im faktischen Dasein der Menschen eine so unbedingte Wahrheit, dass man sie als »die Wahrheit« bezeichnen dürfte, überhaupt nicht; der
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strenge Singular, dessen sich die Philosophie jenseits der Tatsachen so gern bedient, hat hier keinen Bestand. Wahrheit, so stellt Rosenzweig fest, muss immer Wahrheit für jemanden sein »und damit«, sagt er an der zentralen Stelle seines Aufsatzes »Das neue Denken« von 1925 (wie er es ähnlich schon im »Stern der Erlösung« sagte), »wird es zur Notwendigkeit, dass unsre Wahrheit vielfältig wird und dass ›die‹ Wahrheit sich in unsre Wahrheit wandelt.« Damit ist aber etwas fundamental anderes als ein lockerer und unverbindlicher Subjektivismus gemeint. Denn Rosenzweig fährt fort: »Wahrheit hört so auf, zu sein, was ›wahr‹ ist, und wird das, was als wahr – bewährt werden soll«. Oder, wie er es noch prägnanter 4 Jahre vorher in seinem Hauptwerk gesagt hat, »Bewährt also muss die Wahrheit werden«. Hier kommt eine Einsicht zum Ausdruck, die in der Geschichte des menschlichen Denkens immer wieder aufgetaucht ist – auch mein Begriff der »Verwirklichung« von 1913 hatte diesen Sinn; doch ist diese Einsicht nie zuvor so lapidar geäussert worden. So lapidar ist sie hier geäussert, dass sich wie von selber eine Folgerung in Bezug auf die philosophierenden Menschen und ganz besonders in Bezug auf die Existentialisten ergibt. Wer über die menschliche Existenz selber, und das heisst vor allem: über seine eigene Existenz, die allein er als solche kennt, zu philosophieren wagt, muss, um seine Philosophie zu legitimieren, sich selber einsetzen, er muss seine existentialistische Wahrheit in seiner Existenz und mit seiner Existenz bewähren. Daran hat es mancher repräsentative Philosoph unserer Zeit fehlen lassen. Franz Rosenzweig ist ein Denker, der seinen Anteil an der Wahrheit bewährt hat. Der Raum dieser Bewährung ist ihm von einer grausamen und geheimnisvoll gnadenreichen Schickung zugemessen worden. Statt, wie er am Schluss des »Sterns der Erlösung« angedeutet hatte, in das nicht mehr deutende, sondern wirkende »Leben« einzutreten, verfiel er im Jahr nach der Veröffentlichung des Werkes einer Krankheit, die von keinem als so ungeheuerlich schwer empfunden werden muss wie vom Denker, weil sie zwar nicht den Gedanken, aber dessen Aeusserung lähmt. Ich kann aus dem einzigartigen Kontakt in sechsjähriger Zusammenarbeit bezeugen, wie Rosenzweig, immer tiefer in den Abgrund des Siechtums sinkend, seinem Dienste unverbrüchlich treu blieb. Die grosse Lehre, die ich damals von dem jüngeren Freunde empfing, war die der Vereinigung von Glauben und Humor in solcher Probe. Glaube ist ein Vertrauen, das jeder Situation standhält; aber Humor ist eine Annahme des Daseins, wie immer es sei, in lächelndem Vollzug. Das Bezwingendste an dem kran-
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ken Rosenzweig war, bei schwer gehemmter Beweglichkeit der Lippen sein unzerstörbares Lächeln, und bei einer aufs Aeusserte behinderten physischen Aeusserungsfähigkeit, seine Scherze. Der Humor war hier ein Diener des Glaubens, aber er war auch dessen Milchbruder. So sieht wahrheit-bewährende Existenz aus.
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In diesem Buche wird mehrfach erörtert, ob ich Philosoph oder Theolog oder sonst etwas sei. Die Frage besteht zu Recht; denn je nachdem werde ich mit den Regeln und Gesetzen des einen oder des andern Bereichs zu konfrontieren sein. Ich kann aber keine der vorgeschlagenen Antworten zu meiner machen. Soweit meine Selbsterkenntnis reicht, möchte ich mich einen atypischen Menschen nennen. Vermutlich stammt meine Abneigung gegen die übliche exzessive Typologie letztlich aus dieser Tatsache. Seit ich zu einem Leben aus eigener Erfahrung 1 gereift bin – ein Prozeß, der kurz vor dem »ersten Weltkrieg« begann und bald nach ihm vollendet war –, habe ich unter der Pflicht gestanden, den Zusammenhang der damals gemachten entscheidenden Erfahrungen ins menschliche Denkgut einzufügen, aber nicht als »meine« Erfahrungen, sondern als eine für andere und auch für andersartige Menschen gültige und wichtige Einsicht. Da ich aber keine Botschaft empfangen habe, die solcherweise weiterzugeben wäre, sondern nur eben Erfahrungen gemacht und Einsicht gewonnen habe, mußte meine Mitteilung eine philosophische sein, d. h. ich mußte das Einmalige und Wesenseinzige in »Allgemeines«, von jedem in seinem eigenen Dasein Auffindbares verwandeln, mußte das seinem Wesen nach Unbegriffliche in Begriffen, die (wenn auch zuweilen mit Schwierigkeiten) gehandhabt und übermittelt werden können, aussagen. Genauer: ich mußte aus dem im Ich-Du und als Ich-Du Erfahrenen ein Es machen. Ich bin überzeugt, daß es allen von mir geliebten und verehrten Philosophen nicht anders ergangen ist. Nur daß sie sich, nachdem sie die Transformation vollzogen hatten, der Philosophie tiefer und völliger ergaben als ich es vermochte oder als es mir gestattet war. Mit mir stand es so, daß all die in den Jahren 1912-1919 von mir gemachten Seinserfahrungen mir in wachsendem Maße als eine große Glaubenserfahrung gegenwärtig wurden. Damit ist eine Erfahrung gemeint, die den Menschen in all seinem Bestande, sein Denkvermögen 1.
Den Begriff der Erfahrung verwende ich hier nicht kritisch, wie am Anfang des Buches »Ich und Du«, sondern positiv; ich meine damit einfach das mir selbst unmittelbar Bekanntgewordene.
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durchaus eingeschlossen, hinnimmt, so daß durch alle Gemächer, alle Türen aufsprengend, der Sturm weht. Da die Ratio in diese Art von Erfahrung mit eingetan ist, nur eben nicht in ihrer abgelösten, selbstherrlichen Gestalt, sondern als einer der Träger, kann sie, wenn es nun die Mitteilung gilt, als zuverlässiger Bearbeiter fungieren. Die Bearbeitung ist mit Notwendigkeit eine philosophische, und das heißt: eine logisierende; es kommt nur darauf an, daß das unentbehrliche Denkvermögen sein Amt nicht verkenne und sich nicht als der zuständige Empfänger gebärde. Es liegt ihm ob, das Überlogische, für das der Satz vom Widerspruch nicht gilt, zu logisieren, es liegt ihm ob, den inneren Widerspruch fernzuhalten; aber es darf der Konsistenz nichts von jener Wirklichkeit selber opfern, auf die hinzuzeigen die geschehene Erfahrung befahl. Ein System wird daraus, wenn der Gedanke seiner Aufgabe treu bleibt, nicht werden, wohl aber ein in sich schlüssiger Denkzusammenhang. Man möchte nun etwa einwenden: wenn jener Zusammenhang von Erfahrungen als Glaubenserfahrung zu verstehen sei, dann sei deren Mitteilung doch wohl eher eine theologische zu nennen. Aber das trifft nicht zu. Denn unter Theologie läßt sich doch wohl nur eine Lehre von Gott verstehen, sei sie auch nur eine »negative«, die dann etwa, statt als Lehre vom Wesen Gottes, als Lehre vom Worte Gottes, dem Logos, auftritt. Ich aber bin durchaus nicht befähigt noch auch befugt, so oder so von Gott zu lehren. Gewiß, wenn ich das Faktum Mensch zu erklären versuche, kann ich nie außer acht lassen, daß er, der Mensch, Gott gegenüber lebt; aber ich kann Gott selber an keinem Punkte in meine Erklärung einbeziehen, ebensowenig, wie ich das mir unanzweifelbare Wirken Gottes in der Geschichte aus ihr herauslösen und zum Gegenstand meiner Betrachtung machen könnte. Wie keine theologische Weltgeschichte, so kenne ich keine theologische Anthropologie in diesem Sinn –, ich kenne nur eine philosophische. Das theologische Element, das ja einen großen Teil meines Forschens und Berichtens bestimmt hat, ist in meinem Denken das Fundament, aber nicht als Derivat eines Überkommenen, wie grundwichtig mir dieses auch ist, und somit nicht als »Theologie«, sondern eben als die Glaubenserfahrung, der ich die Selbständigkeit meines Denkens verdanke. Ich bin nicht bloß an die philosophische Sprache, ich bin an die philosophische Methodik gebunden. Aber ich weiß auch nichts von einer »doppelten Wahrheit«. Meine Philosophie dient, ja, sie dient, aber nicht einer Folge offenbarter Sätze, sondern einem erfahrenen, einem wahrgenommenen Verhalt, den mitteilbar zu machen sie eingesetzt worden ist. Ein Theologumenon freilich hat sich dieser Philosophie einverleibt,
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wofern es nicht vielmehr als ein Religiosum anzusehen ist: der Name Gott wird hier im allgemeinen (bis auf unausweichliche Verknüpfungen) nicht durch einen Begriff ersetzt. Ich widerspreche zwar Heraklit nicht, der es, offenbar vom Gegenstand selber aus, für unzulässig hält nur »Zeus« zu sagen; aber ich habe ja keine Lehre vom Urgrund zu bieten, ich habe nur für jene Begegnung zu zeugen, in der alle Begegnungen mit anderm gründen, und begegnen kannst du dem Absoluten nicht. II. Gegen Vereinfachungen
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Es ist zunächst nötig, in einigen wesentlichen Punkten klarzustellen, was ich meine und was ich nicht meine. Zu diesem Zweck muß ich mancher Vereinfachung entgegentreten, die meine Befrager und Kritiker an dem von mir Gesagten vorgenommen haben. Die Frage, ob meine Auffassung durchaus innerhalb der Ich-Du-Erkenntnis liege 2 , wird damit begründet, daß ich, zumindest einmal, zumindest im Fall der Philosophie, diese und die Ich-Es-Erkenntnis als »erschöpfende Alternativen« bezeichne. Aber dem ist nicht so. Ich halte das menschliche »Innenleben« im allgemeinen, und innerhalb seiner das menschliche Denken insbesondere, keineswegs für ausschließlich aus Vorgängen der einen und der anderen Art zusammengesetzt. Was ich meine, ist, daß, wenn der Mensch sich zur »Welt« oder überhaupt zum Anderen stellt, wenn er eine »Haltung« einnimmt, wenn er »ein Grundwort spricht«, es entweder das eine oder das andere ist – und daß er dann entweder das eine oder das andere Ich aktualisiert. Aber ganz und gar nicht meine ich, daß das Leben des Menschen oder auch nur sein »Innenleben« eine Kontinuität solcher Haltungen, solchen »Sprechens«, solcher Aktualisierungen darstelle. Die Momente, in denen er ein Anderes als sich gegenüber seiend, als sich gegenwärtig sieht und sich eben so zu ihm verhält, und die Momente, in denen er alles andere rings um sich versammelt sieht und jeweils ein Ding oder Wesen, ohne sich um dessen integrale Selbständigkeit zu kümmern, herausholt, beobachtet, untersucht, verwendet, jene und diese mitsammen sind in die Dynamik des gelebten Lebens eingetan. Das Denken aber ist erst recht nicht in eine exklusive Dualität zu spannen. Es darf zwar, wie ich hervorgehoben habe 3 , nicht 2. 3.
Fackenheim 258. »Zwiesprache«, Abschnitt »Vom Denken« (»Die Schriften über das dialogische Prinzip«, 162 ff.).
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als ein Gespräch der Seele mit sich selber verstanden werden, es hat echtdialogische neben monologischen Momenten; im wirklichen Strom des Denkens jedoch ist ein großer Teilbestand keiner von beiden Sphären zuzuordnen, es ist noetische Bewegung von einer personhaften Begegnung her zu einer sachlichen Erkenntnis-Struktur hin, eine Bewegung, in der beide Grundworte gleichsam zusammenwirken. Das authentische Philosophieren stammt immer neu aus Fulgurationen des Du-Verhältnisses, die noch keinerlei »objektive« Erkenntnis gewähren. Nun vollzieht sich die Umsetzung in die gefügte Ordnung des Es, und am Ende mag, wenn ein rechter Werkmann am Werk war, der Quadernbau des Systems stehen. In der Tat, »Ich-Es findet seine Verdichtung und Verklärung in der philosophischen Erkenntnis«; aber das bedeutet keineswegs, daß diese nichts anderes als Ich-Es enthalte, nichts anderes als Ich-Es sei. Die feurige Spur der ursprünglichen Fulgurationen ist unauslöschlich, mag auch das an ein objektiviertes Seinsbild gewöhnte Auge sie unbeachtet lassen; dem eindringenden Genesis-Blick manifestiert jede kühne metaphysische Setzung ihren Ursprung in einer Begegnung der erkennenden Person mit einem Seinselement, das sich ihr in der Gestalt von ihr lebensmäßig Begegnendem kundtut. Deshalb ist es unrichtig danach zu fragen, ob die »Lehre vom Ich und Du« uneingeschränkt (without qualification) innerhalb der »Ich-Du-Erkenntnis« zu »klassifizieren« sei 4 . Eine festhaltbare, bewahrbare, sachlich zu übermittelnde Ich-Du-Erkenntnis gibt es überhaupt nicht. Das, was sich mir jeweils im Ich-Du-Verhältnis auftut, kann nur durch Transmission in die Es-Sphäre zu einer solchen Erkenntnis werden. So sorgsam wir in unserer Einsicht das Ich-Du-Verhältnis und das Ich-Es-Verhältnis voneinander abheben müssen, so irreführend wäre es, die Alternativik in die Betrachtung des philosophischen Denkens und seiner Ergebnisse vorzutreiben. Jede wesenhafte Erkenntnis ist in ihrem Ursprung Kontakt mit einem Seienden und in ihrer Vollendung Besitz eines Begriffsbestandes. Doch kommt noch etwas anderes, Besonderes hinzu. Das Thema, das hier dem erlebenden Denker diktiert worden ist, mein Thema, war nicht geeignet, zum umfassenden System ausgebaut zu werden. Es ging hier eben um die große Voraussetzung für den Anbeginn des Philosophierens und seinen Fortgang, um die Dualität der Grundworte. Es galt, auf diese Dualität hinzuzeigen. Obgleich sie der Grundverhalt im Leben jedes Menschen mit allem Seienden ist, achtete man ihrer kaum. Es mußte auf sie hingezeigt, sie mußte in den Grundfesten des Daseins aufgezeigt
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Fackenheim 258.
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werden. Eine vernachlässigte, verdunkelte Urwirklichkeit war sichtbar zu machen. Das Denken, das Lehren mußte von der Aufgabe des Zeigens bestimmt sein; nur was mit dem Zeigen des zu Zeigenden zusammenhing, war zulässig; nicht vom Sein war zu handeln, sondern einzig von dem menschlichen Doppelverhältnis zum Sein. Das Philosophieren mußte wesentlich ein anthropologisches sein; in seiner Mitte mußte, sich jeweils verdeutlichend, die Frage stehen, wie der Mensch möglich sei, eben die Frage, auf die die Wirklichkeit jenes Doppelverhältnisses unter der Voraussetzung der dem Menschen eigentümlichen Urdistanz die Antwort gibt. Ausblicke in das den Menschen Transzendierende waren gewährt, wo die Beziehung zu diesem zu klären war; aber die Tendenz zu einem die Situation des Menschen umgreifenden System konnte hier keinen Einlaß gewinnen. Dem, was ich zu sagen hatte, geziemte keine Systematik. Zusammenhang geziemte ihm, geschlossener Zusammenhang, aber kein zusammenschließender. Ich durfte nicht über meine Erfahrung hinauslangen und wünschte mir nie es zu dürfen. Ich zeuge für Erfahrung und appelliere an Erfahrung. Die Erfahrung, für die ich zeuge, ist naturgemäß eine begrenzte. Aber sie ist nicht als eine »subjektive« zu verstehen. Ich habe sie durch meinen Appell erprobt und erprobe sie immer neu. Ich sage zu dem, der mich hört: »Es ist deine Erfahrung. Besinne dich auf sie, und worauf du dich nicht besinnen kannst, wage, es als Erfahrung zu erlangen.« Wer aber sich ernstlich weigert, den nehme ich ernst. Er ist mir wichtig. Seine Weigerung ist mein Problem. Ich muß es immer wieder sagen: Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus. Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch. III. Mißverständnisse
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Aus der Verkennung von Absicht und Charakter meines Gedankenwerks und aus der Überpointierung von dem und jenem über das von mir Gesagte hinaus, aber anscheinend auch aus der noch nicht hinreichenden Deutlichkeit einiger Punkte haben sich Mißverständnisse ergeben, die ich vorweg klarstellen will, da es dann leichter sein wird, sich über dieses und jenes Fragen allgemeiner Art zu verständigen.
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1. Einer meiner Kritiker 5 schreibt: »Buber bemüht sich, die metaphysische Voraussetzung der Verbindung des konkreten Menschen mit dem Absoluten – wie er es formuliert – zu betonen und trotzdem die menschliche Existenz zu behandeln, wie sie in der Gegenseitigkeit des ›Zwischen‹ erfahrungsmäßig verwirklicht wird.« Daraus werden weitgehende Konsequenzen gezogen, in bezug auf angebliche Schwankungen, insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der Beziehung des Menschen zu Gott und seiner Beziehung zum Mitmenschen. Aber mir ist es gar nicht um eine metaphysische These zu tun gewesen, sondern um die einfache Feststellung, daß ich mit »Gott« nicht die höchste Idee, sondern den in keine Ideenpyramide als deren Spitze Einzufügenden meine, und daß demgemäß die Verbindung zwischen Gott und Mensch nicht über die Universalien, sondern über das konkrete Leben geht. Und hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der menschlichen Beziehung zu Gott und der zum Mitmenschen war und ist es mir einfach darum zu tun, daß die Beziehungen beider wesensgleich sind, weil beide die unmittelbare Hinwendung zu einem Du bedeuten und beide in aktualer Gegenseitigkeit ihre Erfüllung finden. Das »ontologische Problem«, welche der beiden Begegnungen »die primäre« sei, ist von meiner Grundanschauung aus überhaupt nicht zu stellen. Die menschliche Person ist ja ohne die Begegnungsmöglichkeit mit anderen Menschen recht wohl denkbar, aber ohne die mit Gott vermag ich sie nicht zu denken. Auf der Ebene der persönlichen Lebenserfahrung ist die Begegnung mit dem Menschen naturgemäß das Erste; man mache jedoch nur Ernst mit der Einsicht, daß die genetisch unableitbare Einzigkeit jedes Menschen den Anteil eines schöpferischen Aktes voraussetzt, und die Ursprünglichkeit des Kontakts zwischen Gott und Mensch ist offenbar. 2. Weitgehende Folgerungen werden 6 aus dem von mir in »Urdistanz und Beziehung« (1950) verwendeten Begriff einer Urdistanzierung gezogen. Dabei hat man zwar erwähnt, aber nicht genügend beachtet, daß ich die Urdistanz als elementare Voraussetzung aller menschlichen Beziehungen verstehe. Es ist mir lediglich um eine anthropologische Grundlegung der Dualität von Ich-Du und Ich-Es zu tun gewesen. Der Mensch, so habe ich angedeutet, ist das eigentümliche Lebewesen, das seiner Natur nach das ihn Umgebende nicht als etwas an ihm, an seinen vitalen Akten gleichsam Haftendes, mit ihnen Zusammengehöriges, sondern als etwas Abgerücktes, für sich Bestehendes wahrnimmt. Diese »erste Bewegung«, die einst den Menschen als solchen konstituiert hat, 5. 6.
Rotenstreich 95. Rotenstreich 98.
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ist keineswegs eine »reflektierende Haltung«, sie ist der Urakt, die Urhaltung des Menschen, die ihn zum Menschen macht. Sie ist auch die Voraussetzung für das In-Beziehungtreten des Menschen. Genauer: beides steht dem Menschen in seiner Urdistanz immer wieder zu: es steht ihm zu, das ihn Umgebende, auch das ihn Umlebende mitsammen in dessen Abgerücktheit zu belassen, als das ihm als sein Objekt Zugehörige, als Es, und es steht ihm zu, je und je, Mal für Mal, sich einem Seienden als seinem Gegenüber zuwendend, dieses Seiende wirklich meinend, mit ihm als mit seinem Du zu kommunizieren. Mit einer »reflektierenden Haltung« vermag ich diese Urbeschaffenheit des Menschen, ohne die es weder Sprache noch Werkzeug gäbe, nicht in Verbindung zu bringen. Der Mensch, sage ich, »ist das Wesen, durch dessen Sein das Seiende von ihm abgerückt wird«. Nicht durch Reflexionen, sondern durch das menschliche Sein. Daher ist es auch unzutreffend, im Faktum der Urdistanz eine reflektierende »Position eines Zuschauers« zu sehen. Dadurch, daß der Mensch seine Umgebung nicht mehr, wie das Tier, in der Sphäre der eigenen Körperlichkeit, sondern als ein anderes, in und aus sich Wesendes sieht, wird er nicht zum »Zuschauer«. Das andere geht auch ihn an, aber es ist nicht mehr bloß sein Junges oder sein Feind, es ist auch was es selber ist, es affiziert ihn nicht bloß, es ist auch, es ist »drüben«. Noch einmal, das ist nicht Reflexion, sondern die Wahrnehmungsweise, die den Menschen vom Tier unterscheidet. 3. Die Klärung wird erschwert dadurch, daß ein andermal 7 Reflexion und Erkannthaben geradezu gleichgesetzt werden. Aber wenn ich sage, daß aus dem Ich-Du-Verhältnis ein anderes Ich hervortritt als aus dem Ich-Es-Verhältnis, daß hier und hier sich ein verschiedenes Ich aktualisiert, so ist es zwar richtig, dies als »Selbstverwirklichung des Ich durch sein Innewerden« zu verstehen; aber es ist unzulässig fortzufahren, das Ich sei also »wegen des in dieser Reflexion verwurzelten inneren Zentrums seiner Existenz auch ein Selbst«. Das hervortretende Ich wird sich seiner selbst bewußt, aber ohne reflektierend sich zum Gegenstand zu werden; die genaue Unterscheidung zwischen dem ersten, »aufblitzenden« Selbstbewußtsein und dem zweiten, »erarbeiteten« ist ja grundwichtig. Aber auch das erste Hervortreten des Ich kann ich nicht als Existenz-Zentrum betrachten. Es ist nur die Sphäre um das Zentrum, nicht dieses selbst. Die Reflexion aber möchte ich dem Spiel eines Scheinwerfers vergleichen, der die Sphäre bestrahlt. Ohne sie würde es das uns be-
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Rotenstreich 110/111.
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kannte Menschenwesen nicht geben; zu seinem Urphänomen gehört sie nicht. Die Behauptung 8 eines »Schwankens« zwischen dem Primat der Beziehung und dem des Ich hängt mit diesem Mißverständnis zusammen. Natürlich ist das Vorhandensein von Personen nötig, damit eine personale Begegnung sich ereignen könne; aber der Grad der Ausbildung des Ich-Bewußtseins oder gar der Grad von dessen reflexionsmäßiger Ausarbeitung ist für die Personhaftigkeit dieser Personen kein wesentliches Moment. Ich sehe, daß Sokrates reflektiert, ich sehe nicht, daß Franziskus es täte; beider Beziehungen zu diesem und jenem Schüler sind echt personhafte. 4. Hier sei ein nur scheinbar episodischer Beitrag zur Psychologie der Mißverständnisse eingeschaltet. Ich sage, wo eine Situation einen antrete, da sei es nicht an der Zeit, in einem Wörterbuch nachzuschlagen. Das Bild sollte doch wohl jedem klar sein: im Angesicht der jetzt erscheinenden Situation – nehmen wir zur Verdeutlichung an: einer unvorhergesehenen und unvorhersehbaren Situation – habe ich nicht zu überlegen, welchem Allgemeinbegriff diese Situation zu subsumieren und welches Prinzip somit auf sie anzuwenden sei, sondern es liegt mir ob, mich dieser »neuen« Situation zu stellen, selbstverständlich: mich mit allem, was ich bin und was ich weiß, ihr zu stellen, und sie im Maße meines Könnens zu bewältigen, also das ihr Angemessene zu tun, ihr zu entgegnen. Meine Verwendung des Gleichnisses eines Wörterbuchs wird nun von meinem Kritiker 9 folgendermaßen verstanden: »Nicht zufällig betont Buber die Überwindung sprachlichen Ausdrucks, weil in einem sprachlichen Ausdruck etwas ist, das sich auf einen tatsächlich übermittelten Kraftspeicher von Inhalten bezieht.« Die Meinung, die mir zugeschrieben wird, ist der meinen geradezu entgegengesetzt. Einerseits liegt mir nichts so fern als »den sprachlichen Ausdruck überwinden« zu wollen; nichts hilft mir so den Menschen und sein Dasein verstehen wie die Sprache, und auch über das Menschliche hinaus vermittelt mir gerade ihre sinnliche Konkretheit täglich neue und überraschende Einsichten. Anderseits aber ist es für mich von höchster Wichtigkeit, daß der Dialog einen Gehalt habe; nur daß dieser Gehalt um so wichtiger ist, je konkreter, je konkretisierender er ist, je mehr er dem Einmaligen, dem sich Ereignenden, dem Gestalthaften gerecht wird und auch das Geistigste ihm einzuverleiben vermag, nicht metaphorisch sondern realiter, weil der Geist den Leib sucht und sich von der Sprache helfen läßt ihn zu finden. 8. 9.
Rotenstreich 113. Rotenstreich 114.
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Diese große Konkretheit ist aber nicht dem isolierten Wort im Wörterbuch eigen, wo die Sprache uns nur ihre generelle Seite, ihre Verwendbarkeit zeigt, sondern dem Wort in seinem lebendigen Kontext, im Kontext des echten Gesprächs, des echten Gedichts, des echten Gebets, der echten Philosophie; da erst erschließt es uns das Einmalige. Darum habe ich es mit dem Nachschlagen in einem Wörterbuch verglichen, wenn einer, statt der Situation standzuhalten, ihr ins Allgemeine, ins Prinzipielle ausweicht. Aus diesem Mißverständnis 10 werden nun recht weitgehende Folgerungen gezogen. Es wird gefolgert, in dem von mir gemeinten Dialog gebe es zwar einen Geber und einen Empfänger, aber »nichts, was als Inhaltsbereich gegeben oder empfangen wird«, denn ein solcher würde eine »Schranke« errichten, durch die die Unmittelbarkeit zwischen den beiden Partnern aufgehoben würde. Aber das meine ich durchaus nicht, und die zur Bekräftigung herangezogenen Zitate bedeuten etwas anderes. Nicht daß nichts gegeben und empfangen wird, ist was ich meine, sondern daß die im Dialog zwischen Mensch und Mensch gegebenen und empfangenen Gehalte so vielfältig sind, daß wer vom Wesen des Dialogs als eines Grundverhältnisses menschlichen Daseins handelt, sie nicht berücksichtigen kann. Natürlich lassen sich die Gehalte in allgemeine, allgemein gültige und allgemein verbindliche Sätze übertragen; aber dabei geht das eigentliche, das seinem Charakter nach Einmalige verloren. Diese Gehalte sind nicht kodifizierbar. Von dem Gespräch Gottes mit dem Menschen aber ist zu sagen, daß sogar die alleruniversalsten Gebote in Gesprächen Gottes mit den einzelnen Personen ungeahnte Interpretationen gewinnen: die Situation liefert die Interpretation. Es bedarf aber der Interpretationen, weil die Geschichte wirklich und Gott der Gott der Geschichte ist. 5. Sehr verschieden davon ist ein anderes Mißverständnis. Man führt 11 meinen Satz an, das Ich werde am Du, und folgert: also verdanke ich meinen Platz meinem Partner. Nein; sondern der Beziehung zu ihm. Nur in der Beziehung ist er mein Du, außerhalb der Beziehung zwischen uns existiert dieses Du nicht. Es ist somit falsch zu sagen, die Begegnung sei umkehrbar. Weder ist mein Du identisch mit dem Ich des Andern noch dessen Du mit meinem Ich. Der Person des Andern verdanke ich, daß ich dieses Du habe; aber mein Ich – worunter hier das Ich des IchDu-Verhältnisses zu verstehen ist – verdanke ich dem Dusagen, nicht der Person, zu der ich Du sage. 10. Rotenstreich 114. 11. Levinas 131.
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6. Von besonderer Art ist ein anderes Mißverständnis. Ich habe die Verantwortung, die der Vernunft gegenüber, einer Idee gegenüber, usw. geübt wird, als fiktiv bezeichnet. Daraus schließt mein Kritiker 12, also werde von mir »der Bereich der Vernunft, der Ideen etc. … als fiktiv angesehen«. Der Schluß ist falsch. Die Verantwortung vor einer Idee ist fiktiv, weil die Idee mich nicht zur Verantwortung ziehen kann, weil sie nicht entscheiden kann, ob meine Verantwortung zu Recht oder zu Unrecht besteht. Ich verlange einem Begriff wie Verantwortung seinen ursprünglichen konkreten Sinn ab, ich gebe nicht zu, daß ihm ermöglicht werde, sich unterm Schutz einer Philosophie in die Innerlichkeit zu verflüchtigen. Aber dadurch, daß die Verantwortung vor einer Idee sich als fiktiv erweist, wird die Idee nicht zur Fiktion. Die Idee ist nur eben keine lebendige personhafte Instanz, die zu Gericht fordert und richtet; über ihre Wirklichkeit oder Unwirklichkeit ist damit nichts ausgesagt. Ich halte die Idee des ewigen Friedens nicht für fiktiv; wer mir aber sagt, er verantworte sich vor ihr, ist ein Schwärmer oder ein Phrasendrescher. Es hat wohl einen Sinn, zu erklären, man sei dem eigenen Gewissen gegenüber verantwortlich, denn in der Seele der menschlichen Person kann sich je und je ein wirkliches Tribunal auftun, und da ist dann, mit geheimnisvoller Macht bekleidet, ein Richtendes und Urteil-fällendes, das zuweilen den ganzen weiteren Lebensgang der Person zu bestimmen vermag, und hier geht es, obgleich alles »innerlich« geschieht, höchst real zu; aber einer Auseinandersetzung zwischen einer Person und »der Vernunft« kann ich diesen Realitätscharakter nicht zuerkennen. 7. Schwerer irreführend wird das Mißverstehen, wenn es an den theologischen Bereich rührt, zumal es hier mitunter zu bedenklichen Entstellungen meiner Anschauung führt. Ich habe mehrfach darauf hingewiesen, daß ich die Ereignisse göttlicher Offenbarung, an die ich glaube, nicht dahin verstehen kann, daß sich ein göttlicher Inhalt in ein leeres menschliches Gefäß gieße. Die tatsächliche Offenbarung bedeutet mir die Brechung des ewigen göttlichen Lichtes in der menschlichen Vielfältigkeit, d. h. die Brechung der Einheit im Widerspruch. Ich kenne keine andere Offenbarung als die der Begegnung von Göttlichem und Menschlichem, an der das Menschliche ebenso teilhat wie das Göttliche. Das Göttliche erscheint mir als ein Feuer, das das menschliche Erz umschmilzt, aber was sich ergibt, ist nicht von der Art des Feuers. Ich kann daher nichts, was direkt oder indirekt –
12. Rotenstreich 116.
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d. h. durch mündliche oder schriftliche Tradition – aus der tatsächlichen Offenbarung hervorgeht, sei es Wort oder Brauch oder Institution, schlechthin, so wie wir es besitzen, als von Gott gesprochen oder von Gott eingesetzt verstehen. Mit anderen Worten: ich besitze keine Sicherung gegen die Notwendigkeit, in Furcht und Zittern zu leben; ich habe nichts als die Gewißheit, daß wir an der Offenbarung teilhaben. Aus dieser meiner Anschauung, die ich immer wieder in aller Klarheit ausgesprochen habe, leitet mein Kritiker 13 die Legitimation ab zu fragen, erstens, warum eines Menschen »eigenes Umlauten der Offenbarung« für ihn bindend sei, und zweitens, ob denn diese »Modifizierung« nicht »unsere eigene Erfindung« sei. Man sieht, mein Kritiker redet nicht mehr von dem Menschen, von dem ich gesprochen habe, nämlich von dem Träger einer großen geschichtlichen Offenbarung, sondern von jedem von uns, ohne diesen Sprung irgendwie zu motivieren. Er ist nicht zu motivieren. Die erste der beiden Fragen beruht auf einem krassen Mißverständnis. An eine »Modifikation« durch menschliches Handeln habe ich, wo von dem ursprünglichen Bereich des Offenbarungsempfangs die Rede war, niemals gedacht. Moses modifiziert nicht; er spricht aus, was ihm als in der Offenbarung empfangen bewußt ist. Wie könnte er daran denken, in dem, was ihn hier als empfangene Sendung erfüllt, zwischen Himmlischem und Irdischem zu scheiden! Er ist ergriffen worden, wie er war, und was ihn damals als ein Streben erfüllt hatte, ist mit erfaßt und verwandelt worden, er erkennt es nicht wieder. Und das wird nun, glattweg auf jeden von uns übertragen, als »Modifizierung« behandelt! In der zweiten Frage ist aus der Modifikation schon eine »Erfindung« geworden. Wie kann, so wird gefragt, Offenbarung uns binden, wenn sie »das Ergebnis unserer eigenen Erfindung« ist? Aber, wie gesagt, nichts ist hier Erfindung. Offenbarung, geschichtliche Offenbarung, kann uns binden, weil das Göttliche an ihr Anteil hat. Was jedoch bedeutet diese Bindung? Ein uneingeschränkt offenbarungsgläubiger Mensch mag getrost einem überlieferten Kodex, der sich auf Gottes Wort beruft, restlos folgen, weil die Anteile des Himmels und der Erde nicht objektiv abzumessen sind. Und ein anderer offenbarungsgläubiger Mensch, der von der Allzumenschlichkeit des menschlichen Anteils gepeinigt wird, und dem es widerstrebt, menschliche Vorschriften als göttliche Gebote zu befolgen, mag keinen anderen Ausweg finden als die eigene Seele offen dem ganzen überlieferten Sollen und Nichtsollen hinzuhalten, um in Ermanglung objektiver Kriterien an der eigenen Subjektivität redlich zu erpro13. Fox 140.
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ben, was er als ihm von Gott geboten und verboten anzuerkennen vermag und was nicht. Das ist das Los des »Bettlers« 14 . 8. Damit hängt ein anderes sonderbares Mißverständnis zusammen 15 . »Keine Handlung kann richtig sein, lehrt Buber, es sei denn, sie entstehe aus unserer Bindung zu Gott.« Wo lehre ich das? Wenn ich es lehrte, müßte ich ja der Meinung sein, ein Mensch, der nicht an Gott glaubt (oder wähnt, er glaube nicht an ihn), könne nicht sittlich handeln. Ich bin aber keineswegs dieser Meinung. Als einzigen Beleg dafür aus meinen Schriften zitiert mein Kritiker eine Rede über »Lehre und Tat«, die ich 1934 in dem damals von mir geleiteten Freien jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main gehalten habe. Aber diese Rede handelt überhaupt nicht von dem Verhältnis zwischen Religion und Moral, ihr Gegenstand ist durchaus kein so allgemeiner: sie handelt, im Anschluß an eine bekannte talmudische Kontroverse, ausschließlich von dem Verhältnis zwischen Lehre und Tat innerhalb des gläubigen Judentums; die Lebensbeziehung Israels zu Gott wird hier schlechthin vorausgesetzt, und von da aus wird gesagt, das wahre Leben sei im Bund mit Gott begründet. Aus dem organischen Zusammenhang gerissen, als allgemeine These über das Verhältnis von Religion und Moral mißverstanden, muß der Satz weiter Mißverstehen hervorrufen, mit Ausnahme jener Leser, die sich etwa an ihn in seinem ursprünglichen Zusammenhang erinnern, und jener, die ihn nachlesen. Was ich aber allgemein über das Verhältnis zwischen Religion und Ethik meine, ist in voller Deutlichkeit in dem »Religion und Ethik« betitelten Abschnitt meines Buches »Gottesfinsternis« – aus dem mein Kritiker eine andere Stelle anführt – ausgesprochen: »Nur aus der persönlichen Beziehung zum Absoluten geht die Absolutheit der ethischen Koordination hervor.« Das heißt: die ethische Tat ist auch der sich als gottlos verstehenden Autonomie zugänglich, aber in ein ethisches »Koordinatensystem« von absolutem Charakter und absoluter Gültigkeit kann nur die Tat eingereiht werden, die aus der Beziehung zum Absoluten herrührt und in dieser Beziehung getan wird. Dazu soll nun meine angebliche Lehre im Gegensatz stehen 16 , daß jede menschliche Person Richter darüber sei, was sie tun solle. Das habe ich aber nicht gelehrt und lehre ich nicht. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich die Entscheidung eines in keiner Tradition voll gesicherten Menschen in einer bestimmten Situation seines Lebens nicht für eine 14. Vgl. meine Rede »Der heilige Weg« von 1918 (in »Reden über das Judentum«, Gesamtausgabe 1923). 15. Fox 142. 16. Fox 143.
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in sich gültige Entscheidung über das, was in dieser Situation recht und unrecht ist, halten kann, daß meiner Anschauung nach er vielmehr sich in jedem Augenblick als dem Gerichte Gottes unterstehend wissen muß. Von den einschlägigen Stellen meiner Schriften sei nur die letztveröffentlichte hier zitiert 17 : »Beide, der menschliche Glaube nicht minder als das menschliche Gewissen, können irren und irren immer wieder; und beide, das Gewissen nicht minder als der Glaube, müssen sich, um dieses ihr Irren wissend, der Gnade anheimgeben.« IV. Einiges Allgemeine Meine Befrager und Kritiker haben mir einige Etiketten angeklebt. Ich möchte dazu beitragen, daß sie, gleichviel ob sie tadelnd oder lobend gemeint sind, abgerissen werden. Darum gebe ich hier, soweit ich sie nicht schon oben implicite behandelt habe, eine Auslese davon mit meinen Klarstellungsversuchen. 1. Ich beginne mit einer Frage, die sich mit meiner Sprache befaßt 18 . Es heißt, sie sei, wo sie an die Transzendenz rühre, voller paradoxer Formeln, und das wird damit erklärt, sie müsse, da sie auf die gelebte und nicht auf die gedachte Begegnung mit Gott hinzuweisen habe, »sich so nah wie möglich an die Bibelsprache halten«. Das letztere stimmt ganz und gar nicht; wenn ich meine Sprache zu wählen gehabt hätte, würde ich am allerwenigsten eine der biblischen ähnelnde gewählt haben, denn wer von den Menschen unseres Zeitalters es gewagt hat, den Stil der Propheten in Pacht zu nehmen, hat ihn – wie am deutlichsten Nietzsches »Zarathustra« dem heutigen Leser kundtut – in eine wirkungsvolle Pathetik verwandelt. Nun, ich brauchte ja glücklicherweise meine Sprache nicht zu wählen; das, was zu sagen war, hat sie gemacht wie der Baum seine Rinde macht. Das, was zu sagen gewesen ist, war, wie ich in diesen Antworten schon dargelegt habe, ein Hinweis, ein Hinzeigen auf Wirklichkeit. Wenn eines Menschen Sprache Wirklichkeit, verdunkelte Wirklichkeit zeigen, aufzeigen will, wird sie, so wie sie an die Wirklichkeit zwischen uns und Gott rührt, den paradoxen Ausdruck nicht scheuen dürfen. Der in drei Jahrtausenden geschmiedeten Logik unterwirft sich die gelebte Wirklichkeit der Begegnung nicht; wo die complexio oppositorum waltet, verstummt der Satz vom Widerspruch. 17. »Schuld und Schuldgefühle« (1958), S. 68. 18. Diamond 209 ff.
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Warum, so wird gefragt, besteht Buber darauf, »daß paradoxale Ausdrücke, die auch zum Rüstzeug des Menschen gehören, Gott weniger begrenzen als ontologische Begriffe«? Gott wird durch jedes Wort eingeschränkt, das ihn nicht zum Empfänger, sondern zum Gegenstand hat; nicht von Gott, sondern von der Begegnung reden wir. Der Begegnung gegenüber aber verhält es sich so, daß die »paradoxalen« Ausdrücke ihre unvergleichliche, unsubsumierbare Einmaligkeit respektieren, die durchlogisierten nicht. 2. Man hat mir mit einer gewissen Berechtigung vorgeworfen 19 , daß ich mitunter Anleihen bei der psychologischen Terminologie gemacht habe, ebenso wie bei der erkenntnistheoretischen. Ich zögere nicht zu bekennen, daß ich es aus Not getan habe. Ich wollte nur eben, ohne eine neue und das konkrete Verständnis notwendig erschwerende Terminologie herzustellen, unzweideutig zum Ausdruck bringen, daß die Begegnung zwar »von Gnaden« geschieht, daß sie sich aber nicht der menschlichen Person antut, sondern in ihr präformiert ist, daß der Mensch nicht bloß begegnungswillig, sondern auch begegnungsfähig ist, – und daß nur eben das Maß seiner Bereitschaft, in die Begegnung mit dem ganzen Wesen einzutreten, sehr oft seiner latenten Willigkeit und Fähigkeit nicht gewachsen ist. Ich habe zuweilen mein eigener Interpret sein müssen; daher die borgenden Übergriffe. 3. Es sei noch einmal betont, daß in alledem mehr die Erfordernisse des Dienstes als eine freie Absicht gewaltet haben. Ich kann das Lob 20 einer »Sicherheit der Linienführung die nichts dem Zufall überläßt, nicht einmal das Werdespiel des Lebens« nicht uneingeschränkt annehmen: vom »Zufall« habe ich mich in dieser Arbeit freilich nicht leiten lassen, wohl aber je und je von der Aufgabe, die mich in der Mitte des Lebens überkommen hatte und nicht mehr losließ. Die »Sicherheit« bestand im Gebot der Aufgabe allein. 4. Eine Verkennung meiner Stellung zu meiner Sache ist es, wenn man in meiner Philosophie einen »kosmistischen Optimismus« erblickt 21 , womit meine Anschauung von Ursprung und Zukunft des Kosmos und innerhalb davon denen des Menschen gemeint ist. Ich habe aber von beiden schlechthin keine philosophische Anschauung, und ich habe nie versucht, über Anfang oder Ende oder dergleichen zu philosophieren. Ich habe in diesen Dingen nichts als meinen Glauben einzusetzen, und 19. Rotenstreich 91-92. 20. Balthasar 330. 21. Rotenstreich 107.
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mein Glaube an die Sinnhaftigkeit der Schöpfung und an den Ziel-Charakter ihrer Vollendung scheint mir jenseits von Optimismus und Pessimismus zu bestehen. Noch einmal: ich philosophiere nicht mehr als ich muß. 5. Meine »Skepsis« oder »Reserve« den philosophischen Systemen gegenüber wird von einzelnen meiner Kritiker der Nachwirkung der »Lebensphilosophie« zugeschrieben 22 , von der mir überhaupt mehr anhaften soll als ich ahne. Über diese Frage der Systeme habe ich schon in meiner Jugend meinem Lehrer Wilhelm Dilthey in seinem Seminar zu widersprechen gewagt. Er wollte seinen Schülern die Geschichte der Philosophie gerade als einen Weg zu immer klarerer Erkenntnis darstellen, wogegen ich, natürlich in jugendlich unreifem Ausdruck, sie nur als eine Pluralität von Aspekten des Seins verstand, von denen jeder freilich – müßte ich heute hinzufügen – die vor ihm in die Erscheinung getretenen voraussetzt, so daß hier doch ein Weg sichtbar werden kann, nur eben nicht einer, der den wandernden Geist zum Ziel einer zulänglichen Erkenntnis brächte, sondern ein »Höhenweg«, der von einem Gipfel mitsamt all seiner Schau zum nächsten führt und so fort. Jene meine Auffassung hing damals nicht bloß mit lebensphilosophischen, sondern auch mit ästhetistischen Neigungen zusammen. Die letzteren waren mir schon 1915 ausgetrieben; drei Jahre später fand ich bei einer Selbstprüfung, die meiner Erinnerung nach tiefer griff als die Untersuchung dieses Punktes durch meine Kritiker, auch von der Lebensphilosophie fast nichts mehr vor. Heute erscheint mir jene Konzeption, »das Leben« genannt, als eine bedenkliche Abstraktion, um so bedenklicher, als sie dem Konkreten besonders nahe zu bleiben vorgab. Meine Bedenken gegen die »abstrakte Haltung« werden von meinem Kritiker 23 in Zusammenhang mit dem Intuitionismus gebracht, mit dem ich angeblich »eng verbunden« sei. Das wundert mich. Ich habe in meinem Bergson-Aufsatz (von 1943) mit aller erwünschten Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, daß ich der Intuition keinerlei adäquate Erkenntnis zuzubilligen vermag: ihre Schau sei »beschränkt wie alle unsere Wahrnehmung ist«. Aber auch von dem Ich-Du-Verhältnis meine ich keineswegs, daß es adäquate Erkenntnis biete. Es kann uns zu einem echten Kontakt mit dem Sein des Anderen verhelfen, aber nicht zu einer objektiv gültigen Erkenntnis dieses Seins. Das Sein des Anderen können wir in der Begegnung erreichen, und dann kommunizieren wir nicht mit einer Erschei22. Rotenstreich 102. 23. Rotenstreich 102.
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nung, sondern mit ihm selber. Sofern wir aber auch dann noch eine Kenntnis des Verhüllten suchen, versagt es sich. 6. Schwerer als all dies würde ich den Vorwurf eines »Schaukelspiels zwischen Theologie und Religionsphilosophie« 24 nehmen, wenn ich den Exklusivitätsanspruch der Theologie, wenn ich die strenge Scheidung zwischen diesen Kategorien anzuerkennen vermöchte. Das aber vermag ich nicht. Die Kategorien selber sind vor meinen Augen ins Schaukeln geraten, und sie werden nicht anzuhalten sein. Ehre denen, die noch heute mit all ihrer Kraft sich an den starken Ast einer Offenbarung binden; ich habe ihren Weg nicht gehen können. Ich treibe keine Theologie als Theologie und keine Religionsphilosophie als Religionsphilosophie. Wo ich aus Urgründen schöpfen darf, die sich mir als dem, der ich bin, aufgetan haben, muß ich mich dazu bekennen; wo ich auf die Betrachtung von Konstellationen außerhalb meiner angewiesen bin, steht es mir nicht zu, mich zu benehmen, als hätte ich Umgang von Innen mit Innen. Sonderlich der Plural der Religionen ist in all seiner Realität (also nicht bloß historisch, psychologisch usw.) und doch nicht wie der Singular des Glaubens zu behandeln. Heißt es noch Religionsphilosophie, wenn ich Gottes selbsteignes Verhältnis zu den Religionen mir in all seinem furchtbaren Ernst zugesprochen sein lasse? Heißt es noch Theologie, wenn mir innerhalb meiner mir singularisch anvertrauten Religion zu scheiden not tut zwischen dem, was ich in der Verantwortung des Glaubens glaube, und dem, was ich eben in ihr nicht glaube? Wenn ich einen mir heiligen Text zu interpretieren habe, ist meine Methode die der hohen Philologie und keine andere; ich kenne keine »pneumatische« Exegese. Als atypisch habe ich mich einst zum Dienst gemeldet, und eben solchermaßen übe ich ihn nach Kräften. 7. Leicht wiegt es diesem gegenüber, daß meiner Philosophie das postulative Element vorgehalten wird, das darin zu finden sei 25 . Was man bei mir so nennt, hat mit dem »Postulativen«, das ich an Feuerbachs Philosophie vermerkt hatte 26 , nichts gemein. An Feuerbach finde ich im kritischen Sinn postulativ, daß er aus Ich und Du Gott machen möchte, wie nach ihm Nietzsche aus dem geforderten künftigen Menschen. Das ist eine postulative Mystik, die sich nicht als solche bekennt. Mein »Postulieren«, das ich keineswegs bestreite, ist wesentlich anderer Art, es ist ein situationsmäßiges und aktuales. In einer Zeit, in der das Ich-Du-Verhältnis so verdunkelt, so verschmäht ist wie heute, postuliere ich sein Aufstrahlen. 24. Balthasar 339. 25. Rotenstreich 113. 26. »Die Schriften über das dialogische Prinzip«, 305.
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Damit hängt es zusammen, was Rosenzweig, den Ernst Simon zitiert 27 , an dem Buch »Ich und Du« aussetzte: daß es dem Es nicht gerecht werde. In der Tat, es wird ihm nicht gerecht: weil ich in diese Situation des Menschen hinein geboren bin und sehe, was ich sehe, und zeigen muß, was ich gesehen habe. In einer anderen Stunde wäre es mir vermutlich gestattet gewesen, den Ruhm des Es zu verkünden; heute nicht: weil ohne eine Wendung des Menschen zu seinem Du keine Wende seines Schicksals kommen kann. 8. Die Bezichtigung eines »metaphysischen Impressionismus« 28 will ich ohne Entgegnung hinnehmen, obgleich der einzige Beleg dafür, die Verbindung der Gegenwart (present) mit der Gegenwärtigkeit (presence), nicht besagen will, es gebe im Menschenleben keine Kontinuität, sondern nur, es gebe keine »erfüllte« Gegenwart ohne Du. Da ich eine metaphysische Ganzheit nie zu fassen und demgemäß ein metaphysisches System nicht zu bauen bekommen habe, habe ich an Impressionen Genüge finden müssen. Dagegen muß ich das Lob des Dogmatikers, ein Dogmatiker zu sein 29 , ablehnen. Ich habe, dafür sei Gott gedankt, an keiner Einsicht meines Glaubens die Versteifung zum Glaubenssatz erleben müssen. Zion, das als Beleg angeführt wird, ist eine Verheißung und eine Forderung zugleich, Forderung nicht ohne Verheißung, aber auch Verheißung nicht ohne Forderung; zu einem Dogma ist es mir nie geworden. Ich glaube trotz allem an Zion, aber Zion bedeutet mir keine göttliche Bürgschaft, sondern eine gottgegebene Chance. V. Ich und Du
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Was ich mit der Ich-Du-Beziehung meine und was ich nicht damit meine, darüber ist noch – über das in den vorhergehenden Abschnitten hierzu Gesagte hinaus – einige Klärung erwünscht. 1. Es wird gefragt 30 , ob der deutsche Terminus »Beziehung« (der durch das englische »relationship« eingermaßen wiedergegeben wird), insbesondre aber der französische »relation« dem Gemeinten, zu dessen Wesen die Diskontinuität eminent gehört, entspreche. Die Frage besteht zu Recht, und es ist wohl zu verstehen, daß man den Terminus »Begeg27. 28. 29. 30.
Simon 502/503. Rotenstreich 116. Balthasar 340. Marcel 38.
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nung« für angemessener halten möchte. Aber »Begegnung« bedeutet etwas nur Aktuales; wer mit einem andern, dem er begegnet ist, länger zusammen verweilt, der ist ihm eben vor dem begegnet, aber dieser Vorgang ist vergangen, jetzt begegnet er ihm nicht mehr. Der Begriff der Beziehung hingegen eröffnet die Möglichkeit – nur die Möglichkeit, diese aber eben doch – der Latenz. Zwei Freunde, zwei Liebende müssen es zwar immer wieder erfahren, wie das Ich-Du von einem Ich-Er oder IchSie abgelöst wird; aber ist es nicht oft, als ob das in diesem Augenblick flügellahme Vöglein insgeheim seine Schwingen versuchte? Und manifestiert sich nicht zuweilen zwischen den Du-Momenten ein unfaßbarer, ein gleichsam vibrierender Zusammenhang? Vollends im Verhältnis des wahrhaft Gläubigen zu Gott ist das latente Du unverkennbar; auch wenn er sich nicht mit eingesammelter Seele ihm zuzuwenden vermag, ist ihm Gottes Gegenwart, die des ewigen Du urwirklich. Den Mangel an einer zulänglichen Bezeichnung kann man nur dadurch zu überwinden suchen, daß man neben dem »Skelettwort« Beziehung je nach dem Kontext andere, zugleich konkretere und eingeschränktere Termini, wie Begegnung, Kontakt, Kommunikation verwendet; ersetzt kann jenes durch keins von ihnen werden. Widersprechen muß ich aber der Meinung 31 , die Sprache selber verwandle das Du in ein Es. »Wenn ich von dir spreche«, sagt Gabriel Marcel, »selbst wenn ich ausdrücklich erkläre, daß du keine Sache, daß du das Gegenteil einer Sache bist, so beschränke ich dich unwillkürlich auf den Zustand einer Sache«. Ich sehe nicht ein, daß dem so sei. Wenn man den der natürlichen Sprache fremden Ausdruck »das Du« gebraucht, meint man ja gar nicht den wirklichen Menschen, zu dem ich Du sage, sondern das dabei verwendete Wort; das ist nicht anders, wie wenn man den Ausdruck »das Ich« gebraucht. Sage ich aber wirklich »Du«, so meine ich damit ebensowenig eine Sache, wie wenn ich zu mir »Ich« sage. 2. Man beanstandet 32 meinen Satz »Im Anfang war die Beziehung«; im Ursprung, so wird gesagt, stehe vielmehr »eine gewisse empfundene Einheit«, die sodann in ein »Ganzes aus ineinandergreifenden Ausdrücken zerfalle«. Ich habe in dem Abschnitt meines Buches »Ich und Du«, der mit jenem Satz beginnt, vom »Anfang« in einem ganz bestimmten phylogenetischen Sinn gesprochen: ich habe darauf hingewiesen, wie der sprachlichen Bezeichnung einzelner, voneinander gesonderter Wesen sogenannte Holophrasen, Satzworte, vorausgehen, in denen sich Beziehungen zwischen Wesen ausdrücken – natürlich höchst primitive Beziehun31. Marcel 38. 32. Marcel 38.
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gen, nicht solche zwischen einem als solches gewußten Ich und einem als solches gewußten Du – und durch deren Zerlegung erst die Wesenbezeichnungen hervorgetreten sind. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Vorstellung einer Beziehung zwischen Mensch und Mond der Vorstellung des für sich bestehenden Mondes vorausgegangen ist usw. Solche Urbeziehungen habe ich als Vorstadien unserer Ich-Du-Beziehungen dargestellt, die erst aus der Auseinanderlegung der »vitalen Urworte« entstehen konnten. Diese Auffassung scheint mir nicht widerlegt worden zu sein. Heute erscheint mir übrigens jene Verwendung des Ausdrucks »Im Anfang« nicht exakt genug; sie ist zu assoziationsreich. Damals habe ich, was ich schrieb, in einer unwiderstehlichen Begeisterung geschrieben. Und was solche Begeisterung einem eingab, darf man nicht mehr ändern, auch nicht um der Exaktheit willen. Denn man kann nur ermessen, was man gewänne, nicht aber, was verlorenginge. 3. Die von mir in einer späteren Phase meiner Arbeit eingeführte Kategorie des Zwischen ist verschiedentlich 33 in Frage gestellt worden. Das habe ich vorausgesehen, aber ich konnte die Einführung nicht vermeiden. Sie steht ganz im Ungewohnten und wird wohl noch eine gute Weile im Ungewohnten verbleiben müssen; aber ich glaube nicht, daß der Menschengeist sie auf die Dauer entbehren kann. Ich gehe von einer einfachen realen Situation aus: zwei Menschen sind in einem echten Gespräch begriffen. Ich will den Tatbestand dieser Situation aufnehmen. Es erweist sich, daß die geläufigen Kategorien dafür nicht ausreichen. Ich verzeichne: erstens die »physischen« Phänomene der beiden redenden und sich gebärdenden Menschen, zweitens die »psychischen« Phänomene dessen, was dabei »in ihnen« vorgeht; aber das sinnhafte Gespräch selbst, das zwischen den beiden Menschen vor sich geht, in das sich die akustischen und optischen Vorgänge fügen, das aus den Seelen hervorgeht und sich in ihnen spiegelt, ist unverzeichnet geblieben. Was ist seine Art, was ist sein Ort? Meine Bestandaufnahme kommt ohne die Kategorie, die ich das Zwischen nenne, nicht aus. Marcel hat recht: ich kann sie in einer »arithmetischen oder geometrischen« Sprache nicht definieren. Geheimnisvoll (mystérieux), wie er sagt, erscheint sie doch wohl nur deshalb, weil man sich um sie bisher nicht gekümmert hat. Mir erscheint sie seit geraumer Zeit nicht geheimnisvoller als die Zweiheit von Psychischem und Physischem oder die unzugängliche, nicht mehr phänomenale Einheit, die hinter der Zweiheit steht. 33. Wheelwright 84, Marcel 39.
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4. Und nun werde ich von meinen Befragern vor das große Problem der Mutualität gestellt 34 . Da ich in den drei Jahrzehnten, seit das Buch »Ich und Du« zuerst erschien, viele Fragen um eben dieses Problem empfangen habe, habe ich in einem Nachwort zu einer neuen Ausgabe dieses Buches 35 einiges zu klären versucht und gebe diese Abschnitte nachstehend wieder.
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Die erste Frage läßt sich mit einiger Präzision etwa so formulieren: Wenn wir, wie in dem Buche gesagt ist, nicht bloß zu anderen Menschen, sondern auch zu Wesen und Dingen, die uns in der Natur entgegentreten, im Ich-Du-Verhältnis stehen können, was ist es, das den eigentlichen Unterschied zwischen jenen und diesen ausmacht? Oder, noch genauer: wenn das Ich-Du-Verhältnis eine beide, das Ich und das Du, faktisch umfangende Wechselseitigkeit bedingt, wie darf die Beziehung zu Naturhaftem als ein solches Verhältnis verstanden werden? Noch exakter: wenn wir annehmen sollen, daß auch Wesen und Dinge der Natur, denen wir als unserem Du begegnen, uns eine Art von Gegenseitigkeit gewähren, was ist dann der Charakter dieser Gegenseitigkeit und was berechtigt uns, darauf diesen fundamentalen Begriff anzuwenden? Offenbar gibt es auf diese Frage keine einheitliche Antwort; wir müssen hier, statt die Natur gewohnterweise als ein Ganzes zu fassen, ihre verschiedenen Bezirke gesondert betrachten. Der Mensch hat einst Tiere »gezähmt« und er ist jetzt noch fähig, diese eigentümliche Wirkung auszuüben. Er zieht Tiere in seine Atmosphäre und bewegt sie dazu, ihn, den Fremden, auf eine elementare Weise anzunehmen und »auf ihn einzugehen«. Er erlangt von ihnen eine, oft erstaunliche, aktive Erwiderung auf seine Annäherung, auf seine Anrede, und zwar im allgemeinen eine um so stärkere und direktere Erwiderung, je mehr sein Verhältnis ein echtes Dusagen ist. Tiere wissen ja nicht selten, wie Kinder, eine geheuchelte Zärtlichkeit zu durchschauen. Aber auch außerhalb des Zähmungsbezirks findet zuweilen ein ähnlicher Kontakt zwischen Menschen und Tieren statt: es handelt sich da um Menschen, die eine potentielle Partnerschaft zum Tier im Grunde ihres Wesens tragen, – vorwiegend übrigens nicht etwa »animalische«, sondern eher naturhaft geistige Personen. 34. Fackenheim 259, Rotenstreich 94 ff. 35. Deutsche Ausgabe bei Lambert Schneider, Heidelberg, 1958, amerikanische Ausgabe bei Charles Scribner’s Sons, New York, 1958.
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Das Tier ist nicht, wie der Mensch, zwiefältig: die Zwiefalt der Grundworte Ich-Du und Ich-Es ist ihm fremd, wiewohl es sich sowohl einem anderen Wesen zuwenden als auch Gegenstände betrachten kann. Wir mögen immerhin sagen, die Zwiefalt sei hier latent. Darum dürfen wir diese Sphäre, auf unser zur Kreatur ausgehendes Dusagen hin betrachtet, die Schwelle der Mutualität nennen. Ganz anders verhält es sich mit jenen Bezirken der Natur, denen die uns mit dem Tier gemeinsame Spontaneität fehlt. Zu unserem Begriff der Pflanze gehört, daß sie auf unsere Aktion zu ihr hin nicht reagieren, daß sie nicht »erwidern« kann. Doch bedeutet dies nicht, daß uns hier schlechthin keinerlei Reziprozität zuteil werde. Die Tat oder Haltung eines Einzelwesens gibt es hier freilich nicht, wohl aber eine Reziprozität des Seins selber, eine nichts als seiende. Jene lebende Ganzheit und Einheit des Baums, die sich dem schärfsten Blick des nur Forschenden versagt und dem des Dusagenden erschließt, ist eben dann da, wenn er da ist, er gewährt es dem Baum, sie zu manifestieren, und nun manifestiert sie der seiende Baum. Unsere Denkgewohnheiten erschweren uns die Einsicht, daß hier, durch unser Verhalten erweckt, vom Seienden her etwas uns entgegen aufleuchtet. In der Sphäre, um die es geht, gilt es, der sich uns eröffnenden Wirklichkeit unbefangen gerecht zu werden. Ich möchte diese weite, von Steinen zu Sternen reichende Sphäre als die der Vorschwelle, d. h. der vor der Schwelle liegenden Stufe bezeichnen.
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Nun aber erhebt sich die Frage nach der Sphäre, die in der gleichen Bildsprache die der »Überschwelle« (superliminare) genannt werden mag, d. h. die des Balkens, der die Tür oben deckt: der Sphäre des Geistes. Auch hier muß eine Scheidung zwischen zwei Bezirken vollzogen werden; hier aber reicht sie tiefer als jene innerhalb der Natur. Es ist die zwischen dem, was an Geist schon in die Welt eingegangen und unter der Vermittlung unserer Sinne in ihr wahrnehmbar ist, einerseits und dem, was noch nicht in die Welt eingegangen, aber bereit ist in sie einzugehen und uns gegenwärtig wird, anderseits. Diese Scheidung ist in der Tatsache begründet, daß ich dir, mein Leser, das schon in die Welt eingegangene Geistgebild gleichsam zeigen kann, das andere aber nicht. Ich kann dich auf die Geistgebilde, die in der uns gemeinsamen Welt nicht weniger denn ein Ding oder Wesen der Natur »vorhanden sind«, als auf etwas dir in Wirklichkeit oder Möglichkeit Zugängliches hinweisen, – nicht aber auf das noch nicht in die Welt Eingegangene. Wenn ich
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auch hier, auch für dieses Grenzgebiet noch, gefragt werde, wo denn da die Mutualität zu finden sei, bleibt mir nur die indirekte Hindeutung auf bestimmte, aber kaum beschreibbare Vorgänge im Leben des Menschen, denen Geist als Begegnung widerfuhr, und letztlich, wenn es am Indirekten nicht genug ist, bleibt mir nichts mehr als an das Zeugnis deiner eigenen – etwa verschütteten, aber wohl doch noch erreichbaren – Geheimnisse, mein Leser, zu appellieren. Kehren wir denn nun zu jenem ersten Gebiet, dem des »Vorhandenen«, zurück. Hier ist es möglich, Beispiele heranzuziehen. Der Fragende vergegenwärtige sich einen der überlieferten Sprüche eines vor Jahrtausenden gestorbenen Meisters und versuche es, so gut er kann, den Spruch nunmehr mit den Ohren, also als von dem Sprecher in seinem Beisein gesprochen, ja etwa gar ihm zugesprochen, aufzufangen und zu empfangen. Dazu muß er sich mit seinem ganzen Wesen dem nicht vorhandenen Sprecher des vorhandenen Spruches zuwenden, d. h. er muß ihm, dem Toten und Lebendigen, gegenüber die Haltung einnehmen, die ich das Dusagen nenne. Wenn es ihm gerät (wozu freilich der Wille und die Bemühung nicht hinreichen, aber es kann wieder und wieder unternommen werden), wird er, vielleicht nur erst undeutlich, eine Stimme hören, mit der identisch, die ihm aus anderen echten Sprüchen desselben Meisters entgegentönen wird. Er wird jetzt nicht mehr können, was er konnte, solange er den Spruch als einen Gegenstand behandelte: er wird aus ihm keinen Inhalt und keinen Rhythmus heraussondern können; er empfängt nur die unteilbare Ganzheit einer Gesprochenheit. Aber dies ist noch an eine Person, an die jeweilige Kundgabe der Person in ihrem Wort gebunden. Was ich meine, ist nicht auf das Fortwirken eines personhaften Daseins im Wort beschränkt. Darum muß ich zur Ergänzung auf ein Beispiel hindeuten, dem nichts Persönliches mehr anhaftet. Ich wähle, wie stets, ein Beispiel, das für manchen mit starken Erinnerungen verknüpft ist. Es ist die dorische Säule, wo immer sie einem Menschen erscheint, der fähig und bereit ist, sich ihr zuzuwenden. Mir trat sie zuerst aus einer Kirchenmauer in Syrakus entgegen, in die sie einst eingemauert worden war: geheimes Urmaß, sich in so schlichter Gestalt darstellend, daß nichts Einzelnes dran zu besehn, nichts Einzelnes zu genießen war. Zu leisten war, was ich zu leisten vermochte: diesem Geistgebild da, diesem durch Sinn und Hand des Menschen Hindurchgegangenen und Leibgewordenen gegenüber Stand zu fassen und zu halten. Verschwindet hier der Begriff der Mutualität? Er taucht nur ins Dunkel zurück – oder er wandelt sich in einen konkreten Sachverhalt, die Begrifflichkeit spröd abweisend, aber hell und zuverlässig. Von hier aus dürfen wir auch in jenes andere Gebiet, das Gebiet des
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»nicht Vorhandenen«, das des Kontaktes mit »geistigen Wesenheiten«, das der Entstehung von Wort und Form hinüberblicken. Wort gewordener Geist, Form gewordener Geist, – in irgendeinem Grade weiß jeder, den der Geist berührte und der sich ihm nicht verschloß, um das grundlegend Faktische: daß solches nicht ungesät in der Menschenwelt keimt und wächst, sondern aus ihren Begegnungen mit dem Anderen hervorgeht. Nicht Begegnungen mit platonischen Ideen (von denen ich keinerlei unmittelbare Kenntnis habe und die als Seiendes zu verstehen ich nicht imstande bin), wohl aber mit dem Geist, der uns umweht und sich uns einwebt. Wieder werde ich an das seltsame Bekenntnis Nietzsches gemahnt, der den Vorgang der »Inspiration« dahin umschrieb, man nehme, aber man frage nicht, wer da gibt. Es sei immerhin – man fragt nicht, doch man dankt. Wer den Anhauch des Geistes kennt, vergeht sich, wenn er sich des Geistes bemächtigen oder dessen Beschaffenheit ermitteln will. Aber Untreue übt er auch dann, wenn er die Gabe sich selber zuschreibt.
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Betrachten wir erneut, was hier von den Begegnungen mit Naturhaftem und denen mit Geisthaftem gesagt worden ist, in einem. Dürfen wir denn – so mag nun gefragt werden – von »Erwiderung« oder »Anrede«, die von außerhalb all dessen kommen, dem wir in unserer Betrachtung der Seinsordnungen Spontaneität und Bewußtsein zuerkennen, als von etwas sprechen, das eben so, als eine Erwiderung oder eine Anrede, in der Menschenwelt geschieht, in der wir leben? Kommt dem, was hier davon gesagt wurde, eine andere Gültigkeit zu als die einer »personifizierenden« Metapher? Droht hier nicht die Gefahr einer problematischen »Mystik«, die die von aller rationalen Erkenntnis gezogenen und notwendigerweise zu ziehenden Grenzen verwischt? Die klare und feste Struktur des Ich-Du-Verhältnisses, jedem vertraut, der ein unbefangenes Herz und den Mut hat, es einzusetzen, ist nicht mystischer Natur. Aus unseren Denkgewohnheiten müssen wir zuweilen treten, um sie zu verstehen, nicht aber aus den Urnormen, die das menschliche Denken der Wirklichkeit bestimmen. Wie im Bereich der Natur, so darf im Bereich des Geistes – des Geistes, der in Spruch und Werk fortlebt, und des Geistes, der zu Spruch und Werk werden will – das Wirken an uns als ein Wirken von Seiendem verstanden werden. *
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Die Frage nach der Mutualität in der Beziehung zu Gott bleibe hier unerörtert; ich habe anderwärts so deutlich davon gesprochen, als ich kann. Die Differenz hinsichtlich dieser Frage ist aber keineswegs die zwischen dem »Rationalen« und dem »Irrationalen«, sondern die zwischen der Ratio, die sich von den übrigen Kräften der menschlichen Person ablöst und sich als souverän erklärt, und der Ratio, die sich der Ganzheit und Einheit der menschlichen Person einfügt und innerhalb dieser Ganzheit und Einheit wirkt, denkt und sich äußert. Es ist jedoch unerläßlich, eines auch hier noch einmal in unmißverständlicher Klarheit, wenn auch nur in aller Kürze, zu sagen. Ich lese mit einiger Überraschung 36 : »Buber vertritt die Ansicht, daß die Beziehung zu Gott sich nur in und durch Beziehungen zu anderen endlichen Wesen wahrhaft verwirklichen läßt.« Dagegen halte man z. B., was in den Büchern »Zwiesprache« und »Die Frage an den Einzelnen« tatsächlich gesagt wird. Die unmittelbare Beziehung zu Gott wird hier keineswegs bestritten, ihre Aktualität wird ja in allem erkannt, was uns widerfährt, also uns zugesprochen wird, und in allem, womit wir reagieren, also antworten. Es wird nur hinzugefügt, die Wesensbeziehung zu Gott müsse ihre Ergänzung in der Wesensbeziehung zu den Menschen finden. 5. Die Frage ist gestellt worden 37 , ob die Beziehung zu dem ewigen Du Momente einschließt, in denen unsre Beziehung zu irgendeinem menschlichen Du nur vergangen und potentiell, nicht gegenwärtig und aktuell ist. Alle biographischen Situationen, auf die ich antworte, sind in den lebenslangen Dialog eingeschlossen. Das Bestehen der »ungebrochenen Welt« bedeutet nicht, daß diese Beziehung die »Ich-Es-Relationen« als solche einschließe: sie mag alles einschließen, aber nicht in seiner Versonderung. 6. Fritz Kaufmann hat mich dahin verstanden, 38 ich faßte das Verhältnis zum Du, sowohl das zu Gott als das zum Mitmenschen, als in »eine Art Salve von Verhaltungsakten« auf, »daß der reine Bezug sich mit der aktuellen Begegnung deckt«. Zur Begründung wird auf eine Stelle meines Aufsatzes »Elemente des Zwischenmenschlichen« verwiesen, an der ich sage, mit dem Begriff einer »Sphäre des Zwischenmenschlichen« meinte ich »lediglich aktuale Ereignisse zwischen Menschen«. Es ist offenbar nötig zu präzisieren, um was es mir hier geht. Als die Sphäre des Zwischenmenschlichen bezeichne ich nicht das Verhältnis der menschlichen Person zu ihrem Mitmenschen überhaupt, 36. Wheelwright 70. 37. Friedman 172. 38. Fritz Kaufmann 193.
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sondern die Aktualisierungen dieses Verhältnisses. Das Zwischenmenschliche ist etwas, was sich jeweils zwischen zwei Menschen begibt; damit es sich aber je und je begeben könne, damit echte Begegnungen geschehen und immer wieder geschehen, muß dem Menschen das Du zum Mitmenschen innewohnen. Und auch für das Verhältnis des Menschen zu Gott gilt es unverbrüchlich, daß die Momente, in denen das in seiner Ganzheit gegenwärtige Ich in die Fernen aller Fernen das Du der größten Nähe spricht und sich von eben dort aus selber als Du erfährt, aus dem Dunkel einer Latenz aufblitzen, in dem wir nichts wahrnehmen und dem wir doch als dem Grund und Sinn unseres Daseins vertrauen. Keineswegs also besteht hier ein »Gegensatz zu jüdischer Emuna«; vielmehr bezeigt und bewährt sich unsere Emuna, unser Vertrauen, eben darin, was sich je und je zwischen uns und unserem Du ereignet. Es trifft aber auch durchaus nicht zu, was Kaufmann von der »Herkunft des Begegnungs- vom zeitlich begrenzten Erlebnisbegriffe« sagt. Das Wort »Herkunft« soll auf einen angeblichen Prozeß in meiner geistigen Biographie hinweisen: der Begriff der Begegnung stamme in der Entwicklung meiner Ideen aus dem des Erlebnisses. In Wahrheit ist er auf dem Wege meines Denkens aus der Kritik des Erlebnisbegriffs, dem ich in meiner Jugend anhing, aus einer radikalen Selbstberichtigung entstanden. »Erlebnis« gehört der exklusiv individuierten psychischen Sphäre an; »Begegnung« oder vielmehr, wie ich zumeist zu sagen vorziehe, gerade um die zeitliche Begrenzung zu vermeiden, »Beziehung« transzendiert diese Sphäre von den Ursprüngen an. Die psychologische Reduktion des Seins, seine Psychologisierung hat auf mich in jungen Jahren destruktiv gewirkt, weil sie mir die Grundlage der menschlichen Wirklichkeit, das Auf-einander-zu, entzog. Erst viel später, in der Umkehr meines Denkens, die mich kämpfen lehrte, habe ich die Wirklichkeit unverlierbar gewonnen. VI. Theologie, Mystik, Metaphysik
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1. Während mir von einer Seite 39 vorgeworfen wird, meine Schriften seien von Übernatürlichem »durchschossen«, behauptet eine andere Seite 40 , meine Position sei »die absolute Identität von Natur und Übernatur«. 39. Pfuetze 462. 40. Balthasar 338.
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Alledem gleicherweise gegenüber ist darauf hinzuweisen, daß ich den Begriff einer »Übernatur« für einen falschen und irreführenden halte. Über der Natur ist keine Übernatur, die ja doch, um so genannt zu werden, sozusagen eine strukturelle Analogie zur Natur bieten, ein »Reich« über dem der Natur darstellen müßte; über der Natur ist nur Gott. Er ist über der Natur, und trägt sie und durchdringt sie, wie er über dem Geist ist und ihn trägt und ihn durchdringt. Beide sind in ihm gegründet, und er ist an beide so wenig gebunden wie an all das andre uns Unbekannte und Unkennbare, das in ihm gegründet ist. Er schüttet seine Gnade quer durch alle Kausalverkettungen aus, aber das ist er allein und keine Übernatur. Wenn wir sterben, kommen wir zu ihm; hier sollte unsere »religiöse« Phantasie innehalten, die sich eine Überwelt baut. 2. Zu den Voraussetzungen meiner Anschauung wird es gerechnet 41 , daß Gott »die Absolutheit des Anderen« sei. Dem kann ich nicht beipflichten. Ich habe mich stets gegen die von der »dialektischen Theologie« geübte Vereinfachung gewehrt, Gott sei der ganz Andere. Man darf ihn nur dann so nennen, wenn man im gleichen Atemzuge weiß und bekennt, daß er der Nichtandere, der Hiesige, der Jetzige, der Meine ist. Dies und nicht dies – das glaube, wer mag; dies und dies in einem, das ist der Glaube, der mir noch in der benennbaren Marter die namenlose Gunst zu ahnen gegeben hat. 3. Ohne Christentum, so sagt man mir 42, führe das Dialogische unweigerlich bis zur Hiobsfrage an Gott. Ja, das tut es, und Gott lobt »seinen Knecht« (Hiob 42, 7). Mein Gott will im Herzen und im Munde seiner Kreatur die Klage um das große Unrecht in der Welt nicht verstummen lassen, und wenn sie in einer unveränderten Welt doch ihren Frieden findet, nur weil er ihr seine Nähe wieder gewährt hat, bestätigt er sie. Frieden, sage ich; aber das ist ein Friede, der sich mit dem Kampf um die Gerechtigkeit in der Welt verträgt. 4. Überrascht hat mich in einem der Beiträge 43 der apodiktische Satz: »Gott gehört in die Religion und zu ihr; warum ihn anderswo suchen?«, den der Verfasser so vorbringt, als meine er, damit auch meine Auffassung auszudrücken. Er irrt sich gründlich. Nicht bloß in meiner Diskussion mit Jung, sondern in einer Reihe von Schriften habe ich mich gegen die beliebte Beschränkung Gottes auf ein Psychologicum gewendet. 5. Ich habe einmal von einer Liebe gesprochen 44 , die für das Dasein des 41. 42. 43. 44.
Rotenstreich 96 f. Balthasar 343. Schneider 416. »Gottesfinsternis« 15.
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Geliebten zeuge. Man fragt mich 45 , wie dies möglich sei. Ich bekenne, diese Frage in objektiv gültiger Weise nicht beantworten zu können. Ich weiß nur, aus direkter und indirekter Erfahrung, daß die große Liebe zu einem wirklich existierenden Wesen in sich anders beschaffen, qualitativ anders ist als die – sei es auch dichterisch beschwingte – Liebe zu einem Phantasiegebild. Die erste nenne ich die totale Akzeptation: man nimmt den Anderen an wie er ist, man nimmt ihn ganz an, wie er auch sei. Von dieser Art von Liebe weiß ich zu sagen, daß sie für Dasein zeugt. Die andere, die illusionierende, kann weder so annehmen noch kann sie so Zeugnis ablegen. 6. Ich habe einmal gesagt, ein »Er«, von Gott gesprochen, sei eine Metapher, ein »Du«, zu Gott gesprochen, sei keine. Das wird in Frage gezogen 46 . Ich will genau erklären, was ich meine. Wenn einer von Gott spricht, macht er ihn zu einem Seienden unter anderen Seienden, zu einem vorhandenen, zu einem so und nicht anders beschaffenen Seienden. Zu Gott sprechen bedeutet aber nichts anderes als: sich ihm selber zuwenden. Wie ist das möglich, da er doch nicht eher in der einen Richtung als in anderen zu suchen ist? Es ist eben nichts anderes vonnöten als die totale Hinwendung. Diese sagt überhaupt nichts mehr aus, in keiner Weise schränkt der Hingewandte sein Du auf ein Sosein und Nichtanderssein ein. Die Metaphorik hat hier keinen Platz mehr. 7. Man meint 47 , ich hätte gelegentlich die Bedeutung des Monotheismus für das Judentum geringer eingeschätzt, »als mit dem Sch’ma, dem immer wiederholten Bekenntnis zu dem Einen Gotte vereinbar scheint«. Der Gegenstand ist einer weiteren Klärung wert. Es widerstrebt mir persönlich, die Lebenssubstanz einer Glaubensgemeinschaft wie das Judentum in einem so nach unverbindlicher »Weltanschauung« schmeckenden Begriff wie »Monotheismus« finden zu wollen. Aber den Glauben an den Echad, den »Einen«, halte auch ich für die lebendige Mitte des Judentums. Das Bekenntnis zu ihm spricht ja zwei Gewißheiten in einer aus: die seiner Einzigheit – »Keiner außer ihm!« – und die seiner Einheit – Eine Wesenheit, Eine Person, Ein ewiges Du. Daß die jeweils zugleich lebenden Juden, die es wirklich sind, sich zu dem Einzigen und Einen rückhaltlos bekennen, mit der ganzen Seele wissend, was sie sagen, und mit dem ganzen Leben dafür einstehend, und daß eben diese Juden jeweils ebenso, mit der ganzen Seele und dem ganzen Leben, Ihn, den Einzigen und Einen, als ihr ewiges Du anreden, 45. Wahl 444. 46. Wahl 444. 47. Fritz Kaufmann 194.
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in einer Gemeinsamkeit – »Unser Vater, unser König!« – und jeder allein – nichts als Du –, das ist die Lebenssubstanz des Judentums. 8. Da eine Darlegung, die ich einmal von der chassidischen Vorstellung einer, der messianischen Erfüllung in den Zeiten vorausgehenden, »allzeitlichen« Messianität, d. h. von immer wieder geschehenden Erlösungsvorgängen gegeben habe, offenbar 48 als eine Abschwächung des messianischen Glaubens mißkannt worden ist, sei hier präzisiert, daß ich diese von mir gedeutete und angenommene chassidische Lehre keineswegs als etwas verstehe, das der Hingabe an das Eschaton Abbruch täte. Wie ich nicht bloß an die schöpferische Tat im Anfang, sondern auch an das allzeitliche Erschaffen glaube, an dem der Mensch einen Anteil hat als »Gottes Genosse am Werk der Schöpfung«, und wie ich nicht bloß an große Offenbarungstaten in den unbegreiflichen Stunden glaube, in denen man »die Stimmen sieht«, sondern auch an heimliches und doch offenbarendes Berührtwerden von oben her, so glaube ich an die über die Zeiten ausgegossene erlösende Tat, an der wieder der Mensch Anteil haben kann. Diese Vorgänge summieren sich nicht, aber alle mitsammen wirken sie insgeheim mit, die kommende Erlösung der Welt zu bereiten. Wer um sie weiß, schöpft aus ihnen Kraft der Erwartung. 9. Von anderer Seite 49 wird mein religiöser Sozialismus gerügt, der dem Menschen nur eine soziale Zukunft anzubieten habe; diese Hoffnung – die »in der strengen Folgerichtigkeit des prophetischen Prinzips« liege – sei »in Wirklichkeit keine«, und ich müßte das eigentlich wissen. Ich weiß das keineswegs; was ich weiß, ist etwas ganz anderes. Ein »prophetisches Prinzip« ist mir zwar unbekannt, aber ich halte es mit den Propheten Israels. Sie meinten durchaus nicht, wir könnten, wenn wir Gerechtigkeit in die Beziehungen der Menschen zueinander einführten, die Erde zum Gottesreich machen. Aber sie verstanden, zum menschlichen Anteil an der Bereitung des Gottesreichs gehöre eben dies, daß wir es fertigbringen, miteinander zu leben. Und sie würden am Ende mir gar zugestimmt haben, die alten Botengänger, daß wahre Institutionen zu wahren Beziehungen gehören, wie das Knochengerüst zum Fleisch. Es hat einst in Berlin einen Bund religiöser Sozialisten gegeben (auch Paul Tillich gehörte ihm an). Sein Führer, Carl Mennicke, verfaßte eine programmatische kleine Schrift, in der es ungefähr so hieß: er glaube an eine künftige Vervollkommnung der Gesellschaft, aber an eine künftige Verwandlung der Welt könne er nicht glauben. Ich glaube an beides, nur 48. Bergmann 272. 49. Balthasar 342.
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daß ich bei dem Bau der Fundamente jener selber mit Hand anlegen darf, diese aber mag in aller Stille schon da sein, wenn ich an einem Morgen erwache, oder ihr Sturm mag mich aus dem Schlafe reißen. Und beides, die »Umkehr« und das »Heil«, beides gehört zusammen, Gott weiß wie, ich brauche es nicht zu wissen. Das nenne ich Hoffnung. In einer Vergleichung des »heiligen Jehudi«, von dem ich in einer Chronik oder einem Roman erzählt habe, mit Jesus meint man 50 , ihre Beziehung zur Welt sei »völlig passiv gewesen«. Ich neige dazu, eher das Gegenteil anzunehmen. Es gibt keine höhere Aktivität als den Ruf zur Umkehr. 10. Ich habe ein Buch geschrieben, das ich »Gottesfinsternis« genannt habe, weil es von der Verfinsterung des göttlichen Lichtes durch etwas handelt, was zwischen es und uns getreten ist. Man hat das dahin mißverstanden 51 , es sei damit eine »fast gnostische« Vorstellung eines fremden und hindernden Elements eingeführt. Nichts Derartiges ist gemeint. Ich dachte, das Gemeinte klar genug gemacht zu haben, als ich gegen Schluß des Buches schrieb: »In unserem Zeitalter hat die Ich-Es-Relation, riesenhaft aufgebläht, sich fast unangefochten die Meisterschaft und das Regiment angemaßt … Sie tritt dazwischen und verstellt uns das Himmelslicht 52 «. Wohlgemerkt, nicht das Ich-Es-Verhältnis selbst, ohne das kein irdischer Bestand des Menschenwesens zu denken ist, sondern dessen alles Maß überschreitende Hybris ist gemeint. Und so sind wir selber gemeint. Hier wirkt keine dämonische Macht, die wir nicht selber großgezogen haben. Das ist die uns bekannte Seite des Vorgangs. Die andere, die göttliche Seite wird in den heiligen Büchern Israels das Sich-Verbergen Gottes, die Verhüllung des göttlichen Antlitzes genannt. Mehr als solch ein anthropomorphes Bild scheint nicht verstattet zu sein. Man dürfte das, was hier gemeint ist, auch ein Schweigen Gottes nennen, oder vielmehr, da ich mir keine Unterbrechung der ewigen Offenbarung vorzustellen vermag, einen Zustand, der auf uns als Schweigen Gottes wirkt. Man hat recht 53 , hier eine »äußerst beunruhigende Frage« zu sehen. Ich bin in diesen letzten Jahren, in einem überschweren Forschen und Fragen, immer neu vom Schauder des Jetzt gepackt, nicht weiter gekommen, als daß ich nunmehr eine Offenbarung durch Verbergung des Antlitzes, ein Sagen durch Schweigen kenne. Die Finsternis Gottes ist mit Augen zu sehen, sie will gesehen werden. 50. 51. 52. 53.
Taubes 411. Wahl 432. »Gottesfinsternis«, 52. Fackenheim 256.
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Wer aber heute nichts zu sagen weiß als »Sieh da, er leuchtet!«, der führt in die Irre. 11. Mein alter Freund Hugo Bergmann ist mit meiner Ablehnung der Gnosis unzufrieden. Er verzeihe, daß ich statt mit einer dem Gegenstand angemessenen Abhandlung mit ein paar knappen Andeutungen antworte. Ich bin gegen die Gnosis, weil und insofern sie vorgibt, Vorgänge und Prozesse innerhalb der Divinität berichten zu können. Ich bin gegen sie, weil und insofern sie Gott zu einem Gegenstand macht, in dessen Wesen und Geschichte man sich auskennt. Ich bin gegen sie, weil sie an die Stelle der personalen Beziehung der menschlichen Person zu Gott eine kommunionsreiche Wanderung durch eine Überwelt, eine Vielheit mehr oder minder göttlicher Sphären setzt. Dem gegenüber führt Bergmann den Spruch Rudolf Steiners an, der von ihm so genannte »Geistesforscher« übe Devotion »gegenüber der Wahrheit und Erkenntnis«. Mit diesem Zitat verkennt Bergmann aber die Sache, um die es mir geht. Wenn ich von Devotion geredet habe, so meinte ich damit ausschließlich das Leben im persönlichen Dienste Gottes. Die Verehrung, die ein Mensch der »Wahrheit« zollt, seine Treue der »Erkenntnis« gegenüber respektiere ich durchaus, aber sie haben mit jener hingegebenen Unmittelbarkeit zu Gott, die ich meine, nur dann etwas zu schaffen, wenn sie aus ihr hervorgehen und von ihr bestimmt sind. Ich halte es nicht für einen allen Gnostikern gemeinsamen Zug, daß sie vermeinen, in der Tiefe des eigenen Selbst das Absolute zu finden; aber von Simon Magus, der sich mit der »großen Kraft Gottes« identifizierte, bis zu gewissen modernen Erscheinungen fehlt es an charakteristischen Äußerungen dieser Art nicht. Bergmann weist dagegen auf die auch von einigen Gnostikern postulierte Abwendung vom eigenen Ich hin. Aber worauf die Forderung sich gründet, ist ja gerade die Unterscheidung zwischen dem Ich als dem Abzustreifenden und dem Selbst, als in dessen Tiefe die Gottheit zu entdecken sei. 12. Am Schluß dieses Kapitels muß ich Hartshorne erwidern. Die Metaphysik, die er mir als meine eigene präsentiert, kann ich, wie er ja selbst vermutet, nicht anerkennen. Weil ich von Gott sage, er trete in eine Beziehung zur menschlichen Person, soll Gott nicht absolut, sondern relativ sein! Das wird mit dem Satz begründet, das Relative »hänge davon ab, was es im Verhältnis zu einem andern ist«. Als ob ein absolutes Wesen beziehungslos sein müßte! Ich gestehe, daß ich mit dem Begriff einer »relativen Vollkommenheit« nichts anzufangen weiß; auf mich wirkt er bei jeder neuen Prüfung gleich
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1. Freunde und Gegner halten mir vor, daß ich weder einen überlieferten Zusammenhang von Gesetzen und Vorschriften als absolut gültig anerkenne, noch aber auch ein eigenes System der Ethik zu bieten habe. In der Tat, das Manko besteht; und es ist mit der Ganzheit meiner Erkenntnis so eng verbunden, daß eine Ausfüllung undenkbar ist. Wenn ich eine versuchte, würde ich damit den Kern meiner Anschauung verletzen. »Vom Lehrer«, sagt ein Freund 54 , »erwarten wir, daß er Anweisungen dafür gibt, wie wir den Weg gehen sollen«. Ich trete eben dieser Erwartung entgegen. Die Richtung soll man vom Lehrer empfangen, nicht aber die Weise, in der man dieser Richtung zustreben soll: die muß jeder selber entdecken und erwerben, jeder die seine, in einer Arbeit, die das beste Vermögen seiner Seele anfordert, ihm aber auch einen Schatz schenken wird, der für sein Dasein hinreicht. Soll ihm dieses große Werk abgenommen werden? Oder mute ich etwa dem Einzelnen zu viel zu? Wie denn als durch solche Zumutung könnten wir erfahren, wieviel der Einzelne vermag? Die Richtung aber – nun wohl, ich habe in der zweiten, der wesentlichen Hälfte eines langen Lebens wieder und wieder, direkt und indirekt, darauf hingewiesen. Mein Aufzeigen der beiden Grundworte und ihres wahren Verhältnisses zueinander hat immer diesen Hinweis in sich geborgen. Gewiß, ich gebe einem, der meinen Hinweis annimmt, kein Prinzipienbuch in die Hand, in dem er jeweils nachsehen könnte, wie er sich in einer gegebenen Situation zu entscheiden hat. Das ist nicht an mir: der
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Mann mit dem ausgestreckten Zeigefinger hat nur eins zu zeigen und nicht vielerlei. Nein, ein System der Ethik habe ich in der Tat nicht zu bieten; auch ist mir kein allgemeingültiges bekannt, das ich nur anzuführen brauchte. Doch halte ich es nicht bloß für natürlich, sondern auch für rechtmäßig, daß jeder an sittlichen Vorschriften annehme, was immer ihm hilft, den Weg zu gehen. Ich meine freilich, daß keine sittliche Norm einen absoluten Anspruch an einen Menschen hat, wenn sie nicht als Gabe des Absoluten geglaubt wird. 2. Und nun gebe ich einem Gegner das Wort. Man schreibt mir die Ansicht zu 55 , jede echte sittliche Entscheidung sei das Ergebnis »großen Ringens und Suchens«. Das ist nicht meine Ansicht. Gewiß, zuweilen gibt es, etwa in einer den Menschen überstürzenden und ihm widerspruchsvoll erscheinenden Situation, ein schweres Ringen der Seele, bis sie das jetzt und hier Rechte zu ergreifen vermag, und wenn sie dabei Hilfe annimmt, von Überliefertem und von Gegenwärtigem, so ist das recht und billig. Aber es muß durchaus nicht so gewaltsam zugehen. Man kann die Situation auch im Nu auffangen, wie der gute Tennisspieler den Ball, und wie er im selben Nu die rechte Gegenbewegung machen. Ich kenne und liebe manche solche Menschen, in denen sich alles gleichsam bereits entschieden hat und die Urentscheidung sich wie jenseits der Zeitdimension in die jetzige und ganz spezielle verwandelt. Man schreibt mir weiter die Lehre zu 56 , keine Handlung sei »moralisch von Bedeutung«, wenn sie nicht »an Gott gebunden« ist. Nichts liegt mir ferner als das zu lehren; ich habe immer für die Guttaten der Gottlosen oder sich als gottlos Gebärdenden eine geradezu naive Sympathie gehabt, und ich finde es herrlich, wenn der fromme Mensch das Gute mit ganzer Seele tut »ohne an Gott zu denken«. Wenn ich von einem Zeitalter sage, daß es mit dem wirklichen Glauben auch die Wirklichkeit der Werte verliert, so ist daraus nicht als meine Ansicht zu folgern, wer keinen Glauben bekennt, kenne keine Werte. Man behauptet 57 , ich verletzte (violate) meine Lehre von der Absolutheit der sittlichen Forderung, indem ich »jeden einzelnen zum alleinigen, aber unsicheren Richter darüber erkläre, was er tun sollte«, denn ich setzte »den privaten Charakter der individuellen Entscheidung« an die Stelle der absoluten Werte. Weil ich also erkenne, daß es in einer gegebenen 55. Fox 140. 56. Fox 142. 57. Fox 143.
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widerspruchsvollen Situation zuweilen nicht ohne ernste Prüfung der Umstände und der eigenen Seele zu entscheiden möglich ist, was es hier praktisch bedeutet der Wahrheit zu folgen, deshalb werde ich bezichtigt, den absoluten Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge in Frage zu stellen! Daß ich erkläre, jede Situation sei eine besondere und verlange eine besondere Lösung, wird dahin verstanden 58 , es gebe meiner Anschauung nach keine allgemein gültigen sittlichen Regeln. Ich darf meinem Kritiker versichern, daß ich an der absoluten Gültigkeit des Gebotes »Ehre deinen Vater und deine Mutter« nie gezweifelt habe; wer mir aber sagt, man wisse ja stets und unter allen Umständen, was »ehren« bedeute und was nicht, von dem sage ich, daß er nicht weiß, wovon er redet. Auslegen muß der Mensch die ewigen Werte, und zwar mit dem eigenen Leben. Mein Gegner entsetzt sich 59 : wenn das wahr wäre, dann könnte man ja gar keine sittlichen Urteile über »Menschen oder Gesellschaften« fällen, »und vielleicht nicht einmal über uns selber«. Oh, über mich selber, aus der intimen Kenntnis meiner Schuld 60 , kann ich zuständig und zulänglich urteilen, – vor dem sittlichen Urteil über andere aber warnen jüdische und christliche Überlieferung mit höchstem Recht, indem sie den Urteilslustigen zur Selbstprüfung aufrufen; und wie dürfte ich gar eine Gesellschaft, eine naturgemäß aus äußerst verschiedenartigen Elementen zusammengesetzte, glattweg verdammen! Nun aber greift der Kritiker zum entscheidenden Schlag aus. Was sollen wir denn aber, fragt er 61, mit dem Verbrecher tun, der – ich muß es wörtlich zitieren – »in Übereinstimmung damit handeln mag, wovon er überzeugt ist, daß es die Stimme Gottes sei«? Muß ich es ausdrücklich sagen, daß diese hypothetische Annahme unsinnig ist, es sei denn, daß von einem Geisteskranken die Rede ist, der ja auch sich selber für Gott zu halten vermag? Ein nicht geisteskranker Mensch vermag nur dann zu glauben, Gottes Stimme zu folgen, wenn er mit ganzer Seele handelt, d. h. wenn aus deren Winkeln kein dämonisches Geflüster zu seinen aufgetanen Ohren dringt. Man kann aber, wie ich immer wieder sage, das Böse nicht mit ganzer Seele tun, d. h. man kann es nur tun, indem man die ihm widerstrebenden Kräfte gewaltsam niederhält – zu ersticken sind sie nicht. Das ist mir im Lauf meines Lebens mehrfach von Menschen bestätigt worden, die mir anvertrauten, etwas Böses getan zu haben. Ich will hier 58. 59. 60. 61.
Fox 143. Fox 144. Vgl. meine Schrift »Schuld und Schuldgefühle«. Fox 145, 150.
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nur ein Beispiel anführen, eins von einer hohen geistigen Stufe. Ein bedeutender Dichter hatte sich von den führenden Tätern einer Gemeinschaftsschuld verleiten lassen, ein Ehrenamt anzunehmen. Nachher hat er sich eine Reihe von Jahren darum gehärmt, bis zu seinem Tod. Als wir, etliche Zeit vor diesem, beisammen gewesen waren und uns voneinander verabschiedeten, faßte er mich am Arm und sagte, sich offenbar auf einen Satz meines Buches »Bilder von Gut und Böse« beziehend, mit einem unvergeßlichen Tonfall: »Nicht wahr, man kann das Böse nicht mit ganzer Seele tun?« Und ich bestätigte es ihm, indem ich als Antwort und als Lebewohl »Ja« sagte. Mein Gegner, der offenbar ein aufmerksamer Leser ist, dessen Aufmerksamkeit aber unter dem Diktate seiner Gegnerschaft steht, meint nun in einem Satze deutlich machen zu können, worin mein angeblicher ethischer Anarchismus wurzelt. »Im Grunde«, sagt er 62, »ist die Bewegung auf die Selbsterfüllung zu in Bubers Augen gleichbedeutend mit der Begegnung auf Gott zu.« Das ist ein interessantes Novum auf meine alten Tage: extremen Individualismus hatte mir bisher noch niemand zugeschrieben – und wer könnte es auch, der mit einer diktatfreien Aufmerksamkeit etwa meine Kritik an Individualismus und Kollektivismus im Schlußteil des Buches »Das Problem des Menschen« gelesen hat, wo ich an beider Stelle die echte, lebendige, unmittelbare Beziehung zwischen Mensch und Mensch setzte. Wo aber hat mein aufmerksamer Leser bei mir das Material für seine These »Im Grunde ..:« gefunden? Ich habe einmal 63 von dem Menschen gesprochen, der mit dem Namen »Gott« nicht eine Projektion seines Selbst, sondern seinen Schöpfer nennt, das heißt, den Urheber seiner Einzigkeit, die innerweltlich unableitbar ist. Von diesem Menschen habe ich gesagt, daß er das Gute entweder als die Richtung auf Gott oder auch als die Richtung auf die Verwirklichung dessen versteht, was Gott, ihn schaffend, mit ihm gemeint hat, auf die Ausführung des göttlichen »Entwurfs« (womit ja doch wohl klar genug gesagt ist, daß dieser Mensch seine Innenkraft dran setzt, zu erkennen, »wozu« gerade er, so wie er ist, geschaffen wurde). Daraus hat mein adversarius das gemacht, was er daraus gemacht hat. 3. Geradezu gegenteilige Bedenken werden anderswo 64 gegen den Menschen, den ich meine, geäußert. Er befinde sich, sagt man, in einem »durchsichtigen Stadium von Reinheit« und laufe Gefahr, als eine »schö62. Fox 149. 63. »Bilder von Gut und Böse«, 109 ff. (1953). 64. Taubes 411.
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ne Seele« sein Leben zu verbringen. Der Ruf zu »Verwirklichung« und »Tat«, der, wie weiter gesagt wird, die Seiten meiner Schriften – man hätte sagen sollen: meiner frühen Schriften – füllt, bleibe »eine Gebärde, solang nicht eingestanden wird, daß im Prozeß der Verwirklichung und Tat die ursprüngliche Reinheit der menschlichen Intention durch die Komplexität der widerspenstigen Wirklichkeit verwandelt und befleckt werden muß«. Der Verfasser hat anscheinend übersehen oder vergessen, was ich selber, wiewohl in einem anderen Bezirk, gegen das »Reinhalten« von Seelen vorgebracht habe 65 . »Das ist das Allerschlimmste«, heißt es da, »diese ›reine‹ Seele, auf die man keinen Blutspritzer fallen läßt! Es kommt nicht auf ›Seele‹ an, sondern auf Verantwortung.« Das ist ein Grundthema meines Werks überhaupt. Darum doch stelle ich »Situationen« gegen »Prinzipien«, die »unreine« Wirklichkeit gegen die »reine« Abstraktion. Die Ganzheit der Seele ist gerade in der Gebrochenheit der menschlichen Situationen zu bewähren, und das heißt: dadurch, daß man nicht über den Situationen schwebt, sondern auf sie eingeht, daß man sich ins Handgemenge mit ihnen einläßt, daß man ihnen jeweils so viel an Wahrheit und Gerechtigkeit abgewinnt, als man hier, auf ihrem Boden, der Wirklichkeit gemäß vermag. Die Situationen haben ein Wort mitzureden! Und die realen, die biographisch oder historisch realen Situationen sind nicht einfach und glatt wie Prinzipien, sie tragen den Widerspruch in sich, sie heben ihn uns ins Gesicht, und wir dürfen ihn nicht ignorieren, denn die Wirklichkeit steht im Widerspruch. Es gilt nicht »Alles oder Nichts!«, es gilt, so viel von unserer Wahrheit zu verwirklichen, als es der unbefangen vordringende Einblick in all die Widersprüche der Situation zuläßt. Und das ist nicht ein »Beschmutztwerden«, das uns eben passierte: unsre zu kneten willigen Hände fassen tief in den Lehm. Die damit zusammenhängende Lehre von der »Demarkationslinie« hat einer der Mitarbeiter dieses Buches, Ernst Simon, genau verstanden und dargelegt 66 , und ich könnte mich hier damit begnügen, darauf hinzuweisen, wenn er nicht eine durchaus angemessene und sogar notwendige Frage anschlösse, der, wenn irgendeiner der Fragen dieses Buches, eine Antwort gebührt. Er fragt: Kann man das Kompromiß zwischen absolutem Gesetz und konkreter Wirklichkeit, das aus jenem Ringen, von dem du sprichst, hervorgeht, mit ganzer Seele tun, wie man eben deiner Lehre nach das Gute tut? In der Theorie weiß ich keine Antwort, und das wundert mich nicht, denn dies ist einer der Punkte, an denen die Theorie 65. »Hinweise«, 257 f. 66. Simon 500 ff.
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ihre Schranke findet. Aber im Bereich der Erfahrung wird uns eine Antwort gegeben. Du stehst vor einer politischen Entscheidung, richtiger: vor deinem Anteil an einer politischen Entscheidung, und für den Menschen, den ich meine, ist eine politische Entscheidung auch eine moralische. Du bist vom Gebot einer Gerechtigkeit getrieben und, das Herz von ihm bewegt, blickst du in die fast chaotische Tiefe einer Situation, dahin, woher der Widerspruch dir entgegenschaut. Du vergegenwärtigst dir, so stark du irgend kannst, alles noch einmal und von Grund aus, was du schon gekannt hast, und neu, was sich dir jetzt zu kennen gibt. Du schonst dich nicht, du lässest dir Grausames von beiden Seiten antun, ohne sie zu beschränken, du, Schauplatz und Richter, lässest den Kampf ungehemmt ausgefochten werden. Und nun, mitten im Ringen, vielmehr: im Moment eines unvorhergesehenen Stillstands, geschieht etwas. Ich darf nicht sagen: immer, ich sage treulich: je und je. Es geschieht, daß du überraschend, zuweilen geradezu überwältigend merkst, was von deiner Wahrheit und Gerechtigkeit sich in dieser Situation verwirklichen läßt. Du merkst, du hast gemerkt, wieviel dem Leben gegeben werden muß, damit die Gerechtigkeit Leben annehme. Und in eben diesem Moment – nicht immer, aber je und je (das ist deine Chance!) – schießen die Kräfte deiner Seele, die eben noch widereinander stritten, zusammen, wie zu einem Kristall schießen sie zusammen. Keine allgemein gültige Antwort ist das, keinerlei Garantie ist darin, nur eben eine Chance, nur eben ein Wagnis. Der Glaube an Gott ist ein Wagnis, das Zeugen von Kindern ist ein Wagnis, vielleicht gibt es noch ein Wagnis im Tode. Auch wenn man das Rechte will, muß man wagen. 4. Levinas irrt sich auf eine seltsame Weise, wenn er annimmt 67 , ich sähe in der »rein geistigen Freundschaft« den Gipfel des Ich-Du-Verhältnisses. Im Gegenteil, dieses Verhältnis scheint mir seine eigentliche Größe und Mächtigkeit gerade da zu gewinnen, wo zwei Menschen ohne eine starke geistige Gemeinsamkeit, sogar von verschiedener Geistesart, ja von einander entgegengesetzten Gesinnungen doch einander so gegenüberstehen, daß jeder der beiden den anderen, auch noch in der strengsten Auseinandersetzung, als diese bestimmte Person kennt und meint, erkennt und anerkennt, annimmt und bestätigt, und daß er in der gemeinsamen Situation, auch noch in der gemeinsamen Situation des Miteinanderkämpfens, die Erfahrungsseite des Andern, sein Erleben dieser Situation, seinen ihm eigentümlichen Seelenprozeß sich gegenwärtig hält. Da ist keine Freundschaft, da ist nur die zur Erfüllung ge67. Levinas 131.
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langte Kameradschaft der menschlichen Kreatur. Kein »Äther«, wie Levinas meint, sondern die harte Menschen-Erde, das Gemeinsame im Ungemeinsamen. Levinas rühmt im Gegensatz zu mir die Fürsorge als Zugang zur Anderheit des Andern. Die Erfahrungswahrheit scheint mir zu sein, daß wer diesen Zugang ohnedies hat, ihn auch in der von ihm geübten Fürsorge finden wird, – wer ihn aber nicht ohnedies hat, der mag den ganzen Tag Nackte kleiden und Hungrige speisen, es wird ihm schwer bleiben, ein wahres Du zu sprechen. Wenn alle wohlbekleidet und wohlgenährt wären, würde das eigentliche ethische Problem erst ganz augenscheinlich werden. 5. Verschiedentlich wird (von Ernst Simon und anderen) die Frage aufgeworfen, ob denn das, was man meine Ethik nennt, nicht eigentlich bloß für den »höheren Menschen«, für eine »geistige Elite« bestimmt und geeignet sei. Soweit es an mir ist, sage ich ausdrücklich »nein« dazu. Ich halte zwar Eliten, echte, dienende, organisationslose Eliten für notwendig, damit der Geist für seine stille Wirkung einen Anhalt auf Erden finde; aber die Vorstellung von Spezialnormen für Eliten widerspricht all meiner Ahnung von der Wahrheit des Sollens. Ich glaube an keinen Gott, der Sondergebote für Eliten erließe; was er dem Menschen als seinen Willen kundtut, muß freilich von der menschlichen Person vernommen werden, als vom unbedingten Übersein her in ihr Innerstes dringend; wenn sie aber in ihrem spontanen Glauben die von den Vätern und Müttern überkommene Anweisung mit dem göttlichen Gebot an sie rechtschaffen gleichzusetzen vermag, dann weiß ich ihr nichts anderes zu sagen als »Heil dir!«. Eins nur lehne ich ab: daß Menschen ein als Gottesgebot Überliefertes als Gebot festhalten, ohne sich wirklich und wahrhaftig »um Gott zu kümmern«. In meiner Jugend hat mich der Chassidismus gelehrt, den »einfältigen Menschen« zu schätzen, der mit seiner ganzen Seele dem Göttlichen zugewandt ist, ohne selber diese seine Zuwendung gedanklich fassen zu können. Ich habe ihm meine Liebe bewahrt. Von ihm werde ich selbstverständlich nicht verlangen, daß er seine Seele ganz mache, um wahrhaft Du zu sagen oder um die wahre Richtung einzuschlagen. Aber muß nicht eben dies, das jeweilige Ganzwerden der Seele, als die stets erneute Aufgabe jenes sehr andersartigen Menschen angesehen werden, der von früh an der Vielfältigkeit des geistigen Lebens überantwortet ist? Nicht zwischen Norm und Norm, sondern zwischen Weg und Weg ist hier zu unterscheiden. Auf den Höhen, wo die rückhaltlose Hingabe des Menschen an Gott waltet, scheint die Aufgabe als solche zu entschwinden. Aber auch noch
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zu dem ihn »Liebenden« (Jes. 41, 8) läßt die Schrift (Gen. 17, 1) Gott sprechen: »Sei ganz!« 6. Zu Friedmans Bemerkung 68 über »die zwei Stadien des Übergangs vom Ich-Du zum Ich-Es« ist zu sagen, daß es zwar verschiedene Stufen des Ich-Es-Standes gibt, je nachdem wie sehr sich dieser der Ich-Du-Beziehung entfremdet und die Rückhinweisung (pointing back) auf sie aufgibt, daß ich aber nicht dazu neige, diese Stufen als zwei voneinander artverschiedene Typen zu verstehen. Einerseits gibt es keine so ätherhafte Abstraktion, daß ein großlebendiger Mensch sie nicht mit ihrem geheimen Urnamen beschwören und sie auf die Erde der leibhaften Begegnungen herabziehen könnte. Anderseits aber hat gerade in unserer Zeit die krasse Beziehungslosigkeit einen folgerichtig »leeren« Ausdruck im Roman und im Drama zu finden begonnen. Es dürfte schwerer sein, ihr die echte Macht menschlicher Beziehung entgegenzustellen als der behavioristischen Fehlbeschreibung. 7. Friedman sagt 69 : »Wenn ich Vertrauen zu einer Person habe, ... so bedeutet das, daß unabhängig von dem, was geschehen mag und wird, ich darauf baue, daß ich einen neuen Augenblick der Gegenwärtigkeit finden, daß ich von neuem in eine Beziehung treten ... werde.« Damit stimme ich nicht überein. Wenn ich zu einem Menschen »Vertrauen habe«, so meine ich damit im wesentlichen nicht, daß ich »finden werde« oder »eintreten werde«, sondern vielmehr, daß dieser Mensch – was immer er tut – für mich derjenige bleiben wird, in den ich mein Vertrauen gesetzt habe, den ich »angenommen« habe. Das ist freilich ein Paradox, aber alles große Vertrauen ist es, Vertrauen meint weder das gegenwärtige noch das zukünftige Du, wie Friedman annimmt, sondern eben die Person. (Was er dann noch sagt vom »Vertrauen in die Existenz als solche«, stimmt jedoch genau mit meiner Ansicht überein.) 8. Des weiteren führt Friedman 70 als meine Ansicht an: »Unser Antagonist mag der Teufel oder Hitler sein, aber selbst solch einem muß getreulich geantwortet, muß entgegengetreten werden.« Das ist ein Thema, das der Klärung bedarf. Ich halte einerseits niemand für »absolut« unerlösbar, und wenn es einen Teufel gäbe, so würde ich glauben, Gott könne ihn erlösen, und sogar, Gott wolle es. Und nicht das allein, sondern ich könnte mir auch denken, Gott möchte dem Menschen einen Anteil an diesem Erlösungswerk zumuten und zutrauen. Aber sowie wir mit ganz konkretem Ernst darauf sinnen, wird eine Grenze deutlich, die 68. Friedman 173. 69. Friedman 174. 70. Friedman 177.
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nicht mehr auf Symbolik beschränkt ist wie das überlieferte Bild des Teufels, sondern einen ganz empirischen Charakter trägt. Hier steht es mir nicht mehr zu, von Gott zu reden, sondern einzig von mir und diesem Menschen. Hitler ist nicht mein Antagonist im Sinn eines Partners, »den ich bestätigen kann, indem ich ihm widerspreche«, wie Friedman sagt, denn er ist unfähig, einen wirklich anzureden und unfähig, einen wirklich anzuhören. Das habe ich einmal persönlich erfahren, als ich ihn, wenn auch nur in der technischen Übermittlung des Rundfunks, reden hörte. Ich wußte, daß diese Stimme imstande war, mich mitsamt unzähligen meiner Brüder zu vernichten; aber ich erfuhr, daß sie ungeachtet solcher Macht nicht imstande war, das gesprochene und vernommene Wort in die Welt zu setzen. Und schon eine knappe Stunde danach habe ich im »Satan« den »armen Teufel« zu ahnen bekommen, den armen Teufel an der Macht, und zugleich habe ich meine dialogische Ohnmacht verstanden. Ich hatte zu antworten, aber nicht dem, der geredet hatte. Insofern eine Person ein Teil einer Situation ist, habe ich zu antworten, aber nicht gerade der Person. VIII. Zur Bibel-Interpretation
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Zu meiner Auffassung biblischer Texte und Lehren sind Fragen aufgeworfen worden, deren Klärung geboten erscheint; auch hier ist manches anders verstanden worden, als ich es meine, und ich muß für ein genaueres Verständnis Sorge tragen. 1. Man schreibt mir die Ansicht zu 71 , Offenbarung »geschehe in Gemeinschaft« (comes in community). Das ist durchaus nicht meine Ansicht. Auch dann, wenn an einem in geschichtlicher Form überlieferten Offenbarungsvorgang die Gemeinschaft als solche, sei es lediglich passiv, sei es auch mit einem aktiven Zug, beteiligt erscheint, auch wenn der Bericht göttliche Anreden enthält, die an ein »Ihr« gerichtet sind, kann ich als den mir kenntlichen Kern des Geschehens nur das Berührtwerden einer zentralen menschlichen Person von der Transzendenz her verstehen. 2. Es ist einigermaßen ungenau zu sagen 72 , ich stimmte darin mit dem protestantischen Theologen Oscar Cullmann überein, daß das Judentum 71. Muilenburg 366. 72. Muilenburg 366.
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keine Mitte der Heilsgeschichte kenne. Daß ich auf die »Zäsurlosigkeit« der jüdischen Geschichtsanschauung lange vor Cullmann hingewiesen habe, wäre nicht der Erwähnung wert, wenn es sich dabei lediglich um eine individuelle Prioritätsfrage handelte; es handelt sich aber darum, daß die Einsicht, für den Juden gebe es keine festgelegte Mitte der Geschichte, vom Judentum selbst aus ausgesprochen worden ist. 3. Es wird bezweifelt 73 , daß ich den verschiedenen Wortgebrauch hinreichend in Betracht gezogen habe, und als Beispiel wird das Wort chessed angeführt, hinsichtlich dessen gesagt wird, es bedeute nur selten Herzensgüte oder Gnade; Bundesliebe drücke das Gemeinte besser aus. Der Kritiker hat jedoch gar nicht beachtet, was ich selbst seinerzeit in der dem Psalmenband meiner Übersetzung beigegebenen Abhandlung »Zur Verdeutschung der ›Preisungen‹« über den Gegenstand geschrieben habe. Ich zitiere mich: »Chessed ist eine Zuverlässigkeit zwischen den Wesen, und zwar wesentlich die des Bundesverhältnisses zwischen dem Lehnherrn und seinen Dienstmannen, ganz überwiegend die Bundestreue des Herrn, der seine Diener erhält und beschützt, sodann auch die der Untertanen, die ihrem Herrn treu ergeben sind. Der diesem Gegenseitigkeitsbegriff entsprechende deutsche Wortstamm ist ›hold‹ …, der ›Holde‹ hieß mittelhochdeutsch der Lehnsmann … In den Psalmen sind Gottes ›Chassidim‹ seine Holden, seine ›treue Gefolgschaft‹.« Ich habe mehrfach darauf hingewiesen, daß die Etymologie, manchmal sogar die Volksetymologie, eines in der Bibel sich wiederholenden Wortes für den Übersetzer deshalb wichtig sein muß, weil die Wiederholung im biblischen Text häufig dazu dient, eine Stelle durch eine andere erläutern zu lassen. Doch ist in der Übersetzung der Bedeutungswandel der Wörter nach Möglichkeit berücksichtigt worden. 4. Muilenburgs Zusammenstellung 74 von Exodus 15, 12-17 mit dem Deboralied scheint mir einer genaueren Prüfung nicht standzuhalten. Der spezifische »Leitwortstil«, der im Deboralied einen primitiv refrainhaften Charakter angenommen hat, ist in diesen Versen nur noch rudimentär zu finden. 5. Muilenburg fragt 75 , warum ich tehillim durch »Preisungen«, statt durch »Psalmen« wiedergebe. Nun, einfach deshalb, weil tehilla eben Preisung bedeutet; das heißt: weil der für den Titel des Buches verantwortliche Redaktor durch die Wahl dieses Wortes offenbar deutlich machen wollte, daß alle diese Lieder, auch die klagenden und um Rettung 73. Muilenburg 369. 74. Muilenburg 372. 75. Muilenburg 373.
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flehenden, letztlich als Loblieder, als Preisungen und damit als der dichterische Ausdruck eines großen Vertrauens zu verstehen sind. 6. Im 1. Psalm kommt weder im Original noch in meiner Übersetzung »das Gesetz« vor. Es wird von der thora, von der »Weisung«, nämlich von der Weisung des rechten »Weges« durch Gott geredet. Zum Unterschied vom »Gesetz« (nomos) ist thora erstens ein dynamischer Begriff, d. h. der verbale Ursprung und Charakter haftet dem Nomen an und wird verschiedentlich besonders hervorgehoben (»die Weisung, die man dir weisen wird«, Deuteron. 17, 11), und zweitens, die Verbindung zwischen dem göttlichen Unterweiser, dem »moreh« (Jesaia 30, 20), und seiner Weisung ist im Worte selbst gegeben, d. h. die Objektivierung des Begriffs widerspricht seinem Wesen. 7. Meine Vermutung zu Exodus 19, 5 ist nicht durch einen Hinweis auf den Leitwortstil 76 zu widerlegen, denn ein Personalpronomen ist im allgemeinen, auch wenn es emphatisch gebraucht wird, nicht gewichtig genug, um als »Leitwort« verstanden zu werden; ebensowenig ist aus »und nun« ein Gegenbeweis abzuleiten, da dies ja auch für einen Überarbeiter das hier gebotene Wort war. (Nebenbei: ich habe nur von einer »Überarbeitung« gesprochen; die Worte »oder ein Einschub« stammen von einem Mißverständnis des Übersetzers, auf das ich erst jetzt aufmerksam geworden bin.) Da ich die Überarbeitung des ursprünglichen Wortlauts für deuteronomistisch halte, ist der Hinweis meines Kritikers auf »die Deuteronomisten« nicht beweiskräftig. – Was übrigens die Bemerkung 77 über unsere Übersetzung der Partikel im an dieser Stelle, als »ungewöhnlich« bedeutet, ist mir unverständlich; die Partikel ist von uns hier nicht anders übersetzt worden als sonst fast immer. 8. Die gegen meine Auffassung des Tetragrammatons (und der damit verknüpften »Keniterhypothese«) vorgebrachten Bedenken zu entkräften würde ein besonderes Kapitel verlangen; ich glaube sie aber im wesentlichen schon in meinen einschlägigen Arbeiten, namentlich in »Königtum Gottes« und in »Moses« beantwortet zu haben. 9. In der Frage des Dekalogs scheint mir die Meinungsverschiedenheit nicht so groß zu sein, wie Muilenburg 78 annimmt. Ich halte ihn zwar nicht für ein document, auf dem der Bundesschluß errichtet ist, aber ich halte ihn für den Text einer Proklamation, dessen Ursprung auf eine Offenbarung zurückzuführen ist. Ich halte ihn nicht für ein objektivierbares »Gesetz«, aber ich erkenne mich im Du wieder, das von dem diese 76. Muilenburg 377. 77. Muilenburg 377. 78. Muilenburg 377 f.
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Gebote Gebietenden angesprochen wird, und ich erkenne meinen Mitmenschen, dem ich auf den Wegen meines Lebens begegne, in ebendiesem Du wieder. 10. Man hat 79 meine Auffassung des biblischen »Gesetzes« meiner exegetischen Haltung gegenübergestellt: wäre ich dieser gefolgt, sagt man, so hätte ich erkennen und anerkennen müssen, daß »im Zusammenhang mit dem Alten Testament die Gesetze als absolut erscheinen«. Aber daß sie im Kontext so erscheinen, ist ja unanzweifelbar; mir geht es um die Frage, ob sie allesamt zu Recht so erscheinen, mit anderen Worten: ob z. B. die Detaillierung der Opfergaben im gleichen Verhältnis zur geschehenen Offenbarung steht wie der Dekalog. Wir wissen nicht, welche »Thora«-Texte Jeremia im Sinn hat, wenn er sagt (8, 8), »der Lügengriffel der Schreiber« sei an ihnen tätig gewesen; es mögen Texte sein, die hernach nicht in den Kanon aufgenommen worden sind; es mögen auch andere sein; jedenfalls aber kann der Prophet mit »Lüge« hier kaum etwas anderes meinen, als daß innerhalb der »Thora«, die das Volk sein eigen nannte, in einem anscheinend nicht geringen Maße menschlicher Wille für göttlichen ausgegeben wurde, somit »Gesetze« als ein Absolutum erschienen, die keines waren. Mir ist es zwar nicht erlaubt, in der kühnen Sprache des Propheten zu reden; wenn ich aber als gläubiger Denker, als gläubig-denkerischer Diener der Wahrheit in der Schrift forsche, muß ich in der Sache ihm beipflichten. Ich erkenne und weiß, daß Offenbarung geschehen ist; ich verstehe es, wenn der von der Stimme ergriffene Mensch auch dann nicht innehält, nachdem er das gesagt hat, was zu sagen ihm geboten worden war; ich kann es verstehen, wie auch in späteren Momenten ein noch Ungesagtes, aber von jener frühen Stunde her in ihm Erwecktes und seither Wachsendes von ihm mit derselben auf die Offenbarung hinweisenden Eingangsformel zu Erben seines Geistes gesprochen wurde und sich in deren Geiste verhaftete. Aber überdies ist mir einsichtig und verständlich, wie nach ihm die Eingangsformel der kundgegebenen Offenbarung, die das »Reden« Gottes berichtet, auch von bloßen Amtserben, von »Schreibern«, gehandhabt worden ist. Aus alledem ist der große Kontext entstanden, in dem »die Gesetze als ein Absolutum erscheinen«. Ich gebe, so gut ich vermag, der Rechtmäßigkeit dieses Anspruchs nach. Das kann ich freilich nicht, wenn ich die Texte als bloße Objekte meiner Forschung behandle: ich muß, wann immer und wie immer ich sie lese, stets von neuem selber zur Begegnung bereit sein.
79. Glatzer 360/361.
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11. Meiner Interpretation prophetischer Texte werden einige Argumente entgegengehalten 80 , die ich kurz nachprüfen will. Man wirft mir vor, daß ich »das menschliche Handeln zu einem Faktor der Erlösung mache«; dem wird entgegnet, für die Propheten sei »der unerforschliche und verborgene Gott der primäre Faktor in der Geschichte«. Als ob sich beides in der Wirklichkeit prophetischen Glaubens, wie ich sie darzustellen versucht habe, nicht miteinander vertrüge! Selbstverständlich sind, nicht bloß für die prophetische, sondern für alle biblische Religiosität die Entscheidungen in Gottes Händen; aber in der prophetischen Verkündigung werden Mal um Mal künftige Handlungen Gottes mit einem »Wenn« verbunden, dessen Gehalt Handlungen der Menschen sind: wenn das Volk zu ihm umkehrt, wird er sich zu ihm kehren. Selbstverständlich wird damit nicht dem Willen Gottes eine Abhängigkeit vom Menschenwillen zugeschrieben: Gott ist es, der immer wieder und wieder in das dialogische Verhältnis zum Menschen treten will. Hier waltet keine Dialektik, sondern das nicht zu dialektisierende Geheimnis der Urbeziehung zwischen Gott und Mensch, je und je sich in Momenten faktischen Geschehens in Biographie und Geschichte kundgebend. Und im Zusammenhang damit: es gibt keinen alttestamentlichen Text, auf Grund dessen gesagt werden könnte, Gott sei »für die Propheten« oder für irgendwen sonst, »ein verborgener Gott«. Er ist kein verborgener, sondern ein sich verbergender Gott, wie Deuterojesaja an einer grundwichtigen Stelle (45, 15) die von Gott befreiten Weltvölker ihn anrufen läßt: er hatte sich verborgen, und sie waren versklavt, dann aber hatte er sich als »der Befreier« offenbart und hatte sie in die Freiheit geführt. Wann aber verbirgt sich Gott? Das hatte schon einst Jesaja (8, 8, 17, 20) eindeutig ausgesprochen: wenn ein Volk die »langsamen Wasser« des wahren geschichtlichen Geschehens »verachtet«, dann verbirgt Gott sein Antlitz vor ihm, bis es zu ihm, »zur Weisung und zur Bezeugung«, umkehrt. Wie vor-, so nachexilische Propheten haben als von Gott Ermächtigte dieses geschichtsdialogische Wenn gesprochen. In dem großen biblischen Wiederholungsstil hören wir von Hosea (14, 2, 5) bis Maleachi (3, 7) die göttliche Handlung der menschlichen antworten, in einer zuerst ganz frei tönenden, zuletzt formelhaft werdenden Entsprechung von Verb und Verb. Nur an der Endschwelle des babylonischen Exils, in der Stunde der geschehenen Befreiung Israels und der Weltvölker, verstummt die Sprache der Alternativik, verdrängt von der deuterojesa80. Taubes 405 ff.
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nischen Doppelbotschaft, der von der vollzogenen geschichtlichen Sendung des Kyros und der von der über jetzige und künftige Generationen hin zu vollziehenden Sendung des »Knechts«. Man hält mir entgegen 81 , Deuterojesaja sei somit meiner eigenen Unterscheidung nach nicht unter die Propheten, sondern unter die Apokalyptiker zu rechnen, die das Geheimnis des dialogischen Geschehens zwischen Gott und Mensch nicht mehr kennen. Das trifft aber keineswegs zu: der namenlose Geschichtssprecher gehört nicht unter sie. Die Sprache der Alternative schweigt hier nur deshalb, weil in den Liedern vom »Knecht«, in denen die Botschaft zentriert, die geschichtlich-übergeschichtliche Dialogik zwischen Gott und Mensch ihre Höhe erreicht. Es trifft aber auch nicht zu, daß die prophetische Alternativik hier und bei den Apokalyptikern durch eine »neue« ersetzt werde, die nämlich, ob man die kommende Wandlung wahrnimmt oder nicht. Eine solche Alternative, also eine Wahl, vor die ein Einzelner oder eine Gemeinschaft gestellt wird, kommt bei Deuterojesaja nicht vor. Wenn es (48, 18 f.) unter emphatisch viermaliger Wiederholung des Wortes »blind«, von dem »Knecht« heißt, er sei blind gewesen, so birgt sich darin durchaus keine Alternative: Gott hat ihn sehend gemacht, ja er erweckt ihm auch immer neu das Hören (50, 4), damit er die Sendung zu erfüllen vermöge. Das Bild von den Söhnen des Lichts und den Söhnen der Finsternis, das die Apokalyptiker aus der Sprache des iranischen Dualismus übernehmen werden, ist Deuterojesaja, dessen Gott »das Licht bildet und die Finsternis schafft«, vollends urfremd. IX. Zur Darstellung des Chassidismus Der Beitrag dieses Buches über meine Darstellung des Chassidismus gibt mir eine willkommene Gelegenheit, diesen Gegenstand, soweit das an mir ist, mit einiger Präzision zu klären. Es wird darauf hingewiesen, meine Darstellung sei keine historische Arbeit, denn sie behandle die chassidische Lehre nicht in ihrer Vollständigkeit und berücksichtige nicht die Gegensätze, die zwischen den verschiedenen Strömungen der chassidischen Bewegung gewaltet haben. Das Gewebe, als das mein Werk angesehen wird, sei »aus selektiven Fäden gewirkt«.
81. Taubes 406.
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Ich stimme dieser Ansicht bei, wenn auch freilich nicht den Folgerungen, die daraus gezogen werden. Seit ich in meiner Beschäftigung mit dem Gegenstand zu einem gründlichen Quellenstudium gelangt bin, d. i. etwa seit 1910 (die früheren Arbeiten waren nicht hinreichend fundiert), habe ich mir nicht vorgesetzt, eine historisch oder hermeneutisch umfassende Darstellung des Chassidismus zu geben. Schon damals wuchs in mir das Bewußtsein, daß meine Aufgabe ihrem Wesen nach eine selektive war. Zugleich aber gewann ich eine immer festere Gewißheit, daß das Prinzip der Selektion, das hier waltete, nicht einer subjektiven Vorliebe entsprungen war. In dieser Hinsicht ist meine Arbeit am Chassidismus wesentlich gleicher Art wie meine Arbeit am Judentum überhaupt. Von Leben und Lehre des Judentums habe ich das behandelt, was meiner Einsicht nach seine eigentliche Wahrheit und das für seine Funktion in der bisherigen und künftigen Geschichte des Menschengeistes das Entscheidende ist. Diese meine Haltung schließt selbstverständlich von ihren Grundlagen an eine Wertung ein; aber das ist eine Wertung, die – daran hat mich in all der Zeit kein Zweifel angerührt – ihren Ursprung in dem unerschütterlichen Kernbestand der Werte hat. Seit ich zur Reife der Einsicht, des Einblicks gelangt hin, habe ich kein Sieb gehandhabt; ich war ein Sieb geworden. Wenn dem aber so ist, muß der Charakter dieser siebenden Tätigkeit objektiv gekennzeichnet werden können, d. h. es muß in diesem Falle erklärt werden können, warum das Aufgenommene zu Recht aufgenommen wurde, das Unaufgenommene zu Recht unaufgenommen verblieb. Es ist nicht schwierig, dies zu erklären und damit das objektive Kriterium der Selektion deutlich zumachen. G. Scholem hat nachdrücklich darauf hingewiesen 82 , daß der Chassidismus keine neue, in irgendeinem wesentlichen Punkte über die kabbalistische Überlieferung hinausgehende mystische Doktrin hervorgebracht hat. »Die Lehre ist hier ganz in Persönlichkeit verwandelt 83 .« In der Tat ist der Chassidismus, auf seine Theorie hin betrachtet, ein erlauchtes Epigonentum. Aber auf das persönliche Leben seiner Führer hin betrachtet, wie wir es aus der beispiellosen Fülle von Aufzeichnungen ihrer Jünger, nach Ausscheidung des lediglich Legendären, zu rekonstruieren vermögen, bedeutet es das Aufbrechen einer mächtigen Ursprünglichkeit gläubigen Lebens, dem wir in der Religionsgeschichte nur sehr Weniges an die Seite zu stellen vermögen. Als »Wiederbelebungsbewe-
82. Scholem, »Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen« (1957); 370 ff. 83. a. a. O., 377.
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gung« hat Scholem 84 die chassidische Bewegung bezeichnet. Aber wo hätte es je eine »Wiederbelebung« von solcher über sieben Generationen sich erstreckenden Mächtigkeit der individuellen Lebensführung und des gemeindlichen Enthusiasmus gegeben? Vergleichen läßt sich, soweit ich sehe, jenem Teil des chassidischen Schrifttums, der vom Leben der Meister erzählt, nur das des Zen-Buddhismus, das des Sufismus (weniger), das des Franziskanertums; aber in keiner von diesen Bewegungen finden wir eine Dauerstärke der Vitalität und eine Umfassung des menschlichen Alltags wie hier. Und dazu kommt, daß hier und nur hier es nicht das Leben von Mönchen ist, das berichtet wird, sondern das Leben von verehelichten, kinderzeugenden geistigen Führern, die an der Spitze von aus Familien zusammengesetzten Gemeinden stehen. Hier wie dort herrscht die Hingabe an das Göttliche und die Heiligung des gelebten Lebens durch diese Hingabe; aber dort wurde sie von einer asketischen Einschränkung der Existenz getragen, auch wo ein helfender und lehrender Umgang mit dem Volk gewahrt wird, im Chassidismus aber erstreckt sich die Heiligung grundsätzlich auf das natürliche und gesellschaftliche Leben. Hier allein tritt der ganze Mensch, wie Gott ihn erschaffen hat, in die Heiligung ein. Mit Recht hat Scholem die Dwekuth, das »Haften« der Seele an Gott, als das zentrale Anliegen der chassidischen Lehre bezeichnet. Nur daß diese Konzeption der jüdischen Überlieferung hier zu einer zwiefältigen Entfaltung gelangt ist. Bei den Zaddikim, die – wenn auch, wie gesagt, ohne Erfolg – die kabbalistische Lehre auszugestalten versuchen, herrscht die uns schon aus der Gnosis bekannte Ansicht vor, man müsse sich aus der »fleischlichen« Wirklichkeit des Menschenlebens in das »Nichts« des reinen Geistes erheben, um zum Kontakt mit Gott zu gelangen, der ja schon in der Bibel »der Herr der Geister in allem Fleisch« genannt wird. Aber ihr steht – ohne daß eine Auseinandersetzung zwischen beiden stattfände – die Ansicht gegenüber, dieses »ständige BeiGott-sein«, wie es Scholem im Anschluß an den 73. Psalm nennt, werde vielmehr dadurch erreicht, daß der Mensch alles von ihm Gelebte Gott zuweihe. Antwortet doch schon der Talmud (Kethuboth 111) auf die Frage, wie es denn dem Menschen möglich sein sollte, an der Schechina zu haften: »Durch gute Taten«, und das heißt, im Sinne der talmudischen Zwei-Triebe-Lehre, wonach man Gott mit beiden geeinten Trieben, dem guten und dem bösen geeint, dienen soll: indem man das, was man tut, mit der rechten Kawwana, mit der Zuweihung an Gott tut und es so heiligt. 84. a. a. O., 345.
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Die erste dieser beiden Anschauungen, die von der Vergeistigung, finden wir im Chassidismus zuerst bei seinem größten Denker, dem Maggid von Mesritsch, die zweite, die von der Heiligung alles Lebens, finden wir zuerst bei dessen Lehrer, dem Baal-Schem-Tow. Der Baalschem legt diese seine Lehre mit Vorliebe im Anschluß an zwei biblische Sprüche dar: »Ihn erkenne auf all deinen Wegen« (Sprüche Salomos, 3, 6) und »Alles, was deine Hand zu tun findet, tu es mit deiner Kraft« (Prediger 9, 10). Den ersten Spruch deutet er: »Sogar in allen leiblichen Dingen, die er tut, ist not, daß es ein Dienst an einem hohen Bedürfen sei … alles um des Himmels willen.« Und den zweiten: »Daß er die Tat, die er tut, mit allen seinen Gliedern tue, der Erkenntnis gemäß, und dadurch gibt es Ausbreitung der Erkenntnis in alle seine Glieder.« Ganz erfüllen kann dieses Geheiß freilich nur »der vollkommene Mensch«. »Der vollkommene Mensch«, sagt der Baalschem, »vermag höchste Einungen zu vollziehen« (d. h. Gott mit seiner im Exil der Welt weilenden Schechina zu vereinigen), »sogar mit seinen leiblichen Handlungen, so Essen, Trinken, Beischlaf, und Verhandlungen über leibliche Dinge mit seinem Gefährten … wie es heißt: Und Adam erkannte sein Weib Chawa.« Unter den dem Baalschem nahestehenden Zaddikim ist es vor allem Rabbi Jechiel Michal von Zloczow, der diese Lehre ausgebaut hat, wiewohl er sich nach dem Tode des Meisters dem großen Maggid anschloß. Das Wort der Schrift »Seid fruchtbar und mehret euch« legt er so aus: »Seid fruchtbar, aber nicht wie die Tiere, seid mehr als sie, geht aufrechten Wuchses und haftet an Gott, wie der Zweig an der Wurzel haftet, und eure Begattung sei ihm geweiht.« Das Angeführte ist wohl des Beweises genug, daß die innere Dialektik von Vergeistigung und Heiligung, auf die ich hinzeige, nicht etwa einer späteren Entwicklung der chassidischen Bewegung angehört, sondern schon mit ihrer Stiftung auftritt, und zwar solcherweise, daß die Lehre von der Heiligung die ursprüngliche These und die von der Vergeistigung die auf sie folgende, offenbar der stärker gewordenen Aufnahme der kabbalistischen Tradition entstammende ist. Eine unmittelbare Wirkung des geheiligten Menschenlebens auf die göttliche Sphäre wird freilich schon in der These dem Zaddik vorbehalten. Aber immer wieder, in Sprüchen, Gleichnissen und Erzählungen, weiß der Baalschem und wissen mehrere seiner Jünger den einfältigen, unwissenden Mann zu rühmen, dessen Lebenskräfte in einer ursprünglichen Einheit verbunden sind und Gott eben mit dieser Einheit dienen. Auch in dieser niedern, ganz ungeistigen Gestalt wirkt das ungeteilte Dasein des Menschen auf das obere Geschehen.
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Zu einer eigentlichen Kritik der kabbalistischen Vergeistigungslehre kommt es jedoch erst spät, und auch nur wie beiläufig. Eine neue, in sich zusammenhängende Doktrin, von der aus man jene hätte frontal angreifen können, ist ja eben nicht entstanden, nur eine neue Art von Leben, die sich immer wieder mit der rezipierten Lehre verständigen muß. In dieser kritischen Äußerung, die uns aus dem Mund eines Zaddiks der fünften Generation bekannt ist, geht es um die Restitution des ursprünglichen Sinns des Gebets als des Sprechens des Menschen zu Gott. An Stelle der biblischen Unmittelbarkeit von dem rein personhaften Sein des betenden Menschen zu dem nicht rein personhaften, aber dem Beter personhaft gegenüberstehenden Sein Gottes hat die Kabbala eine sich an die Form des Gebetes haltende Meditation gesetzt, deren Gegenstand die innere Struktur der Gottheit, die Konfigurationen der »Sefiroth« und die zwischen ihnen waltende Dynamik waren. Dem Wortlaut des Gebets nach ist Gott noch der Partner des Dialogs zwischen Himmel und Erde, der hinzugekommenen Theosophie nach aber ist er das nicht mehr, er ist das Objekt eines ekstatischen Betrachtens und Handelns geworden. Dieser Wandlung entspricht, daß die überlieferte Liturgie, unter Beibehaltung des Wortlauts, von einem Netz von »Kawwanoth«, von »Intentionen« bedeckt wird, die den Beter zur Versenkung in die Wörter und Buchstaben und im engsten Zusammenhang damit zum Vollzug vorgeschriebener Mutationen, insbesondre immer neuer Umvokalisierungen des Tetragrammatons, anleiten. Die chassidische Bewegung hat das so gestaltete kabbalistische Gebetbuch unbedenklich übernommen; der Baalschem selber hat es sanktioniert. Die bei solcher Sachlage unvermeidliche Zweiteilung der Beter in das schlichte Volk, das im Wort die Not der Herzen stillte, und die »höheren Menschen«, die der meditatorischen oder theurgischen Aufgabe oblagen, drohte bald das fundamentale Gemeinsamkeitsgefühl zwischen dem Zaddik und seinen Chassidim anzutasten. Von den großen Betern der dritten Generation will einer, Schmelke von Nikolsburg, den Riß dadurch kitten, daß er die Gemeinde zum Beten um die Heimkehr der Schechina aus ihrem Exil und zur opfergleichen Hingabe der Seelen zu erheben sucht, aber ein anderer, Levi Jizchak von Berditschew, geht auch betend ganz und gar in die volkstümliche Grundhaltung des freien Dialogs ein; der dritte hingegen, Schlomo von Karlin, sieht sein eignes Beten, offenkundig eben nur das Beten des Zaddiks, als ein nur von ihm zu vollziehendes Wagnis an (»vielleicht werde ich auch diesmal noch nicht sterben«). Es ist zu verstehen, daß es ein Schülersschüler dieses Zaddiks, Mosche von Kobryn, ist, der jene Warnung ausspricht, auf die ich hinweise. Von einem Verfasser kabbalistischer Schriften über die geheimen Kawwanoth des Gebets befragt, ant-
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wortet er: »Merke wohl, daß das Wort kabbala von kabbel, annehmen, aufnehmen, und das Wort kawwana von kawwen, auf etwas richten, stammt. Denn der Endsinn der Weisheit der Kabbala ist: das Joch des Gotteswillens auf sich nehmen, und der Endsinn aller Kunst der Kawwanoth ist: sein Herz auf Gott richten.« Das ursprüngliche, das von dem Urglauben Israels gemeinte Leben in der haftenden Hingabe an den Herrn des Lebens lehnt sich gegen die Hypertrophie der mystischmagischen Doktrin auf. Worauf es ankommt, ist: was immer mir geschieht, aus den Händen Gottes zu empfangen und, was immer ich tue, in der Intention auf Gott hin zu tun. Die Einsicht des Baalschem in die dem Menschen erreichbare und sein ganzes Leben zu umfassen vermögende wechselseitige Unmittelbarkeit der Beziehung zu Gott hat hier beim Schülersschüler einen semasiologischen Ausdruck gewonnen, indem er von dem späten, spezifizierenden Bedeutungswandel der Worte auf ihren schlichten Grundsinn zurückgreift. Daß es hier aber gar nicht mehr um eine zwar das Leben betreffende, aber doch noch über ihm schwebende Sache des Geistes, sondern durchaus um eine Sache des Lebens selber geht, dafür darf als zwingender Beleg die Antwort angeführt werden, die ein Schüler eben jenes Zaddiks nach dessen Tode auf die Frage, was für seinen Lehrer das Wichtigste gewesen sei, erteilte; sie lautet: »Womit er sich gerade abgab.« Der Umgang mit Gott im gelebten Alltag, das Annehmen und das Zuweihen des jetzt und hier sich Ereignenden, ist je und je das Wichtigste. Von den zwei Elementen wird das aktive besonders betont. »Ihr sollt«, wird gesagt, »ein Altar für Gott werden.« Auf diesem Altar soll alles dargebracht werden, der vom Baalschem vollzogenen Ausgestaltung der kabbalistischen Lehre von den in allen Dingen gegenwärtigen und der Erlösung harrenden heiligen Funken gemäß. Es trifft nicht zu, was mir entgegengehalten wird 85 , meine »Schau des Chassidismus« lasse sich in dem Worte zusammenfassen, hier werde »die Kluft zwischen Gott und Welt geschlossen«. Nicht geschlossen wird sie, sondern überbrückt, und zwar mit der paradoxen Anweisung an den Menschen, je und je die unsichtbare Brücke zu betreten und sie eben dadurch wirklich zu machen. Denn dazu ist der Mensch erschaffen und dazu die Dinge dieser Welt, die jedem einzelnen zugehören und, wie der Baalschem sagt, »mit aller Macht begehren, ihm nahezukommen, damit die Funken der Heiligkeit, die in ihnen sind, durch ihn erhoben werden«, das heißt: durch ihn Gott zugebracht werden. Darum soll man, wie es in einem andern Spruch des Baalschem heißt, »sich seiner Geräte und all 85. Schatz-Uffenheimer, 276.
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seines Besitzes erbarmen«. Jede Handlung soll »auf den Himmel zu« geschehen. Wir wissen aus überlieferten Äußerungen des Baalschem in der Ichform, daß er alles Leibliche ohne Ausnahme in die Sphäre der Intention einbezog. Darum wird in der zweifellos der Lehre des Meisters getreueren Polnaer Tradition das Verhältnis zwischen Leib und Seele dem zwischen Mann und Weib verglichen, von denen jedes nur die Hälfte eines Wesens und, um zur Erfüllung des Lebens zu gelangen, auf die andre Hälfte angewiesen sei. Ist das nicht des »Realismus« genug? Und von einem »Nichten« des Konkreten ist in dieser Linie des Chassidismus – die mit seinem Anfang beginnt – nichts zu finden. Die Wesen und Dinge, an denen wir diesen Dienst tun, sollen ja ungemindert bestehenbleiben; die »heiligen Funken«, die »erhoben werden«, müssen ihnen damit nicht entzogen werden. Gewiß gibt es nach der Lehre des Baalschem auch eine solche Art, sie zu »befreien«, daß sie auf die Wanderung »von Gestein zu Gewächs, von Gewächs zu Getier, von Getier zu redendem Wesen« gebracht werden; wenn er aber sagt, alles, was der Mensch zu eigen habe, seine Diener, seine Tiere, seine Geräte, alles berge Funken, »die der Wurzel seiner Seele zugehören und von ihm erhoben werden sollen«, und darum »begehrten sie mit aller Macht, ihm nahezukommen«, so ist doch wohl offenbar, daß hier keinerlei Annihilierung, sondern Weihung, Heiligung, Wandlung – Wandlung ohne Aufhebung der Konkretheit – gemeint ist. Darum kann der Baalschem in diese seine Lehre auch die Sünde einbeziehen (freilich in einem der sabbatianischen Theologie geradezu entgegengesetzten Sinn). »Und was sind das für Funken«, fragt er, »die in der Sünde wohnen?« Und er antwortet: »Es ist die Umkehr. In der Stunde, wo du ob der Sünde Umkehr tust, hebst du die Funken, die in ihr waren, in die obere Welt.« Das ist kein Nichten; es ist ein Brückenschlagen. Vielleicht noch deutlicher hat ein großer Zaddik, der eher ein Genosse als ein Schüler des Baalschem zu nennen ist, Pinchas von Korez, das Eigentliche zum Ausdruck gebracht, wenn er sagt, es gebe weder Worte noch Handlungen, die in sich eitel sind, man mache sie nur zu eitlen Worten und Handlungen, wenn man sie eitel redet und eitel tut. Daß, wie mir gegenüber behauptet wird 86 , »die Frage, vor die der Chassidismus gestellt war«, darin bestanden habe, »daß das Leben ihm in Tun einerseits und Ausrichtung andererseits zerfiel«, trifft demnach nicht zu. Nicht »der Chassidismus« war vor diese Frage gestellt, sondern seine spiritualistische Ausprägung, die freilich in der Schule des Maggids 86. Schatz-Uffenheimer, 286.
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von Mesritsch und damit in der Doktrin, die ja hier ausgebaut worden ist, die Oberhand gewann. Nur hier ist es möglich, vom »sinnlichen Schein« zu sprechen. Wo immer aber die neue Art zu leben stärker wird als die der kabbalistischen Tradition hörige Doktrin, da erweist sich die Akzeptation des Konkreten um seiner Heiligung willen als »Entscheidung« und nicht als »Problem«. Die innere Dialektik der chassidischen Bewegung ist die zwischen einem im Bereich der »geistigen« Menschen verbleibenden unoriginalen Kabbalistik und einem unerhört neuen, weil Volksgeschlecht um Volksgeschlecht ergreifenden Leben mit der Welt. Das ist die Grundlage meiner Selektion. Ich habe gewählt, was ich gewählt habe, vielmehr: ich habe es durch mein Herz wie durch ein Sieb gehen lassen, weil hier ein Weg ist, ein nur eben zu ahnender, aber ein Weg. Ich habe das Mal um Mal mit einer, wie mir scheint, hinreichenden Deutlichkeit ausgesprochen, wann immer ich in diesem Zusammenhang von mir zu reden hatte 87 . Daß ich dahin mißverstanden werden konnte 88 , es gehe mir letztlich, wie etwa Fichte, um »ein Tun um seiner selbst willen«, habe ich freilich nicht vorausgesehen. Es schien mir klar genug, daß es mir um ein Tun um der Wiederherstellung der Unmittelbarkeit zwischen Gott und Mensch willen, um der Überwindung der Gottesfinsternis willen geht. Darum hat sich die Selektion notwendigerweise auf die zu Unrecht verachteten »Anekdoten« – Geschichten von gelebtem Leben – und »Aphorismen« – Sprüche, in denen sich gelebtes Leben dokumentiert – gerichtet. Die »Anekdoten« erzählen vom Leben der Zaddikim, und die »Aphorismen«, die dem Mund von Zaddikim abgelauscht sind, sprechen den Sinn dieses ihres Lebens mit großer Prägnanz aus. Die zentrale Bedeutung des Zaddiks ist kein Gegenstand der inneren Dialektik; sie ist vom Anbeginn der Bewegung das Gemeinsame und Tragende, und zwar nicht als Theorem, sondern als Faktum, das von der Lehre interpretiert wird. Unter den großen Zaddikim sind aber deutlich zwei Arten zu unterscheiden: der Zaddik, der wesentlich Lehrer ist und dessen entscheidende Wirkung die auf die Schüler ist, und der Zaddik, der wesentlich Helfer ist, und dessen entscheidende Wirkung die aufs Volk ist. Das ist kein sekundärer Unterschied, sondern einer, in dem die innere Dialektik zum Ausdruck kommt: die erste Art gehört mehr auf die Seite der Ver87. Zuletzt am Schluß d. Nachworts zur deutsch. Ausgabe »Gog und Magog«, 1949. 88. Schatz-Uffenheimer 281.
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geistigung, die zweite mehr auf die andere, die der Verwirklichung. In der Person des Baalschem sind noch beide vereinigt, nach ihm gehen sie auseinander. Für die Geschichte der Bewegung sind die großen Lehrer und Schulhäupter bestimmend gewesen, wie der Maggid von Mesritsch, Elimelech von Lisensk, der »Seher« von Lublin; das volkstümliche Leben der Bewegung konzentriert sich in Gestalten wie der Berditschewer, Sussja von Hampol, Mosche Löb von Sasow. Sie sind das schlechthin Einzigartige am Chassidismus. Das Verhältnis zu den Schülern hat etwa auch im Schrifttum des Zen-Buddhismus exemplarische Gestalt angenommen, das zum unwissenden Volk, zur Gasse nirgends in der Welt so wie hier. Einen besonders charakteristischen Zug der Zaddikim der zweiten Art, der aber ihnen und dem Baalschem gemeinsam ist, sehe ich in jenem eigentümlichen Gefühl der Wesenverwandtschaft, das hier den hohen Menschen, der die Einheit gefunden hat, zu dem Einfältigen zieht, der auf niederer Geistesstufe sich Gott lebensmäßig hingibt. Was der Baalschem zu seinen Chassidim von dem treuen Strumpfwirker sagt – »Heute habt ihr den Grundstein gesehen, der das Heiligtum trägt, bis der Erlöser gekommen ist« – ist, wenn auch nicht in der Lehre, sondern in der Legende erhalten, ein primär wichtiger Ausspruch. Nicht umsonst ist ein ganzer Kranz verwandter Geschichten vom Baalschem überliefert. Die sagenhaften unter ihnen ergänzen die unverkennbar authentischen. Vollends unverständlich ist mir, wie man 89 meine Äußerung, die chassidische Botschaft von der Erlösung erhebe sich gegen die messianistische Selbstunterscheidung eines Menschen von dem anderen Menschen, dahin interpretieren kann, ich sähe im Chassidismus den »Vertreter einer atomistischen Ideologie«. Ich habe in meinen Schriften immer wieder darauf hingewiesen, was es bedeutet, wenn ein Mensch aus der Verborgenheit des »Köchers«, in den Gott ihn als »blanken Pfeil« versenkt hat (Jesaja 49, 2), eigenmächtig hervortritt und sich und seinen Handlungen die erlöserische Funktion zuspricht. Der Chassidismus ist eine gegen die Automessianistik gerichtete Bewegung. Man braucht nur an Stelle des Wortes »Selbstunterscheidung« das Wort »Unterscheidung« zu setzen, und schon ergibt sich, ich hielte den Chassidismus für eine »im Grunde antimessianische Weltanschauung« 90 . Was ich in Wahrheit als den großen chassidischen Beitrag zum Glauben an die Erlösbarkeit der Welt erkannt habe, ist dies, daß jeder Mensch an ihrer Erlösung wirken, aber keiner sie bewirken kann. Dies ist gemeinsame chassidische Einsicht. In der inneren Dialektik der Bewegung 89. Schatz-Uffenheimer 286. 90. Schatz-Uffenheimer 287.
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aber stehen einander zwei Grundanschauungen gegenüber. Die eine behauptet, der Mensch könne an der Erlösung der Welt wirken, indem er magisch auf die göttlichen Konfigurationen einwirkt, die andere erklärt dem gegenüber, nur dadurch könne der Mensch an der Erlösung der Welt wirken, daß er mit seinem ganzen Wesen sich auf Gott zu bewegt, zu ihm »umkehrt« und alles, was er von nun an tut, auf Gott zu tut. Damit steigert er, in einem der Kraft seiner Bewegung entsprechenden Maße, die Erlösbarkeit der Welt: er »nähert« sie der himmlischen Einwirkung. Das ist das Grundthema meines Buches »Gog und Magog«, der einzigen größeren Erzählung, die ich geschrieben habe. Ich mußte sie schreiben, weil ich versuchen mußte, die innere Dialektik, die mir sichtbar und spürbar war, dem heutigen Menschen sichtbar und spürbar zu machen. Da meine Kritikerin auf dieses Buch mit einiger Ausführlichkeit eingeht, will auch ich hier etwas zur Klärung seines Gegenstands beitragen. Zunächst ein Wort zu der Geschichte 91 von des »Sehers« Freude an dem selbstsicheren, aller Versuchung zur Schwermut widerstehenden Sünder. Hier hat meine Kritikerin, offenbar unter dem Einfluß ihres polemischen Enthusiasmus, nicht gemerkt, daß es mir gar nicht um eine Charakterisierung des Chassidismus (innerhalb dessen mir keine andere Äußerung dieser Art bekannt ist), sondern um eine höchst persönliche des Sehers von Lublin zu tun ist, der, selber, wie ich andeute, immer wieder von der Schwermut angewandelt, die Schwermutslosigkeit bewundert. Der »Metaphysik« des Sehers von Lublin, oder vielmehr seinen magischen Unternehmungen, die darauf hinauslaufen, die im napoleonischen Völkerkampf tätige Dämonie aufs höchste zu steigern, bis sie an der Pforte des Himmels rüttelt und Gott welterlösend hervortritt, stellt der »heilige Jude«, ohne die kabbalistische Grundlehre aufzugeben, im wesentlichen die schlichte menschliche »Existenz« entgegen. Er hat es nicht mit dem weltgeschichtlichen Gog zu tun, aus dessen Kriegen, die die Menschenwelt zum Chaos wandeln, der Messias hervorgehen soll, und den es deshalb ins äußerste zu treiben gelte, sondern mit dem dunkeln Gog in unserer eigenen Brust. Ihn durch die »Umkehr«, also durch die Richtungsänderung der unentbehrlichen Leidenschaft, in eine lichte, unmittelbar an der Erlösung wirkende Kraft zu wandeln, das ist es, wozu er aufruft. Man sollte diese Botschaft nicht durch Zusammenstellung mit dem oder jenem modernen Gedankengebild zu entwerten suchen. Sie 91. Schatz-Uffenheimer 293.
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»anthropozentrisch« zu nennen, erscheint mir nicht sinnreich; sie ist vielmehr bipolar. Der »heilige Jude« greift damit auf den schon innerhalb der Prophetie Israels hörbaren Ruf zurück, erst müßten wir »umkehren«, ehe Gott von dem »Entflammen seines Zorns« »umkehrt«, und auf die in der inneren Dialektik des talmudischen Zeitalters vernehmbare Lehre, alle eschatologischen Kombinationen seien dahin und es komme nunmehr auf die menschliche Umkehr allein an. In der Lehre des Baalschem hat sie ihren mystischen Ausdruck in dem geheimnisschweren Spruch gefunden: »An euch ist der Anbeginn. Denn wenn zuerst in dem Weibe die Gewalt der Zeugung sich regt, wird ein männliches Kind geboren 92 .« Daß es dem »heiligen Juden« in der aktivsten Phase seines Lebens um eben diese Bewegung nach oben zu tun war, geht eindeutig aus dem von Schlomo von Radomsk zuverlässig tradierten Spruch hervor: »Kehret um, kehret eilig in der Umkehr um, denn die Zeit ist kurz und es ist keine Muße zu weiterer Seelenwanderung mehr, denn die Erlösung ist nah.« Daß dies in der Tat der Kernspruch der Predigt war, die er auf seiner »großen Fahrt« durch die galizischen Städtchen Mal um Mal, wenn auch anscheinend in verschiedenen Fassungen, wiederholte, hatte sich dort noch in meiner Jugend in mündlichen Erzählungen erhalten. Der Sinn des Rufs ist offenbar dieser, der Mensch müsse jetzt die entscheidende Bewegung vollziehen, ohne sich darauf zu verlassen, daß seine Seele noch Zeit habe, vorher zu höheren Lebensformen aufzusteigen, denn jetzt habe die Sphäre der Erlösung sich unserer Welt genähert, und es tue nunmehr not, sie unverzüglich an uns zu ziehen. Was aber das Geheimnis des Todes des »heiligen Juden« betrifft, so habe ich die verschiedenen darüber erhaltenen Äußerungen berücksichtigt, aber die bevorzugt, die hier einen Einfluß des »Sehers« erblickte; das habe ich getan, weil hier sowohl die mit dessen Theurgie zusammenhängende Ambivalenz im Verhältnis zu seinem Schüler als auch des Schülers trotz aller sachlichen Gegnerschaft ungeminderter persönlicher Gehorsam zu einem unüberbietbaren Ausdruck kommt. Übrigens: der Mogielnicer Rabbi, der in diesem Zusammenhang angeführt wird 93 , hat zwar dem »Juden« nahegestanden, hat sich aber nie seinen Schüler genannt und ist im wesentlichen der Tradition seines Großvaters, des Maggids von Kosnitz, treugeblieben. Die an eine seiner berühmten Erzählungen geknüpfte Frage 94 »Hat also ›Pžysha‹ nicht ›Lublin‹ beigegeben?« ist also 92. Ich habe diesen Satz seinerzeit mit Bedacht an den Schluß meiner unter dem Titel »Des Baalschem Unterweisung im Umgang mit Gott« veröffentlichten Auswahl gesetzt. 93. Schatz-Uffenheimer 299. 94. Schatz-Uffenheimer 299.
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abwegig. Im übrigen ist der für mich wichtigste Unterschied zwischen den beiden Schulen nicht in einer Verschiedenheit der Doktrin, sondern in einer der »Existenz« zu sehen: in Lublin legte sich der Lehrer den Schülern auf, in Pžysha half er ihnen, zu sich selbst zu kommen. – Wer es aber wagt, im höchsten, unbefangenen Ernst jene Kontroverse zwischen »Metaphysik« und »Existenz« in die Problematik unserer eigenen Weltstunde zu übertragen, wird erkennen, daß alle magisierende Gnosis den Versuch einer Flucht vor dem Geheiß unsrer menschlichen Wirklichkeit in die Finsternis überm Abgrund bedeutet. X. Schlußwort Unter den Beiträgen dieses Buches ist einer – der von Walter Kaufmann –, in dem mit aller Deutlichkeit gesagt wird 95 , daß alle Werke meiner Reife, welchem Gebiete immer diese oder jene zugerechnet werden, letztlich einem einzigen Bereich angehören, weil ihr Thema in letzter Instanz ein einziges ist. Walter Kaufmann umschreibt diese Einheit mit dem Begriff des religiösen Denkens. Dem kann ich wohl zustimmen; nur darf es nicht dahin mißverstanden werden, als ob ein Denken von einer Religion aus gemeint sei. Ich bin in frühen Stadien meines Wegs einigen großen Denkern begegnet, die von einer Religion aus dachten, Pascal, Hamann, Kierkegaard, und ich habe von ihnen gelernt, Lehre, die ich nie vergessen kann; aber mein Weg war von dem ihren grundverschieden und ist es geblieben: er konnte ihm nicht parallel werden. Um dies deutlicher zu machen, will ich hier einige Sätze anführen, die ich 1923 geschrieben habe; ich wähle sie auch deshalb, weil der Aufsatz, dem sie entnommen sind 96 , in keinem meiner Bücher wiederabgedruckt worden ist. Es heißt da: »Sooft es in der Geschichte erst einmal wieder Religion gegeben hat, war in ihr auch eine Kraft da, die die Menschen – nicht in anfechtbarer Weise wie die profanen Gewalten, sondern mit höchst legitimem Aussehen – von Gott ablenkte. Daß ihr dabei ein großer Erfolg beschieden war, liegt zumeist daran, daß es weit gemächlicher ist, mit der Religion als mit Gott zu tun zu haben, der einen aus Heimat und Vaterhaus auf die ruhelose Wanderschaft verschickt. Dazu kommt, daß Religion ihren kul95. Walter Kaufmann 572. 96. »Religion und Gottesherrschaft« (Besprechung des gleichnamigen Buches von Leonhard Ragaz), veröffentlicht in der Frankfurter Zeitung vom 27. 4. 1923.
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tivierten Anhängern allerlei ästhetische Erquickungen zu bieten hat, wogegen Gott dem Menschen auch noch Bilden und Schauen in ein Opfer verwandelt, das zwar freudigen, aber nicht eben genießerischen Herzens dargebracht wird. Deshalb sind zu allen Zeiten die wachen Geister wachsam gewesen und haben vor der in der Religion versteckten ablenkenden Kraft gewarnt, – welche ja nur die höchste Sublimierung der Kraft ist, die sich auf allen Lebensgebieten in deren krasser Verselbständigung äußert … Aber entweder ist das Religiöse eine Wirklichkeit, vielmehr die Wirklichkeit, nämlich das vollständige, alles Teilhafte übereinende Dasein des wirklichen Menschen in der wirklichen Gotteswelt; oder es ist eine Ausgeburt der süchtigen Menschenseele, und sein Brauch ist rechtmäßig durch die Kunst, sein Gebot durch die Ethik, sein Bericht durch die Wissenschaft schleunig und restlos zu ersetzen.« In jener Bedeutung möchte ich selber wagen, mein Denken ein religiöses zu nennen: es intendiert das vollständige Dasein des Menschen. Eben deshalb aber muß es jede Konzeption einer vollständigen Erkenntnis (»Gnosis« im umfassendsten Sinn) verwerfen. Ich habe oben (in dem Kapitel »Theologie, Mystik, Metaphysik«) und anderswo bereits einiges über diesen Gegenstand gesagt, will ihn hier aber noch einmal zusammenfassend zu klären versuchen. Das »vollständige«, das rechtmäßig religiöse Dasein des Menschen steht nicht in einer Kontinuität, sondern in der wahrhaften Annahme und Bewältigung einer Diskontinuität. Es ist die Diskontinuität von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, die ich als die von Ich-Du-Verhältnis und Ich-Es-Verhältnis zu allem Seienden verstehe. Diese Diskontinuität leugnen heißt den entscheidenden Charakter des Als-Mensch-Daseins leugnen, welches unumstößlich bedeutet: im Angesicht des Seienden stehen, ohne in seinem Angesicht bestehen – und das heißt: verharren – zu können. Aufzuheben ist die Diskontinuität nicht. Aber dieses »Nicht« ist ein zwiefältiges. Daß eine Kontinuität des Ich-Du-Verhältnisses in diesem unserem Leben unerreichbar, ja daß es sogar unmöglich ist zu versuchen sie zu erreichen, das weiß jeder, der aus eigener Erfahrung weiß, um was es geht. Dagegen läßt es sich je und je unternehmen, eine Kontinuität des Ich-Es-Verhältnisses herzustellen: indem man auf dem Grunde dieses Verhältnisses einen Erkenntniszusammenhang, einen vermeintlich zulänglichen Zusammenhang von Aussagbarkeiten erbaut, und diesen nun gewissermaßen zu dem Sein transmutiert, innerhalb dessen und mit dem man zu leben hat. Solang man sich dabei auf die »Welt« beschränkt, erleidet man nur eben die sich daraus notwendig ergebenden Verluste an der Eigentlichkeit des Daseins: das, innerhalb dessen und mit dem man zu leben hat, verdinglicht sich notwendigerweise
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in eben dem Maße, als die Transmutierung gelingt. Schlechthin anderes geschieht, wenn man Gott in den auf dem Grunde des Ich-Es-Verhältnisses erbauten Erkenntniszusammenhang einzubeziehen unternimmt. Das eben tut die Gnosis. Insofern sie echten personhaften Ekstasen entstammt, übt sie Verrat an diesem ihrem Ursprung, in dem sie eben restlos mit keinem Objekt, mit keinem rechtmäßig zum Gegenstand einer Aussage Machbaren mehr zu schaffen hatte. Damit verhebt sie sich nicht bloß an der Transzendenz, sondern auch an dem menschlichen Dasein, weil sie einen nunmehr als vollständig geltenden Erkenntniszusammenhang konstruiert, der in einer angeblich letztgültigen Berufung auf das »erkannte« Mysterium die absolute Legitimität der Transmutierung beansprucht. Daß das Sein, zu dem hier transmutiert wird, letztlich die Annihilierung der gelebten Konkretheit, und das heißt: die Aufhebung der Schöpfung meint, ist folgerichtig. Demgegenüber bedeutet das religiöse Denken in dem von mir angedeuteten Sinn die Akzeptation des menschlichen Daseins in seiner faktischen Diskontinuität; – nur daß wir dem Ich-Du-Verhältnis die Führung zu überlassen haben. Das Ich-Du-Verhältnis, die je und je im irdischen Stoff erscheinende Gnade, gewährt nicht einmal den Anschein einer Sicherheit, und Vorschriften, an die man sich bloß zu erinnern braucht, sind ihm nicht zu entnehmen. Und doch, führen kann es: wenn wir uns nur jeweils, nachdem das Ich-Es-Verhältnis es abgelöst hat, seinem Einfluß nicht entziehen: wenn wir ihm offenbleiben. Dieses Offenbleiben ist die Grundvoraussetzung des im rechtmäßigen Sinn »religiösen« Lebens, d. h. des vollständig gewordenen Daseins des Menschen. Die Diskontinuität wird auch hier nicht überwunden; wir nehmen sie auf uns und bewältigen sie durch den verwirklichten Primat des Dialogischen. Dies ist in der Tat das Thema, dem, seit ich es erfaßt habe, vielmehr seit es mich erfaßt hat, meine Arbeit auf allen Gebieten geweiht war. Manche seiner Erscheinungsformen sind »postulativ«; aber sein Kern ist ein ontologischer. So verstanden, wird dieses Denken, wie gesagt, zu Recht ein religiöses genannt. Aber es darf – auch das sei hier wiederholt – nicht als Denken von einer Religion aus behandelt werden. Mordechai Kaplan 97 schreibt mir zu Unrecht die Ansicht zu, die religiöse Tradition des Judentums sei self-sufficient, woraus sich ergäbe, es gehe mir um eine theologische Anthropologie, die auf einer religiösen Überlieferung gegründet ist. Ich habe verschiedentlich, auch in dieser Antwort, darauf hingwiesen, daß es sich nicht so verhält. Was die Tradi97. Kaplan 236.
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tion des Judentums anbelangt: einige ihrer großen Äußerungen, mit biblischen beginnend und mit chassidischen endend, bilden miteinander das stärkste mir bekannte Zeugnis für den Primat des Dialogischen. Gewiß ist dieses Zeugnis die Wünschelrute gewesen, die mich zur Quelle führte; aber Quelle selbst konnte nichts anderes sein als die Glaubenserfahrung, die mir zuteil geworden ist. Darum habe ich weder die Bibel noch den Chassidismus als Ganzes annehmen können; hier und hier mußte und muß ich scheiden zwischen dem, was mir von meiner Erfahrung auch als Wahrheit einsichtig geworden ist, und dem, was mir nicht solcherweise als Wahrheit einsichtig geworden ist. Viele meiner Leser, von »rechts« und von »links«, werden gegen solch einen »Subjektivismus« protestieren; diejenigen, mit denen ich ein Gespräch führe und deren Erfahrung die meine bestätigt, wissen es anders. Jerusalem
Martin Buber
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Der Dank meines Herzens, den ich in dieser Stunde Seiner Königlichen Hoheit Prinz Bernhard und den Mitgliedern des Preis-Ausschusses aussprechen will, ist kein Dank allgemeiner Art für eine mir zuteil gewordene hohe Ehrung: es ist ein ganz besonderer Dank für die Verleihung dieses bestimmten Preises, der mit dem Namen des Erasmus verknüpft ist. Denn wenn ich meine Grundanschauung mit einem Begriff bezeichnen soll, kann es nur derselbe sein, mit dem wir seine, des Erasmus, bezeichnen: der Begriff eines gläubigen Humanismus. Doch ist hier eine Unterscheidung unerlässlich, und es ist eine wesentliche Unterscheidung. Der gläubige Humanismus des Erasmus bedeutet die Verbindung zweier Prinzipien, die im Leben des Menschen nebeneinander walten, ohne einander zu berühren: die natürliche Menschlichkeit, in der der Mensch daheim ist und die er nur zu entfalten, nur auszubilden braucht, und die Gläubigkeit, in der er, vom Menschlichen sich gleichsam ablösend, sich Gott entgegenhebt. Im Leben der menschlichen Person sind das für diesen Humanismus zwei gesonderte Sphären, von denen keine die andere einschränkt; jeder von beiden sind besondere Zeiten, besondere Bezirke des Lebens zugehörig. Anders ist die Anschauung beschaffen, die man in unserer Zeit als einen gläubigen Humanismus bezeichnen darf und zu der auch ich mich bekenne. Hier erscheinen die Menschlichkeit und der Glaube nicht als zwei getrennte Bereiche, von denen jeder unter einem eigenem Zeichen und unter einem besonderen Gesetze steht: sie durchdringen einander, sie wirken zusammen, ja sie sind so innig aufeinander bezogen, daß wir sagen dürfen: unser Glaube hat unsere Menschlichkeit zur Grundlage, und unsere Menschlichkeit hat unseren Glauben zur Grundlage. Um dieses Verhältnis deutlicher zu machen, empfiehlt es sich, einen nicht unwichtigen Unterschied zwischen dem Denken der Hochrenaissance, dem Erasmus zuzurechnen ist, und dem Denken unseres eigenen Zeitalters ins Auge zu fassen. Es geht hier um die verschiedene Betrachtung des humanum, jenes dem Menschen Eigentümlichen, das ihn von aller übrigen Natur auszeichnend abhebt, des humanum im positivsten Sinn, das zu erkennen, zu ehren und auszubilden uns obliegt. Im Zeitalter der Renaissance wird zwar, wie schon in der Antike, 1.
Dankrede, gesprochen in Amsterdam am 3. Juli 1963 nach der Verleihung des Erasmus-Preises.
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mehrfach versucht, jenes im höchsten Sinn »Menschliche« zu definieren; aber es wird weder dort noch hier mit hinreichender Genauigkeit aufgezeigt. Erst in unserem Zeitalter hat der menschliche Gedanke sich vorgesetzt, das Wesen des humanum mit der äußersten ihm, dem Menschen, möglichen Klarheit und Genauigkeit zu erkennen. Soweit ich sehe, sind auf die so verstandene, auf die moderne Frage des Menschen nach sich selbst – und von da auch nach dem ihn auszeichnenden und von ihm auszubildenden humanum – zwei wesensverschiedene Hauptantworten gegeben worden. Die eine, repräsentiert durch eine starke Strömung der deutschen Philosophie von Hegel bis Heidegger, sieht im Menschen das Wesen, in dem das Sein zum Bewußtsein seiner selbst gelangt. Demgemäß gilt hier als die vornehmste Funktion des Menschen, als das entscheidende humanum, die Reflexion, die Besinnung auf sich selbst, durch die er sozusagen immer wieder die Besinnung des Seins auf sich selbst vollzieht. Es ist wohl offenkundig: wenn ein Mensch, der das humanum so versteht, gläubig ist, dann werden sein Humanismus und sein Glauben einander nicht durchdringen können; sie werden nebeneinander hausen, aber es werden zwei getrennte Bezirke bleiben. Denn die Reflexion auf das Sein als das im Menschen zum Selbstbewußtsein Gelangende meint eben das formalisierte Sein, und dieses von allem Inhalt radikal abstrahierte, dieses leere Sein ist zwar Grundbegriff aller Metaphysik, aber im gelebten Leben der menschlichen Person, in dem von jedem von uns zwischen Geburt und Tod gelebten Leben, kommt es nicht vor. Der Glaube hingegen meint Gott, und Gott ist der menschlichen Person in ebendem Moment gegenwärtig, in dem sie an ihn glaubt, oder, realer ausgedrückt, in dem sie ihm vertraut. Er ist gegenwärtig, sage ich, und damit wird nicht gesagt »Gott ist« – das würde ihn aus dem Leben in die Metaphysik versetzen; sondern damit wird gesagt: Gott ist da. So bestehen denn im Leben jener modernen Menschenart, von der ich spreche, die zwei Sphären nicht, wie im Leben des erasmischen Menschen, friedlich nebeneinander: im Grunde seines Wesens weiß er, daß sie in Wahrheit einander ausschließen. Ein echter gläubiger Humanismus kann aus diesem Boden nicht mehr wachsen. Ganz anders verhält es sich, wo auf die Frage des Menschen nach sich selbst und nach dem humanum, das ihn von allen andern Erdenwesen abhebt und ihn vor ihnen auszeichnet, eine wesentlich verschiedene Antwort gegeben wird. In dieser zweiten Antwort geht es nicht um das Verhältnis der menschlichen Person zu sich selbst, nicht darum, daß sie in ihrer eigenen Reflexion das zum Selbstbewußtsein gelangte Sein entdecke, sondern es
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geht um das Verhältnis des Menschen zu allem Seienden. Was hier als das humanum erscheint, als der große Vorzug des Menschen vor allen andern uns bekannten Lebewesen, ist seine Fähigkeit, »aus freien Stücken«, also nicht wie das Tier aus Zwang seiner Nöte und Bedürfnisse, sondern aus dem Überfluß seiner Existenz mit jedem, dem er leiblich oder geistig begegnet, in unmittelbaren Kontakt zu kommen – ihn mit Lippen und Herz oder auch mit dem Herzen allein anzusprechen. Zum Unterschied vom Tier vermag der Mensch alles, was ihm auf seinem Lebensweg gegenübertritt, als ein auch jenseits seiner eigenen Interessen in sich Bestehendes zu erfassen. Zu diesem selbständig bestehenden Andern vermag er in Beziehung zu treten. Indem er das Andere, den Anderen jeweils als ein Ganzes erkennt und anerkennt, kann er jeweils selber als ein Ganzes sich zu ihm verhalten. Als ein Ganzes geht er in die gemeinsamen Situationen ein, ohne in ihnen aufzugehen, denn von jeder aus nimmt er doch auch den abgerückten, den in diese Situation nicht einbezogenen Sonderstand seines Gegenüber wahr, ohne daß es deshalb zum bloßen Objekt seiner Betrachtung würde. Dieses andere Seiende reicht, wie gering es sich auch innerhalb der Allheit des Seins ausnehmen mag, doch unermeßlich über die Begegnung hinaus – und dennoch steht es in einer unverminderten Partnerschaft mit der menschlichen Person. In dieser neuen Antwort unseres Zeitalters auf die Frage nach dem humanum erscheint dieses also als die dem Menschen angeborene Eignung, in Begegnungen mit anderem Seienden einzutreten. Da aber der Mensch das einzige unserer Erfahrung gegebene Wesen ist, dem diese Eignung einwohnt, so dürfen wir wohl sagen, daß in der Geschichte des Weltalls erst durch den Menschen »Begegnung« möglich geworden ist, als Begegnung des Einen mit dem Andern. Es ist nicht etwas Beiläufiges, vielmehr von wesentlicher Bedeutung, daß in der Geschichte der modernen Philosophie es entweder religiöse Denker waren, die dieser Anschauung zuneigten, so in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Jacobi, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Kierkegaard – dieser freilich unter Beschränkung der Begegnungssituation auf die Beziehung zwischen Mensch und Gott –, oder aber Denker wie Kierkegaards Zeitgenosse Feuerbach, welche die Begründung eines neuen Glaubens ohne irgendein transzendentes Element anstrebten. Wie Kierkegaard nur die Begegnung zwischen dem einzelnen Menschen und Gott als wesentlich erkannte und anerkannte, so Feuerbach nur die Begegnung zwischen einem Menschen und dem andern. Erst in unserer Zeit hat sich die Einsicht in die Beziehung zwischen Ich und Du als eine allumfassende zu klären begonnen. Von entscheidender Wichtigkeit für das Problem eines authentischen
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gläubigen Humanismus in unserer Zeit ist mithin die Erkenntnis, daß das wahre humanum und die Glaubenserfahrung in demselben Boden der Begegnung wurzeln. Ja, die fundamentale Glaubenserfahrung selber darf als die höchste Steigerung der Wirklichkeit der Begegnung angesehen werden. Das gilt zweifellos für das religiöse Leben zwischen dem Arabischen Meer als östlicher und dem Stillen Ozean als westlicher Grenze; es scheint aber, daß auch weit darüber hinaus, ja, im ganzen Menschengeschlecht eine Begegnung mit dem Unfassbaren am Anfang der persönlichen Glaubenserfahrung steht und auch innerhalb dieser immer wieder bestärkend und erneuernd auftritt. Von hier aus bekommen wir einen modernen gläubigen Humanismus in den Blick, der das humanum und den Glauben solcherweise verbindet, daß sie nicht bloß nebeneinander hausen, sondern einander durchdringen. Nun mag man meinem Gebrauch des Attributs »modern« entgegenhalten, daß gerade in unserer Zeit recht wenig von einem solchen gläubigen Humanismus zu spüren sei. Und in der Tat, es will scheinen, daß heute mehr als je ein Menschentypus überwiegt, der es vorzieht, die Wesen, die er auf seinem Lebensweg antrifft, zu beobachten und zu gebrauchen, statt ihnen Seele und Tat zuzuwenden. Aber gerade in diesem Heute ist eine gewaltige Erziehung zu einem neuen und echten gläubigen Humanismus erstanden. Ich meine die Krisis des Menschengeschlechts, die es mit dem Untergang bedroht. Ich meine die führungslos gewordene Technologie; die unbeschränkte Herrschaft der Mittel, die sich vor keinen Zielen mehr zu verantworten haben; ich meine die willentliche Versklavung des Menschen in den Dienst des gespaltenen Atoms. In dem heranwachsenden, dem noch plastischen Geschlecht nehmen mehr und mehr Menschen wahr, was sich da bereitet; ihre Tag um Tag zunehmende Wahrnehmung, die Erkenntnis der Krisis ruft in ihnen die einzige Gegenkraft auf, der es gelingen kann, wieder Ziele, große helle Ziele zu Herren über die aufrührerischen Mittel zu erheben. Diese Gegenkraft ist es, die ich den neuen gläubigen Humanismus nenne. Vom Lande des Erasmus aus grüße ich die gläubigen Humanisten, die schon tätigen und die erst reifenden, in aller Welt.
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Liebe Margarete Susman. Ein Leben, im Geist und doch ohne Minderung der Unmittelbarkeit gelebt, – das ist es, meine ich, dessen wir, die wir Sie kennen, Sie an diesem Ihrem Tag vor allem rühmen dürfen. Verdienst oder Gnade? Gewiß beides in einem, unscheidbar. Und so komme auch ich zu Ihnen mit dem Wunsch des Herzens: Daß Ihnen dieses Leben in Geist und Unmittelbarkeit noch eine gute Weile, eine linde Weile beschieden sei. Jerusalem, 10. Oktober 1962
A Der Platz der Vernunft in der Offenbarung Offenbarung ist ewig, und alles ist geeignet, Zeichen der Offenbarung zu werden. Was uns in der Offenbarung eröffnet wird, ist nicht Gottes Wesen, wie es unabhängig von unserer Existenz ist, sondern seine Beziehung zu uns und unsere Beziehung zu ihm. Wir können Offenbarung nur empfangen, wenn und solange wir ein Ganzes sind. In dieser meiner Ganzheit, in der alle meine Kräfte und Fähigkeiten eingeschlossen sind, darf selbstverständlich die Vernunft nicht fehlen; auch sie muß in die Einheit eingehen, als die allein ich Offenbarung empfangen kann. Um dies aber zu können, muß sie den Anspruch aufgeben, für sich selbst zu bestehen und sich selbst zu genügen. Hat die Vernunft sich als eins der Elemente in das Ganze unserer Substanz eingefügt, dann kann es ihr nicht geschehen, daß das in der Offenbarung Erfahrene ihr selber widerspricht, wohl aber, daß es ihren bisherigen Einsichten widerspricht. Die in das Ganze eingegangene Vernunft ist bereit, ihre bisherigen Feststellungen durch die Offenbarung umstürzen oder doch berichtigen zu lassen. Die Offenbarung ruft somit die Vernunft an, an ihrer Aufnahme teilzunehmen, aber auch, sich von ihr aufrühren und erneuern zu lassen.
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B Vom Wesen der Autorität in der Religion Echte Autorität gibt es in der Religion wie überhaupt in der Welt nur insofern, als Gottes Wille erkannt wird. Eine völlige und adaequate Erkenntnis des Willens Gottes gibt es aber in der Geschichte nicht. In dem Augenblick, wo sie in die Geschichte einträte, wäre die Geschichte zu Ende. Das tatsächliche Offenbarungsereignis in der Geschichte ebenso wie im Leben des einzelnen Menschen bedeutet nicht, daß sich ein göttlicher Inhalt in ein leeres menschliches Gefäß gieße, oder daß eine göttliche Substanz sich in menschlicher Gestalt darstelle. Die tatsächliche Offenbarung bedeutet die Brechung des einigen göttlichen Lichtes in der menschlichen Vielfältigkeit, das heißt, die Brechung der Einheit im Widerspruch. Wir kennen keine andere Offenbarung als die der Begegnung von Göttlichem und Menschlichem, an der das Menschliche faktisch beteiligt ist. Das Göttliche ist ein Feuer, das das menschliche Erz umschmilzt, aber was sich ergibt, ist nicht von der Art des Feuers. Wir können daher nichts, was direkt oder indirekt (sei es durch schriftliche oder mündliche Tradition) aus der tatsächlichen Offenbarung hervorgeht, ob Wort oder Brauch oder Institution, so wie wir es besitzen als von Gott gesprochen oder von Gott eingesetzt verstehen. Es ist uns aber auch
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nicht gegeben, innerhalb davon schlechthin und ein für allemal zwischen Göttlichem und Menschlichem zu scheiden. Mit anderen Worten: es gibt keine Sicherung gegen die Notwendigkeit, in Furcht und Zittern zu leben; es gibt nichts als die Gewißheit, daß wir an der Offenbarung teilhaben. Nichts kann uns der Aufgabe entheben, uns selber, so wie wir sind, als Ganzheit und Einheit, der ewigen Offenbarung aufzuschließen, die alles, alle Dinge und alle Vorgänge, in der Geschichte und in unserem Leben, zu ihren Zeichen machen kann. Nur so gewinnen wir die Grundlage zu einem zugleich gläubigen und kritischen Verhalten. Wir gewinnen die Grundlage, auf eigene Verantwortung, also mit Furcht und Zittern, innerhalb jeder echten Autorität, d. h. einer, deren Ursprung aus wirklicher Begegnung von Göttlichem und Menschlichem uns glaubensmäßig gewiß ist, zwischen beiden für diese eine bestimmte Stunde zu scheiden, und zwar auch das nicht schlechthin, sondern nur im Bereich unserer eigenen Entscheidungen, – also nur indem wir in uns selber scheiden. Die Weltgeschichte ist der Kampfplatz zwischen falscher und echter Autorität; jedem gläubigen Menschen liegt es ob, an diesem Kampf teilzunehmen und zum Sieg beizutragen; die Siege, die hier erfochten werden, sind zumeist unterirdisch und werden erst spät erkennbar. Die Weltgeschichte ist aber auch das Tauchbad, in dem jede echte Autorität sich immer wieder reinigen, sich von den Schlacken des Menschlichen, die als solche wahrnehmbar geworden sind, zu befreien suchen muß; jedem gläubigen Menschen liegt es ob, daran durch Selbstläuterung teilzunehmen. Auch hier tun sich die Ergebnisse oft erst in künftigen Epochen kund. C Die exklusive Haltung der Religionen
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Jede Religion hat ihren Ursprung in einer Offenbarung. Keine Religion ist absolute Wahrheit, keine ist ein auf die Erde herabgekommenes Stück Himmel. Jede Religion ist eine menschliche Wahrheit. Das heißt, sie stellt die Beziehung einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft als solcher zum Absoluten dar. Jede Religion ist ein Haus der nach Gott verlangenden Menschenseele, ein Haus mit Fenstern und ohne Tor; ich brauche nur ein Fenster aufzumachen und Gottes Licht dringt ein; mache ich aber ein Loch in der Mauer und breche aus, dann bin ich nicht bloß hauslos geworden: mich umgibt ein kaltes Licht, das nicht das Licht des lebendigen Gottes ist. Jede Religion ist ein Exil, in das der Mensch vertrieben ist; hier ist er es deutlicher als sonstwo, weil in seiner Beziehung zu Gott von den Menschen anderer Gemeinschaften geschieden; und
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nicht eher als in der Erlösung der Welt werden wir aus den Exilen befreit und in die gemeinsame Gotteswelt gebracht werden. Aber die Religionen, die das wissen, sind in der gemeinsamen Erwartung verbunden; sie können einander Grüße von Exil zu Exil 1 , von Haus zu Haus durch die offenen Fenster zurufen. Doch nicht das allein: sie können miteinander in Verbindung treten und miteinander zu klären versuchen, was von der Menschheit aus getan werden kann, um der Erlösung näher zu kommen; es ist ein gemeinsames Handeln der Religionen denkbar, wenn auch jede von ihnen nicht anderswo handeln kann als im eignen Haus. All das aber ist nur in dem Maße möglich, als jede Religion sich ihrem Ursprung, der Offenbarung, in der sie ihren Ursprung hat, zuwendet und an der Entfernung davon, die sich in ihrem geschichtlichen Entwicklungsprozeß vollzogen hat, Kritik übt. Die geschichtlichen Religionen haben die Tendenz, Selbstzweck zu werden und sich gleichsam an Gottes Stelle zu setzen, und in der Tat ist nichts so geeignet, dem Menschen das Angesicht Gottes zu verdecken wie eine Religion. Die Religionen müssen zu Gott und zu seinem Willen demütig werden; jede muß erkennen, daß sie nur eine der Gestalten ist, in denen sich die menschliche Verarbeitung der göttlichen Botschaft darstellt, – daß sie kein Monopol auf Gott hat; jede muß darauf verzichten, das Haus Gottes auf Erden zu sein, und sich damit begnügen, ein Haus der Menschen zu sein, die in der gleichen Weise Gott zugewandt sind, ein Haus mit Fenstern; jede muß ihre falsche exklusive Haltung aufgeben und die rechte annehmen. Und noch etwas ist not: die Religionen müssen mit aller Kraft darauf horchen, was Gottes 1.
»Grüße aus den Exilen« war der Titel, den Florens Christian Rang († 1924) einer von ihm geplanten Zeitschrift geben wollte, zu deren Herausgeberschaft sich ein Jude, ein Katholik und ein Protestant vereinen sollten. Nach Rangs Tode ist daraus die Vierteljahrschrift Die Kreatur entstanden, die von 1926 bis 1930 von Martin Buber, Joseph Wittig und Viktor von Weizsäcker im Verlag von Lambert Schneider herausgegeben worden ist. Der (von mir verfaßte) Vorspruch zum 1. Heft beginnt mit den folgenden Sätzen: »Religionhafte Sonderungen, aus denen es keine andere Befreiung gibt als die messianische, haben die Not und die Zucht von Exilen. Sie sind uns nicht Imaginationen, wolkige verrückbare Gestaltungen, sondern sinnvoll beständige Wahrheitssphären, die nicht eher als in der Wirklichkeit des Reiches aufschmelzen dürfen. Erlaubt aber und an diesem Tag der Geschichte geboten ist das Gespräch: der grüßende Zuruf hinüber und herüber, das Sich-einander-Auftun in der Strenge und Klarheit des eignen Beschlossenseins, die Unterredung über die gemeinsame Sorge um die Kreatur. Es gibt ein Zusammengehen ohne Zusammenkommen. Es gibt ein Zusammenwirken ohne Zusammenleben. Es gibt eine Einung der Gebete ohne Einung der Beter. Parallelen, die sich in der Unendlichkeit schneiden, gehen einander nichts an; aber Intentionen, die sich am Ziel begegnen werden, haben ihr namenloses Bündnis an der von ihren Wahrheiten aus verschiedenen, aber von der Wirklichkeit der Erfüllung aus gemeinsamen Richtung. Wir dürfen nicht vorwegnehmen, aber wir sollen bereiten.«
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Wille für diese Stunde ist, sie müssen von der Offenbarung aus die aktuellen Probleme zu bewältigen suchen, die der Widerspruch zwischen dem Willen Gottes und der gegenwärtigen Wirklichkeit der Welt ihnen stellt. Dann werden sie, wie in der gemeinsamen Erwartung der Erlösung, so in der Sorge um die noch unerlöste Welt von heute verbunden sein.
Aus: Philosophical Interrogations I. The Philosophy of Dialogue A. Philosophy in General
Walter Kaufmann: My questions are concerned with the relation of your thought to traditional philosophy as we know it from the works of Plato, Aristotle, Descartes, Spinoza, Hume, and Kant, to give a few examples. Most people would surely agree that it makes sense to ask about Kierkegaard’s relation to philosophy of this sort – perhaps also about Nietzsche’s relation to it, or Heidegger’s. The answer, of course, will be different in each case. I am assuming that this question makes sense when asked about you; and to facilitate an answer, I shall suggest a few specific subquestions. 1. A large part of traditional philosophy was concerned with the analysis of concepts, though this was not the only concern of any great philosopher. Do you attach less value to such analysis than the traditional philosophers named above? 2. Do you feel that your central intentions are closer to those of Amos than to those of Aristotle? Closer to Lao-tzu’s than to Hume’s? Closer to Hermann Hesse’s than to G. E. Moore’s? 3. Is it more important to you to bear witness of an experience and to exhort men than to clarify concepts or to develop speculative theories? If so, of what traditional philosophers would you say the same? 4. Are you at all apprehensive that your main concerns might be buried under the weight of appreciations that are too academic and, in one sense of that word, too philosophical? Buber: The nature, strictly speaking, of the relationship of my thought to »traditional philosophy« seems to me more a theme for my critics than for me. But through answering your subquestions, I believe I can, at any rate, give a few hints. 1. An ever-renewed analysis of basic concepts appears to me, too, a central task of thought because it is the presupposition for an ever-renewed confrontation with reality. Concepts, the grandiose instrument of human orientation, must repeatedly be »clarified«; a final validity can never be accorded them, although each of the great explanations claims for itself the character of final validity, and clearly must claim it. But in all genuine philosophy, analysis is only a gateway, nothing more. To be sure,
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the great philosophers who have conducted these analyses have held them to be more important than I do, doubtless because they held philosophizing to be more important. I must philosophize; there is no other way to my goal, but my goal itself cannot be grasped philosophically. 2. Certainly my »central intentions« are closer to those of Amos than to those of Aristotle, much closer. But for Amos a concept such as »righteousness« is, in fact, nothing at all other than the condensation into words of a command that is to be fulfilled in a given situation; as a concept it does not concern him, And when I have to philosophize (and I must, indeed, do so, as I said), I must learn from Aristotle and not from Amos. It is otherwise with the distinction between Lao-tzu and Hume. Lao-tzu ushers me, far more deeply than Hume, into the problematics of conceptuality; he discloses to me, as Hume does not, the abyss beneath the concepts; he helps me do what Hume will not and cannot do – see through the indispensable logicizing of reality. Note well, I am no disciple of Lao-tzu; I see the reality of being entirely otherwise than he. Indeed, it is at times much easier for me to »accord the right« to Hume than to him. But his speaking and his silence are instructive to me even today for the rational intercourse with that which is beyond concepts. 3. To bear witness to an experience is my basic intention, but I am not primarily concerned with exhorting men; rather, with showing that experience to be one accessible to all in some measure, in some form. In this I do not feel myself far either from the Platonic dialogues or from Descartes’ Discours de la Méthode. 4. My main concerns could just as easily be buried under the weight of appreciations that are too philosophical as under those that are too historical (in the sense of the history of religions) and even too literary. There are many methods of evading the vision and practice of the life of dialogue through theoretical discussions of the dialogical principle.
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Rollo May: To what extent is Buber an existentialist? He is often referred to under that appellation, and his thought has obvious similarities with the philosophy of modern crisis called existentialism, but he frowns on the title. Specifically, what is his relation to Kierkegaard and Heidegger, as well as to the broader cultural movement of existentialism?
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Buber: I cannot, of course, be particularly pleased when, instead of paying attention to what I directly have to say, a questioner furnishes me with the label of an »ism« and then wants to know concerning it. But if those be called existentialists who transpose human existence itself into the center of rational contemplation, then one could call me that. Only
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one thing must not remain unnoticed: everything else may be discussed purely speculatively, but not our own existence, the genuine existentialist must himself »exist.« An existentialism that contents itself with theory is a contradiction; existence is not one philosophical theme among others. Here witness is made.
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B. Ontology Helmut Kuhn: 1. Should we not try to broaden the concept of community as based upon the I-Thou relationship into the idea of an all-embracing ontological community? 2. Is it not true that the meeting (Begegnung) – that meeting of minds which unseals the depths of personality – takes place within a fixed order and under an unbending law which we know, however imperfectly, as the law of love? 3. A question about the antithesis which opposes the fellow man (the Thou) of whom we have a living awareness to the object as a rationally defined fixity: Shall we not be more true to the facts if we replace this dichotomy by a hierarchically diversified concept of »object«? Buber: 1. By community I understand a connection of men who are so joined in their life with something apportioned to them in common or something which they have apportioned to themselves in common that they are, just thereby, joined with one another in their life. The first and the second unity are not meant as continually actual, but as of such a nature that no essential hindrance stands in the way of its transition from time to time from a vital latency to an actuality. With this presupposed, the present constitution of the human race and, over and above that, that which manifests itself in the present as »historically« surveyable, does not seem to me to authorize the idea of an all-embracing ontological community. It would be otherwise if the ontological conception of an idea might be consummated independently of the actualities known or knowable by us. It is a part of my strongest concern, however, to contest this. But for me this idea is, in fact, connected in its innermost base with the faith accorded us that the human race is given, by creation, the task of becoming a community and that, according to the promise, the achievement of this goal of creation is eschatologically true. 2. Meetings stand – as I have repeatedly indicated – under freedom and under grace, therefore not under an »unbending law.« A fixed order
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of meetings is, in any case, neither in our hands nor accessible to them. When we truly say »Thou,« we do not experience »order« and »law,« but liberation and blessing in one; shall our thinking really disregard this experience? What love is I can know; what a law of love is I cannot know, not even imperfectly. The biblical commands of love of God and man are not unfolded in the form of law; the disclosing of their meaning was left to the recurringly loving heart alone. 3. This question touches on the foundation of what I have to say. For were the »dichotomy« replaced by a »hierarchic« diversity, then the decisive distinction between I-Thou and I-It would be dissolved by degrees. Certainly there is a graduated structure of I-It relationships where stage by stage the distance from the I-Thou relation becomes grater, and this graduated structure is, by its nature, to a certain extent surveyable. But its highest stage is unmistakably set in contrast to the realm of the IThou relation, since even there an objectification prevails for which there is no room in this relation. A being to whom I really say »Thou« is not for me in this moment my object, about whom I observe this and that or whom I put to this or that use, but my partner who stands over against me in his own right and existence and yet is related to me in his life. I can adequately contemplate this being as »a rationally defined fixity« when I again see it as It. When we do not resolutely effect the distinction between the two attitudes, we further, even if very much against our wills, the tendency which has grown so strong in our time to »manipulate« the existing being. Kuhn rightly objects that the relationship of the human person to nature has not been sufficiently dealt with by me. There remains here, as in many of the border areas between the two attitudes, something of basic importance to be done that is not granted me to do myself. But I may hope that it will be done without surrendering the unconditionality of the distinction. Kuhn also rightly sees that I have not fully liberated myself from Kant. That I have not been able to do so probably lies in the fact that no one has yet been able to explain to me what, for example, the hardness in the bark of a lime tree means independently of my perception of the hardness. I simply do not succeed in understanding the existing lime tree as the sum of my perceptions of it. Even the otherwise-useful symbols of the physicist are incapable of helping me here. Now then, the lime tree that became known to me only in elaboration through my perceptions, the lime tree that is, that, although it became known to me, yet remains unknown – this I mean when I say x.
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F. H. Heinemann: 1. What is the precise philosophical meaning of the dialogical principle? Is it to be understood as either (a) an ontological principal (»pointing to a neglected reality«), or (b) an existential category (Kategorie der Existenz), or (c) a category of a philosophy of life (um neuen Grund für menschliches Lebenkönnen zu legen) or (d) are all these meanings and functions implied in it? 2. Your philosophy has been called »dialogical philosophy«. Would you accept this? (a) Do you hold that the dialogical principal could be the basis of a philosophy in the same manner as, for instance, the axioms »Being is,« »God is,« and »Cogito ergo sum« were the first principles of Greek, medieval, and the modern philosophy respectively? (b) If yes, would you regard it as the basis of (1) a system of philosophy or (2) of a manner of philosophizing? (c) In other words, would you regard your principle, in Kant’s terminology, as (1) constitutive or (2) regulative? 3. What is, in your opinion, the relation of the dialogical philosophy to the philosophy of existence? Would you regard yourself as a philosopher of existence, and if so, in what sense? 4. I believe I have shown in my book on existentialism (especially in the second English, German, and Spanish editions) that the principal of existence is insufficient as a basis of comprehensive and systematic philosophy, and that it has in fact been given up by all the leading existentialists. You have certainly not given up the dialogical principle, and it has proved most fruitful in many fields, from anthropology and the study of prehistory to theology. It would be of great interest to philosophers if you could show that the dialogical principal differs in this respect from the principle of existence. Buber: 1. The dialogical principle is an ontological one because it is concerned with a basic relationship between man and being; hence with the being of man, since this is grounded in his relationship to being. This principle is to be regarded as existential only insofar as it is necessarily realized in the sphere of existence of the person. It is not, on the other hand, to be understood as a category of a »philosophy of life« (Lebensphilosophie); what is cited of this nature, to suggest that it is such, does not belong to it itself, but merely to the motivation behind its presentation. 2. As I have explained in full in my responsa in the volume of the Library of Living Philosophers dedicated to my philosophy, to join a basic experience, which became evident to me as a basic experience of man, with its proper sphere of thought, I had to go the only way suitable to
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that purpose, the philosophical. It has not been my intention to give a basis of philosophy in the sense indicated by Heinemann cannot be, although I cannot foresee what may yet come out of it in other hands. I call my philosophy »dialogical philosophy« not without a certain irony, because basically it cannot be pursued otherwise than dialogically, but the writings dealing with it have been cast into the, for the most part, quite undialogically constituted human world of this hour – and must be cast there. 3./4. »Philosophy of existence« appears to me an imprecise and unsteady concept. I have never included myself in such, but feel myself as standing perhaps between an existential thinking in Kierkegaard’s sense and something entirely different, something which is still out of sight. The dialogical principle presupposes existence, to be sure, but not a self-contained principle of existence. It is rather, as it seems to me, summoned to call in question every self-sufficient principle of existence in that it posits in ontological unconditionality the essential presence of the other as the other. I welcome every philosophy of existence that leaves open the door leading to otherness; but I know none that opens it far enough. Emmanuel Levinas: 1. Is it not the case that the reciprocity of the IThou relation compromises rather than promotes the originality of the I for whom separation is essential? Is not the absolute distance of the Thou or other thereby compromised? 2. Should the other be posited as Thou? »He,« »she,« and »they« cannot be constructed as Itness (Das Es). For in the encounter with the Thou they are present and »participate« in the dialogue as »the voice of your brother’s blood that cries to me from the ground.« 3. Are we not compelled to substitute for the reciprocity of the I-Thou relation a structure which is more fundamental and which excludes reciprocity, that is, one which involves an asymmetry or difference of level and which thereby implies a real distancing? The metaphysician is always oriented toward the Other and is incapable of meeting himself in the same way that he meets the other. Even when he philosophizes on the I-Thou relation, he perceives the Other, so that a totality is never encompassed. Dialogue, in effect, signifies the ontological impossibility of a totality. 4. The I-Thou relation cannot be characterized in purely formal terms as a contact without either content or a principle. The asymmetrical nature of the I-Thou relation implies the realization of an ethics which is distinguished by the inequality of the I and the Thou, and the latter creates an original dimension of ideality and height.
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5. Consciousness, the realm of our inner processes of thought, is not subjected to any analysis by Buber. Such analysis, however, is indispensable if a synousia, or social communion, as distinct from a mere union, is to be considered as a philosophical question. For the Western philosophical tradition this relation to what windings and turnings, the path of philosophy from Socrates to Heidegger follows the itinerary to which Plotinus referred when he affirmed: »When the soul begins again to mount, it comes not to something alien, but to its very self; thus detached it is in nothing but itself.« 1 Buber: I have never designated the between as »the concept of the foundation and ultimate structure of being« (»le concept de base et la structure ultime de l’Être«), nor have I ever understood it thus; I have only pointed out that we cannot do without this category for a full comprehension and presentation of what passes between two men when they stand in dialogue with each other. My critic mistakenly identifies this concept of the between, which belongs to the sphere of the I-Thou relation, with the essentially different concept of Urdistanz (primal distance), which provides the anthropological presupposition for the origination of the duality of the »primary words,« of which the I-Thou relation is one (cf. my »Distance and Relation« 2 ): I-It signifies the lived persistence in the primal distance, IThou the movement from it to relation, which at times, to be sure, establishes itself only as overcoming the given distance between two beings. Since Levinas, in the first place, accepts a signification for the two concepts which they do not have in the context of my thought and, in the second, equates with each of them other concepts belonging to totally different spheres of this thought, he makes a direct answer to his questions impossible for me. I must therefore content myself with making a few clarifying comments on his objections so far as that fundamental misunderstanding allows. 1. It is not true that I »unceasingly affirm« (affirme sans cesse) the reciprocity of the relation. On the contrary, I have always had to talk about it with great reservations and qualifications, which I recently summarized in my Postscript to the second edition of I and Thou. 3 2. I cannot concede that the I and the Thou offer themselves to each 1. 2. 3.
Enneads, VI, 9, 11. Trans. Ronald Gregor Smith, Psychiatry, XX, No. 2 (May, 1957), pp. 97-104. Trans. Ronald Gregor Smith (New York: Charles Scribner’s Sons, 1958), pp. 123-137.
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other »as objects« in the relation. Becoming an object is, in fact, precisely what most strongly characterizes the I-It relationship in its opposition to the I-Thou relation. 3. No matter how all-embracing the relation of two beings to each other may be, it does not in any sense mean their »unification.« If I posit a »correlation,« it still in no way follows from that, that a »totality« exists. Hermann Cohen speaks in his posthumous work of the »correlation« existing between God and man; with what kind of totality can that be equated? 4. The importance of the indications concerning ipseity I readily acknowledge. Between the I that in a given moment detaches itself from the other existing being and the I that in another given moment turns to the other existing being, there exists, incontestably, a special kind of continuity that is preserved despite all discontinuities; and it is this which one customarily designates as self-consciousness. But I do not see that this fact justifies the acceptance of an isolated I that stands over against neither a Thou nor an It and is not even comprehended in the transition from the one to the other relationship to being. Levinas assigns the ipseity its place in the »happiness« of the human person at being an I. To me it seems that this self-identification involves at the same time the deepest suffering of which we are capable. The polarity of these feelings points us back to a deep duality of which the pronominal concept on which I have founded my philosophy perhaps merely makes manifest the foreground that we can grasp. 5. The »asymmetry« is only one of the possibilities of the I-Thou relation, not its rule, just as mutuality in all its gradations cannot be regarded as the rule. Understood in utter seriousness, the asymmetry that wishes to limit the relation to the relationship to a higher would make it completely one-sided: love would either be unreciprocated by its nature or each of the two lovers must miss the reality of the other. Even as the foundation of an ethic, I cannot acknowledge »asymmetry.« I live »ethically« when I confirm and further my Thou in the right of his existence and the goal of his becoming, in all his otherness. I am not ethically bidden to regard and treat him as superior to me through his otherness. I find, by the way, that our relationship to the domestic animals with whom we live, and even that to the plants in our gardens, is properly included as the lowest floor of the ethical building. The Hasidim even see it as beginning with the implements of work. And shall there not perhaps be an ethic for the relationship to oneself? 6. That the acknowledgment of the other as my Thou does not originate in a mere act of consciousness belongs to those elements of my
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thought whose actuality I can neither prove nor wish to be able to prove. I offer the philosophical expression of an experience to those who know this experience as their own or are ready to expose themselves to it. More than this I cannot do; but I venture to believe that in this »not« I am faithful to my task. Walter Blumenfeld: By what justification does Buber see the dialogue as decisive in man, since there are enough other methods of differentiation as, for example, symbolic expression, knowledge, science, art, and religion, which in any case do not cover all examples of the genus Homo. Is that preference not merely the expression of a personal evaluation and therefore in a certain sense arbitrary?
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Buber: I am of the opinion that an attentive reader of my book Eclipse of God will find the foundation demanded by Blumenfeld.
E. Philosophical Anthropology
Walter Blumenfeld: 1. Is »the« human being of Buber the real human being or a rare, if ever realized, ideal, the »authentic« and especially the mature, normal person? Buber’s teaching can hardly be applied to the mentally ill, to small children, and to idiots. Is not his »man« only a potentially and in no case a universally prevalent being? 2. Is there a dialogue with things and with God in the same sense as with persons? Surely there can be no discussions with them, even if one grants that one can be »addressed« by God and by things. Furthermore, a conversation does not always develop between persons, however present good will may be: for example, in the case of unhappy, unrequited love, it remains a one-sided attempt. And how are those cases to be regarded in which good will is lacking? Do such individuals cease to be human beings? Buber: 1. I believe that I have made sufficiently clear that that, which concerns me does not belong to an upper story of human nature. I have shown in detail how the I-Thou relation establishes itself, naturally as it were, in the small child as in »primitive« man. As for the so-called idiots, I have many times perceived how the soul of such a man extends its arms – and thrusts into emptiness. On the other hand, I have, not at all seldom, learned to know persons of a high spiritual grade whose basic nature was to withhold themselves from others even if they let this one
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and that one come near them. No, I mean no »spiritual elite,« and yes, I mean man as man. Hindrances everywhere place themselves in the way, from without and from within; it is heart-will and grace in one that help us mature and awake men to overcome them and grant us meeting. What is of importance? That the spirit execute in a spiritual manner the projects that nature lays before it. 2. So far as I am able to formulate it, I have given the answer to this question in the Postscript to the new edition of I and Thou. That man can »discuss« with God can be learned ever anew from the Book of Job; he who undertakes such must bear in mind the one crushing answer that Job receives, an answer that allows no reply. That one cannot discuss with things, simply as such, is self-evident, since he who does not hear cannot rejoin. In any case, it can be reported here, as the repartee of reality, what befell me several times in my youth: I wanted to fix an object, to compel it, as it were, in order to find through so doing that It was »only« my conception; but it refuted me through the dumb force of its being. II. Theory of Knowledge A. In General
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William Ernest Hocking: Calling the experienced presence of the Real (as in the togetherness of dialogue) »realization,« in arriving at realization, is dialectic operative? In spreading realization, is dialectic useless? In winning universal assent to realization as »truth,« is dialectic a broken reed? Although we properly distinguish realization of the Real, as in the immediate experience of togetherness in »meeting,« from any process of conceptual thought or any result thereof, may not conceptual reasoning – let us say dialectic – be present in that realization, as it were in solution? And may not that dialectic be a potent aid in giving currency to the experience itself? Buber: Professor Hocking’s questions give me the welcome opportunity to elucidate an important point more fully. He rightly distinguishes between »arriving at realization« and »spreading realization.« I must distinguish between them far more sharply. According to my experience, conceptual thinking can, to be sure, play a part in the first of the two, but it is not essential for it. For the second, I too hold it to be essential.
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The experience from which I have proceeded and ever again proceed is simply this, that one meets another. Another, that does not mean, for example, a »dog,« an »English sheep dog,« one that is to be described thus-and-thus, but this particular animal, which a child once, about to run by him, looked in the eyes and remained standing, they both remained standing while the child laid his hand on the head of the dog and called him by a name that he had just invented or found. When later at home he sought to make clear to himself what had been special about the animal, he managed without concepts; he only needed them when he had to relate the occurrence to his best friend. But now Hocking leads me in an entirely other direction: on the heights of the conceptual turmoil that he once went through, and as I make this present to myself, I feel myself standing in a genuine dialogue. That the dialectical rules here is not, indeed, to be doubted. But the question arises as to what was it then that called forth the decisive turning. Was this too of a dialectical nature or was it not rather something that broke through the conceptual framework as a real event, something of which only the consequence was the »vision«? Was it not a direct dialogical reality that brought the transformation? This was my own experience: I must, according to my own way, answer Yes to every analogous question. It is otherwise with the stretch of the road leading beyond the vision. In order to insert what is thus experienced into my thought on being at the place that belongs to it and then, in order to communicate it to others who have not stood with me in a common experience, I am now, according to my understanding, directed to conceptuality, dialectic, reason. To come to an understanding with myself and with others over the truth of something I have thought can naturally take place only in the realm of »dialectic.« Does not, however, the deep and fearful problematic of the idea of truth open up? Can the truth attain its authenticity otherwise than when it steps out of the realm of concepts into that of meeting? What the dialectic must name »truth« is not something that one possesses; it is a preparation and a practice. Perry LeFevre: Professor Buber, in your writings you have emphasized the interrelationship between the world of I-It and I-Thou; the I-It world is necessary to the I-Thou world; the I-Thou world is continually falling into, or returning to, the I-It. The important thing is which relationship dominates the life of the individual, of the group, of society. How do you then conceive the relationship of objective knowledge
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(especially from psychology, psychotherapy, education etc.) to the world of I-Thou? Can knowledge of the processes of human growth and development, of the processes of therapy and education contribute to our individual and social movement into the achievement of dialogue? Do you believe that any normative generalizations can be derived from these objective studies of the person? Buber: I have often indicated how much I prize science, so-called »objective knowledge.« Without it there is no orientation in the world of »things« or of »phenomena,« hence no orienting connection with the space-time sphere in which we have to pass our individualized life on earth. Without the splendid condensations, reductions, generalizations, symbolizations that science turns out, the handing down of a »given« order from generation to generation would be impossible. On it, on its current »position,« man’s current world-images are built. More than that, the remarkable basic knowledge of mathematics has a relation – one that remains ever mysterious to me – to being itself; and from this arises an incomparably compact body of reliable knowledge on which the triumph of the inherited knowledge of the human race from Euclid to Einstein is founded. I honor science, the astonishing sphere of the sciences with its always expanding borders behind which the twilight horizon ever further recedes. But when I am asked what is its contribution to the work of a man who executes faithfully his office in the service of life, for the work of a true therapist, for the work of a true educator, then I stand in an entirely different perspective. Rather, I have exchanged all perspectives for the heart-point of life; and then, to stay with the examples already chosen, I can only regard science as a help: psychology as a help for the therapist, pedagogy as a help for the educator; both, in the hands of a man without a true vocation, manifoldly deceptive and misleading; both, in the hands of one who is truly called to his task, useful and regulative. Modern psychology is an especially instructive example. Its province, as is well known, is divided into several, in good part mutually contradictory, »schools« and methods. No school, in my judgment can claim the predicate of truth for its manner of dream interpretation. Every genuine therapist can heal with any of the methods that have been developed; every psychotherapist can destroy with any of them. What matters and what is inseparable from the being and becoming of the person – the right relation to the Thou – will be furthered in their work whenever they reach toward the events of the research. Science always stands ready to
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serve the server; it is up to him to make the right, cautious, reserved, knowing use of it. Beyond this, thus outside the responsibility practiced by a responsible man with all its Yes and No, »normative« generalizations that are made in the name of science have no real meaning for me. Maurice Nédoncelle: Does not the passage from Him to Thou in religious philosophy risk leading us to the void or to illusion? I have read Eclipse of God with admiration; but I had, perhaps incorrectly, the impression that the author was not sufficiently attentive to the danger that I have just indicated; and I asked myself whether philosophy, insofar as it is such, is able to be an invocation or an interpellation.
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Buber: The passage from Him to Thou is not »dangerous« for philosophy, it is impossible. I myself feel obliged, when I philosophize, to avoid »invocation,« but justified in pointing to its meaning. Kurt H. Wolff: What is the locus of reason in cognition, both of the Thou and the It (although it may not be proper to apply »cognition« to the former)? This raises the question of the relation between ecstasy, enchantment, the unique, on the one hand, and philosophizing, theorizing, the general, on the other. While the unique is related to the I-Thou, and the general to the I-It relation, these relationships are not identities; hence a third question, about the nature of these relationships. Do not answers to these questions, at least to begin with, have to take the form of »Man is such that,« »The world is such that,« and »The relation between man and world is such that«?
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Buber: Just in that way, with a sentence about the relation between man and the world, I once began my first book on the dialogical principle, I and Thou, characterizing this relation as »twofold.« Only I would not willingly speak of ecstasy »on the one hand«; it is easy to, forget in so doing that it is not a matter of the exceptional hours, but, of the everyday (cf. the chapter »A Conversion« in »Dialogue,« Between Man and Man).
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E. la B. Cherbonnier: While it would require pages to express my own indebtedness to Martin Buber, my principal criticism can be exhausted in a single sentence: Is his philosophy in fact open to criticism at all? The hallmark of philosophic discourse, as distinct from bare assertion or arbitrary insistence, is corrigibility. That is, the philosopher acknowl-
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edges a criterion by which his mistakes, if any, might be detected. Professor Buber’s writings, however, not only appear to lack such a criterion, but indeed to preclude it. Every objective criticism of his philosophy would belong, by definition, to the realm of I-It. But no I-It statement could ever impinge upon an I-Thou statement, either to refute or to confirm it. The philosopher is thus provided with a built-in immunity to criticism. He can, at his pleasure, disqualify any objection simply by placing his own statements under the sign of I-Thou. Maurice Friedman’s brilliant exposition of Professor Buber’s position apparently acknowledges this; it speaks of »the logical impossibility of criticizing I-Thou knowing on the basis of any system of I-It.« 4 Perhaps this explains the tendency of Professor Buber’s apologists to dismiss the critic, not with refutation, but by declaring that he has failed to understand. In this respect, I-Thou dialogue appears inferior to Socratic dialogue. The Socratic philosopher is corrigible. When he contradicts himself, he acknowledges that he has fallen into error. I personally am convinced that Professor Buber’s writings contain the rudiments of a philosophy which, with intensity and relevance undiminished, could satisfy a rigorous Socratic examiner. Professor Buber himself, however, repudiates consistency and embraces paradox as the appropriate vehicle for »existential truth.« My question therefore is: How might his philosophy be corrected, should it contain any errors? Specifically, how does one determine which paradoxes are true and which are not? Unless these questions can be answered, would not the »narrow ridge« of »holy insecurity« broaden, in practice, into a boundless plain with unlimited room for maneuver? Would not I-Thou statements then begin to resemble statements ex cathedra? Buber: My answers to my critics in this Interrogation and my fuller (more detailed, comprehensive) answers to them in the volume of The Library of Living Philosophers devoted to me seem to me to remove all force from the suspicion of a claim to speak ex cathedra. Inner contradictions are no less possible here than in a Socratic philosophy, and with him who seriously seeks to point out to me such a contradiction, I go seriously into it. In no way, therefore, do I reject consistency. But where I am compelled to point to »paradoxes,« there are none that are meant as being beyond possible experience; rather a silent understanding is 4.
Maurice S. Friedman, Martin Buber: The Life of Dialogue (New York: Harper Torchbooks, 1960), p. 168.
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again and again established between me and those of my readers who are ready without holding back to make their own the experiences that I mean. William H. Poteat: 1. First of all, I should like to ask about philosophical method. In the philosophic climate powerfully influenced by the Vienna Circle, the early Russell and Wittgenstein, then the later Wittgenstein, and now by the Oxonian »ordinary language« analysis, it might occur to one to wonder whether what you have done in your distinguished career – and I will take the hardest case, for example, I and Thou – is philosophy at all. I might say that philosophy is a highly technical analysis of the logical syntax of language or a kind of therapy for an irresponsible and pretentious use of language or, at most, a seeing where before there has been either a not-seeing or a mis-seeing, a seeing, however, whose only instrument is argument. But what is I and Thou? A poem, like Rilke’s Duino Elegies? A prayer, like Augustine’s Confessions? A series of apothegms, like La Rochefoucauld’s or like Wittgenstein’s Tractatus? Or is it that what you are doing is such that any inquiry concerning »method« must take place in a purely analogical way? That is, »method« is an I-It concept. 2. You say: »The primary word I-Thou can only be spoken with the whole being. The primary word I-It can never be spoken with the whole being.« What am I to understand by »whole being«? To use an idiom quite different from your own: »What is the logical status of the concept »whole being«? We cannot fill it out by multiplying propositions about what I do, think, say, feel etc. (»[Human life] does not exist in virtue of activities alone which have some thing for their object.«) We cannot distinguish »whole« from »partial« by pointing to »inner« against »outer«. (»Inner things or outer things, what are they but things and things!«) »Whole being« seems to mean a nonobject – something »outside« the subjectobject structure of all language, which is to say, »outside« the world and hence unutterable. Must we not, then, remembering Wittgenstein’s aphorism, remain silent? Buber: 1. I think that I have already answered this question sufficiently. I point, I believe, to what has not yet been sufficiently »seen« and, of course, as it seems to me, through the kind of »argument« requisite for it. 2. »With the whole being« can be described most simply thus: I enter into the act or event which is in question with all the available forces of
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my soul without conflict, without even latent much less perceptible conflict. A surmounted conflict can create a condition accessible to the decisive self-awareness that can no longer, to be sure, be compared to vacillating, but perhaps – if one may use such an image – to a vibrating of the edges of the soul. »Wholeness« is not yet there, but a transformation of the total condition can now, as it were, take place from which it follows. Note well, the resistance must certainly not be presupposed in any given situation; there are souls that have long since overcome analogous resistances and now are already capable of meeting as a whole the situation that accosts them; indeed, there are souls of whom we do not know that the battle within them has ever been fought through, yet whose wholeness nonetheless in an unforeseen situation begins forthwith to shine like the sun. Jakob B. Agus: In your exaltation of the I-Thou relationship, do you not consign reason to the subordinate role of manipulation in the realm of I-It, failing to recognize the objectivity of reason as a supreme value category, coeval with love and supplementing its impetus? Buber: Since I am not authorized to philosophize by any metaphysical essences, neither of »ideas« nor of »substance« nor even of the »world reason,« but must as a thinker concern myself alone with man and his relations to everything, so reason as an object of my thought is important for me only insofar as it dwells in man as a property or function. In such a manner, therefore, regarded from the viewpoint of philosophical anthropology, reason seems to me to take different attitudes in different times and circumstances. Either it knows itself as belonging as a part to the total being of the human person, and is active in full co-operation with the other properties and functions, and can in just this sense have a significant, yes even a leading, share in the intercourse of this person with other persons. Or it claims for itself the supremacy to which all the other faculties of man have to subordinate themselves. If it makes such a claim, then it appears to me presumptuous and dubious. To take the example lying nearest to hand, the »corrective« office of reason is incontestable, and it can be summoned at any moment to set right an »error« in my sense perception – more precisely, its incongruity with what is common to my fellow men; but it cannot replace the smallest perception of something particular and unique with its gigantic structure of general concepts, cannot by means of it contend in the grasping of what here and now confronts me.
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Peter A. Bertocci: 1. In the epistemological relation, epistemic dualism of a Kantian sort is both accepted (in It) and rejected in Thou-I; epistemic confidence is won by insisting ultimately on the unity and solidarity of knower-known relation. But no account seems to be forthcoming of how epistemic error, which means that man can have »in mind« what is not objectively there, is possible on this view. 2. Inferential knowledge of other minds, divine or human, is rejected once more in favor of unity and direct presence. But, again, how is error in knowledge of other minds even possible on this view? 3. Granted that there are many experiences whose psychological certitude may indeed suggest epistemological monism, should not the fact of error force us to reconstruct our view of what is involved in such relations: Perhaps the underlying conception of knowledge which we should distrust is that of knowledge as a kind of infallible relation. What I wish were possible, at any rate, is less of a declarative tone in this total perspective, and more an expository-explanatory one in which the grounds for weaknesses and errors of other views became more articulate. By what criterion does one judge the »apprehensible« as opposed to the »comprehensible«? 5 Buber: 1. As I have repeatedly stated, I know no criterion for the »objective existence« of what becomes present to me in the I-Thou relation; indeed, to me none is conceivable. I have never concealed the fact that he who wishes to live securely would do better to stay far from the way which I have indicated. So far as I have a philosophy, it treats man as a being to whom it is given to make present what stands over against him and to exist without guarantees. 2. In the true I-Thou relation there is no knowledge of objective facts, hence also none that in the state of the I-It relationship can be compared with any of these data that it has yielded and corrected as an »error.« That is implicit in the sentence that the world is twofold for man. But in the IIt relationship we do, indeed, elaborate much that we have received in the I-Thou relation and that, manifoldly broken up, persists in our memory; here »errors« are possible because in this state one has the possibility, even though a limited one, of »objectively« establishing and comparing what has passed and passes in the minds of others. The concept of knowledge of the divine mind is for me, moreover, pure contradiction. God gives us signs for the establishing of our relation to him, but he still does not make himself into an object for our observa5.
I and Thou, p. 94.
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tion. In the language of the prophets of Israel, the »knowledge of God« properly means intercourse with him. 3. An epistemological monism is entirely alien to my thought; I have always fought the attempt to establish any such in our time. A knowledge, in the sense of an objective given and what can be discussed accordingly, a knowledge in this sense that would be »infallible,« is for me, in the human world, a non-ens. For the rest, I have the impression that Professor Bertocci has only read a little of my works; most of what I have written in this province after I and Thou seems to me precisely to possess »an expository explanatory« character. Maurice S. Friedman: 1. To discover the implications of the I-Thou philosophy for epistemology, is it not necessary to distinguish between two types of »I-It« knowledge: that which, as word, symbol, image points back directly to the unique reciprocal knowing of particular I-Thou relationships and that which, because it takes the form of abstract and general categories, can no longer point back to the concrete and the unique, but can only take its place? 2. If the above distinction is valid, what then is the relationship between this second type of I-It knowledge and I-Thou knowing? Is it correct to say that it derives indirectly from I-Thou knowing by a double process of abstraction? Or must one say that here an independent order of reason and objectification enters in and that the alternation between IThou knowing and I-It knowledge is not after all a sufficiently comprehensive approach to understand either the rational categories of logic, on the one hand, or the empirically-based generalization of scientific method, on the other? Buber: 1. Certainly there exist various stages of the I-It state, according to how far these are alienated from the I-Thou relation and relinquish the pointing back to it. But I am not inclined to replace these stages by two types different from each other by their nature. On the one side, there is no abstraction so ethereal that a great living man could not conjure it with its secret primal name and draw it back down to the earth of bodily meetings. On the other side, however, just in our time the crassest absence of relation has begun to find a consistent »empty« expression in novel and in drama. It may be harder to oppose to it the genuine might of human meeting than to the behaviorist defective description. 2. Since a »world« in which we find our way and whose coherent knowledge we transmit from generation to generation can exist only on
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the basis of the I-It relationship, I cannot hold its logical foundations to be secondary derivations. These foundations that bear human thought are not to be derived either from the one or from the other of the two »basic worlds,« that is, the two human world-aspects that I distinguish. I am not empowered to formulate a metaphysical thesis that would lead beyond the duality of these aspects. But how the two aspects again and again have cooperated and co-operate in the human construction and reconstruction of a »world« accessible to human thought, I have at-tempted to indicate by the category of »we,« in »What Is Common to All.« 6 Paul E. Pfuetze: What are the criteria by which we can distinguish the true I-Thou relation from the alienated world of I-It? Buber: I would have to be untrue to my basic experience, which is an experience of faith, if I should seek to establish such »objective« criteria. I do indeed mean an »insecurity,« insofar as criteria are concerned, but I mean – I say it once again – a holy insecurity.
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III. Education Robert Assagioli: Your essay on »Hasidism and Modern Man« contains in my opinion an important and most timely message. How can present-day humanity, and particularly modern youth, be induced or helped to the rediscovery and the recognition of the »Sacred«? In what ways and by what means – expressed in terms understandable and acceptable by modern man – do you think that (also apart from the message of Hasidism) the totalité lesée de l’homme (the injured wholeness of man) can be re-established? Buber: This question is especially important, but in this general form hardly adequate to be answered. I know no generally applicable methods that merely need to be set forth in order to effect a transformation. I do not believe that a How, formulable as a principle, exists here. Only the personal involvement of the educating man can help, the man who himself knows the holy and who knows how; in this our time, persons of the most varied kinds suffer the often unavowed, indeed, on occasion, vigorously denied, pain over the unholiness of their lives. I say personal involvement; therefore, not an already existing teaching that lies to hand 6.
Trans. Maurice S. Friedman, Review of Metaphysics, Vol. XI, No. 3 (March, 1958).
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and needs only to be transmitted to those who suffer in this manner in order that they may learn that the holy exists and what the holy is; furthermore, that it is just this which the sufferer misses, and finally what he has to do to attain it. No, what can help is the simple personal life, the educator’s own life, in which the everyday and its actions are hallowed, a life that is so lived that he who suffers from the unholiness can, and finally even will, participate in it. I have known no one whom I might call a saint, but many whose everyday performances, without being meant to be holy actions, work exactly such. But what is meant here by holy? Now, quite simply this, that the one who lives in contact with this man feels against his will, against, his Weltanschauung: That is genuine to the roots; that is not a shoot from an alien stem; its roots reach into that sphere from whose inaccessibility I suffer in the overlucid hours of midnight. And at first unwillingly, then also willingly, the man thus affected in contact is himself drawn into connection with that sphere. It is indeed a matter of »hallowing«; it is a matter, hence, of the humanly holy; and what is to be understood by that, in my view, does not admit of any definition and any method that can be taught; one learns to know it in doing something spontaneously, otherwise than one is accustomed to do, at first only »more really,« that is, »putting more of oneself into it,« then with more intention, more meaning, finally opening oneself to the sphere from which the meaning of our existence comes to us. The crisis that has come over the human world has its origin in the dehallowing of existence. It appears, at times, as if the crisis would assume the sinister tempo of »world history.« Is there not reason to despair that education could overtake it, or at all obviate it? True education is never in vain, even if the hour makes it appear so. Whether it manifests itself before or in or after the threatening catastrophe-the fate of man will depend on whether the rehallowing of existence takes place. Heinz-Joachim Heydorn: How is it possible to liberate the relationship of the individual to himself from its distorted state, without at the same time destroying his relationship with his total environment, and while maintaining this relationship as meaningful?
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Buber: I speak expressly of the first task of the educator because the awakening of pain and of longing is the indispensable presupposition. But I do, indeed, say ever again that one can only become a genuine person through a genuine relation to the real, through genuine saying of Thou. To further, to strengthen, to encourage the readiness and open-
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ness to this relation in the young cannot be separated in time from that »first« task; here there must again and again be decided, according to the individual and the situation, what is bidden in this and that hour. Certainly the young person today feels himself largely the object of reality; but how can one help him break this spell? Why, only through guiding him – it goes without saying, in an unemotional, unromantic, unsentimental manner – toward coming into a genuine contact with the reality accessible to him. But, you say, he lacks the courage. How does one educate for courage? Through nourishing trust. How does one nourish trust? Through one’s own trustworthiness. Robert M. Hutchins: I have spent all my life as an administrator. That means that I have been primarily concerned with the management and direction of institutions. Émile is very little good to me because the hero did not go to school. My question has been, What is possible in educational institutions, granting the inevitable handicaps of numbers, organization, finance, etc.? Moreover, I have been required to face the fact that the great teacher – Buber, for example – is a rarity. What are the best guides for ordinary teachers dealing with ordinary pupils? The question is therefore not merely, What is man, but, What is the special role of educational institutions with regard to man? Have they the same role as that of the family and the church? How can American educational institutions best play the role that should be assigned to them? For example, I am as much against a one-sided intellectualism as Buber is. I believe that man is not a centaur and that human reason is to be understood only in connection with human nonreason. These statements are not a guide to the American educational administrator because they do not tell him what aspects of man are the special obligation or object of the educational system. No doctrine has promoted the disintegration of American education as much as that of the »whole man«: it has been used to justify the inclusion of the most frivolous trivialities in the course of study. There is grave danger in too literal and immediate an interpretation of Buber’s insistence on »our present situation« and »our hour.« If it is Buber who is defining the situation and naming the hour, one can with confidence select educational material in the light of his decision. But the whole view of American education that we must adjust the student to his environment – which I regard as radically erroneous – can be justified by an interpretation of Buber’s language, of which he would be the last to approve. Only in a Buberian sense do we know what the situation
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of our pupils will be or understand the exigencies of the hour. In a literal, narrow sense, we do not know what economic, political, social situation they will confront, or what time it will be. Since we do not know the situation or the hour, we should try to help them to learn how to deal with any situation and with any time. »A truly reciprocal conversation in which both sides are full partners« suggests a situation that would be wholly unreal in the vast majority of cases. Those cases are those from kindergarten up in which the assumption of full partnership would be an elaborate fake, where the pupil was immature and his experiences and opinions, no matter what his age, were of the most infantile kind. If what is meant here is that the pupil and teacher are full partners in the search for truth, I heartily agree; but if the implication is that a man of great experience and profound wisdom must act as though pupils who are ex hypothesi of little experience and small wisdom had the same experience and wisdom as himself, and if he must allow them to act on the same assumption, then I must protest. A great teacher, like Socrates or Buber, can start with anything and move by ordered stages to the most tremendous issues. The ordinary teacher who begins with triviality is almost certain to end there. The virtue of great books is that they are the thoughts of great men about great issues, most of which are so fundamental that they are issues of our present situation and our hour in any definition of those terms. We must bring our own concrete reality to our reading, of course. We need to bring these ideas to our concrete reality. Buber: 1. Dr. Hutchins rightly sees a great danger in an all-too-literal interpretation of my view that the decisive pedagogical task is to educate men so that when they are grown they will be equal to the historical situation that then confronts them. Every all-too-literal interpretation of a truth is dangerous. What is important is not formally to fix the true, but to preserve it in its living context. That the educational task consists of adjusting the student to his environment I too regard as a fateful error. We must not adjust our selves to the changing situations, but we have to take our stand toward them and master them. Naturally we cannot foresee the situation before which our pupils will one day stand, and consequently we cannot prepare our pupils for it. But we can and should teach our pupils what a situation means for the mature and courageous man; in other words, we can and should teach them the right relationship between idea and situation, namely, that the idea receives its reality from situations in which it has to authenticate itself.
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We live in a time when, less than in any earlier time, men dare to look in the face the situation into which they have fallen. From this comes the frightening lack of leadership in our days. The fathers have imparted principles to the generation ruling today, but not the capacity of the soul to let the principle-true praxis be determined by the situations. This must change if the coming generations are to trust themselves to undertake the salvation of the human race. This must change, that is: education must change; and that means above all: the educator must change. W e must begin with the education of the educator. More exactly: the leading men of the teachers colleges must be chosen most carefully; they must be men who know the connection of idea and situation both conceptually and practically; and from the community of these men one of the highest professions of the land must be formed. 2. That there can be no question here of a full partnership I have already stated and offered specific reasons for in my »Education« 7 and recently again in my Postscript to the second edition of I and Thou. 8 I have indicated that and why an inclusive reciprocity between teacher and pupil neither should nor can exist. The good teacher knows the soul of his pupils; the pupils would cease to be pupils if they knew the soul of their teacher. The teacher is obliged to mean the person of the pupil in its highest possibilities and, so far as it is up to him, to develop it; it would be absurd to conceive anything analogous from the side of the pupil. The educational relationship that is desirable is, to be sure, founded on trust on both sides; but the trust is basically different on each side: the pupil has in relation to the right teacher the trust that he is what he is; the teacher has in relation to the right pupil the trust that he will become what he will become. It would also be contrary to all pedagogical sense, as Hutchins says, if the teacher acted as if he were not far superior to the pupil in experience. But from all this it is not to be inferred that no real dialogue is possible between the educator and his charge. Hutchins’ acknowledgment of the fact »that the pupil and the teacher are full partners in the search for truth« does not satisfy me. However much the teacher is superior to the pupil in experience, there is, nonetheless, something that the former can learn from the latter: this is the personal experiences that the pupil has had and that he communicates directly or indirectly. Every teacher has ears and a heart will willingly listen to such reports, which are irreplace7. 8.
Between Man and Man (Boston: Beacon Press paperback, 1958), pp. 83-103. I and Thou (New York: Charles Scribner’s Sons, 1958), pp. 123-137.
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able because they are grounded in individuals; and he will incorporate them in his manifold world-and-life-experience; but he will also help the pupil to advance confidently from the individual experience that he has now had to an organic knowledge of the world and life. Such an interchange, although it cannot be a full one, I call, in spite of all, a dialogical one. I esteem highly the educational value for the growing man of reading »great« books; it once did much for me. But it cannot replace the dialogue, for the highest work of the spirit, no matter how high it exalts its reader, cannot offer him what the simple human meeting between teacher and pupil again and again can give: the helping immediacy. It educates the pupil because he is here meant as he whom he is created to become. 3. I know of very few men in history to whom I stand in such a relation of both trust and veneration as Socrates. But when it is a matter of using »Socratic questions« as an educational method, I am against it. I agree, indeed – with some qualifications – to the statement of Confucius that in order to clarify human realities one must clarify concepts and names, but I am of the opinion that such clarification should be united with a criticism of the function of concepts and names. Confucius overvalued the significance for the life of man of designations in comparison with proper names; Socrates overvalued the significance of abstract general concepts in comparison with concrete individual experiences. General concepts are the most important stays and supports, but Socrates treated them as if they were more important than bones – that they are not. Stronger, however, than this basic objection is my criticism of a pedagogical application of the Socratic method. Socrates conducts his dialogue by posing questions and proving the answers that he received untenable; these are not real questions; they are moves in a sublime dialectical game that has a goal, the goal of revealing a not-knowing. But when the teacher whom I mean (apart from the questions he must ask in examinations) enters into a dialogue with his pupil and in this connection directs a question to him, he asks, as the simple man who is not inclined to dialectic asks: because he wants to know something: that, namely, which this young person before him, and precisely he, knows to report on the subject under discussion: a small individual experience, a nuance of experience that is perhaps barely conceptually comprehensible, nothing further, and that is enough. The teacher will awaken in the pupil the need to communicate of himself and the capacity thereto and in this way bring him to greater clarity of existence. But he also learns, himself, through teaching thus; he learns, ever anew, to know concretely the becoming of the human creature that takes place in experiences; he learns what no
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man ever learns completely, the particular, the individual, the unique. No, certainly no full partnership; but still a characteristic kind of reciprocity, still a real dialogue. But now you will object, dear Dr. Hutchins, that there are too few good teachers, and you will be right: there are far too few. What follows from that? Why, just this, that our most pressing task is to educate educators, is it not so?
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V. Philosophy of Religion A. General
Friedrich Thieberger: The »awakening« is no mere psychological process; it seizes the whole man, as well as his thinking and the decision of his will. That also holds true for the I-Thou relationship. Therefore Buber can speak of an interhuman reality, particularly when the »Thou« that confronts me is seized by a similar relationship to my »I«. Now here the question arises: What if the »Thou« to which I am raised from the I-It into the I-Thou relation is not a visible living creature or a concrete object or event that accosts me, but an idea or a mental image formed in imagination, of which we have innumerable examples in personal, artistic, or political life? In that case, does not the dialogue become in fact a monologue into which one can enter so dramatically that even from the idea or the image one seems to hear an answer or reply from the »Thou«? To be clear on this point seems to me particularly important, because in the realm of religious experience above all others, one should not counterfeit a reality which transcends the transformed »I« and think to discern in the idea a superhuman being, a »Thou«, which exists independently of me. Here we would have confronting us nothing but the repetition of the ontological proof of God on another plane. For it would only be saying »Thou« to an idea or figment of the imagination, unless the belief in the existence of a higher being stems from quite another source. Buber: That one can turn with passionate devotion to a fantasy image that one regards as God we know from the lives of individuals and from that of the human race. How often too is he who genuinely believes in God driven beyond the indispensable anthropomorphism that even dwells in prayer to »make an image«! It is very easy to understand how Freud, steeped in the psychologism of his age, saw in religion in general
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such an illusion. But how can we avoid calling a pure »fantasy image« by the name of God? An objective criterion that could be employed for a comparison, so to speak, naturally does not exist. However, Thieberger adds: »Unless the belief in the existence of a higher being stems from quite another source.« If by this is simply meant that eternally indeterminable primal source from which all genuine faith comes, then question-and-answer has already reached its end. But perhaps this is meant still otherwise, namely, so that it is, despite all, to be known from something whether the Thou of my language of faith rightly exists. From something – from what then? Does Thieberger perhaps mean a no longer religious, in the narrow sense, but perhaps »ethical« content of what I sense as addressed to me by God? But then Abraham – who in the decisive moment certainly did not, as many imagine, feel sufficiently reassured through the promise – would indeed have had to become suspicious as to whether he did not mistakenly imagine a Moloch image talking to him, which had passed over from the folk fantasy into his own! There is, in fact, no other »source« that can be discovered than the simple experience of a leading of God through good fortune and bad; not without reason does the speech about the beginning of the way »that I shall show you« recur here, in the final trial. But there is one inward »source,« even a double source, that has become well known just to us latecomers. That is, first of all, the wholeness of the soul: I know only-to repeat ever again the same thing – that we can speak the true Thou only with the whole soul, where the stubborn contradiction no longer lurks in the corners. And there is, after that, the unity of life: life as the service of an idol, however it is called, disintegrates hour by hour, success by success; life as the service of God collects itself ever again in all stillness, even in the shallows of disappointments and in the depths of failures. Maurice S. Friedman: Does the relation to the Eternal Thou include not only the temporal I-Thou relation, but the I-It relation too? Buber: I perceive in this question, from words of mine which have been quoted here, that I have already come close to the limit of what is accessible to our experience. I hesitate to go a step further with words the full responsibility for which I cannot bear. In our experience our relation to God does not include our I-It relations. What is the case beyond our experience, thus, so to speak, from the side of God, no longer belongs to what can be discussed. Perhaps I have here and there, swayed by the duty of the heart that bids me point out what I have to point out, already said too much.
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Paul E. Pfuetze: Is not a metaphysics necessary for a religious thinker and do you not have an implicit one, even if not an explicit and systematic one? Must we not put forth some sort of argument for the reality of God if faith is not to be an incommunicable mystery or psychic event? Does a »philosophy of religion« serve any useful function, or is it only »grace« which operates here? Is the only assurance of God to be found in the concrete particular I-Thou relation with the Eternal Thou? Buber: »Some sort of argument for the reality of God«? No, I know no cogent proof of God’s existence. If one were to exist, there would no longer be any difference between belief and unbelief; the risk of faith would no longer exist. I have dared to believe – not on the basis of arguments, and I cannot bolster my faith with arguments. I have no metaphysics on which to establish my faith, I have created none for myself, I do not desire any, I need none, I am not capable of one. When I say that something has for me an ontological significance, I mean thereby to state that it is not a purely psychological event, although it encompasses such an event, or rather phenomenalizes itself »inwardly« into such a one. If I say that my faith-relation has an ontic character, what is said thereby is that it is not to be reduced to a psychic process, that it happens between my body-soul person and God. In saying that, I give my faith-experience the conceptual expression necessary for its being understood, but I posit no metaphysical thesis. Certainly I am not concerned about the communication of the individual, but about the common clarification of the common, of what has become and what is becoming common; I build no towers, I erect bridges; but their columns are not sunk into »isms« and their arches are not fitted together by means of »isms.«
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B. Creation
William H. Poteat: Assuming that there are two primary words which man speaks, »I-Thou« and »I-It«; assuming further that the former expresses a religious posture and that the latter does not; and granting that any »thing« in the world which may be addressed as an It may also be encountered as a Thou; it must follow that, the world being »twofold, in accordance with [man’s] twofold attitude,« no It, as It, can ever be the bearer of the divine, no being the incarnation of Being. If this is so, how can we ever say that the world is God’s creature? (Cf. »How the world is,
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is completely indifferent for what is higher. God does not reveal himself in the world.« L. Wittgenstein, Tractatus. 9 )
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Buber: I do not say that the world is twofold, rather, the world is twofold to man. I do not thereby say anything concerning anything existing independently of man. Moreover, in the biblical creation story God creates the things through the fact that he calls them out of their not-yet-being into being; in the third person, to be sure, but the grammatical form is not decisive here for what is meant: clearly God does not dispose here over something with which he otherwise has nothing to do; he really turns to what shall come into being, the light, the water, the earth; and it is only the completion of this turning, when he finally says to man who has come into being, »you.« Wittgenstein is right: God does not reveal himself in the world; he is wrong: God addresses the world thus existing, thus created as his own. Maurice S. Friedman: Is God loved only through the creature and never apart from him? Buber: When I speak of the exclusion of the world from the relation to God, I do not speak of the hour of man, but of his life. I regard it as unqualifiedly legitimate when a man again and again, in an hour of religious fervor, adoring and praying, enters into a direct, »worldfree« relation to God; and my heart understands as well the Byzantine composer of hymns who speaks as »the alone to the Alone,« as also that Hasidic rabbi who, feeling himself a stranger on earth, asks God, who is also, indeed, a stranger on earth, to grant him, just for that reason, his friendship. But a »life with God« erected on the rejection of the living is no life with God. Often we hear of animals who have been loved by holy hermits, but I would not be able to regard anyone as holy who in the desert ceased to love the men whom he had left.
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Arthur A. Cohen: In I and Thou you reject the concept of the »God who becomes« as »turgid and presumptuous talk.« 10 Nevertheless it would 9. Tractatus Logico-Philosophicus (London: Routledge & Kegan Paul, 1922, 1933), VI, 432. 10. Between Man and Man, p. 82.
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appear from your view of revelation that such a view of becoming in God is unavoidable. If God’s self-disclosures are never normative or apodictic, but depend for meaning only on the situation and moment in which God and man meet, then in some sense God is never the same. From the point of view of man (although perhaps not from God’s point of view) God does change, for the simple fact that he is encountered ever anew and must be encountered ever anew for genuine meeting to occur. Buber: Here a misunderstanding clearly holds sway. The teaching of the God who becomes that I have indicated sets the divine at the end of the world process, as its event and its fulfillment. I can, of course, only perceive a trace of God’s eternity, but it suffices to show me how foolish it is to wish to lodge him in time, namely at its end. According to my insight of faith, God is before as well as after time; he encompasses time and he manifests himself in it. When he manifests himself in it, when he »reveals himself,« he gives a norm to men, that is, he shows them the direction to right living. When men, in their need for interpretation and supplementation, make out of the holy norms »laws,« that is in particular, specifications of forbidden actions, then my faith compels me at times to prostrate myself and ask for illumination as to what I must do in a given situation, and what I must not do in it; I must, not seldom, refuse to follow the traditional, because my faith prevents me from acknowledging that God wants this of me. And that means, that God changes himself, or even, that he is a »God who becomes«! Peter A. Bertocci: To say, »What turgid and presumptuous talk that is about the ›God who becomes,‹« and yet never to explain how God can be otherwise to some extent if man is to have any effect on him, is a good instance of being declarative but not illuminating. More basically, any relation which is a real relation, as opposed to a logical one, must relate, that is, a difference must be made to both terms in the relation. I never discover what it is that man does to God – even in the passage referred to above. For what does God need man? Buber: Here, too, what the content of the teaching is that is under discussion – and for which the Nietzschean »superman« represents a generally known example – is not at all taken into consideration. Instead of a God who is conceived of as becoming and who in some indeterminate future will have become, Bertocci speaks of the effect of man on God that necessarily means a change in God. But is it really so incomprehen-
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sible that our concepts shatter when they are applied to God, and that we nonetheless must use them in order to talk about our relation to him? Because I point to the effect that the pure relation exercises on man, may it for that reason be demanded of me that, in order to be »illuminating,« I discuss its effect on God, something about which I know nothing and can know nothing? Or shall I, when I experience myself as addressed and addressing, and when such experience also is made known to me by others, keep silent about this fact because it is only possible to speak »declaratively« of it?
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Helen Wodehouse: In Professor Buber’s own view, does God have a special and separate center of consciousness, as a Person apart? When Martin Buber writes that God wishes to redeem us 11 and that »everything desires to become a sacrament,« 12 is he speaking literally in the first case and metaphorically in the second? Or is he in both statements using a legitimate metaphorical extension of much the same kind? Buber: What it means to me to speak of God as a person, more exactly, as a being that is also personal, I have tried to explain in the Postscript to the second edition of I and Thou. However, I must repeat here that no concept can be applied to God without a transformation taking place in it, and that it is the task of him who thus applies the concept to characterize and explain this transformation so far as possible. To ascribe to God a »special and separate center of consciousness« means to say at once too much and too little. I have sought to guard myself against such simplifications through designating God as the absolute Person. I beg that my interpretation of Hasidic teaching not be confused with my own thought; I can by no means in my own thinking take responsibility for Hasidic ideas, although my thinking is indebted to them and bound up with them. But when, in my interpretation of Hasidic teaching, I say of God that he »wishes to redeem us,« then that is, in this context, meant literally; and when I say in the same interpretation that »everything desires to become a sacrament,« then that is of course not fully, but still in good part meant literally; since, in fact, according to this 11. Hasidism, trans. by Greta Hart (New York: Philosophical Library, 1948), pp. 95116. 12. Ibid., p. 144.
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teaching, divine sparks, stemming from a precosmic primal catastrophe, hide in the beings and things – sparks that long for redemption by man, namely, through man relating to these beings in holiness and using these things in holiness. In my own thinking, I would not be able to talk of a wish of God’s or even of a desire of things in such a manner; and yet the reality that is ultimately meant by the former and that which is meant by the latter have their place in my more cautious thought. Frank B. Dilley: Does not knowledge of God in relationship to him, knowledge of God as a person, also imply that knowledge of the nature of God which Martin Buber has insisted is outside the province of man? If we know God as the »Absolute Person,« the »Eternal Thou,« the Creator who created men to love and be loved by him, do we not already know a good deal about his nature? Buber: A more exact clarification of what I mean and what I do not mean is evidently desired. Let us make the matter more precise, therefore. But one thing must be stated in advance: My interpretation of Hasidic teaching is not, to repeat, to be understood as a presentation of my own theology or philosophy. Hasidism has exercised a great personal influence on me; much in it has deeply affected my own thinking, and I have felt myself called ever again to point to its value for the life of man. But there is also not a little in Hasidism that I am, to be sure, obliged to interpret within the framework of my presentation of it, but that I cannot in the least make my own, in particular the Kabbalistic ideas, taken over and developed by Hasidism, of the emanations of God and their relationship to one another. These are essentially Gnostic ideas, and I have ever again most decisively opposed Gnosis, which presumes to know, so to speak, the inner history of God. Hasidic theology always comes into contact with my own at those points where the relation between God and the world is concerned, as it manifests itself to us in our own experience of the relation between him and us. That I proceed just from the relation between God and man, when I speak of God as the absolute Person and the eternal Thou, I have stated many times, most explicitly in the concluding chapter of the Postscript to the second edition of I and Thou. But I believe that I have already indicated sufficiently in I and Thou itself that one cannot comprehend a Thou outside of the relation to an I that says Thou and a person beyond his relations to other existing beings. If there existed no I in the world, it would make no sense to call God the eternal Thou; and I have said after
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due reflection that, in order to enter into relation with the existing beings that he calls into being, God has put on himself »the servant’s garment of the person.«
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David Baumgardt: If, as you emphasized again at Columbia University (Spring 1957), man in the dialogue with God must adhere to him unconditionally, even if God’s ordinances appear to us immoral, is there still any fundamental gulf between the pagan amor fati and the Jewish emunah (trust) to the personal God? And can one, as you do in »Spinoza, Sabbatai Zevi, and the Baal-Shem,« reject Spinoza’s »monologic amor dei intellectualis« as a glorreiches Verdorren (glorious withering) of the soul in monologischer Verselbständigung (monological self-sufficiency)? Buber: What I have said and mean is the following, which is, for the believing man, properly self-evident: when be becomes aware that God demands something of him, then be must just do it, if necessary involving himself in it with all his strength. In other words, the positing of an »ethical« criterion that is to be consulted as to whether one shall fulfill God’s will, of which one has become aware, is pure contradiction: he who really believes in God cannot acknowledge any other court above his. He who deduces the question from a situation so simply incomparable to ours as that of Abraham, construes it; the believing man of our world can confidently subordinate his ethics to his religiousness because he knows that it is God who shows him the right way, and that means just: because he trusts God. But what then does this trust have in common with the amor fati? When someone not merely receives what befalls him from a »blind« fate, but accepts it, affirms it, »loves« it, and when someone seeks to follow with trust a divine being who knows and instructs him, what has the one in common with the other? I do not at all and in any sense feel myself an object in the hands of God. I stand over against one who holds the world in his hands; nonetheless I stand with my own meaning and will. My father Job (no Israelite, it seems, and yet my father) protests and trusts in one; we come to feel that he loves God, whom he charges with injustice, but that to love his own fate remains alien to him to the end, and God encourages him not to love it. He stands in an unsurpassably awesome dialogue; but God does not deny himself to him as a partner in dialogue.
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And the »amor dei intellectualis«? Spinoza characterizes it as pars infinitis amoris, quo deus se ipsum amat. This concept of »a part« I reject basically. I stand over against God because I have been set by him in my own being in the most real sense, that is, I have been »created.« Because I stand over against him, I can love him. Besides, the idea that a being loves himself stems from a dislocation of the concept of love. »Egoism« is not self-love but a lack of love. To ascribe to God love of himself is to use an illegitimate metaphor. Norman Kelman: In your William Alanson White Memorial Lecture on »Guilt and Guilt Feelings« you define existential guilt as follows: »Existential guilt occurs when someone injures an order of the human world whose foundations he knows and recognizes as those of his own existence and of all common human existence.« You also, in that lecture, speak of it as »guilt that a person has taken on himself as a person and in a personal situation …« 13 When Abraham is asked to sacrifice Isaac (Gen. 22), is he not also in such a personal situation? Is he not also tempted by God, and does he not make a decision to obey, a decision that entails an action that would »injure an order of the human world«? In the brief dialogue with Isaac, there seems to be no indication that Abraham is involved in guilt, nor does there appear to be the tension or the problem that modern man is involved in when confronting his account, or a concrete situation. It appears that Abraham behaved in the way he did and not otherwise since there was no otherwise for him. (It was God’s command, you have said, and without this Abraham’s response meant nothing.) But for most, there is an otherwise, thus posing a problem, a conflict, a tension. To act as did Abraham would seem to involve a person in the existential guilt you speak of. To fail to heed God’s command would be to sin. Buber: I believe that I have answered this question in my book Eclipse of God in the chapter entitled »On the Suspension of the Ethical.« Kierkegaard did wrong to quote the biblical narrative of the temptation of Abraham in order to make understandable his renunciation of his fiancée as a sacrifice desired by God; he knew no way out, as we see from his diaries, in the highly complicated motivation of this action. »A divine protest opposed it,« he says; but since he also says explicitly that a man only learns that God demands a sacrifice of him, but not also which sacrifice, then, with the word »protest,« the sphere of the experi13. Psychiatry, Vol. XX, No. 2 (May, 1957), p. 117.
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ence of faith is already overstepped, especially as we read with astonishment in another place in his diaries: »Had I had faith, then I would have remained with her.« Had not God perhaps – so I venture to ask – actually demanded of him the sacrifice of his »melancholy,« his renunciation of it – and that would mean just the opposite of his renunciation of Regina. From the narrative of the temptation of Abraham nothing is to be concluded in abstracto as to what one of us must do if God’s voice demands of him tomorrow to become existentially guilty toward a fellow man. Such stories, in their terrible uniqueness, are placed at the beginning of the instruction (»Torah«): something representative is concealed in the narrated event, but it itself is not reported for imitation; never again has a man of faith heard the like from God; and since then, it is just faith that helps us distinguish from one another the voice of God and the Moloch voices of the idols of the age. Jacob B. Agus: Does not the conception of a »hiding God« rob human initiative of decisive significance and deny to all human valuations any permanent import?
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Buber: What I say is, first of all, enormously exaggerated, and then what is thus exaggerated is attacked. I have never said that God is »removed from all that is humanly conceivable«; what I have said ever again is this, that we know God in his relation to us, not apart from it. The conception of a God »who hides himself« is not »mythological« but biblical. The prophets proclaim time and again to the insubordinate of Israel that God will hide his face from them, and in the hour of the great world crisis the peoples who turn themselves to him call to him (Isa. 45:15): »Verily, thou art a God who hides himself, O God of Israel, liberator.« In the darkness of the crisis they had experienced his hiddenness; now in the radiance of the redeeming hour they perceive his helpful self-revelation. And what then is »revelation« in general other than the coming forth out of a (greater or lesser) hiddenness? The conception of a »hiding God« as I use it is by no means »designed to solve the problem of evil.« Nowhere have I indicated anything of the sort; I have never sought the origin of evil anywhere else than in the primal freedom of man. In the Bible, the hiddenness of God is not a cause of evil, it is his answer to it. But an answer that is not powerless over against man: when he turns back to God, then he can again share God’s revealed nearness. To ascribe to me the view that God’s essence is indetermination means
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to stand what I say on its head. But I do, indeed, believe that God manifests himself ever again in different forms, all of which, of course, point to his all-subduing unity. Paul E. Pfuetze: Professor Buber, will you clarify your doctrine of revelation, both as to the divine initiative and the human appropriation of it? I know you remain close to the dialogue and interpret revelation in terms of the dialogue as an address by God to man. But how do you know whether and when the revelation is actually from God and not from the Devil or from within oneself? How do you know when any mitzvah in your life is really a command from God? And a related question: How do you derive the specific law or moral imperative from revelation? How do you know the will of God? And when the alleged address by God to particular individuals is interpreted and fulfilled in such widely divergent ways, how do you or can you reach any confident agreement as to what is mitzvah in the community? Is the Existenz-thinker, trying to communicate his insights out of his particular I-Thou relation, reduced to sheer autobiographical utterance? Where are the objective criteria and methods by which one can communicate his insight or revelation to others so as to evoke a similar experience, to reach agreement with the others in the community? Buber: I repeat once more that I know no »objective criteria« and no »methods« in the relation to God. He who asks me concerning such misunderstands my intention. The question »How do you know?« is answered of itself in the personal experience of the believing man and in the genuine living-together of men who have analogous experiences; rather, there it is not asked. I give no guarantees, I have no security to offer. But I also demand of no one that he believe. I communicate my own experience of faith, just as well as I can, and I appeal to the experiences of faith of those whom I address. To those who have none, or imagine they have none, I recommend only that they do not armor their souls with preconceived opinions. I turn to those readers who either know from their own experience that of which I speak or are ready to learn it from their own experience. The others I must leave unsatisfied, and content myself with that.
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William Ernest Hocking: Agreeing that wherever there is a »relative« there is an absolute to which the relative is relative, then if, as against Vedanta, evil is relatively real and not illusion, must there not be an absolute evil toward which our attitude must be »fight, eject, destroy«? In brief, absolute rejection? Buber: First of all, speaking quite generally, I am not at all of the opinion »that wherever there is a ›relative‹ there is an absolute to which the relative is relative.« We become acquainted day after day with all degrees of relative stupidity; shall we conclude from that that there exists an absolute stupidity? An absolute evil, however, would mean that there is a power opposing the divine that cannot be derived from God. A modern Manichaeanism of this kind, however, is not what Hocking means. What Hocking means is rather »radical« evil as it enters into the reality of life. That something of the sort exists I have explicitly pointed out in the final chapter of my book Good and Evil, 14 and, in fact, it exists in what I call the »second stage« of a definite individual life reality, the stage, namely, in which the man who has abandoned himself to directionlessness and decisionlessness affirms this proclivity of his just as his own, and presumes to want to remain in it as in the basic attitude proper to him. But since it is always a question of the stage or stages of an individual life-way, I prefer to speak of it not as a »radical evil« (as, for example, Kant does) but rather as an evil that radicalizes itself. Note well, we always remain in the sphere of the facts of individual existence, in the sphere of individuals. Certainly we must often fight this evil, especially when it joins with its like and unites with all kinds of wretched mixed forms and then entrenches collectively upon human history. But when we have »destroyed« it, have we then really helped the good to victory over the evil? Is not the true fight against the demons of a wholly different kind? Must we lead the »bad« man to his unredeemedness? Does there not exist ever again what is almost incomprehensible, the possibility that we can help the man who has apparently completely succumbed to that arrogant self-affirmation to find the way out? Certainly there have been many in this our time who would not have
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believed themselves capable of wanting to save some son of this time 15 before themselves. And nonetheless, I confess that I can hold no one to be »absolutely« unredeemable. The saying that there is no forgiveness, which Hocking has taken over from the Jewish tradition and applied to him who says, »I will sin and then I shall repent,« does in fact touch the most serious injury of the relation between divinity and humanity. But is it impossible that, in a later hour, the insight into the fact that he cannot be forgiven may seize hold of the man who has spoken and acted thus, like a heartpurifying lightning flash? What can transpire between the real God and a real man is of so paradoxical a nature that no saying, be it ever so »true,« is equal to it. Something, the idea of which is unforgivable, may be resolved in paradox. And we – shall we, if this is so, hide from ourselves the possibility that we too could be called on in certain circumstances to forgo »absolute rejection«? Yes, evil radicalizes itself – and it is granted us to co-operate in its deradicalization. Kurt H. Wolff: 1. What is the locus of evil? Within the I-Thou relation, how is one to discriminate between good and evil: for instance, how does one know when to acquiesce in the demand of the other, when to resist it; how does one know when one acts as the »single one,« rather than as the pseudo »single one«? 2. Whatever answer this question receives, one implication of the answer would appear that reason is relevant to it. The statement, »Evil cannot be done with the whole soul; good can only be done with the whole soul,« 16 suggests that in doing evil, one part of the soul is excluded, and this part I cannot identify as other than reason; and this is why evil cannot be done with the whole soul. Buber: 1. I know a »locus of evil« only within the concrete individual life-reality, and here I know it, as I have said, as the willed direction and decisionlessness. Therefore, I have naturally not set up an objective criterion that tells one in the manifold situations »how one does know,« and I cannot do so. One must quite often, indeed, struggle hard in a given situation, without having an adequate criterion to hand, until one knows and takes the right direction here and now. But in a life in which the good is more and more realized, the strength of finding often grows. 15. »Such as Goebbels,« Professor Buber offers as an example in a letter to me. (Friedman.) 16. Good and Evil, p. 130.
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The more complete an I-Thou relation is, so much the more one knows what the other really needs in order to become what he was created to be. And he who has become a genuine »single one,« he receives confirmation – even though he never has a share in blank security – but from other sources, certainly, than from reflection on whether he is genuine or not genuine. 2. That it is »reason« that opposes in me the evil that I do seems to me an inadmissible simplification. When I think about doing an injury to my neighbor who has vexed me, and I succeed in sensing somewhere in a corner of my being the injury that I want to do, or when I want to deceive my partner in an action and a little drop of lying substance corrodes the rim of my own heart, and I nonetheless do the evil, although »not with the whole soul,« what role has »reason« played in the event? It was not at all, in fact, a thinking that took place there; it was only that gentle protest of the soul to which we so often are accustomed to pay no attention. Walter Goldstein: 1. First of all I pose the question regarding the nature of evil in Buber’s works. Allow me to add that I do not mean the phenomena of evil. The fact that they are represented in Buber’s work For the Sake of Heaven in great enough detail, I think I have sufficiently pointed out in many writings. Besides, I share Buber’s opinion that man is not born in sin, and is able to free himself from it without assistance from outside. On the other hand, however, it would be quite impossible to deny that evil as such does exist on earth. Thus I do not wholly agree with Buber that man in general is neither good nor bad. Possibly this type of person constitutes the overwhelming majority, but I have met in my life a number of conspicuously good people and, unfortunately, a yet greater number of bad people who consciously willed the evil and the bad. It appears to me that Buber treats of evil adequately in its manifestation, but he does not deal exhaustively with evil as such. Let me add, by way of suggestion, what I have already told Buber: I am aware that he rejects the isolation of evil in order not to permit even the slightest trace of a satanic rival divinity to emerge. 2. This problem of evil again and again plays a disturbing role for me in my thinking through his system of the dialogue. I am also reasonably certain that all the lines of genuine meeting intersect in the eternal Thou. Yet these meetings form only a very small percentage of all earthly meetings. Let us suppose that the lines of the numerous indifferent meetings likewise intersect in the eternal Thou. What then of the meetings with men which aim fundamentally at extracting evil from this meeting and leaving nothing undone to give the meeting a painful as-
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pect? That there are such meetings, unfortunately not too rare, can likewise not be denied. It is, however, difficult to accept the thought that the lines of all of these meetings also intersect in the eternal Thou, since in this case attributes would have to be ascribed to the Almighty which are all too earthy. No principle of »loving more« was able to save Hasidism from premature decline, and it collapsed not as the result of opposition from without, but rather from within, as was decisively shown in For the Sake of Heaven. No Jew of our generation needs to be told that there are people – indeed masses of people – for whom the principle of »loving more« broke down in complete failure. On the other hand, since I am equally convinced of the invalidity of the opposite principle (»hating more«) – for he who conquers by the sword has always inevitably perished by the sword – I am unable to determine the role of evil in the meetings of men, and I ask Professor Buber to say a word on this point. Buber: 1. I do not know evil »as such,« but only as a condition and attitude in the life of individuals. As condition, I have characterized it probably most clearly as »the convulsive shirking of direction« (»The Question to the Single One,« Between Man and Man), as attitude probably most clearly as the self-affirmation of those who remain in directionlessness. 17 If the good that I mean is already in its origin the direction of the human being to God, then it is still certainly clear that no one of us is simply evil, for none is denied by his nature taking the direction. It is also certainly clear that none of us by his nature is simply good, for it is accorded to none by his nature to become free from all the impulses of the passion revolving in itself. The individual experiences both in the depths of his self-awareness. It seems to me in the same way to be at variance with the hidden reality to hold the other to be simply bad and oneself to be simply good. Man is – to this I hold fast – »in an eminent sense good-and-evil«; he is fundamentally twofold, and he is empirically capable of attaining to unification, that is, he is capable time after time of lending his passion the direction to the truth, to God; wholly one, wholly good is no mortal being. 2. Here a misunderstanding prevails. By »meeting« in the pregnant sense in which I use the word, I understand an occurrence of the genuine I-Thou relation in which the one partner affirms and confirms the other as this unique person. That the lines of these relations intersect in the
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eternal Thou is grounded in the fact that the man who says Thou ultimately means his eternal Thou. The innumerable cases in which the men who encounter one another intend and do to one another incalculable evil is indeed an incontestable basic fact of existence. I know nothing else to oppose to it than the warning renewed time after time that the man who makes the other from a Thou into an It thereby destroys his own life at its core. Paul E. Pfuetze: If the I-Thou relation, man with man, is the real way of things, why is it such a task to »socialize« people? Why is it so difficult for man to live in the world of Thou, so easy to slip into the world of It? Buber: I have never said, so far as I know, that the I-Thou relation is »the real way of things.« I have ever again said that it is one of the two basic attitudes of man, one of the two possibilities of existence. That in the present human world the other is the more frequent, the more powerful I have never concealed, nor have I even neglected to explain why the man of our time is so very much inclined to treat all existing beings as It, as the object of his observation and his use. Yet I hold the statement that »even at his best, man feels an inordinate tug of self-interest,« to be inexact. Certainly, every living being, including man, experiences his life in its relationship to himself; each is naturally concerned with the preservation of its existence, the betterment of its lot, striving after advantage and all kinds of pleasures, and I have no criticism of this basic biological fact; I would not dream of removing man from it. But that in the lived day of man, day after day, selfinterest is always operative, in no way accords with many men whom I observe in my environs and of whose inwardness I can perceive something. I see how they concern themselves, each in his own way, the one noisily or awkwardly, the other goodnaturedly and at times even tenderly, with their environs – family, comrades, passers-by – with open spirit for what takes place, and, not at all seldom, ready with participation, information, and help. In all this the relationship to oneself is a self-understood, undetachable constituent, but not an important factor. I sometimes watch boys playing. What really concerns the individual is just the game itself, and that means, of course, before all, his share in it; but I see such a boy, not at all infrequently, also really concern himself about another, about the other’s share, his fortune and misfortune, and at times I see such a young heart, as it were, fly across to where the other stands, with the wish that he could help there where, according to the rules of the game, no help at all is possible.
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I will certainly not deny that the earth abounds with so-called selfseeking, in lower and higher varieties. But that seems to me to mean nothing else than that the biological self-relatedness in man, with its so strongly developed ego-drive, easily becomes a »mania,« thus takes on a basically pathological form. Self-seeking is not something given man by nature, but the event of a twisting through which the biological presupposition of the individual life-reality, the self-relatedness, is made into goal and intention and thereby becomes more or less pathologized. In this connection there should not remain unmentioned the interesting fact that an entirely different development, to another end, so to speak, can also take place in self-relatedness. This is especially true with men of strongly differentiated intellectuality, if they have a special talent for reflecting in a perceptive manner on their own share in the events of their lives, and particularly on the psychic side of this share. Thus arises the so-called egotism. This kind of reflexion often begins in modern man at the moment of the event itself, perhaps at the moment of an action, as a result of which the spontaneous character of the action can be injured or even destroyed. That man »is actually in harmony with the law of life« I have never asserted; indeed, I have rather advocated the opposite view, since I have tirelessly pointed to the fact that the I-Thou relation between men is ever again interrupted by an I-It relationship. To pronounce me a romantic optimist is very easy because, despite all adverse experiences, I have always clung to the messianic belief in the redemption of the world by God with the participation of the world. But it is quite false; for I have never and nowhere asserted that man can overcome his disharmony, the inner conflict of human existence through his own fullness of power, through his own »good will.« I am a realistic meliorist; for I mean and say that human life approaches its fulfillment, its redemption in the measure that the I-Thou relation becomes strong in it, the relation in which man, without surrendering his self-relatedness, has to do with the other not as with his object, but as with his partner. If one prefers to think that God does not exist, then man must be regarded as the most dangerous experiment of nature, but still as one in whose success he himself has a share.
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Über Leo Schestow (1964)
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Schestow ist ein repräsentativer Denker unserer Epoche. Er ist ein fragender Denker. Aber nicht wie Sokrates, der die richtige Antwort weiß und sie zunächst »ironisch« seinem Gesprächspartner vorenthält. Schestow hat keine fertigen Antworten in seiner Tasche; aber er weiß, was heute und hier zu fragen ist; er lehrt uns fragen. Dabei scheut er sich nicht, zuweilen statt einer einzigen Antwort zwei zu finden, die einander widersprechen. Er hat selber (in einer Bemerkung, die »Pro domo« überschrieben ist) darauf hingewiesen, daß er von solchen Widersprüchen offen zu reden pflegt. Damit lehrt er uns aber etwas für uns heutige Menschen sehr Wichtiges: daß man solche Widersprüche nicht vorzeitig – und das heißt: scheinbar – überwinden darf. Diese unerschrockene Redlichkeit seines Fragens ist es, die Schestow zu dem eminent religiösen Denker gemacht hat, der er ist.
Kommentar
Editorische Notiz Der vorliegende Band folgt den neuen, in Band 9 der MBW (»Schriften zum Christentum«) erstmals vorgestellten Editionskriterien. Die Gesamteinleitung, die der Textsammlung vorausgeht, enthält allgemeine Hinweise zur Entstehungsgeschichte der Texte, ordnet sie in Bubers Gesamtwerk ein und erläutert ihre zeitgenössische Rezeption. Die hier gebotenen Fassungen von Bubers Texten sind auf Grundlage der Erstdrucke erstellt und folgen ihnen in Orthographie und Interpunktion. Die Texthervorhebungen der Originaltexte mit gesperrter und kursiver Schrift sowie Kapitälchen werden beibehalten. Es wurde nach Möglichkeit darauf verzichtet, mit Korrekturen in die zum Abdruck kommenden Typoskripte einzugreifen, die in der Regel stenografische Mitschriften der unmittelbaren Rede Bubers darstellen. Der freien Rede ist es geschuldet, dass die Sätze mitunter ihrem syntaktischen Bau nach unvollendet geblieben oder in sich nicht stimmig sind. Es erschien den Herausgebern nicht legitim, an diesen Stellen einzugreifen und dadurch den Duktus der freien Rede zu stören. Eine stillschweigende Berichtigung erfolgte nur im Fall von offenkundigen Tippfehlern, nicht geschlossenen Klammern und fehlenden An- oder Abführungszeichen. Die Schreibung von Namen wurde vereinheitlicht oder bei offenkundigen Fehlern korrigiert. Die Kommasetzung hingegen wurde nicht verändert. Wenige Eingriffe, die sinnverändernd wirken könnten, sind im Variantenapparat des Kommentarteils zum jeweiligen Text verzeichnet. Die Reihenfolge der Texte Bubers im vorliegenden Band folgt einer möglichst chronologischen Ordnung. Bei Texten, die nahezu zeitgleich an zwei verschiedenen Orten erschienen sind, wurde auf diejenige Publikation als Druckvorlage zurückgegriffen, die als philologisch verlässlicher erschien, etwa eher auf die Buch- als die Zeitschriftenveröffentlichung. So wurde für Das Problem des Menschen auf die Einzelveröffentlichung von 1948 als Druckvorlage zurückgegriffen, nicht auf die Erstveröffentlichung von 1947, die in dem Sammelband Dialogisches Leben erschienen ist. Als Druckvorlage für »Die Bedeutung göttlicher Offenbarung«, »Früchte eines Gedankens« und »Hugo Bergmann: Wissenschaft und Glaube«, die zunächst auf Hebräisch publiziert und bislang nicht auf Deutsch veröffentlicht worden sind, wurde auf die Übersetzungen zurückgegriffen, die Karin Neuburger für die Martin Buber Werkausgabe angefertigt hat. Berichtigende Eingriffe in Texte, denen Drucke zugrundelagen, wer-
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den nur im Fall von offenkundigen Druckfehlern und angesichts von Korrekturen Bubers in späteren Drucken vorgenommen. Diese Eingriffe sind im Variantenapparat des Kommentarteils zum jeweiligen Text verzeichnet. * Im Kommentarteil des Bandes wird zu jedem Text zunächst eine individuelle Einleitung geboten, die auf die Textentstehung eingeht, die Quellen analysiert und die Rezeptionsgeschichte umreißt. Anschließend werden die in den Variantenapparaten berücksichtigten, mit Siglen versehenen Textzeugen aufgelistet und, falls erforderlich, kurz charakterisiert. Darunter befinden sich ggf. Handschriften und Typoskripte aus dem MBA und die zu Bubers Lebzeiten erschienenen, d. h. die von ihm autorisierten Drucke. Der Bestimmung der Druckvorlage folgen ggf. die bibliographischen Angaben zu den Übersetzungen des Textes. Darauf folgend, wird ein Variantenapparat geboten, der inhaltliche, den Sinn des Textes verändernde Abweichungen der vorhandenen Textfassungen von der Druckvorlage verzeichnet. Einträge des Herausgebers sowie herausgeberbezogene Zeichen werden kursiv, der edierte Text recte formatiert. Der Kommentarteil zu dem jeweiligen Text wird durch Wort- und Sacherläuterungen vervollständigt. Den Abschluss des Bandes bilden umfangreiche Register zu der verwendeten Literatur, den Bibelstellen, den Sachbegriffen und den Personen.
Diakritische Zeichen Ko r r e k t u re n v o n B u b e r s Ha n d : [Text] Texttilgung
Texteinfügung → Korrektur zu folgender Variante Herausgeberbezogene Zeichen: x, xx, xxx … Unentzifferte(s) Zeichen X Unentzifferte Zeichenfolge ? unsichere Lesung des davor stehenden Wortes [Textverlust] eindeutig fehlende, nicht ergänzbare Textlücken wegen Schreibabbruch, Textzeugenbeschädigung etc. {Text} Variante aus einem Textzeugen, eingeblendet innerhalb einer Variante aus einem anderen Textzeugen / Zeilenumbruch Te x t z e u g e n - S i g l e n : D1, D2 … Drucke d1, d2 … Teilabdrucke, Druckfahnen und Korrekturbögen H1, H2 … Handschriften 1 2 h,h … Teilhandschriften TS1, TS2 … Typoskripte TS1.1, TS1.2… Schichten innerhalb eines Textzeugen
Einzelkommentare Religion als Gegenwart Religion als Gegenwart war konzipiert als eine Reihe von insgesamt acht öffentlichen Vorlesungen, die Martin Buber vom 15. Januar bis zum 12. März 1922 auf Einladung Franz Rosenzweigs im Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt a. M. gehalten hat. Die erste Edition der Manuskripte von Religion als Gegenwart unternahm Rivka Horwitz (19262007) mehr als 50 Jahre nach Entstehung des Textes im Jahr 1978 im Rahmen ihrer bis heute maßgeblichen Arbeit Buber’s Way to »I and Thou«. An Historical Analysis and the First Publication of Martin Buber’s Lectures »Religion als Gegenwart« (Heidelberg 1978). Bubers Text Religion als Gegenwart ist, so Horwitz, eine frühe Version seiner dialogphilosophischen Hauptschrift Ich und Du, die im Dezember 1922 erschien und deren erste »unbeholfene Niederschrift« (Martin Buber, Nachwort, in: ders., Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg: Lambert Schneider 1954, S. 294) im Herbst 1919 erfolgte. Buber, dem die »innere Möglichkeit, einen Gegenstand zugleich mündlich und schriftlich zu behandeln« (B II, S. 109) prinzipiell wichtig war, hat im Verlauf seiner Vorlesungsreihe zunächst das mündlich entwickelt, was er später in seiner systematischen Darstellung Ich und Du in schriftlicher Form vorgelegt hat. »The four Lectures which are the source of I and Thou«, schreibt Horwitz, »are the fourth, fifth, sixth and eighth. The fourth and the fifth Lectures, dealing with ›the world of It‹ and ›the world of Thou‹, constitute parts of Book One of I and Thou. The end of the fifth, the sixth and the eighth Lectures, involving Buber’s treatment of God, the Absolute Presence, comprise segments of Book Three.« (Horwitz, Buber’s Way to »I and Thou«, S. 33) Buber hatte einen Stenografen mit der Transkription seiner ohne ausgearbeitetes Manuskript gehaltenen Vorträge beauftragt, von der zwei Kohlepapier-Kopien überliefert sind, die heute im Martin Buber Archive of the National and University Library in Jerusalem aufbewahrt werden. Die stenografische Mitschrift stellt eine wortwörtliche Übertragung seiner acht Vorlesungen dar, wodurch nicht nur die Eigenarten von Bubers gesprochener Sprache und damit der ursprünglich orale Charakter des Textes erhalten blieben. Insofern der Stenograf auch akribisch genau die Unterbrechungen der Vorträge notierte, die den Hörern Gelegenheit bot, ihre Fragen an den Vortragenden zu richten, vermittelt das Typoskript auch einen unmittelbaren Eindruck von der Diskussionskultur des Lehrhauses.
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Die Vorlesungsreihe Religion als Gegenwart – Bubers Überlegungen zur lebendigen Gegenwartsbedeutung der jüdischen Religion in der säkularen Moderne – zu der auch ein ergänzendes Seminar gehörte, in dem religiöse Texte, darunter selbstverständlich auch chassidische, behandelt wurden, markiert den Beginn der Zusammenarbeit mit Franz Rosenzweig am Freien Jüdischen Lehrhaus. Spätestens seit Rosenzweig aufgrund seiner fortschreitenden Erkrankung keine Vorlesungen mehr halten konnte, war er bemüht, Buber als festen Mitarbeiter zu gewinnen, um den Geist des Lehrhauses auch weiterhin zu erhalten. So hielt Buber schon im Wintersemester 1922 eine vierstündige Vorlesung zum Thema »Die Urformen des religiösen Lebens« (Magie, Das Opfer, Das Mysterium, Das Gebet). Die Vorlesung sollte die Grundlage des zweiten Bandes eines von Buber ursprünglich auf fünf Bände angelegten Werkes bilden, von dem nur der erste Band, Ich und Du, erschienen ist (vgl. B II, S. 113 u. S. 116). Auch in den folgenden Jahren hielt er Lehrveranstaltungen und Seminare zu chassidischen Themen, zur Bibel und zum Talmud und leitete das Lehrhaus nach dessen Wiedereröffnung 1933. Was von Rosenzweig zunächst nur als ein zeitlich begrenzter Lehrauftrag gedacht war, entwickelte sich trotz aller Differenzen zwischen den beiden bedeutenden existentialistischen Religionsphilosophen und Exponenten der jüdischen Renaissance bald zu einer tiefen persönlichen Verbundenheit und überaus fruchtbaren Arbeitsgemeinschaft. Die erste persönliche Begegnung der beiden hatte bereits kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Frühjahr 1914 stattgefunden. Rosenzweig, der im Gegensatz zu Buber im Zionismus nicht das impulsgebende Moment einer innerjüdischen Erneuerung sah, brachte überdies nur wenig Verständnis für Bubers neochassidisch orientierte »Lebenshaltung« und seine Hinwendung zu Mystik und Mythos als den wahren schöpferischen Momenten im Judentum auf. Buber und Rosenzweig trafen sich erst nach dem Krieg, anlässlich des zweiten Besuchs Rosenzweigs in Heppenheim im Jahr 1921 wieder, in dessen Verlauf sie sich trotz aller Unterschiede in der »Weltansicht« persönlich näher kennenlernten und Rosenzweig Buber schließlich vorschlug, nach Frankfurt zu kommen, um am Lehrhaus zu unterrichten. »Ihrem Vorlesungsvorschlag gegenüber«, schreibt Buber am 8. Dezember 1921 an Franz Rosenzweig, »habe ich zu meinem eigenen Erstaunen (denn das Ablehnenmüssen ist mir nachgerade zur Gewohnheit geworden) vom ersten Augenblick an ein positives Gefühl, das ich im wesentlichen Ihrem Besuch und der Empfindung eines Zusammenhangs, die mir von ihm geblieben ist, zu verdanken habe. Ich könnte in diesem Trimester nur über einen enger begrenzten Gegenstand lesen, zu benennen etwa: ›Religion
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als Gegenwart‹ (den Prolegomena einer Arbeit entsprechend, mit der ich befasst bin) […].« (B II, S. 92) Martin Bubers Überlegungen zur Gegenwartsbedeutung der jüdischen Religion in der säkularen Moderne, die er in Religion als Gegenwart näher ausführt, entstehen im Winter 1921 unter dem Eindruck der Kriegsjahre, die eine politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Krise ungeahnten Ausmaßes ausgelöst hatten. »The war years«, schreibt Maurice Friedman, »which had had a decisive effect on the thought of both men, had brought them closer together without their realizing it.« (Maurice Friedman, Martin Buber’s Life and Work, Bd. 1: The Early Years 1878-1923, New York 1981, S. 283.) Rosenzweig wie Buber suchten nach Antworten auf die sich immer dringlicher stellenden Fragen, die die tiefgreifende Zäsur des Ersten Weltkrieges und der Jahre danach für das deutsche Judentum mit sich brachte. Der Mensch, schreibt Buber mehrere Jahre später in Das Problem des Menschen (1947), wurde sich der »furchtbaren Tatsache« bewusst, »daß er ein Vater von Dämonen war, deren Herr er nicht werden konnte.« (in diesem Band, S. 265) Der Weltkrieg habe zu einem »fortschreitenden Zerfall der alten organischen Formen« geführt und die Gesellschaft mit unabsehbaren »soziologischen« und »seelengeschichtlichen« Folgen immer tiefer in die »moderne Krisis« gestürzt. Dies gelte in besonderem Maße für das jüdische Volk, das »am schwersten und verhängnisvollsten« (ebd., S. 266) von einer zunehmenden inneren Zersetzung bedroht sei. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war die jüdische Gemeinschaft aber noch mit einer Bedrohung ganz anderer Art konfrontiert: Die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft begegnete der jüdischen Bevölkerung in wachsendem Maße mit Misstrauen und Ausgrenzung. Mehr noch: In den Jahren der Weimarer Republik trat eine radikalisierte Form des Antisemitismus auf den Plan, der mit einer extremen Gewaltbereitschaft einherging. Die Kluft zwischen Deutschen und Juden war – allen Anpassungsbestrebungen der langen jüdischen Akkulturationsgeschichte zum Trotz – größer denn je. Die innerjüdischen Legitimationsmodelle von Emanzipation und Assimilation hatten sich, wie Franz Rosenzweig in Bildung und kein Ende, seiner Programmschrift für das Freie Jüdische Lehrhaus, schreibt, als Illusion erwiesen. Kulturell angepasst an ihre nichtjüdische Umwelt und weitestgehend säkularisiert war von der jüdischen Gemeinschaft nur noch das übrig geblieben, was Rosenzweig ironisch als ein bloßes »JomKippur-Judentum« bezeichnete (Franz Rosenzweig, Bildung – und kein Ende, Frankfurt a. M. 1920, S. 13). Rosenzweig machte insbesondere die Entfremdung des Großteils der deutschen Juden von der hebräischen Sprache und den traditionellen jüdischen Quellen für den zuneh-
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menden Verlust jüdischer Identität verantwortlich. Die nachaufklärerische »Assimilation«, so diagnostizierte Gershom Scholem, einer der schärfsten Kritiker der »deutsch-jüdischen Symbiose«, »hatte die Judenfrage in Deutschland nicht etwa beseitigt, wie ihre Verfechter erhofften, sondern von einer neuen Position aus eher akuter gemacht.« (Gershom Scholem, Juden und Deutsche, in: ders., Judaica 2, Frankfurt a. M. 1995, S. 27.) In dieser spezifischen Situation der zunehmenden Auflösung des deutschen Judentums als religiöser und kultureller Gemeinschaft rückten die Entwicklung eines neuen jüdischen Selbstbewusstseins und mit ihm die Suche nach neuen Formen einer deutsch-jüdischen Kultur in den Fokus einer »jüdischen Renaissance«, wie Buber sie gefordert hatte. Im Kontext der modernen Herausforderungen nahmen pädagogische Reformbestrebungen für führende Vertreter der »jüdischen Renaissance« eine zentrale Rolle ein. In seinem Anfang 1917 an der Front verfassten und als offenen Brief an Hermann Cohen adressierten bildungspolitischen Aufruf »Zeit ists« postuliert Rosenzweig die Notwendigkeit der Schaffung einer »der übrigen Bildungswelt gegenüber wesentlich selbständige[n] ›jüdische[n] Sphäre‹« (Franz Rosenzweig, Zeit ists. Gedanken über das jüdische Bildungsproblem des Augenblicks, Berlin und München 1918, S. 4). »Der Geist des Judentums verlangt nach eigenen Heim- und Pflegestätten«, nach »jüdischgeistige[n] Organisationen«. Die Lösung des jüdischen Bildungsproblems »auf allen Stufen und in allen Formen«, sei, so Rosenzweig, »die jüdische Lebensfrage des Augenblicks« (ebd., S. 27). Als Rosenzweig 1919 das ihm von der Gesellschaft für Jüdische Volksbildung in Frankfurt angetragene Amt des Leiters der dortigen Volkshochschule antrat, änderte er im Anschluss an die Tradition des hebräischen Beth-haMidrasch zunächst den Namen der Einrichtung in Freies Jüdisches Lehrhaus. Wie er in seiner Eröffnungsrede vom 17. Oktober 1920 deutlich macht, sollten sich sowohl das pädagogische Konzept als auch vor allem die Bildungspraxis des Lehrhauses von der deutschen Volkshochschulbewegung des 19. Jahrhunderts absetzen. Das »Neue Lernen« wie Rosenzweig es verstand, sollte von einer den jüdischen Wurzeln entfremdeten Lebenswirklichkeit aus zurück »in die Tora«, in den jüdischen Traditionszusammenhang führen. In drei Lernformen – Vortrag, Arbeitsgemeinschaft und wissenschaftlicher Übung – näherten sich die Teilnehmer gemeinsam mit den Lehrern der Bibel, dem Midrasch und dem Talmud sowie der hebräischen Sprache. Da große Teile der Dozierenden selbst aus assimilierten Familien stammten, waren sie ebenso wie die Besucher zumeist »Am-Haaretz«, Unwissende in jüdischen Dingen. Lehrer sollten so zu Lernenden werden
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und Lernende zu Lehrern. Das Lehrhaus, das zu Zeiten seiner Blüte 1922/23 etwa 1.100 jüdische wie nichtjüdische Hörer interessieren konnte, verstand sich daher weniger als eine klassische Bildungsstätte, sondern vielmehr als ein »Sprechraum«, der »Sprechzeit« (Franz Rosenzweig, Bildung und kein Ende, S. 18) für das gemeinsame Gespräch, für Fragen und Gegenfragen, für die Auseinandersetzung darüber, was für jeden Einzelnen »Jüdischsein« bedeutete und zwar ohne die Inhalte im Voraus festzulegen, bereitstellte. Denn es gab, wie Rosenzweig betonte, kein klar umrissenes Konzept für die Arbeit des Lehrhauses. Es war nicht zuletzt die besondere Atmosphäre eines gemeinsamen Lernens, die zahlreiche jüdische Geistesgrößen ganz unterschiedlicher Provenienz wie den charismatischen orthodoxen Rabbiner Nehemia A. Nobel (1871-1922), den einflussreichsten Vertreter des liberalen Judentums Leo Baeck (1873-1956) oder den späteren Nobelpreisträger für Literatur Shmuel Agnon (1888-1970), um nur einige wenige zu nennen, an das Institut zog, um dort zu lehren. Auch wenn die konkrete pädagogische Praxis des Lehrhauses für Buber, der es gewohnt war, ohne Unterbrechung zu dozieren, anfänglich eine durchaus neue Erfahrung war, so entsprach die unvoreingenommene geistige Lehrhauskultur, die weder innerjüdische Differenzen noch die Probleme im Verhältnis von Judentum und Christentum beschönigte, doch demjenigen, für das Buber einstand. Wie aus einem an Buber gerichteten Brief Ernst Simons (1899-1988) vom 18. April 1922 hervorgeht, haben sowohl er als auch Franz Rosenzweig die stenografische Mitschrift der Vortragsreihe Religion als Gegenwart gelesen. Simon äußert hier seine prinzipielle Zustimmung zu Bubers Thesen, macht aber auch unmissverständlich klar, dass er – ähnlich wie im Fall von dessen Rede »Cheruth« (Cherut. Eine Rede über Jugend und Religion, Wien: Löwit Verlag 1919; aufgenommen in: Reden über das Judentum, Frankfurt a. M. 1923; jetzt in: MBW 8, S. 109-127), auf die er sich in seinem Brief bezieht – gerade zum »letzten Drittel« der Vorlesungen »gewichtige« »Einwände« anzumelden habe. (B II, S. 98.) Textzeugen: TS1: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 29): 107 lose Blätter, paginiert mit je nach Abschnitt neu einsetzender Zählung. Das Typoskript ist zweischichtig: TS1.1: Grundschicht. TS1.2: Überarbeitungsschicht: Vereinzelte Korrekturen, teils offenbar nicht von Bubers Hand.
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TS2: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 29): 107 lose Blätter, paginiert mit je nach Abschnitt neu einsetzender Zählung. Durchschlag von TS1. Das Typoskript ist zweischichtig: TS2.1: Grundschicht. TS2.2: Überarbeitungsschicht: Vereinzelte Korrekturen, teils offenbar nicht von Bubers Hand. die Korrekturen sind zu den Korrekturen in TS1.2 gleichlautend. Druckvorlage: TS1.2 Variantenapparat: 89,37 konzipieren] fehlt TS1.1, TS2.1 94,24 Soziologischen] Historistischen TS1.1, TS2.1 96,12 methodologischen] mythologischen TS1.1, TS2.1 96,14 um die Psychologie] die Psychologie TS1.1, TS2.1 96,18 jenen] den verschiedenen TS1.1, TS2.1 96,31 wohl schon] schon TS1.1, TS2.1 97,6 viel tieferes] vielfacheres TS1.1, TS2.1 97,11 aus ihm heraus gelebt werden will, verwirklicht werden will] aus ihm heraus verwirklicht werden will TS1.1, TS2.1 97,39 betreten] berühren TS1.1, TS2.1 100,16 rührt] anknüpft TS1.1, TS2.1 100,25-26 , ich glaube […] ich sage: ] fehlt TS1.1, TS2.1 103,16 , die Religion] fehlt TS1.1, TS2.1 119,35 »ungewusste Leben«] nicht gewusste Leben TS1.1, TS2.1 119,40 unbewusst] nicht bewusst TS1.1, TS2.1 120,7 Werkes] Wortes TS1.1, TS2.1 120,17 verhalten] fehlt TS1.1, TS2.1 123,16-17 im Menschen selbst irgendwie] im Menschen selbst das Du, die Du-Beziehung an[Textverlust] es ist nicht so, es kann nicht so sein, dass irgend ein Stück Aussenwelt an den Menschen herankommt, sondern schon im Menschen selbst ist irgendwie TS1.1, TS2.1 126,7 wohl etwas] wirklich TS1.1, TS2.1 129,27-28 , das Naturhafte,] fehlt TS1.1, TS2.1 131,33-34 , so scheint es, keine Kontinuität der Du-Welt,] fehlt TS1.1, TS2.1 133,21 zur eigenen Schöpfung] zu einer TS1.1, TS2.1 135,12 , sie nur nicht zur Es-Welt gerinnen zu lassen,] fehlt TS1.1, TS2.1 146,3 Worte] Antwort TS1.1, TS2.1 147,34 ein Ding] fehlt TS1.1, TS2.1
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149,1 und wollen] fehlt TS1.1, TS2.1 149,27 aufzustellenden] aufgeschriebenen TS1.1, TS2.1 152,23 Beziehung] Offenbarung TS1.1, TS2.1 152,24 jachlifu] berichtigt aus jach lifu Wort- und Sacherläuterungen: 93,2 Dostojewskis] Fjodor Michailowitsch Dostojewskji (1821-1881): russ. Schriftsteller; zunächst berühmt geworden durch sozialkritische Arbeiten (Arme Leute, 1846), wird er 1849 wegen der Verstrickung in revolutionäre Gruppierungen verhaftet, nach einer Scheinhinrichtung begnadigt und nach Sibirien verbannt. Diese erschütternde Erfahrung führte zu einem komplizierten Bekehrungsprozess und einer kritischen Abwendung vom revolutionären Liberalismus und utopischen Sozialismus. Das zentrale Thema seiner späteren Schriften, die Kollision von Moderne, Atheismus und Religion, verhandelt maßgeblich Probleme, die auch von Nietzsche und Kierkegaard aufgegriffen wurden und Dostojewskji zu einem für die bürgerliche Intelligenz in Europa und vor allem in Deutschland einflussreichen Autor werden ließ. Buber nimmt vielerorts Bezug auf Dostojewskji. 93,3 Revolutionsroman »Die Teufel«] Die Teufel, besser bekannt unter dem Titel Die Dämonen, erschien 1872 und verarbeitet in bitterer Satire die Ermordung eines »Abtrünnigen« durch den nihilistischen Revolutionär Sergej Netschajew (1847-1882). Das Opfer wird im Roman von der Figur des Schatow dargestellt, von dem auch die Ausführungen stammen, auf die Buber anspielt, und die diesen mehrfach beschäftigt haben. 94,31-33 heute recht bekannte historistische Auffassung […] Kulturen etwa Organismen sind] Buber dürfte damit auf Oswald Spenglers (1880-1936) Der Untergang des Abendlandes anspielen, dessen erster Band 1918 erschienen war – der zweite folgte 1922 – und einen großen Anklang fand. Dort zeichnet Spengler Entwicklungsphasen der Kulturen nach, die dem Verlauf lebendiger Organismen analogisiert werden. Zudem bezieht sich Spengler im zweiten Band direkt auf Buber, vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 2: Welthistorische Perspektiven, München 1922, S. 396-397. 98,13 Leidenschaft Nietzsches] Vermutlich spielt Buber auf Nietzsches Gedanken des »Übermenschen« an, der nach dem postulierten Tod Gottes dessen Stellung einnehmen soll. 99,5-7 »Das Höchste […] Tat zu gestalten.«] Buber zitiert etwas frei aus Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften (1809). Dort heisst es: »Das Höchste, das Vorzüglichste am Menschen ist gestaltlos, und
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man soll sich hüten, es anders als in edler Tat zu gestalten.« Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften, WA I.20, S. 278. 99,16 Kants Postulate der praktischen Vernunft] Immanuel Kant (17241804). Deutscher Philosoph, der mit seinen Werken Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781, 2. Aufl. 1787), Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Kritik der Urteilskraft (1790) die Transzendentalphilosophie begründete und die Grundlagen für das Denken des Deutschen Idealismus bereitstellte. 99,18 Fiktionen […] in einer bestimmten Schule heute üblich] Gemeint ist wohl der Fiktionismus des Philosophen Hans Vaihinger (18521933), der in seinem 1911 veröffentlichten Hauptwerk Die Philosophie des Als-Ob die These vertrat, dass es sich bei den menschlichen Denkbestimmungen lediglich um nützliche Fiktionen handle. 102,22 Avestareligion] Avesta ist der Titel der heiligen Schriften der persisch-zoroastrischen Religion, die der Tradition nach Zoroaster (auch Zarathustra) zugeschrieben werden, der sie im 2. oder 1. Jahrtausend v. Chr. verfasst haben soll. 104,22-23 Steinersche Philosophie] Gemeint ist die Anthroposophie, die Rudolf Steiner (1861-1925) entwarf und propagierte. Buber spielt darauf an, dass die Anthroposophie das Religiöse theosophisch mit einer ausgeprägten Akribie zu fassen und verfügbar zu machen versuchte. 108,27-28 das Religiöse […] als Gefühl aufgefasst worden ist] Anspielung auf die Lehren des preußischen Theologen Friedrich Schleiermacher (1768-1934), der als Gegner Hegels und der religiösen Aufklärung alles Religiöse in die Unmittelbarkeit des Gefühls auflösen wollte. 108,29-30 neuerdings […] als das Kreaturgefühl] Der evangelische Theologe und Religionswissenschaftler Rudolf Otto (1869-1937) hatte in seiner 1917 erschienenen Schrift Das Heilige den Begriff des »Kreaturgefühls« geprägt, der als Begründung des Religiösen im unmittelbaren, kreatürlichen Gefühl in der Tradition Schleiermachers stand. 110,30 Begriff des Erlebnisses] Dem Begriff des »Erlebnisses« oder des »Erlebens«, von dem Buber sich hier distanziert, kam in seinen früheren Schriften, zentral ausgeführt in Daniel (1913), eine zentrale Bedeutung zu. 110,33-34 einen ziemlich bekannten Schriftsteller] Nicht ermittelt. 111,13-14 ich selbst bin dafür eingetreten, dass man sie Erlebnis nennt] So formulierte Buber 1913 in Daniel: »Das Erlebnis ist uns zum Betrachten und Vergleichen nur in der Gestalt gegeben, die unsre Funk-
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tion, die orientierende oder die realisierende, aus ihm entfaltet hat; in seinem ungestalteten Wesen erleben wir es nur, aber wir besitzen es nicht. […] Das Erlebnis ist unfaßbar wie ein Blitz oder ein Wasserfall oder das Zusammenschießen des Kristalls; Wirklichkeit dürfen wir es nicht nennen, da wir damit nicht zu schalten, es nicht hervorzuholen und zu betrachten vermögen.« (Martin Buber, Daniel. Gespräche von der Verwirklichung, Leipzig: Insel Verlag 1913, S. 35 f.; jetzt in: MBW 1, S. 194.) 111,37 Versuch von Max Scheler, das Religiöse aufzufassen] Kurze Zeit vor Bubers Vorlesungen legte Scheler 1921 die religionsphilosophischen Untersuchungen Vom Ewigen im Menschen und Probleme der Religion. Zur religösen Erneuerung vor. 115,23 »Und da […] aus Erfahrungen besteht …«] Nicht nachgewiesen. 117,13 Es-Erfahrungen] Buber greift hier auf einen Begriff zurück, der auch in Ich und Du (1923) Verwendung finden sollte. 125,3 Welt der Werte] In seiner 1913 publizierten Schrift Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik legt Scheler im Gegensatz zum Wertrelativismus, der Werte als lediglich subjektive Relationen versteht, ein An und Fürsichsein der Werte frei, die eine eigene Sphäre, eine eigene Welt darstellen. 134,12 in einzelnen Religionen das Nichttun genannt hat] Im Daoismus bezeichnet das Konzept des Wu-Wei das Nichttun, demgemäß durch die Unterlassung allen Handelns die grundlegende Harmonie der Natur ungestört erhalten bleiben soll. Nicht zu handeln wird als heilsam und wohltätig begriffen. 135,27 eine indische Legende] Nicht ermittelt. 135,38 Indra] Sanskrit für »mächtig«, »stark«. Gemäß den Veden die erste Gottheit, die aus Himmel und Erde hervorging und die alte Ordnung umstürzte; heute im Hinduismus ohne besondere Bedeutung. 137,5 der umkehrende Mensch […] Umkehr] Dem Begriff der Umkehr, abgeleitet vom hebr. teschuwa, kommt in Bubers Denken eine zentrale Bedeutung zu. So schreibt Buber in seinem 1945 zunächst auf Hebräisch, 1948 auf Deutsch erschienenen Aufsatz »Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre«: »Die Umkehr steht bekanntlich im Mittelpunkt der jüdischen Auffassung vom Weg des Menschen. Sie vermag den Menschen von innen zu erneuern und seinen Ort in der Welt Gottes zu wandeln, so dass der Umkehrende über den vollkommenen Zaddik, der den Abgrund der Sünde nicht kennt, erhöht wird.« (Martin Buber, Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre, Den Haag: Pulvis Viarum 1948, S. 32; jetzt in: MBW 17, S. 245 f.)
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137,14 was man Exstase nennt] In seinen Ekstatischen Konfessionen (Jena 1909, jetzt in: MBW 2.2) hatte Buber eine Vielzahl von Dokumenten aus verschiedenen Religionen zusammengetragen und in seiner Einleitung die Deutung dieses religiösen Phänomens unternommen. 141,26-27 im Sinne Buddhas] Im Buddhismus gilt es als wesentliches Ziel, den Schein des eigenen Bewusstseins, der mit ihren Begierden und Leidenschaften Leid verursachenden Individuation, ins Nirwana, in das Nichts aufzulösen. 144,34-146,4 Es war kurz nach Ostern […] ganz und gar nicht.] Buber gibt die gleiche Episode auch in seiner späten, autobiographischen Schrift Begegnung (1960) wieder. Während aber in der Erinnerung, wie er sie in der Vorlesung wiedergibt, zwischen der Frage von 1914, ob er, Buber, denn an Gott glaube, und seiner Antwort darauf, die ihm »vor einigen Monaten« erst »im Zug« eingefallen sei, mehrere Jahre liegen, schildert er in Begegnung diese Begebenheit anders. Hier bleibt Buber nämlich, nachdem er den Gast zur Bahn gebracht hat, an einer Straßenecke stehen und wird, wie die literarische Inszenierung fingiert, von einer Art prophetischer Eingebung überkommen (vgl. Martin Buber, Begegnung. Autobiographische Fragmente, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag, S. 35; jetzt in: MBW 7, S. 295). 144,35-36 ein alter englischer Geistlicher] Der anglikanische Reverend William Henry Hechler (1845-1931) war ein überzeugter Zionist, der mit dem jungen Buber befreundet war. 144,40 die Tagebücher Theodor Herzls] 1922 erschien im Jüdischen Verlag eine dreibändige Ausgabe, hrsg. von Leon Kellner (1859-1928). Hechler, als Geistlicher in der britischen Botschaft in Wien tätig, war auch eng mit Theodor Herzl (1860-1904) befreundet und unterstützte dessen zionistisches Programm. 145,8 Weissagungen Daniels] Das biblische Buch Daniel enthält die wichtigsten apokalyptischen Passagen der Hebräischen Bibel (besonders Kap. 2, 7 und 8). 146,6-7 euripidäischen Fragment »Die Troerinnen«] Tragödie des griech. Dramatikers Euripides (480 oder 485/484-406 v. Chr.). 146,8-11 Wer immer du seist […] meine Stimme] In »Die Troerinnen« ruft Hekabe Zeus im Gebet an (Vers 884-887): »Der du die Erde trägst, der du auf Erden thronst, / wer du auch seist, den zu bestimmen uns so schwer, / Zeus, ob Naturgewalt, ob Menschengeist, dich bete / ich an.« Euripides, Die Troerinnen, in: ders., Tragödien, Bd. 5, griechisch und deutsch von Dietrich Ebener, Berlin 1979, S. 15-93, hier S. 63
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148,8-10 Antigone […] Kreon] Antigone ist die Hauptfigur der gleichnamigen Tragödie des griech. Dramatikers Sophokles (497/496-406/ 405 v. Chr.). Entgegen der Weisung des Tyrannen Kreon bestattet Antigone ihren im Krieg gefallenen Bruder und wird dafür selbst von Kreon mit dem Tod bestraft. 148,28 Atemholen und Entlassen] Buber zitiert indirekt das Gedicht »Talismane« aus Johann Wolfgang Goethes (1749-1832) West-östlichem Divan (1819), auf das er wiederholt in seinen Schriften anspielt: »Im Athemholen sind zweyerley Gnaden: / Die Luft einziehn, sich ihrer entladen; / Jenes bedrängt, dieses erfrischt; / So wunderbar ist das Leben gemischt. / Du danke Gott, wenn er dich preßt, / Und dank’ ihm, wenn er dich wieder entläßt.« Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Divan, WA I.6, S. 14. Zu diesem Prinzip der »SystoleDiastole« vgl. auch Wort- und Sacherläuterungen zu 169,37-38. 148,36 Entwerden] Der Begriff wurde von Meister Eckhart (eigentlich Eckhart von Hochheim, um 1260-1328) geprägt und ist bedeutsam für die von ihm ausgehenden Strömungen mystischen Denkens. 152,23-25 Biblisch gesprochen […] Kraft eintauschen.] Vgl. Jes 40,31. 152,29 Man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt.] »Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt.« Friedrich Nietzsche, Ecce homo, in: KGA VI.3, S. 337. 153,26-27 in der Ursprache bedeutet Erkennen unmittelbare Beziehung] Diese Vorstellung einer gleichsam paradiesischen Sprache, in der Anschauung, Begreifen und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen, war vor allem den Autoren der deutschen Romantik geläufig. 155,17 Schechina] (hebr.) bezeichnet die Einwohnung der Gottesherrlichkeit in der gefallenen Welt. 156,13 verfährt] Neologismus Bubers für eine misslingende Erfahrung. In seiner autobiographischen Schrift Begegnung (1960) wird Buber nach gleichem Muster für eine verfehlte Begegnung das Wort »Vergegnung« setzen. Vgl. Martin Buber, Begegnung, S. 6; jetzt in: MBW 7, S. 275. 158,9-10 Aeje Ascher Aeje] hebr.: »Ich werde sein als der ich sein werde.« Ex 3,14. 159,3 Theophanie] griech.: »Erscheinung eines Gottes«.
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Die Religion als Wirklichkeit Das unvollständige Typoskript, das in diesem Band unter dem Titel »Die Religion als Wirklichkeit« erscheint, ist ein Dokument, das im unmittelbaren Zusammenhang der Vortragsreihe zu verorten ist, die Buber am 8., 9. und 10. Januar 1924 an der Volkshochschule in Jena hielt. Buber war einer Einladung Wilhelm Flitners (1889-1990), des Leiters der dortigen Volkshochschule, gefolgt, in der dieser anfragt, ob Buber »einige Sondervorträge« halten könne, »in denen die religiöse Frage besprochen wird«. (zit. nach: Martha Friedenthal-Haase u. Ralf Koerrenz (Hrsg.), Martin Buber: Bildung, Menschenbild und Hebräischer Humanismus, Paderborn u. a. 2005, S. 197.) Bubers Text »Die Religion als Wirklichkeit« ist von besonderer Bedeutung, weil er entscheidende Einblicke in zwei für ihn exemplarische Gesprächssituationen gewährt, die er unter dem Titel »Bericht von zwei Gesprächen« viele Jahre später als »Vorspruch« seines Buches Gottesfinsternis aufnehmen wird. Die beiden Erinnerungsstücke sind schließlich 1960 in Bubers autobiographische Schrift Begegnung eingegangen. »Ich will von zwei Gesprächen erzählen«, schreibt Buber im »Vorspruch«, »[…] Beidemale war es ein Kampf um Gott, um den Begriff, aber in sehr verschiedener Weise«. In seinem aus der Erinnerung rekapitulierten »Bericht« dieser Begegnungen spricht Buber zum einen eine Unterredung mit dem Marburger Philosophen und Pädagogen Paul Natorp (1854-1924) an, die er im Jahr 1923 anlässlich eines Aufenthalts in Marburg mit diesem führte. Vor allem aber hebt sein »Bericht« die persönliche Begegnung mit einem »jungen Arbeiter« hervor, die im Anschluss an den letzten seiner drei Vortragsabende in der Volkshochschule Jena stattfand. Das Jenaer Publikum bestand aus etwa 150-200 Hörern, mehrheitlich »Arbeiter[n] und Angestellte[n]« der in Jena ansässigen Zeiss-Werke und nur zu einem »kleine[re]n Teil« aus »Intellektuelle[r] n«. Aus der ausgedehnten brieflichen Korrespondenz, die Flitner und Buber im Vorfeld der Veranstaltungen geführt hatten, wird ersichtlich, dass Flitner den als brillianten Redner bekannten Gelehrten schon im Vorfeld auf diesen spezifischen Rezeptionshorizont der Jenaer Hörerschaft vorzubereiten suchte. So bittet er Buber, doch »daran zu denken«, seine Vorträge sprachlich und inhaltlich diesem weniger gebildeten Publikum anzupassen und möglichst »unakademisch« zu bleiben. »Diese Leute« schreibt Flitner Ende Dezember 1923 an Buber, »besitzen wenig Hilfsmittel, schwierigen Gedankengängen zu folgen, aber es sind viele darunter, die sich mit den schwersten und letzten Fragen sehr ernst be-
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schäftigen und denen Ihre Vorträge sehr viel bedeuten werden.« (Martin Buber und Wilhelm Flitner, Briefwechsel zwischen 1923 und 1957, zit. nach: Friedenthal-Haase u. Koerrenz [Hrsg.], Martin Buber: Bildung, Menschenbild und Hebräischer Humanismus, S. 199.) Dass Buber sich gerade anlässlich seiner Jenaer Vorträge »als energischer Streiter für seine Auffassung von dialogischer Bildung und deren praktischer Umsetzung« (ebd., S. 14) erweist, dokumentiert nicht zuletzt seine Reaktion auf Flitners ›Ermahnung‹. In seinem Antwortbrief vom Dezember 1923 erinnert er Flitner, der die von ihm fest eingeplante Diskussionen am Ende der Vorträge eher als »störend« empfand, noch einmal mit Nachdruck an bereits bestehende Absprachen hinsichtlich der Rolle der »Besprechungen«. Er schreibt: »Dank für Ihre Mitteilungen über die Hörerschaft. Ich war auf eine ebensolche bereits eingestellt und bin über die Art, wie da zu reden ist, durchaus mit Ihnen einverstanden. / Dagegen kann ich dem nicht zustimmen, was Sie zur Frage der Besprechungen sagen. Sie haben offenbar vergessen, dass wir über diese Frage schon seinerzeit, […], miteinander korrespondiert hatten. Ich schrieb Ihnen damals, ich könne der Aufforderung nur Folge leisten, wenn es sich nicht um ›Vorträge‹, sondern um Aussprachen handelte, die ich nur jedesmal so einzuleiten habe, dass sie Material und Antrieb bekommen; für mich stehe die Aussprache, die so unbefangen und rückhaltlos als möglich werden zu lassen die wichtige Aufgabe des Vortragenden ist – im Mittelpunkt jeder Veranstaltung dieser Art, und erfahrungsgemäß könne ich zumeist erst in ihr, von Wissbegierde, Klärungswunsch, Zweifel, Widerstand wirklicher Menschen aufgerufen, mein Bestes, Lebendigstes geben.« (Ebd., S. 200.) Die hier geäußerten Bedingungen seiner Vortragsreihe entsprachen den Hinweisen, die er schon 1922 dem Publikum der Frankfurter Vorlesungsreihe »Religion als Gegenwart« gegeben hatte: der unmittelbare persönliche Austausch mit dem Publikum stand auch hier im Vordergrund seiner dialogischen Vortragspraxis. Dass der hier abgedruckte Text in der Tat im Zusammenhang mit den Jenaer Vorträgen entstand, bestätigt ein Artikel im Jenaer Volksblatt vom 12. Januar 1924. Der Verfasser, Richard Gustav Kade (1879-1950), bis 1928 Diakon in Jena, gehörte zu den Hörern Bubers. (Der Artikel Richard Kades ist im Anhang des oben zitierten Sammelbands auf S. 213215 abgedruckt.) Kade sieht in Buber den Vertreter einer »neuen Frömmigkeit«, dessen »Zugang zu der religiösen Wirklichkeit« »wieder ganz ernst mache mit dem Gedanken des überweltlichen, des schlechthin jenseitigen Gottes, der dem Menschen, der ihn sucht, zunächst gegenübertritt als ›das ganz Andere‹, als die unbedingte Grenze alles menschlichen Seins, der gegenüber der Mensch in seiner Menschlichkeit nur zu
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nichts werden kann. […] Jeden empfänglichen Hörer der Vorträge hat aber wohl das, was Buber darüber ausgeführt hat, sehr stark gepackt und er hat es ganz tief empfunden, wie hier Töne ursprünglicher Frömmigkeit anklingen, die lange in dem allgemeinen Kulturoptimismus viel zu sehr verklungen waren, für die unsere Zeit mit ihrem Erleben auch wieder ganz neu einen Resonanzboden schafft. Für Buber ist das aber immer doch nur eine Seite der Frömmigkeit, wirklich nur der Weisheit Anfang.« (Ebd., S. 214 f.) Da Buber frei und ohne Vorlesungsmanuskript sprach und auch keine wortwörtliche stenografische Mitschrift seiner Jenaer Vorträge in Auftrag gab, drängt sich die Frage auf, welches Stadium der Verschriftlichung seiner Gedankengänge der unvollständig erhaltene Text bildet. Eine mögliche Antwort liefert der Briefwechsel zwischen Buber und Flitner im Anschluss an die Jenaer Vortragsreihe. In einem Brief vom 3. Februar 1924 antwortet Flitner auf Bubers Nachfrage, ob inzwischen Nachschriften seiner Vorträge angefertigt worden seien, dass »In der Tat […] verschiedene Nachschriften gemacht worden [sind], es ist aber nicht wörtlich nachstenographiert worden. Den wahrscheinlich besten Bericht, der den dritten Abend etwas eingehender bringt, schicke ich Ihnen hiermit zu; er ist von einer Arbeiterfrau nachgeschrieben worden.« (Ebd., S. 202.) Im selben Brief bat Flitner Buber um einen Beitrag zu einem geplanten Jahrbuch, in dem die Volkshochschule Jena »einen Bericht über die vergangenen 5 Jahre bringt« und erkundigte sich, »ob es möglich wäre, dass Sie den Inhalt Ihrer drei Vorträge so knapp wie möglich zu Papier bringen und uns den Abdruck im Jahrbuch erlauben würden.« (Ebd., S. 202.) Buber schickte am 8. Februar 1924 den besagten Bericht der Arbeiterfrau über den dritten Abend mit dem freundlichen Hinweis zurück, er sei »an vielen Stellen unrichtig und belehrt mich, wie vieles von Hörern guten Willens (den merkt man diesem Bericht an) missverstanden wird; ich muss noch weit einfacher sprechen lernen. Der dritte Teil ist verhältnismäßig am besten geraten; die Frau hat sich offenbar allmählich ›hineingehört‹«. (Ebd., S. 203.) In demselben Brief teilt Buber Flitner mit, dass er dessen Bitte um den Beitrag zu dem geplanten Jahrbuch »so leid’s mir tut, wohl kaum erfüllen« könne, da er sich außer Stande sehe, »ein Referat zu liefern«. Er schreibt: »Stichwortartige Notizen vor dem Vortrag, zuweilen – bei besonders günstiger Seelenlage – auch eine vollständige schriftstellerische Ausarbeitung nach ihm, das ist, meiner Erfahrung nach, was ich etwa vermag; […].« (Ebd.) Auch ist es fraglich, ob der »Bericht« jener im Publikum anwesenden Arbeiterin als Textgrundlage gedient hat, dessen Wiedergabe Buber ja gerade als »unrichtig« bemängelt hatte, denn der vorliegende Text ist sprachlich aus-
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gefeilt, lässt also auf eine stilistische Durcharbeitung schließen. Es ist also davon auszugehen, dass zu diesem Zeitpunkt noch kein ausgearbeitetes Vortragsmanuskript existierte. Vielmehr liegt der Schluss nahe, dass die vorliegende Textversion tatsächlich eine nachträgliche »schriftstellerische« Bearbeitung seiner Jenaer Ausführungen aus späterer Zeit darstellt. So würde sich auch erklären, weshalb das Typoskript selbst den späteren Datumsvermerk »Martin Buber am 10. Februar 1925« trägt. Große Teile des vorliegenden Textes entsprechen Formulierungen und Gedankengängen, die auf Abschnitte aus Ich und Du (1923), insbesondere aber auf seine Frankfurter Vorlesung Religion als Gegenwart rekurrieren. Die ersten beiden Paragraphen über »Fiktionismus« und »Aspektivismus« im Hinblick auf die Religion nehmen Bubers Kritik an diesen Phänomenen, wie sie in den ersten vier Vorträgen von Religion als Gegenwart formuliert ist, wieder auf. Die Frage der Ganzheit, der Totalität der religiösen Wirklichkeit, die Buber im zweiten Paragraphen des Textes behandelt, geht auf den sechsten Vortrag von Religion als Gegenwart zurück, und die Erörterung des Verhältnisses zwischen Religion und Kult entspricht den Darlegungen im siebten Vortrag. Sowohl in dem Vortrag »Philosophie und Religion« als auch ins Buch Gottesfinsternis fügt Buber die Stellen zu Epikur und Buddha wieder ein. Das Thema des Geheimnisses, dem sich Buber im siebten und achten Absatz des Texts »Religion als Wirklichkeit« widmet, speist sich aus der Darlegung des Geheimnisses, die den ganzen achten, abschließenden Vortrag in Religion als Gegenwart durchzieht. Die Betrachtungen zum Chaos und zur Richtung als »Durchstoßung des Chaos« im achten Absatz des Textes haben ihre Grundlage in Bubers Schriften zum Chassidismus und werden am nachdrücklichsten später in seinem Roman Gog und Magog sowie im maßgebenden dritten Teil des Buchs Bilder von Gut und Böse entwickelt. Die Stellen in den Paragraphen neun, zehn und elf des Texts über »die Furcht Gottes« werden von Buber im Abschnitt elf seines Vortrags »Religion und Philosophie« aus dem Jahr 1929 weiterentwickelt und im Abschnitt sechs des Kapitels »Religion und Philosophie« in Gottesfinsternis ebenfalls aufgenommen und weitergeführt. Textzeuge: ts: unvollständiges Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var 350 bet 40c); 13 lose Seiten, paginiert, ohne Korrekturen. Enthält auf der ersten Seite einen Datumsvermerk: »Martin Buber am 10. Februar 1925.« Druckvorlage: ts
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Variantenapparat: 162,26 zweckmässiger ist,] berichtigt aus zweckmässiger ist 163,26-27 ein Ungemachtes.«] berichtigt aus ein Ungemachtes. 166,29 mit ihm] berichtigt aus mir ihm Wort- und Sacherläuterungen: 161,9 Fiktionismus] vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 99,18. 161,9 Aspektivismus] bezeichnet die Auffassung, dass Wahrheit aus unterschiedlichen, nicht aufeinander zurückzuführenden und damit sich gegenseitig ergänzenden Aspekten zusammengesetzt sei. 162,41 Epikur] griech. Philosoph (um 341-ca. 279 v. Chr.); Begründer des Epikureismus, einer hedonistisch geprägten Denkschule, die einen allerdings maßvollen Genuss des Lebens ins Zentrum ihrer Ethik stellte. Die Lehren Epikurs verknüpften sich mit dem Atomismus Demokrits (ca. 460-ca. 371 v. Chr.) und der Annahme einer sterblichen Seele zu einem philosophischen Materialismus, dem zwar die Existenz der griechischen Götter als selbstverständlich, eine göttliche Lenkung der Welt aber für ausgeschlossen galt. 162,41 Buddha] sanskr.: »der Erwachte«. Der Königssohn Siddartha Gautama, der historische Buddha, stiftete die Religion des Buddhismus in Indien im 6./5. Jahrhundert v. Chr. Der von Buber zitierte Spruch findet sich in der Mittleren Sammlung der Lehrreden Buddhas des Pali-Kanons (Udana, VIII, 3). 163,8-11 Es wird berichtet […] nicht achten.«] Der griech. Schriftsteller Plutarch (ca. 45-ca. 125) berichtet in seinen Moralia über dieses Verhalten, das sich jedoch nicht auf den Philosophen Epikur bezieht, sondern die Haltung der Epikuräer im Allgemeinen illustrieren soll: »For out of public opinion he goes through a mummery of prayers and obeisances that he has no use for and pronounces words that run counter to his philosophy; when he sacrifices, the priest at his side who immolates the victim is to him a butcher, and when it is over he goes away with Menander’s words on his lips: / I sacrificed to gods who heed me not.« Plutarch’s Moralia in Fifteen Volumes, Bd. XIV: 1086C-1147A, with an English translation by Benedict Einarson and Philip H. de Lacy, London u. Cambridge, MA 1967, S. 117. 163,9-10 Komödiendichters Menander] (ca. 341/342-ca. 291/290 v. Chr.); griech. Komödiendichter, mit Epikur bekannt. 163,16-17 atheistischen Buddha] Der Buddhismus lässt sich zwar mit einer Vielzahl von Göttern kombinieren, kennt aber keine monotheistische Gottesvorstellung und kann insofern als atheistisch bezeichnet werden.
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165,35-36 »die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit«] Ps 111,10; Spr 1,7, 9,10; Hi 28,28. 166,38-167,2 Dostojewskis »Karamassow« […] Fügung der Welt] Fjodor Dostojewskij veröffentlichte seinen letzten Roman Die Brüder Karamasow im Jahr 1890. Buber bezieht sich hier auf die Romanfigur Iwan Karamasow, Skeptiker und Philosoph, der im Gespräch mit seinem gläubigen Bruder Aljoscha behauptet, er nehme zwar Gott an, lehne jedoch dessen Schöpfung angesichts des Leids, das darin vorherrsche, ab. 167,12-13 Der Stifter des Chassidismus, der Baalschem] Israel ben Elieser, genannt Baal Schem Tov, d. i. »Meister des guten Namens« (1700-1760) ist die Gründerfigur der chassidischen Bewegung in Osteuropa. 1927 veröffentlichte Buber eine Sammlung von Lehrworten des Baalschem, die er mit einem Kommentar versah, unter dem Titel Des Baal-Schem-Tow Unterweisung im Umgang mit Gott im Verlag Jakob Hegner (jetzt in: MBW 17, S. 99-128). 167,14-15 Zuweilen muss der Mensch […] auf einem Fleck] Vgl. Buber, Des Baal-Schem-Tow Unterweisung im Umgang mit Gott, S. 42 (jetzt in: MBW 17, S. 110). 168,1-2 schwebe, wie der Geist über dem Wasser] Gen 1,2. 168,29-30 Liebe deinen Nächsten wie dich selbst] Lev 19,18. 168,33 »Ich bin der Ewige, dein Gott.«] Ex 20,2. Vgl. auch »Ich bin der Ewige«: Lev 19,18. 168,39-40 »und er erkannte sein Weib«] Gen 4,1. 169,3-4 »Du bist mir geheiligt.«] Bei einer jüdischen Hochzeit während der Ringübergabe vom Bräutigam zu sprechende Trauformel. Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 176,28-29. 169,10-11 ein merkwürdiges Wort von Malebranche, das in Kants Werk kommt] vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 176,34-35.
Die religiöse Welterfassung In diesem Vortrag werden, wie auch im vorangegangenen Text »Die Religion als Wirklichkeit«, Grundbestimmungen von Religion als Gegenwart (in diesem Band, S. 87-160) und Ich und Du (1923) erörtert und ihre Folgen entfaltet. Das Thema des Zusammenhangs von Welt und Wirklichkeit ist sowohl in »Die religiöse Welterfassung« als auch in »Die Religion als Wirklichkeit« zentral. Den Vortrag hielt Buber auf Einladung der 1924 vom Schriftsteller, Musikwissenschaftler und Publizisten Heinrich Berl (1896-1953, Pseudonym ab 1919 für Heinrich Lott)
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und vom Maler August Rumm (1888-1950) begründeten »Gesellschaft für geistigen Aufbau«. Zu dieser gehörten Schriftsteller, Philosophen und Wissenschaftler wie Thomas Mann (1875-1955), Max Scheler und Max Planck (1858-1947) sowie Musiker und bildende Künstler. Die Ziele der »Gesellschaft« werden in einem Brief Berls an den Philosophen Leopold Ziegler (1881-1958) vom 10. November 1924 wie folgt beschrieben: »Wir haben hier eine Gesellschaft gebildet, die sich zur Aufgabe macht, ein neues Weltbild in Karlsruhe zu vermitteln, das über das Provinzielle ähnlicher Veranstaltungen und Gesellschaften hinausgeht. In diesem Sinne sprach Paul Bekker und wird bereits am 29. November Martin Buber sprechen«. (Leopold Ziegler, Briefe und Dokumente, bearbeitet von Theodor Binder u. a., Würzburg 2005, S. 222.) Berl, der in diesem Brief zu einem Vortrag im Rahmen dieses Vorhabens einlud, charakterisierte es im Folgenden genauer: »Ich gestatte mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß es unserer Gesellschaft nicht darum zu tun ist, reine Bildungsinhalte zu vermitteln, und daß die Reihe der Redner nicht zufällig und willkürlich ist, daß es sich vielmehr um die Vermittelung eines Welt-Bildes handelt, indem wir Ihre Persönlichkeit als notwendig empfinden.« (Ebd., S. 223) Aus dem diesem Brief beigelegten Programm geht hervor, dass die »Redner, die für den Winter 1924/25 vorgesehen sind und zum Teil schon zugesagt haben« hervorragende Vertreter der geistigen Kultur jener Jahre bildeten. Unter dem Titel »Das neue Weltbild« wird die Reihe der Themen bzw. der Vortragenden angeführt. So wurden neben dem Vortrag von Martin Buber Beiträge von Max Scheler, Thomas Mann und René Schickele (1883-1940) angekündigt. Der Vortrag Paul Bekkers (1882-1937) fand am 5. November statt. Bubers Vortrag folgte am 29. November. Wie aus dem Programm hervorgeht, wurden in der Tat Vortragende eingeladen, die maßgeblich zur zeitgenössischen Erweiterung der Grenzen der Bereiche, in denen sie tätig waren, beitrugen und vielseitige kulturelle Beziehungen eingingen. Einige, wie z. B. Hermann Graf Keyserling (1880-1946) und Theodor Lessing (1872-1933), bezogen asiatische Kultur in ihr Denken ein. Manche publizierten außerhalb der engen Fachdisziplinen oder waren in der Volkserziehung tätig. Vom Charakter der von Berl anvisierten Veranstaltung mit Buber zeugen die folgenden Briefe. Am 7. November schrieb Berl aus Karlsruhe: »Sehr geehrter Herr Buber / Im Auftrag der Gesellschaft für geistigen Aufbau, die sich letzten Monat – zunächst mit lokalen Aufgaben – gebildet hat, gestatte ich mir, Sie um einen Vortrag über Religionsphilosophie (Messianismus oder dgl.) zu bitten. Wunsch der Gesellschaft wäre, daß der Vortrag noch diesen Monat stattfände, doch stünde
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Ihnen durchaus frei, einen anderen Termin zu wählen. Wie Sie aus dem beiliegenden Programm ersehen, sind Sie – der Geschlossenheit des Bildes wegen – an zweiter Stelle bedacht, weshalb Sie uns außerordentlich entgegenkommen würden, wenn Sie unseren Wunsch berücksichtigen könnten. / Ich weiß aus unserer letzten Aussprache, daß Sie einen Zufallsvortrag ablehnen würden. Wenn ich bei der Gestaltung des Programms trotzdem, anstelle anderer Erwägungen (Otto, Scholz, Ehrenberg), Ihren Namen vorschlug, so tat ich es einmal deshalb, weil das Programm nicht zufällig ist, sondern innerlich organisch und ich dabei Ihre Persönlichkeit schmerzlich vermißt hätte, zum anderen aber darum, weil ich der Überzeugung sein durfte, daß Sie mir persönlich diesen Wunsch nicht abschlagen würden, wenn ich Ihnen versichere, daß durch meine Arbeiten über Ihr Werk und durch meine fast unausgesetzte Aussprache darüber mit vielen Menschen Ihnen hier eine Gemeinde entstanden ist, vor der zu sprechen für Sie nicht fruchtlos sein dürfte.« (Brief im MBA Arc. Ms. Var 350 Korrespondenz, 93.) Der Kontakt zwischen Berl und Buber hatte seit gut zwei Jahren bestanden. Berl hatte in einem Brief an Buber vom 3. April 1922, in dem er auf dessen Einladung, einen Aufsatz – vermutlich für die Zeitschrift Der Jude – zu schreiben, positiv reagiert, um dann auf sein von Buber offenbar für den »Jüdischen Verlag« abgelehntes Buchmanuskript Das Judentum in der Musik einzugehen. In diesem wie in weiteren Briefen hatte er ausgeführt, wie zentral die Erkenntnisse, die er durch das Studium der Werke Bubers gewonnen hatte, für ihn persönlich sowie für sein Verständnis des Verhältnisses des Judentums zur Musik gewesen seien. Das von Buber im November 1924 behandelte Thema blieb offenbar für den Kreis der »Gesellschaft« von erheblicher Bedeutung, denn er erhielt von ihr fast vier Jahre später eine Einladung, um über »das Problem der religiösen Wirklichkeit« eine Tagung zu organisieren. Er schreibt in einem Brief an Albert Schweitzer (1875-1965) vom 1. Juli 1928: »Die ›Gesellschaft für geistigen Aufbau‹ in Karlsruhe wandte sich vor kurzem an mich mit der Anfrage, ob ich im Herbst dieses Jahres dort eine öffentliche Tagung des ›Kreatur‹-Kreises und der ihm Nahestehenden veranstalten und leiten wolle; als Thema wurde mir das Problem der religiösen Wirklichkeit vorgeschlagen. Das letztere lehnte ich ab; dagegen erklärte ich mich nach Rücksprache mit einigen Freunden grundsätzlich bereit, eine Tagung über das Thema ›Wirklichkeit und Verantwortung‹ – das an den verschiedenen Gebieten des gegenwärtigen Lebens als Frage und Aufgabe aufzuzeigen wäre – einzuberufen […]. Der erste an den ich in diesem Zusammenhang dachte, waren Sie; Sie haben für mich ja seit langem in eben der Richtung, die ich meine, etwas Exemplarisches […].«
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(B II, S. 319 f.). Schweitzer musste allerdings aus Gründen der Arbeitsüberlastung Bubers Einladung ablehnen. Im Karlsruher Vortrag von 1924 greift Buber die in Religion als Gegenwart hervorgehobene Stellung der Wirklichkeit wieder auf, die er dort in ihrer für sein Denken systematischen Bedeutung zu Beginn des ersten Vortrags herausgestellt hatte. In Ich und Du wird das Thema der Wirklichkeit ebenfalls ausdrücklich aufgenommen. Textzeuge: TS: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 40e): 12 lose Blätter, paginiert und einseitig beschrieben; mit geringfügigen Korrekturen versehen. Druckvorlage: TS Variantenapparat: 176,33-34 , so eine schlechtere Art […] von Meinen] h, so eine schlechtere Art […] von Meineni TS Wort- und Sacherläuterungen: 170,11 Lucus a non lucendo] lat.: »Das Wort Hain kommt von nichtLeuchten.« Dieser Ausspruch verweist in satirischer Zuspitzung auf die Fragwürdigkeit etymologischer Herleitungen: Das Wort für »Hain« (Lucus) hat nichts mit »Leuchten« (lucendo) zu tun. 172,28 richtige Topographie] vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 104,2223. 173,17 Rede von Bergson] Der frz. Philosoph Henri Bergson (18591941) stellt in seiner 1907 erschienen Schrift L’évolution créatrice darauf ab, dass, während ein theoretischer Weltbezug in der wissenschaftlichen Erkenntnis gewissen Grenzen unterliege, ein praktischer Lebensvollzug ein Absolutes berühre. In der deutschen Übersetzung mit dem Titel Schöpferische Evolution, die, 1921 im Diederichs Verlag erschienen, Buber sicherlich bekannt gewesen sein dürfte, heißt es diesbezüglich: »Eine Intelligenz jedoch, die auf die zu vollziehende Handlung gerichtet ist und auf die Reaktion, die diese auslösen wird, die ihren Gegenstand abtastet, um jeden Augenblick seinen beweglichen Eindruck zu empfangen, ist eine Intelligenz, die etwas vom Absoluten berührt.« Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, übers. von Gertrud Kantorowicz, Jena 1921, S. 5. 173,18 kein Ignoramibus!] Anspielung auf das Diktum »Ignoramus et Ignorabimus!« (lat.: »Wir wissen nicht und wir werden niemals wis-
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sen!«), das der gegen Ende des 19. Jh. einflussreiche dt. Physiologe und materialistische Wissenschaftstheoretiker Emil Heinrich Du Bois-Reymond (1818-1896) popularisierte, indem er unüberwindliche Erkenntnisgrenzen in den Naturwissenschaften behauptete. 176,26 Adam erkannte sein Weib Chawa] Gen 4,1. 176,28-29 jüdischen Ehetrauungsformel […] Du bist mir geheiligt] Vgl. Siddur Schma Kolenu, übers. von Joseph Scheuer, 8. Aufl. Zürich 2009, S. 128 f. 176,31 nachgelassenen Werke von Kant] Nach seinen kritischen Schriften versuchte Kant in den Jahren seit 1790 bis zu seinem Tod, seine Transzendentalphilosophie zur Grundlegung einer Naturphilosophie auszubauen. Die teils umfangreichen Entwürfe sind unabgeschlossen geblieben und nicht zu einem systematischen Abschluss gediehen. Buber bezieht sich mehr noch als auf Kants eigentliche Schriften auf dieses seit 1897 in Ausschnitten erschienene und erst 1938 vollständig im Rahmen der Akademieausgabe edierte Opus postumum. In diesem fragmentarischen Werk, das Kant vor Freunden und Bekannten als sein eigentliches Hauptwerk bezeichnete, sollte schließlich von den früheren Vernunftkritiken ausgehend eine positive Rekonstruktion des menschlichen Wissens erfolgen. 176,32-33 der in früheren Werken […] zwischen Wissen und Meinen] Kant definiert in seiner Kritik der reinen Vernunft: »M e i n e n ist ein mit Bewußtsein s o w o h l subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es G l a u b e n . Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das W i s s e n .« Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke, Bd.2, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1956, S. 689. 176,34-35 Kant schrieb dann einmal: […] Gott zu schauen] Der Ausspruch geht auf den franz. Philosophen Nicolas Malebranche (16381715) zurück (vgl. Nicolas Malebranche, Recherche de la vérité, in: Œuvres de Malebranche, hrsg. von Geneviève Rodis Lewis, Paris 1962, Bd. 1, S. 437). Im Opus postumum II, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 22, Berlin u. Leipzig 1957, findet sich die Losung u. a. auf S. 64. Kant verbindet den Gedanken mit Spinoza. 178,14 ptolomäische Welt] Der Astronom Ptolomäos (ca. 100-ca. 160) schuf eine Theorie der Bewegung der Himmelskörper, die bis zu Nikolaus Kopernikus (1473-1543) die Sicht auf die Struktur des Universums beherrschte. Dieser Theorie zufolge befindet sich die Erde im Zentrum der begrenzten Himmelssphäre und wird von Sonne, Mond und den anderen Planeten umkreist.
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178,15 Keplersche Welt] der dt. Naturphilosoph, Astronom und Mathematiker Johannes Kepler (1571-1630) präzisierte die heliozentrische Kosmologie des Nikolaus Kopernikus, indem er die vormals konzentrischen Planetenbahnen durch Ellipsen ersetzte und die Dynamik des Sonnensystem mit den drei Keplerschen Gesetzen beschrieb. 178,16 zahllosen Weltkörper im unendlichen Raum kreisend] Die keplersche Kosmologie ist eigentlich nicht als unendliche gedacht. Im Gegenteil formulierte Kepler ein Gegenargument zur Annahme eines unendlichen Kosmos mit zahllosen Sternensystemen: dass der Nachthimmel dann nicht dunkel sein könne. 178,18 Einsteinsche Welt] Albert Einstein (1879-1955) entwarf in seiner Relativitätstheorie eine gegenüber der klassischen Mechanik grundlegend veränderte Konzeptionen von Raum und Zeit. Buber kannte Einstein und berichtet von ihrer gemeinsamen Erörterung der Gottesfrage. Vgl. Martin Buber, Der Mensch und sein Gebild, Heidelberg: Lambert Schneider 1955, jetzt in diesem Band, S. 449-463, hier S. 454. 178,25-26 Energie der Aetherschwingung] Die Annahme eines einheitlichen Weltäthers, der als Medium für die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen, des Lichtes, diene, wurde allerdings seit der Jahrhundertwende immer mehr bezweifelt und ist schließlich mit Einsteins Relativitätstheorie obsolet geworden. 178,37-38 Systole und Diastole] Anspielung auf Goethes von der Physiognomie und Funktion des Herzens (durch Muskelkontraktion und -entspannung erwirkte Zufuhr bzw. Abfuhr des Blutes) auf die Natur insgesamt angewandte Kennzeichnung für den Rhythmus, »die ewige Formel des Lebens«. Johann Wolfgang Goethe, Zur Farbenlehre, in: WA II.1, S. 15.
Die Bedeutung göttlicher Offenbarung in der allgemeinen Religionsgeschichte Am 1. Mai hielt Buber während seiner ersten Palästinareise im Frühjahr 1927 diesen Vortrag an der Hebräischen Universität Jerusalem, die 1925 gegründet worden war. Buber hatte seit Beginn seiner publizistischen Tätigkeit darauf gedrängt (vgl. seine Mitautorschaft an dem Memorandum Eine jüdische Hochschule, Berlin: Jüdischer Verlag 1902; jetzt in: MBW 3; S. 362-386), in Jerusalem eine Hochschule zu eröffnen. Buber wurde von »Sprachschützern« heftig angegriffen, weil er den Vortrag auf Deutsch hielt. Vgl. Bubers Artikel Berur [»Erklärung«] (in: Ha-aretz vom 5. Mai 1927, jetzt in: MBW 20) sowie den Kommentar hierzu.
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Wie Hans Kohn (1891-1971) mitteilt, hielt Buber den Vortrag unter dem Titel »Die Bedeutung göttlicher Offenbarung in der allgemeinen Religionsgeschichte« bereits in Berlin am 10. Januar 1927 (Vgl. Hans Kohn, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte Mitteleuropas 1880-1930, Hellerau 1930, 2. Anm. zu S. 265). Robert Weltsch (1891-1982) berichtet über den Vortragsabend in der Jüdischen Rundschau vom 14. Januar 1927. Dort schreibt er, der Berliner Vortrag »über die Gotteserscheinung im Pentateuch« habe im »Rahmen der einem weiteren Kreise zugänglichen Montags-Vorlesungen der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums« stattgefunden und vermerkt, Buber sei imstande gewesen, »die Zuhörerschaft mehr als zwei Stunden zu fesseln«. Der Vortrag sei »ein in seiner geschlossenen Logik mächtig ergreifendes, großartiges Beispiel moderner, auf genauer Durchdringung des Textwortes und allgemeiner religionsgeschichtlicher Erkenntnis beruhender jüdischer Exegese.« (Robert Weltsch, Das Problem der Theophanie, in: Jüdische Rundschau, 32. Jg., Nr. 4, vom 14. Januar 1927, S. 24 f.) Die Zuhörerschaft war so zahlreich, dass die »beiden kleinen Säle« überfüllt waren (ebd.). Der Eintrittspreis zu dieser Veranstaltung belief sich auf die nicht unerhebliche Summe von 2 Mark (vgl. die Vorankündigung in Jüdische Rundschau, 32. Jg., Nr. 1, vom 4. Januar 1927, S. 3). Textzeuge: D: »Erekh ha-Hitgalut ha-elohit ba-historja ha-datit«, in: Ha-poel hatzaʿ ir, 20. Jg., Heft 30-31 vom 18. Ijar 1927; S. 11-13 (MBB 354a). Druckvorlage: Übersetzung aus dem Hebräischen von Karin Neuburger. Wort- und Sacherläuterungen: 179,3 29. Nissan] Der Vortrag fand am 1. Mai 1927 stand. 179,14 in der persischen Religion der Lichtgott zu seinem Propheten] Gemeint ist wohl Ahura Mazda, dessen Prophet Zarathustra ist. Ahura Mazda ist in der dualistischen Religion der Gott des Guten und des Lichts und befindet sich im Kampf mit Ahriman, der durch das Böse und die Finsternis charakterisiert wird. 179,15 Krishna in der Mahabharata zu Ardjuna] Im Mahabharata, einem auf Sanskrit verfassten indischen Epos aus dem 4. Jh. v. Chr., dient Krishna dem Göttersohn Ardjuna im Krieg als Freund und Wagenlenker und gibt sich diesem schließlich als Inkarnation des Höchsten zu erkennen.
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179,30 Frazers Buch über die Folklore im Alten Testament] der schott. Ethnologe und Philologe James George Frazer (1854-1941) gilt neben Émile Durkheim (1858-1917) als Mitbegründer der Religionsethnologie. Bei dem von Buber erwähnten Buch handelt es sich um das 1919 erschienene Werk Folk-Lore in the Old Testament: Studies in Comparative Religion, Legend and Law. 180,8-9 diesem von der modernen Bibelkritik aufgeworfene Problem] Seit Julius Wellhausen (1844-1918) betrachtet die Bibelkritik etwa die Gesetzessammlungen des Pentateuchs, die dem biblischen Bericht zufolge am Anfang der israelitischen Geschichte gegeben seien, als sehr viel später erfolgte, oftmals nachexilische Kodifizierungen. 180,18 sogenannte R, Redaktor-Editor] Die philologische Bibelkritik unterscheidet diverse Entstehungsschichten des biblischen Textes, die später von einem »Redaktor« ediert worden seien, wobei es ungewiss ist, ob es sich dabei um einen Redaktor oder ein ganzes Kollektiv gehandelt habe. 180,27-29 Einer meiner Freunde […] unser Rabbi zu setzen] Aus seinem Essay »Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift«, der 1954 als Beilage zur vollständigen Bibelübersetzung Bubers erschienen ist und zum Abschluss des Projektes die Entstehungsgeschichte rekapituliert, geht hervor, dass es sich bei besagtem Freund um Franz Rosenzweig gehandelt hat: »Franz Rosenzweig pflegte in einem tiefsinnigen Scherz das Sigel R nicht zu Redaktor, sondern zu Rabbenu, unser Lehrer, zu ergänzen.« (Martin Buber, Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift – Beilage zu dem Werk »Die fünf Bücher der Weisung«, verdeutscht von Martin Buber, Olten: Jakob Hegner 1954; jetzt in: MBW 14, S. 190.) 180,39-40 Und sie hörten Gott […] kühl geworden war] Gen 3,8. 180,41 Stammesperiode, die Väterzeit] Die Stammväter Israels: Abraham, Isaak und Jakob. Das von ihnen Erzählte sollte nach dem damaligen Stand der Forschungen Verhältnisse aus der Zeit der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. widerspiegeln. 181,3 drei Männer, die Abraham erschienen] Gen 18,1-12. 181,11 Ereignisses am Berg Sinai] Ex 19 und 20. Gemeint ist die Offenbarung des Wortes Gottes gegenüber Moses und dem Volk Israel in Gestalt der überreichten Tora. 181,17-18 An einer Stelle […] Volk offenbart] Ex 19; 20,18. 181,18 anderer Stelle wird gesagt […] zu Gott aufstiegen] Ex 24,1. 181,20 der Staatsgründung und der Geschichte des Staates] Errichtung des Königreichs Israel unter Saul, der von David abgelöst wird, ca. 1. Hälfte des 10. Jh. v. Chr. 181,40 Staatsuntergangs] Nach dem biblischen Bericht wurde das Reich
Die Bedeutung göttlicher Offenbarung in der allgemeinen Religionsgeschichte
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Davids nach dem Tod seines Sohns Salomon geteilt: Das Nordreich Israel wurde 722 v. Chr. von den Assyriern und das Südreich Juda 586 v. Chr. von den Babyloniern ausgelöscht. 182,1-2 Epoche apokalyptischer Literatur] Die wichtigsten Apokalypsen wurden in den zwei Jahrhunderten vor und in dem Jahrhundert nach der Zeitenwende geschrieben. 182,20-21 Forschungen Andrew Langs und Peter Schmidts zur Entwicklung der Gottesidee] Der schott. Schriftsteller Andrew Lang (18441912) beschäftigte sich u. a. mit Volksmythologien und versuchte den zeitgenössischen Aberglauben auf primordiale Glaubensformen zurückzuführen. Ein Autor unter dem Namen Peter Schmidt zum betreffenden Thema ist nicht nachzuweisen. Buber könnte den öster. Priester, Sprachwissenschaftler und Ethnologen Wilhelm Schmidt (1868-1954) gemeint haben, dessen schließlich 12 Bände umfassende und seit 1912 erscheinende Materialsammlung Der Ursprung der Gottesidee. Eine historisch-kritische und positive Studie belegen sollte, dass ursprünglich alle primitiven Völker von einem Urmonotheismus ausgegangen seien, der erst später zum Polytheismus verfiel. Die Herausbildung des eigentlichen Monotheismus wird als gradueller, nicht mehr revolutionärer Prozess verstanden. 182,21 Buch »Dio« des Italieners Petazzoni] Raffaele Pettazoni (18831959). Die Arbeit des ital. Religionshistorikers, auf die Buber anspielt, erschien 1922 unter dem Titel Dio. Formazione e sviluppo del monoteismo nella storia delle religioni in Rom. Anders als Buber suggeriert, teilte Pettazoni die These vom Urmonotheismus nicht, sondern war bestrebt, die Hypothesen Wilhelm Schmidts zu entkräften. 182,27-28 dynamistische Schule […] Marett] Der brit. Ethnologe und Religionswissenschaftler Robert Ranulph Marett (1866-1943) entwickelte am Beispiel der im Ozeanischen Raum verbreiteten Vorstellungen von Mana und Tabu eine funktionalistische (bei Buber: »dynamistische«) Lehre religiöser Phänomene, der zufolge diese eine sozial formierte Bewältigung außeralltäglicher Erscheinungen darstellen. Maretts Arbeiten fanden seinerzeit weite Verbreitung. 182,34 australischen Namen »Mana« […] »Orenda«] Mit Mana ist an dieser Stelle nicht das biblische Manna gemeint, sondern die Vorstellung aus den polynesischen Religionen, der gemäß eine weltliche Macht oder Fähigkeit unmittelbar mit einer entsprechenden spirituellen Energie, eben dem Mana, identifiziert wird. Orenda gehört nicht zu indischen, sondern zu nordamerikanischen »indianischen«
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Religionen und entspricht in seiner Bedeutung weitgehend dem polynesischen Mana. 183,4 ELOHIM] Hebr.: »Gott« oder »Gottheit«, zumeist ist der Gott Israels damit gemeint, und das zugehörige Verb steht sodann im Singular. Die Bezeichnung kann auch für die Götter der anderen Völker verwendet werden, vgl. z. B. Ex 20,3. 184,1-2 der frühen und der mittleren Gottheit der Babylonier] Vermutlich bezieht sich Buber auf die zwei unabhängigen Göttertriaden Babyloniens, die dem babylonischen Pantheon voranstehen: einerseits die »kosmischen« Götter Anu, Ellil und Ea, (Gottheiten des Himmels, der Erde und des Wassers) und andererseits astrale Gottheiten wie Sin, Schamasch und Ischtar (Mondgott, Sonnengott und Göttin des Morgensterns). 184,8 darauf wies schon Robertson Smith hin] William Robertson Smith (1846-1894): schott. Theologe. Die These, auf die Buber anspielt, findet sich in der 1889 veröffentlichten Arbeit Lectures on the Religion of the Semites. Fundamental Institutions. First Series. 184,13-14 der Gott Baal] Semitischer Fruchtbarkeitsgott. In der hebräischen Bibel werden die mit ihm verknüpften Kulte als Götzendienst verworfen. 184,21-22 »Hieros Gamos«] griech.: ἱερὸς γάμος, »heilige Hochzeit«. Im griechischen Kultus meint dies die Hochzeit zwischen Zeus und Hera, die jährlich als Fruchtbarkeitsfest begangen wurde. Mit einem »Menschenpaar«, wie es bei Buber heißt, dem die Götter es nachtun sollen, ist der Brauch im Griechischen allerdings nicht verbunden. 184,37 Geschichte von Jakob in Beit El] Gen 28,10-22 und 35,1. 185,1 »Geh vor mir her«] Gen 17,1. 185,4 Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr] Gen 18,14. 184,5-6 Hier ist ein Sohn] Vgl. Gen 21,2. 185,6-7 Gott erscheint Jakob auf dem Weg seiner Wanderungen] In Beit El (Gen 28,10-22); in Haran (Gen 31,13); Machanajim: Gen 32,3; Pnuel (Kampf mit dem Engel; Gen 32,31). 185,7-8 »Und der Herr stand oben drauf«] Gen 28,13. 185,9 Jakob errichtet […] ein Steinmal] Gen 28,18. 185,20-21 Gott verspricht […] Fruchtbarkeit der Erde] Vermehrung des Volkes und Landnahme: Gen 12,2 u. 7; 13,5; 15,5; 17,8; 35,12. Der Topos der »Fruchtbarkeit der Erde« fehlt in den Vätererzählungen. 185,26 ägyptischen Dualismus] Die ägyptische Religion unterscheidet streng eine Totenwelt von der Welt der Lebenden.
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185,34 semitischen Dualismus] Dieser Terminus ist nicht geläufig. Möglicherweise bezieht sich hier Buber auf seine später ausgearbeitete Theorie, dass die Semiten zwei Götterarten unterschieden: die MalkGötter, die den Stamm bei ihren Wanderungen anführten, und die Baal-Götter, die die Fruchtbarkeit des Landes garantierten, vgl. Buber, Königtum Gottes, Berlin: Schocken Verlag 1932, Viertes Kapitel (jetzt in: MBW 15, S. 134-138). 186,4 Bindung Isaaks] Gen 22. 186,8-9 die Auslösung der eigentlich Gott geweihten erstgeborenen Söhne.] Ex 13,13; Num 18,15. 186,10-11 Jeremias, der sagt: […] zu verbrennen] Vgl. Jer 7,31. 186,18 Erscheinung im Dornbusch] Ex 3. 186,19 »Wer bin ich, daß ich zum Pharao gehe«] Ex 3,11. 186,20 »Ich will mit dir sein«] Ex 3,12. 186,25-26 »ich werde sein, der ich sein werde«] Ex 3,14. 186,27 »Wie ist sein Name?«] Ex 3,13. 186,39 Maimonides hat diese Antwort ausgelegt] Maimonides (11351204), der bedeutendste jüd. Philosoph des Mittelalters, erörtert Ex 3,14 in seinem philosophischen Hauptwerk More Nevukhim, Teil I, Kapitel 63. Vgl. Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, ins Deutsche übertragen und mit Erklärungen versehen von Adolf Weiss, Bd. 1, Leipzig 1923, S. 237: »Und dies [Ex 3,14: Ich bin der ich bin] sollte Mose den unwiderlegbaren Beweis erbringen, daß es ein notwendig Seiendes gibt, welches niemals nichtseiend war und zu sein niemals aufhören wird«. 187,4-5 vom Midrasch und sehr deutlich von Jehuda HaLevi erkannt] Kusari IV,3. 187,33-35 ersten drei der Zehn Gebote] Ex 20,2-7. 187,35 Stiftszelt] Bei Luther »Stiftshütte«. Das transportable Heiligtum, das seit der Sinai-Offenbarung bis zum Bau des Tempels genutzt wurde, und neben seiner Funktion als Opferplatz der Ort ist, wo Gott sich mit Moses unterredet. Die Bauanleitung vgl. Ex 25-31, die Bauausführung vgl. Ex 35-40.
Nach dem Tod. Antwort auf eine Frage Dieser kurze Text, der auf Veranlassung seinerzeit beliebter Rundfragen an populäre Zeitgenossen zu diversen Themen und Fragestellungen entstand, ist ursprünglich 1926 auf Französisch erschienen und wurde 1928 in der Tageszeitung Münchener Neueste Nachrichten auf Deutsch ver-
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öffentlicht. Dass diese Gelegenheitsarbeit für Buber dennoch einige Relevanz besaß, wird daraus ersichtlich, dass er den Text noch fast 40 Jahre später in seine letzte Textsammlung Nachlese aufgenommen hat. Textzeugen: D1: »Nach dem Tod«, Münchener Neueste Nachrichten, 8. Februar 1928, S. 2 (MBB 369). D2: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 259 (MBB 1270). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Französisch: »Réponse à un questionnaire«, L’Homme après la mort. Les cahiers contemporains, 2, Paris, Editions Montaigne, 1926, S. 94. Niederländisch: in: Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966. Variantenapparat: 189,5 Jenseits] berichtigt aus Jenseit nach D2. 189,13 sollten wir uns] wollen wir uns D2.
Die Tränen Bubers Bemerkungen zu Hermann Cohen in »Die Tränen«, in »Philon und Cohen (Ein Fragment)« (vgl. in diesem Band, S. 192-193) sowie in Gottesfinsternis im Kapitel »Die Liebe zu Gott und die Gottesidee« (in diesem Band, S. 388-397) zeugen von seiner fortdauernden Auseinandersetzung mit dem Schöpfer der Religionsphilosophie, der in Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919) die Gleichursprünglichkeit der Vernunft und des religiösen Gehaltes der jüdischen Tradition aufzuweisen suchte. Bei jedem dieser drei in diesen Band aufgenommenen Texte geht es Buber darum, eine Haltung Cohens zu enthüllen, die in einer Spannung zu dessen philosophischen Begriffsbestimmungen steht. In Gottesfinsternis wird Buber diese Spannung anhand von Pascals im »Testament« festgehaltener Unterscheidung zwischen dem »Gott der Philosophen« und dem »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs« erläutern. Buber weist darin der Liebe zu Gott den Primat vor der begrifflichen Erkenntnis zu. Die »Gottesidee«, schreibt er, sei »nichts als das Bild der Bilder, das sublimste unter den Bildern, die sich der Mensch von Gott, dem Bildlosen, macht […].« (In diesem Band, S. 397.)
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Dieser von Buber in Gottesfinsternis in aller Deutlichkeit ausgedrückte Primat der Liebe in der Erfahrung der Beziehung zu Gott wird in »Die Tränen« als das in der philosophischen Stimme Cohens Ungesagte, das sich dennoch hören lasse, herausgestellt. Buber geht so vor, dass er Cohen bei dessen Versuch, in Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums die Schöpfung aus der Definition Gottes herzuleiten, eines Übergriffs der Logik bezichtigt. Diesem »Übergriff« der Logik stellt Buber den »Zugriff« der Kunst entgegen, denn im gewählten Beispiel der Kunst Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle gehe es in der Darstellung Gottes darum, dessen »Geheimnishaftigkeit […] in der bildnerischen Sprache« auszusprechen, und nicht darum, ein Abbild der Wirklichkeit Gottes zu schaffen (in diesem Band, S. 190). Bubers als Erinnerung wiedergegebene Erfahrung der Lektüre von Cohens religionsphilosophischem Hauptwerk nimmt auf seine drei Jahre zuvor gegen Cohen geführte Polemik Bezug: »Damals, vor drei Jahren, ist es zwischen ihm und mir doch noch um anderes gegangen als um Völker, Staaten und Zion.« (In diesem Band, S. 190.) Im Jahre 1917 hatte Buber unter dem Titel »Völker, Staaten und Zion« zwei Artikel veröffentlicht, die im Jahr davor in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Der Jude im August bzw. Oktober erschienen waren: »Begriffe und Wirklichkeit. Brief an Herrn Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Hermann Cohen« und »Der Staat und die Menschheit. Bemerkungen zu Hermann Cohens ›Antwort‹« (jetzt in: MBW 3, S. 293-307 u. S. 307-320). Der erste Text, ein offener Brief, reagierte auf Cohens offenen Brief »Zionismus und Religion. Ein Wort an meine Kommilitonen jüdischen Glaubens«, der im Mai/Juni 1916 in den K-C Blättern, der Monatsschrift jüdischer Studentenverbindungen, erschienen war. Wenn Buber in »Die Tränen« seine drei Jahre vorher bei der Lektüre Cohens aufgekommene Frage ins Gedächtnis ruft: »Wie ist es mit dem Geist, wenn er bekennt?« (in diesem Band, S. 190), dann greift er ein Schlüsselwort seiner Polemik gegen Cohen auf. Gegen die von diesem behauptete Idee des Staates als »Quintessenz der Ethik«, der »die Sittlichkeit auf Erden« realisiere, und gegen dessen Bestimmung »Wir kontrollieren unsere Religion an unserer Ethik« schrieb Buber eine Erwiderung, die um die Idee des Geistes zentriert war. Bei Bubers polemischen Antworten auf Cohen, in denen er Cohens Gleichsetzung des Staats mit der »Nation« zurückweist, beruft er sich auf den »Geist«, den durch Generationen hindurch die Juden in ihrer Beziehung zu Gott und zum Kultus teilten. Das jüdische Volk habe sich in diesem Geist als Nation konstituiert. Buber greift damit Bestimmungen auf, die er in seinen bereits 1911 publizierten Drei Reden über das
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Judentum ausgeführt hatte (jetzt in: MBW 3, S. 219-256), wo er in der ersten Rede, »Das Judentum und die Juden«, »Religion« und »Nation« als »Begriffe« kennzeichnete, die »nichts anderes als vermummte Fragen« und keine Antworten auf die Frage »Welcher Art ist die Gemeinschaft, von der wir Zeugnis ablegen, wenn wir uns Juden nennen?« seien (Martin Buber, Drei Reden über das Judentum, Frankfurt: Rütten & Loening 1911, S. 11; jetzt in: MBW 3, S. 219). Textzeugen: D1: Jüdische Rundschau, Jg. 33, Heft 64/65, Mai 1928, S. 199 (MBB 372). D2: Kampf um Israel – Reden und Schriften, 1921-1932, Berlin: Schocken 1933, S. 178-180 (MBB 459). D3: JuJ, S. 810-811 (MBB 1216). Druckvorlage: D1 Variantenapparat: 190,12 Kraft] Stärke D3 190,27-28 unberührbare] unantastbare D2, D3 191,6 Baure Aulom] zusätzliche Anmerkung Der Schöpfer der Welt. D3 191,11 wäre, – die] wäre – sie D3 Wort- und Sacherläuterungen: 190,2 Cohen schreibt (in seinem großen Nachlaßwerk)] Hermann Cohen legt im dritten Kapitel seines Buchs Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Leipzig 1919, das Verhältnis der Vernunft in der Philosophie zum »Anteil der Vernunft an der Religion« (S. 68) dar, wobei er auf Maimonides zurückgreift. Indem Maimonides die Negation mit der Privation verband und die privativen Attribute Gottes negierte, habe er eine »neue Positivität« entdeckt, die »im Begriff des Ursprungs« bestimmt werde. Dieser Begriff sei in Maimonides’ Bestimmung der Negation der privativen Begriffe für die Schöpfung enthalten: »Gott ist nicht träge« gleiche »Gott ist der U r s p r u n g der Aktivität« oder »Gott ist der Schöpfer«. Wird »Gott an dem Attribute der Nichtträgheit erkennbar«, folgert Cohen, »so wird er als Schöpfer erkennbar«. Dadurch »w i r d d i e S c h ö p f u n g i n s e i n e n B e g r i ff a u f g e n o m m e n «. Dieser ist der Gedankengang, der Cohen zu seinem Buber verstörenden Urteil führt: »das Rätsel der Schöpfung wird somit durch die Definition aufgelöst.« Ebd., S. 75 190,3-6 »Es gilt nun […] überwunden.«] Hermann Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 75.
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190,6-10 »Logisch […] Einzigkeit.«] Vgl. ebd., S. 76. 190,14 in meiner Jugend Nietzsches Zarathustra] Von der Begeisterung des jugendlichen Buber für dieses Werk zeugt die Handschrift »Zarathustra« aus den Jahren 1896/97, jetzt in: MBW 1, S. 103-117 (vgl. dort auch den Kommentar, S. 307-309). Auch in seiner autobiographischen Schrift Begegnung (1960) erinnert sich Buber im Abschnitt »Philosophen« an diese Phase eines jugendlichen Enthusiasmus für Nietzsches Also sprach Zarathustra (jetzt in: MBW 7, S. 283 f.). 190,16 die alte Feuerbachsche Verwechslung] Ludwig Feuerbach (18041872), deutscher Philosoph; gehörte zunächst der junghegelianischen Schule an. In seinem Buch Das Wesen des Christentums (1841) behandelt Feuerbach im zweiten Kapitel »Das Wesen der Religion«: »Der Gegenstand des Subjekts ist nichts andres als das gegenständliche Wesen selbst. Wie der Mensch sich Gegenstand, so ist ihm Gott Gegenstand; wie er denkt, wie er gesinnt ist, so ist sein Gott. Soviel Wert der Mensch hat, so viel Wert und nicht mehr hat sein Gott. Das Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewußtsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen.« Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, in: ders., Werke in sechs Bänden, hrsg. von Erich Thies, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1976, S. 30. 190,21-22 »Es ist die Probe […] als Ursein.«] Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 66. 190,26 Michelangelo] Michelangelo Buonarotti (1475-1564), italienischer Künstler der Hochrenaissance. 190,26-27 sixtinischen Kapelle] Kirchengebäude im Vatikan-Staat, das zwischen 1475 und 1483 errichtet wurde. Im Jahr 1508 wurde Michelangelo vom Papst Julius II. (1443-1513) aufgefordert, die Decke der Kapelle auszumalen. Das Fresko der Erschaffung Adams ist das Zentrum der die gesamte Gewölbedecke füllenden Malerei. 191,2 Franz Rosenzweigs »Jehuda Halevi«] Franz Rosenzweig übersetzte die Gedichte und Gesänge des bedeutenden mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophen und Lyrikers Jehuda Halevi (ca. 10751141). Die mit einem Nachwort Rosenzweigs und zahlreichen Anmerkungen versehene Übersetzung erschien unter dem Titel Jehuda Halevi. Zweiundneunzig Hymnen und Gedichte deutsch, Berlin o. J. [1926]. 191,6 Baure Aulom] Hebr. in aschkenasischer Aussprache: »Schöpfer der Welt«. Die Cohen-Anekdote macht den letzten Absatz von Rosenzweigs Kommentar zum Gedicht »Der Name« in seiner Buber gewidmeten Übersetzung von Jehuda Halevi. Zweiundneunzig Hymnen und Gedichte aus. Der Anekdote geht, anschließend an Überlegun-
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gen zur Nähe und Ferne Gottes, die folgende Erörterung zur Bezeichnung des Baure Aulom voraus: »Der ›Baure Aulom‹, der Weltschöpfer, meint hier nicht, wie man denken sollte, etwas Fernes, das er doch seinem Inhalt nach bezeichnet, sondern ist im Volksmunde ein ganz gefühlsnahes Wort; und bei dem Gott des Herzens vergißt das Herz doch keinen Augenblick, daß er der ›Seiende‹ ist. So springt hier ein Funke nicht bloß zwischen den beiden Polen der Ferne und Nähe hin und her; sondern die Pole selber sind jeder noch einmal geladen mit den beiden polaren Elektrizitäten, nur in verschiedener Anordnung. Der welterhabne Schöpfer schlägt ›Wohnung‹ auf, und der abstrakteste Gott der Philosophie hat ›Sein‹ im zerschlagnen Herzen.« Ebd., S. 191.
Philon und Cohen Der Text Bubers erschien in der Nummer 64/65 der Zeitschrift Jüdische Rundschau, des seit 1902 bestehenden publizistischen Zentralorgans der »Zionistischen Vereinigung für Deutschland«, vom 17. August 1928. Diese Nummer trug den Titel »Religiöser Liberalismus und jüdische Nationalbewegung. Zur Berliner Konferenz des Weltverbandes für das liberale Judentum«. Die redaktionelle Einleitung erklärte: »Wir haben anläßlich der Berliner Liberalen Weltkonferenz eine Reihe von Persönlichkeiten aufgefordert, sich zu den Problemen des jüdischen Liberalismus gerade vom Standpunkt ihrer Beziehungen zu der vom Zionismus vertretenen Idee der Wiedergeburt des jüdischen Volkes zu äußern.« (Jüdische Rundschau, XXXIII, Nr. 64/65 [1928], S. 459.) Auf derselben Seite skizzierte Leo Baeck (1873-1956) die Leitidee der »Liberalen Weltkonferenz« unter dem Titel »Falscher und echter Liberalismus«: »In allem Liberalismus ist wesentlich ein Ideales, Universales, Messianisches. […] Der wahre, ernste hat sein Ideales, indem er in der immer neu werdenden Pflicht, die er erfüllt, den dauernden Wert alles Tuns erfaßt; er hat sein Universales, indem er in seinem lebendigen Sinn für das Eigene die Blickweite gewinnt; er hat sein Messianisches, indem er in der Gegenwart, die er erarbeitet, den Weg zu einem Ziele erkennt. In dem allen erlebt der jüdische Liberalismus darum die Verwirklichung seines Jüdischen.« (Ebd.) Die redaktionelle Einleitung, die sich bedeutend konkreter und detaillierter als Leo Baeck zum Thema äußert, stellt zu Beginn ihrer Ausführungen die Behauptung auf, dass Zionismus und Liberalismus »alte Gegner« seien und daß dies nicht nur in religiöser, sondern auch in
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politischer Hinsicht der Fall sei. In der Folge wird Hermann Cohen angeführt: »In einem viel fortgeschritteneren Stadium der inneren Entwicklung hat später die zweite große Figur des Liberalen Judentums, Hermann Cohen, seine Angriffe gegen den Zionismus gerichtet, und diesmal war es Martin Buber, der in seinen denkwürdigen zwei Briefen (›Völker, Staaten und Zion‹) die Antwort gab.« Weiter gehen diese redaktionellen Bemerkungen auf die Tendenz des »bourgeoisen Assimilantentums« ein, die, obzwar nicht mit dem Liberalismus gleichzusetzen doch von ihm »gedeckt« worden sei. So ergebe sich eine Diskrepanz zwischen den Positionen der »geistigen Führer des Liberalismus« und »eine[r] Gefolgschaft, die den dem Liberalismus innewohnenden Gedanken der persönlichen Autonomie und des Subjektivismus als einen Freibrief zur Auflösung aller Bindungen betrachtet. Die Assimilationstendenz und bürgerlich-politische Motive führen dann zu einer völligen Negation des Judentums.« Die Redaktion betont, dass der Zionismus die »Art zersetzenden Judentums«, die eben charakterisiert wurde, seit Anbeginn bekämpfe. Als Perspektive für die Gegenwart sei eine »R e v i s i o n der geistigen Grundlagen des Liberalismus insbesondere in seinem Verhältnis zur jüdischen Nationalbewegung« notwendig. Fazit dieses Gedankengangs ist: »D e r G e g e n s a t z z w i s c h e n r e l i g i ö s e m L i b e r a lismus und jüdischem Nationalismus ist innerlich n i c h t b e g r ü n d e t .« (Ebd.) Es wird schließlich konstatiert, daß diese Erkenntnis sich durchsetze und dass sie »allmahlich zu einem zentralen Punkt der liberalen Ideologie« werde. In diesem Kontext wird Bubers Text »Philon und Cohen (Ein Fragment)« veröffentlicht. Zusammen mit dem Beitrag Bubers erschienen Artikel unter anderen von Hugo Bergmann, Franz Rosenzweig und Ernst Simon. Dieser letztere schrieb in der Kolumne neben dem Text Bubers unter dem Titel »Hermann Cohen und Achad Haam. Ein Aperçu zur Geistesgeschichte des jüdischen Liberalismus«: »[Die] Frontstellung der Verfechter einer n e u e n Emanzipationsidee, der zionistischen, gegen die der vorangegangenen liberalen Generation hat nun bewirkt, daß a u f b e i d e n S e i t e n die Einsicht in die wahre Problemlage erschwert wurde. Zu ihr gehört die Erkenntnis, daß H e r m a n n C o h e n und A c h a d H a a m , die Exponenten der scheinbar durch eine Welt getrennten Lager des westlichen Liberalismus und der östlichen Zionsliebe, in Wahrheit die gleiche geschichtliche Aufgabe wahrgenommen haben: die Überwindung der jüdischen Aufklärung.« (Ebd., S. 463.) Bubers Vergleich zwischen den beiden jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien (ca. 15/10 v. Chr.–40/50 n. Chr.) und Hermann Cohen, die sich jeweils mit einem mächtigen Gedankengebäude – der plato-
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nischen und der kantischen Philosophie – auseinandersetzten und es mit dem Judentum zu verbinden suchten, hat bereits eine Grundlage in den Schriften Cohens. Franz Rosenzweig hebt in seiner Einleitung zu Cohens Jüdische Schriften hervor, wie dieser, als er seinen Gedanken der Korrelation von Gott und Mensch entwickelte, der eine zentrale Rolle in Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums spielen sollte, Philos Bestimmung des Logos als Vermittlung für einen Irrweg erklärte. (Franz Rosenzweig, Einleitung, in: Hermann Cohen, Jüdische Schriften, Bd. I, Berlin 1924, S. LIII.) Dadurch daß Philo dem »weltgeschichtlichen griechischen Zauber« der Vermittlung von Mensch und Gott durch den Logos verfallen war, verfälsche er die jüdische Erfahrung, dass »Gott und Mensch grade deshalb zusammenkommen, weil sie wesentlich getrennt bleiben« (ebd.). Buber unternimmt in »Philon und Cohen (Ein Fragment)« eine hermeneutische Freilegung des sowohl bei Philo als auch bei Cohen im Stillen wirkenden lebendigen Gottesbezugs, der in einer anderen Art als im philosophischen Gedankengebäude zum Ausdruck gelange. Er deutet an, dass diese Dimension gar für die Entstehung der Philosophie verantwortlich sei. Platon und Kant hätten in ihrem Denken keinen »Raum«, so bestimmt er, für die Erfahrung des konkreten Handelns Gottes in der Geschichte. Die Art, wie er dieses Handeln in diesem Text als »Zwiegespräch der Weltgeschichte« sowie als »dieses handelnde Zwiegespräch« kennzeichnet (in diesem Band, S. 192), zeugt zum einen von der gedanklichen und zeitlichen Nähe zu seiner Abhandlung Zwiesprache aus dem Jahr 1929, verweist zum anderen aber auf die Verwandtschaft dieses Fragments mit dem Gehalt seines Essays »Geschehende Geschichte. Ein theologischer Hinweis« (jetzt in: MBW 15, S. 277-280) aus dem Jahr 1933 sowie mit seinem Artikel »Prophetie, Apokalyptik und die geschichtliche Stunde« aus dem Jahr 1954 (jetzt in: MBW 15, S. 380-393). Indem Buber in seiner Erörterung der Art, auf die Philo und Cohen die Gedanken Platons bzw. Kants mit dem Judentum verbinden, auf die Erfahrung, die er als »lebendige Wirklichkeit« kennzeichnet, rekurriert, öffnet er den Blick auf eine Dimension, in der es nicht darum geht, diese Wirklichkeit als Wahrheit zu erfassen. Die Beschreibung, die er von der lebendigen Wirklichkeit gibt, ist eine des Zwischen: »uns lebend und von uns gelebt, auf uns wirkend und durch uns gewirkt« (in diesem Band, S. 193). Die Erfahrung, von der die Bibel spreche, könne nicht mit dem Verhältnis zur Wahrheit, die sich bei Platon oder Kant vorfindet, übersetzt oder »versöhnt« werden, denn sie handele nicht von der Wahrheit, sondern vom Leben und von der Wirklichkeit. Buber behauptet, dass sowohl bei Platon als auch bei Kant, mutatis mutandis sowohl bei Philo als
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auch bei Cohen, diese Erfahrung latent gewesen sei, insofern sie lebten. Er weist auf eine Dimension hin, in der die Gegensätze der Dispute über das Verhältnis zwischen Religion und Liberalismus in seiner Gegenwart zwar nicht aufgehoben, aber einer anderen Ordnung des Diskurses und des Lebens zugewiesen werden. Textzeugen: D1: Jüdische Rundschau, Jg. 33, 17. August 1928, S. 55-56 (MBB 370). D2: Kampf um Israel – Reden und Schriften, 1921-1932, Berlin: Schocken 1933, S. 181-184 (MBB 459). D3: JuJ, S. 812-814 (MBB 1216). Druckvorlage: D1 Variantenapparat: D1 ist mit einer redaktionellen Vorbemerkung versehen: Dr. Martin Buber, den wir um einen Beitrag aus dem Problemkreis, dem diese Nummer gewidmet ist, ersucht haben, sendet uns nachstehendes Fragment und schreibt dazu u. a.: »Diese Erörterung der Aehnlichkeit der geistigen Situationen von Philon und Cohen hatte in der unvollendeten Arbeit, der sie entnommen ist, nur die Aufgabe, eine Darstellung der Unähnlichkeit ihrer Stellungnahmen einzuleiten. Hier darf sie wohl für sich stehen, weil sie auf eine höchste Problemstellung und Problematik des religiösen Liberalismus hindeutet.« – Red. 192,10 G e s c h l e c h t e r n ] nicht hervorgehoben D2, D3 193,11 zwei] hervorgehoben D2, D3 Wort- und Sacherläuterungen: 192,6 Platon und die Schrift] Buber bezieht sich auf den jüdischen Philosophen Philon von Alexandria, der das Prinzip einer allegorischen Exegese der Tora erarbeitete, um diese mit platonischen Gedanken zu verbinden. 192,6 Kant und die Schrift] Bezieht sich auf die Philosophie Hermann Cohens, der die Philosophie Kants aus jüdischer Perspektive zu interpretieren versuchte. 192,23-24 dem »edlen Schweigen« Buddhas] Das »Edle Schweigen« ist Bestandteil der Meditationspraxis im Buddhismus.
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Religion und Philosophie Die Europäische Revue, in der Bubers Aufsatz zuerst im August 1929 erschienen ist, war eine vom österreichischen Publizisten Karl Anton Rohan (1898-1975) und der deutschen Sammlerin und Kunstmäzenin Lilly von Schnitzler (1889-1981) gegründete Monatsschrift, ausgesprochen konservativen Charakters. Seit 1922 diente sie als programmatisches Publikationsorgan des gleichfalls von Rohan gegründeten Europäischen Kulturbunds. Alte Reichsgedanken unter der Losung eines christlichen »Abendlandes« aufgreifend, propagierte die Zeitschrift die Idee einer paneuropäischen Einigung unter ständisch-aristokratischer Vorherrschaft. Zahlreiche prominente Autoren aus ganz Europa – u. a. Rainer Maria Rilke (1875-1926), Paul Valéry (1871-1945), Aldous Huxley (1894-1963) und José Ortega y Gasset (1883-1955) – konnten für Beiträge gewonnen werden. Ab 1933 wurde die Zeitschrift gänzlich vom deutschen Außenministerium und dem Propagandaministerium kontrolliert. Stark umgearbeitet sollte Buber den Aufsatz über zwanzig Jahre später in Gottesfinsternis aufnehmen (vgl. in diesem Band, S. 374-387). Die Textgestalt wurde dabei einem derart umfassenden Eingriff unterzogen, dass es den Herausgebern dieses Bandes geboten schien, die Erstveröffentlichung von 1929 gesondert abzudrucken. Textzeugen: h1: Teilhandschrift im MBA (Arc Ms Var 350 bet 39); 1 loses Blatt, beidseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit einigen Korrekturen versehen. Die Handschrift enthält einen Entwurf der Anfangspassage, der gegenüber dem Druck teils gravierend abweicht. H2: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39 Mappe 1); 6 lose paginierte Blätter, beidseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit vielen Korrekturen versehen. D1: Europäische Revue, August 1929, Jg. 5, Heft 2, S. 325-335 (MBB 401). D2: in: Gottesfinsternis – Betrachtungen zwischen Religion und Philosophie, Zürich: Manesse 1953, S. 33-57 (MBB 918). D3: in: Werke I, S. 522-538 (MBB 1193). Der Text hat in D2 und D3 eine derart durchgreifende Umarbeitung erfahren, dass die Abweichungen nicht mehr sinnvoll in einem kritischen Apparat verzeichnet werden können. Deshalb erfolgt ein gesonderter Abdruck der ersten Veröffentlichung. Unterschiede zwischen D2 und D3 werden im kritischen Apparat zu D2 festgehalten (siehe den Kommentar in diesem Band, S. 723-725). Da hingegen h1
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und H2 die Vorlagen für D1 zu bilden scheinen, werden die entsprechenden Abweichungen allein hier im Variantenapparat verzeichnet. Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Hebräisch: »Dat u-filosofia«, in: Hagut. Teschura li-Schmuel Hugo Bergmann bi-meleat lo schischim schana, Jerusalem: Ha-chevra ha-filosofit, 1943, S. 5-14; in: Pene adam. bechinot be-anthropologia filosofit, Jerusalem: Mossad Bialik 1962. Variantenapparat: 194,3-14 Ich will nur […] anzugeben] Es ist nicht meine Absicht, die Beziehungen zwischen Religion und Philosophie darzustellen oder zu erörtern, weder systematisch noch historisch, sondern auf eine mögliche echt dialogische Auseinandersetzung zwischen beiden hinzuweisen. Der unumgängliche Anfang einer solchen Auseinandersetzung ist die gegenseitige Determination. Damit ist nicht gegenseitige Definition gemeint, so dass die eine der andern eine Formel darreichte, in der diese ihr Wesen wiederzuerkennen hätte. Darum kann es hier schon deshalb nicht gehen, dass zwar eine Definition der Religion zu den Aufgaben der Philosophie, nicht aber eine Definition der Philosophie zu den Aufgaben der Religion gehören kann. Wenn es sich damit aber auch anders verhielte und jede der beiden formulieren würde, wie sie die andre versteht, so würde doch durch eine solche gegenseitige Übergabe von Spiegelbildern oder Auffassungen ein wirklicher Dialog nicht gefördert werden. Wohl aber geschähe dies, wenn jede der beiden [die andere im Verhältnis zu sich selber] ! sich im Verhältnis zu der anderen zu erfassen und damit zur Ermittlung des wesensmässigen gegenseitigen Verhältnisses beizutragen versuchte. Dies ist es, was ich gegenseitige Determination nenne. / Vorweg aber ist zu erkennen, dass Religion und Philosophie nicht wie zwei benachbarte Teile einer Fläche zu betrachten sind, da eine solche beide umfassende Fläche sich mit unseren Erkenntnismitteln schlechthin nicht konstruieren lässt; vielmehr müssen sie uns als zwei verschiedene Ebenen erscheinen, die sich in einer bestimmten Lage zueinander befinden. Determination kann somit nicht Abgrenzung bedeuten, als ob in irgendeiner Hinsicht Religion da begänne, wo Philosophie aufhört, und umgekehrt; sie kann nur Bestimmung der gegenseitigen Lage bedeuten. Demgemäss [sind in einem] ! kann ein Versuch, zu gegenseitigen Determinationen beizutragen,
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nicht darauf ausgehen, die beiden Gebiete aufzuzeichnen, sondern nur darauf, ihren Neigungswinkel anzugeben. / In diesem Sinne [versuche] ! will ich im Folgenden einige Hinweise zur Selbstdetermination der Religion in ihrem Verhältnis zur Philosophie geben, wobei ich aus methodischen Gründen von der Hervorhebung der Problematik in der Erkenntnis dieses Verhältnisses ausgehen und sodann die Versuche, diese Problematik durch begriffliche Abgrenzung zu überwinden, an Beispielen kritisch untersuchen muss h1 194,5 echt dialogische] dialogische H2 194,9 Ermittlung] [Bestimmung] ! Ermittlung H2 194,12-14 ; somit sind weder […] anzugeben] – also sind nicht die beiden Gebiete aufzuzeichnen, sondern nur ihr Neigungswinkel anzugeben. / 2. Ich beabsichtige die Determination im Wesentlichen als Selbstdetermination der R. in ihrem Verhältnis zur Ph. zu versuchen und nicht umgekehrt, da wir ja hier die Sprache der Ph. und nicht die der R. miteinander reden, eine philosophische [Bestimmung] ! Selbstdetermination der R. X dem Boden unserer Gemeinsamkeit daher angemessener ist als eine relig. [Bestimmung] ! Selbstdetermination der Ph. H2 194,16–17 Die Schwierigkeit […] zu vergegenwärtigen] Vergegenwärtigung der Schwierigkeit an Personen: Epikur und Buddha (der das Seiende nicht unter den Satz vom Widerspruch stellen würde) H2 194,16 der beiden Begriffe […] vergegenwärtigen] zwischen Religion und Philosophie vergegenwärtigen wie uns am besten nicht begrifflich, sondern an vertreterischen Personen h1 194,18-195,2 Epikur lehrt […] religiöse Wirklichkeit.] fehlt H2 194,20 Interesse an ihr] Interesse an ihr hund überhaupt ohne Handlungi h1 194,22-23 im Fortgehen] nachdem er es getan hat h1 194,24-25 ein Dogma […] philosophische Lage] sowohl Dogmatik wie Kultübung, also anscheinend die wesentlichen Elemente einer Religion, aber offenkundig fehlt hier eine entscheidende Dimension, und wir X X die Person und ihre [Situation] ! Haltung nicht als religiöse, sondern als philosophische zu sehen h1 194,26-27 behandelt […] fragwürdigen] [behandelt […] fragwürdigen] ! sieht in den Göttern des Volksglaubens, wenn er sie überhaupt erwähnt, hohe, übermächtige, aber wie alle »unerwachte« Wesen h1 194,30 »Erwachten«] »Erwachten«, von der Fessel Gelösten, dem Rad Entronnenen h1 194,30-31 Verehrung darbringen] Verehrung darbringen und von ihm Lehre empfangen, er aber wundert sich, wenn sie zu ihm kommen,
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[ironisch] ! mit gelassener Ironie darüber, dass sie bei ihrer X Beschäftigung? X dazu? gefunden? haben, behandelt sie also wie »Hausväter«, die den Weg zum Heil noch nicht gefunden haben h1 195,1 zu stellen] zu stellen [, so dass aus einem Absoluten ein Bejahtes würde, das auch verneint werden kann] h 195,5-9 (Die psychologischen […] besteht.)] fehlt H2 195,10-12 Die eine Abgrenzung […] unterscheidet etwa] a. nach Formen der Wahrheits-Wahrnehmung – der klassische Versuch der nachkantischen Ph. H2 195,14 Wahrnehmung] Apperzeption H2 195,15-16 Auslese, hinzu […] Gedankengänge] Auslese (gelegentlich gipfelnd in einer absoluten Zweiteilung der Menschheit) H2 195,27-28 – wie es von Adam heißt, daß er sein Weib erkannte] (Adam – Eva) H2 195,31-32 Die andere Abgrenzung […] nach Zielen] b. nach Zielen H2 195,32-33 Danach ist die Philosophie […] gerichtet] der reife Versuch der modernen Ph. – We s e n s erforschung und H e i l s erkundung H2 195,35 betrachtungsmäßig] aspektmässig, nicht essentiell H2 195,37 wesenhafte] essentielle H2 195,37-196,9 darzustellen. So ist der […] der Seele] darzustellen (in allen Religionen aufzuzeigen, Beispiele: der biblische Derech (Gottes), das chinesische Tao) H2 196,11 stellt] [fasst] ! stellt H2 196,23 umschreiben] determinieren H2 196,29 kundgäbe] manifestierte H2 196,35 Geschichtliche] eigentlich Geschichtliche H2 197,2 »Ungewordene«] »Ungewordene« [, Ungeborene, Ungemachte] H2 197,5-6 vereinfachende Metapher] Metapher H2 197,7-8 das Gehege] den Bezirk H2 197,13-14 Iakchos] Iakchos [; hier äussert sich ein Urschauer, dem gegenüber] H2 197,16 eine lebensmäßige] eine lebensmäßige [; wie sie das sterbliche Leben des Menschen erfordert] H2 197,16-17 Gegenseitigkeitsbeziehung] Beziehung H2 197,18-19 d i e a b e r k e i n e g e g e n s t ä n d l i c h e i s t ] d i e a b e r [die Personhaftigkeit des lebendigen Gegenüber, nicht die eines] ! k e i n e g e g e n s t ä n d l i c h e i s t H2 197,25 außerreligiösen] nichtreligiösen H2 197,33 Gemenge] Konglomerat H2 197,33 verewigen] perpetuieren H2
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198,5 Antwort] Antwort [im Geheimnis seiner unerschöpflichen Verantwortung] H2 198,10 Schauer] [Phänomen] ! Schauer H2 198,10-11 erkennerische] [wahre] ! erkennerische H2 198,19 Konkretheit] Konkretheit (Ideation oder Kontemplation) H2 198,29 findet] erfährt H2 199,3 allen Zeiten] fehlt H2 199,5 gewaltigen] festen H2 199,10 die gemeinsame stifterische Stunde] [das gemeinsame stifterische Erlebnis] ! die gemeinsame stifterische Stunde H2 199,12 dem keinen Abbruch] dieser Tatsache keinen Abbruch H2 199,33 Symbolik] Symbolik und Dogmatik H2 200,18 der religiöse Mensch] die R. H2 200,29 dem Schein] der Fiktivierung H2 200,31-202,23 Alle religiöse Wirklichkeit […] Welt führt.] fehlt H2 202,35-203,1 und die Spannung […] auswerten] fehlt H2 203,7-11 Damit soll aber […] verstanden werden] Darüber hinaus: Denkwahrheit zwar nicht Seinsbesitz, wohl aber erkennerisches Realverhältnis zum Sein möglich H2 203,12 Absehen ermöglichter] Absehen [und die Herstellung des Subjekt-Objektes] ermöglichter H2 203,14 Entdeckungszüge] Explorationszüge H2 203,20-204,5 Der Augenblick […] dieses Kreuzes.] fehlt H2 204,7-13 Eine Verwandtschaft […] strebender Bereich] Persönliche Voraussetzungen: eine Verwandtschaft mit der R. Hier (in der R.) das Faktum, dass die Person sich zu einer Totalität zusammengeschlossen hat. Als die allein sie religiös zu leben vermag (und deren blosses Anzeigen das »Gefühl« ist). In dieser Totalität ist naturgemäss auch das Denken beschlossen, aber nicht mehr als autonome, zur Verabsolutierung tendierende Sphäre H2 Wort- und Sacherläuterungen: 194,18 Epikur lehrt nicht bloß] Vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 162,41. 195,29-30 »als ein […] Eingehen« (Franz Baader)] Franz von Baader, dessen Schriften die Philosophie der deutschen Romantik, vornehmlich Friedrich Schellings (1775-1854), beeinflusste, führt aus: »[…] Nämlich der Akt dieses Eingangs, insofern selber frei ist, ist der Glaubensakt, so wie der Akt des sich Ausschließens oder Wiederausgangs der Akt des Nichtglaubens oder Unglaubens ist. Was auch schon das Wort: Glauben als Geloben (Verloben, wie früher H. P.
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W i n d i s c h m a n n bemerkte) d. h. als ein sich Verbinden, Vermählen oder Eingehen aussagt, so wie die Behauptung A u g u s t i n s : nemo credit nisi volens. Woraus auch folgt, daß man in der Religion von keinem blinden Glauben sprechen soll, welcher nur ein blindes Wollen bezeichnete, und daß im Gegentheile der vernünftige Mensch zufolge jener Maxime: Tr a u , s c h a u w e m ? nur klar sehend oder wissend wie frei wollend seinen Glauben zu wählen und zu erhalten hat.« Franz von Baader, Ueber das Verhalten des Wissens zum Glauben, Münster 1833, S. 11 f. 196,6 Imitatio Dei] lat.: »Nachahmung Gottes«. 196,7 das chinesische Tao, die »Bahn«] Der für den chinesischen Daoismus entscheidende Begriff des »Dao« – nach Bubers älterer Schreibung »Tao« – kann näherungsweise mir »rechter Weg« übersetzt werden, gilt aber streng genommen als unübersetzbar. Er steht für die transzendente Wahrheit, die in besonnene Praxis umgesetzt werden soll, zu der das paradoxe Bewusstsein jener Unübersetzbarkeit wesentlich gehört. 197,8-9 wie Spinoza ihn als Substanz definieren darf] In seiner 1677 postum erschienenen Ethica Ordine Geometrico demonstrata definiert Spinoza Gott als absolute, unendliche Substanz: »Unter Gott verstehe ich das unbedingt unendliche Wesen, das heißt die Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, deren jedes ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt.« Baruch de Spinoza, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, übers. von Otto Baensch, Hamburg 1976, S. 4. 197,11-12 Interjektionen] Buber spielt auf die Theorie an, der zufolge ursprünglich unartikulierte Ausrufe der Überraschung und des Schreckens gegenüber unerwarteten Phänomenen sich schließlich zu den einzelnen Götternamen verfestigt hätten. 197,13-14 Iakchos] griech. Ἴακχος. Name einer in den eleusinischen Mysterien verehrten Gottheit; abgeleitet von griech. ἰαχή: »Geschrei« oder »Kriegsgeschrei«, womit auf die ekstatischen Rufe verwiesen ist, die von den Teilnehmern der Prozession von Athen nach Eleusis ausgestoßen wurden. 199,28-29 Reaktion des indischen Theismus] Es bleibt unklar, worauf Buber hier anspielt. Vermutlich hat er im Zusammenhang an die hinduistische Lehre vom Illusionscharakter aller Wirklichkeit, der Maya (Sanskrit: »Illusion«, »Zauberei«), gedacht, die es in der radikalen asketischen Negation solchen Scheins, einer schließlich im Buddhismus ausformulierten »metaphysischen Endzeitlichung« aufzulösen gelte. Dem gegenüber könnte Buber die Ausprägung eines hinduisti-
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schen Theismus, der die Welt wieder als Wirklichkeit einer wenngleich transzendenten Gottheit schätzen kann, als Reaktion auf solche Entwicklung hier interpretiert haben. 201,11 kartesianischen ego cogito] Mit seinem Ausspruch »Ego cogito, ergo sum.« (lat.: »Ich denke, also bin ich.«) versuchte Descartes im methodischen Zweifel die wissenschaftliche Gewissheit seines Selbstbewusstseins zu retten und von hier aus wieder zur Affirmation überzugehen. Bereits 1637 auf franz. in seinem Discours de la méthode formuliert, prägte Descartes die klassisch gewordene Formel schließlich in seinen 1644 auf Latein verfassten Principia philosophiae. 202,1 der scholastische Universalienstreit] Bei diesem Streit geht es um die Frage, ob die Universalbegriffe fundamental seien und ihnen eine eigene ontologische Realität zukomme oder ob diese Begriffe nur subjektiv, als bloße nomina aufzufassen seien. 202,3-4 Formeln wie etwa der Malebranches, wir sähen die Dinge in Gott] Vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 176,34-35.
Was soll mit den zehn Geboten geschehen? Die Literarische Welt, in der Bubers kurze Antwort auf eine Rundfrage im Juni 1929 erschienen ist, gehörte zu den bedeutendsten Wochenschriften der Weimarer Republik. 1925 von dem Literaten Willy Haas (1891-1973) und dem Verleger Ernst Rowohlt (1887-1960) gegründet, waren in der Zeitschrift mit bürgerlich progressiver bis gemäßigt sozialistischer Ausrichtung die namhaften Autoren der Zeit mit Beiträgen vertreten. Auf die Rundfrage zur Aktualität der biblischen Zehn Gebote antworteten neben Buber u. a. George Bernard Shaw (1856-1950), Johannes R. Becher (1891-1958) und der Politiker Paul Levi (1883-1930). Der Abdruck der Antworten wird mit einer kurzen redaktionellen Notiz eingeleitet: »Art und Richtung der von der Schriftleitung ausgegangenen Anregungen zu dieser Enquête ist aus den Antworten, vor allem aus der Antwort Martin Bubers, so klar ersichtlich, daß wir den Texten fast keine Erklärung vorauszuschicken haben: wir fragen im Wesentlichen, ob die 10 Gebote heute noch einen Wert und Sinn haben, und welchen; ob man sie zum internationalen Gesetz erheben, oder ob man vielleicht neue 10 Gebote als Ausdruck und Essenz der heutigen Moral schaffen und international sanktionieren lassen sollte. Die Fragen waren übrigens individuell gestellt. – Die Rundfrage wird in der nächsten Nummer beendet werden.« (Redaktionelle Notiz, Die Literarische Welt, 7. Juni 1929, S. 3.)
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Textzeugen: H1: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 gimel 72); 2 lose unpaginierte Blätter; undatiert; zweiseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit vielen Korrekturen versehen. h2: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 gimel 72); 1 loses Blatt; undatiert; einseitig beschrieben; mit vielen Korrekturen versehen. Der Textzeuge besteht aus einem zusätzlichen Abschnitt, der nicht in den eigentlichen Text aufgenommen worden ist und sich den Zitaten nach zu urteilen auf den Wortlaut der persönlichen Anfrage bezieht. Dieser Text wird im Folgenden abgedruckt. h3: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 gimel 72); 2 lose unpaginierte Blätter; undatiert; einseitig beschrieben; mit einigen Korrekturen versehen. Der Textzeuge besteht aus einem zusätzlichen Abschnitt, der nicht in den veröffentlichten Text aufgenommen worden ist. Dieser Text wird im Folgenden abgedruckt. D1: Die Literarische Welt, 7. Juni 1929, S. 3 (MBB 405). D2: Hinweise. Gesammelte Essays, Zürich: Manesse 1953, S. 174-178 (MBB 919). D3: Werke II, S. 895-900 (MBB 1252). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: »What Are We to Do About the Ten Commandments? Reply to a Circular Question«, übers. von Olga Marx, in: Israel and the World. Essays in a Time of Crisis, New York: Schocken Books 1948, S. 85-88 (MBB 786), 2. Auflage 1963 (MBB 1215); »What Are We to Do About the Ten Commandments. Reply to a Circular Question«, in: Kowetz otijot li-sfarim. Dugmaot ha-nimtzaot be-schimusch bi-defus limudi Jeruschalajim, Jerusalem: Hadassah Apprentice School of Printing 1955, S. 26-29 (MBB 1005). Hebräisch: »Ma jehe al aseret ha-dibrot? Teschuva al mischal (1929)«, in: Teʿ uda we-jiʿ ud, Bd. 1: Ma’amarim al injane ha-jahadut, Jerusalem: Ha-sifrija ha-tzionit 1959, S. 154-156 (MBB 1135); »Ma jehe al aseret ha-dibrot? Teschuva al mischal«, in: Darko schel miqra. Ijunim bi-dfuse-signon be-Tanakh, Jerusalem: Mossad Bialik 1964, S. 100102 (MBB 1260). Abdruck von h2: 1. Dass »die Erhaltung und Fortpflanzung des Judentums an die Menschengemeinschaft bestimmter Abstammung gebunden ist«, glauben
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Sie [zweifellos] hdoch wohl? X Xi wie jeder echte Jude hobgleich Sie es anzuzweifeln scheineni; wenn diese Gemeinschaft zerfiele, [könnten sich natürlich immer noch] ! würden sich einzelne ihrer Lehren gewiss auch ohne sie verbreiten, aber die Gesamtheit der Lehre [und ihre Gestalt, die ja eben nicht Ideologie sondern gelebtes Leben ist, wären] ! – eben das Judentum – wäre dahin, [die Gestalt, in der diese Lehre] ! denn dahin wäre ihre [Darstellung] ! Gestalt: das Leben dieser Gemeinschaft. / 2. [Was Sie einschränkend meinen, ist nur] ! In welchen Maße dieses jeweils fremde Elemente aufnehmen und sich einverleiben kann, ist nicht [allgemein] grundsätzlich, sondern nur kasuistisch zu entscheiden. Buch Ruth meint ja doch wohl nicht bloss, dass die Orpas nicht wollen, sondern auch, dass man sie nicht brauchen kann. [Dass aber der Kern des Judentums ein »stammesgebundener Menschenschlag« ist und bleiben muss, erweist] ! auf keinen Fall aber meint es, dass – Moab an die Stelle Israels treten könnte.) / Wenn man weiss, dass die Erhaltung des Judentums an die [einer Menschengemeinschaft bestimmter Abstammung] ! einen Menschenstamm gebunden ist, und die Sorge um dessen Schicksal [Textverlust] Abdruck von h3: [Ich bin der Ansicht, dass] ! Es bedarf für den modernen Juden keines »modern set of ten commandments«, sondern nur eines Ernstnehmens der alten und ewigen in jeder Situation des Lebens. Man muss zunächst das Vorurteil aufgeben, sie seien »generally accepted«. Wie ist es etwa um die Erfüllung des Gebots bestellt, »keine anderen Götter« zu haben? Gewiss, niemand betet mehr einen Gott an, der Baal heisst; aber wer hält sich wahrhaft von der Anbetung aller in unserer Welt mächtigen Baalim fern, des Baal Mammon, des Baal Erfolg, [des Baal Machtgenuss], und wie sie alle heissen? Das Judentum unterscheidet sich von anderen Gemeinschaften nicht dadurch, dass es sittliche Gebote [kennt] ! verkündigt, sondern dass alle Sittlichkeit für es nur Ausdruck der alleinigen Herrschaft Gottes über alle Bereiche nicht bloss des privaten, sondern auch des öffentlichen [, des wirtschaftlichen, des sozialen, des politischen] Lebens ist und dass in keinem dieser Bereiche eine andere Norm massgebend sein darf als die seine. Die alten, die ewigen Gebote sind zu einem Volk in der Stunde seines Volkwerdens gesprochen worden, und zwar damit es [zu einem wirklichen Volk werde] ! zu einem wahren Volk werde, das keinen andern Herr kennt als den Herrn der Herren und in dem alle Glieder miteinander verbunden sind durch das Verhältnis aller zu ihm wie
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Kinder durch das Verhältnis zu Vater und Mutter. Mit dem »Du«, das hier angeredet wird, ist kein isoliertes Individuum gemeint, sondern der mit seinen Brüdern brüderlich lebende Mensch. Um ein Volk solcher Menschen zu sein, ist einst das »Haus Israel« gegründet worden: als Anfang einer Menschheit, die nur aus solchen »Häusern« erbaut wird werden können. Noch hat es seine Aufgabe nicht erfüllt, noch gibt es das wahre Volk nicht. Aber jeder Jude kann dazu helfen, dass es werde: indem er sein eigenen Leben h(und nicht weniger als das)i in diesen lebendigen Zusammenhang einfügt. Es muss ein wirkliches lebendiges Volk sein, aber eins, in dem die alten, ewigen Forderungen des Geistes für ein wahres Volksleben sich erfüllen. Dieses Volk muss ein starkes organisches Zentrum in Zion haben, eins, das mächtig ausstrahlt in alle Judenheiten der Welt und sie mehr und mehr zum wahren Volke eint. Und dazu muss Zion – Zion sein: der Ort, der »des Rechts und der Gerechtigkeit voll ist«. Hierher soll das Leben jedes Juden orientiert sein, als nach der Residenz des Königtums Gottes. Das ist keine abstrakte Idee; »du« bist angesprochen. Variantenapparat: 205,3 Gültigkeit] [Geltung] ! Gültigkeit H1 205,5 nicht] nicht mehr D2 205,5 Ich meine] davor kein Absatzwechsel H1 205,6-7 zehn Gebote] zehn Gebote [in all ihrer Macht und Ohnmacht] H1 205,9 Menschenverbandes] [Staates oder sonstigen] Menschenverbandes H1 205,9-10 von einem Ich zu einem Du gesprochen] von einem ich [zu einem Du das sie eröffnet,] zu einem Du [, das sie erfüllt,] gesprochen H1 205,13 des hier Gebietenden] des hier Gebietenden [in keinem Menschenverband eine reale Geltungsmacht zukommt] H1 205,14 Kausalität] [Kausalitätserfahrung] ! Kausalität H1 205,14 Vollstreckungskraft] [Macht] ! Vollstreckungskraft H1 205,24 wie es war.] wie es war. [Wenn auch Hiob es etwas überspitzt sagt, hat er recht – dem, der nicht hören mag, braucht es an [Erfolg] ! [Zufriedenheit] ! Behagen nicht zu mangeln.] H1 205,26 Das Hören dessen] [Es ist ein Wagnis] ! Das [Hörenwollen] ! Hören dessen H1 205,27 Kausalität] [Kausalitätserfahrung] ! Kausalität H1 205,29 dem die Chance […] gegenüberstünde,] hdem die Chance […] gegenüberstünde,i H1
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205,30 , jenseits der Wahrscheinlichkeitsrechnung] h, jenseits der Wahrscheinlichkeitsrechnungi H1 205,31 der es mit dem Tod] der [alle Vorstellungen vom Leben nach dem Tod für unerlaubte Spiele der Einbildung hält] ! es mit dem Tod H1 206,5 und für das Gebot der Eltern-Ehrung] [Und da die Gesellschaft eine ihr so lebenswichtige Angelegenheit begreiflicherweise] ! und für die Elternehrung H1 206,13 erforderlich scheinenden] [erwünschten] ! erforderlich scheinenden H1 206,25 das mathematisch-übersichtlich regeln] berichtigt aus Das mathematisch-übersichtlich regeln nach D2, D3 206,28 Tribunal] [Gericht und] Tribunal H1 206,33-34 stark vereinfacht dargestellt] [schematisiert] ! stark vereinfacht dargestellt H1 206,37 rechtmäßig] anständig H1 206,39-40 das Produkt […] Zehn Gebote sei] dass das h – das des Ich und des Du beraubte Ich-zu-Dir – i die zehn Gebote seien H1 206,40 Tätigkeit] [einschlägige] Tätigkeit H1 206,40-207,1 fristen könnte] fristen könnte ([nur] ! einzig der Gotteslästerungsparagraph ist grober Unfug) H1 207,2 mitten in einer […] Lebens] hmitten in einer […] Lebensi H1 207,3 SEINEN] des Herrn D2 207,5 Lugs Zeuge] Lügenzeuge D3 207,10 abergläubigen Drum und Dran] habergläubigeni Drum und Dran H1 207,10-11 auszugeben, dann wäre] auszugeben, also in die Rede hineinzureden, der Stimme ihren Laut und dem Gesicht seinen Blick zu [korrigieren] ! berichtigen, dann wäre H1 207,15 , sehr werter Herr Haas,] fehlt D2, D3 Wort- und Sacherläuterungen: 207,3-4 »Trage nicht SEINEN […] den Wahn«] Ex 20,7, in der Übertragung von Das Buch Namen. (Die Schrift II), verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Berlin: Lambert Schneider Verlag 1926, S. 81. 207,4-5 »Aussage […] Lugs Zeuge«] Ex 20,16; ebd. S. 82.
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In jüngeren Jahren
In jüngeren Jahren »In jüngeren Jahren« erschien 1931 in der von Harald Braun herausgegebenen Anthologie Dichterglaube. Stimmen religiösen Erlebens. Harald Braun (1901-1960) begann seine Laufbahn als Literaturkritiker, arbeitete lange Jahre für den Hörfunk und war einer der bedeutendsten Regisseure und Drehbuchautoren der Nachkriegszeit – als exemplarisch gilt sein preisgekrönter Film »Die Nachtwache« von 1949. 1924 gründete der im christlichen Glauben verwurzelte Braun die Literaturzeitschrift Eckhart, Blätter für evangelische Geisteskultur. Braun, der besonders am Dialog der Konfessionen interessiert war, hatte eine größere Anzahl von Autoren gebeten, über ihr Verhältnis zur Religion und ihr religiöses Denken zu schreiben. In der Einleitung zu seiner Anthologie hält er fest: »Der weltanschauliche Hintergrund, aus dem die Anregung zu den Bekenntnissen dieses Sammelbandes kam, ist der Protestantismus. Ist die evangelische Literaturzeitschrift ›Eckhart‹, die bemüht ist, die lebendigen Vertreter des eigenen Konfessionskreises und der Gegenwartsdichtung zu fruchtbarer Begegnung zu bringen […].« Der Sammelband umfasst Beiträge von einer Vielzahl europäischer Autoren, so etwa von Paul Claudel (1868-1955) von Ernst Barlach (1870-1938), Alfred Döblin (1878-1957) und Gottfried Benn (1886-1956). Textzeuge: D: Harald Braun (Hrsg.), Dichterglaube. Stimmen religiösen Erlebens, Berlin-Steglitz: Eckhart 1931, S. 52-53 (MBB 436). Druckvorlage: D
[Metanthropological Crisis] Bubers Antwort auf eine Frage von Eugene Jolas (1894-1952) wurde in der von diesem herausgegebenen Zeitschrift transition, die ab 1927 in Paris, ab 1936 in Den Haag erschien, 1932 veröffentlicht. Die Zeitschrift verstand sich als Forum für die zeitgenössische Literatur und bildende Kunst der Avantgarde. Führende Autoren und Autorinnen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wurden hier im englischen Original oder in englischer Übersetzung einem internationalen Publikum vorgestellt. Jolas, der in New York geborene Sohn eines französischen Vaters und einer deutschen Mutter, war dreisprachig und übersetzte selbst einen Großteil der Beiträge. Berühmt wurde die Zeitschrift durch die in verschiedenen
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Heften erschienenen Fragmente von James Joyces (1882-1941) sogenanntem »Work in Progress«, seinem im Entstehen begriffenen letzten Roman Finnegans Wake (1939). Dazu kamen Schriften unter anderen von Samuel Beckett (1906-1989), André Gide (1869-1951), Else LaskerSchüler (1869-1945), Rainer Maria Rilke und Paul Éluard (1895-1952). Die Zeitschrift zeigte ein besonderes Interesse für den Surrealismus sowie allgemein für Themen, die mit dem Traum und dem Unbewussten zusammenhingen. Sie zeugte auch für die Beziehung, die die surrealistische Bewegung in der Literatur und in den bildenden Künsten zur Psychoanalyse sowie zur Ethnologie unterhielt. Texte von Carl Gustav Jung (1875-1961) und von Sigmund Freud (1856-1939) wurden ebenfalls in der Zeitschrift veröffentlicht. Alle diese Theoretiker interessierten sich für die sogenannten »représentations collectives« und für die Art, wie diese sich im Alltag, aber auch im Bereich des Symbolischen und des Sakralen äußerten. Jolas formulierte diese thematischen Schwerpunkte verschiedentlich auf programmatische Weise, so etwa in seinem Essay »Literature and The New Man« in der Nummer 19 (1930): »[…] the ideas that transition has stood for may be briefly summarized as follows: the mythos and the dream, i. e. the evocation of the instinctive personal and collective universe; the attempt to define the new man in relation to his primal consciousness; the revelation of the word. All of these are interdependent functions of the modern spirit.« (S. 15) In seinem Essay »Logos«, den er unter dem Obertitel »Revolution of The Word« und dem Untertitel »Proclamation« zusammen mit Texten anderer Autorinnen und Autoren im Heft 16-17 vom Juni 1929 veröffentlichte, vertrat Jolas einen mit der Vision des neuen Menschen zusammenhängenden »magical idealism«, bei dem Sprache und Einbildungskraft zusammenwirken sollten. Durch letztere werde die Welt auf radikale Weise auseinandergenommen und zusammengesetzt. Die Sprache vollziehe zusammen mit der Einbildungskraft eine »transfiguration of the concrete« (S. 27). Jolas verbindet diese verwandelnde Kraft des dichterischen Worts mit dem neuen Mythos, der eine zentrale Rolle im Leben des neuen Menschen spielen soll. Indem Buber seine Sicht auf das Individuum und die Kollektive 1932 in transition veröffentlicht, formuliert er eine Position, die er in Die Frage an den Einzelnen, im »Krisis«-Kapitel seines Buchs Pfade in Utopia (1950) sowie in Gottesfinsternis wiederholen wird. Auffällig ist die Nähe, die sein Denken zu manchen Aspekten der von Jolas in transition entwickelten Ideen aufweist.
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Textzeuge: D: Transition, Den Haag: Servire 1932, S. 112 (MBB 454). Druckvorlage: D
Früchte eines Gedankens Der Vortrag wurde am 26. Mai 1943 anlässlich einer Feier der Hebräischen Universität zum Andenken an den Astronomen Nikolaus Kopernikus gehalten, dessen Todesjahr und das Erscheinen seines Hauptwerks De revolutionibus orbium coelestium libri sich 1943 zum 400. Male jährten. Der andere Festredner war der aus Deutschland 1924 ausgewanderte Physiker und Wissenschaftsphilosoph Schmuel Sambursky (19001990), der wie Buber an der Hebräischen Universität in Jerusalem unterrichtete. Ein Jahr nach der Veröffentlichung in Ha-aretz wurde Bubers Aufsatz in einer Broschüre, die die Universität zur Erinnerung an die Festlichkeit herausgab, ein zweites Mal gedruckt. Textzeugen: h1: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 67); 1 loses Blatt; zweiseitig beschrieben mit blauer Tinte; undatiert; mit einigen Korrekturen versehen; enthält den ersten Entwurf des ersten Absatzes von H2 sowie einen zusätzlichen Abschnitt, der unter dem Abdruck von H2 im Folgenden wiedergegeben wird. H2: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 67); 4 lose unpaginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit einigen Korrekturen versehen. Dieser Text wird im Folgenden vollständig wieder gegeben. Da der Text des hebräischen Druckes in Einzelheiten vom Entwurf abweicht und angenommen werden kann, dass eine revidierte Fassung als Grundlage der Übersetzung ins Hebräische diente, wurde für den Druck in diesem Band eine Übersetzung des Hebräischen Druckes zugrundegelegt. D1: »Perotaw schel raʿ jon«, Ha-aretz vom 4. Juni 1943 (MBB 682). D2: »Mekomo schel Kopernikus ba-filosofia« [Der Ort Kopernikus’ in der Philosophie] in: Ha-Universita ha-ivrit bi-Jeruschalajim, Nikolai Kopernikus: 1473-1543. Devarim sche-neemru al-jede M. Buber … Sch. Samburski … be-chagigat Kopernikus ba-universita ha-ivrit bi-Jeruschalajim bejom 21 be-Ijar 703, Jerusalem: University Press 1944, S. 3-5 (MBB 706).
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Druckvorlage: Übersetzung von D1 aus dem Hebräischen, angefertigt von Karin Neuburger. Abdruck von H2: In Leopardis seltsamem Dialog »Il Copernico« lässt die Sonne, die es über hat, sich unaufhörlich zu bewegen, den »Philosophen« Kopernikus zu sich kommen und ersucht ihn die Erde dazu zu bringen, dass sie fortan die Mühsal der Bewegung auf sich nehme. Kopernikus zögert eine Weile vor der Schwierigkeit der Aufgabe; er weiss, dass es sich um nicht weniger handelt als darum, die Erde vom Thron des Weltalls herabzuholen, und dass diese Tat sconvolgerà i gradi delle dignità delle cose, e l’ordine degli enti; scambierà i fini delle creature, e per tanto farà un grandissimo rivolgimento anche nella metafisica, endlich verspricht er einen Versuch zu machen, den Auftrag der Sonne auszuführen. Ehe sie ihn entlässt, eröffnet sie ihm, dass sie ureinst, al tempo che la poesia teneva il campo, ein Prophet war, und sie prophezeit ihm, es werde ihm aus seiner Tat kein Schaden erwachsen. Diese Weissagung der Sonne konnte Leopardi zwar als in Erfüllung gegangen ansehen, aber deshalb, weil Kopernikus bekanntlich das Erscheinen seines Werkes De revolutionibus, dessen vierhundertsten Geburtstag die Kulturwelt in diesen Tagen feiert, nur um kurze Zeit überlebt hat. Denn etwa ein halbes Jahrhundert nach dem Tode des Kopernikus schreibt Galilei, der in ihm den »philosophischen Astronomen« verehrte, d. h. den Mann, dem es letztlich nicht um in sich stimmende Berechnungen und brauchbare Hypothesen, sondern um die Wahrheit geht, Galilei, der das wissenschaftliche Werk fortführte und vollendete, an Kepler: »Das Los des Kopernikus erschreckt mich, ich gestehe es, wenn er sich in den Augen einiger einen unsterblichen Ruhm erworben hat, ist er für eine Unzahl von Leuten nur ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung gewesen«. hGalileis Erschrecken hat sich, wie wir wissen, mehr als er ahnte bewahrheitet.i Und schon drei Jahre nach seinem Brief hat der grösste Denker des Zeitalters, Giordano Bruno, dafür, dass er aus der Lehre des Kopernikus, aus der er in seinen Werken ganze Stücke ausschrieb, eine philosophische Folgerung – nicht die einzig mögliche, aber eine grossartige – zog und damit eben jenes grandissismo rivolgimento nella metafisica begann, von dem Leopardi spricht, den Tod auf dem Scheiterhaufen erlitten. Goethe, der unter allen Entdeckungen der Lehre des Kopernikus die grösste Wirkung auf den menschlichen Geist zuschreibt, hat zugleich wie kaum ein anderer verstanden, was es bedeutete, von der Erde zu fordern, wie er sagt, »auf das ungeheure Vorrecht Verzicht zu tun, der Mittelpunkt des Weltalls zu sein«. »Vielleicht ist noch nie«, heisst es in Goethes »Far-
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benlehre«, »eine grössere Forderung an die Menschheit geschehen; denn was ging nicht alles durch diese Anerkennung in Dunst und Rauch auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmigkeit, das Zeugnis der Sinne, die Überzeugung eines poetisch-religiösen Glaubens; kein Wunder, dass man dies alles nicht wollte fahren lassen, dass man sich auf alle Weise einer solchen Lehre entgegensetzte, die denjenigen, der sie annahm, zu einer bisher unbekannten, ja ungeahnten Denkfreiheit und Grossheit der Gesinnungen berechtigte und aufforderte.« Wollen wir uns das Wesen dieser grossen geistigen Umwandlung vergegenwärtigen, die wir Kopernikus verdanken und die noch keineswegs abgeschlossen ist, so ist es zunächst das Problem des Standorts, das uns entgegentritt. Die vorkopernikanische Weltanschauung hat den Standort, von dem aus die Welt betrachtet wird, zu ihrem Zentrum gemacht; Kopernikus verlegt zwar selber das Zentrum in die Sonne, aber indem er sich damit in Gedanken über seinen faktischen Standort erhebt, bahnt er eine Anschauung an, für die die Zentrierung der Welt von dem gewählten Standort abhängt h, der Begriff des Zentrums also von einem absoluten zu einem relativen wirdi. Mit anderen Worten: Die aristotelische Welt ist als eine unabhängig von ihrem Betrachter bestehende und als solche erkennbare gedacht, wogegen die kopernikanische Entdeckung auf ein Denken hindrängt, für das es eine erkennbare Welt nur noch im Zusammenhang mit der Frage nach dem Betrachter, seinem Standort und seiner Beschaffenheit gibt. Mit tiefer Absicht hat Kant seine Idee, dass die Gegenstände unserer Erkenntnis von deren Wesen bestimmt sind, mit dem Gedanken des Kopernikus und der dadurch bewirkten grundlegenden Wendung im Verhältnis des Menschen zur Welt [verglich] ! zusammengestellt?. Die unproblematische Geschlossenheit der aristotelischen Welt ist von Kopernikus nicht in dem [Sinn] ! Verstand durchbrochen worden, dass an die Stelle eines endlichen Raumes ein unendlicher träte, wie es Bruno [verstanden und z. B. noch Pascal bezweifelt hat] ! gemeint hat, aber weder Kopernikus selbst noch Kepler und Galilei behauptet hat, der nun sagt, dass niemand die Grenze der Welt weiss noch jemals wissen wird; sondern die ganze Frage nach Endlichkeit und Unendlichkeit hat nur noch Sinn im Zusammenhang mit einem gegebenen Betrachter x. Dass die geozentrische Anschauung einer heliozentrischen Platz gemacht hat, war der erste Schritt zu einer Wandlung, [in der die absolut anthropozentrische Weltstruktur einer] ! für die der Mensch nicht mehr als seiend, wohl aber als denkend in der Mitte der Welt, in der Mitte der von ihm gedachten, von ihm denkbaren Welt steht, eben weil und insofern er sie denkt. Ähnlich hat schon Pascal [gedacht] ! das Verhältnis verstanden, als ihn, wie er sagt, »das
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ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckte«, hund das Bewusstsein der Unzerstörbarkeit des betrachtenden Geistes ihm die Seele stillte,i von hier aus hat Kant die Antinomik von Endlichkeit und Unendlichkeit überwunden, und hier hat Einstein, der eine neue Art von Endlichkeit hder Welti [formulierte] ! konzipierte, angeknüpft, als er die Zeit als vierte Dimension des Raums [fasste] ! definierte und damit den Betrachter gleichsam in eine objektive Weltformel einbaute. Das Absolute aber, dem das aristotelische und nach ihm das scholastische Denken einen Platz in den obersten hFixstern-iSphären einräumen zu können wähnte, ist zwar in der Konsequenz der kopernikanischen Entdeckung daraus verbannt worden, jedoch nur in dem Sinn, dass jeder Versuch es zu lokalisieren absurd wird. Man kann, wie Bruno, es als den ganzen Weltraum und uns selber durchwirkend denken; man kann aber auch, wie Spinoza, weiter gehen und den Raum überhaupt ebenso wie den Geist überhaupt, Ausdehnung und Denken, nur noch als zwei aus der unendlichen Zahl seiner Attribute verstehen und so den Begriff der Unendlichkeit in einer ganz anderen [Tiefe, in der Tiefe der Ewigkeit verankern] ! Tiefe verankern, die er in der Kabbala hat. Dies ist das »grandissimo rivolgimento nella metafisica«, zu dem Kopernikus den Anstoss gab, dies die »Grossheit der Gesinnungen«, zu der seine Entdeckung »berechtigte und aufforderte«. Wir aber, die wir in diesen Tagen, da der in die Irre gegangene Mensch das Werk des Geistes mit Vernichtung bedroht, Kopernikus feiern X den Geist, der der Vernichtung siegreich widerstrebt. Wir sehen gelassen und gläubig wie er zu den Bahnen der Sterne empor und [schwören uns] ! geloben, nach der gemeinsamen Rettung gemeinsam den Grund zu einer Ordnung des Menschenlebens zu legen, die der Ordnung der Sternenbahnen nicht unwürdig ist, und an der das befreite Volk des Kopernikus’ und das befreite Volk Spinozas und Einsteins zusammenwirken, an der aber auch die zur Einsicht wiedergekehrten Völker Kants und Goethes, Brunos, Galileis und Leopardis den ihnen zukommenden tätigen Anteil erhalten werden. Im Textstück von h1 ist am Ende des ersten Absatzes, der dem von H2 entspricht, ein zusätzlicher Abschnitt enthalten: Kopernikus selber hat die eigene Arbeit als Philosophie verstanden. Der Schülerbericht, der vor dem Werk erschien und unter der Anleitung des Meisters niedergeschrieben worden war, trägt das Motto: δεῖ ἐλευθέριον εἶναι τῇ γνὼμη τὸν μέλλοντα φιλοσοφεῖν, womit eine doppelte Freiheit, die von der Autorität des Aristoteles und die von der [religiösen] ! kirchlichen Tradition gemeint ist.
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Wort- und Sacherläuterungen: 211,5-8 Leopardis wunderbarem Dialog »Kopernikus« […] auf sich zu nehmen] Der ital. Dichter Giacomo Leopardi (1798-1837) widmete sich zwischen 1823 und 1828 vornehmlich einer Reihe von – oft ironisch gestimmten – Dialogen und fiktiven Essays, die eine Vielzahl von Themen variieren: den Vergleich der tugendhaften alten Zeiten mit der als dekadent betrachteten Gegenwart, das Verhältnis von Menschheitsgeschichte und Natur, die Illusion des immer vergeblichen Glücks, was mitunter erste Anklänge an den Nihilismus Nietzsches bemerklich werden lässt. Im Ton dichterischer Ironie verflüchtigt sich alle Substanz und lässt den Dichter selbst illusionslos im verzweifelten Ennui zurück. Die Arbeiten wurden schließlich gesammelt unter dem Titel Operette morali (»Kleine moralische Schriften«) von Leopardi herausgegeben. Neben dem besagten Gespräch zwischen Kopernikus und der Sonne enthält die Sammlung fiktive Dialoge zwischen u. a. Torquato Tasso (1544-1595) und dem Genius seiner Familie, Plotin und Porphyrus, aber auch zwischen mythischen und allegorischen Figuren. 211,20-21 Galilei] Dem italienischen Naturforscher Galileo Galilei (1564-1642) gelang es, dank empirischer Beobachtungen und der Einführung neuer Prinzipien, die heliozentrische Theorie des Kopernikus wissenschaftlich umfassend zu begründen. Durch Galileis Arbeiten wurde ersichtlich, dass diese also nicht lediglich ein ontologisch neutrales theoretisches Modell darstelle, sondern wirklich eine objektive Struktur des Sonnensystems erfasse. Naturphilosophisch wurde der scholastische Aristotelismus in der Grundlegung der mechanischen Physik durch Galilei prinzipiell außer Kraft gesetzt. Dieser Anspruch eines wissenschaftlich begründeten Weltbildes führte eigentlich zur Kollision mit der Kirche. 211,25 Kepler] Vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 178,15. 211,26 »Kopernikus’ Schicksal […] Verachtung.«] Galileo Galilei schreibt in einem Brief an Kepler vom 4. August 1597: »Viele Begründungen und auch Widerlegungen gegenteiliger Gründe verfaßte ich, was ich jedoch bisher nicht zu veröffentlichen wagte, abgeschreckt durch das Schicksal unseres Lehrers Kopernikus. Dieser verschaffte sich freilich bei einigen unsterblichen Ruhm, von unendlich vielen aber (so groß ist nämlich die Zahl der Toren) wurde er verlacht und ausgepfiffen. Ich würde jedenfalls wagen, meine Überlegungen an die Öffentlichkeit zu bringen, wenn es mehrere von Eurer Art gäbe.« (Galileo Galilei, Schriften, Briefe, Dokumente, hrsg. von Anna Mudry, Bd. 2, München 1987, S. 9.) Das heliozentrische
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Weltbild, das Kopernikus vorschlug, wurde von den Zeitgenossen zwar nicht als Ketzerei betrachtet, aber als ein unglaubwürdiges Konstrukt – mit Ausnahme einzelner Gelehrter – von Vertretern aller Konfessionen mit Spott und Häme abgelehnt. 211,31-32 bestieg […] Giordano Bruno, den Scheiterhaufen] Der ital. Philosoph Giordano Bruno (1548-1600) wurde auf Urteil der Inquisition hin in Rom verbrannt. Erst im Jahr 2000 wurde das Urteil vom Vatikan als Unrecht gewertet und wiederrufen. Ursprünglich Mitglied des Dominikanerordens in Neapel und geweihter Priester, geriet Bruno durch seine Studien und Thesen in immer größeren Konflikt mit der Kirche und begann nach seiner Flucht aus Neapel 1576 ein unstetes, durch Kollisionen mit den jeweiligen geistlichen Autoritäten – Protestanten und Katholiken gleichermaßen – geprägtes Wanderleben, das ihn über die calvinistische Schweiz und Paris nach England, später Deutschland und schließlich wieder zurück nach Italien führte, wo er auf Grund seiner inzwischen zahlreich veröffentlichten Schriften verhaftet und nach einem sich über sieben Jahre hinziehenden Prozess verurteilt wurde. Weniger war es die Verfechtung eines heliozentrischen Weltbildes, als die Lehre, die Sterne seien selbst eigene Sonnensysteme mit intelligenten Bewohnern, das All unermesslich und seit Ewigkeit ins Unendliche ausgedehnt, damit Vorstellungen des Jüngsten Gerichts und die mit Jesus verknüpfte Heilsgeschichte sinnlos, was zum Schuldspruch todeswürdiger Ketzerei führte. 211,36-212,10 Goethe schrieb […] aufforderte.«] Goethe, Zur Farbenlehre, in: WA II.3, S. 213 f. 212,25-27 verglich Kant seine Vorstellung […] mit der Vorstellung Kopernikus’] Kant zieht einen solchen Vergleich in einer Anmerkung der Vorrede zur 1787 erschienenen zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft. Dort heißt es: »Ich stelle in dieser Vorrede die in der Kritik vorgetragene, jener Hypothese [des Kopernikus] analogische, Umänderung der Denkart auch nur als Hypothese auf, ob sie gleich in der Abhandlung selbst aus der Beschaffenheit unserer Vorstellungen von Raum und Zeit und den Elementarbegriffen des Verstandes, nicht hypothetisch, sondern apodiktisch bewiesen wird, um nur die ersten Versuche einer solchen Umänderung, welche allemal hypothetisch sind, bemerklich zu machen.« Immanuel Kant, Vorrede zur Zweiten Auflage, in: Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke, Bd. 2, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1956, S. 28. 212,32 während weder Kepler […] so auslegten] Tatsächlich entwarf allein Giordano Bruno, vor allem in seiner 1584 in England veröffentlichten Schrift De l’Infinito, Universo e Mondi (dt. »Über die Unend-
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lichkeit, das Universum und die Welten«), explizit die Lehre eines unendlichen Universums, während etwa Kopernikus selbst noch von einer Sphärenordnung des durch eine unbewegte Fixsternsphäre geschlossenen endlichen Sonnensystems ausging. 212,33-34 Letzterer sagt allein […] wissen wird] Nicht nachgewiesen. 213,4 Pascal […] »die ewige Stille dieser unendlichen Räume« erschreckte] Blaise Pascal, Pensées, Fragment 206, Edition Brunschvicg, 3 Bde., Paris 1904, Bd. II, S. 127. 213,7-8 überwand Kant die Antinomie zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit] Im Kapitel »Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe« der Kritik der reinen Vernunft postuliert Kant, das menschliche Denken gerate mit Notwendigkeit auf antinomische Theoreme, so etwa auf die Antinomie der Endlichkeit und der Unendlichkeit von Zeit und Raum, der gemäß beides sowohl postuliert wie negiert werden müsse. 213,9-10 Einsteins Ausgangspunkt […] Welt definierte] Einsteins Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorien behandeln mathematisch die Zeit zusätzlich zu den klassischen drei Raumdimensionen als vierte Dimension einer sogenannten Riemannschen Mannigfaltigkeit, die hier physikalisch eine Raumzeit beschreibt. 213,19-21 mit Spinoza […] Ausbreitung und Denken] Gemäß der Lehre Spinozas offenbart sich die absolute Substanz Gottes dem menschlichen Subjekt lediglich in zwei Attributen: der räumlichen Ausdehnung, der res extensa, und dem Denken, der res cogitans. Gott geht demnach nicht etwa pantheistisch in diesen Attributen, am wenigsten in der Natur selbst auf; auch wenn er sich in ihnen in Aspekten zeigt, bleibt er doch selbst pan-entheistisch ihnen enthoben. Ausgehend von seiner rationalistischen Philosophie entwickelte Spinoza die erste historisch-kritische Bibelanalyse. 213,23 aus der Kabbala bekannten Tiefenebene] Anspielung auf das kabbalistische Konzept Gottes als des unbestimmten Urgrunds, des En Sof (hebr.: »Es hat kein Ende«), auf das sich implizit bezogen zu haben Buber mithin Spinoza zuschreibt.
Zu Bergsons Begriff der Intuition Bubers Besinnung über das Denken Henri Bergsons wurde als Vorwort einer hebräischen Ausgabe der Schriften Bergsons 1943 veröffentlicht und erschien 1953, allerdings nur den Schlussabschnitt umfassend, in deutscher Übersetzung in Hinweise. Der Text enthält sowohl eine An-
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erkennung dessen, was Bergson mit dem Begriff der Intuition für die neuere Philosophie zu leisten versuchte, nämlich eine vitale Verbindung mit dem Sein zu stiften, als auch eine Einschränkung der dabei beanspruchten absoluten Erkenntnis. Mit Bubers kritischer Thematisierung der Rolle der Intuition bei Bergson ist eine Auseinandersetzung mit dessen Auffassung des Verhältnisses zwischen der Philosophie und der Kunst verbunden. Die Gedanken, die Buber hier zur Schau des Künstlers im Unterschied zur von Bergson behaupteten Tragweite der philosophischen Schau vorbringt, sind für sein eigenes Denken über das Verhältnis der Kunst zum Sein von großer Bedeutung. Im zwölf Jahre später veröffentlichten Aufsatz »Der Mensch und sein Gebild« wird Buber der Wahrnehmung als »Wahrnahme« eine Rolle zuschreiben, die er ihr hier in deren Konzeption durch Bergson verwehrt. Es ist für Bubers Denken eminent wichtig, die Differenzierung im Verhältnis der Wahrnehmung zum Sein vorzunehmen, deren Anlass die Bestimmung der Wahrnehmung durch Bergson bildet, weil beide Denker in ihrer Philosophie eine Rückkehr zur Konkretion des menschlichen Lebens beanspruchen. Im Denken Bergsons kommt der Intuition die entscheidende Funktion zu, diese Bewegung jenseits der Symbole, der abstrakten Begriffe traditionellen philosophischen Denkens, in die Konkretion des Lebens hinein zu vollziehen. Buber thematisiert kritisch Bergsons Anspruch, durch eine »absolute Erkenntnis« die ursprüngliche Einheit des Geists, die der Betrachter durch die Versenkung in den »unmittelbaren Ablauf des erlebten Geschehens« herausstellt, zu gewinnen. Die Aspekte dieses Anspruchs erörtert Buber mit Blick auf »[d]as Urproblem des Widerspruchs zwischen Sein und Erkennen« (vgl. in diesem Band, S. 215). Dieses Problem verdeutlicht er durch eine Besinnung auf das Verhältnis, das zwischen dem Menschen und seinem Mitmenschen besteht. Grenzt sich Buber von Bergsons Auffassung der Intuition ab, so betont er, dass die Intuition zwar eine Verbindung mit der Welt vollziehe, jedoch keine Einigung mit ihr ausmache. Die Schau könne nicht absolut sein. Eine ebenso wichtige Unterscheidung trifft Buber im Hinblick auf Bergsons Behauptung, die Intuition habe »ihre Wurzel in der Einheit des Lebens« und dass dieses »ein sich selbst erkennendes Ganzes« sei (ebd., S. 218). Buber hebt hier hervor, dass das Erkennen von der Individuation abhängig, von »Beschränktheit« und »Verschiedenheit« geprägt sei. Bergsons Anspruch, zu »einer absoluten Erkenntnis« zu gelangen, lehnt er dementsprechend ab. Im Folgenden wird die im MBA erhaltene fragmentarische Handschrift Bubers abgedruckt, die Teile eines Entwurfs der hebräischen Fas-
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sung des Vorwortes Bubers enthält. Daran anschließend wird eine Übersetzung dieses Vorwortes selbst wiedergegeben, da dieses von erheblich größerem Umfang ist. Textzeugen: h: unvollständige Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 58); 2 lose Blätter, zweiseitig beschrieben mit Tinte; undatiert; mit vielen Korrekturen versehen. Die Handschrift enthält drei nicht miteinander zusammenhängende Textstücke, deren erstes in die längere hebräische, nicht aber in die deutsche Fassung aufgenommen worden ist. Die beiden weiteren Textstücke haben weder in die deutsche, noch in die hebräische Fassung Eingang gefunden und brechen unvermittelt mit unbeendeten Sätzen ab. Alle drei Textstücke werden im Folgenden abgedruckt. D: Hinweise. Gesammelte Essays, Zürich: Manesse 1953, S. 220-228 (MBB 919). Druckvorlage: D Übersetzungen: Hebräisch: »Bergson we-ha-intuitzja«, [Vorwort], in: Henri Bergson, Energia ruchanit. Massot we-hartza’ot, Bd. 1, Tel Aviv: Li-gvulam unter Mitarbeit von Mossad Bialik 1944, S. [7]-21 (MBB 698); in: Pene adam. Bechinot be-anthropologia filosofit, Jerusalem: Mossad Bialik 1962 (MBB 1209). Englisch: »Bergson’s Concept of Intuition (1943)«, in: Pointing the Way. Collected Essays, übers. und hrsg. von Maurice Friedman, London: Routledge and Kegan Paul 1957, S. 81-87 (MBB 1045). Abdruck von h: Bergson und die Intuition
Wenn wir die Systeme der Philosophen historisch betrachten, scheiden sich alsbald zwei Arten von [Erkenntnissen] ! Gedanken voneinander: solche, mit denen der Denker [an das gedankliche Suchen und Streben seiner Zeit anknüpft] ! das Suchen und Streben seiner Zeit vorwärtstreibt, und an die wieder das [nachfolgende] ! künftige Philosophieren, sofern es sich mit den gleichen Problemen befasst, [anknüpfen muss, positiv oder kritisch] ! anknüpfen muss, und solche, mit denen er, wiewohl nicht X auf frühere Versuche zurückzugreifen, doch einen kühnen einmaligen Vorstoss, gleichsam ausserhalb der historischen Kontinuität,
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unternimmt. An diese zweite Art erfolgt kein Anschluss, man versucht nicht diese Gedanken fortzubilden, sie scheinen keine [geschichtliche] Konsequenzen zu haben; aber das menschliche Denken wird nie die Schritte des Geistes vergessen, die sich so weit vorgewagt haben, und wenn auch an ihnen kein Weg weiterführt, so werden sie doch im Gebiet der geistigen Tat, in dem man immer wieder neu beginnen muss, immer wieder aufrührend und zu neuen Fragestellungen anleitend wirken. Von der ersten Art ist Bergsons Gedanke der durée, der fliessenden, verlaufenden Zeit, wie sie unmittelbar von uns erlebt wird, [noch nicht gemessen und gegliedert, als wäre sie ein homogener Raum, sondern einheitlich scheinend und in unserem unmittelbaren Gedächtnis] ! noch nicht unseren Bedürfnissen gemäss [gemessen und gegliedert] ! rein qualitativ noch nicht unseren Bedürfnissen gemäss in Quantitatives umgearbeitet, noch nicht gemessen und eingeteilt, als wäre sie Raum und nicht Zeit, sondern einheitlich strömend und als solche Einheit sich in unserem unmittelbaren Gedächtnis darstellend. Von der zweiten Art ist seine Auffassung der Methode, mit der allein die durée erkannt werden könne: der Intuition. In einem Brief an den dänischen Philosophen Höffding, der sich mit Bergsons Lehre eingehend beschäftigt hat, schreibt er, man müsse sich, um seine Ideen richtig [zu erfassen und] darzustellen, von vornherein in das versetzen, »was ich als das Zentrum selber der Lehre ansehe: die Intuition der durée.« [Für Höffding] ! Der Hauptton liegt auf durée, nicht auf Intuition. Höffding erschien die Methode, die Intuition, wichtiger als ihr Gegenstand; Bergson wendet sich dagegen: die Theorie der Intuition sei ihm erst lange nach der Theorie der durée aufgegangen, sie leite sich von ihr ab und sei nur durch sie zu verstehen. Dass Bergson sich [, wie jeder echte Philosoph,] erst gründlich mit seinem Gegenstand abgab, ehe er sich der Methode der Erkenntnis dieses Gegenstands, wie sie ihm nunmehr erschien, zuwandte, entspricht dem Weg jedes echten Philosophen; dass für ihn das in der Genesis seiner Gedanken Erste auch als das systematisch primäre erschien, ist natürlich genug; dass er damit recht habe, ist anzuzweifeln. Der eigentliche Zugang zum Werk eines Denkens ist nicht der Inhalt, sondern die Art hund Methodei seines Denkens; und nichts ist geeigneter uns diese Art hund Methodei verstehen zu lassen, als zu erkennen, wie er sie selbst versteht, – wiewohl wir zuweilen nachzuprüfen genötigt sind, ob er sie richtig versteht: denn der Philosoph ist zwar schlechthin zuständig, wo es sich um seine Ideen selber handelt, nicht aber, wo es sich darum handelt, hwie man zu ihnen kommt, nicht einmali wie er zu ihnen kam. Ich will hier demgemäss von Bergsons Theorie der Intuition reden,
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nicht um seine Lehre darzustellen – die lernt man am besten nach und nach aus seinen Werken selber kennen –, sondern um in sie einzuführen, also um darauf hinzuweisen, was [zu wissen nützlich, ja notwendig] ! für den, der ihn zu lesen beginnt, nützlich [, ja notwendig ist] ! zu wissen ist, um das was er liest sogleich in den richtigen Zusammenhang einzustellen. 2
[Man hat] ! Es ist Bergson verschiedentlich vorgeworfen worden, sowohl von [gemässigt] ! wohlwollend kritischer Seite (Höffding) als von radikal ablehnender (Benda), der Begriff der Intuition sei bei ihm vieldeutig, da mehrere Bedeutungen des Begriffes nebeneinander zu finden seien. Bergson hat das nicht bestritten, aber er verwies darauf, dass man um heine Vorstellung voni etwas so Konkretem und den geläufigen Abstraktionen so Fernliegendem wie die Intuition hzu geben,i darauf angewiesen sei, es von verschiedenen Aspekten aus zu betrachten. Das ist gewiss richtig, aber wo es darum geht, eine M e t h o d e [deutlich zu machen] ! zu erklären, ist es eine unerlässliche Aufgabe, ihre verschiedenen Aspekte [zusammen], nachdem sie sichtbar geworden sind, zu einem unmissverständlichen Ganzen zusammenzuschliessen, was Bergson nicht getan hat. Dazu kommt, dass die verschiedenen Aspekte der Intuition, die er uns vorführt [Textverlust] Zweites Textstück von h [Textverlust] hingewiesen hat. Die Fähigkeit des Sehens kann nicht, wie Bergson meinte, »mit dem Akt des Wortes zusammenfallen.« Es gibt keine »Vision, die sich kaum von dem gesehenen Gegenstand unterscheidet.« Auch in der Rückwendung zum gelebten Leben ist keine absolute Erkenntnis zu finden, keine Philosophie daraus abzuleiten, »der man keine andere mehr entgegensetzen könnte«. Aber es gibt eine Intuition. Es gibt eine Schau, die in unseren wahrnehmenden Kräften ein Fünklein ebender natura naturans entzündet, die in den Dingen wirkt. Diese Schau ist nicht absolute Erfassung, aber auch nur-relative Perspektive ist sie nicht; was sie uns gibt, [darf man vielleicht ein adäquates Sinnbild] ! ist [nichts als] ! auch nur ein Bild, aber ein Bild, das das Licht selber, das Licht, das [in unseren wahrnehmenden Kräften] ! nun auch in uns Wohnung genommen hat, malt. Selber mit der Schau vertraut, wiewohl in ihrer Ausdeutung nicht ohne Irrtum, steht Bergson in der Reihe der Denker, die uns zu dieser Einsicht hingeführt haben. Von der Welt, in der statt der Zeit die Ewigkeit herrscht, sagt Plotin,
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alles sei dort durchsichtig und es gebe nichts Dunkles und Widerständiges, sondern jedes sei für jeden [offenbar] ! bis ins Innerste gänzlich offenbar. Bergson erwähnt hier und da die Ewigkeit, aber nie als Aufhebung der Zeit, die sie ist; wenn er von der Erkenntnis redet, meint er immer die Erkenntnis einer Welt, in der die Zeit herrscht. In dieser Welt ist nichts durchsichtig und keins dem andern bis ins Innerste gänzlich offenbar; wo immer wir ! [das wahrzunehmen] zu erkennen versuchen, tritt uns Dunkles und Widerständiges gegenüber. Aber wenn wir uns [, wie wir von Bergson hören,] in ein anderes hineinversetzen, [wenn wir das Lot unserer Schau in es] ! ohne uns selber zu verlassen, wenn wir das Lot unserer Wahrnehmung in jenes werfen, bis in jene Tiefe, wo seine eignen Antriebe entstehen [Abbruch des Textes] Drittes Teilstück von h Bergsons Auffassung des Verhältnisses [zwischen Instinkt und Intuition] ! zwischen Leben und Erkenntnis ist ein Irrtum, aber es ist ein sublimer Irrtum. Innerhalb der »Lebensphilosophie« unserer Zeit ist Bergson nicht bloss der bedeutendste Denker, er stellt auch den denkwürdigen Versuch dar, ihren relativistischen Charakter von innen aus zu überwinden. Im allgemeinen ist für die Lebensphilosophie und alles was mit ihr zusammenhängt die Wahrheit nichts als eine Funktion des Lebens [Abbruch des Textes] Übersetzung des zusätzlichen ersten Teils der hebräischen Fassung (erstellt von Karin Neuburger): Bergson und die Intuition von M. Buber
Betrachten wir die Vorgehensweisen von Philosophen unter historischem Gesichtspunkt, so scheiden sich vor unseren Augen unverzüglich zwei Denkarten voneinander: jene, mittels derer ein Denker die Nachforschungen und Bestrebungen seiner Generation vorwärtsbringt und an die künftiges Philosophieren, sofern es sich mit denselben Problemen auseinandersetzt, anzuknüpfen hat, und jene, mittels derer ein Denker, wenngleich nicht ohne an vorhergehende Versuche zu rühren, einen einmaligen, gewagten Durchbruch, sozusagen außerhalb des historischen Kontinuums, vollzieht. Dieser Art gesellt man sich nicht zu; man versucht nicht, diese Ideen weiterzuentwickeln, und scheinbar zeitigen sie
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keine Ergebnisse; allerdings wird das menschliche Denken niemals die Schritte des Geistes vergessen, die es wagten, so weit voranzugehen, und führt von ihnen aus auch kein Weg weiter, so werden sie doch im Bereich des geistigen Geschehens, das wir immer wieder neu anzugehen haben, wirken und wiederholt dazu beitragen, den Gärungsprozess anzuregen und neuen Fragen den Boden zu bereiten. Von der ersten Art ist Bergsons Idee der Dauer [Anm: durée.], die Idee von der fließenden, dahinrollenden Zeit, wie sie in unserem unmittelbaren Erleben obwaltet, die qualitative Zeit allein, die noch nicht unseren Bedürfnissen gemäß ins Quantitative umgestaltet, noch nicht gemessen und noch nicht unterteilt worden ist, als wäre sie Raum und nicht Zeit, sondern in einheitlichem Fluß dahinfließt und sich der Einheit, die in unserem unmittelbaren Gedächtnis besteht, vergleichbar darstellt. Von der zweiten Art ist seine Vorstellung von der Methode, mittels derer allein die Dauer zu begreifen ist: die Intuition. In seinem Brief an den dänischen Philosophen Høffding, der sich eingehend mit der Lehre Bergsons befasst hat, schreibt er, dass man, will man seine Ideen richtig beschreiben, sich von vornherein darein zu begeben hat, »was ich als den wahren Kern dieser Lehre betrachte: die Intuition der Dauer«. Die maßgebliche Betonung liegt hier auf dem Wort »Dauer« und nicht auf dem Wort »Intuition«. Høffdings Ansicht nach war die Methode, die Intuition, wichtiger als ihr Gegenstand; Bergson stellt sich dieser Meinung entgegen: die Theorie der Intuition ist ihm lange Zeit nach der Theorie der Dauer in den Sinn gekommen und man kann jene allein auf dem Hintergrund dieser und nach deren Maßgabe verstehen. Die Tatsache, dass sich Bergson zuerst grundlegend mit seinem Gegenstand auseinandersetzte und sich erst in der Folge der Erkenntnismethode in Bezug auf diesen Gegenstand – so, wie sie sich ihm nun darstellte – zuwandte, entspricht dem Weg eines jeden wahrhaften Philosophen; es ist durchaus natürlich, dass ihm die in der Geschichte der Entwicklung seiner Gedanken am Anfang stehende Angelegenheit auch als das unter methodischem Gesichtspunkt Primäre erschien; doch ist zu bezweifeln, dass er in dieser Sache recht hatte. Den eigentlichen Zugang zum Werk eines Denkers bietet nicht der Inhalt, sondern die Vorgehensweise bzw. Methode seines Denkens; und nichts ist geeigneter, uns diese Vorgehensweise bzw. Methode verständlich zu machen, als die Kenntnis davon, wie er sie selbst versteht, – auch wenn wir zeitweise gezwungen sind, zu prüfen, ob er sie recht versteht: denn der Philosoph ist zwar ganz und gar kompetent, wenn es um seine Ideen als solche geht, nicht aber, wenn es darum geht, wie man zu ihnen kommt, und auch nicht, wenn es darum geht, wie er zu ihnen kam.
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Aus diesem Grund werde ich hier über Bergsons Theorie der Intuition sprechen, nicht mit der Absicht, seine Lehre vorzutragen – diese lernt man am besten Schritt für Schritt aus seinen Büchern selbst –, sondern um zu seinen Büchern hinzuführen, um das zu lehren, was jenem zu wissen zweckmäßig ist, der darangeht, ihn zu lesen, auf dass er das, was er liest, sofort richtig in Beziehung zu setzen vermag. * Gegen Bergson wurde sowohl von wohlwollend kritischer Seite (Høffding) als auch von extrem ablehnender Warte (Benda) aus argumentiert, sein Begriff der Intuition sei mehrdeutig, verschiedene Bedeutungen dieses Begriffes stünden nebeneinander. Bergson hat dies nicht bestritten, wies aber darauf hin, dass man, wolle man eine manifeste und zugleich gängigen Abstraktionen entzogene Sache wie die Intuition bildhaft darstellen, diese unter verschiedenen Aspekten zu betrachten habe. Das stimmt sicherlich, geht es jedoch darum, eine M e t h o d e zu erklären, so ist es eine notwendige Aufgabe, die unterschiedlichen Aspekte derselben, nachdem sie wahrnehmbar geworden sind, in einem allgemeingültigen Begriff, in dem man sich nicht irren darf, zusammenzufassen – was Bergson nicht gemacht hat. Und mehr noch: die unterschiedlichen Aspekte der Intuition, die er uns vermittelt, sind in seinem Gesamtwerk keineswegs so dargeboten, dass sie sich in deutlicher Weise gegenseitig ergänzen würden, sondern laufen zum Teil parallel zu diversen Phasen einer inneren Entwicklung. Auch lehrt uns kein anderer Begriff wie dieser, das Denken Bergsons in seiner Entwicklung zu verstehen. Demgemäß werde ich versuchen, den Weg zu skizzieren, den er bei seiner Betrachtung der »Intuition« ging. In seinem ersten theoretischen Buch, im »Versuch über die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins« (1889) [Essay sur les données immédiates de la conscience, Paris 1889], ist Bergsons Gebrauch des Begriffs der Intuition noch inkonsistent und wir hören gar von der »Intuition eines homogenen Raumes«; in Bergsons späterem Denken dagegen sind der Raum und alles Homogene überhaupt durch die den Zielen der Nützlichkeit gehorchende Verarbeitung der unmittelbaren Erfahrung bedingt, während die Intuition im Gegensatz dazu ihrem Wesen nach allein dem Heterogenen, der ursprünglichen, in keinem Verhältnis zu Zahl und Raum stehenden Verschiedenheit zugewandt ist. Was Bergson später mit Intuition schlechthin meint, nennt er hier »unmittelbare Intuition«. Er unterscheidet zwischen zwei Arten der Erkenntnis, der »unmittelbaren Intuition« und dem »analytischen Verstand«. In der konkreten Wirklich-
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keit bilden sie eine Einheit – auch in diesem Punkt im Unterschied zu Bergsons späten Werken, in denen Isolation und Aufwertung der Intuition nicht nur von höchster Bedeutung, sondern auch möglich erscheinen –; der Philosoph aber muss sie streng voneinander trennen. »Die unmittelbare Intuition« bezieht sich auf jene unter unseren Bewusstseinszuständen, die aufeinander folgen, »wenn unser Ich sich die Freiheit nimmt, zu leben«, d. h. wenn wir Vergangenheit und Gegenwart nicht voneinander trennen, sondern den Fluss des inneren Geschehens ununterbrochen dahinfließen lassen; wenn wir die Zeit nicht auf den Raum projizieren, der sich unserem Belieben nach aufteilen lässt, wenn wir die Zeit nicht als Ding betrachten, das sich wie jener aufteilen lässt; wenn wir »die Dauer nicht in der Sprache der Ausdehnung zum Ausdruck bringen«, sondern schadlos ihrem Flug überlassen. Es gibt sozusagen zwei verschiedene »Ich«, eines ist tief, ursprünglich, sein Sein befindet sich im freien Fluss der Dauer, in deren sich fortbewegender Verschiedenheit, und eines, das in einer gewissen zielgerichteten Arbeit des Verstandes verankert und in die vom Verstand produzierte Welt der Quantitäten involviert ist, ein »Ich«, das sich als Objektivation des Ersteren bezeichnen lässt, als dessen räumlichen und gesellschaftlichen Repräsentant sozusagen, denn allein dieses Ich gehört dem Band gesellschaftlichen Lebens an, wurde es doch den Bedürfnissen und Erfordernissen desselben nach gestaltet. »Die unmittelbare Intuition« wendet sich an das erste, das ursprüngliche Ich. Sie erreicht es, indem sie unsere inneren Zustände »wie in ununterbrochener Umbildung begriffene lebende Wesen« erfasst, »wie Zustände, die aller Messung spotten, die sich gegenseitig durchdringen.« Dabei tauscht sie einen klar umrissenen, präzisen, doch unpersönlichen Aspekt unserer Perzeptionen, Emotionen und Vorstellungen gegen einen »verworrenen und unendlich beweglichen« Aspekt aus, in dem allerdings unsere wahre, elementare, freie Persönlichkeit zur Darstellung kommt. Die Augenblicke, in denen wir uns sozusagen wieder selbst erfassen, sind selten und was sie uns wahrzunehmen erlauben, kann nicht zum Ausdruck gebracht werden, denn unsere aufgrund der Erfordernisse unseres anderen Ichs erzeugte Sprache fixiert das Bewegliche notwendigerweise; gelänge es unserer intuitiven Aufmerksamkeit jedoch, die wirkliche, ungeteilte Dauer zu erfassen, erlangten wir absolutes Wissen unserer selbst. Die unmittelbare Intuition ist ihrem Wesen nach a b s o l u t e Erkenntnis unseres Selbst, das heißt kraft ihrer ist das Ich so zu erkennen, wie es ist. Bergsons Ausgangspunkt ist das Verhältnis der Erkenntnis der menschlichen Persönlichkeit zu ihrem elementaren Wesen, zu ihrem Dasein, wie sie sich in der vom Verstand noch nicht bearbeiteten Unmittelbarkeit ihres inneren Lebens offenbart. In
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seinen späten Überlegungen zur Intuition tritt dieser personalistische Ausgangspunkt zurück, doch bleibt seine richtungsweisende Kraft bis zum Schluss erhalten. In Bergsons zweitem Buch, »Materie und Gedächtnis« (1896) [Matière et Mémoire], wird der Begriff der Intuition unter dem Einfluss umfassender psychologischer und psychopathologischer Untersuchungen inhaltlich genauer gefasst und auch seine Problematik deutlicher zur Darstellung gebracht. Auch hier spricht Bergson noch von »unmittelbarer Intuition«, doch billigt er neben ihr keine andere Form der Intuition. Noch genauer als zu Beginn wird hier ausgesagt, nur ihr allein sei die Wirklichkeit gegeben, während das, was wir Tatsache zu nennen gewohnt sind, nichts anderes als eine Anpassung des Wirklichen an praktische Interessen und Erfordernisse des gesellschaftlichen Lebens darstelle. Um in gegebener gesellschaftlicher Umgebung handeln zu können, tauschen wir die wirkliche, »aus der unmittelbaren Berührung des Geistes mit seinem Gegenstand entstehende« Erfahrung, die »weder unterschiedene Wörter noch unabhängige Gegenstände« kennt, sondern ungeteilte Kontinuität ist, gegen eine integrale Erfahrung aus, die um der größeren Einfachheit des Handelns und Sprechens willen erstellt wird, gerade deswegen aber beeinträchtigt ist. Unsere Erkenntnis der Dinge ist nicht, wie Kant meint, durch die Struktur unseres Geistes bedingt, sondern durch die sich aufgrund unserer Bedürfnisse herausbildenden Gewohnheiten unseres Denkens. Um intuitiv zu erkennen, müssen wir diese Gewohnheit überwinden, uns von dem zweckorientierten Ziel befreien und die Erfahrung an ihrer noch ungetrübten Quelle suchen, bis an jenen Ort vorstoßen, an dem wir uns nicht mehr selbst tun s e h e n , sondern tun. Damit hört die Erkenntnis auf, relativ zu sein; denn, indem wir wieder mit der Wirklichkeit in Berührung stehen, ist die urtümliche Reinheit der Intuition wiederhergestellt. Dies ist der erste Punkt, an dem uns eine Problematik der bergsonschen Erkenntnislehre ins Auge sticht. Geht es hauptsächlich darum, die Intuition in ihrer urtümlichen Reinheit zu erneuern, so bedeutet dies, dass bereits dort, »wo wir tun«, ohne auch schon die Wirklichkeit dieses Zustands erkennen zu wollen, nicht »nur Berührung«, sondern Intuition und daher eine gewisse Art der E r k e n n t n i s im Spiel ist, die wir nur »wiederzuherstellen« haben. Wir haben es hier nicht allein mit terminologischer Unklarheit zu tun, sondern mit einer grundlegenden metaphysischen Frage, mit der Frage nach dem Verhältnis von Sein und Erkenntnis. Den nächsten wichtigen Schritt vollzieht Bergson in seiner »Introduction à la métaphysique« (1903). Die der Intuition gegenüberstehende Erkenntnisweise wird hier Analyse genannt. Sie ist zu nichts Anderem in
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der Lage, als ihren Gegenstand auf die ihm und anderen Gegenständen gemeinsamen Grundlagen hin zu untersuchen: was an einem Ding besonders, was an ihm »einzigartig« ist, ist allein der Intuition zugänglich. Die Intuition ist »geistige Sympathie«, kraft derer wir uns in ein gewisses Ding hineinversetzen und auf diese Weise das Besondere an ihm erfassen können. Damit wächst das Ausmaß der Intuition in einer Weise an, die Aufmerksamkeit verdient. Zwar war schon in »Materie und Gedächtnis« vage von »innerer und äußerer Intuition« die Rede, allerdings ohne dass diese Unterscheidung begründet und interpretiert worden wäre; immer wenn in Bergsons ersten Büchern die Wirkungsweise der Intuition beschrieben wird, ist eine besondere Art der Bezugnahme des Denkers auf seine inneren Zustände, eine innige Anschauung seiner selbst, gemeint. Dagegen wird uns nun gesagt, die Intuition sei nicht nur Selbstbetrachtung, sondern etwas viel Umfassenderes. »Philosophieren besteht darin, sich durch eine Aufbietung der Intuition in das Objekt selbst zu versetzen«; das heißt, nachdem wir alle Beobachtungen, die uns durch äußerliche Betrachtung und Überlegung vermittelt wurden, gesammelt haben, begeben wir uns mit einem Schlag in den Kern des Gegenstands; demnach ist dieser Gegenstand dem Philosophen auch anhand der ganzen äußeren Wirklichkeit gegeben. Denn: »Es gibt eine äußere und dennoch unserem Geist unmittelbar gegebene Realität«; sie ist Beweglichkeit oder Strebung, sie ist die ständige Veränderung, das unablässige Werden, und unser Eindringen in unsere eigene Dauer führt uns zu ihr hin, bringt uns in Berührung mit einem ganzen Kontinuum von Dauerhaftigkeiten, so wie die intuitive Auffassung einer Farbe uns das ganze Spektrum erahnen lässt. Wir können uns »durch eine mehr oder weniger kühne Anstrengung« über uns hinaus ausdehnen und uns in das hineinversetzen, was von uns verschieden ist. Und erst nach der Intuition ist Raum für Analyse, zu der man ausgehend von der Intuition – und nicht umgekehrt – übergehen kann. Wie wir sehen, unternimmt Bergson hier den Versuch, die Bestimmung des Wesens der Intuition und der intuitiven Philosophie – im Sinne der »so sehr ersehnten Vereinigung der Metaphysik und der Wissenschaft« – nicht allein aufgrund der Selbsterkenntnis zu entwickeln. Allerdings übersieht er dabei eine Sache von grundlegender Bedeutung: heißt doch sich selbst in einen anderen Menschen hineinzuversetzen etwas völlig anderes als sich selbst in die eigene Dauer hineinzuversetzen. Erlebe ich ein Geschehen, an dem ich und ein anderer Mensch teilnehmen, auch von dessen Warte aus, fühle ich von innen, wie er es erlebt und wie er darauf reagiert, so handelt es sich hier nicht nur um etwas, das sich von einer Schlussfolgerung (die in vieler Augen zur Erklärung dient) unterscheidet, sondern auch um etwas, das von nichts weiter entfernt ist, als von einer
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Ausdehnung über einen selbst hinaus: das »Du« ist in ursprünglichem Sinne wirklich und ohne Wissen darum ist jede Intuition Flickwerk. Das nächste in der Reihe der Bücher Bergsons ist sein bekanntestes Buch »L’évolution créatrice« (1907). Ähnlich wie sich der Begriff im Übergang vom »Essay« zu »Materie und Gedächtnis« unter dem Einfluss psychologischer Untersuchungen entwickelte, entwickelte er sich nun erneut unter dem Einfluss biologischer Untersuchungen. Die entscheidende Erweiterung geschieht hier mit der Einführung des Instinkts. Vom Entwurf zweier Arten philosophischer Erkenntnis dringt Bergson nun zum Entwurf zweier elementarer Funktionen des auf Erkenntnis beruhenden Lebens überhaupt vor. Das Leben richtete seine Aufmerksamkeit auf seine eigene Bewegung oder auf die von ihm in sich aufgenommene Materie. In erstgenannte Richtung wirkte eine Art Ur-Intuition, die sich jedoch aufgrund der Unterschiedlichkeit von Geschöpfen und deren Lebensbedingungen auf einen winzigen Lebensbereich beschränkte und zum Instinkt zusammenzog. Und demgegenüber die Funktion des Bewusstseins, das zunächst im Wesentlichen der Materie zugewandt ist, des Verstandes also, der in seinem urtümlichen Zustand allein das klar vorstellen kann, was nicht kontinuierlich und unbewegt ist, des Verstandes, der durch »natürliches Unverständnis des Lebens«, mechanische Behandlung aller Dinge, gekennzeichnet ist – diese Funktion kann trotz allem die Barriere durchbrechen, ihr Gebiet weiter und weiter ausdehnen, sich nach innen neigen und die Intuition erneut im außergewöhnlichen Bund mit dem Instinkt aus der Potenz in die Wirklichkeit überführen. »Es gibt Dinge«, sagt Bergson, »nach denen allein der Verstand zu suchen befugt ist, die er auf sich selbst gestellt niemals finden wird; allein der Instinkt wird sie finden, jedoch niemals nach ihnen suchen.« Man muss demnach das im Instinkt schlummernde Potenzial des Bewusstseins wecken, die in ihm befangene Intuition, die in dieser Vagheit eher ein gelebtes als ein vorgestelltes Ding ist, befreien. [Anm: plus vécue que représentée.] Der Instinkt ist »Sympathie«, d. h. natürliche Berührung mit anderen Gegenständen, mit denen der Träger des Instinkts in Verbindung steht, mit anderen Ausformungen des Lebens, unmittelbare Anschauung ihres Aufbaus und der Bedingungen ihres Seins, allerdings nur in der Ausrichtung auf nützliches Tun. Gelänge es uns, ihn auf die Stufe eines von Abwegigkeiten freien Erfassens und auf die Stufe des Selbstbewusstseins zu erheben, wäre ihm möglich, sich der Erkenntnis anstatt der Tat zuzuwenden, so verwandelte er sich in freie Intuition und führte uns in den innersten Kern des Lebens. Auf diese Weise wäre unser Bewusstsein in der Lage, vom Gemachten abzurücken und sich an das zu halten, was im Machen begriffen ist; kraft immer erneuter An-
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strengung, die Drehung um den Angelpunkt des Ichs zu vollziehen, hätten »Sehvermögen und Wollen vereint sein« können. Diese Verwandlung kann aber nur der Verstand bewirken, der seine Barriere durchbrechen und so ein Zusammenwirken, aktive gegenseitige Vervollkommnung, herbeiführen kann. In »einer vollendeten und höchst kultivierten Menschheit« wären diese beiden Formen von auf Erkenntnis beruhendem Tun, die Bergson andernorts im Gegensatz von »statischer« und »dynamischer« Form vorstellt, zu vollkommener Ausformung gelangt. Anders als in der Einleitung spricht Bergson hier nicht mehr von »in Wahrheit intuitiver Philosophie«, sondern von einer Philosophie, in der Intuition und Dialektik, intuitives und diskursives Denken einander abzuwechseln und vorwärts zu drängen vermögen; doch bleibt die Intuition in seinen Augen die höherstehende unter den beiden, garantiert sie doch nicht allein, wie die Dialektik, Übereinstimmung zwischen einem Philosophen und seinem Denken, sondern darüberhinaus Übereinstimmung unter verschiedenen Philosophen. In »L’évolution créatrice« finden wir in neuer, genauerer und weitergehender Formulierung die Idee Bergsons wieder, derzufolge Intuition absolute Selbsterkenntnis sei, die bis an den Punkt vordringe, an dem wir uns nicht mehr tun sehen, sondern tun. Das Sehvermögen muss mit dem Wollen Eins sein. An anderer Stelle geht Bergson noch einen Schritt weiter: in der Intuition, sagt er, »decken sich Erkenntnisakt und Wirklichkeit hervorbringende Handlung«. [Anm: acte générateur de la réalité.] Demnach handelt es sich nicht allein darum, dass sich das Bewusstsein ins Werden, das in Bergsons Augen das Sein selbst ist, versetzt, sondern darum, dass es sich mit ihm identifiziert. In dieser extremen Formulierung kam auch die von mir schon aufgezeigte und im weiteren noch zu besprechende Problematik klarer zum Ausdruck. Die von Bergson nach »L’évolution créatrice« verfassten Aufsätze fügen der Theorie der Intuition prinzipiell nicht Neues hinzu; wir finden keine Änderung mehr. Dennoch sind drei von diesen Aufsätzen für unser Verständnis dieser Theorie von Bedeutung: »Die philosophische Intuition« aus dem Jahre 1911, in dem es Bergson darum geht, das Element der Intuition in den Systemen der großen Denker hervorzuheben, »La perception du changement« aus demselben Jahr, in dem er sich kritisch mit seiner früheren Philosophie auseinandersetzt, und die Einleitung zu seinem letzten Buch »La pensée et le mouvant«, die elf Jahre nach den beiden erstgenannten Aufsätzen verfasst, aber erst nach zwölf weiteren Jahren veröffentlicht wurde, und in der er zusammenfasst und nochmals erläutert, was unter dem Begriff Intuition zu verstehen sei. In einem auf dem Philosophenkongress in Bologna gehaltenen Vor-
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trag über »Die philosophische Intuition« lehrt Bergson zweifelsohne mit Recht, jedes philosophische System habe seinen Grund in einer Erkenntnis, in einer Intuition, die an seiner Wurzel liege. Jeder Philosoph »hat nur einen Punkt gesehen«, d. h. eine Sache, die niemand so sah, wie er sie sah. »Das war alles«, fügt Bergson hinzu, »wobei es weniger Anschauung als Berührung war.« Dieser letzte Satz ist von besonderem Interesse, denn niemals zuvor ist Bergson jener Problematik nähergekommen als hier: wie wir noch sehen werden, darf hier in genauem Sinne wirklich nur von Berührung die Rede sein. Doch sieht Bergson davon ab, seine Betrachtung an dieser Stelle zu vertiefen. Weist Bergson hier auf das intuitive Element, das seiner und aller Philosophie innewohnt, hin, so setzt er sich in seinem Vorträgen über die »La perception du changement« gerade mit Bezug auf den Unterschied in der Auffassung des intuitiven Denkens von der vorherigen Philosophie ab. Sein Ausgangspunkt ist hier die Aufgabe der Philosophie, die darin liegt, dadurch, dass unser Bewusstsein von all dem, was von praktischem Interesse ist, abgewandt und all dem, was in keinster Weise von praktischem Nutzen ist, zugewandt wird, eine geeignetere und umfassendere Wahrnehmung der Wirklichkeit zu erlangen. Dies ist dem Anschein nach von jeher gemacht worden. Platon und die Platoniker waren der Überzeugung, der Philosoph müsse sich vom Leben zurückziehen und das Wesen der Dinge auf andere Weise als üblich in der Welt der Ideen, der Welt des reinen Seins, schauen. Dagegen argumentierte Kant, die »intellektuelle« oder »unmittelbare« Anschauung, in der die Wirklichkeit des Anschauungsgegenstandes gegeben sei, sei allein dem »ursprünglichen Gegenstand« zuzuschreiben, während wir nichts anderes zu erkennen in der Lage seien als das, was wir unseren Anschauungsformen und den Kategorien unseres Verstandes gemäss selbst gestaltet hätten. Und Bergson denkt im Gegensatz zu ihm, die Hauptsache bestehe allein darin, »uns, anstatt uns über unsere sinnliche Wahrnehmung der Dinge erheben zu wollen, in sie hineinzuversenken, um sie zu vertiefen und zu erweitern.« Auf diesem Weg wären wir bei einer Philosophie angelangt, die alles Gegebene umfasst. Und demgemäß besteht keinerlei Möglichkeit mehr, ihr irgendeine andere Philosophie entgegenzustellen; anstatt einander widersprechender Systeme mag nun eine einheitliche Lehre kommen, die nichts anderes erfordert, als durch gemeinsame und kontinuierliche Anstrengung der Philosophen fortlaufend verbessert zu werden. Denn – wie Bergson an anderer Stelle sagt – alle Philosophien, die die Bedeutung des Unmittelbaren herabmindern, bekämpfen sich notwendigerweise gegenseitig, da sie mehrere Ansichten des Unmittelbaren darstellen, die die Menschen annahmen, indem sie unterschied-
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liche Perspektiven einnahmen und unterschiedliche Kategorien auf das Unmittelbare anwandten. Jede dieser Philosophien erscheint, sobald wir die Perspektive einer anderen einnehmen, als Ursprung von Widersprüchen oder unlösbarer Schwierigkeiten. Der Rekurs auf das Unmittelbare dagegen beseitigt Widersprüche und Gegensätze, indem er das Problem behebt, um das der Kampf ausgetragen wird. In der Einleitung zu »La pensée et le mouvant« erzählt Bergson, er habe lange Zeit gezögert, den Terminus »Intuition« zu verwenden, denn dieser sei dazu angetan, Missverständnisse hervorzurufen. Er merkt an, dieser Begriff habe vor allem bei manchen Metaphysikern eine andere Bedeutung (hier führt er Beispiele aus der post-kantianischen Philosophie an, insbesondere der Schellings und Schopenhauers): bei ihnen sei Intuition geradewegs das Verlangen nach dem Ewigen, doch Intuition, die mit einem Sprung ins Ewige gelangen möchte, bleibt im Intellektuellen befangen, da sie alles an einem berechnenden Prinzip festmacht. Intuitive Metaphysik, die dieses Namens würdig ist, dagegen erfasst Bergsons Worten nach die unmittelbare Wirklichkeit, d. h. in erster Linie die innere Dauer. Intuition ist allererst direktes Bewusstsein, »ein Sehen, das kaum vom gesehenen Objekt unterschieden ist, Erkenntnis, die Berührung und sogar Übereinstimmung [Anm: coïncidence.] ist«, uns aber vom Selbstbewusstsein zum Bewusstsein im Allgemeinen führt. Ihr zentraler Bereich ist der Geist und es geht ihr darum die Dinge, auch die materiellen Dinge, unter dem Gesichtspunkt ihrer Teilhabe am Geistigen zu begreifen. »Sie sieht. Sie weiß, dass der Geist mehr aus sich hervorbringt, als er in sich hat, dass das Geistige gerade darin steckt und dass die vom Geist durchdrungene Wirklichkeit Schöpfung ist«. Bergson nähert sich hier Schelling an, von dem er sich so nachdrücklich absetzt; er kommt ihm sehr viel näher, als ihm lieb war, und war ihm schon am Ausgangspunkt seines Denkens – der absoluten Selbsterkenntnis – sehr viel näher, als ihm bewusst war. Im letzten seiner Hauptwerke, »Les deux sources de la morale et de la religion« (1932) finden wir den Begriff der Intuition nur beiläufig erwähnt, doch ist das Buch von ihm in seinem Innersten durchdrungen. Vehemenz und Problematik der Lehre von der Intuition wirken hier in großem Maße. Und das Buch endet mit der Vision einer möglichen Epoche, die sich unter der Voraussetzung, dass die Menschheit die richtige Entscheidung treffen wird, in der Zukunft einstellen wird, und in der »mystische Intuition« ins Leben entströmen und ihm helfen wird, Götter zu erschaffen. [Dem schließt sich der Textteil an, der von Buber auf Deutsch in »Hinweise« publiziert worden ist und in diesem Band im Haupttextteil zum Abdruck kommt.]
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Druckvorlage: D Wort- und Sacherläuterungen: Buber bezieht sich vor allem auf Ausführungen aus Bergsons Schrift L’évolution créatrice (1907). Da Buber seine Darstellung als eine engmaschige Kompilation von Anspielungen, indirekten Zitaten und eigenen freien Übersetzungen einzelner Stücke verfasst, wird im Folgenden auf den detaillierteren Nachweis der einzelnen Stellen bei Bergson verzichtet. 214,3-5 Descartes verstand […] zu erkennen] »Unter Intuition verstehe ich nicht das Vertrauen in die unbeständigen Sinne oder das trügerische Urteil einer schlecht zusammensetzenden Anschauung, sondern einen so einfachen und deutlichen Begriff des reinen und aufmerksamen Geistes, daß über das, was wir einsehen, schlichtweg kein Zweifel mehr übrigbleibt.« René Descartes, Regulae ad directionem ingenii. Cogitationes privatae. Lateinisch-Deutsch, übers. und hrsg. von Christian Wohlers, Hamburg 2011, S. 16-19 (Regula 3). 214,5-7 Spinoza hat das […] selber entsteht«.] »Klare Erkenntnis aber nennen wir das, was nicht durch vernunftgemäße Überzeugung, sondern durch ein Fühlen und Genießen der Sache selbst entsteht, und diese geht weit über die andren.« Baruch de Spinoza, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück, übers. von Wolfgang Bartuschat, in: ders., Werke in drei Bänden, Hamburg 2006, S. 60. 214,11-12 Intuition die Sympathie […] versetzt] »Wir bezeichnen hier als Intuition die Sympathie, durch die man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um mit dem, was er Einzigartiges und infolgedessen Unaussprechliches an sich hat, zu koinzidieren.« Henri Bergson, Einführung in die Metaphysik, in: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Hamburg 2008, S. 180-225, hier S. 183. 214,13-16 hatte insbesondere Goethe […] zu fühlen] Goethe bekundet dies in seiner autobiographischen Schrift Dichtung und Wahrheit anlässlich der Erinnerung, wie er, im Auftrag seines Vaters Handwerker aufsuchend, deren Tätigkeit studierte »[…] da es mir angeboren war, mich in die Zustände anderer zu finden, eine jede besondere Art des menschlichen Daseins zu fühlen und mit Gefallen daran Theil zu nehmen, so verbrachte ich manche vergnügliche Stunde durch Anlaß solcher Aufträge zu, lernte eines jeden Verfahrungsart kennen, und was die unerläßlichen Bedingungen dieser und jener Lebensweise für Freude, für Leid, Beschwerliches und Günstiges mit sich führen.« Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: WA I.26, S. 238.
[Rezension zu] Hugo Bergmann: Wissenschaft und Glaube
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214,16-19 beschreibt es Balzac […] Stelle zu setzen.«] Buber zitiert aus Honoré de Balzacs (1799-1850) Einleitung zu dessen Erzählung Facino Cane (1836). 214,24-25 wie Goethe es […] der Natur erklärt hat] Buber spielt auf das kurze Sinngedicht Goethes an, in dem es heißt: »Wär nicht das Auge sonnenhaft / Die Sonne könnt es nie erblicken; / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?« Johann Wolfgang Goethe, Zahme Xenien, in: WA I.3, S. 279. 214,30 Bergson will diese aufheben] Bubers Bemerkungen zu Bergson in diesem Abschnitt beziehen sich auf dessen L’évolution créatrice (1907), S. 124.
[Rezension zu] Hugo Bergmann: Wissenschaft und Glaube Die Rezension erschien 1946 in der neugegründeten Zeitschrift Jad laqore, die von der Kulturabteilung des israelischen Gewerkschaftsverbandes (Histadrut) herausgegeben wurde. Sie bezieht sich auf das 1945 erschiene Buch von Hugo Bergmann Mada we-emuna. schivʿ a prakim al zikatam hadadit [deutsch: »Wissenschaft und Glaube. Sieben Abschnitte über ihr wechselseitiges Verhältnis«]. Zur Person Bergmanns und dessen näherem Verhältnis zu Buber vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 779-783. Textzeugen: D: »Bergmann, Schmuel Hugo, Mada we-emuna«, in: Jad la-qore, 1. Jg., Heft 1-2, Mai/Juni 1946, S. 46-47 (MBB 753). Druckvorlage: Übersetzung von Karin Neuburger. Wort- und Sacherläuterungen: 219,3 diesem Büchlein] Hugo Bergmanns Arbeit war bereits 1945 auf Hebräisch in Tel Aviv erschienen. 219,23 Lev Schestov] Lev oder Léon Schestow (1866-1938), ursprünglich Lev Isaakovitsch Chvartsman, entwickelte eine Religionsphilosophie, die stark existentialistische Züge aufwies. 1921 emigrierte der in Kiew geborene Schestov nach Frankreich und unterrichtete bis zu seinem Tod an der Sorbonne. Buber war mit Schestow bekannt geworden und stand in brieflichem Austausch mit ihm. Vgl auch den letzten Text dieses Bandes »Über Leo Schestow« (S. 542), sowie den Kommentar, S. 856.
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Das Problem des Menschen Das Problem des Menschen, Bubers Grundlegung einer dialogischen Anthropologie, wurde erstmals 1942 in hebräischer Sprache unter dem Titel Be’ajat ha-adam. Ijunim be-toldoteha [Problem des Menschen. Geschichtliche Untersuchungen] veröffentlicht und erschien 1947 als deutscher Erstdruck zunächst in Dialogisches Leben – Gesammelte philosophische und pädagogische Schriften, Zürich: Georg Müller. Im selben Jahr wurde die englische Übersetzung seiner Schrift unter dem Titel What is Man? in: Between Man and Man (trans. by Ronald Gregor Smith, London: Routledge & K. Paul 1947) veröffentlicht. Die Buchausgabe von Das Problem des Menschen erschien im Jahr 1948 (Heidelberg: Lambert Schneider) als erste Nachkriegspublikation Martin Bubers in Deutschland. Der Text basiert auf Manuskripten der ersten Vorlesungsreihe, die Buber nach seiner Emigration nach Palästina als Professor für Sozialphilosophie an der Hebräischen Universität Jerusalem im Sommersemester 1938 gehalten hat. Angesichts der neuen Herausforderungen, die auf ihn zukommen würden, war Buber, wie er noch kurz vor seiner Ausreise in einem Brief Salman Schocken (1877-1956) anvertraut, »recht wendemäßig zumut«, »eine Selbstsicherheit habe ich nicht« (B II, S. 659). Der Briefwechsel aus dieser Phase des privaten und akademischen Neuanfangs dokumentiert, dass Buber durch Persönliches und Sachliches noch mehr als sonst beansprucht war, dazu kam, dass seine »Vorlesungsarbeit« »durch die sprachliche und sonstige Umstellung« erschwert wurde (B III, S. 13). Buber, der mit dem biblischen und rabbinischen Hebräisch vertraut war, konnte sich nur langsam an das modern gesprochene Hebräisch gewöhnen. Ein prinzipielles »DrübenProblem« sah der künftige Hochschullehrer, der zutiefst in der deutschen »Sprachdimension« verwurzelt war, vor allem in der »Hebraizität meiner Vorlesungen«. Da Buber nicht willens war, zugunsten einer »spezifisch kultivierten« hebräischen »Ausdrucksweise« seinen »Stil ändern [zu] müssen«, benötigte er einen »Sprachkenner«, der das schwierige Unterfangen fertigbringen musste, »meine schlecht gebauten Sätze einzurenken, meine Wortwahlfehlgriffe zu berichtigen usw.«, ohne dabei gleichzeitig seine sprachlichen Eigenarten zu schleifen (B II, S. 647). Buber verfasste seine Vorlesungsmanuskripte daher zunächst in deutscher Sprache und übertrug diese mit der Unterstützung des Hebraisten Fritz Aronstein (1912-1952) ins Hebräische. Als der neuberufene Lehrstuhlinhaber für Sozialphilosophie am 25. April 1938 seine Antrittsvorlesung zum Thema »Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit« (dt. Erstdruck: Berlin: Scho-
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cken 1938; außerdem abgedruckt in: Hinweise. Gesammelte Essays, Zürich: Manesse 1953; jetzt in: MBW 11) hielt, machte Buber sein individuelles Verständnis der philosophischen Grundlagen der Soziologie deutlich und legte damit gleichzeitig das Fundament, auf dem seine nachfolgenden Vorlesungen aufgebaut waren. Bereits hier kündigt er eine philosophische Umwertung des traditionellen Selbstverständnisses, »eine neue Gestalt« der Sozialwissenschaften an. »Der soziale Denker ist kein Prophet, sondern ein Philosoph. Er hat keine Botschaft, sondern eine Lehre. […] Das menschliche Wissen von der Gesellschaft muß heute«, proklamiert er hier, »in der Verwirrung und Verwischung der sozialen Grundbegriffe, vielfach neu beginnen, mit einer neuen begrifflichen Klärung, mit einer Säuberung der Lettern.« (Die Forderung des Geistes, in: Hinweise, S. 140 f.) In Das Problem des Menschen macht Buber deutlich, dass weder eine »individualistische Anthropologie« noch gar eine »illusionäre« »kollektivistische Soziologie« Antworten auf die moderne »Heimlosigkeit« der Menschheit bieten, vielmehr gelte es einen Weg zu finden, der »über Individualismus und Kollektivismus hinausführt« (Das Problem des Menschen, S. 168; jetzt in diesem Band, S. 311). Ausgehend von der Frage nach dem spezifisch Menschlichen legt Buber im ersten Teil seines Buches zunächst eine problemgeschichtliche Analyse des anthropologischen Denkens von Aristoteles bis Kant und von Hegel, Marx und Feuerbach bis Nietzsche vor. Der zweite Teil seines Buches beschäftigt sich mit einer kritischen Erörterung der Anthropologie Heideggers und Schelers, die insofern sie sich »im wesentlichen nur mit dem Verhältnis der menschlichen Person zu sich selbst« (ebd., S. 158; jetzt in diesem Band, S. 306) befasse, die moderne »Heimlosigkeit« des Menschen bloß übertäube. Dieser monologischen Wissenschaft vom Menschen setzt Buber seinen Entwurf einer dialogischen »Ich-Du-Anthropologie« entgegen, die auf der »Dimension« des Zwischenmenschlichen als einem »echten Dritten« gründet (vgl. B II, S. 647 f.). »Von der Betrachtung dieses Gegenstandes ›der Mensch mit dem Menschen‹«, schreibt Buber in Das Problem des Menschen, »muß die philosophische Wissenschaft vom Menschen ausgehen, die Anthropologie und Soziologie umfaßt.« (Buber, Das Problem des Menschen, S. 169; jetzt in diesem Band, S. 311.) In seiner »God and Man« betitelten Rezension von Between Man and Man, die im Mai 1948 in der Zeitschrift Commentary (S. 482-484) erschien, schreibt Rabbiner Joseph H. Gumbiner (1907-1993), Menschenrechtsaktivist und seit 1949 Direktor der B’nai B’rith Hillel Foundation der Universität Yale: »Here we have a needed clarification for English readers of the ideas first set forth in the author’s I and Thou […] the final essay entitled ›What Is Man?‹ is a brilliant attempt to answer Kant’s
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›fourth question‹ by evaluating philosophical anthropology from Aristotle through contemporary Existentialists. Here, Buber continues the task begun by Edmund Husserl during the first decade after the First World War, namely, to understand what man is and how to organize human life so as to permit man the free exercise of his unique capacities. Buber denies both the isolated individual, and the collective, which he holds is the last barrier raised by man against a true confronting of himself. For him, the significant fact about human existence is ›man with man.‹ In this sense life is an existence-communication«. Bubers Denken entwickele, so Gumbiner, das notwendige »Korrektiv« zu christlichen Modellen der existenzialistischen Philosophie, die wie im Fall Kierkegaards in extremer »Weltferne« oder wie bei Heidegger in »Atheismus« kulminiere. Beide Modelle ließen den Menschen im Bewusstsein seiner Sorge um sich allein. In seiner Essay-Sammlung Between Man and Man »Martin Buber gives us a Jewish approach to Existenzphilosophie which avoids the Christian tendency to diminish man in the perspective of God’s love, and the secular inclination to remove God as a possible goal of man’s love.« Textzeugen: ts1: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var 350 bet 12); 64 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben. Die Seiten 29, 30, 31, 32 u. 42 fehlen. Das Typoskript bildet offenkundig die deutschsprachige Grundlage der Vorlesung, die Buber während des Sommersemesters 1938 an der Hebräischen Universität in Jerusalem auf Hebräisch gehalten hat und entspricht dem Ersten Teil von Das Problem des Menschen (in diesem Band, S. 223-261). Das Typoskript ist zweischichtig: ts1.1: Grundschicht. ts1.2: Überarbeitungsschicht: Wenige Korrekturen und Ergänzungen von Buber selbst sowie von anderer Hand. ts2: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var 350 bet 12); 68 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben. Durchschlag von ts1. Aufgrund der teils umfangreicheren handschriftlichen Ergänzungen bildet dieser Textzeuge eine Vorstufe zur Druckfassung von Das Problem des Menschen. Das Typoskript ist zweischichtig: ts2.1: Grundschicht. ts2.2: Überarbeitungsschicht: Korrekturen und umfangreichere Ergänzungen von Bubers Hand, die sich teils auf beigefügte lose Blätter erstrecken. ts1 und ts2 beginnen mit einer die Vorlesung einleitenden Vorrede, die nicht in die Ausarbeitung für den Druck aufgenommen worden ist. Dieses Textstück wird im Folgenden abgedruckt.
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ts3: unvollständiges Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var 350 bet 12); 10 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben. Das Typoskript enthält einen Teil des 4. Abschnitts des Zweiten Teiles, »Ausblick« (in diesem Band, 306,2-311,13). d1: Die Verwirklichung des Menschen – Zur Anthropologie Martin Heideggers, in: Philosophia – philosophorum nostri temporis vox universa, hrsg. von Arthur Liebert, III/1-4, Belgrad 1938, S. [289]–308 (MBB 583). D2: Dialogisches Leben, Zürich: Georg Müller Verlag 1947, S. 315-459 (MBB 761). D3: Das Problem des Menschen, Heidelberg: Lambert Schneider 1948, 170 S. (MBB 788). D4: Das Problem des Menschen, Heidelberg: Lambert Schneider 1954, zweite Auflage, 170 S. (in MBB nicht verzeichnet). D5: Das Problem des Menschen, Heidelberg: Lambert Schneider 1961, dritte Auflage, 170 S. (in MBB nicht verzeichnet). D6: Werke I, S. 307-408 (MBB 1193). Druckvorlage: D3 Übersetzungen: Englisch: »What is Man?«, in: Between Man and Man, übers. von Ronald Gregor Smith, London: Routledge and Kegan Paul 1947, S. 118-205 (MBB 760); »What is Man«, in: Between Man and Man, übers. von Ronald Gregor Smith, New York: MacMillan 1948, (MBB 783); »What is Man?«, in: Between Man and Man, übers. von Ronald Gregor Smith, Boston: Beacon Press 1955 (MBB 980); »What is Man?«, in: Between Man and Man, übers. von Ronald Gregor Smith, London: Collins, [The Fontana Library] 1961, S. 148-247 (MBB 1159); »What is Man?«, in: Between Man and Man, übers. von Ronald Gregor Smith, New York: MacMillan 1965 (MBB 1266); zum Abschnitt »Die Lehre Schelers«: »The Philosophical Anthropology of Max Scheler«, übers. von Ronald Gregor Smith, in: Philosophy and Phenomenological Research, VI/2, Dezember 1945, S. 307-321 (MBB 721). Französisch: Le Problème de l’homme, übers. von Jean Loewensohn-Lavi, Paris: Aubier 1962, 116 S. (MBB 1191). Hebräisch: Be’ajat ha-adam. Ijunim betoldoteha, Tel Aviv: Machbarot lasifrut 1943, 126 S. (MBB 671); in: Pene adam. Bechinot be-anthropologia filosofit, Jerusalem: Mossad Bialik 1962 (MBB 1209); zum Abschnitt »Die Lehre Schelers«: »Hajesch koach la-ruach. Le-mischnato schel Max Scheler«, in: Machbarot la-sifrut, 1. Jg., Heft 5/6,
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Tischre/Cheschwan 1941, S. 61-77 (MBB 646); zum Abschnitt »Die Lehre Heideggers«: »Be’ajat ha-adam be-mischnato schel Heidegger«, in: Elieser Steinmann (Hrsg.), Sdarim. Meassef sofre Eretz-Jisrael, Sidrat Ma’amarim, Tel Aviv: Ha-Chevra le-mif ’ale ha-sifrut ha-ivrit be-eretz Jisrael al-jede agudat ha-sofrim ha-ivriim be-eretz Jisrael 1942, S. 17-28 (MBB 657). Italienisch: Il Problema dell’uomo, hrsg. und eingel. von F. S. Pignagnoli, Bologna: Pàtron 1972, 227 S. (MBB 1363). Japanisch: Das Problem des Menschen, übers. von Hiroshi Kojima, Tokyo: Riso-Sha 1961, 184 S. (MBB 1161). Niederländisch: De Vraag naar de Mens. Het anthropologisch probleem historisch en dialogisch ontvouwd, übers. von I. J. van Houte; Utrecht: E. J. Bijleveld 1957, 146 S. (MBB 1046). Spanisch: Que es el hombre? Breviarios del Fondo de Cultura economica, Mexiko-Buenos Aires: Fondo de Cultura económica 1949, 151 S. (MBB 810). Abdruck des zusätzlichen Textstücks von ts1: Die Absicht der Vorlesung, die ich heute beginne, ist: die Verbindung zwischen der Lehre vom Menschen als philosophischer Disziplin und der Lehre von der Gesellschaft als philosophischer Disziplin als organisch und fruchtbar zu erweisen. Ich betone: als p h i l o s o p h i s c h e Disziplin. Denn die Einzelw i s s e n s c h a f t e n Anthropologie und Soziologie können im Gegensatz dazu nur gedeihen, wenn sie getrennt und selbständig arbeiten, zumal die erste den Naturwissenschaften, die zweite den Geisteswissenschaften angehört. »Philosophisch« ist die Behandlung eines Gegenstandes dann zu nennen, wenn er in seiner G a n z h e i t , und eben dadurch, als Ganzes, in seiner Beziehung zu allen anderen Gegenständen erfasst wird. Selbstverständlich darf diese Erfassung der Ganzheit nicht erfolgen, indem von der inneren Vielfältigkeit des Gegenstandes abgesehen wird, sondern nur durch Zusammenschau seiner ganzen konkreten Realität. Die wissenschaftliche Betrachtung isoliert ihren Gegenstand, d. h. sie verfährt so, als ob es nur ihn gäbe. Die philosophische Betrachtung zentriert ihren Gegenstand, d. h. sie verfährt so, daß alle anderen Gegenstände auf ihn bezogen sind. Die Physik kümmert sich im allgemeinen nicht darum, daß es biologische Prozesse gibt. Aber eine Naturphilosophie muss sich nicht bloß um die Zusammenhänge zwischen physikalischen und biologischen Phäno-
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menen bekümmern, sie muß auch das an sich ziehen, was die anderen Bereiche der Philosophie ihr geben können, also z. B. was die Erkenntnistheorie über das Verhältnis von optischer Empfindung und optischem Begriff lehrt, oder was die Aesthetik über die Bedingungen der Wahrnehmung eines eigentümlichen Landschaftscharakters lehrt usw. Was ich aber zu zeigen habe, ist dies: daß darüber hinaus zwischen der philosophischen Lehre vom Menschen und der philosophischen Lehre von der Gesellschaft ein besonderes, besonders enges Verhältnis besteht, so daß sie um ihres philosophischen Zieles willen aufeinander angewiesen sind und dauernd zusammenwirken müssen. Jede der beiden hat ihre eigene Aufgabe, die mit keiner anderen zu verwechseln oder zu vermischen ist; aber eben diese Aufgabe kann sie nur dann wahrhaft erfüllen, wenn sie sich ihrer Genossin offen hält. Dieses organische Verhältnis zwischen den beiden Disziplinen ist bisher noch nicht hinreichend erkannt und in der Praxis realisiert worden. Ja, gerade in ihren stärksten, repräsentativen Ausprägungen stehen sie einander, wie wir sehen werden, in ihren Grundsätzen schroff entgegen: auf der einen Seite eine radikal individualistische Lehre vom Menschen, auf der andern eine radikal kollektivistische Lehre von der Gesellschaft. Diese Fremdheit und Gegensätzlichkeit hat sowohl das anthropologische wie das soziologische Philosophieren unseres Zeitalters ungünstig beeinflußt. Die geschichtliche Situation dieser Stunde enthüllt sich immer deutlicher als die Auseinandersetzung zwischen zwei Systemen: einem System, in dem die Person den Primat vor dem Staat hat, der Staat also um der Person willen da ist, und einem System, in dem der Staat den Primat vor der Person hat, die Person also um des Staates willen da ist. Die politischen Kämpfe i n n e r h a l b des zweiten Systems lenken zwar durch ihre Heftigkeit noch den Blick von der Tiefe ab, in der sich das eigentliche Schicksal des modernen Menschen entscheidet; aber die Erkenntnis der tiefen Wirklichkeit wächst. Dieser gegensätzlichen Wirklichkeit entsprechen Gegensätze in der Welt des Geistes selbst (Wir werden noch davon zu sprechen haben, was für eine Art Entsprechung das ist.) Unter diesen geistigen Gegensätzen ist der, von dem ich rede, wohl der wichtigste. Ein Gegensatz wie dieser philosophische kann ebensowenig wie jener politische durch Kombination oder Kompromiß überwunden werden. Und doch werden wir im Fortgang dieser Vorlesung noch zu fragen haben, ob die Alternative zwischen Individualismus und Kollektivismus eine reine Alternative ist, d. h. ob unbedingt zwischen beiden gewählt werden muss oder ob es nicht ein echtes Drittes gibt. Unter »echtem«
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Dritten ist eine Anschauung und Tendenz zu verstehen, die weder auf eine der beiden genannten zurückgeführt werden kann, noch einen bloßen Ausgleich zwischen beiden darstellt. Auf dem philosophischen Gebiet ist die Überwindung des Gegensatzes etwas anders, wenn auch entsprechend, zu formulieren. Das organische Verhältnis zwischen der Lehre vom Menschen und der Lehre von der Gesellschaft kann nur erkannt und realisiert werden auf Grund der Entdeckung einer Kategorie der Wirklichkeit, an der beide Disziplinen teil haben. Die Vorfindung, Bezeichnung und Erörterung dieser Kategorie, auf die ich vorerst nur hindeuten kann, wird uns in dieser Vorlesung immer wieder zu beschäftigen haben. Erst dadurch wird uns auch ermöglicht werden, nach jenem echten Dritten auf dem Gebiet der politischen Systeme zu fragen. Zunächst muss die Grundaufgabe der einen und die der andern Disziplin kurz gekennzeichnet werden und die Art, wie sie sie bisher erfüllt haben. Sie sind aber in dieser Hinsicht ungleich gestellt: die Lehre von der Gesellschaft hat bereits eine Geschichte, die Lehre vom Menschen kaum mehr als eine Vorgeschichte, ihre Geschichte hat erst in unserem Zeitalter begonnen. Beide sind noch problematisch und umstritten, aber bei der Sozialphilosophie bestehen bereits feste, in Systemen verkörperte Auffassungen ihrer Aufgabe, bei der philosophischen Anthropologie befinden wir uns noch in der plastischen Stunde, wo die Auffassungen ihre erste systematische Gestalt erst anzunehmen beginnen. Gerade deshalb aber läßt sich an ihr besonders deutlich zeigen, welche negative Wirkung die Distanz zwischen den beiden Disziplinen ausgeübt hat und ausübt. Aber auch das läßt sich schon bei dieser ersten Betrachtung an ihr besonders deutlich erkennen: wenn das organische Verhältnis zwischen der Lehre vom Menschen und der Lehre von der Gesellschaft realisiert sein wird, dann werden beide Disziplinen nicht bloß eine Verbindung, sondern zugleich auch eine innere Wandlung erfahren. Ich glaube sogar, daß die philosophische Anthropologie erst dadurch in entscheidender Weise methodologisch ermöglicht werden wird. Variantenapparat: 222,1-11 Diese in ihrem ersten Teil […] M. B.] fehlt ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2, D2, D6 224,10 – wiewohl dessen eigentliche Absicht auf Anderes geht –] fehlt ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 224,20-21 beanspruchenden] gewaltigen ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 225,29 reichhaltigen] in mancher Hinsicht wichtigeren ts1.1, ts2.1 227,14-16 Das Endliche […] der Unendlichkeit.] fehlt ts1.1, ts1.2, ts2.1
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228,4-5 nicht auf die Ganzheit des Menschen reflektiert] auf die Ganzheit des Menschen n i c h t reflektiert D4, D5, D6 228,11 muß sie offen] muß sie rechmäßigerweise offen ts1.1, ts1.2, ts2.1 228,12 Metaphysik] metaphysischen Ontologie ts1.1, ts1.2, ts2.1 228,36 wirklichkeitsleere] wirklichkeitsarme ts1.1, ts1.2, ts2.1 228,41-229,1 innerhalb jeder Sonderheit] innerhalb ihrer ts1.1, ts1.2, ts2.1 229,2-3 Ganzheit des Menschen erblicken] Einsicht in die Ganzheit des Menschen gewinnen ts1.1, ts1.2, ts2.1 229,14 außer ihm kein Erdenwesen] kein anderes Wesen ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 229,19-20 sich geheim im andern begibt] geheim im andern vorgeht ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 229,25 aufgestellt] gestellt D6 230,17-18 nicht unberührter Betrachter bleibt] in ihr als unberührter Betrachter eingesponnen bleibt ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 230,22-23 widerfahren] passieren ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 230,28 anthropologische] philosophische ts1.1, ts1.2, ts2.1 230,32-33 als einem die Wirklichkeit des »Dabeiseins« wahrzunehmen freigibt] man nebenbei wahrnehmen kann, wenn man wirklich dabei ist ts1.2 230,33-34 Kristallisationskern bildet sich aus.] handschriftliche Ergänzung auf zwei losen Einlegeblättern Ein Beispiel mag das Verhältnis zwischen dem Psychologen und dem Anthropologen genauer klarstellen. [In d. v. V. habe ich zuerst das Verhältnis der ph. A. zu den übrigen philos. Disziplinen dargelegt, sodann einiges über die Methode der ph. A., zu der die Selbstbesinnung des Anthropologen gehört, d. h. ein immer wieder erneuter Prozess, in dem der Forscher sein eigenes Leben und Wesen erkennt. Ich habe diesen Prozess mit der Selbstbeobachtung und Selbstanalyse des Psychologen verglichen. Da ich nach den Vorlesungen gefragt worden bin, wie dieser Vergleich zu verstehen sei, will ich ihn noch präzisieren: Dem Psychologen ist es lediglich um die Erkenntnis der psychischen Vorgänge zu tun, dem Anthropologen aber um die Ganzheit der Lebensvorgänge, von denen die psychischen nur einen Teil darstellen.] Wenn etwa beide sich mit dem Phänomen des Zornes beschäftigen, so wird der Psycholog zu erfassen suchen, was der zürnende Mensch fühlt, welches seine Motive und X X X sind, der Anthropolog aber auch, was er tut. Die Selbstbeobachtung wird für beide bei diesem Phänomen besonders schwierig sein, da sie naturgemäss die Unbefangenheit und Unbängigkeit des Zornes zu schwächen geeignet ist. Dieser Schwierigkeit wird der Psycholog durch eine spezifische Bewusstseinsspaltung zu begegnen suchen, die ihm ermöglicht, mit dem beobachtenden
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Teile seines Wesens draussen zu bleiben und seine Leidenschaft sich dennoch möglichst ungestört abspielen lassen; freilich wird dabei nicht zu vermeiden sein, dass diese Leidenschaft der des Schauspielers ähnlich wird, d. h. sie kann sich zwar im Verhältnis zur unbeobachteten noch steigern, aber ihr Ablauf wird ein anderer sein, es wird sich an Stelle des elementaren Ausbruchs eine gewollte Loslassung vollziehen, ihre Heftigkeit wird unterstrichen, vorgetragen, dramatischer sein. Der Anthropolog kann sich auf eine Bewusstseinsspaltung nicht einlassen, da es ihm ja um die ungebrochene Ganzheit der Vorgänge, insbesondere um den ungebrochenen natürlichen Zusammenhang zwischen Gefühlen und Handlungen zu tun ist, dieser Zusammenhang aber bei der Selbstbeobachtung am stärksten beeinflusst wird, da die Spontaneität der Handlung in ihrer Reinheit wesentlich leiden muss. Es bleibt dem Anthropologen nichts anderes übrig als auf das Draussenbleiben seines [forschenden] ! betrachtenden Subjekts zu verzichten und also, wenn ein Zorn ihn überkommt, diesen nicht durch inneres Zuschauen in seiner Auswirkung zu stören, sondern ihn ohne alle Perspektivierung sich austoben zu lassen. Was er da empfunden und getan hat, wird er erst im Erinnerungsakt besehen können; das Gedächtnis tritt bei ihm an Stelle der psychologischen Selbsterfahrung. Aber [wie grosse Maler oft die entscheidenden Linien nicht von dem Modell zeichnen, sondern sie in ihrer Anschauung einsammeln und aus dem Gedächtnis das Bild erzeugen] ! wie grosse Erzähler nicht während ihres Umgang mit anderen Menschen deren Eigentümlichkeiten willkürlich sich einprägen und sozusagen unsichtbare Notizen machen, sondern natürlich und ungehemmt mit den anderen umgehen und die Ernte der Stunde der Ernte überlassen, so hat das Gedächtnis des berufenen Anthropologen sich selber wie anderen gegenüber die konzentrierende, das Wesentliche bewahrende Kraft. Er hat im Augenblick des Lebens nichts anderes im Sinn als eben zu leben was zu leben ist, er ist mit einem ganzen Wesen ohne Spaltung dabei, und eben deshalb erwächst ihm in der denkerischen Erinnerung Erkenntnis der menschlichen Ganzheit. [ / Ich habe sodann darauf hingewiesen, dass das anthropologische Problem, die Frage nach dem Wesen des Menschen in seiner Kraft und Tiefe hin Epocheni auftaucht, in denen der Mensch etwas wird. Das ist für das Thema, mit dem wir uns hier befassen, besonders wichtig, weil von da aus die Trennung] [Textverlust] ts2.2 231,4 Zu der Selbstbesinnung] Hier berühren wir einen Hauptgrund jener Trennung der Lehre vom Menschen von der Lehre von der Gemeinschaft, die es zu überwinden gilt. Zu der Selbstbesinnung ts1.1, ts1.2, ts2.1
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231,4-5 der sich vereinsamt fühlende] einsame ts1.1, ts1.2, ts2.1 231,20 in einem Hause] in einem Haus, wie in einem Heim ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 232,6 ein Leben aus dem Bilde] ein b i l d n e r i s c h e s Leben D4, D5, D6 233,22-23 Platons Gefolgschaft] seiner Metaphysik ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 234,14-21 Der Mensch ist […] kennt Thomas nicht.] Für den Theologen Thomas ist der Mensch zwar heilsgeschichtlich wichtig, aber für den Entwerfer des Weltsystems ist er nur eine Gattung neben anderen Gattungen, immerhin eine mit einer Seele begabte, die uns Stoff und Gelegenheit gibt, uns mit Psychologie zu beschäftigen ts1.1, ts1.2, ts2.1 235,3 Aber beim Menschen] Beim Menschen jedoch D4, D5, D6 235,10 Pico della Mirandola] ein Anhänger der Kabbala, Pico della Mirandola ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 236,21-238,16 aus der Tatsache […] imago nulla] Textverlust durch fehlende Seiten ts1.1, ts1.2 236,34 Geistes sein kann.] ergänzt Der Geist im Menschen ist in die Welt gespannt und wird in der Welt überwältigt, aber er ist nicht aus der Welt {halleini ts2.2} zu verstehen. {Damit ist ein neues anthropologisches Philosophieren begründet ts2.1 Hier ist der Grund zu einem neuen anthropologischen Philosophieren gelegt ts2.2}. ts2.1, ts2.2 236,34-41 Der Mensch ist das Wesen […] Problematik hat.] fehlt ts2.2 238,35 und besonders] fehlt ts1.1, ts1.2, ts2.1 239,2-11 , aber der Kosmos […] einbezogen ist] fehlt ts1.1, ts1.2, ts2.1 239,20 in dem unabgelösten und unablösbaren Leben,] fehlt ts1.1, ts1.2, ts2.1 239,22-23 wurde es immer schwerer, sie zu vollziehen] war sie nicht zu vollziehen ts1.1, ts1.2, ts2.1 239,18 denkerischen] fehlt ts1.1, ts1.2, ts2.1 239,27-41 Gewiß, man kann […] vernommen.] fehlt ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 239,33 Aber Goethe] Goethe D4, D5 241,19 schreckend] erschreckend D5 241,25-26 von ihm […] sich selber zu erkennen] Besinnung gefordert, den Baumeister zu erkennen ts1.1, ts1.2, ts2.1 vom Baumeister Besinnung gefordert, den Baumeister zu erkennen ts2.2 241,33 gestellt blieb] unabweisbar gestellt blieb, von Geschlecht zu Geschlecht an Klarheit und Eindringlichkeit zunehmend ts1.1, ts1.2, ts2.1 241,34 sich in ihren Dienst zu stellen] in ihren Dienst zu treten D4, D5 242,12 gefördert hat] kennzeichnen kann ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 242,21-22 primitiven […] zum Sozialismus] These der ursprünglichen Wirtschaft zur Antithese des Kapitalismus und {von der Antithese ts1.1, ts1.2, ts2.1 zur Synthese ts2.2} des Sozialismus ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2
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242,24 In seiner Jugend] davor kein Absatzwechsel D6 242,35 Menschen demonstriert] Menschen, als eines eigentümlich aus Selbständigkeit und Rezeptivität gemischten Wesens ts1.1, ts1.2, ts2.1 243,4-5 Hegel redet hier bemerkenswerterweise] Hier wird die spezifische Problematik des Menschen deutlich ausgesprochen: er hat eigenen Feuerstoff, aber kein eigenes Feuer, er ist dem Geiste zugänglich, aber nicht Ursprung des Geistes; und Hegel redet ts1.1, ts1.2, ts2.1 243,23-244,2 als die »Identität […] beides erfahren,] Textverlust wegen fehlender Seite ts1.1, ts1.2 244,6-7 , die »die höchste Macht alles Seienden« ist] fehlt ts1.1, ts1.2, ts2.1 244,8 und begreifbaren] fehlt ts1.1, ts1.2, ts2.1 244,11-12 logologische] historiosophische ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 244,13-14 bewältigt] ausgeschaltet ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 244,31 Gemüte] Herzen ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 244,32 , die »nichts als die Verwirklichung des Geistes«,] fehlt ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 244,39 Zeitalter] Jahrhundert ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 245,13 gestillt] überwunden ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 245,14-246,15 Von den Ursachen […] nicht leben kann] Wir können daher eine doppelte Ursache feststellen: eine grundsätzliche und eine geschichtliche. / Die grundsätzliche Ursache ist dies, daß ein auf der Zeit aufgebautes denkerisches Weltbild niemals jenes Gefühl der Sicherheit verleihen kann wie ein auf dem Raum aufgebautes, und zwar deshalb, weil die menschliche Vorstellung das Zukünftige nicht in die Wirklichkeit des Seienden einzubeziehen vermag. Zukunft ist ihrem Begriff nach das noch nicht in unserer Welt Seiende, das NurMögliche, das Unsichere ts1.1, ts1.2, ts2.1 245,33 als Zeit] nicht hervorgehoben D4, D5 246,38 evidenten] fehlt ts1.1, ts1.2, ts2.1 247,2-3 Entwicklung] Evolution ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 247,31 Vollendung] Zukunft ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 248,26 den Anbruch der Erfüllung] die Erfüllung ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 248,27-29 in der der absolute Geist […] anheben sehen] und in seinem eigenen Denken, in dem der absolute Geist zu seinem Ziele, zum vollkommenen Selbstbewusstsein gelangt. Für Marx kann ein Denken nicht die Erfüllung, nur ein Sein kann die Erfüllung sein. Auch kann er die Erfüllung schlechthin nicht in seiner eigenen Zeit, der Zeit des Kapitalismus, der vom erfüllenden Sozialismus abgelöst werden soll, erblicken ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 249,4-250,20 In dieser […] Entscheidung beantwortet. ] fehlt ts1.1, ts1.2, ts2.1
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251,11 trotz aller Unterschiede und sogar Gegensätze zwischen ihnen] trotz allem ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 251,18 für den philosophierenden Menschen] fehlt ts1.1, ts1.2 253,4 das Denken unserer Weltstunde über den Menschen] den Gegenstand dieser Vorlesung, für das Verhältnis zwischen der Lehre vom Menschen und der Lehre von der Gesellschaft ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 253,19-25 jene Du-Entdeckung […] Anregung gegeben] das eingeleitet, was man die kopernikanische Wendung des modernen Denkens genannt hat. Nach der vierten Frage Kants ist dieser Satz das zweite Vermächtnis der deutschen Philosophie für unsere Zeit. Mir selbst hat er schon in meiner Jugend die entscheidende Anregung zu meiner eigenen Philosophie und damit auch zu einer Sozialphilosophie gegeben. ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 254,1-3 den Menschen […] problematisches Wesen] die Problematik des Menschen ts1.1, ts1.2, ts2.1 254,11 in seiner Frage] in der seinen D4, D5 254,18 Wesen, das] leidendste Wesen, er ist das Wesen, das vor allen ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 255,22 ist falsch.] ergänzt (Es handelt sich hier um etwas für unsere Zeit so Grundwichtiges, daß ich hierbei etwas länger glaube verweilen zu dürfen. Wir haben hier zugleich ein Beispiel für ein Problem, in dem anthropologische und soziologische Fragestellung sich mischen und das nur durch das richtige Zusammenwirken von Anthropologie und Soziologie gelöst werden kann.) ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 255,38 ihn nachgebildet hat] nachgebildet ist D6 256,9-10 umfaßt ihrem Wesen nach eine Macht] ist Macht ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 256,23 Pathetik] Herrlichkeit ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 257,31 befruchtende und erneuernde] männliche und zeugende ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 257,33 Gestalt] Gestalt, die Idee ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 257,36 in zunehmenden Maße mit stiller Ablehung] mit stiller und tiefer Ablehung ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 258,19 mißverstandenen] berichtigt aus mißstandenen nach D4, D5 259,2 gewaltigen] unerhörten ts1.1, ts1.2, ts2.1, ts2.2 260,21-22 wie den Mensch] berichtigt aus wie der Mensch nach D2, D4, D5 261,14-15 eine andere Macht […] Gemeinschaft] zwei andere Mächte um Auskunft anzugehen haben, den Geist und die Gemeinschaft ts1.1, ts1.2, ts2.1 264,Titel Krise] Krisis D4, D5, D6
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265,7 erfährt er] berichtigt aus erfährt es nach D2, D4, D5, D6 265,34 vorigen Weltkrieg] ersten Weltkrieg D4, D5 271,1-2 Zweiter Abschnitt / Die Lehre Heideggers] Die Verwirklichung des Menschen / Zur Anthropologie Martin Heideggers Anmerkung: Aus einer Jerusalemer Vorlesung über die Beziehungen zwischen der Sozialphilosophie und der philosophischen Anthropologie. d1 271,19 Wenn auch] Beginn d1 271,26 2] einfacher Absatzwechsel statt Unterteilung in Kapitel d1 272,20 als Wesen,] fehlt D6 273,8 3] einfacher Absatzwechsel statt Unterteilung in Kapitel d1 274,15-16 kommt aus der Ferne] berichtigt aus aus der Ferne nach d1, D2, D4, D5, D6 274,23 4] einfacher Absatzwechsel statt Unterteilung in Kapitel d1 274,24-25 Wir haben gesehen […] immer wieder] In der Geschichte des menschlichen Geistes gibt es immer wieder Epochen, in denen der Mensch d1 274,32-33 Aber wir haben […] ein Weg führt] Aber von einer Einsamkeitsepoche zur nächsten Einsamkeitsepoche führt ein We g d1 275,16 5] einfacher Absatzwechsel statt Unterteilung in Kapitel d1 276,21 6] einfacher Absatzwechsel statt Unterteilung in Kapitel d1 276,34-35 erst durch das Verständnis anderer Erkenntnis und Kenntnis] Erkenntnis und Kenntnis erst durch das Verständnis anderer D5, D6 277,37 gibt ihm] fehlt d1 278,13 Mangel] nicht hervorgehoben d1 278,18-19 nicht wieder zu gewinnende] das jeweils einmalig dargebotene D4, D6 279,8 7] einfacher Absatzwechsel statt Unterteilung in Kapitel d1 279,15 zu Gott] auf Gott zu d1 280,9 zu Anderen] zu einem Anderen D6 280,23 8] einfacher Absatzwechsel statt Unterteilung in Kapitel d1 282,1 9] einfacher Absatzwechsel statt Unterteilung in Kapitel d1 282,2 Es hat sich uns ergeben] Wir haben gesehen d1 282,4 wird, sowie] wird. Wir haben auch gesehen d1 282,31 Es handelt sich hier] davor kein Absatzwechsel D6 284,9 10] einfacher Absatzwechsel statt Unterteilung in Kapitel d1 284,22 unendlich] grundhaft D6 284,37 Übersehbare] Überblickbare D4, D5 285,6 Es läßt sich übrigens] Ich werde anderwärts d1 285,34-35 im Stoff […] der Gemeinschaft] die Gestalt im Stoff des gesellschaftlichen Lebens D4, D5 286,14 an ihr leidet] sie beficht D4, D5, D6
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286,16 Gestalten] Figuren D4, D6 286,18 durchaus] fehlt D4, D6 286,21-22 mit dem Glauben, aber nicht] recht wohl mit dem Glauben, aber kaum D4, D5, D6 286,27-28 Gestalt] Art D6 287,1 11] einfacher Absatzwechsel statt Unterteilung in Kapitel d1 287,35 12] einfacher Absatzwechsel statt Unterteilung in Kapitel d1 288,8 sein Leben] dessen Leben D4 288,26 Mensch sei] Mensch ist D4 288,29-30 Menschen Kierkegaard] Menschen Kierkegaards D6 289,11 kennen zu lehren] bekannt zu machen D4, D5, D6 290,2 diesem gegenüber] berichtigt aus dieser gegenüber nach D4, D5 291,19-20 Darstellung und Auswirkung] Manifestation und Wirkensbereich D4, D6 291,21-22 Nachbarbereich] Nachbarbezirk D4, D5, D6 292,19 vernichtet] erschüttert D4, D5, D6 292,22 wesenhaften] fundamentalen D4, D5, D6 294,22-23 der Geist, wie er hier ist] was hier Geist genannt wird D4, D5, D6 297,7 existenziale] existentielle D4, D5, D6 298,34 vermag allerlei] mag allerhand D4, D5, D6 308,28 Es ist offenbar] davor kein Absatzwechsel D6 309,2 heraufkommen] aufsteigen D4 309,16 Das Leben] davor Absatzwechsel D4, D5, D6 310,14-15 jeder unvorhersehbare Erwiderung herrvorruft] jeder unmittelbar zu seinem Partner spricht und dessen unvorhersehbare Erwiderung hervorruft D2, D4, D5, D6 311,11-12 , wo wahrhaft »Abgrund dem Abgrund ruft«,] fehlt D4, D5 D6 311,13 Dritten Stab] Abbruch von ts3 Wort- und Sacherläuterungen: 224,4 Rabbi Bunam von Przysucha] Rabbi Simcha Bunam von Przysucha/Pžysha (1765-1827): chassidischer Zaddik. Nachfolger des »Heiligen Juden«, Jaakob Jizchak von Pžysha und Weiterführer der für den polnischen Chassidismus bedeutenden Schule von Pžysha, in der das ekstatische Element zugunsten des Tora- und Talmudstudiums zurücktritt. Bunam ließ auch die Schriften des Maimonides wieder lesen, die wegen ihres Rationalismus vernachlässigt wurden. 224,6-8 »Ich habe ein Buch […] nicht zu schreiben.«] Vgl. »Das Buch Adam«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich: Manesse Verlag 1949, S. 767 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [1113]).
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224,22 Malebranche] Vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 385,19. 224,25-31 »Von allen menschlichen […] mit Erfolg widmen,«] Vgl. Nicolas Malebranche, Recherche de la vérité, in: Œuvres de Malebranche, Bd. 1, S. 20 (Préface). 225,3-4 »Handbuch« zu seinen Vorlesungen über Logik] Das besagte Handbuch Kants wurde postum 1800 unter dem Titel Logik – ein Handbuch zu Vorlesungen von Gottlob Benjamin Jäsche (1762-1842) herausgegeben, dem Kant zuvor seine Aufzeichnungen ausdrücklich zum Zweck, daraus ein allgemein zugängliches Kompendium zu gestalten, übergeben hatte. 225,6-11 unterscheidet er […] Gebrauches unserer Vernunft«] »Philosophie ist also das System der philosophischen Erkenntnisse oder der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen. Das ist der S c h u l b e g r i ff von dieser Wissenschaft. Nach dem We l t b e g r i ff e ist sie die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft. Dieser hohe Begriff giebt der Philosophie W ü r d e , d. i. einen absoluten Werth.« (Immanuel Kant, Logik – ein Handbuch zu den Vorlesungen, hrsg. von Gottlob Benjamin Jäsche, Königsberg 1800, S. 23.) »Was aber Philosophie nach dem Weltbegriffe (in sensu cosmico) betrifft: so kann man sie auch e i n e W i s s e n s c h a f t v o n d e r h ö c h s t e n M a x i m e d e s G e b r a u c h s u n s r e r Ve r n u n f t nennen, so fern man unter Maxime das innere Princip der Wahl unter verschiedenen Zwecken versteht.« Ebd., S. 25. 225,12-17 »1. Was kann ich wissen? […] die letzte beziehen.«] Ebd. 225,20-21 sagt, daß alles Interesse der Vernunft […] sich in ihnen vereinige] »Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: // 1 . Wa s k a n n i c h w i s s e n ? / 2 . Wa s s o l l i c h t u n ? / 3 . Wa s d a r f i c h h o ff e n ? « Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 677. 231,28 Bernhard Groethuysen] (1880-1946), dt.-franz. Philosoph und Historiker, beschäftigte sich mit dem Werk Denis Diderots (17131784) und veröffentlichte zu diesem eine der ersten, die weitere Rezeption prägenden Monographien (La pensée de Diderot, 1913), sowie Arbeiten zur Französischen Geistesgeschichte zur Zeit des Ancien Régime (Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, 1927). Später wandte sich Groethuysen vermehrt philosophischen Fragestellungen zu. 231,28 meines Lehrers Wilhelm Dilthey] Im Wintersemester 1899/1900 belegte Buber zwei Veranstaltungen bei Dilthey: »Allgemeine Geschichte der Philosophie« und »Philosophische Übungen«, vgl. die Aufstellung der von Buber belegten Universitätsveranstaltungen, in:
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MBW 1, S. 303. Zum Einfluss Diltheys auf Buber, vgl. die Einleitung zu diesem Band, S. 59 u. 65. 231,30 »Philosophische Anthropologie«] Groethuysens Untersuchung erschien anders als Buber angibt zuerst 1928 in München. 232,2-3 geozentrischen Kugelsystem des Aristoteles] Die Kosmologie des Aristoteles postulierte gemäß der prinzipiellen Annahme, alle schwere Materie sei auf das Zentrum der Welt ausgerichtet, die Kugelgestalt der Erde, die in die Mitte des Kosmos gelagert konzentrisch von den Sphären sublimerer, edlerer und leichterer Materien umschlossen werde. 232,12 Auch die Ideenwelt Platons ist eine optische Welt] Platon bestimmte die Ideen als ontologisch wirkliche Idealbilder der materiellen Gegenstände. Dass Buber diese Ideenwelt als optische bezeichnet bezieht sich darauf, dass die Ideen als ontologisch selbständige Entitäten Gegenstände einer theoretischen Anschauung sind. 232,24-25 Augustinus] Augustinus von Hippo (354-430): Kirchenlehrer und Philosoph der Spätantike; zunächst einem manichäischem Glauben anhängend ließ er sich 380 taufen und wurde zu einem der ersten und einflussreichsten Denker einer platonisch geprägten christlichen Philosophie. 232,34 Gnosis] Die Gnosis formierte sich in der Antike vornehmlich auf dem Hintergrund des Neoplatonismus, der eine radikale Unterscheidung von Geist und Idee auf der einen und von Leib und der Materie auf der anderen Seite postulierte und die letztere rigoros abwertete. Die Überwindung der Sinnlichkeit sollte nach gnostischer Lehre die Möglichkeit einer mystischen Gottesschau eröffnen. 232,35 Manichäismus] Vor allem in den antiken Kulturen des Orients verbreitet, geht der Manichäismus von einem unüberwindlichen Dualismus von Gut und Böse, Licht und Finsternis aus. 233,10-11 »Was ist der Mensch, daß du sein gedenkest?«] Ps 8,5. 233,12-13 quid ergo sum, Deus meus? quae natura mea?] »Was also bin ich, mein Gott? Was ist meine Natur?« Augustinus, Confessiones, X,17,26. 233,17-20 in jenem berühmten Satz […] über sich zu erstaunen] Ebd. X,8,15. 233,34-35 Divina Commedia] Die Divina Commedia des ital. Dichters Dante Alighieri (1265-1321), über mehrere Jahre von 1307 bis kurz vor dem Tod 1321 niedergeschrieben, versucht umfassend die gedankliche Welt des Hochmittelalters darzustellen. Darin betritt Dante selbst, in Lebenskrisen verstrickt, unter Leitung Vergils die Hölle, in deren diversen Kreisen sowohl Sünder aus der Geschichte als auch
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Zeitgenossen Dantes zu büßen haben. Schließlich besteigt er den Läuterungsberg des Fegefeuers und betritt unter Führung von Beatrice, der früh verstorbenen, ideal überhöhten Frau, der seine Jugendliebe galt, das Paradies. Die Dichtung kulminiert in der Betrachtung des Lichts Gottes. 234,10 Thomas von Aquino] (1225-1275): ital. Philosoph und Theologe, später als Kirchenlehrer anerkannt und als Heiliger verehrt. Sein Werk stellt einen Höhepunkt des scholastischen Denkens dar. Thomas erarbeitete vor allem in seinen Hauptwerken Summa contra gentiles und Summa theologica eine klassische Vollendung des philosophischen Weltbilds des Hochmittelalters. Die katholische Kirche erklärte das Werk von Thomas im 19. Jh. zur Grundlage christlicher Philosophie. Dante orientiert sich in seiner Dichtung maßgeblich am philosophischen Werk Thomas von Aquinos. 234,28-29 hunc mundum […] hominis domum] Nicht nachgewiesen. 234,29 Carolus Bovillus] eig. Charles de Bouelles (1479-1566); frz. Mathematiker, Philosoph und Theologe. Seine Schriften markieren den Übergang von der Gedankenwelt des Hochmittelalters zur Renaissance. 234,30 homo es, sistere in homine] Nicht nachgewiesen. 234,31 der große Cusanus] Vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 446,28. 234,32 homo non vult esse nisi homo] »Der Mensch will nichts anderes als Mensch sein, nicht ein Engel oder sonst ein Wesen.« (Nikolaus von Cues, Über den Frieden im Glauben, übers. von Ludwig Mohler, Leipzig 1943, S. 131.) 235,6-7 Cusanus vergleicht Gott […] schätzenden Wechsler] In Cusanus’ Gespräch über das Globusspiel knüpft sich dieser Vergleich an die Bestimmung, dass Gott die Wesenheit, der Wert aller Werte sei, die von der menschlichen Vernunft erkannt werden; in Gott seien sie seiende, im Menschen als erkannte, unterschiedene. »Mir scheint, daß wenn wir Gott gleichsam als den Münzherrn setzen, die Vernunft gleichsam der Wechsler sein würde.« (Nikolaus von Cusa, Gespräch über das Globusspiel, in: ders., Philosophisch-Theologische Werke, Bd. 3, Hamburg 2002, S. 133.) 235,10 Pico della Mirandola] (1463-1494): ital. Philosoph der Renaissance; seine Schrift De hominis dignitate (»Von der Würde des Menschen«) gilt als bedeutende programmatische Schrift der Renaissance. 235,11-13 nos autem peculiare […] comperiatur.] »Wir aber fragen uns nach dem Besonderen im Menschen, woher die ihm eigene Würde und das Bild der göttlichen Substanz stammt, da er mit keinem anderen Geschöpf verglichen werden kann.« (Giovanni Pico della Miran-
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dola, Heptaplus, in: ders. Opera Omnia [1557-1573], Tomus I, Hildesheim 1969 [Nachdruck Basel 1557], S. 38.) 235,34 unter den Schlägen des Kopernikus] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 212,32. 235,37 Begeisterung für die Größe dieser Welt wie Bruno] Vgl. Wortund Sacherläuterungen zu 212,32. 235,38-39 mathematischen Begeisterung für ihre Harmonie wie Kepler] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 178,15. 236,2-4 Pascal, erfährt […] infinis m’effraie] Vgl. Wort und Sacherläuterungen zu 213,4. 236,8-9 combien de royaumes nous ignorent!] Pascal, Pensées, Fragment 207, Edition Brunschvicg, Bd. II, S. 127. 236,14 qu’est-ce qu’un homme dans l’infini?] Pascal, Pensées, Fragment 72, Edition Brunschvicg, Bd. I, S. 74. 236,18-21 Connaissons donc […] de l’infini] Ebd., S. 83. 236,24-29 L’homme n’est […] n’en sait rien.] Pascal, Pensées, Fragment 347, Edition Brunschvicg, Bd. II, S. 262. 238,15-16 imago mundi nova – imago nulla] lat.: »Das neue Weltbild ist kein Bild.« Die Wendung konnte bei keinem anderen Autor nachgewiesen werden und stammt vermutlich von Buber selbst. 238,26 Spinozas Versuch […] der unendlichen Substanz] Vgl. Wortund Sacherläuterung zu 197,8-9. 238,36-37 pars infiniti […] amat] »Des Geistes geistige Liebe zu Gott ist genau die Liebe Gottes, mit der Gott sich selbst liebt, nicht insofern er unendlich ist, sondern insofern er durch die unter einem Aspekt von Ewigkeit betrachtete Essenz des menschlichen Geistes ausgedrückt werden kann, d. h., des Geistes geistige Liebe zu Gott ist Teil der unendlichen Liebe, mit der Gott sich selbst liebt.« Spinoza, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, S. 579 u. 581. 239,8-9 natura naturans […] natura naturata] Spinoza greift hier Begriffe auf, die bereits im scholastischen Mittelalter zur Unterscheidung jener Wesen, die aus sich selbst heraus bestehen (natura naturans) und jener, die von Kausalverhältnissen abhängen, bloß abgeleitet sind (natura naturata) entwickelt wurden. Er definiert in seiner Ethik: »Denn meines Erachtens ergibt sich bereits aus dem Vorangehenden, daß wir unter ›Natura naturans‹ zu verstehen haben, was in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird, also solche Attribute von Substanz, die eine ewige und unendliche Essenz ausdrücken, d. h. […] Gott, insofern er als freie Ursache angesehen wird. Unter ›Natura naturata‹ verstehe ich dagegen alles, was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes oder vielmehr der Natur irgendeines seiner At-
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tribute folgt, d. h. alle Modi der Attribute Gottes, insofern sie als Dinge angesehen werden, die in Gott sind und ohne Gott weder sein noch begriffen werden können.« Ebd., S. 63 u. 65. 239,14-15 adaequata cognitio […] Dei] »Die Erkenntnis der ewigen und unendlichen Essenz Gottes, die jede Idee in sich schließt, ist adäquat und vollkommen.« Ebd., S. 195. 239,28-32 »Friedenslust« […] seligste Versicherung gibt«.] Goethe schreibt an Herder am 12. Oktober 1787 während seiner italienischen Reise: »Ich bin ein Kind des Friedens und will Friede halten für und für, mit der ganzen Welt, da ich ihn einmal mit mir selbst geschlossen habe.« (Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, in: WA I.32, S. 114.) Den Begriff der »Friedenslust«, die ihm die Lektüre der Schriften Spinozas mitgeteilt habe, verwendet Goethe allerdings an anderer Stelle in Dichtung und Wahrheit: »Ich erinnerte mich noch gar wohl, welche Beruhigung und Klarheit über mich gekommen, als ich einst die nachgelassenen Werke jenes merkwürdigen Mannes durchblättert. Diese Wirkung war mir noch ganz deutlich, ohne daß ich mich des Einzelnen hätte erinnern können; ich eilte daher abermals zu den Werken, denen ich so viel schuldig geworden, und dieselbe Friedenslust wehte mich wieder an. Ich ergab mich dieser Lecture und glaubte, indem ich mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich erblickt zu haben.« Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit, WA I.29, S. 9. 239,36-37 »über viele Dinge kann ich nur mit Gott reden«] Buber entlehnt diese Worte aus einem Bericht des mit Goethe befreundeten Kunsthistorikers Johann Sulpiz Boisserée (1783-1854) über ein Gespräch im August 1815, in dem Goethe geäußert habe: »Diese Antinomie der Vorstellungs-Art ist es nun, warum wir Menschen nie aufs Reine kommen können mit einem gewissen Maß von Wissen, sondern immer alte Wahrheiten und Irrtümer, auf eine neue Weise aussprechen – warum wir über viele Dinge uns nie ganz verständlich machen können – und ich daher oft zu mir sagen muß: darüber und darüber kann ich nur mit Gott reden, wie das in der Natur ist, und das; was geht es nun weiter die Welt an. Sie faßt entweder meine Vorstellungs-Art, oder nicht, und im letztern Fall hilft mir alle Menschheit nichts. Darum, über viele Dinge kann ich nur mit Gott reden.« Flodoard Freiherr von Biedermann u. Wolfgang Herwig (Hrsg.), Goethes Gespräche in vier Bänden, 2. Bd.: 1805-1817, Zürich und Stuttgart 1969, S. 1029 f. 239,38-39 »das erste Gespräch, was die Natur mit Gott hält«] Dieser Ausspruch Goethes ist durch Aufzeichnungen von Johannes Daniel
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Falk (1768-1826) überliefert, in denen das Gespräch, das 1813 anlässlich des Todes Christoph Martin Wielands (1733-1813) erfolgte, festgehalten wurde: »Ich habe in einer unserer früheren Unterhaltungen den Menschen das erste Gespräch genannt, das die Natur mit Gott hält.« Ebd., S. 777. 239,39-41 wie Werther »die Stimme […] Kreatur«] »Ist es da nicht die Stimme der ganz in sich gedrängten, sich selbst ermangelnden und unaufhaltsam hinabstürzenden Kreatur, in den innern Tiefen ihrer vergebens aufarbeitenden Kräfte zu knirschen: Mein Gott! mein Gott! warum hast du mich verlassen?« Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther, in: WA I.19, S. 131. 240,23-241,17 Es war damals […] Verbindung geben kann] Buber arbeitet diese Episode später in seine autobiographische Schrift Begegnung (1960) unter der Überschrift »Philosophen« ein. Vgl. Buber, Begegnung, S. 17 f.; jetzt in: MBW 7, S. 283. 240,33-34 Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik] Immanel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, Riga 1783. 240,35 in seinem ersten Satze sagte] In der Vorrede schreibt Kant: »Diese Prolegomena sind nicht zum Gebrauch vor Lehrlinge, sondern vor künftige Lehrer, und sollen auch diesen nicht etwa dienen, um den Vortrag einer schon vorhandnen Wissenschaft anzuordnen, sondern um diese Wissenschaft selbst allererst zu erfinden.« Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, in: ders, Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 3: Schriften zur Metaphysik und Logik, Wiesbaden 1958, S. 113. 240,36-241,5 Dieses Buch erklärte mir […] Erfahrung stattfindet«] Im § 11 der Prolegomena bestimmt Kant Raum und Zeit »als formale Bedingungen unserer Sinnlichkeit« (vgl. Kant, Prolegomena, S. 146); im § 13 wird die Auffassung verworfen, »als ob Raum und Zeit wirkliche Beschaffenheiten wären, die den Dingen an sich selbst anhingen«. Ebd., S. 147 f. 241,2 »Denn keins von beiden […] in der Erfahrung stattfindet«] »Wenn ich nun nach der Weltgröße, dem Raume und der Zeit nach, frage, so ist es vor alle meine Begriffe eben so unmöglich zu sagen, sie sei unendlich, als sie sei endlich. Denn keines von beiden kann in der Erfahrung enthalten sein, weil weder von einem u n e n d l i c h e n Raume, oder unendlicher verflossener Zeit, noch der B e g r e n z u n g der Welt durch einen leeren Raum, oder eine vorhergehende leere Zeit, Erfahrung möglich ist; das sind nur Ideen. Also müßte diese, auf die eine oder die andre Art bestimmte Größe der Welt in ihr
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selbst liegen, abgesondert von aller Erfahrung. Dieses widerspricht aber dem Begriffe einer Sinnenwelt, die nur ein Inbegriff der Erscheinung ist, deren Daseyn und Verknüpfung nur in der Vorstellung, nämlich der Erfahrung stattfindet, weil sie nicht Sache an sich, sondern selbst nichts als Vorstellungsart ist.« Ebd., S. 214. 242,6 das System Hegels] Hegels eigentliche systematische Schriften setzen 1806 mit der Phänomenologie des Geistes ein, zu der sich in den folgenden Jahren die Wissenschaft der Logik (1812-1816), die Enzykopädie der philosophischen Wissenschaften (1816) und die Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) gesellten. Ein großer Teil der sonstigen systematischen Schriften ist lediglich aus zweiter Hand, als Nachschrift der Vorlesungen Hegels, überliefert und erst postum von den Schülern publiziert worden. 242,14 Kierkegaard, der Kritiker des modernen Christentums] Durch das Erbe des Vaters war es Kierkegaard möglich, eine unabhängige Existenz als Schriftsteller aufzunehmen, die sich durch eine scharfe Kritik des bestehenden Christentums auszeichnete, das Kierkegaard an den »wahren Ideen« der christlichen Religion maß, die die institutionalisierte Kirche an ein mittelmäßiges Alltagsleben verraten habe. 242,19 Marx] Karl Marx (1818-1883) begründete in Zusammenarbeit mit Friedrich Engels (1820-1895), ausgehend von der Hegelschen Philosophie, die unter Einbeziehung der Arbeiten Ludwig Feuerbachs materialistisch gewendet wurde, eine kommunistische Theorie mit wissenschaftlichem Anspruch. Der Kommunismus wird von Marx nicht als abstraktes utopisches Ideal postuliert, sondern soll, der Hegelschen Methode entsprechend, aus den immanenten Widersprüchen des Systems der bürgerlichen Gesellschaft abgeleitet werden. Die Kritik der bürgerlichen Ökonomie, die Marx zeitlebens beschäftigte, wird systematisch in Das Kapital (1867), dem Fragment gebliebenen Hauptwerk, expliziert, von dem Marx zu Lebzeiten nur den ersten Band publizieren konnte. Die beiden weiteren Bände wurden erst postum von Engels ediert. 241,29 wie aus jenem bekannten Brief von 1793 hervorgeht] Gemeint sein dürfte der Brief Kants an den Göttinger Theologen Carl Friedrich Stäudlin (1761-1826) vom 4. Mai 1793. Dort heißt es: »Mein schon seit geraumer Zeit gemachter Plan der mir obliegenden Bearbeitung des Feldes der reinen Philosophie ging auf die Auflösung der drei Aufgaben: 1. Was kann ich wissen (Metaphysik). 2. Was soll ich tun? (Moral). 3. Was darf ich hoffen? (Religion); welcher zuletzt die vierte folgen sollte: Was ist der Mensch?« Brief Kants an Carl Friedrich Stäudlin, in: Immanuel Kants Werke, Bd. X: Briefe von und
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an Kant. Zweiter Teil 1790-1803, hrsg. von Ernst Cassirer, Berlin 1921, S. 205. 242,31 der junge Hegel] Als frühe Schaffensjahre Hegels gelten die Jahre bis 1800. Die Jugendschriften, die während dieser Zeit entstanden, beschäftigten sich u. a. mit dem Ursprung des Christentums. Von Hegel selbst wurden sie weder zu Lebzeiten veröffentlicht noch in die von seinen Schülern herausgegebenen Gesammelten Werke aufgenommen. Erst 1907 wurden sie unter dem Titel Hegels theologische Jugendschriften von Herman Nohl (1879-1960), einem Schüler Wilhelm Diltheys, herausgegeben und stießen vor allem bei der sich herausbildenden Lebensphilosophie auf teils lebhaftes Interesse. 242,31-32 »Einigkeit des ganzen Menschen«] Nicht nachgewiesen. 242,32-33 hat man mit Recht eine anthropologische Metaphysik genannt] Vermutlich Anspielung auf die 1931 von Justus Schwarz (1901-1947) vorgelegte Untersuchung Die anthropologische Metaphysik des jungen Hegel. 242,36-37 »Der Geist des Christentums und sein Schicksal«] Hegels zwischen 1798 und 1800 entstandene Abhandlung, die erst ein Jahrhundert später im Rahmen der Jugendschriften publiziert worden ist, kennzeichnet den »Geist« des Christentums als einen der Liebe, der Versöhnung von Gott, Mensch und Natur. Dem wird in mitunter antisemitisch konnotierter Zuspitzung das Judentum als die Religion des knechtisch unversöhnten Entzweitseins von Gott und Mensch gegenübergestellt. 242,38-243,4 »In jedem Menschen […] eigene Flamme.«] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Der Geist des Christentums und sein Schicksal, in: ders., Werke, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 1: Frühe Schriften, Frankfurt a. M. 1986, S. 382. 243,23 »Identität des Innern mit dem Äußern«] »Die Seele ist als diese Identität des Innern mit dem Äußeren, das jenem unterworfen ist, wirklich; sie hat an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt, die als das Kunstwerk der Seele menschlichen, pathognomischen und physiognomischen Ausdruck hat.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes, in: ders., Werke, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1986, S. 192. 244,6-7 »die höchste Macht alles Seienden«] »Wenn von der Zeit gesagt wird, daß sie in der absoluten Betrachtungsart vertilgt sei; so wird sie getadelt, teils wegen der Vergänglichkeit, oder ihres negativen Charakters; aber diese Negativität ist der absolute Begriff selbst, das Un-
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endliche, das reine Selbst des Fürsichseins, wie der Raum das reine Ansichsein, gegenständlich gesetzt – Sie ist um deswillen die höchste Macht alles Seienden, und die wahre Betrachtungsart alles Seienden ist deswegen, es in seiner Zeit, d. h. in seinem Begriffe, worin alles nur als verschwindendes Moment ist, zu betrachten […].« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, hrsg. von Rolf-Peter Horstmann, Hamburg 1987, S. 12. 244,19-20 Gesetz der Dialektik, […] Synthese abgelöst wird] Hegel verwahrt sich allerdings wiederholt explizit gegen eine solche vereinfachende Schematisierung, die die dialektische Bewegung, die sich im Inneren der Gegenstände inhaltlich vollziehen solle, zu einem äußerlichen Mechanismus verkümmern ließe. 245,29 Bergson […], dessen durée eine fließende Gegenwart bedeutet] In seinem 1889 publizierten Essai sur les données immédiates de la conscience unterscheidet Bergson die durée (dt.: »Dauer«) von der Zeit, gegen deren äußerliche Ordnungsfunktion die durée als lebendig fließende Kontinuität abgesetzt wird. 246,25 iranischen Messianismus] In seinen »Vorlesungen über Judentum und Christentum«, die 1934 im Jüdischen Lehrhaus Frankfurt gehalten wurden, definiert Buber diesen Begriff: der unausgesetzte, Alles betreffende Kampf des Reiches des Lichtes mit dem Reich der Finsternis führe dazu, dass, kein menschliches Wesen diesen Kampf aufzulösen vermag, so dass »der Träger dieser Handlung, sofern er als Mensch erscheint, nicht mehr aus der Menschheit selbst kommt, nicht mehr je und je als ein Mensch, der versagen kann, der im echten Dialog mit Gott steht, sondern als ein Mittlerwesen, das, von oben nach unten gesandt, keine andere Funktion hat, als gesandt zu werden.« Martin Buber, Vorlesungen über Judentum und Christentum, jetzt in: MBW 5, S. 323. 247,23 Automessianismus] Bei Buber besitzt der Begriff eine durchweg negative Konnotation. So definiert er in seinem zu Lebzeiten unveröffentlichten, erst im Rahmen dieser Werkausgabe publizierten Vortrag »[Über den Chassidismus]«: »Sie [die automessianische Phase] besteht darin, dass immer wieder Menschen sich erheben, die glauben, dass sie, und zwar nicht in jener Weise, wie es allen Menschen zugeteilt ist, sondern in einer besonderen Weise, mit messianischer Kraft ausgestattet sind.« (Martin Buber, [Über den Chassidismus], jetzt in: MBW 17, S. 190.) Buber zufolge setzt diese automessianische Phase mit Jesus ein und endet mit der Katastrophe des Sabbatai Zwi (1626-1676).
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247,31-32 Vollendung verkündigt, auch hier ist der Messianismus säkularisiert] Die marxsche Theorie betrachtet die schließlich in den Kommunismus führende Aufhebung der Klassengesellschaft allerdings nicht als Eintritt eines Zustands der Vollendung, sondern explizit als eigentlichen Beginn der menschlichen Geschichte, als Austritt aus der Vorgeschichte. Es kommt also die Geschichte hier mitnichten zu einem messianischen Ende. 247,38-248,2 »Dialektik der Natur« […] Wiedergabe der Lehre Haeckels und anderer Evolutionisten] Friedrich Engels hat an dieser Schrift, die nur in skizzenhaften Ausführungen einzelner Themenkomplexe vorliegt, zwischen den Jahren 1873 bis 1882 gearbeitet. Erst postum erschien eine erste Ausgabe 1925 in der Sowjetunion. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Popularphilosophen Ernst Haeckel (1834-1919) macht allerings nur einen Teil der Ausführungen aus, die weniger unter Haeckels Einfluss selbst entstanden sind, als dass Engels vielmehr versuchte, die Dialektik Hegels gegenüber einer positivistisch und mechanistisch beschränkten Naturtheorie seiner Zeit fruchtbar zu machen. 248,33-36 »Wenn das Proletariat […] dieser Weltordnung.«] Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 391. 249,22 »mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses«] »Die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation.« (Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, in: Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 791.) 251,12 Feuerbach] Ludwig Feuerbach hat sich zunächst als Schüler Hegels betrachtet, von dessen System er sich schließlich mit der Wendung zu einer atheistischen Anthropologie, die alle religiösen Vorstellungen als Projektionen menschlicher Bedürfnisse betrachtete, distanzierte 251,17 Hume] David Hume (1711-1776): Philosoph der schottischen Aufklärung. Hume radikalisierte den skeptischen Vorbehalt gegenüber der objektiven Geltung von Naturgesetzen, indem er diese als bloß subjektive Vorstellungen des menschlichen Gemüts betrachtete, die Verallgemeinerungen von letztlich zufällig wiederholten Wahrnehmungen darstellten. 251,24-28 An dem Anfang der Philosophie […] ihrem Wesen nach wiederstrebe] »Im Bedürfnisse, entweder mit einem schlechthin Gewissen, d. i. der Gewißheit seiner selbst, oder mit einer Definition oder Anschauung des absolut Wahren anzufangen, können diese und andere dergleichen Formen dafür angesehen werden, daß sie die ersten
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sein müssen. Aber indem innerhalb jeder dieser Formen bereits Vermittlung ist, so sind sie nicht wahrhaft die ersten; die Vermittlung ist ein Hinausgegangensein aus einem Ersten zu einem Zweiten und Hervorgehen aus Unterschiedenen.« Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Erster Teil: Wissenschaft der Logik, in: ders., Werke, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1986, S. 183. 251,31-32 »Das reine Sein macht den Anfang«] »Das reine Sein macht den Anfang, weil es sowohl reiner Gedanke als das unbestimmte, einfache Unmittelbare ist, der erste Anfang aber nichts Vermitteltes und weiter Bestimmtes sein kann.« Ebd., S. 182 f. 251,33 »Das reine Sein ist nun die reine Abstraktion«] »Dieses reine Sein ist nun die reine Abstraktion, damit das Absolut-Negative, welches, gleichfalls unmittelbar genommen, das Nichts ist.« Ebd., S. 186. 252,5-6 »nicht den absoluten […] des Menschen«] »Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit und Totalität, der Gegenstand der neuen Philosophie, ist auch nur einem wirklichen und ganzen Wesen Gegenstand. Die neue Philosophie hat daher zu ihrem Erkenntnisprinzip, zu ihrem Subjekt nicht das Ich, nicht den absoluten, d.i abstrakten Geist, kurz, nicht die Vernunft in abstracto, sondern das wirkliche und ganze Wesen des Menschen.« Ludwig Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in: ders., Werke in sechs Bänden, hrsg. von Erich Thies, Bd. 3: Kritiken und Abhandlungen II (1839-1843), Frankfurt a. M. 1976, S. 315. 252,9 »Basis des Menschen« […] zur Universalwissenschaft«] »Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie – die Anthropologie also, mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft.« Ebd., S. 319. 253,8-13 »Der einzelne Mensch […] Ich und Du stützt. «] Ebd., S. 321. 253,18 wirklichkeitsfremden Kollektivismus] Allerdings lassen sich weder Begriff noch dem verwandte Vorstellungen in den Schriften von Marx belegen, die entgegen der späteren kollektivistisch-kommunistischen Arbeiterbewegung noch vom individuellen Geist des Liberalismus geprägt sind. Kommunismus wird von Marx nicht als kollektivistische Gemeinschaftsform, sondern als »Assoziation freier Individuen« definiert, die sich allerdings auf Grundlage eines Gemeineigentums an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln ergeben soll. 253,Anm 1 Karl Heim] (1874-1958): dt. prot. Theologe. Heim versuchte vor allem in seinem monumentalen Hauptwerk Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart (1931/52) den christlichen Glauben im Angesicht der modernen Naturwissenschaften zu verteidigen.
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253,Anm 1 Emil Brunner] (1889-1966): schweiz. prot. Theologe, begründete gemeinsam mit Karl Barth (1886-1968) die dialektische Theologie. Zwischen Buber und Emil Brunner ergab sich nach der Veröffentlichung von Zwei Glaubensweisen (1950) eine theologische Diskussion über die Funktion des Jesus als einer Mittlerfigur. Vgl. Karl-Josef Kuschel, Einleitung zu MBW 9, S. 60-63. 254,11-12 »Wie kann […] verhüllte Sache«] Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, in: KGA III.1, S. 336. 254,13-14 »das noch nicht festgestellte Tier«] »Grundsatz: das, was im Kampf mit den Thieren dem Menschen seinen Sieg errang, hat zugleich die schwierige und gefährliche krankhafte Entwicklung des Menschen mit sich gebracht. Er ist das n o c h n i c h t f e s t g e s t e l l t e T h i e r .« Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGA VII.2, S. 121. 254,17-19 »als die höchste […] Selbstwiederspruch«] »Das Umgekehrte, daß Alles bis zu uns herab Ve r f a l l ist, ist ebenso beweisbar. Der Mensch und gerade der Weiseste als die h ö c h s t e Ve r i r r u n g der N a t u r und Selbstwiederspruch (das leidendste Wesen): bis hieher s i n k t die Natur. Das Organische als Entartung.« Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGA VII.1, S. 165. 254,18-19 »Folge einer […] Vergangenheit«] »Mit ihm aber [dem schlechten Gewissen] war die grösste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen a m M e n s c h e n , a n s i c h : als Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit, eines Sprunges und Sturzes gleichsam in neue Lagen und DaseinsBedingungen, einer Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Furchtbarkeit beruhte.« Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: KGA VI.2, S. 339. 254,22-23 in seinem Nachlaß unter dem Titel »Der Wille zur Macht«] Die nachgelassenen Notizen Nietzsches zu einem unter diesem Titel geplanten Werk wurden erstmals 1901 zusammengestellt und publiziert. Auswahl und Anordnung dieser wie folgender Kompilationen, die fälschlich fingierten, es handele sich um ein ausgereiftes philosophisches Hauptwerk und teils Exzerpte Nietzsches als von diesem verfasste Aphorismen ausgaben, gilt als äußerst problematisch. Erst im Rahmen der durch Giorgio Colli (1917-1979) und Mazzino Montinari (1928-1986) erarbeiteten Kritischen Gesamtausgabe der Schriften Nietzsches wurde ein philologisch verlässlicheres Textkorpus erstellt. 254,23-24 »gleichsam ein Embryo des Menschen der Zukunft«] »Der bisherige Mensch – gleichsam ein Embryon des Menschen der Zu-
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kunft – a l l e gestaltenden Kräfte, die auf d i e s e n hinzielen, sind in ihm: und weil sie ungeheuer sind, so entsteht für das jetzige Individuum, j e m e h r e s z u k u n f t b e s t i m m e n d ist, L e i d e n .« Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGA VII.2, S. 208. 254,28-29 »Der Mensch ist […] was man will.«] Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGA VII.1, S. 505. 254,29-32 Der Mensch […] ›wozu leiden?‹«] »Sieht man vom asketischen Ideal ab: so hatte der Mensch, das T h i e r Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; ›wozu Mensch überhaupt?‹ – war eine Frage ohne Antwort: der W i l l e für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem grossen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch grösseres ›Umsonst!‹ D a s eben bedeutet das asketische Ideal: dass Etwas f e h l t e , dass eine ungeheure L ü c k e den Menschen umstand, – er wusste sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er l i t t am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein k r a n k h a f t e s Thier: aber n i c h t das Leiden selbst war ein Problem, sondern dass die Antwort fehlte für den Schrei der Frage, ›w o z u leiden?‹« Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: KGA VI.2, S. 429. 255,4-5 Der jetzige Mensch […] großes Versprechen«] »Der Mensch zählt seitdem m i t unter den unerwartetsten und aufregendsten Glückswürfen, die das ›große Kind‹ des Heraklit, heiße es Zeus oder Zufall, spielt, – er erweckt für sich ein Interesse, eine Spannung, eine Hoffnung, beinahe eine Gewissheit, als ob mit ihm sich Etwas ankündige, Etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein großes Versprechen sei …« Ebd., S. 339 f. 255,7 »ein Tier, das versprechen darf«] »Ein Tier heranzüchten, das v e r s p r e c h e n d a r f – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? ist es nicht das eigentliche Problem v o m Menschen?« Ebd., S. 307. 255,11-13 »Der moralische Hauptbegriff […] genommen«] Bei Nietzsche lautet der Satz, den Buber als wörtliches Zitat ausgibt, jedoch anders: »Haben sich diese bisherigen Genealogen der Moral auch nur von Ferne Etwas träumen lassen, dass zum Beispiel jener moralische Hauptbegriff ›Schuld‹ seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff ›Schulden‹ genommen hat?« Ebd., S. 313. 255,40-41 »alles Geschehen […] Mehrung von Macht«] »Alles Geschehen aus Absichten ist reduzirbar auf die A b s i c h t d e r M e h r u n g v o n M a c h t .« Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGA VIII.1, S. 103.
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255,41-256,1 alles Lebende […] Maximalgefühl von Macht«] »das Leben als die uns bekannteste Form des Seins ist spezifisch ein Wille zur Accumulation der Kraft […] strebt nach einem M a x i m a l - G e f ü h l v o n M a c h t : ist essentiell ein Streben nach Mehr von Macht.« Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGA VIII.3, S. 54. 256,3-4 »unersättliche Verlangen […] der Macht«] »Der siegreiche Begriff ›Kraft‹, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als ›Willen zur Macht‹, d. h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw.« Ebd., S. 287. 257,37 Jacob Burckhardt] (1818-1897): schweiz. Kulturhistoriker. Seine kulturgeschichtliche Monographie Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) fand breite Anerkennung und etablierte den Begriff der Renaissance als umfassende Bezeichnung einer ganzen Kulturepoche. Nietzsche lernte Burckhardt während seiner Jahre an der Baseler Univerität kennen. Die Ausführungen Nietzsches zum Willen zur Macht sind auch unter dem Eindruck des durch die Schriften Burckhardts vermittelten Renaissance-Geistes entstanden, dem Burckhardt selbst allerdings nüchtern und reserviert gegenüberstand. 257,41 »Weltgeschichtliche Betrachtungen«] Das Buch ist postum 1905 erschienen. 258,4-5 »der Machtsinn, […] an den Tag treibt«] »Das Entscheidende, Reifende und allseitig Erziehende ist viel eher der Machtsinn, der als unwiderstehlicher Drang das große Individuum an den Tag treibt, auch wohl in der Regel mit einem solchen Urteil über die Menschen verbunden ist, daß nicht mehr auf das zum Ruhme summierte Meinen derselben, sondern auf ihre Unterordnung und Brauchbarkeit gesehen wird.« Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: JBW 10, S. 523. 258,6-16 »die Bestimmung […] großen Zwecken nehmen«] »Die Bestimmung der Größe scheint zu sein, daß sie einen Willen vollzieht der über das Individuelle hinausgeht, und der je nach dem Ausgangspunct als Wille Gottes, als Wille einer Nation oder Gesammtheit, als Wille eines Zeitalters bezeichnet wird.« Jacob Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, in: JBW 10, S. 297. 258,18 Schlossers] Friedrich Christoph Schlosser (1776-1861): Verfasser universalhistorischer Darstellungen. Auf Schlossers Wort, Macht an sich sei böse, bezieht sich Burckhardt wiederholt. 258,19-22 »Und nun ist die Macht […] unglücklich machen.«] Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: JBW 10, S. 419.
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259,14 Empedokles] (ca. 496-ca. 435 v. Chr.): vorsokratischer Naturphilosoph. In der nur fragmentarisch überlieferten Lehre des Empedokles werden Menschen und Tieren nicht wesentlich unterschieden und unter der Maßgabe ihrer Verwandtschaft und dem normativen Prinzip der Gewaltlosigkeit der Fleichverzehr geächtet. 259,17-18 »Wir leiten […] Tiere zurückgestellt.«] »Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ›Geist‹, von der ›Gottheit‹ ab, wir haben ihn unter die Thiere zurückgestellt.« Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, in: KGA VI.3, S. 178. 259,19 der französischen Enzyklopädisten] Gemeint ist der Kreis der radikalen franz. Aufklärung, deren hauptsächliche Akteure sich um das Projekt Denis Diderots gruppierten, das Wissen ihrer Zeit unter progressiven Geschichtspunkten programmatisch im Sinne einer bürgerlichen Aufklärung umfassend darzustellen. Resultat der langjährigen Arbeit war die Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1750-1781), die zum Standardwerk der Aufklärung des 18. Jh. wurde. 259,23-24 »überspannte Tierart«] »Der Mensch, eine kleine überspannte Thierart, die – glücklicher Weise – ihre Zeit hat; das Leben auf der Erde überhaupt ein Augenblick, ein Zwischenfall, eine Ausnahme ohne Folge, Etwas, das für den Gesamt-Charakter der Erde belanglos bleibt; die Erde selbst, wie jedes Gestirn, ein Hiatus zwischen zwei Nichtsen […].« Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGA VIII.3, S. 284 f. 259,24 »Krankheit« der Erde] »Die Erde, sagte er, hat eine Haut; und diese Haut hat Krankheiten. Eine dieser Krankheiten heisst zum Beispiel: ›Mensch‹.« Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: KGA VI.1, S. 164. 259,36 »ein Versuchen, Tasten, Fehlgreifen«] Nietzsche spricht allerdings vom Geist, nicht vom Menschen überhaupt: »Ehemals sah man im Bewusstsein des Menschen, im ›Geist‹, den Beweis seiner höheren Abkunft […]. Wir haben uns auch hierüber besser besonnen: das Bewusstwerden, der ›Geist‹, gilt uns gerade als Symptom einer relativen Unvollkommenheit des Organismus, als ein Versuchen, Tasten, Fehlgreifen, als ein Mühsal, bei der unnöthig viel Nervenkraft verbraucht wird, – wir leugnen, dass irgend Etwas vollkommen gemacht werden kann, solange es noch bewusst gemacht wird.« Nietzsche, Der Antichrist, in: KGA VI.3, S. 178 f. 260,1-3 Entweder wird der Mensch […] »nur das Herdentier«] In seinen nachgelassenen Fragmenten schreibt Nietzsche: »[…] ich glaube, daß die commedia umana für einen epikurischen Zuschauer-Gott darin
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bestehen müßte, daß die Menschen vermöge ihrer wachsenden Moralität, in aller Unschuld und Eitelkeit sich vom Thiere zum Range der ›Götter‹ und zu überirdischen Bestimmungen zu erheben wähnen, aber in Wahrheit s i n k e n , das heißt durch Ausbildung aller der Tugenden, vermöge deren eine Heerde gedeiht, und durch Zurückdrängung jener andren und entgegensetzten, welche einer neuen höheren stärkeren h e r r s c h a f t l i c h e n Art den Ursprung geben, eben nur das Heerdenthier im Menschen entwickeln und vielleicht das Thier ›Mensch‹ damit f e s t s t e l l e n – denn bisher war der Mensch das ›nicht festgestellte Thier‹.« (Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGA VIII.1, S. 70.) 260,5-10 Oder aber der Mensch […] Neue sein wird.] »Eine Frage kommt mir immer wieder […]: wäre es nicht an der Zeit, je mehr der Typus ›Heerdenthier‹ jetzt in Europa entwickelt wird, mit einer grundsätzlichen künstlichen und bewußten Z ü c h t u n g des entgegesetzten Typus und seiner Tugenden den Versuch zu machen?« (Ebd., S. 71.) 260,14-15 »wir leugnen […] gemacht wird«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 259,36. 266,8-9 Edmund Husserl, ein Jude deutscher Kultur] Husserl wuchs im mährischen Proßnitz in einer assimilierten Kaufmannsfamilie auf und studierte Naturwissenschaften, Mathematik und Philosophie u. a. in Leipzig. Er konvertierte 1886 zum Protestantismus. 266,16 Schöpfer der phänomenologischen Methode] Husserl begann seine philosophische Laufbahn mit mathematischen und logischen Arbeiten, die in den 1900 veröffentlichten Logischen Untersuchungen gipfelten. Im Bestreben, die Mathematik, die Wissenschaften der Natur und des Geistes sowie alle erscheinenden Phänomene integral in einer strengen wissenschaftlichen Methode zu fundieren, begann er unter Einfluss der Gedanken seines Lehrers Franz Clemens Brentano (1838-1917), seine Phänomenologie zu erarbeiten. Ausgehend vom Begründungsproblem empirischer Wissenschaften, die, auf Vorurteilen und Vorannahmen beruhend, stets problematisch blieben, soll eine apriorische Grundlagenwissenschaft aus den Weisen des Bewusstseins in Korrelation mit den erscheinenden Gegenständen aufgebaut werden. Zentrale Arbeiten, in denen er die phänomenologische Methode explizierte, sind u. a. Philosophie als strenge Wissenschaft (1911) und Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913). 266,17-19 zwei Versuche […] von Martin Heidegger und der von Max Scheler] Martin Heideggers Sein und Zeit (1927) ging ebenso von
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Husserls Phänomenologie aus wie Max Scheler, der zwar eine »Philosophische Anthropologie« angekündigt und sogar eine Gliederung veröffentlicht, aber eine solche schließlich nicht vorgelegt hat. Lediglich einzelne kürzere Arbeiten zu diesem Komplex wurden ausgeführt, so der ursprünglich als Vortrag 1927 gehaltene und erst postum veröffentlichte Text Die Stellung des Menschen im Kosmos. 266,21-22 Abhandlung über die Krisis der europäischen Wissenschaften] In seinem 1936 erschienenen Text Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie kritisiert Husserl die modernen Wissenschaften dafür, dass sie den lebensweltlichen Boden, auf dem die Methoden der neuzeitlichen Wissenschaften wachsen, nicht thematisieren. 266,28-29 der erste der drei Sätze […] ringende Menschentum] »Nicht immer waren die spezifischen Menschheitsfragen aus dem Reiche der Wissenschaft verbannt und ihre innere Beziehung zu allen Wissenschaften, selbst zu denen, in welchen nicht der Mensch das Thema ist (wie in den Naturwissenschaften), außer Betracht gestellt. Solange es sich noch anders verhielt, konnte die Wissenschaft für das sich seit der Renaissance völlig neu gestaltende europäische Menschentum eine Bedeutung beanspruchen, ja, wie wir wissen, für diese Neugestaltung die führende Bedeutung.« (Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Hamburg 1992, S. 5.) 267,4-6 »Wird der Mensch […] als Vernunftwesen.«] Ebd., S. 7. 267,17 Zentaur] In der griech. Mythologie ein Mischwesen aus Pferd und menschlichem Oberkörper. 267,29-30 »Menschentum überhaupt […] Menschheiten.«] Ebd., S. 13. 268,10-12 Einfluß […] Kierkegaard] Buber bezieht sich darauf, dass Kierkegaard die Perspektive einer individualistischen Anthropologie vorbereitete, indem er den Menschen in seiner radikalen Vereinzelung vor Gott betrachtete. 268,14 Heidegger […] die Denkweise Kierkegaards übernommen] Neben Husserl bildet Kierkegaards Denken, das als Frühform einer allerdings noch religiös begründeten Existentialphilosophie gilt, eine bedeutsame Quelle für Heidegger, der unter anderem im Begriff der Angst auf Kierkegaards Arbeiten zurückgreift. 268,25-26 betonte immer wieder, daß er keine »Vollmacht« von oben habe] Gemäß der Unterscheidung, die Kierkegaard in seiner kleinen Abhandlung »Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel« trifft, hebe sich der unter göttlicher Vollmacht Handelnde – anders als das Genie, das eine lediglich quantitative Größe
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sei – absolut von den anderen Menschen ab, indem er paradox zu handeln beginnt. In diesem Sinne betont Kierkegaard, nicht selbst unter göttlicher Vollmacht zu handeln, sondern lediglich auf das Religiöse hinzuweisen. 269,38 nennt Kierkegaard das existenzielle Streben] Der Begriff selbst konnte bei Kierkegaard nicht nachgewiesen werden, doch wird allgemein die existentielle Bedeutung des Strebens nach Wahrheit für den Menschen als einem in seiner Einzelheit verlorenen Wesen von Kierkegaard betont. So heißt es in Einübung im Christentum: »Nein, das Sein der Wahrheit ist die Verdopplung in dir, in mir, in ihm, die darin besteht, daß dein, daß mein, daß sein Leben die Wahrheit im Streben danach annähernd ausdrückt, daß dein, daß sein Leben im Streben annähernd das Sein der Wahrheit ist, so wie die Wahrheit in Christus war, als ein L e b e n , denn er war die Wahrheit.« Sören Kierkegaard, Einübung im Christentum, übers. von Emanuel Hirsch, in: Gesammelte Schriften, Abt. 26, Düsseldorf 1951, S. 195. 270,12 das selber absolute Ich des deutschen Idealismus] Johann Gottlieb Fichte postuliert in seiner Philosophie ein absolutes Ich, das seine Welt als Nicht-Ich setzt und konstituiert. 271,8-9 Unter Dasein versteht er […] dieses seins hat.] »Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist.« Martin Heidegger, Sein und Zeit, in: HGA 2, S. 16 [12]. 272,4-5 eins der kühnsten und tiefsinnigsten Kapitel des Heideggerschen Buches] Buber spielt auf das 53. Kapitel »Existenzialer Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode« von Heideggers Sein und Zeit (1927) an, in welchem Heidegger das menschliche Dasein als »Sein zum Tode« und »Vorlaufen« in den Tod definiert. Vgl. ebd., S. 348 [262]. 272,6-9 Da ist alles Perspektive […] vorwegzunehmen] »Die existenzial entwerfende Umgrenzung des Vorlaufens hat die ontologische Möglichkeit eines existenziellen eigentlichen Seins zum Tode sichtbar gemacht. Damit taucht aber dann die Möglichkeit eines eigentlichen Ganzseinkönnens des Daseins auf – aber doch nur als eine ontologische Möglichkeit.« Ebd., S. 353 [267]. 273,9-10 Heidegger, der immer von der »Alltäglichkeit« ausgeht] Heidegger versucht in Sein und Zeit vor allem aus Alltagssituationen Bestimmungen einer Fundamentalontologie menschlichen Daseins abzuleiten. 273,25 »Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst«] Ebd., S. 365 [275].
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274,7 ich bin da, wenn ich da bin] Vgl. Ex 3,14 (die göttliche Namensoffenbarung). 274,38 Wort Nietzsches […] Gott sei tot] »Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! W i r h a b e n i h n g e t ö d t e t , – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? […] Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt dieses Blut von uns ab?« Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: KGA, V.2, S. 158 f. 279,9-11 »Jeder soll«, […] mit sich selbst reden.«] Kierkegaard führt aus: »Denn die ›Menge‹ ist die Unwahrheit. Ewig, fromm, christlich betrachtet gilt nämlich Pauli Wort: ›Nur einer erreicht das Ziel‹ – und er erreicht es nicht verhältnismäßig, denn in dem ›Verhältnis‹ sind ja doch die ›andern‹ mit dabei. Das will sagen: jeder kann dieser Eine sein; dazu will Gott ihm helfen – allein nur Einer erreicht das Ziel; und das will wieder sagen: jeder soll nur mit Vorsicht sich mit den ›andern‹ einlassen und wesentlich nur mit Gott und mit sich selbst reden – denn nur Einer erreicht das Ziel; und das will wieder sagen: der Mensch ist verwandt mit der Gottheit, oder ein Mensch sein heißt mit der Gottheit verwandt sein.« Sören Kierkegaard, Der Einzelne, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, übers. von Christoph Schrempf, Jena 1922, S. 80. 280,29 was Heidegger das »Man« nennt] Nach Heideggers Sein und Zeit ist menschliches Dasein als zu sich selbst sich verhaltendes Sein auf die faktischen Verhältnisse angewiesen. Entdecke es nicht im Vorlaufen in den Tod seine Möglichkeiten des Selbstentwurfes, werde es uneigentlich und verfalle dem Modus des unpersönlichen »Man«. In diesem als vorentschiedener Öffentlichkeit gehe das eigene wie das Sein des Anderen in seiner »Eigentlichkeit« verloren. »Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ›großen Haufen‹ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden ›empörend‹, was man empörend findet.« Heidegger, Sein und Zeit, in: HGA 2, S. 169 [126 f.]. 280,30-31 Kierkegaard mit seinem Begriff der »Menge« vorangegangen] So wie Heidegger das Man gegen die Eigentlichkeit des Daseins absetzt, forciert Kierkegaard einen Antagonismus zwischen dem Ein-
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zelnen und der Menge: »Ist die Menge das Böse, ist es das Chaos, das droht: so ist Rettung nur in Einem: der Einzelne werden, und ist der rettende Gedanke jener Einzelne.« Sören Kierkegaard, Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller, in: ders, Die Schriften über sich selbst, übers. von Emanuel Hirsch, Düsseldorf u. Köln 1951, S. 64. 281,13-14 sagt Heidegger, das Man nehme […] Verantwortung ab] Im »Man« ist alles unproblematisch vorentschieden: »Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft. Die Sorge der Durchschnittlichkeit enthüllt wieder eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung aller Seinsmöglichkeiten nennen.« Heidegger, Sein und Zeit, in: HGA 2, S. 169 [127]. 281,20-22 »zurückholt«] »Dieses wahllose Mitgenommenwerden von Niemand, wodurch sich das Dasein in die Uneigentlichkeit verstrickt, kann nur dergestalt rückgängig gemacht werden, daß sich das Dasein eigens aus der Verlorenheit in das Man zurückholt zu ihm selbst. Dieses Zurückholen muß jedoch die Seinsart haben, durch deren Versäumnis das Dasein in die Uneigentlichkeit sich verlor.« Ebd., S. 356 [268]. 286,34-35 Heidegger, der von […] Hölderlin, beeinflußt worden ist] Das Werk Friedrich Hölderlins gewinnt für Heideggers Schaffen vor allem ab Mitte der 1930er Jahre maßgebliche Bedeutung. 288,18-21 »Keine Zeit« […] als die heutige.«] Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, in: HGA 3, S. 209. 289,8 Scheler hat zwar sein Werk über den Gegenstand nicht vollendet] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 266,17-19. 289,13-15 »Wir sind das erste Zeitalter […] nicht weiß.«] Präziser lautet die Stelle: »Wir sind in der ungefähr zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos ›problematisch‹ geworden ist; in dem er nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, dass er es nicht weiß.« Max Scheler, Mensch und Geschichte, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, hrsg. v. Manfred S. Frings, Bern u. München 1976, S. 120. 289,30-33 »Geschichte des Selbstbewußtseins […] Theorien von Menschen«] »Eine Geschichte des Selbstbewußtseins des Menschen von sich selbst, eine Geschichte der idealtypischen Grundarten, in denen er sich selbst dachte, schaute, fühlte und in die Ordnungen des Seins hineingestellt ansah, müßte dabei einer Geschichte der mythischen, religiösen, theologischen, philosophischen Theorien vorhergehen.« Ebd.
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289,34-38 »Nur indem man« […] gelangen können.«] Ebd. 290,32-35 er sieht das Wesen des Weltgeistes […] weiß und verwirklicht«] Das Zitat konnte so nicht bei Scheler nachgewiesen werden. In seiner Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) heißt es allerdings: »Es ist eine der schönsten Früchte des sukzessiven Aufbaus der menschlichen Natur aus den ihr untergeordneten Daseinsstufen, wie ich ihn soeben zu geben versuchte, daß man zeigen kann, mit welcher inneren N o t w e n d i g k e i t der Mensch in demselben Augenblick, in dem er durch Welt- und Selbstbewußtsein und durch Vergegenständlichung auch seiner eigenen psycho-physischen Natur – den spezifischen Kundmerkmalen des G e i s t e s – ›M e n s c h ‹ g e w o r d e n ist, auch die formalste I d e e e i n e s ü b e r w e l t l i c h e n u n e n d l i c h e n u n d a b s o l u t e n S e i n s erfassen m u ß .« Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928, S. 105. 290,38-39 »Grund der Dinge« […] selbst verwirklich«] »Wir drücken dies Verhältnis aus, wenn wir sagen: Der Grund der Dinge mußte, wenn er seine deitas, die in ihr angelegte Ideen- und Wertfülle, v e r w i r k l i c h e n wollte, den weltschaffenden Drang e n t h e m m e n , um im zeithaften Ablauf des Weltprozesses s i c h s e l b s t zu verwirklichen – er mußte den Weltprozeß sozusagen i n K a u f n e h m e n , um in und durch diesen Prozeß sein eigenes We s e n zu verwirklichen.« Ebd., S. 82. 290,39 von dem menschlichen Selbst […] Prozesses dieser Gottwerdung ist«] »Der Ort also dieser Selbstverwirklichung, sagen wir gleichsam jener Selbstvergottung, die das durch sich seiende Sein s u c h t und um deren Werden willen es die Welt als eine ›Geschichte‹ in Kauf nahm – das eben ist der M e n s c h , d a s m e n s c h l i c h e S e l b s t u n d d a s m e n s c h l i c h e H e r z . Sie sind der e i n z i g e O r t der Gottwerdung, der uns zugänglich ist – aber ein wahrer Te i l dieses transzendenten Prozesses selbst.« Ebd., S. 111. 291,17 nach einer katholischen Periode] Während der Zeit des ersten Weltkriegs und der ersten Jahre der Weimarer Republik arbeitete Scheler u. a. an der katholischen Zeitschrift Hochland mit, beschäftigte sich mit katholischer Philosophie und optierte für einen christlichen Sozialismus als einem dritten Weg zwischen westlichem Kapitalismus und östlichem Kommunismus. Mit Beginn der zwanziger Jahre setzt eine zunehmende Distanzierung zum Katholizismus ein. 291,18 zu einem Theismus bekannte] Der Theismus postuliert die aktive transzendente Wirkung eines personellen Gottes. Schelers Gedenkrede zu Spinozas 250. Todestag 1922 markiert mit der Abwendung vom Theismus auch die vom Katholizismus.
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291,21-22 Heidegger […] Theismus] Martin Heidegger studierte zunächst katholische Theologie und habilitierte sich zur Kategorienund Bedeutungslehre des (Pseudo)-Duns Scotus. 292,8-14 Ich hatte seit 1900 […] Schechina zu vereinigen.] Buber umreißt hier mit seltener Offenheit die Etappen seiner gedanklichen Entwicklung. Diese angesprochene frühe Phase Bubers, während der er sich mit dem Komplex »Mythos und Mystik« beschäftigte, ist in MBW 2.1 dokumentiert. 292,9 Meister Eckhart] Meister Eckhart, auch Eckhart von Hochheim (ca. 1260-1328) ist einer der bedeutendsten dt. Theologen und Philosophen des Hochmittelalters. Sein mystisches Denken wurde nach der Edition seiner Predigten und Traktate durch Franz Pfeiffer im Jahr 1857 besonders zu Anfang des 20. Jhs. zum Gegenstand regen Interesses. Bubers Freund Gustav Landauer (1870-1919) übertrug 1903 in einer populären Ausgabe eine Vielzahl von Predigten Meister Eckharts ins Hochdeutsche. 292,9 Angelus Silesius] eigentl. Johannes Scheffler (1624-1677): dt. Lyriker und Theologe; zunächst evang. getauft, bekannte er sich 1653 öffentlich zum Katholizismus, da dieser mit seiner Mystik im Gegensatz zum Protestantismus, der »Abgötterei der Vernunft« betreibe, »der Christen höchste Weisheit« sei. 292,12 späteren Kabbala] Gemeint ist die kabbalistische Lehre Isaac Lurias (1534-1572), die von seinem Schüler Chajim Vital (1543-1620) niedergeschrieben worden ist. 292,14 Schechina] hebr. »Gottes Einwohnung«. Die Kabbala bezeichnet damit Gottes prekäre, selbst ins Exil geratene und der Rettung bedürfende Gegenwart in der Welt. 292,19 aber sie war mir längst vernichtet worden] Buber spielt auf seine Hinwendung zur dialogischen Philosophie an, verschweigt jedoch den Anlass jener Abkehr. 292,21 entscheidende Erfahrung] Es ist unklar, auf welches Ereignis in Schelers Biographie Buber hier anspielt. 292,25-26 hat nach Scheler zwei Attribute, den Geist und den Drang] »Geist und Drang, die beiden Attribute des Seins, sie sind, abgesehen von ihrer erst w e r d e n d e n gegenseitigen Durchdringung – als Ziel –, a u c h i n s i c h n i c h t f e r t i g : sie w a c h s e n an sich selbst eben in diesen Manifestationen in der G e s c h i c h t e des menschlichen Geistes und in der Evolution des Lebens der Welt.« Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 111 f. 292,27 zwei nur zwei von unendlich vielen] Spinoza lehrt, die absolute Substanz Gottes trete in zwei Attributen von unendlich vielen für
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den menschlichen Geist in Erscheinung: als ausgedehnter Raum, res extensa, und als intelligible Bestimmtheit, als Denken, der res cogitans. 293,15 die beiden Urprinzipien Schopenhauers] Der dt. Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) unterscheidet, wie bereits im Titel seines 1819 erschienenen Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung abzulesen ist, Wille und Vorstellung als grundlegende Weltprinzipien. 293,24 »als geistiges Sein […] Kraft«] »Auch das Sein, das nur ›durch sich selbst‹ ist und von dem alles andere abhängt, kann, sofern ihm das Attribut des ›Geistes‹ zugesprochen wird, als geistiges Sein keinerlei ursprüngliche Macht oder Kraft besitzen.« Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 82. 293,26-28 Ihr steht […] blind ist.] »Es ist vielmehr jenes andere zweite Attribut, […] es ist die ›n a t u r a n a t u r a n s ‹ im höchsten Sein, der allmächtige, mit unendlichen Bildern geladene D r a n g , der die W i r k l i c h k e i t […] zu verantworten hat.« Ebd. 293,30 den Drang »enthemmen«] Vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 290,38-29. 293,37-39 »in dem das Urseiende […] erlösen beginnt«] »Der Mensch, als Vitalwesen ganz ohne Zweifel eine Sackgasse der Natur, ihr Ende und ihre höchste Konzentration zugleich, ist als mögliches ›Geistwesen‹ – als mögliche Selbst-Manifestation des göttlichen Geistes –, ist als ein Wesen, das in dem tätigen Mitvollzug der Geistesakte des Weltgrundes sich selbst zu ›deifizieren‹ vermag, eben noch ein Anderes als diese Sackgasse – er ist zugleich der helle und herrliche Ausweg aus dieser Sackgasse, ist das Wesen, in dem das Urseiende sich selbst zu wissen und zu erfassen, zu verstehen und sich zu erlösen beginnt. Der Mensch ist also beides zugleich: eine Sackgasse und – ein Ausweg!« Max Scheler, Die Formen des Wissens und die Bildung, Bonn 1925, S. 16 f. 293,38-294,4 »das relative Gottwerden beginnt«] »[…] so ist dieser ›Mensch‹, in dem ja immer schon das relative Gottwerden, wenn auch unbewußt ihm selbst, beginnt, wenn er und wo er nur qualitativ mehr ist als Tier, nicht ein ruhendes Sein, nicht ein Faktum, sondern nur eine mögliche Prozeßrichtung, und zugleich für das Naturwesen Mensch eine ewige Aufgabe, ein ewig leuchtendes Ziel.« Max Scheler, Philosophische Weltanschauung, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9: Späte Schriften, hrsg. von Manfred Frings, Bern u. München 1976, S. 97. 294,1-4 »Das Sein […] Deitas verwirklicht.«] »Und nur in dem Maße wird das ›Sein durch sich‹ zu einem Sein, das würdig wäre, göttliches
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D a s e i n zu heißen, als es im D r a n g e d e r We l t g e s c h i c h t e im Menschen und d u r c h den Menschen die ewige Deitas verwirklicht.« Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 82 f. 295,25-26 Scheler erklärt […] »Weltschöpfung aus nichts«] »Nennen wir das rein geistige Attribut im obersten Grunde alles endlichen Seins ›deitas‹, so kommt ihr, kommt dem, was wir den Geist und die Gotth e i t in diesem Grunde nennen, keinerlei positive schöpferische Macht zu. Der Gedanke einer ›Weltschöpfung aus nichts‹ zerfällt vor dieser Folgerung.« Ebd., S. 82. 296,15-17 Im Menschen, sagt Scheler […] ›sammelnden‹ Person«] »Der Geist selbst ist, wie wir sagten, in letzter Linie ein Attribut des Seienden selbst, das im Menschen manifest wird, in der Konzentrationseinheit der sich zu sich ›sammelnden‹ Person.« Ebd., S. 66. 296,17-21 Auf der Stufenleiter […] zu erfassen«] »Sieht das alles nicht so aus, als gäbe es eine S t u f e n l e i t e r, auf der ein urseiendes Sein sich im Aufbau der Welt immer mehr a u f s i c h s e l b s t z u r ü c k b e u g t , um auf immer höheren Stufen und in immer neuen Dimensionen sich s e i n e r s e l b s t inne zu werden – um schließlich im M e n s c h e n sich selbst g a n z zu haben und zu erfassen?« Ebd., S. 53. 296,21-22 Hegelsche Stufenleiter] Schelers Philosophie ahmt in vielen Bestimmungen Hegels Philosophie nach. Hier wie dort gipfelt die Entwicklung des Geistes in dessen Selbsterkenntnis, die sich als philosophisches Selbstbewußtsein des Menschen und in der Verwirklichung seiner vernünftigen Freiheit darstellt. 296,23-24 »mit Energie beliefern«] »Nach meiner Überzeugung ist durch jene negative Tätigkeit, jenes ›Nein‹ zur Wirklichkeit, k e i n e s w e g s das S e i n des G e i s t e s , sondern nur gleichsam seine B e l i e f e r u n g m i t E n e r g i e und damit seine Manifestationsfähigkeit bedingt.« Ebd., S. 66. 296,25-32 Diesen Vorgang schildert Scheler […] Willensprojekt ausführen] »E b e n d e r G e i s t i s t e s , d e r b e r e i t s d i e Tr i e b v e r d r ä n g u n g e i n l e i t e t , indem der ideen- und wertgeleitete ›Wille‹ all den ideewiderstreitenden Impulsen des Trieblebens die zu einer Tr i e b h a n d l u n g notwendigen Vorstellungen versagt und anderseits die den Ideen und Werten angemessenen Vorstellungen den lauernden Trieben wie Köder vor Augen stellt, um die Triebimpulse auf diese Weise so zu koordinieren, daß sie das g e i s t g e s e t z t e W i l l e n s p r o j e k t ausführen.« Ebd., S. 72 f. 298,14-21 Akt der Ideierung […] Schmerz überhaupt« möglich sei] »Wollen wir uns die Besonderheit, die Eigenartigkeit dessen, was wir
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›Geist‹ nennen, noch im einzelnen klarer machen, so knüpfen wir am besten an einen spezifisch geistigen Akt an, d e n A k t d e r I d e i e r u n g . Er ist ein von aller technischen Intelligenz völlig verschiedener Akt. […] Ich kann aber denselben Schmerz auch als B e i s p i e l fassen für den höchst seltsamen und höchst verwunderlichen We s e n s verhalt, daß diese Welt ü b e r h a u p t schmerz-, übel- und leidbefleckt i s t . Dann werde ich anders fragen: Was ist denn eigentlich d e r S c h m e r z s e l b s t – abgesehen davon, daß i c h ihn j e t z t h i e r habe – und wie muß der Grund der Dinge beschaffen sein, daß so etwas wie ›Schmerz überhaupt‹ möglich ist?« Ebd., S. 60. 298,27 »im Grunde asketischen Akt der Entwirklichung«] »Dieser im Grunde a s k e t i s c h e A k t d e r E n t w i r k l i c h u n g kann, wenn Dasein ›Widerstand‹ ist, nur in der Aufhebung, in der Außerkraftsetzung eben jenes L e b e n s dranges bestehen, i m Ve r h ä l t n i s z u d e m die Welt vor allem als Widerstand erscheint, und der zugleich die B e d i n g u n g ist aller sinnlichen Wahrnehmung des zufälligen Jetzt-Hier-So.« Ebd., S. 65. 299,7-8 »was ist denn […] jetzt hier habe?«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 298,14-21. Die Hervorhebungen sind von Buber gesetzt. 301,23 seiner ersten anthropologischen Abhandlung […] beim »Gottsucher« anfangen] Buber dürfte damit Schelers 1914 entstandene Schrift Zur Idee des Menschen gemeint haben, wo der Mensch als »Gottsucher« definiert wird. Vgl. Max Scheler, Zur Idee des Menschen, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, Bern 1972, S. 171-195, hier S. 189. 301,25-29 Zwischen dem Tier […] Wesensunterschied] »Die E i n e n wollen dem Menschen Intelligenz und Wahl vorbehalten und sie dem Tiere absprechen. Sie behaupten also zwar einen We s e n s unterschied, behaupten ihn aber eben da, wo nach meiner Ansicht k e i n Wesensunterschied vorliegt. […] Ich behaupte: Das Wesen des Menschen und das, was man seine S o n d e r stellung nennen kann, steht h o c h über dem, was man Intelligenz und Wahlfähigkeit nennt, und würde auch nicht erreicht, wenn man sich diese Intelligenz und Wahlfähigkeit quantitativ beliebig, ja bis ins Unendliche gesteigert vorstellte.« Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 45 f. 301,37-302,1 Der Mensch als Vitalwesen […] Sackgasse«] Vgl. Wortund Sacherläuterungen zu 293,37-39. 302,1-3 Den Mensch […] Prozeßrichtung«] Vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 293,38-294,4.
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302,37-303,1 Verdrängung und Sublimierung […] Begriffsschatz Sigmund Freuds] Der Lehre Sigmund Freuds (1856-1939) zufolge, der Theorie und Praxis der Psychoanalyse entwickelte, führt die Verdrängung gesellschaftlich tabuisierter Triebe zu kulturell sanktionierten Ersatzbefriedigungen, ihrer geistigen Sublimierung. Die Dialektik von Verdrängung und Sublimierung wird als zivilisatorischer, zu menschlicher Kultur und Wissenschaft führender Prozess verstanden. 303,36-37 das Mißtrauen der Grundton des Lebens wird] Diesen Gedanken hat Buber vor allem in seiner späten Philosophie nach dem Krieg während der sich zuspitzenden Block-Konfrontation aufgegriffen. 307,14-15 amor fati] lat.: »Liebe zum Schicksal«; von Friedrich Nietzsche geprägter Begriff, der mit diesem die Bejahung der »Wiederkehr des Ewiggleichen« bezeichnet. So heißt es bei Nietzsche: »Meine Formel für die Grösse am Menschen ist a m o r f a t i : dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht.« (Friedrich Nietzsche, Ecce homo, in: KGA VI. 3, S. 295.) 310,13 Ein wirkliches Gespräch] Damit spielt Buber auf seine eigene Dialogphilosophie an, die er mit Ich und Du (1923) eingeführt und in den sich anschließenden Schriften zum dialogischen Prinzip weiter entfaltet hat.
Zur Situation der Philosophie Buber hielt diesen Vortrag auf dem »10. Internationalen Kongress der Philosophie«, der 1948 in Amsterdam abgehalten wurde. Ausgerichtet von der holländischen Regierung und der soeben gegründeten UNESCO, war der Kongress dem Andenken der während des Zweiten Weltkriegs von den Nationalsozialisten ermordeten Philosophen gewidmet. Auf dem Kongress, der ca. 300 Vorträge umfasste, waren neben Buber u. a. Bertrand Russell (1872-1970), Karl Löwith (1897-1973), Karl Popper (1902-1994) und Maurice Blondel (1861-1949) vertreten. Bubers Beitrag bringt in vieler Hinsicht Positionen seiner Philosophie zur Sprache, die er in den Büchern Das Problem des Menschen – die deutsche Ausgabe erschien im selben Jahr – und Gottesfinsternis ausführlicher darlegen sollte. Bubers Gedanken in seinem Vortrag weisen zum einen eine enge Verwandtschaft mit seiner Vortragsreihe »Religion als Gegenwart«, zum anderen mit seinem Aufsatz »Rosenzweig und die Existenz« auf. Seine Ausführungen zur Situation der Philosophie widmen sich dem Problem der Wahrheit in Auseinandersetzung mit Ge-
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danken Heideggers. Zentral für diese Auseinandersetzung ist der Begriff der Kritik. Buber geht in seinem Vortrag vom Problem der »Funktionalisierung des Wahrheitsbegriffs« aus. Seine Ausführungen weisen dabei eine genaue Parallelität zum Auftakt seiner Gedankenführung in der Vortragsreihe »Religion als Gegenwart« auf, ging es doch dort um das Phänomen der Funktionalisierung der Religion, d. h., wie er dort schrieb, um »eine Tendenz nach Entselbständigung der religiösen Sphäre« (Buber, Religion als Gegenwart, jetzt in diesem Band, S. 91). Buber bestimmt, dass es die Aufgabe der Gegenwart sei, gegen die Funktionalisierung des Wahrheitsbegriffs und den damit verbundenen Verfall des Glaubens an die Wahrheit vorzugehen, ohne dabei jedoch auf einen vorkritischen Wahrheitsbegriff zurückzufallen. Dies führt auf eine Auseinandersetzung mit Heidegger. In seinem Aufsatz »Rosenzweig und die Existenz« wird Buber einige Jahre später »eine so unbedingte Wahrheit«, wie sie Heidegger in seinem Denken der durch den Menschen »ans Licht« kommenden »Verborgenheit des Seins« vertritt, durch Rosenzweigs »Wahrheit für jemanden« in Frage stellen. Hier in »Zur Situation der Philosophie« nimmt er einige damit verwandte Abgrenzungen vor, indem er Heideggers Denken den Begriff der »Menschenwahrheit« entgegenstellt und diesem vorwirft, er wolle sich der »Last des denkerischen Gewissens, die die kritische Selbsterkenntnis des Menschen uns aufgeladen hat« entledigen. Buber ist allerdings mit Heidegger einverstanden, wenn er die Wahrheit nicht in die Subjektivität verlegen will, sondern »von ihr als inhärenter Eigenschaft des Seins« spricht. Er hat Heideggers »Brief über den ›Humanismus‹« im Blick, wenn er behauptet, dieser verabschiede sich von der »kritische[n] Selbsterkenntnis des Menschen«. Textzeugen: D1: Proceedings of the Xth International Congress of Philosophy, Amsterdam: North-Holland Publishing 1949, S. 317-318 (MBB 818). 2 D : Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 136-138 (MBB 1270). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: »On the Situation of Philosophy«, in: A Believing Humanism. My Testament. 1902-1965, übers., eingel. und annotiert von Maurice Friedman, [Credo Perspectives], New York: Simon and Schuster 1967 (MBB 1293).
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Hebräisch: in: Olelot, Jerusalem: Mossad Bialik 1966 (MBB 1292). Niederländisch: in: Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw und Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Wort- und Sacherläuterungen: 313,9-11 wie es in einem bedeutenden Versuch unserer Tage […] geschieht] Martin Heideggers Schrift »Vom Wesen der Wahrheit« erschien in erster Auflage im Jahr 1943. Die Schriften »Platons Lehre von der Wahrheit« und »Brief über den ›Humanismus‹« wurden zusammen im Jahr 1947 veröffentlicht. 313,12-13 »Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Gegenstande«] »Unverborgenheit heißt griechisch ἀλήϑεια, welches Wort man mit ›Wahrheit‹ übersetzt. Und ›Wahrheit‹ bedeutet für das abendländische Denken seit langer Zeit die Übereinstimmung des denkenden Vorstellens mit der Sache: adaequatio intellectus et rei.« Martin Heidegger, »Platons Lehre von der Wahrheit«, in: HGA 9, S. 203-238, hier S. 218. 313,17-18 als schickte das Sein […] Offenbarheit zu gelangen] »Freilich beruht die Wesenshoheit des Menschen nicht darin, daß er die Substanz des Seienden als dessen ›Subjekt‹ ist, um als der Machthaber des Seins das Seiendsein des Seienden in der allzu laut gerühmten ›Objektivität‹ zergehen zu lassen. / Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins ›geworfen‹, daß er, dergestalt ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine. Ob es und wie es erscheint, ob und wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur in die Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch.« (Martin Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: HGA 9, S. 330.) 313,26 (Vico)] Gemeint ist der ital. Philosoph Giambattista Vico (16681744). Vico schuf in seinem Hauptwerk Principii di una scienzia nuova (1725) eine Geschichtsphilosophie und Theorie der Geisteswissenschaften, die im corso e ricorso das Durchlaufen von drei verschiedenen Geschichtsepochen des Menschen, die sich zyklisch wiederholen, darstellte. Diese sette dei tempi verfolgte er von den mythischen Anfängen der Menschengeschichte bis in neuere Zeiten. Gegen das Aufklärungsdenken, das sich zu seiner Zeit in Neapel verbreitete, suchte Vico im Mythos und in Bildern eigenständige Ausdrucksweisen des Geistes, die sich nicht erst durch die Vernunft übersetzen lassen mussten, um legitimiert zu sein. Sein Werk ist eine Vorwegnahme jener Methoden des geschichtlichen Verstehens in der
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Rechtwissenschaft und allgemein in den Wissenschaften vom Menschen, die sich in der Romantik entwickelten. Buber erwähnt Vico auch in seinem Buch Bilder von Gut und Böse. 313,26 (Kant)] In seiner Kritik der reinen Vernunft behandelt Kant im ersten Teil des Abschnitts »Transzendentale Elementarlehre« die »Transzendentale Ästhetik«. Darin werden Raum und Zeit als die Formen der reinen Anschaung definiert. Kants Lehre von Raum und Zeit als »Formen unserer Anschauung« war von entscheidender Bedeutung für Buber als Heranwachsenden. Gequält von den Antinomien der Vorstellung der Zeit, die ihn nicht entscheiden ließen, ob die Zeit einen Anfang habe oder unendlich sei, habe die Lektüre von Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (1793), spezifisch die darin enthaltene Behandlung der Formen der reinen Anschauung, ihn von seiner Verzweiflung befreit. Vgl. Martin Buber, Begegnung, S. 17 f. (jetzt in: MBW 7, S. 283). 314,2-3 »Lichtung« des Seins] Dieser Ausdruck findet sich in den Texten Heideggers der dreissiger Jahre und danach. Heidegger schreibt in seinem Text Vom Wesen der Wahrheit in einem Zusatz der zweiten Auflage: »Wahrheit bedeutet lichtendes Bergen als Grundzug des Seyns. […] Das lichtende Bergen ist, d. h. läßt wesen, die Übereinstimmung zwischen Erkenntnis und Seiendem. […] Die Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Wahrheit ist die Sage einer Kehre innerhalb der Geschichte des Seyns. Weil zu ihm lichtendes Bergen gehört, erscheint Seyn anfänglich im Licht des verbergenden Entzugs. Der Name dieser Lichtung ist ἀλήϑεια.« (Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, in: HGA 9, S. 201.) 314,14 Sein des Seienden] »Seit der Auslegung des Seins als ἰδεα ist das Denken auf das Sein des Seienden metaphysisch, und die Metaphysik ist theologisch. Theologie bedeutet hier die Auslegung der ›Ursache‹ des Seienden als Gott und die Verlegung des Seins in diese Ursache, die das Sein in sich enthält und aus sich entläßt, weil sie das Seiendste des Seienden ist.« (Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, in: HGA 9, S. 235 f.)
Bilder von Gut und Böse Im Vorwort seines Buches Bilder von Gut und Böse, das 1952 auf Deutsch erschienen ist, erklärt Buber, dass ihn das »Problem des Bösen« zwar schon von Jugend an beschäftigt habe, dass das Thema aber erst in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg Konturen angenommen habe und
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von ihm als solches »selbständig erfaßt worden« sei (vgl. Martin Buber, Bilder von Gut und Böse, jetzt in diesem Band, S. 316). Es ging Buber darum, eine existenzphilosophisch begründete und gleichzeitig »synthetische Beschreibung« von Gut und Böse, »gutem und bösem Trieb«, Freiheit und Determination zu geben, d. h. die »anthropologische[n] Wirklichkeit« von »Gut und Böse, im faktischen Lebenszusammenhang der menschlichen Person« aufzuzeigen (ebd.). Das Neue an Bubers »synthetischer« Lehre von Gut und Böse ist, dass sie deren Verhältnis nicht länger als ein antinomisches auffasst, als das »zwei[er] einander polar entgegengesetzte[r] Mächte oder Richtungen«, sondern vielmehr als das zweier »wesensungleicher«, d. h. prinzipiell gleichwertiger Kräfte, die dem Menschen als solche »mitgegeben« seien (Buber, Bilder von Gut und Böse, jetzt in diesem Band, S. 333). Der »›böse Trieb‹« der, wie Buber in Bilder von Gut und Böse ausführt, an sich nicht böse ist, sondern erst durch den Menschen dazu gemacht wird, »ist nicht weniger notwendig als sein Geselle [der gute Trieb, die »reine Richtung«].« (Ebd.) Der Mensch werde erst zum Menschen, indem er beide Triebe in sich eine: »Die beiden Triebe einen, das will sagen: die richtungslose Potenz der Leidenschaft mit der einen Richtung versehen, die sie zur großen Liebe und zum großen Dienste tauglich macht. So und nicht anders kann der Mensch ganz werden.« (Jetzt in diesem Band, S. 334.) Buber sucht, wie er im Vorwort zu Bilder von Gut und Böse ankündigt, das Problem des Bösen nicht zu »lösen« und damit aus der Welt zu schaffen, sondern eine »synthetische Beschreibung des geschehenden Bösen zu geben« (jetzt in diesem Band, S. 316). Dabei ging es ihm in erster Linie darum, dem Menschen zu helfen, die Existenz des Bösen »zu verstehen« und zu verdeutlichen, woher das Böse komme und wo der Kampf gegen das Böse beginnen müsse: nämlich beim Menschen selbst. Dies ist auch das Leitthema seines ersten Buches, das er der Beschreibung des Verhältnisses von Gut und Böse gewidmet hat: der bereits vor dem Ersten Weltkrieg begonnenen Chronik Gog und Magog (hebräischer Erstdruck 1941; hebr. Buchausgabe 1943; deutsche Ausgabe 1949; jetzt in: MBW 19), die er im Kontext von Bilder von Gut und Böse zitiert. Das Thema ging ihm persönlich so nahe, dass sich die Fertigstellung seiner Chronik immer wieder verzögerte und sein Buch erst viele Jahre später erscheinen konnte. In einem wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verfassten Brief an Franz Rosenzweig, vom 18. Januar 1923, bekennt Buber: »Der ›Gog‹ bedrängt mich sehr, […] ich kriege mit einer sinnenfälligen Deutlichkeit, die ganz anders als alle Phantasie ist, zu spüren, wie das ›Böse‹ zum Werden des Reiches gehört.« (B II, S. 153.)
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Wie Buber im Vorwort zu Bilder von Gut und Böse angibt, steht die Entstehungsgeschichte seines Buches thematisch in einem engen Zusammenhang mit seinen Frankreich-Aufenthalten während der Entretiens d’été de Pontigny in den Jahren 1935 und 1936. Die Entretiens oder Décades de Pontigny wurden 1910 von dem französischen Philosophen und Publizisten Paul Desjardins (1859-1940) ins Leben gerufen, der gemeinsam mit befreundeten Intellektuellen 1892 die Union pour l’action morale, einen sozial-liberalen Gelehrtenzusammenschluss, gegründet hatte, der ab 1902 in Union pour la vérité umbenannt wurde und seinen Sitz in Paris hatte. Die Union pour la vérité vertrat schon früh eine kosmopolitisch geprägte Europakonzeption, hinsichtlich derer die Diskussion der deutsch-französischen Kulturbeziehungen im Vordergrund stand. Pontigny und die Union gehörten neben dem Schriftstellerkreis um die von André Gide, Jean Schlumberger (1877-1968) und Charles Du Bos (1882-1939) im Jahr 1909 gegründeten Literaturzeitschrift Nouvelle Revue Française (NRF) und dem Kreis um den Industriellen Émil Mayrisch zu den bedeutendsten europaorientierten Intellektuellenassoziationen (»sociabilités«) Frankreichs. Deren Mitglieder unterhielten enge persönliche Kontakte, einte sie doch zumindest ihr anti-nationalistischer Kurs und das Konzept einer gemeinsamen Kultur trotz nationaler Besonderheiten. Nachdem mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs die deutsch-französischen Kulturbeziehungen ein abruptes Ende gefunden hatten, avancierte Pontigny in den 1920er und 30er Jahren zu einem bedeutenden Ort der Wiederaufnahme des deutsch-französischen Dialogs auf Augenhöhe. Angesichts des auf beiden Seiten der Grenze dominierenden Militarismus und Nationalismus der Zwischenkriegsjahre einte Organisatoren wie Teilnehmer der Sommergespräche die Vision eines gemeinsamen »Europe de l’Esprit«, einer Gemeinschaft sich komplementär ergänzender Kulturtraditionen aus dem Geist des europäischen Humanismus. Um seinem Projekt ein Forum in der Öffentlichkeit zu schaffen, wandte sich Desjardins bereits anlässlich der Planung der ersten Décade mit der Bitte um Mitwirkung an die Herausgeber der Nouvelle Revue Française, zu denen er beste persönliche Kontakte unterhielt. Seither fanden die Sommergespräche unter der Leitung der Union pour la vérité und der Redaktionsgruppe der NRF statt, die die erste literarische Dekade zum Thema »La poésie contemporaine« (10.–19. September 1910) organisierte und die auch künftig einen wesentlichen Einfluss auf die Programmgestaltung der Entretiens nahm. Auf Einladung Desjardins und seiner Mitarbeiter kamen in dem elitären Rahmen der abgelegenen Zis-
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terzienser-Abtei in der Bourgogne von 1910 bis 1913 und dann wieder zwischen 1922 und 1939 dreimal jährlich im Sommer zwischen 30 und 50 ausgesuchte Repräsentanten der europäischen Intelligenz – Schriftsteller, Wissenschaftler und Politiker – zu einem jeweils 10-tägigen Meinungsaustausch zusammen. Während es für den Ablauf der Gespräche kein vorgegebenes Schema gab, sondern unter Gleichgesinnten frei und kritisch diskutiert wurde, war das jeweilige Diskussionsthema doch minutiös im Vorhinein durch die Veranstalter festgelegt. Neben einer literarischen Dekade, die von Anfang an eine dominierende Rolle einnahm, gab es in jedem Jahr auch eine philosophische und eine politische Dekade, die jeweils ein breites Themenspektrum umfassten. Zu den namhaften internationalen Teilnehmern der Dekaden zählten – um nur einige wenige zu nennen – François Mauriac (18851970), André Malraux (1901-1976), Léon Brunschvicg (1869-1944), Jean Wahl (1888-1974), Gabriel Marcel (1889-1973), T. S. Eliot (1888-1965), José Ortega y Gasset, Leo Schestow sowie Nicolaj A. Berdjajew (18741948) und auf deutscher Seite neben Buber auch Walter Benjamin, Martin Heidegger, Bernhard Groethuysen, Ernst Robert Curtius (1886-1956), Max Scheler oder Heinrich und Thomas Mann. Nach Desjardins Tod und dem Verkauf der Abtei in den 50er Jahren führten Anne HeurgonDesjardins und ihre Töchter das Werk ihres Vaters fort. Die Familie erwarb Cerisy-la-Salle, einen Adelssitz in der Normandie und gründete dort 1952 das Centre culturel international de Cerisy, wo noch heute regelmäßig Kolloquien stattfinden. In einem Brief vom 17. Juli 1928 richtet sich Paul Desjardins an Buber, um diesen im Namen der »Société de l’Abbaye de Pontigny« nachdrücklich zur Teilnahme an den Sommergesprächen einzuladen. Max Scheler, auf dessen Anwesenheit man gezählt habe, sei in der Zwischenzeit (am 19. Mai desselben Jahres) leider verstorben und nun seien die Veranstalter in eine prekäre Situation geraten. Max Scheler war einer der ersten führenden deutschen Philosophen, die in der Zwischenkriegszeit eine Einladung zu den Entretiens erhalten hatte. Er reiste im Jahr 1924 nach Pontigny und sprach dort – da seine Französischkenntnisse nicht ausreichten, um sich aktiv am Diskurs zu beteiligen, in deutscher Sprache mit Hilfe der Übersetzung des deutsch-französischen Philosophen Bernhard Groethuysen, ein Freund Du Bos’ und ebenfalls ein regelmäßiger Besucher Pontignys – über die Grundzüge seiner Phänomenologie. Nachdem man auf Scheler nun nicht mehr rechnen konnte, bittet Desjardin um Bubers Teilnahme. Diese käme nicht nur überaus gelegen, sondern sei überdies sehr dringlich, zumal Buber nach Max Scheler unter allen Deutschen derjenige sei, den er, Desjardins, baldigst zu treffen
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hoffe, denn in ihm lebe der »Geist der Aufklärung« fort. Mehr noch, werde sein Erscheinen in Pontigny die »glücklichsten Konsequenzen« haben. Daher sei er überzeugt, dass Buber alles unternehmen werde, um zu kommen. Desjardins stellt Buber frei, sich zu entscheiden, welche der drei Dekaden ihm am ehesten entspräche. In allen drei Dekaden sei seine Anwesenheit eine wirkliche Bereicherung. (Der Brief ist abgedruckt in: Dominique Bourel, Les fonds français de la Bibliothèque nationale et universitaire juive de Jérusalem, Bulletin du Centre de recherche français à Jérusalem, 5 [1999], S. 21-32, hier S. 25.) Das Programm der Sommergespräche 1928 umfasste die Themen »Poésie et Philosophie: Le Temps et l’Homme. La reprise sur le Temps« (1. Dekade, 8.–18. August); »Premier dialogue des contemporains: Sur les jeunesses d’après-guerre, à cinquante ans de distance (1878-1928)« (2. Dekade, 19.–29. August) und »Deuxième dialogue des contemporains: L’Esprit bourgeois; Signification historique, signification actuelle« (3. Dekade, 30. August-9. September). Bubers erster Besuch in Pontigny fand schließlich nicht 1928, sondern erst anlässlich der 3. Dekade der Sommergespräche vom 1.–11. September 1929 statt, die von Léon Brunschvicg und Paul Langevin (1872-1946) geleitet wurde und die den Arbeitstitel »Imago Mundi, nova imago nulla. L’univers sans figure et le courage de vivre« trug. Buber, der Desjardins erstmals 1929 persönlich begegnet war und der überdies die Atmosphäre der abgelegenen mittelalterlichen Abtei sehr schätze, schrieb an seine Frau Paula aus Pontigny: »Ich muß mich auch noch erst an die von der deutschen abweichende, eher etwas exaktere und objektivere Form der Diskussion überhaupt gewöhnen. […] Die ganzen Dispositionen haben etwas Anregendes und Beruhigendes zugleich; es steckt wirklich Tradition darin, alte Lebensweisheit, aber auch etwas echt Persönliches, was von der Person von Desjardins kommt, der mir am sympathischsten ist – ein älterer Mann, sehr sanft und still, aber von einer großen geistigen Lebendigkeit.« (B II, S. 346 f.) Buber besuchte Pontigny noch zwei weitere Male, so nahm er, wie er im Vorwort zu Bilder von Gut und Böse anmerkt »intensiv an der Aussprache« des Jahres 1935 teil, »gelegentlich« derer »das Problem des Bösen erörtert worden [ist]« (jetzt in diesem Band, S. 316). Die dritte Dekade 1935 fand vom 23. August bis 2. September statt und trug den Arbeitstitel »De l’ascétisme et de son pouvoir créateur«. Im Vorwort von Bilder von Gut und Böse kommt Buber auf ein für die Entstehungsgeschichte seines Buches initiales Gespräch mit dem Philosophen Nikolaj A. Berdjajew zurück, das er vermutlich im Rahmen eines Zusammentreffens während der Entretiens des Jahres 1935 mit diesem geführt
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hat. Berdjajew war einer der bedeutendsten Vertreter der russischen Emigration nach der Oktober-Revolution und lebte nach seiner Ausweisung 1922 zunächst in Berlin, wo er als Autor für die von Martin Buber, Joseph Wittig und Viktor von Weizsäcker herausgegebene Zeitschrift Die Kreatur arbeitete und sich mit Max Scheler, Oswald Spengler und Paul Tillich (1886-1965) anfreundete. Mit Buber teilte er nicht nur den religiösen Existentialismus, der auf Pascal und Kierkegaard zurückgeht. Auch in Berdjajews nachhaltig von der Weltanschauung Dostojewskijs beeinflusstem religionsphilosophischen Denken wird die Nähe zu zentralen Begriffen und Thesen Bubers deutlich. So kreist auch sein Denken um die Frage nach dem Ursprung des Bösen und seiner Beziehung zur Freiheit. Berdjajew besuchte Pontigny das erste Mal im Jahr 1927 (François Chaubert: Les Décades de Pontigny [1910-1939], Vingtième Siecle, revue d’histoire, 1 [1998], S. 36-44, hier S. 41) und gehörte seitdem zu den regelmäßigen Teilnehmern der Sommergespräche. In Berdjajews autobiografischen Erinnerungen findet sich eine aufschlussreiche Beschreibung seiner Pontigny-Aufenthalte, des Veranstalter- und Teilnehmerkreises und der spezifischen intellektuellen Atmosphäre der Entretiens (Nikolaj A. Berdjajew, Selbsterkenntnis. Ein Versuch einer philosophischen Autobiographie, Darmstadt 1953, S. 299 ff.). Berdjajew bemerkt hier: »Ich bin, besonders in den letzten Jahren, recht häufig in Pontigny gewesen […]. Ich habe in Pontigny die hervorragendsten Vertreter des intellektuellen und literarischen Frankreichs getroffen […] Auch Martin Buber und Buonalotti waren des öfteren anwesend.« (Ebd. S. 300.) Im Vorwort zu Bilder von Gut und Böse schreibt Buber über das Gespräch mit Berdjajew: »der lebhafte Gedankenaustausch, insbesondere mit Nikolai Berdjajew und Ernesto Buonaiuti, […], hat mich zu erneutem Nachdenken über das, wie Berdjajew sagte, ›paradoxale‹ Problem veranlaßt.« (Jetzt in diesem Band, S. 316.) Buber teilte Berdjajews Einwand, dass Gut und Böse strukturell unvereinbare Kategorien darstellen – »Impossible de le résoudre […], ni même de le poser de manière rationnelle, parce qu’alors il disparaît«, wie Berdjajew es formulierte (ebd.) – und nahm das Problem offensichtlich so ernst, dass er am 29. August des folgenden Jahres erneut nach Pontigny reiste, um die dritte Dekade der Sommergespräche 1936, die den Titel »La volonté du mal« trug, mit seinem Vortrag »Le mal est-il une force indépendante?« zu eröffnen (Martin Buber, »Le mal est-il une force indépendante?« avec un introduction par Dominique Bourel, in: Archives de Philosphie 4 [1988], S. 529-598, hier S. 529-545), den er später in überarbeiteter Form in Bilder von Gut und Böse aufgenommen hat. Hier suchte er eine vorläufige »Antwort« auf das Berdjajewsche »Paradoxon«
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zu geben, indem er statt einer rationalen »Lösung« eine Phänomenologie des Bösen entwickelte: »Es ging mir vor allem darum, zu zeigen, daß Gut und Böse in ihrer anthropologischen Wirklichkeit, das heißt, im faktischen Lebenszusammenhang der menschlichen Person, nicht, wie man zu meinen pflegt, zwei strukturell gleichartige, nur eben polar entgegengesetzte, sondern zwei strukturell durchaus verschiedene Beschaffenheiten sind.« (Ebd.) Walter Benjamin, der wahrscheinlich aus dritter Hand über Bubers Auftritt unterrichtet war, berichtet darüber in einem Brief vom 18. Oktober 1936 an Gershom Scholem: »Bei der diesjährigen Dekade zu Pontigny die das Problem der ›Volonté du mal‹ behandelte, soll Buber eine recht zweideutige Figur gemacht haben.« (Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, Bd. V: 1935-1937, hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1999, S. 402.) Worin das Zweideutige des Auftritts bestand, bleibt allerdings unklar. Aus einem Brief an Maurice Friedman (1921-2012) vom 11. August 1951, in dem Buber Friedman mit der Übersetzung seiner drei amerikanischen Vorträge beauftragt, wird ersichtlich, dass zu diesem Zeitpunkt das deutsche Manuskript von Bilder von Gut und Böse ebenso wie dessen englische Übersetzung (durch M. Bullock) abgeschlossen war, bevor Buber im November 1951 zu seiner ersten Vortragsreise in die USA aufbrach (vgl. B III, S. 293). Friedman hebt in seiner Buber-Biographie die Bedeutung des Problems des Bösen für Bubers Denken hervor: »One of the most important differences between Judaism and at least one major strain of Christianity […] is in the attitude toward sin, particularly original sin, and evil. For a deeply thinking Jew like Buber the human as well as the theological reality of evil was a problem with which he had to wrestle ever anew. […] this struggle was to bear fruit in Buber’s anthropological understanding of evil in the book Good and Evil« (Maurice Friedman, Martin Buber’s Life and Work, Bd. 2: The Middle Years, 1923-1945, New York 1983, S. 34 f.). Textzeugen: h1: Teilhandschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 23); 3 lose Blätter; einseitig beschrieben; unpaginiert; mit vielen Korrekturen versehen. Enthält als Entwurf einen Teil des Abschnittes »Einbildung und Trieb«, in diesem Band 333,9-334,29. H2: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 23); 36 lose paginierte Blätter, teils gefaltet und in Heftform zusammengelegt; beidseitig beschrieben; mit vielen Korrekturen versehen. d1: Teildruck unter dem Titel »Drei Bilder von Gut und Böse«, in: Theologische Zeitschrift, VII/1, Januar-Februar 1951, S. 1-17 (MBB 863).
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Der Teildruck enthält die ersten drei Kapitel, in diesem Band S. 320334. D2: Bilder von Gut und Böse, Köln: Hegner 1952, 114 S. (MBB 884). D3: Bilder von Gut und Böse, Köln: Hegner 1953, zweite Auflage 1953, 114 S. (MBB 884). 4 D : in: Werke I, S. 605-650 (MBB 1193). D5: Bilder von Gut und Böse, Heidelberg: Lambert Schneider 1964, 75 S. (MBB 1246). Druckvorlage: D2 Übersetzungen: Englisch: Images of Good and Evil, übers. von Michael Bullock, London: Routledge and K. Paul 1952, 83 S. (MBB 888); »Images of Good and Evil«, in: Good and Evil. Two Interpretations, übers. von Ronald Gregor Smith, New York: Ch. Scribner’s Sons 1953, S. 63-143 (MBB 917). Französisch: »Images du bien et du mal«, übers. von Marthe Robert, in: Evidences, IV/26, Juni/Juli 1952, S. 1-7 (MBB 904). Hebräisch: »Temunot schel tov wa-ra«, in: Pene adam. Bechinot be-anthropologia filosofit, Jerusalem: Mossad Bialik 1962 (MBB 1209). Italienisch: Imagini del bene e del male, übers. von Amerigo Guadagnin, Humana Civilitas 19, Mailand: Edizioni di Communità 1965, 91 S. (MBB 1267). Spanisch: zu den Abschnitten »Vorwort«, »Der Baum der Erkenntnis« und »Kain«: »Imagenes del bien y de mal«, in: Commenturio, I,1, Oktober/Dezember 1953, S. 30-39 (MBB 932). Variantenapparat: 316,1-317,29 Vorwort […] bedarf der Brücke] fehlt H2 320,2-3 Der Baum der Erkenntnis] [Erkenntnis von Gut und Böse] ! Der Baum der Erkenntnis H2 320,16 Menschen] ersten Menschen H2 320,19 einer schweren Drohung] [der Androhung tödlichen Verhängnisses] ! einer schweren Drohung H2 320,29 nicht bloß doppelsinnig, sondern auch] fehlt H2 320,30-31 Ihr sollt von allen Bäumen des Gartens nicht essen] Eßt nicht von allen Bäumen des Gartens D5 320,32-33 verschärft Gottes Verbot] [legt Gott Worte in den Mund] ! verschärft Gottes Verbot H2 320,32-33 fügt ihm Worte hinzu, die Gott] fügt Worte dazu, die er H2, d1
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320,34-35 Daß die Schlange […] geschehen] [Was die Schlange erwidert] ! Dass die Schlange […] geschehen H2 320,38 , wie Eva mit ihm gespielt hat] h, wie Eva mit ihm gespielt hati H2 321,3-4 metaphorischen] metaphysischen d1 321,5-6 eine seltsame, eine traumhafte] eine seltsame h, eine traumhaftei H2 321,15 die Zwei selber] diese selber d1 321,22 Gott] Gott selber d1 321,25 »wie unser einer«] [wie eins der Gottwesen] ! »wie unser einer« H2 322,19 des Neutralen] [der Adiaphora] ! des Neutralen H2 322,36 bringt Gott] bringt, vor der Erschaffung des Weibes noch, Gott H2, d1 323,13 alttestamentlichen] [biblischen] ! alttestamentlichen H2 323,28 aller Gegensätzlichkeit Überlegene] [in sich Übergute] ! aller Gegensätzlichkeit Überlegene H2 323,34-35 ist dem trotz] ist ihm, trotz d1 324,6-7 der Vorgang […] der Welt wird] [nicht das Sein das [Erkennen] ! Bewusstsein, sondern das Bewusstsein das Sein bestimmt] ! der Vorgang in der Seele des Menschen zum Vorgang in der [Wirklichkeit] ! Welt wird H2 324,17 geschämt] geschämt [(das bedeutet die Verbalform in 2,5)] H2 324,22 empfinden] und noch etliches dazu empfinden H2, d1 324,30 ihrer Bezogenheit auf Gut und Böse] [ihrer Beziehung] ! ihrer Bezogenheit auf Gut und Böse H2 325,12 die Gefährtin] [das Weib] ! die Gefährtin H2 325,22 heillose Perspektivik] heilloser Perpektive D5 325,26 leichtherzige] [leichtfertige] ! leichtherzige H2 326,2-3 soll sich die Arbeit […] wandeln] soll die Arbeit […] werden d1 327,7-8 der ersten »Missetat« […] die] des ersten »Vergehens« […] das H2, d1 327,12 einem wesensmäßigen Frevel] einer wesensmäßigen Missetat H2, d1 327,12 der Bericht] er d1 327,15 großen] ungeheuren H2 327,24 Bestrebten] Bemühten H2 327,32 anhaftete] anhaftete [(von einer Unterscheidung zwischen einer ungeheiligten, gottwidrigen, und einer geheiligten, gottgenehmen Geschlechtlichkeit, an die neuere Exegeten des Sündenfalls denken, ist vollends nirgends auch nur angedeutet)] H2 327,35 Zu Unrecht] davor kein Absatzwechsel H2, d1
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328,28 seltsamsten und furchtbarsten] seltsamsten hund furchtbarsteni H2 328,30-31 der Hirt mit Erstlingsschafen] der »Hirt« (syrisch habbala) mit [seiner Gabe von] Erstlingsschafen H2 328,41-329,2 Vielmehr […] etwas anderes.] hVielmehr […] etwas anderesi H2 329,10-11 Mit dem zornentflammten] davor Absatzwechsel H2, d1 329,15-16 – wenn man […] ansehen will –] h– wenn man […] ansehen will –i H2 329,24-25 anscheinend] [offenbar] ! anscheinend H2 329,27 zu eigen werde] [verfällt] ! zu eigen werde H2 329,31 anzunehmen] anzunehmen oder nicht anzunehmen H2 330,15 des Menschen] des Menschen als Menschen H2 330,16-18 , das nach einem […] Kain einverleibt –,] h, das nach einem […] Kain einverleibt –,i H2 330,25 dessen] seiner d1 331,10 Herzens des Menschen] Menschenherzen D4, D5 331,16 Wie ist seither] davor kein Absatzwechsel d1 331,17 Menschengeschlechts geworden?] Menschengeschlechts geworden? [/ Diesem Vers der Schrift wird der stärkste Beleg für die »Erbsünde« entnommen, und zu Unrecht.] H2 331,25-26 der Einbildungskraft] der Einbildungskraft, [der Phantasie,] H2 331,26 deren Werk] deren Werk [, dem Einbilden] H2 331,36 der Wirklichkeit, der von Gott gegebenen] der Wirklichkeit Gottes H2 332,2-3 »erkennt«] [umfasst] ! »erkennt« H2 332,4 geht in ihr auf.] geht in ihr auf. [Aus der eindeutigen Wirklichkeit, in die Gott ihn gesetzt hatte, verjagt] ! [Er weiss um die Wirklichkeit Gottes, um das Gute] H2 332,6 gejagt] [geworfen] ! gejagt H2 332,9 Bilderraum, durch den er schweift,] Bilderraum h, durch den er schweift,i H2 332,17 die des Schöpfers] die [des Überguten, und das heisst:] ! des Schöpfers H2 332,23 In ebenderselben Sprache] davor Absatzwechsel d1 332,30 einräumt] sich besinnt H2, d1 332,39 höchste] innerste H2, d1 333,9-10 gegeneinander gesetzt.] gegeneinander gesetzt. [Der eine wird der gute genannt, der andre hingegen wird gewöhnlich nicht der böse Trieb, sondern Trieb zum Bösen genannt; schon dies deutet auf die Verschiedenheit der Wesensstruktur hin.] h1
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333,15 Wirtschaftsverkehr pflegen] Handel treiben h1 333,18 von Gott in die Seele gelegte Gärstoff] hvon Gott in die Seele gelegtei Gärstoff h1 333,25-26 wogegen dem guten […] zukomme] wogegen das vorher sechsmal wiederholte blosse »gut« auf den guten Trieb zu beziehen sei h1 333,28-29 dürfte Kain zwar […] entgegnet] sagt zwar Kain die Wahrheit, wenn er Gott entgegnet h1 333,30 ihm den bösen Trieb eingepflanzt habe] diesen Trieb in die Welt gesetzt habe h1 [diesen Trieb in die Welt gesetzt] ! ihm den bösen Trieb eingepflanzt habe H2 333,30-31 aber die Antwort wäre doch unwahr] aber was er sagt ist zugleich unwahr h1 333,33 in solcher Verselbständigung] den so isolierten h1 333,37 in sich] in [seinem Herzen] ! sich h1 334,5 geschaffen] erschaffen d1 334,6 zu diesem Ziel] dazu h1 334,14 Thora] [heiligen Lehre] ! Thora h1 334,20 erschließt sich uns erst] geht uns erst auf h1 334,22 dem Menschen eigentümliche Kraft] spezifisch [menschliche] Kraft des Menschen h1 334,26 richtungslose] restlose h1 336,4 urbewegenden »Bewirkern«] [Urbewegern] ! urbewegenden Geistern H2 336,5 Sinn] [Gedanken] ! Sinn H2 336,5 dem Bösen, böse] dem [Schlimmen, schlimm] ! Bösen, böse H2 336,Anm 1] fehlt H2 336,9 Argen] [Bösen] ! [Schlimmen] ! Argen H2 336,10 unsre Neigungen] unsre [Sinnsichten? noch unsre] ! Neigungen H2 336,12 Und weiter setzten sie] [(Seither wissen die Hellsichtigen zwischen den beiden zu scheiden, nicht so Trübsichtigen.)] ! Und weiter setzten sie H2 336,13 das Böseste] das [Schlimmste zu teil werden solle] ! Böseste bestehe H2 336,15 Bewirker] Geister H2 336,15 Böseste] [Schlimmste] ! Böseste H2 336,19-20 als Principia gesellt und gesondert] [uranfänglich, als Principium, miteinander konfrontiert] ! als Principia gesellt und gesondert H2 336,29-30 sich des Bösen erst entäußern müsse] [das Böse erst ins selbständige Wesen aus sich] ! sich des Bösen erst entäussern müsse H2
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336,31-32 , die durch sie gewirkt wird,] h, die durch sie gewirkt wird,i H2 336,35-36 Urwahl […] Gut und Böse] Urwahl [also, die den Welthandlungen zwischen Gut und Böse] ! zwischen den noch einander zugesellten Gut und Böse H2 336,Anm 1 Bernhard] berichtigt aus Theodor nach D3, D4, D5 337,17 Zwillinge] [uranfänglichen] Zwillinge H2 337,21 wie jener beide] beide wie jener D3, D5 337,23 reinen Paradox] reinen Paradox [, jeder wählt sich selber] H2 337,27 jeder sich selber] jeder sich selber [und den Anderen] H2 337,31-34 [zwischen dem Bösen […] ihm gestiftete] [Bedeutet denn aber das Böse wählen nichts es für gut halten?] ! (zwischen dem Bösen […] ihm gestiftet) H2 337,37 Ungefragt bleibt hier] davor Absatzwechsel H2 338,Anm 1] fehlt H2 338,3-4 [das Lied von der […] wohl gemeint] h(das Lied von der […] wohl gemeint)i H2 338,30 der Glaube ans Sein] [in unserer Sprache:] der Glaube ans Sein H2 339,6 entstehen] [wie seiend werden] ! entstehen H2 339,17-18 Von hier führt […] sich entfaltet.] fehlt H2 340,7-9 – man hat ihn wohl […] erklärt –] h– man hat ihn wohl […] erklärt –i H2 341,4 preist und segnet] preist und segnet. [Erst widersteht er ihr noch; er weigert sich zu glauben, dass die Dämonen sowohl Welten schaffende wie die erschaffenen zu zerstören vermöchten: schaffende und zerstörende Kraft] H2 341,12 Säge zersägt] Säge zersägt. [Aber einst, wenn die Weltburg Yimas besteht fort und die geborgenen Geschöpfe leben in ihr; einst, wenn die Menschheit wiederhergestellt werden soll, wird das Tor geöffnet, all die Wesen treten hervor und setzen die Welt neu in Bewegung. Er ist der erste der Gestorbenen; ihm erst sterben die anderen nach.] H2 341,10 was nun geschieht] was danach geschieht D3, D5 341,31 Selbstschöpfer,] Selbstschöpfer, [damit verkehrt, verträgt sich sein Verhältnis zum Sein. Er weigert sich, sein Sein von dem Sein zu Lehen zu [halten] ! tragen, er findet auf dem eignen Grunde das Gebot] H2 341,32 versteht es als selbstgestiftete Selbstherrlichkeit] [er will nicht im Sein sein, sondern das Sein in sich haben als Selbstherrlichkeit] ! versteht es als selbstgestiftete Selbstherrlichkeit H2 341,33 er lebt und handelt] [er will nicht im Sein sein, sondern das Sein in sich haben. So lügt durch ihr verkehrtes Sein die seiende Person am Sein, so begeht sie die Lüge] ! er lebt und handelt H2
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342,6 einem Geäußerten] einem [Gedanken und einem] Geäusserten H2 342,17-18 den entscheidenden Stunden] [jeder Stunde] ! den entscheidenden Stunden H2 342,21 im Punkte des eigenen […] bestätigen] [mit solchem Dasein dekken und bestätigen] ! im Punkte des eigenen […] bestätigen H2 342,29 von dem Wahrsein zum Falschsein] von [der Wahrheit zur Lüge übergeht] ! von dem Wahrsein zum Falschsein H2 342,33 versengt] verbrannt H2 342,36 durch Wahrsein] fehlt H2 344,20 verdichtet] verkörpert H2 344,25 Menschliche Wirklichkeit] [Mit menschlicher Wirklichkeit aber ist eben diese und nicht etwa ihr psychologischer Kegelschnitt gemeint] ! Menschliche Wirklichkeit H2 344,32 Beschaffenheit und Bewegung] Beschaffenheit hund Bewegungi H2 344,34-35 in unserm Sinne […] Gegenstands selber,] hin unserm Sinne […] Gegenstands selber,i H2 344,36 dynamische Struktur] [Beschaffenheit] ! dynamische Struktur H2 345,4-5 von seelischen Vorgängen heranzuziehen] [von Zuständen zuzugeben, die etwa, in der Sprache der modernen Psychologie, unter dem Einfluss der »moralischen Zensur«] ! von seelischen Vorgängen heranzuziehen H2 345,12 in unsrer Selbsterfahrung] hin unsrer Selbsterfahrungi H2 345,13 Unterschiedenheit] [Eigentümlichkeit] ! Unterschiedenheit H2 345,21-22 vom Ursprung des Bösen] hvom Ursprung des Böseni H2 346,11 Entscheidungslosigkeit] [Entscheidung] ! Entscheidungslosigkeit H2 346,16-17 dynamische Beschaffenheit] [neue Wirklichkeit] ! dynamische Beschaffenheit H2 347,12-14 im ursprünglichen Stadium […] Weise voraussetzt] [mit den Mitteln der anthropologischen Betrachtung leichter zu erfassen ist als das Gute] ! im ursprünglichen Stadium […] Weise voraussetzt H2 347,18 – das freilich […] anderer bedarf –] h– das freilich […] anderer bedarf –i H2 347,29 Kraft und Frische] [Frische und Freiheit] ! Kraft und Frische H2 347,33-36 für wen Schuldigwerden […] Triebe entspricht] hfür wen Schuld […] Triebe entsprichti H2 348,5 als »verdrängt« angenommenen] [im Gegensatz zu ihm] ! als »verdrängt« supponierten H2 348,8-9 muß das Gedächtnis […] freigemacht werden] muß man das Gedächtnis […] freimachen D3, D5 348,9 Beschönigungen] [Verklärungen] ! Beschönigungen H2
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348,11 wesentlichen Umfang des Vergangenen] [ganzen Umfang des Gewesenen] ! wesentlichen Umfang des Vergangenen H2 348,16 Jetzt] [Nu] ! Jetzt H2 348,18-19 grundlegend] [entscheidend] ! grundlegend H2 348,22-23 bestätigt] [ergänzt] ! bestätigt H2 349,3 eigentlichen] [schwersten] ! eigentlichen H2 349,6 Nur durch diese […] Versinnlichung] [Ohne diese Erfahrung wäre der unheimliche] ! Nur durch diese […] Versinnlichung H2 349,9 zumeist] zumeist [, aber nicht notwendig] H2 349,10 die menschliche Person] [der Mensch] ! die menschliche Person H2 349,16-17 Die Phantasie] [Die Substanz droht in der Potenz] ! Die Phantasie H2 349,17-19 , mit den Potentialitäten […] ablenkt,] h, mit den Potentialitäten […] ablenkt,i H2 349,24-25 Tunkönnen und Tunwollen] [Handelnkönnen und Handeln] ! Tunkönnen und Tunwollen H2 349,25-26 Chaos der Seinsmöglichkeiten] Chaos [aus einem der Seinselemente und Seinsweisen zu einem] ! der Seinsmöglichkeiten H2 349,32-33 im Sinn der Psychologie sind erforderliche Abstraktionen] him Sinne der Psychologiei sind [psychologische] Abstraktionen H2 349,38-39 Wenn nicht […] zweierlei Ausgänge] [Zweierlei Ausgänge.] ! Wenn nicht […] zweierlei Ausgänge H2 350,4 verwegene Werk] hverwegenei Werk H2 350,6-7 in der sie tut, […] das »Böse«] hin der sie tut, […] das »Böse«i H2 350,12 – denn es gibt […] nur eine] h– denn es gibt […] nur einei H2 350,16 Wogen] [Wirbel] ! Wogen H2 350,17 Kraft] [Substanz] ! Kraft H2 350,18 manifestiert sich ihr] steigt aus deren Tiefe H2 350,20 Immer aber] [Es geht immer gefährlicher und immer] ! [Gefahr und das Rettende wachsen] ! [Die Gefahr wächst und das Rettende auch] H2 350,20-21 der Chaoswirbel] [die Richtung und] der Chaoswirbel H2 350,21 der darüber schwebende Geist] [die richtungweisend vibrierenden Schwingen des Geistes] ! der darüber schwebende Geist H2 350,21 zwei Wegen] zwei Wegen [die sich zeigen] H2 350,23-24 Flucht in den Wahn und zuletzt in die Sucht] Flucht in den [geschäftigen Wahn] und zuletzt in die Sucht H2 350,31 Kraft] Kraft [und Leidenschaft] H2 350,35-36 – wenn auch oft hinter Verhüllungen –] h– wenn auch oft hinter Verhüllungen –i H2
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350,39 Gestaltwerden] [Hartwerden] ! Gestaltwerden H2 351,3-4 , wo keine […] Ecken lauern] h, wo keine […] Ecken lauerni H2 351,6 Mächtigkeit] [Flammen] ! Mächtigkeit H2 351,7 Großes] [Ungeheures] ! Grosses H2 351,8 , bis das Chaos […] geformt wird,] h, bis das Chaos […] geformt wird,i H2 351,20 kundbar] manifest H2 351,25 Entscheidung] Entscheidung, die keine Kristallwerdung der Seele ist, H2 351,29-30 wesend zusehn, […] zu nennen] leuchtend zusehn H2 351,35-36 Schlingen,] Schlingen, [Vergewaltigen] H2 351,39-40 in die Tat all die Kraft […] miteingeht] all die Kraft […] in die Tat miteingeht D3, D5 351,40 miteingeht] [wirkungsmächtig] miteingeht H2 352,12 entwerfenden] [handelnden] ! entwerfenden H2 antwortenden D3, D5 352,13 im Sinn des Entwurfs] [jetzt und hier] im Sinn des Entwurfs H2 352,15 Gültigkeit] [Legitimität] ! Gültigkeit H2 352,18 Entwerfende] Handelnde H2 352,22 ungebührlich] [gänzlich] ! ungebührlich H2 352,22 Ahnung] Gefühl H2 352,23-24 – gleichviel, […] »individuationsmäßig« –] h– gleichviel, […] »individuationsmäßig« –i H2 353,18-19 Eigene, […] hier einsetzen.] hEigene, […] hier einsetzen.i H2 353,22 Seelendynamik] [Lebensdynamik] ! Seelendynamik H2 353,23 Verhohlenwerden] [Verschlossenwerden, Undurchdringlichwerden, Unverständlich- Unzugänglichwerden, zur Haltung eines universalen Misstrauens und systematischen Irreführens, schliesslich zu einer massiven Weltfeindschaft] ! Verhohlenwerden H2 353,26-27 zugrunde, […] er begehrt,] hzugrunde, […] er begehrt,i H2 353,28-29 indem die menschliche […] Ja sagen kann] [es gibt auch eine sonderbare Mischform, die sich aber einem adäquaten Verständnis entzieht. Das Studium dieser Krisen an der Hand der Literatur] ! indem die menschliche […] Ja sagen kann H2 353,31 Wir haben gesehen, wie] Es hat sich gezeigt, daß D3, D5 353,36 Werfens] Stürzens H2 354,1 zum Sich-selbst-bejahen-können] [zur Selbstverwirklichung] ! zum Sich-selbst-bejahen-können H2 354,1-2 überwältigt. In dem Maße […] behauptet] überwältigt; [je stärker sich dieser geltend macht] in dem Maße als dieser sich behauptet H2
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354,2-3 in eine akute Auto-Problematik übergehen] [die Tendenz bekommen] ! in eine akute Auto-Problematik übergehen H2 354,5 Lage] Zustand H2 354,6 das Verhältnis der Person] [die Subjektivität der Person steht nicht mehr] ! [die Restverantwortung der Person] ! das Verhältnis der Person H2 354,6-7 wird brüchig und verworren] [steht nicht mehr ungetrübt in unserem Gesichtsfeld] ! wird brüchig und verworren H2 354,10-11 , eben das also […] »die Umkehr« heißt] h, eben das also […] »die Umkehr« heißti H2 354,13 zuwenden müssen.] zuwenden müssen. [Es sei der Wechsel des Vorzeichens genannt.] H2 354,22 Du darfst sein, was du bist] [Sei was du bist.] ! Du darfst sein, was du bist H2 354,24-25 und diese kann er naturgemäß […] empfangen] [jeder Mensch bedarf ihrer, durch die andern und durch sich. Immer wieder muss das Ja zu ihm gesagt werden und so bedarf jeder Mensch] ! und diese kann er hnaturgemässi nur als der einzelne Mensch empfangen, [als die Bestätigung seines Dieser-Mensch-Sein, die von den andern empfangen und von sich selbst dem die andern] H2 354,27-28 von der Regung des eigenen Herzens] [vom Zuspruch des] ! von der [Bewegung] ! Regung des [heimlichsten] ! eignen Herzens H2 354,29 Vorgeschmack des Todes ist.] Vorgeschmack des Todes ist. [Angewiesen ist er auf die Akzeptation durch die andern; wenn von Jugend auf, von jenem Wallen und Überwallen der Möglichkeit an fühlt er sich auf die Akzeptation der andern angewiesen, weil ihn die eigne Seele, vom Werdenwollen jenes »mit mir Gemeinten« bewegt, mit ihrer Ablehnung bedroht. Der Zuspruch der andern reicht nicht hin, wenn das Selbstwissen die innere Ablehnung gebietet.] H2 354,36 umkehrt] [sich selber ändert] ! umkehrt H2 354,36 Ja und Nein] [Nein der Seele nehmen] ! [innere Nein] ! Ja und Nein H2 354,37 von allem Befund unabhängig machen] unabhängig von allem Befund werden lassen D3, D5 354,41 selber sich entschlossen hat, sich zu meinen] [sich selber meint] ! selber sich entschlossen hat, sich zu meinen H2 355,1 Bezwingenden] [Niederhaltenden] ! Bezwingenden H2 355,1-2 Pressung der Lippen] [Streckung des Kopfes] ! Pressung der Lippen H2
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355,33 Die Erzählung] [In biblischer Sprache: »Über die Gottessterne will ich meinen Stuhl erhöhn«. / Wenn das menschliche Leben in seinem eigentlichen Sinn mit der inneren Erfahrung des Chaos beginnt: hier, in der Rechaotisierung des werdenden personalen Kosmos gibt es sich das geistige Ende.] H2 356,4-5 anthropologisch erfaßbaren Vorgängen im Lebensweg] [Zuständen im Leben] ! anthropologisch erfassbaren Vorgängen im Lebensweg H2 356,9 begeben] [ereignen] ! begeben H2 356,11 das Vorhaben] [die Neigung] ! das Vorhaben H2 356,12 Leidenschaft] [Kraft] ! Leidenschaft H2 356,18-19 widersprüchlichen] [problematischen] ! widersprüchlichen H2 356,24 welche Übeltaten] [das Handeln ist hier ein Nicht-Unterlassen] ! welche Übeltaten H2 356,30-31 Wenn wir den Vorgang] [In diesem unserem besondern anthropologischen Tun darf man sagen, dass die Menschen nicht böse sind, aber böse werden können.] Wenn wir den Vorgang H2 357,5 Selbstbesinnung] [tiefsten] Selbstbesinnung H2 357,16 diese unwiederholbare Wesensform] [dieses unwiederholbare Wesen] ! diese unwiederholbare Wesensform H2 357,26 an dem nur […] gegebenen] han dem nur […] gegebeneni H2 357,37-38 des menschlichen Dienstes am Ziel der Schöpfung] [Schöpfungszieles] ! des menschlichen Dienstes am Ziel der Schöpfung H2 Wort- und Sacherläuterungen: 316,2-3 Paul Desjardins […] Entretiens de Pontigny] Vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 694-699. 316,8-9 das erste Kolleg […] an der Universität Frankfurt am Main] Ein Kolleg, das sich direkt mit dem Thema »Gut und Böse« beschäftigt hätte, ist nicht zu ermitteln. Seit dem Sommersemester 1924 kam Buber Lehraufträgen an der Universität Frankfurt nach, und war schließlich seit dem Sommersemester 1931 als Honorarprofessor beschäftigt. Vermutlich spielt Buber auf das Kolleg »Religionsgeschichtliche Übungen: Gnostische Texte« an, das er zum fraglichen Zeitpunkt abgehalten hat. (Vgl. Willy Schottroff, Martin Buber an der Universität Frankfurt a. M. [1923-1933], in: Dieter Stoodt (Hrsg.), Martin Buber – Erich Foerster – Paul Tillich, Frankfurt a. M. 1990, S. 69-132, hier S. 74.) 316,11 Nikolai Berdjajew] Vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 698f.
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316,12 Ernesto Buonaiuti] (1881-1946) ital. kath. Theologe; Vertreter des Modernismus, einer Strömung in der katholischen Theologie vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, die bestrebt war, die Lehren der Katholischen Kirche mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und der Philosophie der Moderne zu versöhnen. Buonaiuti wurde dafür 1921 ein erstes Mal und definitiv 1925 exkommuniziert. 316,22-24 Impossible […] il disparaît] Nicht nachgewiesen. 316,34-317,1 in der Form einer Erzählung] Bubers einziger Roman Gog und Magog ist seit 1941 in 41 Fortsetzsetzungen in der Tageszeitung Davar und schließlich 1943 in einer hebräischen Buchausgabe erschienen. Die deutsche Fassung wurde 1949 im Lambert Schneider Verlag veröffentlicht (jetzt in: MBW 19). 316,36 einige eschatologische Texte] Vgl. insbesondere Apk 20,7-16. 317,3-8 »›… Rabbi‹, sagte er […] so groß gepäppelt‹«.] Martin Buber, Gog und Magog. Eine Chronik, Heidelberg: Lambert Schneider, S. 73 (jetzt in: MBW 19, S. 82). 317,15 awestischen und nachawestischen] Abgeleitet von Avesta (vermutlich alt-iranisch upa-stavakā, »preisen«), dem Titel der Schriftensammlung, die der Überlieferung zufolge auf Zarathustra zurückgehen soll und das heilige Buch des Zoroastrismus darstellt. Die Datierung ist ungewiss, wird jedoch von den meisten Hypothesen auf das 8. Jh. v. Chr fixiert. 317,20 wie schon Platon wußte] Buber mag auf den Sachverhalt anspielen, dass Platon oft neben abstrakten Begriffsanalysen auf mythische Darstellungen zurückgriff, um seine Lehren zu illustrieren. 320,8-13 Auf das Gotteswesen […] zusammengesetzt ist] Buber spielt darauf an, dass in Gen 3 der Gottesname JHWH mit der Bezeichnung Elohim (»Gott«, »Gottheit«) kombiniert wird. 321,25 biblischer Wiederholungsstil] Buber betont in seinen Schriften zur Bibelübersetzung diese Besonderheit des biblischen Stils, die Paronomasie, in der durch Wiederholung eines Wortes oder Wörter desselben Wortstammes auf eine besondere Bedeutsamkeit verwiesen wird: »Ich habe schon darauf hingedeutet, wie wichtig für den biblischen Stil die ›Paronomasie‹ ist, d.h eben die Verwendung mehrerer Wörter ähnlichen Baus oder Klangs dicht oder doch so nah beieinander, daß man, wo einem das zweite, das dritte entgegentritt, noch das erste nach- oder wiederertönen hört. Diese Wörter werden dadurch, abgehoben von ihrer Umgebung, in eine besondre Beziehung gesetzt, worin oft ein vom Text Ausgesprochenes gleichsam in seiner Schallwirkung sich verstärkt und einprägsamer wird, ja sogar etwas auf eigentümliche Weise ausgesprochen
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wird, was der Text eben nur so auszusprechen wünscht.« Martin Buber, Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift S. 21 (Jetzt in: MBW 14, S. 201.) 321,28-30 Die Wörter können […] bezeichnen] Gemeint sind »gut« und »böse«. 321,31 »sieht« das Weib, der Baum sei »gut zum Essen«] Gen 3,6. 324,12-14 »Da klärten sich ihnen beiden die Augen« […] »nackt«.] Gen 3,7. 324,35-36 »Der Mensch […] wie unser einer geworden«] Gen 3,22. 325,Anm 1 Procksch in seinem Genesis-Kommentar] Der dt. Theologe Otto Procksch (1874-1947) veröffentlichte 1913 in der von Ernst Sellin herausgegebenen Reihe Kommentar zum Alten Testament den Band Die Genesis. Zum »göttlichen Mitleiden« heißt es dort: »Die Befürchtung [dass der Mensch vom Baum des ewigen Lebens esse und ewig lebe; Gen 3,22] kann jetzt nicht mehr Götterneid ausdrücken, sondern Gottes Mitleid. Der Mensch mit dem bösen Gewissen ist eine elende Kreatur, sie soll wenigstens sterben können; ein Leben ohne Tod wäre furchtbar für sie.« Otto Procksch, Die Genesis, Leipzig 1913, S. 41. 328,14 »hervorgebracht«; denn das bedeutet ursprünglich das Verb] Hebr. qaniti, von qana »gründen«, (von Gott) »schaffen«; im Hebräischen besteht eine Klangassoziation von »Kain« und qaniti, die in der Bibelstelle volksetymologisch gedeutet wird. 328,35 »Brote des Angesichts«] Im Tempel befand sich im inneren Bezirk ein Tisch, auf dem die »Schaubrote« oder wörtlich »Brote des Angesichts« ausgelegt wurden, vgl. Ex 25,23-30. 329,1 Kain es nicht »gut meint«] Das Wort »gut« ist die Grundbedeutung, was bei Luther mit »fromm« übersetzt ist: »Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.« Gen 4,7. 329,14 aus einer einleitenden Frage und einem Spruch] Gen 4,7. 329,20-23 »Warum entflammt es […] walte ihm ob.«] Ebd. 330,39-40 »schwank und schweifend auf Erden zu sein«] Gen 4,14. 331,9-10 »denn das Gebild […] Jugend an«] »das Gebild« ist Bubers Übersetzung von hebr. jetzer, das oftmals auch mit »Trieb« übersetzt wird. Bei Luther lautet Gen 8,21b »denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.« 331,11-15 »Und Jhwh sah« […] »daß es sehr gut ist«.] Vgl. Gen 1: Verse 3, 10, 12, 18, 21, 25 u. 31. 331,20 des »Weges«] Gen 6,12b bei Luther: »denn alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden.«
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331,28 »die Malereien des Herzens«] Ps 73,7 bei Luther: »(Sie brüsten sich wie ein fetter Wanst,) sie tun, was ihnen einfällt.« 332,20-21 »auswischen« will er ihn »vom Antlitz des Erdbodens«] Vgl. Gen 6,6. 332,26-27 »das Gebild […] Jugend an«] Gen 8,21. 332,40-41 talmudische Lehre von den beiden Trieben] Vgl. bBer 54a (BT, Bd. I, S. 235); bBer 61a (BT, Bd. I, S. 273). 333,2 Jesus Sirach] Sir 15,14 f. bei Luther Sir 15,14: »Er hat im Anfang den Menschen geschaffen und ihm die Wahl gelassen«. »Wahl« ist im Hebräischen jetzer, wie in Gen 8,21. 333,12-17 Der »böse Trieb« ist nicht weniger notwendig […] Gefährten« [Prediger 4, 4]] Vgl. BerR IX,7 (Ed. Albeck, Bd. I, S. 70-72), deutsch: Der Midrasch Bereschit Rabba. Das ist die haggadische Auslegung der Genesis, übers. von August Wünsche, Hildesheim 1967 [Nachdruck], S. 38: »Ist denn der böse Trieb sehr gut? Ja, denn wenn er nicht wäre, würde kein Mensch ein Haus bauen, heirathen, Kinder zeugen und Verkehr treiben«. 333,17 »die Hefe im Teig«] Vgl. bBer 17a (BT, Bd. I, S. 72). 333,20-21 »wer größer ist […] des andern«] Vgl. bSuk 52a (BT, Bd. III, S. 400). 333,22-26 in einer Deutung […] »gut« zukomme;] BerR IX,7 (Ed. Albeck, Bd. I, S. 709, bei Wünsche, Der Midrasch Bereschit Rabba, S. 37). 333,27-28 Daß er aber der böse heißt, […] gemacht hat.] Midrasch Tanchuma, Paraschat Bereschit I,7. 333,28-30 So dürfte Kain […] eingepflanzt habe] Midrasch Tanchuma, Paraschat Bereschit, I,9. 333,39-40 dessen ganzes Herz vor Gott treu befunden wurde] Vgl. Neh 9,8, dort aber »sein Herz«. 334,2-3 mit deinen beiden geeinten Trieben] Vgl. bBer 54a (BT, Bd. I, S. 235). 334,6-7 beide Triebe im Dienste Gottes zusammenzuspannen.] Vgl. die Passage des Morgengebets, »beuge unseren Trieb, sich dir zu unterwerfen«, in: Scheuer (Übers.), Siddur Schma Kolenu, S. 27. 334,7-10 Wie wenn ein Bauer […] gemeinsam unters Joch.] MTeh zu Ps 86,11. Vgl. Der Midrasch Tehillim, übers. von August Wünsche, Hildesheim 1999, [Nachdruck] Bd. II, S. 146 f. 336,3-4 Awesta, den […] Unterredungen Zarathustras] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 102,22. 336,6-7 »Zwillinge durch Schlaf« […] »wie vernommen ward«] Diese und die folgenden Stellen stammen aus dem 30. Kapitel des Buches Yasna, dem ersten Buch der zoroastrischen Avesta. Es konnte nicht
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ausfindig gemacht werden, auf welche Übersetzung Buber hier zurückgriff, oder ob er die Stellen frei aus einer englischen Übersetzung oder gar aus dem Persischen selbst übertragen hat. In der Übersetzung von Fritz Wolff, die Buber für die späteren Zitate benutzte, konnten die Stellen nicht nachgewisen werden. 336,22 Ahura Mazdah] persisch: »der weise Herr«; oberster Gott im Zoroastrismus; Schöpfer der Welt und aller guten Dinge; mit dem Licht in Eins gesetzt und durch den Zusatz mazda, »weise«, als allwissend vorgestellt. 336,Anm 1 Bernhard Geiger] (1881-1964): jüd.-dt. Indologe und Iranist. Von 1938 bis 1951 lehrte Geiger, der 1938 aus Österreich in die USA emigrierte, als Professor am Tibetian-Iranian Institute in New York und danach als Professor an der Columbia University. 337,9 Daēna] Begriff in der Avesta für die religiösen Lehren. 337,12-14 »weil der bessere […] Wahrheit leben«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 336,6-7. 337,18-19 »dieses Dasein zur Verklärung zu bringen«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 336,6-7. 337,41 den alten Mythus von Zurvān] Eine besondere Strömung innerhalb des Zoroastrismus führte die Polarität von Ahura Mazdāh und Ahriman, dem guten Gott und dem bösen Gegenprinzip, in das zur eigenen Gottheit personifizierte Urprinzip namens Zurvan zurück, aus dem jener Gegensatz emaniert worden sei. Buber bezieht sich auf diesen Mythos auch in dem Hermann Hesse (1877-1962) zugeeigneten, zu Lebzeiten Bubers unveröffentlicht gebliebenen Gedicht »Zwischen ihnen« (jetzt in: MBW 7, S. 180). 338,3-4 Lied von der Götterzeugung, von dem wir durch Herodot wissen] Der griech. Geograph und Historiker Herodot (480/470-424 v. Chr.) berichtet über den Gottesdienst der Perser: »[…] wenn einer sein Opfer will darbringen, so führet er das Thier an eine reine Stätte und betet zu dem Gott, die Tiare bekränzet mehrentheils mit Myrthenzweigen. Für sich allein darf aber der Opfernde kein Heil erflehn, sondern er betet für alle Persen und für den König; denn unter allen Persen ist er ja auch mit einbegriffen. Wann er nun das Opferthier in Stücke zerschnitten und das Fleisch gekocht hat, streuet er das zarteste Gras unter, gemeiniglich Klee, darauf leget er alles Fleisch. Ist dieses geschehn, so tritt ein Mager hinzu und stimmt an den Gesang der Götterzeugung, wie sie den Zauberspruch nennen; denn ohne einen Mager dürfen sie nicht opfern.« Die Geschichten des Herodotos, übersetzt von Friedrich Lange, Erster Theil, Berlin 1811, S. 77.
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338,9-10 »Was frommt das Opfern? vielleicht ist das Sein Nichts?«] Nicht nachgewiesen. 338,16-17 Angra Mainyu, der wohlbekannte Ahriman] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 337,41. 339,11-13 Ahriman »ein verstoßener Engel […] gesagt werden.«] »Nach Andern endlich ist Ahriman ein verstossener Engel, der wegen seines Ungehorsams verflucht wurde.« Fragmente über die Religion des Zoroaster, übers. und kommentiert von Dr. Johann August Vullers, Bonn 1831, S. 52. 339,14-17 »Alle guten Gedanken […] unbewußt.«] Nicht nachgewiesen. 340,4 Dichtung Firdusis] Abū ʾ l-Qāsim Firdausī (940-1020): pers. Dichter und Epiker; schuf das Epos Buch der Könige, das mit ca. 60.000 Versen als umfangreichstes Epos überhaupt gilt. 340,5 Urkönig Yima] bedeutende Figur der iranischen Mythologie. In den Avesta verweist der Gott Ahura Mazdāh, von Zarathustra gefragt, mit wem er zuerst die religiösen Lehren, die Daena geteilt habe, auf Yima, der als Bewahrer dieser Lehren und der Schöpfung, als Urkönig eingesetzt gewesen sei. 340,23-25 »an Kleinvieh […] flammenden Feuern«] »Und dem Reich des Y i m a gingen dreihundert Winter hin. Drauf ward ihm die Erde hier voll / von Kleinvieh und Großvieh und Menschen / und Hunden und Vögeln und von roten flammenden Feuern: / es fanden nicht (mehr) Platz Kleinvieh und Großvieh und Menschen.« Avesta. Die heiligen Bücher der Parsen, hrsg. von Fritz Wolff, Strassburg 1910, S. 320. 340,25-26 »zum Licht […] Sonne entgegen«] »Da ging Yima zum Licht vor am Mittag dem Pfad der Sonne entgegen: / der ritzte die Erde da mit dem goldenen Pfeil, / er strich über sie hin mit der Peitsche, also sprechend: / ›Geliebte heilige Ā r m a t a y ! geh vorwärts und tu dich auseinander, um tragen zu können Kleinvieh und Großvieh und Menschen.‹« Ebd., S. 321. 341,21 Inschrift des Darius] Gemeint ist die sogenannte Behistun-Inschrift des Achämidenkönigs Dareios I., die dieser zur Verherrlichung seines Regiments auf einer Steintafel an einem Felsen in der Nähe von Behistun im nordöstlichen Iran anbringen ließ. Der Text der Tafeln, der in persischer, babylonischer und elamischer Sprache eingemeißelt worden war, erlaubte es, die Keilschrift vollends zu entziffern. In der Inschrift wird der Aufstieg Dareios beschrieben, der sich gegen eine Anzahl von Gegnern, »Lügenkönigen«, durchgesetzt habe. 342,12 Vertragsgott Mithra] Tatsächlich bedeutet der Name im Altpersischen schlicht »Vertrag«. Mithra, der damit als Gott des Rechts fun-
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gierte, ist seit dem 14. Jh v. Chr. belegt und auf den ind. Mitra der Veden zurückzuführen. 342,32-35 Nach Augustin […] Spruch der Seele] Augustinus von Hippo war einer der vier Kirchenväter und ein bedeutender Philosoph der Spätantike. Mit seiner Schrift De civitate dei entwarf er eine der ersten eschatologisch geprägten Geschichtsphilosophien. In seiner in den Schriften De Trinitate und De vera Religione skizzierten Erkenntnistheorie geht er von einem Zweifel an den stets täuschenden Dingen aus, die keinen Maßstab für Wahr und Falsch liefern könnten. Der menschliche Geist und die eigene Seele werden demnach zum alleinigen Maßstab von Wahrheit und Lüge erhoben. 344,21 Mystosophien] mystische Weisheiten. 345,39 Luzifer, Sohn der Morgendämmerung] Vgl. Jes 14,12-15. 346,9 Manichäismus] Auf den Perser Mani (216-276/277) zurückgehende dualistische Weltanschauung, die Gut und Böse als unversöhnliche und ewige Gegensätze einander gegenüberstellt. 349,21-22 »Irrsal und Wirrsal«] Gen 1,2. Bubers spätere Übersetzung von »Tohuwabohu« (hebr.: Wortbedeutung unbekannt, bei Luther »wüst und leer«). Vgl. Die fünf Bücher der Weisung, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Köln und Olten: Jakob Hegner 1954, S. 9. 349,29 der sogenannten Libido] Buber wendet sich hier gegen die Lehre Sigmund Freuds, in der der Begriff der Libido für die mit den Sexualtrieben verbundene psychische Energie steht. Auf ihre Sublimierung führt Freud im Wesentlichen die menschlichen Kulturleistungen zurück. Da Freud diese mithin in einem materialistisch verstandenen organischen Trieb begründet sieht, wirft Buber dem Begriff hier eine »Simplifikation und Animalisation der menschlichen Wirklichkeit« vor. 351,41 talmudische Interpretation des biblischen Gottesspruchs] Vgl. bBer 54a (BT, Bd. I, S. 235). 354,11 »die Umkehr«] Hebr.: Teschuva. Dieser wichtige Begriff der jüdischen Religion hat für Bubers Bibelexegese und für seine Deutung des Chassidismus zentrale Bedeutung. 355,8 weiß noch Prudentius vom Satan zu berichten] Aurelius Prudentius Clemens (348-405); christlich geprägter Dichter der Spätantike. In seiner Dichtung Hamartigenia widmet sich Prudentius der Frage nach dem Ursprung und der Kontinuität der Sünde, die wesentlich auf die Erhebung Satans zum Schöpfer seiner Selbst zurückgeführt wird. 355,9 Sagenmotiv des Pakts] Hierbei dürfte Buber an das Motiv des Teufelpakts der Faust-Sage gedacht haben.
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355,15 in statu nascendi] lat.: »im Werden begriffen«. 357,40 quantum satis] lat.: »so viel wie nötig«.
Gottesfinsternis Bubers Schrift Gottesfinsternis erschien erstmals 1952 in einer amerikanischen Ausgabe unter dem Titel Eclipse of God. Studies in the Relation between Religion and Philosophy, transl. by Maurice Friedman, Eugene Kamenka, Norbert Guterman, I. M. Lask, New York: Harper 1952. Ein Jahr später, 1953, wurde der deutsche Erstdruck unter dem Titel Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie, Zürich: Manesse 1953 veröffentlicht. Gottesfinsternis ist aus einer Reihe von Vorträgen hervorgegangen, die Martin Buber während seines ersten Aufenthaltes in den USA von November 1951 bis April 1952 gehalten und im Druck um einige Aufsätze aus früheren Jahren ergänzt hat. Im Rahmen seiner ausgedehnten Vortragsreise, die er unter der Ägide des Jewish Theological Seminary, einer Rabbinerlehranstalt des »Conservative Judaism« in New York, unternahm, bereiste Buber das Land und hielt mehr als 70 Vorträge u. a. in New York, Chicago, Cleveland und Detroit und an den Universitäten Yale, Princeton, Columbia und Brandeis. Bereits im November 1948 hatte der einflussreiche Rabbiner und Kanzler des Jewish Theological Seminary, Louis Finkelstein (1895-1991), Buber brieflich eingeladen, in Amerika zu lesen. Anfang Dezember 1948 antwortet Buber Finkelstein, dass er die Chance »mit Freuden« ergreife, »der nächsten jüdischen Generation […] nicht nur durch meine Bücher, sondern in der Unmittelbarkeit des Lehrens und der Gespräche [zu] geben, was ich zu geben imstande bin.« (B III, S. 186) Aufgrund der unerwarteten Entwicklungen an der Hebräischen Universität Jerusalem – im Sommer 1949 kam es schließlich doch noch zu der von Buber lange angestrebten Gründung des Instituts für Erwachsenenbildung, wo er seit 1950 als Professor für Pädagogik lehrte – konnten seine Lesungen am Jewish Theological Seminary erst im November/Dezember 1951 stattfinden. »Judaism and Civilization«, »The Appeal to Religion« und »The Dialogue between Heaven and Earth«, so die Titel der drei Vorträge, die Buber zum Arbeitsthema »Talks about Judaism« am Seminar gehalten hat, wurden abgedruckt in: At the Turning. Three Addresses on Judaism, New York: Farrar, Strauss & Young 1952. Auf Deutsch erschienen sie 1952 im Verlag Jakob Hegner unter dem Titel An der Wende. Reden über das Judentum.
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In Gottesfinsternis sind neben Bubers »amerikanischen Vorlesungen« auch andere, frühere Texte als Einzelkapitel aufgenommen, so auch sein Essay »Die Liebe zu Gott und die Gottesidee« (deutscher Erstdruck in: Neue Schweizer Rundschau, XV/8, 1947, S. 330-345) und der »Bericht von zwei Gesprächen«, den Buber 1935 »aus der Erinnerung niedergeschrieben« hat. Er wird in Gottesfinsternis erstmals abgedruckt und sollte später in Begegnung, Bubers autobiographische Aufzeichnungen, eingehen (siehe MBW 7, S. 274-309). Der Hinweis, den Buber in Gottesfinsternis mit seinem »Vorspruch« gibt, dass nämlich die »Finsternis des Gotteslichts kein Verlöschen«, kein unabänderliches »Fatum« sei, sondern im Gegenteil die »Frage nach der nächsten Stunde« allererst aufwerfe, schlägt die Brücke zu seiner berühmten Carnegie Hall Ansprache »Hoffnung für diese Stunde« vom 6. April 1952 (veröffentlicht in: Merkur, VI/8, 1952, S. 711-718; jetzt in: MBW 11) mit der er seinen ersten Amerika-Aufenthalt abschließt. Im Spätsommer 1950 beauftragt Buber Maurice Friedman mit der Übersetzung des ersten Teils des Manuskripts für Eclipse of God, seines Essays »Von einer Suspension des Ethischen«, den er als Ergänzung des Abschnitts »Religion und Philosophie« in Gottesfinsternis aufgenommen hat. Er wurde in der Übersetzung Friedmans unter dem Titel »On the Suspension of the Ethical« erstmals publiziert in: Ruth Nanda Anshen (Hrsg.), Moral Principles of Action, Science of Culture Series 6, New York: Harper 1952, S. 223-227. Am 11. August 1951 wendet sich Buber erneut an Friedman mit der eiligen Bitte um die Übertragung dreier weiterer Vortragsmanuskripte: »Religion und Philosophie« (Erstdruck in: Sechzehntes Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft für das Jahr 1929, Heidelberg: C. Winter 1929, S. 325-335), »Religion und Ethik« und »Religion und Realität« (»Religion und Realität – Bemerkungen zur Situation des Menschen«, Erstdruck in: Wort und Wahrheit, VI/11, 1951, S. 805-812). Einen vierten »amerikanischen Vortrag«, »Religion und modernes Denken« (Erstdruck in: Merkur, VI/2, 1952), hofft er Friedman einen Monat später schicken zu können (vgl. B III, S. 289). Am 17. September 1951 bestätigt Buber in einem Brief an Friedmann, dass er das Kapitel »Religion und modernes Denken« – das Kapitel, das Friedman nach eigenen Angaben die größten Probleme bei der Übersetzung bereitet hatte – beendet habe: »Er ist lang geworden (zwei normale Vorträge) und setzt sich mit Sartre, Heidegger und Jung auseinander. Ich neige dazu, ihn wegen seiner Aktualität für den wichtigsten zu halten. Ich habe ihn heute zum Abschreiben gegeben und hoffe, daß ich Ihnen am 23. oder 24. dieses Monats eine Kopie davon schicken kann.« (B III, S. 294.) Das letzte Kapitel von Gottesfinsternis, das den Titel
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»Gott und Menschengeist« trägt, verfasste Buber im Mai 1952. Buber lässt Friedman seine abschließenden Antworten auf eventuelle Fragen hinsichtlich der Druckfahnen der vorangegangenen Kapitel und seine Anmerkungen zu »Gott und Menschengeist« im Juni und Juli 1952 zukommen. Diesem Schlusskapitel folgt im »Anhang« des Buches Bubers »Replik auf eine Entgegnung C. G. Jungs« (Erstdruck in: Merkur, VI/5, 1952, S. 474-476). Diese Replik bildet den abschließenden Beitrag einer Diskussion zwischen Buber und Jung, die sich anlässlich der ersten Kritik Bubers an Jung in »Religion und modernes Denken« entzündete, ein Text, der zunächst im Februar 1952 als Einzelveröffentlichung in der Zeitschrift Merkur erschienen war. Jung antwortete auf diese erste Kritik Bubers mit einem an die Herausgeber gerichteten Brief, der eine ausführliche Verteidigung gegen Bubers Kritik enthielt und ebenso in der Maiausgabe des Merkur unter dem Titel »Religion und Psychologie« abgedruckt wurde (S. 467-473). Jung setzt sich darin prinzipiell mit Bubers Vorgehensweise kritisch auseinander, wenn er klagt: »Warum wird der Frage, ob ich ein Gnostiker oder Agnostiker sei, so viel Aufmerksamkeit geschenkt? Warum wird nicht einfach gesagt, daß ich ein Psychiater bin, dem es in erster Linie daran gelegen ist, sein Erfahrungsmaterial darzustellen und zu deuten? Ich versuche ja, Tatsachen zu erforschen und dem Verständnis näher zu rücken. Darüber darf die Kritik nicht einfach hinweghuschen, um dann einzelne Stücke außerhalb ihres Zusammenhangs anzugreifen.« Des Weiteren beklagt Jung, in seinen Positionen von Buber grob mißverstanden und verzeichnet worden zu sein: »Buber irrt sich in der Annahme, daß ich von einer ›gnostischen Grundanschauung‹ ausgehend metaphysische Aussagen ›bearbeite‹. Man darf ein Ergebnis der Empirie nicht als eine philosophische Voraussetzung mißverstehen, denn es ist nicht deduktiv gewonnen, sondern aus einem klinischen Tatsachenmaterial abgeleitet. […] Ich darf in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß ich eine ganze Anzahl von maßgebenden Theologen katholischer wie protestantischer Observanz kenne, welche meinen empirischen Standpunkt ohne weiteres verstehen. Ich habe daher keinen Anlaß, meine Darstellungsweise für dermaßen irreführend zu haltend, wie die Andeutungen Bubers es wollen glauben machen.« (Ebd., S. 471.) In derselben Ausgabe erschien auch Bubers Antwort auf Jung, die später den Anhang von Gottesfinsternis bilden sollte, unmittelbar nach dessen Stellungnahme. Hatte Jung in seiner Entgegnung unter anderem moniert, einem Ketzergericht unterzogen worden zu sein, endet Bubers Replik mit einem heftigen Ausruf gegen diesen Vorwurf, den Buber allerdings, als er den Text wenig später in Gottesfinsternis aufnahm, tilgte: »Nun aber – ›Ketzergericht‹ ?! Nichts ist mir wider-
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wärtiger, nichts weniger meines Amtes. (Mein Gegner ahnt offenbar nicht, daß ich selber von einer Orthodoxie als Ketzer verschrien bin.) Nein, nichts Gerichtsähnliches, aber eine Kennzeichnung. Und es wird sich weisen, daß es die richtige war.« (Ebd., S. 476.) Die Reaktionen auf das Erscheinen von Gottesfinsternis sind sowohl in der internationalen Öffentlichkeit wie auch bei alten Freunden und Wegbegleitern Bubers geteilt. Die Rezension des amerikanischen jüdischen Religionsphilosophen Will Herberg (1906-1977) trägt den Titel »How can you say ›God‹?« – eine Anspielung auf die Frage »Wie bringen Sie das fertig, so Mal um Mal ›Gott‹ zu sagen?« des »Vorspruchs« (jetzt in diesem Band, S. 364). Sie erscheint in der Dezember-Ausgabe des Jahres 1952 der 1945 durch das American Jewish Committee gegründeten einflussreichen, zunächst liberal und säkular ausgerichteten amerikanischen Zeitschrift Commentary, für die auch u. a. Hannah Arendt oder Thomas und Golo Mann (1909-1994) schrieben. Herberg, der durch Judaism and Modern Man (1951) bekannt geworden war, stand seit 1949 in brieflichem Kontakt mit Buber und fungierte u. a. als Herausgeber einer amerikanischen Werkausgabe (The Writings of Martin Buber, 1956). Herberg liefert eine dezidierte und durchaus kritische Buchbesprechung, die vor allem in dem Kapitel »Religion und Ethik« einen wesentlichen Schwachpunkt des Buches ausmacht. Buber, der tief in einem »German romantic background« verwurzelt sei, schätze die »Natur des normativen Christentums« falsch ein – immerhin nahm Buber Herbergs Kritik so Ernst, dass er im Januar 1953 in einem mehrseitigen Brief dezidiert seinen Standpunkt zu verteidigen sucht (B III, S. 325). Insgesamt jedoch sei Eclipse of God auf lange Zeit ein Buch von überragender intellektueller Bedeutung und Herberg schließt: »In any case, however, these points on which I find myself in disagreement are altogether secondary and do not in the least affect the quite extraordinary power and significance of the work.« (Will Herberg, How Can You Say »God«? Eclipse of God by Martin Buber, Commentary 12 [1952], S. 615-619, hier S. 617.) Im September 1953 veröffentlicht Bubers Freund, der Philosoph Hugo Bergmann, eine ebenfalls skeptische Besprechung in der Schweizer Zeitschrift Neue Wege (Hugo Bergmann, »Gottesfinsternis«, in: Neue Wege, Blätter für den Kampf der Zeit, Bd. 47, Heft 9, Sept. 1953, S. 345-349). Buber veröffentlichte, ebenfalls in der Zeitschrift Neue Wege, als Antwort auf Bergmanns Kritik bereits im Herbst 1953 eine Verteidigung unter dem Titel »Zwischen Religion und Philosophie«, die in diesem Band auf den Seiten 445-448 abgedruckt ist. Bergmann, der sich bereits seit längerer Zeit auch kritisch mit den Po-
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sitionen Bubers auseinandergesetzt hatte (vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 779-780), hält Bubers Buch eher für problematisch: Gottesfinsternis liefere weder wesentliche neue Erkenntnisse, noch biete das Buch probate Antworten auf die Fragen und Herausforderungen der modernen Krisis. Es lasse vielmehr im Gegenteil die bestehenden inhärenten Widersprüche des Buberschen Denkens klarer zu Tage treten. Er moniert vor allem Bubers forciertes Denken in Dichotomien, seinen Zug zu radikalen Polarisierungen, deren Folgen »weitreichend und gefährlich« seien. Dies beträfe nicht nur die generell dichotomisch angelegte Gegenüberstellung von Ich-Du auf der einen und Ich-Es auf der anderen Seite, deren ausschließliches »Entweder-Oder« auf einer wirklichkeitsfremden philosophischen »Abstraktion« begründet sei (ebd., S. 347). Buber reiße einen »unüberbrückbaren Abgrund« zwischen Religion und Philosophie, Glauben und Wissen auf. Aber gerade in der Stunde der »Gottesfinsternis«, einer Zeit, »in welcher die Wissenschaft eine so zentrale Rolle spielt, dürfen«, so Bergmann, »Religion und Philosophie nicht entgegengesetzte Mächte sein, sondern müssen miteinander zusammenarbeiten, sollen wir nicht Opfer einer glaubenslosen Philosophie einerseits und eines wissenschaftsfeindlichen Glaubens anderseits werden.« (Ebd., S. 348.) Bei allem Verdienst, der Buber zuzurechnen sei, biete Gottesfinsternis keinen probaten Weg aus der modernen Krise, denn so Bergmann: »[…] den Ausweg aus der geistigen Finsternis wird, scheint mir, nur eine echte Zusammenarbeit von Philosophie und Glauben finden, jene ›gläubige Philosophie‹, von der einst Rosenzweig sprach. Die Philosophie muß sich der neuen Aufgaben bewußt werden, zu welchen sie dieser gläubige Rationalismus verpflichtet.« (Ebd., S. 349.) Für eine detaillierte Rekonstruktion der Argumentation Bergmanns vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 780-783. Auch die deutsche Presse kommt je nach Provenienz zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen des Buches. Die Zeit kritisiert, Bubers Reflexionen zum Verhältnis von Religion und moderner Philosophie sei »das echt ›Fragwürdige‹ […] an ›Gottesfinsternis‹« und endet mit der Frage, ob er »uns in einem neuen Werk helfen [wird], diese Fragen zu beantworten?« (»Ist die Philosophie an der ›Gottesfinsternis‹ schuld? Bemerkungen zu einem neuen Buch von Martin Buber«, von Paul Hühnerfeld, Die Zeit, Nr. 16, April 1953). Ganz anders die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Sie bezeichnet Buber begeistert als »Kämpfer« und »letzten Propheten«, der gegen alle »Transzendenzlosigkeit« der modernen Welt, das »neue Gewissen des Menschen« anrufe (»Gottesfinsternis«, von Heinrich Cremmels, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Oktober 1953).
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Textzeugen: h1: Teilhandschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39 Mappe 1); 15 lose paginierte Blätter, beidseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit vielen Korrekturen versehen. Die Handschrift enthält das Kapitel »Religion und Philosophie«. Der Textgestalt nach konstituiert das Manuskript die Fassung für D8 und nicht die des Erstdrucks d1. 2 h : Teilhandschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39 Mappe 1); 3 lose paginierte Blätter, beidseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit vielen Korrekturen versehen. Die Handschrift enthält in leicht veränderter Fassung parallel zu h1 den Schlussabschnitt des Kapitels »Religion und Philosophie« (vgl. den Abschnitt in diesem Band, 385,32387,26). h3: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39); 12 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit vielen Korrekturen versehen. Der Textzeuge bildet eine Mixtur aus Handschrift und Maschinenschrift: ab dem Teilstück »daß es darum geht« (392,27) besteht er aus auf eigene Blätter geklebten Typoskriptstücken. Da diese Blätter und die Blätter der Handschrift durchgehend paginiert worden sind, auch die Grenze zwischen beiden mitten in einen Satz fällt, werden beide Medien als ein einheitlicher Textzeuge gezählt. Der Textzeuge enthält das Kapitel »Die Liebe zu Gott und die Gottesidee«. h4: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39 Mappe 1); Ringblock; das jeweils rechte Blatt ist einseitig beschrieben mit blauer Tinte in einem Umfang von 27 paginierten Seiten; mit vielen Korrekturen versehen. Die Handschrift enthält das Kapitel »Religion und Realität«. h5: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39); Reinschrift von h4; 5 lose paginierte Blätter, beidseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit wenigen Korrekturen versehen. Die Handschrift enthält das Kapitel »Religion und Realität«. Der Textgestalt nach konstituiert das Manuskript die Fassung für d5. h6: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39 Mappe 1); 22 lose paginierte Blätter, beidseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit vielen Korrekturen versehen. Die Handschrift enthält das Kapitel »Religion und modernes Denken«. Der Textgestalt nach konstituiert das Manuskript die Fassung für d6. 7 h : Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39); 1 loses Blatt, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit wenigen Korrekturen versehen. Die Handschrift enthält einen Entwurf des Vorworts. h8: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39); 1 loses Blatt, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; ohne Korrekturen. Die Handschrift enthält einen Entwurf des Vorworts.
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h9: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39); 15 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; datiert: »Berlin 30. XI. 32«; mit einigen Korrekturen versehen. Die Handschrift enthält unter dem Titel »Meinungskampf« das Kapitel »Bericht von zwei Gesprächen«. h10: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39); 21 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit vielen Korrekturen versehen. Die Handschrift enthält das Kapitel »Religion und Ethik«. h11: Teilhandschrift zum Kapitel »Von einer Suspension des Ethischen« im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39 Mappe 2); 5 lose paginierte Blätter; einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit vielen Korrekturen versehen. Ein Blatt mit dem Textstück 434,26-435,22 fehlt. h12: Teilhandschrift zum Kapitel »Von einer Suspension des Ethischen« im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39 Mappe 2); 4 lose paginierte Blätter; einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit wenigen Korrekturen versehen; Reinschrift von h11; der Text ab 434,36 fehlt. h13: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39 Mappe 2); 7 lose Blätter; einseitig beschrieben mir blauer Tinte; mit wenigen Korrekturen versehen. Die Handschrift enthält das Kapitel »Gott und der Menschengeist«. h14: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39 Mappe 2); 7 lose paginierte Blätter; überwiegend beidseitig beschrieben mit blauer Tinte; ein zusätzliches, einseitig beschriebenes Einlegeblatt sowie ein weiteres Blatt mit Entwürfen zu einzelnen Sätzen liegen bei; mit vielen Korrekturen versehen. Die Handschrift enthält die »Replik auf eine Entgegnung C. G. Jungs«. ts1: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 39); 30 lose paginierte Blätter. Das Typoskript enthält das Kapitel »Religion und modernes Denken«. Das Typoskript ist zweischichtig. ts1.1: Grundschicht. ts1.2: Überarbeitungsschicht: Korrekturen von Bubers Hand. d1: Religion und Philosophie, in: Europäische Revue, August 1929 (V/2), S. 325-335 (MBB 401). Wegen der Menge von Abweichungen in d1 wird dieser Textzeuge nicht im Variantenapparat berücksichtigt, sondern kommt vollständig auf den Seiten 194-204 zum Abdruck. d2: Cohen und die Gottesliebe – zu Cohens 100. Geburtstag, in: Mitteilungsblatt, VI/30, 24. Juli 1942, S. 4 (MBB 649). d3: Die Liebe zu Gott und die Gottesidee, in: Neue Schweizer Rundschau, XV/8, Dezember 1947, S. 297-506 (MBB 769). d4: Die Liebe zu Gott und die Gottesidee, in: Tägliche Rundschau, 20. Februar 1948 (MBB 795).
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d5: Religion und Realität, in: Wort und Wahrheit, VI/11, November 1951, S. 805-812 (MBB 873). d6: Religion und modernes Denken, in: Merkur, VI/2, Februar 1952, S. 101-120 (MBB 907). d7: [Erwiderung an C. G. Jung], in: Merkur, VI/5, Mai 1952, S. 474-476 (MBB 899). Der Textzeuge enthält den letzten Abschnitt, in diesem Band S. 441-443. D8: Gottesfinsternis, Zürich: Manesse 1953 (MBB 918). d9: Der Name Gottes, in: Neue Wege, LI/6, August 1957, S. 163-163 (MBB 1065). Enthält den Abschnitt 363,10-364,23. D10: Werke I, S. 503-604 (MBB 1193). Übersetzungen: Englisch: Eclipse of God. Studies in the Relation Between Religion and Philosophy, übers. von Maurice Friedman, Eugene Kamenka, Norbert Guterman, I. M. Lask, New York: Harper 1952, 192 S. (MBB 887); Eclipse of God. Studies in the Relation Between Religion and Philosophy, übers. von Maurice Friedman u. a., London: Gallancz 1953, 192 S. (MBB 914); Eclipse of God. Studies in the Relation Between Religion and Philosophy, übers. von Maurice Friedman u. a. [Harper Torchbooks 12], New York: Harper 1957, 152 S. (MBB 1042); der Abschnitt »Suspension des Ethischen«: »On the Suspension of the ethical«, übers. von Maurice S. Friedman, in: Moral Principles of Action, hrsg. von Ruth Nanda-Anshen [Science of Culture Series 6], New York: Harper 1952, S. 223-227 (MBB 906); der Abschnitt »Die Liebe zu Gott und die Gottesidee«: »The Love of God and the Idea of Deity«, in: Israel and the World. Essays in a Time of Crisis, übers. von I. M. Lask, New York: Schocken Books 1948, S. 53-65 (MBB 786), 2. Auflage 1963 (MBB 1215). Französisch: der Abschnitt »Die Liebe zu Gott und die Gottesidee«: »L’amour de Dieu et l’idée de la divinité«, in: L’Homme, le Monde, l’Histoire, Paris: Arthaud 1948, S. 235-249 (MBB 791). Hebräisch: »Likuj ha-or ha-elohi«, in: Pene adam. Bechinot be-anthropologia filosofit, Jerusalem: Mossad Bialik 1962 (MBB 1209); der Abschnitt »Religion und Ethik«: »Dat u-musar«, in: Ijun, 5. Jg., Heft 1, Januar 1954, S. 9-18 sowie in: Molad, 1. Jg., Heft 24, Tammuz/Av 1957, S. 226-233 (MBB 974); der Abschnitt »Die Liebe zu Gott und die Gottesidee«: »Ahavat Elohim we-ideat ha elohut«, in: Knesset. Divre sofrim le-zekher Ch. N. Bialik. Sefer schmini, Tel Aviv: Dvir 1943/44, S. 154-159 (MBB 694).
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Italienisch: Eclissi di Dio. considerazzioni sul rapporte tra religion filsofia, übers. von Ursula Schnabel [Humana Civilitas 9], Mailand: Edizioni di Communità 1961, 141 S. (MBB 1160). Japanisch: Gottesfinsternis, übers. von Yoshinori Mitani, Seisaky Yamamoto und wataru Mizugaki; Tokyo: Misuzu-shobo 1969, 277 S. (MBB 1312b) [enthält auch Bilder von Gut und Böse]. Niederländisch: Godsverduisterung. Beschouwingen over de betrekking tussen religie en filosofie, übers. von K. H. Kroon, Utrecht: E. J. Bijleveld 1954, 144 S. (MBB 950). Spanisch: Eclipse de Dios. Estudios sobre las relaciones entre religión y filosófia, übers. von Luis Fabricant, Ideas de nuestro tiempo, Buenos Aires: Galatea-Nueva Visión 1955, 124 S. (MBB 983). Druckvorlage: D8 Variantenapparat: 360,2-14 Dieses Buch […] wiederabgedruckte Replik] Dieses Buch ist aus Vorlesungen entstanden, die ich an einigen nordamerikanischen Universitäten {ergänzt (Yale, Princeton, Columbia, Chicago u. a.) h8} in den Monaten November und Dezember 1951 gehalten habe. Vorausgeschickt habe ich ihnen, als ihr {[natürliches] ! angemessenes h7 angemessenes h8} Präludium, den aus dem Jahr 1932 stammenden »Bericht über zwei Gespräche«. In den Abschnitt »Religion und Philosophie« habe ich einiges aus dem Vortrag über diesen Gegenstand mit aufgenommen, mit dem ich die ebendiesem Thema gewidmete Tagung 1929 der Schopenhauer-Gesellschaft in Frankfurt eröffnet habe. h7, h8 Der Abschnitt »Die Liebe zu Gott und die Gottesidee« stammt von 1942 h7 361,1 Vorspruch] fehlt h9 361,2 Bericht von zwei Gesprächen] Meinungskampf h9 361,3 Gesprächen] Meinungskämpfen h9 361,4 Gespräch] Kampf h9 361,5 in Wahrheit] [in Wirklichkeit] ! in Wahrheit h9 361,5-6 abgebrochen wurde] abgebrochen wurde [und nicht wieder aufgenommen worden ist] h9 361,8 , um den Begriff, um den Namen,] h, um den Begriff, um den Namen,i h9 361,9 Weise] [Weise] ! Art h9 361,11 An drei aufeinanderfolgenden Abenden] [Vor etwa zehn Jahren] ! An drei aufeinanderfolgenden Abenden h9
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361,16-17 Diese Feststellung […] Denkgewohnheit] [So einfach diese Feststellung ist, es bedurfte dreier Abende, um sie deutlich zu machen] ! Diese Feststellung […] Denkgewohnheit h9 361,21 Arbeiter] hervorgehoben h9 361,27 mögen] [können] ! mögen h9 361,31 Der nächste Tag] davor kein Absatzwechsel h9 361,33 Unter den Arbeitern] davor Absatzwechsel h9 362,1 sondern] [nein, weder im Guten noch im] ! sondern h9 362,2 Zu dem Mann gehörte ein kurioses] [Der Mann hatte ein eindringliches] ! Zu dem Mann gehörte ein kurioses h9 362,5-6 , auch sein Gesicht […] dem Bild] h, auch sein Gesicht […] dem Bildi h9 362,9-12 , eine Wendung […] haben soll,] h, eine Wendung […] haben soll,i h9 362,15 Naturforschers] Naturforschers [hund Philosopheni] h9 362,18-19 die Bezeichnung] [das Wort] ! die Bezeichnung h9 362,18-19 für seine Idee von der Natur] hfür seine Idee von der Naturi h9 362,20 Der knappe Spruch] davor kein Absatzwechsel h9 362,22 verhandelt] [miteinander geredet] ! verhandelt h9 362,25-26 von seiner naturwissenschaftlichen Weltanschauung aus] hvon seiner naturwissenschaftlichen Weltanschauung ausi h9 362,28 eine Welt?] eine Welt? [Nicht umsonst hat uns der grosse Erschütterer solcher Sicherheiten, Immanuel Kant, gelebt.] h9 362,29 Zinnoberrot und Grasgrün] [Rot und Grün] ! Zinnoberrot und Grasgrün h9 362,32 unvorstellbaren] unnahbaren h9 362,34 »Dingen«] [Vorgängen] ! »Dingen« h9 362,37 gegenüber befanden.] gegenüber befanden. [Die »Dinge« sind, was sie sind] h9 362,39 wirkliche] [fassliche] ! wirkliche h9 363,4 waltete] [herrschte] ! [waltete eine Weile] ! waltete h9 363,9 majestätische] [herrliche] ! majestätische h9 363,11 gewollt] gewollt [, gesollt] h9 363,12 wollte] wollte [und sollte] h9 363,13 du sagen kann] Du sagen kann, der, zu dem man beten kann h9 363,15 , wie ich nun hätte eigentlich müssen,] h, wie ich nun hätte eigentlich müssen,i h9 363,21 Einige Zeit] [Ein paar Jahre] ! Einige Zeit h9 363,22 einst] [vor ein paar Jahren] ! einst h9 363,26 freudig] hfreudigi h9 363,28 Philosophie] [Gedanken] ! Philosophie h9
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363,31 herrliches] [herrliches] ! [schönes] ! herrliches h9 363,33 gründlich erlernt; er tat] [richtig erlernt; und sein Altsein war herrlich] ! gründlich erlernt; er tat h9 363,34 anfangskundige Weise.] anfangskundige Weise. [Es hing dies damit zusammen, dass er Musik in sich hatte; ein System ist gut, aber Musik ist noch besser.] h9 363,35 westlicher gelegenen] [meinem Wohnort näher] ! westlicher gelegenen h9 364,2 Bürstenabzüge] [Korrekturfahnen] ! Bürstenabzüge h9 364,5 das Arbeitszimmer] [der Schreibstube] ! das Arbeitszimmer h9 364,9 ihm nicht vorlesen] ihm [das kleine Werklein] nicht vorlesen h9 364,9-10 freundlich, aber offenbar erstaunt] [freundlich und aufnahmewillig, aber etwas erstaunt] ! freundlich, aber offenbar erstaunt h9 364,10 wachsendem Befremden] [wachsender Bedenklichkeit] ! [zunehmendem] ! wachsendem Befremden h9 364,13-14 der Bedeutung] [dem Sinn] ! der Bedeutung h9 364,23 Die kindlich klaren] davor kein Absatzwechsel d9 364,23 flammten] [glühten unter den stahlgrauen Locken] ! flammten h9 364,23 flammte] [glühte] ! flammte h9 364,25 zöge] [käme] ! [träte] ! zöge h9 364,34 Fingerspur] Finder Spur d9 364,38 die Gegenwart] [das Dasein] ! die Gegenwart h9 364,40 erniedrigt] [gedemütigt] ! erniedrigt h9 365,1 zeichnen] [machen] ! zeichnen h9 365,6 anrufen] [anreden] ! anrufen h9 365,8-9 des Anrufs] [der Anrede] ! des Anrufs h9 365,10 achten] [verstehen und] achten h9 365,11 auflehnen] [wehren] ! auflehnen h9 365,13 läßt es sich verstehen, dass manche vorschlagen] [ist es zu verstehen, wenn man vorschlägt] ! lässt es sich verstehen, dass manche vorschlagen h9 365,17 , befleckt und zerfetzt wie es ist,] h, befleckt und zerfetzt wie es ist,i h9 365,18 Sorge] Sorge [und Bangigkeit] h9 365,20 war da] [stand fest um uns] ! war da h9 366,Titel] ergänzt Untertitel Bemerkungen zur Situation des Menschen h4, h5, d5 366,3 Das wahre Gepräge] Der wahre Charakter h4 [Der wahre Charakter] ! Das wahre Gepräge h5 366,3 Epoche] Kulturepoche h4 366,5 den einen] [originären Kulturzeiten] ! den einen h4
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366,7 stehen] stehen [, in abgeleiteten Epochen] h4 366,9 hingegen] hingegen [(die recht bemerkenswerte Werke hervorbringen können, aber Werke, die im Gewesenen, nicht aus Gegenwärtigem wachsen)] h4 366,14 verstandene] [bezeichnete] ! verstandene h4 366,16 ihres eigenen Geistes] ihrer eigenen Innerlichkeit h4 ihrer eignen Subjektivität h5 366,17 eines Geistes] einer Innerlichkeit h4 einer Subjektivität h5 366,17 verselbständigte Bilder] verselbständigte Vorstellungen, verselbständigte Bilder h4 366,18 Es stellt] davor Absatzwechsel d5 366,20 rechtmäßigen] wahren h4 366,26 Wissens] Selbstwissens h4 366,26 vermeintliche] fehlt h4, h5 366,34 Betrachtung] [Vorstellung] ! Betrachtung h4 366,36 Macht und Herrlichkeit] Macht h4 Macht hund Herrlichkeiti h5 367,2 erlahmt auch] [widerfährt das Gleiche] ! erlahmt auch h4 367,2-3 Göttliches in Bildern zu fassen] [das ihm Begegnende bildhaft zu fassen] ! Göttliches in Bildern zu fassen h4 367,12 im Gedankensystem] [gedanklich] ! im Gedankensystem h4 367,16-17 , bedrohend […] einfach hinweisend,] h, bedrohend […] einfach hinweisend,i h4 367,30-31 In seiner Auffassung der göttlichen Attribute] [In einer Anmerkung der »Ethik«, die er nie ausgeführt hat] ! In seiner Auffassung der göttlichen Attribute h4 367,36 Alles uns wie außer so in uns] Alles [also, wovon wir mit einiger Zulänglichkeit wissen, alles] ! uns wie ausser uns h4 367,37 Attributen] Attributen [oder Erscheinungsformen] h4 368,3 Gott erscheint] Gott sich manifestiert h4 368,5 Dennoch bliebe] davor Absatzwechsel d5 368,12-13 , wiewohl seine Darstellung […] begriffliche ist,] [wenn er auch formal an dem X Geometricus festhält,] ! , wiewohl seine Darstellung […] begriffliche ist, h4 368,14-15 , ohne die begriffliche Fassung unmöglich wäre,] h, ohne die begriffliche Fassung unmöglich wäre,i h4 368,18-20 und sowohl […] einschließt] fehlt h4 hund sowohl […] einschließti h5 368,22 muß sie ihr wesensgleich sein] [kann sie ihr nicht unähnlich sein] ! muss sie ihr wesensgleich sein h4 368,23 äußerste] [sublimste] ! äusserste h4
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368,26 Wahrnehmung der Identität] Identität h4 [Identifizierung] ! Wahrnehmung der Identität h5 368,28 schlechthin] durchaus d5 368,33 völlig] schlechthin d5 369,1-2 von der […] zu tun war] im Grunde nichts anderes gesagt war als die [Ausschliessung] ! Exklusion des Sinnlichen, da es dem Philosophen ja darum ging h4 369,3-4 dem biblischen Bilderverbot […] zu verleihen] [das biblische [Gebot, sich keine] ! Bilderverbot zu radikalisieren] ! dem biblischen Bilderverbot die äusserste Radikalität und Exklusivität zu verleihen h4 369,4 Umfänglichkeit] Exklusivität h4, h5, d5 369,7-8 Grundbestand] Kern h4, h5, d5 369,9 uns widerfährt] geschieht h9 [geschieht] ! uns widerfährt h5 369,10 hinlänglicher] [unüberbietbarer] ! vollkommener h4 vollkommener d5 369,12-13 eine wesentlich […] gekennzeichnet] [die entgegengesetzte] ! eine wesentlich verschiedene Tendenz charakterisiert h4 369,14 eigentliche] innerste h4 369,16 zu tilgen] zu schwächen oder zu tilgen h4 369,17-18 apodiktisch oder hypothetisch] [zögernd oder drastisch] ! apodiktisch oder hypothetisch h4 369,18 Metaphysik oder in der der Psychologie] Metaphysik [oder in der der Erkenntnistheorie] ! oder auch in der der Psychologie [, je nach Zeit und Gelegenheit,] h4 369,20 Spinoza] Spinoza (ohne dass dieser genannt wird) h4 Spinoza [(ohne dass dieser genannt wird)] h5 369,21 (neben manchen Varianten)] h(neben manchen Varianten)i h5 369,24 stets erneuten] [unüberwindlichen] ! stets erneuten h5 369,26 der Leser] der aufmerksame Leser h4 369,27 was Kant] was der in einen grossen Werken in der Frage der Religion so zurückhaltende Kant h4 was [der in seinen grossen Werken in der Frage der Religion so] ! Kant h5 369,28 erfassen] [formulieren] ! erfassen h4 369,29 bezeichnet] formuliert h4 369,30-31 zwischen der Unbedingtheit […] Begründung] hzwischen der Unbedingtheit […] Begründungi h4 369,31-35 den »Grund […]. Einst hatte] in den die hsich selbst überlassenei menschliche Moral [verwickelt ist, die Harmonie von Sittlichkeit und Glückseligkeit, die Bürgschaft des absolut Guten.] ! sich mit Notwendigkeit verwickelt, den »Grund aller Verbindlichkeit
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überhaupt«. Aber ein Gott, der nichts andres als ein Verhältnis in uns ist, [kann] ! vermag dies gar nicht zu leisten. Wie sollte irgendetwas [im Menschen] X dem Menschen X X die Richtigkeit seines Handelns aus dem Relativen ins Absolute heben? Nur eine selber Absolutes kann absolut bestimmend sein – und wie käme eine solches him streng ontischen Sinni in das Innere des allen Relativitäten preisgegebenen Menschen? Kant selbst hatte h4 369,35-36 in seiner Moralphilosophie] einst h4 369,40-41 eine Spannung zwischen Gut und Böse] Gut und Böse, ein Recht und Unrecht h4 370,1 konstitutiv] fehlt h4 370,5 Ursprechen] Philosophen h4 370,8-9 sich auf seinem Wege zur Irrealisierung Gottes] hsich auf dem Wege zur Irrealisierung Gottesi h4 370,9-10 Prinzip] Bewusstsein h4 [Bewusstsein] ! Prinzip h5 370,11-13 als solches […] wiedereinzusetzen] zu restituieren, womit aber auch gesagt ist, dass es nicht »in uns« oder doch nicht nur in uns existieren kann h4 370,13-14 Hintergrunds willen] Hintergrundes [, sei es einfach um des Einvernehmens mit der Religion] willen h4 historischen Hintergrunds willen h5 370,15 als eines den Manifestationen] als eines [Lebens »mit Gott«, »in seinem Angesicht«, als eines von unserem] ! den Manifestationen h4 370,17 fundamental gewiß] ungewiss h4 370,24 Daseinswirklichkeit] [persönlichen Konkretheit] ! Daseinswirklichkeit h4 370,28 vollkommenem] zu seinem vollkommenen d5 370,37-38 (die den Gedanken […] nicht trifft) ] fehlt h4 371,4 dokumentiert] darstellt h4 371,5 die aus der Unendlichkeit] die [uns wie alles Seiende umfängt und] ! aus der Unendlichkeit h5 371,6 bekanntgibt] manifestiert h4 371,12-16 Das Grundthema […] Walten] Das dramatische Gegenüber göttlicher und menschlicher Person ist durch das partnerlose, alles verwendende [Treiben] ! Walten h4 371,14 eingeschränkten] [endlichen] ! eingeschränkten h5 371,16 Weltgeistes] [Weltwesens] ! Weltgeistes h4 371,19 Ende] [abgrundartigem] Ende h4 371,26 Spruch] Wort h5, d5 371,26 Spruch […] ihn getötet] Wort vom Tode Gottes h4
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371,28 einen Satz […] wiederaufnehmende] [halb pathetische halb X] ! einen Satz […] wiederaufnehmende h4 371,30 gewichtige] charakteristische h4 371,Anm 1] fehlt h4 371,Anm 1 Gott«. Aber […] eines Wegs] Gott« – aber zu Unrecht d5 372,1 zunichte] zuschanden h4 372,2 Zunächst weil ein Streben] [Nicht deswegen (wiewohl auch dies von Gewicht ist), dass] ! Zunächst weil eine Anstrengung, ein Streben h4 372,2-3 oder die Vorform eines Vorgangs,] fehlt h4 372,2 Vorform] [Vorgestalt] ! Vorform h5 372,4 Dann aber und besonders deshalb] [Sondern] ! Dann aber und besonders deshalb h4 372,5 religiösen Erfahrungen] [Begegnungen eines Menschen mit der Wesenheit, die er als Gott bezeichnet] ! religiösen Erfahrungen h4 372,8 des Verderbens] der Vernichtung h4 372,8 beieinander wohnen] [aneinander grenzen] ! beieinander [hausen] ! wohnen h4 372,14 verschiedener Art] verschiedener und für unser Problem bedeutenderer Art h4 372,15 neuen] heute haltbaren h4 372,20 In der Tat,] Dass jedenfalls die vorherrschende Tendenz so beschaffen ist, trifft zweifellos zu: h4 372,22 , nicht bloß ein »höchster Wert« ist] h, nicht bloß ein »höchster Wert«i ist h4 372,23-24 führt, […] eindeutiger Weg] führt von Kants »nur in uns« [über Hegel] ein zwar keineswegs geradliniger, so starke Abweichungen wie die von Hegels »Idee« zulassender, aber letztlich eindeutiger Weg h4 372,26-29 Dieser Satz trifft […] anerkannt hat] Dieser Satz, der an sich durchaus zutrifft, enthält dennoch eine schwerwiegende Problematik h4 [Dieser Satz, der an sich ebenfalls zutrifft, enthält dennoch eine schwerwiegende Fraglichkeit] ! Dieser Satz trifft […] anerkannt hat h5 372,39 sieht] versteht h4 [versteht] ! sieht h5 372,39-373,3 Er knüpft damit […] Heidegger verheißt] Er verheisst h4 372,40 Auslegung] [Interpretation] ! Auslegung h5 373,4 Wandlung] [Möglichkeit] ! Wandlung h5 373,6 perspektivenreichen] [schillernd] ! perspektivenreichen h5 373,8-9 Gott und dessen Erscheinungen […] pries] Gott und die Götter [vereint] pries h5 373,10 wesenhaften] abgründigen h4 [abgründigen] ! wesenhaften h5
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Einzelkommentare
373,11 Übermächtigen, bevorsteht] mächtigen Sein ins Auge zu sehen haben h4 [Übermächtigen [ins Auge zu sehen] ! standzuhalten haben] ! Übermächtigen, bevorsteht h5 373,14 einsetzen] einsetzen [, der Zug der Projektionen] h4 373,19 zu stellen?] zu stellen! d5 373,15-16 erführe und annähme] [verstünde] ! X und akzeptierte h4 [verstünde] ! erführe und annähme h5 373,22 als Gewalt oder Gestalt wahrzunehmen gab] gestalthaft zu fassen gab h4 373,22 wahrzunehmen] [zu fassen] ! wahrzunehmen h5 373,23 Und auch Hölderlin] [Wenn heute noch Singular und Plural verbunden werden] ! Und auch Hölderlin h5 373,23-26 Und auch Hölderlin […] Gott ist.] [Bricht dem Menschen noch einmal jenes Du der Gegenwart aus der fast erstickenden Kehle jenes, dann kann er nur das ewige X] h4 373,24 ahnend] [wissend] ! ahnend h5 373,34 Wiedererscheinen] [erneutes Erscheinen] ! Wiedererscheinen h4 374,3 auszustehn] [zu erleiden] ! auszustehn h4 374,7 die Prinzipien und die Ideale] [die Gründe und Prinzipien des Seienden, die Ideale] ! die Prinzipien und die Ideale h4 374,8 gehangen haben] gehaftet haben, irgendwie, X Maße von ihm abhängig gewesen sind h4 374,9 umschreiben] erfassen h4 374,13 notwendigerweise eigentlich] hnotwendigerweise eigentlichi h4 374,14 , wenn der Inhaber […] absagt,] h, wenn der Inhaber […] absagt,i h4 374,15 Grund] [Bestand] ! Grund h4 374,16-17 »Tötenden«] [Absagenden] ! »Tötenden« h4 374,18 die ersten Menschen] [Adam und Eva] ! die ersten Menschen h4 375,9 Welten] [Gestirnen] ! Welten h1 375,12 überlieferten Bräuche] [jeweils überlieferte heimische Religion verehren] ! traditionellen Bräuche h1 376,33 Sterblichen] Menschen h1 377,20 die Kürze] die – das Streben nach Erkenntnis beschränkende – Kürze h1 377,22 spezifische, alles Absolute] [grundsätzlich relativierende Bewusstsein war die Frage nach den] ! spezifische, alles Absolute h1 377,28 Hinweis auf die Existenz] [Zeugnis für das Dasein] ! Hinweis auf die Existenz h1 378,4 beachtenswerten] [bemerkenswerten] ! beachtenswerten h1
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378,23 als meinen Gegenstand besinne] [selber besinne] ! als meinen Gegenstand besinne h1 378,25 wird, in der Zweiheit] wird, [auf der Ursprünglichkeit von Ich und Du, Philosophie, auch wenn [sie platonisch] ! der vorphilosophische Akt in mystischer Schau sich vollendet, auf die Gespaltenheit von Subjekt und Objekt] ! in der Zweiheit h1 378,28-29 von der Zweiheit […] getragen] die Zweiheit von Subjekt und Objekt trägt die Philosophie h1 378,29 philosophiert wird] philosophiert wird [– wenn sie mystisch aufgehoben wird, ist naturgemäss das Philosophieren aufgehoben] h1 378,31 west] [besteht] ! west h1 378,33 ein Sein, das im Betrachten und Besinnen] [das [betrachtende und erkennende] ! Subjekt, das betrachtet und erkennt, ja lediglich darin die Aktualität seines Seins hat, und das Objekt, das nichts andres vermag als] im Betrachten und [Erkennen] ! Besinnen h1 378,36-37 Abstraktionsgewalt] [denkerischen] Abstraktionsgewalt h1 379,23 Sinn kommt.] Sinn kommt. [ / Als Einwand gegen die von mir angedeutete Determination der Religion wird man vielleicht die asketischen Tendenzen in einigen Religionen anführen wollen. Aber diese Tendenzen bedeuten, sofern nur das Religiöse selbst nicht geschwächt wird, keine Abkehr von der gelebten Konkretheit. Die Einrichtungsweise des Lebens und die Auswahl der zu bejahenden Lebenselemente hat sich hier verändert, aber nicht durch Lockerung des Verhältnisses zum Augenblick, das man vielmehr gerade dadurch zu intensivieren such: man will das Verhältnis] h1 379,25-380,19 Eine andere Abgrenzung […] Fundamentalität verfestige.] fehlt h1 381,5 ausweglosen] rüstungslosen h1 381,15 innezuhaben] [für sich als der Sinn des Daseins] innezuhaben h1 382,4-5 »Gottesfurcht«] »Gottesliebe« h1 382,16-17 ihn selber zu lieben] ihn so wie er ist und nicht mehr so wie er ihm zu sein schien zu lieben h1 383,23 gemeint ist] verstanden wird h1 383,24-27 zu verstehen, […] die Einsetzung] zu verstehen. Wenn Hegel, der zwar nicht das Abstrakte sondern das Wirkliche als Element und Inhalt der Philosophie ansieht, doch aber vom Philosophen fordert, mit der radikalen Abstraktion zu beginnen, – wenn Hegel, sage ich, die Schöpfung der Welt eine Abstraktion von Nichts nennt, so ist damit offenbar das genaue Gegenteil von dem gemeint, um was es uns hier geht, Weltschöpfung bedeutet ja gerade auch die Einsetzung h1 383,30 der religiöse Mensch] wir h1
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383,31 seiner Sterblichkeit] unserer Sterblichkeit h1 385,15 der scholastische Universalienstreit] [ein philosophischer Kampf zwischen Religion und Philosophie] ! der scholastische Universalienstreit h1 385,25 oder »Vollkommenheiten«] [der Arten] ! oder »Vollkommenheiten« h1 385,31-32 Herrlich erstattet […] konkreten Situation] Herrlich [legt Platon sein menschliches und dichterisches Zeugnis für die Begegnung mit dem Göttlichen in der konkreten Situation ab, teils unmittelbar in einzelnen Dialogen aus der Zeit des Reifens, später aber] ! erstattet […] konkreten Situation h1 386,5 , wie wir sie aus seiner Politeia kennen,] fehlt h1 386,6 , wie sie im Timäus erscheint,] fehlt h1 386,20 alles Seienden, des naturhaften und des geistigen] [aller Dinge bestünde für uns nicht] ! alles Seienden, des naturhaften und des geistigen h1 386,29-30 , mit einem statischen […] Problemen] h, mit einem statischen […] Problemeni h1 386,32 von hier aus] Beginn von h1 387,1 eines Seinsgehalts] heines Seinsgehaltsi h1 387,3 vielmehr eine fragwürdige Art der Philosophie] [schlechte Philosophie] ! vielmehr eine fragwürdige Art der Philosophie h1 schlechte Philosophie h2 387,5-10 Die künstlerische Mitteilung […] von da aus.] fehlt h1 387,5-6 , die hier nicht unerwähnt bleiben darf,] h, die hier nicht unerwähnt bleiben darf,i h2 387,10 Bearbeitung] Bearbeitung und Verarbeitung h2 387,11-12 Ein skeptisches Urteil […] ausgesprochen sein] Damit soll aber durchaus nicht ein skeptisches Urteil über den Wahrheitszugang und die Wahrheitshaltigkeit der Philosophie ausgesprochen sein h1 387,15 sind Bekundungen] sind nicht Fiktionen, sondern Bekundungen h2 387,17-18 Entdeckungszüge] Entdeckungszüge zum Seienden. Menschliche Wahrheit, die uns gewährte, gibt es nicht als eine, die gehabt, wohl aber als eine, die gelebt wird, und sie kann denkerisch gelebt werden. h2 387,19-20 Eine Verwandtschaft […] sei noch erwähnt.] fehlt h2 387,33-34 Erscheinungsformen] Aspekte h2 387,34 Grundarten] Weisen h2 388,1 Objekt] [optisches] Objekt h1 optisches Objekt h2
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388,3-4 Was hier offenbar […] menschlichen Daseins] Das sind nicht zwei Aspekte eines Wesens, sondern dessen zwei Grundverhalten, ja es ist die Doppelstruktur des menschlichen Daseins h2 388,4 Grundarten] Weisen h2 388,5 Grundarten] Weisen h2 388,18 Gebet des Ungläubigen?] ergänzt nach Absatzwechsel Rosenzweig meint damit Goethes Gebet zum eigenen Schicksal, das freilich {ein wenig an jenes der euripidischen Königin zu dem Schicksal oder dem Menschengeist erinnert, ein Gebet, dessen Du kein Du [und das also kein Gebet] ist h1, so echt es ist, an jenes der euripidischen Königin an die Ananke erinnert, dessen Du letztlich kein Du ist h2, D10}. Aber es gibt ein anderes, dem Du noch ferneres und doch, wie mir scheint, wichtigeres Gebet des Philosophen. / Die Glaubenswirklichkeit der Begegnungen mit dem alle Gestalten durchscheinenden und selber gestaltlosen Begegner kennt, als reine Ich-Du-Beziehung, kein Bild von ihm, nichts als Gegenstand Erfaßliches, – sie kennt die Gegenwart des Gegenwärtigen allein. Bilder {, sei es Vorstellungsbilder, sei es Begriffsbilder h1} von ihm, Gott als Inhalt menschlicher Konzeptionen, gibt es erst, wenn und insofern Du zum Er, das heißt, zum Es wird. Aber der Grund des Menschenwesens, in dem es sich sammelt und ganz wird, ist auch {die Tiefe, aus der die Bilder aufsteigen h1 der Seelenschoß, aus dem sich die Bilder gebären h2, D10}. Götterbilder erstehen, – solche, die sich sogar in irdische Stoffe {bannen [und in Heiligtümern aufstellen] h1 zu dauernder Sichtbarkeit bannen h2, D10} lassen, und solche, die {keine andere Stätte als die der Seele ertragen h1 seelenhaft bleiben und im Atemraum der Seele allein wohnen wollen h2, D10}. Bilder ergänzen einander, sie verschmelzen, Bilder werden, als plastisches oder als theologisches Gebild, vor die Gemeinschaft der Gläubigen gestellt. {Und es mag uns die Ahnung erlaubt sein, das Gott all die notwendigerweise untreuen Bilder nicht verachtet h1 Und Gott – so dürfen wir ahnen – verachtet die Bilder nicht h2, D10}, sondern duldet, daß man ihn in ihnen, ihn durch sie hindurch schaue{; auch sie nimmt er als Gestalten an, die er durchscheint h2, D10}. Sie aber wollen bald, je und je mehr sein als sie sind, mehr als Zeichen und Winke zu ihm hin; schließlich geschieht es immer wieder, dass sie {sich breitmachen und h1} den Weg zu ihm verstellen {, und er entzieht sich ihnen h2, D10}. So reift die Stunde des Philosophen, der das Bild und den Gott, den es meint, in einem als unrein verwirft und ihnen die reine Idee entgegenstellt {die er mitunter als Negation auch aller metaphysischen Ideen versteht}. h1, h2, D10
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389,1 Die Liebe zu Gott und die Gottesidee] ergänzt Untertitel (Über Hermann Cohen) h3 389,3 hastig] [flüchtig] ! hastig h3 389,16-17 werden, er transzendiert] [werden. Der so untergebracht werden kann, als »Idee«, ist nicht Gott] ! werden, er transzendiert h3 389,22-23 Die »spezifische Konkupiszenz« […] bieten] [Die Philosophen sind die Menschen des Hochmuts, sie bieten ihren Mitmenschen statt Gott] ! Die »spezifische Konkupiszenz« […] bieten h3 390,8 Gott ist.] Gott ist. [Das ist offenbar das Schwerste, was einem Philosophen zugemutet zu werden vermag.] h3 390,14-17 Kant nennt […] Er erklärt] [In ungeheuren Anstrengungen, die »noch einmal unaufgelöste] ! Kant nennt […] Er erklärt h3 390,Anm 1 veröffentlicht worden.] veröffentlicht worden. [Einen gewissen Ersatz dafür bietet das Buch von Erich Adickes, Kants Opus postumum (1920), in dem auf S. 269 unser Problem behandelt wird.] h3 390,28-29 , oder wie es […] Verhältnis in mir«] h, oder wie es […] Verhältnis in mir«i h3 390,34 zu machen, und] zu machen, [und [es bleibt] innerhalb der Transzendentalphilosophie kann zwar »nicht geleugnet werden«, »dass ein solches Wesen existiere«, aber es kann innerhalb ihrer auch »nicht behauptet werden, dass es] ! und h3 391,2-3 Der Widerspruch vertieft sich noch] [Unmittelbar nachdem Kant] ! [Gerade wenn Kant hier den Glaubensbegriff am tiefsten prüft, wird ihm die Glaubenswirklichkeit problematisch. Er unterscheidet] ! Der Widerspruch [brennt zur hellen Glut auf] ! vertieft sich noch h3 391,6-7 ideellen Gegenstand] hideelleni Gegenstand h3 391,10 einem persönlichen Verhältnis] [einer persönlichen Beziehung] ! einem persönlichen Verhältnis h3 391,25 anscheinend notwendigerweise] hanscheinendi notwendigerweise h3 391,37 Kundgebung] [Zeugnis] ! Kundgebung h3 392,9 nachdrücklicher] [viel eindeutiger] ! nachdrücklicher h3 392,10-11 , wodurch für ihn […] überwunden wird] h, wodurch für ihn […] überwunden wirdi h3 392,13-15 (die er drei Jahre […] anderes ist)] h(die er drei Jahre […] anderes ist)i h3 392,23 als die Idee der Wahrheit] hals die Idee der Wahrheiti h3 392,27 Gott hat] [schon aus dem Wort »Glauben«] ! Gott hat h3 392,31 Cohen wehrt sich] Cohen [, der Tektoniker des Gedankens, in dem die X] ! wehrt sich [mit systematischem Erfolg] h3 392,33-34 noch einmal ein Haus] sein letztes h3
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392,38 Ringen] [hoffnungsloses] Ringen h3 392,38 mit der eigenen] gegen die eigene d3, d4 393,8 Reihe von Aufsätzen] [Reihe wichtiger Aufsätze] ! Reihe von Aufsätzen h3 393,9 Eckpfeiler] [Grundstein] ! Eckpfeiler h3 393,9 die Vollendung ihres] erst ihren vollen h3 393,21 nähert] nähert, und damit geht der Hinweis auf die Bedeutung der Gottesliebe für den Glauben sinnreich zusammen h3 393,32 Sprüche der Bibel] Worte der Schrift h3 394,27 Eindringliche Worte] Starke, große Worte h3, d3, d4 394,34 je und je] hje und jei h3 394,36 als einem mir Gleichen] hals einem mir Gleicheni h3 395,1 meinem Willen] meinem Willen [, sondern von der Gnade] h3 395,19 für ihn] hfür ihni h3 396,4 liebe ich die idealisierte] kann ich die idealisierte lieben h3 396,34 , als er den Menschen schuf,] den Menschen schaffend h3, d3, d4 397,4 spannt.] Ende h3 399,4-7 Damit sollen aber […] zu schaffen.] hDamit sollen aber […] zu schaffen.i h6 399,10 Urteilen] [Verhältnis] ! Urteilen h6 399,13 des kollektiven Unbewußten] [der Archetypik] ! des kollektiven Unbewussten h6 399,20 sind zweifellos] [erscheinen mir] ! sind zweifellos h6 399,29-30 von dem […] wesensverschiedenen Atheismus] dem […] wesensfernen Atheismus d6 400,1-2 – wiewohl er […] »Dieu n’existe pas« – ] h– wiewohl er […] »Dieu n’existe pas« –i h6 400,6-7 Der erschreckend triviale […] unerörtert] [Das ist eine Banalisierung Nietzsches, dessen Möglichkeit uns nur dadurch verständlich wird, dass der letzte Teilsatz nichts weiter als Literatur ist] ! Der erschreckend triviale […] unerörtert h6 400,9 ignorieren wir] [nicht zur Kenntnis zu nehmen] ! ignorieren wir h6 400,19 Dasein] [Leben] ! Dasein h6 400,32-33 Der Satz, […] Idealismus.] hDer Satz, […] Idealismus.i h6 401,5 , in seiner Subjektivität eingekapselt,] h, in seiner Subjektivität eingekapselt,i h6 401,10-11 wie ich ihn […] Zeugen] [zum Gegenstand seiner Betrachtung oder seiner Begierde] ! wie ich ihn […] Zeugen h6 401,16-17 Jeder empirische Andere] [Dann ist auch das absolute, das unbestimmbare und unergründliche x, das ich »Gott« nenne, primär nicht Objekt, wie ich primär mir] ! Jeder empirische Andere h6
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401,23 zu gewinnen vermag] gewinnen kann d6 401,26 dessen] des Menschen d6 401,29 auf das Wiederlautwerden] [über den eigenen Tod hinweg] auf das [Wort] ! Wiederlautwerden des Wortes h6 402,1 Zusammenordnung der uns kenntlichen Phänomene] [Ordnung] ! Zusammenordnung der uns [gegebenen] ! kenntlichen h6 402,1-2 Zusammenordnung […], die wir Welt nennen ist freilich] die von uns »Welt« genannte Zusammenordnung […] ist freilich d6 402,3-4 vielfältige Seiende] uns in seiner Eigentlichkeit nicht kenntliche Seiende h6 Seiende d6 402,5 mitsamt unsrer Subjektivität] hmitsamt unsrer Subjektivitäti h6 402,7 All jenes Seiende] Das Seiende h6, d6 402,10 des Universums] [alles Seienden] ! des Universums h6 402,13 Phrase] [Tirade] ! Phrase h6 402,23 dessen Objekt ich bin] [für den der mich erfährt] ! dessen Objekt ich bin h6 402,26 ausschließliche] ausschliessliche [Kontaktform] h6 403,20 Wichtiger als diese] davor Absatzwechsel statt Leerraum h6, d6 403,20 bedeutenden] [erstaunlichen] ! bedeutenden h6 403,30-31 Gestalten, also im Grunde] Gestalten, [als Ideen und als Werte, verabschieden] ! also im Grunde h6 403,36-404,1 Absoluten] Ur-Absoluten d6 404,5 Erhellung] [Lichtung] ! Erhellung h6 404,10 an Hölderlin] an den von ihm kommentierten Dichter Hölderlin h6 404,26-27 Dies aber gehöre […] den Menschen] [Von solchem erhellenden Denken hängt es wesentlich] ! Dies aber gehöre […] den Menschen h6 404,29 vielmehr kann, so erklärt er] [vielmehr geschehe solche Entscheidung] ! vielmehr kann, so erklärt er h6 404,33 Denken der Wahrheit] Denken[, in dem ja eben das Sein] ! der Wahrheit h6 404,34 erhellt] [lichtet] ! erhellt h6 404,35 Heidegger pflegt] [Erst? ob und wie im Aufgang des Heiligen ein Erscheinen des Gottes und der Götter neu beginnen kann] ! Heidegger pflegt h5 405,2 Einmal erklärt er sogar] Einmal [aber geht er in bemerkenswertem Maße weiter] ! erklärt er sogar h6 405,6 Wie das benennende Wort] [Hier wird das künftig erscheinende Göttliche offenkundig nicht mehr, wie bisher in der Geschichte des Menschen, als eine allfarbne? Reihe hoher Gestalten, sondern als ein
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singularisch [alles Überstrahlendes gefasst] ! [Leuchtendes] ! an deren Stelle Tretendes gefasst. Und damit scheint es zusammenzuhängen, wenn er später einmal erklärt, es fehle das benennende Wort] ! Wie das benennende Wort h6 405,8-9 fehlt« – beides, das Wort und der Gott, fehlen in einem] [fehlt.« Er bleibt fern, auch dann noch, wenn – so wird hier Hölderlins Gedicht gedeutet – schon das Heilige erscheint] ! fehlt« – beides, das Wort und der Gott, fehlen in einem h6 405,12 ermahnt] [warnt] ! ermahnt h6 405,22 auf hoher philosophischer Warte] fehlt d6 405,26-27 das Wirklichwerden seiner Menschengeschöpfe] [das Menschwerden seiner Geschöpfe] ! das Wirklichwerden seiner Menschengeschöpfe h6 405,32 in dieser Geschichtsstunde] hin dieser Geschichtsstundei h6 405,36 inhärente] einwohnende d6 405,36-406,1 unüberwindlich leer bleibt] [leer geblieben ist] ! unüberwindlich leer bleibt h5 406,5-6 einer von ihnen und der größte,] heiner von ihnen und der größte,i h6 407,1 den Gesang] mit Recht den Gesang h6 407,6-7 er bedarf […] bedürfen] her bedarf […] bedürfeni h6 407,15 von ihm] von sich d6 407,15 von ihm, dem Seienden, her] hvon ihm, dem Seienden, heri h6 407,16 Wohl mag es] [Statt der unreduzierbaren Beziehung zwischen Mensch und Gott] ! [Gewiss ist es für den Gott nicht unerheblich, ob jetzt und hier, auch jetzt und hier noch, wahrhaft geglaubt] ! Wohl mag es h6 407,18-19 der ganze Mensch […] Wesensentscheidung] der ganze Mensch […] Wesensentscheidungi h6 407,22 Der also, dessen Erscheinen] [Was immer das oder der, der oder die sind] ! Der also, dessen Erscheinen h6 407,22-23 modern-magischen Einfluß] hmodern-magischeni Einfluss h6 407,24-25 im Letzten übereinstimmend] [im Sinne hatten] ! im Letzten übereinstimmend h6 407,26-27 unzulässig] [uneigentlich] ! unzulässig h6 407,28 Heidegger etwa nicht wüßte] Heidegger [, der von der christlichen Theologie herkommt und sie bekämpfend sie scharf im Auge behalten hat, nicht wüsste] ! etwa nicht wüsste h6 408,3 vernichtet] [erstickt] ! vernichtet h6 408,9 ausgerissen] [erstickt] ! ausgerissen h6
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408,10-18 Wie diese Wirkung […] die Geschichte] Die Geschichte steht hier d6 408,13 Heidegger in allgemeinen Wendungen] [er] ! Heidegger in allgemeinen Wendungen h6 408,14 einem Manifest] [einer Kundgebung] ! einem Manifest h6 408,15-16 die sinistre Hauptperson] [der problematische Hauptakteur] ! die sinistre Hauptperson h6 408,24-25 , eben dieselbe, […] geirrt hat] fehlt d6 408,25 Erscheinungsform] [Gestalt] ! Erscheinungsform h6 408,29 kein anderer der Philosophen, auch Hegel nicht] [keiner der Philosophen] ! [kein anderer von all den echten Philosophen] ! [wie kaum ein anderer der Philosophen vor ihm] ! wie seit Hegel kein anderer der Philosophen h6 408,29 , auch Hegel nicht] fehlt d6 408,30 eine dem Ewigen […] erringen] [die Überlegenheit wiedererringen] ! eine dem Ewigen […] erringen h6 408,32 ein »Heiliges«] [die Konzeption eines »Heiligen«] ! ein »Heiliges« h6 408,32 vor dem geschichtlichen Trug] hvor dem geschichtlichen Trugi h6 408,34-35 Die Fragen, […] echte Fragen.] hDie Fragen, […] echte Fragen.i h6 409,4 uns unzerreißbar anmutenden] [unzerreissbaren] ! uns unzerreißbar anmutenden h6 409,5-6 scheint sich zu verlieren] [verliert sich] ! scheint sich zu verlieren h6 409,19-20 gattungsmäßig] [qualitativ] ! gattungsmässig h6 410,6 Blick auf ihre Grenzen] Blick auf [ihren von ihr unüberschreitbaren Horizont nicht verliert] ! ihre Grenzen h6 410,14-15 und das kann […] sie sei nicht] dann ist eben damit gesagt, sie sei nicht d6 410,16 Sein] urselbständigen Sein d6 410,16 zu ihr neigt,] zu ihr neigt, [und sie liebend umfängt,] h6 410,20 mystisch] fehlt h6 410,23 im allgemeinen] him allgemeineni h6 410,30 , somit auch nicht als wirklich] h, somit auch nicht als wirklichi h6 410,36 Funktion Gottes«] Funktion Gottes« [irgendetwas auch nur halbwegs Fassliches zu denken] h6 411,12-13 , weil keine Erscheinung,] h, weil keine Erscheinung,i h6 411,15 Erscheinung des Baums vor meinem Fenster] die ich die Zypresse vor meinem Fenster nenne h6, ts1.1
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411,18-19 Entgegen seiner Erklärung, […] identifiziert Jung sich] »Jegliche Aussage über das Transzendente«, sagt Jung, »soll vermieden werden, denn sie ist stets nur eine lächerliche Anmassung des menschlichen Geistes«. Hinwieder identifiziert er sich aber h6, ts1.1 411,23 und exklusive] fehlt h6, ts1.1 411,24-25 , wie wenn es sich […] handelt,] fehlt h6, ts1.1 411,27-28 ist doch wohl eine Aussage] ist [unabdinglich eine negative] ! doch wohl eine Aussage h6 411,29 Jungs Äußerungen] Ich kann der Meinung Jungs, eine solche Aussage sei eine Anmassung des menschlichen Geistes, nicht beipflichten; die Upanishaden, auf die er sich beruft, sparen sogar nicht mit Attributen des höchsten Brahman; jedenfalls aber sind Jungs Äusserungen h6, ts1.1 411,30-31 metaphysische Aussagen […] betont] [metaphysische Aussagen. Wie der Gottes Existenz leugnende Materialismus eine Metaphysik ist, so auch dieser Gottes Existenz mehr oder weniger auf den Bereich der Menschenseele reduzierende [Psychologismus] ! Panenpsychismus] ! metaphysische Aussagen […] betont – eine Divergenz, die aus persönlicher Entwicklung zu erklären sein mag h6 metaphysische Aussagen […] betont – eine Divergenz, die aus persönlicher Entwicklung zu erklären sein mag ts1.1 412,1 nach Sinn und Absicht] hnach Sinn und Absichti h6 412,4 Psychologie] Psychologie [und damit ihre Konstitution als wissenschaftliche Disziplin] h6 412,4-8 aufgehoben, dieselben Grenzen […] die Psychologie] aufgehoben. Die Psychologie h6, ts1.1 412,9 zu vereinigen] zusammen d6 412,17 nachkantischen Idealismus] hnachkantischeni Idealismus [Fichtes] h6 412,18 Fichtes Ich ausgesagt, seinen Platz] [dieses Ich sagen lässt, das »im Ich das Nicht-Ich setzt«, sein Recht] ! Fichtes Ich ausgesagt, seinen Platz h6 412,20 wenn es auf] – wie es innerhalb einer psychologischen Betrachtung doch wohl selbstverständlich ist – auf ts1.1 412,20-21 auf die konkrete Einzelseele […] das Seelische] [Individualseele oder richtiger auf die leibliche und seelisch] ! [Einzelseele – und ich kenne in der [empirischen] erfahrbaren Welt keine andere –] ! – wie es innerhalb einer psychologischen Betrachtung doch wohl selbstverständlich ist – auf die konkrete Einzelseele […] das Seelische h6 412,21-26 angewandt wird – und etwas […] treten kann] [Wir geraten hier in ein seltsam dämmerhaftes Zwischenreich. Die konkret]
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Einzelkommentare
! [Jung beruft sich für diese Auffassung der Seele auf Meister Eckharts leibseelische] h6 412,22-26 – und etwas anderes […] treten kann] fehlt h6, ts1.1 412,27 Urenergien] [uralte Kräfte] ! Urenergien h6, ts1.1 412,32 auszusprechenden] auszusagenden h6 412,35 echte Aussage] Aussage d6 413,4 oder was sonst] oder was [sonst. Gewiss eine menschliche Seele, die eine allgemeine Menschenseele aber ist] ! sonst h6 413,6 , insbesondere […] Intervention,] fehlt ts1.2 413,6 prästabilierende] unablässige d6 413,7 Jung wohl kaum] Jung [ebensowenig wie sonst ein heutiger Denker wird tragen wollen] ! wohl kaum h6 413,10 Gesamtwesen] [Wesen] ! Gesamtwesen h6 413,12-13 Determinierung und Fundierung] hDeterminierung undi Fundierung h6 413,13 soweit ich sehe, nirgends finden] nirgends [(auch nicht in der die »Erfassung der Seele« behandelnden Schrift »Der Geist der Psychologie«)] finden h6 413,13 nirgends] nirgend, auch nicht in der speziell die Erfassung der Seele behandelnden Abhandlung »Der Geist der Psychologie«, d6 413,17 das gleiche] [ein gemeinsames] ! das gleiche h6 413,25 unzweifelhaft.] unzweifelhaft. (Nebenbei gesagt, verstehe ich nicht, was mit der Redewendung »die darauf basierenden Religionen« gemeint ist, denn unter den historisch bekannt gewordenen gibt es X nur solche, die sich auf der einen oder anderen Grundform des Glaubens erbauen.) h6 413,25 Anm 3] fehlt h6 413,32-34 ob diese Psychologie […] zu sein] die neue Psychologie h6, ts1.1 414,1-2 sie verkündigt […] Immanenz] sie will selber Religion, sie will die neue, die einzig noch wahr sein könnende, die Religion der einen psychischen Immanenz, die Religion des Panenpsychismus sein h6, ts1.1 414,6 Unternehmungen] [Wirkungen der bisherigen] ! Unternehmungen h6 414,13 losgemacht habe] [freigemacht habe] ! völlig losgemacht habe h6 414,13-14 und daher fähig sei […] zu lassen] hund daher fähig sei […] zu lasseni h6 414,16 wesenden Gott] wesenden [in seinem Wesen nicht seelenhaften, sondern seinshaften] Gott h6 414,18-19 des ganzen Menschen vom Getriebe] hdes ganzen Menschen vom Getriebei h6
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414,19 von einer Ablösung […] bestimmten] hvon einer Ablösung […] bestimmteni h6 414,29 nicht in den Handel gekommenen] der Öffentlichkeit nicht bekannt gegebenen h6 414,30-31 eminent gnostischen] durchaus gnostischen d6 414,31-32 und einander gleichsam ausbalancieren] hund einander gleichsam ausbalanciereni h6 415,19 Selbst ersetze.] ergänzt Die Gottesidee wird »nicht länger als eine autonome Wesenheit projiziert.« h6, ts1.1 415,26-27 die Seele oder vielmehr das Selbst.] die Seele [und ihren »virtuellen Mittelpunkt«, das Selbst] ! oder vielmehr das Selbst. [»Er« – das heisst aber: der moderne Mensch, insofern er dem »Kindheitszustand« der Menschheit entwachsen] h6 415,28-29 für den Menschen des modernen Bewußtseins] hfür den Menschen des modernen Bewusstseinsi h6 416,4 gesellschaftlichen] [menschlich-gesellschaftlichen] ! gesellschaftlichen h5 416,11 berufen fühlte] berufen wußte h6, d6 416,16-21 des Innern.« Jung meint zwar […] wie er jetzt ist] des Innern«, also, meine ich, zu zeiten die Stimme des Gewissens, die ihn, wie er jetzt eben ist h6, ts1.1 416,20 innere Stimme] Stimme d6 416,30 integrierte] [zentrierte] ! integrierte h6 416,35 Ausbalancierung] [gegenseitige] Ausbalancierung h6 416,36 selber vollzieht] selber [übernimmt, genauer: durch ihr Zentrum, das Selbst, vollziehen lässt] h6 417,2-4 führt auf […] keine Ganzheit] führt auf »die Frage des Bösen in der Natur«, womit augenscheinlich die Frage nach der positiven Funktion des Bösen gemein gemeint ist. Auf diese Frage aber, sagt Jung, kann die ethische Verantwortung des Einzelnen – und offenbar nur sie – eine gültige Antwort geben; eine Verantwortung, die offenbar als Selbstverantwortung, das heisst, als Verantwortung {[des Selbst vor dem Selbst] h6} zu verstehen ist, obwohl uns zu {[solchem] ! exakterem h6 exakterem ts1.1} Verständnis kein Fingerzeig gegeben wird. {[Es handelt sich bei diesem Verantwortungsbegriff um eine] ! Dieser h6 Dieser ts1.1} uns aus zahlreichen Systemen einer strikt autonomistischen Ethik bekannte Verantwortungsbegriff ist ebenso interessant wie reizvoll, nur darf es nicht allzu genau genommen werden, denn in solch einem dialogischen Monolog oder monologischen Dialog kann der, vor dem man sich verantwortet, letztlich keinen absoluten Charakter beanspruchen, als der sich Verantwortende; ein
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Einzelkommentare
{[vom Absoluten] h6} etwa von Gott ermächtigtes Gewissen ist ja ausgeschaltet worden. h6, ts1.1 417,3-4 , denn ohne […] Ganzheit] fehlt d6 417,4-11 Etwas deutlicher […] wohlbekannt.] hEtwas deutlicher […] wohlbekannt.i h6 417,5 die Geburt des pneumatischen Menschen] Herstellung und Geburt der oberen Persönlichkeit d6, ts1.1 417,22 sind »die andern« wohl mitumfaßt] [ist die Welt wohl eingeschlossen, aber nur als ein Zusammenhang] ! sind »die andern« wohl mitumfasst h6 417,25 meine Seele] meine Seele [mitsamt der »Welt«, die sie in sich trägt] h6 417,29 Selbst gegenüber,] Selbst gegenüber, [trotz der Individuation] h6 418,6 Gegenseitigkeit] [lebendigen] Gegenseitigkeit h6 418,7-10 Der andere Weg […] »Individuation«.] fehlt h6, d6 418,11-16 Jung meint […] zu sagen weiß.] hJung meint […] zu sagen weiß.i h6 418,24 Das Selbst] Das [in der Individuation verwirklichte] Selbst h6 418,25-26 und die Selbstverwirklichung ist] hund die Selbstverwirklichung isti h6 418,27 Dieser Gut und Böse] [Denn Gott ist die Einheit der Gegensätze] ! Dieser Gut und Böse h6 418,33 Von dieser gnostischen] [Echt gnostisch ist auch die Art, wie Jung] ! Von dieser gnostischen h6 419,2 äusserste Entscheidungsmöglichkeit] [innerste Hingabe] ! [äusserste [Hingabe] ! Möglichkeit des Menschen] ! Entscheidungsmöglichkeit h6 419,3 Demiurgen,] Demiurgen, [der um seiner »Schuld«, der missglückten Weltschöpfung, willen] h5 419,6-7 derengleichen […], wörtlich] fehlt h6, ts1.1 419,8-9 , womit […] gemeint ist] fehlt h6, ts1.1 419,19-20 , als die neue »Inkarnation«] h, als die neue »Inkarnation«i h6 419,20-25 »Wenn wir wissen […] umfassende Figur ist] [Er ist] ! »Wenn wir wissen […] umfassende Figur ist h6 419,25-26 die als die Realisierung […] zur Erde] die zur Erde h6 419,29-30 Jungs […] zu verstehen.] fehlt h6, d6 419,32-420,1 in einem […] Warnung] hin einem […] Warnungi h6 420,14-15 aufzuhorchen.] ergänzt Man muss auf das in ihnen Gesagte oder Angedeutete achten, ob es nicht von Heute und Hier gilt h6 421,1 Religion und Ethik] [Religion, Ethik und das Absolute] ! Religion und Ethik h9
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421,2 Weg] bisherigen Weg h10 421,6-7 ins Auge fassen] [meinen] ! ins Auge fassen h10 421,22 echteste] [echteste] ! [eigentliche] ! echteste h10 421,24 übertäubt wird] [erfolgreich] übertäubt wird [, ich meine,] h10 421,26 Erschaffensein] [Entstandensein oder] Erschaffensein h10 421,27 , wenn es ganz aktuell wird,] h, wenn es ganz aktuell wird,i h10 421,30 Erträumtes] [Ersonnenes] ! Erträumtes h10 421,31 aus dem Seinsgeheimnis] [Spiegelbild des Seins selber, das vom Sein selber] aus dem Seinsgeheimnis h10 421,31 Erscheinendes] [geworfenes Spiegelbild] ! Erscheinendes h10 421,31-34 So tritt […] gegenüber] [Geschieht dies in X Aktualität und im Augenblick der Krisis, dann kann es sich] ! So tritt […] gegenüber h10 422,4 scheinbar] dem Anschein nach h10 422,7-8 , ohne dass damit […] gesagt wäre,] fehlt h10 422,8 die absolute Wesenheit] [das Absolute selber] ! die absolute Wesenheit h10 422,11-13 erst – wie in dem […] in der Entwicklung] [erst in der Entwicklung der aus einer Beziehung hervorgegangenen Religion] ! erst – wie in dem […] in der Entwicklung h10 422,16-17 , die es auf die Personhaftigkeit reduzierte,] h, die es auf die Personhaftigkeit reduzierte,i h10 422,19-20 dem Gläubigen […] Person geworden] [ich würde dem Gläubigen das Bekenntnis zubilligen, Gott habe ihm zu Liebe die »Knechtsgestalt« der Person, die Gestalt Gottes angenommen, da es] ! es ist dem Gläubigen das Bekenntnis zuzubilligen, Gott sei ihm zu Liebe die Person geworden, weil h10 422,30 wie komplizierten] [welchen] ! wie komplizierten h10 422,31 Spuk- und Spiegelkammer] hpseudomagischen?i Spuk- und Spiegelkammer h10 422,32 nichts mehr mit der wirklichen Beziehung] hnichts mehr mit der wirklichen Beziehungi h10 423,5-6 eine bloße Fakultät der Person] ein blosser Teil [des Menschen] ! der Person h10 423,7 die Gesamtheit dieser Fakultäten und mehr als das,] fehlt h10 423,8-11 Eine beiden Sphären […] andern determiniert.] fehlt h10 423,19 seine Wertskala] [Wert und Mass nicht schöpfen] ! seine Wertskala [und sein Kriterium] h10 423,20 ethischen] [geistigen] ! ethischen h10 423,21 vollkommene Selbstbesinnung] [wahre] ! vollkommene Selbstbesinnung [, kein wahres Selbstgericht und keine wahre Sühne und keine wahre] h10
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Einzelkommentare
423,22-23 absolutes Kriterium] habsolutesi Kriterium h10 423,23-24 personhaften Wesensbeziehung] hpersonhafteni Wesenbeziehung h10 423,25 Spenden] [Geben] ! Spenden h10 423,26 Empfangen] [Nehmen] ! Empfangen h10 423,28-29 Heteronomie oder Fremdgesetzlichkeit] Heteronomie hoder Fremdgesetzlichkeiti h10 423,30 gegenseitigen Beziehung] [Sprache der Gegenseitigkeit] ! gegenseitigen Beziehung h10 423,32-33 ergriffen werden will.] ergriffen werden will. [Die wahre Offenbarung macht dir dich selbst offenbar.] h10 423,33-36 Es gibt uns […] erschließen soll] fehlt h10 424,3 zulänglich erfassen.] zulänglich erfassen. Die geschichtliche Wirklichkeit ist wesentlich aus der biographischen [, die Gattung aus der Person, die Zeiten aus dem gelebten Augenblick] zu verstehen, nicht umgekehrt. h10 424,18 Die Gesamtheit […] Wesen nach] [Der gesamte Kosmos stellt] ! Die Gesamtheit […] Wesen nach h10 424,25 dieser Ordnung] [des Rechtes] ! dieser Ordnung h10 424,28 scheidet] [waltet] ! scheidet h10 425,2 Milet] Milet [, auch also ein kleinasiatischer Grieche,] h10 425,8 hervorgetretenen] verstreuten h10 425,18-19 etliche Sophisten, die […] Gesinnten] [einzelne] ! etliche Sophisten, die [Individualisten] ! radikal individualistisch Gesinnten h10 425,21 die meisten] die meisten [die Kollektivisten] h10 425,31 so faßt der größte […] zusammen] [das heisst, die jeweilige menschliche Gesellschaft] ! so fasst der grösste […] zusammen h10 425,32 aller Dinge] aller [geltenden Werte] ! Dinge h10 425,33 Als Protest […] Werte] [Von hier aus ist] ! Als Protest […] Werte h10 426,6 Absicht] [tiefe] Absicht h10 426,7 das ewige Ethos] [das Absolute gipfelt in dem] ! das ewige Ethos h10 426,7 der Seinsgrund] [die Seinswurzel] ! der Seinsgrund h10 426,9 zur höchsten »Gestalt«] [zum Wesenskern] ! zur höchsten »Gestalt« h10 426,17 das Gute] das Gute [nicht bloss »schöner« ist als die Wahrheit selber] h10 426,23-25 denn nicht das Sein […] genannt werden] hdenn nicht das Sein […] genannt werdeni h10
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426,26-27 des Erkennbaren.« ] des Erkennbaren.« [Die Erkenntnis des Guten aber, dürfen wir hinzufügen, vollzieht sich eben da, wo es sich dem sich entrückenden Selbst manifestiert.] h10 427,2 geglückt] geglückt und konnte wohl, eben als das Gedankenwerk eines Einzelnen, nicht glücken h10 427,3 ethischen] geistigen h10 427,9 hoher] [mächtiger] ! hoher h10 427,17-18 gestellt] [gegründet] ! gestellt h10 427,20 deutlicher erklärten] [nachdrücklicher verkündigten] ! deutlicher erklärten h10 427,31 Man pflegt] [Unter dem Einfluss der paulinischen Gesetzeskritik pflegt man] ! Man pflegt h10 427,35 Volke erteilt] Volke erteilt [, als dem Anfangskern seines] h10 427,37-38 tragen] [führen] ! tragen h10 428,1-2 Atemraum] [Walten] ! Atemraum h10 428,4 »dem ich bin heilig«] [Die absolute Norm wird für den Weg zum Absoluten gegeben, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die Erfüllung des Ethos ist eine Stufe, kein Übergang. Es gibt eine Himmelsleiter; aber wer oben angelangt ist, muss einen Fuss in die Luft setzen] h10 428,5 , das »ihm in seinen Wegen Folgen«,] h, das »ihm in seinen Wegen Folgen«,i h10 428,9 von ihr urverschiedenen] [ganz anderen] ! von ihr [wesensverschiedenen] ! urverschiedenen h10 428,23 die aus Iran und Hellas gekommenen] den iranischen und den griechischen h10 428,24 Stunde] [Geschichtszeit] ! Stunde h10 428,29 unerhörte] [ungekannte] ! unerhörte h10 428,31 erheblich] [wesentlich] ! erheblich h10 428,37 Fundamentalverhältnis] [Fundamentalbeziehung] ! Fundamentalverhältnis h10 428,38 mittlerlose] [echte] ! mittlerlose h10 429,6 den Auftrag verwaltet] [mit der Sendung erscheint] ! den Auftrag verwaltet h10 429,9 rechtend] [warnend] ! rechtend h10 429,9-13 Gewiß hat es […] gefehlt] [Nicht dass es hier an entflammten und martyriumsbereiten Männern des Geistes gefehlt] ! Gewiß hat es […] gefehlt h10 429,14 Greifendes] [Rührendes] ! Greifendes h10 429,15-16 grundsätzlichen Suprematie] [Hegemonie] ! grundsätzlichen Suprematie h10
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Einzelkommentare
429,19-21 Gegen das […] sittliche Werk] Dem leeren, dem von der Glaubensintention entleerten ritualen Werk galt der Kampf der Propheten, dem von der Glaubensintention entleerten sittlichen Werk h10 429,22 zu denen die großen pharisäischen Lehrer und Jesus] zu der [auch] ! als prominentester Gestalt Jesus h10 429,25 Forderung] [Konzeption] ! Forderung h10 429,25-26 der Intention […] des Gottgefälligen] die der Verkündigung […] [des Rechten] ! des Gottgefälligen h10 429,38 (Theologie als die […] verstanden)] h(Theologie als die […] verstanden)i h10 430,2-3 den Charakter […] verleiht] zur Unbedingtheit und Alleinherrschaft erhebt h10 430,5-6 In ihrer staatlichen Gestalt sucht diese] [In Israel hat es naturgemäss nie ein Staatsgesetz als solches gegeben, die christlichen Völker stehen, auch schon solange sie die weltliche Gewalt] ! In ihrer staatlichen Gestalt sucht diese h10 430,13 die Werte relativierenden] hdie Werte relativierendeni h10 430,14 weit differenzierter] [komplizierter und vielfältiger] ! weit differenzierter h10 430,18 (Anonymus Iamblichi)] fehlt h10 430,21 kann; ihr Vollender] [kann. Sie beginnt und die ihre volle Entfaltung in] ! kann; ihr Vollender h10 430,24 soziologischen und psychologischen] soziologischen hund psychologischeni h10 430,28 auf eine] auf eine eigentümliche h10 430,31 Von Feuerbach] [Dieses »sonst nichts« steht über dieser ganzen [Philosophie] ! Betrachtungsweise] ! Von Feuerbach h10 430,32 Behauptung] [Betrachtung] ! Behauptung h10 431,4 Waffe] [Mittel] ! Waffe h10 431,8-9 eine – Nietzsche […] bewußte – Modifikation] eine [Art Erweiterung] ! Modifikation h10 431,20 gegen den Willen] gegen ihren eigenen Ursprung, den h10 431,27 , zu dem er sich bekennt,] fehlt h10 431,37 gründlich] [intensiv] ! gründlich h10 432,3 Aber er hat] davor kein Absatzwechsel h10 432,3-4 Wendepunkt] [Ausgangspunkt] ! Wendepunkt h10 432,5 Ausgangs] Ausgangs [aus der Sackgasse] h10 432,9-10 Wenn nicht […] Gottersatz] [Der neue Gott muss] ! Wenn nicht […] Gottersatz h10 432,29 ist mitbedingt durch] [kann als Nachspiel] ! ist mitbedingt durch h10
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433,1 Von einer Suspension des Ethischen] fehlt h11 433,2 , des großen Erzprüfers […] im 19. Jahrhundert,] fehlt h11, h12 433,4-5 , das sich ganz […] aufbaut] fehlt h11, h12 433,9-11 es gebe […] suspendiert werden] dass es eine »teleologische Suspension des Ethischen« gibt h11, h12 433,14 schlechthin] [immer und überall] ! schlechthin h11 433,19-20 , seine Werte […] verwiesen] fehlt h11, h12 433,23 Gottes Willen«.] Gottes Willen!« h11, h12 433,27 Aufs deutlichste] [Mal um Mal] ! Aufs deutlichste h10 433,36-37 einmal im Sinne hatte […] »Jener Einzelne«] [daran gedacht hat, auf seinen Grabstein die Worte »Jener Einzelne«] ! einmal im Sinne hatte, die Worte »Jener Einzelne« auf sein Grab h11 433,38 beschrieb] [davon schrieb] ! beschrieb h11 434,1-2 die Erinnerung an den Tag] immer wieder die Erinnerung an [die Stunde] ! den Tag h10 [immer wieder die Erinnerung an die Stunde] ! die Erinnerung an den Tag h12 434,3 den Bund] [seine Braut] ! [die Verbindung] ! den Bund h11 434,4 diesen Bund] [die Verbindung] ! den Bund h11 434,5 deutete] [erklärte] ! deutete h11 434,11-12 »Jede nähere Erscheinung […] sein soll«] »Was er unter Isaak zu verstehen hat« h11, h12 434,13 »vermag der Einzelne […] zu geben.«] »kann der Einzelne nur mit sich selbst für sich selbst ausmachen« h11, h12 434,16 zur Interpretation überlassen] zur [selbständigen Interpretation von seinen Lebensumständen in dieser Stunde bestimmt] ! Interpretation überlassen h11 434,17 bestimmt wird] [bedingt ist] ! bestimmt wird h11 434,17-18 Wie anders redet] [Aber dies ist noch nicht] ! Wie anders redet h11 434,18 Stimme] [Sprache] ! Stimme h11 434,26 seines Volkes angefordert wird] seines Volkes [und der für dessen Ausführung bestehenden Bedingung gedacht] ! angefordert h11 434,31 Vereinzelung] Isolation h11, h12 434,31-32 Glaubensritter] Ritter des Glaubens h11, h12 434,32 hat einzig und allein sich selber] ist einzig und allein auf sich selbst angewiesen h11, h12 434,33 Furchtbare] Entsetzliche h11, h12 434,34 zu treffen] zu treffen und die Bewegung {des Glaubens h11 [des Glaubens] ! der Unendlichkeit h12} zu vollziehen h11, h12 434,38 Wer ist es] [da kommt alles darauf an, wer es ist, dessen Stimme man vernimmt,] wer es ist h11
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Einzelkommentare
435,6 hat Abraham die Stimme] [trifft es für Abraham zu, dass es die Stimme] ! hat Abraham die Stimme h11 435,11 des Menschenwesens] [der Menschenseele] ! des Menschenwesens h11 435,16 sündiger Mensch] [Unglücklicher, der vielleicht] ! sündiger Mensch h11 435,18 Der Moloch] [die Einflüsterung des Moloch] ! der Moloch h11 435,18 nach, wogegen Gott] [nach. Vor der Entscheidung kommt alles auf die Unterscheidung an.] ! nach, wogegen Gott h11 435,21-22 »bescheiden umgehe«] [»umgehe«, nur eben »schamhaft« und zwar »bescheiden«] ! »bescheiden umgehe« h11 435,22-23 grundlegend] fundamental h11, h12 435,26-436,23 Wobei zu […] zu überführen] Textverlust h11 435,28 verschwebendes] dünnes h11 435,29 (I, Könige 19,12)] zusätzliche Anmerkung Eine kühne optische Metapher für eine akustische Wirklichkeit: es ist ein Schweigen, aber kein dichtes und festes, sondern ein so schleierdünnes, dass das Wort hindurchscheint. h12 435,36 sind Menschen] danach Textverlust h12 436,23-24 unbestechlich] [unerbittlich] ! unbestechlich h11 437,22 angerufen hat] angerufen hat [ohne ihn zu kennen] h13 437,31 – oder wie immer. Wenn] oder einfach »das Seiende« [oder wie immer (On)] ! oder wie immer h13 437,35 degradiert] depreziert h13 438,13 Wesenheit] [Wirklichkeit] ! Wesenheit h13 439,4 neueren] [modernen] ! neueren h13 439,19 Störende] [Hindernde] ! Störende h13 439,32 Absoluten] [Sinn] ! Absoluten h13 439,32 Absoluten] [Sinn] ! Absoluten h13 440,19 vom Aspekt] [Kontakt] ! [Scheinkontakt mit einem] ! vom Aspekt h13 440,23-24 in seinem Sein] fehlt h13 441,24 Das Wichtigste an] [Die eigentlichste] ! [Der Kern] ! Das Wichtigste an h13 441,28 Es geht etwas] davor Absatzwechsel h13 441,32 Verlöschen] Auslöschen h13 442,2 Replik auf eine Entgegnung C. G. Jungs] fehlt h14 442,3-4 an der Hand seiner Argumentation mein Anliegen] [auf die Sachlage] ! die Art meines Anliegens [und meines Bedenkens] h14 442,8 meine Sache] [meines Amtes] ! meine Sache h14 442,12-13 gewissenhafte] [aufmerksame] ! gewissenhafte h14
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442,13 Kontext] [Zusammenhange] ! Kontext h14 442,20-21 ; er erklärt […] menschlichen Subjekt] h; er erklärt […] menschlichen Subjekti h14 442,23 Gott existiert nicht für sich] [Die orthodoxe Auffassung, Gott existiere nicht für sich, ist abzulehnen] ! Gott existiere nicht für sich h14 442,25-26 darin auch die eines überpsychischen Seins] [es sich um ein einem Wesen nach] ! darin auch die eines transpsychischen Seins h14 442,26 überpsychischen] transpsychischen d7 442,31 das Unbewußte] eine der Mächte des Unbewussten h14 442,38 Über eine der Mächte] [Ich habe darauf hingewiesen und weise darauf hin] ! Über eine der Mächte h14 442,39 Nachdruck] [dem äussersten] Nachdruck h14 443,3 eine sinnwidrige Tautologie] [ein widersinniger Pleonasmus] ! eine sinnwidrige Tautologie h14 443,8 Aussagen] Aussagen [(doch nicht alle?)] h14 443,10 Betrachtung] Betrachtung [, wobei ich [von der Identifizierung von »menschlich«] ! von der etwas sonderbaren Gleichsetzung von »menschlich« und »psychisch« absehen will ([»Die Sonne ist bei Tage sichtbar«] ! »Der Stein fällt zu Boden« ist eine »menschliche« Aussage, aber was kann es bedeuten, sie als eine »psychische« zu bezeichnen?)] h14 443,11 Diskussion] [wissenschaftliche] Diskussion h14 443,20 Aussage, die nach Sinn und Gestalt] [das nach Sinn und Form] ! Aussage, die nach Sinn und Gestalt h14 443,22 Wir werden uns offenbart] [»Man nimmt«, sagt Nietzsche, »und fragt nicht, wer da gibt.« Wir, wir in unsrer] ! Wir werden uns offenbart h14 443,25 konstatiert] [festgestellt] ! konstatiert h14 443,28 außerpsychische] transpsychische d7 443,36 (was könnte er denn sonst sein?)] h(was könnte er denn sonst sein?)i h14 443,38 überpsychisches Sein] [nichtpsychisches Sein] ! [ausserpsychische Wirklichkeit] ! ausserpsychisches Sein h14 443,38 überpsychisches] außerpsychisches d7 443,38-39 es gebe ein solches Sein nicht] [über das Nichtsein einer solchen Wirklichkeit] ! es gebe ein solches Sein nicht h14 443,41 geistvollen] [geistreichen] ! geistvollen h14 444,3-4 erläutert] gedeutet d7 444,8 , das heißt meinen] h, das heißt meineni h14 444,9-10 aus mannigfacher Erfahrung] haus mannigfacher Erfahrungi h14
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Einzelkommentare
444,11 ihnen gemeinsam] ihnen [hin ihrer Glaubenserfahrungi] gemeinsam h14 444,16 zuständig] [innerhalb ihrer Eigensphäre] ! zuständig h14 444,16 untersuchen] [bestreiten] ! untersuchen h14 444,17-18 innerhalb ihrer Disziplin] [ihn in die linke Tasche zu stecken] ! [ihn in den Mund zu nehmen und auszuspeien] ! innerhalb ihrer Disziplin h14 444,20 Seelenlehre] [Wissenschaft] ! Seelenlehre h14 444,21 Erscheinungsform] [Gestalt] ! Erscheinungsform h14 444,23-24 – und nicht ein Atheismus, […] ihn annihiliert –] fehlt h14 444,25-26 Ihre moderne Erscheinungsform […] wegen] [Sie geht nicht der Mächtigkeit ihrer Prätension wegen] ! Ihre moderne Erscheinungsform […] wegen h14 444,29 Instinkte] [instinkthafte Fülle] ! Instinkte h14 444,31 Äußerungen] [Schriften] ! Äusserungen h14 444,31 reichlicher tun.] ergänzt Sein »Abraxas« – den jeder unbefangene Leser nicht für ein Gedicht, sondern für ein Bekenntnis halten wird – habe ich mit herangezogen, weil hier noch in aller [Eindeutigkeit] ! Deutlichkeit der ambivalente, Gut und Böse in sich ausbalancierende gnostische Gott verkündet wird. Ich gestehe, dass ich dieses [Doppelbild] ! binitarische Bild dem einer Quaternität, in der der Platz des Vierten entweder dem Satan oder der Madonna [reserviert ist] oder heinem noch Undeterminierteni zugedacht ist, ästhetisch weitaus vorziehe. h14 ergänzt Sein »Abraxas«-Opusculum – das jeder unbefangene Leser nicht für ein Gedicht, sondern für ein Bekenntnis halten wird – habe ich mit herangezogen, weil hier noch in aller Deutlichkeit der ambivalente, Gut und Böse in sich ausbalancierende gnostische »Gott« verkündet wird. Ich gestehe, daß ich dieses binitarische Bild dem einer Quaternität, in der der Platz des Vierten entweder dem Satan oder der Madonna oder einem undeterminierten X zugedacht ist, ästhetisch weitaus vorziehe. / Nun aber – »Ketzergericht«?! Nichts ist mir widerwärtiger, nichts weniger meines Amtes. (Mein Gegner ahnt offenbar nicht, daß ich selber von einer Orthodoxie als Ketzer verschrien bin.) Nein, nichts Gerichtsähnliches, aber eine Kennzeichnung. Und es wird sich weisen, daß es die richtige war. d7 Wort- und Sacherläuterungen: 361,11-365,23 An drei aufeinanderfolgenden […] im Namen Gottes.] Beide Berichte hat Buber später praktisch unverändert in seine autobiographische Schrift Begegnung aufgenommen. Vgl. Martin Buber,
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Begegnung. Autobiographische Fragmente, S. 38-44 (jetzt in: MBW 7, S. 297-301). 361,11 An drei aufeinander folgenden Abenden] Buber könnte sich hierbei unter anderem auf den in seinem Nachlass überlieferten Vortrag »Die Religion als Wirklichkeit« beziehen, dessen allerdings nur unvollständig erhaltenes und auf den 10. Februar 1925 datiertes Typoskript in diesem Band abgedruckt wird (vgl. S. 161-169). Die Veranstaltungen wurden an der 1919 gegründeten Abendvolkshochschule in Jena durchgeführt, die von dem Pädagogen Wilhelm Flitner geleitet wurde. Dieser erinnert sich: »Wir veranstalteten Ausspracheabende und ließen Redner kommen, die uns die geistige Lage durchschauen helfen sollten. Es sprachen Marxisten und Antimarxisten, Schulreformer und Sozialpolitiker. Als höchst eindrucksvoll sind mir drei Abende in Erinnerung, an denen Martin Buber zu uns sprach«. Wilhelm Flitner, Selbstdarstellung, in: Pädagogik in Selbstdarstellungen, hrsg. von Ludwig J. Pongratz Bd. II, Hamburg 1976, S. 146-197, hier S. 165. 361,23-24 eine berühmte alte Universität] An der 1558 gegründeten Jenaer Universität lehrten oder studierten eine Vielzahl der maßgeblichen Schriftsteller und Philosophen der deutschen Klassik, der Romantik sowie des deutschen Idealismus. 362,10 der Astronom Laplace] Pierre-Simon Laplace (1749-1827): frz. Astronom und Mathematiker; entwickelte u. a. die Theorie, dass die Welt durch Abkühlung aus einer gasförmigen Atmosphäre um die Sonne entstanden sei. Die Anekdote, dass er bei der Überreichung der ersten Bücher seines Werkes Traité de Mécanique Céleste (17991823) an den damaligen Ersten Konsul Napoleon Bonaparte (17691821) auf dessen Frage nach Gott geantwortet habe, dass er diese Hypothese zu seiner Welterklärung nicht brauche, ist unter anderem durch den Astronomen Hervé Faye (1814-1902) überliefert. Vgl. Hervé Faye, Sur l’origine du monde, théories cosmogoniques des anciens et des modernes, Paris 1884, S. 110. 362,14-15 des bedeutenden Naturforschers] Ernst Haeckel lehrte als Zoologe an der Universität von Jena und vertrat im Gefolge der Darwinschen Theorien eine materialistische Erklärung der Entstehung der biologischen Arten. 363,10-11 Pascal den Gott der Philosophen nennt] Im Jahr 1654 hatte Pascal ein mystisches Erweckungserlebnis, das er zur Erinnerung auf einem Stück Papier niederschrieb und für den Rest seines Lebens, in das Futter seiner Kleidung eingenäht, beständig bei sich trug. Darin stellt er einen Gott der mystischen Erfahrung, der sich nicht begriff-
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lich fixieren lässt, einem philosophisch begründeten Gott gegenüber. So heißt es: »Dieu d’Abraham, Dieu d’Isaac, Dieu de Jacob, non des Philosophes et des savants.« (»Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten.«) Blaise Pascal, Mémorial, in: Œuvres complètes, hrsg. von Jacques Chevalier, Paris 1954, S. 554. 363,21 einem edlen alten Denker] Gemeint ist der Philosoph Paul Natorp (1854-1924). Buber hat die Begegnung mit Paul Natorp aus dem unmittelbaren Erleben heraus in seinem Brief vom 14. März 1923 an Franz Rosenzweig geschildert: »Gestern morgen ereignete sich etwas, was ich Ihnen erzählen muß. Natorp, der an der Gießener Besprechung (bei der es sich um einen Meinungsaustausch zwischen einem englischen Kreis, u. a. Lord Cecil, und dem unsern handelte) teilnahm, hatte mich ersucht, mit ihm nach Marburg zu kommen, um ›Ich und Du‹ zu bereden. Da saßen wir nun am Morgen und redeten von Gott, bis Natorp erklärte, es schiene ihm vermessen, ›Gott‹ zu sagen und Ihn anzusprechen. Ich sagte darauf ich weiß nicht mehr recht was, aber etwa, ich wüßte nicht, was Er von einem armen Kerl wie ich wollen könnte, als eben daß ich so ein dummes Wort von Ihm und dazu noch Du zu Ihm sage. Worauf der Alte aufstand, mir um den Hals fiel und Du zu mir sagte. Da war denn das Gespräch zu seinem Ende gelangt und an die Stufen des Throns.« (B II, S. 161 f.) Buber sendet den Bericht über die Begegnung mit Paul Natorp, der die Vorlage für eine Rundfunksendung gewesen ist, am 4. Februar 1937 an Rudolf Pannwitz (1881-1969) (B II, S. 638). Pannwitz antwortet mit einem enthusiastischen Brief: das »Wichtigste ist mir jetzt die begegnung mit Natorp und dafür danke ich noch einzeln und von ganzem herzen. dies hat mich auf das innigste ergriffen und mir auf das eindringlichste fühlbar gemacht, wie nahe wir zusammengehören.« Im Folgenden bietet Pannwitz Buber, obwohl er »der jüngere ist«, das Du an. Es »hat mich bei Deiner begegnung mit Natorp am tiefsten gefaßt daß wir gegeneinander in fast der gleichen lage sind: ich vom deutschen idealismus wie von nietzsche herkommend mit wort für wort übereinstimmernder, verzweifelnder zurückhaltung gegenüber dem namen Gott.« (B II, S. 641.) 363,22 bei einer Tagung] Martin Buber hatte auf der Tagung für die Erneuerung des Bildungswesens, die vom 11.–14. Juni 1919 in Heppenheim stattfand, ein Referat über die Volkshochschule gehalten. In seinem Vorwort zu Reden über Erziehung (Heidelberg: Lambert Schneider 1956) erwähnt Buber »Paul Natorps Referat über die Einheitsschule«, das ihm »besonders denkwürdig« gewesen sei (S. 7). Zu
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dieser Tagung vgl. Rita van de Sandt, Martin Bubers bildnerische Tätigkeit zwischen den beiden Weltkriegen. Ein Beitrag zur Geschichte der Erwachsenenbildung (Masch. Diss.), Päd. Hochschule Rheinland 1976, S. 56-93. Zum Ganzen vgl. Lothar Stiehm, Editorische Anmerkungen, in: Buber, Begegnung, Heidelberg: 4. Auflage 1986, S. 108109. 363,35 westlicher gelegenen Universitätsstadt] Natorp lehrte damals als Professor für Philosophie an der Universität Marburg. 364,2 Vorrede eines Buches] Es handelt sich um die Vorrede zu Reden über das Judentum, Frankfurt 1923. In ihr erläutert Buber was er mit dem Begriff »Gott« meint: »Die religiöse Wirklichkeit heißt so, weil sie das ungeschmälerte Verhältnis zu Gott selber ist. Der Mensch hat Gott selber nicht; aber er begegnet ihm selber.« Ebd., S. XI. 366,29-30 ein Vertreter […] Gott sei »tot«] Anspielung auf Nietzsche. Vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 274,38. 367,30 Lehre Spinozas […] Substanz als unendlich] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 197,8-9. 368,26 »unum et idem«] lat.: »ein und dasselbe«. 369,3 dem biblischen Bilderverbot] Ex 20,4. 369,21-22 Kants merkwürdigen Aufzeichnungen seiner Spätzeit] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 176,31. 369,22-23 »Gott ist keine […] Verhältnis in uns.«] Buber zitiert etwas frei aus dem Gedächtnis. Eigentlich heißt es bei Kant: »Gott ist also keine ausser mir befindliche Substanz sondern blos ein moralisch Verhältnis in Mir« Immanuel Kant, Opus postumum I, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 21, Berlin u. Leipzig 1936, S. 149. 369,29 als ein »Postulat […] Grund aller Verbindlichkeiten überhaupt«] Kants Kritik der praktischen Vernunft (1788) postuliert die Annahme Gottes als eine notwendige Setzung moralischen Handelns, doch bleibt seine Existenz unabdingbar subjektiv, eine Hypothese: »Nun ist ein Wesen, das der Handlungen nach der Vorstellung von Gesetzen fähig ist, eine I n t e l l i g e n z (vernünftig Wesen) und die Kausalität eines solchen Wesens nach dieser Vorstellung der Gesetze ein W i l l e desselben. Also ist die oberste Ursache der Natur, so fern sie zum höchsten Gute vorausgesetzt werden muß, ein Wesen, das durch Ve r s t a n d und W i l l e n die Ursache (folglich der Urheber) der Natur ist, d. i. G o t t . Folglich ist das Postulat der Möglichkeit des h ö c h s t e n a b g e l e i t e t e n G u t s (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines h ö c h s t e n u r s p r ü n g l i c h e n G u t s , nämlich der Existenz Gottes. […] Auch wird hierunter nicht verstanden, daß die Annehmung des Daseins Gottes, a l s e i n e s
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G r u n d e s a l l e r Ve r b i n d l i c h k e i t ü b e r h a u p t , notwendig sei (denn dieser beruht, wie hinreichend bewiesen worden, lediglich auf der Autonomie der Vernunft selbst).« Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: ders., Werke, Bd. 4, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1956, S. 256. 370,16 Platon] (ca. 428/427-ca. 348/348 v. Chr.): griech. Philosoph und Begründer der abendländischen Metaphysik. 370,16 Plotin] (205-270): antiker Philosoph; Begründer des Neuplatonismus. 370,17 Descartes] Rene Descartes (1596-1650): frz. Mathematiker und Philosoph; begründete den Cartesianismus, den Rationalismus der frühen Neuzeit, der zwar in einem strengen Dualismus Geist und Materie, Ich und Außenwelt unterschied, doch in den Mitteln der Mathematisierung der Welt die Möglichkeit rationaler Erkenntnis, Einsicht, postulierte. Vgl. auch Wort- und Sacherläuterungen zu 201,11. 370,17 Leibniz] Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716); dt. Philosoph der frühen Aufklärung; Schöpfer der Monadologie. 370,19 Welt Hegels […] ganz anders gerichteten Jugendarbeiten] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 242,31. 370,32-34 »Das Leben Gottes […] darin fehlt.«] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Werke, Bd. 3, hrsg. von Eva Moldenhauer und Ernst Michel, Frankfurt a. M. 1986, S. 24. Buber zitiert allerdings fälschlich: statt vom »göttlichen Element« spricht Hegel vom »göttlichen Erkennen«. 370,37-38 Einsicht (die den Gedanken Spinozas freilich gar nicht trifft)] An der fraglichen Stelle aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes kritisiert Hegel jedoch weniger, wie Buber unterstellt, Spinoza, als den erbaulichen Pietismus seiner Zeit. 371,10 List der Weltvernunft […] geopfert und preisgegeben«] »Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, was durch sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet. Denn es ist die Erscheinung, von der ein Teil nichtig, ein Teil affirmativ ist. Das Partikuläre ist meistens zu gering gegen das Allgemeine, die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1986, S. 49. 371,17-20 die »offenbarte« […] »Es ist nichts Geheimes mehr an Gott«] »Die geoffenbarte Religion ist die offenbare, weil in ihr Gott ganz offenbar geworden. Hier ist alles dem Begriff angemessen; es ist nichts Geheimes mehr an Gott.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, »Einlei-
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tung«, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke, Bd. 11: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, hrsg. von D. Philipp Marheineke, Berlin 1832, S. 44. 371,32-372,1 effort créateur […] Gott selbst ist«] »À nos yeux, l’aboutissement du mysticisme est une prise de contact, et par conséquent une coïncidence partielle, avec l’effort créateur que manifeste la vie. Cet effort est de Dieu, si ce n’est pas Dieu lui-même.« Henri Bergson, Les deux sources de la morale et de la religion, Paris 1932, 4. Aufl. S. 235. 371,Anm 1 »Gott selbst […] neuen Zeit beruht«] »Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Seyn versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht, – das Gefühl: Gott selbst ist todt […] rein als Moment […] der höchsten Idee bezeichnen.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Glauben und Wissen, in: Sämtliche Werke, hrsg. von Hermann Glockner, Bd. 1, Stuttgart 1927, S. 433. 371,Anm 1 Pascals Wort vom »verlorenen Gott«] Pascal, Pensées, Fragment 441, Edition Brunschvicg, Bd. II, S. 357. 372,25 »Das Töten meint […] den Menschen.«] Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, in: HGA 5, S. 209-267, hier S. 262. 372,30 »die obersten Ziele […] die Götter«] Nicht nachgewiesen. 372,41 dessen Auslegung er einige seiner bedeutendsten Arbeiten gewidmet hat] Etwa die 1944 unter dem Titel Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung herausgegebenen Arbeiten »Andenken an den Dichter« und »Hölderlin und das Wesen der Dichtung«. 373,1-2 Aber weh! […] unser Geschlecht.] Friedrich Hölderlin, Der Archipelagus, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 2.1: Gedichte nach 1800, hrsg. von Friedrich Beissner, Stuttgart 1951, S. 110. 373,4-5 »das Erscheinen […] beginnen kann«] »In dieser Nähe [zum Sein] vollzieht sich, wenn überhaupt, die Entscheidung, ob und wie der Gott und die Götter sich versagen und die Nacht bleibt, ob und wie der Tag des Heiligen dämmert, ob und wie im Aufgang des Heiligen ein Erscheinen des Gottes und der Götter neu beginnen kann.« Martin Heidegger, Brief über den »Humanismus«, in: HGA 9, S. 338. 373,23-24 auch Hölderlin […] hat […] »der Götter Gott« gesagt] In der ersten Fassung des Entwurfs zur Hymne »Friedensfeier«, »Versöhnender, der du nimmergeglaubt«, heißt es: »Wohl wußtest du es, aber nicht zu leben, zu sterben warst du gesandt, / Und immer größer, denn sein Feld, wie der Götter Gott / Er selbst, muß einer der anderen auch seyn.« Friedrich Hölderlin, Versöhnender, der du nimmergeglaubt, in: Sämtliche Werke, Bd. 2.1, S. 132.
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374,18 erzählt die jüdische Sage] bAS 8a (BT, Bd. IX, S. 456 f.). 375,6-7 Epikur] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 162,41. 375,7 Buddha] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 162,41. 375,8 Epikur lehrt nicht nur] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 163,8-11. 375,14-15 Worte einer Komödienfigur] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 163,9-10. 375,23 »Rad der Geburten«] Im Buddhismus Bezeichnung für den als zu durchbrechendes Verhängnis begriffenen Kreislauf der Wiedergeburten. 376,11 Aischylos] (525 v. Chr.-456 v. Chr.): der älteste der griech. Tragödiendichter. 376,11-12 Im Agamemnon […] »Zeus […] ruf ’ ich ihn an.«] Es handelt sich hierbei um den ersten Teil der Trilogie Orestie. Die zitierten Verse finden sich in: Aischylos, Agamemnon, V 160-161. Es konnte nicht ermittelt werden, auf welche Übersetzung Buber hier zurückgriff oder ob er selbst die Verse frei aus dem Griechischen übersetzt hat. 376,18 »Zeus ist das All und was darüber ist.«] Von Aischylos haben sich eine größere Anzahl Verse erhalten, die keiner Tragödie zugeordnet werden können. In der Übersetzung von Johann Gustav Droysen (1808-1884) lautet das vollständige Fragment: »Zeus ist der Aether, Zeus die Erde, der Himmel Zeus, / Ja Zeus das All der Welten und was darüber ist.« (Aischylos, Fragment 304, Des Aischylos Werke, Band 2, übers. von Johann Gustav Droysen, Berlin 1932, S. 266.) 376,21-22 »Wir kennen weder das Wesen noch die wahren Namen der Götter«] Platon, Kratylos 400d. Vgl. Platon, Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hrsg. von Gunther Eigler, Dritter Band, Darmstadt 1974, übers. von Friedrich Schleiermacher, S. 453. 376,26-29 »Du Grund der Erde […] Ich fleh’ dich an.«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 146,8-11. 377,1 »Sklaven […] auch Götter seien«] Nicht nachgewiesen. 377,3-4 »Zeus, wer Zeus […] kenne ich ihn.«] Die Verse äußert bei Euripides die Philosophin Melanippe, der titelgebenden Figur zweier Schauspiele, die beide nur fragmentarisch erhalten sind. Vgl. Fragment 480 »Die weise Melanippe«, in: Euripides, Sämtliche Tragödien und Fragmente. Griechisch Deutsch, München 1981, Bd. VI, S. 211. 377,18 Protagoras] (ca. 490 v. Chr.-ca. 411 v. Chr.): Vorsokratiker, bekannt durch seinen Ausspruch, der Mensch sei das Maß aller Dinge. Wie die Lehren der anderen Vorsokratiker ist seine Philosophie nicht in eigenen Schriften erhalten und nur in späteren antiken Quellen überliefert.
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377,18-20 er könne weder erkunden […] Kürze des menschlichen Lebens] Protagoras 80 B4. Vgl. »Über die Götter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen (festzustellen?) weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind, noch, wie sie etwa an Gestalt sind, denn vieles gibt es, was das Wissen (Feststellen?) hindert: die Nichtwahrnehmbarkeit und daß das Leben des Menschen kurz ist.« Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels, hrsg. von Walther Kranz, 3 Bde, 5. Aufl. Berlin 1934 f., hier Bd. 2, S. 265. 377,27 Heraklits Spruch »Auch hier sind Götter«] Heraklit von Ephesos (ca. 520 v. Chr.-ca. 460 v. Chr.); Vorsokratiker; entwickelte Elemente eines dialektischen Denkens. Der angeführte Ausspruch ist als Anekdote durch Aristoteles überliefert. Dort ruft Heraklit Gästen zu, die zögern einzutreten: »Tretet vertrauensvoll ein, denn auch hier sind Götter.« Aristoteles, De Partibus Animalium, 645 a 19. Vgl. Über die Teile der Lebewesen, übers. von Wolfgang Kullmann, in: Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 17.1, Darmstadt 2007, S. 30. 379,37 imitatio Dei] lat. »Nachahmung Gottes«. 379,38 Tao, die »Bahn«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 196,7. 381,25-26 »Wir tun’s, wir hören’s«] Ex 24,7. 382,6 Whitehead] Alfred North Whitehead (1861-1947): brit. Philosoph und Mathematiker. Whitehead, der anglikanisch erzogen worden war, näherte sich phasenweise dem Katholizismus, zog sich jedoch schließlich unter dem Eindruck der neueren Naturwissenschaften auf einen Agnostizismus zurück. 382,6-9 wie sich denn […] Gott die Liebe sei] Nicht nachgewiesen. 382,13-14 wie Hiob und Iwan Karamasow merken] Beiden, dem biblischen Hiob wie Dostojewkskijs Romanfigur aus Die Brüder Karamasow, erscheint Gott aufgrund des Bösen in der Welt als unbegreiflich. 382,18-19 Religion sei der Übergang […] God the companion] »Religion is what the individual does with his own solitariness. It runs through three stages, if it evolves to its final satisfaction. It is the transition from God the void to God the enemy, and from God the enemy to God the companion.« Alfred North Whitehead, Religion in the Making, Cambridge 1927, S. 6. 382,29-32 Konfuzius] (ca. 551 v. Chr.-479 v. Chr.): chin. Moralphilosoph. 384,4 Descartes […] ego cogito] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 201,11. 385,15 der scholastische Universalienstreit] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 202,1. 385,19 Malebranche] Der franz. Philosoph Nicolas Malebranche steigerte den Cartesianischen Dualismus von Leib und Seele bis hin zur ra-
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dikalen Unvereinbarkeit beider. Da aber beide in Wahrheit in Gott seien, stelle dieser in jedem Augenblick aufs Neue die Synchronisierung beider her. Daher die Bezeichnung dieser philosophischen Schule: Okkasionalismus. 385,31-36 Platon […] entzündet wird«] »So viel aber kann ich von allen sagen, die geschrieben haben oder schreiben werden, sofern sie behaupten zu wissen, um was ich eifere, mögen sie es nun von mir oder anderen gehört oder selbst gefunden haben wollen, daß sie in meinem Sinne von der Sache unmöglich etwas wissen können. Es gibt nämlich darüber nichts Schriftliches von mir, und wird es niemals geben; denn es läßt sich gar nicht wie andere Lehrgegenstände aussprechen, sondern durch häufiges Zusammensein um der Sache willen und durch Zusammenleben wird im Nu wie von springendem Feuer ein Licht entzündet und nährt sich, in der Seele erzeugt, dann auch selbst.« Platon, 7. Brief, in: Platons Staatsschriften, übersetzt, erläutert und eingeleitet von Wilhelm Andreae, Jena 1923, S. 93 u. 95. 386,4-5 Identifizierung […] aus seiner Politeia kennen] Platon lehrt, dass Gott gut und die Ursache alles Guten sei. Gott und das Gute fallen schließlich als letzte Prinzipien der Wirklichkeit zusammen. Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 426,17-18. 386,5-6 des die Ideen anschauenden Demiurgen, wie sie im Timäus erscheint] In Platons Dialog »Timaios« fungiert der Demiurg als Weltschöpfer, der die Ideen mit der Erscheinungswelt vermittelt, auf ihrer Grundlage die an sich formlose und unbestimmte Materie formiert. Der Demiurg stellt also den Zusammenhang zwischen den Urbildern der Ideen und ihren materiellen Abbildern her und wird in mythologisierender Rede als universelles Formierungsprinzip verstanden. Vgl. Platon, Timäus 29a., in: ders., Werke in acht Bänden, Siebter Band, Darmstadt 1972, übers. von Hieronymus Müller und Friedrich Schleiermacher, S. 35. 388,6 Ich-Du und Ich-Es] Buber entwickelt in seinem 1923 erschienen Hauptwerk Ich und Du diese Begriffspaare zu seiner dialogischen Philosophie. 388,14-18 Die göttliche Wahrheit will […] nicht versagen«.] »Sie will mit beiden Händen angefleht werden. Wer sie mit dem doppelten Gebet des Gläubigen und des Ungläubigen anruft, dem wird sie sich nicht versagen.« Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, in: ders., Gesammelte Schriften II, Den Haag 1976, S. 330. 389,6-7 »Gott Abrahams […] der Gelehrten.«] Vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 363,10-11.
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389,14-15 »die ganze Religion der Juden […] Liebe Gottes bestanden«] Pascal, Pensées, Fragment 610, Edition Brunschvicg, Bd. III, S. 44. 389,22 »spezifische Konkupiszenz«] von lat. concupiscentia, »Begierde«: bezeichnet in der Theologie den menschlichen Trieb zum Bösen. 389,24-26 »Wie? […] bei ihnen innehalten!«] Pascal, Pensées, Fragment 463, Edition Brunschvicg, Bd. II, S. 374. 389,30-33 in seinem Krankengebet »getrennt […] Herzens zu erwidern«] Blaise Pascal, Prière pour le bon usage des maladies, in: Œuvres complètes, hrsg. von Jean Mesnard, Paris 1992, Band IV, S. 998-1012, hier S. 1000; deutsch in: »Gebet zu Gott um den rechten Gebrauch der Krankheiten«, in: Blaise Pascal, Kleine Schriften zur Religion und Philosophie, Hamburg 2005, S. 351-364, hier S. 353. 390,12-13 seinem unvollendeten Nachlaßwerk] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 176,31. 390,17-18 »Die Aufgabe […] Ist ein Gott?«] »[…] aber die Aufgabe der Transcendentalphilosophie bleibt noch immer unaufgelöst: I s t e i n G o t t ? « Immanuel Kant, Opus postumum I, S. 17. 390,24 »Ihn [Gott] sich zu denken […] identischer Akt«] Nicht nachgewiesen. 390,25-26 »Der Gedanke von ihm […] Persönlichkeit«] Kant, Opus postumum II, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 22, Berlin u. Leipzig 1937, S. 62. 390,27-28 »Gott ist nicht […] Gedanke in mir«] Kant, Opus postumum I, S. 145. 390,30-31 »Gott ist eine bloße […] praktischen Realität.«] Ebd., S. 142. 391,2 »Es ist ungereimt […] Gott sei.«] Ebd., S. 153. 391,4-13 Er skizziert […] keine Person«] »Unterschied E i n e n Gott oder A n einen Gott glauben imgleichen an einen l e b e n d i g e n Gott (nicht an ein Wesen das blos Götze ist u. keine Person).« Ebd., S. 48. 391,16-18 »Die Idee […] bevorsteht.«] »Die Idee von Gott als lebendiger Gott ist nur das Schicksal was dem Menschen unausbleiblich bevorsteht: Aber ihr nicht Persönlichkeit zu attribuiren etc.« Ebd., S. 49. 391,29 Hermann Cohen] Vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 608ff. 391,33-35 »die Frage nach […] Völkerpsychologie«] Hermann Cohens Abhandlung »Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele« ist in zwei Teilen in der Zeitschrift für Völkerpsychologie erschienen. Der erste Teil erschien im 5. Heft 1868 (S. 396-434), der zweite im 6. Heft 1869 (S. 113-131). 391,35 Steinthals »Zeitschrift für Völkerpsychologie«] Die von den Psychologen und Begründern der Völkerpsychologie Moritz Lazarus
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(1824-1903) und Hermann Heymann Steinthal (1823-1899) herausgegeben Zeitschrift ist von 1860 bis 1891 unter diesem Namen erschienen. 392,3 »Ethik des reinen Willens«] Hermann Cohen, System der Philosophie. Zweiter Teil: Ethik des reinen Willens, Berlin 1904. 392,3 »Gott darf nicht […] bedeuten soll.«] Ebd., S. 431. Der Satz ist bei Cohen gesperrt. 392,12-16 Berufung auf Maimonides […] Begriffe Gottes abtrennen] »Die Attribute der Sittlichkeit aber bedürfen nicht der Hypostasierung in einer Person. Die Person wird durch das Leben bestimmt. Und M a i m u n i w a g t e s , d e n B e g r i ff d e s L e b e n s v o n d e m B e g r i ff e G o t t e s a b z u t r e n n e n . So verfolgt schon das Mittelalter in wahrhafter Religiosität den Grundgedanken, dass Gott eine Idee sei.« (Ebd., S. 429.) Bei der drei Jahre später entstandenen Arbeit Cohens dürfte es sich um den Aufsatz »Die Charakteristik der Ethik Maimunis« handeln, der 1908 in Leipzig erschienen ist. 392,17-18 »wir nennen« […] Idee der Wahrheit«] »Es sagen es alle Menschen unter dem himmlischen Tage, ein Jedes in seiner Sprache. Sollte man an unserer Sprache Etwas vermissen, wenn wir Gott eine Idee nennen, und zwar d a s C e n t r u m a l l e r I d e e n , d i e I d e e d e r Wa h r h e i t ? « Cohen, Die Ethik des reinen Willens, S. 428. 392,18-19 Gott ist keine […] »im Bannkreis des Mythos«] »P e r s o n w i r d G o t t i m M y t h o s . Und die Religion bleibt im Bannkreis des Mythos, sofern sie den Begriff der Person auf das Wesen Gottes anwendet.« Ebd., S. 429. 392,20-21 »sowenig die Idee […] verknüpfbar ist«] »D i e Tr a n s s c e n d e n z G o t t e s fassen wir hingegen in der Bedeutung des selbständigen Inhalts, der ihre Bedeutung ausmacht. Sie hat nicht ausserhalb der Natur irgend ein Dasein; sowenig die Idee überhaupt mit dem Begriffe des Daseins verknüpfbar ist.« Ebd., S. 439. 393,11-12 in der wichtigen Abhandlung »Religion und Sittlichkeit«] Hermann Cohen, Religion und Sittlichkeit. Eine Betrachtung zur Grundlegung der Religionsphilosophie, Berlin 1907. 393,13-14 das »Interesse an der […] lebendigen Gotte«] Hermann Cohen, Religion und Sittlichkeit, in: ders., Jüdische Schriften, hrsg. von Franz Rosenzweig, 3. Bd.: Zur jüdischen Religionsphilosophie und ihrer Geschichte, Berlin 1924, S. 147. 393,15-16 von den Propheten Israels […] »bekämpft«] Nicht nachgewiesen. 393,17-20 »Je mehr […] Liebe Gottes.«] Cohen, Religion und Sittlichkeit, S. 139.
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393,23 der kleine Aufsatz »Die Liebe zur Religion«] Der Aufsatz ist ursprünglich am 1. April 1911 im Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin erschienen. 393,24 »Die Liebe zu Gott ist die Liebe zur Religion«] Hermann Cohen, Die Liebe zur Religion, in: ders., Jüdische Schriften, 2. Bd: Zur Jüdischen Zeitgeschichte, Berlin 1924, S. 142. 393,25-26 »Die Liebe zu Gott […] Sittlichkeit.«] Ebd. 394,1-5 »Wenn ich […] Rächer der Armen liebe ich.«] Hermann Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Gießen 1915, S. 81. 394,7-9 »Ich liebe in Gott […] geht mir der Mensch auf«] Ebd. 394,11-15 »Daher soll […] sondern Liebe.«] Ebd., S. 82. 394,17 »Ich kann Gott nicht lieben […] Menschen einzusetzen.«] Ebd., S. 81 f. 394,23 »Paradoxie«, »daß ich den Menschen lieben soll«] »Es bleibt nichts übrig im Bewußtsein des Menschen, wenn er Gott liebt. Daher heißt diese allen sonstigen Inhalt resorbierende Erkenntnis n i c h t m e h r n u r E r k e n n t n i s , s o n d e r n L i e b e . Und der Anthropomorphismus bildet hier keinen Anstoß. Denn er wird ja durch die Paradoxie übertroffen, daß ich den Menschen – lieben soll.« Ebd., S. 82. 394,23-24 »Wurm […] Gott lieben.«] Ebd. 394,32-33 Liebeserweisung (III. M. 19, V. 18 und 34)] »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Lev 19,18. In Lev 19,34 ist das Gebot besonders in Hinsicht auf den »Fremdling« akzentuiert. 394,35-36 dem »Ger«, dem Gastsassen] So lautet Bubers Übersetzung des hebräischen Wortes statt des üblichen »der Fremde«. 395,10-14 »Sollte ich etwa […] Menschen lieben.«] »Sollte ich etwa Ideen nicht lieben können? Was ist denn aber der Mensch anderes als eine s o z i a l e I d e e und doch kann ich ihn nur in dieser und kraft dieser a l s I n d i v i d u u m lieben: also, streng genommen, nur diese soziale I d e e v o m M e n s c h e n lieben.« Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, S. 82. 395,18 Franz Rosenzweig hat davor gewarnt] »Die Gottesidee – man hat das, bis in Cohen sich nah glaubende Kreise, so verstanden, als ob Gott also ›nur eine Idee‹ wäre, als ob das, was Propheten und Psalmisten zu und von ihrem Gott gesprochen, nur ein ›poetischer Ausdruck‹ für diese eben umschriebene Position wäre. Kein größeres Mißverständnis, des Gedankens wie des Denkers, ist möglich.« Franz Rosenzweig, Einleitung, in: Cohen, Jüdische Schriften, Bd. 1: Ethische und religiöse Grundfragen, Berlin 1924, S. XXXII.
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395,32-33 »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«] Hermann Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Leipzig 1919. 395,34 »Wie kann man eine Idee lieben?«] Ebd., S. 187. Im Original gesperrt. 395,35 »Wie kann man etwas anderes lieben als eine Idee?«] Ebd. 395,36-37 »Liebt man […] Idee der Person.«] Ebd. 396,5 la gloriosa donna della mia mente] In seinem zwischen 1292 und 1295 niedergeschriebenen Text La Vita Nuova schildert der ital. Dichter Dante Alighieri (1265-1321) die Geschichte seiner Liebe zu Beatrice, die zu einer platonischen Idealfigur erhoben wird. Dort heißt es eingangs: »als meinen Augen zum ersten mal die glorreiche Herrscherin meiner Seele erschien, die von vielen, die nicht wußten, wie man sie nennen soll, Beatrice genannt wurde.« Dante Alighieri, La vita Nuova. Das Neue Leben. Italienisch und deutsch, mit Kommentaren von Luca Carlo Rossi und Guglielmo Gorni, übers. von Thomas Vormbaum, Berlin 2007, Nr. II, S. 8 f. 396,12-14 »Die Liebe […] ich es liebe.«] Cohen, Die Religion der Vernunft, S. 188. 396,22 Der ihn aus dem Sturme anredet] Gottes Antwortreden an Hiob: vgl. Hi 38,1 und 39,6. 397,6-8 »Was seiner […] Gottes zur Idee.«] »Was seiner Gotteslehre dagegen charakteristisch ist, das ist das U n p e r s ö n l i c h e im üblichen Sinne, das wahrhaft G e i s t i g e : d i e E r h e b u n g G o t t e s z u r I d e e .« Cohen, Innere Beziehungen der Kantischen Philosophie zum Judentum, in: Jüdische Schriften, Bd. 1, S. 284-305, hier S. 293. 397,8-9 »Und nichts Geringeres […] Gottesidee.«] Ebd. Im Original gesperrt. 397,14-16 »Unter dem Begriffe […] größten Existenz«] Kant, Opus postumum I, S. 13. 397,17 »Das Ideal […] selbst schaffen«] Kant, Opus postumum II, S. 130. 397,18-20 »Der Begriff […] unabhängig existiere.«] »Der Begriff von einem solchen Wesen ist nicht der von einer Substanz d. i. von einem Dinge das unabhängig von meinem Denken existiere […].« Kant, Opus postumum I, S. 27. 397,29-30 »tiefsten Grund der jüdischen Gottesidee«] Cohen, Innere Beziehungen der Kantischen Philosophie zum Judentum, S. 293. Im Original gesperrt. 397,31-32 »Ehje« […] »Ich-bin-da«] Vgl. Ex 3,14. 399,12 Sartres] Der franz. Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre
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(1905-1980) adaptierte wesentliche Momente des Heideggerschen Existenzialismus. 399,13 Jungs Theorie des kollektiven Unbewußten] Der schweiz. Psychologe Carl Gustav Jung, zunächst ein Schüler Sigmund Freuds, modifizierte dessen Theorien über das Unbewusste. Dieses sei nicht mehr nur auf Individuen zu beziehen, sondern bestehe in kollektiv geteilten Strukturen eines somit kollektiven Unbewussten. Diese allgemeinen Strukturen versuchte Jung in einer Lehre der »Archetypen« näher zu bestimmen. 399,33 Nietzsches Ruf oder besser Schrei »Gott ist tot!«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 274,38. 403,5-6 was schon Nietzsche gesagt hat] Nietzsches Werk konstatiert allgemein einen Zerfall aller vormals verbindlichen Werte und des grundlegenden, göttlich konnotierten metaphysischen Wahrheitsbegriffes, was in ein Zeitalter des Nihilismus und Relativismus geführt habe. Im Terminus der »Umwertung aller Werte« wird davon ausgehend eine voluntaristische Sinngebung gefordert, die im einzelnen Genie liegen solle: dies fungiere jetzt als freier Sinngeber seines Lebens, entkoppelt von allen vormaligen ethischen Bindungen. 403,14-15 Georges Sorels […] Mythos des Generalstreiks] Der franz. Sozialphilosoph Georges Sorel (1847-1922) behauptete als wesentliche Funktion der Mythen, jenseits von allem besonderen Inhalt, sie sollten gemeinschaftsbildend wirken. In diesem Sinne postulierte er als modernen Mythos den Generalstreik, durch den die Arbeiterklasse eine neue vitale Gemeinschaft gegen die unproduktiv dekadent gewordene Bourgeoisie begründen sollte. 404,13-16 »weder positiv […] ontologisch bestellt ist«] »Durch die ontologische Interpretation des Daseins als In-der-Welt-sein ist weder positiv noch negativ über ein mögliches Sein zu Gott entschieden. Wohl aber wird durch die Erhellung der Transzendenz allererst ein zureichender Begriff des Daseins gewonnen, mit Rücksicht auf welches Seiende nunmehr gefragt werden kann, wie es mit dem Gottesverhältnis des Daseins ontologisch bestellt ist«. Martin Heidegger, Vom Wesen des Grundes, in: HGA 9, S. 159, Anm 9. 404,23-26 »Müssen wir […] erfahren dürfen?«] Heidegger, Brief über den »Humanismus«, in: HGA 9, S. 351. 404,27 nach Heideggers Auffassung] »Ob es und wie es erscheint, ob und wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur in die Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch.« (Heidegger, Brief über den »Humanismus«, in: HGA 9, S. 330.)
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404,31-32 »zuvor und in langer […] erfahren ist«] »Das Heilige aber, das nur erst der Wesensraum der Gottheit ist, die selbst wiederum nur die Dimension für die Götter und den Gott gewährt, kommt dann allein ins Scheinen wenn zuvor und in langer Vorbereitung das Sein selbst sich gelichtet hat und in seiner Wahrheit erfahren ist.« Ebd., S. 338 f. 404,35 »ob und wie der Tag des Heiligen dämmert«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 373,4-5. 405,1-2 »ein Erscheinen […] beginnen kann«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 373,4-5. 405,3-6 »die Zeit […] des Kommenden.«] »Es ist die Zeit der entflohenen Götter u n d des kommenden Gottes. Das ist die d ü r f t i g e Zeit, weil sie in einem gedoppelten Mangel und Nicht steht: im Nichtmehr der entflohenen Götter und im Nochnicht des Kommenden.« Martin Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, in: HGA 4, S. 33-48, hier S. 47. 405,7 »wer Er selbst ist, der im Heiligen wohnt«] »Wer Er selbst ist, der im Heiligen wohnt, das zu sagen und sagend ihn selbst erscheinen zu lassen, dafür fehlt das nennende Wort.« Martin Heidegger, Heimkunft / An die Anverwandten, in: HGA 4, S. 9-31, hier S. 27. 405,8 »das Weltalter, da der Gott fehlt«] »Das Heilige zwar erscheint. Der Gott aber bleibt fern. Die Zeit des gesparten Fundes ist das Weltalter, da der Gott fehlt.« Ebd., S. 28. 405,17-20 »Die ›Propheten‹ […] Seligkeit rechnet.«] »Die ›Propheten‹ dieser Religionen sagen nicht erst nur voraus das voraufgründende Wort des Heiligen. Sie sagen sogleich vorher den Gott, auf den die Sicherheit der Rettung in die überirdische Seligkeit rechnet.« Heidegger, Andenken, in: HGA 4, S. 79-151, hier S. 114. 406,6 Meister Eckhart] Mit Meister Eckhart (vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 292,9) hat sich bereits der junge Buber ausgiebig beschäftigt (vgl. die Einleitung zu MBW 2.1, S. 39-45). Sein Freund Gustav Landauer (1870-1919) veröffentlichte 1903 mit Die mystischen Schriften des Meister Eckhart eine eigene Übersetzung ins Hochdeutsche. Vgl. ebd., S. 50 f. 406,6 esse est Deus] lat.: »Sein ist Gott.« 406,7-8 Est enim (Deus) super esse et ens] lat: »Gott ist über dem Sein und dem Seienden.« Bei Meister Eckhart heißt es: »Est enim ›super omne nomen‹, rationem et intellectum et super esse et ens, cuius differentia est numerus«. Meister Eckhardt, Sermo XI, 2, in: Sermones, Stuttgart 1956, S. 112. 406,8-11 »Das ›Sein‹ […] ist das Nächste.«] Heidegger, Brief über den »Humanismus«, HGA 9, S. 331.
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407,4 »die Himmlischen bedürfen der Sterblichen«] In Friedrich Hölderlins Hymne »Der Rhein« heißt es: »Es haben aber an eigner / Unsterblichkeit die Götter genug, und bedürfen / Die Himmlischen eines Dings, / So sinds Heroën und Menschen / Und Sterbliche sonst.« Friedrich Hölderlin, Der Rhein, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 145. 407,10-11 »weder die Menschen […] vollbringen können«] »Weil weder die Menschen noch die Götter je von sich her den unmittelbaren Bezug zum Heiligen vollbringen können, bedürfen die Menschen der Götter und die Himmlischen bedürfen der Sterblichen«. Heidegger, »Wie wenn am Feiertage …«, in: HGA 4, S. 68. 407,31 Es heißt bei Hölderlin] Die zitierten Verszeilen finden sich in Hölderlins Hymne »Friedensfeier«. Vgl. Friedrich Hölderlin, Friedensfeier, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1: Gedichte, hrsg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1992, S. 341. 407,33-35 »Die Götter können […] solchen Anspruch.«] Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, in: HGA 4, S. 40. 408,12-14 Rektoratsrede vom Mai 1933 […] des »Aufbruchs«] In seiner am 27. Mai 1933 gehaltenen Rede zum Antritt des Rektorats der Freiburger Universität, das Heidegger zwischen 1933 und 1934 inne hatte, definiert er u. a. das deutsche Universitätswesen als völkischen Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst und versucht es allgemein dem Nationalsozialismus gleichzuschalten. 408,14-17 Manifest an die Studenten […] verkündet wird] In Heideggers Rede zur Immatrikulation der Studenten vom 3. November 1933 heißt es: »Die nationalsozialistische Revolution bringt die völlige Umwälzung unseres deutschen Daseins. […] Täglich und stündlich festige sich die Treue des Gefolgschaftswillens. Unaufhörlich wachse Euch der Mut zum Opfer für die Rettung des Wesens und für die Erhöhung der innersten Kräfte unseres Volkes in seinem Staat. Nicht Lehrsätze und ›Ideen‹ seien die Regeln Eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz.« Martin Heidegger, Deutsche Studenten, in: Freiburger Studentenzeitung, Nr. 1, 3. November 1933; jetzt in: HGA 16, S. 184. 408,22-23 »Geschichte ist selten […] entschieden wird.«] Heidegger, »Wie wenn am Feiertage …«, in: HGA 4, S. 49-77, hier S. 76. 409,18-20 Max Weber […] zu unterscheiden] Buber spielt auf den Begriff des Charismas an, den Max Weber (1864-1920) in seiner Theorie zur politischen Autorität entwickelt hat. Buber selbst versucht eine gattungsmäßige Unterscheidung zu treffen – deren Mangel er hier Webers Theorie vorwirft –, wenn er Begriffe wie Führer und
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Charisma in seinen biblischen Exegesen der 1930er und 40er Jahre, gipfelnd in Moses (1948), gegen ihren nazistischen Gebrauch positiv im Sinn einer politischen Theologie des biblischen Humanismus zu besetzen sucht. In Moses heißt es: »Der strenge und tiefe Realismus Moses, der nicht duldet, dass wie anderswo eine sakrale Symbolik die faktische Verwirklichung seines Glaubens ersetze oder verdränge, bestimmt die Art der Machtordnung: die Macht liegt in den Händen des ›charismatischen‹ Führers, der von Gott geführt wird, und eben deshalb darf diese Macht nicht zur Herrschaft werden, die dem Gott vorbehalten ist.« Martin Buber, Moses, Zürich: Gregor Müller Verlag 1948, S. 128 f. 409,Anm 1 Psychologie und Religion, Vorlesungen von 1937] Carl Gustav Jung, Psychologie und Religion. The Terry Lectures 1937, Zürich 1940. 409,Anm 2 Wilhelm-Jung, Das Geheimnis der goldenen Blüte (1929)] Richard Wilhelm, Das Geheimnis der goldenen Blüte. Ein chinesisches Lebensbuch, München 1929. Es handelt sich bei diesem Titel um eine von dem dt. Theologen und Sinologen Richard Wilhelm (1873-1930) angefertigte Übersetzung aus dem Chinesischen, die Jung mit einer Einleitung versehen hat, aus der Buber hier zitiert. 409,31-410,3 es solle »jegliche Aussage […] werden kann«] Carl Gustav Jung, Einführung, in: ders. u. Richard Wilhelm, Das Geheimnis der goldenen Blüte, S. 9-[88], hier S. 73. 410,Anm 1 Jung-Kerényi, […] Mythologie (1941)] Carl Gustav Jung, Zur Psychologie des Kind-Archetypus, in: ders. u. Karl Kerényi, Einführung in das Wesen der Mythologie, Amsterdam u. Leipzig 1941, S. 103-144. 410,Anm 2 Die Beziehung zwischen dem Ich und dem Unbewußten] Carl Gustav Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten, Zürich, Leipzig u. Stuttgart 1935. 410,Anm 3 Psychologische Typen] Carl Gustav Jung, Psychologische Typen, Zürich 1921. 411,31-32 »Begnügung mit dem […] Metaphysischen«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 410,10-11. 411,Anm 6 Evans-Wentz, Das tibetanische Totenbuch, (1936)] Der USamerik. Anthropologe Walter Yeeling Evans-Wentz (1878-1965) veröffentlichte 1927 seine Übersetzung des Tibetanischen Totenbuchs, einer Sammlung buddhistischer Texte über die Erfahrungen des Sterbens, ins Englische. 1935 wird die englische Ausgabe ins Deutsche übersetzt und in der Schweiz, ergänzt um einen Kommentar C. G. Jungs, 1936 publiziert. 412,18 wie Fichtes Ich] In Fichtes Philosophie wird das Ich zum erzeugenden Prinzip der ganzen Welt erhoben, diese als Nicht-Ich »gesetzt«.
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412,24-25 das kollektive Unbewußte […] in die Erfahrung treten kann] An der von Buber angegebenen Stelle definiert Jung den Archetypus allerdings vielmehr als etwas, das sich selbst jeder Erfahrung entzieht, in der individuellen Psyche sich lediglich in je eigenen Erscheinungsweisen ausprägt. Vgl. Carl Gustav Jung, Der Geist der Psychologie, in: Geist und Natur. Eranos Jahrbuch 1946, hrsg. von Olga FröbeKapteyn, Zürich 1947, S. 385-490, hier S. 460 ff. 412,Anm 1 Psychologie und Alchemie (1944)] Carl Gustav Jung, Psychologie und Alchemie, Zürich 1944. 412,Anm 3 wie Fries und Beneke] Gemeint sind Jakob Friedrich Fries (1773-1843) und Friedrich Eduard Beneke (1798-1854). Fries versuchte in seiner Schrift Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft (1807) nachzuweisen, dass keine apriorische Vernunfterkenntnis möglich sei, alles vermeinte Apriori eigentlich auf eine nachträgliche Selbstwahrnehmung, ein psychisches Phänomen hinauslaufe. Vernunft gründe so letztlich im psychischen Gefühl. Ähnlich gilt Eduard Beneke die innere psychische Erfahrung als Grundlage aller Wissenschaften. 413,5 als Leibnizsche Monade verstehen] Sämtliche materielle, organische und geistige Bestimmungen stellen sich gemäß der Monadologie von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) als Monaden dar, die absolut individuiert in unterschiedenen Erhellungsgraden die gesamte Welt in sich repräsentieren, untereinander aber keinerlei Kommunikation besitzen. 413,6 Gottes prästabilierende Intervention] Da die Monaden selbst für sich streng und absolut individuiert sind, muss gemäß der Leibnizschen Konzeption die Synchronizität ihrer inneren Dynamik, ihr gegenseitiges Abgestimmtsein, das sich als Zusammenhang einer prozessualen Welt darstellt, durch eine prästabilierte Harmonie, einen initialen Eingriff Gottes, hergestellt worden sein. 413,22-23 keine »Spitze […] höhere Mächte«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 410,10-11. 413,33-34 »keine Weltanschauung […] Wissenschaft«] Carl Gustav Jung, Analytische Psychologie und Weltanschauung, in: ders., Die Dynamik des Unbewußten, Freiburg 1967, S. 429. 413,Anm 1 Seelenprobleme der Gegenwart (1931)] Carl Gustav Jung, Seelenprobleme der Gegenwart, Zürich 1931. 414,10-17 zwei Unterschiede […] immer wieder in der Seele »geboren wird«] Buber referiert hier im wesentlichen die Lehre Meister Eckharts vom Seelengrund, der zufolge in diesem Gott in wirklicher Präsenz geboren wird und nicht bloß als psychisches Ereignis erscheint.
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Vgl. Meister Eckhart, Vom Schweigen, in: Meister Eckharts mystische Schriften, übers. und hrsg. von Gustav Landauer, Berlin 1903, S. 14 f. 414,25-26 »und zwar … im gnostischen Sinne.«] Carl Gustav Jung, Das Seelenproblem des modernen Menschen, in: ders., Seelenprobleme der Gegenwart, S. 417. 414,28-31 in einer sehr früh gedruckten […] miteinander verbunden] Jungs frühe Schrift Septem sermones ad mortuos ist 1916 unter Pseudonym als Privatdruck erschienen. In ihr wird, in Anlehnung an den griechischen Gnostiker Basilides (ca. 85-ca. 154), der durch das Pseudonym als Autor fingiert wird, die Lehre von einer Gottheit mit dem Namen Abraxas entwickelt, die, jenseits aller Gegensätze stehend, Gut und Böse gleichermaßen in sich befasst. In seiner 1952 im Merkur erschienen Verteidigung gegen Bubers Kritik moniert Jung insbesondere, dass Buber, um Jung des Gnostizismus zu überführen, nun gerade eine abseitige Jugendschrift als Beleg heranziehe: »Zur Stützung seiner Diagnose benützt Buber sogar eine von mir vor beinahe vierzig Jahren begangene Jugendsünde, die darin bestand, einmal ein Gedicht verbrochen zu haben. Ich habe darin gewisse psychologische Einsichten in ›gnostischem‹ Stil ausgedrückt, weil ich damals begeistert die Gnostiker studierte. Mein Enthusiasmus gründete sich auf die Entdeckung, daß sie anscheinend die ersten Denker waren, die sich (auf ihre Art) mit den Inhalten des sog. kollektiven Unbewußten beschäftigten. Ich ließ damals das ›Gedicht‹ unter einem Pseudonym drucken und verschenkte einige Exemplare an Bekannte, nicht ahnend, daß es in einem Ketzerprozeß einmal wider mich zeugen würde.« Jung, Religion und Psychologie, S. 468. 415,8 alte Mandalas und viele moderne] Mandalas (Sanskrit: »Kreis«) sind kreisähnliche Sinnbilder, die kosmologische Vorstellungen der hinduistischen und buddhistischen Religion und Philosophie illustrieren und als Meditationshilfen dienen sollen. Für C. G. Jung gewinnen Mandalas als figürliche Darstellungen eines Archetypus exemplarische Bedeutung. 416,Anm 1 Wirklichkeit der Seele (1934)] Carl Gustav Jung, Die Wirklichkeit der Seele. Anwendungen und Fortschritte der neueren Psychologie, Zürich 1934. 417,6-7 »Befreiung von jenen Gelüsten […] verhaften«] Das Zitat ist weder am von Buber gegebenen Ort zu finden, noch war es sonst zu ermitteln. 417,7-8 »sinnvolle Erfüllung der instinktiven Forderungen«] Das Zitat ist weder am von Buber gegebenen Ort zu finden, noch war es sonst zu ermitteln.
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417,12 »der Psyche eigentümliche Entwicklungsprozeß« […] Selbst nennt] Nicht nachgewiesen. 417,Anm 2 Symbolik des Geistes (1948)] Carl Gustav Jung, Symbolik des Geistes. Studien über psychische Phänomenologie, Zürich 1948. 418,12 Eckharts Seelenlehre] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 414,10-17. 418,Anm 2 Über das Selbst (Eranos-Jahrbuch 1948)] Carl Gustav Jung, Über das Selbst, in: Eranos-Jahrbuch 1948, Zürich 1949, S. 285-315. 418,31 altiranische Gottheit Zurvãn] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 337,41. 419,31-32 »Tot sind alle Götter, […] Übermensch lebe!«] Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: KGA VI.1, S. 98 (im Original gesperrt). 419,Anm 1 Das Wandlungssymbol in der Messe (Eranos-Jahrbuch 1940-1941)] Carl Gustav Jung, Das Wandlungssymbol in der Messe, in: Eranos Jahrbuch 1940-1941, hrsg. von Olga Fröbe-Kapteyn, Zürich 1942, S. 67-156. 420,1-14 »Nie kann sich […] anderen Sein.«] Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, in: HGA 5, S. 255. 423,36 Theonomie] Zusammensetzung aus dem griech. ϑεός, »Gott«, und νόμος, »Gesetz«. 424,11 Tao] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 196,7. 424,11 Rita] Sanskrit: »Wahrheit, Ordnung, Recht«. Bezeichnung der maßvollen Weltordnung, die sowohl natürliche wie sittliche Verhältnisse umfasst. Ähnlich dem chinesischen Dao stellt die Rita ein abstraktes Prinzip dar und wird nicht zu einer eigenen Gottheit personifiziert. 424,11 Urta] Nicht ermittelt. 424,12 Dike] griech. Δίκη, »Gerechtigkeit«. Als Personifikation der Gerechtigkeit gehört Dike zum Umkreis der Horen und klagt Verbrechen bei ihrem Vater Zeus an, sorgt aber im Falle guter Taten für das Gedeihen der Gesellschaft. 424,30-33 »euer Rita« […] ausgespannt werden«] Nicht ermittelt. 424,36-38 »Himmel und Erde«, […] nicht ihre Bahn.«] »Um Begeisterung zu wecken, ist es daher nötig, daß man sich mit seinen Anordnungen nach der Natur der Geführten richtet. Auf dieser Regel der Bewegung auf der Linie des geringsten Widerstandes beruht die Unverbrüchlichkeit der Naturgesetze. Sie sind nicht etwas außerhalb der Dinge, sondern die den Dingen immanente Harmonie der Bewegung. Darum weichen die Himmelskörper nicht ab von ihren Bahnen, und alles Naturgeschehen vollzieht sich in fester Regelmäßigkeit.« I Ging. Das Buch der Wandlungen, aus dem Chinesischen
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verdeutscht und erläutert von Richard Wilhelm, Kap. 16: Yü – Die Begeisterung, Jena 1924, S. 49. 424,36-37 sehr alten chinesischen ›Buch der Wandlungen‹] Das chinesische I Ging, dt: »Buch der Wandlungen« oder »Klassiker der Wandlungen«, stellt die älteste Sammlung chinesischer Schriften dar. Der Legende nach bis ins 3. Jahrtausend zurückdatiert, ist das Alter der Sammlung bis ins 2. Jh. v. Chr. zurückzuverfolgen. Das I Ging besteht aus 64 mit Erläuterungen versehenen Strichsymbolen, die aus je 6 teils durchbrochenen, teils ganzen Linien zusammengesetzt sind, die horizontal geschichtet in verschiedener Anordnung erscheinen. Die Symbole stehen sinnbildlich für Symmetrien und philosophische Kategorien einer kosmischen Ordnung, die Natur und menschliche Verhältnisse umfasst. Angeregt von der binären Struktur der Linien zeigte sich schon Leibniz begeistert, der mit dem Werk durch erste Fragmente bekannt wurde, die von Jesuiten nach Europa gebracht worden waren. Die Übersetzung, die der Sinologe Richard Wilhelm 1924 im Verlag Eugen Diederichs herausgab, erfuhr enorme Popularität und wurde in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt. 424,39-40 »Die Sonne […] ausfindig machen.«] Herakleitos 22 B 94: »(Denn) Helios wird seine Maße nicht überschreiten; sonst werden ihn die Erinyen, der Dike Schergen, ausfindig machen.« Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1, S. 172. 425,1-4 Als Weltgesetz […] Buße leisten.] In einem auf den griech. Vorsokratiker Anaximander (ca. 610-ca. 547 v. Chr.) zurückgehenden Fragment heißt es: »Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron. Woraus aber das Werden ist […] in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit, denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.« Die Fragmente der Vorsokratiker, 1. Bd., Nr. 12 B1, S. 89. 425,5-6 »Ein Mann […] Verantwortung übernimmt.«] Nicht nachgewiesen. 425,16-17 die ein aischyleischer Chor »die Harmonie des Zeus« nennt] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 376,18. 425,30-32 »Der Mensch«, […] Maß aller Dinge.«] Der Ausspruch geht auf den griech. Philosophen Protagoras zurück. Die Fragmente der Vorsokratiker, 2. Bd., Nr. 80 B1, S. 263. 425,39-40 Gott sei das Maß aller Dinge] »Die Gottheit dürfte nun für uns am ehesten das Maß aller Dinge sein, und dies weit mehr als etwa, wie manche sagen, irgend so ein Mensch.« Platon, Nomoi 716c (Platon, Gesetze, in: ders., Werke in acht Bänden, Bd. 8.1, Darmstadt 1977, hrsg. von Gunther Eigler, übers. von Klaus Schöpsdau, S. 257.)
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426,17-18 »über das Sein […] Richtigen und Schönen«] »Gott mag wissen, ob er richtig ist; was ich wenigstens sehe, das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, daß sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend, und daß also diese sehen muß, wer vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten.« Platon, Politeia 517c, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, übers. von Friedrich Schleiermacher, hrsg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi u. a., Hamburg 1958, S. 226. 426,25-27 »Wenn einer […] Ende des Erkennbaren.«] Nicht nachgewiesen. 428,3-4 Israel soll […] »denn ich bin heilig«] Vgl. Lev 19,2. 428,5 »ihm in seinen Wegen Folgen«] Vgl. Dtn 8,6; 19,9; Ps 128,1 u. ö. 429,12 »Ihr sollt mir ein heiliges Volk werden«] Ex 19,6. 430,15-16 Anschauungen wie die von Hobbes] Der englische Philosoph und Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588-1679) entwickelte vor allem in seinem politischen Hauptwerk Leviathan (1651), der als Klassiker politischen Denkens gilt, basierend auf einer pessimistischen Anthropologie die Doktrin eines aufgeklärten Absolutismus. Gemäß seiner erkenntniskritischen Lehre, wonach alle menschliche Erkenntnis letztlich auf die Wahrnehmung von Erscheinungen sich gründe und damit immer problematisch bleibe, entfällt in Hobbes Ethik die Bindung an eine absolute Moral. Je nach der physischen Beschaffenheit bereiteten den Menschen andere Dinge Vergnügen und würden als Gut beurteilt, ein absolut Gutes gebe es aber nicht; alle Moral sei schließlich relativ. Anerkannt wird lediglich das Recht auf Selbsterhaltung, was die Pflicht einschließt, andere nicht zu verletzten. Über kompliziertere moralische Konflikte habe der absolute Souverän zu entscheiden. 430,18 (Anonymus Iamblichi)] Es handelt sich hierbei um einen Text, der zunächst durch die Schriften des Neuplatonikers Iamblichos von Chalkis (240/245-320/325) überliefert und diesem zugeschrieben, gegen Ende des 19. Jh. aber als Abschrift eines unbekannten sophistischen Autors identifiziert worden ist. In dem Textstück wird vornehmlich die Frage vom Verhältnis von Recht und Gewalt behandelt und vor den verhängnisvollen Folgen der Tyrannei, die von Personen ausgeht, die sich über das Recht der Gemeinschaft selbstherrlich erheben, gewarnt.
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430,21-22 Nietzsche, nennt sie »die Kunst des Mißtrauens«] »Hier kommt eine Philosophie – eine von meinen Philosophien – zu Worte, welche durchaus nicht ›Liebe zur Weisheit‹ genannt sein will, sondern sich, aus Stolz vielleicht, einen bescheideneren Namen ausbittet: einen abstoßenden Namen sogar, der schon seinerseits dazu beitragen mag, daß sie bleibt, was sie sein will: eine Philosophie für mich – mit dem Wahlspruch: satis sunt mihi pauci, satis est unus, satis est nullus. – Diese Philosophie nämlich heißt sich selber: die Ku n s t d e s M i ß t r a u e n s und schreibt über ihre Haustür: μέμνησ’ άπιστεσιν.« Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGAVII.3, S. 207. 430,27-31 Feuerbachs Religionskritik […] sonst nichts, ist Gott.«] Ludwig Feuerbach äußerte im Epilog zu »Gottheit, Freiheit und Unsterblichkeit vom Standpunkte der Anthropologie«, in der von ihm selbst herausgegebenen Ausgabe seiner Schriften Sämmtliche Werke, Band 10, Leipzig 1844-1866, S. 284: »Was jedoch der Mensch nicht ist, aber sein will oder zu sein wünscht, das eben, und nur das, sonst nichts, i s t G o t t .« Unter dem Titel »Epilog« aufgenommen in: Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, hrsg. von Werner Schuffenhauer, Bd. 11: Kleinere Schriften IV (1851-1866), Berlin 1972, S. 250. 430,34 Gefolgschaft Vicos] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 313,26. 431,7-9 Nietzsches Moralkritik […] als eine […] Modifikation von Marxens Ideologienlehre verstehen] Die Annahme einer derart entscheidenden Beeinflussung Nietzsches durch Marx ist eher zweifelhaft. Weder wird Marx in Nietzsches Schriften erwähnt, noch lässt sich auch nur die Lektüre von einzelnen Arbeiten bei Nietzsche, der die Arbeiterbewegung mit Hass verfolgte, nachweisen. 431,16-17 »im Verhältnis [… des Wertsetzenden«] »Die Werte und deren Veränderung stehen im Verhältnis zu dem Macht-Wachstum des Wertsetzenden.« Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGA VIII.2, S. 17. 431,23-24 »Ich lehre das Nein […] was stärkt«] »Ich lehre das Nein [zu] Allem, was schwach macht – was erschöpft. / Ich lehre das Ja zu Allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert – was den Stolz – – –«. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGA VIII.3, S. 206. 431,25-28 erklärt er, die Skepsis […] Nihilismus ende] »Skepsis an der Moral ist das Entscheidende. Der Untergang der m o r a l hi s c h e n i Weltauslegung, die keine S a n k t i o n mehr hat, nachdem sie versucht hat, sich in eine Jenseitigkeit zu flüchten: endet in Nihilismus ›Alles hat keinen Sinn‹ […].« Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, KGA VIII.1, S. 124.
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431,28 »die obersten Werte sich entwerten«] »D e r N i h i l i s m e i n n o r m a l e r Z u s t a n d . N i h i l i s m : es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ›Warum?‹ was bedeutet Nihilism? – d a ß d i e o b e r s t e n We r t h e s i c h entw e r t e n .« Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGA VIII.2, S. 14. 431,29-31 Der Nihilismus […] über dem Einzelnen«] »Wer schafft d a s Z i e l , das über der Menschheit stehen bleibt und auch über dem Einzelnen?« Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGAVII.1, S. 695. 431,33-34 seine andre Lehre […] Wiederkunft des Gleichen] In Also sprach Zarathustra (1883-1885) begründet Nietzsche diese Lehre, die unter dem Schlagwort der »ewigen Wiederkehr des Gleichen« popularisiert werden sollte. Dort heißt es: »›Nun sterbe und schwinde ich […] / Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen bin, – der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft. / Ich komme wieder, […] / – ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre […]‹«. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: KGAVI.1, S. 272. 431,34-35 »die extremste Form des Nihilismus«] In einem 1887 niedergeschriebenen Fragment Nietzsches, das sich unter dem Titel »Der europäische Nihilismus« im Nachlass erhalten hat, heißt es: »Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ›die ewige Wiederkehr‹. / Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ›Sinnlose‹) ewig!« Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGA VIII.1, S. 217. 431,40-432,1 »der Glaube an Gott […] zu halten ist«] »Aber extreme Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum durch extreme, aber u m g e k e h r t e . Und so ist der Glaube an die absolute Immoralität der Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit der psychologisch nothwendige A ff e k t , wenn der Glaube an Gott und eine essentiell moralische Ordnung nicht mehr zu halten ist.« (Ebd., S. 216.) 432,2 »Gott ist tot«] Vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 274,38. 432,5-11 »Die Religionen«, […] geben könne«] »Die ›Religionen‹ gehen an dem Glauben der Moral zu Grunde: der christlich-moralische Gott ist nicht haltbar: folglich ›Atheismus‹ – wie als ob es keine andere Art Götter geben könne.« Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGA VIII.1, S. 112. 432,18-21 »Die Sophisten« […] ich weiß nicht was.«] Buber zieht hier zwei bei Nietzsche am Anfang und am Ende des längeren Aphoris-
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mus zu findende Sätze zu einem Passus zusammen, ohne die Auslassung zu kennzeichnen: »Die Sophisten sind nichts weiter als Realisten: sie formuliren die allen gang und gäben Werthe und Praktiken zum Rang der Werthe, – sie haben den Muth, den alle starken Geister haben, um ihre Unmoralität zu w i s s e n […] Die Sophisten waren Griechen: als Sokrates und Plato die Partei der Tugend und Gerechtigkeit nahmen, waren sie J u d e n oder ich weiß nicht was«. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KGA VIII.3, S. 123. 433,3-4 »Furcht und Zittern«] Kierkegaards Schrift ist 1843 unter dem dänischen Titel Frygt og Bæven erschienen. 433,8-9 wird an dem Beispiel […] des Ethischen«] Kierkegaards Furcht und Zittern kreist um die Interpretation der Bindung Isaaks durch Abraham. Nach Kierkegaards hier explizierter Auffassung sei dieses Ereignis, das für die Hingabe an den Glauben überhaupt steht, ethisch nicht mehr zu fassen, da nur mehr der Einzelne, Abraham, in seinem Glauben vor Gott stehe und sich hierin nicht mehr dem Allgemeinen, Ethischen kommensurabel zeige: dessen Sphäre erscheint in jenem Ereignis suspendiert. Vom Ethischen aus betrachtet wirkt es anstößig und anders als die gängige Theologie versucht Kierkegaard nicht, diese Anstößigkeit zu glätten, sondern erhebt sie genau zum entscheidenden Charakteristikum. »Die Geschichte von Abraham enthält nun eine solche teleologische Suspension des Ethischen.« Damit aber bringe »Abraham den Glauben zu Darstellung«, der »richtig in ihm ausgedrückt« sei: »sein Leben ist nicht bloß das paradoxeste, das sich denken läßt, sondern so paradox, daß es sich gar nicht denken läßt. Er handelt in kraft des Absurden; denn das eben ist das Absurde, daß er als Einzelner höher ist denn das Allgemeine.« Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern, in: ders., Gesammelte Werke, Vierte Abteilung, übers. von Emanuel Hirsch, Düsseldorf u. Köln 1950., S. 60. 433,22-23 »Aber was ist […] Gottes Willen«] Ebd., S. 64. 433,26-30 Auf den tödlichen Ernst […] »wer aber«, fragt er, »ist ein solcher?«] Buber benutzt hier vom Vorigen abweichend die Übersetzung von Hinrich Cornelius Ketels aus dem Jahr 1882. Vgl. Kierkegaard, Furcht und Zittern, übers. von Hinrich Cornelius Ketels, Erlangen 1882, S. 21. 433,30-34 Insbesondere versichert er […] Abraham vollzieht] »Ich kann nicht die Bewegung des Glaubens machen, ich kann nicht die Augen schließen und mich voller Vertrauen in das Absurde stürzen, es ist für mich etwas Unmögliches, aber ich rühme mich nicht deswegen.« Kierkegaard, Furcht und Zittern, übers. von Emanuel Hirsch, S. 31.
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434,3 den Bund mit der geliebten Braut löste] Die Verlobung mit Regine Olsen (1822-1904) hatte Kierkegaard 1841 nach großen Selbstzweifeln aufgelöst. 434,4-5 Gegen diesen Bund […] »lag ein göttlicher Protest vor«] Sören Kierkegaard und sein Verhältnis zu »ihr«. Aus nachgelassenen Papieren, übers. und hrsg. von Raphael Meyer, Stuttgart 1905, S. 87. 434,7-8 »Hätte ich den Glauben […] bei ihr geblieben.«] In Kierkegaards Tagebüchern ist der Eintrag unter dem 17. Mai 1843 verzeichnet. Dem Wortlaut des Zitates zufolge hat Buber die Zusammenstellung von Auszügen aus den Tagebüchern benutzt, die 1905 von Hermann Gottsched übersetzt und im Diederichs Verlag herausgegeben wurde. »Hätte ich Glauben gehabt, so wäre ich bei ihr geblieben. Gott sei Lob und Dank, das habe ich jetzt eingesehen.« Sören Kierkegaard, Buch des Richters. Seine Tagebücher 1833-1855, übers. von Hermann Gottsched, Jena 1905, S. 22. 434,11-13 »Jede nähere Erläuterung […] selber zu geben.«] Kierkegaard, Furcht und Zittern, S. 78. 434,18-19 »Deinen Sohn, […] den Isaak.«] Gen 22,2. 434,23-28 Kierkegaard seinen Abraham […] »Ritter des Glaubens«] Kierkegaard unterscheidet Abraham als »Glaubensritter« von Agamemnon, der in der Opferung Iphigenes lediglich ein allgemein vorgegebenes Gesetz befolgt habe: »Der Glaubensritter hat also zuerst und vor allem die Leidenschaft, das gesamte Ethische, mit dem er bricht, in einen einzigen Augenblick zu sammeln auf daß er sich die Gewißheit verschaffe, daß er Isaak wirklich von ganzer Seele liebt.« Kierkegaard, Furcht und Zittern, S. 86. 434,29-30 denn sonst ist alles […] »Abraham ist verloren«] »Verhält es sich nicht so, dann hat der Glaube im Dasein nicht Raum, ist der Glaube also eine Anfechtung, und Abraham ist verloren, weil er ihr nachgegeben hat.« Ebd., S. 77. 434,30-31 Auch das entscheidet […] »absoluten Vereinzelung] »Der wahre Glaubensritter steht immer in absoluter Vereinzelung.« Ebd., S. 88. 434,31-33 »Der Glaubensritter […] das Furchtbare.«] Ebd., S. 87. 435,28 »Stimme eines verschwebenden Schweigens«] Vgl. Das Buch Könige (Die Schrift IX), verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Berlin: Lambert Schneider Verlag 1929, S. 116. Bei Luther lautet I Kön 19,12 »ein stilles, sanftes Sausen«. 436,16 Bereich des Moloch] Moloch ist nach der biblischen Darstellung eine westsemitische Gottheit, der Kinderopfer dargebracht wurden. 441,20-21 ist in die Katakomben gegangen] Buber greift des Öfteren auf dieses Bild zurück, das auf das frühe Christentum anspielt, das, von
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der römischen Obrigkeit verfolgt, auf die römischen Katakomben auswich, um seinen Gottesdienst zu begehen. So auch in dem in diesem Band abgedruckten kurzen Artikel, der 1932 in der Zeitschrift transition veröffentlicht worden ist. Vgl. in diesem Band, S. 210 sowie den Kommentar dazu S. 627f. 441,31 irdischen Archonten] meint: die irdischen Würdenträger. 442,2 Entgegnung C. G. Jungs] Der Abschnitt »Religion und modernes Denken«, der auch eine Kritik C. G. Jungs enthielt, wurde zunächst 1952 im Februarheft der Zeitschrift Merkur veröffentlicht. In der Ausgabe vom Mai desselben Jahres erschienen dann sowohl Jungs Protest gegen Bubers Kritik als auch dessen erneute Rechtfertigung gemeinsam unter dem Titel »Religion und Psychologie«. Vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 719f. 442,17 Ich habe darauf hingewiesen] Bubers hier zitierte Sätze finden sich im zweiten Abschnitt des Kapitels »Religion und modernes Denken«, in diesem Band, S. 409-419. 442,31-34 Ich sage doch […] psychisch sei.«] Jung, Religion und Psychologie, S. 471. 442,35-36 »daß alle Aussagen […] hervorgehen.«] Bei Jung heißt es im Zusammenhang: »Noch ein Mißverständnis, das mir öfters begegnet ist, möchte ich erwähnen. Es betrifft die merkwürdige Annahme, daß, wenn die Projektionen ›zurückgezogen‹ würden, vom Objekt nichts mehr übrig bleibe. Wenn ich meine Fehlurteile über einen Menschen korrigiere, so habe ich diesen damit nicht negiert und zum Verschwinden gebracht; im Gegenteil, ich sehe ihn jetzt annähernd richtig, was einer Beziehung nur förderlich sein kann. Wenn ich nun der Ansicht bin, daß alle Aussagen über Gott aus der Seele in erster Linie hervorgehen und daher vom metaphysischen Wesen unterschieden werden müssen, so ist damit weder Gott geleugnet noch der Mensch an Stelle Gottes gesetzt.« (Ebd., S. 472.) Beharrt Buber dieser Präzisierungen Jungs ungeachtet auf seinen Angriffen, könnte dies vielleicht auf einen Umstand zurückzuführen sein, den Buber in seiner Replik allerdings nicht berührt: zwar erklärt Jung, keine metaphysische Aussagen über Gott treffen zu wollen, stellt er doch Bubers Ich-Du Verhältnis in Frage, wenn er es in seiner Verteidigung als bloße psychische Projektion betrachtet: »Ich zweifle nicht an seiner [Bubers] Überzeugung, in lebendiger Beziehung zu einem göttlichen Du zu stehen, bin aber nach wie vor der Meinung, daß diese Beziehung zunächst zu einem autonomen seelischen Inhalt geht, welcher von ihm so und vom Papst anders definiert wird.« Ebd., S. 470.
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444,28 karpokratianischen Motivs] abgeleitet von Karpokrates von Alexandrien, der während des 2. Jh. als Gründer der gnostisch-christlichen Gruppe der Karpokratianer gewirkt haben soll, einer Gruppierung, die schon bald in den Christenverfolgungen unterging. Da keine bestimmten Lehren des Karpokrates – dessen Existenz unsicher ist – überliefert sind, bleibt es unklar, worauf Buber hier, abgesehen von der allgemeinen gnostischen Orientierung, im Besonderen anspielt.
Zwischen Religion und Philosophie Dieser Text Bubers ist die Antwort auf die Rezension seines Buches Gottesfinsternis, die sein Freund Hugo Bergmann im Herbst 1953 in der Zeitschrift Neue Wege veröffentlicht hatte. Buber publizierte seine Replik bereits im nachfolgenden Heft. Shmuel Hugo Bergmann wurde 1883 in Prag geboren und studierte an der Karls-Universität und in Berlin 1901-1905 Philosophie und Physik. Im Gymnasium war er Klassenkamerad Franz Kafkas (1883-1924), mit dem er bis zu dessen Tod befreundet blieb. Nach der Promotion arbeitete er 1906-1919 als Bibliothekar an der Karlsuniversität. Bergmann nahm schon früh als Leiter des Bar Kochba Studentenkreises in Prag rege an der intellektuellen und organisatorischen Förderung des Zionismus teil. Dort hörte er Bubers Vorträge in den Jahren 1909, 1910 und 1911, die 1911 als Drei Reden über das Judentum veröffentlicht wurden. Im Jahr 1919 wirkte er als Sekretär der Kulturabteilung der Zionistischen Organisationen in London und wanderte im Mai 1920 nach Palästina ein. Im gleichen Jahr nahm er den Posten des Leiters der Nationalbibliothek in Jerusalem an. Ab 1928 war er Dozent der Hebräischen Universität (1935 Professor; 1935-1938 Rektor) und veröffentlichte Arbeiten zur Philosophie der Naturwissenschaften und zum Verhältnis zwischen Philosophie und Glauben. Bergmann übersetzte wichtige philosophische Schriften ins Hebräische, so vor allem (in Zusammenarbeit mit Nathan Rotenstreich) die drei Kritiken Kants sowie Salomon Maimons Versuch über die Transzendentalphilosophie. Bergmann begann bereits früh damit, sich kritisch mit Bubers polemischer Gegenüberstellung von Philosophie und Religion auseinanderzusetzen. So hatte er bereits 1928 im Sonderheft der Zeitschrift Der Jude zum fünfzigsten Geburtstag Bubers den Artikel »Begriff und Wirklichkeit. Ein Beitrag zur Philosophie Martin Bubers und J. G. Fichtes« erscheinen lassen. Im Vorfeld dieses Beitrags hatte er in einem Brief vom
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29. Dezember 1927 an Robert Weltsch über Bubers Philosophie geschrieben: »Ich lese jetzt wieder sehr viel Buber, habe den ›Daniel‹, den ich sehr liebe und zum Teil fast auswendig kenne, wiederum gelesen und ›Ich und Du‹. Ich will für die [Buber]Festschrift eine philosophische Auseinandersetzung mit Buber geben, wenn sie mir gelingt, was ich noch sehr bezweifle. Die Begriffe Bubers, so vertraut sie einem von Gesprächen mit ihm sind, wollen doch nicht recht standhalten, wenn man sie philosophisch unbefangen prüft, und es ist sehr schlimm, daß Buber – manchmal sogar etwas mit Verachtung und Ironie – die Auseinandersetzung mit der Schulphilosophie verschmäht.« (Bergmann, Tagebücher und Briefe, Bd. 1: 1901-1948, hrsg. von Miriam Sambursky, S. 228.) Die Zeitschrift Neue Wege, in der schließlich im September 1953 Bergmanns Rezension von Bubers Gottesfinsternis erschien, war 1906 von Theologen und Pfarrern in Zürich gegründet worden. Gemeinsames Anliegen der Mitglieder dieser Gruppe, die sich um Leonhard Ragaz versammelte, war die Förderung sozialer Gerechtigkeit und die Thematisierung der Religion in diesem Zusammenhang. Leonhard Ragaz (1868-1945) und die Religionsphilosophin Margarete Susman (1872-1966) trugen zahlreiche Texte zur Zeitschrift bei. Bergmann und Buber veröffentlichten Artikel in mehreren Heften. Ernst Simon und Schalom Ben-Chorin (1913-1999) waren ebenfalls darin vertreten. Die pazifistische Haltung der Zeitschrift drückte sich deutlich in Texten von politisch engagierten Denkern wie Bertrand Russell und Mahatma Gandhi (1869-1948) aus. In Bergmanns Rezension mit dem Titel »Gottesfinsternis«, widmet er sich gleich zu Beginn des Artikels der »Weltstunde, in der wir leben« als »eine[r] Stunde der Irrealisierung Gottes«. (Hugo Bergmann, Gottesfinsternis, in: Neue Wege 47, Heft 10 [1953], S. 345.) Damit greift er Bubers Wort der »Irrealisierung Gottes« auf, das dieser im vierten Abschnitt des Kapitels »Religion und Realität« in Gottesfinsternis prägt. Dort führt Buber aus, wie das gegenwärtige Zeitalter »den Wirklichkeitscharakter der Gottesidee und damit auch die Wirklichkeit unserer Beziehung zu Gott« (Buber, Gottesfinsternis, jetzt in diesem Band, S. 369) ausmerzt, gleichzeitig aber die Idee Gottes beibehält. Bergmann schreibt die Verursachung der Unterbrechung dessen, was er »eine direkte Beziehung zwischen dem Menschen und Gott«, den »Wesensblick«, nennt, der IchEs-Beziehung zu. Er folgt Buber bei dessen Feststellung, daß die Philosophie bei ihrer Begriffsbildung und der darin ausgedrückten Funktion der Abstraktion, die »Welt« als geschlossenen Seinszusammenhang ermögliche. Dadurch, dass »das konkrete Ich-Du-Erlebnis« durch den Begriff erfaßt werde und eine allgemeine Form erhalte, könne sein Ge-
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halt »objektiv« weitergegeben und mit anderen geteilt werden. Darin lebe der Philosoph oder der Wissenschaftler nicht mit den Dingen, sondern er urteile über sie. Dadurch, dass die Philosophie zur Alleinherrscherin werde, löse sie alle Realität auf. Das heißt, alle Beziehung zu einem Du, als einem »Gegenüber« werde aufgelöst. Hier wird die diese Zeit beherrschende Subjektivierung angeführt. Der Glaube, anstatt die Beziehung zum absoluten Du herzustellen, gerate so zu einem subjektiven. Bergmann konstatiert, dass die Gedanken, die Buber in Gottesfinsternis darlegt, mit dessen sonstigen Veröffentlichungen der letzten Jahre übereinstimme, geht dann zur Formulierung von Einwänden gegen Bubers scharfe Entgegensetzung der zwei Grundhaltungen Ich-Du und Ich-Es über. Er fragt: »Gibt es nicht Übergänge, Zwischenstufen dieser Doppelstruktur des menschlichen Daseins? […] Gibt es nur ein Entweder-Oder dieser beiden Lebenseinstellungen?« (Ebd., S. 347.) Bergmann kennzeichnet den Horizont der Gedanken, die er hier entwickelt als eine »gläubige Philosophie«, wie sie Rosenzweig konzipierte. Eine solche Philosophie, die »in der heutigen Geistesverfassung des Menschen, in der Wissenschaft eine so große Rolle spielt« (ebd., S. 348), als geistiges Bedürfnis der Zeit erscheint, werde durch die Gegenübersetzung von Philosophie und Religion bei Buber untergraben: »Buber denkt hier in Polaritäten, zwischen denen er einen unüberbrückbaren Abgrund aufreißt. Die Folgen sind weitreichend und gefährlich.« (Ebd.) Die erste gefährliche Folge sei »eine Entartung jeder Metaphysik«. Hier geht Bergmann auf Denker wie Augustinus, Anselmus (1033-1109) und Maimonides ein, die die »Zusammenarbeit« von Erkenntnis und Glauben betont hätten. Als »eine unerträgliche Zerreissung der menschlichen Persönlichkeit, eine unmögliche geistige Schizophrenie« kennzeichnet er die Situation, die entstanden wäre, hätten sich diese Denker, die als Menschen »zu Gott im Verhältnis des lebendigen Gebets« sich befunden hätten, »in der entscheidenden Frage« Verzicht auferlegt. Auf die Zusammenarbeit von Philosophie und Religion setzt Bergmann, wenn der Mensch seiner Zeit »nicht Opfer einer glaubenslosen Philosophie einerseits und eines wissenschaftsfeindlichen Glaubens andererseits werden« wolle (ebd.). Die nächste Folge erörtert Bergmann auf dem Hintergrund seiner Forschungen zur Philosophie der Naturwissenschaft. Buber beteuere einerseits, die Religion müsse die »Erkenntnispflicht« der Philosophie würdigen. Diese Erkenntnis betreffe in Bubers Sicht »die Welt« als »in sich geschlossenen Zusammenhang des Seienden«. Bergmann betont zunächst, daß dies eine Beschränkung der Erkenntnis bilde, dann verweist er darauf, daß die Möglichkeit dieses geschlossenen Zusammenhangs in
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Frage gestellt werden könne. Er schreibt: »Stoßen wir nicht gerade erkennend überall auf die Grenzen und die Probleme, die uns über das naturhafte Dasein herausführen in den Bereich, welchen uns der Glaube enthüllt? Ja ist nicht jenes ›natürliche Licht‹, auf welchem alles Wissen beruht, selbst eine Offenbarung, eine Art des Glaubens? Nirgends sehe ich hier den scharfen Trennungsstrich.« (Ebd., S. 348 f.) Am 25. April 1955 schreibt Bergmann im Zusammenhang seiner die vorangegangenen Monate beherrschenden Abfassung der Einleitung zur hebräischen Übersetzung der Schriften Bubers: »Ich habe während der letzten Monate, vor Pessach und während Pessach und danach, sehr viel gearbeitet, vor allem, um einen Artikel fertig zu bringen, der die Einleitung zur hebräischen Übersetzung der Schriften Bubers sein soll. Ich konnte mir, trotz der vielen Arbeit, nicht klar darüber werden, was ich von Buber in dieser Beziehung gelernt habe und annehmen kann. Zweifellos ist der Unterschied zwischen ›Du‹ und ›Es‹ von entscheidender Bedeutung und eine große Entdeckung. Es ist richtig, daß wir als Wissenschaftler nur auf dem Wege des ›Es‹ vorgehen können und daß wir auf diesem Wege das ›Du‹ nicht erreichen können. Aber im Grunde ist dies schon von denen gesagt worden, welche sagten, daß wir nicht imstande sind, auf dem Weg über das Abstrakte das Individuelle zu erreichen. Und doch müssen wir den Weg des Abstrakten gehen. Allerdings ist das Problem abstrakt-individuell nicht identisch mit dem Problem Philosophie (Theologie) – Gebet (Religion). Hier sind wirklich ganz verschiedene Welten. Wir können uns nicht philosophierend Gott nahen, sondern nur betend – zu Dir betend, o Gott! Darum müssen wir uns im Beten mehr üben als in Philosophieren. Was mir Schwierigkeiten bereitet, ist die ›Ich-Du‹-Beziehung in ihrer Gänze zu erfassen und sie fest und sicher abzugrenzen gegenüber einem nur subjektiven Vorgang. Ist Bubers Beziehung zum Schimmel wirklich zwei-polig? Wenn ja, was folgt daraus für den Schimmel oder für die ›Rot-Seele‹, welche das Kind in der Wiege erfaßt, oder für die Bildergestalt, welche der Künstler von der Wirklichkeit ›herausreißt‹, die also schon in der Wirklichkeit da sein muß. Es muß etwas Reales da sein, das uns gegenüber ist, das uns umfaßt und in das wir eintreten, das ›Spannungsfeld‹, wie Meyer im ›Kraftfeld der Seele‹ sagt. Wir sind eingebettet in Gott, eingebettet in dem ›Zwischen‹, wenn ich hier einen neutralen Ausdruck gebrauchen will und den Ruf ›Gott‹ vorbehalten will für die ›Du‹-Beziehung für das Gebet.« (Bergmann, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 195.) In Bubers Antwort »Zwischen Religion und Philosophie«, die in der folgenden Ausgabe der Zeitschrift Neue Wege (1953, Heft 11-12) erschien, wird zum einen gegen Bergmanns Einwände hervorgehoben,
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dass Ich-Du und Ich-Es miteinander verflochten seien, zum anderen wird daran festgehalten, dass es zwischen beiden Haltungen »eine strenge Scheidung« gebe. Spezifisch auf das Verhältnis zwischen der »Glaubenshandlung« und »dem begrifflichen Denken« bezogen, sucht Buber aufzuzeigen, dass, wenn die »Gesetze der menschlichen Logik« auf »das faktische Gebet« angewandt werden, sie dieses zerreissen. Seine nähere Erörterung der »Auseinandersetzung zwischen Religion und Philosophie« geht von dem Aufeinandertreffen des jeweils als »faktisch« gekennzeichneten Denkens bzw. Gebets aus. Wichtig für seine Ausführungen ist seine Beanspruchung eines anderen, biblischen Gehalts des Begriffs »Erkenntnis« als des philosophischen. Dieser liefert die Begründung für seine Erwiderung auf Bergmann, Gott könne allerdings nicht »philosophisch« erkannt werden. Im Hinblick auf diese Erörterung der Rechtmäßigkeit des Gottesbegriffs wird die Aufgabe des »gläubigen Philosophen« von Buber darin erblickt, Kritik an der präsumtiven Ausweitung des philosophischen Anspruchs zu üben, der darin liegt, Gott in einem objektivierenden Begriff zu erfassen, ihm begriffliche Wesensmerkmale zuzusprechen. Rosenzweig, den Bergmann ja für seine Ausführungen heranzog, wird von Buber in diesem Zusammenhang zitiert. Das Gebet des Philosophen wäre im Sinn Bubers »ein implizites Gebet um eine neue Offenbarung, die eine neue Gottesschau ermögliche«, ein Gebet, das durch die Kritik an beanspruchten Gottesbegriffen sowie an den damit zusammenhängenden Gottesbildern, die »unglaubhaft« geworden sind, hindurchgegangen wäre und sich dem, mit Rosenzweig gesprochen, »wieder unbekannt gewordenen Gott« ausgesetzt hätte. Textzeugen: H1: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var 350 bet 39a); 6 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit vielen Korrekturen versehen. Umarbeitung eines Briefentwurfs an Hugo Bergmann. H2: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var 350 bet 39a); 6 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit wenigen Korrekturen versehen. Reinschrift von H1. TS: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var 350 bet 39a): 4 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben. D: Neue Wege, Jg. 47, Heft 11/12, 1953, S. 436-439 (MBB 938). Druckvorlage: D
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Übersetzungen: Hebräisch: »Ben dat le-filosofia«, in: Davar vom 1. Januar 1954 (MBB 972a). Schwedisch: »Melan religion och filosofi«, in: Judisk Tidskrift, XXVII/1, Januar 1954, S. 14-17 (MBB 964). Variantenapparat: D ist mit einer redaktionellen Anmerkung versehen: Wir freuen uns, daß Professor Buber das Gespräch mit Professor Bergmann aufgenommen hat. D. R. 445,2 Hugo Bergmann hat in seiner Besprechung] [Lieber Freund Bergmann. / Sie haben in ihrer Besprechung] ! Hugo Bergmann hat in seiner Besprechung H1 445,5 begrifflichen] [diskursiven] ! begrifflichen H1 445,6 wichtig] [grundwichtig] ! wichtig H1 445,11 Grundhaltungen] »Grundarten« und »Haltungen« H1 445,20-23 Und mit aller […] beides.«] hUnd mit aller […] beides.«i H1 445,31 Bergmann] Bergmann [von meinen angeblichen Abstraktionen] H1 445,33 Moment, da Gott] Moment der sogenannten Himmelfahrt Gottes. Gott H1 445,34-35 zu ihm […] entzieht] sich zu mir herabneigte und mich emporhob, entzieht sich mir unversehens H1 445,35 Ich schrecke] Ich erschrecke, ich schrecke H1 446,1-2 nichts; […] All das vollzieht sich] nichts. Steigern wir die Situation ins Ungeheure und wir stehen bei Hiob, der das Attribut der Gerechtigkeit Gottes bestreitet, weil ihn die Heimsuchung heimgesucht hat. Beidemale vollzieht sich alles H1 nichts. [Steigern wir die Situation ins Ungeheure und wir stehen bei Hiob] ! All das vollzieht sich H2 446,4 (Gott ist gut)] (Gott ist a, wobei mit a ein allgemeiner adjektivischer Begriff gemeint sei) H1 446,5 folgert] Forderung oder Folgerung ableitet H1 446,5 Satzes] allgemeinen Satzes H1 [allgemeinen] Satzes H2 446,9-10 In der Glaubenswirklichkeit vertraut man] [Der Gläubige vertraut] ! In der Glaubenswahrheit vertraut man H1 446,10 theologischen Satz] theologischen [oder philosophischen] Satz H1 theologischen Satz [(fälschlich Glaubenssatz genannt)] H2 446,13-15 erliegt der nicht begrifflich […] Überguten] wird von [dem nicht begrifflich zu definierenden, nicht syllogistisch zu handhabenden Überguten, das Gerechte vom Übergerechten überwunden] ! der nicht begrifflich zu definierenden, nicht syllogistisch zu hand-
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habenden Ahnung des einen unseren Maßstäben entrückten Überguten überwunden, der Begriff des Gerechten weicht dem nur im Glauben fassbaren Wink eines Übergerechten H1 446,24-25 gegenständlich-begrifflich auf Grund der logischen Gesetze] [mit den Methoden des diskursiven Denkens] ! gegenständlich theologisch H1 446,25-41 Es hat immer wieder […] gesucht.] fehlt H1 447,1-3 Wir dürfen, […] unterscheiden] Es gibt zwei Arten des Erkennens H1 447,4-5 bedeutet […] »Einsehen«] [»vollzieht sich in einem distanznehmenden Hinsehen« (Bultmann)] ! bedeutet das distanznehmende »Einsehen« eines [Tatbestands] ! [Gegenstands, der »der Beobachtung des Tatbestands«] H1 447,7-8 der durch einander […] insgesamt] auch alles Relativen insgesamt H1 447,7-8 bedingten Dinge und Wesen] Bedingten H2 447,11-13 , mag man sie auch […] gelten lassen] (als »Vergewisserung des Glaubens in Gedankengängen« kann man sie mit Jaspers gelten lassen) H1 447,15 unmittelbaren Kontakt] unmittelbaren Kontakt [, das ist der usrpüngliche Sinn des hebräischen Verbums] H1 447,18 vertrauten Umgang] [unmittelbaren Kontakt] ! vertrauten Umgang H1 447,19-20 und das ungetreue Israel] [so seine Propheten (noch vor dessen irdischem Dasein] ! nur das ungetreue Israel H1 447,21-24 Man muß sich […] Korrelation nach.] fehlt H1 447,26 tritt] [steht] ! tritt H1 447,27-29 – meinem Verständnis […] Menschenwesen –] fehlt H1 447,30-36 Die Aggada […] Erfahrung gegenüber.] fehlt H1 448,5 erblickt] fehlt H1 [bezeichnet] ! erblickt H2 448,7 assoziationsreichen Götternamen] [Namen] ! Götternamen H1 448,8 Gebilden dichterischer Anschauung] dichterischen Bezeichnungen H1 448,17 Begriff] Gottesbegriff H1 448,24 daraufhin anzusehen.] daraufhin anzusehen. / [In objektiver Fassung lässt sich das Gemeinte an historischen Beispielen darlegen. / An der Schwelle des modernen Denkens hat Nikolaus von Cues die Warnung an die Philosophie ausgesprochen, Gott sei nicht ein Etwas (aliquid) zu dem ein Gegensatz [besteht] ! und Widerspruch denknotwendig ist, sondern übergegensätzlich und daher nicht zum Gegenstand einer dem Satz vom Widerspruch unvermeidlich unterwor-
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fenen Aussage zu machen ist. Descartes hat, so viel er auch von der »Vollkommenheit« Gottes zu sagen weiss] / Nicht an der Philosophie als solcher habe ich demgemäss Kritik geübt, sondern an der Hybris eines Philosophierens, das, wo es Gott in ein System der Erkenntnis einbezieht, sich von der Situation des Menschen von Gott als vor seinem ewigen Du freimachen zu dürfen wähnt. Von dieser Hybris habe ich zu zeigen versucht, dass sie zur Subjektivierung Gottes als zu seinem »gedanklichen Loslassen« geführt hat, »weil erst jetzt die Philosophie sich die Hände abhaut, mit denen sie ihn hat fassen und halten können.« (Gott. 147) Deshalb habe ich unmittelbar nach diesem Hinweis und, wie mir scheint, in aller Klarheit dargelegt, dass »ein analoger Prozess sich in der Entwicklung der Religion selber« vollzogen hat (S. 147 f.). Keineswegs also geht es mir etwa darum, dass die Religion als solche der Philosophie als solcher übergeordnet werde; es geht mir darum, dass, in der Wirklichkeit des Philosophierens wie in der des religiösen Lebens, die Ich-Es-Relation, die sich hdie Transzendenz verfinsterti heute überall das Regiment anmasst, wieder an den ihr gebührenden Platz des Gehilfen, die von ihr verhängte Ich-Du-Relation aber, in beiden Sphären, der religiösen und der philosophischen, wieder an den ihr gebührenden Platz des Baumeisters gelange. H1 Wort- und Sacherläuterungen: 445,8-9 »in der Wirklichkeit […] verwoben«] »Hier ist zu fragen: Gibt es nur ein Entweder-Oder dieser beiden Lebenseinstellungen? Ist für den Lehrer, den Arzt, den Fürsorger, den Staatsmann immer nur eine der beiden Möglichkeiten gegeben, ist nicht in der Wirklichkeit des Lebens Ich-Du und Ich-Es unentwirrbar in verschiedenen Stufen miteinander verwoben?« Bergmann, Gottesfinsternis, S. 347. 445,13-15 »reinlich ablösen« […] verschlungenes Geschehen«] »Das Es ist die ewige Puppe, das Du der ewige Falter. Nur daß es nicht immer Zustände sind, die einander reinlich ablösen, sondern oft ein in tiefer Zwiefalt wirr verschlungnes Geschehen.« Martin Buber, Ich und Du, Leipzig: Insel-Verlag 1923, S. 25. 445,22-23 »Das ist das Leben […] wieder beides.«] Vgl. Buber, Gottesfinsternis, in diesem Band, S. 439. 446,17-18 »Das Gebet […] auseinandergerissen.«] Bergmann, Gottesfinsternis, S. 348. 446,22 »Gott kann vom Philosophen nicht erkannt werden«] Ebd., S. 348. 446,28 Nikolaus von Cues […] untertan ist] Nikolaus Cusanus (14011464): bedeutender dt. Philosoph und Theologe des Spätmittelalters.
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Seiner Lehre von der coincidentia oppositorum zufolge fallen in Gott als der absoluten Wahrheit alle Gegensätze zusammen und erscheinen die irdischen Widersprüche aufgelöst. 446,38 Alterswerk] Gemeint sind Kants späte Aufzeichnungen, die nach seinem Tod als Opus postumum herausgegeben worden sind. Vgl. Wort und Sacherläuterungen zu 176,31. 446,39 »System der reinen Philosophie in ihrem ganzen Inbegriff«] Diese Worte sind als mündliche Äußerungen Kants lediglich durch Zeitgenossen überliefert. Buber dürfte für die Zitation auf die Darstellung von Johann Gottfried Hasse (1759-1806) zurückgegriffen haben: »Schon seit mehreren Jahren lag auf seinem Arbeits-Tische ein handschriftliches Werk von mehr als Hundert Folio-Bögen, dicht beschrieben, unter dem Titel S y s t e m d e r r e i n e n P h i l o s o p h i e , in ihrem ganzen Inbegriffe, an dem ich ihn oft, wenn ich zum Essen kam, noch schreibend antraf.« Johann Gottfried Hasse, Merkwürdige Aeusserungen Kant’s von einem seiner Tischgenossen, Königsberg 1804, S. 19. 447,4 nach Bultmanns vortrefflicher Definition] In dieser Pointiertheit konnte die Definition bei Bultmann nicht ermittelt werden. Jedoch erörtert Bultmann in seinem 1948 erschienen Aufsatz »Zur Geschichte der Lichtsymbolik im Altertum« den etymologischen Zusammenhang von Sehen und Erkennen in der griechische Sprache und dem griechischen Denken: »Daß das Sehen die Gestalt der Dinge erfaßt, prägt sich weiter darin aus, daß die Wörter, die ›Form‹, ›Gestalt‹ bedeuten, vom Verbum sehen, von ἰδεσιν hergenommen sind: ἰδέα und εἰδος.« Rudolf Bultmann, Zur Geschichte der Lichtsymbolik im Altertum, Philologus – Zeitschrift für antike Literatur und ihre Rezeption, 97 (1948), S. 1-36, hier S. 18. 447,12 mit Jaspers als »Vergewisserung […] Gedankengängen«] »Aber die Gottesbeweise sind als Gedanken nicht hinfällig, weil sie ihren Beweischarakter verloren haben. Sie bedeuten eine Vergewisserung des Glaubens in Gedankengängen, die, wo sie ursprünglich auftreten, den sie Denkenden durch Selbstüberzeugung wie das tiefste Ereignis des Lebens ergreifen, und die, wo sie mit Verständnis nachgedacht werden, eine Wiederholung der Vergewisserung ermöglichen.« Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, München 1948, S. 30. 447,30-31 Die Aggada weist emphatisch darauf hin] Vgl. z. B. den Pijut (einen dichterisch gestalteten Gesang für die Synagoge) Schir Ha-kavod (Lied der Ehre Gottes), in dem es heißt: »Dargestellt hat man Dich [Gott] in vielen Visionen, doch bist Du der Eine in allen
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Gleichnissen. / Sie sahen in Dir Alter und Jugend, die Haare Deines Hauptes ergraut und auch noch jugendlich schwarz. / Weise wie ein Alter am Tage des Gerichtes, jugendlich am Tage der Schlacht, wie ein Kriegsmann mit vielen Kräften.« Siddur Schma Kolenu, übers. von Joseph Scheuer, S. 375. 447,40-41 »sich jedes Urteils in der entscheidensten Frage enthalte«] »Wenn von vornherein feststeht, daß Gott vom Philosophen erkannt werden kann, ist nicht der Philosoph als Philosoph gezwungen, sich jedes Urteils in der entscheidendsten Frage zu enthalten, mag er auch als Mensch zu Gott im Verhältnis des lebendigen Gebetes stehen?« Bergmann, Gottesfinsternis, S. 348. 448,3-5 Wort Rosenzweigs […] unbekannt gewordenen Gott«] Vgl. Buber, Gottesfinsternis, in diesem Band, S. 388. 448,8-9 Goethes »Übermensch«] Buber scheint hier schlicht an den Stoff der beiden Teile von Goethes Faust zu denken. Anders aber als Buber an dieser Stelle suggeriert, hat Goethe keine eigenständige Konzeption eines »Übermenschen« erarbeitet. Nur vereinzelt begegnet der Terminus in seinem poetischen Werk und auch dann vornehmlich in ironischer Weise. So spricht etwa der Erdgeist in Faust I den ihn beschwört habenden Gelehrten spöttisch an: »Welch erbärmlich Grauen fasst Übermenschen dich!« Johann Wolfgang Goethe, Faust. Erster Teil, in: WA I.14, S. 32. 448,11-12 »das Erscheinen […] der Götter«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 373,4-5.
Der Mensch und sein Gebild Buber hat den Text, den er unter dem Titel »Der Mensch und sein Gebild« in seinem »Hausverlag« Lambert Schneider (Heidelberg) 1955 veröffentlichte, bereits am 9. November 1954 während eines Aufenthalts in Deutschland als Vortrag an der Ludwig-Maximilians Universität in München vorgestellt. Romano Guardini (1885-1968), der dort als katholischer Theologe den Lehrstuhl für Religionsphilosophie und christliche Weltanschauung inne hatte, schreibt am 10. November an Buber: »[…] Und dann drängt es mich, Ihnen etwas über den gestrigen Vortrag zu sagen. Zunächst wie sehr es mich gefreut hat, daß die Hörer, vor allem die Studenten so zahlreich da waren und eine so herzliche Verehrung für Sie zum Ausdruck brachten. / Was den Vortrag selbst angeht, so bin ich ihm mit der größten Beteiligung gefolgt und habe mich in einem entschiedenen Einverständnis gefunden. […] Im übrigen fühlte ich mich
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ebenso erfreut wie bestätigt durch die Art, wie Sie einen kritischen Realismus im schönsten Sinn des Wortes begründeten.« Desweiteren spricht Guardini in seinem Brief von dem »so dichten Vortrag für die Hörer, denen er ohnehin nicht leicht gefallen ist«. (B III, S. 387.) In der Ausgabe der Zeitung Die Zeit vom 18. November 1954 wird der Münchener Votragsabend ausführlich von Gerhard Thimm besprochen: »Die Aula der Münchener Universität war bis auf den letzten Stehplatz gefüllt. Im Parkett manch ein bedeutender weißhaariger Gelehrtenkopf, auf der Galerie die Jugend. Sie vor allem ließ den Beifall hochbranden, als der untersetzte Mann mit dem, von einem mächtigen weißen Bart umrahmten biblischen Prophetenkopf langsam die Bankreihen durchschritt und bedächtig das Katheder bestieg. Man spürte: dieser Beifall war nicht nur eine herzliche Geste der ›Wiedergutmachung‹, er galt einem großen Denker, einer verehrungswürdigen Persönlichkeit, einer Autorität, nach der die Jugend sich sehnt.« (Gerhard Thimm, Martin Buber sprach in München, Die Zeit, 18. November 1954.) In einem Brief an Maurice Friedman vom 7. September 1954 hatte Buber berichtet, er habe am Vortag die erste Fassung eines Aufsatzes über »die Anthropologie der Kunst« beendet, und er schreibt über den Inhalt dieses Textes: »Ich mußte in Themen der Kosmologie und Erkenntniskritik ›hineinspringen‹, über die ich im Lauf vieler Jahre sehr viel nachgedacht hatte, ohne eine Formulierung zu versuchen. Nun war ich ›gezwungen‹ dazu.« (B III, S. 384.) Der Aufsatz bildet, zusammen mit den Schriften Zwiesprache (1929) und Urdistanz und Beziehung (1950) Bubers eindringlichste Untersuchung der Wahrnehmung und deren Verflechtung mit dem Sein. Das, was Buber die »Wahrnahme« nennt, ist die Antwort des Menschen auf die Weise, wie ihn die Welt angeht. Wenn Buber hier schreibt, daß sich im »Binden und Begrenzen, Gliedern und Rhythmisieren« das ereignet, was er »das Werden gestalteter Einheit« nennt (Der Mensch und sein Gebild, jetzt in diesem Band, S. 457), dann ist hier in seinem Denken über die Wahrnahme einerseits eine Linie zurück zur Anthropologie Herders, etwa zu dessen Schrift »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele« gezeichnet, andererseits seine Nähe zur grundlegenden Verwandlung und Überwindung der atomistischen Wahrnehmungslehre ersichtlich, wie sie etwa Henri Bergson, Wilhelm Dilthey und Edmund Husserl vertraten. Bubers Untersuchung beginnt mit einer Erörterung der »Wahrnahme« und der weiterführenden Figuration der ersten Weltbildung und führt zu einer Besinnung auf die Differenzierung der Künste. Die anthropologischen Merkmale der Wahrnahme entwickelt Buber anhand seiner
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Kritik von Gedanken Conrad Fiedlers (1841-1895) und Martin Heideggers. Beiden Denkern setzt er seine eigene Interpretation der Tätigkeit des Künstlers entgegen, die er wie sie, doch anders gelagert, in der Auslegung des Spruchs Albrecht Dürers (1471-1528) gewinnt: »Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie.« Buber erläutert die Kunst als ein »Darüberhinaus«, als etwas, das einsetze, nachdem die Funktion des »Weltfilters« ihr Werk getan hat, das darin bestehe, den Menschen in der Welt einzurichten (Buber, Der Mensch und sein Gebild, jetzt in diesem Band, S. 458). Hier spricht Buber von der jeweiligen »Weltsphäre«, die auf den einzelnen Sinn und auf die sich durch sie vollziehende Kunst zugeordnet ist. Allein die Dichtung, betont er, ist nicht durch einen Sinn, durch Gehör oder Gesicht, in ihrem Wesen bestimmt (ebd., S. 460). Dichtung bestehe aus Sprache und habe daher in dem »von der Symbolmacht des Geistes überwölbten Überbau« ihre Stätte, die zwar auf einem Fundament des Sinnes ruht, nicht aber auf ihn beschränkt ist. Wie Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik und Heidegger in seinem Aufsatz »Der Ursprung des Kunstwerks« weist Buber der Dichtung, mithin der Sprache eine Dignität zu, die sie über die anderen Künste hinaushebt. Begeistert antwortet der Philosoph und George-Schüler Kurt Singer (1886-1962) in einem Brief vom 8. Juli 1955 auf die Übersendung von Der Mensch und sein Gebild: »wie sehr mich besonders die schrift vom Gebilde entzückt hat, brauch ich kaum zu sagen. anfang und ende haben das reinste Ja. schwierigkeiten des mitgehens mit manchem dazwischen ergeben sich vielleicht aus der gedrängtheit der darstellung, vielleicht aber doch daraus dass ich das Schöpferische nicht so scharf wie Sie vom Immanenten der transcendenz trenne, vielleicht auch aus meiner unbereitschaft das kleine x mit dem bereich der atomphysik gleichzusetzen«. (B III, S. 395.) Textzeugen: D1: Der Mensch und sein Gebild, Heidelberg: Lambert Schneider 1955, 53 S. (MBB 988). D2: Die Neue Rundschau, Jg. 66, H. 1, März 1955, S. 1-16 (MBB 998). D3: Werke I, S. 424-441 (MBB 1193). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: »Man and his Image Work«, in: Portfolio 7, Winter 1963, S. 89-99 (MBB 1233); »Man and his Image-Work«, in: The
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Knowledge of Man. Selected Essays, hrsg. und eingel. von Maurice Friedman, übers. von M. Friedman und Ronald Gregor Smith; New York: Harper & Row 1965 (MBB 1269). Hebräisch: »Ha-adam u-me’azvo«, in: Pene adam. Bechinot be-anthropologia filosofit, Jerusalem: Mossad Bialik 1962 (MBB 1209). Japanisch: in: Beiträge zu einer philosophischen Anthropologie, übers. von Minoru Inaba, Tokyo: Misuzu-shobo 1969 (MBB 1326). Variantenapparat: 450,12 von dem auch ohne ihn Seienden] vom Seienden D2 452,36 eindringlichen] unabweislichen D2 453,13 drei Jahrhunderte] die Jahrhunderte D2 453,32 Bild] nicht hervorgehoben D2 456,8 ernst genug] nur ernst genug D2 458,6-7 geht davon in die Schaubarkeit nichts ein] geht dies in die Schaubarkeit nicht ein D2 462,19 zwischen zweien.] ergänzt Niemand kann mit der Kernsubstanz des andern Geschlechts anders als monoerotisch kommunizieren. D2 Wort- und Sacherläuterungen: 449,36-37 Als Johann Georg Hamann […] gegen die Routine erregte] Hamann, der in seinen frühen Jahren der Aufklärung und in Königsberg den Kreisen um Kant nahestand, distanzierte sich nach einem Erweckungserlebnis zunehmend von einer auf reine Vernunft gegründeten Aufklärung. Stattdessen entwarf Hamann eine Sprachphilosophie, die Gefühl, Leidenschaft und Glauben einbezog und Gott als Schriftsteller betrachtete, dessen Poesie sich in der Natur und menschlichen Geschichte offenbare. Die überragende Funktion, die der Dichtung in diesem Rahmen zukam, ließ Hamann zu einem Wegbereiter der lit. Strömung des Sturm und Drang werden. 450,3-4 Unsrer zwar »dürftigen«, […] beflissenen Zeit] Sowohl »dürftig« als auch »nüchtern« sind Worte Hölderlins. Mit der Anspielung auf die Frage Hölderlins in seiner Elegie »Brod und Wein«, »… und wozu Dichter in dürftiger Zeit?«, deutet Buber auch auf den Aufsatz Heideggers »Wozu Dichter?« in der Sammlung Holzwege. 450,33 Conrad Fiedler] (1841-1895): dt. Philosoph u. Kunsttheoretiker, verfasste Schriften insbesondere zur Theorie der bildenden Kunst, in denen die erkenntnistheoretische Aspekte der Philosophie Kants auf die Kunst angewendet wurden. 450,38-451,3 »Die Frage nach dem Ursprung […] gestellt werden kann.«] Conrad Fiedler, Aphorismen: Kunst und Wissenschaft, in:
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Schriften über Kunst, Bd. II: Nachlaß, hrsg. von Hermann Konnerth, München 1914, S. 34. 451,15-17 »Das Erkenntnisvermögen […] notwendig macht.«] Conrad Fiedler, Zur neueren Kunsttheorie: Kant, in: ebd., S. 386. 451,26-27 »natürliche Fortentwicklung«] Fielder scheint allerdings eher das Gegenteil zu vertreten: »Lernen wir so die bildnerische Tätigkeit des Künstlers auffassen als eine Fortsetzung des Sehprozesses, als eine Entwicklung dessen, was in der Wahrnehmung des Auges seinen Anfang nimmt, zu bestimmten Gestaltungen, haben wir eingesehen, daß das Auge aus eigener Kraft das von ihm begonnene Werk nicht vollenden kann.« Conrad Fiedler, Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, in: Schriften über Kunst, Bd. I, S. 294. 451,29 Dürers] Albrecht von Dürer (der Jüngere) (1471-1528): dt. Maler, Grafiker u. Kunstheoretiker der Renaissance. Dürer verfasste Schriften zu Problemen der Malerei, zur Anatomie und zur Geometrie. Die von Heidegger und Buber zitierte Stelle entstammt dem ästhetischen Exkurs in Dürers postum erschienen Werk Vier bücher von menschlicher proportion (1528). 451,37 seine Abhandlung über den Ursprung des Kunstwerks] Martin Heideggers auf Vorträgen basierende Untersuchung zur Ästhetik Der Ursprung des Kunstwerks ist 1935/36 erschienen. 451,40-41 »Reißen« […] auf dem Reißbrett«] Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, in: HGA 5, S. 1-113, hier S. 58. 452,17-19 »gelernte Kunst« […] Frücht bringt«] Das Zitat stammt aus Albrecht Dürers Proportionslehre, III. Buch, welches zu Ende einen längeren ästhetischen Exkurs enthält, vgl. Hubert Faensen (Hrsg.), Albrecht Dürer schriftlicher Nachlass. Eine Auswahl, Darmstadt 1963, S. 199. 452,21-23 »der versammelte […] die neue Kreatur«] »Daraus wirdet der versammlet heimlich Schatz des Herzen offenbar durch das Werk und die neue Creatur, die Einer in seinem Herzen schöpft in der Gestalt eins Dings.« Ebd. 452,Anm 1 Camerarius] Joachim Camerarius der Ältere (Joachim Liebhard) (1500-1574). Renaissance-Gelehrter, Klassischer Philologe, Humanist und Freund Albrecht Dürers. Camerarius übersetzte Dürers Vier bücher von menschlicher proportion (1528) ins Lateinische: Alberti Dureri clarissimi pictoris et Geometrae de Sym[m]etria partium in rectis formis hu[m]anorum corporum (1532). Das Vorwort dieses Buchs enthält Ausführungen zur Person Albrecht Dürers, zu seiner Qualität als Maler sowie zu seinen Werken.
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453,17-18 Fragment von 1782, das »Die Natur« überschrieben] Dieses Fragment, das allgemein Goethe zugeschrieben wurde, geht vermutlich auf den Schweizer Pfarrer und Schriftsteller Georg Christoph Tobler (1757-1812) zurück, der sich im Sommer 1781 am Weimarer Hof aufhielt und dort u. a. mit Goethe verkehrte. Das Fragment wurde vermutlich 1782 verfasst und 1784 im Tiefurter Journal veröffentlicht. (Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 13: Naturwissenschaftliche Schriften I, Hamburg 1998, S. 45 ff. Vgl. Wilhelm Dilthey, »Der Aufsatz Natur«, zum Verhältnis Tobler/Goethe und die Frage der Verfasserschaft in Hinsicht auf dieses Fragment, in: ders, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, hrsg. von Georg Misch, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Göttingen 1991, S. 397 f.) 453,20-21 Hegels »Weltvernunft« […] »List«] In der Philosophie Hegels wird Geschichte als der Prozess der Realisierung des absoluten Geistes betrachtet, der in der fortschreitenden, schließlich auf einen vernünftigen Begriff der Freiheit gründenden Einrichtung der menschlichen Verhältnisse sich entfalte. Dieser Prozess realisiert sich dabei durch die individuellen Bewusstseinssubjekte und ihre partikulären Willenssetzungen hindurch. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (gehalten 1830/31, veröffentlicht 1837) schreibt Hegel: »Das besondere Interesse der Leidenschaft ist also unzertrennlich von der Betätigung des Allgemeinen; denn es ist aus dem Besonderen und Bestimmten und aus dessen Negation, daß das Allgemeine resultiert. Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft und wovon ein Teil zugrunde gerichtet wird. Nicht die allgemeine Idee ist es, welche sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begibt; sie hält sich unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund. Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet.« Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 49. 454,5-6 zwei einander ausschließende Theorien […] einander nunmehr paradox ergänzen] Buber dürfte auf den Sachverhalt anspielen, dass die beiden fundamentalen Theorien der modernen Physik, Relativitätstheorie und Quantenmechanik, sich in ihren grundlegenden Prinzipien ausschließen. Bis heute stellt sich die Vereinigung beider als ein ungelöstes physikalisches Problem dar. 454,8 Pascual Jordan] (1902-1980) dt. theoretischer Physiker, an Forschungen zur Quantenmechanik und Quantenfeldtheorie beteiligt. In seiner 1936 erschienen populärwissenschaftlichen Schrift Die Physik
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des XX. Jahrhunderts versuchte Jordan, der bereits 1933 in die NSDAP und die SA eingetreten war, die Nazis vom vor allem militärischen Nutzen der modernen, als »jüdisch« geächteten neuen Physik im Kampf gegen den Kommunismus zu überzeugen. Buber muss diese Schrift, der die Redewendung vom »wunderbaren Kunstgriff« (S. 110) entnommen ist, noch vor dem Exil 1938 konsultiert haben, um sich über den aktuellen Stand der Naturwissenschaften zu informieren. Jordan hielt sich auch nach dem Krieg als fanatischer Antikommunist in rechtsextremen Kreisen auf und saß für die CDU im Bundestag. 454,9-11 Niels Bohr […] Sinn verloren haben] (1885-1962): dän. theoretischer Physiker und Wissenschaftstheoretiker. Forschungen zur Theorie der Atome und Quantentheorie. 1922 erhielt er den Nobelpreis für Physik. Bohr entwarf mit der sog. »Kopenhagener Deutung« eine subjektivistische Interpretation der Paradoxien der Quantenmechanik. 454,21-24 im ägyptischen Mythus […] Kräftebündel verwendet.] Nicht ermittelt. 454,32 Albert Einstein] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 178,18. 454,38-39 Unerforschlichkeit des Elektrons […] kontradiktorischer Erklärungen] Buber spielt an auf das von Bohr formulierte Komplementaritätsprinzip der Quantenmechanik, demgemäß je nach Anordnung eines Versuchs einander entgegengesetzte Eigenschaften sich dennoch auf den gleichen Sachverhalt beziehen. 455,Anm 1 Erwin Straus] (1891-1975): dt.-US-amerik. Neurologe und Phänomenologe. 455,Anm 1 Viktor von Weizsäcker] (1886-1957): dt. Mediziner, Physiologe, Anthropologe. Mitherausgeber der Zeitschrift Die Kreatur (1926-1930) mit Martin Buber und Joseph Wittig (1879-1949). Entwickelte die Theorie des Gestaltkreises auf der Grundlage der Gestaltpsychologie. 456,30 »Du bist es also.«] Aus dem Gedicht Johann Wolfgang Goethes: »Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten«, in dessen zehnter Strophe es heisst: »Du bist es also, bist kein bloßer Schein, / In dir trifft Schaun und Glauben überein; / Doch Forschung strebt und ringt, ermüdend nie, / Nach dem Gesetz, dem Grund, Wa r u m und W i e .« (WA I.4, S. 114.) 456,36 Buytendijk] Frederik Jacobus Johannes Buytendijk; niederl. Biologe, Psychologe und Verhaltensforscher. Buytendijk arbeitete zu Problemen der Tierpsychologie, zur vergleichenden Verhaltenstheorie und zur Anthropologie. 456,36 »mit seiner Umwelt wie mit seinen Organen«] Vgl. Frederik Jacobus Johannes Buytendijk, Zur Untersuchung des Wesensunter-
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schieds von Mensch und Tier, in: Blätter für deutsche Philosophie, III (1929), S. 33-66. 459,4 Jean Paul] Jean Paul Friedrich Richter (1763-1825): dt. Schriftsteller, Verfasser von Romanen, Werken zur Sprache, Ästhetik und Politik. Im siebten Kapitel seines Werks Vorschule der Ästhetik (1804) handelt Jean Paul unter der Rubrik »Stufenfolge poetischer Kräfte« im § 6 von der Einbildungskraft sowie im § 7 von der Bildungskraft. Von der ersten schreibt er: »Einbildungkraft ist die Prose der Bildungkraft oder Phantasie. Sie ist nichts als eine potenzierte hellfarbigere Erinnerung, welche auch die Tiere haben, weil sie träumen und weil sie fürchten.« (Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. von Norbert Miller, Abt. I, 5. Bd., Darmstadt 2000, S. 47.) Im § 7, unter dem Titel »Bildungskraft oder Phantasie« heißt es: »Aber etwas Höheres ist die Phantasie oder Bildungkraft, sie ist die Welt-Seele der Seele und der Elementargeist der übrigen Kräfte […]. Die Phantasie macht alle Teile zu Ganzen – statt daß die übrigen Kräfte und die Erfahrung aus dem Naturbuche nur Blätter reißen – und alle Weltteile zu Welten, sie totalisieret alles, auch das unendliche All; daher tritt in ihr Reich der poetische Optimismus, die Schönheit der Gestalten, die es bewohnen, und die Freiheit, womit in ihrem Äther die Wesen wie Sonnen gehen.« (Ebd.) 459,18 Paul Valéry]: franz. Dichter und Schriftsteller, verfasste grundlegende Schriften der modernen Literatur, Literaturtheorie und Kunsttheorie. Seine tausende Seiten umfassenden Cahiers enthalten Reflexionen unter anderem zur Bewußtseinstheorie, zur Kunst, zu moralischen Fragen und zur Politik. Sein Werk Eupalinos ou l’architecte (1921) befasst sich insbesondere mit der Baukunst und fügt Gedanken zu diesem Thema in allgemeinere Reflexionen über das künstlerische Schaffen, das Verhältnis zwischen Menschen- und Naturwerk, die Beziehung Körper-Leib-Geist und die Gegenwart des Göttlichen ein. Das Werk erschien 1927 auf Deutsch in der Übersetzung von Rainer Maria Rilke. 459,20 »die der Demiurg […] gehoben hat«] In der Übersetzung Rilkes heißt es: »Aber der Baumeister, den ich jetzt vorstelle, findet sich gegenüber als Chaos und Rohstoff eben diese Ordnung der Welt, die der Demiurg aus der ursprünglichen Unordnung gezogen hat.« (Paul Valéry, Eupalinos oder der Architekt, in: ders., Werke in 7 Bänden, Bd. 2: Dialoge und Theater, hrsg. von Karl Alfred Blüher, Frankfurt a. M. 1990, S. 82.) 459,30 »aufschwellendes Gefühl […] des Gehörigen«] Goethe schreibt in »Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe in Juli 1775«: »Mit jedem
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Tritte überzeugte man sich mehr: daß Schöpfungskraft im Künstler sei aufschwellendes Gefühl der Verhältnisse, Maße und des Gehörigen, und daß nur durch diese ein selbständiges Werk, wie andere Geschöpfe durch ihre individuelle Keimkraft hervorgetrieben werden.« (HA 12, S. 30.) 459,31-34 von Beethovens Spaziergängen berichtet […] verzeichnete«] So berichtet der dt. Maler August von Kloeber (1793-1864), der Beethoven (1770-1827) 1817 porträtierte, in einer »Privat-Mittheilung«, die 1864 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung zum Abdruck gekommen ist: »Bei meinen Spaziergängen in Mödling begegnete mir Beethoven mehrere Male, und es war höchst interessant, wie er, ein Notenblatt und einen Stummel von Bleistift in der Hand, öfters wie lauschend stehen blieb, auf- und niedersah, und dann auf das Blatt Noten verzeichnete.« (August von Kloeber, Miscellen, in: Allgemeine Musikalische Zeitung, 18 [1864], Sp. 324-325, hier Sp. 325.) 460,31 Superposition] Buber übernimmt hier wiederum einen Begriff der Quantenmechanik, der die Überlagerung verschiedener Zustände bezeichent. 461,21 homo ludens] lat. »spielender Mensch«. 463,21-22 im Paläolithikum […] braunroten Wisent malte] In den 40er Jahren wurde in Südfrankreich die Höhle von Lascaux entdeckt, die für ihre detaillierten Deckengemälde – Darstellungen von Tieren und von mythologischem Geschehen – aus der Steinzeit berühmt geworden ist.
Rosenzweig und die Existenz Anlässlich des 70. Geburtstags von Franz Rosenzweig verfasste Buber diesen kleinen Essay, der am 28. Dezember 1956 im Mitteilungsblatt des Irgun Olej Merkas Europa erschien. In diesem Text entwickelt er eine Deutung des Denkens Rosenzweigs, die sich zugleich auf Interpretationen Heideggers bezieht, die Buber in dieser Periode in den Aufsätzen »Der Mensch und sein Gebild« (jetzt in diesem Band, S. 449-463) und »Dem Gemeinschaftlichen folgen« (jetzt in: MBW 6, S. 103-124) unternimmt. Bubers Erläuterungen zu Rosenzweig und Heidegger berühren sich in der Frage der Wahrheit. Bubers Zugang zur Frage der Wahrheit bei Rosenzweig bestimmt sich durch das Thema der Existenz, dem er sich in seinem Buch Gottesfinsternis in den einschlägigen Kapiteln zu Kierkegaard, Heidegger und Sartre gewidmet hatte. Während er in »Rosenzweig und die Existenz« die Merkmale der »Wandlung« des Themas
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in der Philosophie herausstellt, die im Existenzialismus stattfinde und die in Heideggers Philosophie eine besondere Wirkung entfaltet habe, betont Buber hier, dass Rosenzweigs Denken tiefer auf den »Grund der wirklich zu denken wagenden menschlichen Person als solcher« gehe (in diesem Band, S. 464). Zur Konstellation Heidegger und Rosenzweig vgl. Peter Eli Gordon, Rosenzweig and Heidegger. Between Judaism and German Philosophy, Berkeley 2003. Rosenzweigs Besinnung auf die Wandlung der Wahrheit in »unsre Wahrheit« ist mit dem Gedanken der Bewährung verbunden. Dieses bei Buber schon früh in seiner Interpretation des Chassidismus zentrale Wort wird von Rosenzweig in Der Stern der Erlösung (1921) im Hinblick auf die Weise, wie der Mensch »im Wahrlich« sich »Gottes Wahrheit« zu eigen macht, verwandt. Rosenzweig schreibt: »Was aber kann ich also mein machen? Nur das, was mir an meinem inneren Hier und Jetzt zuteil wurde. Ob das die ›ganze‹ Wahrheit sei, was kümmert mich das. Genug, sie ward mir ›zu Teil‹. Sie ward mein Anteil. Daß Gott die Wahrheit ist in jenem Sinne, in dem wir es nun festgestellt haben: Ursprung der Wahrheit, – ich kann es nur erfahren, indem ich erfahre, daß er ›mein Teil‹ ist, ›der Anteil meines Kelchs, am Tag, da ich ihn rufe‹«. (Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 437.) In diesem Zusammenhang tritt das Wort hervor: »Be-währt also muß die Wahrheit werden, und grade in der Weise, in der man sie gemeinhin verleugnet: nämlich indem man die ›ganze‹ Wahrheit auf sich beruhen läßt und dennoch den Anteil, an den man sich hält, für die ewige Wahrheit erkennt.« (Ebd.) Die Bewährung, die Rosenzweig hier denkt, kann nur stattfinden, wenn der Mensch nicht mehr im Heidentum, nicht mehr in dessen »standpunkts- und sendungsloser Zufalls- und Schicksalswelt«, steht. In dieser würde Bewährung bloß die »Wahrheit«, dass das Eigene »Eigenes ist«, bedeuten. Rosenzweig aber betont, dass die Brücke über das Eigene hinaus, die Erde und Himmel verbindet, die das Ewige mit dem Eigenen zusammenbringt, Wahrheit erst durch das Geschehen der Offenbarung ermöglicht wird. Buber erläutert Rosenzweigs »wahrheit-bewährende« Existenz hinsichtlich der Eigenart von dessen »Raum der Bewährung«. Dieser wurde Rosenzweig durch seine unheilbare Krankheit leiblich zubemessen. Es liegt Buber fern, über diesen leiblichen Zustand Rosenzweigs hinwegzutäuschen. Weder in seinem noch in Rosenzweigs Denken wird behauptet, der Weg zu Gott führe über die Verneinung des Leibs oder der Natur. Die »Annahme des Daseins« in diesem ihm zubemessenen Raum wird Rosenzweig durch den Humor ermöglicht. Bubers Deutung dieses Humors ist nicht bloß psychologisch, sondern weist auf den Raum, der da-
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durch zwischen den Menschen geöffnet wird. Schreibt Buber »Glaube ist das Vertrauen, das jeder Situation standhält«, dann führt diese Bestimmung zurück in die Erörterungen des Umfelds von »emuna«, die Buber 1950 in der Schrift Zwei Glaubensweisen vorgenommen hatte. Schreibt er nun, der Humor sei nicht nur »Diener«, sondern auch »Milchbruder« (in diesem Band, S. 466) des Glaubens bei Rosenzweig, so will das heißen, dass in der letzten leiblichen Konkretion des Zustands Rosenzweigs seine persönliche Haltung eine zum Anderen und zu Gott war. Am Ende von Der Stern der Erlösung schreibt Rosenzweig: »Einfältig wandeln mit deinem Gott – nichts weiter wird da gefordert als ein ganz gegenwärtiges Vertrauen. Aber Vertrauen ist ein großes Wort. Es ist der Same daraus Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen, und die Frucht, die aus ihnen reift. Es ist das Allereinfachste und grade darum das Schwerste.« (Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 472.) Bubers Bemerkungen zu Rosenzweigs konkreter Existenz reichen in den Spannungsraum, der durch diesen letzten Satz eröffnet wird, und zeigen ihn als Raum des Zwischen auf. Textzeugen: D1: Mitteilungsblatt des Irgun Olej Merkas Europa, Jg. 24, Heft 52, 28. Dezember 1956, S. 3 (MBB 1036). D2: JuJ, S. 825-830 (MBB 1216). Druckvorlage: D1 Wort- und Sacherläuterungen: 465,2-7 Wahrheit, so stellt Rosenzweig fest, […] Wahrheit wandelt.«] »Noch in der Wahrheit selber, der letzten, die nur eine sein kann, muß ein Und stecken; sie muß, anders als die Wahrheit der Philosophen, die nur sich selber kennen darf, Wahrheit für jemanden sein. Soll sie dann gleichwohl die eine sein, so kann sie es nur für den Einen sein. Und damit wird es zur Notwendigkeit, daß unsre Wahrheit vielfältig wird und daß ›die‹ Wahrheit sich in unsre Wahrheit wandelt.« Franz Rosenzweig, Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum »Stern der Erlösung«, in: Zweistromland, S. 139167, hier S. 158. 465,9-10 »Wahrheit […] bewährt werden soll«] Buber weicht vom Wortlaut der von ihm zitierten Stelle in Rosenzweigs Aufsatz »Das neue Denken« von 1925 ab. Dort heißt es: »Wahrheit hört so auf, zu sein, was wahr ›ist‹, und wird das, was als wahr – bewährt werden will.« (Ebd., S. 158.)
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465,14-15 mein Begriff der »Verwirklichung« von 1913] Dieser Begriff wird in Bubers 1913 erschienen Schrift Daniel. Gespräche von der Verwirklichung expliziert (jetzt in: MBW 1, S. 183-254). 465,29-30 in das nicht mehr deutende, sondern wirkende »Leben« einzutreten] Das letzte Wort in Der Stern der Erlösung lautet »Ins Leben«. Rosenzweig zeigt im letzten Absatz, dass dieses Ziel »unbedingt, […] frei von jeder Bedingung« und »unmittelbar« sei. 465,30 einer Krankheit] Rosenzweig erkrankte 1922 an einer Lateralsklerose, die ihn zunehmend lähmte und 1929 das Leben kostete.
Antwort [an meine Kritiker] Paul Arthur Schilpp (1897-1993), seit 1939 Herausgeber der Library of Living Philosophers und zu dieser Zeit Professor für Philosophie an der Northwestern University (Evanston), hatte schon Mitte der 1950er Jahre in Betracht gezogen, der Philosophie Bubers einen Band seiner Publikationsreihe zu widmen. Anlässlich eines Vortrags, den Buber 1956 auf Einladung Schilpps an der Northwestern gehalten hat, sprach Schilpp ihn auf sein Vorhaben an und Buber stimmte zu, an dem ihm gewidmeten Band der Library mitzuarbeiten. Die Bände der Library umfassen eine intellektuelle Autobiografie des jeweiligen Philosophen, kritische Essays von Zeitgenossen zu zentralen Aspekten seines Denkens und bieten schließlich dem Betreffenden die Möglichkeit, Stellung gegenüber seinen Kritikern zu beziehen. Aufgrund der thematischen Nähe und weil Schilpp selbst noch mit der Fertigstellung der Publikation des Vorgängerbandes über Rudolf Carnap (1891-1970) beschäftigt war, bat er neben Maurice Friedman auch den Freiburger Philosophen Fritz Kaufmann (1891-1958), der seit 1946 ebenfalls an der Northwestern University lehrte, sowie den orthodoxen Rabbiner und Professor für Jüdische Philosophie, Marvin Fox, den Buber in »Antwort« als seinen »größten Kritiker« bezeichnet, ihn zu beraten. Und tatsächlich hat Buber, wie Friedman anmerkt, aus Gründen der »Ausgewogenheit« auch massive Bedenken gegen Fox (1922-1996) geäußert. Kaufmann, bis zu seinem Tod im Jahr 1958 Leiter der Edition, »had originally proposed his and my friend Marvin Fox as editor«, schreibt Friedman, »but Buber wrote him in September that he was ›strictly against Fox as the only editor‹ […] Buber was troubled that Marvin Fox was an Orthodox rabbi whose philosophical thinking was far from his own.« In diesem Kontext hatte Buber von vornherein klargestellt, dass er sich zwar mit Fragen zu seiner Interpretation von Religion und Offenbarung auseinandersetzen
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werde, der Band sei jedoch nicht der richtige Ort, theologische Kontroversen auszutragen (Friedman, Martin Buber’s Life and Work, Bd. 3, S. 250 f.). Man einigte sich auf einen Kompromiss: Schilpp übernahm die Rolle des »editor in name«, Fox wurde als »expert for the Hebrew concepts, passages and contributions« vorgeschlagen und Maurice Friedman übernahm als »assistent editor« neben der Bearbeitung der Beiträge des Bandes auch die Übersetzung von Bubers autobiografischen Fragmenten und seiner Erwiderungen auf seine Kritiker – und das alles, wie er schreibt, »ehrenamtlich«. Die englische Version des Bandes sollte ursprünglich 1958 zu Bubers 80. Geburtstag erscheinen, konnte dann jedoch erst 1967 publiziert werden. Die deutsche Ausgabe, in der sich auch der vollständige Abdruck von Bubers »Antwort« auf seine Kritiker findet, erschien 1963 unter dem Titel Martin Buber – Philosophen des XX. Jahrhunderts. Ein Vorabdruck von Auszügen aus »Antwort« wurde bereits zwei Jahre zuvor unter dem vielsagenden Titel »Aus einer philosophischen Rechenschaft« in der traditionsreichen deutschen Vierteljahresschrift Die Neue Rundschau publiziert (Die Neue Rundschau, 3 [1961], S. 527-537). Die 1890 gegründete Literaturzeitschrift, die bis heute im S. Fischer Verlag erscheint, gehört zu den ältesten und renommiertesten Kulturzeitschriften Europas. Ab 1932 wurde sie von Peter Suhrkamp (1891-1959) geleitet, in den 60er Jahren zählte Golo Mann zu den Mitherausgebern des Blattes. Im Frühjahr 1958 verbrachte Buber auf Einladung der Princeton University einige Monate in den USA, wo er zweimal wöchentlich ein Seminar gab. Hier glaubte er die »Ruhe finden zu können«, um an seinen »Autobiographischen Fragmenten« und den »Antworten« (»Replies to His Critics«), seinen Beiträgen für die Library of Living Philosophers, arbeiten zu können. Im Dezember 1960, drei Jahre vor der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe des ihm gewidmeten Bandes der Library, erschienen seine knapp 60 Seiten umfassende autobiografische Darstellung unter dem Titel Begegnung – Autobiographische Fragmente. In »Antwort« reagierte Buber auf die kritischen Interventionen, die von 29 Gelehrten aus Europa, den USA und Israel – unter ihnen Emil Fakkenheim (1916-2003), Gabriel Marcel (1889-1973), Emmanuel Levinas (1905-1995), Jakob Taubes (1923-1987), Nahum N. Glatzer (19031990), Nathan Rotenstreich (1914-1993), Hugo Bergmann und Walter Kaufmann (1921-1980) – hinsichtlich zentraler Aspekte seines Denkens vorgetragen wurden. An den deutsch-australischen Schriftsteller Walter Kaufmann schrieb Buber im April 1958: »In Ihrer ›Critique‹ habe ich immer wieder gelesen,
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manche Äußerungen der Stellungnahme mit entschiedener Zustimmung, manche mit entschiedenem Widerspruch, alles mit einem starken Gefühl für diese Unbefangenheit und Direktheit. […] Über den SchilppAufsatz – den ich mit über 25 anderen zu lesen hatte – hoffte ich vielleicht doch noch mit Ihnen […] reden zu können. […] Der Aufsatz ist zweifellos einer der allerbesten in diesem Buch […].« (B III, S. 457.) Dagegen war, wie Buber Friedman wissen ließ, die Auseinandersetzung mit dem einen oder anderen seiner Kritiker »not a pleasant job at all, as they do not grasp at all the place where I stand« (Friedman, S. 256). Bubers »Antwort«, der philosophische Rechenschaftsbericht eines, wie er sich hier selbst bezeichnet »atypischen Denkers«, beginnt daher nicht unvermittelt mit einer nachdrücklichen Richtigstellung des eigenen Standpunktes, respektive einer Klärung von prinzipiellen »Mißverständnissen« bzw. Missdeutungen, »Vereinfachungen« und »Etikettierungen«, die seiner Ansicht nach gelegentlich bis zu »bedenklichen Entstellungen« seines Denkens reichten. Zunächst fasst Buber in »Antwort« die eingegangenen Beiträge und die darin geäußerten Fragen und kritischen Anmerkungen geordnet nach neun Themenschwerpunkten zusammen, die von Theologie, Mystik, Metaphysik über Ethik und Bibelinterpretation bis zu seinem Verständnis der Bedeutung des Chassidismus reichen. Bezeichnenderweise findet in »Antwort« auch eine indirekte Auseinandersetzung mit Gershom Scholem statt, der zwar wie im Fall der Philosophical Interrogations seine Mitarbeit an dem Buber-Band der Library abgesagt hatte, aber repräsentativ durch einen Beitrag seiner Schülerin Rivka SchatzUffenheimer (1927-1992) vertreten war. Der Abschnitt in Bubers »Antwort«, der sich auf den Chassidismus bezieht (in diesem Band, S. 510521), bildet eine Replik auf Scholem, der 1961 in der Zeitschrift Commentary mit seinem Aufsatz »Martin Bubers Hasidism: A Critique« (dt.: »Martin Bubers Deutung des Chassidismus«, in: Judaica 1, Frankfurt a. M. 1986, S. 165-202.) Bubers Deutungen in Zweifel gezogen hatte. Damit initiierte Scholem eine Debatte mit Buber zur Frage eines angemessenen Verständnisses des Chassidismus, die sich über mehrere Veröffentlichungen von teils polemischem Tonfall erstrecken sollte. Strittig zwischen Scholem und Buber war insbesonder das Problem, welche Quellentexte der chassidischen Bewegung als repräsentativ zu betrachten seien (zur detaillierten Rekonstruktion dieser Auseinandersetzungen vgl. den Kommentar in MBW 17, S. 536-539 und S. 549 f.). Da der Abschnitt »Zur Darstellung des Chassidismus«, im Kontext dieser Debatte eine eigenständige Publikationsgeschichte besitzt, wurde er bereits in MBW 17, S. 315-324 gesondert abgedruckt und dort ausführlich kom-
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mentiert (ebd., S. 536-549). Daher wird im vorliegenden Band auf die Wiederholung des kritischen Apparats und des Kommentars zu diesem Abschnitt verzichtet. Eine ausführliche Kommentierung des Abschnitts »Zur Bibel-Interpretation« wird in MBW 13 erfolgen. Textzeugen: d1: Aus einer philosophischen Rechenschaft, Die Neue Rundschau, Jg. 72, Heft 3, 1961, S. 527-537 (MBB 1164). d2: Werke I, S. 1109-1122 (MBB 1193). D3: Martin Buber. Philosophen des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Paul Arthur Schilpp und Maurice Friedman, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1963, S. 589-639 (MBB 1220). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: »Replies to my Critics«, in: The Philosophy of Martin Buber, hrsg. von Paul Schilpp und Maurice Friedman, [The Library of living Philosophers XII], La Salle/Illinois: Open Court 1967, S. 689-747 (MBB 1308). Variantenapparat: Vorbemerkung: In d1 und d2 fehlen die Anmerkungen, die sich auf Literaturnachweise innerhalb des Bandes von D3 beziehen. 467,1 Antwort] Aus einer philosophischen Rechenschaft d1, d2 467,2 I.] 1 d2 467,3 Persönliche Determination] fehlt d1, d2 467,4 In diesem Buche wird] Es wird d1, d2 468,14 nicht werden] vielleicht nicht werden d1, d2 468,15 schlüssiger] schlüssiger, transmittierbarer d1, d2 469,4 nur] nicht hervorgehoben d1, d2 469,8 II.] 2 d1, d2 469,9 Gegen Vereinfachungen] fehlt d1, d2 469,10-470,31 Es ist zunächst […] Besonderes hinzu.] fehlt d1, d2 470,33-34 Es ging hier eben] Und zwar ging es d1, d2 470,35 Grundworte] Ich-Du- und Ich-Es-Grundworte d1, d2 471,25 immer wieder] noch einmal d1, d2 471,31 III.] 3 d1, d2 471,32 Mißverständnisse] fehlt d1, d2 471,33-472,27 Aus der Verkennung […] Mensch ist offenbar.] fehlt d1, d2 472,28 2. Weitgehende] Weitgehende d1, d2
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472,29 Urdistanzierung] Urdistanz des Menschen d1, d2 472,30 zwar erwähnt, aber nicht] nicht d1, d2 472,36 vitalen Akten] Lebensakten d1, d2 473,9-10 reflektierenden] reflektiven d1, d2 473,15-16 reflektierende] reflexive d1, d2 473,20 sein […] sein] nicht hervorgehoben d1, d2 473,21 ist] hervorgehoben d1, d2 473,24-476,1 3. Die Klärung […] anderes Mißverständnis.] fehlt d1, d2 476,2 Ich habe] davor abgeteilt zu eigenem Abschnitt 4 d1, d2 476,26-497,9 7. Schwerer irreführend […] machen können.] fehlt d1, d2 479,Anm 18 Diamond 209ff.] berichtigt aus Diamonot 209 ff. 480,Anm 20 Balthasar] berichtigt aus Balthazar so auch im Folgenden 492,Anm 43 Schneider 416.] berichtigt aus Schneider 415 495, Anm 50 Taubes 411.] berichtigt aus Taubes 409 497,10 VII.] 5 d1, d2 497,11 Ethik] fehlt d1, d2 497,12 1. Freunde] Freunde d1, d2 497,23 anfordert] von ihm fordern d1 fordert d2 497,26 könnten wir erfahren] könnte ich bekunden d1, d2 497,28-29 wesentlichen] wesenhafteren d1, d2 498,10 2. Und nun […] das Wort.] fehlt d1, d2 498,11 Man schreibt mir] davor abgeteilt zu eigenem Abschnitt 6 d1, d2 498,15 Rechte] Gebotene d1, d2 498,19 rechte] richtige d1, d2 498,24-25 »moralisch von Bedeutung«] von sittlichem Belang d1, d2 498,33 (violate)] fehlt d1, d2 498,34 »jeden einzelnen] den einzelnen Menschen d1, d2 498,35 erkläre] mache d1, d2 498,35 sollte«] soll d1, d2 498,36 »den privaten Charakter] die Privatheit d1, d2 498,36 Entscheidung«] Entscheidung d1, d2 499,28 Geisteskranken] Wahnsinnigen d1, d2 499,29 geisteskranker] wahnsinniger d1, d2 499,31 zu seinen] mehr zu seinen d1, d2 500,11-501,19 Mein Gegner […] gemäß vermag.] fehlt d1, d2 501,20 Die Situationen] davor abgeteilt zu eigenem Abschnitt 7 d1, d2 501,22-23 ins Gesicht] ans Gesicht d1, d2 501,29-502,2 Die damit zusammenhängende […] Antwort gegeben.] fehlt d1, d2 502,8 entgegenschaut] entgegenstarrt d1, d2 502,27-503,11 4. Levinas irrt sich […] augenscheinlich werden.] fehlt d1, d2
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503,12 5. Verschiedentlich] davor abgeteilt zu eigenem Abschnitt 8 d1, d2 503,12 (von Ernst Simon und anderen)] fehlt d1, d2 503,20 was er] was Gott d1, d2 503,40-504,28 Auf den Höhen […] Ansicht überein.)] fehlt d1, d2 504,29 8. Des weiteren führt Friedman] davor abgeteilt zu eigenem Abschnitt 9 / Man führt d1, d2 505,6 , wie Friedman sagt,] fehlt d1, d2 505,18 gerade der Person.] Ende von d1, d2 506,15 Bundesverhältnisses] berichtigt aus Bandesverhältnisses 521,Anm 95 Walter Kaufmann 572.] berichtigt aus Walter Kaufmann 570 Wort- und Sacherläuterungen: 467,4 In diesem Buche wird mehrfach erörtert] Martin Bubers »Antwort« ist der letzte Beitrag im Sammelband Martin Buber. 468,37-38 einer »doppelten Wahrheit«] Anspielung auf die von der mittelalterlichen Scholastik getroffene Unterscheidung, es gebe eine Wahrheit des Glaubens und eine der Vernunft, die jede für sich Bestand hätten ohne dass eine über die andere entscheiden könne. Die Unterscheidung sollte Freiräume für die Operationen der weltlichen Vernunft schaffen, ohne mit Glaubensfragen zu kollidieren. 469,3 Heraklit […], der es […] für unzulässig hält nur »Zeus« zu sagen] Vgl. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, 22 B32, Bd. I, S. 159. 469,16-17 als »erschöpfende Alternativen« bezeichne] Emil L. Fackenheim bezieht sich auf den Abschnitt Religion und Philosophie, in Gottesfinsternis, S. 33-37, in diesem Band, S. 374-376. 469, Anm 2 Fackenheim 258.] Die Fußnoten in dieser abgekürzten Form beziehen sich auf Angaben innerhalb des Bandes Martin Buber. In diesem Fall lautet die volle Angabe: Emil L. Fackenheim, Martin Bubers Offenbarungsbegriff, in: Martin Buber, S. 242-264, hier S. 258. 470,4 noetische Bewegung] noetisch von Nous, griech für »Geist«, »Intellekt«, »Verstand«. 470,7 Fulgurationen] von lat. fulguratio, »Blitz«. 470,11-12 »Ich-Es findet […] philosophischen Erkenntnis«] Fackenheim, Martin Bubers Offenbarungsbegriff, S. 258 Anm. 44, führt dieses Zitat Bubers aus Gottesfinsternis, in diesem Band, S. 387, an. 472,1-5 Einer meiner Kritiker […] verwirklicht wird.«] Nathan Rotenstreich, Gründe und Grenzen von Martin Bubers dialogischem Denken, in: Martin Buber, S. 87-118, hier S. 95, mit Verweis auf Das Problem des Menschen, in diesem Band, S. 270. 472,28-29 »Urdistanz und Beziehung«] Martin Buber, Urdistanz und Beziehung, Studia Philosophica-Jahrbuch der Schweizerischen Philoso-
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phischen Gesellschaft, Separatum Bd. X, Basel: Verlag für Recht und Gesellschaft 1950, S. 7-19; Werke I, S. 411-423 (jetzt in: MBW 4). 473,12-14 Der Mensch […] abgerückt wird«.] Vgl. ebd., S. 9 (in: Werke I, S. 413). 473,24-31 ein andermal Reflexion […] auch ein Selbst«] Rotenstreich, Gründe und Grenzen von Martin Bubers dialogischem Denken, in: Martin Buber, S. 110 f. stellt die Frage: »Handelt es sich […] um eine Trennung im Raum? Oder geht es um eine Selbstverwirklichung des Ich durch sein Innewerden, das heißt, durch seine Reflexion darüber, daß es verschieden vom Du, von der Gesamtheit der Beziehung ist, das heißt, daß es wegen des in dieser Reflexion verwurzelten inneren Zentrums seiner Existenz ein Selbst ist?« 474,3 Behauptung eines Schwankens] Rotenstreich spricht hier »Bubers eigenes Schwanken […] zwischen dem Primat der Beziehung und dem Primat des Ich« an (ebd., S. 113). 475,10-14 Es wird gefolgert […] aufgehoben würde.] Ebd., S. 114 f. 475,Anm 11 Levinas 131] Emmanuel Levinas, Martin Buber und die Erkenntnistheorie, in: Martin Buber, S. 119-134, hier S. 131. 476,2-3 Ich habe die Verantwortung […] als fiktiv bezeichnet.] Rotenstreich, Gründe und Grenzen von Martin Bubers dialogischem Denken, in: Martin Buber, S. 116 stützt sich auf eine Ausführung in Die Frage an den Einzelnen, S. 20 (jetzt in: MBW 4): »es ist die Scheinverantwortung vor einer Vernunft, einer Idee, einer Natur, einer Institution, vor allerhand erlauchten Gespenstern, vor alledem, was wesentlich nicht Person ist und also nicht wirklich, wie Vater und Mutter, wie Fürst und Meister, wie Gatte und Freund, wie Gott, zur Verantwortung ziehen kann.« 477, Anm. 13 Fox 140.] Marvin Fox, Einige Probleme in Martin Bubers Moralphilosophie, in: Martin Buber, S. 135-152, hier S. 140. 478,2 das Los des »Bettlers«] Vgl. Der heilige Weg. Ein Wort an die Juden und an die Völker, Rütten & Loening: Frankfurt a. M. 1919, S. 69 f. (jetzt in: MBW 11), worin Buber gegen die jüdische Orthodoxie gerichtet seinen eigenen Standpunkt darlegt: »Freilich, ihr könnt von Gott aussagen: ›Dies und dies hat er befohlen, wir wissen Bescheid um alles, was er von uns begehrt‹; wir Ausschauenden, wir Bettler aber wissen von seinem Willen erst nur das Ewige, das Zeitliche müssen wir uns selbst befehlen, selbst sein wortloses Geheiß immer neu im Stoff der Wirklichkeit ausprägen.« 478,9-11 eine Rede über »Lehre und Tat« […] gehalten habe.] Vgl. »Die Lehre und die Tat«, die dritte Lehrhausrede vom 15. April 1934, veröffentlicht in Jüdische Rundschau 34, Nr. 40 vom 18. Mai 1934, die
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Buber 1936 in den Sammelband Die Stunde und die Erkenntnis, S. 61-73, aufnahm (jetzt in: MBW 8, S. 257-264). Das von Franz Rosenzweig 1920 gegründete Freie Jüdische Lehrhaus stellte gegen 1926/ 27 seinen Lehrbetrieb ein. Im November 1933 wurde es unter der Leitung Bubers als Jüdisches Lehrhaus wiedereröffnet. 478,24-25 »Religion und Ethik« […] meines Buches »Gottesfinsternis«] Vgl. im vorliegenden Band, S. 420-431. 478,26-28 »Nur aus der […] Koordination hervor.«] Ebd., S. 422. 478 Anm 16 Fox 143] Fox, Einige Probleme in Martin Bubers Moralphilosophie, S. 143 schreibt: »Verletzt er [Buber] seine eigene Lehre von der Absolutheit der sittlichen Forderung nicht dadurch, daß er den Einzelnen zum alleinigen, aber unsicheren Richter dessen macht, was er zu tun hat? Ersetzt er nicht den absoluten Wert durch das Private der individuellen Entscheidung?« 479, Anm 17 »Schuld und Schuldgefühle« (1958), S. 68.] »Schuld und Schuldgefühle« erschien zunächst im Merkur, 11. Jg., Heft 8, August 1957, S. 705-729 und in Buchform bei Lambert Schneider Heidelberg 1958 (jetzt in: MBW 10, S. 127-152, hier S. 152). 479,Anm 18 Diamond 209 ff.] Malcolm L. Diamond, Dialog und Theologie, in Martin Buber, S. 208-219, besonders S. 215: »Während eine rational verständliche Sprache der Ich-Es-Erfahrung angemessen ist, verzerrt sie völlig die tiefste Dimension der Wirklichkeit, nämlich jene, die sich in der Ich-Du-Begegnung enthüllt. Das Denken vermag diese Dimension nur dann genau widerzuspiegeln, wenn es erkennt, daß es im eigenen Bereich transzendiert wird. Daher muß es sich dazu bereitfinden, scheinbar unvereinbare Behauptungen in der Sprache des Paradoxons zu vereinbaren.« 479,19-20 »sich so nah wie möglich an die Bibelsprache halten«.] Diamond, Dialog und Theologie, S. 216. 479,24-25 Nietzsches »Zarathustra«] Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, erschien zunächst in vier Teilen von 1883 bis 1886. Zu Nietzsches Einfluss auf den jungen Buber, vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 190,14. 479,34-35 complexio oppositorum] Der von Carl Schmitt (1888-1985) in den Sprachgebrauch eingeführte Begriff meint ein »Sowohl-alsauch«, ein Verbinden oder Nebeneinanderstehen von Gegensätzen, im Unterschied zu einem sich ausschließenden »Entweder-oder«. 480,1-3 Warum, so wird gefragt […] ontologische Begriffe«] Vgl. Diamond, Dialog und Theologie, S. 219. 480,15 daß die Begegnung zwar »von Gnaden« geschieht] Vgl. Ich und
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Du, S. 18 (jetzt in: MBW 4): »Das Du begegnet mir von Gnaden – durch Suchen wird es nicht gefunden.« 480,32 einen »kosmistischen Optimismus« erblickt] Rotenstreich, Gründe und Grenzen von Martin Bubers dialogischem Denken, S. 107, schreibt »das Motiv des kosmischen Optimismus«. 480,Anm 20 Balthasar 330.] H. U. von Balthasar, Martin Buber und das Christentum, in: Martin Buber, S. 330-345, hier S. 330. 481,9 meinem Lehrer Wilhelm Dilthey] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 231,28. 481,29-30 in meinem Bergson-Aufsatz] Vgl. Martin Buber, Zu Bergsons Begriff der Intuition, jetzt im vorliegenden Band, S. 214-218. 481,32-33 »beschränkt wie alle unsere Wahrnehmung ist«] Paraphrase der Schlussworte von ebd., in diesem Band, S. 218. 482,Anm 26 »Die Schriften über das dialogische Prinzip«, 305.] Nachwort, in: Buber, Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg: Lambert Schneider 1954, S. 287-306, hier S. 305. 483,19-20 Zion, das als Beleg angeführt wird] Bubers Verständnis der Gemeinschaft Israel, die mit den üblichen soziologischen Kategorien nicht zu fassen sei, wird von Balthasar zu einer Entscheidung verabsolutiert, die »gegen den rein politischen Zionismus« und »für diese nicht relative, sondern absolute, irdisch nicht zu begründende, sondern im theologischen Sinn gottgestiftete, sakramentale Verbindung zwischen ›Israel und Palästina‹ ! […] Nicht möglicherweise auch Argentinien oder Uganda, aber aus Gründen des Gemütes womöglich doch lieber Palästina, sondern Zion und nichts als Zion. Hier ist das Ende des Relativismus, hier ist Felsgrund, hier ist – Dogma.« Balthasar, Martin Buber und das Christentum, S. 340. 483,Anm 27 Ernst Simon]: dt.-jüd. Pädagoge und Historiker; Schüler Bubers, 1923-28 Redaktor an der von Buber redigierten Zeitung Der Jude. 1928 Auswanderung nach Palästina. Simon unterstützte Buber in der jüdischen Erwachsenenbildung während des Nationalsozialismus und schildert Bubers Engagement in Aufbau im Untergang: Jüdische Erwachsenenbildung im nationalsozialistischen Deutschland als geistiger Wiederstand, Tübingen 1959. 483,Anm 27 Simon 502/503.] Ernst Simon, Martin Buber, der Erzieher, in: Martin Buber, S. 479-505, hier S. 502 f. führt ein sinngemäßes Zitat Rosenzweigs an: »Buber wird dem Du so gerecht wie niemand vor ihm, aber dem Es tut er unrecht.« 483,Anm 30 Marcel 38] Gabriel Marcel, Ich und Du bei Martin Buber, in: Martin Buber, S. 35-41, hier S. 38.
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484,21-22 Gabriel Marcel] franz. Philosoph, Dramatiker und Kritiker jüd. Herkunft. 1929 Konversion zum Katholizismus; gilt als einer der Hauptvertreter des religiösen Existenzialismus. 484,30 »Im Anfang war die Beziehung«] Vgl. Ich und Du, S. 25 u. 35: »Im Anfang ist die Beziehung«. 484,37 Holophrasen] Sätze, die nur aus einem Wort oder Zeichen bestehen. 485,33-35 in einer »arithmetischen oder geometrischen« Sprache] Marcel, Ich und Du bei Martin Buber, S. 39. 485,Anm 33 Wheelwright 84] Philip Wheelwright, Bubers philosophische Anthropologie, in: Martin Buber, S. 62-86, hier S. 84. 486,Anm 34 Fackenheim 259] Emil L. Fackenheim, Martin Bubers Offenbarungsbegriff, in: Martin Buber, S. 242-264, hier S. 259. 489,10-11 Bekenntnis Nietzsches] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 152,29. 490,14 »Zwiesprache«] Martin Buber, Zwiesprache, Berlin: Schocken 1932 (jetzt in: MBW 4). 490,14 »Die Frage an den Einzelnen«] Martin Buber, Die Frage an den Einzelnen, Berlin: Schocken 1936 (jetzt in: MBW 4). 490,32 »Elemente des Zwischenmenschlichen«] Martin Buber, Elemente des Zwischenmenschlichen, in: ders., Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg: Lambert Schneider 1954, S. 255-284 (jetzt in: MBW 4). 490,33-34 »Sphäre […] zwischen Menschen«] Fritz Kaufmann verweist auf Buber, Elemente des Zwischenmenschlichen, S. 261. 490,Anm 37 Friedman 172.] Maurice Friedman, Die Grundlagen von Martin Bubers Ethik, in: Martin Buber, S. 153-179, hier S. 172. 490,Anm 38 Fritz Kaufmann] (1891-1958): dt.-jüd. Philosoph, Schüler Husserls. Vgl. auch den einleitenden Kommentar. 490,Anm 38 Fritz Kaufmann 193.] Fritz Kaufmann, Martin Bubers Religionsphilosophie, in: Martin Buber, S. 180-207, hier S. 193. 491,12 »Gegensatz zu jüdischer Emuna«] Fritz Kaufmann, Martin Bubers Religionsphilosophie, S. 193: »doch wohl im Gegensatz zu jüdischer emuna, dem Stehen auf festem Grunde«. 491,13 Emuna] Hebr.: »Vertrauen«, »Glaube«. In Zwei Glaubensweisen fasst Buber diese Bezeichnung im Sinne des Vertrauens zu Gott und einer unmittelbaren Beziehung zu ihm als besondere Charakteristik jüdischer Glaubensweise auf, während die christliche pistis ein Glaube im Sinne des Fürwahrhaltens von Glaubensinhalten sei. 491,15-16 was Kaufmann […] begrenzten Erlebnisbegriffe«] Ebd., S. 193 f.
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491,Anm 39 Pfuetze 462.] Paul E. Pfuetze, Martin Buber und der amerikanische Pragmatismus, in: Martin Buber, S. 448-478, hier S. 462. 492,15-16 »dialektischen Theologie« […] Gott sei der ganz Andere] Die dialektische Theologie bezeichnet eine vornehmlich während der Zwischenkriegszeit bedeutsame Strömung der prot. Theologie, die maßgeblich von Karl Barth, Emil Brunner und Rudolf Bultmann (1884-1976) geprägt worden ist. Die Offenbarung Gottes wird von der dialektischen Theologie als die eines radikal Anderen verstanden, das der menschlichen Vernunft nicht kommensurabel sei. 492,23 zur Hiobsfrage an Gott.] D. i. zur Theodizeeproblematik. 492,33-34 in meiner Diskussion mit Jung] Vgl. im vorliegenden Band S. 442-444 sowie den Kommentar S. 719f. 492,Anm 43 Schneider 415.] Herbert W. Schneider, Die geschichtliche Bedeutung der Buberschen Philosophie, in: Martin Buber, S. 414419, hier S. 415. 492,Anm 44 »Gottesfinsternis« 15.] Die Angabe ist unzutreffend. Möglicherweise ist der Abschnitt V von »Die Liebe zu Gott und die Gottesidee«, in: Gottesfinsternis, in diesem Band, S. 394-396, gemeint. 493,11-12 ein »Er«, von Gott gesprochen […] sei keine.] Vgl. Buber, Ich und Du, S. 129 (jetzt in: MBW 4). 493,29 Echad, den »Einen«] Auf dem im Gebet besonders zu betonenden echad (hebr. für »eins«) endet der erste Satz des Schma Israel: »Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist eins« (Dtn 6,4). 493,34 mit der ganzen Seele] Vgl. Dtn 6,5. 493,Anm 45 Wahl 444.] Jean Wahl, Martin Buber und die Existenzphilosophie, in: Martin Buber, S. 430-447, hier S. 444. 494,1 »Unser Vater, unser König!«] Die wiederkehrende Formel aus dem gleichnamigen Beichtgebet zu den zehn Bußtagen, vgl. Scheuer (Übers.), Siddur Schma Kolenu, S. 67-70. 494,3-6 eine Darlegung, die ich einmal […] gegeben habe] Vgl. Buber, Geleitwort zur Gesamtausgabe, in: Die chassidischen Bücher, S. XXV (jetzt in: MBW 17, S. 138 f.). 494,9 Eschaton] griech.: »das Letzte«, »die Endzeit«. 494,12 »Gottes Genosse am Werk der Schöpfung«] Vgl. BerR III,9 (Ed. Albeck I, S. 24) bei Wünsche (Übers.), Der Midrasch Bereschit Rabba, S. 14. 494,34 einen Bund religiöser Sozialisten] 1926 wurde der »Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands« (später Bund der religiösen Sozialistinnen und Sozialisten Deutschlands) von überwiegend evangelischen Christen gegründet. Der Bund wurde 1933 verboten und 1946
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wiedergegründet. In ideeller Nähe, aber organisatorisch selbständig, existierte der Tillich-Kreis. 494,35 Paul Tillich] (1886-1965): dt.-prot. Theologe, Professor in Frankfurt. In der Weimarer Republik bedeutender Vertreter des religiösen Sozialismus in Deutschland, 1933 Emigration in die Vereinigten Staaten. 494,35 Carl Mennicke] (1887-1958): dt.-prot. Theologe und Sozialpädagoge, Angehöriger des Tillich-Kreises. 1920-1927 Herausgeber der Blätter für Religiösen Sozialismus. 1933 Emigration in die Niederlande. 494,Anm 48 Bergmann 272.] Hugo Bergmann, Martin Buber und die Mystik, in: Martin Buber, S. 265-274, hier S. 272. 495,6 »heiligen Jehudi«] Jaakob Jizchak Rabinowicz von Pžysha (bzw. Przysucha): chassidischer Zaddik; Schüler des Jaakob Jizchak, des »Sehers von Lublin«, von dessen Richtung des Chassidismus, die sich an den Alltagsnöten seiner Anhänger orientierte, er sich abwendete. Er begründete die Schule von Pžysha, die stärker geistig orientiert war. Der Konflikt zwischen den beiden Persönlichkeiten steht im Mittelpunkt von Bubers Werk, Gog und Magog. Eine Chronik, Heidelberg: Lambert Schneider 1949 (jetzt in: MBW 19). 495,9-10 Ruf zur Umkehr] Mehrfach zitiert Buber einen Ausspruch des »heiligen Juden«: »Kehret um«, […] »kehret schnell um, denn die Zeit ist kurz, keine Frist mehr verbleibt für neue Wanderung, die Erlösung ist nah!« Das hiesige Zitat stammt aus dem Geleitwort zu Der große Maggid und seine Nachfolge, Frankfurt a. M.: Rütten und Loening 1922, S. LXXXIX (jetzt in: MBW 17, S. 92). 495,11 »Gottesfinsternis«] Vgl. in diesem Band, S. 359-443. 495,13-14 Man hat das dahin mißverstanden] Wahl, Martin Buber und die Existenzphilosophie, S. 432: »Stehen wir hier vor einem fast gnostischen Kern, der Buber und Heidegger gemeinsam ist?« 495,17-20 »In unserem Zeitalter […] das Himmelslicht«] Vgl. Gottesfinsternis, in diesem Band, S. 441. 495,26-27 das Sich-Verbergen Gottes, […] genannt] Vgl. Ps 10,11, Jes 8,17. 495,Anm 50 Taubes 411.] Jakob Taubes, Martin Buber und die Geschichtsphilosophie, in: Martin Buber, S. 398-413, hier S. 411. Taubes Kritik an Gog und Magog, S. 409-413. Bereits im Nachwort zu Gog und Magog, S. 407 f. (jetzt in: MBW 19, S. 274 f.) geht Buber auf innerjüdische Kritik ein, die sich an seiner Darstellung einer Parallelität zwischen Jesus von Nazareth und messianischen Bestrebungen im Chassidismus rieb. Vgl. auch Ran HaCohen, Einleitung, MBW 19, S. 27 f.
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496,3-4 Hugo Bergmann ist mit meiner Ablehnung der Gnosis unzufrieden] Vgl. den einleitenden Kommentar zu »Zwischen Religion und Philosophie«, in diesem Band S. 779f. Sein Beitrag im Band Martin Buber, S. 265-274: »Martin Buber und die Mystik«. 496,14 führt Bergmann den Spruch Rudolf Steiners an] Vgl. Bergmann, Martin Buber und die Mystik, S. 273. 496,26 Simon Magus] (1. Jh. n. Chr.): der nach Apg 8,9-25 erste Gnostiker und Häretiker der Kirche. Das Zitat »großen Kraft Gottes« vgl. Apg 8,10. 496,33 Hartshorne] Charles Hartshorne (1897-2000): US-amerik. Philosoph. Beeinflusst von Alfred North Whiteheads Prozessphilosophie wurde er zum Mitbegründer der Prozesstheologie. Sein Beitrag zum Band Martin Buber, S. 42-61, lautet »Martin Bubers Metaphysik«. 496,33-35 Die Metaphysik, […] nicht anerkennen.] Hartshorne, ebd. S. 61: »Was ich Buber fragen möchte, ist einfach dies: Wie verkehrt klingt all das in seinen Ohren?« Auf Bubers Ablehnung seiner Interpretation berichtet Friedman, dass Hartshorne Buber nunmehr für senil hielt, vgl. Martin Buber’s Life and Work. Bd. 3: The Later Years, 1945-1965, S. 263. 497,1-2 »das göttliche Wesen« […] »Idee von seiner Individualität«] Charles Hartshorne, Martin Bubers Metaphysik, S. 55. 497,5-6 dem Satz, ich sei […] Metaphysiker] Ebd., S. 42. 497,30 Mein Aufzeigen der beiden Grundworte] Vgl. Ich und Du, S. 9 f. (jetzt in: MBW 4). 498,10 einem Gegner] Marvin Fox, vgl. den einleitenden Kommentar. Marvin Fox, war ein orthodoxer Rabbiner und Judaist, Professor für Philosophie an der Ohio State University und der Brandeis University. 499,9-10 »Ehre deinen Vater und deine Mutter«] Ex 20,12. 499,25-26 »in Übereinstimmung […] Gottes sei«] Fox stellt diese Frage in Bezug auf die nationalsozialistischen Täter. 499,Anm 60 Vgl. meine Schrift »Schuld und Schuldgefühle«.] Der Aufsatz erschien 1958 in Heidelberg bei Lambert Schneider (jetzt in: MBW 10, S. 127-152). 500,1-3 Ein bedeutender Dichter […] Ehrenamt anzunehmen.] Nicht ermittelt. 500,7 einen Satz meines Buches »Bilder von Gut und Böse«] Vgl. in diesem Band, S. 351. 500,19-20 meine Kritik […] im Schlußteil des Buches »Das Problem des Menschen«] Vgl. den Abschnitt »Ausblick«, in diesem Band, S. 306312.
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500,24-25 Ich habe einmal von dem Menschen gesprochen] Vgl. in diesem Band, S. 356 f. 501,Anm 65 »Hinweise«, 257 f.] In dem zu Landauers zehnten Todestag verfassten Aufsatz »Erinnerung an einen Tod«, in: Hinweise, S. 252258. Der Erstdruck erschien in Neue Wege, 23 (1929), Heft 4 (jetzt in: MBW 11). 502,27-29 Levinas] Emmanuel Levinas (1906-1995): jüd.-franz. Philosoph litauischer Herkunft. Von Husserl und Heidegger beeinflusst, später Hinwendung zu talmudischen Quellen. 503,1-2 »Äther«, wie Levinas meint] Vgl. Levinas, Martin Buber und die Erkenntnistheorie, S. 131 f.: »Man darf sich fragen, ob Nacktheit kleiden und Hunger stillen nicht der wahre konkrete Zugang zur Anderheit des Anderen ist – und zwar echter als die ätherische Luft der Freundschaft.« 504,3 Friedman] Maurice Friedman: US-amerik. Philosoph. Friedman war stark von Bubers Dialogphilosophie beeinflusst und übersetzte zahlreiche Schriften Bubers ins Englische. Er erarbeitete die erste Biographie zu Martin Buber. Vgl auch den einleitenden Kommentar. 505,35 Oscar Cullmann] (1902-1999): dt.-franz. prot. Neutestamentler; starkes Engagement im ökumenischen Dialog. 505,Anm 71 Muilenburg 366.] James Muilenburg, Buber als Bibel-Interpret, in: Martin Buber, S. 364-383, hier S. 366. 506,12-13 Abhandlung »Zur Verdeutschung der ›Preisungen‹«] Martin Buber und Franz Rosenzweig, in: Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin: Schocken Verlag 1936, S. 168-183 (jetzt in: MBW 14, S. 86-94). 506,14-21 »Chessed […] ›treue Gefolgschaft‹.«] Vgl. ebd., S. 174 (jetzt in: MBW 14, S. 89). 506,30 »Leitwortstil«] Das Leitwort als hermeneutische Methode hat Buber in seinem Aufsatz »Leitwortstil in der Erzählung des Pentateuchs« in Die Schrift und ihre Verdeutschung dargelegt, S. 211-238 (jetzt in: MBW 14, S. 95-110). Buber und Rosenzweig geben darin den Wort- oder Wortstammwiederholungen großes Gewicht. Der Erzähler eines biblischen Textes unterstreiche durch Wortwiederholungen weitreichende inhaltliche Aussagen. Vgl. auch Wort- und Sacherläuterungen zu 321,25. 507,3 in meiner Übersetzung] Vgl. Das Buch der Preisungen. (Die Schrift XIV), verdeutscht von Martin Buber, Berlin: Schocken Verlag 1935, S. 7: »sondern Lust hat an Seiner Weisung, über seiner Weisung murmelt tages und nachts.« (Ps 1,2.) 507,27 meine Auffassung des Tetragrammatons] Das Tetragrammaton: der vierbuchstabige Gottesname JHWH.
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507,28 »Keniterhypothese«] Die These, dass die Keniter, ein in der Bibel erwähntes Wüstenvolk, die ersten Anbeter des israelitischen Gottes gewesen seien und Moses von ihnen diese Gottheit übernommen habe. 507,30-31 »Königtum Gottes«] Buber, Königtum Gottes, Berlin: Schokken Verlag 1932, 5. Kapitel (jetzt in: MBW 15, S. 135-146) sowie besonders das Vorwort von 1936 zur 2. Auflage, S. XXIX-XXXI (jetzt in: MBW 15, S. 249-251). 507,31 »Moses«] Vgl. das Kapitel »Der brennende Dornbusch«, in: Martin Buber, Moses, Zürich: Georg Müller Verlag 1948, S. 56-87 (jetzt in: MBW 13). 507,33 wie Muilenburg annimmt] James Muilenburg (1896-1974): USamerik. Professor für das Alte Testament und Hebraist. In seinem Beitrag »Buber als Bibel-Interpret«, S. 378 schreibt Muilenberg, es sei Bubers Absicht, »den Dekalog aus seinem gegenwärtigen Zusammenhang oder von der Theophanie […] trennen« zu wollen. 508,12-13 »der Lügengriffel der Schreiber«] Das Buch Jirmejahu. (Die Schrift XI), verdeutscht von Martin Buber, Berlin: Lambert Schneider 1930, S. 51. 508,Anm 79 Glatzer 360/361.] Nahum N. Glatzer, Buber als Interpret der Bibel, in: Martin Buber, S. 346-363, hier S. 360 f. 509,21-22 Gott sei »für die Propheten« […] Gott«.] Jakob Taubes, Martin Buber und die Geschichtsphilosophie, S. 405. 509,23 Deuterojesaja] Anonymer Prophet des babylonischen Exils, dem die Kapitel Jes 40-55 zugeschrieben werden. Taubes weist in seinem Einwand, ebd., S. 406, darauf hin, dass Buber Deuterojesaja zwar als einen atypischen Propheten betrachte, aber dennoch stark mit ihm argumentiere. 509,27 Jesaja (8, 8, 17, 20)] Eine ausführlichere Besprechung dieses schwierigen Textes bei Buber, Der Glaube der Propheten, Zürich: Manesse Verlag 1950, im Kapitel »Die theopolitische Stunde«, S. 211213 (jetzt in: MBW 13). 510,2 Kyros] Cyrus bzw. Kyros II. (590/580-535 v. Chr.): persischer Herrscher, der den Juden die Rückkehr nach Juda und den Wiederaufbau des Tempels erlaubte. 510,4 meiner eigenen Unterscheidung nach] Vgl. Bubers Essay »Prophetie, Apokalyptik und die geschichtliche Stunde«, in: Merkur, 8. Jg., Heft 12, Dezember 1954, S. 1101-1114 (jetzt in: MBW 15, S. 380-393). 510,9 in den Liedern vom »Knecht«] Auch »Gottesknechtlieder« genannt: Jes 42,1-4(7); 49,1-6; 50,4-9; 52,13-53,12. 510,20-21 den Söhnen des Lichts und den Söhnen der Finsternis] Diese dualistische Ausdrucksweise findet sich in verschiedenen Texten der
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Qumrangemeinschaft wie der Gemeinderegel und der Kriegsregel. Letztere schildert einen endzeitlichen Kampf zwischen den »Söhnen des Lichts und den Söhnen der Dunkelheit«. 510,23 »das Licht bildet und die Finsternis schafft«] Jes 45,7. 510,26 Zur Darstellung des Chassidismus] Der Abschnitt wird hier nicht kommentiert, vgl. den einleitenden Kommentar, S. 801f. 521,12-13 Walter Kaufmann]: dt.-US-amerik. Philosoph, Übersetzer und Dichter. Er trat neben eigenen Schriften vor allem mit einer englischen Übersetzung des Werkes Nietzsches in Erscheinung und unterrichtete u. a. an der Universität von Princeton. Kaufmann kritisierte den liberalen Protestantismus als widersprüchlich und inkonsequent, während er demgegenüber die Ernsthaftigkeit des Buches Hiob und der Philosophie Bubers hervorhob. 521,28-522,13 »Sooft es in der Geschichte […] restlos zu ersetzen.«] Martin Buber, Religion und Gottesherrschaft, Frankfurter Zeitung vom 27. April 1923, Literaturblatt (jetzt in: MBW 9, S. 84-86). 521,Anm 95 Walter Kaufmann, 572.] Walter Kaufmann, Bubers religiöse Bedeutung, in: Martin Buber, S. 571-588, hier S. 572. 521, Anm 96 »Religion und Gottesherrschaft«] jetzt in: MBW 9, S. 84-86. 523,35-36 Mordechai Kaplan […] self-sufficient] oder Mordecai M. Kaplan (1881-1983): Der amerik. Rabbiner und Philosoph wuchs in einem orthodoxen Umfeld auf und übte später eine jahrzehntelange Lehrtätigkeit am konservativen Jewish Theological Seminary aus. Gründer des Reconstructionism, einer Strömung im amerikanischen Judentum, die das Judentum als »civilisation« betrachtet, zu der neben der historischen Religion auch die säkularen Aspekte gehören. Sein Beitrag im Band Martin Buber, S. 220-241 trägt den Titel: »Bubers Einschätzung des philosophischen Denkens und der religiösen Überlieferung«.
Gläubiger Humanismus Am 3. Juli 1963 – es wird sein letzter Aufenthalt in Europa sein – nimmt Buber im Alter von 85 Jahren und gesundheitlich bereits schwer beeinträchtigt »als Repräsentant einer der bedeutendsten Bereiche unserer europäischen Kultur« (Brief des Geschäftsführers der Stiftung Praemium Erasmianum Foundation an Buber vom 23. Januar 1963, in: B III, S. 562) die vielleicht größte Ehrung seines Lebenswerks entgegen: den angesehenen niederländischen Erasmus-Preis. »Er soll eine Auszeichnung für Personen […] sein, deren Arbeit man für besonders wertvoll in bezug auf
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den geistigen und kulturellen Wiederaufstieg Europas hält.« (Ebd., S. 563.) Die Stiftung Praemium Erasmianum ehrt Buber »für die Bedeutung Ihres Gedankengutes und Ihrer Arbeit für das geistige Leben und das Bewußtsein der Völker Europas und darüber hinaus vor allem im Hinblick auf die Verbreitung Ihrer Botschaft und die Erweckung von Verständnis für den Chassidismus in weiten Kreisen.« (Ebd., S. 564.) Anlässlich der Preisverleihung in Amsterdam hält Buber seine bekannte Rede »Gläubiger Humanismus«, die er in den Band Nachlese (1965) aufgenommen hat – eine von Buber im Winter 1964/65 zusammengestellte Sammlung kleinerer Texte, von Gedichten, Essays, Ansprachen, Erinnerungen sowie theologischen und philosophischen Reflexionen. 1967 erscheint »Gläubiger Humanismus« in einer englischsprachigen Ausgabe unter dem vielsagenden Titel »A Believing Humanism: My Testament. 1902-1965«. Translated and with an Introduction and Explanatory Comments by M. Friedman, New York 1967. Nach dem Abschluss seiner dreibändigen Werkausgabe, »eine[r] echte[n] Monumental-Ausgabe«, mit der er, wie er in einem Brief an Lambert Schneider (19001970) vom 1. Juli 1964 schreibt, »recht eigentlich ›das Korn in die Scheuer gebracht‹« hat (BIII, S. 618), ist Nachlese der letzte Band, dessen Druckfahnen er noch selbst korrigierte. Das Erscheinen des Buchs hat Buber allerdings nicht mehr erlebt. Textzeugen: D1: Mitteilungsblatt, Jg. 31, Heft 50, 13. Dezember 1963, S. 5 (MBB 1227). D2: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 113-120 (MBB 1270). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: »Believing Humanism«, in: Yearbook of the Leo Baeck Institute VIII, London 1963, S. 260-261 (MBB 1223); »Faithful Humanism«, in: Praemium Erasmianum MCMLXIII, hrsg. von P. Rijkens und G. Luizer, Amsterdam 1963, S. 56-57 (MBB 1227); A Believing Humanism – My Testament, 1902-1965, transl. by Maurice Friedman, New York: Simon and Schuster 1967. Französisch: »Humanisme croyant«, in: Praemium Erasmianum MCMLXIII, hrsg. von P. Rijkens und G. Luizer, Amsterdam 1963, (MBB 1227). Hebräisch: »Humanizme ma’amin«, in: Ijun, 14. Jg., Oktober 1963, S. 73-76; in: Olelot, Jerusalem: Mossad Bialik 1966 (MBB 1292).
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Niederländisch: »Gelovig Humanisme«, in: Praemium Erasmianum MCMLXIII, hrsg. von P. Rijkens und G. Luizer, Amsterdam 1963, (MBB 1227); in: Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw und Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Variantenapparat: 525,7 Grundanschauung] eigene Grundanschauung D2 526,22 Grundbegriff] gelebten Grundbegriff D2 Wort- und Sacherläuterungen: 525,3 Prinz Bernhard] (1911-2004). 525,6 Erasmus] Desiderius Erasmus von Rotterdam (ca. 1467-1536): bedeutender Humanist der Renaissance. Erasmus, dessen Gelehrtenleben Stationen u. a. in den Niederlanden, Frankreich, England und Italien durchlief, entfaltete eine außerordentliche publizistische Tätigkeit und setzte sich im Namen gegenseitiger Toleranz für eine Verständigung der im Zug der Reformation zunehmend zerstrittenen Religionsparteien ein, wobei er Luther immer skeptischer gegenüberstand. 527,31 Jacobi] Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819): dt. Philosoph und Schriftsteller. Jacobi, der unter dem Eindruck von Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781) Bekenntnis zur Philosophie des Spinoza dessen Schriften zu studieren begann, distanzierte sich schließlich von dem Unterfangen, das Unendliche im menschlichen endlichen Intellekt fassen zu wollen. Jacobi zufolge ist Gott nur als persönlicher erfahrbar, insofern er dem Menschen wirklich als ein Anderer gegenübersteht.
Fragmente über Offenbarung Martin Buber schrieb den Text »Fragmente über Offenbarung« zu Ehren des 90. Geburtstags seiner Freundin, der deutsch-jüdischen Journalistin, Essayistin, Dichterin und bedeutenden Vordenkerin der jüdischen Renaissance, Margarete Susman. Er wurde erstmals abgedruckt in: Für Margarete Susman: Auf gespaltenem Pfad, hrsg. von Martin Schlösser, Darmstadt 1964. Die undatierte Schrift umfasst drei knappe Texte: »Der Platz der Vernunft in der Offenbarung«, »Vom Wesen der Autorität in der Religion« und »Die exklusive Haltung der Religion«, die Buber, wie es im Untertitel heißt »in sehr verschiedenen Zeiten niedergeschrieben« hat. Die nur wenige Seiten starken »Fragmente« hatten für Buber offen-
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bar eine so große Bedeutung, dass er sie in sein letztes Buch, den postum veröffentlichten Band Nachlese (1965) aufgenommen hat. Dieses sein geistiges Vermächtnis entstand im Winter 1964/65 und versammelt, wie er in einem Brief an Lambert Schneider vom 23. Dezember 1964 schreibt, neben Prosastücken und Gedichten »die wichtigsten meiner ›kleineren und kleinsten Schriften‹ […] Bisher habe ich gemeinsam mit meiner Sekretärin annähernd 200 Texte zusammengebracht. Es ist einiges Unveröffentlichte darunter […]«. (B III, S. 629.) Textzeugen: D1: Für Margarete Susman – Auf gespaltenem Pfad, hrsg. v. Manfred Schlösser, Darmstadt, Erato-Press 1964, S. 78-83 (MBB 1256). D2: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 99-103. Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: »Fragments on Revelation«, in: A Believing Humanism. My Testament. 1902-1965, übers., eingel. und annotiert von Maurice Friedman, [Credo Perspectives], New York: Simon and Schuster 1967 (MBB 1293). Hebräisch: »Al ha-hitgalut«, in: Prozdor, 8. Jg., Nissan/Ijar 1964, S. 1-3 (MBB 1265). Niederländisch: »Fragmente over openbaring«, in: Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw und Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1227). Variantenapparat: 529,2-10 Zum neunzigsten Geburtstag […] Oktober 1962] fehlt D2 530,10 aufgeben] aufheben D2 532,Anm 1] fehlt D2 Wort- und Sacherläuterungen: 529,2 Margarete Susman] Vgl. den einleitenden Kommentar zu diesem Text.
Aus: Philosophical Interrogations In den 1950er Jahren befand sich Buber auf dem Höhepunkt seiner Weltgeltung als religiöser und philosophischer Denker. Ein äußeres Zeichen
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für die wachsende Bedeutung Bubers und die intensive Rezeption seines Lebenswerks in den USA mag seine Aufnahme in die seit 1939 von Paul Arthur Schilpp in den Vereinigten Staaten herausgegebene Library of Living Philosophers sein, die so einflussreiche Denker wie John Dewey (1859-1952), Bertrand Russell, A. N. Whitehead, G. E. Moore (18731958), Ernst Cassirer (1874-1945), Karl Jaspers (1883-1969) und Rudolf Carnap umfasste (vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 799). Im Sommer 1958, zur selben Zeit, in der Buber mit den »Antworten« und den »autobiografischen Fragmenten« für die Library beschäftigt war, hat er auch die Arbeit an seinen Beiträgen zu den Philosophical Interrogations aufgenommen. Der Buber gewidmete Abschnitt der Interrogations sollte ursprünglich in der von Paul Weiss (1901-2002) herausgegebenen akademischen Vierteljahresschrift für Philosophie Review of Metaphysics (1. Heft Sept. 1947) erscheinen. Das Konzept der Philosophical Interrogations bestand ähnlich dem der Library darin, dass einflussreiche Philosophen eingeladen wurden, unter ihnen auch Buber, sich im Rahmen von Interviews mit den kritischen Fragen ihrer Fachkollegen auseinanderzusetzen, indem sie die Möglichkeit erhielten, auf strittige Aspekte ihres Denkens in einer öffentlichen Stellungnahme zu antworten. 1957 übergab Weiss die Organisation und Leitung des Projekts an Sydney und Beatrice Rome, die den Religionsphilosophen und Übersetzer Maurice Friedman als Herausgeber der Gespräche mit Buber gewinnen konnten. Vorbehaltlich der Genehmigung Bubers erhielt Friedman als verantwortlicher Koordinator weitestgehende Freiheit hinsichtlich der Auswahl der Fragesteller, der Bearbeitung der Fragen und Antworten sowie der Art und Weise der Präsentation der Befragung. Er übernahm nicht nur die Übersetzung von Bubers in deutscher Sprache verfassten Responsen (im MBA haben sich deren Typoskriptfassungen erhalten, die im Folgenden abgedruckt werden), sondern er leitete die eingehenden Fragen an Buber weiter und unterstützte ihn bei der Erstellung einer »Review of Metaphysics list«, einer Aufstellung der einzuladenden Fragensteller – etwa die Hälfte der Fragesteller waren von ihm selbst vorgeschlagen worden (vgl. Friedman, Martin Buber’s Life and Work Bd. 3, S. 251). Die von Friedman redigierte Endfassung der »Buber-Section« besteht aus einer Zusammenstellung von Fragen, die von insgesamt 33 Denkern aus Europa, Israel und den Vereinigten Staaten an Buber gerichtet wurden – Absagen erhielt Friedman u. a. von Gershom Scholem, Karl Jaspers, Hans Kohn und Paul Tillich – und die die Themen Dialogphilosophie, Erkenntnistheorie, Pädagogik, Sozialund Religionsphilosophie, Bibel, biblisches Judentum und Theodizee umfassten, sowie den entsprechenden Antworten Bubers.
Aus: Philosophical Interrogations
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Am 11. Juli 1958 schreibt Buber Friedmann aus seinem Urlaubsort Soglio in der Schweiz, dass er begonnen habe, sich »jetzt auch [Notizen] für die Review of Metaphysics« zu machen. Etwas mehr als zwei Monate später, Bubers Frau Paula war am 11. August 1958 in Venedig gestorben, schreibt Buber wiederum an Friedman: »Arbeit ist die einzige Hilfe auf Erden in meiner gegenwärtigen Situation. / Ich habe für die Rev.[iew] of Met.[aphysics] die Antworten I A, D, E, F, und G geschrieben und habe Abschnitt III angefangen. […] Können Sie mir einen Rat geben hinsichtlich der Reihenfolge der Aufgaben: Was ist wichtiger, Review oder Living Philosophers? Ich schreibe […] die erste Serie und diktiere aus meinem Konzept die zweite (Responses). Was die Autobiographie angeht, so glaube ich, daß ich nicht im Stande bin, einen fortlaufenden Bericht zu geben, sondern nur eine Charakteristik der Hauptpunkte.« (B III, S. 465.) Nach langen Verzögerungen, die erheblichen Problemen mit der sich schwierig gestaltenden Übersetzung der Manuskripte Bubers geschuldet waren und in deren Folge er mehrfach angekündigt hatte, seine Beiträge zurückzuziehen und sie in deutscher Sprache zu veröffentlichen, erschien der Buber-Abschnitt schließlich erst im Jahr 1964. Zu einer Veröffentlichung in der Review kam es nicht mehr. Textzeugen: H: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 85); Konvolut loser paginierter Blätter, einseitig beschrieben, mit vielen Korrekturen versehen. Es handelt sich um die deutschsprachigen Entwürfe Bubers zu den Antworten auf die auf Englisch formulierten Fragen. Da es sich um erste Formulierungsversuche, zumal in anderer Sprache als der Veröffentlichung handelt, wird auf eine Berücksichtigung der einzelnen Korrekturen in Gestalt eines kritischen Apparats verzichtet. TS: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 85); Konvolut loser paginierter Blätter, einseitig beschrieben. Es handelt sich um die Abschrift von H, mit einigen Korrekturen versehen. Diese den englischsprachigen Antworten Bubers ensprechenden deutschen Vorlagen werden im Anschluss abgedruckt. D: in: Philosophical Interrogations: Interrogations of Martin Buber, John Wild, Jean Wahl, Brand Blanshard, Paul Weiss, Charles Hartshorne, Paul Tillich. Edited, with an Introduction by Sydney and Beatrice Rome, New York u. Evanston: Holt, Rinehart and Winston 1964, S. 33-117.
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Druckvorlage: D Abdruck der deutschsprachigen Passagen aus TS: [I. The Philosophy of Dialogue / A. Philosophy in General]
Wa l t e r K a u f m a n n Wie eigentlich das Verhältnis meines Denkens zur »traditionellen Philosophie« beschaffen ist, scheint mir mehr ein Thema für meine Kritiker als für mich zu sein. Aber ich glaube durch Beantwortung ihrer subquestions immerhin ein paar Hinweise geben zu können. 1. Eine stets erneute Analyse der Grundbegriffe erscheint auch mir als eine Hauptaufgabe des Denkens, weil sie die Voraussetzung für die notwendige stets erneute Konfrontation der Begriffe mit der Wirklichkeit ist. Begriffe, das grandiose Werkzeug der menschlichen Orientation, müssen immer wieder »geklärt« werden; nie steht ihnen eine Endgültigkeit zu, wiewohl jede der grossen Klärungen den Charakter der Endgültigkeit für sich beansprucht und offenbar beanspruchen muss. Aber in aller echter Philosphie ist die Analyse nur ein Durchgang, nicht mehr. Die von ihnen angeführten grossen Philosophen haben sie freilich für wichtiger gehalten als ich, wohl weil sie das Philosophieren für wichtiger hielten. Auch ich m u s s philosophieren, es gibt keinen anderen Weg zu meinem Ziel; aber mein Ziel ist nicht mehr philosophisch zu umgreifen. 2. Gewiss sind meine »central intentions« denen von Amos näher als denen von Aristoteles, weit näher; aber für Amos ist ja ein Begriff wie »Gerechtigkeit« gar nichts anderes als die worthafte Verdichtung eines Gebots, das in einer gegebenen Situation zu erfüllen ist, als Begriff geht er ihn nicht an; und wenn ich zu philosophieren habe, (und ich muss es ja, wie gesagt), habe ich von Aristoteles und nicht von Amos zu lernen. Anders steht es mit dem Unterschied zwischen Lao-tse und Hume. Laotse führt mich weit tiefer als Hume in die Problematik der Begrifflichkeit ein; er deckt mir, was jener nicht tut, die Abgründe unter den Begriffen auf; er hilft mir, was jener nicht will und nicht vermag, die unentbehrlichen Logisierungen der Wirklichkeit zu durchschauen. Wohlgemerkt, ich bin keineswegs ein »Anhänger« von Lao-tse, ich sehe die Wirklichkeit des Seins ganz anders als er, ja, es fällt mir zuweilen viel leichter, Hume »Recht zu geben« als ihm; aber seine Sprache und sein Schweigen sind mir auch heute noch Lehrmeister für den denkerischen Umgang mit dem Überbegrifflichen. 3. To bear witness of an experience ist in der Tat meine Grundabsicht [Anm: vgl. das I. Kapitel Philosophischer Rechenschaft (Living Philoso-
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phers)] und es geht mir zwar nicht primär um exhorting men, wohl aber darum, jene Erfahrung als eine allen in irgendeinem Masse, in irgendeiner Gestalt zugängliche zu erweisen. Aber darin fühle ich mich weder platonischen Dialogen fern noch auch dem Discours de la méthode. 4. Meine main concerns können ebenso leicht wie unter dem Gewicht allzu philosophischer, auch unter dem allzu historischer (religionsgeschichtlicher) und sogar allzu literarischer appreciations »begraben« werden. Es gibt viele Arten, der Schau und Praxis dialogischen Lebens durch theoretische Erörterungen des dialogischen Prinzips auszuweichen. Rollo May Ich kann zwar nicht besonders zufrieden sein, wenn man, statt darauf zu achten, was gerade ich zu sagen habe, mich mit der Etikette eines »Ismus« versieht und nun zu wissen meint, um was es hier geht. Aber wenn diejenigen Existentialisten heissen sollen, die die menschliche Existenz selber in den Mittelpunkt der denkerischen Betrachtung rücken, so mag man mich immerhin so nennen. Nur darf eins nicht unbeachtet bleiben: alles andere darf auch in reiner Spekulation behandelt werden, unsere eigene Existenz nicht. Der echte Existentialist muss selber »existieren«. Ein sich mit der Theorie Genüge tuender Existentialismus ist ein Widersinn, Existenz ist nicht ein philosophisches Thema unter all den andern; hier wird Zeugnis abgelegt. [B. Ontology]
Ku h n (1) Unter Gemeinschaft (community) verstehe ich einen Zusammenhang von Menschen, die lebensmässig mit einem ihnen gemeinsam Zugeteilten oder einem sich ihnen gemeinsam Zuteilenden so verbunden sind, dass sie eben daher miteinander lebensmässig verbunden werden. Die erste und die zweite Verbundenheit sind nicht als dauernd aktual gemeint, sondern als solcher Art, dass ihrem jeweiligen Übergang von einer vitalen Latenz zur Aktualität kein Wesenshindernis entgegensteht. Dies vorausgesetzt, scheint mir die gegenwärtige und darüber hinaus, darin sich bekundend, die als »geschichtlich« zu übersehende Beschaffenheit des Menschengeschlechts die idea of an all-embracing ontological community nicht zu autorisieren. Anders würde es sich verhalten, wenn die ontologische Konzeption einer idea sich unabhängig von der uns bekannten oder kennbaren Tat-
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Einzelkommentare
sächlichkeit vollziehen dürfte. Es gehört jedoch zu meinen wichtigsten Anliegen, dies zu bestreiten. Wohl aber hängt für mich diese idea in ihrem innersten Grunde mit dem uns gewährten Glauben zusammen, dass das Menschengeschlecht schöpfungsmässig darauf angelegt ist, eine Gemeinschaft zu werden, und dass der Verheissung gemäß die Erreichung dieses Schöpfungsziels eschatologisch wahr ist. (2) Begegnungen stehen – worauf ich wiederholt hingewiesen habe – unter der Freiheit und der Gnade, also nicht unter einem »unbeugsamen Gesetz«. Ein fixed order der Begegnungen ist jedenfalls weder in unseren Händen noch ihnen zugänglich. Wenn wir wahrhaft Du sagen, erfahren wir nicht »Ordnung« und »Gesetz«, sondern Befreiung und Begnadigung in einem, – soll unser Denken sich wirklich über dieses Erfahren hinwegsetzen? Was Liebe ist, ist mir wissbar; was ein »Gesetz der Liebe« ist, ist mir nicht wissbar, auch nicht imperfectly wissbar. Auch die biblischen Gebote von Gottes- und Menschenliebe sind nicht in Gesetzform entfaltet worden; die Erschliessung ihres Sinnes wurde dem jeweils liebenden Herzen allein überlassen. (3) Diese Frage rührt an die Grundlagen dessen, was ich zu sagen habe. Denn würde die »Dichotomie« durch eine »hierarchische« Mannigfaltigkeit ersetzt, so wäre eben die entscheidende Unterscheidung zwischen Ich-Du und Ich-Es auf eine sachte Weise aufgehoben. Gewiss gibt es einen Stufenbau von Ich-Es-Verhältnissen, wo Stufe um Stufe die Entfernung von der Ich-Du-Beziehung grösser wird, und dieser Stufenbau ist seinem Wesen nach in einem gewissen Masse übersehbar. Aber seine höchste Stufe ist vom Reich der Ich-Du-Beziehung unverkennbar abgehoben, da eben nun eine Objektivierung waltet, die dort keinen Raum hat. Ein Wesen zu dem ich wirklich Du sage, ist für mich in diesem Augenblick nicht mein Objekt, an dem ich dies und jenes beobachte oder das ich zu diesem oder jenem Gebrauch verwende, sondern mein Partner, der mir in eignem Recht und Dasein gegenübersteht und doch lebensmässig auf mich bezogen ist. Als seine rationally defined fixity werde ich dieses Wesen hinlänglich betrachten können, wenn ich es wieder als Es sehe. Wenn wir die Scheidung zwischen den zwei Haltungen nicht entschieden vollziehen, fördern wir, wenn auch noch so sehr gegen unseren Willen, die in unserer Zeit so stark gewordene Tendenz, das Seiende zu »handhaben«. Mit Recht beanstandet Kuhn, dass das Verhältnis der menschlichen Person zur Natur von mir nicht hinreichend behandelt worden ist. Es bleibt hier, wie auf noch manchem der Grenzgebiete zwischen den bei-
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den Haltungen, Grundwichtiges zu tun, das zu tun mir selbst nicht gewährt ist. Ich darf aber hoffen, dass es geschehen wird, ohne das Unabdingbare der Unterscheidung aufzugeben. Auch darin sieht Kuhn richtig, dass ich mich von Kant nicht völlig freigemacht habe. Dass ich es nicht vermocht habe, liegt wohl daran, dass (ganz unphysikalisch gesprochen) mir noch niemand hat erklären können, was z. B. die Härte an der Rinde des Lindenbaums unabhängig von meiner Wahrnehmung der Härte bedeutet. Ich bringe es einfach nicht fertig, den seienden Lindenbaum als die Summe meiner Wahrnehmungen von ihm zu verstehen. Auch die ansonsten so brauchbare Symbolik der Physiker ist unfähig, mir da zu helfen. Nun denn, die mir nur in der Bearbeitung durch meine Wahrnehmung bekannt werdende Linde, die ist, die mir bekannt gewordene und doch unbekannt gebliebene, sie als mir unbekannt gebliebene meine ich, wenn ich x sage. Heinemann (1) Das dialogische Prinzip ist ein ontologisches, da es ihm um ein Grundverhältnis zwischen dem Menschen und dem Sein zu tun ist, also um das Sein des Menschen, da dieses sich in seinem Verhältnis zum Sein gründet. Als ein existentiales ist dieses Prinzip nur insofern anzusehen, als es sich notwendigerweise im Existenzbereich der Person realisiert. Als Kategorie einer »Lebensphilosophie« hingegen ist es nicht zu verstehen; was dafür angeführt wird, gehört nicht zu ihm selbst, sondern lediglich zur Motivation seiner Darlegung. (2) Ich habe (wie in meinen Responses in dem mir gewidmeten Band der Library of Living Philosophers ausgeführt), um eine Grunderfahrung, die mir als eine Grunderfahrung des Menschen einsichtig wurde, seinem Denkgut einzufügen, den einzig dazu geeigneten Weg, den philosophischen begangen. Eine basis of a philosophy in dem von Heinemann gekennzeichneten Sinn zu geben, ist nicht meine Absicht gewesen und kann es nicht sein, wiewohl ich nicht ahne, was in anderen Händen daraus noch werden kann. »Dialogische Philosophie« nenne ich die meine nicht ohne eine gewisse Ironie, weil sie im Grunde nicht anders als dialogisch getrieben werden kann, die von ihr handelnden Schriften aber in die zu ihrem grössten Teil recht undialogisch beschaffene Menschenwelt dieser Stunde geworfen werden – und geworfen werden müssen. (3/4) »Philosophie der Existenz« scheint mir ein unpräziser und schwankender Begriff zu sein, und ich habe mich nie einer solchen zugezählt, wohl aber als zwischen einem existentialen Denken in Kierkegaards Sinn und etwas ganz anderem stehend gefühlt, welch letzteres noch unsichtbar ist.
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Einzelkommentare
Das dialogische Prinzip setzt zwar die Existenz voraus, aber nicht ein in sich beschlossenes Prinzip der Existenz. Es ist vielmehr, wie mir scheint, berufen, jedes selbstgenügsame Prinzip der Existenz in Frage zu stellen, indem es in ontologischer Unbedingtheit die wesenhafte Präsenz des Anderen als des Anderen statuiert. Ich begrüsse jede Existenzphilosophie, die das Tor öffnet, das zur Anderheit führt; ich kenne aber keine, die es weit genug öffnet. Levinas Ich habe das »Zwischen« niemals als »le concept de base et la strucutre ultime de l’être« bezeichnet, niemals es so verstanden; ich habe nur darauf hingewiesen, dass wir für eine vollständige Erfassung und Darstellung dessen, was zwischen zwei Menschen vorgeht, wenn sie miteinander im Dialog stehen, diese Kategorie nicht entbehren können. Mein Kritiker identifiziert zu Unrecht diesen Begriff des Zwischen, der dem Bereich der Ich-Du-Beziehung zugehört, mit dem wesensverschiedenen der »Urdistanz« (distance originelle), der die anthropologische Voraussetzung für die Entstehung der Zweiheit der »Grundworte« abgibt, von denen die Ich-Du-Beziehung das eine ist (vgl. mein »Urdistanz und Beziehung«): Ich-Es bedeutet das gelebte Beharren in der Urdistanz, Ich-Du die Bewegung von ihr zur Beziehung, die sich freilich jeweils nur als Überwindung der gegebenen Distanz zwischen zwei Wesen stiftet. Indem Levinas für die beiden Begriffe erstens eine Bedeutung annimmt, die sie im Zusammenhang meines Denkens nicht haben, und zweitens die ganz verschiedenen Sphären dieses Denkens angehörigen miteinander gleichsetzt, macht er mir eine direkte Beantwortung seiner Frage unmöglich. Ich muss mich damit begnügen, zu seinen Einwänden einige klärende Bemerkungen zu machen, soweit jenes grundlegende Missverständnis das zulässt. 1. Es trifft nicht zu, dass ich die Gegenseitigkeit der Beziehung »unaufhörlich behaupte« (affirme sans cesse). Ich habe von ihr vielmehr immer mit grossen Vorbehalten und Einschränkungen reden müssen, die ich kürzlich im Nachwort zu »Ich und Du« zusammengefasst habe. 2. Ich kann nicht zugeben, dass das Ich und das Du in der Beziehung sich einander »offrent comme objet«. Das Zum-Objekt-Werden ist es ja gerade, was das Ich-Du-Verhältnis in seinem Gegensatz zur Ich-Du-Beziehung am stärksten charakterisiert. 3. Ein noch so umfassendes Auf-einander-bezogen-sein zweier Wesen bedeutet in keinem Sinn ihre »Vereinigung«. Wenn ich eine »Korrelation« statuiere, ergibt sich daraus noch keineswegs, dass eine »Totalität«
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bestehe. Hermann Cohen hat in seinem Nachlasswerk von der zwischen Gott und Mensch bestehenden »Korrelation« gesprochen; welche Art von Totalität wäre damit gleichzusetzen?! 4. Die Gewichtigkeit des Hinweises auf die ipséité erkenne ich gern an. Zwischen dem Ich, das sich jeweils von dem andren Seienden abhebt, und dem Ich, das sich jeweils dem andern Seienden zuwendet, besteht unbestreitbar eine besondere Art von Kontinuität, die sich trotz aller Diskontinuitäten erhält, und die man als das Selbstbewusstsein zu bezeichnen pflegt. Ich sehe aber nicht, dass diese Tatsache die Annahme eines »isolierten« Ich rechtfertigte, das weder einem Du noch einem Es gegenübersteht noch auch im Übergang von dem einen zum andern Verhältnis zum Sein begriffen ist. Levinas weist der ipséité ihren Platz in dem »Glück« der menschlichen Person an, ein Ich zu sein. Mir will es scheinen, dass deren Selbst-Identifikation zugleich das tiefste Leiden involviert, dessen wir fähig sind. Die Polarität dieser Gefühle weist auf eine tiefe Zweiheit zurück, von der die Pronominalbegriffe, die ich meiner Philosophie zugrunde gelegt habe, vielleicht nur den uns fassbaren Vordergrund aufzeigen. 5. Die »Dissymetrie« ist nur eine der Möglichkeiten der Ich-Du-Beziehung, nicht ihre Regel, ebenso wie die Mutualität in all ihren Abstufungen nicht als Regel anzusehen ist. Im äussersten Ernst verstanden würde die Dissymetrie, die die Beziehung auf das Verhältnis zu einem Höheren beschränken will, sie völlig einseitig machen: die Liebe wäre entweder ihrem Wesen nach erwiderungslos oder jeder der beiden Liebenden müsste die Wirklichkeit des andern verfehlen. Auch als Grundlage der Ethik kann ich die »Dissymetrie« nicht anerkennen. Ich lebe »ethisch«, wenn ich mein Du in dem Recht seines Daseins und dem Ziel seines Werdens, in all deren Andernheit, bestätige und fördere. Es als mir durch seine Andernheit überlegen anzusehen und zu behandeln ist mir ethisch nicht geboten. Ich finde übrigens, dass unser Verhältnis zu den domestizierten Tieren, mit denen wir leben, das unterste Stockwerk des ethischen Baus einzunehmen geeignet ist und selbst das zu den Pflanzen unseres Gartens. Die Chassidim lassen es gar bei den Arbeitsgeräten beginnen. Und sollte es nicht etwa eine Ethik für das Verhältnis zu sich selbst geben? 6. Dass die Anerkennung des Anderen als meines Du nicht einem blossen Bewusstseinsakt entstammt, gehört zu denjenigen Elementen meines Denkens, deren Tatsächlichkeit ich weder beweisen kann noch auch beweisen zu können wünsche. Ich reiche den philosophischen Ausdruck einer Erfahrung denen hin, die diese Erfahrung als ihre eigene kennen oder sich ihr auszusetzen bereit sind. Mehr als das vermag ich
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Einzelkommentare
nicht; aber ich wage zu glauben, dass ich mit diesem Nicht meiner Aufgabe getreu bin. Blumenfeld Ich bin der Ansicht, dass ein aufmerksamer Leser meines Buches Eclipse of God die von Blumenfeld geforderte Begründung darin finden wird. [E. Philosophical Anthropology]
Blumenfeld 1. Ich glaube hinreichend deutlich gemacht zu haben, dass das, um was es mir geht, nicht in einem oberen Stockwerk der Menschheit anfängt. Ich habe eingehend gezeigt, wie beim Kleinkind, wie beim »Primitiven« die Ich-Du-Beziehung sich, gleichsam naturhaft, stiftet. Was den sogenannten Idioten betrifft, so habe ich mehrfach wahrgenommen, wie die Seele solch eines Menschen die Arme ausstreckt – und ins Leere stösst. Anderseits habe ich nicht gar selten Personen hoher Geistesstufen kennen gelernt, deren Wesensgrund es war, sich den anderen vorzuenthalten, auch wenn sie den und jenen sich nachkommen liessen. Nein, ich meine keine »Geisteselite«, und ja, ich meine den Menschen als Menschen. Hindernisse stellen sich überall in den Weg, von aussen und von innen; Herzenswille und Gnade in einem sind es, die uns reifen und wachen Menschen helfen sie zu überwinden und uns die Begegnung gewähren. Worauf kommt es an? Dass der Geist geisthaft die Entwürfe ausführe, die die Natur ihm vorlegt. 2. Die Antwort auf diese Frage habe ich im Postscriptum zur Neuausgabe von »Ich und Du« (Scribner) gegeben, soweit ich imstande bin sie zu formulieren. Dass man mit Gott »diskutieren« kann, ist aus dem Buche Hiob immer neu zu lernen; nur dass man, wenn man solches unternimmt, der einen niederwerfenden Antwort gewärtig sein muss, die Hiob empfängt, und die keine Gegenrede mehr zulässt. – Dass man mit Dingen, eben als solchen, nicht diskutieren kann, versteht sich wohl von selber, da wer nicht vernimmt nicht entgegnen kann. Immerhin sei hier, als Witz der Wirklichkeit, berichtet, was mir in meiner Jugend mehrfach widerfahren ist: ich wollte, einen Gegenstand fixierend, ihn gleichsam zwingen, sich drein zu finden, dass er »nur« meine Vorstellung sei; er aber widerlegte mich durch die stumme Gewalt seines Seins.
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[II. Theory of knowledge / A. In General]
Hocking (1) Hockings Fragen geben mir die willkommene Gelegenheit, einen wichtigen Punkt stärker zu verdeutlichen. Mit Recht unterscheidet er zwischen »arriving at realization« und »spreading realization«. Ich muss weit schärfer dazwischen unterscheiden, denn meiner Erfahrung nach kann zwar conceptual thinking in das erste der beiden hineinspielen, aber es ist dafür nicht wesentlich; für das zweite halte auch ich es für wesentlich. Die Erfahrung, von der ich ausgegangen bin und immer wieder ausgehe, ist einfach dies, dass man einem Anderen begegnet. Einem Andern, das heisst nicht z. B. einem »Hund«, einem »englischen Schäferhund«, einem so und so zu beschreibenden, sondern diesem bestimmten Tier, das einen Jungen einmal, als er an ihm vorbeilaufen wollte, in die Augen sah und er blieb stehen, sie blieben beide stehen, der Junge legte dem Hund die Hand auf den Kopf und rief ihn mit einem Namen an, den er eben erfunden oder gefunden hatte. Wenn er später daheim sich klarzumachen suchte, was an dem Tier Besonderes gewesen war, kam er schon nicht ohne concepts aus; erst recht hätte er ihrer bedurft, wenn er die Begebenheit seinem besten Freund erzählt hätte. Nun aber führt mich Hocking ganz anderswohin: auf die Höhe seines einstigen gedanklichen turmoil, und wie ich mir diesen vergegenwärtige, fühle ich mich als in einem echten Dialog stehend. Dass hier das Dialektische waltet, ist ja nicht anzuzweifeln. Aber da erhebt sich die Frage, was es denn gewesen sei, das die entscheidende Wendung hervorrief. War auch dies noch von dialektischer Art oder war es nicht vielmehr etwas, was als realer Vorgang den gedanklichen Zusammenhang durchbrach und dessen Folge erst die »Vision« war? War es nicht eine direkte dialogische Wirklichkeit, die die Wandlung brachte? Was mich selber betrifft: ich müsste jede analoge Frage nach meinem eigenen Weg mit Ja beantworten. Mit dem über die Vision hinaus führenden Wegstück hingegen verhält es sich meinem Wissen nach so, dass ich nunmehr, um das so Erfahrene in das von mir gedachte Sein an dem ihm zukommenden Platz einzufügen, und sodann, um es anderen, die nicht mit mir in einer gemeinsamen Erfahrung gestanden haben, mitzuteilen, auf die Begrifflichkeit, die Dialektik, die reason angewiesen bin. Verständigung mit mir selbst und mit anderen über die Wahrheit eines von mir Gedachten kann sich naturgemäss nur im Bereich der »Dialektik« vollziehen. Aber tut sich nicht gerade hier die tiefe und fruchtbare Problematik
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der Wahrheitsidee auf? Kann die Wahrheit anders zu ihrer Authentizität gelangen, als wenn sie aus dem Reich der Begriffe in das der Begegnungen tritt? Was die Dialektik »Wahrheit« nennen muss, ist nicht etwas, was man besitzt; es ist eine Vorbereitung und eine Übung. Le Fevre (1) Ich habe oft darauf hingewiesen, wie sehr ich die Wissenschaft, die sogenannte objective knowledge, schätze. Es gibt ohne sie keine Orientierung in der Welt der »Dinge« oder der »Erscheinungen«, also keinen orientierenden Zusammenhang in der Raumzeitsphäre, in der wir unser individuiertes Erdenleben zu verbringen haben. Ohne die grossartigen Kondensierungen, Reduktionen, Generalisierungen, Symbolisierungen, die sie herstellt, wäre die Übergabe einer »gegebenen« Ordnung von Generation zu Generation unmöglich. Auf ihr, auf ihrem jeweiligen »Stand« bauen sich die jeweiligen Weltbilder des Menschen auf. Mehr als das: die merkwürdige Grundwissenschaft der Mathematik hat einen – mir stets geheimnisvoll bleibenden – Bezug auf das Sein selber und von da her eine unvergleichlich kompakte Verlässlichkeit, die den Triumph des wissenerwerbenden Menschengeschlechts von Euklid bis Einstein begründet. Ich rühme die Wissenschaft, den erstaunlichen Bereich der Wissenschaften, in ihren stets sich erweiternden Grenzen, hinter denen die dämmernden Horizonte immer weiter zurückweichen. Wenn ich aber gefragt werde, welches ihr Beitrag für das Werk eines Menschen ist, der sein Amt im Dienste des Lebens treu ausübt, für das Werk eines wahren Therapeuten, für das Werk eines wahren Erziehers, dann stehe ich in einer ganz anderen Perspektive, vielmehr ich habe alle Perspektivik gegen den Herzpunkt des Lebens eingetauscht, und dann kann ich – um bei den gewählten Beispielen zu bleiben – die Wissenschaft nur noch als Hilfe ansehen, die Psychologie als eine Hilfe für den Therapeuten, die Pädagogik als Hilfe für den Erzieher, beide in den Händen des unberufenen Menschen vielfach trüglich und irreführend, beide in den Händen des berufenen nützlich und regelnd. Die moderne Psychologie ist ein besonders lehrreiches Beispiel. Ihr Betrieb ist bekanntlich in mehrere, einander zu einem guten Teil widersprechende »Schulen« und Methoden aufgeteilt. Keine Schule kann meines Erachtens etwa für ihre Art der Traumdenkung [sic] das Prädikat der Wahrheit beanspruchen, jede, wie mir ein interessantes Material zeigt, das Prädikat der Brauchbarkeit. Jeder echte Therapeut kann mit irgendeiner der ausgebildeten Methoden heilen, jeder Pseudotherapeut kann mit irgendeiner von ihnen zerstören. Das, worauf es ankommt und was von dem Sein und Werden der Person unablösbar ist, die rechte Beziehung zum Du, wird, wann immer sie nach
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den Ergebnissen der Forschung greift, in ihrem Werk gefördert werden. Die Wissenschaft steht immer bereit, dem Dienenden zu dienen; an ihm ist es, den richtigen, vorsichtigen, zurückhaltenden, wissenden Gebrauch von ihr zu machen. Jenseits davon, also ausserhalb der von einem verantwortlichen Menschen geübten Verantwortung mit all ihrem Ja und Nein haben für mich »normative« Generalizations, die im Namen der Wissenschaft vollzogen werden, keine reale Bedeutung. Médoncelle Nicht »gefährlich« ist für die Philosophie der Übergang vom Er zu Du, sondern unmöglich. Ich selbst fühle mich, wenn ich philosophiere, verpflichtet, die »invocation« zu vermeiden, aber berechtigt, auf ihre Bedeutung hinzuweisen. Wo l ff (3) Eben damit, mit einem Satz über die Beziehung zwischen Mensch und Welt, habe ich ja einst mein erstes Buch über das dialogische Prinzip, »Ich und Du«, begonnen, indem ich sie als »zwiefältig« charakterisierte. Nur möchte ich nicht gern »on the one hand« von ecstasy sprechen; dabei könnte zu leicht vergessen werden, dass es nicht um Ausnahmestunden, sondern um den Alltag geht (vgl. das Kapitel »Eine Bekehrung« in »Zwiesprache«). Charbonnier Meine Antworten an meine Kritiker in diesem Heft der R e v i e w o f M e t a p h y s i c und meine ausführlichen Antworten an sie in dem mir gewidmeten Band der L i b r a r y o f L i v i n g P h i l o s o p h e r s scheinen mir den Verdacht eines Anspruchs auf einen der »päpstlichen Stühle« zu entkräften. Innere Widersprüche sind hier nicht weniger möglich als in einer sokratischen Philosophie, und wer mir ernstlich einen solchen Widerspruch nachzuweisen versucht, auf den gehe ich ernstlich ein. Keineswegs also verwerfe ich consistency. Wo ich aber genötigt bin, auf »Paradoxe« hinzuweisen, da sind keine jenseits der möglichen Erfahrung gemeint; vielmehr stiftet sich je und je ein stilles Einvernehmen zwischen mir und denjenigen meiner Leser, die ohne Vorbehalt die Erfahrungen, die ich meine, selber zu machen bereit sind. Po t e a t (1) Ich glaube, diese Fragen schon hinreichend beantwortet zu haben. Ich weise, meine ich, auf noch nicht hinreichend »Gesehenes« hin, und
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zwar, wie mir scheint, durch die hierfür erforderliche Art von »argument«. (2) »With the whole being« lässt sich am einfachsten so umschreiben: indem ich in dem Akt oder Vorgang, um den es sich handelt, alle verfügbaren Kräfte meiner Seele ohne Widerstreit, auch ohne latenten, aber spürbaren Widerstreit, einsetze. Ein überwundener Widerstreit kann einen der entschlossenen Selbstwahrnehmung zugänglichen Zustand erzeugen, der zwar nicht mehr einem Schwanken, wohl aber – wenn man das Bild gebrauchen darf – einem Vibrieren der Seelenränder zu vergleichen ist. Noch ist die »Ganzheit« nicht da; aber es kann sich nun gleichsam eine Wandlung des Aggregatzustands vollziehen, die sie zur Folge hat. Wohlgemerkt, der Widerstand muss durchaus nicht in der gegebenen Situation vorausgehn; es gibt Seelen, die analoge Widerstände längst überwunden haben und nun bereits befähigt sind, als ein Ganzes der sie antretenden Situationen zu begegnen; ja, es gibt Seelen, von denen wir nicht wissen dass der Kampf in ihnen je durchgekämpft worden wäre, und deren Ganzheit dennoch alsbald in der unvorhersehbar gewesenen Situation sonnenhaft zu leuchten beginnt. Agus (2) Da ich von keinen metaphysischen Wesenheiten, weder von »Ideen« noch von der »Substanz« noch auch von der »Weltvernunft« zu philosophieren befugt bin, sondern mich denkerisch einzig mit dem Menschen und seinen Beziehungen zu allem befasse, so ist mir die reason als Gegenstand meines Denkens nur insoweit wichtig, als sie dem Menschen als Eigenschaft oder Funktion innewohnt. Solcherweise also, vom Gesichtspunkt der philosophischen Anthropologie aus betrachtet, scheint mir die reason in verschiedenen Zeiten und Umständen verschiedene Haltung einzunehmen. Entweder erkennt sie sich als dem Gesamtwesen der menschlichen Person teilhaft zugehörig, betätigt sich in vollem Zusammenwirken mit deren anderen Eigenschaften und Funktionen und kann in ebendem Sinn an dem Umgang dieser Person mit anderen Personen einen bedeutenden, ja einen massgebenden Anteil nehmen. Oder aber sie fordert für sich die unbedingte Suprematie, der sich alle anderen Fakultäten des Menschen unterzuordnen haben. Stellt sie solchen Anspruch, so erscheint sie mir vermessen und bedenklich. Um das nächstliegende Beispiel zu wählen: das »Korrekturen«-Amt der Vernunft ist unanfechtbar, und sie kann in irgendeinem Augenblick berufen sein, einen »Irrtum« meiner Sinneswahrnehmung – genauer: deren Unvereinbarkeit mit der meinen Mitmenschen gemeinsamen – richtigzustellen; aber sie kann mit ihrer gigantischen Struktur von Allgemeinbegriffen nicht die kleinste Wahrnehmung von et-
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was Einmaligem und Einzigem ersetzen, kann nicht mit ihr in der Erfassung des mir jetzt und hier Gegenübertretenden wetteifern. Bertocci (2) Wie ich wiederholt zum Ausdruck gebracht habe, kenne ich kein Kriterium für das »objektive Vorhandensein« des mir in der Ich-Du-Beziehung Gegenwärtigen, ja keines ist mir denkbar. Ich habe es nie verschwiegen, dass wer gesichert zu leben wünscht besser daran tut, dem Weg, auf den ich hinzeige, fernzubleiben. Soweit ich eine Philosophie habe, behandelt sie den Menschen als ein Wesen, dem aufgegeben ist, das ihm Gegenüberstehende zu vergegenwärtigen und garantielos zu existieren. (3) In der wahren Ich-Du-Beziehung gibt es keine Erkenntnis objektiver Sachverhalte, also auch keine, die im Stande des Ich-Es-Verhältnisses mit irgendwelchen von diesem gelieferten Daten kritisch zu vergleichen und als »Irrtum« zu berichtigen wären. Das ist in dem Satze impliziert, die Welt sei dem Menschen zwiefältig. Wohl aber bearbeiten wir im IchEs-Verhältnis manches, was wir in der Ich-Du-Beziehung empfangen haben und was, mannigfaltig gebrochen, in unserem Gedächtnis fortbesteht; hier sind »Irrtümer« möglich, weil man in diesem Stande eine, wenn auch begrenzte Möglichkeit hat, »objektiv« festzustellen und zu vergleichen, was in dem mind des Anderen vorgegangen ist und vorgeht. Der Begriff der knowledge of the divine mind ist für mich übrigens der reine Widersinn. Gott gibt uns Zeichen für die Grundlegung unserer Beziehung zu ihm, aber er macht sich doch nicht zum Gegenstand unserer Betrachtung. In der Sprache der Propheten Israels bedeutet »Erkenntnis Gottes« zu Recht den Umgang mit ihm. (4) Ein epistemological monism ist meinem Denken völlig fremd; von je habe ich die Versuche zu einem solchen in unserer Zeit bekämpft. Eine knowledge im Sinne eines objektiv Gegebenen und demgemäss Besprechbaren, die »infallible« wäre, ist für mich in der Menschenwelt ein non-ens. Im übrigen habe ich den Eindruck gewonnen, dass Professor Bertocci nur wenig von meinen Arbeiten gelesen hat; das meiste von dem, was ich nach »Ich und Du« auf diesem Gebiet geschrieben habe, scheint mir gerade einen expository-explanatory Charakter zu besitzen. Blumenfeld (5) Ich halte es hier nicht für meine Aufgabe, Fragen, die in dieser Form gestellt sind, zu beantworten. Man wird aber in den in diesem Heft gegebenen Anworten eine unmissverständliche Darlegung finden, was ich in dieser Hinsicht meine und was nicht.
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Friedman (1) Gewiss gibt es verschiedene Stufen des Ich-Es-Standes, je nachdem wie sehr sich dieser der Ich-Du-Beziehung entfremdet und die Rückhinweisung (pointing back) auf sie aufgibt. Aber ich neige nicht dazu, diese Stufen durch zwei voneinander artverschiedene Typen zu ersetzen. Einerseits gibt es keine so ätherhafte Abstraktion, dass ein gross-lebendiger Mensch sie nicht mit ihrem geheimen Urnamen beschwören und auf die Erde der leibhaften Begegnungen herabziehen könnte. Anderseits aber hat gerade in unserer Zeit die krasse Beziehungslosigkeit einen folgerichtig »leeren« Ausdruck im Roman und im Drama zu finden begonnen. Es dürfte schwerer sein, ihr die echte Macht menschlicher Beziehung entgegenzustellen als der behavioristischen Fehlbeschreibung. (2) Da es eine »Welt«, in der wir uns zurechtfinden und deren zusammenhängende Kenntnis wir von Geschlecht zu Geschlecht übermitteln, nur auf dem Boden des Ich-Es-Verhältnisses geben kann, darf ich dessen logische Grundlagen nicht für secondary derivations halten. Diese das menschliche Denken tragenden Grundlagen sind weder von dem einen noch von dem anderen der zwei »Grundworte«, d. h. der zwei menschlichen Weltaspekte, die ich unterscheide, abzuleiten. Eine über die Zweiheit dieser Aspekte hinausführende metaphysische These zu formulieren steht nicht in meiner Befugnis. Wie aber beide Aspekte je und je im menschlichen Bau und Umbau einer dem menschlichen Denken zugänglichen »Welt« zusammengewirkt haben und zusammenwirken, darauf habe ich mit der Kategorie des »Wir« (in What is common to all) hinzudeuten versucht. Pfuetze (3) Ich müsste meiner Grunderfahrung, die eine Glaubenerfahrung ist, untreu werden, wenn ich versuchen wollte, solche »objektiveren« Kriterien aufzustellen. Ich meine in der Tat, wenn es auf Kriterien ankommt, eine »Unsicherheit«, aber ich meine – ich sage es noch einmal – eine heilige Unsicherheit. [III. Education]
Assagioli Diese Frage ist besonders wichtig, aber in dieser allgemeinen Form kaum zulänglich zu beantworten. Ich kenne keine allgemein verwendbare Methode, die bloss dargelegt zu werden brauchte, um eine Wandlung zu bewirken. Ich glaube nicht, dass es hier ein als Prinzip formulierbares Wie gibt. Nur der persönliche Einsatz erzieherischer Menschen kann hel-
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fen, die selber das Heilige kennen und die wissen, wie in dieser unserer Zeit sehr verschiedenartige Personen das gleiche uneingestandene, ja gegebenenfalls aufs heftigste bestrittene Leiden an der Unheiligkeit ihres Lebens leiden. Ich sage: der persönliche Einsatz, also nicht eine bereitstehende, vorfindbare Lehre, die nur an die solcherweise Leidenden herangebracht zu werden braucht, damit sie lernen, dass es Heiliges gibt und was das Heilige ist, ferner dass es eben dies ist, was der Leidende vermisst, und zuletzt was er zu tun hat, um es zu gewinnen. Nein; was helfen kann, ist das schlichte eigene persönliche Leben des Erziehers, ein Leben, in dem der Alltag und seine Handlungen geheiligt werden, und das so gelebt wird, dass der an der Unheiligkeit Leidende daran teilnehmen kann und am Ende auch will. Ich habe niemand gekannt, den ich einen Heiligen nennen möchte, aber manchen, dessen alltägliche Verrichtungen, ohne als heilige Handlungen gemeint zu sein, eben als solche wirken. Aber was heisst hier heilig? Nun, ganz einfach dies, dass der Mitlebende gegen seinen Willen, gegen seine »Weltanschauung« spürt: das ist wurzelecht, das ist nicht auf einem fremden Stamm gepfropft, und die Wurzeln reichen in eben jenen Bereich, an dessen Unzugänglichkeit ich in den überluziden Mitternachtstunden leide. Und erst ungewollt, dann auch gewollt wird der Mitlebende selber in den Zusammenhang mit jenem Bereich gezogen. Es geht ja um »Heiligung«, es geht also um das menschlich Heilige; und was meiner Einsicht nach darunter zu verstehen ist, lässt keine Definition und keine lehrbare Methode zu; man lernt es kennen, indem man, etwas unwillkürlich anders tuend als man es zu tun gewohnt war, erst nur »wirklicher«, d. h. indem man »selber mehr dabei ist«, dann intentionaler, sinnreicher, endlich sich dem Bereich öffnend, aus dem uns der Sinn unseres Daseins kommt. Die Krise, die über die Menschenwelt gekommen ist, hat ihren Ursprung in der Entheiligung des Daseins. Es sieht zuweilen so aus, als ob die Krise das unheimliche Tempo der »Weltgeschichte« annehmen wollte. Wäre nicht dann daran zu verzweifeln, dass die Erziehung sie einholen, ihr gar zuvorkommen könnte? Die wahre Erziehung ist nie vergeblich, auch wenn die Stunde es so erscheinen lässt. Erwiese es sich vor oder in oder nach der drohenden Katastrophe, – das Schicksal des Menschen wird davon abhängen, ob die Wiederheiligung des Daseins gerät. Heydorn (1) Ich spreche nachdrücklich von der ersten Aufgabe des Erziehers, weil die Wachheit des Schmerzes und des Verlangens die unerlässliche Voraussetzung ist. Aber ich sage ja immer wieder, dass man nur durch eine echte Beziehung zum Wirklichen, durch echtes Du-sagen eine echte
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Person werden kann. Die Bereitschaft und Aufgeschlossenheit zu dieser Beziehung im jungen Menschen zu fördern, zu stärken, zu ermutigen ist von jener »ersten« Aufgabe zeitlich nicht zu trennen; hier muss je und je das Individuelle und Situationsmässige entscheiden, was in dieser und jener Stunde das Gebotene ist. Gewiss fühlt sich der junge Mensch heute weithin als Objekt der Wirklichkeit; aber wie kann man ihm helfen, diesen Bann zu brechen? Doch nur dadurch, dass man ihn – selbstverständlich unpathetisch, unromantisch, unsentimental – anleitet, mit der ihm zugänglichen Wirklichkeit in einen echteren Kontakt zu kommen. Aber, so wird gesagt, ihm fehlt der Mut. Wie erzieht man zum Mut? Durch Pflege des Vertrauens. Wie pflegt man das Vertrauen? Durch eigene Vertrauenswürdigkeit. Hutchins 1. Mit Recht sieht Hutchins eine schwere Gefahr in einer »allzu buchstäblichen« Interpretation meiner Absicht, dass es die entscheidende pädagogische Aufgabe ist, Menschen dazu zu erziehen, dass sie, wenn sie erwachsen sind, der dann an sie herantretenden geschichtlichen Situation gewachsen seien. Jede allzu buchstäbliche Interpretation einer Wahrheit ist gefährlich; es kommt darauf an, das Wahre nicht formelhaft festzulegen, sondern in seiner lebendigen Dynamik zu erhalten. Dass die erzieherische Aufgabe darin bestehe, den Lernenden (the student) an seine Umgebung anzupassen, halte auch ich für einen verhängnisvollen Irrtum. An die wechselnden Situationen haben wir uns nicht anzupassen, sondern wir haben uns ihnen zu stellen und sie zu bewältigen. Selbstverständlich können wir die Situation nicht vorhersehen, vor der unsere Schüler einst stehen werden, und wir können diese daher auch nicht auf sie vorbereiten, aber wir können und sollen unsere Schüler lehren, was eine Situation für den reifen und mutigen Menschen bedeutet, mit anderen Worten: wir können und sollen sie das rechte Verhältnis zwischen Idee und Situation lehren, nämlich dass die Idee ihre jeweilige Wirklichkeit von den Situationen empfängt, in denen sie sich zu bewähren hat. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen der Situation, in die sie geraten sind, weniger als in irgendeiner früheren ins Auge zu blicken wagen. Daher die erschreckende Führungslosigkeit in unseren Tagen. Die Väter haben der heute herrschenden Generation Prinzipien beigebracht, aber nicht die Fähigkeit der Seele, die prinzipientreue Praxis von den Situationen bestimmen zu lassen. Das muss anders werden, wenn die kommenden Generationen sich zutrauen sollen, die Rettung des Menschengeschlechts zu unternehmen.
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Es muss anders werden, das heisst: die Erziehung muss anders werden, und das wieder heisst vor allem: die Erzieher müssen anders werden. Wir müssen mit der Erziehung der Erzieher beginnen. Genauer: die leitenden Menschen der Lehrerseminare müssen aufs sorgfältigste ausgewählt werden, es müssen Menschen sein, die den Zusammenhang von Idee und Situation gedanklich und praktisch kennen, und aus ihrer Gemeinschaft muss einer der höchsten Stände des Landes gebildet werden. 2. Dass es sich hier nicht um eine full partnership handeln kann, habe ich schon in meiner »Rede über das Erzieherische« (1925) und kürzlich wieder in der Nachschrift zu »Ich und Du« dargelegt und genau begründet. Ich habe gezeigt, dass und warum eine umfassende Gegenseitigkeit zwischen Erzieher und Zögling weder bestehen soll noch bestehen kann. Der gute Lehrer kennt die Seele seines Schülers; der Schüler würde aufhören Schüler zu sein, wenn er die Seele seines Lehrers kennte. Der Lehrer steht in der Pflicht, die Person des Schülers in ihren höchsten Möglichkeiten zu intendieren und, soweit es an ihm ist, zu entfalten; es wäre absurd, sich von der Seite des Schülers etwas Analoges vorzustellen. Und wohl ist das erwünschte Erziehungsverhältnis von beiden Seiten auf Vertrauen gegründet; aber das Vertrauen ist auf beiden Seiten grundverschieden: der Schüler hat zum rechten Lehrer das Vertrauen, dass er wirklich ist was er ist, der Lehrer hat zum rechten Schüler das Vertrauen, dass er wirklich werden will was er werden soll. Auch wäre es, wie Hutchins mit Recht sagt, gegen allen pädagogischen Sinn, wenn der Lehrer sich so benähme, als wäre er dem Schüler an Erfahrung nicht weitaus überlegen. Aber aus alledem ist keineswegs zu entnehmen, dass zwischen dem Erzieher und seinem Zögling kein realer Dialog möglich wäre. Hutchins’ Anerkennung der Tatsache »that the pupil and the teacher are full partners in the search of truth« genügt mir nicht. Wie sehr auch der Lehrer dem Schüler an Erfahrung überlegen ist, es gibt dennoch etwas, was jener von diesem erfahren kann: es sind die persönlichen Erfahrungen, die der Schüler gemacht hat und die er direkt oder indirekt mitteilt. Jeder Schüler, gescheit oder naiv, tapfer oder zaghaft, hat allerhand kleine und grosse individuelle Erfahrungen gemacht und weiss sie den Menschen, zu denen er Vertrauen hat, zu berichten, – beredt oder stammelnd, gleichviel. Jeder Lehrer, der Ohren und ein Herz hat, wird solche unersetzliche, weil eben im Individuellen gegründete Berichte willig aufnehmen und in seine vielfältige Welt- und Lebenserfahrung einbauen; er wird aber auch dem Schüler helfen, von der jeweils gemachten Einzelerfahrung zuversichtlich in ein organisches Wissen um Welt und Leben vorzuschreiten. Solch einen Umgang nenne ich immerhin, obgleich er nicht full sein kann, einen dialogischen.
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Ich schätze den erzieherischen Wert des Lesens »grosser« Bücher durch heranwachsende Menschen hoch ein; mir selbst hat es einst viel gegeben. Aber den Dialog kann es nicht ersetzen, denn das höchste Werk des Geistes vermag, so hoch es auch seinen Leser emporhebt, ihm das nicht zu geben, was in der schlichten menschlichen Begegnung zwischen Lehrer und Schüler je und je gegeben werden kann: die helfende Unmittelbarkeit. Sie erzieht den Schüler, weil er hier als der gemeint ist, der zu werden er erschaffen ist. 3. Ich weiss von sehr wenigen Menschen in der Geschichte, zu denen ich in seiner solchen Beziehung von Vertrautheit und Ehrfurcht zugleich stehe wie zu Sokrates. Wenn es sich aber um die »sokratischen Fragen« als erzieherische Methode handelt, stehe ich gegen sie. Ich stimme zwar – mit einigen Einschränkungen – der Äusserung von Konfuzius zu, man müsse, um menschliche Realitäten klären zu können, Begriffe und Bezeichnungen klären; aber ich bin der Meinung, dass solch eine Klärung mit einer Kritik an der Funktion der Begriffe und Bezeichnungen verbunden sein soll. Konfuzius hat die Bedeutung der Bezeichnungen im Vergleich mit den Eigennamen, Sokrates hat im Vergleich mit den konkreten Einzelerfahrungen die Bedeutung der Allgemeinbegriffe für das Leben der Menschen überschätzt. Allgemeinbegriffe sind die wichtigsten Stöcke und Stützen; aber Sokrates behandelt sie, wie wenn sie wichtiger als Beine wären – das sind sie nicht. Stärker jedoch als dieses grundsätzliche ist mein Bedenken gegen eine pädagogische Verwendung der sokratischen Methode. Sokrates führt seinen Dialog durch, indem er Fragen stellt und die empfangene Beantwortung als unhaltbar erweist; es sind keine wirklichen Fragen, es sind Züge in einem sublimen dialektischen Spiel, das einen Zweck hat, den Zweck, ein Nichtwissen zu offenbaren. Wenn aber der Lehrer, den ich meine (von seinen pflichtgemässen examinatorischen Fragestellungen sehe ich ab) in einen Dialog mit seinem Schüler eintritt und in diesem Zusammenhang an ihn Fragen richtet, so fragt er, wie der schlichte, nicht dialektisch disponierte Mensch fragt: weil er etwas erfahren will, das nämlich, was dieser Junge da von ihm, und gerade er, von dem Gegenstand des Gesprächs zu berichten weiss: eine kleine individuelle Erfahrung, eine vielleicht kaum begrifflich erfassbare Erfahrungsnuance, nichts weiter, und das ist genug. Bedürfnis nach Mitteilung von Eigenem und Fähigkeit dazu will der Lehrer im Schüler erwecken, und auf diesem Weg ihn zu grösserer Klarheit der Existenz bringen. Aber er lernt auch selber, indem er so lehrt; er lernt, immer neu, das in Erfahrungen sich vollziehende Werden der menschlichen Kreatur konkret kennen, er lernt, was kein Mensch je zu Ende lernt, das Besondere, das Individuelle, das Einmalige. Nein, gewiss keine full partnership;
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aber doch eine eigentümliche Art von Gegenseitigkeit, doch ein wirklicher Dialog. Nun werden Sie aber einwenden, dear Dr. Hutchins, es gebe zu wenig gute Lehrer, und Sie werden recht haben: es gibt ihrer viel zu wenig. Was ist daraus zu folgern? Doch wohl dies, dass es unsere vordringlichste Aufgabe ist, Erzieher zu erziehen, nicht wahr? [V. Philosophy of Religion / A. General]
Thieberger (2) Dass man sich mit leidenschaftlicher Hingabe einem Phantasiebild zuwenden kann, das man als Gott ansieht, wissen wir aus dem Leben des Einzelnen und aus dem des Menschengeschlechts. Wie sehr ist doch auch der wahrhaft Gottgläubige getrieben, sich über den unerlässlichen Anthropomorphismus hinaus, der sogar dem Gebet innewohnt, »ein Bild zu machen«! Es ist recht wohl zu verstehen, dass Freud, im Psychologismus seines Zeitalters befangen, in der Religion überhaupt eine solche Illusion erblickt hat. Aber wie ist es zu vermeiden, dass wir ein pures »Phantasiegebilde« mit dem Namen Gottes benennen? Ein objektives Kriterium, das sozusagen für eine Vergleichung zu verwenden wäre, gibt es naturgemäss nicht. Nun fügt jedoch Thieberger hinzu: »falls nicht aus ganz anderer Quelle … geglaubt wird«. Ist damit einfach jene ewig unbestimmbare Urquelle gemeint, aus der aller echte Glauben kommt, dann wäre Frage-und-Antwort schon an ihr Ende gelangt. Aber vielleicht ist es doch anders gemeint, so nämlich, dass es trotz allem an etwas zu erkennen sei, ob das Du meiner Glaubenssprache zu Recht besteht. An etwas – woran denn? Hat Thieberger vielleicht einen nicht mehr im engeren Sinn religiösen, sondern etwa »ethischen« Gehalt dessen gemeint, was ich als mir von Gott zugesprochen empfinde? Aber dann hätte ja Abraham – der sich im entscheidenden Augenblick gewiss nicht, wie manche wähnen, durch die Verheissung hinreichend gesichert fühlte – bedenklich werden müssen, ob er nicht ein aus der Volksphantasie in die seine übersprungenes Molochgebild zu sich reden wähne! Es gibt da doch wohl keine andere »Quelle« zu entdecken als die schlichte Erfahrung einer Führung Gottes durch Heil und Unheil; nicht umsonst kehrt der Spruch des Weg-Anfangs »dass ich dich sehen lassen werde« hier, in der letzten Erprobung, wieder. Aber es gibt noch eine, gerade uns Spätlingen kenntlich gewordene, innerliche »Quelle«, sogar eine Doppelquelle. Das ist zunächst die Ganzheit der Seele: ich weiss nur immer wieder das Gleiche zu wiederholen, dies, dass wir das wahre Du nur mit der ganzen Seele sprechen
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können, wo der sture Widerspruch nicht mehr in den Ecken nistet. Und da ist sodann die Einheit des Lebens: das Leben als Dienst am Götzen, wie immer er heisse, zerfällt Stunde um Stunde, Erfolg um Erfolg, das Leben als Gottesdienst schliesst sich immer wieder in aller Stille zusammen, auch noch in den Untiefen der Enttäuschungen und in der Tiefe des Scheiterns. Friedman (5) Ich merke an der Frage, dass ich mit dem von mir Gesagten, das hier angeführt wird, schon knapp an die Grenze des unserer Erfahrung Zugänglichen gelangt bin. Ich scheue mich, mit Worten, deren volle Verantwortung ich nicht tragen könnte, einen Schritt weiter zu gehen. In unserer Erfahrung schliesst unsere Beziehung zu Gott unsere Ich-Es-Beziehungen nicht ein. Wie es sich damit jenseits unserer Erfahrung, also sozusagen auf der Seite Gottes verhält, gehört dem Beredbaren nicht mehr an. Vielleicht habe ich hier und da, von der Herzenspflicht bewegt, zu zeigen was ich zu zeigen habe, schon zu viel gesagt. Pfuetze »A sort of argument for the reality of God«? Nein, ich kenne keinen triftigen Gottesbeweis. Wenn es einen gäbe, gäbe es den Unterschied zwischen Gläubigen und Ungläubigen nicht mehr, es gäbe das Wagnis des Glaubens nicht mehr. Ich habe zu glauben gewagt – nicht auf Argumente hin, und ich kann meinen Glauben nicht mit Argumenten stützen, ich habe keine Metaphysik, ihn zu begründen, ich habe mir keine angeschafft, es verlangt mich nach keiner, ich bedarf keiner, ich bin zu keiner befähigt. Wenn ich sage, etwas habe für mich eine ontologische Bedeutung, so will ich damit ausdrücken, es sei nicht blosser psychologischer Vorgang, wiewohl es einen solchen mit umfasst oder vielmehr sich in einem solchen »innerlich« phänomenalisiert. Sage ich, meine Glaubensbeziehung habe einen ontischen Charakter, so ist damit gesagt, sie sei nicht auf einen psychischen Prozess zu beschränken, sondern ereigne sich zwischen meiner leibseelischen Person und Gott. Damit dass ich das sage, gebe ich meiner Glaubenserfahrung den zur Verständigung notwendigen begrifflichen Ausdruck, aber ich stelle keine metaphysische These auf. Gewiss, es ist mir nicht um Mitteilung von Individuellem, sondern um gemeinsame Klärung von Gemeinsamem, von gewordenem und werdendem Gemeinsamem, zu tun, ich baue keine Türme, ich schlage Brücken; aber ihre Pfeiler sind nicht in »Ismen« gerammt und ihre Bogen nicht aus »Ismen« gefügt.
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[B. Creation]
Po t e a t (2) Ich sage nicht, die Welt sei zwiefältig, sondern, die Welt sei dem Menschen zwiefältig. Somit sage ich über irgendein vom Menschen unabhängig bestehendes Ding nichts aus, und erst recht nicht über eine vom Menschen unabhängig bestehende Welt. Im Übrigen aber erschafft Gott in der biblischen Schöpfungsgeschichte die Dinge dadurch, dass er sie aus ihrem Nochnichtsein ins Sein ruft, zwar in der dritten Person, aber die grammatische Form entscheidet hier nicht über das Gemeinte: offenkundig verfügt Gott hier nicht über etwas, womit er sonst nichts zu tun hätte, er wendet sich dem werden Sollenden, dem Licht, dem Wasser, der Erde wirklich zu, und es ist nur die Vollendung dieser Zuwendung, wenn er schliesslich zum gewordenen Menschen »Ihr« sagt. Wittgenstein hat recht: Gott offenbart sich nicht in der Welt; er hat unrecht: Gott redet die so seiende, so geschaffene Welt als die seine an. Friedman (4) Wo ich gegen die Ausschaltung der Welt aus der Beziehung zu Gott spreche, spreche ich nicht von der Stunde des Menschen, sondern von seinem Leben. Als uneingeschränkt rechtmässig sehe ich es an, wenn ein Mensch je und je, in einer Stunde religiöser Entflammung, anbetend und betend, in eine unmittelbare, »weltfreie« Beziehung zu Gott tritt, und mein Herz versteht sowohl den byzantinischen Hymnendichter, der als »Einsamer zum Einsamen« spricht, als auch jenen chassidischen Rabbi, der, selber sich als einen Fremdling auf Erden fühlend, Gott, der ja auch ein Fremdling auf Erden sei, bittet, ihm ebendeshalb seine Freundschaft zu gewähren. Aber ein auf der Ablehnung der Lebendigen errichtetes »Leben mit Gott« ist kein Leben mit Gott. Oft hören wir von Tieren, die von heiligen Einsiedlern geliebt werden; ich würde aber auch niemand als heilig ansehen können, der in der Wüste aufhörte, die Menschen, die er verliess, zu lieben. [C. The God Who Becomes]
Cohen (1) Hier waltet offenbar ein Missverständnis. Die Lehre vom werdenden Gott, die ich gekennzeichnet habe, setzt das Göttliche an das Ende der Weltentwicklung, als ihr Ergebnis und ihre Erfüllung. Ich kann zwar nur ein Spürchen von Gottes Ewigkeit erspüren, aber es genügt um mir zu zeigen, wie töricht es ist, ihn in der Zeit, nämlich
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an ihrem Ende, unterbringen zu wollen. Meiner Glaubenseinsicht nach ist Gott so vor wie nach der Zeit; er umfängt die Zeit und er erscheint in ihr. Wenn er in ihr erscheint, wenn er »sich offenbart«, gibt er den Menschen eine Norm, d. h. er weist ihnen die Richtung zum rechten Leben. Wenn die Menschen, in ihrem Bedürfnis nach Interpretation und Ergänzung, aus den heiligen Normen »Gesetze«, d. h. insbesondre Verzeichnisse verbotener Handlungen machen, so nötigt mich zuweilen mein Glaube, mich niederzuwerfen und um Erleuchtung zu bitten, was ich in einer gegebenen Situation zu tun habe und was ich in ihr nicht zu tun habe; ich muss nicht selten Überkommenem die Gefolgschaft versagen, weil mein Glaube mich hindert anzuerkennen, dass Gott dies von mir wolle. Und das soll heissen, dass Gott sich ändere, oder gar, dass er ein »werdender Gott« sei! Bertocci (5) Auch hier ist gar nicht berücksichtigt, was der Inhalt der Lehre ist, um die es sich handelt und für die der Nietzschesche »Übermensch« ein allgemein bekanntes Beispiel darstellt. Statt von einem Gott, der im Werden begriffen sei und in einer unbestimmten Zukunft geworden sein werde, redet Bertocci von der Wirkung des Menschen auf Gott, die notwendigerweise eine Änderung Gottes bedeute. Aber ist es wirklich so unverständlich, dass unsere Begriffe zerbrechen, wenn sie auf Gott angewendet werden, und dass wir dennoch sie gebrauchen müssen, um von unserer Beziehung zu ihm zu reden? Weil ich auf die Wirkung hinweise, die die reine Beziehung auf den Menschen ausübt, darf dann deshalb von mir gefordert werden, dass ich, um illuminating zu sein, ihre Wirkung auf Gott berede, also etwas, wovon ich nichts weiss und nichts wissen kann? Oder soll ich, wenn ich mich als angesprochen und ansprechend erfahre, und mir auch von anderen solche Erfahrung bekannt wird, von dem Faktum schweigen, weil davon nur »deklarativ« zu reden möglich ist? [D. God as Person]
Wo d e h o u s e Was es für mich bedeutet, von Gott als einer Person, genauer: von einer auch personhaften Wesenheit zu sprechen, habe ich in dem Postscript zur Neuausgabe von I and Thou zu erklären versucht. Im übrigen muss ich hier wiederholen, dass kein Begriff auf Gott angewandt werden kann, ohne dass sich an ihm eine Transformation vollzöge, und dass es die Aufgabe des den Begriff so Anwendenden ist, diese Transformation nach Möglichkeit zu charakterisieren und zu erläutern. Gott einen »spe-
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cial and separate center of consciousness« zuschreiben hiesse zugleich zu viel und zu wenig zu sagen; vor dergleichen Simplifikationen habe ich mich dadurch zu schützen versucht, dass ich Gott als die absolute Person bezeichnet habe. Meine Interpretation chassidischer Lehre bitte ich nicht mit meinen eigenen Gedanken zusammenzuwerfen; ich kann keineswegs mit meinem Denken für die chassidischen Ideen einstehen, wiewohl mein Denken ihnen verpflichtet und ihnen verbunden ist. Wenn ich aber in meiner Deutung chassidischer Lehre von Gott sage, dass er wishes to redeem us, so ist das in diesem Zusammenhang buchstäblich gemeint, und wenn ich in der gleichen Deutung sage, dass everything desires to become a sacrament, so ist das zwar nicht völlig, aber doch zu einem guten Teile buchstäblich gemeint, da ja nach dieser Lehre in den Wesen und Dingen heilige, aus einer präkosmischen Urkatastrophe stammenden Funken stecken, die nach Erlösung durch den Menschen verlangen, dadurch nämlich, dass Menschen mit diesen Wesen in Heiligkeit umgehen und diese Dinge in Heiligkeit gebrauchen. In meinem eigenen Denken würde ich weder von einem Wunsche Gottes noch auch von einem Verlangen der Dinge solcherweise zu handeln vermögen; und doch haben die Wirklichkeit, die mit jenem, und die Wirklichkeit, die mit diesem letztlich gemeint ist, in meinem zurückhaltenderem Denken ihren Platz. Dilley Eine genauere Erklärung dessen, was ich meine und was ich nicht meine, ist offenbar erwünscht. Präzisieren wir also. Eines aber muss vorausgeschickt werden: Meine Interpretation chassidischer Lehren ist nicht als eine Darlegung meiner eigenen Theologie oder Philosophie zu verstehen. Der Chassidismus hat auf mich einen grossen persönlichen Einfluss ausgeübt; manches in ihm hat auf mein Denken tief eingewirkt und ich habe mich immer wieder verpflichtet gefühlt, auf seinen Wert für das Leben des Menschen hinzuweisen. Aber es gibt auch nicht weniges im Chassidismus, das mir zwar im Zusammenhang meiner Darstellung zu interpretieren oblag, was ich mir aber durchaus nicht zu eigen zu machen vermochte, so insbesondere die vom Chassidismus übernommenen und ausgebildeten kabbalistischen Ideen von den Emanationen Gottes und ihrem Verhältnis zueinander. Es sind dies im wesentlichen gnostische Ideen, und ich bin immer wieder der Gnosis, die gleichsam die innere Geschichte Gottes zu kennen vermeint, aufs entschiedenste entgegengetreten. Die chassidische Theologie be-
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rührte sich mit meiner eigenen stets an solchen Punkten, wo es um die Beziehung zwischen Gott und Welt geht, wie sie sich uns in unsrer eigenen Erfahrung der Beziehung zwischen ihm und uns kundgibt. Dass, wenn ich von Gott als der absoluten Person und dem ewigen Du spreche, ich eben von der Beziehung zwischen Gott und Mensch ausgehe, habe ich mehrfach, am nachdrücklichsten im Schlusskapitel des Nachworts der Neuausgabe von »Ich und Du« dargelegt. Ich glaube aber schon in »Ich und Du« selbst hinreichend gezeigt zu haben, dass man ein Du nicht ausserhalb des Bezugs auf ein Du-sprechendes Ich und eine Person nicht jenseits ihrer Beziehungen zu anderem Seienden zu fassen vermag. Wenn es in der Welt kein Ich gäbe, hätte es keinen Sinn, Gott das ewige Du zu nennen; und mit Bedacht habe ich gesagt, dass Gott, um mit dem Seienden, das er ins Sein rief, in Beziehung zu treten, »das Knechtsgewand der Person« angezogen hat. [E. Revelation]
Baumgardt (2) Was ich gesagt habe und meine, ist dieses für den gottgläubigen Menschen eigentlich Selbstverständliche: wenn er dessen inne wird, dass Gott von ihm etwas fordert, so muss er eben, notfalls all seine Kraft einsetzend drangehn es zu tun. Mit anderen Worten: die Annahme eine »ethischen« Kriteriums, das zu befragen wäre, ob man Gottes Willen, dessen man inne geworden ist, erfüllen soll oder nicht, ist purer Widersinn: wer wirklich an Gott glaubt, kann doch nicht irgendeine andere Instanz über der seinen anerkennen. Wer die Frage von einer so schlechthin der unseren unvergleichbaren Situation wie die Abrahams deduziert, konstruiert sie; der gläubige Mensch unserer Welt kann getrost sein Ethos seiner Religiosität unterordnen, weil er weiss, dass es Gott ist, der ihm den rechten Weg weist, und das heisst eben, weil er Gott vertraut. Aber was soll dann dieses Vertrauen mit dem amor fati gemein haben? Wenn jemand, was ihm von einem »blinden« Schicksal her widerfährt, nicht bloss hinnimmt, sondern es annimmt, es bejaht, es »liebt«, und wenn jemand einer Gottheit, die ihn kennt und belehrt, vertrauend zu folgen versucht, was hat das eine mit dem andern gemein? Ich fühle mich ja ganz und gar nicht als ein Gegenstand in göttlichen Händen, ich stehe Einem, der die Welt in Händen hält, dennoch in eignem Sinn und Willen gegenüber. Mein Vater Hiob (kein Israelit, wie es scheint, und doch mein Vater) protestiert und vertraut in einem; wir bekommen zu fühlen, dass er Gott, den er der Ungerechtigkeit bezichtigt, liebt, aber das eigene Schicksal zu lieben bleibt ihm fremd bis zuletzt, und Gott mutet ihm nicht zu, es zu
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lieben. Er steht in einem unüberbietbar furchtbaren Dialog; aber Gott versagt sich ihm als Gesprächspartner nicht. Und der »amor dei intellectualis«? Spinoza bezeichnet ihn als pars infiniti amoris, quo Deus se ipsum amat. Diesen Begriff des »Teils« lehne ich von Grund aus ab. Ich stehe Gott gegenüber, weil ich von ihm im allerrealsten Sinn ins eigene Sein gesetzt, d. h. »erschaffen« bin. Weil ich ihm gegenüber stehe, kann ich ihn lieben. Im übrigen stammt der Gedanke, ein Wesen liebe sich selbst, aus einer Verrenkung des Begriffs Liebe. Der »Egoismus« ist keine Selbstliebe, sondern ein Mangel an Liebe. Gott die Liebe zu sich selber zuschreiben bedeutet den Gebrauch einer illegitimen Metapher. Ke l m a n Ich glaube, diese Frage in dem »Von einer Suspension des Ethischen« betitelten Abschnitt meines Buches »Gottesfinsternis« beantwortet zu haben. Kierkegaard hat zu Unrecht die biblische Erzählung von der Versuchung Abrahams herangezogen, um seine Lossagung von seiner Braut als ein gottgewolltes Opfer verstehen zu können; er kannte sich ja selber, wie wir aus seinen Tagebüchern wissen, in der hochkomplizierten Motivation dieser Handlung keineswegs aus. »Es lag ein göttlicher Protest vor«, sagt er; da er aber auch ausdrücklich sagt, ein Mensch erfahre nur, dass Gott von ihm ein Opfer fordere, nicht aber auch, welches Opfer, so ist mit dem Wort »Protest« die Sphäre der Glaubenserfahrung schon überschritten, zumal wir an einer anderen Stelle der Tagebücher staunend zu hören bekommen: »Hätte ich den Glauben gehabt, so wäre ich bei ihr geblieben«. Hat nicht etwa gar – so wage ich zu fragen – Gott von ihm das Opfer seiner »Schwermut«, den Verzicht auf sie, gefordert, und das würde bedeuten: gerade das Gegenteil des Verzichts auf Regine? Aus der Erzählung von der Versuchung Abrahams ist nicht in abstracto zu folgern, was einer von uns zu tun hätte, wenn Gottes Stimme morgen von ihm fordert, an einem Menschen existential schuldig zu werden. Solche Geschichten sind in ihrer schaurigen Einmaligkeit an den Anfang der Unterweisung (»Thora«) gestellt: etwas Vorbildliches ist in der erzählten Begebenheit verborgen, aber sie selbst ist nicht zur Nachahmung berichtet, nie wieder hat ein Mensch des Glaubens dergleichen von Gott vernommen, und es ist seither eben der Glaube, der uns hilft, die Stimme Gottes und die molochischen Stimmen der Zeitgötzen von einander zu unterscheiden.
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Agus (3) Zuerst wird das, was ich sage, ungeheuerlich übersteigert und dann wird das Übersteigerte bekämpft. Ich habe nie gesagt, Gott sei removed from all that is humanly conceivable; was ich immer wieder gesagt habe, ist dies, dass wir Gott nur in seiner Beziehung zu uns, nicht jenseits dieser kennen. Die Vorstellung eines »sich verbergenden« Gottes ist nicht »mythologisch«, sondern biblisch. Die Propheten kündigen dem unbotmässigen Israel Mal um Mal an, Gott werde sein Antlitz vor ihnen verbergen, und in der Stunde der grossen Weltkrise rufen die Völker, die sich ihm zuwenden, ihm zu (Jesaja 45, 15): »Wahrlich, du bist ein Gott, der sich verbirgt, Israels Gott, Befreier.« In der Finsternis der Krise hatten sie seine Verborgenheit erfahren, jetzt, im Aufstrahlen der lösenden Stunde nehmen sie sein hilfreiches Offenbarwerden wahr. Und was ist denn »Offenbarung« überhaupt anderes als das Hervortreten aus einer (grösseren oder geringeren) Verborgenheit? Keineswegs ist bei mir the conception of a »hiding God« designed to solve the problem of evil. Nirgends habe ich dergleichen angedeutet; niemals habe ich den Ursprung des Bösen anderswo als in der Urfreiheit des Menschen gesucht. Biblisch ist die Verborgenheit Gottes nicht eine Ursache des Bösen, sie ist seine Antwort darauf. Aber eine Antwort, der gegenüber der Mensch nicht ohnmächtig ist: wenn er zu Gott umkehrt, kann er seiner offenbaren Nähe wieder teilhaftig werden. Es heisst das was ich sage auf den Kopf stellen, wenn man mir die Ansicht zuschreibt, Gottes essence sei indetermination. Wohl aber glaube ich, dass Gott sich je und je in verschiedenen Erscheinungsformen manifestiert, die freilich alle auf seine alles überwaltende Einheit hinweisen. Pfuetze (1) Ich wiederhole noch einmal, dass ich in der Beziehung zu Gott keine »objective criteria« und keine methods kenne. Wer mich danach fragt, verkennt meine Absicht. Die Frage how do you know beantwortet sich in der persönlichen Erfahrung des glaubenden Menschen und in dem echten Zusammenleben von Menschen analoger Erfahrungen von selber, vielmehr: da wird sie nicht gefragt. Ich gebe keine Garantien, ich habe keine Sicherheit zu bieten. Aber ich verlange auch von niemand, dass er glaube. Ich teile meine eigene Glaubenserfahrung mit, so gut ich eben kann, und ich appelliere an die Glaubenserfahrungen der von mir Angesprochenen: denen, die keine haben, oder keine zu haben vermeinen, empfehle ich nur, Ihre Seele nicht mit vorgefassten Meinungen zu umpanzern. Ich wende mich an solche Leser, die entweder aus eigener Er-
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fahrung wissen, wovon ich rede, oder bereit sind, es aus eigener Erfahrung wissen zu lernen. Die andern muss ich unbefriedigt lassen und bescheide mich damit. [VII. Evil]
Hocking (3) Zunächst: ganz allgemein gesprochen, bin ich gar nicht der Ansicht »that wherever there is a ›relative‹ there is an absolute to which the relative is relative«. Wir lernen doch Tag um Tag allerhand Stufen relativer Dummheit kennen; wollen wir daraus schliessen, es gebe eine absolute Dummheit? Ein absolut Böses aber würde bedeuten, dass es eine widergöttliche Macht gebe, die von Gott nicht überkommen werden kann. Ein moderner Manichäismus dieser Art ist es aber nicht, was Hocking meint. Was Hocking meint, ist vielmehr das »radikal« Böse, wie es in der Lebenswirklichkeit auftritt. Dass es so etwas gibt, darauf habe ich im Schlusskapitel meines Buches »Bilder von Gut und Böse« nachdrücklich hingewiesen, und zwar gibt es dieses in dem, was ich das »zweite Stadium« einer bestimmten individuellen Lebenswirklichkeit nenne, das Stadium nämlich, in dem der der Richtungs- und Entscheidungslosigkeit preisgegebene Mensch diese seine Beschaffenheit, eben als die seine, bejaht und in ihr als in der ihm eigenen Grundhaltung verbleiben zu wollen sich anmasst. Da es sich nun aber stets um das Stadium oder um Stadien eines individuellen Lebenswegs handelt, ziehe ich es vor, statt (wie z. B. Kant) von einem »radikal Bösen«, vielmehr von einem sich radikalisierenden Bösen zu reden. Wohlgemerkt, immer bleiben wir im Bereich der Tatsachen individuellen Daseins, im Bereich der Individuen. Gewiss, wir müssen diese oft bekämpfen, zumal wenn sie sich mit ihresgleichen zusammenfügen und mit allerlei erbärmlichen Mischformen zusammenschliessen und nun kollektiv in die Menschengeschichte eingreifen; – aber wenn wir sie »zerstört« haben, haben wir dann wirklich dem Guten zum Sieg über das Böse verholfen? Ist der wahre Kampf gegen die Dämonen nicht von ganz anderer Art? Müssen wir den »bösen« Menschen seiner Unerlöstheit überlassen? Gibt es nicht immer wieder das fast Unbegreifliche, dass wir dem scheinbar ganz jener vermessenen Selbstbejahung verfallenen Menschen helfen können, den Weg heraus zu finden? Gewiss, es hat in dieser unserer Zeit manchen gegeben, den kein Sohn dieser Zeit sich zugetraut hätte, vor sich selbst retten zu wollen. Und dennoch – ich gestehe, dass ich keinen für »absolut« unerlösbar halten kann. Der von Hocking übernommene Spruch der jüdischen Tradition, für
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den, der sagt: »Ich werde sündigen und dann werde ich umkehren«, gebe es keine Vergebung, betrifft es in der Tat die schwerste Verletzung der Beziehung zwischen Gottheit und Menschheit. Aber ist es unmöglich, dass in einen, der so gesprochen und so gehandelt hat, in einer späteren Stunde die Einsicht in das Faktum, dass ihm nicht vergeben werden kann, wie ein herzreinigender Blitz fährt? Was zwischen dem wirklichen Gott und einem wirklichen Menschen vorgehen kann, ist von so paradoxer Natur, dass kein noch so »wahrer« Spruch ihm gewachsen ist. Etwas, was der Idee nach unforgivable ist, kann im Paradox aufgehoben werden. Und wir – wollen wir, wenn es so ist, uns der Möglichkeit verschliessen, dass auch wir unter Umständen angerufen werden könnten, auf die »absolute rejection« zu verzichten? Ja, das Böse radikalisiert sich, – und es ist uns gewährt, an seiner Entradikalisierung mitzuwirken. Wo l ff (1) Einen »locus of evil« kenne ich nur innerhalb der konkreten individuellen Lebenswirklichkeit, und hier kenne ich als ihn, wie gesagt, die gewollte Richtungs- und Entscheidungslosigkeit. Ein objektives Kriterium, das einem in den mannigfaltigen Situationen sagt »how does one know«, habe ich damit natürlich nicht aufstellen gewollt und ich könnte es auch nicht. Man muss ja recht oft in einer gegebenen Situation schwer ringen, ohne ein ausreichendes Kriterium zur Hand zu haben, bis man die jetzt und hier rechte Richtung kennt und einschlägt. Aber in einem Leben, in dem sich das Gute mehr und mehr verwirklicht, wächst oft die Kraft des Findens. Je vollkommener eine Ich-Du-Beziehung ist, um so besser weiss man, wessen der Andere wirklich braucht, um das zu werden, wozu er erschaffen ist. Und wer ein echter Einzelner geworden ist, der schöpft die Bestätigung – mag er auch nie der blanken Sicherheit teilhaftig werden – doch wohl aus anderen Quellen als aus der Reflexion darüber, ob er echt oder unecht sei. 2. Dass es »die Vernunft« sei, was in mir dem Bösen, das ich tue, widerspricht, erscheint mir als eine unzulässige Simplifikation. Wenn ich daran denke meinem Nachbarn, der mich geärgert hat, einen Schaden zuzufügen, und ich bekomme irgendwo, in einem Winkel meines Gemüts, den Schaden zu spüren, den ich zufügen will, oder wenn ich in einem Handel meinen Partner täuschen will und ein Tropfen der Lügensubstanz ätzt mir den eigenen Herzensrand, und ich tue dennoch das Böse, nur eben »nicht mit ganzer Seele«, welche Rolle hat in dem Vorgang »die Vernunft« gespielt? Es war ja gar kein Denken, was sich da vollzog, es waren nur jene leisen Einsprüche der Seele, auf die wir so oft nicht zu achten pflegen.
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TS enthält an dieser Stelle die folgende eingeschobene, von Hand gestrichene Antwort, die ebenso wie die Frage, die nicht erhalten geblieben ist, nicht in die Veröffenlichung aufgenommen worden ist. Wa s m u t h : (3) Da Wasmuth mit so grossem Nachdruck meine Anschauung dahin deutet, dass ich das Böse für ganz irreel, für das pure Nichts hielte, will ich noch einmal und noch genauer angeben, was meine Ansicht ist. Ja, ich sehe das fundamental Böse in der Entscheidungslosigkeit, und solange diese ein Zustand ist, nämlich der Wirbelsturm der Phantasie, die dem Menschen die unendlichen Möglichkeiten vorführt, die ihn umgebenden Wesen zu gebrauchen, zu geniessen, zu berauben, zu verknechten, zu vergewaltigen, sehe ich es als eitel Irrealität. Aber auch noch wenn solch ein durchtobter Mensch mit blinder Hand aus dem Sturm hinauslangt und eine der Möglichkeiten an sich reisst und zur Tat macht, vermag ich seine Handlung, so böse sie ist, nicht als eine gleichgeordnete, nur gegenteilige Wirklichkeit der Wirklichkeit des Guten, der Wirklichkeit der Richtung gegenüberstehen: mit wachsendem Erschrecken sehe ich das Nichts handeln. Wenn aber in einer Stunde des Lebens, die eher einem Gefrieren als einem Stürmen zu vergleichen ist, ein Mensch sich gleichsam zum Stande der Entscheidungslosigkeit entschliesst, weil er sein Raffen und Zuschandenmachen zum Gegenstand seines Willens erhebt, weil er sich, eben sich, als den Inhaber solcher richtungslosen Mächte erkürt und wider die Richtung setzt, dann hat sich das Nein mit einem dämonischen Ja vollgesaugt, und du stehst dem menschengestaltigen Widersacher, dem Bild des »radikal Bösen« gegenüber. Mir ist das einmal widerfahren, als ich mit keinem anderen Sinn als dem des Hörens ausgestattet war, und ich habe meine dialogische Ohnmacht verstanden. Schon eine knappe Stunde danach habe ich den Nagewurm in den Eingeweiden der Absurdität, die sporadischen Selbstverneinungen des Nichts, den armen Teufel in Satan zu ahnen bekommen. Die prophetische Alternativik aber erscheint mir als die Forderung an die hörende Schar, sich zwischen Gott und einem aufgeblähten solchermassen sich zu bejahen fähigen Nichts, auch Baal oder Inhaber des zu Habenden genannt, zu entscheiden. Goldstein (1) Ich kenne das Böse nicht »als solches«, sondern nur als Zustand und Haltung im Leben von Individuen. Als Zustand habe ich es wohl am deutlichsten als »das krampfige Ausweichen vor der Richtung« gekennzeich-
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net (»Die Frage an den Einzelnen«), als Haltung wohl am deutlichsten als die Selbstbejahung des in der Richtungslosigkeit Verbleibenden (»Bilder von Gut und Böse«, Schlusskapitel) Ist das Gute, wie ich meine, schon in seinem Ursprung die Richtung des Menschenwesens auf Gott, so ist es doch wohl offenbar, dass niemand von uns schlechthin böse ist, denn es ist keinem seinem Wesen nach verweigert, die Richtung anzunehmen, und es ist doch wohl offenbar niemand von uns schlechthin gut, denn es ist keinem seinem Wesen nach gewährt, von aller Regung der in sich kreisenden Leidenschaft frei zu werden; beides erfährt das Individuum in der Tiefe seiner Selbstbesinnung. Es scheint mir gleicherweise der verborgenen Wirklichkeit zu widersprechen, den anderen für schlechthin böse und sich selber für schlechthin gut zu halten. Der Mensch ist – daran halte ich fest – »im eminenten Sinn gut-und-böse«; er ist fundamental zwiefältig, und er ist empirisch fähig, zu Einungen zu gelangen, d. h. er ist fähig, je und je seiner Leidenschaft die Richtung auf die Wahrheit, auf Gott zu verleihen; ganz eins, ganz gut ist kein sterbliches Wesen. 2. Hier waltet ein Missverständnis. Unter »Begegnung« in dem prägnanten Sinn, in dem ich das Wort gebrauche, verstehe ich einen Vorgang der echten Ich-Du-Beziehung, in der der eine Partner den anderen als diesen einen bejaht und bestätigt. Dass die Linien dieser Beziehungen sich im ewigen Du (ich sage nicht, wie Goldstein, »im Ewigen«) schneiden, ist darin begründet, dass der Du-sagende Mensch letztlich sein ewiges Du meint. Die in jedem Augenblick zahllosen Fälle, dass mit einander zusammentreffende Menschen einander unübersehbares Übel zudenken und zufügen, ist ja eine unbestreitbare Grundtatsache des Daseins. Ich weiss ihr nichts anderes entgegenzusetzen als die Mal um Mal wiederaufgenommene Warnung, dass der Mensch, der den anderen vom Du zum Es macht, damit sein eigenes Leben im Kerne verdirbt. Pfuetze (4) Ich habe, soviel ich weiss, niemals gesagt, die Ich-Du-Beziehung sei »the real way of things«. Ich habe immer wieder gesagt, sie sei eine von den zwei Grundhaltungen des Menschen, eine der beiden Möglichkeiten des Daseins. Dass die andere in der gegenwärtigen Menschenwelt die häufigere, die mächtigere ist, habe ich nicht verschwiegen, noch auch habe ich es unterlassen zu erklären, warum der Mensch unserer Zeit so sehr dazu neigt, alles Seiende als Es, als Gegenstand seiner Beobachtung und seines Gebrauchs zu behandeln. Doch halte ich die Behauptung, dass »even at his best, man feels an inordinate tug of self-interest«, für ungenau. Gewiss, jedes Lebewesen, den Menschen eingeschlossen, er-
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fährt sein Leben in der Bezogenheit auf es selbst; jedes ist naturgemäss auf Erhaltung seines Daseins, Verbesserung seines Loses, Erzielung von Vorteilen und auf allerhand Ergötzung bedacht, und ich habe gegen diese biologische Grundtatsache kein Bedenken, ich träume nicht davon, den Menschen ihr zu entrücken. Dass aber im gelebten Tag des Menschen, Tag um Tag, das Selbstinteresse stets wirksam sei, das stimmt für viele Menschen, die ich mir in meiner Umgebung ansehe und von deren Innerlichkeit ich etwas merken kann, keineswegs. Ich sehe, wie sie sich, jeder auf seine Weise, die einen lärmend oder täppisch, die andern gutmütig und zuweilen sogar zart, mit ihrer Umgebung – Familie, Kameraden, Passanten – befassen, mit offenen Sinnen für das, was vorgeht, und gar nicht so selten mit Bereitschaft zur Teilnahme, zu Auskunft und Hilfe. In alledem ist die Selbstbezogenheit ein selbstverständlicher unablösbarer Bestandteil, aber nicht ein gewichtiger Faktor. Ich schaue mir zuweilen spielende Jungs an. Was den einzelnen wirklich angeht, ist eben das Spiel selber, und das bedeutet selbstverständlich zuvorderst: sein Anteil daran; aber ich sehe so einen Jungen gar nicht selten sich auch wirklich um andere kümmern, um ihren eigenen Anteil, um ihr eigenes Geschick und Missgeschick, und mitunter sehe ich gleichsam so ein Jungenherz hinüberfliegen, wo der andere steht, mit dem Wunsch, man könnte da helfen, wo den Regeln des Spiels nach gar keine Hilfe möglich ist. Ich will gewiss nicht in Abrede stellen, dass es von der sogenannten Selbstsucht auf Erden wimmelt, in niederen und höheren Varietäten. Aber das scheint mir nichts anderes zu bedeuten, als dass die biologische Selbstbezogenheit im Menschen mit seinem so stark ausgebildeten Ichheitsbetrieb leicht zur »Sucht« wird, also eine im Grunde pathologische Form annimmt. Die Selbstsucht ist nicht etwas naturhaft Vorgegebenes, sondern das Ergebnis einer Drehung, durch die die biologische Voraussetzung der individuellen Lebenswirklichkeit, die Selbstbezogenheit, zum Ziel und zur Absicht gemacht und damit mehr oder weniger pathologisiert wird. Nicht unerwähnt darf in diesem Zusammenhang die interessante Tatsache bleiben, dass sich an der Selbstbezogenheit auch eine ganz andere Entwicklung, sozusagen am anderen Ende vollziehen kann, und zwar bei Menschen von stark differenzierter Intellektualität, wenn sie ein besonderes Talent haben, über ihren eigenen Anteil an den Vorgängen ihres Lebens, und zwar vornehmlich der psychischen Seite dieses Anteils nach, in einer anschaulichen Weise zu reflektieren. So entsteht der sogenannte Egotismus. Diese Art von Reflexion setzt beim modernen Menschen oft schon im Moment des Vorgangs selbst ein, etwa im Moment einer Hand-
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lung, wodurch deren Spontaneitätscharakter beeinträchtigt oder sogar zerstört werden kann. Dass der Mensch »is actually in harmony with the law of life«, habe ich nie behauptet; ja, ich habe eher die gegenteilige Ansicht vertreten, da ich unermüdlich darauf hingewiesen habe, dass die Ich-Du-Beziehung zwischen Menschen immer wieder durch ein Ich-Es-Verhältnis unterbrochen wird. Mich für einen romantischen Optimisten zu erklären, ist sehr leicht, weil ich trotz allen widrigen Erfahrungen dem messianischen Glauben an die Erlösung der Welt durch Gott unter Beteiligung der Welt anhänge; aber es ist sehr falsch, weil ich niemals und nirgends behaupte, der Mensch könne aus eigener Machtvollkommenheit, durch eigenen »guten Willen« seine Disharmonie, den inneren Widerstreit des menschlichen Daseins überwinden. Ich bin ein realistischer Meliorist; denn ich meine und sage, dass das menschliche Leben sich seiner Erfüllung, seiner Erlösung in dem Masse nähert, als die Ich-Du-Beziehung in ihm stark wird, die Beziehung, in der der Mensch, ohne seine Selbstbezogenheit aufzugeben, mit dem anderen nicht als mit seinem Gegenstand, sondern als mit seinem Partner umgeht. Wenn man so denken will, als ob Gott nicht wäre, dann ist der Mensch als das gefährlichste Experiment der Natur anzusehen, aber doch als eins, an dessen Gelingen er selber beteiligt ist. Wort- und Sacherläuterungen: 534,4 Walter Kaufmann] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 521,1213. 534,18 Lao-tzu’s] Lao-Tse oder Laozi (6. Jh. v. Chr.): legendärer chin. Philosoph; gilt der Überlieferung zufolge als Verfasser des Daodejing, der Hauptschrift des Daoismus. 534,19 G. E. Moore’s] George Edward Moore: brit. Philosoph; begründete mit Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein die analytische Philosophie. 535,30 Rollo May] (1909-1994): US-amerik. Psychologe; Vertreter der humanistischen Psychologie und der existenziellen Psychotherapie; mit Paul Tillich eng befreundet. 536,7 Helmut Kuhn] (1899-1991) dt.-jüd. Philosoph; emigrierte 1937 in die USA; 1949 Rückkehr nach Deutschland. Ab 1953 hatte Kuhn an der Ludwig-Maximilians-Universität München Professuren für Philosophie und Kulturgeschichte inne und gab von 1953 bis 1954 gemeinsam mit Hans-Georg Gadamer (1900-2002) die Philosophische Rundschau heraus.
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538,1 F. H. Heinemann] (1889-1970): dt.-jüd. Philosoph; von 1930-1933 an der Universität Frankfurt am Main tätig; 1933 Emigration erst nach Paris, dann über die Türkei nach England; von 1939 bis 1956 Professur in Oxford. 538,18 my book on existentialism] Fritz Heinemann, Existenzphilosophie – lebendig oder tot?, Stuttgart 1954. 538,37-38 my responsa in the volume of the Library of Living Philosophers] Vgl. »Antwort«, in: Martin Buber, S. 589-639; jetzt in diesem Band, S. 467-542. 539,20 Emmanuel Levinas] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 502,27. 540,20-21 »Distance and Relation«] Martin Buber, Urdistanz und Beziehung, in: Studia Philosophica-Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft, Separatum Bd. X, Basel: Verlag für Recht und Gesellschaft 1950, S. 7-19 (jetzt in: MBW 4). 541,7 Hermann Cohen […] God and man] »Der Geist des Menschen kann freilich nicht der Geist Gottes sein. Indessen gibt Gott seinen Geist in den Menschen, wie es die Korrelation erfordert. Also muß dennoch der Geist in dem Menschen, wenngleich nicht identisch, so doch vergleichbar mit dem Geiste Gottes sein. Die Korrelation ist notwendig: Schöpfung und Offenbarung machen sie notwendig. […] Die Korrelation wird aber erst durch den Geist vollziehbar. Also muß der Geist des Menschen ihm von Gott gegeben sein.« Cohen, Die Religion der Vernunft, S. 104. 542,6 Walter Blumenfeld] (1882-1967): dt.-jüd. Psychologe und Pädagoge. Blumenfeld arbeitete bis 1935 am Pädagogischen Institut der Universität Dresden und emigrierte im selben Jahr nach Peru, wo er an der Universität San Marcos angewandte Psychologie unterrichtete. 543,20 William Ernest Hocking] (1873-1966): US-amerik. Theologe und Philosoph. Hocking lehrte Philosophie an der Harvard University. 544,35 Perry LeFevre] (1921-2006): US-amerik. Theologe; Professor für Constructive Theology am Chicago Theological Seminary. 546,6 Maurice Nédoncelle] (1905-1976): franz. Philosoph; unterrichtete an der Theologischen Fakultät der Universität von Strasbourg. 546,15 Kurt H. Wolff] (1912-2003): dt.-US-amerik. Soziologe; emigrierte 1933 erst nach Italien, später über England in die USA. Wolff hatte eine Professur für Soziologie an der Brandeis University inne und übersetzte die Schriften Georg Simmels (1858-1918) ins Englische. 546,30-31 »A Conversion« […] Between Man and Man] Deutsche Ausgabe: »Eine Bekehrung«, in: Martin Buber, Zwiesprache, Berlin: Schocken Verlag 1932, S. 37-40 (jetzt in: MBW 4).
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546,32 E. la B. Cherbonnier] Edmond La Beaume Cherbonnier (geb. 1918): US-amerik. Theologe; Professur für Religion am Trinity College. 548,4 William H. Poteat] (1919-2000): US-amerik. Professor für Religion und Philosophie an der Duke University. 548,5-6 Vienna Circle] Der Wiener Kreis setzte sich zusammen aus Naturwissenschaftlern, Mathematikern und Logikern, die von 1924 bis 1936 zu regelmäßigen Treffen unter der Leitung des österr. Physikers Moritz Schlick (1882-1936) zusammenkamen, um die neuesten Entwicklungen in den Wissenschaften zu diskutieren. Die Diskussionen führten zum Postulat des logischen Positivismus, der als maßgebliches Ideal einer allgemeinen Wissenschaftstheorie gelten sollte. Zum Kreis, der seit 1928 auch vermehrt durch Publikationen zu wirken begann, gehörten u. a. Rudolf Carnap, Hans Reichenbach (18911953) und Otto Neurath (1882-1945). 548,6 Russel] der brit. Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell war maßgeblich an der Entwicklung der analytischen Philosophie beteiligt. 548,6 Wittgenstein] Der österr. Philosoph und Logiker Ludwig Wittgenstein (1889-1951) prägte mit seiner frühen Schrift Tractatus Logico-Philosophicus (1921), einer der einflussreichsten philosophischen Arbeiten des 20. Jh., die Entwicklung des logischen Positivismus und der analytischen Philosophie. Die Wirkung wurde durch seine späte Arbeit Philosophische Untersuchungen (1953) noch übertroffen. 548,7 Oxonian »ordinary language«] Die »ordinary language philosophy« oder auch linguistische Philosophie analysiert die Strukturen der Alltagssprache. Traditionelle philosophische Probleme werden in der extremsten Fassung dieser Position als bloße Irrtümer und Illusionen betrachtet, die sich aus einem Mißverständnis über die Funktionsweise der Sprache ergäben. 548,15 Rilke’s Duino Elegies] Rilkes Sammlung der zwischen 1912 und 1922 entstandenen Gedichte erschien 1923 im Insel Verlag. In zehn Elegien unternimmt Rilke die lyrische Darstellung eines metaphysischen Weltbildes. 548,15 Augustine’s Confessions] In seinen Confessiones (dt.: »Bekenntnisse«) stellt Augustinus seine persönliche Entwicklung zum christlichen Glauben hin dar. Die Schrift, die reflektierende Lebenserinnerungen und philosophische Betrachtungen enthält, gilt als erste Autobiographie überhaupt. 548,16 La Rochefoucauld’s] François de La Rochefoucauld (1613-1680):
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der franz. Adlige wurde durch die Veröffentlichung seiner Sammlung von Aphorismen und Maximen Réflexions ou Sentences et maximes morales (1664) als literarische Größe bekannt. 548,16-17 Wittgensteins Tractatus] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 548,6. 549,14 Jakob B. Agus] (1911-1986): US-amerik. Rabbiner und Theologe. 550,1 Peter A. Bertocci] (1910-1989): ital.-US-amerik. Philosoph; Professor für Philosophie an der Boston University. 552,10 Paul E. Pfuetze] (gest. 1985): US-amerik. Theologe; Professor für Religion am Vassar College. 552,17 Robert Assagioli] (1888-1974): ital.-jüd. Psychologe; begründete die transpersonale Psychotherapie. 552,17 your essay on »Hasidism and Modern Man«] Deutsche Ausgabe: Martin Buber, Der Chassidismus und der abendländische Mensch, Merkur 10 (1956), S. 933-943; jetzt in: MBW 17, S. 304-314. 553,31 Heinz-Joachim Heydorn] (1916-1974): dt. Pädagoge; Dozent an der Pädagogischen Hochschule in Kiel, später außerordentlicher Professor am Pädagogischen Institut in Jungenheim. 554,11 Robert M. Hutchins] (1899-1977): US-amerik. Bildungstheoretiker. Nach Unterricht an der Yale Law School und der University of Chicago gründete Hutchins 1959 das Center for the Study of Democratic Institutions. 554,13 Émile] Gemeint ist Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) pädagogischer Roman Émile ou De l’éducation (dt: »Émile oder über die Erziehung«), der 1762 erschien. 556,16 »Education«] Deutsche Ausgabe: Rede über das Erzieherische, Die Kreatur 1 (1926), S. 31-51; jetzt in: MBW 8, S. 136-154. 558,10 Friedrich Thieberger] österr.-jüd. Religionsphilosoph und Publizist. 561,21-22 Byzantine composer of hymns] Nicht ermittelt. 561,23-24 that Hasidic rabbi] Nicht ermittelt. 561,30 Arthur A. Cohen] (1928-1986): US-amerik-jüd. Theologe und Schriftsteller. 563,11 Helen Wodehouse] (1880-1964): brit. Religionsphilosophin. 563,18-19 in the Postscript to the second edition of I and Thou] In einem »Nachwort«, das Buber der Sonderausgabe von Ich und Du beifügte, die zu seinem 80. Geburtstag 1958 erschien, heisst es: »Die Bezeichnung Gottes als einer Person ist unentbehrlich für jeden, der wie ich mit ›Gott‹ kein Prinzip meint, wiewohl Mystiker wie Eckhart zuweilen ›das Sein‹ mit ihm gleichsetzen, und der wie ich mit ›Gott‹ keine Idee meint, wiewohl Philosophen wie Plato ihn zeitweilig für eine solche halten konnten, der vielmehr wie ich mit ›Gott‹ den
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meint, der – was immer er sonst noch sei – in schaffenden, offenbarenden, erlösenden Akten zu uns Menschen in eine unmittelbare Beziehung tritt und uns damit ermöglicht, zu ihm in eine unmittelbare Beziehung zu treten. Dieser Grund und Sinn unseres Daseins konstituiert je und je eine Mutualität, wie sie nur zwischen Personen bestehen kann. Der Begriff der Personhaftigkeit ist freilich völlig außerstande, das Wesen Gottes zu deklarieren, aber es ist erlaubt und nötig zu sagen, Gott sei auch eine Person.« (Martin Buber, Nachwort, in: ders., Ich und Du, Heidelberg: Lambert Schneider 1958, S. 116.) 564,1 precosmic primal catastrophe] Anspielung auf die Lehre der Lurianischen Kabbala, der zufolge der eigentlichen Schöpfung ein »Zerbrechen der Gefäße« vorausging, die sich als unvermögend erwiesen, Gottes Herrlichkeit auszuhalten. 564, 8 Frank B. Dilley] (geb. 1931) US-amerik. Philosoph. 564,34-35 most explicitly […] I and Thou] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 563,18-19. 565,2-3 »the servant’s garment of the person«] »Zwiefach aber hat er ein wahres Knechtsgewand angezogen. Das eine ist, daß er der Welt seine Schechina, seine ›Einwohnung‹, zugeteilt hat, und hat sie, seine Schechina, in die Geschichte der Welt eintreten und Widerspruch und Leid der Welt mitmachen lassen, und hat sie, seine Schechina, in das Exil des Menschen und in das Exil Israels mitgeschickt.« Martin Buber, Gog und Magog, Heidelberg: Lambert Schneider 1949, S. 296; jetzt in: MBW 19, S. 212. 565,5 David Baumgardt] (1890-1963): dt.-jüd. Philosoph; bis 1935 als außerordentlicher Professor für Philosophie an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität; emigrierte 1935 nach England, 1939 in die USA. 565,9-10 Spinoza, Sabbatai Zevi and the Baal-Shem] Deutsche Ausgabe: Martin Buber, Spinoza, Sabbatai Zwi und der Baalschem, in: Deutung des Chassidismus. Drei Versuche, Berlin: Schocken 1935, S. 42-64. Der Titel ist ursprünglich 1928 als »Geleitwort« zu Die chassidischen Bücher erschienen (jetzt in: MBW 17, S. 129-143). 565,11-12 glorreiches Verdorren […] monologischer Verselbständigung] Buber führt aus, durch Spinoza sei »die Tendenz des abendländischen Geistes zum monologischen Leben […] entscheidend befördert worden – und damit die Krisis des Geistes überhaupt, als der in der Luft des monologischen Lebens glorreich verdorren muß.« Buber, Spinoza, Sabbatai Zwi und der Baalschem, in: Deutung des Chassidismus, S. 45; jetzt in: MBW 17, S. 131. 565,26 amor fati] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 307,14-15.
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565,32 My father Job (no Israelite)] Tatsächlich stammt Hiob, wie es in der Bibel heißt, aus dem Lande Utz und gehört nicht zu Israel. Indem Buber dies unterstreicht, hebt er hervor, dass dem biblischen Glauben zufolge auch Nichtjuden als Gerechte im Wohlgefallen Gottes leben können. 566,1-2 »amor dei intellectualis« […] ipsum amat] Im 36. Lehrsatz des V. Teils seiner Ethik schreibt Spinoza: »Des Geistes geistige Liebe zu Gott ist genau die Liebe Gottes, mit der Gott sich selbst liebt, nicht insofern er unendlich ist, sondern insofern er durch die unter einem Aspekt von Ewigkeit betrachtete Essenz des menschlichen Geistes ausgedrückt werden kann, d. h., des Geistes geistige Liebe zu Gott ist Teil der unendlichen Liebe, mit der Gott sich selbst liebt.« (Spinoza, Ethik, S. 579 u. 581.) 566,9 Norman Kelman] (1915-1997): US-amerik. Psychoanalytiker. 566,9 William Alanson […] »Guilt and Guilt Feelings«] Die Vorlesung wurde auf Deutsch unter dem Titel »Schuld und Schuldgefühle« veröffentlicht. In: Merkur, 11. Jg., Heft 8, August 1957; jetzt in: MBW 10, S. 127-152. 566,29-30 in my book Eclipse of God […] »On the Suspension of the Ethical«] Vgl. den Abschnitt »Von einer Suspension des Ethischen«, in Gottesfinsternis, in diesem Band, S. 433-436. 566,34-35 »A divine protest opposed it«] Nicht nachgewiesen. Vgl. aber Wort- und Sacherläuterungen zu 432,8-9. 567,2-3 »Had I had faith […] with her«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 433,7-8. 569,4 Vedanta] Sanskrit: »Ende des Veda«. Der Begriff bezeichnete ursprünglich die am Ende der Veden stehenden Upanishaden, später allgemein die Hauptströmungen der hinduistischen Philosophie bis in die Neuzeit hinein. 570,5-6 »I will sin […] shall repent.«] mJoma VIII,9 (BT, Bd. III, S. 251). 571,16 Walter Goldstein] (1893-1984) Interpret Martin Bubers; dt.-jüd. Herkunft; 1934 Emigration nach Israel. 572,8 For the Sake of Heaven] Deutsche Ausgabe: Martin Buber, Gog und Magog. Eine Chronik, Heidelberg: Lambert Schneider 1949 (jetzt in: MBW 19). 572,18-19 »The Question to the Single One,« Between Man and Man] Deutsche Ausgabe: Martin Buber, Die Frage an den Einzelnen, Berlin: Schocken 1936 (jetzt in: MBW 4). 574,28-29 realistic meliorist] Der Begriff bezeichnet einen Menschen, der von der stetigen Verbesserung der Verhältnisse ausgeht.
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Über Leo Schestow Léo Schestow, eigentlich Lev Isaakovitsch Chvartsman (1866-1938), war russischer Religionsphilosoph und Schriftsteller. Er studierte Rechtswissenschaften und Mathematik in Moskau. Unter der kommunistischen Herrschaft nach der Oktoberrevolution von 1917 zunehmend in Bedrängnis geraten, emigrierte Schestow und ließ sich 1921 in Frankreich nieder. In Paris hatte er regen Anteil am geistigen Leben und war mit einem weiten Kreis von Philosophen, Religionswissenschaftlern und Schriftstellern bekannt und befreundet, zu dem etwa Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939), Alexandre Koyré (1892-1964) und Georges Bataille (18971962) gehörten. Seit 1922 lehrte er an der Abteilung für Slavistik an der Sorbonne. Er nahm 1928 an einer Tagung in Amsterdam teil, auf der er Husserl, dessen Werke er stark kritisierte, kennenlernte. Als Schestow Husserl im Spätjahr 1928 in Freiburg besuchte, empfing ihn Husserl freundlich, und sie diskutierten eifrig bis in die Nacht hinein. Husserl empfahl ihm mit Nachdruck, Kierkegaard zu lesen, der für die Entwicklung der Philosophie Schestows, neben Lew Tolstoi (1828-1910), Dostojewskij und Nietzsche, bedeutend werden sollte. Schestow nahm an den von Paul Desjardins (1859-1940) organisierten Treffen in Pontigny teil, die führende Philosophen, Religionswissenschaftler und Schriftsteller zusammenbrachten (vgl. den Kommentar zu »Bilder von Gut und Böse«, in diesem Band, S. 694f.). Zu diesen gehörte auch Martin Buber. In einem Brief an Ernst Simon vom 2. Dezember 1932 schreibt Buber: »Kürzlich schickte mir Schestow das Manuskript einer sehr interessanten Auseinandersetzung mit ›Zwiesprache‹, die er auf Anforderung in den ›Blättern für deutsche Philosophie‹ veröffentlicht, aber auch französisch drucken lassen will.« (B II, S. 452.) Es handelt sich um den folgenden Beitrag: Leon Chestov, Martin Buber. Un mystique juif de langue allemande, Revue Philosophique, 116 (1933), Nr. 7-8, S. 430-442. In diesem Text greift Schwestow ein Problem auf, das im Zentrum der Religionsphilosophie Bubers steht: das Verhältnis der Erkenntnis zu religiöser Erfahrung. In der Tat steht Buber Schestow sehr nahe in seiner Abgrenzung der religiösen Erfahrung von der Erkenntnis. Textzeuge: D: Nachlese, Heidelberg, Lambert Schneider 1965, S. 35 (MBB 1270). Druckvorlage: D
Über Leo Schestow
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Übersetzungen: Englisch: »On Leo Shestov«, in: A Believing Humanism. My Testament. 1902-1965, übers., eingel. und annotiert von Maurice Friedman, [Credo Perspectives], New York: Simon and Schuster 1967 (MBB 1293). Niederländisch: »Over Leo Sjestow«, in: Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw und Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Wort- und Sacherläuterungen: 575,8-9 in einer Bemerkung, die »Pro domo« überschrieben ist] Teil II.3 des Buchs Potestas Clavium, das Schestow zunächst 1923 in Berlin auf Russisch veröffentlichte, trägt den Titel: »Pro Domo Mea«.
Abkürzungsverzeichnis B I-III
BT
HA HGA
JBW JuJ
KGA MBA MBB
MBW
Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, 3 Bde., hrsg. und eingel. von Grete Schaeder, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1972-75. Bd. I: 1897-1918 (1972), Bd. II: 1918-1938 (1973), Bd. III: 1938-1965 (1975). Lazarus Goldschmidt, Der Babylonische Talmud. Nach der ersten zensurfreien Ausgabe unter Berücksichtigung der neueren Ausgaben und handschriftlichen Materials neu übertragen, Berlin 1929-1936. Johann Wolfgang Goethe, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. von Erich Trunz u. a., München 1998 Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Ausgabe letzter Hand in 102 Bänden, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Hermann u. a., Frankfurt a. M. 1975 ff. Jacob Burckhardt, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von der Jacob Burckhardt Stiftung, Basel 2000 f. Martin Buber, Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, mit einer Einl. von Robert Weltsch, Köln: J. Melzer Verlag 1963. Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin u. New York 1967 ff. Martin Buber-Archiv der National Library of Israel. Martin Buber. Eine Bibliographie seiner Schriften, 1897-1978, zusammengestellt von Margot Cohn und Rafael Buber, Jerusalem: Magnes Press, Hebräische Universität und München/New York et al.: K. G. Saur 1980. Martin Buber Werkausgabe: Bd. 1 Frühe kulturkritische und philosophische Schriften, 1891-1924, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Martin Treml, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2001. Bd. 2.1 Mythos und Mystik. Frühe religionswissenschaftliche Schriften, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von David Groiser, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2013. Bd. 2.2 Ekstatische Konfessionen, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von David Groiser, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012. Bd. 3 Frühe jüdische Schriften, 1900-1922, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Barbara Schäfer, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007. Bd. 4 Schriften über das dialogische Prinzip, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Paul Mendes-Flohr und Andreas Losch, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
Abkürzungsverzeichnis
WA
859
Bd. 5 Vorlesungen über Judentum und Christentum, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Orr Scharf, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2017. Bd. 6 Sprachphilosophische Schriften, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Asher Biemann, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2003. Bd. 7 Schriften zu Literatur, Theater und Kunst. Lyrik, Autobiographie und Drama, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Emily D. Bilski, Heike Breitenbach, Freddie Rokem u. Bernd Witte, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2016. Bd. 8 Schriften zu Jugend, Erziehung und Bildung, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Juliane Jacobi, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005. Bd. 9 Schriften zum Christentum, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Karl-Josef Kuschel, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011. Bd. 10 Schriften zur Psychologie und Psychotherapie, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Judith Buber Agassi, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008. Bd. 11 Schriften zur politischen Philosophie und zur Sozialphilosophie, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Francesco Ferrari und Stefano Franchini, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Bd. 13 Schriften zur biblischen Religion, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Christian Wiese, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Bd. 14 Schriften zur Bibelübersetzung, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Ran HaCohen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012. Bd. 15 Schriften zum Messianismus, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Samuel Hayim Brody, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2014. Bd. 17 Chassidismus II. Theoretische Schriften, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Susanne Talabardon, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2016. Bd. 18 Chassidismus III. Die Erzählungen der Chassidim, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Ran HaCohen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015. Bd. 19 Gog und Magog, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Ran HaCohen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009. Goethes’ Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abtlg. I-IV. 133 Bände in 143 Teilen, Weimar 18871919.
860
Abkürzungsverzeichnis
Werke II-III Martin Buber, Werke, 3 Bde., München: Kösel Verlag, und Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1962-64. Zweiter Band: Schriften zur Bibel (1964), Dritter Band: Schriften zum Chassidismus (1963).
Hebräische Bibel Gen Ex Lev Num Dtn Jos Ri I Sam II Sam I Kön Jes Jer Ez Hos Am Mi Mal Ps Spr Hi Pred Neh I Chr
Genesis (1. Mose) Exodus (2. Mose) Leviticus (3. Mose) Numeri (4. Mose) Deuteronomium (5. Mose) Josua Richter 1. Samuel 2. Samuel 1. Könige Jesaja Jeremia Ezechiel Hosea Amos Micha Maleachi Psalm(en) Sprüche Hiob Prediger Nehemia 1. Chronik
Neues Testament Apg Apk
Apostelgeschichte Johannes-Apokalypse
Außerkanonische Schriften Sir
Jesus Sirach
861
Abkürzungsverzeichnis
Rabbinische Literatur mJoma bAS bBer bKet bSuk
Mischna, Traktat Joma Talmud Bavli, Traktat Avoda Sara Talmud Bavli, Traktat Berakhot Talmud Bavli, Traktat Ketubbot Talmud Bavli, Traktat Sukka
BerR MTeh Tan
Bereshit Rabba (Genesis Rabba) Midrasch Tehillim Midrasch Tanchuma
Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Quellenverzeichnis 2. Literaturverzeichnis 2.1 Bibliographien 2.2 In den Band aufgenommene Schriften Martin Bubers 2.3 Verwendete Werke Martin Bubers 2.4 Verwendete Literatur 1. Quellenverzeichnis Aus dem Martin Buber Archiv (MBA) der National Library of Israel sind folgende unveröffentlichte Quellen verwendet worden:
1.1 Handschriften und Typoskripte Religion als Gegenwart (Typoskripte) Arc. Ms. Var. 350 bet 29 Die Religion als Wirklichkeit (Typoskript) Arc. Ms. Var 350 bet 40c Die religiöse Welterfassung (Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 bet 40e Religion und Philosophie (Handschriften) Arc. Ms. Var. 350 bet 39 Mappe 1 Was soll mit den zehn Geboten geschehen? (Handschriften) Arc. Ms. Var. 350 gimel 72 Früchte eines Gedankens (Handschriften) Arc. Ms. Var. 350 bet 67 Zu Bergsons Begriff der Intuition (Handschrift) Arc. Ms. Var. 350 bet 58 Das Problem des Menschen (Typoskripte) Arc. Ms. Var 350 bet 12 Bilder von Gut und Böse (Handschriften) Arc. Ms. Var. 350 bet 23 Gottesfinsternis (Handschriften und Typoskripte) Arc. Ms. Var. 350 bet 39 u. Arc. Ms. Var. 350 bet 39 Mappe 2 Zwischen Religion und Philosophie (Handschriften und Typoskript) Arc. Ms. Var 350 bet 39a Philosophical Interrogations (Handschrift und Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 bet 85
863
Quellen- und Literaturverzeichnis
2. Literaturverzeichnis 2.1 Bibliographie Martin Buber. Eine Bibliographie seiner Schriften, 1897-1978, zusammengestellt von Margot Cohn u. Rafael Buber, Jerusalem: Magnes Press, Hebräische Universität München/New York et. al.: K. G. Saur 1980.
2.2 In den Band aufgenommene Schriften Martin Bubers Antwort [an meine Kritiker], in: Martin Buber. Philosophen des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Paul Arthur Schilpp und Maurice Friedman, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1963, S. 589-639. Die Bedeutung göttlicher Offenbarung in der allgemeinen Religionsgeschichte [Übersetzung aus dem Hebräischen], »Erekh ha-Hitgalut ha-elohit ba-historja ha-datit«, in: Ha-poel ha-tzaʿ ir, 20. Jg., Heft 30-31 vom 18. Ijar 1927; S. 11-13. Bilder von Gut und Böse, Köln: Hegner 1952. Fragmente über Offenbarung, in: Für Margarete Susman. Auf gespaltenem Pfad, hrsg. v. Manfred Schlösser, Darmstadt: Erato-Press 1964, S. 78-83. Früchte eines Gedankens, [Übersetzung aus dem Hebräischen], »Perotaw schel raʿ jon«, in: Ha-aretz vom 4. Juni 1943 (MBB 682). Gläubiger Humanismus, in: Mitteilungsblatt, Jg. 31, Heft 50, 13. Dezember 1963, S. 5. Gottesfinsternis, Zürich: Manesse 1953. [Rezension zu] Hugo Bergmann: Wissenschaft und Glaube [Übersetzung aus dem Hebräischen], »Bergmann, Schmuel Hugo, Mada we-emuna«, in: Jad la-qore, 1. Jg., Heft 1-2, Mai/Juni 1946, S. 46-47. In jüngeren Jahren, in: Harald Braun (Hrsg.), Dichterglaube. Stimmen religiösen Erlebens, Berlin-Steglitz: Eckhart 1931, S. 52-53. Der Mensch und sein Gebild, Heidelberg: Lambert Schneider 1955. [Metanthropolical Crisis, in: transition, Den Haag: Servire 1932, S. 112. Nach dem Tod, in: Münchener Neueste Nachrichten, 8. Februar 1928, S. 2. Philon und Cohen, in: Jüdische Rundschau, Jg. 33, 17. August 1928, S. 55-56. [Aus:] Philosophical Interrogations, in: Philosophical Interrogations: Interrogations of Martin Buber, John Wild, Jean Wahl, Brand Blanshard, Paul Weiss, Charles Hartshorne, Paul Tillich. Edited, with an Introduction by Sydney and Beatrice Rome, New York u. Evanston: Holt, Rinehart and Winston 1964, S. 33-117. Das Problem des Menschen, Heidelberg: Lambert Schneider 1948. Religion als Gegenwart, Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 29). Die Religion als Wirklichkeit, Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var 350 bet 40c).
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Religion und Philosophie, in: Europäische Revue, August 1929, Jg. 5, Heft 2, S. 325335. Die religiöse Welterfassung, Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 40e). Rosenzweig und die Existenz, in: Mitteilungsblatt des Irgun Olej Merkas Europa, Jg. 24, Heft 52, 28. Dezember 1956, S. 3. Die Tränen, in: Jüdische Rundschau, Jg. 33, Heft 64/65, Mai 1928, S. 199. Über Leo Schestow, in: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 35. Was soll mit den zehn Geboten geschehen?, in: Die Literarische Welt, 7. Juni 1929, S. 3. Zu Bergsons Begriff der Intuition, in: Hinweise. Gesammelte Essays, Zürich: Manesse 1953, S. 220-228. Zur Situation der Philosophie, Proceedings of the Xth International Congress of Philosophy, Amsterdam: North-Holland Publishing 1949, S. 317-318. Zwischen Religion und Philosophie, in: Neue Wege, Jg. 47, Heft 11/12, 1953, S. 436439.
2.3 Verwendete Werke Martin Bubers Des Baal-Schem-Tow Unterweisung im Umgang mit Gott, Hellerau: Jakob Hegner 1927; jetzt in: MBW 17, S. 99-128. Begegnung. Autobiographische Fragmente, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1960; jetzt in: MBW 7, S. 271-309. Das Buch der Preisungen. (Die Schrift XIV), verdeutscht von Martin Buber, Berlin: Schocken Verlag [1935]. Das Buch Jirmejahu. (Die Schrift XI), verdeutscht von Martin Buber, Berlin: Lambert Schneider [1930]. Das Buch Könige. (Die Schrift IX), verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Berlin: Lambert Schneider Verlag [1929]. Das Buch Namen. (Die Schrift II), verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Berlin: Lambert Schneider Verlag [1926]. Die chassidische Botschaft, Heidelberg: Lambert Schneider 1952; jetzt in: MBW 17, S. 251-303. Cheruth. Eine Rede über Jugend und Religion, Wien u. Berlin: R. Löwit Verlag 1919; jetzt in: MBW 8, S. 109-127. Daniel. Gespräche von der Verwirklichung, Leipzig: Insel Verlag 1913; jetzt in: MBW 1, S. 183-245. Das dialogische Prinzip, Heidelberg: Lambert Schneider 1962; jetzt in: MBW 4. Ekstatische Konfessionen, Jena: Eugen Diederichs 1909; jetzt in: MBW 2.2, S. 45-195. Elemente des Zwischenmenschlichen, in: Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg: Lambert Schneider 1954, S. 255-283; jetzt in: MBW 4.
Quellen- und Literaturverzeichnis
865
Die Erzählungen der Chassidim, Zürich: Manesse Verlag 1949; jetzt in: MBW 18.1, S. 121-725. Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit, in: Hinweise. Gesammelte Essays, Zürich: Manesse 1953, S. 121-141; jetzt in: MBW 11.1. Die Frage an den Einzelnen, Berlin: Schocken Verlag 1936. Franz Rosenzweig, Kant-Studien 4 (1930), S. 517-522; aufgenommen in: JuJ, S. 819824; jetzt in: MBW 20. Die fünf Bücher der Weisung, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Köln und Olten: Jakob Hegner 1954. Der Geist des Orients und das Judentum, in: Vom Geist des Judentums, Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1916, S. 9-48; jetzt in: MBW 2.1, S. 187-203. Geleitwort, in: Der große Maggid und seine Nachfolge, Frankfurt a. M.: Rütten und Loening 1921, S. XIII-XCVI; jetzt in: MBW 17, S. 53-96. Geleitwort zur Gesamtausgabe, in: Die chassidischen Bücher, Hellerau: Jakob Hegner 1928, S. XI-XXXI; jetzt in: MBW 17, S. 129-144. Dem Gemeinschaftlichen folgen, Die Neue Rundschau 4 (1956), S. 582-600; jetzt in: MBW 6, S. 103-123. Geschehende Geschichte. Ein theologischer Hinweis, Jüdische Rundschau, 38. Jg., Nr. 64, 11. August 1933, S. 413; jetzt in: MBW 15, S. 277-280. Die Geschichten des Rabbi Nachman, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1906; jetzt in: MBW 16. Der Glaube der Propheten, Zürich: Manesse Verlag 1950; jetzt in: MBW 13. Gog und Magog. Eine Chronik, Heidelberg: Lambert Schneider 1949; jetzt in: MBW 19, S. 37-275. Der heilige Weg. Ein Wort an die Juden und an die Völker, Rütten & Loening: Frankfurt a. M. 1919; jetzt in: MBW 11.1. Ich und Du, Leipzig: Insel Verlag 1923; jetzt in: MBW 4. Das Judentum und die Juden, in: Drei Reden über das Judentum, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1911, S. 11-31; jetzt in: MBW 3, S. 219-227. Eine jüdische Hochschule – Das Projekt einer jüdischen Hochschule, Martin Buber, Berthold Feiwel, Chaim Weizmann, Berlin: Jüdischer Verlag 1902; jetzt in: MBW 3, S. 363-391. Königtum Gottes, Berlin: Schocken Verlag 1932; jetzt in: MBW 15, S. 93-241. Die Legende des Baalschem, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1908; jetzt in: MBW 16. Die Lehre und die Tat, Jüdische Rundschau 34, Nr. 40 vom 18. Mai 1934; jetzt in: MBW 8, S. 257-264. Leitwortstil in der Erzählung des Pentateuchs, in: Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin: Schocken Verlag 1936, S. 211-238; jetzt in: MBW 14, S. 95-110. Moses, Zürich: Gregor Müller Verlag 1948; jetzt in: MBW 13. Nachwort, in: Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg: Lambert Schneider 1954, S. 287-306; jetzt in: MBW 4. Pfade in Utopia, Heidelberg: Lambert Schneider 1950; jetzt in: MBW 11.2.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Prophetie, Apokalyptik und die geschichtliche Stunde, Merkur 12 (1954), S. 11011114; jetzt in: MBW 15, S. 380-393. Religion und Gottesherrschaft, Frankfurter Zeitung vom 27. April 1923, Literaturblatt; jetzt in: MBW 9, S. 84-86. Schuld und Schuldgefühle, Merkur, 11. Jg., Heft 8, August 1957, S. 705-729; jetzt in: MBW 10, S. 127-152. [Über den Chassidismus, unveröffentlichter Vortrag], jetzt in: MBW 17, S. 178-192. Urdistanz und Beziehung, in: Studia Philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft, Vol. X, Basel: Verlag für Recht und Gesellschaft 1950, S. 7-19; jetzt in: MBW 4. Völker, Staaten und Zion – Ein Brief an Hermann Cohen und Bemerkungen zu seiner Antwort, Berlin u. Wien: R. Löwit 1917. Vorlesungen zu Judentum und Christentum [Typoskripte], jetzt in: MBW 5, S. 51-326. Vorrede, in: Reden über das Judentum. Gesamtausgabe, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1923, S. IX-XIX. Vorwort, in: Der große Maggid und seine Nachfolge, Frankfurt a. M.: Rütten und Loening 1921, S. [V]-XI; jetzt in: MBW 18, S. 51-55. Vorwort, in: Reden über Erziehung, Heidelberg: Lambert Schneider 1956, S. 7-9. Vorwort zur zweiten Auflage, in: Königtum Gottes, Berlin: Schocken Verlag 1936, S. XXI-LX; jetzt in: MBW 15, S. 242-265. Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre, Den Haag: Pulvis Viarum 1948; jetzt in: MBW 17, S. 233-250. Das Wort, das gesprochen wird, in: Wort und Wirklichkeit, hrsg. v. d. Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München: R. Oldenburg 1960, S. 15-31; jetzt in: MBW 6, S. 125-137. Zarathustra, [Handschrift], jetzt in: MBW 1, S. 103-117. Zion, der Staat und die Menschheit. Bemerkungen zu Hermann Cohens »Antwort«, Der Jude, 1. Jg., Heft 7, Oktober 1917, S. [425]-433; jetzt in: MBW 3, S. 307-320. Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift – Beilage zu dem Werk »Die fünf Bücher der Weisung«, verdeutscht von Martin Buber, Olten: Jakob Hegner 1954; jetzt in: MBW 14, S. 186-220. Zur Verdeutschung der Preisungen: Martin Buber und Franz Rosenzweig, in: Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin: Schocken Verlag 1936, S. 168-183; jetzt in: MBW 14, S. 86-94. Zwei Glaubensweisen, Zürich: Manesse Verlag 1950; jetzt in: MBW 9, S. 202-312. Zwiesprache, Berlin: Schocken Verlag 1932; jetzt in: MBW 4.
2.4 Verwendete Literatur Des Aischylos Werke, Band 2, übers. von Johann Gustav Droysen, Berlin 1932. Arendt, Hannah / Heidegger, Martin, Briefe 1925 bis 1975, hrsg. von Ursula Ludz, Frankfurt a. M. 1998.
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Aristoteles, Über die Teile der Lebewesen, übers. von Wolfgang Kullmann, in: ders., Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 17.1, Darmstadt 2007. Augustinus, Confessiones, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, München 1980, 4. Aufl. Avesta: die heiligen Bücher der Parsen, hrsg. von Fritz Wolff, Strassburg 1910. Baader, Franz von, Ueber das Verhalten des Wissens zum Glauben, Münster 1833. Balthasar, Hans Urs von, Martin Buber und das Christentum, in: Martin Buber, S. 330-345. Benjamin, Walter, Gesammelte Briefe, Bd. V: 1935-1937, hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1999. Berdjajew, Nikolaj A., Selbsterkenntnis. Ein Versuch einer philosophischen Autobiographie, Darmstadt 1953. Bergmann, Hugo »Gottesfinsternis« [Rezension], in: Neue Wege, Blätter für den Kampf der Zeit, Bd. 47, Heft 9, Sept. 1953, S. 345-349. Ders., Martin Buber und die Mystik, in: Martin Buber, S. 265-274. Ders., Tagebücher und Briefe, hrsg. von Miriam Sambursky, Bd. I: 1901-1948, Bd. II: 1948-1975, Königstein/Ts. 1985. Bergson, Henri, Einführung in die Metaphysik, in: ders., Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, übers. von Leonore Kottje, Hamburg 2008, S. 180-225. [Übersetzung von La pensée et le mouvant, Paris 1946.] Ders., Les deux sources de la morale et de la réligion, 4. Aufl., Paris 1932. Ders., L’évolution créatrice, Paris 1907. Ders., Schöpferische Entwicklung, übers. von Gertrud Kantorowicz, Jena 1921. Bourel, Dominique, Introduction, in: Martin Buber, »Le mal est-il une force indépendante?« avec un introduction par Dominique Bourel, in: Archives de Philosphie 4 [1988], S. 529-598, hier S. 529-545. Ders., Les fonds français de la Bibliothèque nationale et universitaire juive de Jérusalem, Bulletin du Centre de recherche français à Jérusalem, 5 [1999], S. 21-32. Ders. Martin Buber. Sentinelle de l’humanité, Paris 2015. Bouretz, Pierre, Témoins du futur: Philosophie et messianisme, Paris 2003. Bultmann, Rudolf, Zur Geschichte der Lichtsymbolik im Altertum, Philologus – Zeitschrift für antike Literatur und ihre Rezeption, 97 (1948), S. 1-36. Buytendijk, Frederik Jacobus Johannes, Zur Untersuchung des Wesensunterschieds von Mensch und Tier, in: Blätter für deutsche Philosophie, III (1929), S. 33-66. Chaubert, François, Les Décades de Pontigny (1910-1939), Vingtième Siècle, revue d’histoire, 1 (1998), S. 36-44. Cohen, Hermann, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Gießen 1915. Ders., Innere Beziehungen der Kantischen Philosophie zum Judentum, in: ders., Jüdische Schriften, Bd. 1: Ethische und religiöse Grundfragen, hrsg. von Bruno Strauß, Berlin 1922, S. 284-305. Ders., Die Liebe zur Religion, in: ders., Jüdische Schriften, Bd. 2: Zur Jüdischen Zeitgeschichte, hrsg. von Bruno Strauß, Berlin 1924, S. 142-148. Ders., Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Leipzig 1919.
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Glossar *) Chassidismus: durch Rabbi Israel ben Eliezer, gen. Baal Schem Tov gegr. volkstümliche mystische Bewegung des Judentums; von Osteuropa ausgehend, verbreitete sie sich in der Diaspora ebenso wie im Staat Israel. Chassidut: hebr. ! Chassidismus, als Gesinnung der Lebensfrömmigkeit verstanden. Funken (hebr. Nitzotzot): Nach spätkabbalistischer Lehre, die vom Chassidismus ethisch ausgestaltet worden ist, sind in einer Katastrophe der Urschöpfung Funken der göttlichen Lichtsubstanz in die unteren Welten gesunken und haben die »Schalen« der Dinge und Wesen gefüllt. Jom Kippur: hebr. »Versöhnungstag«; der Tag des Sündenbekenntnisses und der Läuterung, an dem von einem Abend bis zum andern streng gefastet wird. Der ganztägige Gottesdienst enthält als zentrales Element das Sündenbekenntnis. Vor dem Fest sollen alle einander vergeben, da der Tag nur die Sünden gegen Gott, nicht auch die gegen die Mitmenschen sühnt, solange sie von diesen nicht vergeben sind. Kabbala: hebr. »Überlieferung«; Bezeichnung der jüd. Mystik des Mittelalters und der frühen Neuzeit, die sich durch theurgische Praktiken sowie Spekulationen über das innere Wesen Gottes und die Schöpfung der Welt auszeichnet. Buchstabendeutungen, -permutationen und Zahlenkombinationen stellen ihre wichtigsten hermeneutischen Techniken dar, die aus jedem Zeichen den verborgenen Sinn freilegen sollen. Für den Chassidismus ist besonders die Phase der lurianischen Kabbala, die sich im 16. Jh. in Palästina entwickelte, bedeutsam. Midrasch: hebr. »Auslegung«, »Studium«. Eine der homiletischen Schriftauslegung gewidmete, an Legenden, Parabeln, Gleichnissen und Weisheitssprüchen reiche, nachtalmudische Literaturgattung. Rabbi: hebr. »mein Lehrer«, »mein Meister«; Anrede verehrter jüd. Lehrer, Gelehrter; seit talmud. Zeit der Titel des ordinierten jüd. Rechtsgelehrten, der die Tora verbindlich auslegen kann und Auskunft in relig. Fragen erteilt; Führer einer chassidischen Gemeinde. Schechina: hebr. »Einwohnung« [Gottes]; in der rabbinischen Literatur die Gegenwart Gottes im Volke Israel, insbesondere im Heiligtum; von den Kabbalisten als letztes der zehn Attribute Gottes bestimmt, seine weibliche Eigenschaft; wird in der ! Kabbala zum zentralen Symbol der Exilssituation. Talmud: Hauptwerk der jüdischen Lehre und des Religionsgesetzes. Der maßgebliche babylonische Talmud wurde gegen Ende des 5. Jahrhunderts redigiert, der Jerusalemer Talmud ungefähr hundert Jahre zuvor.
*)
Sofern der Begriff in den Schriften Bubers vorkommt, wird dessen Schreibweise übernommen. Alle anderen im Glossar angeführten hebräischen Begriffe folgen der für die MBW festgelegten Umschrift.
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Glossar
T(h)ora: wörtl. »Lehre«; Grundbegriff des Judentums; bezeichnet im engeren Sinn den Pentateuch (die fünf Bücher Moses), im weiteren Sinne die jüdische Glaubenslehre insgesamt. Von Buber oftmals mit »Lehre« übersetzt. Zaddik (Plural Zaddikim): hebr. »Gerechter«; durch charismatische Eigenschaften oder durch dynastische Abfolge legitimierte höchste relig. Autorität einer Gemeinde von ! Chassidim. Zionismus: im weiteren Sinn die relig.-politische Orientierung am Land Israel, als politische Bewegung 1897 von Theodor Herzl gegr., um den Erwerb eines Territoriums für das jüd. Volk, nach Möglichkeit in Palästina, zu erreichen.
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712 349, 597, 716 323 333 325 326 326 712 712 604 324 328 323, 712 (2 �) 327, 328, 597, 601 329, 712 (3 �) 327 712 327 327 323 331 713 332 331 331 712 331, 713 (2 �) 712 606 606 606 606 504, 606 606 604 606 606 566, 607 329 777 606 (2 �) 606
28,18 31,13 32,3 32,31 35,1 35,12 Ex 3 3,11 3,12 3,13 3,14
606 606 606 606 606 606
3,14 f. 13,2 13,12 13,13 13,15 15,12-17 19 19,5 19,6 19-20 20,2 20,2-7 20,3 20,4 20,7 20,12 20,16 20,18 24,1 24,7 25,23-30 34,19
607 607 607 607 591, 607 (2 �), 684, 764 320 328 328 607 328 506 603 507 773 604 597 607 606 755 626 811 626 604 604 759 712 328
Lev 19,2 19,18 19,34
773 597 (2 �), 763 763
Num 3,12 18,15
328 328, 607
Dtn 1,39 6,4
322 809
6,5 8,6 17,11 19,9 30,19
334, 809 773 507 773 346
I Sam 21,7
328
II Sam 12,13 14,17 14,20 24,1
327 322 322 435
I Kön 19,12
777
Jes 8,8 8,17 8,20 14 14,12-15 30,20 40,31 41,8 45,7 45,15 48,18 f. 49,2 50,4
509, 813 509, 810, 813 509, 813 345 716 507 591 504 323, 813 400, 509, 844 510 518 510
Jer 7,31 8,8
607 508
Ez 28 38,2
345 316
Hos 5,3 f. 6,6 14,2 14,5
447 447 509 509
Am 3,2
447
880 Mi 6,7 6,8 Mal 3,7 Ps 1 1,2 8,5 10,11 58,2 73 73,7 73,28 82,2 86,11 109,22 111,10 128,1 Spr 1,7 3,6 9,10 Hi 28,28 Pred 4,4 9,10
Stellenregister Rabbinische Literatur 435 435
Mischna
509
mJoma VIII,9
772
Politeia 517c
773
7. Brief
760
Timäus 29a
760
855
Babylonischer Talmud 507 812 667 810 322 512 331, 713 323 322 334 333 597 773 597 513 597
bAS 8a
758
bBer 17a 54a 61a
713 713 (2 �), 716 713
bKet 111
512
bSuk 52a
Aischylos Agamemnon V. 160 f. 758 Fragmente 304
758
713 Euripides Die weise Melanippe Nr. 480 758
Midrasch BerR III,9 IX,7
Aristoteles De Partibus Animalium 645 a 19 759
809 713 (2 �)
Die Troerinnen V. 884-887 590
597 333 513
Tan Bereschit I,7 713 Bereschit I,9 713
Augustinus Confessiones X,8,15 667 X,17,26 667
MTeh zu Ps 86,11 713
Neh 9,8
333, 713
I Chr 21,1
435
Andere Literatur Antike Autoren
Neues Testament
Anaximander 12 B 1 772
Apg 8,9-25 8,10
811 811
Herakleitos 22 B 94 772 22 B 32 804
Apk 20,7-16
711
Protagoras 80 B 1 80 B 4
772 759
Platon Kratylos 400d
758
Außerkanonische Schriften Sir 15,14 f.
Nomoi 716c
713
Jehuda HaLevi Kusari IV,3 607 Maimonides Führer der Verirrten I, Kap 63 607
Sachregister Abel 85, 327 Abraham 77-78, 180-181, 182, 184, 186, 329, 333, 433-435, 604, 776, 777-778, 837, 842, 843 Absolutes 201, 270, 279, 282, 284, 286, 290291, 292, 370, 378, 385, 390, 403, 421424, 427, 431, 632 Adam 168, 176, 195, 328, 352 Ahriman 338-339, 603, 714, 715 Ahura Mazdah 338, 603, 714, 715 Alltag 196, 209, 382, 515 Altes Testament, siehe Bibel Angst 279-280 Anthropologie 235, 239, 656, 659-660 –, philosophische 15-16, 17-18, 25, 29, 39, 40, 57, 58, 61, 67, 68, 79, 225, 227-230, 232, 243, 252, 258, 261, 266, 270, 271, 468, 658 Apokalyptik 27-28, 510, 605 Architektur 459-460 Aspektivismus 161, 595, 596 Atheismus 399, 404-405, 444 Augenblick 198, 199, 200, 203-204, 380381, 383, 385 Autorität 530-531 Avesta 85, 102, 336, 338-339, 340, 342, 346, 588, 711, 714 Baal 184, 185, 606, 624, 847 Bedürfnis, religiöses 400-401 Begegnung 133-134, 157-158, 216, 286, 310, 312, 367, 368, 370, 373, 402-403, 440, 448, 450, 451, 456, 469, 471, 474, 475, 476, 479-480, 481, 483-484, 491, 527-528, 530, 822, 826, 827, 832, 848 Bergpredigt 429 Bergson, Henri –, L’Evolution Créatrice 600, 646, 647 Bewährung 24, 33, 56-57, 59, 79, 86, 149, 153, 154, 155, 198, 357, 465, 797 Bewusstsein, modernes 413-415 Beziehung, siehe auch Ich-Du-Verhältnis 118-120, 125, 127-128, 133-134, 137-138, 142, 146, 149, 151-152, 154, 277, 278, 283, 311, 378, 423, 475, 483-484 –, religiöse 422 Bibel 33, 183, 192-193, 345-346, 348, 400, 418, 435, 447, 506, 508, 524, 584 Bild 304, 444, 735
Böses 23, 80-81, 84-86, 101-103, 316, 323324, 330, 334, 336-337, 339, 344, 346, 347, 351-352, 355, 356, 417, 418, 432, 433, 499-500, 694-695, 699-700, 743, 844, 846, 847 –, radikal 81, 845, 847 Buber, Martin –, Des Baal-Schem-Tow Unterweisung im Umgang mit Gott 597 –, Begegnung 590, 591, 592, 611, 752-753, 800 –, Die chassidische Botschaft 23, 65, 85 –, Daniel 18, 25, 29-30, 31-32, 34-35, 38, 40, 44, 53, 55, 56, 85, 588 –, Drei Reden über das Judentum 609-610, 779 –, Ekstatische Konfessionen 590 –, Elemente des Zwischenmenschlichen 24, 62-63, 64, 490 –, Die Frage an den Einzelnen 18, 24, 33, 47, 79, 81-82, 490, 628 –, Dem Gemeinschaftlichen folgen 30, 796 –, Die Geschichten des Rabbi Nachman 22 –, Gog und Magog 71-72, 317, 519, 595, 695, 711, 810 –, Der große Maggid und seine Nachfolge 23, 83, 84 –, Ich und Du 13, 18, 22, 24-25, 39, 40, 43, 45, 47, 51, 52, 54, 62, 63, 64, 67, 80, 445, 467, 483, 484, 486, 581-582, 589, 595, 597, 600, 691, 754, 760, 780, 824, 826, 829, 835, 842, 853 –, Königtum Gottes 507 –, Die Legende des Baalschem 23, 57, 85, 86 –, Moses 507 –, Nachlese 815, 816 –, Pfade in Utopia 30, 628 –, Prophetie, Apokalyptik und die geschichtliche Stunde 25 –, Rede über das Erzieherische 835 –, Reden über das Judentum 755 –, Urdistanz und Beziehung 472, 789 –, Völker, Staaten und Zion 609 –, Zwei Glaubensweisen 14, 677, 797, 808 –, Zwiesprache 18, 23, 24, 38, 45, 47, 60, 490, 789, 829
882 Buddhismus 199, 422, 590, 596, 615, 621, 758 –, Zen- 512 Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands 494, 809 Chaos 349, 351 Chassidismus 14, 20-21, 22, 24, 26, 28, 47, 80, 83, 85, 167, 224, 503, 510-513, 515516, 518-519, 524, 716, 797, 801, 815, 841 Christentum 197, 233, 254, 268, 428-429, 431, 492, 585, 673 –, frühes 339 Christus 419, 428 Cohen, Hermann –, Der Begriff der Religion im System der Philosophie 37, 393, 395 –, Ethik es reinen Willens 392-393 –, Die Liebe zur Religion 393 –, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums 395, 608, 610 –, Religion und Sittlichkeit 393 Commentary 720 Dante Alighieri 667 –, Divina Commedia 233, 697 –, Vita Nova 764 Dao 196, 379-380, 424-425, 621, 771 Daoismus 589, 621, 850 Dasein 49, 271-272, 273-274, 277, 281, 288 David 333 Dekalog 205-207, 507-508 Denken 445-446, 469-470 Der Jude 599, 609, 779 Descartes, Rene –, Disours de la Méthode 535 Dialog, Dialogik, siehe auch Prinzip, dialogisches 311-312, 475 Dichtung 460 Die Kreatur 699, 794 Die Neue Rundschau 800 Dostojewskij, Fjodor –, Die Brüder Karamasow 166, 597, 759 –, Die Teufel 93, 587 Du 130 –, absolutes 131, 133, 134, 140, 141-142, 144, 149, 151, 154-155 Eigentlichkeit 26, 273, 522 Einsamkeit 264-265, 274, 275, 282, 306307, 361
Sachregister Engels, Friedrich –, Dialektik der Natur 247-248 Entretiens de Pontigny 696-699 Entscheidung 21, 23, 25, 27, 33, 55, 79, 8586, 100-101, 121, 127, 173, 249, 332, 337, 346, 350-351, 354, 356-357, 421-423, 426, 428, 478-479, 517 Ereignis 40, 53, 62, 67, 300, 302 Erfahrung 115-119, 124, 136, 467-468, 471 Erkenntnis, Erkennen 176, 195, 447, 451, 461 Erlebnis 29, 34, 43, 110-111, 116-117, 491, 588-589 Erlösung 22, 23, 27, 47, 163, 196, 233, 246247, 270, 380, 494, 504, 509, 518-520, 532 Ethik, Ethisches 99, 421, 423, 427-428, 433, 435, 825 Euripides –, Die Troerinnen 146, 376, 590 Existentialismus 56, 399, 409, 464, 796, 821 Feuerbach, Ludwig –, Das Wesen des Christentums 611 Fiktionismus 100, 161, 588, 595 Freies Jüdisches Lehrhaus 9, 13, 478, 581585, 805 Freiheit 157-158, 428 Fürsorge 276-277, 281, 282, 285, 503 Gadamer, Hans-Georg –, Wahrheit und Methode 59 Gebet 97, 156, 159, 439, 445-446, 514, 735 Gefühl 108-109, 174 Gegenwart 128-129, 146 Geheimnis 49, 98, 159, 164, 166, 172, 187, 201, 209, 284, 285, 286, 287, 295, 381, 444, 595 Geist 66-67, 89, 91, 93, 292-302, 304-305, 385, 438, 487-488, 489, 609, 669, 851 Gemeinschaft 30, 159, 261, 285, 303, 304, 309, 311, 821-822 Gerechtigkeit 427-428, 435 Geschichte 74-75, 160, 202, 244, 258, 266, 326, 408, 424, 530, 675 Gesetz 101, 149-150, 507-508 Gespräch 31, 34, 36, 38, 44, 63 Gestalt 52-53, 97 Gewissen 416, 479 Glaube 48, 97, 154, 162-163, 205, 219, 233, 246, 268, 379, 392, 429, 440, 445, 461, 463, 465-466, 479, 525-526, 528, 721 –, israelitischer 187 Gnade 301, 479
Sachregister Gnosis 46, 232, 237, 286, 295, 419, 438, 444, 496, 512, 521, 522-523, 667, 770, 841 Gott 15, 50, 71, 77, 98-100, 131, 142, 145, 147, 154, 156-157, 162, 178, 180, 187, 189, 190, 197, 235, 284-286, 357, 367369, 372, 374, 389-392, 400-401, 405, 407, 410, 420, 422, 428, 433, 435, 437, 442, 445-448, 468, 471, 475, 492-493, 521, 526, 532, 610-611, 612, 614, 621, 635, 669-670, 736, 745, 755, 756, 759761, 782-783, 785-786, 788, 838, 839841, 842-844, 851, 853 –, Furcht 165-167, 174, 200, 381-382 –, Gegenwart 147, 156, 397, 484 –, Liebe zu 334, 351, 368, 393-396, 608609, 669 –, Schweigen Gottes 495 –, Tod Gottes 78, 372, 399, 401, 404, 408, 432 –, unbekannter 376 –, verborgener 509, 844 –, Weg Gottes 196, 379 –, werdender 23, 98, 291-292, 839-840 –, Wille 206, 509, 530, 533 –, Wort 158 Gottesbeweis 787, 838 Gottesname 185-187, 469, 507 Gutes 80-81, 84, 85-86, 101-103, 316, 323324, 330, 331, 334, 336-337, 347, 350, 351-352, 355, 356, 425-426, 432, 433, 500, 847 Hegel –, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 243, 251 –, Der Geist des Christentums und sein Schicksal 673 –, Vorlesungen zur Ästhetik 83 Heidegger, Martin –, Brief über den Humanismus 692 –, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung 73 –, Hölderlin und das Wesen der Dichtung 75 –, Holzwege 17 –, Kant und das Problem der Metaphysik 58 –, Sein und Zeit 17, 67, 72, 288, 681, 684 –, Über den Humanismus 74 –, Unterwegs zur Sprache 73 –, Der Ursprung des Kunstwerks 52, 73, 790, 792 Heiliges 20-21, 404-405, 408, 427, 832-833
883 Heiligung 176, 833 Hiob 382, 396, 625, 759, 826, 842, 854 Hölderlin, Friedrich –, Empedokles 38 –, Hyperion 29, 38 Humanismus, gläubiger 525-526, 528 Humor 465-466, 797-798 Husserl, Edmund –, Formale und transzendentale Logik 63 –, Ideen zu einer phänomenologischen Philosophie und Transzententalphänomenologie 62 –, Die Krisis der europäischen Wissenschaften 69, 682 –, Logische Untersuchungen 70 –, Méditations Cartésiennes 63 Ich, das 122-123, 127, 129, 136, 201, 384 Ich-Du-Verhältnis 130, 135, 140-141, 144, 147, 155, 283, 401, 439, 440-441, 445, 467, 470, 472, 473, 475, 481, 482, 483, 486, 489, 502, 504, 522-523, 721, 783, 786, 822, 824, 825, 826, 830-831, 846, 848, 850 Ich-Es-Verhältnis 439, 440-441, 445, 470, 472, 473, 495, 522-523, 721, 783, 786, 822, 824, 831, 832, 838, 850 Idealismus, deutscher 270 Idee 192, 201, 202, 204, 232, 243, 247, 248, 296, 297, 299, 366, 370, 384, 389, 392, 395, 396, 437, 475-476, 667 Individualismus 21, 30-31, 62, 66, 67, 253, 306-309, 311, 500, 653, 657 Individuation 26, 61, 65, 218, 229, 414, 417, 418 Innewerden 61-63, 64, 65 Instinkt 217-218, 646 Intellekt, Intelligenz 217-218, 301 Intuition 214-218, 481, 635-636, 638-639, 640, 641-647, 649, 650 Isaak 78, 186, 434-435, 604, 776 Israel 198, 316, 381, 395, 427-429, 447, 478, 515, 807, 831, 844 Jakob 184-185, 604 Jeremias 186, 508 Jesaja 509 –, Deutero- 509, 813 Jewish Theological Seminary 717-718 Judentum 39, 84, 197, 493-494, 505-506, 511, 523, 524, 582, 613-614, 623-624, 673, 814 –, deutsches 583-584
884 Jüdische Rundschau 612 Jung, Carl Gustav –, Septem sermones ad mortuos 770 Kabbala 22, 83, 213, 292, 514-515, 632, 635, 687, 854 Kain 85, 327, 328-330, 333, 352 Kant, Immanuel –, Kritik der praktischen Vernunft 755 –, Kritik der reinen Vernunft 225, 240 –, Opus postumum 391-392, 397, 601, 787 –, Prolegomena 240, 694 Kierkegaard, Sören –, Der Begriff Angst 54 –, Furcht und Zittern 34, 77, 433-434, 776 Kollektivismus 21, 30-31, 62, 66, 67, 253, 306-309, 311, 500, 653, 657, 676 Kommunismus 672, 675, 676 Konkretes, Konkretheit 201, 380, 383, 385 Die Kreatur 23 Krise, Krisis 19, 20-21, 24, 265, 303, 399, 528, 833 Kultur 94, 95 Kunst 51, 96, 97, 98, 106, 177, 216, 284, 449-453, 458-459, 461, 463, 636 Künstler 120, 139, 216, 449, 453, 458-460, 462, 463, 636 Leitwortstil 506, 812 Liberalismus 613 –, jüdischer 612 Libido 349, 716 Liebe 168, 368, 428, 462-463, 492-493, 822, 843 Logik 203 Löwith, Karl –, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen 59 Lüge 341-342, 355 Macht 256-258 Malerei 460 Manichäismus 232-233, 346, 667, 716, 845 Marxismus 248 Mensch 158, 227, 229, 236, 243, 252-255, 259-260, 265, 272, 275, 279, 284, 287, 288, 306, 332, 354, 410, 428, 440, 449, 461, 471, 472-473, 526-527, 839, 848, 851 –, Ganzheit des 228, 230 –, moderner 439 –, Über- 260, 290, 419-420, 431-432, 448, 587, 788, 840
Sachregister Messianismus 246-247 –, Auto- 247, 518, 674 –, iranischer 246, 674 –, israelitischer 246 Metaphysik 228, 252, 270, 271, 369, 403, 526 Moloch 435-436, 777 Monotheismus 493 –, primitive 182 Moral 206, 431-432 Moses 181, 186, 397, 477, 607, 768, 812 Musik 460 Mystik 136-138, 141, 199, 292, 582 Mythos 25, 79, 82-83, 199, 317, 344-345, 582, 762 Natur 119-120, 252, 307, 450-453, 455, 456-457, 463, 486, 489, 492 Neue Wege 720, 779, 780, 782 Nietzsche, Friedrich –, Also sprach Zarathustra 34-36, 38, 479, 611, 775, 806 –, Schopenhauer als Erzieher 34 Nihilismus 431-432 Offenbarung 86, 99-100, 151, 155-156, 158-159, 168, 176, 179, 181-182, 184, 187, 193, 357, 423, 443, 476-477, 505, 508, 530-533, 797, 851 Opfer 436 Paradoxie 52, 387 Person 24, 63-64, 65, 70, 421, 657 Philosophie 48, 201, 203, 378-380, 383, 385-386, 396, 437, 445-446, 617-618, 666, 721 –, christliche 202 –, deutsche 526 –, griechische 201, 385 –, Lebens- 59, 481, 640, 673, 823 –, moderne 178, 195 –, Natur- 656 –, Religions- 482 Physik 454, 656 Plastik 460 Platon –, Kratylos 376 –, Politeia 386 –, Timaios 386, 760 Polarität 44, 127 Prinzip, dialogisches 14, 222, 407, 821, 823 Profanes 20-21
Sachregister Prophetie, Propheten 25, 27-28, 75, 405, 429, 494, 508-510, 841 Psychoanalyse 84, 296 Psychologie 412, 828 Realphantasie 65-66 Religion 20, 40, 41, 48, 52, 93-94, 103, 105, 106, 114, 146, 161, 164, 176-177, 195196, 204, 227, 366, 378-381, 385, 406, 410, 437, 438, 445, 521-522, 531-532, 617-618 –, Aspektivierung der 161, 162, 170-171 –, Fiktionierung der 91-92, 111, 161-162 –, Funktionalisierung 90-91, 96 –, jüdische 393, 583 –, persische, iranische 102, 179, 183, 321, 337 –, und Psychologie 107-109 –, Relativierung der 90-91 –, und Wissenschaft 103-105, 173-174 Religionsgeschichte 179-180 Religiöses 427-428 Religiosität 34, 93-94, 95, 174, 378 Renaissance, jüdische 582, 584 Richtung 85-86, 165, 332, 334, 350, 356357, 847-848 Rosenzweig, Franz –, Bildung und kein Ende 583 –, Jehuda Halevi 611 –, Das neue Denken 465 –, Der Stern der Erlösung 19, 45, 465, 797, 798 Satan 418, 419, 716, 847 Schau 457-458 Schechina 84, 155, 292, 512-513, 514, 591, 854 Scheler, Max –, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik 70 –, Die Stellung des Menschen im Kosmos 682 Schöpfung 190 Seele 42-43, 107-108, 113, 329-330, 351, 412-414, 416, 418, 423 Selbst 415, 416-419, 422 Selbstsucht 849 Sinn 149, 152-153, 381, 385 Situation 27, 37, 46, 52, 75-76, 175, 200201, 287-288, 307, 350, 372, 382-385, 423, 474-475, 501, 527 –, dialogische 311 Sorge 279-280
885 Sozialismus, religiöser 494 Spiel 461 Spontaneität 439 Sprache 66-67, 73-74, 175, 460, 474-475 Sünde 327, 516, 589, 716 –, Erb- 325, 327, 429 Sündenfall 320 Talmud 165, 512, 582 Tao, siehe Dao Technik 265 Theismus 291, 686 Theologie 52, 228, 251, 468, 482, 694 –, dialektische 492, 808-809 Tier 305, 354, 456, 461, 473, 486-487, 527 Tod 189, 272 Tora 179-180, 183, 187, 334, 508, 583, 615, 843 Totalität 175 Tragödie 148 transition 627-628 Trieb 296-298, 300, 302, 304-305, 349 –, böser 333-334, 352, 695 –, guter 333 Umkehr 22, 24, 27-28, 72, 84, 137, 157, 354, 495, 516, 519-520, 589, 716 Veden 342, 589, 716, 855 Verantwortung 84, 281, 501 Verein Bar Kochba 721, 779 Vergangenheit 129 Vergegenwärtigung 62-63, 65-66 Vernunft 219, 225, 235, 530, 830 –, Welt- 251-252 Vertrauen 15, 247, 303, 504, 797 Verwirklichung 29, 39, 44, 55, 59, 60, 128, 136, 465 Wahrheit 24, 59, 161, 193, 313, 314, 342, 464-465, 691-692, 693, 694, 796-798 Wahrnehmung, Wahrnahme 60, 61, 450, 453, 455, 456-460, 636, 789 Welt 362-363, 386, 402 –, Du- 124, 125, 130-133, 138, 144, 148, 154, 178 –, Es- 124, 125, 128-129, 130-131, 132-135, 136, 143, 146-147, 178 Weltgeschichte 531 Weltgrund 293-295 Weltkrieg, Erster 265-266, 467, 583 Widerspruch 176
886 Wille zur Macht 254-256, 258, 302, 431, 679 Wir, das 282-283 Wirklichkeit 14, 21, 29-30, 61, 162, 170171, 200, 600 –, religiöse 162-164, 174, 387-388 Wissenschaft 46, 178, 219, 286, 828-829 Wort 300 Yima 340-342, 345, 355, 715
Sachregister Zaddik 517-518, 589 Zarathustra 336-337, 588, 711, 715 Zehn Gebote, siehe Dekalog Zeit 245-246, 249-250, 291 Zionismus 611-612, 779 Zurvan 337-339, 418, 714 Zwischen 309-311, 463, 472, 485, 798, 824
Personenregister Achad Haam, hebr. »Einer aus dem Volke«, eig. Ascher Ginzberg (1856-1927): hebr. Schriftsteller und zionistischer Theoretiker aus Russland; Verfechter des sog. Kulturzionismus; Gegner ! Theodor Herzls. 613 Agnon, Samuel Josef, eig. Sh. J. Czaczkes (1888-1970): hebr. Schriftsteller galizischer Herkunft; 1907-13 in Palästina, 1913-24 in Berlin, ab 1924 in Palästina; plante mit Martin Buber die Herausgabe eines Corpus Chassidicum; erhielt 1966 gemeinsam mit Nelly Sachs den Nobelpreis für Literatur. 585 Agus, Jakob B. (1911-1986): US-amerik. Rabbiner und Gelehrter; aus Osteuropa stammend, seit 1927 in den USA; zunächst orthodox, später führender Repräsentant des konservativen Judentums. 549, 567, 853 Aischylos oder Aeschylos (525-456 v. Chr.): klass. griech. Dramatiker; gehört mit ! Sophokles und ! Euripides zu den bedeutendsten Dichtern attischer Tragödien. 49, 376-377, 758 Amos von Tekoa (8. Jh. v. Chr.): erster Schriftprophet; im Nordreich wirkend; prangerte besonders die fehlende soziale Gerechtigkeit an. 534, 535, 820 Anaximander von Milet (ca. 610-ca. 547 v. Chr.): griech. vorsokratischer Naturphilosoph, Schüler des Thales von Milet; Begründer der wissenschaftlichen Geographie. 425 Andreas-Salomé, Lou (1861-1937): russ.-dt. Schriftstellerin und Psychoanalytikerin; besorgte den 33. Band »Die Erotik« (1910) in der von Buber herausgegebenen Reihe Die Gesellschaft. 35 Angelus Silesius (1624-1677): eig. Johann Scheffler; dt. Dichter und Theologe; ursprünglich lutherischer Konfession, konvertierte er 1653 zum Katholizismus. 292 Anselm von Canterbury (um 1033-1109): Frühscholastiker; bekannt für seinen ontologischen Gottesbeweis; 1494 heiliggesprochen. 781 Arendt, Hannah (1906-1975): dt.-jüd. Philosophin und Politikwissenschaftlerin; 1933 Emigration in die USA; verfasste u. a. Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft (amerik. 1951, dt. 1955). 74, 720 Aristoteles (384-322 v. Chr.): griech. Philosoph; Schüler ! Platons. 67, 73, 231234, 237, 239, 244-245, 534, 535, 632, 653, 654, 667, 759, 820 Aronstein, Fritz (1912-1952): dt.-jüd. Hebraist. 652 Assagioli, Robert (1888-1974): ital.-jüd. Psychiater und Psychoanalytiker; befreundet mit ! Carl Gustav Jung; Entwickler der »Psychosynthese«, die die transpersonale Psychologie beeinflusst hat. 552, 853 Augustinus (354-430): lat. Kirchenlehrer, Bischof und Philosoph; prägte maßgeblich das theologische und geschichtsphilosophische Denken Europas; in der kath. Kirche als Heiliger verehrt. 16, 56, 67, 70, 232-233, 237, 259, 274, 342, 429, 548, 667, 716, 781, 852
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Personenregister
Baader, Franz von (1765-1841): dt. Arzt, Bergbauingenieur und kath. Philosoph. 48, 195, 620 Baal-Schem-Tow ! Israel ben Elieser. Baeck, Leo (1873-1956): dt. Rabbiner und führender Vertreter des liberalen Judentums in Deutschland; seit 1912 Gemeinderabbiner in Berlin; bis zur Schließung der Berliner Gemeinde 1942 Dozent an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums; ab 1933 Präsident der Reichsvertretung der deutschen Juden; 1943 Deportation nach Theresienstadt; 1945 Emigration nach London; 1947 gründete er das später nach ihm benannte Leo Baeck Institut: Institut zur Erforschung des Judentums in Deutschland seit der Aufklärung; nach 1945 intensive Bemühungen um den Dialog zwischen Juden und Christen. 585, 612 Balthasar, Hans Urs von (1905-1988): schweiz. kath. Priester und Theologe. 807 Balzac, Honoré de (1799-1850): franz. Romancier; schuf die auf 91 Romantitel angelegte, unvollendet gebliebene Comédie humaine (1829-1854). 214, 651 Barlach, Ernst (1870-1938): dt. Bildhauer, Graphiker und Dichter; dem Expressionismus zugerechnet; seine Kunst wurde von den Nationalsozialisten als »entartet« diffamiert. 627 Barth, Karl (1886-1968): schweiz. reformierter Theologe; Begründer der Dialektischen Theologie; Prof. für Systematische Theologie an den Universität Göttingen, Münster und Bonn, Sprecher der Bekennenden Kirche; 1935 Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten und Wechsel an die Universität Basel. 677, 809 Basilides (ca. 85-ca. 154): einflussreicher christl. Gnostiker aus Alexandria; seine Lehren gründen sich auf einen stark ausgeprägten Dualismus; von seinem umfangreichen Werk sind nur Zitate aus den Schriften der ihn bekämpfenden Kirchenväter erhalten. 770 Bataille, Georges (1897-1962): franz. Schriftsteller und Philosoph; stand zeitweilig dem Surrealismus nahe. 856 Baumgardt, David (1890-1963): dt.-jüd. Philosoph; 1932-35 außerordentl. Prof. in Berlin; 1935-1939 Lehrtätigkeit in Birmingham; seit 1939 in den USA; Studien zu u. a. ! Spinoza und ! Kant. 565, 854 Becher, Johannes R. (1891-1958): dt. kommunistischer Schriftsteller; 1933 Emigration nach Moskau, 1945 Rückkehr nach Berlin; seit 1954 Minister für Kultur der DDR. 622 Beckett, Samuel (1906-1989): irisch-franz. Schriftsteller; seit 1937 in Frankreich; 1969 Nobelpreis für Literatur. 628 Beethoven, Ludwig van (1770-1827): dt. Komponist der Wiener Klassik. 459, 796 Bekker, Paul (1882-1937): dt. Dirigent und Musikkritiker; Fürsprecher der »Neuen Musik«; 1927-1932 Intendant des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden; 1933 Emigration zunächst nach Paris, dann nach New York. 598 Ben-Chorin, Schalom (1913-1999) dt.-jüd. Publizist und Schriftsteller; gebürtig als Fritz Rosenthal; 1935 Emigration nach Palästina; Schüler Bubers; setzte sich für den Dialog zwischen Judentum und Christentum ein. 780
Personenregister
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Benda, Julien (1867-1956): franz. Schriftsteller, Journalist und Philosoph; Hauptwerk La Trahison des clercs (1927); Kritiker ! Henri Bergsons. 639, 642 Beneke, Friedrich Eduard (1798-1854): dt. Philosoph und Psychologe; seit 1832 außerordentlicher Professor in Berlin. 411, 769 Benjamin, Walter (1892-1940): dt.-jüd. Philosoph, Literaturkritiker und Übersetzer; ab 1933 Exil in Paris; stand Buber kritisch gegenüber; beging nach der gescheiterten Flucht an der span. Grenze Selbstmord, um der Auslieferung an die Nazis zu entgehen. 34, 697, 700 Benn, Gottfried (1886-1956): dt. Arzt und Dichter der literarischen Moderne; ab 1933 Parteigänger der Nazis. 627 Berdjajew, Nikolaj Alexandrowitsch (1874-1948): russ. Philosoph; als Student Marxist, später näherte er sich über den Neukantianismus dem Christentum an; 1919 Gründer der Moskauer Freien Akademie für Geisteskultur; 1922 ausgewiesen und Übersiedelung nach Berlin, wo er die Religionsphilosophische Akademie gründete, mit der er 1924 nach Paris ging; dem christlichen Existenzialismus zugerechnet. 316-317, 697, 698-699 Bergman(n), Shmuel Hugo (1883-1975): österr. Philosoph und Zionist; Mitglied des Vereins jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag; Freund Bubers und ! Gershom Scholems; 1920 Emigration nach Palästina; erster Direktor der Jüdischen Nationalbibliothek; ab 1935 Prof. für moderne Philosophie an der Hebräischen Universität Jerusalem, deren Rektor er 1935-1938 war. 46, 219, 445-448, 496, 613, 651, 720, 779-783, 800 Bergson, Henri (1859-1941): franz. Philosoph jüd. Herkunft; 1900 Lehrstuhl für griech. Philosophie am Collège de France; seit 1914 Mitglied der Académie française; 1927 Nobelpreis für Literatur; bedeutender Vertreter der Lebensphilosophie. 173, 214-218, 371-372, 600, 635-636, 638-649, 650, 651, 674, 789 Berl, Heinrich (1896-1953): eigentlich Heinrich Lott; dt. Publizist und Musikwissenschaftler; beeinflusst von Buber; Veröffentlichungen in Der Jude; 1938 Publikationsverbot wegen seiner jüd. Ehefrau; nach dem Krieg Gründungsmitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 598-599 Bertocci, Peter A. (1910-1989): aus Italien stammender US-amerik. Philosoph; Professor für Philosophie an der Boston University. 550, 551, 562, 829, 840, 853 Biemel, Walter (1918-2015): rumänisch-dt. Philosoph; Schriften zu Phänomenologie und Kunst; Herausgebertätigkeit bei ! Edmund Husserl und ! Martin Heidegger. 19 Blondel, Maurice (1861-1949): franz. Philosoph; entwickelte eine »Philosophie der Aktion«, die den Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit überwinden will. 691 Blumenfeld, Walter (1882-1967): dt.-jüd. Psychologe und Pädagoge, seit 1923 Lehrtätigkeit in Dresden; 1934 zwangsemeritiert; 1935 Emigration nach Peru und Prof. in Lima. 541, 851 Bohr, Niels (1885-1962): dän. theoretischer Physiker; Forschungen zur Atomtheorie und Quantentheorie; 1922 Nobelpreis für Physik. 454, 794
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Bois-Reymond, Emil Heinrich Du (1818-1896): dt. Physiologe. 601 Boisserée, Johann Sulpiz (1783-1854): dt. Kunstsammler; Wiederentdecker der mittelalterlichen Kunst. 670 Bos, Charles Du (1882-1939): franz. Essayist und Literaturkritiker; 1909 Mitgründer der Nouvelle Revue Française. 696 Bovillus, Carolus, eig. Charles de Bouelles (1479-1566); franz. Mathematiker, Philosoph und Theologe im Übergang zur Renaissance; seine Géométrie en françoys (1511) ist das erste auf Französisch geschriebene wissenschaftliche Buch. 234235, 668 Braun, Harald (1901-1960): dt. Publizist, Filmregisseur und Drehbuchautor; 1924 gründete er die Literaturzeitschrift Eckhart, Blätter für evangelische Geisteskultur. 627 Brentano, Franz Clemens (1838-1917): dt. Philosoph und Psychologe; 1864 Priester; 1872 Prof. in Würzburg, seit 1874 in Wien; 1873 Austritt aus der kath. Kirche. 681 Brunner, Emil (1889-1966): schweiz. prot. Theologe; Vertreter der Dialektischen Theologie; setzte sich mit Buber theologisch auseinander. 677, 809 Bruno, Giordano (1548-1600): ital. Naturphilosoph; ca. 1563 Eintritt in den Dominikanerorden, den er 1576 verließ; 1592 von der Inquisition festgenommen und 1600 wegen ketzerischer Lehren verbrannt. Vom Papst 2000 rehabilitiert. 211, 212, 213, 235, 236, 630-632, 634 Brunschvicg, Léon (1869-1944): franz. Philosoph jüdischer Herkunft, seit 1909 Prof. an der Sorbonne, die er nach der dt. Okkupation verlassen muss; seit 1942 im Versteck; Herausgeber von ! Pascals Pensées. 697, 698 Buber (-Winkler), Paula (1977-1958): Ehefrau Martin Bubers; unter dem Pseud. Georg Munk schriftstellerisch tätig. 698, 818 Buddha, eig. Siddharta Gautama (um 563-483 v. Chr.): indischer Adeliger; Stifter des Buddhismus. 49, 141, 162-163, 192, 194, 375, 596, 618 Bultmann, Rudolf (1884-1976): dt. prot. Theologe; ab 1921 Prof. für Neues Testament an der Universität Marburg; Vertreter der Dialektischen Theologie; löste 1941 eine später in Theologie und Kirche leidenschaftlich geführte Debatte um eine »Entmythologisierung« des Neuen Testaments und des christlichen Glaubens aus. 447, 787, 809 Bunam von Przysucha ! Simcha Bunam. Buonaiuti, Ernesto (1881-1946): ital. Priester; 1915-1932 Prof. für Kirchengeschichte in Rom; von den Faschisten entlassen; 1935-1939 Gastprof. in Lausanne; führender Vertreter des italienischen Modernismus, weswegen er 1925 exkommuniziert wurde. Burckhardt, Jacob (1818-1897): schweiz. Kultur- und Kunsthistoriker; 1855-58 Prof. in Zürich, seit 1858 in Basel; gilt als Begründer der modernen Kunstgeschichte; prägte den Begriff der Renaissance in seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung. 257-258, 679
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Buytendijk, Frederick Jacobus (1887-1974): niederl. Biologe, Psychologe und Verhaltensforscher. 16, 17, 456, 794 Camerarius der Ältere, Joachim oder Joachim Liebhard (1500-1574): dt. Renaissance-Gelehrter, klassischer Philologe und Humanist. 452, 792 Carnap, Rudolf (1891-1970): dt.-amerik. Philosoph; seit 1931 Privatdozent in Wien; seit 1936 Lehrtätigkeit an der University of Chicago, 1952-1954 Prof. in Princeton, 1954-1961 in Los Angeles; führender Vertreter des logischen Empirismus und Mitglied des »Wiener Kreises«. 799, 817, 852 Cassirer, Ernst (1874-1945): dt.-jüd. Philosoph, entwickelte seine Philosophie von ! Kant und vom Neukantianismus ausgehend; 1919-1933 Prof. in Hamburg; Emigration über England, Schweden und seit 1941 in den USA; Prof. in Yale und an der Columbia University. 16, 817 Chajim Vital (1543-1620): Kabbalist, Schüler des ! Isaak Luria; durch Chajim Vital sind Lurias Lehren überliefert. 687 Cherbonnier, Edmond la Beaume (geb. 1918): US-amerik. Religionswissenschaftler und anglik. Geistlicher. 546, 852 Claudel, Paul (1868-1955): franz. Schriftsteller, Dramatiker und Diplomat; bedeutender Repräsentant des »Renouveau catholique français«. 627 Cohen, Arthur A (1928-1987): US-amerik. Schriftsteller, Verleger und jüd.-theolog. Denker; Autor der Monographie Martin Buber (1957). 561 Cohen, Hermann (1842-1918): dt.-jüd. Philosoph; Hauptvertreter des Marburger Neokantianismus; einer der wichtigsten Vertreter der jüdischen Philosophie des 20. Jh.; von 1876-1912 Prof. der Philosophie an der Univ. Marburg; ab 1912 Lehrtätigkeit an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. 37, 190191, 391-396, 397-398, 541, 608-609, 610, 611, 613-615, 761, 762, 824 Colli, Giorgio (1917-1979): ital. Philosoph und Historiker; zusammen mit ! Mazzino Montinari Herausgeber der ersten vollständigen kritischen Ausgabe der Schriften ! Friedrich Nietzsches. 677 Cullmann, Oscar (1902-1999): dt.-franz. prot. Neutestamentler; engagiert im ökumenischen Dialog. 505-506, 812 Curtius, Ernst Robert (1886-1956): dt. Romanist. 697 Cusanus ! Nikolaus Cusanus Dante Alighieri (1265-1321): ital. Dichter und Philosoph; Verfasser der Göttlichen Komödie. 234, 396, 667-668, 764 Darius I. (gest. 486): Großkönig des persischen Reichs seit 522. 314 Demokrit (ca. 460-ca. 371 v. Chr.): griech. Philosoph; Begründer der Atomtheorie. 596 Descartes, René (1596-1650): franz. Mathematiker und Philosoph; begründete den Cartesianismus. 37, 45, 69, 73, 75, 201, 214, 251, 267, 384, 534, 622, 650, 756, 785
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Desjardins, Paul (1859-1940): franz. Philosoph und Schriftsteller; gründete 1892 die Diskussionsforen »Action pour l’action morale« und ab 1906 »Union pour la vérité«; 1909-1939 organisierte er die Dekaden von Pontigny. 316, 696, 697-698, 856 Dewey, John (1859-1952): amerik. Philosoph, Psychologe und Pädagoge; bedeutendster Vertreter des amerik. Pragmatismus. 817 Diderot, Denis (1713-1784): franz. Schriftsteller und Philosoph der Aufklärung; Herausgeber und Mitautor der Encyclopédie (1751-1772). 76, 666, 680 Dilley, Frank B. (geb. 1931): US-amerik. Philosophiedozent. 564, 854 Dilthey, Wilhelm (1833-1911): dt. Philosoph, Geistes- und Literaturhistoriker; 1867 Prof. der Philosophie an der Univ. Basel, ab 1882 an der Univ. Berlin; Vertreter der Lebensphilosophie; Begründer der »verstehenden Geschichtswissenschaft«; Lehrer Bubers an der Universität Berlin. 16, 59, 65, 231, 481, 666-667 Döblin, Alfred (1878-1957): dt. Schriftsteller der literarischen Moderne; 1933 Emigration nach Frankreich, 1940 in die USA. 627 Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch (1821-1881): russ. Schriftsteller. 93, 166, 587, 597, 699, 759, 856 Dow Bär von Mesritsch (1704-1772): genannt »der große Maggid« oder auch »der Maggid von Mesritsch«; chassidischer Zaddik; gemäß der chassidischen Geschichtsschreibung Schüler und Nachfolger des ! Israel ben Elieser. 513, 516-517 Droysen, Johann Gustav (1808-1884): dt. Historiker; Lehrstuhl in Berlin; führte die hermeneutische Methode in die Geschichtswissenschaft ein. 758 Du Bois-Reymond, Emil Heinrich (1818-1896): dt. Physiologe; seit 1855 Prof. in Berlin; Begründer der Elektrophysiologie. 601 Dürer, Albrecht (1471-1528): dt. Maler, Zeichner, Graphiker und Kunstschriftsteller der Renaissance. 451-453, 790, 792 Durkheim, Émile (1858-1917): franz. Soziologe und Ethnologe; seit 1902 Prof. an der Sorbonne. 604 Eckhart von Hochheim, genannt Meister Eckhardt (ca. 1260-1328): dt. Theologe und Mystiker; als Häretiker angeklagt; sein Werk wurde um die Jahrhundertwende von Repräsentanten der wilhelminischen Gegenkultur wie ! Gustav Landauer wiederentdeckt. 292, 406, 418, 591, 687, 766, 769, 853 Einstein, Albert (1879-1955): dt.-jüd. Physiker; Begründer der Relativitätstheorie; Lehrtätigkeit an den Universitäten Zürich, Prag und Berlin; 1921 Nobelpreis für Physik; 1933 Emigration in die USA. 178, 213, 237, 454, 602, 632, 635, 828 Elimelech von Lisensk: (1717-1786/87): bedeutendster Schüler des ! Dow Bär von Mesritsch. 518 Eliot, Thomas Stearns (1888-1965): aus der USA stammender, seit 1914 in England lebender Lyriker und Dramatiker; bedeutender Vertreter der literarischen Moderne; 1948 Nobelpreis für Literatur. 1922 erschien sein Langgedicht The Waste Land. 697
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Éluard, Paul (1895-1952): franz. Dichter und mit André Breton führende Persönlichkeit des Surrealismus; als Kommunist aktiv in der Résistance. 628 Empedokles (ca. 496-ca. 435 v. Chr.): vorsokratischer Naturphilosoph. 259, 680 Engels, Friedrich (1820-1895): dt. Philosoph und Politiker, Theoretiker des Sozialismus; enge Zusammenarbeit mit ! Karl Marx. 247-248, 672, 675 Epikur (ca. 341-ca. 270 v. Chr.): griech. Philosoph; Begründer des Epikureismus, einer hedonistisch geprägten Denkschule, die einen allerdings maßvollen Genuss des Lebens ins Zentrum ihrer Ethik stellte. 49, 162-163, 194, 375, 596 Erasmus von Rotterdam (ca. 1467-1536): niederl. Humanist und Theologe; gab den ersten Druck des griech. Neuen Testaments heraus; kämpfte gegen die Verweltlichung der Kirche; distanzierte sich jedoch von Luther; gilt als bedeutendster Humanist der Renaissance. 525, 528, 816 Euklid von Alexandria (ca. 3. Jh. v. Chr.): griech. Mathematiker. 828 Euripides (485/484 o. 480-406 v. Chr.): klass. griech. Dramatiker. 49, 146, 376, 590, 758 Evans-Wentz, Walter Yeeling (1878-1965): US-amerik. Anthropologe; Studien zur keltischen Folklore und besonders zum tibetanischen Buddhismus. 768 Fackenheim, Emil (1916-2003): dt.-jüd. Philosoph u. Rabbiner; Studien zu ! Kant, ! Hegel und ! Schelling; 1939 Flucht nach England; später Lehrtätigkeit in Toronto; seit 1984 Prof. in Jerusalem. 804 Falk, Johannes Daniel (1768-1826): ev. Laienprediger und Schriftsteller. 670-671 Faye, Hervé (1814-1902): franz. Astronom. 753 Feuerbach, Ludwig (1804-1872): dt. Philosoph der Junghegelianischen Schule; erarbeitete eine radikale anthropologische Religionskritik materialistischer Prägung; beeinflusste nachhaltig ! Karl Marx. 36, 77, 190, 251-254, 260, 279, 290, 401, 430, 482, 527, 611, 653, 672, 675 Fichte, Johann Gottlieb (1762-1814): dt. Philosoph; bestimmte mit seiner Wissenschaftslehre (1794) maßgeblich die Entwicklung des deutschen Idealismus. 75, 411, 517, 683, 768 Fiedler, Konrad oder Conrad (1841-1895): dt. Kunsttheoretiker; Vertreter des ästhetischen Idealismus; betonte in seinen Schriften den autonomen Charakter des Kunstwerks. 53, 450-451, 791 Finkelstein, Louis (1895-1991): US-amerik. Judaist und Rabbiner; Kanzler des Jewish Theological Seminary in New York von 1940-1972. 717 Firdusi, d. i. Abū ʾ l-Qāsim Firdausī (940-1020): pers. Dichter und Epiker. 715 Flitner, Wilhelm August (1889-1990): dt. Erziehungswissenschaftler; 1919-1926 Studienrat und Leiter der Volkshochschule Jena; 1929-1958 Lehrstuhl in Hamburg. 592-594, 753 Fox, Marvin (1922-1996): US-amerik. orthodoxer Rabbiner und Judaist, Professor für Philosophie an der Ohio State University und der Brandeis University. 799, 811
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Franz von Assisi (ca. 1181-1226): ital. Ordensgründer der Franziskaner und kath. Heiliger. 474 Frazer, James Georg (1854-1941): schott. Ethnologe und Philologe; Prof. in Liverpool und Cambridge; Mitbegründer der Religionsethnologie; befasste sich besonders mit der Religion und Magie der Naturvölker und der Antike; sein Hauptwerk ist die zuletzt 12bändige Studie The Golden Bough (1907-1915). 179, 604 Freud, Sigmund (1856-1939): österr. Mediziner und Kulturphilosoph; Begründer der Psychoanalyse; 1938 Emigration nach England. 303, 305, 414, 628, 691, 716, 765, 837 Friedman, Maurice (1921-2012): US-amerik. Kultur- und Religionswissenschaftler; Übersetzer der Werke Martin Bubers ins Amerikanische und Buber-Biograph. 504-505, 547, 551, 559, 561, 700, 718-719, 789, 799-800, 801, 811, 812 Fries, Jakob Friedrich (1773-1843): dt. Philosoph; amtsenthoben wegen seiner Beteiligung am Wartburgfest; Auseinandersetzung mit ! Kants Vernunftkritiken. 411, 769 Gadamer, Hans-Georg (1900-2002): dt. Philosoph; Begründer der philosophischen Hermeneutik. 59, 850 Galilei, Galileo (1564-1642): ital. Philosoph, Physiker und Astronom; seine Himmelsbeobachtungen stützten die Thesen des ! Nikolaus Kopernikus; 1632/33 Inquisitionsverfahren, in dem er »seinem Irrtum« (dem heliozentrischen System anzuhängen) abschwört, danach bis zu seinem Lebensende unter Hausarrest gestellt. 211-213, 630-632, 633 Gandhi, Mahatma (1869-1948): Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung; sein gewaltfreier Widerstand gegen die brit. Kolonialherren führte 1947 zur Unabhängigkeit Indiens; starb 1948 in Folge eines Attentats. 780 Gehlen, Arnold (1904-1976): dt. Philosoph und Soziologe. 16 Geiger, Bernhard (1881-1964): dt.-jüd. Indologe und Iranist; 1938 Emigration in die USA; 1938-1951 Prof. am »Iranian Institute« in New York und später an der Columbia University. 336, 714 Gide, André (1869-1951): franz. Schriftsteller und Übersetzer; 1947 Nobelpreis für Literatur. 628, 696 Glatzer, Nahum N. (1903-1990): dt.-jüd. Historiker, Schüler Bubers an der Universität Frankfurt, 1933 Emigration; 1950-1973 Prof. an der Brandeis University, USA. 800 Goethe, Johann Wolfgang (1749-1832): dt. Dichter und Universalgelehrter; bedeutendster Repräsentant der dt. Klassik. 99, 211, 213, 214, 239, 448, 453, 456, 459, 587, 602, 630, 632, 650, 651, 670, 735, 788, 792-793 Goldstein, Walter (1893-1984): dt.-jüd. Schriftsteller; 1934 Einwanderung nach Israel; Verfasser mehrerer Bücher zu Martin Bubers Leben und Philosophie; mit Buber bekannt. 571, 855
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Groethuysen, Bernhard (1880-1946): dt. Philosoph; 1931-1933 Prof. in Berlin, nach der nationalsozialistischen Machtübernahme legte er seine Professur aus Protest nieder; Schüler ! Diltheys; mit Buber bekannt. 16, 231, 666, 667, 697 Guardini, Romano (1885-1968): dt. kath. Theologe und Religionsphilosoph; 1945 Prof. in Tübingen; 1948-1962 in München; bezog sich auf Bubers Dialogphilosophie. 788 Gumbiner, Joseph H. (1907-1993): US-amerik. Rabbiner. 653-654 Haas, Willy (1891-1973): dt.-jüd. Literat, Filmkritiker und Drehbuchautor; dem literarischen Prager Kreis um 1910 zugehörig; 1925-1933 Hrsg. der Literarischen Welt; 1933 Flucht nach Prag, 1939 über Italien nach Indien; 1947 Rückkehr in die Bundesrepublik. 207, 622 Haeckel, Ernst (1834-1919): dt. Zoologe und Philosoph; 1876-1909 Lehrstuhl in Jena; verbreitete Darwins Thesen in Deutschland; Eugeniker, Rassehygieniker und Pazifist. 248, 675, 753 Hamann, Johann Georg (1730-1788): dt. Schriftsteller und Philosoph; Kritiker der zeitgenössischen Aufklärung. 54, 449, 521, 791 Hartshorne, Charles (1897-2000): amerik. Philosoph und Theologe; Begründer der Prozessphilosophie und -theologie. 496-497, 811 Hasse, Johann Gottfried (1759-1806): ev. Theologe und Orientalist; Lehrstuhl für Theologie in Königsberg seit 1788. 787 Hechler, William Henry (1845-1931): anglikanischer Geistlicher; an der brit. Botschaft in Wien tätig; sympathisierte mit dem Zionismus und stellte den Kontakt zw. ! Theodor Herzl und dem deutschen Kaiser Wilhelm II. her; unterhielt freundschaftliche Kontakte zum jungen Buber. 590 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1770-1831): Philosoph des dt. Idealismus. 16, 23, 67, 83, 105, 242-250, 251-252, 290-291, 370-371, 383, 408, 453, 526, 588, 653, 662, 672-676, 689, 731, 733 756, 757, 790, 793 Heidegger, Martin (1889-1976): dt. Philosoph, der Existenzphilosophie zugerechnet; 1928 Nachfolger ! Edmund Husserls in Freiburg; zeitweiliger Fürsprecher des Nationalsozialismus. 16, 17, 18, 26, 31-33, 41, 46, 49-50, 52, 56-57, 58, 59, 65, 67, 69, 72-75, 79, 226, 227, 266, 267, 268, 271-273, 275-288, 289-291, 313, 371373, 399, 400, 403-409, 419, 448, 451, 464, 526, 534, 535, 540, 653, 654, 681-685, 687, 692, 693, 694, 697, 718, 739, 765-766, 767, 789-790, 792, 796, 810, 812 Heim, Karl (1874-1958): dt. prot. Theologe; pietistisch geprägt. 676 Heinemann, Fritz H. (1889-1970): dt. Philosoph, 1930-33 außerordentlicher Prof. in Frankfurt; Emigration über Frankreich und Türkei nach England; 1939-1956 Prof. in Oxford; gilt als Kritiker der Existenzphilosophie. 538, 539, 823, 851 Heraklit (um 520-460 v. Chr.): griech. vorsokratischer Philosoph. 31, 32, 377, 424425, 469, 759 Herberg, Will (1906-1977): amerik.-jüd. Religionsphilosoph; ungefähr seit 1944 wendet sich der atheistisch Erzogene dem Judentum zu; von der dialektischen Theologie und Buber beeinflusst; 1947 erschien Judaism and Modern Man. 720
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Herder, Johann Gottfried (1744-1803): dt. Theologe und Philosoph; seine Sprachund Völkerphilosophie beeinflusste die romantische Bewegung. 51, 54, 65, 670, 789 Herodot (480/470-ca. 424 v. Chr.): griech. Geschichtsschreiber der Antike; gilt als Begründer der Geschichtsschreibung. 338, 714 Herzl, Theodor (1860-1904): österr.-jüd. Schriftsteller u. Journalist; Begründer des modernen Zionismus und Gründer der Zionistischen Organisation; bis zu seinem Tod Feuilletonredakteur der Wiener Neuen Freien Presse. 144, 590 Hesse, Hermann (1877-1962): dt. Schriftsteller; seit 1926 in der Schweiz; mit Buber befreundet; 1946 Nobelpreis für Literatur. 534, 714 Heydorn, Heinz-Joachim (1916-1974): dt. Pädagoge und SPD-Politiker; seit 1933 Mitglied der »Bekennenden Kirche«; leistete illegale Arbeit gegen das nationalsozialistische Regime; seit 1961 Prof. in Frankfurt a. M. 553, 853 Hitler, Adolf (1889-1945): dt. Diktator; 1933-1945 Reichskanzler. 409, 504-505 Hobbes, Thomas (1588-1679): engl. Philosoph, Staatstheoretiker und Mathematiker; entwickelte die Theorie des Absolutismus in seinem Hauptwerk Leviathan (1651). 430, 773 Hocking, William Ernst (1873-1966): US-amerik. idealistischer Philosoph und Theologe; 1908-1914 Prof. in Yale, 1914-1943 in Harvard. 543, 569, 570, 826-827, 845, 851 Høffding, Harald (1843-1931): dänischer Philosoph; seit 1883 Prof. in Kopenhagen; zunächst von ! Kierkegaard beeinflusst, später Positivist. 638-639, 641, 642 Hölderlin, Friedrich (1770-1843): dt. Dichter; um die Jahrhundertwende wiederentdeckt durch ! Wilhelm Dilthey und Norbert v. Hellingrath. 29, 31-33, 35, 38, 49-50, 372-373, 404-405, 407, 685, 757, 766-767, 791 Homer (ca. 8./7. Jh. v. Chr.): griech. Epiker der archaischen Zeit; der Tradition nach Verfasser der Ilias und der Odyssee. 179 Horwitz, Rivka (1926-2007): aus Deutschland stammende, nach 1933 ausgewanderte israel. Forscherin zur jüd. Geistesgeschichte, insbes. zu ! Franz Rosenzweig, Buber, Heschel und ! Levinas. 13, 45, 581 Humboldt, Wilhelm von (1767-1835): dt. Schriftsteller und Staatsmann; Reformer des preuß. Bildungswesens; umfangreiche Sprachstudien. 51 Hume, David (1711-1776): schott. Philosoph der Aufklärung, Ökonom und Historiker; vertrat einen radikalen Empirismus, dessen Einfluss bis zum modernen Positivismus und Psychologismus reicht. 69, 251, 534, 535, 675, 820 Husserl, Edmund (1859-1938): österr.-dt. Philosoph jüd. Herkunft; Begründer der Phänomenologie; 1916-28 Prof. in Freiburg; seit 1933 Schikanen ausgesetzt; Lehrer ! Martin Heideggers. 16, 17, 19, 58, 62-63, 65, 68-70, 75, 266-268, 289, 298, 654, 681-682, 789, 809, 812, 856 Hutchins, Robert M[aynard] (1899-1977): bedeutender US-amerik. Hochschuldidaktiker; 1929-1951 Präsident bzw. Kanzler der University of Chicago. 554, 555, 556, 558, 834-835, 837, 853
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Huxley, Aldous (1894-1963): engl. Schriftseller und Essayist; lebte seit 1937 in den USA; bekannt für seinen dystopischen Roman Brave New World (1932). 616 Iamblichos von Chalkis (240/245-320/325): neuplatonischer Philosoph. 773 Israel ben Elieser, genannt Baal Schem Tov, d. i. »Meister des guten Namens« (1700-1760): die Gründerfigur der chassidischen Bewegung in Osteuropa. 65, 167, 513, 515-516, 520, 597 Jaakob Jizchak von Lublin (1745-1815): genannt der »Seher«; chassidischer Zaddik; sehr volkstümliche Gestalt; die meisten der nachfolgenden polnischen Zaddikim betrachteten sich als seine Schüler; kümmerte sich vor allem um die »materiellen« Bedürfnisse seiner Anhänger, wie Lebensunterhalt, Hilfe bei Unfruchtbarkeit etc. 519 Jaakob Jizchak von Pžysha, d. i. Jakob Jitzchak Rabinowicz von Przysucha (17661814): genannt »der Jehudi« bzw. »der heilige Jude«; zunächst Schüler des Jaakob Jizchak, des Sehers von Lublin, zu dem sich später ein angespanntes Verhältnis entwickelte; gilt als Gründer der Schule von Pžysha, die stärker spirituell ausgerichtet war und eher eine intellektuelle Elite ansprach. 72, 665, 810 Jacobi, Friedrich Heinrich (1743-1819): dt. Philosoph und Schriftsteller der Aufklärung; Kritiker ! Spinozas und des philosophischen Rationalismus. 527, 816 Jäsche, Gottlob Benjamin (1762-1842): dt. Philosoph; Herausgeber von ! Kants Logik-Vorlesungen. 58, 666 Jaspers, Karl (1883-1969): dt. Arzt, Psychologe und Philosoph; 1916 Prof. für Psychologie, seit 1921 für Philosophie in Heidelberg; 1935-1945 Lehrverbot, da er mit einer Jüdin verheiratet war; seit 1948 Prof. in Basel; Vertreter der Existenzphilosophie. 400, 447, 817, 818 Jean Paul, eigentl. Johann Paul Friedrich Richter (1763-1825): dt. Schriftsteller; verfasste seinerzeit populäre assoziationsreiche Romane phantastisch humoristischer Prägung wie Siebenkäs (1796/97) und Titan (1800-1803), sowie philosophische Schriften zur Ästhetik und Pädagogik. 459, 795 Jechiel Michal von Zloczow (1726-1781): chassidischer Zaddik; besonders als Prediger bekannt. 513 Jehuda Ha-Levi (ca. 1075-1141): jüd.-span. Dichter und Philosoph; berühmt durch seine philosophische Apologie des Judentums (Das Buch Kuzari); Verfasser religiöser Lyrik; gilt als bedeutendster hebr. Dichter des Mittelalters. 187, 611 Jesus von Nazareth (ca. 5 v. Chr.-ca. 30 n. Chr.): zentrale Gründergestalt des Christentums. 429, 495, 674, 810 Jolas, Eugene (1894-1952): frz.-US-amerik. Publizist und Übersetzer; 1927-1938 Herausgeber der Avantgarde-Zeitschrift transition. 627-628 Jordan, Pascual (1902-1980): dt. theoretischer Physiker. 454, 793-794 Joyce, James (1882-1941): irischer Schriftsteller der literarischen Moderne; Hauptwerke: Ulysses (1922) und Finnegans Wake (1939). 628
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Julius II. (1443-1513): Papst von 1503 bis 1513, gab den Bau des Petersdoms in Auftrag. 611 Jung, Carl Gustav (1875-1961): schweiz. Psychiater; Schüler, später Kritiker ! Sigmund Freuds; modifizierte mit seiner Archetypenlehre die Psychoanalyse. 46, 72, 360, 409, 410-419, 442-444, 492, 628, 718-719, 741, 743-744, 765, 768-771, 778779 Kade, Richard Gustav (1879-1950): ev. Pfarrer; 1901 Ordination; 1914-1928 Diakon in Jena; danach in Weimar Propst. 593 Kafka, Franz (1883-1924): deutschsprachiger Schriftsteller; stand dem Prager Kreis um ! Max Brod und ! Hugo Bergmann nahe; in Bubers Zeitschrift Der Jude erschienen kurze Erzählungen Kafkas. 779 Kant, Immanuel (1724-1804): Begründer der klassischen dt. Philosophie. 16, 29, 49, 58, 67, 69, 76, 81, 99, 176, 192-193, 212-213, 225-227, 228-229, 236, 240-241, 243, 245, 251-252, 254, 259, 261, 306, 313, 369, 370, 390-392, 397, 411, 446, 449, 534, 537, 538, 569, 601, 614, 615, 631, 632, 634, 635, 644, 648, 653, 663, 666, 671, 672, 694, 729, 731, 736, 755, 787, 791, 822, 845 Kaplan, Mordecai M. (1881-1983): US-amerik. Rabbiner und Philosoph; Lehrtätigkeit am konservativen New Yorker Jewish Theological Seminary; Begründer des »Reconstructionism«. 523, 814 Karpokrates von Alexandrien, (2. Jh.): Gründer einer christl.-gnostischen Sekte. 778-779 Kaufmann, Fritz (1891-1958): dt.-jüd. Philosoph, Schüler ! Husserls; 1938 Emigration in die USA, wo er Husserls Phänomenologie verbreiten half; 1946-1958 Lehrtätigkeit an der Northwestern University und in Buffalo; Mitherausgeber der Library of Living Philosophers. 490-491, 799, 809 Kaufmann, Walter (1921-1980): dt.-US-amerik. Sozialphilosoph und Religionswissenschaftler; als Protestant erzogen, besann er sich später auf das Judentum; 1939 Emigration in die USA; seit 1947 in Princeton tätig (ordentlicher Prof. seit 1962); Übersetzer von ! Nietzsche, ! Goethes Faust und Bubers Ich und Du. 521, 800, 814 Kellner, Leon (1859-1928): österr.-jüd. Anglist und früher Zionist; 1904-1914 Prof. in Czernowitz; seit 1896 mit Herzl befreundet, gab auf dessen Wunsch hin seine Tagebücher heraus. 590 Kelman, Norman (1915-1997): US-amerik. Psychoanalytiker. 566, 855 Kepler, Johannes (1571-1630): dt. Naturphilosoph, Astronom und Mathematiker, der das kopernikanische Modell des heliozentrischen Universums weiterentwickelte. 178, 211-213, 235-236, 602, 630-631, 633 Keyserling, Hermann Graf (1880-1946): dt. Philosoph; Vertreter einer idealistischen, teleologisch-organischen Weltanschauung; Gründer der Schule der Weisheit. 597 Kierkegaard, Søren (1813-1855): dän. Philosoph und Schriftsteller; Vorläufer der modernen Existenzphilosophie; übte großen Einfluss auf die prot. Theologie
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nach dem Ersten Weltkrieg aus. 26, 33-35, 41, 46, 54-55, 59, 68, 72, 75, 77, 78, 79, 82, 86, 242, 268-270, 279-281, 282, 284-288, 433-434, 521, 527, 534, 535, 539, 566, 587, 654, 672, 682-683, 684-685, 699, 776-777, 796, 843, 856 Kloeber, August von (1793-1864): dt. Maler und Entwurfszeichner. 796 Kohn, Hans (1891-1971): dt.-jüd. Historiker und Politikwissenschaftler; Freund Bubers; Mitglied im Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba; lebte in den 1920er Jahren in London u. Jerusalem, danach in den USA; 1930 erschien seine grundlegende Darstellung zu Bubers Leben und Werk Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. 603, 818 Konfuzius, Kong-Fu-Tse oder auch Khung-Tse (ca. 551-479 v. Chr.): chines. Philosoph u. Lehrer; steht am Anfang der chines. klass. Philosophie. 382, 557, 836 Kopernikus, Nikolaus (1473-1543): Domherr und Astronom, in dessen kurz vor seinem Tod publizierten Schrift De revolutionibus orbium wird das geozentrische Weltbild zugunsten des heliozentrischen aufgegeben; 1616 wurde der Titel auf den Index der verbotenen Bücher der kath. Kirche gesetzt. 211-213, 235, 601-602, 629, 630-632, 633-635 Koyré, Alexandre (1892-1964): franz.-russ. Philosoph. 856 Kuhn, Helmut (1899-1991): dt. Philosoph jüd. Herkunft; emigrierte 1937 in die USA; 1949 Rückkehr nach Deutschland; ab 1953 Prof. für Philosophie u. Kulturgeschichte in München. 536, 537, 822, 850 Kyros II. (590/580-535 v. Chr.): pers. König; erlaubte den Juden die Rückkehr aus dem babylonischen Exil. 510, 813 Landauer, Gustav (1870-1919): belletristischer und politischer Schriftsteller und Anarchist; seit 1900 eng mit Buber befreundet; ab Herbst 1918 in der Münchener Revolution aktiv; 1919 Ermordung durch gegenrevolutionäre Milizionäre; besorgte den dreizehnten Band »Die Revolution« (1907) in der von Buber herausgegebenen Reihe Die Gesellschaft. 687, 766, 811 Landgrebe, Ludwig (1902-1991): österr. Philosoph; Schüler ! Husserls. 16 Lang, Andrew (1844-1912): schott. Schriftsteller, Altphilologe und Journalist; Forschungen zu Märchen. 182, 605 Langevin, Paul (1872-1946): franz. Physiker und Pazifist. 698 Lao-Tse, auch Laozi (um 604 v. Chr., Todesdatum unbekannt): legendärer chin. Philosoph und Begründer des Daoismus; gilt als Verfasser des Daodejing. 534, 535, 820, 850 Laplace, Pierre-Simon (1749-1827): franz. Mathematiker, Physiker und Astronom; verfasste mit seinem fünfbändigen Traité de Mécanique Céleste (1799-1823) ein Standardwerk der Himmelsmechanik. 362, 753 Lasker-Schüler, Else (1869-1945): bedeutende dt.-jüd. Dichterin des Expressionismus; 1933 Emigration in die Schweiz, 1939 nach Palästina. 628 Lazarus, Moritz (1824-1903): dt.-jüd. Philosoph und Psychologe; 1874-1896 Prof. in Berlin, danach lehrte er an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. 761-762
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LeFevre, Perry (1921-2001): US-amerik. Theologe und Hochschullehrer. 544, 851 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646-1716): dt. Philosoph der frühen Aufklärung; Schöpfer der Monadologie. 65, 73, 370, 413, 756, 772 Leopardi, Giacomo (1798-1837): ital. Dichter, Essayist und Philologe; Erneuerer der ital. Kultursprache. 211, 213, 630, 632 Lessing, Gotthold Ephraim (1729-1781): dt. Schriftsteller der Aufklärung. 816 Lessing, Theodor (1872-1933): dt.-jüd. Kulturphilosoph; seit 1900 Zionist; 1933 von den Nationalsozialisten auf der Flucht ermordet. 598 Levi Jizchak von Berditschew (1740-1810): chassidischer Zaddik; populäre Gestalt der jüd. Folklore. 514 Levi, Paul (1883-1930): dt.-jüd. sozialistischer Politiker und Reichstagsabgeordneter. 622 Levinas, Emmanuel (1905-1995): aus Litauen stammender franz.-jüd. Philosoph; 1941-1945 als franz. Soldat in deutscher Kriegsgefangenschaft; 1967-1973 Prof. in Nanterre, 1973-1976 an der Sorbonne; machte ! Husserl und ! Heidegger in Frankreich bekannt; Hauptwerk: Totalität und Unendlichkeit (1961). 502-503, 539, 540, 541, 800, 812, 824, 825 Lévy-Bruhl, Lucien (1857-1939): franz. Philosoph und Ethnologe. 856 Löwith, Karl (1897-1973): dt. Philosoph jüd. Herkunft; verließ Deutschland 1934; 1936-1941 Prof. in Sendai/Japan; 1941-1952 Lehrtätigkeiten in den USA; 19521964 Prof. in Heidelberg; zunächst Schüler ! Heideggers, später kritische Auseinandersetzung mit dessen Philosophie. 16, 17, 59, 691 Luria, Jitzchak [Isaac] (1534-1572): jüd. Mystiker aus Safed (heute Israel); gab der Kabbala ihre letzte rezipierte Gestalt, die wiederum den Chassidismus stark beeinflusste. 687 Maggid von Mesritsch ! Dow Bär von Mesritsch. Maimonides ! Moses ben Maimon. Malebranche, Nicolas (1638-1715): franz. Philosoph und Priester; begründete ausgehend von der Philosophie ! Descartes den Okkasionalismus; seine Schriften standen zeitweise auf dem Index der verbotenen Bücher der kath. Kirche. Hauptwerk: Von der Erforschung der Wahrheit (1674/75). 202, 224, 233, 235, 385, 601, 759-760 Malraux, André (1901-1976): franz. Schriftsteller; seit 1944 gaullistischer Politiker. 697 Mani (216-276/277): Begründer des Manichäismus, einer synkretistischen, gnostisch geprägten Offenbarungsreligion. 716 Mann, Golo (1909-1994): dt. Historiker und Publizist; Sohn von ! Thomas Mann. 720, 800 Mann, Heinrich (1871-1950): dt. Schriftsteller; älterer Bruder von ! Thomas Mann; Emigration 1933 erst nach Frankreich, später in die USA. 697 Mann, Thomas (1875-1955): dt. Schriftsteller; Nobelpreis für Literatur 1929; Emigration 1933 erst nach Frankreich, später in die USA. 598, 697, 720
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Marcel, Gabriel (1889-1973): franz. Philosoph und Dramatiker jüd. Herkunft; Studium bei ! Henri Bergson; 1929 Konversion zum Katholizismus; stark beeinflusst von ! Kierkegaard; gilt als führender christlicher Existenzialist; hat unabhängig von Buber in der 1930er Jahren eine Ich-Du Philosophie entwickelt. 484, 485, 800, 807 Marett, Robert Ranulph (1866-1943): engl. Ethnologe und Religionshistoriker. 605 Marx, Karl (1818-1883): dt. Philosoph und Kritiker der pol. Ökonomie; seit 1849 im Londoner Exil; veröffentlichte 1867 sein Hauptwerk Das Kapital; gründete die Internationale Arbeiter-Assoziation. 16, 242, 247-250, 251, 253, 430-431, 653, 662, 672, 676, 774 Mauriac, François (1885-1970): franz. Schriftsteller und Publizist; bedeutender Repräsentant des »Renouveau catholique français«; antifaschistisch engagiert; 1952 Nobelpreis für Literatur. 697 May, Rollo (1909-1994): US-amerik. Psychologe; 1938-1940 als Pfarrer tätig; Vertreter der humanistischen Psychologie und der existenziellen Psychotherapie; mit ! Paul Tillich eng befreundet. 535, 850 Mayrisch, Émil (1862-1928): luxemb. Industrieller; gesellschaftspolitisch engagiert; gilt als Vertreter der europ. Integration. 696 Meister Eckhart ! Eckart von Hochheim Menander: (ca. 342/341-ca. 291/290 v. Chr.): griech. Komödiendichter. 596 Mennicke, Carl (1887-1958): dt.-prot. Theologe und Sozialpädagoge, Angehöriger des Kreises um ! Paul Tillich; 1920-1927 Herausgeber der Blätter für Religiösen Sozialismus; 1933 Emigration in die Niederlande. 494, 810 Merleau-Ponty, Maurice (1908-1961): franz. Philosoph; mit Sartre bis 1955 befreundet. 63 Michelangelo Buonarotti (1475-1564): ital. Künstler der Hochrenaissance; gestaltete die Fresken in der Sixtinischen Kapelle in Rom. 190, 611 Montinari, Mazzino (1928-1986): ital. Historiker und Germanist; zusammen mit ! Giorgio Colli Herausgeber der ersten vollständigen kritischen Ausgabe der Schriften ! Friedrich Nietzsches. 677 Moore, George Edward (1873-1958): brit. Philosoph; 1925-1939 Prof. in Cambridge; begründete mit ! Bertrand Russell und ! Ludwig Wittgenstein die analytische Philosophie. 534, 817, 850 Mosche von Kobryn (1778-1858): chassidischer Zaddik. 514 Mosche Löb von Sas(s)ow (um 1745-1807): chassidischer Zaddik. 518 Moses ben Maimon, auch Maimonides oder RaMBaM (1135-1204): jüd. Religionsphilosoph, Bibelkommentator und Arzt; einer der bedeutendsten jüd. Gelehrten des Mittelalters; versuchte, die aristotelische Philosophie mit der jüdischen Offenbarungsreligion in Einklang zu bringen; wichtigste Schriften u. a.: das religionsphilosophische Werk Führer der Unschlüssigen und das Kompendium zum jüd. Religionsgesetz Mischne Torah. 186, 392, 607, 610, 665, 781 Mozart, Wolfgang Amadeus (1756-1791): österr. Komponist der Wiener Klassik. 297
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Muilenburg, James (1896-1974): US-amerik. Professor für Altes Testament und semitische Sprachen. 506, 813 Napoleon Bonaparte (1769-1821): franz. General und Staatsmann; 1799 Konsul; 1804-1815 franz. Kaiser. 362, 753 Natorp, Paul (1854-1924): dt. Philosoph und Pädagoge; ab 1885 Prof. an der Univ. Marburg; gehört zu den Gründern der Marburger Schule des Neukantianismus; mit Buber bekannt. 592, 754-755 Nédoncelle, Maurice (1905-1976): franz. Priester und Philosoph; unterrichtete an der Universität in Straßburg. 546, 851 Netschajew, Sergej (1847-1882): russ. Nihilist. 587 Neurath, Otto (1882-1945): österr. Nationalökonom und Wissenschaftstheoretiker. 852 Nietzsche, Friedrich (1844-1900): dt. Philosoph; beeinflusste die Lebensphilosophie und den Ästhetizismus der Jahrhundertwende; Stichwortgeber für den Faschismus und die Ideologie der Nationalsozialisten. 29, 33-38, 67, 77-78, 98, 152, 190, 253-255, 257, 258-261, 269, 274, 288, 290, 302, 371-372, 399, 403, 408, 419, 430-432, 436, 448, 479, 482, 489, 534, 611, 633, 653, 677-679, 680-681, 691, 754, 765, 774-776, 814, 856 Nikolaus Cusanus (1401-1464): dt. Theologe und Philosoph; vereinte in seinem Denken Mystik und Rationalismus; 1448 Ernennung zum Kardinal. 234-236, 446, 668, 785, 786 Nobel, Nehemia Anton (1871-1922): dt. Rabbiner in Frankfurt seit 1910; einer der Führer des orthodoxen Judentums in Deutschland. 585 Nohl, Herman (1879-1960): dt. Philosoph und Pädagoge; seit 1920 Prof. in Göttingen. 673 Ortega y Gasset, José (1883-1955): span. Kulturphilosoph und Essayist; Verfasser kulturpessimistischer Schriften; Hauptwerk: Der Aufstand der Massen (1930). 616, 697 Otto, Rudolf (1869-1937): dt.-prot. Theologe und Religionswissenschaftler; 1914 Prof. in Breslau und seit 1917 in Marburg; Hauptwerk: Das Heilige (1917). 588 Pannwitz, Rudolf (1881-1969): dt. Schriftsteller und Kulturphilosoph; 1921 Übersiedlung nach Jugoslawien, 1948 ins Tessin; besorgte den 32. Band »Die Erziehung« (1909) in der von Buber herausgegebenen Reihe Die Gesellschaft; mit Buber befreundet. 754 Pascal, Blaise (1623-1662): franz. Philosoph, Mathematiker und Physiker; durch die Begegnung mit dem Jansenismus Zuwendung zu religiös-theologischen Fragestellungen; besonders einflussreich sind die fragmentarischen und postum veröffentlichten Pensées geworden. 67, 70, 213, 236, 238, 239, 240-241, 242, 245, 259, 274, 363, 389, 521, 608, 631, 635, 699, 754
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Paulus (ca. 10-ca. 65): christl. Apostel, der vom Verfolger zum eifrigen Verbreiter der neuen Lehre wurde; formulierte erste Grundlehren des entstehenden Christentums. 447 Pettazoni, Raffaele (1883-1959): ital. Religionshistoriker. 182, 605 Pfuetze, Paul E. (gest. 1985): US-amerik. Theologe; seit 1959 Professor für Religion am Vassar College. 552, 560, 568, 573, 853 Philo(n) von Alexandrien (ca. 15/10 v. Chr.-40/50 n. Chr.): jüd. hell. Philosoph und Vertreter der jüd. Gemeinde; versuchte die jüdische Religion und die griechische Philosophie in Einklang zu bringen. 193, 613-614, 615 Pico della Mirandola, Giovanni (1463-1494): ital. Humanist und Philosoph; Mitglied der platonischen Akademie in Florenz; geriet unter Häresieverdacht; erstrebte eine harmonisierende Synthese aus christl. Platonismus, Aristotelismus und kabbalistischen Denkelementen. 235, 668 Pinchas von Korez (1726-1791): chassidischer Zaddik; gilt in der chassidischen Geschichtsschreibung als Schüler des ! Israel ben Elieser, ist aber ein zeitgleicher eigenständiger chassidischer Denker. 516 Planck, Max (1858-1947): dt. Physiker; Begründer der Quantentheorie; 1918 Nobelpreis für Physik. 598 Platon (ca. 428-348 v. Chr.): griech. Philosoph; Begründer der abendländischen Metaphysik. 192-193, 201, 233, 317, 370, 385-386, 406, 425-426, 432, 614, 667, 734, 756, 760, 776, 853 Plessner, Helmuth (1892-1985): dt. Philosoph. 16 Plotin (205-270): griech. Philosoph; Begründer des Neuplatonismus. 201, 370, 385, 540, 633, 756 Plutarch (ca. 45- ca. 125): griech. Historiker und Philosoph. 596 Popper, Karl (1902-1994): österr.-brit. Philosoph und Wissenschaftstheoretiker. 691 Poteat, William H. (1919-2000): US-amerik. Philosoph und Religionswissenschaftler. 560, 852 Procksch, Otto (1874-1947): dt. ev. Alttestamentler, seit 1906 Prof. in Greifswald; 1925-1939 in Erlangen. 712 Protagoras (ca. 490-ca. 411 v. Chr.): griech. Philosoph; Sophist. 377, 425, 430, 758-759, 772 Prudentius, d. i. Aurelius Prudentius Clemens (348-405): christlich geprägter Dichter der Spätantike. 355, 716 Ptolomäos (ca. 100-ca. 160): alexandrinischer Astronom, dessen geozentrisches Weltbild bis zu ! Kopernikus allgemein anerkannt war. 178, 601 Ragaz, Leonhard (1868-1945): schweiz. Theologe; 1908-1925 Prof. für Theologie in Zürich; 1906-1945 Herausgeber der Zeitschrift Neue Wege. Blätter für religiöse Arbeit; beeinflusst von der Dialektischen Theologie; setzte sich für den religiösen Sozialismus und die internationale Friedensbewegung ein; stand Buber nahe. 780
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Rang, Florens Christian: (1864-1924): dt. prot. Theologe und Schriftsteller; Mitglied des Forte-Kreises; Freund Bubers und ! Walter Benjamins; rief in seiner Schrift Deutsche Bauhütte (1924) zu freiwilligen Reparationsleistungen an Belgien und Frankreich auf. 532 Reichenbach, Hans (1891-1953): dt. Physiker, Logiker und Philosoph. 852 Rembrandt, Harmenszoon van Rijn (1606-1669): niederl. Maler; einer der bedeutendsten Künstler des Barock. 297 Rilke, Rainer Maria (1875-1926): deutschspr. Lyriker und Schriftsteller aus Prag; verfasste Prosa an der Schwelle zur Moderne sowie Dichtungen von religiös-mystischer Prägung. 548, 616, 628, 795, 852 Rochefoucauld, François de La (1613-1680): franz. Schriftsteller. 548, 852 Rohan, Karl Anton Prinz (1898-1975): österr. Schriftsteller und Publizist kath.konservativer Gesinnung; 1925-1936 Herausgeber der Europäischen Revue. 616 Rosenzweig, Franz (1886-1929): dt.-jüd. Philosoph; übersetzte mit Buber die Bibel; 1919 Leiter der jüdischen Volkshochschule (ab 1920 Freies Jüdisches Lehrhaus); anders als Buber vertrat er eine Rückbesinnung auf das traditionelle Judentum und stand dem Zionismus kritisch gegenüber. 16, 19, 45, 56-57, 88, 191, 388, 395, 448, 464-466, 483, 581-585, 604, 611, 613-614, 692, 695, 721, 735, 754, 763, 781, 783, 796-798, 805-806, 812 Rotenstreich, Nathan (1914-1993): israel. Philosoph; 1932 Einwanderung nach Israel; seit 1955 Prof. in Jerusalem; strebte eine Synthese von Neukantianismus und Phänomenologie an. 800, 805 Rousseau, Jean-Jaques (1712-1778): franz. Schriftsteller und Philosoph. 853 Rowohlt, Ernst (1887-1960): deutscher Verleger; Gründer des gleichnamigen Verlags. 622 Rumm, August (1888-1950): dt. Portrait- und Landschaftsmaler. 598 Russell, Bertrand Earl (1872-1970): brit. Mathematiker und Philosoph; Mitbegründer der analytischen Philosophie; politisch engagiert; 1950 Nobelpreis für Literatur. 548, 691, 780, 817, 850, 852 Sabbatai Zwi (1626-1676): Pseudomessias und zentrale Figur des Sabbatianismus, der größten und (nahezu weltweit) einflussreichsten jüd.-mess. Bewegung der Neuzeit; 1665 Proklamation als Messias; 1666 erzwungene Konversion zum Islam. 674 Sambursky, Schmuel (1900-1990): dt.-israel. Physiker und Wissenschaftsphilosoph; 1924 Auswanderung nach Palästina, seit 1928 unterrichtete er an der Hebräischen Universität in Jerusalem. 629 Sartre, Jean-Paul (1905-1980): franz. Philosoph und Schriftsteller; 1941-1944 in der Résistance; 1952-1956 Mitglied der Kommunistischen Partei, Vertreter eines atheistischen Existenzialismus. Hauptwerk: Das Sein und das Nichts (1943). 16, 26, 46, 72, 75-77, 79, 399-403, 409, 718, 764-765, 796 Schatz-Uffenheimer, Rivka (1927-1992): israel. Judaistin; Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem; Schülerin ! Gershom Scholems. 801
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Scheler, Max (1874-1928): dt. Philosoph; 1919 Prof. in Köln; 1899 Konversion zum Katholizismus, in den letzten Jahren seines Lebens vertrat er eine pantheistisch-personalistische Metaphysik; zunächst Schüler ! Husserls entwickelte er eine materiale Wertethik und begründete die philosophische Anthropologie neu. 16, 17, 23, 43, 65, 68, 69-71, 111, 266-267, 289-299, 589, 598, 653, 681-682, 686, 688-689, 690, 697, 699 Schelling, Friedrich (1775-1854): dt. Philosoph des Idealismus, den er zusammen mit ! Hegel und ! Fichte maßgeblich prägte. 214, 620, 649 Schestow, Leo oder Léon, eigentlich Lev Isaakovitsch Chvartsman (1866-1938): russ.-jüd. Philosoph; seit 1921 in Frankreich, wo er an der Sorbonne lehrte; wird dem Existenzialismus zugerechnet; mit Buber bekannt. 52, 219, 575, 651, 697, 855-856 Schickele, René (1883-1940): dt.-franz. Schriftsteller des Expressionismus. 598 Schilpp, Paul Arthur (1897-1993): US-amerik. Philosoph und Methodisten-Geistlicher; 1936-1965 Lehrtätigkeit, seit 1950 Lehrstuhl an der Northwestern University; Herausgeber der Reihe Library of Living Philosophers. 799-800, 817 Schlechta, Karl (1904-1985): österr.-dt. Autor, Hochschullehrer und NietzscheForscher. 36 Schleiermacher, Friedrich (1768-1834): prot. Theologe und Philosoph; Mitglied des frühromantischen Kreises um Friedrich Schlegel. 588 Schlick, Moritz (1882-1936): österr. Physiker. 852 Schlomo von Karlin (starb 1792): chassidischer Zaddik. 514 Schlomo von Radomsk (um 1801-1865): chassidischer Zaddik. 520 Schlosser, Friedrich Christoph (1776-1861): dt. Historiker; seit 1819 Prof. in Heidelberg. 679 Schlumberger, Jean (1877-1968): franz. Schriftsteller, Dramatiker Essayist und Germanist; 1909 Mitbegründer der Zeitschrift Nouvelle Revue Française. 696 Schmelke von Nikolsburg (1726-1787): chassidischer Zaddik. 514 Schmidt, Wilhelm (1868-1954): österr. Priester, Sprachwissenschaftler und Ethnologe; Verfasser von Der Ursprung der Gottesidee. Eine historisch-kritische und positive Studie (1912). 282, 605 Schmitt, Carl (1888-1985): dt. Staatsrechtler; bereitete mit seiner Theorie des Ausnahmezustands den nationalsozialistischen Terror vor; verteidigte 1935 die Nürnberger Rassengesetze. 806 Schneider, Lambert (1900-1970): dt. Verleger, Anreger der Buber-Rosenzweig Übersetzung der Bibel; von 1931 bis 1938 Leiter des Schocken Verlags; Hauptherausgeber der Schriften Bubers nach dem Zweiten Weltkrieg. 815, 816 Schnitzler, Lilly von (1889-1981): dt. Kunstsammlerin und -mäzenin. 616 Schoeps, Hans-Joachim (1909-1980): dt.-jüd. Religionshistoriker und Religionsphilosoph. 16 Scholem, Gershom (1897-1982): dt.-jüd Religionshistoriker; in seiner Jugend von Buber beeinflusst, nahm später eine kritische Distanz zu ihm ein; Begründer der wissenschaftlichen Erforschung der jüd. Mystik; 1923 Emigration nach Palästina;
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1925 Dozent für Judaistik, ab 1933 Prof. für Jüdische Mystik an der Hebräischen Universität Jerusalem. 34, 40, 511-512, 584, 700, 801, 818 Schopenhauer, Arthur (1788-1860): dt. Philosoph; als Vertreter einer subjektivistisch-pessimistischen Philosophie prägend für die künstlerische Geisteshaltung weiter Kreise des Großbürgertums gegen Ende des 19. Jh. 255, 293-294, 649, 688 Schweitzer, Albert (1875-1965): dt.-franz. Arzt, prot. Theologe und Philosoph; Friedensnobelpreisträger von 1925; mit Buber befreundet. 599-600 Shakespeare, William (1564-1616): engl. Dramatiker und Dichter. 297 Shaw, George Bernard (1856-1950): irisch-engl. Dramatiker und Schriftsteller; 1925 Nobelpreis für Literatur. 622 Simcha Bunam von Przysucha/Pžysha (1765-1827): chassidischer Zaddik; Nachfolger des ! Jaakob Jizchak von Pžysha. 21, 224, 665 Simmel, Georg (1858-1918): dt. Philosoph und Soziologe; verband in seinem Denken Neukantianismus und Lebensphilosophie; 1909 Prof. für Philosophie und Soziologie an der Univ. Berlin, 1913 an der Univ. Straßburg; Lehrer und Förderer Bubers; besorgte den zweiten Band »Die Religion« in der von Buber herausgegebenen Reihe Die Gesellschaft. 34, 851 Simon, Ernst Akiba (1899-1988): dt.-jüd. Pädagoge und Philosoph; mit Buber und ! Franz Rosenzweig befreundet; 1923-28 Redakteur der von Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude; 1928 Emigration nach Palästina; Mitglied des »Brith Schalom«; 1933-1935 Mitarbeit an Bubers Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung; 1933 Dozent, 1950-1967 (Emeritierung) Prof. der Pädagogik an der Hebräischen Univ. Jerusalem. 483, 501, 503, 585, 613, 780, 807, 856 Simon Magus (gest. 65): gilt als einer der ersten Häretiker im Christentum; ließ sich gemäß der überlieferten Anklagen u. a. als Gott in Menschengestalt von seinen Anhängern verehren. 496, 811 Singer, Kurt (1886-1962): dt.-jüd. Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler. 790 Smith, William Robertson (1846-1894): schott. Alttestamentler und Semitist; seit 1881 Prof. für Arabisch in Cambridge. 184, 606 Sokrates (469-399 v. Chr.): griech. Philosoph. 432, 474, 540, 555, 557, 575, 776, 836 Sophokles (497/496-406/405 v. Chr.): Tragödiendichter der griech. Klassik. 590 Sorel, Georges (1847-1922): franz. Ingenieur und anarchistischer Sozialphilosoph. 403, 765 Spengler, Oswald (1880-1936): dt. Geschichtsphilosoph u. Kulturkritiker; Vertreter der sog. »Konservativen Revolution«; mit seinem Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes (2 Bände 1918 u. 1922) wurde er schlagartig berühmt. 587, 699 Spinoza, Baruch, auch Benedikt de (1632-1677): niederl.-jüd. Philosoph des Rationalismus; beeinflusste pantheistische und materialistische Vorstellungen der Aufklärung; wurde wegen seiner Religionskritik 1656 von der seph.-jüd. Gemeinde Amsterdam mit dem großen Bann belegt. 23, 67, 197, 213, 238-239, 292, 293, 367-369, 370, 534, 565, 566, 601, 621, 632, 635, 650, 669, 670, 686, 687-688, 756, 816, 843, 854
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Stäudlin, Carl Friedrich (1761-1826): ev.-lutherischer Theologe; seit 1790 Prof. in Göttingen. 672 Steiner, Rudolf (1861-1925): österr. Publizist und Esoteriker; Begründer der Anthroposophie. 104, 496, 588 Steinthal, Hermann (Heymann) (1823-1899): dt.-jüd. Philosoph und Philologe; Mitbegründer der Völkerpsychologie gemeinsam mit Moritz Lazarus; seit 1855 Prof. in Berlin und 1872 an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. 762 Stirner, Max (1806-1856): dt. Schriftsteller und Anarchist; 1846 erschien die populäre Schrift Der Einzige und sein Eigentum. 59 Straus, Erwin (1891-1975): dt.-jüd. Psychiater und Phänomenologe; 1938 Emigration in die USA; Lehrtätigkeiten in Berlin und an verschiedenen Universitäten in den USA; Vertreter einer geisteswissenschaftlich ausgerichteten Psychiatrie. 455, 794 Suhrkamp, Peter (1891-1959): dt. Verleger; 1944/45 als Regimegegner inhaftiert; Verleger bedeutender Werke der literarischen Moderne und zeitgenössischer Philosophie. 800 Susman, Margarete (1872-1966): dt.-jüd. Philosophin, Dichterin und Journalistin; nach der NS-Machtergreifung Emigration in die Schweiz; gehörte dem Kreis um ! Leonhard Ragaz an; mit Buber befreundet. 529, 780, 816 Sussja von Hanipol: Schüler des ! Dow Bär von Mesritsch, Bruder des ! Elimelech von Lisensk; als eine Art »weiser Narr« eine beliebte Gestalt in der jüd. Folklore. 518 Tasso, Torquato (1544-1595): ital. Dichter der Gegenreformation. 633 Taubes, Jacob oder Jakob (1923-1987): dt.-jüd. Religionssoziologe und -philosoph; 1936 Übersiedlung in die Schweiz; verschiedene akad. Lehrtätigkeiten in den USA, Israel und zuletzt an der Freien Universität Berlin als Prof. für Judaistik und Hermeneutik. 800, 810 Theunissen, Michael (1932-2015): dt. Philosoph. 14 Thieberger, Friedrich (1888-1958): österr.-jüd. Religionsphilosoph und Judaist; zionistisch engagiert; Mitglied in der Prager Vereinigung Bar Kochba; 1939 Emigration nach Palästina. 558-559, 837, 853 Thomas von Aquino (um 1225-1274): Kirchenlehrer der kath. Kirche; bedeutendster Vertreter der Scholastik. 67, 234, 237, 239, 244-245, 246, 661, 668 Tillich, Paul (1886-1965): (1886-1965): dt. prot. Theologe; emigrierte 1933 in die Vereinigten Staaten und lehrte bis 1955 am Union Theological Seminary in New York; Vertreter des religiösen Sozialismus. 494, 699, 809-810, 818, 850 Tobler, Georg Christoph (1757-1812): schweiz. Pfarrer und Schriftsteller. 793 Tolstoi, Lew (1828-1910): russ. Schriftsteller. 856 Uexküll, Johann von (1864-1944): dt.-balt. Biologe. 16, 17, 51
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Vaihinger, Hans (1852-1933): dt. Philosoph; Prof. in Straßburg und Halle/Saale; gründete 1904 die »Kant-Gesellschaft«. 588 Valéry, Paul (1871-1945): franz. Dichter und Schriftsteller, verfasste grundlegende Schriften der modernen Literatur, Literaturtheorie und Kunsttheorie. 459, 616, 795 Vico, Giambattista (1668-1744): ital. Historiker und Geschichtsphilosoph; 16911741 Prof. für Rhetorik in Neapel. 313, 430, 693-694 Voltaire (1694-1778): franz. Philosoph der Aufklärung. 76 Wahl, Jean (1888-1974): franz.-jüd. Philosoph, vor und nach dem Krieg Prof. an der Sorbonne; 1941 Flucht in die USA; beeinflusste ! Sartre und ! Levinas. 697 Weber, Max (1864-1920): dt. Soziologe, Sozialpolitiker und Nationalökonom; Prof. in Berlin, Wien und München; Arbeiten zur Verflechtung von Ökonomie, Herrschaft und Religion; Hauptwerk u. a. das postum erschienene Wirtschaft und Gesellschaft (1922). 409, 767 Weiss, Paul (1901-2002): US-amerik. Philosoph. 818 Weizsäcker, Viktor von (1886-1957): dt. Neurologe; lehrte an den Universitäten Heidelberg und Breslau; Mitbegründer der Psychosomatik und der anthropologischen Medizin; 1926-29 Mitherausgeber der Zeitschrift Die Kreatur zusammen mit Martin Buber und ! Joseph Wittig. 16, 17, 455, 532, 699, 794 Wellhausen, Julius (1844-1918): dt. ev. Theologe; Alttestamentler, Religionswissenschaftler und Semitist; wichtigster Vertreter der modernen Bibelkritik in seiner Zeit. 604 Weltsch, Robert (1891-1982): deutschsprachiger Publizist, Journalist und Zionist; Mitglied in der Prager Vereinigung Bar Kochba; 1919-1938 Chefredakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift Jüdische Rundschau; 1938 Emigration nach Palästina; nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er in England; ab 1955 Leiter des Londoner Leo Baeck Instituts; mit Buber befreundet. 603, 780 Whitehead, Alfred North (1861-1947): brit. Mathematiker und Philosoph; seine späteren naturphilosophischen Schriften hatten Einfluss auf die Prozesstheologie. Hauptwerke: Principia Mathematica (3 Bde. mit B. Russell) und Process and Reality (1929). 382, 759, 811, 817 Wieland, Christoph Martin (1733-1813): bedeutender Schriftsteller der dt. Aufklärung. 671 Wilhelm, Richard (1873-1930): dt. Theologe, Missionar und Sinologe. 768, 772 Wittgenstein, Ludwig (1889-1951): österr.-brit. Sprachphilosoph; schuf mit dem Tractatus Logico-Philosophicus (1921) ein Referenzwerk des logischen Positivismus und der analytischen Sprachphilosophie. 548, 561, 839, 850, 852 Wittig, Joseph (1879-1949): dt. kath. Kirchenhistoriker, Priester und Schriftsteller; 1926 exkommuniziert; 1926-1929 Mitherausgeber der Zeitschrift Die Kreatur zusammen mit Martin Buber und ! Viktor von Weizsäcker; 1948 Aufhebung der Exkommunikation. 16, 532, 699, 794 Wodehouse, Helen (1880-1964): brit. Religionsphilosophin. 563
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Wolff, Kurt H[einrich] (1912-2003): dt.-amerik. Soziologe jüd. Herkunft; 1933 Emigration nach Italien; 1939 in die USA; seit 1959 Prof an der Brandeis University. 546, 570, 851 Ziegler, Leopold (1881-1958): dt. philosophischer und politischer Schriftsteller konservativer Ausrichtung; verfasste Arbeiten zur Kulturgeschichte. 598