Martin Buber Werkausgabe: Band 11 Schriften zur politischen Philosophie und zur Sozialphilosophie 9783641248604

Einen wichtigen Aspekt des Lebenswerks Bubers bildet die Beschäftigung mit politischen und gesellschaftlichen Fragestell

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Table of contents :
Inhalt. Teilband 1: 1906-1938
Vorbemerkung
Dank
Einleitung
Geleitwort zur Sammlung (Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien)
Die Revolution und wir
Die Ueberwindung
[Über die Revolution]
Der heilige Weg
Worte an die Zeit: Grundsätze
Worte an die Zeit: Gemeinschaft
Landauer und die Revolution
Der heimliche Führer
Martin Buber-Abende. Erste Besprechung vom 24. November 1923
Staatsideen, Gemeinschaftsversuche und die menschliche Wirklichkeit (Februar 1924)
Flucht?
Vortrag über Erziehung und Volkstum
Drei Sätze eines religiösen Sozialismus
Religion und Volkstum
[Religion und Autorität – Form und Freiheit]
[Stellungnahme zur Strafbarkeit der männlichen Prostitution]
Vorwort [zu »Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen«]
[Religion und Politik] (17. 2. 1929)
Erziehung zur Gemeinschaft
Erinnerung an einen Tod
Warum muß der Aufbau Palästinas ein sozialistischer sein?
[Drei Diskussionsbeiträge in »Sozialismus aus dem Glauben«]
Gandhi, die Politik und wir
Individuum und Person – Masse und Gemeinschaft
Religion und Politik
Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee
Aus einem Rundfunk-Dreigespräch über »Religion und Gemeinschaft«
Arbeitsglaube
Israel und die Völker Referat auf der Tagung des Köngener Bundes von Ende Dezember 1932
Zur Ethik der politischen Entscheidung
Die Tugend der Propaganda Zum 50. Geburtstag Kurt Blumenfelds
Erkenntnis tut not
Kommentar
Inhalt. Teilband 2: 1938-1965
Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit Antrittsvorlesung an der Universität Jerusalem
Die Macht der Zeitung
Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose
[Rede anlässlich des 1. Mai]
Zwei Beiträge zur Klärung des Pazifismus Botschaft an den Schulungskurs der Internationalen Friedens-Akademie, Schloß Greng, 1.-12. August 1939
Landauer heute
Wenn Herzl noch lebte
Über das Wesen der Kultur
Die Idee der Gemeinschaft
Der Weg des gemeinschaftlichen Dorfes
Über die große Krise
The Crisis and the Truth
Individualismus und Kollektivismus
Ich rufe sie …
Schriftstellergespräche in der vom Premierminister einberufenen Sitzung am 27. März 1949
Schriftstellergespräche in der zweiten vom Premierminister [Ben-Gurion] einberufenen Sitzung am 11. Oktober 1949
[Vorwort zu Jacob Burckhardt, »Die Kultur der Renaissance in Italien«]
Pfade in Utopia
Vorwort
Der Begriff
Die Sache
Die Ersten
Proudhon
Kropotkin
Landauer
Versuche
Marx und die Erneuerung der Gesellschaft
Lenin und die Erneuerung der Gesellschaft
Noch ein Experiment
In der Krisis
Zum Problem der »Gesinnungsgemeinschaft«
Zwischen Gesellschaft und Staat
Hoffnung für diese Stunde
Abstrakt und Konkret
Volk und Führer
Geltung und Grenze des politischen Prinzips
Staat und Kultur
Moses Hess und die sozialistische Idee
Haltet ein!
Politik aus dem Glauben
Der Mensch im Zeitalter der Weltraumfahrten
Gruß und Willkomm
[Dankesrede für den Münchner Kulturpreis]
Zu zwei Burckhardt-Worten
[Greetings to Bertrand Russell]
Nachbemerkung
Sie und wir
Schweigen und Schreien
[Aus: Philosophical Interrogations]
Dank
In Heidelberg
Erinnerung an Hammarskjöld
Ein Gespräch mit Tagore
Gemeinschaft und Umwelt
»In zwanzig Jahren«
Über den »bürgerlichen Ungehorsam«
Nochmals über den »bürgerlichen Ungehorsam«
Über die Todesstrafe
Danksagung
Nachwort
Kommentar
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Martin Buber Werkausgabe: Band 11 Schriften zur politischen Philosophie und zur Sozialphilosophie
 9783641248604

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Martin Buber Werkausgabe Im Auftrag der Philosophischen Fakultät der Heinrich Heine Universität Düsseldorf und der Israel Academy of Sciences and Humanities herausgegeben von Paul Mendes-Flohr und Bernd Witte

Gütersloher Verlagshaus

Martin Buber Werkausgabe 11.1 und 11.2 Schriften zur poliltischen Philosophie und zur Sozialphilosophie Teilband 1: 1906–1938 Herausgegeben und kommentiert von Stefano Franchini, eingeleitet von Franceso Ferrari

Teilband 2: 1938–1965 Herausgegeben und kommentiert von Massimiliano De Villa, eingeleitet von Franceso Ferrari

MBW 11.2 (02687)/p. 4 / 2.5.2019

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Bibliografische Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. Gefördert von der Gerda Henkel Stiftung.

Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Gefördert von der Heinrich Heine Universität Düsseldorf.

Gefördert von der Israel Academy of Sciences and Humanities.

Gefördert von der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post e.V.

Dieser Band erscheint in zwei Teilbänden, die nur geschlossen zu beziehen sind. 1. Auflage

Copyright © 2019 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, Copyright © 2019 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der VerlagsgruppeinRandom House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

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Umschlaggestaltung: Init Kommunikationsdesign GmbH, Bad Oeynhausen Satz: SatzWeise GmbH, Bad Wünnenberg ISBN 978-3-641-24860-4 www.gtvh.de

MBW 11.1 (02687)/p. 5 / 2.5.2019

Inhalt Teilband 1: 1906-1938 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Geleitwort zur Sammlung (Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien) . 101 Die Revolution und wir

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

Die Ueberwindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 [Über die Revolution]

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Der heilige Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Worte an die Zeit: Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Worte an die Zeit: Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Landauer und die Revolution

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

Der heimliche Führer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Martin Buber-Abende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Staatsideen, Gemeinschaftsversuche und die menschliche Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Flucht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Vortrag über Erziehung und Volkstum . . . . . . . . . . . . . . . 224 Drei Sätze eines religiösen Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . 230 Religion und Volkstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 [Religion und Autorität – Form und Freiheit]

. . . . . . . . . . . 247

[Stellungnahme zur Strafbarkeit der männlichen Prostitution] . . 264 Vorwort [zu »Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen«] . . . 265 [Religion und Politik, Aussprache]

. . . . . . . . . . . . . . . . . 268

MBW 11.1 (02687)/p. 6 / 2.5.2019

6

Inhalt

Erziehung zur Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Erinnerung an einen Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Warum muß der Aufbau Palästinas ein sozialistischer sein? . . . . 324 [Drei Diskussionsbeiträge in »Sozialismus aus dem Glauben«] . . 333 Gandhi, die Politik und wir

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340

Individuum und Person – Masse und Gemeinschaft. . . . . . . . . 351 Religion und Politik [Vortrag] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Aus einem Rundfunk-Dreigespräch über »Religion und Gemeinschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Arbeitsglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Israel und die Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Zur Ethik der politischen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . 412 Die Tugend der Propaganda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Erkenntnis tut not

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

Kommentar Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Diakritische Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Einzelkommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423

Teilband 2: 1938-1965 Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit . .

9

Die Macht der Zeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose . . . . . . . . . . . . .

24

[Rede anlässlich des 1. Mai] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

MBW 11.1 (02687)/p. 7 / 2.5.2019

7

Inhalt

Zwei Beiträge zur Klärung des Pazifismus . . . . . . . . . . . . . .

31

Landauer heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Wenn Herzl noch lebte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

Über das Wesen der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

Die Idee der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Der Weg des gemeinschaftlichen Dorfes

. . . . . . . . . . . . . .

65

Über die große Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

The Crisis and the Truth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Individualismus und Kollektivismus

. . . . . . . . . . . . . . . .

87

Ich rufe sie … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

Schriftstellergespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Schriftstellergespräche in der zweiten vom Premierminister [Ben-Gurion] einberufenen Sitzung am 11. Oktober 1949 . . . . . 104 [Vorwort zu Jacob Burckhardt, »Die Kultur der Renaissance in Italien«] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Pfade in Utopia . . Vorwort . . . . Der Begriff . . Die Sache . . . Die Ersten . . . Proudhon . . . Kropotkin . . . Landauer . . . . Versuche . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

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. . . . . . . . . Marx und die Erneuerung der Gesellschaft .

. . . . . . . . . . Lenin und die Erneuerung der Gesellschaft . Noch ein Experiment . . . . . . . . . . . . . . . In der Krisis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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117 118 119 125 134 142 155 163 174 195 213 241 251

Zum Problem der »Gesinnungsgemeinschaft« . . . . . . . . . . . 260 Zwischen Gesellschaft und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

MBW 11.1 (02687)/p. 8 / 2.5.2019

8

Inhalt

Hoffnung für diese Stunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Abstrakt und Konkret Volk und Führer

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

Geltung und Grenze des politischen Prinzips . . . . . . . . . . . . 297 Staat und Kultur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Moses Hess und die sozialistische Idee . . . . . . . . . . . . . . . 309 Haltet ein! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Politik aus dem Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Der Mensch im Zeitalter der Weltraumfahrten . . . . . . . . . . . 332 Gruß und Willkomm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Dankesrede zum Münchner Kulturpreis

. . . . . . . . . . . . . . 335

Zu zwei Burckhardt-Worten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 [Greetings to Bertrand Russell]

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Nachbemerkung [Nach dem Eichmann-Prozeß] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Sie und wir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Schweigen und Schreien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 [Aus: Philosophical Interrogations] . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 In Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Erinnerung an Hammarskjöld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Ein Gespräch mit Tagore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Gemeinschaft und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 »In zwanzig Jahren«

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Über den »bürgerlichen Ungehorsam« . . . . . . . . . . . . . . . 372 Nochmals über den »bürgerlichen Ungehorsam« . . . . . . . . . . 373 Über die Todesstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

MBW 11.1 (02687)/p. 9 / 2.5.2019

9

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Kommentar Einzelkommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756

Gesamtaufriss der Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790

MBW 11.1 (02687)/p. 10 / 2.5.2019

MBW 11.1 (02687)/p. 11 / 2.5.2019

Vorbemerkung Der vorliegende Band ist der fünfzehnte, der nach der Übernahme der Arbeit an der Martin Buber Werkausgabe durch die Heinrich Heine Universität Düsseldorf publiziert werden kann. Er ist nach den neuen Editionskriterien gestaltet, wie sie erstmals in Band 9 der MBW angewandt und im vorliegenden Band in der Editorischen Notiz als Einleitung zum Kommentar erörtert werden. Der in zwei Teilbände untergliederte Band versammelt Bubers Schriften zur politischen Philosophie und zur Sozialphilosophie. Nicht berücksichtigt wurden hierbei spezifisch zionistische Arbeiten, die gesondert in MBW 21 abgedruckt werden. Ist Buber bislang vornehmlich als Religionsphilosoph und Bearbeiter literarischer chassidischer Erzählungen anerkannt, erweist sich jener unbekanntere Aspekt seines Werkes, der sich auf Fragen der politischen Philosophie und des politischen Zeitgeschehens bezieht, als überraschend umfangreich. Daher musste dieser Band in zwei Bände unterteilt werden, wobei die Teilung Bubers Biographie folgt und mit der Übersiedlung nach Palästina 1938 gesetzt wurde. Wie die in den vorliegenden beiden Teilbänden versammelten Arbeiten belegen, beschäftigte sich Buber während seiner gesamten schriftstellerischen Laufbahn mit allgemeinen politischen und sozialphilosophischen Themen auch jenseits des zionistischen Engagements. Zudem beteiligte er sich intensiv an politischen Diskussionen mit Gesprächspartnern vielfältiger politischer Orientierung – vom religiösen Sozialismus bis hin zu Vertretern der »Konservativen Revolution« – und konfrontierte die eigenen theoretischen Überlegungen mit einer sich teils dramatisch wandelnden Gegenwart. Stets war er dabei darum bemüht, sowohl seine Dialogphilosophie praktisch zu Geltung zu bringen als auch das Spezifische der jüdischen Religion als lebendige, geistig und humanistisch wirksame Potenz angesichts allgemeinerer Menschheitsprobleme, wie sie in den politischen Konflikten der Zeit sich ergeben, zu artikulieren und ihre Fruchtbarkeit für die gesamte Gesellschaft zu betonen. Dies wird am deutlichsten in seiner programmatischen Rede Der heilige Weg (1919), in der Buber die jüdische Prophetie mit universeller Gerechtigkeit während der Kriegs- und Revolutionswirren verbindet. Der sich während der zunehmenden Krise der Weimarer Republik abzeichnenden Bedrohung versuchte Buber schließlich im Sinne seines »hebräischen Humanismus« zu begegnen. Prägend für Bubers politisches Engagement in der Zeit während und nach der deutschen Novemberrevolution von 1918 war seine Freund-

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12

Vorbemerkung

schaft mit Gustav Landauer (1870-1919), um dessen Andenken er nach der Ermordung bemüht war. Die hieraus hervorgegangen Texte sind in diesem Band versammelt und lassen Bubers differenziertes, teils ambivalentes Verhältnis zur Revolution erkennen. Während der Zeit der Weimarer Republik entfaltete Buber in Vorträgen und Gesprächen, die erstmals in diesen Bänden publiziert und kommentiert werden, eine reichhaltige politische Aktivität. Über die Jahre ist darin eine Verschiebung der Position Bubers von anfänglicher sozialistischer Emphase zu eher von einem neoromantischen Volkstums-Begriff geprägten Ansichten zu erkennen, was sich auch in den zunehmend konservativeren Gesprächspartnern abzeichnet, denen Buber durch die Aufnahme und Umfunktionierung ihrer Begriffe zu begegnen sucht. Der zweite Teilband enthält jene Schriften Bubers zur politischen Philosophie, vor allem aber auch zu tagespolitischen Fragen, die während seiner Zeit in Palästina/Israel nach 1938 entstanden. Eingeleitet wird der Band durch Bubers programmatische Antrittsrede an der Hebräischen Universität Jerusalem »Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit« (1938). Schwerpunkt des Bandes ist die große monographische Arbeit Bubers zu Geschichte und Praxis sozialistischer Ideen, Pfade in Utopia (1950). Daneben widmen sich zahlreiche kleinere Arbeiten weltpolitischen Konflikten wie dem Kalten Krieg. * Die Israel Academy of Sciences and Humanities, deren erster Präsident Martin Buber war, hat im Jahre 2012 die Arbeit an der Werkausgabe als ein »highly important project« anerkannt und fördert sie seitdem mit einem jährlichen Beitrag. Ein Projekt wie diese Werkausgabe wäre ohne eine großzügige finanzielle Förderung nicht möglich. Wir danken insbesondere der Gerda Henkel Stiftung und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für ihre nachhaltige Unterstützung des Gesamtprojekts der Martin Buber Werkausgabe. Nicht zuletzt sei der Heinrich Heine Universität Düsseldorf gedankt, die das Projekt logistisch und administrativ betreut. Düsseldorf, im Januar 2019

Paul Mendes-Flohr, Bernd Witte

MBW 11.1 (02687)/p. 13 / 2.5.2019

Dank Unser Dank gilt Paul Mendes-Flohr und Bernd Witte für das Vertrauen, den ständigen Ansporn und die unerschütterliche Geduld. Für die Erstellung des vorliegenden Bandes konnten die Herausgeber auf umfangreiche unveröffentlichte Materialien zurückgreifen, die im Martin Buber Archiv in Jerusalem aufbewahrt werden. Für die großzügige Unterstützung gebührt Stefan Litt und den Mitarbeitern der Archivabteilung der Nationalbibliothek unser besonderer Dank. Für die Bereitstellung von Dokumenten und Genehmigungen sei auch dem Bundesarchiv in Berlin sowie dem Paul-Tillich-Archiv an der UB Marburg gedankt. Für die Hilfe bei der anfänglichen Gestaltung des Bandes möchten wir uns bei Heike Breitenbach herzlich bedanken. Sowohl für die sprachlichen Korrekturen unserer Texte als auch für die zahlreichen substantiellen Anregungen sowie für die Erstellung des kritischen Apparats gilt den Mitarbeitern der Arbeitsstelle – Simone Pöpl und Arne Taube – unser tiefster Dank. Ohne ihre unermüdlichen Bemühungen und unermessliche Hilfe wäre dieser Band nie erschienen. Wir möchten hier auch Karin Neuburger für ihre wertvollen Übersetzungen aus dem Hebräischen nicht unerwähnt lassen. Zu Francesco Ferraris Einleitung haben Martin Leiner (Universität Jena), Hans Joachim Werner und Siegbert Wolf (Martin-Buber-Gesellschaft) durch Ihre inhaltlichen Anmerkungen einen wertvollen Beitrag geleistet, genauso wie Diana Di Maria und Christian Mey mit ihrem Lektorat. Dem Autor gab das Jena Center for Reconciliation Studies, innerhalb des DFG Projekts »Hearts of Flesh – Not Stone. Encountering the Suffering of the Other«, Raum und Zeit zur Abfassung der Einleitung. An dieser Stelle sei ein besonderer Dank an die Professoren gerichtet, die vor etwa zehn Jahren seine ersten Schritte in die Buber-Forschung begleitet und geleitet haben: Francesco Camera (Universität Genua) und Stefan Schreiner (Universität Tübingen). Die neugeborene Matilde stellte den letzten Grund dar, um die anvertraute Aufgabe am besten zu verwirklichen. In Bezug auf Gestaltung, Herausgabe und Kommentierung des ersten Teilbandes durch Stefano Franchini sei hier zuerst dem Gütersloher Verlagshaus für seine wichtige finanzielle Unterstützung gedankt. Für die wertvollen Informationen und Bemerkungen möchte sich der Herausgeber bei Bernd Reifenberg (UB Marburg), Christian Danz (Paul-Tillich-Gesellschaft), Federico Squarcini (Universität Venedig) und Anja Waller (Universität Hohenheim) bedanken. Das Istituto Italiano di Studi

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Dank

Germanici in Rom hat dem Herausgeber die erforderliche Zeit bereitgestellt, um die Revision des Textes auszuführen. In diesem Kommentar gipfelt jenes Interesse des Herausgebers für das deutsche Judentum, das 1996 Gianfranco Bonola weckte. Ihm sei deshalb der erste Teilband mit unveränderter Achtung und in tiefer Verbundenheit gewidmet. Massimiliano De Villa dankt zunächst Stefano Franchini dafür, ihn als Herausgeber und Kommentator des zweiten Teilbands vorgeschlagen zu haben, sowie für einen ständigen, fruchtbaren Gedankenaustausch. Es sei ferner Francesco Ferrari gedankt, dessen Einleitung wichtige Denkanstöße für die Kommentierung der Texte geliefert hat. Dank schuldet der Herausgeber auch denjenigen Personen und Einrichtungen, die diese Arbeit ermöglicht und begleitet haben, insbesondere dem Istituto Italiano di Studi Germanici in Rom und dessen Präsidentin Roberta Ascarelli und der Universität Trient in der Person von Luca Crescenzi. Besonders sei denjenigen gedankt, die den Herausgeber in den vergangenen Jahren durch ihre Dozenturen zu jüdischen und jiddischen Studien angespornt haben, vor allem Giuliano Tamani, Piero Capelli, Emanuela Trevisan Semi, Sigrid Sohn (Universität Venedig), Claudia Rosenzweig (Bar-Ilan University). Zu guter Letzt ist der Herausgeber Andreina Lavagetto (Universität Venedig), die ihn mit Martin Buber und der deutsch-jüdischen Kulturgeschichte mit Feingefühl und Hingebung vertraut gemacht hat, zu Dank verpflichtet. An sie, die dem Herausgeber eine echte Arbeitsmethode beigebracht hat, geht der allergrößte Dank. Viele andere dialogische Partner – zu viele, um sie namentlich aufzuführen – diskutierten eingehend diese Texte mit uns. Wir hoffen, dass sie sich mit dieser Danksagung angesprochen fühlen. Düsseldorf, Jena, Rom/Trient, im Februar 2019 Stefano Franchini, Francesco Ferrari, Massimiliano De Villa

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Einleitung Die Tat und die Lehre Der vorliegende Band enthält Martin Bubers Schriften zur politischen Philosophie und zur Sozialphilosophie, eine mitnichten leicht zu definierende und abzusteckende Kategorie innerhalb seines biografischen und intellektuellen Weges. In einer Zeit der wachsenden Fragmentierung des Wissens und der akademischen Spezialisierung war Buber ein bewusst »atypischer« 1 Mensch, der sich eindeutigen Klassifikationen entzog. 2 Sein langes Leben erstreckte sich von Besuchen des Wiener Burgtheaters zu Zeiten der Finis Austriae bis zur Wiederentdeckung des Chassidismus, von der Formulierung des dialogischen Denkens zu der Verdeutschung der Schrift; von der Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung bis hin zur Bekleidung des ersten Lehrstuhls für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem. 1878 in Wien geboren, wurde Buber von seinen Großeltern väterlicherseits in Lemberg erzogen, in der äußersten Peripherie des damaligen Königreichs Österreich-Ungarn, wo er die direkte Bekanntschaft der letzten Dynastien chassidischer Zaddikim machte. Dort blieb er bis 1896, dem Jahr, in dem er in die Hauptstadt Wien zurückkehrte, um sich an der Universität einzuschreiben. Er entschied sich für ein Studium der Philosophie und der Kunstgeschichte, verlebte ein intensives Jahrzehnt zwischen Wien, Leipzig, Zürich, Berlin und Florenz, um sich schließlich in Deutschland niederzulassen: zunächst in Berlin, dann, von 1916 bis 1938, in Heppenheim an der Bergstraße. Nachdem Buber kurz nach Ausbruch des Naziregimes seines Amtes als Universitätsprofessor in Frankfurt enthoben worden war, engagierte er sich in diversen pädagogischen Initiativen für das deutsche Judentum, bis er 1938 nach Jerusalem emigrierte, wo er siebenundzwanzig Jahre später verstarb. Es ist leicht ersichtlich, dass es sich bei Martin Bubers Philosophie auch um eine »soziale« handelt. Obwohl Bubers dialogische Philosophie, wie Martin Leiner herausgearbeitet hat, 3 eine Theorie der Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit insgesamt umfasst, vollzieht sich die ei1. 2. 3.

Martin Buber, Antwort, in: Martin Buber. Philosophen des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Paul Arthur Schilpp u. Maurice Friedman, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1963, S. 589-639, hier S. 589; jetzt in: MBW 12, S. 467-524, hier S. 467. Vgl. Dialogue as a Trans-disciplinary Concept. Martin Buber’s Philosophy of Dialogue and its Contemporary Reception, hrsg. von Paul Mendes-Flohr, Berlin 2015. Vgl. Martin Leiner, Gottes Gegenwart. Martin Bubers Philosophie des Dialogs und

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Einleitung

gentliche Dialogik doch in der Begegnung zwischen Menschen. Die Dialogik ist damit spätestens seit 1923 bei der Beschäftigung mit Bubers Sozialphilosophie stets mitzubedenken und stellt deren wesentlich originelles Element dar. Je nach Gesprächspartner hat Buber sozialphilosophische Theorieelemente, welche sich mit dem dialogischen Prinzip und mit dem ihm vorausgehenden Gemeinschaftsdenken verbinden ließen, in kreativer Weise in sein Denken aufgenommen. Politisch wird diese Sozialphilosophie dann, wenn sie auf die Verantwortung für das soziale Leben bezogen wird. Versteht man politische Philosophie als eine philosophische Reflexion über politisches Handeln, dann kann man im Fall Bubers von einer politischen Philosophie sprechen. Sein politisches Denken wird bereichert durch vertiefte Reflexionen über Themen wie Nation, Sozialismus oder Theokratie. Eine umfassende systematische politische Philosophie hat Buber allerdings nicht vorgelegt, die meisten seiner Texte sind Gelegenheitsschriften aus konkretem Anlass. Darum ist es nicht selbstverständlich, was unter der politischen Philosophie Martin Bubers zu verstehen sei. Das ganze Leben Bubers war durch politische Stellungnahmen unterschiedlicher Art und von der Fürsorge um die öffentliche Sache geprägt, ohne sich je zu stark an das Engagement und den Aktivismus einzelner Parteien zu binden. Sein Leben ist zweifelsohne ein politisches, doch kann man diesbezüglich schon von einer politischen Philosophie sprechen? Laut Buber kann jede politische Transformation nicht umhin, auch eine Transformation des Zwischenmenschlichen in ihr Kalkül einzubeziehen. Die politische Philosophie Bubers begründet sich wesentlich durch den eminent intersubjektiven und somit »sozialen« Charakter der Ich-Du-Beziehung, allen voran aber durch die Ontologie des Zwischen, deren theoretische Grundlage in Das Problem des Menschen (1948) niedergelegt wurde. Folgende Textstelle dokumentiert dies: »Die den Begriff des Zwischen begründende Anschauung ist zu gewinnen, indem man eine Beziehung zwischen menschlichen Personen nicht mehr, wie man gewohnt ist, entweder in den Innerlichkeiten der einzelnen oder in einer sie umfassenden und bestimmenden Allgemeinwelt lokalisiert, sondern faktisch zwischen ihnen.« 4 […] Die »dialogische Situation [ist] nur ontologisch zulänglich erfaßbar […] von dem aus, was, beide transzendierend, zwischen ihnen ist. […] Jenseits des

4.

der Ansatz ihrer theologischen Rezeption bei Friedrich Gogarten und Emil Brunner, Gütersloh 2000, S. 168-176. Martin Buber, Das Problem des Menschen, Heidelberg: Lambert Schneider 1948, S. 165; jetzt in: MBW 12, S. 221-312, hier S. 310. Vgl. Michael Theunissen, Bubers negative Ontologie des Zwischen, in: Philosophisches Jahrbuch 2 (1964), S. 319-330.

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Subjektiven, diesseits des Objektiven, auf dem schmalen Grat, darauf Ich und Du sich begegnen, ist das Reich des Zwischen.« 5

Damit stellt sich die Frage, ob es, noch vor einer politischen Philosophie Bubers, eine »Autonomie des Politischen« innerhalb seines Denkens gibt. Nur schwer scheint das Politische von der Ethik, der Ontologie oder dem Religiösen in Bubers Denken getrennt werden zu können. Eine paradigmatische Bedeutung gewinnt es in den letzten Jahren der Weimarer Republik, was insbesondere an der Schrift »Gandhi, die Politik, und wir« 6 abgelesen werden kann, und entwickelt sich schließlich zur Antithese zwischen dem sozialen und dem politischen Prinzip, die Buber mit dem Beginn seiner akademischen Tätigkeit in Palästina formulieren wird. Die These, der zufolge »an introduction to Buber as a social thinker is ipso facto an introduction to his thought« 7 , ebenso wie jene, wonach »Buber’s attitude towards politics stemmed from his understanding of the need to radically transform the nature of the interpersonal« 8 , sind zwar fruchtbar, müssen aber cum grano salis betrachtet werden. Damit ist die soziale und die politische Philosophie Bubers mehr als eine simple Anwendung seiner Ich-Du-Philosophie, wie auch Paul Mendes-Flohr erkennt. 9 Eine seiner scharfsinnigen Einsichten lautet entsprechend: »Für Buber […] war die Politik eine wesentliche Dimension des Lebens im Dialog und Dienst für Gott; Politik, behauptete er, ist weder außerhalb des ›Lebens im Geist‹, noch ist sie einfach eine unvermeidbare Aufgabe, die uns gelegentlich von den Notwendigkeiten der Geschichte auferlegt wird. Als die letzte Grundlage zwischenmenschlichen und alltäglichen Lebens, stellt Buber fest, ist Politik die notwendige Form, an der religiöse und ethische Lehren gemessen werden müssen und durch die sie konkrete Wirklichkeit erlangen. Nur wenn das Leben des Geistes Einfluß auf die Politik nimmt, kann es möglicherweise seine Hauptaufgabe verwirklichen – den beschämenden Dualismus zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, Gedanke und Tatsache, ja zwischen Moral und Politik selber zu überwinden.« 10

Um solcherlei Fragen präziser beantworten zu können, ist daran zu erinnern, wie untrennbar für Buber der Zusammenhang zwischen Lehre 5. Buber, Das Problem des Menschen, S. 167 f.; jetzt in: MBW 12, S. 311. 6. Martin Buber, Gandhi, die Politik und wir, Die Kreatur 4 (1930), S. 331-342; jetzt in diesem Band, S. 340-350. 7. Bernard Susser, Existence and Utopia. The Social and Political Thought of Martin Buber, Rutherford 1981, S. XIII. 8. Dan Avnon, Martin Buber. The Hidden Dialogue, Lanham 1998, S. 149. 9. Paul Mendes-Flohr, The Desert Within and Social Renewal. Martin Buber’s Vision of Utopia, in: New Perspectives on Martin Buber, hrsg. von Michael Zank, Tübingen 2006, S. 219-230, hier S. 220. 10. Paul Mendes-Flohr, Glaube und Politik im Werk Martin Bubers, in: Dialog mit Martin Buber, hrsg. von Werner Licharz, Frankfurt a. M. 1982, S. 90-107, hier S. 92.

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Einleitung

und Tat gewesen ist. In einer Rede im Frankfurter Lehrhaus aus dem Jahre 1934, die den Titel »Die Lehre und die Tat« trägt, drückt er sich unmissverständlich aus und bestimmt das Primat der Tat vor der Lehre: »[…] daß die Lehre bei uns untrennbar an die Ta t gebunden ist. Hier, wenn irgendwo, geht es nicht an zu lehren und zu lernen ohne zu leben. Die Lehre darf nicht als eine Sammlung von Wißbarkeiten behandelt werden, sie will nicht so behandelt werden. Sie besteht in dem verantwortenden L e b e n der Person oder sie besteht nicht. Die Lehre meint nicht sich selbst, will nicht sich selbst, sie meint und will die Tat, worunter natürlich kein ›Aktivismus‹ zu verstehen ist, sondern das Leben in der Erfüllung, das Leben, das nach dem wechselnden Vermögen seiner Stunden die Lehre eingestaltet.« 11

Deshalb ist dieser Abschnitt der Einleitung mit der Überschrift »Die Lehre und die Tat« versehen, und die vorliegende »Einleitung« ebenfalls gemäß dem Primat der Praxis vor der Theorie aufgebaut, weshalb zunächst die Begegnungen und die Ereignisse vorgestellt werden, von denen Bubers politisches und soziales Denken entscheidende Impulse erhielt. In einem zweiten Teil werden dann die drei konstanten theoretischen Leitmotive seiner Lehre analysiert. Viele der Texte, aus denen sich der vorliegende Band zusammensetzt, haben nicht zufällig den Charakter von Gelegenheitsschriften. Sie gehen von der sozialen und politischen Aktualität aus, und bieten Antworten auf die Forderungen, die das Hier und Jetzt zuweilen stellt. Darin bilden sie das authentische Zeugnis jener Verantwortung im Sinne von Antworten, die Buber in den Jahren der Weimarer Republik thematisiert hat. Bevor die Schriften zur politischen Philosophie und zur Sozialphilosophie Martin Bubers näher charakterisiert werden, bietet es sich an, seine zwei Lehrer an der Berliner Universität in Erinnerung zu rufen: Wilhelm Dilthey (1833-1911) und Georg Simmel (1858-1918). 12 Von 11. Martin Buber, Die Lehre und die Tat, Jüdische Rundschau 40 (1934), S. 5-6, hier S. 5; jetzt in: MBW 8, S. 257-264, hier S. 259. Vgl. Schalom Ben-Chorin, Zwiesprache mit Martin Buber, Gerlingen 1978, S. 16 f. Vgl. auch die Idee der Tat in Reden über das Judentum (1923) und der Begriff »Wahrheit als Tat« in Der heilige Weg (1919; jetzt in diesem Band, S. 125-156). 12. Vgl. Paul Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zu »Ich und Du«, Königstein 1979, dort besonders das Kapitel »Simmels Paradox: Gesellschaft als eine ›objektive Form subjektiver Seelen‹«, S. 2154. Vgl. dann: Hartmut Kreß, Religiöse Ethik und dialogisches Denken. Das Werk Martin Bubers in der Beziehung zu Georg Simmel, Gütersloh 1985; Steven Kepnes, Buber as Hermeneut. Relations to Dilthey and Gadamer, The Harvard Theological Review 2 (1988), S. 193-213; Jules Simon, Dilthey and Simmel. A Reading from/toward Buber’s Philosophy of History, in: New perspectives on Martin Buber, S. 127148; Francesco Ferrari, Religione e religiosità. Germanicità, ebraismo, mistica nell’opera predialogica di Martin Buber, Mailand 2014, besonders S. 36-58. Vgl. au-

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ersterem erwarb Buber ein tiefes Bewusstsein vom Menschen als einem historischen Wesen, den Begriff des Wirkungszusammenhangs, sowie eine ausgeprägte Sensibilität für die Frage nach der religiösen Freiheit während und jenseits der Renaissance, die in seiner Dissertationsschrift ebenso wie in einigen seiner zeitgleich entstandenen kulturzionistischen Schriften zu vernehmen ist. 13 Von letzterem übernahm Buber die Dialektik von Leben und Form, die, nicht zuletzt in der Antithese ReligionReligiosität, in seinen prädialogischen Schriften zu finden ist, die These, der zufolge die Realität des Zwischenmenschlichen als Wechselwirkung zu verstehen sei. 14 Schließlich teilte Buber mit Simmel auch eine überaus feinsinnige Gabe für die Betrachtung von Momentbildern sub specie philosophiae. Des Weiteren trat Buber recht schnell in Kontakt mit den Gründungsvätern der deutschsprachigen Soziologie: Ferdinand Tönnies (1855-1936), Ernst Troeltsch (1865-1923) und Max Weber (1864-1920). Der erste wird zu einem Gesprächspartner, aus dessen Schriften Buber eine für sein politisches und soziales Denken prägende Antithese übernimmt: diejenige zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. 15 Troeltschs Religionssoziologie, die dieser anlässlich des ersten Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vorgestellt hatte, lehnte Buber hingegen ausdrücklich ab. Weber wiederum bot Buber einige grundlegende Paradigmen, allen voran den Begriff des Charismas, das als biblisches Führertum später in Königtum Gottes (1932) eingehen sollte. 16

13.

14.

15. 16.

ßerdem Bubers Zeugnis in: Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie, hrsg. von Kurt Gassen u. Michael Landmann, Berlin 1958, S. 222 f. Vgl. Martin Buber, Zur Geschichte des Individuationsproblems. Nicolaus von Cues und Jakob Böhme, in: MBW 2.1, S. 75-101. Dazu: Francesco Ferrari, Individuum und Individuation. Eine Auslegung der Dissertation Martin Bubers, in: Martin Buber neu gelesen. Martin Buber Studien I, hrsg. von Thomas Reichert, Meike Siegfried u. Johannes Waßmer, Lich/Hessen 2013, S. 419-426; Martin Buber, Einleitung zu Jüdische Künstler, hrsg. von ders., Berlin: Jüdischer Verlag 1903, S. [7-12]; jetzt in: MBW 7, S. 488-491. Vgl. Martin Buber, Die Zukunft, Selbstwehr, 6. Jg., 37, 12. September 1912, S. 9; jetzt in: MBW 3, S. 257-259; ders., Das Gestaltende. Nach einer Ansprache, in: ders., Die Jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen 1900-1915, Berlin: Jüdischer Verlag 1916, S. 205-216; jetzt in: MBW 3, S. 260-265. Vgl. insbesondere Martin Buber, Gemeinschaft, in: Worte an die Zeit. Eine Schriftenreihe, Heft 2, München: Dreiländerverlag 1919, S. 7-26; jetzt in diesem Band, S. 161-171. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887; Ernst Troeltsch, Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht, Historische Zeitschrift 2 (1911), S. 237-267; Max Weber, Das antike Judentum, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. III, Tübingen 1921. Vgl. Paul Mendes-Flohr, Prophetic Politics and Meta-Sociology. Martin Buber and German Social Thought, Archives de sciences sociales des religions 1 (1985), S. 67-82.

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Trotz dieser bedeutenden Lehrer haben Bubers Schriften zur politischen Philosophie und zur Sozialphilosophie keine den Schriften über das dialogische Prinzip, den chassidischen Anthologien oder der Verdeutschung der Schrift vergleichbare Rezeption erfahren. Man muss von der bereits erwähnten Frage ausgehen, ob es eine im strikten Sinne »politische Philosophie« oder eine »soziale Philosophie« Bubers überhaupt gibt. Aus diesem Grund mag man anzweifeln, ob die Epistemologie der Sozialwissenschaften – die Buber seit seiner Antrittsvorlesung Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit 17 an der Hebräischen Universität Jerusalem vorgestellt hatte – mit den Kanones einer wertfreien Politik- und Sozialwissenschaft kompatibel sei. Es scheint hingegen außer Frage zu stehen, dass die Politik, verstanden als die aktive Teilnahme am öffentlichen Leben, den gesamten Werdegang von Bubers Leben und Denken begleitet hat. In dem ihm gewidmeten Band der Library of Living Philosophers, 1963 herausgegeben von Paul Arthur Schilpp (1897-1993) und Maurice Friedman (1921-2012), gibt es lediglich einen Beitrag, der sich mit »Bubers politischer Philosophie« befasst, geschrieben von Robert Weltsch (1891-1982), der seinerzeit als Schüler Bubers Prager Reden über das Judentum (1909/11) hörte und in der Folge zu seinem Freund und Weggefährten während der Jahre in Jerusalem wurde. 18 In seinem Beitrag stellt Weltsch der bisherigen Rezeption Bubers, die ihn vornehmlich als Sozialphilosoph und Religionstheoretiker betrachtete, die fehlende Anerkennung als politischer Wissenschaftler und Mensch der Politik gegenüber: »Vielen mag es scheinen als ob Martin Buber kein politischer Wissenschaftler sei. Meist wird er als religiöser Denker und als Sozialphilosoph, aber nicht als Mensch der Politik angesehen. Eine derartige Einschränkung wäre freilich irrig. Bubers Anliegen ist das Leben in seiner Gesamtheit und der Mensch in seiner Konfrontation mit der Vielfalt der Welt.« 19 Eine Lücke in der Forschung zum politischen Denken Bubers wird schließlich in einem Artikel von Steven Schwarzschild aus dem Jahr 1986 konstatiert: »Much has been written about virtually all the vast and di17. Martin Buber, Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit, Berlin: Schocken 1938; jetzt in: MBW 11.2, S. 9-21. 18. Robert Weltsch, Bubers politische Philosophie, in: Martin Buber, S. 384-397. Vgl. dann: ders., Martin Bubers Bedeutung für das jüdische Bewußtsein im 20. Jahrhundert, in: Martin Buber. Reden und Aufsätze zum 80. Geburtstag, hrsg. vom Zentralrat der Juden in Deutschland, Düsseldorf 1958, S. 11-21; ders., Nachwort, in: Hans Kohn, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit, Köln 1961, S. 413-479; ders., Einleitung, in: JuJ, S. XI-XL. Vgl. dann: Martin Buber, Drei Reden über das Judentum, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1911; jetzt in: MBW 3, S. 219-256. 19. Weltsch, Bubers politische Philosophie, S. 384.

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verse aspects of the life and works of Martin Buber. His political philosophy and activities are a striking exception to this state of affairs, although socio-political matters were clearly of fundamental importance to him.« 20 Diese Aussage muss, zumindest teilweise, richtiggestellt werden. Es genügt, das Werk Paul Mendes-Flohrs zu erwähnen, das sich seit seiner Monographie Von der Mystik zum Dialog (1979) über inzwischen vier Jahrzehnte erstreckt. 21 Hierin wird der entscheidende Einfluss von Dilthey und Simmel auf den jungen Schüler herausgestellt, zudem die Bedeutung der Reihe sozialpsychologischer Monographien, Die Gesellschaft, die von Buber in den Jahren von 1906 bis 1912 herausgegeben wurde. Ausgehend von Bernhard Sussers Existence and Utopia hat sich seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Beachtung des politisch-sozialen Denkens Bubers intensiviert, was an der gestiegenen Anzahl entsprechender Monographien abzulesen ist. 22 Wachsendes Interesse lösten diese Themen auch innerhalb der israelischen Forschergemeinde aus, wie die Recherchen von Avrāhām Šapîrâ 23 und Uri Ram 24 zeigen. Auch die kürzlich erschienene Biographie von Dominique Bourel, Martin Buber. Sentinelle de l’humanité, verdient in dieser Hinsicht Beachtung. 25 Deren Fokus ist zweifelsohne ein politischer, und zeigt eine gewisse Kontinuität mit der ersten Biographie des Philosophen, die 20. Steven S. Schwarzschild, A Critique of Martin Buber’s Political Philosophy. An Affectionate Reappraisal, Leo Baeck Institute Yearbook 31 (1986), S. 355-388, hier S. 355. 21. Für eine Bibliographie der Schriften von Mendes-Flohr vgl.: Bibliography Paul Mendes-Flohr, in: German-Jewish Thought Between Religion and Politics. Festschrift in Honor of Paul Mendes-Flohr on the Occasion of His Seventieth Birthday, hrsg. von Christian Wiese u. Martina Urban, Berlin 2012, S. 433-452. 22. Vgl. Susser, Existence and Utopia; Alexander S. Kohanski, Martin Buber’s Philosophy of Interhuman Relation. A Response to the Human Problematic of Our Time, Rutherford 1982; John W. Murphy, The Social Philosophy of Martin Buber. The Social World as a Human Dimension, Washington D.C. 1983; Ronald C. Arnett, Communication and Community. Implications of Martin Buber’s Dialogue, Carbondale 1986; Laurence J. Silberstein, Martin Buber’s Social and Religious Thought. Alienation and the Quest for Meaning, New York 1989. 23. Avrāhām Šapîrâ, Werdende Gemeinschaft und die Vollendung der Welt. Martin Bubers sozialer Utopismus, in: Martin Buber, Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung, Heidelberg 1985, S. 417-461; ders., Political Messianism in Buber’s Conception of Redemption, Journal of Jewish Studies 42/1 (1991), S. 92107; ders., Hope for our time. Key Trends in the Thought of Martin Buber, Albany 1999. 24. Uri Ram, The Return of Martin Buber. National and Social Thought in Israel from Buber to the Neo-Buberians, Tel Aviv 2015 [Hebräisch]; ders., Martin Buber between Left and Right, in: Jews and Leftist Politics: Judaism, Israel, Antisemitism, and Gender, hrsg. von Jack L. Jacobs, Cambridge 2017, S. 267-290. 25. Dominique Bourel, Martin Buber. Was es heißt, ein Mensch zu sein. Biografie, Gütersloh 2017.

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Einleitung

von Hans Kohn (1891-1971) schon zu Zeiten der Weimarer Republik verfasst worden ist. 26 Die letzten beiden Tagungen der Buber-Gesellschaft 27 sowie einer der wichtigsten internationalen Kongresse, der in Israel anlässlich des fünfzigsten Todestages Bubers ausgerichtet wurde, 28 waren ebenfalls von eminent politischen Fragestellungen geprägt. Und doch gab es bis vor kurzem Stimmen wie die von Samuel H. Brody, welche lapidar behaupten: »There is no definitive treatment of Buber’s politics.« 29 Auch die vorliegende Einleitung wird diesen Mangel nicht gänzlich beheben können. Sie wird stattdessen versuchen – im Bewusstsein, dass jede Kategorisierung der Schriften Bubers zwangsläufig vereinfachend und widersprüchlich in Bezug auf das Selbstverständnis des Autors ist – zu zeigen, in welchem Maße ein politisches und soziales Denken Bubers existiert, und dass dieses nicht losgelöst von seinen persönlichen Begegnungen und Erlebnissen betrachtet werden kann. D. h. dass die Lehre Bubers nicht begriffen werden kann, wenn man nicht von der Tat ausgeht. Die Tat Von der Zeit als junger Erwachsener an bis zum Ende seines Lebens wird Buber nicht aufhören, sich in seinen »Taten« wie in seiner »Lehre« an die Politik zu richten, wenn man diesen Begriff im Sinne Hannah Arendts (1906-1975) versteht. 30 Indem er immer wieder selbst Stellung gegenüber den Fragen des politischen und öffentlichen Lebens bezieht, ist »Bubers literarischer Weg […]«, so Yigal Wagner, »in jeder seiner Phasen gesellschaftliches, geistiges Engagement« 31 . Unter dem Stichwort der Tat soll hier eine ganze Reihe von Schriften zusammengefasst werden, in denen die Politik, noch bevor sie zum Gegenstand einer theoretischen Re26. Hans Kohn, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Versuch über Religion und Politik, Hellerau 1930. 27. Dialog und Konflikt. Das dialogische Prinzip in Gesellschaft, Religion, Politik, Philosophie, 2015; Martin Buber und die Idee der Gemeinschaft, 2016. 28. Multiple Dialogues. Martin Buber in Palestine and Israel, 2015. 29. Samuel Hayim Brody, Is Theopolitics an Antipolitics? Martin Buber, Anarchism, and the Idea of the Political, in: Dialogue as a Trans-disciplinary Concept, S. 61-88, hier S. 62; ders., This Pathless Hour. Messianism, Anarchism, Zionism, and Martin Buber’s Theopolitics Reconsidered, Chicago 2013. 30. Vgl. Hannah Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, München 1993. 31. Yigal Wagner, Martin Bubers Kampf um Israel. Sein zionistisches und politisches Denken, Potsdam 1999, S. 16. Vgl. auch: »Buber suchte immer und immer wieder auf seine Weise den Anschluß an die Politik, aber sie blieb seine unglückliche Liebe.« (Schalom Ben-Chorin, Zwiesprache mit Martin Buber, S. 83.)

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flexion wird, gelebte Praxis ist. Ob diese Schriften streng genommen einen mehr oder minder philosophischen Charakter aufweisen, bleibt dabei oft eine offene Frage. Auf den folgenden Seiten wird die Bindung des jungen Denkers an die zionistische Bewegung nachgezeichnet, die ihn, beginnend mit der Zeit mit Theodor Herzl (1860-1904) und durch eine ständige Selbstkritik und Neufindung hindurch, sein ganzes Leben lang begleiten sollte. Es wird daher die Wechselwirkung seiner Freundschaft mit dem anarchistischen Sozialisten Gustav Landauer (18701919) vorgestellt, seine Stellungnahmen zum Ersten Weltkrieg und zur Russischen Revolution; seine Ablehnung des Modells des sowjetischen Kommunismus und seine Suche nach einem religiösen Sozialismus; Bubers spiritueller Widerstand gegen den Nationalsozialismus, der nicht zuletzt durch seine Konzeption einer jüdischen Theopolitik begründet ist; sein unermüdliches Engagement für Dialog und Versöhnung, sowohl mit dem nachhitlerischen Deutschland als auch innerhalb des arabisch-israelischen Konfliktes, und zuletzt seine Ablehnung dessen, was er, vor allem in den letzten, vom sogenannten Kalten Krieg geprägten Lebensjahren, als das größte Hindernis für jeglichen authentischen Dialog betrachtete: das existenzielle Misstrauen.

Zionismen – Kultur, Religion und Verwirklichung

Es erscheint als angemessen, im Falle Bubers nicht von einem Zionismus als vielmehr von verschiedenen Zionismen zu sprechen. Der Zionismus ist nämlich ein Leitmotiv mit Variationen, das sich über das Handeln und das politische Denken Martin Bubers während seines gesamten Lebens erstreckt. Wie er selbst in einem kurzen gleichwohl erhellenden Text aus dem Jahr 1929 schreibt, gibt es (wenigstens) Drei Stationen, 32 die den Weg Bubers innerhalb der zionistischen Bewegung ausmachen. Die erste Station steht im Zeichen der Kultur. Sie reicht vom sogenannten Kulturzionismus der Zeit Herzls, die die Wiedergeburt der jüdischen Kunst und Kreativität in den Mittelpunkt stellt, zur identitären und mythopoietischen Behandlung der Judenfrage in den Prager Reden über das Judentum. Die zweite Station steht im Zeichen der Religion. Sie drängt sich, zusammen mit der Palästinafrage, in der Balfour Declaration auf und führt zur Formulierung eines theokratischen Ideals von Zion, ausgehend von den Jahren der Weimarer Republik. Die dritte Sta32. Martin Buber, Drei Stationen, Judisk Tidskrift, 27. Juni 1929, S. 20; jetzt in: MBW 20, S. 75. Vgl. Paul Mendes-Flohr, Einleitung in: MBW 20, S. 14 f.

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tion steht im Zeichen der Verwirklichung. In ihr findet der föderalistische und sozialistische Kommunitarismus der Kibbuzim des Heiligen Landes weit vor 1948 Ausdruck. Zu diesen dreien gesellt sich eine vierte Station, die in einem folgenden Abschnitt behandeln wird: Bubers Engagement für die israelisch-palästinensische Völkerverständigung und Versöhnung. Auch dieses beginnt weit vor der israelischen Staatsgründung. Diese unterschiedlichen Zionismen bedeuten aber keinen Mangel an konzeptioneller Geschlossenheit. Auch wenn diese verschiedene Schwerpunkte wie Kultur, Religion, Verwirklichung und Versöhnung besitzen, so teilen sie in Wahrheit doch eine zutiefst einheitliche Botschaft und ein einheitliches Telos. Im Jahr 1896 werden zwei Schlüsseltexte des entstehenden zionistischen Denkens und dessen Bewegung publiziert: Der Judenstaat von Theodor Herzl und Die jüdische Moderne von Nathan Birnbaum (18641937). 33 Ein Jahr später findet der erste Zionistische Kongress in Basel statt, und es wird – auf Initiative Herzls – die Zeitschrift Die Welt gegründet (Juni 1897). Wenige Monate darauf, im Wintersemester 1897/ 98, hält sich Martin Buber in Leipzig auf, und macht hier, vermittelt über den Cousin Aaron Eliasberg (1879-1937), erste Bekanntschaft mit dem Zionismus. 34 Dies wird zugleich seine erste und entscheidende Erfahrung mit dem politischen Engagement. Ab 1899 veröffentlicht Buber in einem Zeitraum von fünf Jahren in den Hauptorganen der zionistischen Presse eine Vielzahl von Texten und setzt sich so für die aufkeimende Bewegung ein. Der Ausgangspunkt, aus dem er sich der Bewegung nähert, ist das Nebeneinander von West- und Ostjuden in Deutschland von der zweiten Hälfte des neunzehnten bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. 35 Dabei geht es um den Integrationsprozess der Juden in die europäische bzw. deutsche Gesellschaft, der seinen juristischen Abschluss 1871 mit der sogenannten Emanzipation findet, d. h. der gesetzlichen Anerkennung der Gleichberechtigung der deutschen Juden. Eine solche Integration bedeutet zumeist eine Anpassung, sprich eine Entfernung von der eigenen »Kultur« und eine Zustimmung zur »Zivilisation« des Gastlandes. Dieser Prozess vollzieht sich teils als ein weitreichender Verzicht, teils als ein schrittweiser und fast unmerklicher Verlust. So hat Buber in 33. Theodor Herzl, Der Judenstaat, Leipzig und Wien 1896; Nathan Birnbaum, Die Jüdische Moderne, Leipzig 1896. 34. Aaron Eliasberg, Aus Martin Bubers Jugendzeit. Erinnerungen, Blätter des HeineBundes I/1 (April 1928), S. 1-5. 35. Vgl. Steven E. Aschheim, Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800-1923, Madison (Wisconsin) 1982.

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seinen Jugendjahren durchaus selbst die Religion seiner Vorväter mehr und mehr aufgegeben und sich stattdessen der westlichen Kultur genähert. Er wusste daher aus eigener Erfahrung, wie eine zweifelhaft gewordene Identität den Nährboden sowohl für die Assimilation als auch für den Dogmatismus bilden kann. Von der Epoche der Aufklärung bis hin zu Bubers Jugend sind die Formen, in denen das Judentum sein »Nein« gegenüber dem Assimilationsprozess als eine Gegenbewegung der Dissimilation 36 ausgedrückt hat, höchst verschiedenartig und zahlreich. Doch der junge Buber wählt keine davon. Er entscheidet sich nicht für den Weg des traditionellen Judentums, und auch nicht für den vom chassidischen Ostjudentum vorgezeichneten Weg. Weder entscheidet er sich für den der Maskilim, der Aufklärer-Juden, die sich auf Moses Mendelssohns (1729-1786) Spuren begeben, noch für den des reformierten Judentums, der mit Namen wie Abraham Geiger (1810-1874) und Samuel Hirsch (1815-1889) verbunden ist. Stattdessen wird Buber ab 1901 zum Fürsprecher des Begriffs einer Jüdischen Renaissance 37 und damit eines sogenannten Kulturzionismus. Er ist sich des Wagnisses bewusst, welches die Rede von einer »Wiedergeburt« des Judentums mit sich bringt. Dennoch kann das Europa des fin de siècle ihm einen unverhofft fruchtbaren Boden für eine solche Rede bieten. Richtungsweisend hierfür sind sowohl das, was der Verleger Eugen Diederichs (1867-1930) als Neuromantik 38 bezeichnet, als auch eine Stimmung, die von Irrationalismus und einer zunehmenden Abwendung vom positivistischen Zeitgeist geprägt ist. Bubers Jüdische Renaissance ist eine Herausforderung, in der man das Echo der Stimmen von Simmel, Dilthey und Friedrich Nietzsche (18441900) vernehmen kann. Es ist die Herausforderung des Lebens, das unermüdlich gegen den Strom der Historizität kämpft. Es ist die Herausforderung des Neuen, das in der italienischen und europäischen Renaissance des 15. Jahrhunderts mit seiner Erneuerung des Menschen in seiner Ganzheit – wie von Jacob Burckhardt (1818-1897) dargestellt 39 – seinen paradigmatischen Ort hatte. Es ist die Herausforderung desjeni36. Shulamit Volkov, The Dynamics of Dissimilation, in: The Jewish Response to German Culture from the Enlightenment to the Second World War, hrsg. von Jehuda Reinharz u. Walter Schatzberg, Hannover 1985, S. 195-211. 37. Martin Buber, Jüdische Renaissance, Ost und West 1 (1901), S. 7-10; jetzt in: MBW 3, S. 143-147. Vgl. Asher Biemann, Inventing New Beginnings. On the Idea of Renaissance in Modern Judaism, Stanford 2009. 38. Vgl. Ulf Diederichs, Eugen Diederichs und sein Verlag. Bibliographie und Buchgeschichte 1896 bis 1931, Göttingen 2014. 39. Vgl. Martin Buber, Vorwort zu Jacob Burckhardt, MBA Arc. Ms. Var. 350 007 43; jetzt in: MBW 11.2, S. 114 f.

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gen, der es wagt, durch die Sprache, die Kunst, das Theater, die Musik, die Dichtung und die Wissenschaft des Judentums schöpferisch zu werden, und der, laut Buber, in der Kreativität den höchsten Ausdruck der Treue zum Leben sieht. Im Laufe von knapp drei Jahren wird er nämlich von einem durch den Zionismus in seinem Judentum Erweckten zu einem, der es bei anderen wachruft. 40 Es genügt hier, zu erwähnen, dass Herzl ihm im August 1901 den Posten des Chefredakteurs seiner Zeitung Die Welt anbietet, den Buber bis zum V. Zionistenkongress (Dezember 1901) übernimmt. In diesem Zusammenhang formiert er mit Berthold Feiwel (1875-1937), Ephraim Lilien (1874-1925), Leo Motzkin (1867-1933) und Chaim Weizmann (1874-1952) die sogenannte Demokratische Fraktion, zu deren dauerhaftesten Erzeugnissen das Projekt der Gründung der heutigen Hebräischen Universität zu Jerusalem und des Jüdischen Verlags zählen. Auf dem V. Zionistischen Kongress hält Buber 1901 das Referat über »Jüdische Kunst«, 41 tritt jedoch in einen offenen Widerspruch mit dem diplomatischen, pragmatischen und ökonomistischen Zionismus Herzls und Max Nordaus (1849-1923). Diese Auseinandersetzung wird schließlich unvereinbar mit dem sogenannten »Britischen Uganda-Programm«, das von den beiden auf die Tagesordnung des VI. Zionistenkongresses (1903) gesetzt worden war. Mit dem plötzlichen Tod Herzls im darauffolgenden Jahr endet zugleich die Phase des Buberschen Kulturzionismus – nicht jedoch seine ideelle Auseinandersetzung mit ihm 42 und sein Einsatz für die zionistische Sache. Durch die Drei Reden über das Judentum, die er zwischen 1909 und 1911 gehalten hat, und die von der Vereinigung jüdischer Studierender Bar Kochba angeregt worden waren, tritt der Philosoph mit einigen jungen Menschen in Kontakt, die für den Rest seines Lebens zu wichtigen Gesprächspartnern und Freunden werden sollten: Hugo Bergmann (1883-1975), Max Brod (1884-1968), Hans Kohn, Robert und Felix Weltsch 43 (1884-1964). Die Reden sind 40. Vgl. Martin Buber, Mein Weg zum Chassidismus, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1918, S. 17 f.; jetzt in: MBW 17, S. 41-52, hier S. 46 f. 41. Martin Buber, Referat über »Jüdische Kunst«, in: Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des V. Zionisten-Congresses in Basel 26.-30. December 1901, Wien: Verlag des Vereins »Erez Israel« 1901, S. 151-180; jetzt in: MBW 7, S. 470-487. Vgl. Gilya Gerda Schmidt, The Art and the Artists of the Fifth Zionist Congress, 1901, Syracuse 2003. 42. Vgl. Martin Buber, Wenn Herzl noch lebte, MBA Arc. Ms. Var. 350 06 18b; jetzt in: MBW 11.2, S. 38-41. 43. Vgl. Christian Wiese, Martin Buber and the Impact of World War I on the Prague Zionists Shmuel H. Bergman, Robert Weltsch and Hans Kohn, in: Brian M. Smollet und Christian Wiese (Hrsg.), Reappraisals and New Studies of the Modern Jewish Experience. Essays in Honor of Robert M. Seltzer, Leiden 2015, S. 235-267.

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durch einen dezidiert emphatischen Ton gekennzeichnet, mit dem die Judenfrage zu einer Identitätsfrage erhoben wird – und zwar nicht ausgehend vom Antisemitismus, sondern von dem Sinn, den das Judentum für den Juden hat. Sie appellieren an eine Reihe von Erlebnissen der mitteleuropäischen Juden – allen voran die Polarität zwischen dem eigenen Judentum und den jeweiligen Mehrheitskulturen als zentrale Dimension der Galut. Die Reden betonen den orientalischen Charakter des Judentums und zeichnen sich außerdem (besonders die erste, Das Judentum und die Juden) durch die Zentralität von Begriffen wie Blut, Stamm und Volk aus, die eine beunruhigende Nähe zwischen dem hier formulierten Denken Bubers und jener völkischen Ideologie dokumentiert, 44 die – meisterhaft durch den Historiker George Mosse (1918-1999) rekonstruiert – allgemein den Zeitgeist jener Jahre bestimmte, in denen Buber sein Denken ausbildete. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Reflexion und die politische Prosa Bubers während seiner Wiener Jahre aus dem selben Unbehagen gegenüber der modernen Welt, sowie dem bereits erwähnten antipositivistischen und neuromantischen Gefühl, entsprun44. Vgl. George Mosse, The Crisis of German ideology. Intellectual Origins of the 3. Reich, New York 1964; ders., The Influence of the Volkish Idea on German Jewry, in: ders., Germans and Jews. The Right, the Left, and the Search for a Third Force in Pre-Nazi Germany, London 1971, S. 77-115; Bernard Susser, Ideological Multivalence. Martin Buber and the German Volkish Tradition, Political Theory 1 (1977), S. 75-96; Paul Mendes-Flohr, »Fin-de-siècle« Orientalism, the »Ostjuden« and the Aesthetics of Jewish Self-affirmation, Studies in Contemporary Jewry 1 (1984), S. 96-139; ders., Nationalism as a Spiritual Sensibility. The Philosophical Suppositions of Buber’s Hebrew Humanism, The Journal of Religion 2 (1989), S. 155-168; Avrāhām Šapîrâ, Buber’s Attachment to Herder and German »Volkism«, Studies in Zionism 1 (1993), S. 1-30; Janet C. Menard, Martin Buber’s Re-Examination of the Idea of Nationalism, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1 (1995), S. 123-145; Manuel Duarte de Oliveira, Passion for Land and Volk. Martin Buber and Neo-Romanticism, Leo Baeck Institute Yearbook 41 (1996), S. 239-259; Caspar Battegay, Das andere Blut. Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830-1930, Köln 2011, S. 174-189; Bernd Witte, Die Renaissance des Judentums aus dem Geist der Neuromantik. Martin Buber und die Entstehung des Kulturzionismus, Études germaniques 59 (2004), S. 305-325; Justus H. Ulbricht, Mystik und Deutschtumsmetaphysik. Martin Buber, Eugen Diederichs und die religiöse Renaissance um 1900, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 65 (2013), S. 105-127; Gianfranco Bonola, Conflitti terminologici a sfondo »messianico«. Martin Buber, il Führertum biblico e l’ombra del Führer del Deutsches Reich (1932-1938), in: Il futuro in eredità. Riflessioni contemporanee su messianismo e secolarizzazione, hrsg. von Pierfrancesco Fiorato u. Mario Bosincu, Mailand 2016, S. 107-131; Stefan Vogt, The Postcolonial Buber: Orientalism, Subalternity, and Identity Politics in Martin Buber’s Political Thought, Jewish Social Studies: History, Culture, Society 1 (Herbst 2016), 161-186; 162; ders., Subalterne Positionierungen: Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland, 1890-1933, Göttingen 2016.

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gen sind. Und zwar dergestalt, dass es sich der Anonymität der »Gesellschaft« entgegenstellte und nach authentischeren Daseinsformen in der »Gemeinschaft« suchte. Man darf nicht vergessen, dass Buber zu einer Generation gehörte, die sehr stark von Johann Gottfried Herders (17441803) Wiederentdeckung von Volkstum, Sprache und Kultur beeinflusst wurde, und dass er Lehrveranstaltungen zu Wilhelm Wundts (18321920) Völkerpsychologie besucht hatte. Sein Interesse für die verschiedenen Völker bekunden auch seine zahlreichen Anthologien und Herausgeberschaften von mythischen bzw. mystischen Texten vor seiner dialogischen Wende. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird er diese eigene Anfälligkeit erkennen: »Ich habe von Jugend an die reale Existenz von Völkern aufs höchste ernst genommen.« 45 Eine Interpretation des politischen und sozialen Denkens Bubers between left and right, auch in Kontinuität zur völkischen Ideologie, wurde kürzlich von Uri Ram vorgeschlagen. 46 Andere Interpreten, wie Siegbert Wolf, haben hingegen aufgezeigt, dass Bubers sozialpolitische Philosophie »keine Blutsgemeinschaft [impliziert], sondern eine des Geistes, der direkten Beziehungen unter den Menschen«. 47 Der Erste Weltkrieg markiert ein einschneidendes Ereignis in Leben und Werk Bubers in deren Gesamtheit. Zunächst hatte sich Buber in einer anfänglichen Phase des Antimilitarismus als Mitglied des »Forte Kreises«, der im Juni 1914 als Vereinigung von Intellektuellen in Potsdam zusammenkam, gegen die zunehmenden Spannungen zwischen den europäischen Mächten engagiert. 48 Bei Kriegsausbruch jedoch verfiel auch Buber unter dem Losungswort der »Verwirklichung« der verbreiteten Kriegsbegeisterung und forderte Loyalität gegenüber der deutschen Zentralmacht, wozu er sich, wie viele andere Juden der Zeit, verpflichtet fühlte. Jener Begriff der »Verwirklichung« steht im Zentrum von Daniel, 49 dem ersten im strikten Sinne philosophischen Werk des 45. Martin Buber, Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens, Heidelberg: Lambert Schneider 1953, S. 5; jetzt in: MBW 6, S. 95-101, hier S. 95. 46. Vgl. Uri Ram, Martin Buber between Left and Right, S. 278 f. 47. Siegbert Wolf, Martin Buber zur Einführung, Hamburg 1992, S. 103. 48. Weitere Mitglieder sind u. a.: der Freund Gustav Landauer, der Schriftsteller Erich Gutkind (1877-1965), der Dichter und Arzt Frederik van Eeden (1860-1932), der Sinologe Henri Borel (1869-1933), der Dichter Theodor Däubler (1876-1934). Auch Persönlichkeiten wie Romain Rolland (1866-1944) und Wassily Kandinsky (18661944) stehen in Kontakt mit der Gruppe. Vgl. Christine Holste, Der Forte Kreis (1910-1915). Rekonstruktion eines utopischen Versuchs, Stuttgart 1992; Der Potsdamer Forte-Kreis. Eine utopische Intellektuellenassoziation zur europäischen Friedenssicherung, hrsg. von Richard Faber u. Christine Holste, Würzburg 2001. 49. Martin Buber, Daniel. Gespräche von der Verwirklichung, Leipzig: Insel-Verlag 1913; jetzt in: MBW 1, S. 183-246. Bubers Kriegsbegeisterung wird besonders sicht-

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Autors, das er kurz vor dem Ausbruch des Krieges verfasst hatte. In diesem Begriff verbindet er eine Doktrin kabbalistisch-chassidischen Ursprungs, nämlich die Vorstellung, dass der Mensch im Schöpfungswerk mit dem Göttlichen zusammenwirke, mit entschieden nietzscheanischer Färbung. Im Einklang mit der Kritik an der Massengesellschaft und an der instrumentellen Rationalität, die durch den Gegensatz zwischen »Verwirklichung« und »Orientierung« ausgedrückt wird, behauptet Buber, dass die Realität durch das Handeln des einzelnen Menschen vollendet werde. Der Ausbruch des Krieges konstituiere somit die Gelegenheit zu eben dieser »Verwirklichung« bzw. »Vollendung«. Buber, der sich zunächst sogar anwerben lassen wollte, um an die Front zu ziehen, 50 stellt angesichts der Entwicklung der Ereignisse fest, dass der Krieg nichts als ein ungeheures Blutbad sei, ein wahrhaftiger Bürgerkrieg, der die Juden verschiedener europäischer Länder gegeneinander aufbringe. Von diesem neuen Bewusstsein angetrieben, gründet er im April 1916 die Zeitschrift Der Jude mit dem Leitartikel »Die Losung«. 51 Zur gleichen Zeit beweist der Krieg förmlich, wie entschieden unangemessen Bubers sogenannter »Kulturzionismus« inzwischen geworden war. Er reformuliert seinen Zionismus daher vor der Perspektive einer »Verwirklichung« der Gemeinschaft und revidiert dabei seine Vorstellung von der Nation. In einer Schrift vom März 1917, mit dem bezeichnenden Titel »Kulturarbeit«, vollzieht Buber eine entschiedene Selbstkritik und stellt fest: »Ein jüdisches Leben kann nur das Leben einer Gemeinschaft sein, denn es gibt keine Verwirklichung des Judentums zum Leben, es sei denn in der Gemeinschaft. Wir wollen ein jüdisches Gemeinschaftsleben schaffen.« 52 Bereits in der nur wenige Monate zuvor erfolgten Auseinandersetzung mit Hermann Cohen (18421918) war in Bubers Definition von Zion die Überwindung eines rein bar in Schriften wie »Die Tempelweihe«, Jüdische Rundschau XX/1 (1915) (jetzt in: MBW 3, S. 279-285); »Pescara, an einem Augustmorgen. Berlin, nach der Heimkehr«, Zeit-Echo. Ein Kriegstagebuch der Künstler 3 (1914), S. 38-39 (jetzt in: MBW 1, 279-280); »Bewegung«, Der Neue Merkur 11 (1915), S. 489-492 (jetzt in: MBW 1, S. 281-286), und in den Aufsätzen, die er in Ereignisse und Begegnungen versammelt (Leipzig: Insel-Verlag 1917; jetzt in: MBW1, S. 247-276). Vgl. hierzu Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, besonders S. 135-140; Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001 (passim). 50. Brief Bubers an Hans Kohn vom 30. September 1914, B I, S. 370. 51. Martin Buber, Die Losung, Der Jude I,1 (1916), S. 1-3; jetzt in: MBW 3, S. 286-289. Vgl. Eleonore Lappin, Der Jude (1916-1928). Jüdische Moderne zwischen Universalismus und Partikularismus, Tübingen 2000. 52. Martin Buber, Kulturarbeit, Der Jude I,12 (1917), S. 792-793; jetzt in: MBW 3, S. 276.

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»nationalen« Gesichtspunkts zu vernehmen: das »Streben des jüdischen Gemeinwesens in Palästina wird ein übernationales sein müssen. Wir wollen Palästina nicht ›für die Juden‹ : wir wollen es für die Menschheit, denn wir wollen es für die Ve r w i r k l i c h u n g des Judentums.« 53 Diese Verwirklichung wird wahrgenommen als schaffendes Werk eines Volkes und nicht eines ordnenden Staates. Ihm zufolge sind »Völker […] in der Geschichte des Menschentums die schaffenden, jene [die Staaten] die ordnenden Prinzipien«. 54 Mit der Balfour-Deklaration (November 1917) bewilligt Großbritannien die Errichtung einer jüdischen »Heimstatt« im Heiligen Land. Ob »Israel« tatsächlich (mehr oder weniger) als Terminus für einen »Jüdischen Staat« zu verstehen sei, stellt innerhalb der zionistischen Bewegung eine offene Frage dar. In einem Brief an Hugo Bergmann vom 3./4. Februar 1918 gesteht Buber dem Freund seine merkliche Sorge darüber wie folgt: »Die meisten führenden (und wohl auch die meisten geführten) Zionisten [sind] heute durchaus hemmungslose Nationalisten (nach europäischem Muster), Imperialisten, ja unbewußte Merkantilisten und Erfolganbeter.« 55 Buber beabsichtigt, Zion zu einem Bollwerk gegen die Vorherrschaft des westlichen Merkantilismus und Imperialismus zu machen und es nicht zu einer Nation oder einem Volk wie alle anderen werden zu lassen. Er entwickelt so mit dem Text Der heilige Weg (1919) auf artikulierte Weise ein Denken im Zeichen einer kommunitarischen und sozialistischen Theokratie, gegen »das herrschende Dogma des Jahrhunderts, das heillose Dogma der Souveränität der Nationen« 56 . Die These, der zufolge Zion als Ort der Verwirklichung des Gottesreichs durch die Tat in der Gemeinschaft gilt, ist somit in zahlreichen Schriften und Debatten aus der Zeit der Weimarer Republik präsent 53. Martin Buber, Begriffe und Wirklichkeit. Brief an H. Cohen, Der Jude, 5 (1916/17), S. 281-289, hier S. 287; jetzt in: MBW 3, S. 293-320, hier S. 303. 54. Martin Buber, Zion, der Staat und die Menschheit. Bemerkungen zu H. Cohens Antwort, Der Jude, 7 (1917), S. 427; jetzt in: MBW 3, S. 311. Vgl. Gianfranco Bonola, Urgenze del lealismo e travagli dell’identità. Dietro le quinte e intorno alla polemica Cohen-Buber, in: Hermann Cohen, La fede d’Israele è la speranza. Interventi sulle questioni ebraiche (1880-1916), Florenz 2000, S. 283-317; Jeffrey A. Barash, Politics and Theology. The Debate on Zionism between Hermann Cohen and Martin Buber, in: Dialogue as a Trans-disciplinary Concept, S. 49-60. 55. B I, S. 526. 56. Martin Buber, Der heilige Weg. Ein Wort an die Juden und an die Völker, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1919, S. 64; jetzt in diesem Band, S. 125-156, hier S. 147. Vgl. Paul Mendes-Flohr, The Kingdom of God. Martin Buber’s Critique of Messianic Politics, Behemoth. A Journal on Civilization 2 (2008), S. 26-38; Christoph Schmidt, Die theopolitische Stunde. Zwölf Perspektiven auf das eschatologische Problem der Moderne, München 2009, S. 205-225; Samuel Hayim Brody, Is Theopolitics an Antipolitics?.

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und vollendet sich, neben der sogenannten biblischen Trilogie, mit einem auf Hebräisch verfassten Buch aus dem Jahr 1944, das sechs Jahre später auch auf Deutsch erscheint und heute zu Unrecht vergessen ist: Israel und Palästina. Zur Geschichte einer Idee. Hierin wird eine der Hauptthesen des religiösen Zionismus, oder vielmehr des theokratischbuberianischen Zionismus aufgestellt. Die Idee von Zion dürfe nicht mit der eines modernen Nationalstaates verwechselt werden, sondern müsse auf einen Ort oder besser noch auf die Verbindung, bzw. den Bund zwischen einem Volk und einem Land zurückgeführt werden, der in Gegenwart Gottes zu vollziehen sei: »Solange man ›Zion‹ lediglich als eine der nationalen Ideen versteht, kennt man seine eigentliche Bedeutung nicht. Wir sprechen von einer nationalen Idee, wenn ein Volk seine Einheit, seinen inneren Zusammenhang, seinen geschichtlichen Charakter, seine Überlieferungen, seine Ursprünge und Entfaltungen, sein Schicksal und seine Bestimmung zum Gegenstand seines Bewußtseins und zur Motivation seines Willens erhebt. Demgemäß ist die Zionsidee des jüdischen Volkes in unserer Epoche eine nationale Idee zu nennen. Aber das Wesentliche an ihr ist eben das, was sie von allen unterscheidet. Es ist kennzeichnend für den Sachverhalt, daß diese nationale Idee sich nicht wie die andern nach einem Volke, sondern nach einem Orte benannte. Damit ist die Tatsache zum Ausdruck gebracht worden, daß es hier nicht um ein Volk an sich, sondern um seine Verbindung mit einem Land, mit seinem heimatlichen Land geht.« 58

Aus diesem Grund schreibt Buber hier in einer hörbar provokativen Diktion: »Israel verliert sich selber, wenn es Palästina durch ein anderes Land ersetzt; es verliert sich selbst, wenn es Zion durch Palästina ersetzt.« 59 In der frühen Nachkriegszeit, als er zumindest teilweise sein Misstrauen gegenüber den politischen Parteien überwunden hatte, wurde Buber zum aktiven Mitglied der Hapoel Hatzair, für die er einige Reden hielt, unter anderem »Der heimliche Führer«, »Staatsideen, Gemeinschaftsversuche …«, und vor allem, anlässlich des XII. Zionistenkongresses in Karlsbad (1921), »Nationalismus«, eine Arbeit, die eine grundlegende Kritik am modernen Nationalstaat formuliert. 60 Buber, der 57. Vgl. Königtum Gottes (1932; jetzt in: MBW 15, S. 93-276), Der Glaube der Propheten (Hebr. 1942; Dt. 1950; jetzt in: MBW 13), Moses (Hebr. 1945; Dt. 1946; jetzt in: MBW 13). 58. Martin Buber, Israel und Palästina. Zur Geschichte einer Idee, Zürich: Artemis Verlag 1950, S. 7; jetzt in: MBW 20, S. 171-316, hier S. 173. 59. Ebd., S. 181; jetzt in: MBW 20, S. 297. Vgl. Stefan Schreiner, Der jüdische Staat zwischen Religion und Ideologie, in: Der Staat im Vorderen Orient, hrsg. von Peter Pawelka, Baden-Baden 2008, S. 137-164. 60. Martin Buber, Der heimliche Führer, Die Arbeit (Organ der zionistischen volks-

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immer mehr die Verwandlung des Zionismus in einen Nationalismus europäischer Art fürchtete, formuliert hierin eine grundlegende Unterscheidung. Ein Volk wird da als ein Phänomen des Lebens definiert, wobei eine Nation als ein Phänomen des Bewusstseins gilt, und der moderne Nationalismus als eines der »Überbewußtheit« 61 , letztendlich jedoch als eine »Krankheitserscheinung«, in der die Völker die Nation zum »Selbstzweck« erheben. Damit denunziert er, dass das, »was ursprünglich Forderung einer Gemeinschaft nach Selbstbestimmung war, […] zum Wunsch nach Selbstbehauptung gegenüber anderen Gemeinschaften« 62 wird. Buber wird 1925 mit diesen Prinzipien zum Mitbegründer der Brit Shalom (dt.: »Friedensbund«), 63 jener Organisation, die sich innerhalb der Zionistischen Bewegung um Demokratie, Kooperation und rechtliche Gleichstellung von Juden und Arabern bemühen sollte. Einige Monate nach seinem ersten Besuch in Palästina (1927), stellt Buber in »Warum muß der Aufbau Palästinas ein sozialistischer sein?« fest, dass sein Zionismus sich von einem Kultur- zu einem »Verwirklichungszionismus« entwickelt habe. Er meint damit einen Zionismus, der auf die Verwirklichung der wahren Gemeinschaft abziele. Wesentlich dafür sei die Existenz der gemeinschaftlichen Dörfer (Kwuzot, Kibbuzim), deren Menschen er als »ein lebendes Experiment« 64 betrachtet. Durch das Gemeineigentum am Boden, die eigene Arbeit und die Autonomie ihrer Mitglieder, stellen die Kibbuzim für ihn »dezentralisierte, autonome Werkgemeinden als Basis eines föderativen Sozialismus« 65

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sozialistischen Partei Hapoël-Hazaïr), Gustav Landauer Gedenkheft, Juni 1920, S. 36-37; jetzt in diesem Band, S. 182-183; ders., Staatsideen, Gemeinschaftsversuche und die menschliche Wirklichkeit, MBA Arc. Ms. Var. 350 47e; jetzt in diesem Band, S. 207-221; ders., Nationalismus, in: ders., Kampf um Israel. Reden und Schriften, 1921-1932, Berlin: Schocken 1933, S. 225-242; jetzt in: MBW 21. Buber, Nationalismus, S. 232. Yigal Wagner, Martin Bubers Kampf um Israel, S. 41. Vgl. Dietmar Wiechmann, Der Traum vom Frieden. Das bi-nationale Konzept des Brith-Schalom zur Lösung des jüdisch-arabischen Konfliktes in der Zeit von 19251933, Schwalbach 1998; Shalom Ratzabi, Between Zionism and Judaism. The Radical Circle in Brith Shalom 1925-1933, Leiden 2002. Martin Buber, Warum muß der Aufbau Palästinas ein sozialistischer sein?, in: Für das arbeitende Erez-Israel, Gründungskonferenz der Liga für das arbeitende Palästina in Deutschland, Berlin, 29. u. 30. Dezember 1929, S. 10-18; jetzt in diesem Band, S. 324-332. Siegbert Wolf, »Zion wird mit Gerechtigkeit erlöst«. Martin Bubers Konzeption der Binationalität zur Lösung des Israel-Palästina-Konflikts – und was davon geblieben ist, in: Dialog, Frieden, Menschlichkeit. Beiträge zum Denken Martin Bubers, hrsg. von Wolfgang Krone, Thomas Reichert u. Meike Siegfried, Berlin 2011, S. 25-51, hier S. 32 f.

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dar, ganz im Gegensatz zum anonymen und zentralistischen Staat. In der Errichtung der Kwuza durch die Chaluzim »ging nicht die Ideologie voran, sondern das Werk« 66 – schreibt Buber in Kontinuität zur Lehre A. D. Gordons (1856-1922) – und die Erneuerung des Menschen. Dazu benötige man eine »Erziehung zur Gemeinschaft«, 67 insbesondere in der Zeit der massiven Einwanderung nach Palästina. Konsumvereine und Produktionsgenossenschaften allein seien nicht hinreichend. Nur zusammen als Vollgenossenschaften könnten diese – Buber zufolge – auch etwas verwirklichen. Das hebräische Genossenschaftsdorf in Palästina sei der einzige umfassende Versuch, eine Vollgenossenschaft zu schaffen, die »ein gewisses Maß des Gelingens im sozialistischen Sinn« 68 garantiere. Deswegen gilt Jerusalem, was die Verwirklichung des Sozialismus betrifft, für Buber als Gegenpol zu Moskau: »Solange Rußland nicht selber eine wesenhafte innere Umgestaltung erfahren hat – und wir können heute noch nicht ahnen, wann und wie das geschehen wird –, haben wir den einen der beiden Pole des Sozialismus, zwischen denen dann die Wahl zu treffen ist, mit dem gewaltigen Namen Moskaus zu bezeichnen. Den andern Pol wage ich trotz allem ›Jerusalem‹ zu nennen.« 69

Buber betrachtet die Kibbuzim als die Alternative zum Nationalismus und Imperialismus einerseits, zum Individualismus und Kollektivismus andererseits, und sogar als den Weg zur konstruktiven Gestaltung der jüdisch-arabischen Beziehungen. Schließlich definiert er sie in Pfade in Utopia (1950) als ein vorbildliches »Nicht-scheitern«. 70 Obwohl Buber also in den Kibbuzim die Verkörperung seiner eigenen sozialen und politischen Ideale erkennt, hat er sich stets dagegen gesträubt, nach Palästina überzusiedeln, wohin viele junge deutschsprachige Juden bereits vor 1938 emigriert waren, die von seinen eigenen Schriften in nicht unwesentlichem Maße beeinflusst waren, 71 allen voran die »Werkleute« 66. Martin Buber, Pfade in Utopia, Heidelberg: Lambert Schneider 1959, S. 222; jetzt in: MBW 11.2, S. 117-259, hier S. 244. 67. Martin Buber, Erziehung zur Gemeinschaft, MBA Arc. Ms. Var. 350 47d; jetzt in diesem Band, S. 300-318. 68. Martin Buber, Pfade in Utopia, S. 221; jetzt in: MBW 11.2, S. 243. Vgl. dazu auch Martin Buber, Moses Hess und die sozialistische Idee (Hebr.), in: Moses Hess, Ketuwim kelaliim, Jerusalem 1956, S. 9-24; jetzt in: MBW 11.2, S. 309-325. 69. Buber, Pfade in Utopia, S. 233; jetzt in: MBW 11.2, S. 250. 70. Ebd., S. 222; jetzt in: MBW 11.2, S. 243. 71. Vgl. Gershom Scholem, Martin Bubers Auffassung des Judentums, in: ders. Judaica 2, Frankfurt a. M. 1970, S. 133-192; Jehuda Reinharz, Martin Bubers Impact on German Zionism Before World War I, Studies in Zionism 6 (1982), S. 171-183; Klaus S. Davidowicz, Martin Buber und der deutsche Zionismus, Kairos 34-35 (1992-1993), S. 192-217; Chaim Schatzker, Martin Buber’s Influence on the Jewish Youth Movement in Germany, Leo Baeck Institute Yearbook 23 (1978), S. 151-171.

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von Hermann Menachem Gerson (1908-1989), die so zu Chaluzim wurden. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass Buber, als er sich schließlich in Palästina niedergelassen hatte, eher selten jene Werk- und Lebensgemeinschaften besuchte, die seinen Lehren verpflichtet waren, wie zum Beispiel den Kibbuz Hazorea, was dessen Mitglieder enttäuschte. 73 Andererseits wird Buber später ein aktives Mitglied der 1939 gegründeten League for Arab-Jewish Rapprochement and Cooperation und wenig später zum Mitbegründer der 1942 entstandenen Gruppe Ichud (Einheit). Er wird später sogar zu deren Vorsitzendem, und setzt als Ziele des Ichuds sowohl die Etablierung einer Regierungsform auf Grund gleicher politischer Rechte für beide Völker in Palästina als auch eine Konföderation mit den Nachbarländern durch. 74 Nach der Staatsgründung Israels wird Buber der charismatischste Widersacher Ben Gurions (1886-1973) unter den israelischen Intellektuellen sein, und der namhafteste Verteidiger der Rechte der Palästinenser. Obgleich Bubers Antwort auf die zionistische Frage letztlich aus vielen verschiedenen Facetten bestand, lassen sich diese doch mit dem Spruch aus Jesaja 1,27 zusammenfassen: »Zion wird mit Gerechtigkeit erlöst«.

Die Wahlverwandtschaft mit Gustav Landauer

Wenn Nietzsche der Philosoph war, der den noch sehr jugendlichen Buber verzauberte und verhexte, 75 wenn Hugo von Hofmannsthal (18741929) sein Alter-Ego während der ästhetischen Wiener Jahre darstellte, 76 wenn Simmel und Dilthey die Lehrer seiner Universitätsjahre waren, und Theodor Herzl sein politischer Lehrmeister und Gegenspieler in der zio72. Vgl. Menachem Gerson, Family, Women and Socialization in the Kibbutz, Toronto 1978; Hermann Meier-Cronemeyer, Kibbuzim. Geschichte, Geist und Gestalt, Hannover 1969; Friedrich Lotter, Hermann (Menachem) Gerson und der Bund deutsch-jüdischer Jugend »Werkleute«, Frankfurter Jahrbuch 1996/97 des Vereins der Freunde und Förderer des Museums Viadrina, Frankfurt a. O. 1997, S. 89-133; Shalom Lilker, M. Buber on Judaism and the Kibbutz, Shdemot 9 (1978), S. 51-60; Menachem Rosner, The Philosophy of Martin Buber and the Social Structure of the Kibbutz, Shdemot 18 (1982), S. 34-44. 73. Haim Gordon, The Other Martin Buber. Recollections of His Contemporaries, Athens (Ohio) 1988, S. 97-106 u. S. 134-137. 74. Vgl. Bernard Susser, The Anarcho-Federalism of Martin Buber, Publius IX/4 (Autumn 1979), S. 103-115. 75. Vgl. Martin Buber, Zarathustra; jetzt in: MBW 1, S. 103-117; ders., Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte, Die Kunst im Leben 2 (1900), S. 13; jetzt in: MBW 1, S. 149-151. Dazu auch Martin Buber, Begegnung. Autobiographische Fragmente, Stuttgart: W. Kohlhammer 1960, S. 18 f., jetzt in: MBW 7, S. 283 f. 76. Vgl. Martin Buber, Zur Wiener Literatur; jetzt in: MBW 1, S. 119-129.

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nistischen Bewegung, so war Gustav Landauer der Freund, der Buber die sozio-politische Thematik in drängender Aktualität näherbrachte – ebenso wie Buber die Reflexionen über das eigene Judentum des letzteren inspirieren sollte. Die Begegnung zwischen den beiden begründet somit eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen dem »Anarchisten« und dem »Zionisten«, so dass sich sagen lässt: »die Ansichten der beiden Freunde haben sich in Austausch, Übereinstimmung und Auseinandersetzung gebildet, und Geben und Nehmen lässt sich unter solchen Umständen nicht auseinanderhalten.« 77 Eine sehr starke »Wahlverwandtschaft« 78 verbindet die Wege dieser zwei atypischen Juden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die Prinzipien von Landauers sozialer Philosophie, wie Gegenseitigkeit, Solidarität, Kooperation, Selbstbestimmung, freie Assoziation, Föderalismus und Dezentralisierung, übten einen großen Einfluss auf Bubers soziales und politisches Denken aus. Buber teilte Landauers Kritik an der Autorität und an den Institutionen, ebenso wie seine Kritik an jeder Revolution, die nicht mit dem Menschen selbst beginnt, sondern mit den sogenannten Revolutionären. Denn für beide bestand der größte Fehler der Russischen Revolution darin, dass diese nicht das zwischenmenschliche Leben transformiert habe. Damit formulieren sie ihre erste Kritik am Marxismus. Der Sozialismus dürfe ihrer Meinung nach nicht vergessen, dass jedes Mittel seinem gesetzten Zweck entsprechen müsse. Freiheit dürfe nicht aus der Not heraus entstehen. Beide erahnen also die Risiken des Individualismus, ebenso wie die des Kollektivismus. Der Sozialismus wird von ihnen als ein »frei vereinbartes Zusammenleben der Menschen« gedacht, als »die Unmittelbarkeit der sozialen Beziehungen jenseits von Staat und kapitalistischer Marktwirtschaft« 79 . Er solle dann nicht nur das Ergebnis der wirtschaftlichen Verhältnisse sein, sondern vor allem etwas, das jetzt und hier von den Menschen verwirklicht werde. Damit erweisen sich beide als Vertreter eines Sozialismus mit antimarxis77. Grete Schaeder, Martin Buber. Hebräischer Humanismus, Göttingen 1966, S. 215. 78. Michael Löwy, Rédemption et utopie. Le judaïsme libertaire en Europe centrale. Une étude d’affinité élective, Paris 1988; ders., Romantic Prophets of Utopia. Gustav Landauer and Martin Buber, in: Gustav Landauer. Anarchist and Jew, hrsg. von Paul Mendes-Flohr u. Anya Mali, Berlin 2014, S. 64-81; Siegbert Wolf, »Der wahre Ort der Verwirklichung ist die Gemeinschaft«. Der »Bund« zwischen Gustav Landauer und Martin Buber, Im Gespräch 2 (2011), S. 35-48; Donatella Di Cesare, Martin Buber and the Anarchic Utopia of the Community, Naharaim 2 (2011), S. 183205; Gianfranco Ragona, Comunità, utopia libertaria e sionismo in Martin Buber, in: Il pensiero politico 2 (2006), S. 243-266. 79. Siegbert Wolf, »Ich habe eine große Liebe für Ihren Weg« – Martin Buber, Gustav Landauer und der »Sozialistische Bund«, in: Dialog, Frieden, Menschlichkeit, S. 226249, hier S. 235.

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tischen, anarchistischen und mystischen Konnotationen, dessen Ort der Verwirklichung die Gemeinschaft sei. Eine autarke und zugleich föderative Communitas gilt somit als Paradebeispiel der Zusammenhörigkeit jedes Menschen mit dem allen gemeinsamen Menschengeschlecht, und letztendlich mit einem gemeinsamen Kosmos. 80 Diese Idee ist als Antithese zur bürgerlich-individualistischen, ja entzauberten Industriegesellschaft zu sehen, die ihren letzten Grund nunmehr bloß im Staat mit seinem Gewaltmonopol hat. Zudem setzen sie einem solchen zentralistischen und mechanistischen Scheinsozialismus einen föderalistisch organisierten Gemeinschaftssozialismus vehement entgegen. Wenn Wien die Stadt Bubers ästhetischer Bildung war, dann war Berlin die Stadt seiner politischen Bildung. Sowohl Buber als auch Landauer befanden sich in ihrem Streben nach Gemeinschaft auf der Suche nach einer authentischen Lebenshaltung. Es ist daher vielleicht kein Zufall, dass sie sich in Berlin im Umkreis der Neuen Gemeinschaft 81 kennenlernten. Einerseits hielt Buber hier die Reden »Alte und neue Gemeinschaft« und »Über Jakob Böhme«, zum anderen hielt Landauer die Reden »Durch Absonderung zur Gemeinschaft« und »Friedrich Nietzsche«. 82 Obwohl ihre Anbindung an die Neue Gemeinschaft so flüchtig war wie die Bewegung selbst, waren die aus ihr entstandene Freundschaft und ihre gemeinsamen Interessen und Ansichten, wie Buber sie programmatisch in seinen Reden festhielt, von Dauer. Zum Zeitpunkt, als Buber Landauer kennenlernte, hatte dieser bereits als Redakteur der Zeitschrift Sozialist 83 gearbeitet, übersetzte die Schriften von Meister Eckhart (1260-1328) in zeitgenössisches Deutsch und hatte an dem

80. Vgl. Gustav Landauer, Zur Entwicklungsgeschichte des Individuums (1895-96), in: ders., Anarchismus. Ausgewählte Schriften, Band 2, hrsg. von Siegbert Wolf, Lich 2009, S. 45-68. 81. Vgl. Karin Bruns, Die Neue Gemeinschaft, in: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde, 1825-1933, hrsg. von Wulf Wülfig, Karin Bruns et al., Stuttgart u. Weimar 1998, S. 358-371; Erich Mühsam, Unpolitische Erinnerungen, Berlin 2003, S. 18-41; Hans Kohn, Martin Buber, S. 28-39. 82. Martin Buber, Alte und neue Gemeinschaft, MBA Arc. Ms. Var 350 Beth 47; jetzt in: MBW 2.1, S. 61-66; ders., Über Jakob Böhme, Wiener Rundschau 12 (1901), S. 251253; jetzt in: MBW 2.1, S. 70-74. Gustav Landauer, Durch Absonderung zur Gemeinschaft, in: Die Neue Gemeinschaft. Ein Orden vom wahren Leben, hrsg. von Heinrich u. Julius Hart, Leipzig 1901, S. 45-68; ders., Friedrich Nietzsche, in: Hanna Delf, »Allseitig, nicht einseitig sein«. Zwei unveröffentlichte Manuskripte Gustav Landauers zur frühen Nietzsche Rezeption, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 4 (1992), S. 303-321. 83. Vgl. Gustav Landauer, Signatur: g. l. Gustav Landauer im »Sozialist«. Aufsätze über Kultur, Politik und Utopie (1892-1899), hrsg. von Ruth Link-Salinger, Frankfurt a. M. 1986.

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dreibändigen sprachphilosophischen Werk seines engen Freundes Fritz Mauthner (1849-1923), Beiträge zu einer Kritik der Sprache (19011902), mitgearbeitet. 84 Das Interesse für die christliche Mystik ist ein weiteres Motiv, das die zwei jungen Denker verbindet. 85 Auch die Literatur ist ein Interessengebiet, das beiden gemeinsam ist: Landauer übersetzt aus verschiedenen Sprachen, während Buber bald als Herausgeber mythischer und mystischer Anthologien tätig wird. 86 Im Jahr 1904 widmet er einen Aufsatz Landauer und dessen Werk. 87 Landauer wird von Buber als ein »Befreier« dargestellt, insofern er Dogmen antastet und Sicherheiten erschüttert. Die Anarchie – eines von Landauers Grundprinzipien – wird von Buber als »eine Grundstimmung jedes Menschen, der aus sich ein neues Wesen formen will« 88 , definiert. Bis zu Bubers Anthologie Die Legende des Baalschem (1908) ist es hauptsächlich Landauer, der Buber beeinflusst. Mit dem Erscheinen der chassidischen Anthologie »war indessen schon eine Umkehrung des Verhältnisses eingeleitet worden« 89 , und zwar dahingehend, dass sich das jüdische Selbstverständnis bei Landauer erst durch die Begegnung mit dem von Buber wiederentdeckten Chassidismus ausgebildet hat. Damit wurde er dahingehend überzeugt, dass das Judentum keine äußere Zufälligkeit, sondern ein inneres Wesensmerkmal sei – so wird er es selbst in seiner Rezension des Buches ausdrücken. 90 Nur ein neuromantisches und mystisches Judentum, wie jenes von Buber aus den

84. Meister Eckhart, Mystische Schriften. Übertragen von Gustav Landauer, Berlin 1903. Vgl. Thorsten Hinz, Mystik und Anarchie. Meister Eckhart und seine Bedeutung im Denken Gustav Landauers, Berlin 2000; Joachim Willems, Religiöser Gehalt des Anarchismus und anarchistischer Gehalt der Religion? Die jüdisch-christlich-atheistische Mystik Gustav Landauers zwischen Meister Eckhart und Martin Buber, Albeck bei Ulm 2001. 85. Vgl. Yossef Schwartz, The Politicization of the Mystical in Buber and His Contemporaries, in: New Perspectives on Martin Buber, S. 205-218. 86. Vgl. Martina Urban, Aesthetics of Renewal. Martin Buber’s Early Representation of Hasidism as Kulturkritik, Chicago 2008. 87. Martin Buber, Gustav Landauer, Die Zeit, 11. Juni 1904, S. 127-128; jetzt in: MBW 2.1, S. 102-107. Einige Jahre später wird Landauer über Buber schreiben: Gustav Landauer, Martin Buber, Neue Blätter 1-2 (1913), S. 90-107. In diesem Aufsatz beschreibt Landauer Buber als den »Apostel des Judentums vor der Menschheit«, S. 90. 88. Buber, Gustav Landauer, S. 127; jetzt in: MBW 2.1, S. 102 f. 89. Norbert Altenhofer, Martin Buber und Gustav Landauer, in: Martin Buber (18781965). Internationales Symposium zum 20. Todestag, hrsg. von Werner Licharz u. Heinz Schmidt, Frankfurt am Main 1991, Bd. 2, S. 150-177, hier S. 150. 90. Gustav Landauer, Die Legende des Baalschem, Das literarische Echo, XIII/2, 15. Oktober 1910, S. 148-149.

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ostjüdischen Legenden geschaffene, konnte ihn – im Gegensatz zu jeder Form von Legalismus oder Rationalismus – ansprechen. 91 Bereits 1907 erschien Landauers Monographie Die Revolution in der Reihe Die Gesellschaft, herausgegeben von Buber. 92 In dieser Schrift bedeutet U-topie als »Ou-Topos« eine Loslösung von Formen und Dogmen, die die autoritäre Stabilität jeder »Topie« dominieren, sodass die Geschichte als der Übergang zwischen der Geburt einer U-topie, ihrer Versteifung als Topie und ihrem Niedergang durch die Entstehung einer neuen Utopie verstanden wird, deren Schicksal es dann ist, selbst zur Topie zu werden. Man kann hier das Echo von Simmels und Oswald Spenglers (1880-1936) Kulturmorphologie und Geschichtsphilosophie vernehmen. Die Entstehung des Sozialistischen Bundes (1908-1915) sollte die zwei Freunde noch enger aneinanderbinden. 1911 erschienen zwei Schriften, die – jede auf ihre Weise – den jeweils anderen zum charismatischen Wortführer einer ganzen Generation erhoben. Namentlich sind das Bubers Drei Reden über das Judentum und Landauers Aufruf zum Sozialismus. 93 Am Vorabend des Ersten Weltkrieges sind Buber und Landauer an der Gründung des Potsdamer Forte-Kreises beteiligt. Bei Ausbruch des Krieges vertreten sie jedoch äußerst gegensätzliche Positionen. Buber lässt sich zu kriegerischen Äußerungen verleiten, die den Freund stark empören. 94 Eine solche Differenz, die ihre Freundschaft aber nicht in Frage stellt, war nicht zum ersten Mal zwischen Buber und Landauer aufgetreten, und es wird auch nicht die letzte sein. Als Anarcho-Sozialist verhielt sich Landauer eher skeptisch dem Zionismus gegenüber – wie Buber selbst in »Der heimliche Führer« berichtet: »ein Neues im Judentum […] war nicht unmittelbare Gegenwart für ihn« 95 . Umgekehrt hielt Buber die Münchner Räterepublik für ein richtungsloses politisches System und lehnte sie sogar als das Ergebnis einer »Scheinrevolution« 96 ab. Dennoch konnte er Landauers aktives Engagement für die Räterepublik 91. Vgl. Landauers Text Sind das Ketzergedanken? in: Vom Judentum. Ein Sammelband, hrsg. von Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba, Leipzig 1913, S. 250-257. 92. Gustav Landauer, Die Revolution, Frankfurt a. M. 1907. 93. Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, Berlin 1911. 94. Vgl. Landauers Brief an Buber vom 12. Mai 1916. Hierin findet sich der Ausdruck »Kriegsbuber« (B I, S. 433). Landauer war tief irritiert von Bubers Texten wie »Die Losung« und »Der Geist des Orients und das Judentum«. 95. Martin Buber, Der heimliche Führer, S. 37; jetzt in diesem Band, S. 183. Nichtsdestotrotz wird hier Landauer von Buber als »heimlicher« d. h. »prädestinierter Führer des neuen Judentums« (ebd., S. 36; in diesem Band, S. 182) der zionistischen sozialistischen Partei Hapoël-Hazaïr dargestellt. 96. Ebd., S. 36; jetzt in diesem Band, S. 182.

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nachvollziehen, in deren Folge dieser am 7. April 1919 mit der Volksaufklärung beauftragt wurde. Landauer hatte Buber zufolge die Gefahren der Revolutionen, wie etwa die »Versumpfung im Parteigetriebe« und ihre »Selbstvernichtung in der Gewalttat und Gewaltgebärde«, 97 erkannt, und gewusst, wie sich die echte Revolution und der echte Sozialismus von ihrer historischen Konfiguration in der Gegenwart unterscheiden müssen. Deswegen wollte er, laut Buber, durch seine aktive Teilnahme an der Revolution »mehr verhüten als wirken«. 98 Das heißt, Landauer habe »in der Revolution gegen die Revolution – um die Revolution gekämpft«. 99 Als grausame Konsequenz aus dieser Haltung wird Landauer am 2. Mai 1919 von der »antirevolutionären Soldateska«, 100 den sogenannten »Freikorps«, umgebracht. Sein ganzes Leben lang wird Buber das Andenken des Freundes aufrechterhalten – als Herausgeber zahlreicher seiner Texte, 101 ebenso wie durch viele Essays und Reden, die Landauer gewidmet sind. Ein Rückgriff auf das politische Denken des Freundes findet sodann im Laufe der Jahrzehnte statt. Bubers Der heilige Weg ist Landauer gewidmet und bildet einen entscheidenden Text im Werk Bubers. Dieser Text gilt als die beste Darstellung von Bubers Gemeinschaftskonzeption in der Zeit seiner dialogischen Wende bzw. als die erste Formulierung seiner Theopolitik. Der Essay »Landauer und die Revolution«, nur wenige Wochen nach dem Tod des Freundes veröffentlicht, stellt dann einen sehr bewegenden Nachruf auf den Freund dar. Hierin schreibt Buber: »Gustav Landauer war ein deutscher Jude« und als solcher »fühlte [er] in sich den urjüdischen Geist«, der zur Verwirklichung drängt. Landauer habe zur Gegenwehr gegen die Unmenschlichkeit »in Deutschland in der Zeit seiner größten Gottferne« aufgerufen, in einer mittelpunktlosen »Welt des Ungeistes«. Deswegen gilt er Buber als »Prophet der kommenden Menschengemeinschaft« und »ist als ihr Blutzeuge gefallen« 102 . Landauer ist für Buber der Vertreter der wahren Gemeinschaft, die hier als Ort des Miteineinanderseins begriffen wird und als Gegenstück zu einer 97. Martin Buber, Landauer und die Revolution, Masken 18/19 (1919), S. 282-291, hier S. 288; jetzt in diesem Band, S. 172-181, hier S. 178. 98. Ebd.; jetzt in diesem Band, S. 178. 99. Martin Buber, Erinnerung an einen Tod, Neue Wege 4 (1929), S. 161-165, hier S. 165; jetzt in diesem Band, S. 319-323, hier S. 323. 100. Ebd., S. 162; jetzt in diesem Band, S. 320. 101. Vgl. Gustav Landauer, Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum, hrsg. von Martin Buber, Potsdam 1921; ders., Beginnen. Aufsätze über Sozialismus, hrsg. von Martin Buber, Köln 1924; ders., Sein Lebensgang in Briefen, hrsg. von Martin Buber und Ina Britschgi-Schimmer, Frankfurt a. M. 1929. 102. Martin Buber, Landauer und die Revolution, S. 291; jetzt in diesem Band, S. 181.

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Gesellschaft, in der alles öffentliche Leben durch Staatszentrismus, Machtausübung und Parteinahme verdrängt worden sei, skizziert wird. »Die Wiedergeburt der Völker aus dem Geist der Gemeinde« 103 durch einen föderalistischen und organischen Gemeinschaftssozialismus – den Buber via Landauer verkündet – war ihrer beider Antwort auf einen Scheinsozialismus (so urteilten beide über die UdSSR) ebenso wie auf einen Kapitalismus, der für beide »Fäulnis« und »Verdammnis«, d. h. den Tod der abendländischen Kultur bedeutete. Landauers und Bubers Denken und Handeln kann insofern als antipolitisch betrachtet werden, als beide »gegen eine falsche Öffentlichkeit für eine künftige rechtmäßige, gegen eine zerfallende Gesellschaft für den Bau einer Gemeinschaft« 104 mit ihrer Person eintreten. Ihre Zeit-Diagnosen werden später durch die Geschichte bestätigt werden. Zwanzig Jahre nach dem Tod des Freundes beweist Buber in »Landauer zu dieser Stunde«, wie das gesamte öffentliche Leben immer mehr durch politische Fiktionen überdeckt wird. Die Arbeiterbewegung ist in der UdSSR durch einen Parteienstaat ersetzt worden, und faschistische Diktaturen verhindern und vernichten jegliche Teilnahme am öffentlichen Leben. Die UdSSR gilt für Buber als der als »Messias verkleidete Leviathan«: sie sei keine Verwirklichung des menschlichen Drangs nach Gemeinschaft, sondern die Menschen seien in ihr machtlos und zu »Knechte[n] des grössten aller Unternehmen, des Unternehmens Staat geworden« 105 . Dagegen wird er – im direkten Anschluss an Landauer – wiederholen, dass sowohl eine freie Gesellschaft ein Bund von Gemeinschaften sei, als auch die wahre Idee des Sozialismus, die der Idee der freien Vereinigung entsprechen müsse: »das Bild des wahren Sozialismus zeigen, der nicht Zentralismus, sondern Föderation, nicht vom Staat konzentrierte alte Wirtschaft, sondern neue genossenschaftliche, nicht Zwang, sondern Verantwortung ist.« 106 Damit kamen auch die Gedanken Bubers über die Revolution und den Staat zu ihrer Reife. Vorrausetzung für die Revolution sei, dass die heutige Ordnung, d. h. die Zwangsordnung des Staates, überwunden werde. Das sei wünschenswert und möglich. Eine echte Umwandlung könne aber nur erfolgen, wenn die jeweiligen zwischenmenschlichen Zwangs103. Ebd., S. 283; jetzt in diesem Band, S. 173. 104. Martin Buber, Vorwort, in: Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening, S. V-VIII, hier S. VI; jetzt in diesem Band, S. 265-267, hier S. 266. 105. Martin Buber, Landauer heute (Hebr.), Hapo’el haza’ir, 29, 27. Juni 1939, S. 11-13; jetzt in: MBW 11.2, S. 33-37, hier S. 33. 106. Ebd., S. 34.

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verhältnisse durch etwas Neues ersetzt würden. Landauer hatte immer wieder darauf hingewiesen, dass der Staat ein Zustand, d. h. ein Status, sei. Ihm zufolge sei der »Staat […] ein Verhältnis, […] eine Beziehung zwischen den Menschen, […] eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andre Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält.« 107 Der Staat könne zwar durch eine politische Revolution zerstört werden, aber das reiche nicht aus. Damit eine Revolution nicht nur eine politische, sondern auch eine soziale sein könne, sei es notwendig, dass die Revolutionäre in echtem Gemeinschaftsgeist handelten. Diesen Vorstellungen folgend wird der Staat von Buber als ein rechtmäßiger Zwang konzipiert, der dennoch immer wieder überschritten werden müsse. Er wird dieses Überschreiten später als »Mehrstaat« bezeichnen.

Ein kommunitarischer, religiöser und utopischer Sozialismus

Politische Lehre und politische Tat charakterisieren den Lebens- und Denkweg Martin Bubers von seinen jungen Jahren an, sowohl innerhalb der zionistischen Bewegung der Herzl-Jahre als auch im Dialog mit dem Freund Gustav Landauer. Die Idee der Gemeinschaft, die bereits Gegenstand der Rede »Alte und neue Gemeinschaft« aus dem Jahr 1901 war, wird zum Epizentrum des politischen und sozialen Denkens Bubers und wird mit Texten wie »Unser Nationalismus« und »Die Revolution und wir« 108 in einen Gegensatz zur russischen Revolution gestellt. Die Formulierungen seines kommunitarischen, religiösen und utopischen Sozialismus – obwohl er Züge einer anarchisierenden Theopolitik annimmt – sind von Buber als ein Gegenentwurf zum »Realsozialismus« der UdSSR gedacht. Durch die Begegnung mit dem Schweizer Theologen Leonhard Ragaz (1868-1945) und die Tagung zum Thema »Sozialismus aus dem Glauben«, 109 die Buber 1928 in Heppenheim organisierte, gipfelt der Diskurs schließlich in der Monographie Pfade in Utopia, die 1950 auf Deutsch erscheint. 107. Gustav Landauer, Schwache Staatsmänner, schwächeres Volk!, Der Sozialist, 15. Juni 1910. 108. Martin Buber, Unser Nationalismus, Der Jude 1-2 (1917), S. 1-3; jetzt in: MBW 3, S. 333-335; ders., Die Revolution und wir, Der Jude 8-9 (1918), S. 345-347; jetzt in diesem Band, S. 108-110. 109. Ders., [Drei Diskussionsbeiträge], in: Sozialismus aus dem Glauben – Verhandlungen der Sozialistischen Tagung in Heppenheim, Pfingstwoche 1928, Zürich: Rotapfel 1929, S. 90-94; 121 f. u. 217-219; jetzt in diesem Band, S. 333-339.

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Mit einer »täppische[n]« Brutalität habe sich die Russische Revolution, so Buber, durch drei Stadien entwickelt: zunächst konstituierten sich die Sowjets als einzelne autonome Räte; dann begann der Zentralismus der kommunistischen Partei die Sowjets zu dominieren und ihre Autonomie zu vermindern; schließlich etablierte sich eine zentralisierte staatliche Gewalt. 110 Deswegen beschreibt Buber die Revolution als eine von oben nach unten erfolgende Umwandlung, die »noch, wie das Zeitalter, dessen Ausgang sie ist, das Zeichen des Institutionismus« 111 , d. h. des Staatszentralismus, der Bürokratie und der Parteien, trage. Im Gegensatz zu dieser tritt Buber für eine Revolution ein, die mit dem Menschen selbst beginnt. Das Echo Landauers ist hier deutlich zu erkennen. Die Transformation des »innere[n] Gefüge[s] des menschlichen Zusammenlebens […] durch ein Neuwerden und Echtwerden der Beziehungen von Mensch zu Mensch, von Gruppe zu Gruppe und so auch von Volk zu Volk« 112 ist für Buber das primäre Ziel der Revolution: »Das Neue kann nicht gestiftet werden […] während das Leben zwischen Mensch und Mensch das gleiche bleibt und so auch die Methoden der Herrschaft unverändert beharren. Die Beziehungen zwischen den Menschen müssen sich verwandeln, damit aus ihnen wahre Wandlung der Gesellschaft, wahre Wiedergeburt geschehe.« 113

Nur so führe die echte Revolution zur »Wiedergeburt der Gesellschaft aus dem Geist der Gemeinschaft« 114 , wobei es um eine »Wiedergeburt, nicht Wiederbringung« 115 der Gemeinschaft gehe, d. h. es wird kein nostalgisches bzw. neokonservatives Ideal einer Urgemeinschaft postuliert, sondern – wie Buber in seinen »Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee« betont – es soll sich um eine Regeneration der Gemeinschaft handeln, die eine Regeneration des ganzen Menschen umfasse. An dieser Stelle verknüpft Buber seine Hoffnung auf eine »gemeinschaftshaltige Gemeinschaft des Menschengeschlechts« durch die »Unmittelbarkeit des Miteinanderseins« mit der Vorstellung von einer sozialistischen Wirtschaft, d. h. mit dem »Übergang der Verfügungsgewalt über die Produktionsmit-

110. Vgl. Martin Buber, Staatsideen, Gemeinschaftsversuche und die menschliche Wirklichkeit, MBA Arc. Ms. Var. 350 47e; jetzt in diesem Band, S. 207-221. 111. Martin Buber, [Über die Revolution], MBA Arc. Ms. Var. 350 bet 163a; jetzt in diesem Band, S. 123-124, hier S. 123. 112. Martin Buber, Die Revolution und wir, S. 346; jetzt in diesem Band, S. 110. 113. Martin Buber, Der heilige Weg, S. 88; jetzt in diesem Band, S. 156. 114. Martin Buber, Die Revolution und wir, S. 347; jetzt in diesem Band, S. 110. 115. Martin Buber, Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee, Kommende Gemeinde 2 (1931), S. 19-26, hier S. 24; jetzt in diesem Band, S. 378-383, hier S. 381.

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tel aus den Händen der Unternehmer in die der Kollektivität« . Buber kennt jedoch keinen Sozialismus als isolierte ökonomische Lebensanschauung. Sozialismus erzeuge eine Gemeinschaft, die im Angesicht Gottes entstehe. Jeder Form zeitlicher oder priesterlicher Souveränität stehe die Gottesherrschaft gegenüber. Der heilige Weg dokumentiert, dass der kommunitarische Sozialismus, der bereits im Dialog mit Gustav Landauer entwickelt worden war, eine stark theopolitische Färbung erhält. Eine Ursache für Entwicklung dieser besonderen Vorstellung des Sozialismus bei Buber dürfte – neben dem Erlebnis des Ersten Weltkrieges 117 – die wachsende Distanzierung vom nationalstaatlichen Modell gewesen sein, die sich vor allem in der Zions-Frage manifestierte. Zudem darf nicht vergessen werden, dass in den Jahren zwischen 1916 und 1923 Bubers Denken die Dialogische Wende vollzieht, und dass ab 1925 über das gemeinsame Projekt mit Franz Rosenzweig, der Verdeutschung der Schrift, eine intensive Beschäftigung mit der Bibel beginnt. 1916 schließlich trifft Buber erstmals mit einem der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des religiösen Sozialismus zusammen: dem Schweizer Theologen Leonhard Ragaz. 118 Bald erkennt Buber in ihm »einen geistig-religiösen und politisch-ethischen Bundesgenossen«, der als Christ, so wie er als Jude im »Reich Gottes eher das Gegenteil von Religion« erblickte und damit in einer entschiedenen Opposition stand »zum religiösen Betrieb seiner Zeit« 119 . Beide teilen eine stark eschatologische sozialistische Vision, die jeglicher Reduktion des Reiches Gottes auf die Religion, auf jedwedes irdische Reich oder auf jedweden Nationalstaat auf unnachgiebige Weise kritisch gegenübersteht. Die Verbindung zwischen den beiden Autoren lässt sich ab 1916 nachweisen, und wird offen-

116. Ebd., S. 20; jetzt in diesem Band, S. 378 f. 117. Als er Student in Leipzig war, hielt Buber bereits einen Vortrag über Ferdinant Lassalle (1825-1864) für einen sozialistischen Verein (Buber, Begegnung, S. 22; jetzt in: MBW 7, S. 286). Vgl. dann die Idee des Sozialismus als Teil des Strebens des Juden nach der Einheit in: Das Judentum und die Menschheit (jetzt in: MBW 3, S. 233); vgl. dann den Unterschied zwischen fiktivem und realem Sozialismus in: Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform, MBA Arc. Ms. Var. 350 vav 28; jetzt in: MBW 3, S. 134 u. S. 135. 118. Brief von Ragaz an Buber vom 6. November 1916, in: B I, S. 457 f. Vgl. Andreas Pauli, Die Begegnung des religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz mit Martin Buber, in: Martin Buber (1878-1965), Bd. 2, S. 105-120; Heinz Röhr, Martin Buber und die religiösen Sozialisten, in: Martin Buber (1878-1965), Bd. 2, S. 121-149; Dietmar Wiegand, Religiöser Sozialismus bei Martin Buber, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 18 (1966), S. 142-162; Walter B. Goldstein, Der Glaube Martin Bubers, Jerusalem 1969, S. 123-186; Wolf-Dieter Gudopp, Martin Bubers dialogischer Anarchismus, Bern 1975. 119. Karl-Josef Kuschel, Einleitung, in: MBW 9, S. 32.

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sichtlich als Buber Ragaz Schrift Religion und Gottesherrschaft rezensiert. Es folgen dann zwei Texte, die sich auf das unerschütterliche Freundschaftsverhältnis beziehen, das Ragaz zum jüdischen Volk in dessen tragischster Stunde unterhält: »Unserem Verbündeten« 121 aus dem Jahr 1943 sowie der Nachruf »Ragaz und Israel«, 122 den Buber anlässlich des Todes seines Freundes verfasst. Darin wird Ragaz als »der echteste Freund, den das jüdische Volk in unserer Zeit besessen hat« 123 , anerkannt. Der christliche Theologe wird dann auch in Zwei Glaubensweisen (1950), zusammen mit Rudolf Bultmann (1884-1976), Rudolf Otto (1869-1937), und Albert Schweitzer (1875-1965) namentlich erwähnt und mit Dank bedacht. 124 Buber widmete Ragaz ebenfalls die kurzen, einprägsamen und programmatischen »Drei Sätze eines religiösen Sozialismus«, 125 erschienen in Neue Wege, der Zeitschrift, die – unter der Herausgeberschaft von Ragaz – zahlreiche Texte Bubers veröffentlicht, und die für ihn besondere Bedeutung erlangen wird, nachdem das nationalsozialistische Deutschland am 21. Februar 1935 Buber ein Redeverbot verhängt hatte. Der religiöse Sozialismus wird darin als die Verknüpfung von Religion und Sozialismus, die »wesensmässig aufeinander angewiesen sind«, definiert. 126 Jeder der beiden Begriffe bedürfe des anderen, um sein Wesen zu erfüllen und zu vollenden: »Religion ohne Sozialismus ist entleibter Geist« ebenso wie »Sozialismus ohne Religion […] entgeisteter Leib« ist. 127 Religiöse Formen, Institutionen, Verbände, und sozialistische Tendenzen, Programme und Parteiungen können dann entweder real oder fiktiv sein, sofern eine wirkliche Verbundenheit der Menschen zu Gott bzw. eine wirkliche Genossenschaft der Menschen – als Mit- und Füreinander leben – in der »Konkretheit des persönlichen Lebens« 128 bestehe. 120. Martin Buber, Religion und Gottesherrschaft, Frankfurter Zeitung, 27. April 1923, Literaturblatt; jetzt in: MBW 9, S. 84-86. 121. Martin Buber, Unserem Verbündeten (Hebräisch 1943); jetzt in: MBW 9, S. 184186. 122. Martin Buber, Ragaz und »Israel«, Mitteilungsblatt 13 (1946); jetzt in: MBW 9, S. 187-191. 123. Ebd.; jetzt in: MBW 9, S. 187. 124. Martin Buber, Zwei Glaubensweisen, Zürich: Manesse 1950, S. 12 f.; jetzt in: MBW 9, S. 202-312, hier S. 207. 125. Martin Buber, Drei Sätze eines religiösen Sozialismus, Neue Wege 7-8 (1928), S. 327-329; jetzt in diesem Band, S. 230-232. 126. Ebd., S. 327; jetzt in diesem Band, S. 230. 127. Ebd., S. 328; jetzt in diesem Band, S. 230. 128. Ebd., S. 329; jetzt in diesem Band, S. 231. Ähnliche Thesen wurden von Paul Tillich (1886-1965) in denselben Jahren vertreten: »Religiöser Sozialismus ist der Versuch, den Sozialismus religiös zu verstehen und aus diesem Verständnis heraus zu gestalten und zugleich das religiöse Prinzip auf die soziale Wirklichkeit zu beziehen und

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Die Drei Sätze bilden eine dichte Synthese der zentralen Momente von Bubers Engagement für den religiösen Sozialismus, wie es in der bereits seit Dezember 1922 geplanten 129 Tagung Sozialismus aus dem Glauben, die Buber selbst in Heppenheim während der Pfingstwoche 1928 130 organisiert und geleitet hatte, zum Ausdruck kam. Buber suchte hier die Frage zu beantworten, »[w]ie man von neuem die inneren Kräfte des Menschen nähren könne, auf denen der Glaube an die sozialistische Erneuerung beruht« 131 . Die Erneuerung des Sozialismus, führte Buber an dieser Stelle aus, könne nicht ohne eine Erneuerung des Menschen an sich, d. h. aus seiner eigenen Kraft heraus, gelingen. Hauptthemen der Tagung waren die Begründung des Sozialismus und das Verhältnis von Sozialismus und persönlicher Lebensgestaltung. Sie konstituierte eine »Sternstunde der Begegnung – freilich eine Sternstunde ohne Folgen« 132 . Buber bestimmt das Problem des Sozialismus als Problem des wirklichen Zusammenlebens der Menschen und ihres wirklichen Zusammenhanges mit ihrer Arbeit. Dieser Zusammenhang existiere, da »es […] in unserer Mitte einen unsichtbaren Bund für sozialistische Verantwortung, eine Front quer durch die sozialistischen Parteien« gebe. 133

129.

130.

131. 132. 133.

in ihr zur Gestalt zu bringen.« (Paul Tillich, Klassenkampf und religiöser Sozialismus, in: ders., Sozialphilosophische und ethische Schriften, hrsg. von Erdmann Sturm, Berlin 1998, S. 169.) Dafür war Buber ebenso in Kontakt mit Karl Barth (1886-1968) und Friedrich Gogarten (1887-1967). Vgl. den Brief Bubers an Leonhard Ragaz vom 1. Februar 1923, in: B II, S. 155. Der sogenannte Frankfurter Kreis verfolgte einige Jahre zuvor eine ähnliche Programmatik. Er war konzipiert als »eine Verbindung von Menschen, die von ihren religiösen Überzeugungen her politische und soziale Wirksamkeit anstrebten. Sie stand dem Sozialismus nahe, hielt aber Distanz zu dessen marxistisch inspiriertem Flügel. Zum Kern der Gruppe gehörten neben Rang und Buber der Gießener Anglist Theodor Spira (1885-1961), der Frankfurter Publizist Alfons Paquet (1881-1944) (beide Quäker), der Katholik Ernst Michel, der am Aufbau der Frankfurter ›Akademie der Arbeit‹ beteiligt war, und der Philosoph Hermann Herrigel.« (Lorenz Jäger, Messianische Kritik. Studien zu Leben und Werk von Florens Christian Rang, Köln 1998, S. 147.) Der Marburger Neukantianer Paul Natorp (1854-1924) nahm gelegentlich teil. Zu ihnen gesellte sich noch Walter Benjamin. Vgl. Florens Christian Rang, Deutsche Bauhütte. Ein Wort an uns Deutsche über mögliche Gerechtigkeit gegen Belgien und Frankreich und zur Philosophie der Politik. Mit Zuschriften von Alfons Paquet, Ernst Michel, Martin Buber, Karl Hildebrandt, Walter Benjamin, Theodor Spira, Otto Erdmann, Leipzig 1924. Martin Buber, [Drei Diskussionsbeiträge in »Sozialismus aus dem Glauben«], jetzt in diesem Band, S. 333-339. Die Beiträge beinhalten: Die Begründung des Sozialismus, S. 333-337; Sozialismus und persönliche Lebensgestaltung, S. 337-338; Aussprache, S. 338-339. Buber, Pfade in Utopia, S. 17 f.; jetzt in MBW 11.2, S. 124. Heinz Röhr, Martin Buber und die religiösen Sozialisten, S. 132. Martin Buber, [Drei Diskussionsbeiträge in »Sozialismus aus dem Glauben«], jetzt in diesem Band, S. 337.

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Wie ist aber ein konkretes und verantwortliches Handeln des Menschen und seine Lebensgestaltung in einem gemeinschaftlichen Raum – trotz der gestaltlosen Gesellschaft des Zeitalters und ihrer Flucht vor Verantwortung (etwa durch die Zugehörigkeit zu einer Ideologie oder Partei) 134 – möglich? Sozialismus bedeutet für Buber, eine echte Gemeinschaft in der Unmittelbarkeit der Beziehungen aufzubauen, auch im Zeitalter der Fabriken und der Großstädte: Buber ist sich bewusst, dass eine Rückkehr zum primitiven Agrarkommunismus weder möglich noch wünschenswert ist. Wirkliches Miteinanderleben heiße miteinander erfahren, beraten, verwalten. Das bedeute die Förderung einer weitestgehenden Gemeindeautonomie in Antithese zum jeweiligen Zentralismus. Auf Grund dieser seiner Beiträge wurde Buber schnell zum Utopisten erklärt. Seine Antwort darauf lautete: »Es geht nicht an, das als utopisch zu bezeichnen, woran wir unsere Kraft noch nicht erprobt haben.« 135 Auf diese Thesen kommt Buber in Pfade in Utopia zurück, worin er seinen kommunitarischen Sozialismus und Vorstellungen von Karl Marx (1818-1883) sowie der Sowjetunion einander gegenüberstellt. Diese Schrift Bubers beginnt mit einem Überblick über die Frühgeschichte des utopischen Sozialismus und beschäftigt sich mit den Theorien von Charles Fourier (1772-1837), Henri de Saint-Simon (1760-1825) und Robert Owen (1771-1858) und führt über Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) und Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842-1921) zu Landauer. In ihr setzt sich Buber schließlich mit den Versuchen zur Gesellschaftserneuerung von Marx und Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924) auseinander, und reflektiert die damalige Krise der Gesellschaft, lässt aber auf Grund der Erfahrung mit den Kibbuzim wieder etwas Hoffnung bemerken. Jerusalem wird hier als Alternative zu Moskau aufgezeigt, als Ort einer Wiedergeburt der Gemeinschaft und – durch diese – des Sozialismus. Voraussetzung des gesamten Bandes ist die Rehabilitierung des Begriffs »utopischer Sozialismus«, obwohl dieser inzwischen »die stärkste Waffe im Kampf des Marxismus gegen den nichtmarxistischen Sozialismus geworden« 136 war. Die Verwendung dieses Begriffs bezeichnet in pejorativem Sinn jede Form von Sozialismus, die die wissenschaftlichen Kriterien, mit denen Marx die Ökonomie begreift, nicht anerkennt. Für diesen waren alle Produktionsverhältnisse dialektisch gestaltet und die Revolution eine bloße Notwendigkeit der Geschichte, so134. Vgl. Martin Buber, Flucht?, Frankfurter Zeitung, 21. März 1924 (Abendblatt); jetzt in diesem Band, S. 222-223. 135. Buber, [Drei Diskussionsbeiträge im »Sozialismus aus dem Glauben«], jetzt in diesem Band, S. 335. 136. Martin Buber, Pfade in Utopia, S. 16; jetzt in MBW 11.2, S. 123.

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dass der menschliche Wille letztlich keine Rolle mehr spielte. Dagegen definiert Buber Utopien als »Bilder von etwas, was nicht vorhanden ist, sondern nur vorgestellt wird«. 137 Diese Bilder entsprechen einer ethischen Schau des Seinsollenden: »Das utopische Bild ist ein Bild dessen, was ›sein soll‹«. 138 Die Utopie, die sie prägt, sei die Sehnsucht nach dem »Rechten«, das aus dem Leid aufgrund einer »sinnwidrigen Ordnung« in der gegenwärtigen Beschaffenheit der Menschenwelt entstehe. Die Schau des Rechten vollendet sich als messianische Eschatologie im Bild einer vollkommenen Zeit. 139 Es besteht eine Verbindung zwischen Utopie und messianischer Eschatologie: beide verhalten sich kritisch zur Gegenwart und zielen auf eine innere Umwandlung des Menschen. Dabei ist es wichtig, zwischen zwei Grundformen der Eschatologie zu unterscheiden: Prophetie und Apokalyptik. 140 Ihren Gegensatz führt Buber auf die Entscheidungsmacht des Menschen zurück und nähert beide Begriffe der Antithese zwischen Voluntarismus und Notwendigkeitslehre an. Prophetie stelle »die Bereitung der Erlösung in jedem gegebenen Augenblick in einem nicht zu bestimmenden Maße in die Entscheidungsmacht jedes angeredeten Menschen« 141 dar. Apokalyptik dagegen sei »der Erlösungsprozeß[, der] in all seinen Einzelheiten, nach Stunde und Verlauf, von urher festgesetzt ist und zu seinem Vollzug die Menschen nur als Werkzeug verwendet« 142 . Utopischer Sozialismus gilt deswegen, so Buber, als die Säkularisierung der Prophetie; Marxismus als die Säkularisierung der Apokalyptik. Marx setzt die Freiheit als Ziel und den Zwang als Mittel. Der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit ist für ihn dialektisch, aber laut Buber widersprüchlich. Im Anschluss an eine These Landauers schreibt er: »Demgegenüber will der ›utopische‹ nichtmarxistische Sozialismus den mit seinem Ziel artgleichen Weg.« 143 Die Sache des utopischen Sozialismus sei aber nicht eine der unbestimmten Zukunft, sondern eine, die jetzt und hier beginne. Die Restrukturierung der Gesellschaft sei seine erste Priorität. Um die Widersprüche, 137. Ebd., S. 19; jetzt in MBW 11.2, S. 125. 138. Ebd. 139. Vgl. hierzu Pierre Bouretz, Témoins du futur. Philosophie et messianisme, Paris 2003; ders., Messianism and Modern Jewish Philosophy, in: The Cambridge Companion to Modern Jewish Philosophy, hrsg. von Michael L. Morgan u. Peter Eli Gordon, Cambridge 2007, S. 170-191. 140. Vgl. Martin Buber, Prophetie, Apokalyptik und die geschichtliche Stunde, Merkur 12 (1954), S. 1101-1114; jetzt in: MBW 15, S. 380-393. 141. Martin Buber, Pfade in Utopia, S. 23 f.; jetzt in MBW 11.2, S. 127. 142. Ebd., S. 24; jetzt in MBW 11.2, S. 128. 143. Ebd., S. 29; jetzt in MBW 11.2, S. 131.

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die das Wesen unserer Gesellschaftsordnung ausmachen, zu überwinden, fordere der utopische Sozialismus eine Umwandlung des gegenwärtigen Menschen und seiner Verhältnisse, was eine Stellungnahme des utopischen Sozialismus gegenüber dem modernen Individualisierungsprozess nötig mache. Gesellschaft solle, in der Definition Bubers, nicht notwendigerweise auf eine amorphe und atomisierte Pluralität reduziert werden, wie es heute der Fall ist: »Gesellschaft besteht eben ihrem Wesen nach nicht aus losen Individuen, sondern aus Gesellungseinheiten und ihren Gesellungen.« 144 Ein Atomisierungsprozess habe sowohl durch den Zwang der kapitalistischen Wirtschaft als auch durch den des zentralistischen Staates stattgefunden, sodass statt eines dichten Zellgewebes eine ungegliederte, strukturlose Gesellschaft entstanden sei, deren Gewebe zerfalle. Sie erscheine schließlich als ein Ort der »massierte[n] oder kollektivierte[n] Einsamkeit« 145 , als ein Paradebeispiel der Krise also, die laut Buber mit dem Ersten Weltkrieg offenbar geworden sei und seitdem eine ungeheure Zuspitzung erfahren habe. Die Ära des Hochkapitalismus habe »die Gesellschaft destrukturiert«: Der Mensch benötige dagegen einen »Zusammenschluss, der gemeinschaftliches Leben konstituiert« 146 . Das sei die Voraussetzung für die Entstehung einer »echten« Gesellschaft. Eine Änderung der Herrschafts- oder der Eigentumsordnung (d. h. der Verfügungsgewalt über die Macht- und die Produktionsmittel) allein ist nach Buber nicht ausreichend, um eine echte Wandlung hervorzubringen. Deshalb können die Parteien allein nicht helfen. Das »Zueinanderkommen von Menschen in ihnen ist kein lebensmäßiges mehr« und sie bieten keine »Kompensation für die verlorenen Gemeinschaftsformen, die man in ihnen sucht« 147 . Angesichts der Hegemonie des politischen Prinzips, d. h. gegenüber dem, was Buber »Mehrstaat« nennt, benötige man den Aufbau einer echten Gemeinschaft, bzw. einer Gemeinschaftsautonomie. Damit meint Buber nochmals ein wirkliches Miteinanderleben als gemeinsames Leben, durch wirkliche Nachbarschaften und Gilden: »Wirkliches Miteinanderleben von Mensch zu Mensch kann nur da gedeihen, wo die Menschen die wirklichen Dinge ihres gemeinsamen Lebens miteinander erfahren, beraten, verwalten«. 148 Eine echte sozialistische Revolution benötige daher zwei Elemente: eine Umwandlung des Menschen und mehr noch der Gesellschaft (d. h. eine

144. 145. 146. 147. 148.

Ebd., S. 30; jetzt in MBW 11.2, S. 131. Ebd., S. 31; jetzt in MBW 11.2, S. 132. Ebd., S. 217 u. 218; jetzt in MBW 11.2, S. 242. Ebd., S. 31; jetzt in MBW 11.2, S. 132. Ebd., S. 32; jetzt in MBW 11.2, S. 132.

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»Gesellschaft aus Gesellschaften« als organisches kommunitarisches Zellgewebe) und zugleich weniger Staat bzw. Staatszentralismus. Die russische Revolution habe diese beiden Prinzipien nicht respektiert. Laut Buber sind die Beziehungen der Menschen in der Sowjetunion in eine sozialistisch-zentralistische Machtordnung eingefügt worden, aber im Wesentlichen unverändert geblieben. Die Sowjets trugen in sich »ungeheuere Möglichkeiten«, doch die »bisherige Geschichte des SowjetRegimes ist […] die Geschichte der Vernichtung dieser Möglichkeiten« 149 . Diese fand in dem Moment statt, als Lenin die Sowjets zum Fundament des Staates machte. Die Befreiung von den Fesseln des Politischen Prinzips d. h. des Macht-Zentralismus sei der russischen Revolution nicht gelungen, sondern das Gegenteil: »das politische Prinzip etablierte sich neu, in gewandelter Gestalt, allmächtig« 150 . Die UdSSR sei heute, laut Buber, ein ungeheurer, unerbittlich zentralisierter Komplex, ein Mechanismus von bürokratisch geleiteten Anstalten für Produktion und Konsum. Im Begriff des »Mehrstaats« formuliert Buber seine schärfste Kritik sowohl an Marx als auch an Kropotkin. Die Philosophie des ersteren habe zur Hegemonie des Politischen und zu autoritärem Zentralismus geführt: »Der politische Akt der Revolution blieb [für Marx] das im wesentlichen allein Anzustrebende, die politische Vorbereitung dazu – erst die direkte, sodann die parlamentarische und gewerkschaftliche – die allein wesentliche Aufgabe, und damit wurde das politische Prinzip das zu oberst bestimmende«. 151

In seiner Kritik an Kropotkin wird deutlich, dass Buber seinen Anarchismus revidiert hat. Jenseits des Staats als machina machinarum, in dem die Gesellschaft durch den Staat und seine zentralistisch-unbedingte Herrschaft aufgehoben ist, soll es nun den Staat als communitas communitatum 152 geben. Statt für »Anarchie« (Regierungslosigkeit) plädiert Buber für eine »Akratie«, d. h. für Herrschaftslosigkeit. Er formuliert so eine wichtige Unterscheidung zwischen übermäßigem und rechtmäßigem, d. h. zwischen überflüssigem und notwendigem Staat: »nicht mehr Staat als unentbehrlich, nicht weniger Freiheit als zulässig. Und Freiheit heißt, sozial betrachtet, vor allem Freiheit zur Gemeinschaft, freie, vom staatlichen Zwang unabhängige Gemeinschaft.« 153 Ein gewisser Anteil von Staat werde immer gegeben sein. Es gehe aber darum, 149. 150. 151. 152. 153.

Ebd., S. 179; jetzt in MBW 11.2, S. 219. Ebd., S. 197; jetzt in MBW 11.2, S. 230. Ebd., S. 163 f.; jetzt in MBW 11.2, S. 210. Ebd., S. 70; jetzt in MBW 11.2, S. 156. Ebd., S. 176; jetzt in MBW 11.2, S. 217.

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den Mehrstaat zu beschränken, zu vermeiden und zu bekämpfen. Schließlich ist »das Ziel des sogenannten utopischen Sozialismus […], den Staat in einem so weitgehenden Maße als möglich durch die Gesellschaft zu ersetzen.« 154 Eine solche Konzeption von Staat kann – in einem idealen Gespräch mit Landauer – als eine »akratische« statt eine »anarchistische« redefiniert werden, wie A. Kohanski vorgeschlagen hat, »We may designate Buber’s concept of the state as an anocracy. […] It means a ›non-dominance‹ (a-kratia) rather than a ›non-government‹ (an-archia), not the abolition of the state but a curbing of its oppressive power. Where such power comes from and how it is to be counteracted is the key problem in Buber’s way of restructuring society.« 155

Dialog als Konfrontation und geistiger Widerstand: die NS-Jahre

Es fällt heutzutage schwer, sich vorzustellen, dass Martin Buber in der Zeit der Weimarer Republik eine hoch charismatische und berühmte Figur gewesen ist. Sein Einfluss auf die jüngere Generation war bedeutend, 156 und er wurde von vielen christlichen Theologen hochgeschätzt. 157 Mit ihnen führte er zahlreiche Debatten. Für den vorliegenden Band konnte eine beträchtliche Anzahl unveröffentlichter Texte versammelt werden, die aus den Jahren der Weimarer Republik stammen. 158 In ihnen äußert sich Buber sowohl zu aktuellen Situationen als auch – oft 154. Ebd., S. 137; jetzt in MBW 11.2, S. 195. 155. Alexander S. Kohanski, Martin Buber’s Restructuring of Society into a State of Anocracy, Jewish Social Studies 34 (1972), S. 42-57, hier S. 51. Šapîrâ behauptet, dass die anarchistischen Neigungen in Bubers Schriften nie völlig überwunden worden seien. Vgl. Avrāhām Šapîrâ, Werdende Gemeinschaft und die Vollendung der Welt, S. 449. 156. Vgl. Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000. 157. Vgl. Martin Leiner, Gottes Gegenwart; Karl-Josef Kuschel, Martin Buber. Seine Herausforderung an das Christentum, Gütersloh 2015. 158. Martin Buber, Martin Buber Abende (1923), MBA Arc. Ms. Var. 350 47d; jetzt in diesem Band, S. 184-206; ders., Erziehung und Volkstum (1928), MBA Arc. Ms. Var. 350 007 070; jetzt in diesem Band, S. 224-229; ders., Religion und Volkstum (1928), MBA Arc. Ms. Var. 350 007 043; jetzt in diesem Band, S. 233-246; ders., Religion und Autorität (1928), MBA Arc. Ms. Var. 350 007 043; jetzt in diesem Band, S. 247-263; ders., [Religion und Politik] (Gespräch) (1929), MBA Arc. Ms. Var. 350 007 43a; jetzt in diesem Band, S. 268-299; ders., Religion und Politik (Vortrag) (1931), MBA Arc. Ms. Var. 350 007 43a; jetzt in diesem Band, S. 364-377; ders., Individuum und Person – Masse und Gemeinschaft, MBA Arc. Ms. Var. 350 47d/ alef; jetzt in diesem Band, S. 351-363; ders, Aus einem Rundfunk-Dreigespräch über »Religion und Gemeinschaft«, MBA Arc. Ms. Var. 350 bet 40f; jetzt in diesem Band, S. 384-386.

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im Zeichen des polemos – zu Gegnern, die sich mehr oder weniger offenkundig zur NSDAP bekannten, und erweist sich damit als ein dialogischer Mensch. Seine Ich-Du-Philosophie zeigt hierin einen ihrer tiefgründigsten Aspekte: Dialog bedeutet nämlich auch, sich der Konfrontation mit dem Gegner zu stellen, wie es in Schriften wie Die Frage an den Einzelnen heißt. 159 1931 wurde Buber von dem Tübinger Professor Jakob W. Hauer (1881-1962) zum Kongress der Gruppe Kommende Gemeinde eingeladen, und hielt dort den Vortrag »Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee«. Auch im darauffolgenden Jahr erhielt Buber eine Einladung anlässlich einer Tagung zum Thema »Die geistigen und religiösen Grundlagen einer völkischen Bewegung«, die in Kassel zwischen dem 2. und 7. Januar, am Vorabend der Machtergreifung Hitlers, stattfand. In diesem Rahmen hielt Buber den Vortrag »Israel und die Völker«. 160 Die Judenfrage wurde damit in Gegenwart der Vertreter der nationalsozialistischen Ideologie gestellt. Die Thesen des Vortrags setzen die Überlegungen fort, die Buber seit Der heilige Weg entwickelt hatte, und wenige Monate zuvor noch in die gelehrte Monographie Königtum Gottes (1932) geflossen waren – allen voran die Definition einer Theopolitik. Israel wird als eine Nation sui generis dargestellt, die aus dem königlichen Pakt zwischen Gott und Jakob entstanden sei. Der erste Führer (hier wie auch in anderen Schriften jener Zeit verwendet Buber diesen Begriff bedenkenlos) 161 Israels sei Gott selbst, und erst in der Folge wird 159. Martin Buber, Die Frage an den Einzelnen, Berlin: Schocken 1936; jetzt in: MBW 4. 160. Martin Buber, Israel und die Völker, MBA Arc. Ms. Var 350 53-S; jetzt in diesem Band, S. 388-411. 161. Der Begriff Führer, der in der Sprache des Dritten Reiches eine zentrale Rolle bekommen wird, findet sich in diversen Schriften Bubers der Zeit vor 1933. Im vorliegenden Band findet er sich im Titel einer zu Ehren Landauers gehaltenen Rede aus dem Jahr 1920 (»Der heimliche Führer«). In Der heilige Weg, einem im Jahr zuvor gehaltenen Vortrag, erwähnt Buber »die Führer des Judentums« (jetzt in diesem Band, S. 127). Schließlich steht der Terminus im Zentrum von »Volk und Führer« aus dem Jahr 1940. Hierin wird der Bezug zu Weber deutlich zum Ausdruck gebracht: »Max Weber hat das Geheimnis der Wirkung eines Führers auf die Geführten als Charisma, Gnadengabe, bezeichnet; aber es gibt etwas, was ich negatives Charisma nennen möchte.« (Martin Buber, Volk und Führer (1942); in: ders., Hinweise. Gesammelte Essays, Zürich: Manesse 1953, S. 294-312, hier S. 309; jetzt in: MBW 11.2, S. 285-296, hier S. 294.) Der Text basiert auf dem Gegensatz zwischen Lehrer und Führer, und zwar zu einem historischen Zeitpunkt, als »die erfolgreiche Führung ohne Lehre […] nahe daran [ist], alles, um dessen willen das Leben als Menschen uns lebenswert erschien, zu zerstören.« (Ebd., S. 295; jetzt in: MBW 11.2, S. 285.) Laut Buber folgen die Massen gerne einem Führer und damit jemandem, der ihnen einen Weg aufzeige und vorangehe, in einer Zeit, in der der Glaube an die Wahrheit zerschlagen sei und Verzweiflung herrsche. Er schreibt: »Wenn es den Führer nicht gäbe, würde man keinen Weg vor sich sehen« (ebd.,

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diese Aufgabe einem seiner Statthalter übertragen. Dieser stelle zum einen die Zweitrangigkeit eines jeden irdischen Führers unter Beweis und bestätige zum anderen die universelle Aufgabe Israels, ein heiliges Volk zu sein, das die Verbrüderung aller Völker aufzuzeigen vermag. Die theokratische Idee des antiken Israel beeinflusse also, so Buber, alle folgenden Reichsformen, bis hin zum Christentum und darüber hinaus. In einem solchen Zusammenhang versucht der Philosoph seinen religiösen und libertären Sozialismus in Einklang mit seinem Zionismus zu bringen. Dies mit dem Ergebnis eines universalistischen, eschatologischen und messianischen Nationalismus. 162 Als paradigmatisch kann in diesem Zusammenhang folgende Bemerkung gelten: »Jedes Volk ist auserwählt.« 163 Es muss wohl kaum betont werden, wie heikel und gewagt es war, diese Themen in einem solchen Kontext zu besprechen. Als Buber am 14. Januar 1933 den Vortrag »Kirche, Staat, Volk, Judentum« 164 hält, trifft er auf den sozialdemokratischen Theologen Karl L. Schmidt (1891-1956). Im Sommer des darauffolgenden Jahres finden dann die Debatten mit Emil Brunner (1889-1966) und vor allem mit dem Antisemiten Gerhard Kittel 165 (1888-1948) statt. Diese, wenn man so will, dialogische Konfrontation bleibt für Buber nicht ohne ernsthafte Konsequenzen. Im Laufe des Jahres 1933 wird Buber von der Gestapo in seinem Haus in Heppenheim aufgesucht (7. März 1933) und man entzieht ihm die Lehrbefugnis (25. April 1933, offiziell ab dem Wintersemester 1933/ 34). 166 Er verliert darüber jedoch nicht den Mut. Mit der Wiedereröffnung des Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt im November desselben Jahres, kurze Zeit nach Beginn des Wintersemesters, und mit der Leitung der

162. 163. 164.

165. 166.

S. 297; jetzt in: MBW 11.2, S. 286 f.). Dies ist eine der extremsten Konsequenzen jener Flucht aus der Verantwortung, die er immer wieder schon zu Zeiten der Weimarer Republik denunziert hatte. Vgl. Stefano Franchini, Imbarazzi teologico-politici alle soglie della dittatura, in: Martin Buber, Israele e i popoli. Per una teologia politica ebraica, Brescia 2015, S. 52. Buber, Israel und die Völker, jetzt in diesem Band, S. 402. Martin Buber, Kirche, Staat, Volk, Judentum, Theologische Blätter 9 (1933), Sp. 257274; jetzt in: MBW 9, S. 145-168. Vgl. Peter von der Osten-Sacken, Begegnung im Widerspruch. Text und Deutung des Zwiegesprächs zwischen Karl Ludwig Schmidt und Martin Buber im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart am 14. Januar 1933, in: ders. (Hrsg.), Leben als Begegnung. Ein Jahrhundert Martin Buber (1878-1978). Vorträge und Aufsätze, Berlin 1978, S. 116-144; Nunzio Bombaci, Ebraismo e cristianesimo a confronto nel pensiero di Martin Buber, Neapel 2001. Martin Buber, Offener Brief an Gerhard Kittel und Zu Gerhard Kittels »Antwort«, Theologische Blätter 8 (1933), Sp. 248-250 u. 12 (1933), Sp. 370 f.; jetzt in: MBW 9, S. 169-174. Vgl. Dominique Bourel, Martin Buber, S. 445-449.

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Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung bei der Reichsvertretung der deutschen Juden (1934-1938) wurde er zum unbestrittenen Lehrer des Judentums in Deutschland zwischen 1933 und 1938, 167 zum aktiven Förderer seines wahrhaftigen geistigen Widerstandes, welcher auch – wie er schon seit 1926 vorausgesehen hatte, 168 – seine Lektüren und die Verdeutschung der Schrift bestimmt. Texte wie »Zur Ethik der politischen Entscheidung«, »Politik aus dem Glauben« und »Erkenntnis tut not« 169 verdeutlichen das auf paradigmatische Art und Weise. Zur gleichen Zeit verfasst Buber zahlreiche Artikel für die Jüdische Rundschau. Darunter verdienen zwei im April 1933 veröffentlichte Texte besondere Beachtung: »Der jüdische Mensch von heute« und »Das Erste«. 170 Aus dem ersten stammen die weitsichtigen Worte: »Der Jüdische Mensch von heute ist der innerlich ausgesetzteste Mensch unserer Welt.« 171 Der zweite beschreibt, wie die deutschen Juden mit dem jüdischen Weltschicksal konfrontiert werden. Durch diese Konfrontation werden sie entweder als Zerschlagene oder als Erhobene leben. Buber versteht das als »eine Feuerprobe des Judentums« 172 . Es geht darum, der neuen, unsicheren und erschütternden Situation standzuhalten. Laut E. Wiehn erkannte Buber, dass »das Volk […] durch seinen Glauben neu konstituiert werden [musste]. Um zu überleben, sollte es wieder zu dem werden, was es früher einmal war: Elementare Einheit von Individuum, Gesellschaft, Land und Religion.« 173 Eine solche organische Kon167. Vgl. Ernst Simon, Aufbau im Untergang. Jüdische Erwachsenenbildung im nationalsozialistischen Deutschland als geistiger Widerstand, Tübingen 1959; Robert Weltsch, Nachwort, in: Hans Kohn, Martin Buber, S. 416-426; Rivka Horwitz, Buber als Lehrer und Erzieher der deutschen Juden zur Zeit des Nationalsozialismus, in: Martin Buber (1878-1965), Bd. 1, S. 96-115; Martha Friedenthal-Haase u. Ralf Koerrenz (Hrsg.), Martin Buber: Bildung, Menschenbild und hebräischer Humanismus, Paderborn u. a. 2005. 168. Vgl. Martin Buber, Der Mensch von heute und die jüdische Bibel, in: ders. u. Franz Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin: Schocken Verlag 1936, S. 13-45; jetzt in: MBW 14, S. 38-55. Vgl. auch Ilaria Bertone, La parola parlata. Martin Buber interprete e traduttore della Bibbia, Turin 2012, S. 209-349. 169. Martin Buber, Zur Ethik der politischen Entscheidung, Neue Wege 3 (1933), S. 111115; jetzt in diesem Band, S. 412-415; ders., Politik aus dem Glauben, Der Aufbau, 41 (1957), S. 321-323; jetzt in: MBW 11.2, S. 327-331; ders., Erkenntnis tut not, in: Almanach des Schocken-Verlags auf das Jahr 5696, Berlin: Schocken 1935, S. 11-14; jetzt in diesem Band, S. 417 f. 170. Martin Buber, Der jüdische Mensch von heute, in: Almanach des Schocken Verlags auf das Jahr 5694, Berlin: Schocken Verlag 1933, S. 5; jetzt in: MBW 20, S. 101; ders., Das Erste, Jüdische Rundschau 32 (1933), S. 153; jetzt in: MBW 20, S. 94-95. 171. Martin Buber, Der jüdische Mensch von heute, S. 5; jetzt in: MBW 20, S. 101. 172. Ders, Das Erste, S. 153; jetzt in: MBW 20, hier S. 94. 173. Erhard R. Wiehn, Martin Buber als Soziolog. 1878-1965-2008. Juden in der Soziologie, Konstanz 2008, S. 27.

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zeption des Volkes findet einen deutlichen Ausdruck in »Politik aus dem Glauben«. 174 Mit einer gewissen Selbstzensur deklariert Buber dort, dass seine Rede nicht von der politischen Situation des Judentums handeln solle, sondern vom jüdischen Glauben. Die Thesen, die Buber hier vertritt, haben dennoch eine deutlich politische Konnotation. Dieser Glaube ist für ihn das, was das Volk als solches konstituiere – und zwar nicht als ein Teil des Lebens, sondern in seiner Ganzheit, wie es in Zwiesprache heißt. 175 Es gehe nicht um ein »festgelegtes, ein für allemal formuliertes Gesetz, sondern nur [um] das Wort Gottes und unsere jeweilige Situation, die wir abzulauschen haben« 176 . In einer solchen Situation müsse die Verwirklichung Gottes beginnen, jenseits der Trennung von Religion und Politik als gesonderter Bereiche des Lebens; darin bestehe der Totalitätsanspruch eines wahrhaftigen Glaubens. Es geht hier nochmals um eine Theopolitik, in der Gott als einziger echter König gilt. Bereits am Sinai, so Buber, wollte das jüdische Volk »eine Gemeinschaft errichten, deren realer Herrscher der Herr ist«; das Gottesherrschertum gilt deswegen, wie er bereits im Gespräch mit Ragaz formulierte, als »eine Staatsverfassung, in der Gott allein Königsrecht hat« 177 . Das impliziert eine »bestimmte Art der Teilnahme am öffentlichen Leben, bei der wir mitten in der Auseinandersetzung mit Welt und Politik den Blick auf das Gottesreich hin gerichtet halten«, und es gibt dann »keine politische Partei, die behaupten könnte, daß nur sie von Gott gewollt sei«. 178 Doch habe der gefürchtete Kollektivismus inzwischen die Macht ergriffen, und damit vielen Einzelnen die politische Verantwortung abgenommen. 179 Diese müsse aber durch mehr als den bloßen Anschluss an eine politische Gruppe begründet werden. Ein solcher Anschluss führe, laut Bubers Text »Zur Ethik der 174. Vgl. Hans-Joachim Kraus, Glaube und Politik bei Martin Buber, in: Studia biblica et semitica (1966), S. 181-192; ders., Von der Verantwortung des Glaubens im politischen Leben. Gedanken Martin Bubers zum Thema »Glaube und Politik«, in: Dialog mit Martin Buber, S. 125-141. 175. Martin Buber, Zwiesprache, Berlin: Schocken 1932; jetzt in: MBW 4. 176. Martin Buber, Politik aus dem Glauben, S. 323; jetzt in: MBW 11.2, S. 330. 177. Ebd., S. 322; jetzt in MBW 11.2, S. 327. 178. Ebd., S. 323; jetzt in MBW 11.2, S. 330. 179. Noch in »Über den ›bürgerlichen Ungehorsam‹« finden wir diese Thesen. Gegenüber einer wahrheitsfeindlich gewordenen Macht ungehorsam zu sein, bestimmt Buber als Pflicht des Menschen als Mensch bzw. als die Übernahme seiner eigenen Verantwortung. Jeder Cäsar d. h. jede geschichtliche Macht ist für Buber Gott untergeben. Ungehorsam gegenüber den irdischen Mächten bedeutet dann für Buber »Gehorsam einer höheren Instanz gegenüber« (Martin Buber, Nochmals über den »bürgerlichen Ungehorsam«, in: ders., Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 215-217, hier S. 215; jetzt in: MBW 11.2, S. 373 f., hier S. 373).

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politischen Entscheidung«, lediglich zum Verzicht auf die eigene Entscheidung, d. h. zu einer Flucht aus der individuellen Verantwortung. Für den gläubigen Menschen gleiche diese Haltung zudem einem Sturz aus dem Glauben. Auch hier formuliert Buber, anhand der Figur des gläubigen Menschen, seine theopolitische Herausforderung an den Hitlerismus: »unter dem ›gläubigen‹ Menschen verstehe ich keinen anderen als jenen, der sich dem Einen Seienden, Gott, angelobt hat; glauben ist geloben« 180 . Buber bestimmt hier in einer unversöhnlichen Antithese den Glauben »an eine Sache, an ein Volk, ein Reich und an eine Partei« als Baal eines Pantheons, letztendlich als Götzen. Mutig und explizit schreibt er: »man erklärt heute freilich auch gern, man glaube ›an den Führer‹« 181 . Dieser gilt für ihn als die höchste Form des Glaubens an einen menschlich verkörperten Götzen, d. h. als die größte Form von Selbstbetrug. Gott zu dienen, stehe jenseits jedes Programms, jedes Beschlusses, jedes Befehls und Erfolges der Gruppe. Es gehe um den schmalen Grat der eigenen Verantwortung. Sich diese Verantwortung von einer Gruppe abnehmen zu lassen, bedeute aber, sich das eigene Glaubensverhältnis zu Gott abnehmen zu lassen: »Wer einem Führer vertraut, mag ›sich‹ ihm anvertrauen, seine leibliche Person; seine Verantwortung nicht.« 182 Das Führerprinzip Gottes wurde noch nie so stark als Widerspruch zum Führertum Hitlers dargestellt. Diese Hauptthesen aus »Zur Ethik der politischen Entscheidung« wurden einige Jahre später in Die Frage an den Einzelnen (1936) vertieft. In der Auseinandersetzung mit Denkern wie Max Stirner (1806-1856), Søren Kierkegaard (1813-1855), Carl Schmitt (1888-1985), Oswald Spengler und Friedrich Gogarten werden die Gefahren des Individualismus wie die des Kollektivismus mutig und überzeugend aufgezeigt. Die Frage wird an den Einzelnen gestellt, da für die Person die enorme Gefahr besteht, dass sie »kollektiviert« wird 183 . Die Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Familie, einer Gesellschaft, einer Berufsgruppe, einer Gesinnungsgemeinschaft etc., war durch die Verleihung eines Primats einer Kollektivität zur Hörigkeitslehre überspannt und letztlich pervertiert worden. Damit werde der den Menschen konstituierende Wert gefährdet, d. h. sein gemeinschaftliches verantwortliches Dasein. Buber konstatiert deswegen eine »Krisis des Menschen, die wir in dieser Stunde

180. Martin Buber, Zur Ethik der politischen Entscheidung, S. 13; jetzt in diesem Band, S. 412. 181. Ebd. 182. Ebd., S. 15; jetzt in diesem Band, S. 414. 183. Martin Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 97 (jetzt in: MBW 4).

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Einleitung 184

erfahren« . Diese Krise wird unter anderem durch Schriften wie Das Problem des Menschen (1947) und Pfade in Utopia bis hin zu dem Aufsatz »Hoffnung für diese Stunde« (1952) 185 zu einem Topos seiner sozialen Philosophie. Deren Wurzeln liegen in der Gegenüberstellung von Individualismus und Kollektivismus, bzw. in der Schwierigkeit, einen dritten Weg der Gemeinschaft zu finden. Wie schon in »Gandhi, die Politik und wir« zeigt sich hier die entscheidende Differenz zwischen politischer Theologie (Schmitt) und Theopolitik (Buber). Mit den Worten Samuel Brodys: »if political theology deploys the power of the divine in the service of the authoritarian state, theopolitics denies any possibility whatsoever of legitimizing institutional human power. If political theology borders on the fascistic, theopolitics is its anarchistic antipode.« 186 Die Welt schenkt aber inzwischen den Appellen des deutschen Juden kaum mehr Gehör, dessen Situation mit den Nürnberger Gesetzen (September 1935) immer schwieriger wird. In »Erkenntnis tut not« bekannte Buber bereits einige Monaten zuvor: »Es gibt den Raum nicht mehr, in dem wir zu den andern sprechen und von ihnen vernommen werden können. Es gibt den Dialog nicht mehr.« 187 Die Gewalt gegen die Juden eskalierte schnell und unerbittlich. Im Zuge der Reichspogromnacht wurden Texte wie der »Brief an Gandhi«, 188 »Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose« und »Sie und wir« 189 geschrieben. In einem am 26. November 1938 in der Zeitschrift Harijan veröffentlichten Artikel hatte Gandhi (1869-1948) seine Sympathie für die Juden als die Parias der christlichen Welt kundgetan, wenngleich er deren Migration nach Palästina skeptisch gegenüberstand. Er riet ihnen daher zu zivilem Un184. Ebd., S. 93 Das Thema ist bereits 1919 in »Die Ueberwindung« (MBA Arc. Ms. Var. 350 007 071; jetzt in diesem Band, S. 114) zu finden. Buber betrachtet den Ersten Weltkrieg als Ausbruch der Krisis. 185. Martin Buber, Hoffnung für diese Stunde, Merkur 8 (1952), S. 711-718; jetzt in: MBW 11.2, S. 275-282. 186. Brody, Is Theopolitics an Antipolitics?, S. 66. Vgl. Gregory Kaplan, Power and Israel in Martin Buber’s Critique of Carl Schmitt’s Political Theology, in: Judaism, Liberalism, and Political Theology, hrsg. von Randi Rashkover u. Martin Kavka, Bloomington 2014, S. 155-177. 187. Martin Buber, Erkenntnis tut not, Almanach des Schocken-Verlags auf das Jahr 5696, Berlin: Schocken 1935, S. 11-14, hier S. 13; jetzt in diesem Band, S. 417 f.. 188. Martin Buber, Brief an Gandhi, Zürich: Die Gestaltung 1939; jetzt in: MBW 21. Vgl. Ramana Murti, Buber’s Dialogue and Gandhi’s Satyagraha, Journal of the History of Ideas 4 (1968), S. 605-613; Christian Bartolf (Hrsg.), Wir wollen die Gewalt nicht. Die Buber-Gandhi-Kontroverse, Berlin 1998; Arnold Köpcke-Duttler (Hrsg.), Buber-Gandhi-Tagore: Aufforderung zu einem Weltgespräch, Berlin 1989. 189. Martin Buber, Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose, Jüdische Welt-Rundschau 1 (1939), S. 5; jetzt in: MBW 11.2, S. 24-26; ders., Sie und wir, in: JuJ, S. 648-654; jetzt in: MBW 11.2, S. 340-345.

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gehorsam und zur Gewaltlosigkeit gegenüber der Unterdrückung durch die Nationalsozialisten. In seinem »Brief« bezieht Buber sich explizit auf die Brandlegungen in Synagogen und auf die Konzentrationslager, auf die Torturen, denen die Juden zum Opfer fielen und auf den völligen Entzug ihrer Menschenrechte. Er äußert sich irritiert über den Vorschlag, die Satyagraha im Kontext der nationalsozialistischen Judenverfolgung anzuwenden, und stellt sich die Frage, ob ein gewisser Grad an Gewalt nicht unausweichlich oder notwendig sei. 190 In »Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose« kennzeichnet Buber die Geschichte der Galuth als eine der »vollkommene[n] Labilität« 191 , die gerade mit der Zerstörung des deutschen Judentums und der Zersetzung einer solchen Symbiose endet. Buber glaubte an einen großen und echten Bund zwischen dem deutschen und jüdischen Geist, aber mit der Kristallnacht – so schreibt er in »Sie und wir« – habe der Verrat eines Staates gegenüber seinen eigenen jüdischen Bürgern stattgefunden. 192 Folgerichtig ermutigt Buber zum aktiven Widerstand gegen Hitler und stellt diesen als den Krieg Gottes gegen das Reich des Frevels, gegen Amalek, dar. Doch die Gewalt in der Realgeschichte eskalierte äußerst schnell. Im September 1939 löste Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg aus, in dessen Zuge die sogenannte Endlösung der Judenfrage mit der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 Gestalt annahm. Im Dezember desselben Jahres gründen Buber, Rabbi Binyamin (Pseudonym für Yehoschuha Radler-Feldmann; 1880-1957), Jehuda Magnes (18771948), Hugo Bergmann, Samuel Agnon (1888-1970) und weitere Mitglieder die Gruppe Al-Domi. 193 Ihr Motto von damals ist ein Hilferuf an die Öffentlichkeit, die Situation der Juden in Deutschland und Europa zu verstehen: »Gott, nimmer Stillbleiben dir! du sollst nimmer schweigen, sollst nimmer rasten, Gottherr!« (Psalm 83,2). Die Gruppe konstituierte sich, um Möglichkeiten zur Rettung der europäischen Juden ausfindig zu machen und trug dazu bei, dass die Idee einer Material- und Zeugnissammlung Form annahm, die später zu Yad Vashem werden sollte.

190. Vgl. auch Martin Buber, Zum Problem »Politik und Moral«, in: ders., Ein Land und zwei Völker, hrsg. und eingel. von Paul Mendes-Flohr, Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1983, S. 226-231; jetzt in: MBW 21, S. 203-206. 191. Martin Buber, Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose, S. 5; jetzt in: MBW 11.2, S. 24. 192. Martin Buber, Sie und wir, S. 648; jetzt in: MBW 11.2, S. 340. 193. Vgl. Dina Porat, Martin Buber in Eretz-Israel during the Holocaust Years, 19421944, Yad Vashem Studies 17 (1986), S. 93-144.

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Im Zentrum eines Textes Bubers von 1944, »Schweigen und schreien«, 194 steht die Bewusstmachung der Shoah. Mit diesem Schrei unterbricht Buber sein fünf Jahre andauerndes Schweigen über diesen Gegenstand. Er schreibt: »die Massen unseres Volkes« sind »in die Gewalt ihrer Todfeinde« geraten; es geht um eine »Katastrophe, […] [die] unermeßlich größer ist als jede andere in unserer Geschichte.« 195 Ihm fehlt die Vorstellungskraft, um überhaupt nur darüber sprechen zu können, die Fähigkeit, sich die Wirklichkeit einer solchen Katastrophe auch nur zu vergegenwärtigen. Doch es handelt sich dabei um etwas so Ungeheures, dass keinesfalls ignoriert werden darf. Mit dem Schweigen beginnt »die Geschichte der Einstellung der jüdischen Siedlung zur Katastrophe. […] Nach dem Schweigen kam das Geschrei.« 196 Richard Rubinstein (geb. 1924) hat sich wie folgt ausgedrückt: »Buber’s silence on the Holocaust« müsse als ein »theological issue« betrachtet werden und sogar als »indifference to the Holocaust as a religious problem« 197 . Dieses drastische Urteil kann man nur allzu gut nachvollziehen, wenn man bedenkt, dass er sich vor allem auf Gottesfinsternis 198 stützt, ein Werk, in dem Buber die Shoah nicht direkt anspricht, obwohl man genau das von ihm erwartet hätte. Betrachtet man jedoch den neueren Zyklus der Reden über das Judentum aus An der Wende, muss man hier zu einem anderen Urteil kommen. Hierin, immer noch Anfang der fünfziger Jahre, hatte Buber bereits die Frage nach der Möglichkeit einer Theologie-nach-Auschwitz par excellence formuliert: »In dieser Zeit wird gefragt und gefragt: Wie ist nach Auschwitz ein jüdisches Leben möglich? Ich möchte diese Frage richtiger fassen: Wie ist in einer Zeit, in der es Auschwitz gibt, noch ein Leben mit Gott möglich? Die Unheimlichkeit ist zu grausam, die Verborgenheit zu tief geworden.« 199

194. Martin Buber, Schweigen und schreien, in: JuJ, S. 655-658; jetzt in: MBW 11.2, S. 346-349. 195. Ebd., S. 655; jetzt in: MBW 11.2, S. 346. 196. Ebd., S. 656; jetzt in: MBW 11.2, S. 347. 197. Vgl. Richard L. Rubenstein, Buber and the Holocaust. Some Reconsiderations on the 100th Anniversary of His Birth, Michigan Quarterly Review 3 (1979), S. 382-402. Vgl. auch David Forman-Barzilai, Agonism in Faith. Buber’s Eternal Thou After the Holocaust, Modern Judaism 2 (2003), S. 156-179. Yoram Lubling, Buber and the Holocaust: Hero or Fool, Studies in Jewish Civilization 6 (1995), S. 239-250. Jerry D. Lawriston, Martin Buber and the Shoah, in: Martin Buber and the Human Sciences, hrsg. von Maurice Friedman, Albany 1996, S. 295-312. 198. Martin Buber, Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie, Zürich: Manesse 1953; jetzt in: MBW 12, S. 359-444. 199. Martin Buber, An der Wende. Reden über das Judentum, Köln: Jakob Hegner 1952, S. 105 f.; jetzt in: MBW 20, S. 319-353, hier S. 352.

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Solcherlei Fragen stellen das aufrichtige Zeugnis dafür dar, wie tief und dramatisch die Wunden waren, die durch die Shoah in Buber geschlagen wurden, wenn sie sogar die Versöhnung zwischen Menschlichem und Göttlichem in ihm in Frage zu stellen vermochte. Diese Wunden werden ihn aber – wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird – nicht daran hindern, einen unmöglichen Dialog wiederzueröffnen: den mit dem deutschen Volk.

The Builder of Bridges. Frieden denken, Versöhnung bereiten

Die Frage nach einer Versöhnung mit Gott nach Auschwitz wird in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von Bubers Engagement für die Versöhnung zwischen Juden und Deutschen und zwischen Israelis und Palästinensern begleitet, sowie von seinen intensiven Bemühungen, in der Zeit des sogenannten Kalten Krieges, Frieden zu denken und möglich zu machen. Der Einsatz für eine Versöhnung auf mehreren Ebenen charakterisiert die beiden letzten Jahrzehnte des Lebens Bubers. Eine treffende Synthese dessen bietet das vom Freund und Schüler Ernst Simon (18991988) geprägte Epitheton aus »Builder of Bridges«, das hier in der Beschreibung Laurence Silbersteins wiedergegeben sei: »Martin Buber’s friend and disciple Ernst Simon referred to Buber as ›Gosher HaG’sharim,‹ ›a builder of bridges.‹ This most appropriate metaphor conveys the image of one who devoted his life and thought to traversing the chasms which separate the realms of thought and culture from one another, to healing broken relationships between individuals as well as groups, and to restoring unity and wholeness to the lives of persons. Throughout his life, Buber dedicated himself to overcoming the estrangement dividing person from person, person from God, person from his socio-cultural world, the Jew from Judaism, Jew from Christian, Jew from Arab, and nation from nation. In fact, Buber’s writings could be appropriately described as one of the most significant attempts in modern times to combat the alienating conditions of modern life, and to help people in general and the Jew in particular recover a sense of meaning, rootedness, sanctity, and wholeness in their lives.« 200

Schon in »Sie und wir« hatte Buber zwischen dem deutschen Staat und dem deutschen Volk unterschieden, und so eine entscheidende Distinktion angewandt, um nicht die Deutschen an sich zum Feind zu erklären. 200. Laurence J. Silberstein, Martin Buber. The Social Paradigm in Modern Jewish Thought, Journal of the American Academy of Religion 2 (1981), S. 211. Vgl. KarlJosef Kuschel, Leben ist Brückenschlagen. Vordenker des interreligiösen Dialogs, Stuttgart-Ostfildern 2011, S. 403-435.

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Somit schuf er inmitten der systematischen Vernichtung des europäischen Judentums durch den Nationalsozialismus unabdingbare Voraussetzungen für eine Versöhnung mit Deutschland. 201 Dasselbe Argument kehrt in dem grundlegenden Text wieder, den er im September 1953 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vorgetragen hat, und mit dem der Philosoph das Gespräch mit den Deutschen wiedereröffnet hat: »Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens«. 202 Diese Rede hielt Buber zwei Jahre nach der Verleihung eines anderen wichtigen Preises: des Hansischen Goethe-Preises der Stadt Hamburg, aus welchem Anlass er den Text »Geltung und Grenzen des politischen Prinzips« 203 vorgetragen hatte. In beiden Fällen löste er damit in Israel eine rege Polemik aus. Buber spendete die Preisgelder an die Zeitschrift Ner und an diverse Initiativen zur Versöhnung mit den palästinensischen Arabern und entfachte damit den zweifachen Zorn der konservativen Gruppierungen Israels, und nicht nur dort. 204 Obwohl die Wiedergutmachungsabkommen zwischen Israel und der BRD in ebendiesen Monaten unterzeichnet wurden (September 1952), hatten die beiden Nationen noch nicht wieder offiziell diplomatische Beziehungen aufgenommen. Auf diese musste man noch mehr als zehn Jahre warten (1965), ebenso wie auf den ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt (1963-65). Buber war damals einer der ersten jüdischen Intellektuellen, die bereit waren, nach der Shoah wieder in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen. Diese Geste und die Entgegennahme des Preises müssen als hochbedeutend für die frühe jüdisch-deutsche Verständigung angesehen werden. 205 Dieser Weg war weder leicht noch geradlinig. Einige Etappen sollen im Folgenden kurz umrissen werden. 201. Martin Buber, Sie und wir, S. 648 f.; jetzt in: MBW 11.2, S. 340 f. Die Versöhnung inmitten des Konflikts und nicht danach durchzuführen, darin besteht ein wesentlicher Unterschied, wie Susan Flämig und Martin Leiner zeigen: Reconciliation in the Middle of Dispute. Introduction to the Series, in: Societies in Transition. Latin America between Conflict and Reconciliation, hrsg. von Susan Flämig u. Martin Leiner, Göttingen 2012, S. 7-19. 202. Vgl. »Ich fühle mich in die Pflicht genommen, in jedem Volke, von dem aus Untaten – und seien sie noch so monströs – geschehen sind, grundsätzlich und nach Möglichkeit auch praktisch zwischen aktiv Schuldigen, passiv Schuldigen und Nichtschuldigen (ich sage nicht: Unschuldigen, das ist keiner) zu unterscheiden.« (Martin Buber, Zur Klärung, Mitteilungsblatt des Irgun Olej Merkas Europa 23 (1954), S. 6; jetzt in: MBW 9, S. 320-325; hier S. 322.) 203. Martin Buber, Geltung und Grenze des politischen Prinzips, in: ders., Hinweise. Gesammelte Essays, Zürich: Manesse 1953, S. 330-346; jetzt in: MBW 11.2, S. 297-306. 204. Vgl. Ben-Chorin, Zwiesprache mit Martin Buber, S. 76-84; S. 113-115; S. 119-120. 205. Vgl. Siegbert Wolf, »… vom Gebot einer Gerechtigkeit getrieben und das Herz von ihm bewegt«. Martin Buber und Deutschland nach der Shoah, in: Martin Buber neu gelesen, S. 213-252; Sonja Boos, Speaking the Unspeakable in Postwar Germany.

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Der Vortrag »Individualisms und Kollektivismus«, den er bei seinem Freund Hans Trüb (1889-1949) in der Schweiz hielt, bildet das erste öffentliche Gespräch Bubers im deutschsprachigen Raum nach Kriegsende. Darin erinnert sich Buber an die neun Jahre (1938-1947), in denen er von Europa abgeschnitten war – Jahre, die sowohl sein Gespräch mit den Menschen des Abendlandes unterbrochen als auch die Notwendigkeit einer Versöhnung, zuallererst mit sich selbst, geweckt hatten. 207 Buber möchte trotz alledem diesen Dialog wiederaufnehmen, und betont die Bedeutung seiner Reise als »etwas Wesentliches nach diesem Zeitunterbruch«. 208 Er ist positiv überrascht von der neuerlichen Aufgeschlossenheit und Bereitschaft der Deutschen zum Gespräch, sowohl zum Zuhören als auch deren Bereitschaft dazu, sich ihm gegenüber zu öffnen und sich nicht zurückzuhalten. Bubers erste Besuche Europas nach dem Krieg hatten ihn nach Frankreich, in die Niederlanden, nach Belgien, Schweden, Dänemark und Großbritannien geführt. Bemerkenswert ist, dass er Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch nicht besuchte. Als er seinen Freund und Verleger Lambert Schneider (1900-1970) trifft, der 1948 Das Problem des Menschen veröffentlicht, gelangt er zumindest bis an die deutsch-schweizerische Grenze bei Basel. 209 Darüber hinaus zeigt er einen gewissen Vorbehalt, Kontakt zu öffentlichen deutschen Institutionen, wie z. B. der Mainzer Akademie der Wissenschaft und Literatur, 210 aufzunehmen und weigert sich, öffentliche Reden zu halten, obwohl er bereit ist, einzelne Personen aus Deutschland zu treffen. Er fühlt sich nicht dazu bereit, auf die »Antlitzlosigkeit der deutschen Öffentlichkeit« (wie er sie nennt) zu treffen. 211 Ein Brief des Theologen Karl Heinrich Rengstorf

206. 207.

208. 209. 210. 211.

Toward a Public Discourse on the Holocaust, Ithaca 2014, S. 25-51; Abigail Gillman, »Seit ein Gespräch wir sind und hören können von einander«. Martin Buber’s Message to Postwar Germany, in: Nexus. Essays in German Jewish Studies, hrsg. von William Collins Donahue u. Martha B. Helfer, Bd. II, Suffolk 2014, S. 121-151. Martin Buber, Individualismus und Kollektivismus, MBA Arc. Ms. Var. 350 47c,1; jetzt in: MBW 11.2, S. 87-97. Vgl. »Es ist der Abend nach dem ›langen Tag‹, wie die Juden ihn nennen: nach dem ›Versöhnungstag‹. Ich habe mich mit niemand zu versöhnen gehabt, nur mit allen, zumal mir selber. Das ist nun doch endlich geschehn.« (Brief Bubers an Hermann Hesse (1877-1962) vom 16. September 1945. In: B III, S. 90). Martin Buber, Individualismus und Kollektivismus, jetzt in: MBW 11.2, S. 87. Lambert Schneider, Rechenschaft über vierzig Jahre Verlagsarbeit 1925-1965. Ein Almanach, Heidelberg 1965, S. 90. Vgl. Brief Martin Bubers an Alfred Döblin vom 26. April 1950. In: B III, S. 249. Vgl. Martin Buber, Nachtrag zu einem Gespräch, Die Neue Zeitung (München), Nr. 44 vom 21. Februar 1951, S. 7; jetzt in: MBW 21. Brief Martin Bubers an Bruno Snell vom 25. Januar 1952, in: B III, S. 310. In einem Brief an den katholischen Theologen Romano Guardini vom 12. Dezember 1952 weist Buber darauf hin, dass

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Einleitung

(1903-1992) vom 20. Mai 1950 überzeugt ihn, und schließlich willigt er ein, nach Deutschland zu reisen. 212 Der Vortrag, den er einen Monat später hält, findet in Münster vor einem kleinen Personenkreis am 31. Januar 1951 statt. Dies ist seine erste Rede in Deutschland nach mehr als zehn Jahren. Im selben Jahr erfährt er, dass er mit dem Hansischen Goethe-Preis ausgezeichnet wurde. Als Begründung für die Wahl werden nicht nur seine wissenschaftlichen Werke, sondern auch sein Handeln im Sinne einer authentischen Menschlichkeit hervorgehoben. Die entscheidende Akzentsetzung in dieser Phase bildet jedoch seine bereits erwähnte Rede »Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens«. Darin knüpft Buber die Frage der Versöhnung mit Deutschland an die des Friedens in der Zeit des Kalten Krieges an. Die Rede wurde in der Frankfurter Paulskirche gehalten, nach einer Laudatio von Albrecht Goes 213 (1908-2000) und einigen einführenden Worten des Bundespräsidenten Theodor Heuss (1884-1963). Außergewöhnlich viele junge Hörer fanden sich im Publikum, unter ihnen Jürgen Habermas (geb. 1929), der zu dieser Zeit noch Student war. 214 Buber wies in seiner Rede darauf hin, dass »das Ziel des Dialogs […] nicht nur das Ende des Krieges, ein Waffenstillstand sein [darf], sondern […] der Anfang des Friedens, eines friedlichen Zusammenlebens sein« muss. 215 Den Mitläufern des Nationalsozialismus gegenüber brachte Buber indes ein »erstaunliches Verständnis entgegen. Zudem wies er die These einer Kollektivschuld aller Deutschen weit von sich« 216 . Kein Wunder, dass dieser Vortrag »einen Beginn, nicht nur für Bubers eigenes Wirken in der Bundesrepublik, sondern auch für ein neues Miteinander zwischen Deutschen und Juden in diesem Lande« 217 markierte. In seiner Rede kritisierte

212. 213.

214. 215. 216. 217.

sich für ihn etwas verändert habe, und er sich wieder dazu bereit fühle, in Deutschland öffentlich zu sprechen (B III, S. 323). B III, S. 252 f. Albrecht Goes, Lebendige Legende. Martin Bubers Wagnis der Versöhnung durch Eifer, Geduld und Heiterkeit, Die Zeit 7 (1958), S. 6; ders., Erinnerungen an Martin Buber, Die neue Rundschau 79 (1968), S. 448-458; William Rollins u. Harry Zohn, Men of Dialogue. Martin Buber and Albrecht Goes, New York 1969; Helmut Zwanger, Albrecht Goes. Freund Martins Bubers und des Judentums. Eine Hommage, Tübingen 2008. Jürgen Habermas, A Philosophy of Dialogue, in: Dialogue as a Trans-disciplinary Concept, S. 49-60. Paul Mendes-Flohr, Der Dialog und die Möglichkeit des Friedens, in: Dialog, Frieden, Menschlichkeit, S. 17-24, hier S. 18. Siegbert Wolf, »… vom Gebot einer Gerechtigkeit getrieben und das Herz von ihm bewegt«, S. 222. Ernst Ludwig Ehrlich, Martin Buber (1878-1965), in: »Meinetwegen ist die Welt erschaffen«. Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums. 58 Por-

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Buber das Verständnis vom Frieden als bloßem Nichtkrieg: »Was man in der Geschichte Frieden nennt, ist ja nie etwas anderes gewesen als eine angstvolle oder illusionsselige Pause zwischen zwei Kriegen.« 218 Dem gegenüber wies er auf einen sogenannten »großen Frieden« hin. Außerdem warnte Buber vor der Gefahr der Unmöglichkeit, sich eine vereinte Menschheit, jenseits aller Fronten von Staaten und Völkern, vorzustellen, und erklärte – wie in »Hoffnung für diese Stunde« – das herrschende Misstrauen als Paradebeispiel für die Krise des Menschen und als mitbestimmende Ursache für den Krieg. 219 Die folgenden Jahre waren von zahlreichen Ehrungen und Anerkennungen geprägt, die Buber nicht nur aus dem deutschsprachigen Raum zuerkannt wurden. 220 Schließlich kommt es darüber hinaus zu bedeutsamen Begegnungen mit Martin Heidegger (1889-1976) und Paul Celan (19201970), und vor allem zu zwei großen Ereignissen: dem Besuch Theodor Heuss’ in Israel, der von Buber selbst eingeladen und willkommen geheißen wurde (Mai 1960), und dem Eichmann-Prozess (1961). Buber schätzte Heuss nicht nur als die am meisten in der Öffentlichkeit stehende Person – unter jenen Deutschen, zu denen er eine persönliche Verbundenheit ver-

traits, hrsg. von Hans Erler, Ernst Ludwig Ehrlich u. Ludger Heid, Frankfurt a. M. u. New York 1997, S. 25-40, hier S. 33. 218. Buber, Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens, S. 98. Die Idee einer »große[n] Pax« ist bereits in dem Aufsatz Bubers »Zwei Beiträge zur Klärung des Pazifismus« (in: Der Aufbau 37 [1939], S. 292-294, hier S. 293; jetzt in: MBW 11.2, S. 31-37, hier S. 32), kurz vor dem Anfang des Zweiten Weltkrieges geschrieben, zu finden, ebenso wie die Idee, dass Frieden mehr sein müsse als »Nichtkrieg«, bereits in dem Gespräch [»Religion und Politik«] zu finden ist (jetzt in diesem Band, S. 292). 219. Vgl. Francesco Ferrari, Frieden als Ars Videndi. »Inventing Peace« mit Martin Buber, in: Martin Buber Studien 3 (im Erscheinen); Ernst Simon, Angst und Vertrauen bei Martin Buber, in: Martin Buber (1878-1978), hrsg. von Wolfgang Zink, Bonn 1978, S. 28-41; ders., The Builder of Bridges, Judaism 27 (1979), S. 148-160. 220. Vgl. Ehrendoktortitel, Aberdeen University (1953); Stephen Wise Price, AJC (1954); Rückerstattung des Doktortitels, Universität Wien (1954); Mitgliederschaft in Human Rights Committee (1957); Ehrendoktortitel, Cambridge, USA (1958); Ehrendoktortitel, Sorbonne Universität (1959); Verleihung des kulturellen Ehrenpreises der Landeshauptstadt München (1960); Erster Präsident, Israel Academy of Sciences and Humanities (1960-62); Ehrendoktorats der Medizinischen Fakultät der Universität Münster (1962); Erasmus Preis, Niederlande (1963); Ehrendoktortitel, Heidelberg Universität (1964); Jerusalem Stadt Preis (1965). Ein sehr versöhnlicher Ton kennzeichnet die »Dankesrede« in München. Die bayrische Stadt ist erstens für Buber die Stadt Paula Bubers, die kurz zuvor verstorben war. Dann ein Ort wo er eine »Umkehr« spürt, nicht in Sinn eines Zurückgehens auf einen früheren Wegpunkt, sondern als »ein neuer Bestand, als die echte Überwindung jenes Verfalls« (Martin Buber, Dankesrede zum Münchner Kulturpreis, in: München ehrt Martin Buber, München: Ner-Tamid-Verlag 1961, S. 11-12; jetzt in: MBW 11.2, S. 335).

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spürte – sondern als Mann des lebendigen Geistes und Wortes. Heuss stellte für ihn »ein[en] Humanist[en]« dar, sowie »die deutsche Selbsttreue«, d. h. er repräsentierte den Menschen, der sowohl die »widerstehende […] Stetigkeit des persönlichen Daseins« während des Dritten Reiches als auch Deutschland »in der erneuten Freiheit der Völker vor der Völkerwelt« 222 erlebt hat. Sein Vortrag und die Einladung des ehemaligen Bundespräsidenten nach Israel zählen zweifellos zu den stärksten Momenten von Bubers Eintreten für den jüdisch-deutschen Versöhnungsprozess. Dass David Ben Gurion sich zur Diskussion mit Buber in dessen Haus traf, sobald der Eichmann-Prozess eröffnet worden war (April 1961), beweist das moralische Ansehen, das der Philosoph in Israel genießt. Zur Zeit der Weimarer Republik hatte Buber die Todesstrafe sowohl aus deontologischer als auch aus pragmatischer Sicht verurteilt. 223 So wendete er sich später in Palästina sowohl gegen das Todesurteil gegen Araber, die 1929 in Safed Juden umgebracht hatten 224 , als auch gegen die Verurteilung von Ethel und Julius Rosenberg, die 1953 in den USA wegen Spionage hingerichtet wurden. In gleicher Weise widersetzte sich Buber auch dem Todesurteil gegen Adolf Eichmann. In seiner »Nachbemerkung – nach dem Eichmann Prozess« vertritt er den Standpunkt, dass der Eichmann-Prozess vor einem internationalen statt vor einem israelischen Gericht hätte stattfinden sollen. Er halte nichts davon, dass die Juden, als Opfer des Holocaust, auch dessen Richter sein sollten. Mit dem Eichmann-Prozess bekam Israel, so Buber, die Gelegenheit, die »Kette der Tode nicht noch weiter zu schlingen«, d. h. das lebendige Beispiel einer Alternative für die Todesstrafe zu werden. Denn die Hinrichtung Eichmanns (Juni 1962) stellte für den Philosophen nur eine »Scheinbereinigung des an uns begangenen Verbrechens der deutschen Führung, des grössten Massenmordes der Weltgeschichte« 225 dar, welche von den Deutschen als ein symbolischer Akt der Gerechtigkeit missver-

221. Martin Buber, Gruß und Willkomm, in: Staat und Volk im Werden, hrsg. von Theodor Heuss, München: Ner-Tamid-Verlag 1960, S. 9-11; jetzt in: MBW 11.2, S. 333-334. 222. Ebd., S. 9; jetzt in: MBW 11.2, S. 333. Vgl. auch den Brief Bubers an Heuss, in: B III, S. 453. 223. Vgl.: »Die Todesstrafe ist partieller Selbstmord ohne legitimiertes Subjekt.« Kein Mensch habe, laut Buber, Verfügungsgewalt über sich selbst oder andere Menschen. Dem fügt er hinzu, dass die Todestrafe »nicht abschreckend« wirke. (Martin Buber, Über die Todestrafe [1928], in: ders., Nachlese, S. 218; jetzt in: MBW 11.2, S. 375.) 224. Brief Bubers an Weizmann vom 24. November 1929, in: B II, S. 356 f. 225. Martin Buber, Nachbemerkung, in: Nach dem Eichmann Prozess, hrsg. vom Gemeinderat der Juden in Deutschland, London u. Jerusalem 1963, S. 99-101, hier S. 100; jetzt in: MBW 11.2, S. 338 f., hier S. 339.

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standen werden könnte, um sich von der Bürde der Holocaust-Schuld freimachen zu können. Es ist Paul Mendes-Flohr 226 zu verdanken, dass Bubers Tat und Lehre hinsichtlich der »Palästina-Frage« seit der Balfour-Deklaration (1917), weit vor der Gründung des Staates Israel, umfassend untersucht worden ist. Die Möglichkeit einer jüdischen Ansiedlung im Heiligen Land ist im Denken Bubers tatsächlich schon seit dessen frühen kulturzionistischen Schriften aus der Zeit der Debatten mit Herzl präsent. Schon darin trat er als Befürworter der These auf, der zufolge die jüdische Einwanderung in Palästina einer vorherigen spirituellen Regenerationsarbeit bedürfe, zu deren unabdingbaren Voraussetzungen die Wiederaneignung der eigenen jüdischen Traditionen und Überlieferungen sowie der Respekt gegenüber den ansässigen Völkern zählten. Nur so, durch ein »Zion der Seelen« 227 , das sowohl durch die Entfaltung des Ideals einer Jüdischen Renaissance als auch durch das Erscheinen der Zeitschrift Palästina beim Jüdischen Verlag 228 erreicht werden sollte, könne sich die Alija von jeglichem Modell europäischer imperialistischer Kolonialisierung abgrenzen. Die Befürchtung, dass die jüdische Einwanderung ins Heilige Land in dieser Weise missbraucht werden könne, intensiviert sich mit der Balfour-Deklaration. In dem von ihm aus diesem Anlass verfassten Aufsatz »Die Eroberung Palästinas« 229 erklärt Buber auf programmatische Weise: »Dieses Land vermag mit der Waffe wohl eingenommen, aber nicht erobert – besetzt, aber nicht besessen zu werden.« 230 Und in 226. Vgl. Paul Mendes-Flohr, Einleitung, in: Martin Buber, Ein Land und zwei Völker, S. 11-51; ders., Das Volk des Bundes und seine politisch-moralische Verantwortung. Bubers Zionismus und der Staat Israel, in: Martin Buber (1878-1965), Bd. 2, S. 203-221; ders., Dialogue as a Political and Religious Task. Martin Buber’s Vision of Israeli-Palestinian Reconciliation, Palestine-Israel Journal 2 (1994), S. 67-73. Vgl. auch: Martin Stöhr, »Es geht nicht an, das als utopisch zu bezeichnen, woran wir unsere Kraft noch nicht erprobt haben«. Einige Beobachtungen zu Gerechtigkeit und Frieden bei Martin Buber, in: Dialog, Frieden, Menschlichkeit, S. 52-67; Siegbert Wolf, »Zion wird mit Gerechtigkeit erlöst«; Ernst Simon, Nationalismus, Zionismus und der jüdisch-arabische Konflikt in Martin Bubers Theorie und Wirksamkeit, Bulletin des Leo Baeck Instituts 33 (1966), S. 21-84; Michael Keren, Martin Buber’s Impact on Political Dialogue in Israel, in: Martin Buber and the Human Sciences, S. 283-294. 227. Vgl. Martin Buber, Ein geistiges Centrum, Ost und West 10 (1902), S. 663-673; jetzt in: MBW 3, S. 155-165; ders., Das Zion der jüdischen Frau, Die Welt, 26. April 1901, S. 3-5, hier S. 3; jetzt in: MBW 3, S. 75-81, hier S. 75. 228. Vgl. Palästina. Zeitschrift für die culturelle und wirtschaftliche Erschliessung des Landes (1902-1938). 229. Martin Buber, Die Eroberung Palästinas, Der Jude II, H. 10/11 (1918) S. 633 f.; jetzt in: MBW 3, S. 360-362. 230. Ebd., S. 633; jetzt in: MBW 3, S. 360.

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»Vor der Entscheidung«, einem Text, den er anlässlich der Pariser Friedenskonferenz (Januar 1919) verfasste, betont er, dass es die Aufgabe der Juden sei, unter den Völkern Recht und Wahrheit zu verbreiten. Er spricht sich zum ersten Mal explizit für die Notwendigkeit einer soliden und möglichst freundschaftlichen Verständigung zwischen Arabern und Juden aus. 232 Die Notwendigkeit einer gerechten Allianz, in der niemandes Rechte beschnitten werden, das Ideal einer kreativen Arbeit freier Menschen auf einem gemeinsamen Boden, all das fußt auf dem Prinzip einer tief gehenden Solidarität mit den Palästinensern, im Zeichen des gegenseitigen Respekts. Er erklärt: »Das jüdische Volk, seit zweitausend Jahren in allen Landen eine vergewaltigte Minderheit, wendet sich nun, da es wieder als Subjekt seiner Geschicke in die Weltgeschichte eintritt, mit Abscheu von den Methoden des Herrschaftsnationalismus ab, dessen Opfer es so lange war. Nicht um ein anderes Volk zu verdrängen oder zu beherrschen, streben wir in das Land zurück. 233

Derlei Prinzipien leiteten ebenfalls die Gründung von Brit Shalom, deren aktives Mitglied Buber seit 1925 war. In den Statuten liest man: »the object of the Association is to arrive at an understanding between Jews and Arabs as to the form of their mutual social relations in Palestine on the basis of absolute political equality of two culturally autonomous peoples.« 234 Hierzu formuliert Buber eine entscheidende These, der zufolge der Frieden mehr als einer passiven Koexistenz bedürfe: »Wir haben in Palästina nicht mit den Arabern, sondern neben ihnen gelebt. Das Nebeneinander zwischen Völkern auf dem gleichen Territorium muss aber, wenn es sich nicht zum Miteinander entfaltet, zum Gegeneinander ausarten. So droht es auch hier zu geschehen.« 235 Ab April 1938 lebt Buber in Jerusalem. Er ist einer der Initiatoren der League of Arab-Jewish Rapprochement and Cooperation, die im Folgejahr gegründet wird. Diese wird einige Bücher 236 und die Zeitschrift Be’ayot ha-Yom 237 veröffentlichen, das offizielle Organ der Ichud, die auf 231. Martin Buber, Vor der Entscheidung, Der Jude III,1 (1919), S. 541-546; jetzt in: MBW 21. 232. Martin Buber, In später Stunde, Der Jude V,1 (1920), S. 1-5; jetzt in: MBW 21. 233. Martin Buber, Rede auf dem XII. Zionistenkongress [Vorschlag einer Resolution zur arabischen Frage], in: ders., Kampf um Israel, S. 327-341, hier S. 339 f.; jetzt in: MBW 21. 234. Brith Shalom, in: Buber, Ein Land und zwei Völker, S. 107; jetzt in: MBW 21. 235. Martin Buber, Jüdisches Nationalheim und nationale Politik in Palästina, in: ders., Kampf um Israel, S. 432-451, hier S. 451; jetzt in: MBW 21. 236. Vgl. Bubers Beiträge »Und heute?« und »Haben wir einen eigenen Weg?«, in: ders., Ein Land und zwei Völker, S. 185-188 und S. 188-193; jetzt in: MBW 21. 237. Nach ihrer Gründung 1940 wird die Zeitschrift noch bis 1942 Be’ayot ha-Yom hei-

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Initiative seines Freundes Jehuda Magnes als Fortsetzung von Brit Shalom gegründet wurde. Deren Gründungstext betont sowohl das Ziel einer jüdischen Niederlassung im Heiligen Land als auch die Tatsache, dass diese im Zeichen der Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit gegenüber den Arabern stattfinden müsse. Über die Zuerkennung gleicher Rechte hinaus, wird eine Föderation mit den Nachbarländern gefordert. Dennoch muss Dominique Bourel konstatieren: »Le destin tragique du Brit Chalom puis de l’Ihoud tient aussi à la faiblesse de son équivalent arabe, quand il existe.« 238 Im Jahre 1946 lässt sich die Anglo-American Inquiry Commission in Palästina nieder, um dem britischen Mandat ein Ende zu setzen. Auch drei Wortführer der Ichud (Jehuda Magnes, Moishe Smilanski [18741953] und Buber) werden von ihr angehört. 239 Sie bekräftigen die Forderung einer binationalen Regierung unter der Ägide der Vereinten Nationen. Als Buber vor der Kommission aussagt, spricht er folgende grundlegenden Forderungen und Thesen aus: der Zionismus sei ursprünglicher als der Antisemitismus; es gebe ein Band zwischen dem jüdischen Volk und dem Land; die Niederlassung des israelischen Volkes im Heiligen Land habe die Errichtung eines Gottesreiches auf Erden zum Ziel; die Verbindung mit dem Land basiere auch auf der Arbeit und der Neuformung des öffentlichen Lebens gemäß einem authentischen und gerechten Leben. Er vertritt daher die Notwendigkeit, die Rechte der Araber aktiv zu schützen. 240 Aus dem Jahr 1947 stammt der

ßen; sie wird dann von Buber und Simon ab April 1944 unter dem Namen Be’ayot weitergeführt, um schließlich erneut in Be’ayot ha-Zman umbenannt zu werden. Ab 1949 gründet und leitet Buber die Zeitschrift Ner, was wörtlich »Licht« bedeutet, die im zehnten Jahr ihres Bestehens – ein hoch symbolisches Ereignis – auch auf Englisch und Arabisch erscheint: Al-Nur. 238. Dominique Bourel, Martin Buber, S. 545. Eine Ausnahme stellt Faouzi Darwish alHusseini, ein Vetter des Muphti, dar, dessen politische Ideen denen des letzteren widersprechen. Er ist der Gründer und Leiter von Al-Falastin al-Jadida, der arabischen Partei, die der Ichud am nächsten steht. Diese unterstützt aktiv das binationale Projekt und die jüdisch-arabische Zusammenarbeit. Am 11. November 1946 schließt seine Partei ein Absichtsabkommen mit der League for Jewish-Arab Rapprochement and Cooperation ab. Die darin festgehaltenen Punkte sind: Zusammenarbeit, politische Gleichheit, jüdische Einwanderung gemäß den Kapazitäten der einheimischen Wirtschaft, Errichtung einer Nahost-Föderation. Sie bringt auch eine eigene Zeitschrift heraus: Al-Akha (Brüderlichkeit). Faouzi wird am 23. November 1946 von arabischen Fanatikern ermordet. 239. Vgl. Arab-Jewish Unity. Testimony before the Anglo-American Inquiry Commission for the Ihud Association, hrsg. von Jehuda Magnes u. Martin Buber, London 1947. 240. Martin Buber, Was bedeutet uns der Zionismus?, in: ders., Ein Land und zwei Völker, S. 240-245; jetzt in: MBW 21.

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Schlüsseltext »Eine binationale Auffassung des Zionismus«, der diese Forderung unterstreicht. Im November desselben Jahres nimmt die UN-Generalversammlung die Resolution über den Teilungsplan Palästinas an, der zwei Staaten und Jerusalem als internationalen Bereich vorsah. Buber unterstützt die Sache der Ichud, obwohl er damit zur Minderheit zählt: »Was jedes der beiden in Palästina nebeneinander und durcheinander lebenden Völker tatsächlich braucht, ist Selbstbestimmung, Autonomie, freie Entscheidungsmöglichkeit. Das bedeutet aber keineswegs, dass es einen Staat braucht, den es dominiert. Die arabische Bevölkerung braucht zur freien Entfaltung ihrer Kräfte keinen arabischen Staat und die jüdische braucht zur freien Entfaltung der ihren keinen jüdischen; beides kann in einem binationalen Gemeinwesen gewährleistet werden, in dem jedes Volk seine spezifischen Angelegenheiten verwaltet und beide ihre gemeinsamen.« 242

In dem Aufsatz »Zweierlei Zionismus«, 243 der kurz nach der von Ben Gurion ausgesprochenen Unabhängigkeitserklärung (14. Mai 1948) publiziert wurde, betont Buber die Aufgabe, eine Einheit von Wahrheit und Gerechtigkeit zu schaffen, und stellt diese Aufgabe der Normierungstendenz entgegen, durch die Israel gerade drohe, zu einer Nation wie alle anderen zu werden. So lautet Bubers Vorwurf gegenüber der Führungsspitze der zionistischen Autoritäten: Die Juden seien das Vorhaben einer Kolonialisierung des Heiligen Landes angegangen, ohne sich mit der arabischen Bevölkerung des Landes zu einigen, sodass sie heute als Eindringlinge und Vertreter fremder Interessen wahrgenommen würden. Sie hätten den Arabern die wichtigsten wirtschaftlichen Standorte und Ressourcen weggenommen, ohne sie in den Prozess mit einzubeziehen oder ihnen eine Entschädigung auch nur anzubieten, abgesehen von dem Vorschlag einer Mit-Herrschaft; die zionistischen Autoritäten strebten eine Regierung an, die das gesamte Land betreffe. Gemessen an diesen Umständen, behauptet Buber, werde der Friede – wenn er denn komme – kein echter, sondern lediglich ein vermeintlicher und negativer Friede sein, ein Nicht-Krieg, der jeden Moment zu einem offenen Konflikt ausarten könne. 244 241. Martin Buber, Eine binationale Auffassung des Zionismus, in: ders., Ein Land und zwei Völker, S. 270-280; jetzt in: MBW 21. 242. Martin Buber, Zwei Völker in Palästina, in: ders., Ein Land und zwei Völker, S. 259266, hier S. 261; jetzt in: MBW 21. 243. Martin Buber, Zweierlei Zionismus, Der Aufbau 38 (1948), S. 4-5; jetzt in: MBW 21. 244. Martin Buber, Fakten und Erfordernisse, in: ders., Ein Land und zwei Völker, S. 304-306; jetzt in: MBW 21.

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Als im Januar 1949 Weizmann zum israelischen Staatschef und Ben Gurion zum Premierminister ernannt werden, wird Buber zusammen mit weiteren Intellektuellen zwei Wochen lang zu zwei Beratungen eingeladen, 245 wie es sich einige Jahre später für den Eichmann-Prozess wiederholen wird. Dabei formuliert er eines seiner Schlüsselargumente: Wenn Israel kein Volk wie alle anderen sei, dürfe es auch kein Staat wie alle anderen sein. So betrachtet es Buber als eine notwendige Aufgabe die Menschen, die nach Israel einwandern, auf einer geistigen Ebene zu integrieren, also das Volk moralisch zu entfalten. Das Ziel dieser Alija solle nicht nur die bloße Existenz, sondern eine Renaissance sein: »Existenzsicherung sehe ich, Renaissance des Volkes aber sehe ich nicht. […] Bevölkerung und Staat sehe ich, das sich erneuernde Volk Israel aber sehe ich nicht.« 246 Buber schlägt bei dieser Gelegenheit eine internationale und interreligiöse Konferenz über die arabischen Flüchtlinge vor, ein Problem, dem er sich auch in den darauffolgenden Jahren mit einer tiefen Sensibilität widmen wird. 247 Sein ganzes Leben lang bestand Buber auf der Notwendigkeit eines gerechten Handelns, einer Versöhnung mit den Arabern. 248 1955 wird er in einem Interview bedeutungsvoll verkünden: »Meiner Meinung nach bestand unser Hauptfehler darin, daß wir nicht, sofort nachdem wir hierher kamen, bemüht waren, Vertrauen im Herzen der Araber zu erwecken, politisch und wirtschaftlich.« 249 Bubers Einsatz für Versöhnung und Frieden geht letztlich über die beiden ihm unmittelbar nächsten Szenarien – die Beziehungen zwischen den Juden und dem Nachkriegsdeutschland sowie zwischen Israel und den Palästinensern – hinaus. Der Einsatz nimmt globale Ausmaße an, als sich Buber über den sogenannten Kalten Krieg äußert. Obwohl die Grausamkeiten des nationalsozialistischen Antihumanismus erst zehn Jahre zurücklagen, und trotz der andauernden Unmöglichkeit, in der Gegenwart eine Gemeinsamkeit aller Menschen zu erkennen, bleibt Buber unbeirrt aktiv, die Werte seines »Hebräischen Humanismus« 250 zu vertreten. Er 245. Martin Buber, Schriftstellergespräche Erste Sitzung, jetzt in: MBW 11.2, S. 100-103; ders., Schriftstellergespräche Zweite Sitzung, jetzt in: MBW 11.2, S. 104-113. 246. Ebd., S. 111. 247. Martin Buber, Zum Flüchtlingsproblem, in: ders., Ein Land und zwei Völker, S. 370372; jetzt in: MBW 21. S 344-345. 248. Martin Buber, Es ist an der Zeit, einen Versuch zu machen!, in: ders., Ein Land und zwei Völker, S. 380-382; jetzt in: MBW 21. S. 352-353. 249. Martin Buber, Wir brauchen die Araber. Die Araber brauchen uns!, in: ders., Ein Land und zwei Völker, S. 341-347, hier S. 342; jetzt in: MBW 21, S. 313-317, hier S. 313 f. 250. Martin Buber, Hebräischer Humanismus, in: JuJ, S. 732-744; jetzt in: MBW 20, S. 147-158, Vgl. Francesco Ferrari, Umanesimo e antiumanesimo nel nostro tempo.

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sieht die in der Atomwaffenfrage wie in den Weltraumfahrten sich manifestierende Übermacht der Technik als Risiko an, das die menschliche Hybris zur Selbstvernichtung der Menschheit und der Zerstörung aller Länder und Völker führen könnte. So heißt es warnend in »Haltet ein!«: »Hört auf mit diesem Spiel. […] Nun wird das Spiel mit euch gespielt.« 252 Es sei notwendig, den Frieden neu zu denken, heute mehr denn je, für die Rettung der gesamten Menschheit. Als Buber 1961 gefragt wird, wie er die Welt »In zwanzig Jahren sieht«, antwortet er: »Alles hängt davon ab, was hier das Wort ›Friede‹ bedeutet: bloßes Aufhören des kalten Kriegs oder wirkliche Koexistenz.« 253 Damit antizipiert Buber das, was heute einen der Hauptpfeiler der Peace-Studies ausmacht: den Unterschied zwischen cold und warm peace, das Ideal des Miteinanderstatt Nebeneinanderlebens: »Wirkliche Kooperation zur Bewältigung der immer kritischer werdenden gemeinsamen Probleme des Menschengeschlechts.« 254 Die beiden letzten Jahrzehnte im Leben des Philosophen sind von stetigen Kämpfen geprägt: gegen die Bedrohung durch die Atombombe, für die Menschenrechte verschiedener Gruppen, so für die schwarzen Opfer der Apartheid in Südafrika; von seiner Teilnahme an den Colloqui Mediterranei von 1960 255 auf Einladung von Giorgio La Pira (1904-1977), bis zum bereits erwähnten Plädoyer gegen die Todesstrafe. Für diese Anliegen war er mit Persönlichkeiten wie Martin Luther King 256 (1929-1968),

251. 252. 253. 254. 255.

256.

Attualità del pensiero di Martin Buber a cinquant’anni dalla morte, in: Martin Buber, Umanesimo ebraico, Genua 2015, S. 5-11. Martin Buber, Der Mensch im Zeitalter der Weltraumfahrten, Der Tagesspiegel, 25. Dezember 1957, S. 7; jetzt in: MBW 11.2, S. 332. Martin Buber, Haltet ein!, Neue Wege 6 (1957), S. 164 f.; jetzt in: MBW 11.2, S. 326. Martin Buber, In zwanzig Jahren, in: ders., Nachlese, S. 198 f., hier S. 198; jetzt in: MBW 11.2, S. 371. Ebd. Das Thema lautet »Il mondo mediterraneo e il suo avvenire« (Die mediterrane Welt und ihre Zukunft). Buber spricht drei Mal und stellt sich dem ägyptischen Dichter und Minister Georges Henein (1914-1973) vor: Dies wird eine der ersten Begegnungen sein, bei denen an offizieller Stelle ein Israeli den Dialog mit einem Politiker der arabischen Welt führt. Zu Bubers Vortrag vgl. Vittorio Citterich, Sviluppo del Colloquio, Testimonianze 28 (1960), S. 647-648. Vgl. auch das Interview mit Buber von Danilo Zolo, ebd., S. 652-655; Elena Mazzini, Introduzione al carteggio Giorgio La Pira – Martin Buber und Carteggio Giorgio La Pira – Martin Buber, in: Giorgio la Pira e la vocazione di Israele, hrsg. von Luciano Martini, Florenz 2005, S. 203-225. In ihrem Brief vom 14. Oktober 1957 an Buber fordert Eleanor Roosevelt (18841962) diesen »und andere führende Männer der Welt« auf, sich »als fördernde Mitglieder eines internationalen Komitees zur Unterstützung der beiliegenden Gewissenserklärung« gegen die Apartheid in Südafrika anzuschließen (B III, S. 433). Buber antwortet emphatisch darauf.

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Die Tat 257

Bertrand Russell (1872-1970) und Dag Hammarskjöld (1905-1961), der Buber 1959 für den Friedensnobelpreis vorschlagen wird, 258 in Kontakt getreten. Die Begegnung zwischen Buber und dem UN-Sekretär Hammarskjöld war von letzterem initiiert worden, und fand zwischen 1958 und 1961 statt. Hammarskjöld gingen Bubers Worte über die Gegenwart als eine des Misstrauens sehr nahe 259 und so lud er den Philosophen in das UN-Hauptquartier nach New York ein, als Buber sich auf seiner dritten amerikanischen Reise befand. Beide waren gleichermaßen getrieben von der Angst vor der Selbstvernichtung der Menschheit und litten an dem verbreiteten Misstrauen, das in der scheinhaften Sprache der Vertreter des Staates zu vernehmen war. Dagegen wünschten sich beide auf Seiten der Staatsmänner Treue und Hoffnung, und eine Kooperation als Zusammenwirken statt einer bloßen Koexistenz. In seiner »Erinnerung an Hammarskjöld« schreibt Buber: »uns beiden [ging es] in der Tat um das gleiche […]: ihm, der an dem vorgeschobensten Posten internationaler Verantwortung stand, und mir in der Einsamkeit eines Geisterturms, der in Wahrheit ein Wachtposten ist.« 260 Als Hammarskjöld ihn in Jerusalem im September 1958 und dann erneut im Januar 1959 besuchte, unterhielten sie sich sowohl über die Beziehung zwischen Philosophie und Politik, d. h. über das Scheitern des geistigen Menschen in seinen geschichtlichen Unternehmungen von Platon bis heute, als auch über das palästinensische Flüchtlingsproblem. Als Hammarskjöld ein Buch Bubers ins Schwedische übersetzen will, schlägt Buber hierfür Ich und Du vor. Der UN-Sekretär, der kurz zuvor die Zusage 257. Vgl. Martin Buber, Greetings to Bertrand Russell, in: Into the 10th Decade. Tribute to Bertrand Russell, London: The Malvern Press 1962; jetzt in: MBW 11.2, S. 337. Vgl. Aubrey Hodes, Martin Buber. An Intimate Portrait, New York 1971, S. 153160. Russell zeigt sich solidarisch mit Buber, indem er Initiativen zum Schutz der Juden aus der Sowjetunion befürwortet. Vgl. Martin Buber, Die Sowjets und das Judentum, in: Die Juden in der UdSSR, München: Ner-Tamid Verlag 1960, S. 5-18; jetzt in: MBW 21. 258. Vgl. Lou Marin, Können wir den ehrlichen Dialog in den Zeiten des Mistrauens retten? Die Begegnung zwischen Dag Hammarskjöld und Martin Buber, Frankfurt a. M. 2012; Frieden sichern in Zeiten des Misstrauens. Zur Aktualität von Martin Buber, Dag Hammarskjöld und Horst-Eberhard Richter, hrsg. von Siegfried Karl u. HansGeorg Burger, Gießen 2014; Manuel Fröhlich, Vom Vorposten internationaler Verantwortung und der Einsamkeit des Geistesturmes. Dag Hammarskjöld und Martin Buber, in: Martin Buber. Bildung, Menschenbild und hebräischer Humanismus, S. 97-114. Über den Vorschlag für den Nobelpreis vgl.: Dag Hammarskjöld, Om Martin Buber, in: Judistik tidskrift 2 (1966), S. 18-21. 259. Vgl. Dag Hammarskjöld, The Walls of Mistrust, in: Public Papers of the SecretariesGeneral of the United Nations, hrsg. von Andrew W Cordier u. Wilder Foote, New York u. London 1974, Bd. 4, S. 90-95. 260. Martin Buber, Erinnerung an Hammarskjöld, in: Nachlese, S. 33-36; jetzt in: MBW 11.2, S. 364 f.

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Einleitung

von seinem Verlag erhalten hatte, arbeitete tatsächlich gerade an der Übertragung, als er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Auch in ihren Dialogen wird immer wieder ein grundsätzliches Problem erörtert, das Bubers Spätwerk prägte: jene Krise des abendländischen Menschen, die paradigmatisch in der Weigerung hervortritt, an die Existenz einer gemeinsamen Wahrheit zu glauben, wie er in »The Crisis and the Truth« 261 bemerkt, und die so in einem alles durchdringenden »Misstrauen« ihr sprechendstes Bild findet, wie Buber es in seinem bedeutendsten Text dieser Jahre behauptet: dem Vortrag »Hoffnung für diese Stunde«, 262 den er am 6. April 1952 in der Carnegie Hall hält. Buber empfand die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg als von einer schweren Bedrängnis betroffen. Grund dafür war die Spaltung der Menschheit in zwei Fronten durch den sogenannten Kalten Krieg. Die Spaltung nahm er als eine Notwendigkeit der Weltstunde wahr, durch die das Prinzip der Brüderlichkeit, das die Französische Revolution eingeführt hatte, sprich: die Gelegenheit, sich einer gemeinsamen Menschlichkeit bewusst zu werden, vergessen bzw. verhindert worden sei. Ohne ein solches Prinzip seien die Ideale der Freiheit und der Gleichheit zu Individualismus und Kollektivismus verfallen. Buber erkennt, dass seit der Zeit des Ersten Weltkrieges ein echtes, d. h. ein unmittelbares und rückhaltloses Gespräch zwischen Menschen verschiedener Art und Gesinnung, immer schwieriger geworden ist. Massives Misstrauen sei das Kennzeichen des jetzigen Zeitalters. Die Überwindung dieses Zustandes sei eine notwendige Aufgabe, die nur durch echte Hoffnung und effektives Vertrauen ermöglicht werden könne. Die Zukunft der Menschheit hänge von einer Wiederaufnahme des Dialogs ab, d. h. von der Möglichkeit eines echten Gesprächs. Damit dieses stattfinden könne, müsse aber das massive Misstrauen in den anderen Menschen, »das universale Mißtrauen unseres Zeitalters« 263 überwunden werden: »Im Grunde ist ja das existentielle Mißtrauen nicht mehr, wie das alte, ein Mißtrauen zu meinem Mitmenschen, sondern es ist die Vernichtung des Vertrauens zum Dasein überhaupt. Daß wir von einem Lager zum anderen kein echtes Gespräch mehr führen können, ist das stärkste Symptom der Krankheit des Menschen von heute: das existenzielle Mißtrauen ist diese Krankheit selber«. […] 264 261. Martin Buber, The Crisis and the Truth, The Australian Jewish Review 7 (1945), S. 3; jetzt in: MBW 11.2, S. 85 f. Vgl. bereits »Arbeitsglaube«, in: ders, Kampf um Israel, S. 281-282; jetzt in: MBW 11.1, S. 387 f. 262. Jetzt in: MBW 11.2, S. 275-282. 263. Buber, Hoffnung für diese Stunde, Merkur 6 (1952), S. 711-718, hier S. 713; jetzt in: MBW 11.2, S. 277. 264. Ebd., S. 714 f; jetzt in: MBW 11.2, S. 278.

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Die Lehre

Ein echtes Gespräch benötige Menschen, die das apriorische Misstrauen überwinden können, und die »fähig seien, ihre Gesprächspartner in der Wirklichkeit ihres Wesens zu erkennen« 265 . Diese Menschen sprechen nicht nur in ihrem eigenen Namen, sondern sind »unabhängige Personen ohne andere Vollmacht als die des Geistes.« 266 Sie vertreten nicht eine einzelne politische Position, sondern denken und handeln global, und bilden so das Bündnis des »Homo Humanus«, den Buber in »Geltung und Grenze des politischen Prinzips« andeutet, und später in Schriften wie »Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens« und »Gläubiger Humanismus« 267 thematisiert. Wobei »die Hoffnung für diese Stunde […] auf eine Erneuerung der dialogischen Unmittelbarkeit zwischen den Menschen« zielt, sich »im Innersten des Widerstreits von Mißtrauen und Vertrauen zum Menschen […] der Widerstreit zwischen Mißtrauen und Vertrauen zur Ewigkeit« 268 vollzieht. In den Jahren der Gottes- und Menschenfinsternis vertritt Buber die These, dass das zerrissene Zwischenmenschliche zu heilen, letztendlich bedeute, Mensch und Gott zu versöhnen. Deswegen schließt er seine Rede mit einem Wunsch, der seine ganze Tätigkeit als »Builder of Bridges« zusammenfassen kann: »Versöhnung wirkt Versöhnung.« 269 Die Lehre Der zweite Teil dieser Einleitung präsentiert drei Themen, die für Bubers politisch-soziales Denken in seiner Ganzheit wesentlich sind, fortschreitend von der »Gemeinschaft« zur »Gesellschaft« und dann von der »Gesellschaft« zum »Staat«.

Die Gemeinschaft, Ort der Verwirklichung und lebendige Mitte

Entgegen einer »fortschreitende[n] Vergesellschaftung der menschlichen Beziehungen bedeuten die ersten drei Jahrzehnte des zwanzigsten Jahr265. Ebd., S. 717; jetzt in: MBW 11.2, S. 281. 266. Ebd.; jetzt in: MBW 11.2, S. 281. 267. Martin Buber, Gläubiger Humanismus, Mitteilungsblatt 50 (1963), S. 5; jetzt in: MBW 12, S. 525-528. 268. Martin Buber, Hoffnung für diese Stunde, S. 718; jetzt in: MBW 11.2, S. 282. 269. Ebd.; jetzt in: MBW 11.2, S. 282. In einem Brief an seine Frau vom 12. August 1952 bezeichnet Martin Heidegger diesen letzten Satz als »schön und wesentlich«. (»Mein liebes Seelchen!« Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride, hrsg. von Gertrud Heidegger, München 2005, S. 279.)

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hunderts eine Erhebung aus Sehnsucht nach Gemeinschaft«. Viele Intellektuelle – Buber in erster Linie – sahen in der Gemeinschaft selbst »die Erlösung der Menschheit und aller Kreaturen von einem Leben mechanisierter, zweckverfangener Mittelbarkeit« 270 , so Hans Kohn. Die Suche nach der echten Gemeinschaft begleitet und bestimmt Bubers bewusstes Leben und seinen gedanklichen Werdegang. Hier ist vielleicht das bedeutendste Element seiner sozialen und politischen Philosophie zu finden. Nicht zuletzt bildet es das Leitmotiv dieses Bandes. Es steht im Zentrum von Der heilige Weg und durchzieht zwei Schriften, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg verfasst wurden: die Hefte der Worte an die Zeit mit den Titeln Grundsätze und Gemeinschaft. 271 Dieses Element ist zudem Gegenstand zahlreicher Vorträge und Diskussionen während der gesamten Periode der Weimarer Republik. Sie bildet die »lebendige Mitte« von Ich und Du und den Ort einer herbeigesehnten Theophanie in Zwiesprache. 272 Es wird in »Warum muß der Aufbau Palästinas ein sozialistischer sein?« mit der Kwuza gleichgestellt und findet eine immer artikuliertere Formulierung in »Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee«. Mit der Auswanderung nach Israel 273 bleibt seine Relevanz unverändert, und stellt die Grundlage einer authentischen Erneuerung der Gesellschaft in Pfade in Utopia dar. Die Idee der Gemeinschaft steht bereits im Zentrum einer Schrift Bubers aus dem Jahr 1901: »Alte und neue Gemeinschaft«. Buber geht darin auf einige charakteristische Wesenszüge der von Heinrich Hart (18551906) und Julius Hart (1859-1930) begründeten Gruppe ein. Deren ausgeprägter Irrationalismus und Antimodernismus ist mit der Betonung des Lebens als metaphysisches Prinzip verbunden. Mystische Motive sind hier ebenso zu finden wie der Monismus der »Vieleinheit« als Überwindung der wahrgenommenen Vielheit, sowie schließlich ein gewisser Elitismus. Die neue Gemeinschaft wird von Buber als die »innere«, gestal-

270. Kohn, Martin Buber, S. 191; S. 186. 271. Jetzt in diesem Band, S. 157-160 u. S. 161-171. 272. »[…] Wir [harren] einer Theophanie […], von der wir nichts wissen als den Ort, und der Ort heißt Gemeinschaft« (Buber, Zwiesprache, S. 24; jetzt in: MBW 4). 273. Vgl. die Arbeiten »Erziehung zur Gemeinschaft« (1929); jetzt in diesem Band, S. 300-318; »Die Idee der Gemeinschaft« (Davar, 5. Januar 1945, S. 3 u. 4 [hebr.]; jetzt in: MBW 11.2, S. 59-64), »Der Weg des gemeinschaftlichen Dorfs« (Davar, 17. u. 20. Mai 1945 [hebr.]; jetzt in: MBW 11.2, S. 65-78), »Zum Problem der Gesinnungsgemeinschaft« (in: Robert Weltsch zum 60. Geburtstag. Ein Glückwunsch gewidmet von Freunden, Tel-Aviv u. Jerusalem: Privatdruck 1951, S. 2; jetzt in: MBW 11.2, S. 260), »Gemeinschaft und Umwelt« (in: Buber, Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 82-85; jetzt in: MBW 11.2, S. 368-370).

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tete Alternative zu jeder Form von »äußerlichem«, geregeltem Leben in der Gesellschaft dargestellt. Dies impliziert, so schreibt er, »dass wir in kleinem Kreise, in reiner Gemeinschaft, ein neues Leben schaffen« 274 . Die Gemeinschaft wird hier bereits als ein neuer schöpferischer Weg gedacht, menschliche Beziehungen zu leben. In diesem Zusammenhang bestimmt Buber die neue Gemeinschaft nicht aus der Bluts- sondern aus der Wahlverwandtschaft: »So wird die Menschheit, die von einer stumpfen und schönheitsbaren Urgemeinschaft ausgegangen ist, durch die wachsende Sklaverei der ›Gesellschaft‹ hindurchgelangt, zu einer neuen Gemeinschaft kommen, die nicht mehr wie jene erste auf der Blutsverwandtschaft, sondern auf der Wahlverwandtschaft beruht.« 275

In Anlehnung an Tönnies’ Bestimmung der Gemeinschaft als »vorsozial«, nennt Buber sie daher »postsociale«. 276 Das Thema der Gemeinschaft intensiviert sich im Laufe des Dialoges mit Landauer. In einer Gegenüberstellung der Gemeinschaft mit dem diffusen sozialen Individualismus und dem Atomismus der Gesellschaft, schreibt Buber 1904 in einem dem Freund gewidmeten Artikel: »Es gibt keinerlei Individuen, sondern nur Gemeinschaften; Individuen sind nur Schnittpunkte von Kreisen, Durchgangspunkte elektrischer Ströme, Glieder einer gewaltigen Kette, die vom Unendlichen herkommt und ins Unendliche weiterreicht.« 277 Mit Landauer teilt er die Vorstellung von der Eingliederung des Individuums in eine Gemeinschaft, und damit in die Generationenfolge. Die Seele des Einzelnen hänge mit der Geschichte seiner Gemeinschaft zusammen. Das Motiv der Gemeinschaft im Denken Bubers ist also nicht gänzlich ohne den Bezug zum direkten Erlebnis der chassidischen Gemeinschaften einerseits und zur Soziologie von Tönnies und Weber andererseits zu verstehen. Als in dieser Hinsicht paradigmatisch erweist sich Mein Weg zum Chassidismus (1918). Buber liest den Chassidismus als einen Versuch, in der Spätzeit der Diaspora, durch die brüderliche Vereinigung des Zaddiks mit seinen Chassidim die wahre Gemeinschaft zu errichten. Im Rückblick schreibt er: »[…] als ich den Rebbe durch die Reihen der Harrenden schreiten sah, empfand ich: ›Führer‹, und als ich die Chassidim mit der Thora tanzen sah, empfand ich: ›Gemeinde‹. Damals ging mir eine Ahnung davon auf, daß gemeinsame Ehrfurcht

274. 275. 276. 277.

Martin Buber, Alte und neue Gemeinschaft; jetzt in: MBW 2.1, S. 61-66, hier S. 65. Ebd., S. 66. Ebd., S. 65. Martin Buber, Gustav Landauer, Die Zeit, 11. Juni 1904, S. 127-128, hier S. 127; jetzt in: MBW 2.1, S. 102-107, hier S. 104.

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und gemeinsame Seelenfreude die Grundlagen der echten Menschengemeinschaft sind.« 278

Es ist möglich, dass Buber in seiner Sicht auf den chassidischen Zaddik als einen charismatischen und entschiedenen Führer von Weber beeinflusst wurde. Allerdings nimmt er auch Tönnies’ Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft wiederholt auf, besonders in Vorträgen und Debatten. 279 Erstere wird von Tönnies als etwas Prämodernes klassifiziert, das sich durch gegenseitiges Vertrauen und Solidarität auszeichne. Ganz im Gegensatz zur zweiten, die im Zeichen der Entwurzelung und der Anonymität stehe. Buber korrigiert dieses Modell teilweise, indem er daran festhält, dass die Gemeinschaft nicht notwendigerweise der Vergangenheit angehöre. Tönnies definierte die Gemeinschaft als »ein Verbundensein von Menschen ihrem Wesen und Wesenswillen nach, – ein Verbundensein von Menschen durch gewordene, nicht gemachte, nicht gesetzte, sondern gewordene Gemeinsamkeit der Abstammung, der Sitte, des Eigentums« und die Gesellschaft als einen »Verband von Menschen, die durch Zwecksetzung miteinander vereinigt sind«. 280 Mit diesem Gegensatz werden einige der Fragen und Gedanken Bubers zum Thema berührt. Gehört man zu einer Gemeinschaft nur, insofern man in sie hineingeboren ist, d. h. stammt man aus einer bestimmten Gemeinschaft? Wie viel Gemeinsamkeit der Sitte oder Religion ist notwendig, damit eine Gemeinschaft eine »echte Gemeinschaft« ist? Wie viel Dissens, wie viel Pluralität kann eine Gemeinschaft aushalten? 281 Manchmal definiert 278. Martin Buber, Mein Weg zum Chassidismus, S. 13; jetzt in: MBW 17, S. 44. Vgl. »Das, was die Eigentümlichkeit und die Größe des Chassidismus ausmacht, ist nicht eine Lehre, sondern eine Lebenshaltung, und zwar eine gemeindebildende und ihrem Wesen nach gemeindemäßige Lebenshaltung.« (Martin Buber, Die chassidische Botschaft, Heidelberg: Lambert Schneider 1952, S. 32; jetzt in: MBW 17, S. 251-303; hier S. 254.) 279. Analog dazu unterscheidet Weber zwischen Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, und meint mit ersterer eine soziale Beziehung, die auf »subjektiv gefühlter (affektueller oder traditioneller) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht« und mit zweiterer eine, die »auf rational (wert- oder zweckrational) motivierten Interessenausgleich oder ebenso motivierter Interessenverbindung« beruht (Max Weber, Soziologische Grundbegriffe, in: ders., Methodologische Schriften, hrsg. von Johannes Winckelmann, Frankfurt a. M. 1968, S. 321). Für den Bezug auf diesen Gegensatz vgl. Martin Buber, Wie kann Gemeinschaft werden?, Der Jugendbund, August 1930, S. 3-7, hier S. 4; jetzt in: MBW 8, S. 185-199, hier S. 187. 280. Martin Buber, Erziehung zur Gemeinschaft; jetzt in diesem Band, S. 300-318, hier S. 301. 281. Dies sind ferner die Fragen, auf Grund derer einige kommunitaristische Philosophen die Überlegungen Bubers wiederentdeckt haben. Vgl. Michael Walzer, Martin Buber’s Search for Zion, in: ders., The Company of Critics. Social Criticism and Political Commitment in the XX. Century, New York 2002, S. 64-79; Amitai Etzioni, Martin Buber und die kommunitarische Idee, Wien 1999.

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Buber die Gemeinschaft als eine auf Wahlverwandtschaft gründende, im Gegensatz zur Blut- und Schicksalsgemeinschaft. Dann wiederum greift er auf die Kontinuität von Blut und Stamm als jene Kriterien zurück, die die Kontinuität der Gemeinschaft im Laufe der Zeit garantieren. 282 In Worte an die Zeit. Gemeinschaft beschreibt Buber die Gemeinschaft auf der Basis von vier grundlegenden Aspekten der Gemeinsamkeit: gemeinsamer Besitz, gemeinsame Arbeit, gemeinsame Sitte, gemeinsamer Glaube. 283 In »Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee« entsteht die Gemeinschaft aus einer »Gemeinsamkeit der Not«, die dann aber auf gemeinsamer Arbeit fußen soll. 284 In Pfade in Utopia impliziert die Gemeinschaft dann wiederum mindestens drei Ebenen von Gemeinsamkeiten: »gemeinsame Haushaltung« (wobei persönlicher Besitz erlaubt ist); Aufbau einer gemeinsamen Wirtschaft (auch durch kleine persönliche Besitzunterschiede); »Gegenseitigkeit, gegenseitige Hilfe und Mitarbeit im umfassendsten Sinn« (d. h. gegenseitiges Geben und Nehmen als »angemessene Teilnahme der Mitglieder aneinander«). 285 In »Erziehung zur Gemeinschaft« formuliert Buber dann eine Idee von Gemeinschaft, die interessanterweise nicht mehr auf »Gemeinsamkeit« als notwendige Grundlage beruht, sondern auf »Gemeinschaftlichkeit«, d. h. »nicht auf statischem, sondern dynamischem Zusammensein«, also von einem Zusammensein, das nicht »von gleichartigen, gleich konstruierten, gleich geschaffenen, gleichgeordneten Menschen« ausgeht, sondern »auf einer echten Beziehung zwischen verschieden geschaffenen, verschieden geordneten Menschen« beruht. 286 Eine echte Gemeinschaft kämpfe daher immer wieder sowohl gegen ihre Reduzierung auf einen Massenkollektivismus an, wie gegen den atomisierten Individualismus, in dem es keine Verbindung bzw. kein Miteinandersein mehr gebe, und somit das Sein auf ein bloßes Nebeneinander reduziert werde: »Wenn aber der Individualismus nur einen Teil des Menschen erfaßt, so erfaßt der Kollektivismus nur den Menschen als Teil: zur Ganzheit des Menschen, zum Menschen als Ganzes dringen beide nicht vor.« 287 Mit einer organischen Metapher beschreibt Buber die Ge282. So bezeichnet Buber 1911 in den Drei Reden über das Judentum, »das Blut als die tiefste Machtschicht der Seele […] das in uns, was die Kette der Väter und Mütter, ihre Art und ihr Schicksal, ihr Tun und ihr Leiden in uns gepflanzt haben, das große Erbe der Zeiten, das wir in die Welt mitbringen.« (Buber, Drei Reden über das Judentum, S. 22 f.; jetzt in: MBW 3, S. 224.) 283. Martin Buber, Gemeinschaft, S. 8; jetzt in diesem Band, S. 162. 284. Vgl. Buber, Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee, S. 22; jetzt in diesem Band, S. 380. 285. Buber, Pfade in Utopia, S. 42; jetzt in: MBW 11.2, S. 139. 286. Martin Buber, Erziehung zur Gemeinschaft, in diesem Band S. 305. 287. Martin Buber, Das Problem des Menschen, S. 159; jetzt in: MBW 12, S. 306.

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meinschaften als lebendige Zellen, die sich als Gemeinschaften von Gemeinschaften verknüpfen und vereinen. Dagegen wird der Staat lediglich als ein mechanisiertes, gottloses, »durch Gewalt sich erhaltende[s] Surrogat der Gemeinschaft« betrachtet. 288 In seinem Vortrag »Staat und Gemeinschaft« von 1924 stellt Buber fest, dass »der Staat […] eigentlich ein Zwang geworden« sei, der zum Auseinanderfallen der Gemeinschaft beigetragen habe. Statt des Zusammen-, Miteinander- und Ineinanderlebens finde heute eine Wandlung zu einem gemeinschaftslosen Zustand statt. Dem Staat, der wie bei Landauer als »Status, der Stand, der Zustand, und zwar der jeweilige Zustand des Nichtverwirklichtseins der wirklichen Gemeinschaft« definiert wird, wird das Reich Gottes als »Vollendung der Wirklichkeit zu einer Gemeinschaft der Kreatur, die Vollendung der Schöpfung zur Gemeinschaft« 289 entgegengestellt. Der entscheidende Aspekt von Bubers Begriff der Gemeinschaft ist eben ihre Definition als Ort der Verwirklichung des Königtum Gottes, im Gegensatz zur irdischen Souveränität der Nationalstaaten und ihren anonymen und anonymisierten Gesellschaften. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft ist bei Buber zugleich untrennbar von dem Bewusstsein einer Verbundenheit, die auf der unabdingbaren Voraussetzung einer lebendigen Mitte fußt. Der heilige Weg bietet das Paradebeispiel dafür. Hier wird der Aufbau der wahren Gemeinschaft als der Weg der Verwirklichung des Göttlichen in der Menschheit dargestellt. Hier findet sich eine Denkfigur, die für die dialogische Wende in Bubers Denken entscheidend ist: »der wahre Ort der Verwirklichung ist die Gemeinschaft, und wahre Gemeinschaft ist die, in der das Göttliche sich zwischen den Menschen verwirklicht.« 290

Die Terminologie des frühen Buber trifft hier auf die neuen dialogischen und theopolitischen Motive. Die Gemeinschaft ist nicht mehr nur etwas Irdisches, sondern der heilige Weg selbst. Sie entsteht »im Dazwischen«, »wo zum Gefühl ihres Allseins erwachte Einzelwesen sich einander öffnen, sich einander mitteilen, einander helfen, wo Unmittelbarkeit sich zwischen den Wesen stiftet.« 291 Sie lebe ebenso in Unmittelbarkeit, jenseits von »Gattungszugehörigkeit«, Staatsbürgerschaften oder Klassenzugehörigkeiten. Sie lebe in Allverbundenheit, die nicht in den Men288. Martin Buber, Grundsätze, in: Worte an die Zeit. Eine Schriftenreihe, Heft 1, München: Dreiländerverlag 1919, S. 5-11, hier S. 10; jetzt in diesem Band, S. 157-160, hier S. 159. 289. Martin Buber, Staatsideen, Gemeinschaftsversuche und die menschliche Wirklichkeit, jetzt in diesem Band, S. 214. 290. Buber, Der heilige Weg, S. 16; jetzt in diesem Band, S. 130. 291. Ebd., S. 16; jetzt in diesem Band, S. 130.

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schen, sondern zwischen ihnen, im Angesicht Gottes entstehe. Diese Allverbundenheit könne durch verschiedene Zugänge verwirklicht werden: durch den Menschen, »die Kreatur, in die das göttliche Bild des Allseins […] als Anlage getan worden ist« 292 ; durch die Erde, Gottes Eigentum; durch die Arbeit, den Dienst an Gottes Eigentum; durch die Hilfe, mit der der Mensch als Vertretung Gottes für seine Mitmenschen eintrete; durch den Geist, als Mittel der Anrede des Menschen an Gott. Letztlich, natürlich, durch die Gemeinschaft selbst, die »die Vereinigung von Menschen im Namen Gottes zu einer lebendigen Stätte seiner Verwirklichung« 293 sei, und die eine entscheidende theokratische Konnotation beherberge: »die Gemeinschaft darf von Gott allein beherrscht und von den Trägern seines Auftrags, den Hilfreichsten und Hilfsfähigsten, allein geführt werden.« 294 Eine ähnlich umfassende Bestimmung der Gemeinschaft führt kontinuierlich zu ihrer Festlegung als »lebendige Mitte« und »gegenseitige Beziehung« in Ich und Du: »[…] die wahre Gemeinde entsteht nicht dadurch, daß Leute Gefühle füreinander haben (wiewohl freilich auch nicht ohne das), sondern durch diese zwei Dinge: daß sie alle zu einer lebendigen Mitte in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen und daß sie untereinander in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen. […] Die Gemeinde baut sich aus der lebendig gegenseitigen Beziehung auf, aber der Baumeister ist die lebendige wirkende Mitte.« »[…] daß die Beziehungen der Menschen zu ihrem wahren Du, die Radien, die von all den Ichpunkten zur Mitte ausgehn, einen Kreis schaffen. Nicht die Peripherie, nicht die Gemeinschaft ist das erste, sondern die Radien, die Gemeinsamkeit der Beziehung zur Mitte. Sie allein gewährleistet den echten Bestand der Gemeinde.« 295

Es wurde in dieser Einleitung bereits mehrmals darauf verwiesen, dass die in Der heilige Weg dargestellte Gemeinschaft der Ort der Verwirklichung einer Theopolitik ist. Auch wurde in den vorausgegangenen Kapiteln bereits die theopolitische Bedeutung von Bubers politischem

292. 293. 294. 295.

Buber, Grundsätze, S. 1; jetzt in diesem Band, S. 157. Ebd., S. 8; jetzt in diesem Band, S. 158. Ebd., S. 7; jetzt in diesem Band, S. 158. Martin Buber, Ich und Du, Leipzig: Insel-Verlag 1923, S. 56 u. S. 132; jetzt in: MBW 4. Eine solche Metapher ist noch in die »Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee« zu finden: »[…] das eigentliche Wesen der Gemeinschaft [ist] in dem – offenkundigen oder verborgenen – Faktum zu finden, daß sie eine Mitte hat. Wohl ist die eigentliche Entstehung der Gemeinschaft nur daraus zu begreifen, daß ihre Glieder eine gemeinsame und allen andern Relationen überlegene Beziehung zur Mitte haben: der Kreis wird von den Radien gezeichnet, nicht von den Punkten der Peripherie.« (S. 22; jetzt in diesem Band, S. 380.) Vgl. Andrea Poma, La filosofia dialogica di Martin Buber, Turin 1974, S. 77-83.

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Denken betont, vor allem im Gegensatz zu Formen des Nationalstaats, auch in Bezug auf den Staat Israel. Es scheint angebracht, kursorisch auf das fortbestehende theopolitische Ideal in Bubers Denken hinzuweisen. Dieses wird besonders in Der heilige Weg deutlich. Dort skizziert Buber einen Streit zwischen dem Propheten und dem Priester. Bedeutsam ist hier, wie Buber zwischen Religion und Religiosität unterscheidet, was für die sogenannte biblische Trilogie (Königtum Gottes, Der Glaube der Propheten, Moses) von zentraler Bedeutung ist. Bereits zuvor hatte Buber in den Prager Reden diesen Gegensatz aufgegriffen, der sich bis in seine kulturzionistischen Schriften zurückverfolgen lässt. Dort unterscheidet er zwischen einem orthodoxen und einem unterirdischen Judentum. Das Ganze erinnert sehr an das Vorwort zu Die Legende des Baal Schem (1908) – wo die Rabbiner, die die Religion behüten, den unaufhörlichen Prozess der jüdischen Mythopoiesis bekämpfen. In diesen Schriften stellt also Buber Religion und Religiosität einander gegenüber, ohne jedoch schon seine Theopolitik 296 zu formulieren. Diese wird er erst in Der heilige Weg erwähnen, wonach es »des Menschen Sache ist, Gottes Macht in der Erdenwelt zu begründen« 297 . Anklänge an Leviticus 25,23 werden hier deutlich: »Mein ist das Land; denn Fremdlinge und Gäste seid ihr bei mir«, demzufolge Gott als der einzige Eigentümer allen Bodens und als der alleinige Herrscher über das Gemeinwesen gilt. In Der heilige Weg bezieht sich Buber auf die Episode aus 1 Sam 8,20. Darin will das israelitische Volk wie alle anderen Völker sein. Die Ältesten verlangen folglich von Samuel, dass er statt der von Gott berufenen Richter einen König über sie stelle, was als eine Wende von der gottunmittelbaren Gemeinde hin zum weltlichen Staat, d. h. als eine Trennung zwischen Gottesherrschaft und irdischen Königen zu verstehen sei. Damit entstehe die Reihe der Propheten, die »die Sache Gottes und seiner Verwirklichung gegen den König führen« 298 . Der Streit verlagere sich auf die Propheten, die sich als Botschafter des Geistes den Ansprüchen der Mächtigen, die sich des Staates bedienen, entgegenstellten. Unter letzterem sei damit ein Staat zu verstehen, der sich von Gott abgewandt, seinen Geist verloren habe, und deswegen keine wahre Gemeinschaft mehr bilde. Da somit keine gegenwärtige Erfüllung des Gottesreiches mehr möglich scheint, entstehe letztlich der Messianismus als erste aktive 296. Vgl. Donald Moore, Martin Buber. Prophet of Religious Secularism, Philadelphia 1974; Francesco Ferrari, Religione e religiosità, S. 319-330. 297. Buber, Der heilige Weg, S. 18; jetzt in diesem Band, S. 131. 298. Ebd., S. 31; jetzt in diesem Band, S. 135.

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Vorbereitung des Reiches Gottes innerhalb der Gemeinschaft. Ein Wechsel in der Perspektive der Propheten hin zur Zukunft beginne: »Es ist das Widerstreben der Stunde gegen die prophetische Glaubenslehre, das das Herz des Propheten der Zukunft zuwendet, als die diese Lehre verwirklichen wird. Doch ist das Verhältnis des Propheten zur Zukunft nicht ein voraussagendes. Prophezeien heißt, die Gemeinschaft, an die das Wort gerichtet ist, unmittelbar oder mittelbar vor die Wahl und Entscheidung stellen. Die Zukunft ist nicht etwas gleichsam schon Vorhandenes und daher Wißbares, sie hängt vielmehr wesentlich von der echten Entscheidung ab.« 299

Der Streit zwischen dem Propheten und dem König stellt die »theopolitische Voraussetzung« 300 sowohl in Der Glaube der Propheten als auch in Königtum Gottes dar. Im Vorwort dieses Werks betont Buber die theokratische (nicht hierokratische) Tendenz in Israel als eigentümliche und wesentliche Dimension, die nicht nur eine religionswissenschaftliche, sondern vor allem eine historische Relevanz besitze, die – mutatis mutandis – aktualisiert werden solle: »Die Proklamation eines ewigen Volkskönigtums Jhwhs und ihre Auswirkung sind nicht mehr auf einer bloß ›religiösen‹ Fläche zu überschauen; sie greifen in die politische Existenz des Volkstums ein. Das Problem ist aus einem religionsgeschichtlichen zu einem geschichtlichen geworden. Es muß gewagt werden, die ihrer unhaltbaren vorkritischen Formulierung wegen verpönte These einer frühzeitlichen unmittelbar-theokratischen Tendenz in Israel […] auf dem Grunde der kritischen Forschung neu zu stellen.« 301

Einem göttlichen Regiment der Gemeinschaft habe sich Israels ganzes tatsächliches Leben unterzuordnen. Es gehe um den heiligen Gott, der alles fordere und gebe: dessen »Regiment kann also nur – in einem höchsten und umfassendsten Sinn – politisch sein.« 302 Mit Gottesherrschaft ist hier keine religiöse bzw. abgelöste Herrschaft gemeint, sondern eine in aller Realität des Gemeinschaftslebens sich auswirkende, im Gegensatz zu jedem irdischen Reich. Solche Thesen sind auch im letzten Buch der biblischen Monographien, Moses (1948), zu finden. Darin wird noch einmal wiederholt, wie in der Glaubensgeschichte Israels »das theologische, das symbolische und das institutionelle Element, in den gemeinsamen Lebenszusammenhang einer Gemeinschaft eingetaucht« sei, wie also »in der Gestaltung des Gesamtlebens dieser Ge299. Martin Buber, Der Glaube der Propheten, Zürich: Manesse 1950, S. 13; jetzt in: MBW 13, S. 144. 300. Ebd., S. 100; jetzt in: MBW 13, S. 200. 301. Buber, Königtum Gottes, Berlin: Schocken 1932, S. XI f..; jetzt in: MBW 15., S. 95 f. 302. Buber, Der Glaube der Propheten, S. 219; jetzt in MBW 13, S. 277.

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meinschaft in all seinen sozialen, politischen und spiritualen Funktionen« 303 die Erwählung Israels als Volk Gottes das Leben bestimme. Dieser Gott sei »Herausholer, Führer und Vorkämpfer; Volksfürst, Gesetzgeber und Entsender großer Botschaft; er handelt auf der Fläche der Geschichte an den Völkern und zwischen den Völkern; um Volk ist es ihm zu tun, Volk fordert er an, dass es ganz und gar ›sein‹ Volk, ein ›heiliges‹ Volk werde, und das heißt: ein Volk, dessen Gesamtleben durch Gerechtigkeit und Treue geheiligt ist, ein Volk für Gott und für die Welt.« 304

Durch diese unbeschränkte Anerkennung der Gottesherrschaft sei Israel von einer Gemeinschaft zu einem Volk gewandelt worden. In diesem Sinne forme der Bund mit Gott immer wieder eine Theopolitik. Die Gemeinschaft bilde laut Buber stets den wahren Ort der Verwirklichung des Gottesreiches. Eine solche Verwirklichung beginne in dieser Welt, und zwar mit den uns täglich begegnenden Menschen. Hieraus ergebe sich die lebendige Mitte, aus der die Gemeinschaft entstehe, und auf die die Gemeinschaft ausgerichtet sei.

Die Gesellschaft zwischen Kultur, Zivilisation, Zwischenmenschlichem und Krise

Die Sozialphilosophie Martin Bubers ist keine bloße Übertragung der Ich-Du-Beziehung auf die Sphäre des Zwischenmenschlichen, was im Übrigen ein Begriff ist, den der Philosoph bereits 1906 im Geleitwort zur Sammlung Die Gesellschaft 305 gebraucht hat. In ihr artikuliert Buber den Begriff der Kultur, der dem der Zivilisation, die als Verfallsprozess begriffen wird, entgegengesetzt wird. Paul Mendes-Flohr stellt fest: »in seiner prä-dialogischen Phase beschäftigte ihn [Buber] in erster Linie die Krise der Kultur – der Niedergang der geistigen und ästhetischen Empfindsamkeit, der mutmaßlich von der industrialisierten, verstädterten Zivilisation herrührt.« 306 Wenn auch der Begriff der Krise in Bubers Schriften ab dem Ersten Weltkrieg eine zentrale Bedeutung annehmen wird, so findet sich doch schon an 303. Martin Buber, Moses, Zürich: G. Müller 1948, S. 11; jetzt in: MBW 13, S. 356. 304. Ebd., S. 12. 305. Martin Buber, Geleitwort, in: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, in: Bd. 1, S. V-XIII. Werner Sombart, Das Proletariat, Frankfurt a. M. Rütten & Loening 1906, S. V-XIV; jetzt in diesem Band, S. 101-107. 306. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 9.

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der Basis seines sozialen Denkens zu Beginn des Jahrhunderts eine gewisse Befangenheit in Bezug auf die Moderne. Dies zeigt sich auf paradigmatische Weise bereits in einigen Worten, die der Autor dem Philosophen gewidmet hat, der – zusammen mit Kant (1724-1804) – seine jungen Jahre unwiderruflich geprägt hatte: Nietzsche. So schrieb der zweiundzwanzigjährige Buber, in einem typisch kulturpessimistischen Tonfall: »Er ist in einer Zeit der Kleinheit gekommen. Klein geworden waren die Beziehungen des Menschen zur Welt, erbärmlich klein und im tiefsten Kern faul das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zum eigenen Werden.« 307 Man muss in diesem Zusammenhang auf Bubers Schrift »Kultur und Zivilisation« von 1901 verweisen. Darin wird beklagt, dass Zeitungen, Konversationslexika, Straßenbahnen und Musikautomaten als Zeichen und Triumphe der modernen Kultur gelten. Buber stellt mit dieser Art von Elitismus fest, dass diese Einschätzung ein grobes Missverständnis sei, und stellt dem eine Reihe stark polarisierender Unterscheidungen gegenüber. Während die Erhaltung und Erleichterung des Lebens die letzten Absichten der Zivilisation seien, die sich am Nützlichen orientiere und nach dem Gesetz des geringsten Kraftaufwandes arbeite, bewirke die Kultur stattdessen die Erhöhung und Veredlung des Lebens als etwas »Eigenartige[m], von eigenen Gesetzen Beherrschte[m]« 308 . In Daniel formuliert Buber kurz vor dem Ersten Weltkrieg seine Theorie der Übermacht der Orientierung zum Nachteil der Verwirklichung, und definiert die Menschen als »verkürzt in dem Recht der Rechte, dem gnadenreichen Recht auf Wirklichkeit« 309 . Er trifft so bereits eine Unterscheidung, die in Ich und Du zur »fortschreitende[n] Zunahme der Eswelt« 310 gesteigert wird, der wiederum eine zunehmende Unfähigkeit zum Du-sagen entspreche. Nach Buber zeichne sich hier ein Missverhältnis ab, bei dem nicht klar sei, wer oder was hier die Oberhand besitze – der Mensch, in seiner potentiell unendlich großen Beziehungsfähigkeit, oder die Dinge, die ihn letztendlich zu dominieren scheinen. Obwohl Buber die Zeitungen für ein Erzeugnis der Zivilisation hielt, war er Zeit seines Lebens ein aktiver Kolumnist, der auch einige scharfsinnige Reflexionen über die Macht und die ethische Tragweite des ge-

307. Buber, Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte, S. 13; jetzt in: MBW 1, S. 150. 308. Martin Buber, Kultur und Zivilisation, Kunstwart 15 (1901), S. 81-83, hier S. 81; jetzt in: MBW 1, S. 157-160, hier S. 157. 309. Buber, Daniel, S. 49; jetzt in: MBW 1, S. 200. 310. Buber, Ich und Du, S. 47.

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druckten Wortes hinterlassen hat. Mit gerade einmal dreiundzwanzig Jahren wurde er von Herzl zum Chefredakteur von Die Welt (vom 1. September 1901 bis zum V. Zionistenkongress im Dezember 1901) berufen. 1916 folgte dann die Gründung von Der Jude (1916-1924), einem grundlegenden Forum für das deutschsprachige Judentum vom Ersten Weltkrieg bis zur Weimarer Republik. Während der Weimarer Jahre von 1926 bis 1930, gibt Buber zusammen mit dem Protestanten Viktor von Weizsäcker (1886-1957) und dem Katholiken Joseph Wittig (1879-1949) die Zeitschrift Die Kreatur heraus. Bubers journalistische Aktivitäten werden durch seine Auswanderung nach Israel keinesfalls unterbrochen. Wie schon erwähnt, ist er ein Mitbegründer von Beʿ ayot ha-Zman, einer Zeitschrift, mit der er den arabisch-israelischen Dialog vorantreiben will, und die in enger Verbindung mit der Ichud steht (1944-48). Zuletzt sei auf die Zeitschrift Ner verwiesen, die 1949 mit der gleichen programmatischen Absicht gegründet wurde. Zeitgleich gibt Buber diverse Editionen und Anthologien heraus. Im »Geleitwort« zur Monographiensammlung Die Gesellschaft, die zwischen 1906 und 1912 im Verlag Rütten & Loening erschien, 312 bekundet Buber eine ausgeprägte Sensibilität für die sozialen Auswirkungen einer solchen Herausgeberschaft, und folgt damit der Diktion von »Kultur und Zivilisation«. Mit seiner Formulierung »Sammlungen sind die Sozialisierung des Buches« 313 charakterisiert Buber die Sammlung als hybrides Medium, durch das das Buch, das als ein einziges, ganzes und selbständiges Wesen, als Produkt der Kultur gilt, zugleich einem allgemeinen Zweck und »Gemeinsamkeitsformen« unterworfen werde, weshalb es hier ebenso sehr als ein Produkt der Zivilisation gilt. Darüber hinaus werde durch die Sammlung dem Leser teilweise die Aufgabe abgenommen, seine Lektüre individuell auszuwählen. Deswegen fungiere sie als eine »Erleichterung« statt einer »Erhöhung des Lebens«. Ebenso habe eine solche Sammlung auch etwas von einer Pionierleistung an 311. Martin Buber, Die Macht der Zeitung (Hebräisch), Ha’aretz, 28. Juni 1938; jetzt in: MBW 11.2, S. 22 f. 312. Vgl. hierzu auch: Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 21-54; S. 111-130; Erhard R. Wiehn, Zu Martin Bubers Sammlung »Die Gesellschaft«. Ein fast vergessenes Stück Soziologiegeschichte in Erinnerung an den 25. Todestag ihres Herausgebers, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte, 1992, S. 183-208; ders., Martin Buber als Soziolog; Hans Diefenbacher, Martin Bubers Sammlung »Die Gesellschaft«. 100 Jahre danach, in: Werner Sombart u. Friedhelm Hengsbach (Hrsg.), Das Proletariat, Marburg 2008, S. XV-XXVII; Carsten Wurm, 150 Jahre Rütten & Loening. Mehr als eine Verlagsgeschichte, Frankfurt am Main 1994, S. 83-93. Über die Entstehung der Sammlung berichtet Buber in einem Brief an Hermann Stehr vom 20. Mai 1905, in: B I, S. 230 f. 313. Buber, Geleitwort zu Die Gesellschaft, S. V; jetzt in diesem Band, S. 101.

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sich. Laut Erhard R. Wiehn stellt die Sammlung Die Gesellschaft die »insgesamt wohl die umfassendste Beschreibung und Analyse der Wilhelminischen Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs vor dem Ersten Weltkrieg« 314 dar. Der erste Deutsche Soziologentag, an dem Buber selbst – zusammen mit Weber, Simmel, Tönnies und Troeltsch – teilnehmen wird, hatte noch nicht stattgefunden (das wird er erst 1910). Die beitragenden Autoren für Die Gesellschaft, zu denen bekannte Persönlichkeiten wie Werner Sombart (1863-1941), Ferdinand Tönnies, Ellen Key (18491926) und Lou Andreas-Salomé (1861-1937) u. a. gehörten, waren tendenziell »liberale Literaten, Kathedersozialisten und gemäßigte Sozialdemokraten« 315 , Grenzgänger wie Georg Simmel und Fritz Mauthner oder sogar Außenseiter wie Landauer. Das »Geleitwort« zur Sammlung Die Gesellschaft ist von der These inspiriert, dass die Betrachtung des Problems der Gesellschaft die Behandlung des »Problem[s] des Zwischenmenschlichen« 316 impliziere. Das Zwischenmenschliche ist ein schwer zu definierender Begriff, dessen lange Wirkungsgeschichte sich in Bubers Schriften nachzeichnen lässt. Er bezeichnet die Tatsache, dass Menschen als solche immer »miteinander« in »Wechselbeziehungen« und »Wechselwirkungen« existieren, in Dynamiken von Tun und Leiden, »Über- und Unterordnung«. Aus diesen entstehe die Gesellschaft, deren Wissenschaft die Soziologie sei: »Die Soziologie ist die Wissenschaft von den Formen des Zwischenmenschlichen.« 317

Da Buber das Studium des »Zusammenleben[s] von Menschen in allen seinen Formen, Gebilden, und Aktionen« als »unpersönliche […] Prozesse« 318 betrachten will, geht es in seiner Sammlung um sozialpsychologische Untersuchungen. Der Herausgeber selbst qualifiziert die Epistemologie der Sammlung als beschreibende Sozialpsychologie. Damit erweckt, so Mendes-Flohr, »Bubers Geleitwort den Eindruck eines Ausgleichsversuchs zwischen Simmel und Dilthey; während die philosophische Vorstellung der Sozialpsychologie Bubers von Simmels Soziologie abgeleitet ist, entspricht ihre Funktion innerhalb der Geisteswissenschaften Diltheys Programm einer beschreibenden Psychologie.« 319 In der Tat 314. 315. 316. 317. 318. 319.

Wiehn, Martin Buber als Soziolog, S. 70. Mendes-Flohr, Von dem Mystik zum Dialog, S. 116. Buber, Geleitwort zu Die Gesellschaft, S. X; jetzt in diesem Band, S. 104. Ebd., S. XI; jetzt in diesem Band, S. 104. Ebd., S. X; jetzt in diesem Band, S. 104. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 39.

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betont Buber, dass die wechselseitige Form von Beziehungen immer Ausdruck von seelischen Vorgängen sei. Er schreibt Sätze wie: »Was zwischen den Menschen geschieht, geschieht zwischen Komplexen psychischer Elemente«, so dass »das Problem des Zwischenmenschlichen im Grunde das sozialpsychologische Problem [ist]. Sein Gegenstand ist das Soziale, als psychischer Prozeß angesehen.« 320 Obwohl der Begriff des »Zwischenmenschlichen« von ihm hier erstmals verwendet wird, ist in dem Geleitwort noch keine Ontologie des Zwischenmenschlichen im engeren Sinne zu finden. 321 In »Kultur und Zivilisation« zeigt sich eine andere Langzeitperspektive von Bubers sozialem Denken: der Gegensatz zwischen den Zeiten der Kulturreife und den Zeiten der Kulturkeime, der direkt auf Simmels Dialektik von Leben und Form zurückzuführen ist: »Die ersten tragen ein fest ausgebildetes Gepräge, das oft schon die starren Formen annimmt, welche den nahen Tod verkünden; das zur Lebenserhöhung Erzeugte dient nun der Aufhebung des Lebens. Die andern sind von überströmendem Feuer erfüllt, das in Kampf und Sehnsucht wogt und alle Formen sprengt«. 322 Das Form-Annehmen sei ein Vorzeichen eines nahenden Todes aufgrund einer Erstarrung, durch die die Lebensgeister immer schwerer zirkulierten, wodurch das Leben nun einer Erneuerung bedürfe. Schriften wie »Die Zukunft« und »Das Gestaltende«, in denen der Kampf zwischen Leben und Tod zu dem zwischen dem Gestaltlosen und dem Gestaltenden wird, leiten über zu den Worten von Ich und Du, in denen die These aufgestellt wird, dass jede Kultur »auf einem ursprünglichen Begegnungsereignis« ruhe und deswegen lebendig sei, solange sie »frei und somit schöpferisch [ist]. Zentriert eine Kultur nicht mehr im lebendigen, unablässig erneuten Beziehungsvorgang, dann erstarrt sie zur Eswelt.« 323 Aus diesem Ereignis der Begegnung entstehe eine Kultur und ein Kosmos gleichermaßen. In Das Problem des Men320. Buber, Geleitwort zu Die Gesellschaft, S. XII; jetzt in diesem Band, S. 105. 321. Vgl. Bubers Selbstkritik im Jahr 1954: »Man pflegt das, was sich zwischen Menschen begibt, dem Gebiet des ›Sozialen‹ zuzurechnen und verwischt damit eine grundwichtige Trennungslinie zwischen zwei wesensverschiedenen Bereichen der Menschenwelt. Ich selbst habe, als ich vor nahezu fünfzig Jahren mich in dem Wissen von der Gesellschaft selbständig zurechtzufinden begann und mich dabei des damals noch unbekannten Begriffs des Zwischenmenschlichen bediente, den gleichen Irrtum begangen.« (Martin Buber, Elemente des Zwischenmenschlichen, in: ders., Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1954, S. 255-284, hier S. 257; jetzt in: MBW 4.) 322. Buber, Kultur und Zivilisation, S. 83; jetzt in: MBW 1, S. 159. 323. Buber, Ich und Du, S. 65 f.; jetzt in: MBW 4, S. 69 f.

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schen wird Buber auf ebensolche Art und Weise in der Geschichte des menschlichen Geistes zwischen den »Epochen der Behaustheit« und den »Epochen der Hauslosigkeit« unterscheiden: »In den einen lebt der Mensch in der Welt wie in einem Hause, in den andern lebt er in der Welt wie auf freiem Feld und hat zuweilen nicht einmal vier Pflöcke, ein Zelt aufzuschlagen. In den ersten gibt es den anthropologischen Gedanken nur als einen Teil des kosmologischen, in den zweiten gewinnt der anthropologische Gedanke seine Tiefe und mit ihr seine Selbständigkeit.« 324 Damit wird das schöpferische Moment der Entstehung einer Kultur (d. h. einer Form) mit der Unmittelbarkeit des Lebens verbunden und dem Bild einer Welt gegenübergestellt, die einer schrittweisen Verhärtung jener Kultur erliegt und ihrem Verfall und Tod preisgegeben ist, der mit dem Aufkeimen einer neuen Kultur einhergeht, die aus dem unversiegbaren Fluss des Lebens entsteht. In diesem Sinne erinnerte Gershom Scholem (1897-1982) zu Recht daran, dass »Buber […] die schöpferische Verwandlung des Judentums [suchte]; er suchte die Momente in seiner Geschichte und Gegenwart, wo das Schöpferische die Formen sprengt und neue Gestaltung sucht.« 325 Es sei noch einmal betont, wie untrennbar ein solcher Gedanke mit der Lebensphilosophie Simmels und dem Historismus Diltheys verbunden ist. Eine neue Bestimmung der Kultur, die wiederum als Gegensatz zur Zivilisation zu verstehen ist, findet sich später in »Über das Wesen der Kultur«, einer 1943 entstandenen Schrift, die jedoch bis heute nur auf Hebräisch verfügbar ist. »Zivilisation« heißt hier das »Eindringen des Verstandes in alle Bereiche des Seins« 326 – mit dem Verlust des ganzen Seins. Die Ausbreitung der Zivilisation zeitige drei wesentliche Konsequenzen. Sie führe zu einem immer größeren Einfluss des Rationalismus auf unsere Vorstellung der Welt und des Ich; zu einer verstandesmäßigen Ausformung einer wissenschaftlichen Ordnung, die praktisch und zweckerfüllend sei und letztlich zur Schaffung eines Apparates an Methoden und Disziplinen für die Umsetzung dieser Ordnung. Kultur wird dagegen von Buber als die Bewegung, das Streben und Suchen der Seele des Menschen gedacht, die ihrem Wesen Form zu verleihen vermag. Eine Kultur verleihe dem Leben Gestalt und Dauer, statt dass es sich nur auf sich selbst versteife. Ebenso schaffe Kultur eine zweite gegenständliche Welt neben der Welt der Natur, und zwar eine Welt des Ge324. Buber, Das Problem des Menschen, S. 22 f.; jetzt in: MBW 12, S. 231. Vgl. dazu bereits »Die Überwindung«; jetzt in diesem Band S. 111-122. 325. Gershom Scholem, Martin Bubers Auffassung des Judentums, S. 136. 326. Martin Buber, Über das Wesen der Kultur, Machberot la-sifrut, 2, 4, November 1943, S. 3-16 (hebr.); jetzt in: MBW 11.2, S. 42-58, hier S. 42.

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schaffenen. Formgebung ist hier als die Vereinigung von Geist und Leben gedacht, wird also anders als bei Simmel nicht mit einer tragischen Konnotation versehen. Während vier Jahrzehnte zuvor die Zivilisation in Bubers Denken noch für das Nützliche stand, gilt sie hier nun als die »Repräsentation des für alles Feststehenden und für alles Notwendigen« und ihre Güter sind Mittel zum Zweck; im Gegensatz dazu gilt die Kultur als die Symbolwelt der Seele, als die »Schöpfung eines Neuen« 327 sowie als etwas Einmaliges, das als Einheit des ganzen Lebenssystems zu begreifen sei. Mit der Entwicklung von Kulturbereichen zerfalle aber die Lebenskraft der Kultur, und zwar in erstarrte Formen einerseits und Taten ohne Form andererseits. Zur Kultur gehöre stattdessen die Formgebung einer Gesellschaft aus dem Geist des Gemeinschaftlichen: »Die gemeinsame Formgebung einer Gesellschaft, die aus der Paarung von gemeinschaftlichem Geist und gemeinschaftlichem Leben derselben Gesellschaft entsteht, dies ist die Kultur.« 328 So Shmuel Eisenstadt (1923-2010), Schüler und Nachfolger Bubers an der Hebräischen Universität von Jerusalem: »Cultural creativity, according to Buber, is the product of four basic forms of opposition: tradition versus innovation; the shaping of concrete, instrumental social relations versus the creation of an independent sphere of cultural products and values; the growth of forms of culture versus the development of self awareness or self-consciousness on the part of the actors; and the plurality of institutional spheres versus the existence of some central common core of cultural tradition.« 329

Die Möglichkeiten der kulturellen Kreativität und der sozialen Erneuerung schienen Buber in jenen Situationen am größten zu sein, wo die Gegensätze sich in einem Spannungszustand befinden, der die Autonomie jedes einzelnen bewahre. Buber war sich bewusst, dass er in einer Zeit lebte, in der die Gesellschaft weit davon entfernt ist, von einer gemeinsamen Formgebung der Kultur inspiriert zu sein, sondern sich anschickt, ganz auf Zivilisation reduziert zu werden. In einem Dialog mit Rabindranath Tagore (18611941) wird er anerkennen, dass die moderne Zivilisation der Schicksalsweg der Menschheit sei, der ihre höchste Aufgabe und ihre entscheidende In-Frage-Stellung umfasse. Das Abendland könne und dürfe sie des-

327. Ebd., S. 43. 328. Ebd., S. 52. 329. Shmuel N. Eisenstadt, Martin Buber’s Approach to Sociological Analysis, in: Martin Buber (1878-1965), Bd. 2, S. 86-102, hier S. 91.

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wegen nicht aufgeben. Unsere heutige Gesellschaft entstehe durch die Herauslösung der Person aus dem Zellenverband der Gemeinschaft bzw. des Volkes. Dadurch entstehe aber ein vereinzeltes Individuum, das Weltangst verspüre, und deswegen nach einer Möglichkeit des Zusammenhangs 331 suche, nach einem »wesenhaften Wir« 332 , aus dem es herausgeworfen worden sei. Sobald das Zusammenleben von Menschen fehle, reduziere sich ein Volk auf eine gestaltlose Masse. Der Triumph der Zivilisation über die Kultur, der Gesellschaft über die Gemeinschaft und der Masse über das Volk, ist für Buber ein unmissverständliches Anzeichen einer Krise. Eine solche Krise entstehe aus der Trennung zwischen Geist und Leben – dort, wo der Geist unfähig geworden sei, das Leben zu gestalten. Der heutige Mensch suche sodann nach Heilmitteln, sowohl durch die Zugehörigkeit zu irgendwelchen Gruppen bzw. Ideologien als auch durch eine Psychologisierung der Welt, oder aber durch die Reduktion des Geistes auf das »Geistige« 333 . Dies könnte ihm aber nicht helfen, da diese Gruppen nicht verstünden, dass die Krise etwas Systemisches sei, etwas, das verschiedene Ebenen und Bereiche einschließe, von der Familie bis zur Arbeit. Deswegen handele es sich bei dieser Krise zugleich um eine Krise der sozialen Verbundenheit und der Authentizität des Zwischenmenschlichen und ihrer organischen Formen. Sie sei letztlich eine Krise der Ganzheit der Person, und damit auch eine Krise des Vertrauens. 334 Die Diagnose Bubers findet in Pfade in Utopia ihren endgültigen Ausdruck: »Seit drei Jahrzehnten empfinden wir, daß wir am Anfang der bisher größten Krisis des Menschengeschlechtes leben.« » Es kann kaum mehr einem Zweifel unterliegen, daß der letzte Krieg als das Ende des Vorspiels zur Weltkrisis anzusehen ist.« »Von einer schlechthin entscheidenden Bedeutung wird es dann sein, wer das reale Subjekt der umgewandelten Wirtschaft und Inhaber der sozialen Produktionsmittel sein wird, die zentrale Staatsgewalt in einem höchstzentralisierten Staat oder die sozialen Einheiten der zusammenlebenden und zusammen produzierenden Land- und Stadtarbeiter und ihre Vertretungskörper.« »Von diesen Entscheidungen […] wird das Werden einer neuen Gesellschaft und einer neuen Kultur weitgehend abhängig sein. Es geht um die Entscheidung über die Grundlage: Restrukturierung der Gesellschaft als Bund der Bünde und Reduktion des Staates 330. Vgl. Martin Buber, Ein Gespräch mit Tagore, in: ders., Nachlese, S. 184-186; jetzt in: MBW 11.2, S. 377 f. Buber und Tagore hatten sich bereits 1921 kennengelernt (vgl. Brief Bubers an Louise Dumont, B II, S. 78-79). 331. Vgl. Buber, Individualismus und Kollektivismus, jetzt in: MBW 11.2. 332. Vgl. Buber, Das Problem des Menschen, jetzt in: MBW 12, S. 283. 333. Vgl. Martin Buber, Der Chassidismus und der abendländische Mensch, Merkur 10 (1956), S. 933-943, hier S. 941; jetzt in: MBW 17, S. 304-315, hier S. 312 f. 334. Vgl. Wolf Dieter Gudopp, Martin Bubers dialogischer Anarchismus, S. 23.

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auf die Einheitsfunktion, oder Resorption der amorphen Gesellschaft durch den allmächtigen Staat.« 335

Solche Sätze – die die Untrennbarkeit der sozialen und politischen Philosophie Bubers zeigen – leiten über zum letzten Thema in diesem Zusammenhang: Bubers Kritik an dem sogenannten »politischen Prinzip«.

Buber in Jerusalem. Das soziale und das politische Prinzip

Mit sechzig Jahren beginnt für Buber ein neues Leben. Wie kaum anders zu erwarten ist, waren seine Auswanderung von Heppenheim nach Jerusalem sowie die Berufung zum Professor für philosophia shel ha-chevra (Sozialphilosophie) an der Hebräischen Universität von Jerusalem schwierige Unternehmungen. 336 Trotz der unabwendbar wachsenden nationalsozialistischen Gewalt gegen die Juden, verließ Buber Deutschland nur widerwillig. Nicht weniger als dort, lebte er dann auch in Palästina in einer paradoxen Situation. Einerseits spielte er in diversen Debatten eine zentrale Rolle, und stellte eine charismatische Referenzfigur für die jüngere Generation dar 337 und war bei Politikern wie Ben Gurion hochgeschätzt. Andererseits erfuhr er eine gewisse intellektuelle Isolation und traf mitunter auf Vorbehalte und Ablehnung. Als Beweis dafür sei auf die im Briefwechsel mit Jehuda Magnes, Gershom Scholem und Hugo Bergmann 338 sichtbar werdende Opposition und das Veto 335. Martin Buber, Pfade in Utopia, S. 234, S. 232 f. u. S. 233; jetzt in: MBW 11.2, S. 250. 336. Vgl. Werner Kraft, Gespräche mit Martin Buber, München 1966; Schalom BenChorin, Martin Buber in Jerusalem, in: Dialog mit Martin Buber, S. 372-400; Gabriel Stern, Martin Buber unter Juden und Arabern, in: Dialog mit Martin Buber, S. 401-421. 337. Genannt sei z. B. der Gründer des Kibbuz Hazorea, Hermann Menachem Gerson, der in Deutschland schon für die Gruppe die Werkleute aktiv war und bei Buber die Dissertation Die Entwicklung der ethischen Anschauungen bei Georg Simmel verfasste. 338. Vgl. u. a. Magnes Brief an Buber vom 21. Februar 1934 (in: B II, S. 525 f.), in dem alles danach aussah, als könne Buber für die Lehre in allgemeiner Religionswissenschaft berufen werden. In Bubers Brief an Scholem vom 20. August 1934 (in: B II, S. 551) sieht der Stand der Dinge völlig anders aus. Vgl. dann den Brief Bubers an Scholem vom 10. Oktober 1935, in dem Buber seine Bereitschaft Gesellschaftsphilosophie zu unterrichten, kundtut (in: B II, S. 574 f.) ohne jedoch seine aufrichtige Perplexität über dieses Fachgebiet auszudrücken, das er ganz und gar nicht als seine Sache ansieht. Vgl. dann den Brief Bubers an Hugo Bergmann vom 13. November 1935 (in: B II, S. 577 f.) sowie den Brief vom 16. April 1936 (in: B II, S. 588-591), in dem Buber sich als »kein Universitätsmensch« bezeichnet. Auch habe Buber immer die Aufgabe der Erwachsenenbildung als die ihm nähere empfunden, nicht die der akademischen Lehre im strengen Sinne. Sobald seine Pensionierung bevorsteht, wird er als seinen Nachfolger Leo Strauss (1899-1973) vorschlagen, und an sein an-

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verwiesen, das die orthodoxen Mitglieder gegen Bubers mögliche Berufung auf den Lehrstuhl für Religionswissenschaft einlegten, und zwar an derselben Universität, zu deren Gründung Buber seit Beginn des Jahrhunderts entscheidend beigetragen hatte. Mit der Lehrveranstaltung Be’ayat ha-adam im Frühjahr 1938, die später als Das Problem des Menschen veröffentlicht wurde, begann Bubers neue Karriere also nicht ohne Widerstände. Der Aufbau einer philosophischen Anthropologie über die Ich-Du-Beziehung findet in ihr ihren klassischen Ausdruck. 339 So wurde Buber zum ersten Professor für Soziologie, und in der Folge zum ersten Direktor eines Institutes für Soziologie (1947) im palästinensischen Mandatsgebiet, sowie später in Israel ernannt. Unter seinen Schülern finden sich Amitai Etzioni und Shmuel Eisenstadt. 340 Letzterer wird nach Bubers Emeritierung sein Nachfolger werden (1951). Er behauptet, dass Bubers »sociological analysis can only be understood through this connection with the analysis of the creative process of the human spirit« 341 . Tatsächlich verlieh Buber seiner Didaktik und seinen Veröffentlichungen einen kultursoziologischen Ansatz. Lao-Tse (6. Jh. v. Chr.) und die klassischen griechischen Philosophen, Marx, Simmel, Tönnies, Alfred Weber (1868-1958) und Max Weber, Lorenz von Stein (1815-1890), Georges Sorel (1847-1922), und die Sozialutopisten kamen häufig in seinen Schriften vor, ebenso wie Autoren, die mit der Kulturanthropologie in Verbindung stehen. 342 Zugleich jedoch regte Buber seinen Schüler (dessen Ansatz zweifelsohne eher empirisch war) zu Feldstudien über die sozialen Strukturen der Jischuw an, und wurde zum Betreuer seiner 1947 geschriebenen Dissertation über »Wesen und Gren-

339.

340.

341. 342.

fängliches Zögern erinnern (Brief Bubers an Leo Strauss, 16. Januar 1950, S. 234 f.). Vgl. Gershom Scholem, Martin Bubers Berufung nach Jerusalem. Eine notwendige Klarstellung, in: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik 22 (1967), S. 229-231. Im darauffolgenden Jahrzehnt wird Buber die Texte verfassen, die im ersten Band seiner Werke unter dem Titel Beiträge zu einer philosophischen Anthropologie zusammengefasst werden, d. h.: Urdistanz und Beziehung (1950); Der Mensch und sein Gebild (1955); Das Wort, das gesprochen wird (1960); Dem Gemeinschaftlichen folgen (1956); Schuld und Schuldgefühle (1957). Shmuel N. Eisenstadt, Martin Buber’s Approach to Sociological Analysis; ders., Intersubjectivity, Dialogue, Discourse, and Cultural Creativity in the Work of Martin Buber, in: Martin Buber, On Intersubjectivity and Cultural Creativity, Chicago 1992, S. 1-22; ders., Martin Buber in the Postmodern Age. Utopia, Community, and Education in the Contemporary Era, in: Martin Buber. A Contemporary Perspective, hrsg. von Paul Mendes-Flohr, Jerusalem 2002, S. 174-184. Vgl. auch Wiehn, Martin Buber als Soziolog, S. 8; Haim Gordon, The Other Martin Buber, S. 88-90. Shmuel N. Eisenstadt, Martin Buber’s Approach to Sociological Analysis, S. 90. Ebd., S. 88.

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zen des Sozialen«, bei der sich die Kontinuität zu Bubers Schriften aus denselben Jahren schon im Titel bemerkbar macht. Der Gegensatz zwischen dem sozialen und dem politischen Prinzip bildet das originellste Motiv in Bubers Denken dieser Jahre. Ein aufmerksamer Interpret seiner Sozialphilosophie, Alexander S. Kohanski stellt sie mit folgenden Worten vor: »[Buber] recognizes two spheres in the social organism, which he designates as the social sphere and the political sphere, or the ›social principle‹ and the ›political principle‹. […] In the social sphere, the primal relation of I-Thou governs the organic society, rendering man a free, independent member of that society. In the political sphere, the individuals are subordinated to the common purpose for which they are organized through a preconceived plan. Thus, under the social principle, the structure is formed and sustained by the free, spontaneous, primal act of entering-into-relation, which emanates from all those who constitute the social unity. Under the political principle, the structure is constituted and maintained by a force which issues from the established order and is imposed upon its individual members, even if it is contrary to their primal relation.« 343

Der Dualismus zwischen sozialem und politischem Prinzip wurzelt in dem Gegensatz, der bereits im Titel von Bubers Antrittsvorlesung an der Hebräischen Universität von Jerusalem anklingt: Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit. 344 Diese Gegenüberstellung bestimmt zugleich den Grund für Bubers Wahrnehmung der Soziologie als einer kritischen und fordernden (also nicht wertfreien) Disziplin, die als selbständige Wissenschaft aus der Krise der menschlichen Gesellschaft entstanden sei. Da die Krise der menschlichen Gesellschaft gleichzeitig eine Krise des Geistes und eigentlich eine Folge dieser letzteren sei, führe diese dann zu einer Verabsolutierung der geschichtlichen Wirklichkeit und ihres Machtstrebens. So könne laut Buber die Soziologie als das Heilmittel bestimmt werden, durch das der Geist seine eigene Krise in Frage stelle, um sie dann zu überwinden, und eine menschliche Welt getreu seiner Forderungen aufbauen zu können. Die wissenschaftliche Erkenntnis der gesellschaftlichen Zustände ziele so auf deren Überwindung. »Die moderne Soziologie entstammt also der Begegnung des Geistes mit der Krisis der menschlichen Gesellschaft, die er als seine eigene Krisis verstand und durch eine geistige Wendung und Wandlung zu überwinden unternahm; die Einsicht in das Wesen der Krisis, ihre Ursachen und die durch sie gestellten Probleme, der 343. Alexander S. Kohanski, Martin Buber’s Philosophy of Interhuman Relation, S. 72. 344. Buber, Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit, Berlin: Schocken 1938; jetzt in: MBW 11.2, S. 9-21.

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Anfang dieser Wendung und Wandlung sollte eben die Soziologie sein. […] Aber es handelt sich darum, eine Welt in der Krisis zu erkennen, und der erkennende Geist weiß, daß er selbst mit in der Krisis steht. Nicht als ob er bloß ein Stück der gesellschaftlichen Wirklichkeit wäre. Er ist vielmehr ihr Partner, dazu bestimmt, von ihr zu lernen, was ist, und hinwieder ihr zu weisen, was sein soll, – und die Krisis umfängt sie beide mitsammen.«. 345

Der Geist sei ein schaffender Partner der Wirklichkeit; er sei ihr nicht untergeordnet. Demnach müssen die Ordnungen und das Wesen des Miteinanderlebens dessen Wandlung mitmachen. D. h. Einrichtungen und Menschen müssen sich in gleicher Weise ändern. Ist dies noch möglich? Wer kann zum Wortführer eines solchen Anliegens werden? Buber fragt deswegen nach der Beziehung zwischen dem Philosophen als dem Vertreter des Geistes – und damit des sozialen Prinzips – und dem Politiker als dem Vertreter der Ordnung einer historischen Realität, die sich in einer Krise befinde. Dahinter verbirgt sich die Frage, ob der Geist noch Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit haben könne. Sie wird konkreter in einer Welt, die sich laut Buber durch faktische Machterringung und Machtausübung immer mehr von aller Herrschaft des Geistes freigemacht habe. Die »Mächtigkeit des Geistes«, 346 an die Buber in Deutschland gegen den Nationalsozialismus appelliert hatte, ist gegen die Übermacht des Politischen notwendig. Platon (ca. 428/427-348/347 v. Chr.) und Jesaja gelten ihm als Paradebeispiele hierfür. Platons Politeia formuliert eine berühmte Antithese: Entweder müsse der Mensch des Geistes zur Macht kommen, oder er müsse die Machthaber zum Leben des Geistes erziehen: »Platon glaubt an den Geist und glaubt an die Macht, er glaubt an den Beruf des Geistes zur Macht.« 347 Das bedeutet, der Geist kann nach ihm eine entartete Macht regenerieren. 348 Der Prophet Jesaja verweist dagegen auf ein »Scheitern des Geistes« 349 . Er lehrt und mahnt, dass weder Geist noch Macht Eigentum des Menschen sei345. Jetzt in: MBW 11.2, S. 10. 346. Martin Buber, Die Mächtigkeit des Geistes, in: ders., Die Stunde und die Erkenntnis. Reden und Aufsätze, 1933-1935, Berlin: Schocken 1936, S. 74-87; jetzt in: MBW 9, S. 176-183. 347. Buber, Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit, jetzt in: MBW 11.2, S. 15. 348. Damit kritisiert Buber Jacob Burckhardts These, der zufolge Macht an sich böse sei. Laut Buber kann Macht alles sein, gut und böse. Macht an sich ist das »bloße Vermögen, zu bewirken, was man bewirken will« (Martin Buber, Zu zwei BurckhardtWorten, in: Dauer im Wandel. Festschrift zum 70. Geburtstag von Carl J. Burckhardt, hrsg. von Hermann Rinn u. Max Rychner, München: G. D. W. Callwey 1961, S. 102; jetzt in: MBW 11.2, S. 336). 349. Buber, Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit, jetzt in: MBW 11.2, S. 16.

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en. Diese würden einem Menschen nur als Statthalter Gottes verliehen. In diesem Sinn wird die Gottesherrschaft von Buber immer wieder in strengem Gegensatz zur Theokratie einer Priesterherrschaft gesehen. Zugleich verweist der Gegensatz zwischen Gottes- und Priesterherrschaft auf die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen Religion und Politik zu revidieren. Die zentralen Thesen in diese Richtung hatte Buber schon in »Gandhi, die Politik und Wir« formuliert. Darin postuliert er einen besonders polarisierenden Gegensatz: »Religion meint Ziel und Weg, Politik Zweck und Mittel.« 350 Durch die doppelte Gegenüberstellung von Ziel-Zweck und Weg-Mittel führt Buber die Zweierbeziehungen Kultur-Zivilisation, Verwirklichung-Orientierung und Du-Es fort. Aus dem biblischen Bewusstsein, dass Erfolg keiner der Namen Gottes ist, wird der Zweck auf derselben Ebene wie der Erfolg angesiedelt. 351 Die Frage nach der Autonomie des Politischen wird dann mit der Religion in einen Zusammenhang gestellt, und auf indirektere Weise im Zusammenhang mit der Moral betrachtet. Das Politische wird hier als eine grundlegende Dimension des öffentlichen Lebens definiert, welches in der Gegenwart auf eine bürokratische Maschinerie reduziert zu werden scheint. Deren wesentliche Institutionen wie die Parteien oder der Staat seien zu verschiedenen Formen von Fiktionen geworden, die eine authentische Entfaltung des öffentlichen Lebens verhinderten, in dem die Menschen ihre Verantwortung ausüben könnten, sei es als Einzelne, oder sei es in Gestalt von Bünden und Gemeinschaften. Buber betont, dass es – vor jeder Form von politischem Aktionismus – eine innere Umwandlung des Menschen geben müsse. All das wird wohlgemerkt begleitet von einer deutlichen Distanzierung Bubers von jeglicher »Religionspolitik« und erst recht von jeglicher politischen Theologie. Im Gegenteil: Die Kraft des Geistes und der Begriff der Verantwortung sind Elemente, für die es bei Buber letztendlich keine Auflösung der Zusammengehörigkeit von Religion, Moral und Politik gibt. Seine Überlegungen nehmen von nun an einen antipolitischen Tonfall an, ohne darum gleich unpolitisch zu werden. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, wollte man Bubers Position als eine Dämonisierung des Politischen auffassen. Buber schreibt: 350. Buber, Gandhi, die Politik und wir, S. 333; jetzt in diesem Band, S. 342. 351. Nach Buber ist die Kategorie des Erfolgs in der Politik zwar entscheidend, jedoch in religiöser Hinsicht inakzeptabel. Vgl. Bubers Beobachtungen in »China und Wir«: »Wir haben begonnen, an der Bedeutung des geschichtlichen Erfolges zu zweifeln, d. h. an der Gültigkeit des Menschen, der sich Zwecke setzt, diese Zwecke durchsetzt, der Machtmittel ansammelt und diese Machtmittel auswirkt, der eingreift, ändert, organisiert – des typischen modernen abendländischen Menschen. […] Denn aller geschichtliche Erfolg ist Scheinerfolg, aller geschichtliche Erfolg bedeutet Verzicht auf die Verwirklichung« (Martin Buber, [China und Wir], in: Chinesisch-Deutscher

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»Man soll, meine ich, die Politik weder aufsuchen noch meiden, man soll weder prinzipiell politisch noch prinzipiell apolitisch sein. Das öffentliche Leben ist ein Bezirk des Lebens, es ist in unsrer Zeit in seinen Gesetzen und Gestalten ebenso entstellt wie alles Leben, seine Entstellung nennt man heute Politik, wie man die Entstellung des Arbeitslebens Technik nennt, aber wie diese ist jene nicht in ihrem Wesen Entstellung, – wie diese ist jene erlösbar.« 352

Den ersten Grund für diese »Entstellung« sieht Buber in der Konzentration von Macht, wie sie im Staatszentralismus (dem entscheidenden Element für das, was der Philosoph das politische Prinzip nennen wird) gegeben sei, der dem menschlichen »Wille[n] zum legitimen Aufbau eines echten Gemeinwesens« 353 (Bestandteil dessen, was er soziales Prinzip nennen wird) widerspreche. Eine Lösung wäre die Reduktion des »Staatsapparat[es] auf das technisch notwendige Minimum« 354 , um so das Übermaß dessen, was er als »Mehrstaat« bezeichnet, und somit letztlich den politischen Überschuss zu vermeiden. Dies war Bubers Position seit 1930. Die folgenden zwei Jahrzehnte – von Hitlers Machtergreifung bis zum Zweiten Weltkrieg und dem unmittelbar darauffolgenden Kalten Krieg – werden in dramatischer Zuspitzung die Konsequenzen einer Welt sichtbar machen, in der das politische Prinzip vorherrscht. 1953 formuliert Buber eine besonders eindrückliche Definition hierfür in einer Rede, die er anlässlich der Verleihung des Hansischen Goethe-Preises hält und die den Titel »Geltung und Grenze des politischen Prinzips« trägt: »Mit dem Namen des politischen Prinzips bezeichne ich das sozusagen praktische Axiom, das in Gesinnung und Haltung eines sehr großen Teils der heutigen Generationen vorherrscht. Als Satz gefaßt, mag es etwa besagen, die öffentlichen Ordnungen seien rechtmäßig die Determinante des menschlichen Daseins. Der Hauptton liegt natürlich auf dem Adverb ›rechtmäßig‹ ; das Prinzip will […] festsetzen, daß es sich zu Recht so verhalte, weil die Staatlichkeit eben den Wesensstand des Menschen ausmache, und nicht sie um seinetwillen, sondern er um ihretwillen bestehe. Demnach ist der Mensch wesentlich des Kaisers.« 355

Dagegen definierte Buber wenige Jahre zuvor in einer Rede, die er zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der Hebräischen Universität von Jeru-

352. 353. 354. 355.

Almanach für das Jahr Gi Si 1929/1930, hrsg. vom China-Institut in Verbindung mit der Vereinigung der Freunde Ostasiatischer Kunst, Frankfurt a. M. 1929, S. 4043, hier S. 42; jetzt in: MBW 2.3, S. 285-289, hier S. 288). Solcherlei Kritik kehrt in Königtum Gottes und später in Die Frage an den Einzelnen wieder. Buber, Gandhi, die Politik und wir, S. 341; jetzt in diesem Band, S. 349. Ebd., S. 338; jetzt in diesem Band, S. 346. Ebd. Geltung und Grenze des politischen Prinzips, S. 337 f., jetzt in: MBW 11.2, S. 301.

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salem unter dem Titel »Zwischen Gesellschaft und Staat« hielt, das soziale Prinzip als das Prinzip, durch das »Menschen sich entweder in einem Zustand des Miteinanderverbundenseins finden oder sich miteinander verbinden, somit einen schon vorhandenen oder jetzt eben gestifteten Verband, eine Gesellschaft miteinander bilden.« 356 Das Miteinanderverbundensein bilde den Kern des sozialen Prinzips, während die zentralisierte Macht der Kern des politischen Prinzips sei. Buber betont, dass alles menschliche Zusammenleben aus diesen zwei Prinzipien entstehe. Ihre mangelhafte Unterscheidung sei ein uraltes Problem der Philosophie – und später dann der Soziologie. 357 Den relativ geringen Räumen der Autonomie bzw. Freiheit für soziale Organismen entspreche eigentlich deren mangelhafte begriffliche Unterscheidung zwischen sozialem und politischem Prinzip, bzw. die Subsumierung des sozialen Prinzips unter das politische Prinzip. Ein letzter Grund, aus dem es »keinen Ansatz zu einer begrifflichen Scheidung zwischen staatlichen und außerstaatlichen Gemeinschaftsgebilden« gebe, sei darin zu sehen, dass »in der Wirklichkeit den letzteren keinerlei selbständige Existenz und Entwicklung gegönnt war.« 358 Laut Buber zeige die Tatsache, dass »Macht« als der Grundbegriff der Sozialwissenschaft fungiere, wie das soziale Prinzip immer wieder mit dem politischen verwechselt, das erste unter das zweite subsumiert werde. Im Verlauf der abendländischen Philosophie werde mit der Verabsolutierung der Geschichte, die von Thomas Hobbes (1588-1679) über Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) bis hin zu Heidegger führt, auch die »Machtgetriebe« der Gegenwart verabsolutiert: »so kann es sich leicht ereignen, daß in der geschehenden Geschichte der zeitbefangene Denker dem aktuellen staatlichen Machtgetriebe den Charakter des Absoluten« 359 zuspricht. Es sei die Verdrängung des Gottesreiches durch die partikulare irdische Geschichte, durch die einzelnen Nationalstaaten gewesen, die zu einer nie zuvor gesehenen Gewalteskalation geführt habe, und zwar auf Kosten der gesamten Menschheit, vor allem aber des jüdischen Volkes. Um die Grenze zum politischen Prinzip zu ziehen, weist Buber mehrmals auf den Spruch Jesu vom Zinsgroschen hin, dem zufolge der Mensch Gott etwas geben solle, zugleich aber auch der über ihn 356. Martin Buber, Zwischen Gesellschaft und Staat, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1952, S. 10; jetzt in: MBW 11.2, S. 261-274, hier S. 262. 357. Gerade in Zwischen Gesellschaft und Staat umreißt Buber eine weitläufige historisch-philosophische Erkundung dieses Prozesses. 358. Ebd., S. 13; jetzt in: MBW 11.2, S. 263. 359. Buber, Geltung und Grenze des politischen Prinzips, S. 340; jetzt in: MBW 11.2, S. 303.

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herrschenden irdischen Gewalt. Wie kann man aber den Anspruch Gottes und den des Staates an den Menschen auf eine Stufe stellen? Hierbei geht es dem Philosophen nicht darum, eine Zweiteilung des Lebens zu behaupten, sondern im Gegenteil darum, die menschliche Existenz im Zeichen der Maxime aus dem Deuteronomium zu sehen, der zufolge der Mensch Gott mit seiner ganzen Seele und Macht lieben soll. Buber erklärt: »in einer so beschaffenen Menschenwelt Geltung und Grenze des politischen Prinzips im Zeichen des Zinsgroschenspruchs erörtern, heißt an den vorgeblichen Absoluta, den Archonten der Stunde, am entscheidenden Punkte Kritik üben« 360 . Noch einmal bildet die Theokratie für Buber das entscheidende Argument, um sich der Idolatrie des Staates entgegen zu stellen. Sie wird hier als das Leitprinzip einer »Querfront« jenseits aller Gruppen, Parteien, Völker und Staaten beschrieben. Auf den abschließenden Seiten von Zwischen Gesellschaft und Staat erkennt Buber an, dass nur durch »einen dauernden Zustand des echten, positiven, schaffenden Friedens zwischen den Völkern, die Suprematie des politischen über das soziale Prinzip […] wesentlich abnehmen« 361 könne. Wohingegen – beispielsweise während des Kalten Krieges – die Unsicherheit und die Angst vor Angriffen, vor denen »jedes Volk sich durch die anderen Völker bedroht fühlt, […] dem Staat die entscheidende einende Kraft [gibt]; er stützt sich auf den Selbsterhaltungstrieb der Gesellschaft selber« 362 . Dadurch erhalte der Staat mehr Macht als nötig, einen »politischen Überschuss« also, und die soziale Vitalität einer Gesellschaft, ihre Selbständigkeit und ihre Spontaneität würden damit bedroht und vermindert: »Allen Formen von Herrschaft ist dies gemeinsam: jede besitzt mehr Macht als die gegebenen Bedingungen erfordern, ja dieses Plus an Dispositionsfähigkeit ist es recht eigentlich, was wir unter politischer Macht verstehen. Dieses Plus, dessen Höhe sich natürlich nicht errechnen läßt, stellt die genaue Differenz zwischen Verwaltung und Regierung dar. Ich nenne es den politischen Überschuß. Seine Rechtfertigung wird von der äußeren und inneren Labilität, von dem latenten Krisenzustand zwischen den Völkern und in jedem Volk geliefert […]. Mit anderen Worten: das politische Prinzip ist im Verhältnis zum sozialen stets stärker als die gegebenen Bedingungen erfordern. Daraus ergibt sich eine dauernde Reduktion der gesellschaftlichen Spontaneität.« 363

360. 361. 362. 363.

Ebd., S. 338; jetzt in: MBW 11.2, S. 302. Buber, Zwischen Gesellschaft und Staat, S. 38; jetzt in: MBW 11.2, S. 273. Ebd., S. 38; jetzt in: MBW 11.2, S. 272. Ebd., S. 40 f.; jetzt in: MBW 11.2, S. 273.

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Schon in »In der Krisis«, dem bereits erwähnten letzten Kapitel von Pfade in Utopia, das zentrale und für den reiferen Autor charakteristische Überlegungen enthält, erkannte Buber im Aufkeimen eines sozialen Prinzips, das er als Zusammenschluss des einzelnen Menschen mit seinen Mitmenschen verstand, den Wesenszug des Menschen an sich. Eine solche These resultiert aus dem Apriori der Beziehung, der Grundlage des gesamten dialogischen Denkens Bubers. Wenn das soziale Prinzip eine ursprüngliche Tatsache ist, wird diese von der Übermacht des politischen Prinzips bedroht, um nicht zu sagen zerstört. Dieses stelle sich ersterem mit seinem charakteristischen Monopol der Gewalt entgegen, und nehme eine Vormachtstellung ein, bis das soziale Prinzip beinahe erstickt werde. Obwohl die beiden Prinzipien durch Saint-Simon und Hegel klar voneinander abgegrenzt werden, scheine sich inzwischen der Gegensatz verschärft zu haben. Seines Rechts auf Miteinanderverbundsein beraubt und zu kaum mehr als einem Untertanen reduziert, verliere der Einzelne seine persönliche Verantwortung in der anonymen Kollektivität der staatlichen Maschinerie. Der Triumph des politischen Prinzips über das soziale geht somit Buber zufolge mit der Krise der Gemeinschaft und mit dem Gemeinschaftshaltigen im menschlichen Dasein einher. Diese Krise aber könne nicht überwunden werden, indem etwa schlichtweg auf die Vergangenheit zurückgegriffen werde, sondern nur, indem ein neues Gleichgewicht zwischen politischem und sozialem Prinzip gefunden, also die Möglichkeit eines authentischen Zwischenmenschlichen neu entdeckt werde. Als Weg für eine Befreiung vom Druck des politischen Prinzips hatte Buber mehrmals auf eine Dezentralisierung der Macht hin zu einem Föderalismus verwiesen: Verwaltung statt Regierung. 364 Und mehr Autonomie für die Gemeinschaften bedeute zugleich einen größeren Raum für eine freie Entfaltung der gesellschaftlichen Kräfte. Bubers Darstellung der Gesellschaft auf den letzten Seiten von Pfade in Utopia und »Zwischen Gesellschaft und Staat« scheinen seiner klassischen Konzeption der Gemeinschaft äußerst nahe zu stehen. Gesellschaft wird hier als etwas beschrieben, das aus »verschiedenen Gesellschaften und Gruppen, aus Kreisen, aus Vereinen, aus Genossenschaften, aus Gemeinden« 365 entstehe. Damit hat Gesellschaft nicht mehr den anonymen Charakter, den Buber ihr in früheren Jahren immer wieder zugeschrieben hatte. Man darf an dieser Stelle nicht die polarisierende Struktur seines Denkens vergessen. Wenn er die Gesellschaft gegenüber der Gemeinschaft 364. Ebd., S. 40; jetzt in: MBW 11.2, S. 273. 365. Ebd., S. 36 f.; jetzt in: MBW 11.2, S. 272.

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thematisierte, stellte er sie als atomisierte und mechanisierte dar; wenn er sie nun aber dem Staat gegenüberstellt, repräsentiert sie einen organischen Zusammenhalt von Zellverbänden. Dabei benötige die Rehabilitierung der Gesellschaft als Ort des sozialen Prinzips im Gegensatz zum Staat als Ort des politischen Prinzips die Wiedergeburt des Geistes der Gemeinschaft. Das Thema der Gemeinschaft als Ort der Verwirklichung des Reiches Gottes, sowohl im Gegensatz zur Anonymität der Gesellschaft als auch zur angestammten Gewalt eines jeden Nationalstaates, hat sich als grundlegend für Bubers Denkens erwiesen. Eine ähnliche Konzeption von Gemeinschaft, Gesellschaft und Staat hat Buber zur Befürwortung einer akratischen Theokratie veranlasst. Diese führt auf einen besonderen Zionismus hin, der die Idee eines Nationalstaates Israel radikal zur Debatte stellt, und stattdessen die Notwendigkeit eines zionistischen Gemeinwesens als eines Werks unterstreicht, das einerseits auf der geistigen Renaissance und andererseits auf den gesellschaftlichen Experimenten der Kibbuzim als konkretem und lebendigem Modell eines religiösen Sozialismus gegründet ist. Die Möglichkeit eines Miteinanderlebens, das ausgehend von einer lebendigen Mitte zu errichten sei, bildet den konkreten und sichtbaren Ort, an dem das soziale Prinzip mit der Autorität des politischen Prinzips kontrastiert werden kann. Dieses erweist sich als die Grundlage jener Nationalismen, deren Zeuge, Interpret und Gegner Buber während der Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts wurde. Obwohl Buber zutiefst davon überzeugt war, in Zeiten einer nie zuvor gesehenen Krise des Menschen zu leben, bleibt sein letztes Wort doch eines der Versöhnung. Seine politische und soziale Philosophie erweist sich als ein ständiges Engagement und Streben, um – in der Lehre wie in der Tat – jene Entfremdung einer Welt, in der es immer schwieriger werde, die Gegenwart Gottes zu erkennen, und die zugleich im Zeichen der Technik und der Zivilisation stehe, zu verstehen und zu überwinden. Damit sollen auch jene Ungerechtigkeiten und jene Gewalt der Geschichte überwunden werden, aus denen das massive Misstrauen zwischen den Menschen resultiere, das die Möglichkeit eines authentischen Dialogs – und damit einer authentischen Menschlichkeit – verhindert habe, ohne sie jedoch gänzlich zunichte zu machen. Universalismus und Partikularismus ergänzen einander im biographischen und philosophischen Weg des Autors, und finden ihre gelungene Synthese in seinem – offensichtlich polarisierenden – Begriff des Hebräischen Humanismus.

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Sammlungen sind die Sozialisierung des Buches. Früher ging alles selbständig und eigenmächtig, in eigner Gestalt und auf eignen Wegen in die Welt. Heute gibt es auch für das literarische Erzeugnis Gemeinsamkeitsformen, die es mit anderen zusammenbinden, es einem allgemeinen Zweck unterwerfen, das Ganze zu dem Teil eines umfänglicheren Ganzen machen. Das erste Gebilde dieses Strebens war die Zeitschrift. Aber in ihr hat sich die Sozialisierung noch enge Schranken gesetzt. Die Zeitschrift ist der in seiner Lage bestimmte, den Objekten gegenüber aber unpersönliche Raum, der sich von Verschiedenartigem füllen und färben läßt. Die innere Einheit, die sogenannte Tendenz, ist meist diskret und zurückhaltend, die Anonymität der Zwecke wird nach Möglichkeit gewahrt, und von den Beiträgen wird keinerlei Gemeinsamkeit des Inhalts oder der Methode gefordert. Die äußere Einheit aber, die Gestalt der Zeitschrift als eines Druckwerkes, die im allgemeinen den Charakter des Gleichbleibens in periodischer Wiederholung hat, ist schon deshalb keine Vergewaltigung der Beiträge, weil sie für sie nicht die endgültige Form ist, sondern von ihnen als ein Durchgang angesehen werden kann, aus dem sie erst in die Welt des Buches, des schlechthin individuellen Seins und Geltens, eintreten. Die Zeitschrift ist im Gegensatz zum Buche mehr Zivilisations- als Kulturprodukt, sie will, indem sie dem Leser das eigene Ertasten, Erringen und Erwählen der ihm zusagenden Lektüre zu ersparen gedenkt, mehr der Erleichterung als der Erhöhung des Lebens dienen, und macht daher nicht den Anspruch, als die definitive Gestalt ihres Inhalts angesehen zu werden. Schon aus diesem Grunde ist die von der Zeitschrift geübte Sozialisierung eine sehr bedingte und keineswegs vollständige. Anders verhält es sich mit einem späteren Gebilde: der Sammlung. Auch ihr ursprünglicher Sinn ist Erleichterung. Auch sie geht darauf aus, dem Menschen sein wesentliches Gut, die Wahl, heimlich zu entwenden, oder doch den Kreis der Dinge, aus denen gewählt wird, zu verengern: das von ihr Dargebotene soll ein ganzes Literaturgebiet vertreten. Aber wo die Zeitschrift diskret ist, da ist die Sammlung indiskret, wo die Zeitschrift sich zurückhält, da drängt die Sammlung sich ein. Die Sozialisierung, die sie betreibt, ist oft sehr weitgehend und zuweilen tyrannisch. Sie ist keine Durchgangsgestalt, sie beansprucht Endgültigkeit. Und sie verlangt von ihren Beiträgen Gemeinsamkeiten des Inhalts und der Methode. Sie ist eigentlich auch nur eine Zeitschrift, aber eine einseitige und despotische. Sie verhält sich zu jener, wie eine eintönige

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Fruchtschüssel zum Giardinetto. Die Zeitschrift bringt alle Formen, sie handelt von allen Dingen: damit erfüllt sie ihren Zweck. Sie stiehlt das Wählen, aber sie gibt es doch in einem gewissen Sinne wieder, indem sie auf einem schmalen Stück Erde Früchte aus allen Ländern des Lebens zur Wahl heranbringt. Die typische Sammlung hat e i n e Form, den Essay, und zu dieser Form e i n Stoffgebiet: sie setzt sich aus Essays über Sachen und Menschen e i n e s Stoffgebietes zusammen. Dieses Stoffgebiet pflegt ein traditionelles und vielfach behandeltes zu sein. So ist denn gewöhnlich der Zweck der Sammlung geringer als der jedes einzelnen Buches, das in ihr steht, und dennoch will er ihnen allen gebieten, sie alle zusammenschließen, ihnen allen seinen Namen geben. Die Sammlung begnügt sich nicht Raum zu sein, wie die Zeitschrift, aber anderseits gelingt es ihr auch nicht, eine innerlich notwendige Einheitsform zu werden. Es gelingt ihr nicht, weil sie gewöhnlich nicht die Entfaltung und Gliederung einer Idee, sondern lediglich die selbst ideenlose Zusammenkoppelung von fremden ist. Diesem Schicksal der unzulänglichen Berechtigung vermögen auch d i e Sammlungen nicht zu entgehen, die ihr Stoffgebiet erweitern und darangehen, alle möglichen Erscheinungen darzustellen und sich mit allen möglichen Fragen auseinanderzusetzen. Diese wirken wie eine unmotivierte Zeitschrift: eine Zeitschrift ohne die Mannigfaltigkeit der Form. Sie könnten anders – nämlich wie eine konzentrierte Zeitschrift – wirken, wenn sie sich resolut in den Dienst irgend einer einheitlichen Tendenz stellen und sie vollkommener, als es einer Revue möglich ist, an den Erscheinungen und Fragen erweisen und bewähren wollten. Aber sie wollen tendenzlos sein und werden dadurch sinnlos. Es gibt nur e i n e Art von Sammlungen, die, ohne sich einer Tendenz zu ergeben, aus sich selbst gerechtfertigt sind. Das sind die, die nichts anderes meinen als die auf Arbeitsteilung beruhende Verwirklichung einer einheitlich gedachten Problemstellung, d. i. einer Idee. Auch von ihnen hat jede e i n Stoffgebiet, aber es ist kein traditionelles, in all seinen Grenzen gegebenes, ja fast schon in seinen allgemeinen Möglichkeiten erschöpftes, sondern ein neues, bisher nur hier und da erfaßtes, noch nicht abgezirkeltes, noch nicht von Bestimmungen und Bezeichnungen unterjochtes. Und darum gewinnt hier der Essay seinen Sinn und seine Größe wieder: Seefahrer auf unbekannten Meeren zu sein. Die Sammlungen, von denen ich spreche, sind die Entfaltung und Gliederung einer Idee, d. i. einer Problemstellung. Worauf sie ruhen, ist nicht so sehr das neue Stoffgebiet als vielmehr die neue Anschauungsweise. Das Stoffgebiet kann als mit einem alten, wohlbekannten identisch erscheinen: es ist umgeglüht und umgeschmolzen durch die neue An-

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schauungsweise. Sie ist es, aus der die Sammlung, aus der aber auch jedes einzelne Werk in ihr lebt und wächst. Ihr Betätigung an allen Erscheinungen zu gewähren, ist der Zweck der Sammlung. Sie an einer Erscheinung zu betätigen, ist der Zweck des einzelnen Werkes. Sammlung und Werke sind einig in ihrem Wollen. Keiner der Zwecke ist geringer als der andere: sie sind identisch. Unterscheiden wir: Sammlungen des Betriebs und Sammlungen des Problems. Die ersten haben es mit dem Bestehenden zu tun, das längst schon eignen Bezirk und eigne Gestalt gefunden hat. Sie können nichts erzeugen, nichts wecken. Aber der Problemstellung wohnt die anregende Kraft inne: sie ruft zu neuem Schaffen auf. Sie braucht sich nur zu zeigen, um das Kinetische hervorzulocken. Die Sammlung des Betriebs, die ohne Notwendigkeit dasteht, ist tyrannisch: sie preßt das ihr Überlegene in ihre engen Klammern. Dem Problem ist alle Tyrannei fremd. Es wirbt nur um die, die ihm angehören. Eine Idee, eine Anschauungsweise wird gemeiniglich von mehreren Menschen in einer Zeit gedacht, empfunden: diese sind es, die an ihrer Verwirklichung zusammen zu arbeiten haben. Ihr gemeinsames Erzeugnis kann wohl in die Gestalt einer Sammlung gefaßt werden. Auch Arbeitsteilung ist Sozialisierung, und zwar eine tief berechtigte, wenn sie sich auf dem Prinzip der individuellen Berufung aufbaut. Von denen, die in einer Zeit eine Idee denken, eine Anschauungsweise empfinden, hat jeder eine spezifische Berufung, die ihn dazu treibt, die Idee, die Anschauungsweise an einem bestimmten, ihm »entsprechenden« Gegenstande – oder auch an mehr als einem – zu realisieren. Auf der Grundlage dieser Berufung hat sich die Arbeitsteilung aufzubauen, deren Produkt die Sammlung ist. So aufgefaßt, dient die Sammlung nicht mehr der Erleichterung des Lebens. Sie ist keine Bequemlichkeit für den lesenden Menschen. Sie stiehlt ihm aber auch seine Wahl nicht. Statt seinen Kreis zu verengern, erweitert sie ihn: um eine neue Anschauungsweise, um ein neues Stoffgebiet. Sie zeigt ihm eine neue Seite des Daseins, zeigt sie ihm an den verschiedenen Phänomenen seiner Umwelt und seiner Inwelt. Sie bereichert seine Wirklichkeit. Vielleicht trägt sie dazu bei, das Leben zu erschweren; weil sie den Menschen anstiftet, selbst auf Jagden und Entdekkungen in dem aufgeschlossenen Reiche auszuziehen. Gewiß aber dient sie der Erhöhung des Lebens, das heißt: sie dient der Kultur. * * *

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Das Dargelegte ist heute nur Aufgabe, nicht Wirklichkeit. Die Sammlung, die durch den vorliegenden Band eröffnet wird, vermißt sich nicht zu hoffen, daß es in ihr zur Wirklichkeit werden könnte. Sie will der Aufgabe nachstreben, – so gut es die Unzulänglichkeit der Kraft und die Schwierigkeiten des Weges gestatten. Das möge als ihr Berechtigungsnachweis gelten. Das Problem, von dem sie beherrscht ist, ist das Problem des Zwischenmenschlichen. Ihr Stoffgebiet ist das Zusammenleben von Menschen in allen seinen Formen, Gebilden und Aktionen. Die Anschauungsweise, die in ihr wirkt, ist die sozialpsychologische. Das Zwischenmenschliche ist das, was zwischen den Menschen geschieht, woran sie als an einem unpersönlichen Prozesse teilnehmen, was der Einzelne wohl als sein Tun und Leiden erlebt, aber diesem nicht restlos zurechnen kann. Es kann nur als die Synthese des ineinander verschlungenen, aneinander Gegensatz und Ausgleich findenden Tuns und Leidens zweier oder mehrerer Menschen begriffen und analysiert werden. Zwei oder mehrere Menschen leben miteinander; das heißt: sie stehen zueinander in Wechselbeziehung, in Wechselwirkung. Jede Wechselbeziehung, Wechselwirkung zweier oder mehrerer Menschen kann Sozietät oder Gesellschaft genannt werden. Die Funktion der Sozietät ist das Soziale oder richtiger das Zwischenmenschliche. Was ein Mensch als seinen eigenen Daseinskreis begreifen und analysieren kann, ohne die Existenz anderer zwecksetzender Wesen postulieren zu müssen, ist das Menschliche schlechthin oder das Individuelle. Es ist die Funktion des Einzelwesens. Das Problem des Zwischenmenschlichen ruht auf der Existenz verschieden gearteter zwecksetzender Einzelwesen, die miteinander leben und aufeinander wirken. Das Problem geht hinter die Tatsache der Individuation – des Vorhandenseins verschieden gearteter Einzelwesen – nicht zurück, es macht sie nicht selbst wieder zum Problem, es nimmt sie hin und baut sich auf ihr auf. Das Zwischenmenschliche ereignet sich in bestimmten Formen und erzeugt bestimmte Gebilde. Die Formen des Zwischenmenschlichen sind die Über- und Unterordnungen, die Kooperationen und Kontraoperation, die Gruppen, die Schichten, die Klassen, die Organisationen, alle natürlichen und normativen, wirtschaftlichen und kulturellen Arten des Zusammenschlusses. Die Gebilde des Zwischenmenschlichen sind die objektiven Äußerungen menschlicher Kollektivität, die Werte, die Elemente geistiger und ökonomischer Mittlung, die sachlichen Träger der Produktion, die Gemeinsamkeitsschöpfungen der Kultur, alle Erzeugnisse des Zusammenschlusses. Formen und Gebilde machen die Statik des Zwischenmenschlichen aus. Hierzu kommen die nicht in festem Neben-

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einander darstellbaren, sondern sich in der Zeit entfaltenden Aktionen, Wandlungen und Umwälzungen des gesellschaftlichen Lebens, die die Dynamik des Zwischenmenschlichen bedeuten. Die Soziologie ist die Wissenschaft von den Formen des Zwischenmenschlichen. Die Gebilde des Zwischenmenschlichen werden von der Ethik, der Nationalökonomik, der Staatslehre, der Rechtsphilosophie usw. behandelt. Die Aktionen des Zwischenmenschlichen sind Gegenstand der Geschichtswissenschaft: der Wirtschaftsgeschichte, der Sozialgeschichte, der Kulturgeschichte. Alle diese Disziplinen können des Psychologischen nicht entraten, wenn sie sich von den Wurzeln des erlebten Lebens nicht völlig ablösen wollen: außerhalb ihrer Sphäre aber erhebt sich erst das eigentliche psychologische Problem des Zwischenmenschlichen und verlangt nach gesonderter Betrachtung und Behandlung. Soziale Formen, Gebilde und Aktionen sind der Ausdruck und der Ursprung seelischer Vorgänge und wollen in Beziehung zu diesen untersucht werden. Bleibt man bei ihrem Außenbilde, bei ihrer Struktur, bei ihren Zusammenhängen, bei ihrer Ursächlichkeit stehen, so ist das Wesen der Gesellschaft noch durchaus unerschlossen. Erst wenn man sie als das Erlebnis von Seelen erfaßt, dringt man zu ihrem Bestande vor. Aus Empfindungen und Willensregungen entsteht das Soziale und löst neue Empfindungen und Willensregungen aus. Es verläuft in seelischem Kreise und ist auf seinen Sinn hin betrachtet nichts als Seele. Was zwischen den Menschen geschieht, geschieht zwischen Komplexen psychischer Elemente und ist nur so verständlich. Die sozialen Formen haben darin ihre letzte Bedeutung, daß sie Menschenseelen einander angleichen und voneinander abheben. Die sozialen Gebilde sind gleichsam Aufspeicherungen von Seelenkraft vieler Menschen, die in viele Seelen fallen und in ihnen zu persönlichem Inhalte werden. Die sozialen Aktionen sind wesentlich Umgestaltungen des Seelenlebens in Rhythmus, Tempo und Intensität der Äußerung. So ist das Problem des Zwischenmenschlichen im Grunde das sozialpsychologische Problem. Sein Gegenstand ist das Soziale, als psychischer Prozeß angesehen. Welches ist das Subjekt dieses Prozesses? Wo ist das Ich, das ihn erlebt? Worin ruht das Recht, ihn aus dem Gebiete der Individualpsychologie herauszulösen? Selbstverständlich gibt es keine Sozialseele, die sich über den Einzelseelen erhöbe. Selbstverständlich geht auch das Sozialpsychische in den psychischen Komplexen vor, die wir Individuen nennen. Um dieser Tatsache gegenüber die Berechtigung der Sonderabgrenzung zu motivieren, pflegt man ein genetisches oder methodologisches Moment zu betonen:

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daß die hier in Betracht kommenden psychischen Vorgänge erst dann möglich sind, wenn das Individuum sich im Zustande der Vergesellschaftung befindet, und daß sie nur an diesem Zustande beobachtet werden können. Bedeutsamer jedoch ist ein anderes. Wohl spielt sich der sozialpsychische Prozeß nur in den Einzelwesen ab; aber doch nicht der ganze in jedem Einzelwesen. Er besteht nicht aus vielen gleichartigen Geschehnissen, deren jedes eine Menschenseele zum Subjekte hätte. Vielmehr schließt er sich aus verschiedenartigen zusammen, die miteinander erst ihn ausmachen, die einander zu ihm ergänzen, deren Beziehung, Wechselwirkung und Gemeinschaft eben das Zwischenmenschliche ist. Der Einzelne erlebt in sich nicht etwa ein Exemplar, sondern einen Teil des Prozesses. Häufig wird dieses Grundverhältnis dadurch verdunkelt, daß die Verschiedenheiten nicht durch Individuen, sondern ihrerseits wieder durch Gruppen repräsentiert werden, innerhalb deren aber für die schärfere Beobachtung eine neue und feinere Differenzierung waltet. Zuweilen wird es fast unmerklich, wie bei gewissen Massenphänomenen. In polaren Relationen, wie z. B. in der Relation Mann – Frau, ist es völlig offenbar. Es konstituiert mehr als irgend ein anderes Moment die Eigenberechtigung des Gebietes. Das sozialpsychologische Problem kann auf zwei verschiedene Arten behandelt und betrachtet werden. Entweder es sind die verschiedenen Grundformen des sozialpsychischen Prozesses, also, um eine gebräuchliche Einteilung anzuwenden, die sozialen Vorstellungen, Gefühle und Begehrungen systematisch zu ordnen und zu analysieren. Die zergliedernde Sozialpsychologie, zu der man auf diesem Wege kommt, kann naturgemäß nur das Werk eines Einzelnen sein. Oder aber es sind die verschiedenen Formen, Gebilde und Aktionen des Zwischenmenschlichen darzustellen und an ihnen allen das Wesen des sozialpsychischen Prozesses zu erweisen. Da sie den verschiedensten Reichen des Lebens zugehören, bietet sich zu ihrer Gesamtdarstellung die kooperative Sammlung als die angemessene Form gleichsam von selbst dar. Wenn sie gelingt, darf sie wohl als eine Vorarbeit zu einer beschreibenden Sozialpsychologie gelten.

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* * * Ich habe versucht und versuche, die Berufenen zur Mitarbeit heranzuziehen, Sozialpsychologen, Vertreter dieser Anschauungsweise in den einzelnen Disziplinen, Vertreter der Lebensgebiete selbst, die die Macht der Erfahrung zur Psychologie des Zwischenmenschlichen geführt hat. Ich war und bin bestrebt, die Sammlung auf dem Prinzip der individuel-

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len Berufung aufzubauen. Berufene denken und arbeiten selbständig und lassen sich gewöhnlich wenig oder nichts dreinreden. So wird dieses Unternehmen wohl nicht sehr einheitlich und die einzelnen Arbeiten oft recht subjektiv erscheinen. Aber das Problem wird, so hoffe ich, daran nur gewinnen, daß es von so verschiedenen und so unabhängigen Augen betrachtet wird. Und gibt es im Grunde eine höhere Wahrheit als die, die der Einzelne über seine Beziehung zu den Dingen bekennt?

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Die Revolution und wir Es sind nun mehr als anderthalb Jahre, daß ich an dieser Stelle die russische Revolution gegrüßt habe. Trotz all ihrer seitherigen Irrungen reut mich keins meiner Worte. Das Gestrüpp, das dem russischen Volk den Weg, seinen Weg versperrte, ist ausgerodet worden; täppische, brutale Hände haben eingegriffen; aber sie werden nicht bewirken können, daß dieses Volk nunmehr den Weg gehe, den sie ihm weisen, statt seines eignen, ihm von seiner Seele zugedachten Wegs zu seiner eignen Art freien Menschentums. Auf die russische ist nun die deutsche Revolution gefolgt. Sie hat von jener gerade die willkürhaften Formen ihrer vorläufigen Organisation übernommen; sie werden von ihr abfallen, nach schweren Kämpfen, die aber gewiß geordneter, unblutiger, schneller als in Rußland verlaufen werden: weil der architektonische Sinn des deutschen Menschen trotz allem stärker ist als die Meinungsdifferenzen über den Baustil. Dieser Sinn war vom alten System niedergehalten worden; entfesselt, wird er sich von dem Parteiwesen, seinem schlimmsten Widersacher, nicht wieder einfangen lassen. Noch herrscht das Schema und die politische Mechanik; aber morgen muß sich die Überlegenheit organischen Gestaltungstriebs erweisen. Zwei Kräfte wirken zusammen und werden zusammenwirken, die neue europäische Epoche zu bereiten: die Unmittelbarkeit des Russen, die zwischen Mensch und Mensch Gemeinschaft stiftet, und der bauende Sinn des Deutschen, der den vorgefundenen Stoff zur Struktur zusammenbildet. Aber eine dritte tritt dazu, befeuernd, zugreifend, durchsetzend: der Verwirklichungsdrang des Juden; der macht ihn zum berufenen Helfer der großen sozialen Umwandlung. Der Jude kann nicht ertragen, daß Gemeinschaft nur als persönliche Beziehung, als Dorfgenossenschaft, Ketzergemeinde, Kameradschaft der »ins Volk Gehenden« bestehe; er will, daß sie den ganzen Gesellschaftskörper durchglühe und durchseele. Und er kann nicht ertragen, daß der bauende Sinn sich nur am Werk des Einzelnen, an Münstern, Symphonien und Gedankensystemen auswirke; er will, daß er aus dem Leben der Gesamtheit das lebende Denkmal errichte. So treibt es ihn, an der Umwandlung mitführend teilzunehmen; so wird er dort und hier zum Auslöser und Kampfgefährten. Von je hat er an die Erneuerung geglaubt, an den »Neubruch«, an die »neue Erde«, an das »Neuwerden aller Dinge«; von je hat es ihn danach verlangt, das Absolute im Empirischen auszuprägen und die »Gerechtigkeit« wie einen unversieglichen Bach sich ergießen zu lassen.

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Mit der wirkenden Kraft dieses Glaubens und dieses Verlangens stellt er sich in die beginnende Umwälzung ein. Freilich, er greift oft fehl, er muß immer wieder fehlgreifen: weil er nur allzu leicht verkennt, daß auch die Umwälzung sich jeweilig innerhalb des Lebens eines Volkstums aus dessen Geist und dessen Gesetzen vollzieht, daß auch die Revolution so zuinnerst an eine Tradition anknüpft. Er wird erst dann nicht mehr fehlgreifen, wenn er seine Wahrheit auf eignem Boden und mit dem eignen Volkstum verwirklicht. Dann erst werden der tiefe Zusammenhang seines Wesens mit der Aufgabe des Zeitalters und seine Berufung zur neuen Menschheit den Augen der Welt aufleuchten. Aber heute schon, inmitten der Irrungen, bestehen sie und wirken. Auf ihrem Grunde stehend, nicht um irgendwelcher uns zugute kommenden Nebenprodukte willen, nicht als Nutznießer, sondern als Mitkämpfer und Mitträger, grüßen wir die Revolution. * Zwei große Ereignisse sind – ein Ergebnis des abendländischen Kriegs – in dem Augenblick, den wir durchleben, zur Reife gediehen: die soziale Revolutionierung des östlichen und mittleren Europas und die Verselbständigung seiner Nationalitäten. Wie bald und wie weit beide um sich greifen werden, ist noch nicht wahrnehmbar; entscheidendes Gewicht haben sie schon in ihrer gegenwärtigen Begrenzung. Es ist nun für die rechte Erkenntnis wesentlich zu sehen, daß das zweite dieser Ereignisse das Ende einer Ideologie, das erste die Umbildung einer Ideologie einschließt. Die kleinen Nationen erhalten heute staatliche Existenz, die großen staatliche Einheit. Damit ist der Nationalismus als Idee erfüllt. Als politisches Element wird er noch lange, vorwiegend in den für die nächsten Jahrzehnte zu erwartenden Grenzstreitigkeiten, fortleben, als geistiges Element nicht. Die Völker werden in ihre Rechte eingesetzt, sie brauchen sie nicht mehr zu begründen. Sie können noch allerlei einzelne Forderungen anmelden und verteidigen; die allgemeine hat das Schicksal ihnen bewilligt und damit ausgelöst. Jede Nation wird nun zu erweisen haben, was sie zu leisten vermag; es zu verkünden ist nicht mehr an der Zeit. Was fortan zwischen Rhein und Wolga an nationalistischer Gesinnung hervortritt, kann nur noch anwenderisch, nicht schöpferisch sein. Anders verhält es sich mit der Revolution. Wer Augen hat zu sehen, sieht, daß sie keine Vollendung, sondern ein Anfang ist. Auf den Flächen des Staatslebens wird Schutt hinweggeräumt; unermeßlicher lagert noch in den Tiefen des Gesellschaftslebens. Was jetzt an gesetzlichen Umord-

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nungen erfolgt, hat den Charakter von Notstandsaktionen; es wird das innere Gefüge des menschlichen Zusammenlebens nicht umwandeln. Dieses kann überhaupt nicht durch dekretierte oder beschlossene Institutionen, sondern nur durch eine von innen aufkeimende, allmählich sich ausbreitende Verjüngung des Zellengewebes, durch die stete Bildung und Aneinandergliederung neuer echter kräftiger Gemeinschaftszellen – echter Genossenschaft, echter Gemeinden –, durch ein Neuwerden und Echtwerden der Beziehungen von Mensch zu Mensch, von Gruppe zu Gruppe und so auch von Volk zu Volk erneuert werden. Diesen Prozeß erleichtert die Revolution, ihre Werke werden ihn befördern, aber mehr vermag sie für ihn nicht. Und so findet das Ideal, dessen Frucht die Revolution ist, in den Institutionen, die sie hervorbringt, seine Grenze – aber nicht seinen Abschluß; denn die Erkenntnis, daß diese Institutionen nicht eine Vollendung, sondern einen Anfang bedeuten, und daß das Wesentliche ein Künftiges, ein jetzt erst wahrhaft zu erschauendes Ziel ist, wird das Ideal umbilden. Ein neuer Sozialismus, der den alten fortsetzt und umsetzt, bereitet sich in den schöpferischen Geistern des Zeitalters – nicht zuletzt in den jüdischen. Vielleicht beginnt jetzt erst wahrhaft die schöpferische Periode des sozialistischen Ideals. Auch das jüdische Volk soll heute in seine Rechte eingesetzt werden, auch es soll seine selbständige Existenz auf eigner Erde wiedererlangen; und auch seinen Massensiedlungen in der Diaspora muß angemessene Selbstverwaltung zuteil werden. Es wird alsdann seine nationale Idee nicht mehr zu begründen und kundzugeben, sondern zu leben haben. Aber welcher Art und welcher Höhe dieses sein Leben sein wird, das hängt zuallererst davon ab, welchen Anteil es, ob es nicht hinnehmenden und ausführenden bloß, sondern ausgestaltenden und verwirklichenden Anteil an jenem anderen Ideal nehmen wird, das heute nicht wie das nationalistische sich erfüllt und vollendet, sondern sich verwandelt: ob es in Palästina der Welt die Tat darbringen wird, deren nur das Judentum, und nur das neue Judentum fähig ist – seinen besonderen Beitrag zum Werk der Menschheits-Revolution, zur Wiedergeburt der Gesellschaft aus dem Geist der Gemeinschaft. »Denn der Äon eilt mit Macht zu Ende.«

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Ich möchte, dass Sie das, was ich Ihnen heute zu sagen habe, nicht als eine Rede, die Rede eines Ihnen gegenüberstehenden Menschen auffassen, sondern als ein Gespräch, das ich mit jedem einzelnen von Ihnen führe; freilich ein unvollständiges, weil die Antwort oder die Frage, die in jedem einzelnen von Ihnen, so hoffe ich, wach und lebendig wird, meist stumm bleibt; aber sie muss nicht stumm bleiben, sondern ich bitte Sie, wenn in einem, während ich spreche, irgend ein Einwand, ein erwidernder Gedanke so stark wird, dass er laut werden kann, so bitte ich Sie, mich zu unterbrechen und zu sagen, was Sie mir zu sagen oder mich zu fragen haben. Sie sind in den zwei Morgenfeiern, die dieser vorangegangen sind, durch einen grossen Vorwurf geführt worden, in dem zwei Sphären ringender Mächte von einer grossen wundersamen Macht überwältigt sind, die Sphäre des Märtyrers, der die jenseitige Freiheit erringen will und die Sphäre des Empörers, der die Freiheit hier und jetzt im Diesseits erkämpft; beides Sphären abgetrennter Welten, über beiden der Spruch der Vergeblichkeit, denn in den abgetrennten Welten, in der Welt der Spaltung im Diesseits und Jenseits gibt es keine Freiheit und keine Befreiung. Ich kann Sie nicht in die Sphäre führen, wo die Einung von Geist und Welt sich vollzieht; ich kann Sie nur an die Schwelle, an die dunkle Schwelle dieser Sphäre führen, und ich möchte das in dem Sinne tun, als dieser Augenblick, in dem wir leben, die Schwelle ist, das Zeitalter in dem wir leben, ein Zeitalter, das seit Jahrhunderten begonnen hat aber heute seine Klarheit, seinen deutlichen Ausspruch gewinnt, das Zeitalter der Auflösung, der christlichen Kultur, die Lockerung der bewältigenden Fähigkeit des Menschen, der Fähigkeit des Menschen, das auf ihn eindringende Material, das Welt und Zeit darbieten, zu bewältigen, zu gestalten. Die Lockerung dieser Fähigkeit des Menschen hat heute ihre deutliche Höhe. Dass Wucher[n] des unbewältigenden Materials, das über den Menschen mit diesem Technizismus dieser Zeit ihre deutliche Kundgebung ist und ist es nur eine andere Seite desselben Vorganges, wenn die unmittelbare Beziehung zwischen den Menschen heute garnicht mehr gemeinschaftsbildend ist, sondern Gemeinschaft nur noch besteht als Flucht für Heimlichkeit unter der Kruste des Staatslebens, die garnicht mehr den Charakter der Gemeinschaft der unmittelbaren Beziehungen zwischen Menschen hat. Ich sagte, es ist das Ende der christlichen Kultur. Das ist eine persönliche Auffassung. Persönliche Auffassung kann man auf zweierlei Weise meinen: wenn

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Sie meinen, dass es ein Individuum ist, das willkürlich spricht, dann ist es nicht richtig; wenn Sie aber meinen, dass es persönliche Auffassung in dem Sinne ist, dass jede Wahrheit durch eine Wahrheit und freilich in dieser Person notwendigerweise gesprochen werden muss, so ist es wahr. Rein geht keine Wahrheit durch die Personen. Ich möchte, das, was ich meine, klarer machen, indem ich auf die Ursprünge dieser christlichen Kultur hinweise. Es waren zwei Antriebe, die an dem Anfang dieser Kultur miteinander verschmolzen; ich möchte sie den urchistlichen und mythischen Antrieb nennen. Ich meine mit dem ersten das Wort, das reine Wort des Geistes, das Wort Jesu, und mit dem zweiten die elementare Fähigkeit der Völker, die das Christentum annehmen, das Göttliche als reale Gegenwart zu empfinden, als mythisch, als etwas, was um eine reale herumsteht und mit dem ganzen Leben, vor allem mit dem ganzen Leben der Sinne aufgenommen. Diese beiden Antriebe kamen X christlichen Kultur zusammen. Aber der eine der Antriebe des Geistes wurde diesen Völkern nicht in seiner ersten Reinheit übermittelt. Das Wort Jesu meinte eine Freiheit in Gott. Sein Wort: Folge mir nach, meinte nichts anderes als: sei so frei, so in Gott frei wie ich; und das Gottesreich, das er verkündet, meint nichts anderes als die Vollendung dieses Reiches der Gottesfreiheit, des Reiches einiger Freier mit einander wahrhaft als Ganze in Ganzheit lebender Menschen auf Erden, wohl aber auf einer wahrhaft verklärten Erde. Dieses Wort wurde den Völkern nicht in seiner Reinheit übermittelt sondern zwiefach gebrochen, zuerst durch jenen grossen Bekenner Paulus, der die furchtbare Entzweiung im Menschen wie kaum ein anderer gelebt hat, die Entzweiung, die er im Wort aussprach: Das Gute, das ich will, tue ich nicht, aber das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Aus dieser furchtbaren inneren Entzweiung führte für Paulus kein anderer Weg als der Weg des Anschlusses an den Eid, nicht der Weg der Selbstbefreiung zur Einheit und Freiheit des Selbst, den Jesus gemeint hatte, jener Weg Gottes durch den Freien, den sich befreienden Menschen, sondern der Weg des Anschlusses an den Freien, der gelebt, der den Menschen es vorgelebt hat – zum zweiten Male wurde das Wort Jesu gebrochen durch einen zweiten grossen Bekenner, der zum Abendland aus anderen Landen wie Paulus kam, durch Augustin, der über diese Zweiheit des Ich hinausgriff in die Zweiheit der Welt und die ganze Welt spaltete, in die Welt der Erwählten und Verdammten und zwar die Welt der ewig Erwählten und die Welt der auf ewig Verdammten, in das Heil, das in sich ruht und in die Verdammnis preisgegeben, durch unbegreiflichen Ratschlag Gottes auf ewig geteilt, unüberbrückbar Heil und Verdammnis. Mit dieser zweifachen Gebro-

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chenheit ist die Welt der Freiheit, die Welt Jesu verschüttet. Doch das Wort des Geistes ist so mächtig, dass es durch diese zwiefache Gebrochenheit hinaus in dem mythischen Leben der heidnischen Völker, die das Wort annahmen, zeugend einen Kosmos zu schaffen vermochte, den Kosmos der christlichen Kultur, der sogenannten mittelalterlichen Welt, eines der wenigen Zeitalter allgemeingültiger Gestalt. Denn es gibt wahrlich nicht eine Probe für allgemein gültige Begriffe, sondern es gibt von einer Zeit zur anderen auch immer wieder eine Gestalt, die aber nicht im Persönlichen abgesondert für alle Menschen gültig ist, eine solche Gestalt der christlichen Menschen des sogenannten Mittels. Denn jener Gebrochenheit entsprach eben auch ein ungeheurer neuer Antrieb jener Augustinischen, der Vereinigung der Menschen in einer Gemeinschaft mit Gott, zersetzt freilich schon in seiner Konzeption durch jene Scheidung der Menschen. Dann gibt es zweierlei Menschen, geschieden durch irgendein Geheimnis, dann kann es keine wahrhafte Gemeinschaft der Menschen geben, das muss heissen, aller Menschen geben. In der latenten fortwirkenden Gebrochenheit wurde die Idee der [Leerstelle im Text] konstruiert, diese Beute, diese Welt des christlichen Mittelalters. Es war ein vom Geist geschaffener Gott, keine Welt wie die, in der wir uns vorfinden, eine unendliche Welt, in die wir gestellt sind, eine Welt, formhaft, grenzenhaft, vom Geist abgegrenzt und abgesteckt, Paradies, Menschenwelt, Hölle. Das ist die Welt, in der alle ihre Künder stehen, Dante, die ungeheure Architektur der Welt, die gegengespaltene Architektur in seinem Werke – Franziskus, erfüllte diese mit unmittelbarer Beziehung zu den Menschen – Ekkehard, die ganze Innerlichkeit der Subjektivität hineintragend aus einem grossen Erleben der Einheit in diese Welt der Zweiheit. Es ist die Welt, der Kosmos, dessen Torhüter jene geheimnisvolle Engel des [Leerstelle im Text] unter den Arkaden der Oberkirche zu Assisi sind, die nicht menschliche Wesen mit Flügeln, sondern mythische Urwesen sind wie Greife und Chimären und die doch, soweit man sehen kann, in den Augen eine Gebrochenheit, ein Geheimnis der Zwiespältigkeit gleichsam unterirdisch tragen. Und nun kommt, was kommen muss. In diesem wunderbaren geistgeschaffenen Kosmos wächst immer sichtbarer werdend, die Unfreiheit und immer mehr wird der Kosmos zu [Leerstelle im Text], immer mehr wird die Idee der [Leerstelle im Text] aufgegeben um der Realität der Kirche willen, die sich auch mit jenen Menschen [Leerstelle im Text] Abstraktum, das alle Gemeinschaft erstickt. In der Welt des Mittelalters gibt es noch lebendige Gemeinschaft, Gemeinschaft der Dörfer und Städte, gibt es noch etwas von den beiden Urtrieben des Urchristentums und des Heidentums und etwas von jener

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geistgeborenen Gemeinschaft der christlichen Urgemeinde. Aber nun wächst im Vertrag mit der Kirche der Mechanismus des Staates mit allen Kirchen immer stärker und erdrückt diese freie Gemeinschaft der Menschen, und die Kirche, wenn der Keim der civitas dei in sie gelegt ist, hätte protestieren müssen im Namen der werdenden Menschheit gegen die Knechtung, die einen Vertrag schliesst von Zeitalter zu Zeitalter, von Jahrhundert zu Jahrhundert, immer neuen Vertrag mit dem Mechanismus des Staates. In diesem Moment als beginnende Krisis tritt zugleich ein ungeheurer Eindruck von aussen her ein; der – wenn ich das so bildhaft ausdrücken darf – geistgeschaffene Kosmos wird erschüttert durch den Einbruch des unendlichen Raumes. Die Entdeckung des Weltenraumes ist es, die diesen formhaften Kosmos erschüttert und ihn zu zerbrechen, seine Grenzen zu zerreissen beginnt, und mit ihm zerbricht allmählich die allgemeingültige Gestalt des Christentums, jener latente Dualismus von Geist und Welt erweist sich unfähig, den neuen Kosmos aus dem Unendlichen zu bilden. Jene zwei Elemente, die zu dem Kosmos zusammengewirkt haben, urchristliche und mythische, treten auseinander, beide geschwächt durch diesen Weg, jedes von ihnen unfähig, die neue Welt zu bilden, zunächst noch unfähig zu einer neuen, weil sie nur in dieser geprägten Form, die aus dieser Kultur hervorkommt, bestehen. Während bisher der einzelne Mensch behütet und gehegt war in der grenzhaften sicheren Welt, steht nun die Person, die abgelöste Person einsam und unbeschützt vor der Unendlichkeit, und in dieser ungeheuren Spannung zwischen Person und Unendlichkeit ist keine Ueberwindung mehr. Die Welt bildet, die Gemeinschaft bildet nur noch die eine Ueberwindung des persönlichen Werkes. Von Bruno bis Goethe, die grosse Reihe der einsamen, abgelöst vor dem Unendlichen stehend, durch die Welt des Unendlichen wandernden oder sich entzweienden Menschen, die Welt, bildend, gemeinschaftsbildend, diese Spannung nicht mehr zu überwinden vermögen, sondern einsames, abgelöstes, sterneneinsames Menschenwerk. Und zugleich wächst die Spannung zwischen Gemeinschaft und Staat, immer unerbitterlicher wird die Gemeinschaft, immer mehr aus der Form großen Zusammenlebens von Beziehungen zwischen einzelnen Menschen. Die Sehnsucht nach Befreiung wächst in den Herzen der Menschen, ein neuer, aber nicht mehr als nach der [Leerstelle im Text] sondern der Freie [Leerstelle im Text] als Enthebung von dieser Last. Die Reformationsversuche, die Gegenbewegung des christlichen Elements nehmen an Kraft zu, und doch steht über ihnen der Spruch des Vergeblichen, denn Luther vermag nur neuen Dualismus und neue Zweiheit des Glaubens und der Werke zu schaffen. So geht die Reihe der Reformatoren bis

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zu jenem grossen Menschen unseres Zeitalters, der als letzter dieser Reihe nichts mehr und nichts anderes auszusprechen vermag als die Unmöglichkeit und dessen ganzes Werk eine grosse Schwermut und Verzweiflung an dieser Unmöglichkeit ist. Und zugleich während dieser Jahrhunderte beginnen und spinnen sich fort Restauration, Versuchung, Gegenbewegung des mythischen Elementes, der stärkste Versuch, die sogenannte Renaissance, das heisst der Versuch, eine frühere, vordem schon zerbrochene allgemein gültige Gestaltung wieder zu bringen, notwendigerweise auch dieser Versuch vergeblich. All dies führt nur zu geistig personhafter Bewegung; Lebensvertilgung ist nicht mehr möglich, in dem Sinne nicht möglich, als wir feststellen, denn es gibt das Unmögliche nicht. Aber soweit wir die Spannung dieses Menschengeistes in diesem Augenblick rückblickend betrachten, immer wieder ist die unendliche Möglichkeit gegeben, zugleich die unendliche metaphysische Verantwortung des einzelnen Menschen in ihrer Unermesslichkeit da. Nie ist die absolute Zukunft dem Menschen verschlossen. Das ist, glaube ich, das, was wir vor allem wissen und zu innerst durchleben müssen. Wir Kinder des Zeitalters, das auf jenes folgt, des Zeitalters der Auflösung, machen wir uns klar, was es für ein Prozess ist, der zu diesem Zeitalter geführt hat und der sich uns erst heute wahrhaft enthüllt. Es ist die Verdrängung der Duwelt durch die Eswelt, der Welt, in der der Geist dem Absoluten gegenüber von Angesicht zu Angesicht steht und Du zu ihm sagt und der Welt, wo der Geist alles in die Ebene der Es – in die Ebene der Orientierungswelt um sich versammelt, sodass er zu keinem Ding oder zu keinem Wesen mehr Du sagt, kein Wesen, kein Ding mehr realisiert sondern alles dies um sich herumstellt und darüber aussagt, jene Ueberhebung der in ihren Grenzen durchaus rechtmässigen Wissenschaft, die wir erlebt haben, ist ein Zeichen dafür: die Verdrängung des Geistes durch den Intellekt. Geist ist die Realisierung, die Vergegenwärtigung, die Verwirklichung der Welt im Menschen, im Menschen, ursprünglich ganz oder ganz gewordenen Menschen in der DuBeziehung, im Gegenüber von Du zu Du. [Leerstelle im Text] dass der religiöse Akt immer eine Beziehung zu einem Du gibt und dass er seinen tiefen Wahrheitscharakter, Wirklichkeitscharakter einzubüssen beginnt, sowie er zu einem Es wird, sowie nicht mehr der Mensch das Siebeten? ausspricht sondern über das Sein, über die Welt, über Gott aussagt als über ein Er oder ein Es. Intellekt ist die Orientierung in der Welt, nicht mehr durch den ganzen Menschen, durch den Geist, das heisst durch die verklärte Totalität des Menschen, sondern durch verklärtes Denken in der Es-Ebene. [Leerstelle im Text] Der Geist schafft und erkennt in ihnen, er, der Ganze schafft und er-

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kennt Ganzheit. Sein Schaffen ist ein Finden, seine Gebilde sind seine Entdeckungen. Er tut die Wahrheit, er lebt in der Welt seiner Gebilde, die er nur aus dem Block der Welt, das in ihm versteckte Angesicht Gottes herausholt. Intellekt bearbeitet die aus dem ganzen des Lebens gebrochene Erfahrung. Er, der Abgetrennte, bearbeitet Getrenntheit, er bearbeitet sie zu einem übersichtlichen für den Bedarf der Selbstbehauptung des Menschen brauchbaren Zusammenhang. In der Welt des Intellekts ist nur Dualismus möglich oder falscher Monismus, Monismus der Orientierung, des Es, eine willkürliche Verknüpfung der Weltelemente ohne die Einung im Menschen und die Einung der Welt durch den geeinten Menschen. Im Dualismus und Monismus herrscht notwendigerweise unrettbar die Unfreiheit und die Totalität des Geistes erliegt in der Entwicklung einer fortschreitenden Zersetzung. Der organische Geist wird immer mehr durch den parasitären Intellekt verdrängt, und ich möchte das noch klarer machen, dass ich erinnere, zweierlei Gebilde sind es, bei denen der Geist wirkt, die Bewältigung des Materials, die Zusammenbindung, Zusammenformung des Welt- und Zeitmaterials zur Gestalt und die unmittelbare Beziehung zu beiden ist der Intellekt unfähig. Bewältigung des Materials zur Gestalt ist nur möglich durch totale Geistesmenschen, durch ursprünglich ganze oder ganz gewordene Menschen. Beziehung ist nur möglich zwischen einfältigen und eins gewordenen Menschen. Primitive Gemeinschaft und religiöse ist möglich. Der Intellekt aber ist unfähig zur Antwort eines immer vielfältiger und chaotischer werdenden Zeitmaterials und zugleich unfähig zur Beziehung, und so fällt der Geist, der nicht erstirbt, nur immer mehr ins unterirdische Leben. Dass der Geist ins unterirdische Leben gefallen ist, in die Heimlichkeit des Einsamen, nicht mehr Welt bildend, Gemeinschaft bildend ist, sondern preisgegeben der Welt der Zweiheit, des Intellekts des parasitären Lebens, ist Signatur der Zeit, in der wir leben, und darf nicht abgeschätzt werden – und wird immer wieder von Menschen, die sie nicht ertragen können und wollen, abgeschätzt. Ich erinnere an jenen Versuch der Erhaltung gebrauchter Form, der Meidung nach Uebergang zu einer neuen Zeit der Gestaltung war nur Versuch einer Fortsetzung der Epoche der Spannung, jene Kreise um das persönliche Werk hoher Nachzügler, die nicht mehr zentral, nicht mehr weltbildend sein können und die auch nicht mehr jenes persönliche Werk bilden, das die Brücke von der Unendlichkeit schlug, sondern in jenem Werk, in jener seltsamen künstlichen Atmosphäre verkümmern muss, die heute so deutlich ist, der Atmosphäre der Literatur. Ein anderer Versuch ist jener Anlauf zur Restauration, der vergange-

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nen allgemein gültigen Gestalt, jener Versuch zur Wiederbringung einer vergangenen Form, grossen Form des Christentums, der ebenfalls verkennt, dass, wenn die Welle so weit ausgeschwungen hat, kein Rückschwung mehr möglich ist, und nur erwähnen möchte ich als Versuch willkürlicher Neubildung, Fiktion einer neuen Epoche unmittelbarer Beziehungen durch Sektenbildung, am schlimmsten, die sich als Orientierung in der Welt des Mysteriums kundgeben. Allen ist dies gemein, dass sie der Ausdruck der Krisis im Individuum, im Einzelnen, in der metaphysischen Verantwortung der Menschenseele selbst ausreicht. Aber Aufnahme in dem sogenannten objektiven Geist, als ob er noch intakt wäre, als ob es noch den Geist Kosmos gäbe, aber Annahme an den sogenannten objektiven Geist ist aktive Teilnahme an der Zersetzung des Geistes – wer die Illusion nährt, dass eine zerfallene Schöpfung noch wahrhaft bestünde, der trägt dazu bei, die Kraft der Erneuerung, die Kraft der Entscheidung niederzuhalten. Das Einswerden, der Zusammenschluss, die Wiedergeburt des Geistes kann nur durch den die Auflösung ganz in sich austragenden Geist des Menschen geschehen. Die Befreiung kann sich nur als Selbstbefreiung, als Selbstbefreiung aus dem Abgrunde heraus, vollziehen. Es gibt eine indische Legende: es wird von einem Asketen erzählt, Markantei, dessen Askese so gewaltig war, dass es die Götter zwang, hernieder zu kommen und seinen Willen zu tun, und Indra, der Fürst der Götter, stieg nieder, und fragte ihn, was sein Wille sei und er sagte zu Indra, es sei sein Wille, das Wesen der Welt zu schauen. In demselben Augenblick war es ihm gewährt. Die ganze Welt, in der er stand, zerriss, die Form aller Dinge, die Grenzen, die uns hier im Irdischen halten, wurden von ihnen zersprengt und statt der Welt war um Markantei herum der unendliche Wirbel, in dem alle Formen, alle Grenzen aufgelöst waren. In dem Augenblick, wo er sich selbst in dem Wirbel verlor, in dem Augenblick geschah die Klärung. Er sah statt des Wirbels ein nacktes neugeborenes Kind, und in dem Kinde sah er alle die Welten, die ihn eben noch ungeheuer umwirbelt hatten, schlafruhig, klar in grenzhafter Reinheit ruhen, und er nahm wahr, es geschah ihm, dass er selbst in die Ruhe des Kindes einging. So ist es im Bild wohl deutlicher als im Wort, was ich meine. Der Mensch, der einzelne Mensch, jeder einzelne Mensch ist der Ort der Entscheidung, die Krisis, durch die wir gehen, ist nicht erfassbar für ein Entschiedenwerden, sondern nur für ein Entscheiden. Verkennung dieser Wahrheit ist Preisgabe. Das ist aber nicht willkürlich, denn gerade der, der an die Gnade glaubt, gerade der muss zu innerst wissen, dass Gnade nichts anderes bedeuten kann und dass wir, wenn wir ihrer teilhaftig werden wollen, uns nicht um sie bekümmern dürfen sondern nur um unser Entgegenheben. Dieser Selbstbefrei-

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ung gibt unsere Zeit eine grosse Hemmung. Ich möchte sie mit dem unvollständigen Namen nennen, Historizismus. Jene Auffassung, die in verschiedener Folge auftritt, gäbe eine Entwicklung nicht von geistiger, sondern eine den Geist beherrschende Entwicklung, die er mitmachen muss, etwa eine biologische Entwicklung zum Schwächerwerden, eine bestimmte fortschreitende Schwächung, eine biologische Substanz oder der Glaube daran, dass die Kulturen Organismen sind, die einen bestimmten Werdegang haben. Wir können entweder das Gebot dieser Stunde vollstrecken und mitmachen, was ihr Charakter ist oder wir stemmen uns dagegen auf. Es ist eine Ueberhebung darin, die jenem grossen Freiheitsbewusstsein nottut; verkannt wird durchaus die Autonomie des geistigen Reiches, dass mit der Spontanität des Geistes ein neues Element des Geistes gegeben ist, das der unerschöpflichen Kraft des Geistes entgegenwirken kann, wenn nur der Geist das Letzte aus sich erwägt und sammelt. Dieser Analogismus ist nichts anderes als eine Orientierung in der Welt der Geschichte des Geborgenseins; aber für die Realisierung des Augenblickes ist alle historische Analogie unzulänglich; keine Geschichte kann uns in dem Augenblick, in dem wir stehen, helfen; keine Geschichte gilt für uns; und es sind auch die Einzelheiten dieser Auffassung notwendigerweise, dem, was nottut gegenüber, unzulänglich. Diese Begriffe sind ganz in sich irrig und heute sinnlos. Es gibt kein neues unverbrauchtes Volk mehr; vielleicht gab es nie eins, denn jedes Volk hat eine unendliche Vergangenheit und jede Primitivität ist vielleicht ein Zusammenschluss. Aber ganz gewiss wissen wir, dass es heute nicht an den Toren dieser Kultur ein neues Volk gibt. Dieses Volk ist auch nicht das sicher in seiner Kraft und Weite bewundernswürdige russische Volk. Es ist eine ungeheure titanische Agonie, und ich sehe auch in dem, was heute in Russland geschieht, keinen Anfang, keine Hindeutung sondern noch durchaus die Kämpfe der Krisis und nichts darauf hinweisend, dass sich eine neue Substanz in dem Volke ergibt. Es gibt keinen Ort auf dem Planeten, auf den man hinweisen kann, keinen anderen Ort des Werdens für jeden einzelnen Menschen, wo er steht, jetzt und hier, jeder einzelne von Ihnen, keinen anderen Ort als die Seele des Menschen. Es ist doch nicht so, dass hier Ernteland, dort Saatland; wir vermögen nur zu entscheiden. Denn das ist der Heilsblick immer wieder in aller heillosen Zeit, es gibt nicht nur Kultur, sondern wie einst in jedem Wort gefordert wurde: Ein gib mir, wo ich stehe, ausserhalb des Planeten, wo ich stehe, so gibt es einen Punkt, eine Kraft jenseits der Kultur, die immer wieder das Neue wecken und bilden kann, das ist die Revolutionskraft der Religiosität, die religiöse Kraft selbst; sie allein ist es, die immer wieder neue unmittelbare Beziehungen zwischen den Menschen heraus wecken und

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stiften kann. Allen kleinen Zeitaltern gemeinsam ist der Glaube an das Verhängnis, an die Entwicklung, deren Gebote man vollziehen muss, an die unentrinnbare Entwicklung, die uns auferlegt ist, an die Entwicklung, gegen die die Menschenseele ohnmächtig ist. Allen Zeitaltern ist dieser Verhängnisglaube gemeinsam. Zwei grosse uns allen gegenwärtige Beispiele innerhalb eines Volkes, also nicht Ablösung einer Volksgruppe durch eine andere sondern innerhalb – ich meine jene indische Krisis des Buddha; der Schicksalsglaube in den Veden bedeutete nichts anderes, als dass das Selbst der Welt und das Selbst des persönlichen Menschen eins ist und dass das Selbst der Welt sich in dem Geschehen ausspricht und offenbart. In dieses Schicksal wird der Mensch eingestellt, nicht in ein fremdes, sondern der Mensch erkannte dieses Schicksal als seinen tiefsten Willen. Aber allmählich entwickelte sich ein anderer Schicksalsglaube, der Glaube daran, dass das, was der Mensch tut, in späterer Wandlung seines Seins, dass das, was hier widerfährt, bestimmt ist durch das, was frühere Generationen meines Selbst getan haben, dass ich den Ort, wo ich stehe, auch den [Leerstelle im Text] Ort, die Kaste, zugewiesen bekommen habe durch etwas, was an einem früheren Ort geschehen ist, und ich kann nicht aus diesem Ort heraus. Es gibt kein Entrinnen. Am stärksten ist das, wie ich schon sagte in dem Begriffe der Zugewiesenheit an die Kaste. Und nun kommt, freilich nicht auf einmal, nicht aus dem Boden heraus, sondern wie jeder zentrale Mensch den Versuch vieler Geschlechter in sich sammelt, Buddha und zeigt und führt den Weg der Befreiung, und noch Ungeklärtes wird zum Weisen des Pfades geklärt und ausgesprochen, und die Freiheit ist da, die Freiheit, in der sich Geist und Welt einigen, und die Entwicklung, das Verhängnis ist nicht mehr da, denn Buddha führt die Menschen aus den Kasten in die Freiheit. Und das andere noch grössere, uns allen gegenwärtige Beispiel, hier ganz deutlich Ablösung einer Kultur durch etwas, was selbst nicht Kultur ist, wie in der Spätantike der alte Schicksalsgedanke, der gleiche, sich vollzog. Ein gelassenes Walten war Vorbestimmung, aber etwas, worin der einzelne Mensch sich heimisch fühlen kann, etwas, was doch jeden einzelnen mit den Göttern verbindet, nirgends eine unüberbrückbare Getrenntheit. Aber allmählich wächst diese, zunächst diese Idee zu der des Verhängnisses, zuerst nur in der Form, dass die Schuld der früheren Geschlechter, weiter wirkend, aufkommt, als Verhängnis stehend über den in diese Welt hineingeborenen Menschen. Die Geburt der Menschen selbst sei die Schuld, für die die Menschen zu büssen haben. Und diese Verhängnisidee wird schrecklich zu jener grausamen Vorstellung der [Leerstelle im Text] unverständlich mit der Brutalität des Zufalls herrschenden Typen. Und nun kommt Jesus und führt den Weg

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der Befreiung und wieder etwa ist das Verhängnis nicht mehr, sondern es war nicht mehr. Es gibt kein Verhängnis als den Irrglauben an das Verhängnis. Es bedarf keines anderen als des Metano[ein] der Umkehr, des Ergreifens der Freiheit, um frei zu werden. Die Gottesfreiheit ist jedermann und alle Zeit offen. Es gibt keine Zeit und es gibt keine Entwicklung, die uns und sie voneinander schied, der befreite Mensch, der umkehrende, der den Irrglauben zerreissende tritt aus dem Bann heraus; er bricht das Verhängnis, er wendet das Schicksal, er schafft die Zeit, nicht aus Willkür, sondern in jenem Entgegentreten, in jenem Entgegengehen aus ganzer Kraft, das Gott von uns verlangt, um uns entgegenzukommen. Heute waltet in diesem vom Sternenglauben befreiten Zeitalter, vom Aberglauben befreiten Zeitalter ein weit verhängnisvollerer Irrglaube, an die biologische (Menschlichkeit) Notwendigkeit, viel schlimmer als die Lehren von Augustin, dass eine Vorbestimmung Gottes da sei, in die der Mensch eingefügt ist und gegen die er nicht an kann. Es ist nicht feststellbar, wohin mich die Bestimmung gestellt hat, und daher kann jeder Mensch das Leben des Erwählten und Sicheren einschätzen – eine bedenkliche Grundlage – aber immerhin eine Grundlage. Der Biologie unserer Zeit ist keine tragfähige Grundlage mehr gegeben. Der Augenblick wird lokalisiert, die Weite der Entwicklung wird daraus abgeleitet. Wir sind alle zum Leben des Niedergangs nach dieser Auffassung verdammt und müssen uns in seine Funktionen schicken. Dieser Irrglaube musste zuletzt führen zu einer Lähmung aller Spontanität des Geistes. Und ganz deutlich wird es an jenem merkwürdigen Versuch, auch den Sozialismus in diese Auffassung zum All zu tun. Dies ist der Tod des echten Sozialismus, der Tod des wahrhaften Gemeinschaftsstrebens, das nur dann sich entfalten kann, wenn der Mensch an die Freiheit, an die Offenheit der Welt unmittelbar mit seiner ganzen Kraft glaubt. Nur dann ist [Leerstelle im Text] freier Zusammenschluss und Aufstieg zu neuer Gemeinschaft. Wir müssen den Bann lösen, wir müssen ihn lösen, wenn wir ihm nicht erliegen wollen. Wir müssen vor allem uns unmittelbar klären, dass die Wirklichkeit des Geistes nichts anderes ist als das reine Werden; das reine Werden ist nicht erforscht, es wird erfahren in der Entscheidung des Menschen. Als Geschichtsbetrachtung ist es nichts anderes als Ordnung des Gewordenseins. Ihr Schema hat für das reine Werden keine Gültigkeit, kein Gebot für den Geist. Der wollende Mensch besteht umso wahrer im reinen Werden, in der Entscheidung, je mehr er sich von der Ordnung des Gewordenseins befreit, je mehr er sich befreit vom Glauben an die Unfreiheit. Frei werden heisst frei sein. Die Intellektualität hat in dieser Zeit der Auflösung ihre Grenzen überschritten. Sie begnügt sich nicht mehr damit, die Werke des Geistes in

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der Orientierung dem Zeitwillen übersichtlich zu ordnen. Sie vermisst sich, dem reinen Werden anzuordnen, es könne nur so und nicht anders geschehen und es dürfte daher auch nur so und nicht anders geschehen, das heisst, es dürfte heute nur in der Richtung der Auflösung weiterwirken. Es müsse diese Zeit der Civilisation so herrlich machen als es dieser Zeit zusteht. Aber dieser Wirklichkeit der Oberfläche steht eine andere Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Tiefe gegenüber. In der Ohnmacht der Menschenseele wirkt sich das Geheimnis neuer Kraft, Revolutionierung der neuen Kraft. Das Kräfteverhältnis der Oberfläche und Tiefe kann nicht verglichen werden, weil die neue, die im Unterirdischen schlummernde, vor der Offenbarung stehende Kraft nicht gemessen und nicht gewogen werden kann. Die Kraft der Revolution, die Revolutionskraft schöpft aus dem Unerschöpflichen und nur, wenn sie das weiss, kann sie zu ihrer Freiheit und Macht gelangen. Ob sie das tut, wird sich im reinen Werden offenbaren, ruht als unerschlossenes Geheimnis in jedem von uns, in jedem von uns, der der Entscheidung geht. Unser Weckruf an die Kraft ist unser Kampfruf gegen die Unfreiheit. Dieser Augenblick, in dem wir leben, kann nur negativ bestimmt werden. Wir können nur sagen, dass es in diesem Augenblicke nach unserem Wissen das religiöse Faktum nicht gibt, noch nicht gibt, das, was in einer Senkung zwischen zwei Höhlen, zwischen zwei Welten des Morgens liegt. Daher dürfen wir keine falschen Intensionen erwägen. Der Augenblick verlangt von uns die letzte unerbittliche Konfrontation zwischen Besinnung, Befragung der Tiefe, Selbstentdeckung und Selbstbewegung, und es gibt keinen Entschluss mehr, der uns hält und helfen kann, es gibt keine Sicherung mehr, die irgendwo für uns bereit stünde. Keine Geschichte gilt für uns, kein Bescheidwissen kann uns helfen. Es gibt keine erprobte Ordnung des Wissbaren und Tubaren, in die wir uns nur einzufügen brauchen, sondern es gilt heute, dem Abgrund dieses Augenblicks standzuhalten, Auge in Auge. In einer alten jüdischen Sage wird erzählt: von einem Mädchen, dem ein Verlobter nach dem anderen in der Brautnacht starb, weil, als er sie berühren wollte, der Todesengel dastand und ihn umbrachte – bis einer kam, der in diesem Augenblick den Todesengel ansah, Auge in Auge und zu ihm sprach: Du und ihn aufforderte, bei ihnen zu sitzen und zu trinken. Da war der Bann gebrochen. Dass auch wir so der Berührung des Absoluten in dieser zwielichtlichen Stunde standhalten und die Krisis bis aufs letzte überwinden. Das [Leerstelle im Text] darf nicht abgeschätzt, darf nicht vorzeitig künstlich bewältigt werden. Es gibt kein Einswerden mehr für den Menschen, für die Zeit als die Welt als aus dem ganz realisierten Abgrund heraus; dann erst kann neuer Zusammenschluss, neue

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Unmittelbarkeit, neue Gemeinschaft bestehen. Solch Vorgang allein, solch innerster, aber aus dem Innersten in die Welt hinaus wirkender Vorgang allein kann das neue Wort rufen. Er allein ruft das neue Wort; nur wenn die Stimmen, wenn alle Stimmen schweigen, kann die Stimme laut werden.

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Die Revolution, die westwärts gerichteten, ungleichen aber nicht innehaltenden Schritts durchs Abendland zieht, trägt noch, wie das Zeitalter, dessen Ausgang sie ist, das Zeichen des Institutionismus im Banner. Das ist jener Aberglaube an die Allgewalt der Einrichtung, der Menschenblick und Menschenkraft von der elementaren Aufgabe des unmittelbaren Lebens, der von diesem selber gestellten und nur in ihm selber zu bewältigenden, ablenkt. Was ich meine, mag an ein paar ihrem Wesen nach vorrevolutionären (aber zeitlich in die Revolution hineinragenden) Beispielen verdeutlicht werden. Ein grosser Teil der abendländischen Menschen ist überzeugt, es komme für die Gestaltung menschheitlichen Geschicks wesentlich auf zwei Dinge an: die Demokratie, um durch das Zusammenwirken aller Individuen die gerechte Führung des Gemeinwesens, und den Völkerbund, um durch das Zusammenwirken aller Nationen das gerechte Einvernehmen zwischen den Gemeinwesen zu sichern. Und doch ist es, so sollte man meinen, offenkundig, dass beide Einrichtungen dieser positiven Formulierung ihres Zwecks notwendigerweise nicht gewachsen, vielmehr beider Funktion durch eine rein negative zu bestimmen ist. Die Demokratie vermag lediglich die Übergriffe einzelner Individuen zu erschweren, aber wieviel ihr an Aufbau gerät, hängt davon ab, ob es in ihr zur Führung berufene Menschen und zur Erkenntnis dieser Berufung befähigtes Volk gibt, denn nur dadurch kann das Prinzip der »freien Bahn« einen positiven Sinn für die Führung des Gemeinwesens gewinnen. Desgleichen kann der Völkerbund nur die Übergriffe einzelner Nationen erschweren, aber Gerechtigkeit wird sich zwischen ihnen nur dann stiften, wenn die Völker als an etwas sie Überwölbendes und Überdauerndes an eine geistige Wahrheit glauben, wenn diese als unsichtbare und legitime Autorität ihr Miteinanderleben regiert, wenn sie somit nicht durch das Nein der Angst sondern durch das Ja des Glaubens zusammengehalten sind. Beides, das Vorhandensein einer echten und in ihrer Echtheit erkannten Führerschaft und das Vorhandensein einer übernationalen und den Nationen gewissen Wahrheit, ist von den Institutionen unabhängig und durch sie nicht herstellbar. Vielmehr wirken, wo jene fehlen – und wahrlich, heute fehlen sie noch! – die Einrichtungen in ihrer Anmasslichkeit als verderbliche Illusionen, die über den essentiellen Mangel hinwegtäuschen und dem Wachstum der rettenden Kräfte: der radikalen Unzufriedenheit und der leidenschaftlichen Sehnsucht erfolgreich entgegenarbeiten.

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Nicht anders verhält es sich mit den in der Revolution sich kundgebenden Prinzipien.

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Der heilige Weg Ein Wort an die Juden und an die Völker

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Zieht, zieht durch die Tore, ebnet des Volkes Weg, bahnet, bahnet die Bahn, räumt das Gestein, erhebt ein Panier über die Völker! Jesaja 62,10 Und es wird dort eine Bahn und ein Weg sein, der heilige Weg wird er heißen. Jesaja 35,8

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Dem Freunde Gustav Landauer aufs Grab

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Die Rede, die hier mitgeteilt wird, ist im Mai 1918 gesprochen, in etwas abgeänderter Fassung im Oktober des gleichen Jahres wiederholt worden. Die Reihe, deren Abschluß sie darstellt, begann mit den »Drei Reden« (1909-1911, Buchausgabe 1911), Versuchen, die geistige Situation des gegenwärtigen Judentums unter dem Aspekt seiner Aufgabe zu kennzeichnen, und wurde von weiteren drei (1912-1914, veröffentlicht in dem Buch »Vom Geist des Judentums« 1916) fortgesetzt, Darlegungen der geschichtlichen Kräfte der Erneuerung, die ihm vor dieser Aufgabe heute wieder helfend zur Seite treten. Diese siebente und letzte Rede hat zum Gegenstand die Aufgabe selbst, ihr Werden und ihr Sein. Die drei ersten wollten zur Selbstbesinnung, zur Selbsterkenntnis, zur Bereitschaft aufrufen, die den Einzelnen zur Teilnahme am Werk befähigen sollen, die drei folgenden auf die durch die Zeiten dauernde innere Macht hinweisen, aus der das Werk aufsteigen soll, diese letzte will des Werkes überliefertes und doch noch unerkanntes Wesen aussagen und andeuten, wie es zu tun ist. Sie handelt vom Weg – vom morgigen, vom ewigen, von Israels, von Gottes Weg. Hier endet die Pflicht des Redenden. »Von einem Juden zu Juden gesprochen« – diese Begrenzung erwähnte ich im Vorwort zu den ersten drei Reden. Wie sie gemeint war, zeigte die zweite, die die kommende jüdische Synthese als eine ankündigte, die »wieder dem tausendfältigen, zerklüfteten, widerstreitenden Getriebe der Menschheit gegenüber die Forderung der Einheit erheben wird«. Wie sie gemeint war, ergänzte die mittlere aus der zweiten Dreizahl, darin die jüdische Religiosität nur als die deutlichste Erscheinungsform der allmenschlichen echten Religiosität dargelegt wurde, die »das Unbedingte im Stoff der Erde ausformen, Gottes Angesicht aus dem Block der Welt herausmeißeln« will. Und in dieser letzten der Reden erweist sich vollends das Werk als ein gemeinsames, ein Menschheitswerk, in dem den Juden freilich eine besondere, erschließende Funktion zufällt; die Forderung der Einheit sollen sie durch ihre Tat erheben: indem sie im Werk vorangehen. So sind die Vorangehenden aller Völker ihre Verbündeten. Sie sind es, wenn die Führer des Judentums sich der keiner früheren vergleichbaren Verantwortung bewußt werden, die ihnen auferlegt ist, der Verantwortung gegenüber dem Werk und dem Weg. Dem Werk: der Verwirklichung des Göttlichen in der Menschheit; dem Weg: dem Aufbau der wahren Gemeinschaft. Wer von diesen spricht, spricht, auch wenn er die Juden allein anredet, zu allen Völkern. *

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Ich habe von der gesprochenen Fassung der Rede nichts weggelassen und ihr nur im Schlußteil drei – entwurfsweise im Frühjahr 1918 niedergeschriebene – Abschnitte hinzugefügt.

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Anklage muß der Anfang sein, wenn es gilt, die Wirklichkeit des Judentums an seiner Wahrheit zu messen. Denn was hier an Geheimnis des Metalls und der Schlacke zu erfahren ist, das kann nicht von außen erfahren werden; es gibt sich nur dem kund, der sich selber in das prüfende Feuer wirft. In dieser Prüfung aber erkennen wir, daß wir Juden allesamt Abtrünnige sind. Nicht deshalb, weil uns Landschaft, Sprache, Kultur anderen Volkstums Seele und Leben durchdrungen haben; es könnte uns die eigne Landschaft, die eigne Sprache, die eigne Kultur geschenkt werden, ohne daß wir jenes innerste Judentum wiedergewännen, dem wir untreu geworden sind. Auch deshalb nicht, weil unser viele den Normen der jüdischen Überlieferung und dem System der von ihr anbefohlenen Lebensformen entsagt haben; die sie unverletzt in all ihrem Ja und Nein bewahrten, haben jenes innerste Judentum nicht mehr bewahrt als die andern. All diese sogenannte Assimilation ist äußerlich gegen die verhängnisvolle Angleichung, die ich meine: die Angleichung an den europäischen Dualismus, der die Spaltung des menschlichen Seins in zwei aus eignem Recht bestehende und voneinander unabhängige Gebiete, die Wahrheit des Geistes und die Wirklichkeit des Lebens, sanktioniert, die Angleichung an die Gesinnung des Ve r t r a g s . All der Verzicht auf Güter der nationalen Kultur oder der religiösen Tradition ist gering gegen den unseligen Verzicht auf das kostbarste Erbe des klassischen Judentums: auf die Tendenz der Ve r w i r k l i c h u n g . Diese Tendenz bedeutet, daß das wahre Menschenleben das Leben im Angesichte Gottes ist. Gott ist dem Judentum keine kantische Idee, sondern elementar gegenwärtige Substanz – weder ein von reiner Vernunft Gedachtes, noch ein von einer praktischen Postuliertes, sondern die Unmittelbarkeit des Daseins schlechthin, das Geheimnis der Unmittelbarkeit, dem der fromme Mensch standhält, der unfromme ausweicht, – er ist die Sonne der Seelen. Aber nicht der hält stand, nicht der lebt im Angesichte Gottes, der sich von der Welt der Dinge abwendet und selbstvergessen in die Sonne starrt, sondern der in ihrem Lichte atmet, in ihrem Lichte wandelt, sich und alle Dinge in ihrem Lichte badet. Wer sich von der Erde abkehrt, erfaßt Gott nur als Idee, nicht als Wirklichkeit, er wird nur seiner Einheit, nicht auch seiner Allheit habhaft, er hat ihn im Erlebnis, er hat ihn nicht im Leben. Aber auch wer sich der Erde zukehrt und Gott in den Dingen schauen will, lebt nicht wahrhaft in dessen Angesicht. Gott ist in den Dingen nur keimhaft zu schauen; aber er ist zwischen den Dingen zu verwirklichen. Wie die Sonne die Substanz ihres Seins unter den Sternen hat und doch ihr Licht im irdischen Raume fließt, so ist es den Kreaturen gewährt, in ihrer Mitte die Glorie des Unerfaßlichen erstrahlen zu sehen. Sie dämmert in den Wesen, in allen, aber

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sie wird nicht in ihnen, nur zwischen ihnen leuchtend. In jedem Wesen ist Allsein angelegt, aber es kann sich nicht anders entfalten als in dieses Wesens Allverbundenheit, in der reinen Unmittelbarkeit seines Gebens und Nehmens, die es als eine Lichtsphäre umgibt und in die Einheit der Welt einfügt. Das Göttliche kann sich im Einzelnen erwecken, kann sich aus dem Einzelnen offenbaren, aber seine wahre Fülle erlangt es je und je, wo zum Gefühl ihres Allseins erwachte Einzelwesen sich einander öffnen, sich einander mitteilen, einander helfen, wo Unmittelbarkeit sich zwischen den Wesen stiftet, wo der erhabene Kerker der Person entriegelt wird und Mensch zu Mensch sich befreit, wo im Dazwischen, im scheinbar leeren Raum sich die ewige Substanz erhebt: der wahre Ort der Verwirklichung ist die Gemeinschaft, und wahre Gemeinschaft ist die, in der das Göttliche sich zwischen den Menschen verwirklicht. Dies sind die Grundzüge der Lehre, auf der sich die Berufung des Judentums aufbaut. Aber diese Lehre, die ich hier aus dem Geist eines heutigen Menschen und in der Sprache eines heutigen Menschen zu Worte zu bringen versucht habe, hat im Judentum nicht als Wort, sondern als lebendige Tendenz bestanden, und die Rede diente ihr stets nur als Werkzeug, nicht als Ausdruck. Diese Lehre schwebte nicht als Theorie über dem Leben, sondern war als bestimmende Kraft ihm mitten eingetan. Die Lehre der Verwirklichung bewährte sich so schon in der Art, wie sie sich darstellte. Nicht das gedankliche Erfassen des Geistes, nicht sein bildnerisches Aussprechen ist die dem Judentum vorbehaltene Aufgabe, sondern des Geistes Verwirklichung. Es ist ihm eigentümlich, daß ihm die Wahrheit als Idee und die Wahrheit als Gestalt, die Wahrheit des Philosophems und die Wahrheit des Kunstwerks nicht zu genügen vermag: die Wahrheit als Tat ist sein Ziel, ihr zuzustreben sein Sinn und Bestand. Der Wille ist ihm eingegeben, die wahre Gemeinschaft auf Erden zu schaffen. Sein Verlangen nach Gott ist das Verlangen, ihm in der wahren Gemeinschaft eine Stätte zu bereiten; sein Bewußtsein von Israel ist das Bewußtsein, daß von ihm die wahre Gemeinschaft ausgehen soll; sein Harren auf den Messias ist das Harren auf die wahre Gemeinschaft. Darum will es nichts von einem jenseitigen Gott wissen, da es seinem Gott wohlgefällt, zwischen irdischen Wesen zu ruhen, als seien sie die Cherubim auf der Bundeslade; aber nichts auch von einem in den Dingen wohnenden, da ja nicht das Sein der Dinge, nur ihre Vollendung sein Ort ist. Darum darf es sich nicht den Völkern gleichsetzen, da es sich als den Erstling der Erfüllung weiß, und darf sich doch auch nicht höher schätzen als sie, da es hinter dem ihm vorgesetzten Bilde so weit zurückgeblieben ist, daß es es zuweilen kaum noch deutlich zu gewahren vermag. Darum wird es nie, solange das Reich Gottes nicht erstanden ist, einen

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Menschen als den gekommenen Messias anerkennen; und wird doch nicht aufhören, vom Menschen die Erlösung zu erwarten, weil es des Menschen Sache ist, Gottes Macht in der Erdenwelt zu begründen. Das Sonderwesen des Judentums ruht somit weder im Religiösen noch im Ethischen, sondern in der Einheit beider Elemente. Der Einheit und nicht der Verknüpfung; beide sind nur zwei Seiten des gleichen Grundverhältnisses. Das Gute tun heißt die Welt mit Gott erfüllen; Gott wahrhaft dienen heißt ihn ganz ins Leben ziehen. Im echten Judentum gibt es weder Sittlichkeit noch Glauben als abgesonderte Sphären; sein Ideal, die Heiligkeit, ist wahrhafte Gemeinschaft mit Gott und wahrhafte Gemeinschaft mit den Wesen i n e i n e m ; die Zerrgebilde einer g e t e i l t e n Geisteswelt, Werkheiligkeit und Gnadenheiligkeit, sind ihm fremd. Und ebenso sind ihm das nationale und das soziale Prinzip nicht voneinander geschieden: das nationale bezeichnet das Material, das soziale die Aufgabe, beide sind vereint in der Idee, daß es gilt, das Volk zur wahren Menschengemeinschaft, zu einer heiligen Gemeinde zu gestalten. Nationalismus als isolierte Lebensanschauung und Sozialismus als isolierte Lebensanschauung sind dem echten Judentum gleich fremd. Die moderne Geisteswelt, in der diese Sphären, die ethische und die religiöse, die nationale und die soziale, sich voneinander abgelöst, abdifferenziert haben und jede von ihnen, um die anderen unbekümmert, eigenen Gesetzen folgt; diese Welt, in der man Wohltaten übt, ohne die Seele daran zu heiligen und Gottes in der eigenen Tat inne zu werden; in der man Gottesdienst übt, ohne die Botschaft zu vernehmen, die befiehlt, in die Welt zu gehen und den göttlichen Sinn, trotz Widerstand und Widerstreben, und sei es um den Preis des Untergangs, in dem spröden Stoff des Lebens, des Menschenlebens und des Völkerlebens auszuprägen; diese Welt, in der die Liebe zum Volk ein Machtgelüste und der Wille zur Gesellschaft eine Parteiung bedeutet: – diese Welt ist durch und durch unjüdisch, und die Individuen jüdischer Konfession oder Nation, die deren Götzen anbeten und ihren Geboten gehorchen, usurpieren den Namen Juden, ob sie nun den Arbakanfes unter dem Rock oder das Zionsabzeichen an ihm tragen. Die Welt des wahren Judentums ist die Welt der Einheit alles Erdenlebens, einer Einheit nicht des Seins, sondern des Werdens, und eines Werdens nicht aus sich selber, sondern aus der Gestaltung durch den Geist – den Menschengeist, den sich der Gottesgeist erkor, wie das hohe jüdische Wort verkündet, sein »Genosse am Werk der Schöpfung« zu sein, die angelegte Arbeit des sechsten Tages zu vollenden und das Absolute da zu verwirklichen, wo es noch nicht Gestalt gewonnen hat: in der alle anderen umschließenden und beschließenden Sphäre der Gemeinschaft.

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Verwirklichung – das ist das Geheimnis des Bundes zwischen Gott und Mensch, wie es sich in der dreifachen Erzählung der Schrift darstellt: des ersten Bundes mit dem Lehmkloß, dem der knetende Schöpfer mit dem Einhauch seines Mundes das eigene Bild eintut, daß er es in seinem Leben entfalte, zur Offenbarung, daß nicht das Sein, sondern das Werden des Menschen Sache ist; des zweiten Bundes mit dem erwählten Stammvater, des Bundes, der mit der Abscheidung von Heimat und Sippe anhebt, und mit der Forderung des Sohnesopfers sich schließt, zur Offenbarung, daß die Verwirklichung den äußersten Einsatz, die unbedingte Hingabe heischt; des dritten Bundes mit dem Volke in der Wüste Sinai, dessen erstes Geheiß ist: »Ihr sollt mir ein priesterliches Reich und ein heiliges Volk sein«, zur Offenbarung, daß die Verwirklichung des Göttlichen auf Erden sich nicht im Menschen, sondern zwischen den Menschen erfüllt, daß wohl ihr Ausgang im Leben des Einzelnen, ihre Vollendung aber im Leben der wahren Gemeinschaft ist. Es heißt aber im Talmud von diesem Bund: »In der Stunde, da Israel sprach: ›Wir wollen tun und vernehmen‹, erst tun und dann vernehmen, ging eine Himmelsstimme aus und redete zu ihnen: ›Wer hat meinen Kindern das Geheimnis kundgetan, das die Dienstengel üben?‹ Wie es heißt: ›Preiset den Ewigen, ihr seine Engel, ihr Gewaltigen, die ihr sein Wort tut, die Stimme seines Wortes zu vernehmen‹ – erst das Tun und dann das Vernehmen.« Es sei erlaubt, den Spruch des Talmud zu deuten: die Tat selber offenbart, aus der eigenen Tat vernimmt der Mensch, vernimmt das Volk die Stimme Gottes.

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* Nicht die Wahrheit als Idee und nicht die Wahrheit als Gestalt, ich wiederhole es, sondern die Wahrheit als Tat ist Aufgabe des Judentums, sein Ziel ist nicht das Philosophem und nicht das Kunstwerk, sondern die wahre Gemeinschaft. Hierin wurzelt die rätselhafte Größe, hierin aber auch die Paradoxie der jüdischen Existenz. Denn Idee und Gestalt haben ihr Ende in sich selbst; wem die Gnade zuteil wurde, ein vollkommenes Philosophem oder Kunstwerk zu schaffen, der hat ein seliges Gebilde den Säulengängen des Geistes eingefügt und die Vollendung geschaut, ob auch die ruhelose Seele schon schmerzlich am neuen Block sich versucht; unberührt, unberührbar leuchtet das Eidos, die geformte Wahrheit, in die Welt. Nicht so die Tat. Sie weist ihrem Wesen nach über sich hinaus, sie ist, mag sie noch so frei in ihrer Intention und noch so rein in ihrer Erscheinung sein, ihren Folgen preisgegeben, und die erhabenste, die sich, in die Welt eintretend, mit keinem Blick an die Niederungen der Kausalität verlor, wird in deren Schlamm gezogen, sowie sie der Sicht-

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barkeit angehört. Und gar erst die Tat am Werden der Gemeinschaft! Alles steht ihr entgegen, die Starrheit des Erbgewohnten und die Trägheit der Augenblickssklaven, aber nicht minder der eilfertige Doktrinarismus und die verantwortungslose Demonstrationslust; die karge Selbstsucht und die unfügsame Eitelkeit, aber auch die hysterische Selbstvergeudung und das richtungslose Getue; der Kultus des sogenannten »reinen Gedankens« Hand in Hand mit dem Kultus der sogenannten »realen Politik«; und zudem alle bestehenden Mächte, die sich in der Übung ihrer Gewalt nicht stören lassen wollen. All das tobt in einem trüben, trübenden Wirbel um den Einsamen und Hingegebenen, der sich vermißt, an der wahren Gemeinschaft bauen zu wollen – mit welch einem Material! Hier ist nirgends unberührbare Vollendung, überall wagt sich zerrend, verzerrend das Unreine an das Reine, dem heldischen Opfer meldet ringsum ein schadenfrohes Lächeln seine Vergeblichkeit, und zu dem sieglos Sterbenden redet der Abgrund sein unbarmherziges Wort. In diesem Verhängnis der Gemeinschaftsgestaltung wurzelt die Paradoxie des Judentums und die der Führer, in denen sich seine Kraft und seine Lehre sammelte und darstellte. Von hier aus ist die innere Geschichte seiner klassischen Zeit zu verstehen. Diese Gesetzgebung, die nie ganz ausgeführt wurde, und diese Prophetenrufe, die nie ganz erhört wurden, dieses auf dem Wüstenzug immer wieder murrende, im eignen Land immer wieder in den Baalsdienst verfallende Volk; dieser auch in der Stunde äußerster Gefahr und erbittertster Feindesabwehr fortwogende innere Kampf; diese Restaurationsversuche und diese Zersetzungen; diese messianische Inbrunst und diese Anpassungskunst: all dies ist, im Positiven und im Negativen, ein Ausdruck der Paradoxie, die sich aus der gewaltigen Tendenz, das Göttliche an der Gemeinschaft zu verwirklichen, und dem natürlichen Widerstreben des Materials, an dem sich die Verwirklichung vollziehen sollte, mit tragischer Folgerichtigkeit ergibt. Ich sage: dem natürlichen Widerstreben, und meine damit nicht die besondre Natur dieses mit solcher Eindringlichkeit von seinen Führern als halsstarrig und widerspenstig gescholtenen Volkes, so bedeutsam sie auch ist, sondern die allgemeine, von der ich gesprochen habe, jene allgemein menschliche Natur der ewigen Masse, die dem Formungswillen der Forderung mit aller wirkenden und latenten Energie widerstrebt und die Tat in ihre zerreibenden Kreise niederzieht; die die Umgestaltung nicht etwa bloß hindert, sondern, weit schlimmer, die angehobene befleckt, verzerrt, zersetzt. *

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Von welcher Art und Größe aber der Formungswille der Forderung im alten Judentum war, das ist wohl am klarsten zu ermessen, wenn man das schönste soziale Gebilde der Antike danebenhält, die griechische Polis. Hier ist strenge gestalthafte Einheit, ein Gemeinwesen, in dem ein Eidos lebt wie in dem Philosophem und in dem Kunstwerk, reines Gebilde. Aber dies auf der Grundlage einer Differenzierung der Volksteile, in der sogar der Name der Guten oft genug den Vornehmen, das ist Vermögenden allein zukommt. Auch die sozialen Ideologien, wie die platonische, stellen nur eine Verklärung dieser radikalen Ungleichheit, ihr Umbiegen ins Geistige, nicht eine ihr gegenübertretende Forderung eines alle umfassenden Gemeinschaftslebens dar; der Demos, das »große Tier«, hat lediglich die Aufgabe, durch seine Arbeit den höheren Ständen Freiheit und Herrschaft zu sichern. Dieser Ordnung der grundsätzlichen Ungleichheit, die nur zeitweilig gewaltsam durch politische Umwälzungen für Augenblicke, äußerlich und unvollständig, aufgehoben wurde, steht in der altjüdischen Gesetzgebung die Idee des rhythmischen Ausgleichs gegenüber, eines sozialen Rhythmus, der wie der natürliche des Jahres, die Entwicklung immer wieder ins Gleichgewicht bringt und neu beginnen läßt; der durch die jeweiligen Krisen nur unterbrochenen gesetzmäßigen Statik steht hier eine gesetzmäßige Dynamik gegenüber. Die Ungleichheit des Besitzes wird nicht abgeschafft, aber ihr statischer Charakter wird ihr genommen; im siebenten Jahr soll alle Schuld erlassen und die Knechtschaft losgesprochen, im fünfzigsten aber soll aller Grundbesitz ausgeglichen werden, und jedermann soll zu dem Seinen kommen. »Und das Land sollst du nicht für immer verkaufen; denn mein ist das Land; denn Fremdlinge und Gäste seid ihr bei mir.« Dieser einem Griechen unfaßbare Gedanke Gottes als des einzigen Eigentümers alles Bodens ist der Grundstein der jüdischen sozialen Konzeption; ihr entspricht in der politischen Sphäre die Idee der Gottesherrschaft, der Gedanke Gottes als des alleinigen Herrschers des Gemeinwesens. Mochte diese Idee auch zuweilen von einer machtsüchtigen Priesterschaft mißbraucht werden, so tritt sie doch in der jüdischen Gesetzgebung in unbedingter Reinheit auf, und von Mose bis Samuel sind die Führer nur Beauftragte Gottes, das Volk der Idee nach, ob es auch jetzt schon wie später immer wieder abfällt und Abgötterei treibt, eine gottunmittelbare Gemeinde. Am deutlichsten wird das in der denkwürdigen Szene, die dieses Zeitalter abschließt und ein neues beginnt: der Szene zwischen Samuel und den Ältesten, die von ihm verlangen, daß er einen König über sie setze. (Ich sehe hier davon ab, ob der Niederschrift dieses Vorgangs und ihren Voraussetzungen historischer Charakter zukommt oder ob sie das Gepräge einer späteren Zeit und Anschauung trägt; ihre innere Wahrheit

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ist unverkennbar.) Den unmittelbaren Anstoß hierzu gibt ein Vergehen Samuels selbst gegen den Sinn der Gemeinschaft. Bis dahin wird jeder Richter von Gott berufen; daß Gottes Geist über Otniel kam, daß Gott den Ehud zum Helfer erweckte, Debora mit Prophetie begabte, Gideon von der Kelter wegholte, Simson im Mutterschoß auserwählte und Samuel sich im Traum offenbarte, das war der Ausweis ihres Auftrags und ihres Amtes; in unserer Sprache ausgedrückt, es war jeweilig der Beste, der Hilfreichste und Hilfsfähigste, der im Namen Gottes richtete. Samuel aber macht seine unwürdigen Söhne zu Richtern und führt so ein fremdes Prinzip, das der erblichen Führung, in die Gemeinschaft ein. Nunmehr will diese sich des Prinzips völlig bemächtigen und verlangt einen König, wie ihn alle Völker haben. Und auf alle Mahnungen und Warnrufe der Alten weiß die Menge nur eins zu antworten. »Wir wollen sein wie alle Völker.« Gott aber hat zu Samuel gesprochen: »Höre auf die Stimme des Volkes, denn nicht dich haben sie verworfen, sondern mich, daß ich nicht mehr über sie herrsche.« Dieser Augenblick ist die eigentliche Wende der jüdischen Geschichte. Bis dahin bestand, wiewohl unvollkommen realisiert, die einige Gemeinschaft, die lebendige Einheit von weltlicher und geistlicher Ordnung, das Durchdrungensein des Gemeinwesens von der lenkenden Gegenwart des Göttlichen, die gottunmittelbare Gemeinde; nun beginnt der weltliche Staat und mit ihm die Entzweiung. Wohl werden die Könige noch von Gott berufen und abgesetzt, wohl gerät noch in der Berufung der Geist Gottes über sie – und das bedeutet hier Größeres als das mittelalterliche Gottesgnadentum, es bedeutet die Verwandlung, die Erneuerung des Herzens –; aber die ursprüngliche Einheit des Lebens ist gespalten, und als der Zerfall des Volkstums in zwei Reiche sich vollzieht, mutet er uns wie ein Sinnbild an. Schon unter David hat die große Reihe der Propheten begonnen, die die Sache Gottes und seiner Verwirklichung gegen den König führen: die sichtbarsten Gestalten sind Natan gegen David, Achija gegen Jerobeam, Elija gegen Ahab, Amos gegen den zweiten Jerobeam, Jeremija gegen Joahas, Jojakin, Jechonja und Zedekija. Der Sinn dieses Gegenübertretens wird am deutlichsten an dem letzten, an Jeremijas Wort gegen Zedekija: es betrifft das Nichteinhalten des Gebotes vom Freijahr, dem siebenten Jahr, da alle Knechtschaft losgesprochen werden soll. Dieses Gebot, so erfahren wir aus der Rede des Propheten, war lange Zeit nicht eingehalten worden; als sich aber das Volk von neuem dazu verpflichtete, schlug es bald wieder um und entheiligte von neuem den göttlichen Namen. Noch einmal wird uns hier, unmittelbar vor dem Sturz des Reiches und der Hinwegführung nach Babel, die innere Tragödie aufgetan, noch einmal treten in unerbittlicher Klarheit der Formungswille der Forderung

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und die Herzensträgheit des halsstarrigen Volkes einander gegenüber; der Geist, der Gottes Sinn in dem spröden Stoff des Gemeinschaftslebens ausprägen will, züchtigt mit seinem brennenden Wort den Staat, der das Gemeinschaftsleben nach den Ansprüchen der Mächtigen einrichten will und nun eine Beute des mächtigeren Staates wird. Man muß diese große Haltung der Propheten recht sehen und begreifen. Sie kämpfen nicht gegen den Staat an sich, ob er auch eine gottesunmittelbarere Form der Gemeinschaft verdrängt hat, sondern gegen den entgotteten, entgeisteten Staat. Dem jüdischen Gedanken getreu, können sie das Seiende nicht verneinen, sich von ihm nicht abwenden, sie müssen es mit dem Geist, mit dem Geist der wahren Gemeinschaft durchdringen wollen. Sie erfahren Mal um Mal das ungeheure Widerstreben dieses Seienden gegen den Geist, sie erfahren an ihrer aller Pein und Schmach ausgelieferten Person seine Übergewalt; aber sie lassen nicht ab. Es ist ihnen undenkbar, einen Vertrag mit dem Bestehenden zu schließen, es ist ihnen aber auch undenkbar, von ihm weg in den Bereich des inneren Lebens zu fliehen; durch Pein und Schmach unaufhaltsam braust ihr Wort über die Reichen, die Machthaber, die Fürsten hin. Sie haben kein Haus in der Welt und haben auch keine Herberge in der Wüste: unerbittlich hat sie die Hand des Herrn an ihr aussichtsloses Werk gestellt. Sie wissen mit dem letzten Funken ihrer Kraft, daß es ums Letzte geht; sie schrecken nicht zurück, die Güter der Zivilisation zu verwerfen, wo deren Behagen das gerechte Leben hindert und um der Erleichterung des äußeren Verkehrs willen der innere Verkehr der Menschen untereinander verwüstet ist – ja, sie schrecken, wo es not tut, auch davor nicht zurück, die Unabhängigkeit ihres Staates zu opfern, wenn es gilt, einen Rest des Volkes vor dem äußersten Verfall zu retten und zum Kern einer künftigen neuen Gemeinschaft zu bewahren. Niemals aber scheiden sie zwischen Geist und Welt, zwischen dem Reiche Gottes und dem Reiche des Menschen; das Reich Gottes ist ihnen nichts anderes als das Reich des Menschen, wie es w e r d e n soll. Wenn sie an der gegenwärtigen Erfüllung verzweifeln müssen, werfen sie das Bild ihrer Wahrheit in die absolute Zukunft; die Ausgestaltung des Messianismus ist der schöpferische Ausdruck dieser Verzweiflung. Aber auch er meint keinen Gegensatz zu dieser Menschenwelt, in der wir leben, sondern ihre Reinigung und Vollendung; keine Gemeinschaft zwischen abgelösten Geistern, sondern zwischen Menschen, aber eben w a h r e Gemeinschaft zwischen wahren Menschen; »einen neuen Himmel und eine neue Erde«, aber errichtet auf der Erneuerung des Menschenherzens. Dieses ist das Vermächtnis der jüdischen Propheten. *

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Die Geschichte des ersten Reiches ist von dem Kampf zwischen der Idee der wahren Gottesherrschaft und dem sich ihr entfremdenden Staat durchzogen; in der Geschichte des zweiten realisiert sich ein Zerrbild dieser Idee. Schon unter Esra beginnt die Entwicklung, von der politischen Lage bestimmt. Da die Grundlinien der weltlichen Ordnung von dem persischen Weltreich gezogen werden, tritt die Tendenz, das Göttliche im Aufbau der Gesellschaft auszuprägen, bei den führenden Männern zurück; das ihnen allein überlassene Gebiet ist das der geistlichen Ordnung. Andrerseits wird der Gedanke der Gemeinschaftsformung auch durch das ebenfalls von der Lage eingegebene Streben nach Wahrung der Rasse und der nationalen Eigenart gegen die Gefahren der Diaspora zurückgedrängt. Ritualismus und Nationalismus vereinigen sich gegen ihn. Die sogenannte Theokratie, die sich in dem aller Säfte eines freien Gemeinschaftslebens beraubten Gemeinwesen ausbildete, gipfelt endlich, da auch jene erhaltenden Kräfte zeitweilig nachlassen, in der karikaturhaften Gestalt des hellenistischen Hohenpriesters. Wohl wird diese von der makkabäischen Erhebung hinweggespült; aber auch die hasmonäischen Herrscher wissen nur religiöse Hoffnungen für politische Umtriebe zu mißbrauchen, religiöse Macht mit politischer zu verquicken – der Gedanke der Gestaltung des politischen Lebens durch den religiösen Geist ist diesen typisch orientalischen Despoten urfremd. Und der Geist selbst scheint gelähmt; keine Führer zur Tat erstehen; auf den aktiven Messianismus, der die Welt zum Gottesreich bereiten will, ist der passive gefolgt, der wartet, daß Gott sich selbst sein Reich baue. Die Epoche der um die Gottesherrschaft kämpfenden Prophetie hatte den Widerstand des Materials gegen die Verwirklichung erfahren, der die Umgestaltung hindert; die Epoche der falschen Theokratie erfuhr den niederziehenden Einfluß des Materials, der die Umgestaltung befleckt, verzerrt, zersetzt. Aus dieser tiefen Enttäuschung ist die Wendung zu verstehen, die scheinbar in einen Gegensatz zur Verwirklichungstendenz trat, in Wahrheit aber ihr nur eine neue, der Not des Zeitalters antwortende Gestalt gab: die Wendung, die sich im Verborgenen entfaltete und irgendwie bis an diesen Tag den Augen des Volkes verborgen geblieben zu sein scheint – das Essäertum. Seine Anfänge sind in Dunkel gehüllt, aber wir haben Grund anzunehmen, daß es in einer Gruppe von »Chassidim« wurzelte, die die makkabäische Erhebung kämpfend mitmachten, aber die hasmonäische Erfolgsherrschaft nicht mitmachen wollten, und die anscheinend alte Sonderüberlieferungen bewahrten. Die spärlichen erhaltenen Nachrichten deuten nur dem flüchtigen Blick auf eine esoterische Sekte. Sie besagen zwar, wiewohl nicht übereinstimmend, daß die Essäer abseits

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von den Städten wohnten, weil sie, wie es bei Philo heißt, die verseuchte Luft der unheilbaren Ansteckung wegen mieden. Aber weder Meditation noch ein abseitiger Kult war es, dem sie in ihrer Abgeschiedenheit oblagen, sondern von strenger Arbeit, vornehmlich auf dem Acker, und deren natürlichen Unterbrechungen war ihr Tag gegliedert; auch allerlei Handwerk trieben sie, mit Ausnahme der Verfertigung von Waffen; den Handel unterließen sie, an seine Stelle traten Tausch und freie Gabe. Das Eigentum war gemeinsam, Besitzanhäufung unbekannt, ein stilles Wohlwollen der Atem des Verkehrs. Reinlichkeit und Reinheit verschwistert durchstrahlten das Leben, denn der Leib galt, wiewohl sterblich, kaum weniger als die Seele. Das Mahl war ihnen heilig, das Linnen heilig, vor allem heilig das Licht der Sonne. Zölibat waltete in einzelnen Gruppen, allgemein verpflichtende Kraft stand ihm nicht zu. Führer erwählten sie sich, deren Anordnungen sie unbedingt gehorchten, aber sie verwarfen die Herrschaft des Menschen über den Menschen als »ungerecht und gottlos«. Die Essäer waren mehr als eine Sekte oder ein Orden; sie waren eine volle, lebendige Gemeinschaft mit wirtschaftlicher Autarkie und sozialer Konsistenz. Der Verwirklichungswille hat hier nicht umgeschlagen, er ist nur gleichsam in sich gegangen. Die Essäer haben, der Not und Enttäuschung des Zeitalters antwortend, mit der Verwirklichung bei sich selber begonnen. Darin liegt keineswegs ein Verzicht auf die Umgestaltung des Staates, wohl aber ein Verzicht auf den Versuch der Umgestaltung durch das Wort allein. Bauende Begier liegt darin, die nicht warten will, bis Gott den Anfang macht, sondern ahnt, sie werde mitten im Bauen des mitbauenden Gottes inne werden. Formungswille, der ansetzt, wo allein angesetzt werden kann: jetzt und hier. Der Messianismus entschlossener Menschen, denen das eigne ungeteilte Leben gerade gut genug ist, ein Körnchen des messianischen Reiches zu werden. Ein vitaler Reinheits- und Einheitssinn, der mitten im Wust und Gewimmel einer zerfallenden Gesellschaft sich unterfängt, mit Gott und der Gemeinschaft in einem, mit Gott in der Gemeinschaft Ernst zu machen. »Beginne zu sein« – das ist der glockentönige Stundenschlag vom Turm der Elemente. »Beginnet Juden zu sein« – das ist das heimliche Vermächtnis der Essäer, für das Ohr eines späten Jahrhunderts bestimmt. * Nicht Schritt um Schritt kann ich heute der Geschichte folgen. Aber des zentralen Juden muß ich gedenken, in dem sich der jüdische Verwirklichungswille sammelte und durch den er sich brach. Es ist urjüdischer Geist der wahren Gemeinschaft, wenn er lehrt, wo zwei auf Erden eins

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würden, könnten sie alles von Gott erlangen, wenn er lehrt, wer seine Hand an den Pflug gelegt habe und zurückblicke, tauge nicht zum Reiche Gottes. Was er das Reich Gottes nennt, das ist – mag es noch so sehr vom Gefühl des Weltendes und der wunderbaren Verwandlung bestimmt sein – doch keine jenseitige Tröstung, keine vage himmlische Seligkeit; es ist auch keine geistliche oder kultische Vereinigung, keine Kirche; es ist das vollkommene Zusammenleben der Menschen; es ist die wahre Gemeinschaft, die eben dadurch die unmittelbare Herrschaft Gottes, seine Basileia, sein irdisches Königtum ist. (Auch das johanneische Wort von dem Reich, das nicht von dieser Welt ist, wurzelt noch im Sprachgebrauch des Judentums, in dem »dieser« Welt nicht eine jenseitige, sondern die » k o m m e n d e « Welt gegenüberstand.) Das Reich Gottes ist die kommende Gemeinschaft, in der alle, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, satt werden, und die nicht aus göttlicher Gnade allein, sondern nur aus ihrem Zusammenwirken mit dem Menschenwillen und der geheimnisvollen Verbindung beider hervorgehen kann. Jesus will – worin immer sonst er sich von der überlieferten Lehre scheiden mag – wie die Propheten Israels die Gesellschaft nicht aufheben, sondern erfüllen; er will wie die Essäer die weltliche Gemeinde nicht fliehen, sondern sie in Wahrheit als die w a h r e geistliche aufbauen. Dies, daß Gott in der Welt und Weltlichkeit durch deren glühende Reinigung und bildnerische Vollendung verwirklicht werden will, daß die Welt das verwüstete Haus ist, das für den Geist gerichtet werden soll, und daß, solange dies nicht geschehen ist, der Geist nicht hat wo er sein Haupt hinlege, dieses abgründliche Wissen ist Jesu tiefstes Judentum. Und doch ist ein Wort von ihm überliefert, das in einem Gegensatz dazu zu stehen scheint. Es ist das Wort, das er denen erwidert, die ihn fragen, ob man dem Kaiser Zins geben solle: »Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist.« Hier ist scheinbar eine Trennung ausgesprochen zwischen Welt und Geist, zwischen der verrotteten und kolossalischen Tatsächlichkeit, deren Dasein man hinnehmen müsse, und der reinen Idealität, in der man sich von ihr erlöse; jener sei der Tribut des äußerlichen Lebens zu zollen, dieser gehöre das Herz. Aber diese Trennung ist nur scheinbar. Jesus stand nicht mehr einem Staate gegenüber, den man als Ganzes umzuschmelzen versuchen konnte, indem man seinem Herrscher, wie der Prophet dem König von Juda oder Israel, ins Auge sah, nicht einem Staat, den man mit der Idee schlagen und überwinden konnte; es war Rom, es war der nackte Staat, der über sich nichts kannte und anerkannte, der auch die Götter nur als die Hüter seiner Macht und seines Gesetzes duldete, wenn er es nicht vorzog, seinen Kaiser selber zum Gott einzusetzen; es war der Zwangsverein, der

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alle natürliche Genossenschaft verdrängt hatte; es war die legitimierte Willkür, das sanktionierte Sakrileg, der Mechanismus mit der Maske des Organischen, die Organisation mit der Maske des Geistes. Diesem massiven Gemächte stand der jüdische Verwirklichungswille, der Wille zur reinen Gemeinschaft, in neuer Kraft und Größe auferstanden, in dreifacher Gestalt gegenüber: beiseitetretend und die Lehre rettend, damit in ihr eingeschlossen der göttliche Auftrag sich für eine günstigere Zeit bewahre, so Jochanan ben Sakkai, der im Jahre der Zerstörung Jerusalems mit Erlaubnis des Kaisers das Lehrhaus zu Jabne begründet; kämpfend, einen der heldenmütigsten, weil gegen die überlegensten Waffen auf das aussichtsloseste geführten Befreiungskriege der Weltgeschichte, und heldenhaft erliegend, so die großen Rebellen, von den Führern im jüdischen Krieg bis auf Barkochba; eine neue Gemeinschaft stiftend, die im Leibe des Ungeheuers wachsen und ihn sprengen wollte, so Jesus. Er, der das Wort sprach: »Niemand kann zwei Herren dienen«, hat nicht gemeint, man könne Gott und Rom dienen. Er hat gemeint, Aufstand und Revolution seien unnütz und müßten sich in sich verzehren, solange nicht aus der Erneuerung der Seele ein neues echtes Gebilde menschlichen Zusammenlebens geboren werde, das erstarkend das alte ekle Gefüge zu erschüttern bestimmt sei. Ein anderes seiner Worte »Widerstrebet nicht dem Übel!« bedeutet: Widerstrebet dem Übel, indem ihr das Gute tut, schlaget nicht auf das Reich des Übels los, sondern tut euch alsbald zum Reich des Guten zusammen – dann wird die Zeit kommen, wo das Übel euch nicht mehr zu widerstreben vermag, nicht weil ihr es besiegt, sondern weil ihr es erlöst habt. Jesus wollte aus dem Judentum den Tempel der wahren Gemeinschaft erbauen, vor deren bloßem Anblick die Mauern des Gewaltstaates zerfallen müßten. Aber nicht so haben ihn die kommenden Geschlechter verstanden. Eine ungeheuerliche Mißdeutung seiner Lehre füllt zwei Jahrtausende abendländischer Geistesgeschichte. An Stelle des jüdischen Wissens um die einige Welt, die von Trübung und Verwirrung befallen ist, aber durch den ringenden Menschenwillen aus Trübung und Verwirrung gelöst werden kann, des Wissens, daß an diesem Werden sich der menschliche Wille zum göttlichen erhebt, das Ebenbild sich vollendet, und daß hier in Wahrheit sich Gottes ewige Geburt ereignet, an Stelle dieses echt jüdischen Wissens tritt die Annahme einer grundsätzlichen und unüberbrückbaren Zweiheit von Menschenwillen und Gottesgnade. Der Wille ist nicht mehr zwar abgefallen, aber durch das Geheimnis der Umkehr unendlicher Heilkraft gewärtig und zu unendlichem Heilwerk berufen, sondern er ist unbedingt böse und der Erhebung aus eigner Kraft unfähig; nicht er in all seinem Widerspruch und all seiner Möglichkeit ist

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der Weg zu Gott, sondern der Glaube ist es und das Harren auf die Berührung der Gnade. Das Böse ist nicht mehr die »Schale«, die durchbrochen werden muß, sondern es ist eine Urgewalt, die der des Guten als der große Widersacher gegenübersteht. Der Staat ist nicht mehr die Verdichtung des verirrten Gemeinschaftswillens und daher vom rechten Willen durchdringbar und erlösbar, sondern er ist entweder, wie für Augustin, das Reich der auf ewig Verdammten, von dem sich die Erwählten somit auf ewig zu scheiden haben, oder, wie für Thomas, eine Vorstufe und Vorschule der wahren Gemeinschaft, welche eine geistliche ist. Die wahre Gemeinschaft ist nicht mehr im vollständigen Leben der Menschen miteinander, in der verklärten Weltlichkeit zu verwirklichen, sondern in der Kirche; sie ist als Gemeinschaft des Geistes von der der Welt, als Gemeinschaft der Gnade von der der Natur grundsätzlich getrennt. Auch der Protestantismus hat über diese Scheidung nicht hinausgeführt; auch ihm ist das Leben in zwei Reiche, das der Werke und das des Glaubens, zerfallen; er fordert das Bestehen der Kirche neben dem Staat, nicht das Aufgehen beider in einer höheren Einheit, der wahren Gemeinschaft. Nur in der Mystik leben das Gefühl des ungeteilten Seins, das Wissen um die Bedingtheit des Bösen und die Unbedingtheit der Menschenseele fort; aber ihr fehlt das Element der Aktivität in der Unbedingtheit, die Tendenz der Verwirklichung des ungeteilten Lebens in der Menschenwelt, in der Welt des Miteinander. So haben denn die Völker des Abendlands, indem sie in der Lehre Jesu jüdische Lehre übernahmen, deren Wesentliches nicht übernommen; die Tendenz der Verwirklichung ist in die geistigen Grundlagen des Völkerlebens nicht eingegangen. Wohl loderte ihre Flamme immer wieder in der Leidenschaft ketzerischer, sektiererischer Gemeinden auf, die mit dem Reich Gottes beginnen wollten; aber sie erlosch immer wieder in der Luft, in der die Völker atmen, der Atmosphäre der Abfindung mit der Zweiheit. Es ist die Atmosphäre, in der noch unsre heutige Zeit steht, die des Dualismus von Wahrheit und Wirklichkeit, Idee und Tatsache, Moral und Politik; es ist die Atmosphäre, in der das Christentum dem römischen Kaiser so lange gegeben hat was »des Kaisers« war, bis es ihm nichts mehr zu verweigern hatte; in der das Christentum so lange dem Übel nicht widerstrebt hat, bis es, als es seinen rasendsten Exzessen zu widerstreben versuchte, erkennen mußte, daß es dessen unmächtig geworden war. Vergessen wir aber nicht, daß auch er ein Jude, ein repräsentativer Jude gewesen ist, dessen Werk diese Brechung des Judentums in seiner Übermittlung an die Völker war. Um diesen Gewalttäter des Geistes recht zu verstehen, muß man das Urerlebnis des Juden in ihm aufsuchen, das Urerlebnis, aus dem die Tendenz der Verwirklichung ewig neu erwächst.

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Dieses Urerlebnis ist ein elementares Gefühl jener inneren Entzweiung, die allen Menschen in irgendeinem Maße, den Juden aber mit einer eigentümlichen Energie innewohnt, und der Wille, sie durch die Verwirklichung der Einheit zu überwinden. Saul, der Mann aus Tarsos, hat die vorgefundene Entzweiung in so strenger und eindeutiger Art wie kein andrer Mensch ausgesprochen in den Schicksalsworten, die den christlichen Äon einleiten: »Denn was ich vollbringe, erkenne ich nicht; nicht was ich will, tue ich ja, sondern was ich hasse, das tue ich.« Aber diese furchtbare und paradoxe Einsicht ist ihm nicht, was sie dem Juden einst war und wieder werden muß: ein übermächtiger Stachel, den unmöglich scheinenden Ansturm zu wagen, die Schale zu durchbrechen und in dem Einswerden des eigenen Willens den göttlichen zu verwirklichen; sie ist ihm nicht der schwankende Boden, auf den allein die Leiter, die auf jedem festen wankt, die Himmelsleiter sich stützen kann; sondern sie ist ihm ein titanischer Verzicht. Dieser Mensch zieht die Summe all der ungeheuren Enttäuschung, die der Tendenz der Verwirklichung im Judentum bis auf seine Tage angetan wurde, er zieht mit der nationalen die menschheitliche Summe und erklärt, daß wir nichts vollbringen können, aus uns selber nichts, sondern einzig durch die Gnade Gottes, oder, was für ihn dasselbe bedeutet, durch den gläubigen Anschluß an den einen, in dem sichtbarlich die Gnade gewesen war, dem einen, der, wie es heißt, »von keiner Sünde wußte«. Daß damals anscheinend von den ersten dreißig Jahren Jesu nichts mehr zuverlässig bekannt war, daß auch in der Legende von der Zeit seiner Kämpfe und Überwindungen nur das Sinnbild der dreifachen Versuchung zeugt, diese scheinbar ohne vorangehendes Auseinanderstreben auftretende Harmonie hat Paulus seine Ideologie erleichtert. Durch diese verwandelt übermittelt er die Lehre Jesu den Völkern und reicht ihnen das süße Gift eines Glaubens, der die Werke verschmähen, den Gläubigen der Verwirklichung entheben und die Zweiheit in der Welt stabilisieren soll. Es ist das Paulinische Zeitalter, dessen Todeszuckungen wir heute Lebenden mit starren Augen betrachten.

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* Während die Völker des Abendlandes solcherart jüdische Lehre verarbeiteten und vernichteten, ging das jüdische Volk verhüllten Angesichts durch ihre Mitte als ein Verbannter, nicht bloß aus seinem Lande und Zusammenhange, sondern auch aus seiner Aufgabe verbannt. Denn mochte sich einst die mosaische Gesetzgebung noch so unzulänglich durchsetzen, so lagen die Hindernisse ihrer Durchsetzung doch einzig

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im Volke selbst, und in den Augenblicken tiefer Besinnung fühlte es, es würde die Hindernisse durch einen Akt innerer Verwirklichung hinwegräumen können; jetzt aber stand es unter fremden Gesetzen, unter fremde Gesetzgebungen verteilt, und konnte von der eigenen nur das Äußerlichste in den oberirdischen Katakomben der Ghetti hüten, bis auch dies im Strudel der Emanzipationen versank. Mochten die Anrufe der Propheten zum wahren Leben einst noch so oft von der Trägheit überhört, von der Lüge übertönt werden, so kamen sie doch immer wieder auch an die Ohren freier Männer, die daran gingen, in ihrem Lande das Recht einzurichten; jetzt aber war ein Neues aufgestanden, das lähmender war als Trägheit und Lüge: die Gewalt der fremden Welt, die die Seelen zwang, ihre Kraft halb in Anpassung, halb in Abwehr, immer in Einstellung, positiver oder negativer, auf das Fremde zu verbrauchen. So mußte das Volk wahrlich erkennen, daß nicht es selbst bloß, daß auch die Schechina, die dem menschlichen Element einwohnende göttliche Gegenwart, ins Exil gegangen war. Denn da nur ist die Schechina behaust, wo der Wille zum Bunde mit Gott, das Streben nach seiner Verwirklichung mächtig ist, wo der Mensch sich unterfängt, im Angesicht des Absoluten zu leben; wo der Bund sich lockert, das Streben erschlafft, wo der Mensch im Rücken des Absoluten lebt, da ist die Schechina im Exil. Es ist aber dahin gekommen, daß der Jude im Rücken des Absoluten es sich sogar halbwegs wohnlich einzurichten verstanden hat. Das ist grauenhafter als Kreuzzugsgemetzel und Inquisitionsfoltern, grauenhafter als alle Pogrome. Die Abhängigkeit von der Gewalt einer fremden Welt muß, wo man sie, wie hier, nicht durch Befreiungskämpfe abzuschütteln versuchen kann, zur Einstellung auf das Fremde führen, zu einer doppelten Einstellung: durch Abwehr und durch Anpassung. Ich verstehe darunter für das Judentum nicht die kleinlich modernen Vulgärformen beider, sondern die riesenhaften der Jahrtausende. Unter der Einstellung durch Abwehr verstehe ich die Ausbildung des reinen Ritualismus, der dem Eindringen fremder Lehren und Sitten vorbeugen sollte und vorbeugte, der aber zugleich der jüdischen Religiosität ihr inneres Leben, das Streben nach der Verwirklichung unterband; denn der Wille zum Bund mit Gott durch die vollkommene Wirklichkeit des Lebens in wahrer Gemeinschaft kann nur da in Kraft erstehen, wo man nicht den Bund mit Gott bereits im wesentlichen durch die Einhaltung vorgeschriebener Formen erfüllt glaubt. Unter der Einstellung durch Anpassung aber verstehe ich die Ausbildung der reinen Geldwirtschaft, die dem Volke ermöglichen sollte, unter dem äußersten Druck zu dauern, die aber den eigentlichen Bereich der Verwirklichung, das Leben mit den Menschen und den Dingen, verdarb;

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denn wo das Geld nicht als Zeichen des Tausches, sondern als trennende und zersetzende Substanz zwischen den Menschen ist, da kann keine Unmittelbarkeit zwischen den Menschen sein; und wo die Dinge nicht in ihrem lebendigen Fürsichsein, sondern im Zerrspiegel ihres Geldwertes gesehen sind, kann die göttliche Kraft in ihnen nicht fruchtbar werden. Der Tiefstand des heutigen Judentums ist da, wo beides zusammentrifft, wo die religiösen Formen so von ihrem Urgrund abgelöst sind, daß sie sich mit den niedersten Entartungsformen des kapitalistischen Geistes vertragen können. Widerlich unter allen Menschen ist mir der glatte Kriegswucherer, der keinen Gott zu betrügen braucht, weil er von keinem weiß, und der jüdische widerlicher als der nichtjüdische, weil er tiefer abgefallen ist; aber den innersten Schauder erregt mir jener andre, der den Gott betrügt, den er weiß, und tefillinlegend von seinen Geschäftsaussichten spricht. Eine wundersame Sage erzählt von den Tefillin, die Gott selber legt und in denen der Spruch eingeschlossen ist: »Wer ist wie dein Volk Israel ein einzig Volk auf Erden«; eine wundersame Legende erzählt, Rabbi Levi Jizchak von Berdyczew habe Gott zugerufen: »Deine Tefillin sind zu Boden gefallen!« Verfall des Volkes Israel, zu Boden gefallene Gottes-Tefillin, das ist die Botschaft, die der Anblick des tefillinlegenden Wucherers uns verkündet. Er ist der Mann des doppelten Vertrags; er hat einen Vertrag mit Gott und einen Vertrag mit dem Satan, und beide vertragen sich miteinander. Aber das ist nur der krasseste Anblick; von ihm geht es stufenweise bis in die subtilste Geistigkeit hinein. Und wer unter uns dürfte sich des Anteils an dieser Schuld entschlagen wollen? Von einem andren chassidischen Rabbi berichtet die Sage, er habe den Juden, die vor ihn traten, an der Stirn abgelesen, ob die Herkunft ihrer Seele von Abrahams Samen oder vom Erew Raw, der mit Israel aus Ägypten mitgelaufenen Mischbrut, war. Seit seinen Tagen scheint der Erew Raw furchtbar überhand genommen zu haben. Am deutlichsten ist dies an der Entwicklung eben des Chassidismus erkennbar. Er ist in der Spätzeit der Diaspora als der verwegene Versuch entstanden, mitten in ihrem Wirrsal, unter das Joch der Fremde gebeugt und vom Anhauch der Entartungen versehrt, die wahre Gemeinschaft zu errichten, aus dem ganzen Volke, soweit in ihm noch unverbrauchtes Volkstum lebte, eine brüderliche Einung, eine reine Stätte der Verwirklichung Gottes zu schaffen: aufgebaut auf der einzelnen Gemeinde, in der innige Verbindung des Zaddiks mit den Chassidim und dieser untereinander in steter gegenseitiger Hilfe Leibes und der Seele den Weg zum Absoluten bahnt. Die Grundanschauung, auf der sich dieser Aufbau erhob, spricht ein chassidisches Buch folgendermaßen aus: »Wir können von diesem Ge-

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schlecht sagen, daß es ein Geschlecht des Wissens ist, aber jedermann begehrt nur seine eigne Vollendung und kümmert sich nicht um die Gemeinschaft. Die Erlösung jedoch hangt daran, daß man die Vollendung der Welt begehre.« Kein Einzelner kann das Vogelnest – so nennt der Sohar den Ort des Messias – erreichen, aber hundert Männer vereint können es, wenn sie, einer auf die Schultern des andern steigend, eine himmelanragende Leiter bilden. Was hier angedeutet ist, begann in der ersten schöpferischen Epoche des Chassidismus Gestalt zu gewinnen. Aber nur für eine kurze Zeit. Nach hundert Jahren hatten die Wirkungen des Seelenzwanges der Fremde, der Nötigung zu Abwehr und Anpassung ihre Übermacht bewährt. Der Ritualismus, der von den ersten Chassidim durch eine Neubeseelung und Vertiefung, durch das Hinzutreten der auf das Schicksal Gottes gerichteten Intention zu dem hergebrachten Stoff der Gebete und Bräuche verklärt worden war, entartete bald von neuem, indem die Geheimnisse der Intention zu vulgärmagischen Formeln und Buchstabenoperationen schematisiert wurden. Der Mammonismus, der durch Lehre und Tat des unbedingten Einanderhelfens überwunden worden war, drängte sich von neuem überallhin, ja sogar in das heilige Verhältnis zwischen Führer und Gemeinde zersetzend ein und untergrub mit der Rechtlichkeit des Zaddiks auch die innere Rechtmäßigkeit seiner Autorität. Aber am erschreckendsten zeigte sich die verderbliche Bedeutung von Abwehr und Anpassung in dem Verhältnis des späten Chassidismus zu den Realitäten des öffentlichen Lebens, in seiner Politik. Um sich die ungestörte Freiheit der Religionsübung zu sichern, verzichtete er auf alle Kundgebung des jüdischen Ethos nach außen und verkaufte sich den jeweiligen Machthabern: das ekelerregende Beispiel einer Abwehr durch Anpassung. Der jüdische Geist ist hier unter dem Einfluß der Galuth-Situation von dem hohen Wagnis reinen Verwirklichungswillens in die Schmach der niedersten Vertragsmache gesunken. Hier ist mehr als ausgesprochen, hier ist gezeigt, was Galuth bedeutet. Von Rabbi Jaakob Jizchak von Przysucha, der gemeinhin mit dem bloßen Namen »der Jehudi«, »der Jude«, bezeichnet wird, erzählt man, er habe eines Nachts nicht geschlafen, sondern unablässig geseufzt. Von seinem Lieblingsschüler nach dem Grund befragt, sagte er: »Ich muß daran denken, daß nach Mose die Richter kamen, nach den Richtern die Propheten, dann die Männer der großen Versammlung, sodann die Tanaim und Amoraim, hierauf die Ermahner, und als auch dies verdarb und falsche Ermahner sich mehrten, standen die Zaddikim auf. Darüber aber seufze ich, daß ich sehe, auch dies wird verdorben werden. Was wird Israel tun?« Wir hundert Jahre nach dem Tode des »Jehudi« Lebenden, die wir

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heute auf die Geschichte der jüdischen Verwirklichungstendenz zurückblicken, haben das Seufzen verlernt. Wir fragen: Was s o l l Israel tun? * Was soll Israel tun? Was soll es tun, um sich von der gespenstischen Unwirklichkeit seiner Gegenwart zu erlösen, um zu seiner Verwirklichung, der Verwirklichung seiner Wahrheit zu gelangen? Drei Wege werden uns zur Antwort gewiesen: der Weg des Humanitarismus, der Weg des formalen Nationalismus, der Weg des religiösen Konservativismus. Wir wollen sie prüfen. Die Humanitarier – ich wähle die besten unter ihnen – sagen: »Geht in die Welt, Kinder Israel, und verwirklicht den Geist in der Menschheit! Eure Sünde war, daß ihr mit eurer Sehnsucht nach dem wahren Gemeinschaftsleben euch abgesondert habt, eure Sühne muß sein, daß ihr euch völlig hingebt! Werft den Brand eurer Sehnsucht in die Welt! Rüttelt die Herzen auf, sprenget die Tore des Willens, stürmet die Bastille des Geistes! Kämpfet um die neue Menschheit! Auf die Tribünen, auf die Barrikaden mit euch, Kinder Israel! Wußtet ihr nicht auf den Scheiterhaufen zu sterben, als es um die Absonderung ging? So wisset noch größer zu sterben, nun es um die Vereinigung, um die Vereinigung der Völker geht!« Darauf antworten wir: Sprecht leiser. Ihr schreit wie Menschen, die während eines Erdbebens erwacht sind. Wir aber haben manche Welten zusammenbrechen sehen und nichts davon vergessen. Ihr redet von unsrer Sehnsucht mit unkeuschen Lippen; ihr wißt nichts von ihr. Sie ist älter als eure, ob die nun eins oder zwei oder vier Jahre alt ist; sie ist Jahrtausende alt; man sollte meinen, sie habe warten gelernt, und doch ist sie ungeduldiger als eure, denn sie weiß, daß sie sterben muß, wenn sie länger das unwirkliche, das gespenstische Leben erträgt. Sie ist ungeduldiger; denn sie will sich nicht damit begnügen, Menschenrechte zu verkündigen – oder wird es diesmal »Völkerrechte« heißen? –, damit auf die Verkündigung eine Epoche wie die jüngste folge. Sie will sich nicht begnügen, Bastillen des Geistes zu stürmen, damit der befreite so heimatlos werde, wie er heute ist; sie will dem Geist ein festes Wohnhaus bauen, das Haus der Gemeinschaft. Wo anders aber kann das gebaut werden, als da, wo Volk, Volkszusammenhang, Volksgemeinsamkeit besteht, wo uralter Blut- und Schicksalsbund bereits die Grundfesten der Gemeinschaft gelegt hat? Nicht kann unsere Sehnsucht jedoch auf den Grundfesten fremder Völker das Haus erbauen. Auf den Tribünen kann der Jude mitreden, auf den Barrikaden mitkämpfen, aber wo es ans

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Bauen geht, versagt er zumeist auf fremdem Boden. In der Theorie ist er führend, in der Propaganda fördernd, aber in der Durchsetzung zeigt es sich, daß er nur einen Entwurf des geplanten Baus, nicht aber die vorhandenen Grundfesten kennt, denen er jenen anzupassen hätte, daß er das nicht kennt, nicht ehrt, nicht berücksichtigt, was es gerade in diesem fremden Volke, in dessen Seele, dessen Leben, dessen Geschichte an besonderen Ansätzen einer wahren Gemeinschaft gibt. So ist in unseren Tagen der tragische Konflikt zwischen Doktrin und Volkstum entstanden, der das vorläufige Ergebnis der russischen Revolution bildet. Eigenes Material, eigenen Boden brauchen wir zu unsrem Bau. Nicht als Einzelne, als Volk wollen wir bauen. Einzelne Juden werden, sonderlich als Lehrende, dem Abendland noch Wesentliches zu geben haben; die bauende Sehnsucht des jüdischen Volkes weist anderswohin, weist in sein Land. Da aber sprechen die Nationaldogmatiker zu uns: »Gut so! Das jüdische Volk muß endlich sein Schicksal in seine eignen Hände nehmen. Wenn es die eigenen Gaben ungehemmt entfaltet, dient es der Menschheit am besten. So laßt uns ihm die Bedingungen der ungehemmten Entfaltung schaffen! Aber greifet ihr nicht vor! Machet der Nation keine Vorschriften darüber, welchen Weg sie einzuschlagen habe! Überlasset es ihr, sich wie jede andre im freien Spiel ihrer Kräfte den rechten Weg zu bahnen, die rechte Form zu finden! Was Israel tun soll, können wir heute noch nicht wissen; aber lösen wir nur seine Fesseln, dann wird es schon das Seine tun. Und warum soll gerade unser Volk die Aufgabe aufgebürdet bekommen, die wahre Gemeinschaft aufzurichten? Warum wollt ihr ihm die schwere Arbeit seiner Wiederherstellung noch mehr erschweren, indem ihr ihm diese Last aufladet? Wir brauchen uns nicht anders zu verwirklichen als die andren Völker: indem wir unsre Eigenart sich entwickeln lassen. Lasset uns sein wie alle Völker, Haus Israel!« Darauf antworten wir: Nicht jene, die uns dem wahren Gott in der Fremde dienen lassen wollen, sondern ihr seid die Angepaßten, die ihr für die Heimat jeden Götzendienst zu billigen bereit seid, wenn die Götzen nur jüdische Namen haben! Angepaßt seid ihr an das herrschende Dogma des Jahrhunderts, das heillose Dogma der Souveränität der Nationen. Jede Nation, so lehrt das Dogma, ist ihr eigener Herr und ihr eigener Richter, sich allein verpflichtet, sich allein verantwortlich; was sie zum eignen Vorteil tut, ist wohlgetan, was sie als ihre Sache verficht, ist die gute Sache; ihr Handeln ist durch das Bedürfnis, ihr Ethos durch ihre Eigenart, ihr Recht durch ihren Machttrieb hinreichend bestimmt. Dieses Dogma feiert heute seinen vielfältigen Triumph; wo immer es, nackt oder in allerlei Gewandung, auftritt, wird es als inappellable In-

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stanz respektiert, und welcher der politischen Faktoren sich ihm nicht beugen will, muß doch vorgeben, es zu tun. Aber an diesem blutigsten der Erdentage hat auch schon der Niedergang des Dogmas begonnen. Man verstehe uns recht: die Erkenntnis der Nation als einer fundamentalen Realität des Menschheitslebens kann aus dem Bewußtsein der Menschheit nicht mehr getilgt werden und soll es auch nicht; aber sie muß und wird durch die Erkenntnis ergänzt werden, daß kein Volk der Erde souverän, daß souverän einzig der Geist ist. Der Geist aber – was immer der perverse Relativismus eines geistverlassenen Geschlechtes dagegen vorbringen mag – der Geist, der den Lehmkloß der Völker zu Gestalten bildet, ist einer und unteilbar. Solange die Völker sich seinem Gebot entziehen und im Rücken des Absoluten leben, werden sie einander aufzehren; je mehr eins seine Liebe verwerfen und den Erfolg wählen wird, um so nichtiger wird es vor der Ewigkeit werden; welches aber als erstes sich dem Taumel entwindet und zu seinen Füßen hinstürzt, das wird er an seine Hand nehmen. Unser Wort geht an das jüdische Volk, das säkulare Volk des Geistes, ihm die Treue zu wahren und der Anpassung an das Dogma nicht zu verfallen. Leicht wird es ihm nicht werden; leicht wollen wir es ihm aber auch nicht machen. Wir gedenken nicht, es sich selbst zu überlassen. Das haben seine rechtmäßigen Führer nie getan. Nicht die »Eigenart« des Volkes befragten sie nach der Richtung des Wegs – es hatte manche Eigenart, die sie mit Feuerruten geißelten –, sie befragten einzig den einen, unteilbaren Geist, der sich ihnen, der sich in ihnen offenbarte. Und so wird es fürder bleiben. Wir wollen dem Geiste botmäßig sein, daß er durch uns zur Wirklichkeit werde. Nur solange wir des Geistes sind, haben wir den Samen des wahren Lebens in uns; an dem Tag, an dem wir wie alle Völker würden, verdienten wir nicht mehr zu sein. Nun aber nehmen die Gesetzesdogmatiker das Wort: »Ihr redet recht. Aber welches ist der Geist, den ihr bekennt, und welches sein Gebot, das ihr verkündet? Dieser Geist bleibt ein Schatten und dieses Gebot ein leerer Schall, wenn ihr ihnen nicht Leben und Bewußtsein leiht aus dem einzigen Ort, an dem ihr sie schöpfen könnt, aus dem Quellbrunnen der jüdischen Überlieferung. Sonst gebt ihr die Richtung nach Willkür an und nicht nach Notwendigkeit. Die wahre Gemeinschaft wollt ihr – aber wo anders wollt ihr ihr Gesetz vernehmen als aus Gottes Wort, das er zu seinem Volke sprach? Und wie könnt ihr in Gottes Wort scheiden zwischen dem, was euch noch frisch und verwendbar, und dem, was euch alt und verbraucht erscheint? Es ist nicht anders: wollt ihr Juden sein und Judentum verwirklichen, so müßt ihr zurückkehren zu der gläubigen Ergebenheit an Gott und sein Gesetz. Nur in diesem, in der ein-

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zigen volksgemeinsamen jüdischen Form, könnt ihr mit dem Volk wieder zusammenwachsen und festen Boden unter eure Füße bekommen.« Darauf antworten wir: O ihr Sicheren und Gesicherten, die ihr euch hinter der Brückenwehr des Gesetzes berget, um nicht in Gottes Abgrund blicken zu müssen! Ja, ihr habt festen ausgetretenen Boden unter den Füßen, wir aber hängen ausschauend über der unendlichen Tiefe. O ihr Erben und Erbeserben, die ihr die uralten Goldmünzen nur in blanke neue Scheine umzutauschen braucht – wir aber sitzen, einsame Bettler, an der Straßenecke und harren, daß unser Helfer komme. Aber wir wollen unsre schwindlige Unsicherheit und unsre losgelöste Armut nicht hingeben für eure Zuversicht und eure Fülle. Denn euch ist Gott einer, der einstmals schuf und nicht weiter; uns aber ist er der, von dem das Volk bekennt, daß er »an jedem Tage das Werk der Schöpfung erneut«, und wahrlich, er erneut es an uns und durch uns und will durch uns zu neuer Wirklichkeit eingehen; wie er zur Welt sich beschränkte und begrenzte, so beschränkt und begrenzt er sich in uns zum Werk des Menschentums. Euch ist Gott einer, der einmal offenbarte und nicht wieder; zu uns aber redet er aus dem brennenden Dornbusch der Gegenwart und aus den Urim und Tumim unsres innersten Herzens – Größeres als Worte. Wir ehren das Gesetz, die von ehrwürdigen Mächten geschmiedete Rüstung des Volkstums; wir grüßen jeden, der, unmittelbar gewiß, daß Gott diesen Panzer, wie er ist, dem Volke mit eigener Hand umgetan habe, von seiner Schwere ungehemmt mit uns ins Blachfeld reitet; doch wir beklagen jene, die ihn ohne diese Gewißheit tragen, und denen er die Glieder starr und steif macht, daß sie zum Werk nicht ausziehen können und die ehrwürdige Rüstung wie ein historisches Paradekostüm am Leibe haben; die aber durch die Berufung auf das Vorhandensein des Gesetzes uns hindern wollen, aus des lebendigen Gottes Händen neue Waffen zu empfangen, derer werden wir uns erwehren. Denn wir können nichts dulden, was sich zwischen uns und die Verwirklichung Gottes stellt. Freilich, ihr könnt von Gott aussagen: »Dies und dies hat er befohlen, wir wissen Bescheid um alles, was er von uns begehrt«; wir Ausschauenden, wir Bettler aber wissen von seinem Willen erst nur das Ewige, das Zeitliche müssen wir uns selbst befehlen, selbst sein wortloses Geheiß immer neu im Stoff der Wirklichkeit ausprägen. Ihr habt die Formen und meint, den rechten Gehalt nicht mehr im Unendlichen suchen zu müssen, dieweil er in den Formen beschlossen liege; wir spannen unsere Seele ins Unendliche, den Gehalt neu zu empfangen, dem die neue Form geschaffen werden soll. Euch ist der Weg in den Büchern vorgezeichnet, und ihr kennt euch aus; wir aber müssen ihn im nebelnden Chaos der

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Gegenwart mit unseren Händen ertasten. Aber nicht Willkür leitet uns, sondern urtiefe Notwendigkeit; denn uns leitet die Stimme. Das Urjüdische gebietet sie uns, das jüdischer ist als alle Formen und Normen: Verwirklichung, Aufbau der Gottesgemeinschaft, Neubeginn. »Brechet euch einen Neubruch,« so spricht sie, »und säet nicht zwischen die Dornen.« Wir wollen ihr gehorchen. Wir wollen den Weg nach Zion, das ist den Weg nach der gelebten Wahrheit gehen. Nicht indem wir ein Gesetz, wie ihr es uns empfehlt, statt aus den Händen Gottes aus denen des Volkes empfangen, sondern in gemeinsamer Verwirklichung, in gemeinsamem Aufbau, in gemeinsamem Neubeginn werden wir mit dem Volk zusammenwachsen. Dann wird auch die Stunde kommen, da das Wortlose sich zu Worten, zum neuen Wort begrenzen wird. Im wahrhaften Leben zwischen den Menschen wird das neue Wort sich uns offenbaren. Erst werden wir tun, dann erst es vernehmen: aus unsrer eignen Tat. Die wahre Gemeinschaft ist der Sinai der Zukunft.

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* Indem wir die Wege prüften, die uns zur Antwort auf die Frage, was Israel tun solle, gewiesen wurden, indem wir sie prüften und verwarfen, haben wir den rechten Weg, den einzigen, gefunden. Es ist der Weg, der über Zion zur Erneuerung der menschlichen Gemeinschaft führt. In den messianischen Träumen und Ausbrüchen des Galuth waren stets Volkliches und Menschliches, Befreiungsverlangen und Erlösungssehnsucht, das Streben nach dem eignen Lande und das Streben nach der wahren Gemeinschaft verschmolzen; sie verhießen dem Juden in Israel und dem Menschen in Israel gleicherweise Erfüllung; sie waren die Zuflucht der Verwirklichungstendenz. Als der moderne Zionismus den Willen zu einem jüdischen Palästina zum Mittelpunkt einer politischen Bewegung machte, faßte er diesen Willen vorwiegend volklich; er wollte im wesentlichen eine nationale Bewegung sein, wie es deren im Abendland hinlänglich viele gibt, nur eben mit einer besondren kolonisatorischen Absicht ausgestattet. Wohl zeichneten seine Führer das Bild einer »gerechteren Gesellschaft« und begünstigten moderne Siedlungsideen, aber das unverkennbar tiefere Pathos, die unverkennbar stärkere Farbe traten zutage, wenn es galt, die Grundlinien einer nationalen Renaissance, einer neuen Nationalkultur aufzuzeigen: hier war unzweifelbar der geistige Schwerpunkt der Bewegung. Aber niemals ist eine echte Renaissance aus rein nationalen Tendenzen hervorgegangen; ihr Ziel bildeten niemals spezifische Formen; vielmehr lag ihr stets die leidenschaftliche Erfassung erneuter menschlicher Inhalte, lag ihr ein »Humanismus«

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zugrunde, und zu besondren Formen gedieh sie, weil die Wucht der Inhalte die hergebrachten Formen sprengte. Die nationalen Sprachkulturen Europas entstanden, weil eine neue geistige Welt zu freiem Ausdruck drängte. Nicht der Hebraismus, sondern der hebräische Humanismus – das Wort in seinem großen historischen Sinn gefaßt – muß der Kern einer jüdischen Regenerationsbewegung sein. Das bedeutet: es gilt die leidenschaftliche Erfassung und Erneuerung der großen menschlichen Inhalte des Judentums; noch präziser: es gilt seinen größten, selbständigen Inhalt, seine Verwirklichungstendenz zu erfassen und neu zu leben – dann wird sich die große nationale Form von selber bilden. Kultur ist nicht die Produktivität, die sich in einem Volke vollzieht, nicht die Summe der Werke, die von ihm hervorgebracht werden; erst da ist Kultur, wo gemeinsames Werk aus gemeinsamem Geist und Leben quillt. So bedeutet denn die Tatsache, daß die jüdische Verwirklichungstendenz sich anschickt, sich des Zionismus zu bemächtigen, nicht eine Schwächung, sondern eine Stärkung seines nationalen Charakters; sie bedeutet, daß die nationale Idee in ihm Substanz gewinnt – daß er aus einer nationalen Bewegung eine nationale Wirklichkeit zu werden anfängt. Erst wenn in neuer Gestalt Volkliches und Menschliches, Befreiungsverlangen und Erlösungssehnsucht, das Streben nach dem eignen Lande und das Streben nach der wahren Gemeinschaft verschmelzen, wird sich die Regeneration des jüdischen Volkes vollziehen. Den Nurpolitikern sei im Vorübergehen ein Wort der Mahnung zugerufen. Ein jüdisches Gemeinwesen soll in Palästina errichtet werden. Wenn das eins wird, das eine meskin-profane Existenz führt wie all die wimmelnden Kleinstaaten, in dem Geist und Volk getrennt sind wie überall im heutigen Abendland, der Geist als lebensferne Intellektualität und das Volk als ideenferne Masse nebeneinander hinschwinden; ein Gemeinwesen, wo Geltung an die Stelle des Seins, gegenseitige Ausnutzung an die Stelle gegenseitiger Hilfe tritt und die Menschen einander nur deshalb nicht vernichten, weil sie einander fürchten oder brauchen; wenn ein jüdisches Gemeinwesen in Palästina gegründet wird, das solchermaßen sich in den Krieg aller gegen alle einstellt, ob es sich auch tausendmal als »neutral« deklariert, dann wird das Getriebe der Intrigen es erdrükken. Nur wenn es eine geistige Macht wird, wird es dauern. Eine geistige Macht; das bedeutet nicht intellektuelles Niveau und nicht kulturelle Leistung. Es bedeutet vielmehr Realisierung des Geistes, der in den Völkern als Leid, als Erbitterung, als Empörung, als Sehnsucht, als Wunschgebilde lebt, aber nicht zur Gestalt gerät, weil das Reich des Übels um die Völker und in ihnen ihn niederhält. Es bedeutet Vermählung, gegenseitige Durchdringung von Geist und Volk. Es bedeutet die Überwindung

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des Dualismus von Wahrheit und Wirklichkeit, Idee und Tatsache, Moral und Politik. Es bedeutet Verdrängung des durch Konvention gemilderten Allkriegs durch Gemeinsamkeit. Es bedeutet Religion, Religion des gemeinschaftlichen Lebens, der Offenbarung Gottes in der Gemeinschaft, gelebte Religion. Nichts andres kann an dieser Wende der Zeiten als geistige Macht gegenüber den Mächten des Zeitalters wie Mose dem Pharao gegenüber bestehen. Dies Eine aber wird es können; denn das Land, darin sich das Wunschgebilde zuerst erfüllte, wird das neue Heiligtum der Völker werden, das Volk, das in der Erfüllung voranging, dessen ewiger und unantastbarer Priester. Welches andere Volk aber könnte in diesem Werk vorangehn als eins, das keiner Verfassung Ballast trägt und doch alle genugsam erfahren und erlitten hat? Das die Berufung zur wahren Gemeinschaft, tausendfach befleckt, tausendfach verleugnet, doch unentreißbar im Gedächtnis seines Blutes und seines Schicksals trägt? Und in welchem Land könnte es sich zuerst erfüllen als in jenem, das schauerweckender Spuren eines ungeheuren Wollens und Ringens voll und doch wieder jungfräulicher Akker, Neuland sozialer Gestaltung ist? Was die abendländischen Revolutionen an der reinen Auswirkung hindert, ist, daß in den Einrichtungen, die sie vorfinden, vermorschte Herrschaftswurzeln und von Urzeit lebendig erhaltne Gemeinschaftskeime ineinander verschlungen sind. So geschieht das Verhängnisvolle: Entweder die Revolution reißt beides aus dem Boden; alsdann wird mit dem Vernichtungswürdigen auch das pflegebedürftige gute Wachstum zerrissen; diejenigen unter den Trägern der Umwälzung, die den unersetzlichen Wert der organischen Zusammenhänge kennen, weichen den Vertretern einer selbstherrlichen Intellektualität, und diese bemühen sich nun vergeblich, alles aus dem Verstande neu zu machen. Oder aber die Revolution bleibt in dem Gewirr stecken; sie scheut sich – aus Furcht vor der Aufgabe der Neuschöpfung oder aus Furcht, das Keimende zu versehren – an das Morsche Hand anzulegen, und das Ergebnis ist, daß dieses von neuem jenes unterjocht, daß entgeistetes Sinnbild aufgefrischt wird, entseelte Form neuen Zaubernamen empfängt und die heilig lebendigen Gemeinschaftskeime weiter ungepflegt und ungefördert ihrer Stunde harren. Anderes dürfen wir für die revolutionäre Kolonisation erhoffen, die uns obliegt. Revolutionäre Kolonisation, sage ich, weil wir nicht bestehende Struktur umzubauen, sondern siedelnd neuen Bestand zu stiften haben, aber eben darin berufen sind, Umgestaltung, Neugestaltung zu wirken. Wir finden nicht Institutionen vor, die unser Werk behindern; es ist unsere Sache, unser Gemeinwesen in den Formen aufzurichten, in

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denen es, seine Idee immer reiner verwirklichend, zu einem Gebilde der wahren Gemeinschaft erwachsen kann. Aber es sind dies nicht Formen, die aus dem luftleeren Raum der Intellektualität in die Wirklichkeit eingesetzt werden: in unserem Volksgedächtnis, unserer inneren Geschichte überliefert tragen wir hohes Gebot gemeinschaftsechter, noch unrealisierter Einrichtung; es gilt, das Reine und Ewige dieser Überlieferung vom trübend Zeitlichen zu scheiden und in das Werk zu leiten. Was an den Institutionen so schwer zu vollziehen ist, daß es immer wieder verfehlt wird, Sonderung des niedergehaltenen Lebenden vom herrschenden Toten, werden wir es am Erbe unserer Seele nicht vollziehen können? Unsere, die siedelnde Revolution, mit der wir uns als k o n s t r u k t i v e s Element in die beginnende Menschheitsrevolution einstellen, bedeutet die Erfüllung einer Tradition der Aufgabe; aber eine wählende Erfüllung. Daß sie wählend und somit zugleich verwerfend ist, macht eben ihren revolutionären Charakter aus. Aber diese Wahl, diese Auslese, ich wiederhole es, ist nicht Willkür. Ein größrer Wille ist in unsrem persönlichen mächtig. Aussprechend lauschen, gebietend gehorchen wir ihm. *

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»Eine Erneuerung des ganzen Menschen« – nicht zulänglicher kann ich heute als vor nahezu zwanzig Jahren den Gehalt des großen Vorgangs benennen, als dessen Außenelemente die angehobenen Ereignisse, die Auswanderung eines Teils der Juden nach Palästina und dessen Ausstattung mit einer mehr oder minder weitgehenden Selbstverwaltung erscheinen. Aber wie alle Erneuerung im Leben der Einzelnen und der Völker, der Gesellschaften und der Lehren, so kann auch diese nicht meinen, daß in die Seele ein neues, ihr bislang unbekanntes Triebwerk gesteckt, ihr ein neues, nie gesehenes Antlitz verliehen wird, sondern daß verschüttetes Urgut aufgedeckt, vergessene Richtung wiedergefunden, vernachlässigte Anlage wieder wirksam gemacht wird: daß ein in der Vorzeit als erworbene Lebensform oder als eingeborenes Streben Besessenes und seither Verlorenes neu in Besitz genommen wird, und daß damit, freilich in einer neuen Zeit und Beschaffenheit, in einer neuen Seelenverfassung und Schicksalslage, in einer neuen Fülle des Stoffes und Spannung des Gestaltens eben doch wesenhaft Neues geschieht. Als erworbene Lebensform oder als eingeborenes Streben. Als erworbene Lebensform: die wiederaufgenommen und neu geübt werden will, freilich unter von Grund aus gewandelten Verhältnissen und aus einer durch viele Verstrickungen und Verirrungen hindurchgegangenen Seele; solch eine Inbesitznahme wäre die Wiedergewinnung der althebräischen Ver-

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bundenheit mit Erde, Erdarbeit und Erdgenuß. Oder als eingeborenes Streben: da wäre es aber eine armselige, sinn- und würdelose, fiktive Inbesitznahme, es sich so wieder zu eigen zu machen, daß man sich nunmehr von neuem nach dem Aufbau eines wahren Gemeinwesens fortsehnte, bis »die Zeit erfüllt« ist; das hieße verschüttetes Urgut ausgraben, um es als Schaustück aufzustellen, vergeßne Richtung wiederfinden, um sie auf der Windtafel zu markieren, vernachlässigte Anlage wiederbeleben, um sie in Kundgebungen zu verherrlichen. Vielmehr kann ein in der Vorzeit als eingeborenes Streben Besessenes und seither Eingebüßtes oder Geschwächtes einzig dadurch wahrhaft in Besitz genommen werden, daß alsogleich, mitten im Ringen des erneuernden Augenblicks mit der Erfüllung begonnen wird; und der verkennt furchtbar die schicksalhafte Untiefe eines solchen Jetzt, wer sich damit getröstet, es würde sich später einmal »nachholen« lassen. Hier offenbart sich am deutlichsten der revolutionäre Gehalt unserer siedlerischen Aufgabe. Beides aber erweist sich in unserer Sache dem Schauenden und Wollenden als zuinnerst verbunden; denn im alten Judentum war jenes Streben auf nichts anderes als auf die Erhebung, Heiligung, Vollendung jener Lebensform gerichtet. Das alte Judentum wollte nicht im reinen Geist sondern im naturhaften Leben das Göttliche verwirklichen. Wie seine Religion eine Bauernreligion war, so war seine Gesetzgebung eine Agrargesetzgebung, die Menschlichkeit, die seine Propheten forderten, eine erdgebundene Menschlichkeit, und noch das Essäertum zog die Weihe seiner Tage aus dem Werk des Pflügers und Säemanns. Der Aufbau des wahren Gemeinwesens kann nicht geschehen ohne Erhebung des Ackerlebens, des Lebens aus der Kraft der Erde, zu einem wahren Dienste Gottes, der die andern Stände mitergriffe und gleichermaßen an Gott und an die Erde bände. Die Gesetze des Geistes sind die recht verstandenen Gesetze der Erde; die »Diktatur des Geistes« vollstreckt das Diktat der menschgewordnen, gottwollenden Natur. Unsere, die siedelnde Revolution bedeutet die wählende Erfüllung einer Tradition der Aufgabe. Es gilt in dieser Tradition das zu erwählen, was Erdnähe, verklärte Weltlichkeit, Einatmen des Göttlichen durch die Natur ist; es gilt in ihr zu verwerfen, was Erdferne, abgelöste Rationalität, Verbannung der Natur von Gottes Angesicht ist. * Wenn solchermaßen unsre innere Geschichte, das Gedächtnis des jüdischen Willens zur Verwirklichung, schauend erkannt wird, stellen sich uns dessen immanente Grundsätze in weltweiten Zeichen dar:

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die Gemeinschaft als die Verwirklichung des Göttlichen im Zusammenleben der Menschen; die Erde als das mütterliche Element solches Zusammenlebens, von Gott der Gemeinschaft allein und keinem Einzelnen verliehen; die Arbeit als der immer wieder vollzogene Bund des Menschen mit der Erde, geweiht, wo sie mit dem ganzen leiblich-seelischen Erdenwesen, in frei opferndem Gemeinschaftsdienst, Gottesdienst getan wird; die Hilfe, gegenseitige Hilfe Leibes und der Seele, als das Einanderhalten und Einandertragen, das Einanderfreimachen der Menschen zum Werk der Verwirklichung, und so wahrhaft an Gott geleistet; das Führertum als das Amt der Hilfreichsten und Hilfsfähigsten, verwaltet im Auftrag Gottes, des alleinigen Herrschers, nicht von geistlich spezialisierten Menschen, die zur Welt niedersteigen, sondern von weltlich allgemeinen, die sich zum Geist verklären; die Gemeinde in ihren mannigfachen Formen, Ortsgemeinde, Genossenschaft, Kameradschaft, Brüderschaft, als die Zelleneinheit aller Gemeinschaft, darin sich die u n m i t t e l b a r e Beziehung zwischen den Menschen, die Trägerin des Göttlichen, zur dauernden Gestalt aufbaut; das Gemeinwesen als der Verband lebenskräftiger, verwirklichungserfüllter Gemeindezellen, die in der gleichen Unmittelbarkeit, die in jeder von ihnen waltet, zueinandertreten, auf gemeinschaftlich besessener Erde, in gemeinschaftlich geordneter Arbeit, in einem von Vertreterschaften der Gemeinden getragenen System gegenseitiger Hilfe, von den in der Auslese dieses Systems als die mächtigsten Helfer Erwiesenen geführt; die Menschheit als ein Verband solcher Gemeinwesen, die in der gleichen Unmittelbarkeit zueinandertreten; der Geist als der prophetische Lehrer der Treue und der Erneuerung: der Mahner zur Treue gegen die Verwirklichung und ihre Gesetze, zum Festhalten an den Einrichtungen, die der wahren Gemeinschaft dienen, aber auch der Hüter der sozialen Dynamik, daraus alle Einrichtung und Gemeinschaftsform sich in ewigem Rhythmus erneuern muß, daß sie nicht erstarre und nicht, wie in aller bisherigen Menschenwelt, ein Totes die Lebenden regiere; über allem aber der Name des Namenlosen, des Ziels aller Verwirklichung, sprachlos vertraute Gnade allen zur Verwirklichung Entschlossenen, ob sie auch, alter Worthaftigkeit entwachsen, sich Gott entwachsen wähnen, grauenvoll unbekannt den Verwirklichungsträgen, die faulende Gottbezeichnungen wiederkäuen und deren Art nur von der wahren Gemeinschaft dereinst zum wahren Leben erlöst werden kann. *

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In einem Wort lassen sich die Grundsätze zusammenschließen, in einem Losungswort: von innen! Das Neue kann nicht gestiftet werden, indem man einem Lande die autokratische Verfassung vom Kopfe reißt und die kommunistische aufstülpt, während das Leben zwischen Mensch und Mensch das gleiche bleibt und so auch die Methoden der Herrschaft unverändert beharren. Die Beziehungen zwischen den Menschen müssen sich verwandeln, damit aus ihnen wahre Wandlung der Gesellschaft, wahre Wiedergeburt geschehe. Unsere Hoffnung wurzelt in dem Glauben, daß in einem Judengeschlecht, das in diesem Augenblick unserer Geschichte, nach solcher Erschütterung und aus solcher Entscheidung in die Heimat zurückkehrt, die Vorbedingungen für die Verwandlung der Beziehungen zu einer noch nicht gewesenen Kraft gesteigert sind. Es gehört meiner heutigen Aufgabe nicht zu, über dieses Allgemeine und Innerliche hinaus von dem Aufbau eines wahren Gemeinwesens auf Zion zu reden. Auch kann es nicht an uns sein, schematisierende Konstruktionen dem Kommenden auferlegen zu wollen, dessen Einzelfügung sich vielmehr aus den fruchtbaren Zusammenstößen eines Zeitalters des Anbeginns und des Opfers wird entfalten müssen. Der Geist muß die Grenzen erkennen, jenseits derer er sich nicht dem Leben auferlegen darf, sondern warten soll, bis er selber in neuem Wort und Gesetz dem Leben entspringt. Aber innerhalb dieser selbsterkannten, selbstgezogenen Grenzen muß der Geist anfangen, muß bestimmen, muß befehlen. Und er wird es tun. Wir wissen wohl, daß ein Kampf gegen unermeßlichen Widerstand unser harrt; wir vergessen nicht, daß der Tat am Werden der Gemeinschaft alles entgegensteht: die Starrheit der Erbgewohnten und die Trägheit der Augenblickssklaven, der eilfertige Doktrinarismus und die verantwortungslose Demonstrationslust, die karge Selbstsucht und die unfügsame Eitelkeit, die hysterische Selbstvergeudung und das richtungslose Getue, der Kultus des »reinen Gedankens« und der Kultus der »realen Politik«; wir vergessen nicht die Natur der ewigen Masse, die dem Formungswillen der Forderung mit aller wirkenden und latenten Energie widerstrebt und die Tat in ihre zerreibenden Kreise niederzieht. Und dennoch hoffen wir, dennoch entwerfen wir, dennoch fangen wir an. Wohl kennen wir den Erew Raw zur Genüge, die vertragssüchtige, verwirklichungsfeindliche Mischbrut, die alles reine Werden im Judentum schändet, und wir wissen nicht, wie weit es uns gelingen wird, sie vom Lande fernzuhalten, wo sie vielleicht doch Gelegenheit zu Ausbeutung und Profit wittern wird. Aber weit tiefer sind wir, über alle gewesene und künftige Enttäuschung hinaus, Israels gewiß und Gottes gewärtig.

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D e r M e n s c h ist die Kreatur, in die das göttliche Bild des Allseins nicht bloß wie in die andern als Traum, sondern als Anlage getan worden ist, die er zu entfalten streben kann. Die Gestalt, in der er das Allsein in sich zu entfalten vermag, ist die Allverbundenheit. In dem Menschen, der die Allverbundenheit in seinem Wesen und Leben verwirklicht, ist das Bild, die »Sohnschaft«, erfüllt, er ist »Gottes Sohn« geworden. In dieser Möglichkeit, die sich mit jeder Menschengeburt neu auftut, sind die Menschen gleich; in ihrer Verwirklichung sind sie frei. Das mütterliche Element der Allverbundenheit ist die Erde, die Urform ihres Wirkens die Arbeit, die Seelenform ihres Wirkens die Hilfe, ihre Sprache der Geist, ihr Bau die Gemeinschaft. *

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E r d e , das naturhafte, urgegebene Gut, ist Gottes Eigentum und somit aller gemeinsames. Kein Einzelner kann sie rechtmäßig zu eigen haben, kein sondernder und messender Anspruch ihrer walten, nur als Lehen der Gemeinschaft an die Person darf sie besessen werden. *

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A r b e i t , das fördernde und formende Wirken des Menschen an der Erde und ihren Schätzen, ist Dienst an Gottes Eigentum. Dieser ihr Sinn und diese ihre Weihe bleiben ihr nur dann gewahrt, wenn der Mensch sie, wie allen wahren Gottesdienst, nicht mit etwelchen Funktionen seines Leibes allein, sondern mit seinem Wesen und Wesenswillen tut. Andersartige Arbeit besteht nur als von der Gemeinschaft gefordertes Opfer zu Recht, von Sondermächten aufgenötigt bedeutet sie Mißbrauch am Heiligtum. *

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H i l f e , das schenkende und stillende Wirken des Menschen an den Geschöpfen und vornehmlich das hebende und bauende am Menschen, ist die Vertretung Gottes durch uns, die Verwaltung göttlichen Amtes. Der Helfer steht immer an Gottes Statt, in seiner Tat wiederholt sich die Schöpfung: die hilfreiche Hand, die das Seiende dem Möglichen darreicht. Am Menschen geübt ist die Hilfe kaum begonnen, solange sie

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nur Stillung einer Not, nicht auch deren Steigerung und Erhebung ist. Der wahre Helfer erzieht zur hohen Not, zum Bewußtsein des innersten Gebrechens und des innersten Gebotes, zum Streben nach der Vollendung. Alle wahre Hilfe ist Erziehung, alle wahre Erziehung ist Hilfe zur Selbstentdeckung und zur Selbstentfaltung. Die Fülle der wahren Hilfe ist der Ausweis des Führertums, als eines Auftrags Gottes. Die Gemeinschaft darf von Gott allein beherrscht und von den Trägern seines Auftrags, den Hilfreichsten und Hilfsfähigsten, allein geführt werden.

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* G e i s t ist die Ansprache des Menschen an Gott. Ursprung ist ihr stets das elementare Gefühl der Allverbundenheit. Nur aus dem Geheimnis der großen Einsamkeit, aus nächtig quellender Einheit mit dem Leben aller Toten, aus raumzwingender Weltvermählung redet der Mensch das Absolute an, schafft er am Geist. Wo dies nicht ist, kann nur Scheingeist, Ungeist am Werke sein. Aller echte Geist hat die Sehnsucht nach Religion, das ist nicht etwa nach Glaubenssätzen und Brauchformeln, sondern nach einem Einanderfinden und Einandererlösen der Menschen in der gemeinsamen Ansprache an Gott; aller echte Geist will in die Gemeinschaft eingehen, das ist nicht etwa in die staats- oder kirchenartig geordnete Wirrnis der Zeitgenossen, sondern in den Bau des wahren Zusammenlebens, errichtet auf gemeinsamer Gotteserde aus heiliger Arbeit, heiliger Hilfe und heiligem Geist. Aller echte Geist schafft an der absoluten Zukunft; aller ist Ahnung, Verkündung, Bereitung; aller erschließt mitten in der verstrickten Gegenwart das reine Walten des Unbedingten. Darum muß wie die Religion, wenn sie nicht versteinern soll, so auch die Gemeinschaft immer wieder in die Erneuerung durch den Geist tauchen.

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* G e m e i n s c h a f t ist die Vereinigung von Menschen im Namen Gottes zu einer lebendigen Stätte seiner Verwirklichung. Solche Vereinigung kann sich nur vollziehen, wenn Menschen einander unmittelbar, in der Unmittelbarkeit ihres Gebens und Nehmens gegenübertreten und zueinanderkommen. Unmittelbarkeit besteht zwischen Menschen, wenn zwischen ihnen die Schleier einer von der Zwecksucht eingegebenen Begrifflichkeit, die den Einzelnen nicht als Person, sondern als Gattungsmitglied, als Staatsbürger, als Klassenangehörigen erscheinen lassen, hinweggezogen sind und sie zueinander als Einzige und Alltragende

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kommen. So nur kann Eröffnung, Mitteilung, Hilfe geschehen. Je reiner die Unmittelbarkeit, um so wahrer erfüllt sich die Gemeinschaft. Kann sie aus einer Beziehung zweier oder weniger Menschen zur Grundlage des Zusammenlebens einer Vielheit werden, so sind dieser doch räumliche Grenzen gesetzt, bei deren Überschreitung der Unmittelbarkeitsgehalt sich zu verflüchtigen beginnt: die rechtmäßige Form der Gemeinschaft als eines sozialen Gebildes ist die Gemeinde. Geschieht die Vereinigung von Menschen im Zeichen der Erde, so entsteht die Ortsgemeinde, die gemeinsamen Boden verwaltet; geschieht sie im Zeichen der Arbeit, die Genossenschaft, die gemeinsames Werk betreibt; geschieht sie im Zeichen der Hilfe, die Kameradschaft, die gemeinsam und unter gegenseitiger Erziehung nach der Vollendung strebt; geschieht sie im Zeichen des Geistes, die Brüderschaft, die gemeinsam das Absolute anspricht, kündet und feiert. Diese vier Arten der Gemeinde und die ihnen entsprechenden Arten des Führertums können untereinander mannigfache Verbindungen und Verschmelzungen eingehen. *

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G e m e i n w e s e n ist die rechtmäßige Vereinigung einer Vielheit von Gemeinden aller Art, wie Gemeinde die rechtmäßige Vereinigung einer Vielheit von Menschen ist, und entsteht nach den gleichen Gesetzen des Zueinandertretens im Namen Gottes und der Unmittelbarkeit, der Hilfe und des Führertums: die Gemeinden gesellen sich zueinander wie ihre Mitglieder. Sie sind die Zellen, aus denen sich der Organismus des Gemeinwesens aufbaut, und nur wenn und solange ein großer Menschenverband sich aus solchen, mit Unmittelbarkeit des Miteinanderlebens gefüllten lebenden Zellen aufbaut, ist er als Organismus anzusehen und Gemeinwesen zu nennen; sterben sie ab, so mechanisiert er sich zum Staat, dem nur durch Gewalt sich erhaltenden Surrogat der Gemeinschaft, mit dessen wachsender Ausschließlichkeit notwendig die Gottferne, Gottabgewandtheit der Menschen wächst, da ihre Vereinigung im Namen Gottes zu einer lebendigen Stätte seiner Verwirklichung durch eine leblose, gottlose Scheinvereinigung ersetzt und unterbunden wird. Während der Staat seinem Wesen nach keine ihm naturhaft gesetzte Grenze kennt und daher stets nur durch Furcht vor der Gewalt anderer Staaten von deren Vergewaltigung abgehalten wird, sind dem Gemeinwesen Grenzen gesetzt, über die hinaus sich die organische Vereinigung von Gemeinden nicht mehr vollziehen kann; die wichtigste dieser Grenzen ist durch das Volkstum gegeben, als durch die eine engere Vereinigung erleichternde Gemeinsamkeit der Seelenart und der Lebensform.

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* M e n s c h h e i t wäre die rechtmäßige Vereinigung der Gemeinwesen zu nennen. Sie könnte erst entstehen, wenn alle Menschen zu Gemeinden, alle Gemeinden zu Gemeinwesen zusammengeschlossen wären und diese nun nach den gleichen Gesetzen, unmittelbar, ohne die Schleier einer von der Zwecksucht eingegebenen Begrifflichkeit zueinander träten, aus dem Verlangen, einander zur Vollendung zu helfen, im Namen Gottes. Es führt zu ihr somit kein andrer Weg als die Bildung wahren Gemeinwesens und ebendadurch die Erhebung des Namens Gottes über die Völker. * D e r N a m e G o t t e s ist heute wieder unbekannt und versiegelt. Die Tat allein hebt das Siegel.

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»Und da die gesamte Kultur in gesellschaftliche und staatliche Zivilisation umgeschlagen ist, so geht in dieser ihrer verwandelten Gestalt die Kultur selber zu Ende; es sei denn, daß ihre zerstreuten Keime lebendig bleiben, daß Wesen und Ideen der Gemeinschaft wiederum genährt werden und neue Kultur innerhalb der untergehenden heimlich entfalten.« Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. »Sozialismus ist Umkehr; Sozialismus ist Neubeginn; Sozialismus ist Wiederanschluß an die Natur, Wiedererfüllung mit Geist, Wiedergewinnung der Beziehung … Die Sozialisten wollen wieder in Gemeinden zusammentreten.« Landauer, Aufruf zu Sozialismus. »Es gibt nur ein Mittel: die religiöse Umwandlung der menschlichen Seele.« Tolstoi, Tagebuch: 21. März 1898.

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Es ist die reifste Einsicht der neueren Soziologie als einer g e n e t i s c h e n Selbsterkenntnis der gegenwärtigen Menschheit, daß die moderne abendländische Kultur den Weg von der Gemeinschaft zur Gesellschaft gegangen ist, daß der mechanische Ty p u s des Zusammenlebens den organischen durchsetzt und aufgelöst hat 1 . Die Gemeinschaft ist Ausdruck und Ausbildung des ursprünglichen, die Totalität des Menschen vertretenden, naturhaft einheitlichen, bindungsgetragenen Willens, die Gesellschaft des differenzierten, vom abgelösten Denken erzeugten, aus der Totalität gebrochenen, vorteilsüchtigen. Von jener heißt es in einer Schilderung der entsprechenden Zeitalter der chinesischen Kultur: »Damals wurde nichts so gemacht, alles war so«, von dieser: »Der Antrieb der Natur verfiel, man ergab sich dem Verstand. Verstand tauschte mit Verstand, doch vermochte man nicht mehr, das Reich zur Gestalt zu bringen.« Gemeinschaft ist gewachsene Verbundenheit, innerlich zusammengehalten durch gemeinsamen Besitz (vornehmlich des Bodens), gemeinsame Arbeit, gemeinsame Sitte, gemeinsamen Glauben; Gesellschaft ist geordnete Getrenntheit, äußerlich zusammengehalten durch Zwang, Vertrag, Konvention, öffentliche Meinung. »Die Menschen waren eins mit ihrem Geschlecht«, und »Da kam Verwirrung unter die Menschen« – so redet die chinesische Schilderung von dem einen und dem anderen Zeitalter. Die Stadt des Mittelalters ist die repräsentative Grundform des einen, die moderne Großstadt die des anderen; jene der monumentale, domhaft gewachsene Versuch, »einen engen Verband zu gegenseitiger Hilfe und Beistand zu organisieren, für Konsum und Produktion und für das gesamte soziale Leben, ohne den Menschen die Fesseln des Staates aufzulegen, sondern unter völliger Wahrung der Freiheit für die Äußerungen des schöpferischen Geistes einer jeden besonderen Gruppe von Individuen« (Kropotkin), diese eine gegliederte Einheit im mechanischen Schein, in Wahrheit eine Masse von »lauter freien Personen, die im Verkehr einander fortwährend berühren, miteinander tauschen und zusammenwirken, ohne daß Gemeinschaft und gemeinschaftlicher Wille zwischen ihnen entstünde: anders als sporadisch oder als Überbleibsel der früheren und noch zugrunde liegenden Zustände« (Tönnies). In ungeheuren Zeichen erscheint hier die Auflösung der Gemeinschaft durch die Gesellschaft, die Zersetzung der »Bahn«, chinesisch gesprochen, durch die »Welt« schicksalhaft bekundet. In diesem Moment nun greift der moderne Sozialismus in seiner herrschenden Form ein, der die Atomisierung und Amorphisierung des ge1.

Die grundlegende Formulierung dieser Einsicht stellt Ferdinand Tönnis’ Werk »Gemeinschaft und Gesellschaft« (1887) dar.

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genwärtigen Lebens dadurch überwinden will, daß dem Mechanismus des Staates eine alles umfassende Macht verliehen wird, die Arbeit und Verkehr einheitlich regelt und lenkt. Dieser Sozialismus fühlt sich als Träger und Vollstrecker eines Entwicklungsprozesses; es ist dies aber eben kein anderer als der Prozeß der Entwicklung von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, den er zu befördern und zu vollenden kommt. Denn was heute noch an Resten einer A u t o n o m i e d e r o r g a n i s c h e n W i l l e n s s p h ä r e n besteht, muß unter der Wirkung dieser Tendenz aufgezehrt werden. Mit dem Unheil der Atomisierung würde sie, restlos verwirklicht, zugleich das noch inselhaft fortdauernde Heil der spontanen Gemeinschaftlichkeit aufheben. Das ist nicht Irrtum und Verfehlung; das ist die immanente Logik einer historischen Ideologie. Wohl will diese die Gesellschaft nach dem Gesetz der Gerechtigkeit umbauen, aber das geistige Gesetz würde kraft der Allmacht des Staates zur allkontrollierenden Satzung, die in der Folgerichtigkeit ihrer Herrschaft die seltene Wunderblüte freier seelenhafter Gerechtigkeit zum Aussterben bringen müßte. Der Staat des allgemeinen Widersinns, in dem wir bisher gelebt haben, war ein fiebergeschüttelter Tyrann, dessen Krämpfe die Pein und das Verderben von Millionen bedeuteten, in dessen Reiche aber, seiner Macht entrückt oder von ihr unbemerkt, das heilige Kind Gemeinschaft in der Verborgenheit der Bünde und Kameradschaften gehütet wurde. Der Staat der sozialistischen Ordnung wäre, zur unbestrittenen Souveränität gelangt, ein blankäugiger, gleichmütig waltender Oberherr, in dessen Gebieten keine Ausnützung des Menschen durch den Menschen, keine Erniedrigung des als Selbstzweck Geborenen zum Mittel mehr geduldet würde, in dessen Gebieten aber auch für Gemeinschaft kein Raum, kein Schlupfwinkel mehr wäre. Die Gemeinschaft, einst in Haus und Dorf, in Stadt und Gau, in Innung und Brüderschaft ein allgemeiner Z u s t a n d , ein alles Leben von innen durchwirkendes und durchformendes Prinzip, besteht heute fast nur noch als persönliche B e g e b e n h e i t , als ein gnadenreiches Aufdämmern der Wahrheit zwischen Mensch und Mensch, und verharrt in dauernderen Formen nur in den – zumeist verkümmerten oder verkümmernden – Gebilden, an die der gegenwärtige Staat nicht rühren kann oder mag. Diese Gebilde, mögen sie nun Gemeinde, Genossenschaft oder sonstwie heißen, werden der umfangenden Macht des konsequenten sozialistischen Staates nicht widerstehen können. Ist somit der Untergang der Gemeinschaft unentrinnbare Evolution? Oder gibt es ein Zurück zu ihr? In der Schilderung des Entgemeinschaftungsprozesses in China, die ich angeführt habe, steht die Antwort: »Keine Rückkehr mehr hatten

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die Menschen zum Antrieb der Natur, zum Zustand der Ursprünglichkeit.« In der Tat, wir durch das Zeitalter des Individualismus, der Lösung der Person aus ihrem natürlichen Zusammenhang, Hindurchgegangenen können zu jenem gemeinschaftlichen Leben nicht mehr heimfinden. Denn nicht Gesonderte taten sich da zum Bund zusammen, sondern ein Ganzes stellte sich in der Vielheit der Einzelnen, sie in strengen und unantastbar heiligen Banden haltend, gegliedert dar, wie in den großen Gedichten der Vers nicht als eine Zusammenfügung von Worten, sondern die Worte als die Auseinanderlegung der ursprünglichen Einheit des Verses erscheinen. Zu solch elementhafter Ganzheit können wir nicht zurückkehren; aber wir können zu einer anderen werkhaften vordringen, die nicht wie jene g e w a c h s e n , wohl aber aus wahrem Seelenstoff g e s c h a ff e n und daher nicht minder echt ist: wie ein Werk vollkommener Kunst zwar von wesenhaft anderer Gattung, aber kraft seiner Echtheit ebenso organisch ist wie ein Stück lebender Natur, und nur das zwischen beiden Schwankende der glaubhaften Gestalt entbehrt, so wäre ein Bau, den wir in rechtschaffener Hingabe und unter unbedingter Losmachung von aller vorteilsüchtigen Willkür auf uns als getreuen Tragpfeilern errichteten, dem Urwald, aus dem wir einst gebrochen wurden, nicht unebenbürtig. Gewiß, wir können nicht hinter die mechanisierte Gesellschaft zurückgehen; aber wir können über sie hinausgehen, zu einer neuen Organik. Wir können das primitive Wachstum nicht wiederherstellen; aber wir können einer neuen sozialen Gestaltung den Weg bereiten, in der das Prinzip, aus dem es sich vollzog, in bewußtem Wirken wiederkehrt. Ausdruck und Ausbildung von Willensarten waren beide, Gemeinschaft und Gesellschaft; der Totalwille in seiner Naturform ist uns nicht mehr eigen, seine vegetative Einheit ging uns unwiederbringlich verloren; aber fühlen wir nicht in allen reinen Lebensstunden, wie sich verschüttete Kräfte in uns regen, zu einer neuen geistgeborenen Einheit, zu einem neuen vital-bewußten Totalwillen zusammenschießen? Das abgelöste Denken zersetzte einst diesen »Wesenswillen« zur »Willkür«; aus einer errungenen Integrität des Geistes, der sich auch das Denken dienend einfügen muß, kann er auf später Stufe verwandelten Wesens wiedererstehen. Unser Zusammenleben ist nicht mehr elementares Ineinander, sondern angepaßtes Nebeneinander; aber erfahren wir nicht, so oft wahrer Blick seinesgleichen begegnet, daß auch uns noch das Du primär und das Einander heilig ist? Dämmerhaft lagert die Seele der alten Geschlechtseinheit in uns und weiß nicht, ob es zum Abend oder zu neuem Tagen geht. Die Evolutionstheorien aller Art weissagen das erste, ein Fünklein in uns verkün-

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det wortlos das zweite und will sich nicht bescheiden. Jenen steht alles Wissen um die Geschichte zur Seite, sie scheinen unangreifbar; sowie wir aber, nicht eingeschüchtert, Ernst machen, überflammt das Fünklein alle Bogenlichter. Für die ordnende Betrachtung der Vergangenheit ist der Evolutionismus wohl verwendbar; will er den Weg der Zukunft durch Pfähle abstecken, so muß er dessen gewärtig sein, daß eine entschlußmächtige Generation das hohe Experiment wagt und ihn schon durch das Wagen zu widerlegen beginnt. Der Einblick in eine verhängnisvolle Entwicklung kann nur unseren – der historisierenden Ansicht mit Notwendigkeit paradox und fundamentlos erscheinenden – Entschluß stärken, mitzuhelfen, daß die innere Wende, die wahre Revolution geschehe. Dem Sozialismus, der jene Entwicklung befördern und vollenden würde, steht ein anderer gegenüber, der sie bewältigen und überwinden will. Jener mag das Ergebnis und die ideologische Zuspitzung eines großen sozialen Prozesses sein; so ist dieser die Vorbereitung und Ankündigung eines großen religiösen Vorgangs. Nicht zum erstenmal werden religiöse Kräfte in eine Krisis der sozialen erneuend, erlösend eingreifen. Denn es ist nicht e i n e Bewegung, die heute sich dem taumligen Machtrausch und der fiebrigen Machtgier dieses Tages entgegen erhebt, es sind zwei, und sehr ungleichartige: eine oberirdische, überaus sichtbare und wirksame, ihre Ziele deutlich formulierende, gegründet auf dem Primat der Wirtschaft als der geordneten Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, getragen vom Kampf einer wirtschaftlich benachteiligten Klasse um die Beseitigung der Nachteile, der sich aber natürlicherweise zum Kampf um die äußere Macht, die Gewalt über den Staat, auswächst und alsdann selber den Bränden der Gier und des Rausches ausgesetzt ist; und eine unterirdische, nur erst dem Tiefenblick erscheinende, in der Welt der Dinge noch unwirksame, ihren Traum wunderlich ausstammelnde, gegründet auf dem Primat des Geistes als der schöpferischen Kundgebung menschlichen Gottverlangens, getragen von dem Streben aller echten Menschlichkeit nach der wahren Gemeinschaft als der Offenbarung des wieder unbekannten Gottes, das natürlicherweise niemals, ohne sich selbst aufzuheben, zum Streben nach Gewalt werden, vielmehr einzig in der inwendigen Macht, die Seelen zueinander zu wecken und zu führen, sich erfüllen kann. Jene will sich des Staates bemächtigen und neue Einrichtigungen an die Stelle seiner bestehenden setzen, indem sie vermeint, hierdurch die menschlichen Beziehungen in ihrem Kern zu verwandeln; diese weiß, daß die Neusetzung allgemeiner Einrichtungen nur dann wahrhaft befreiende Wirkung haben kann, wenn sie einer Umgestaltung des wirklichen Lebens zwi-

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schen Menschen und Menschen fördernd, klärend, vereinheitlichend zur Seite tritt. Das wirkliche Leben zwischen Menschen und Menschen aber spielt sich nicht in dem Abstraktum des Staates ab, sondern wesentlich da, wo eine Vitalität des räumlichen, funktionellen, gefühlhaften und geistigen Miteinander besteht: in der Gemeinde; der Dorf- und Stadtgemeinde, der Arbeits- und Werkgenossenschaft, der Kameradschaft, der religiösen Einung. Dieses wirkliche Leben ist heute verdrückt, zurückgedrängt, beiseite geschoben; der Homunkulus Staat hat den Gemeinden das Blut aus den Adern gesogen, so daß er in all seiner Abstraktheit und Mittelbarkeit strotzenden Leibes, ganz als wäre er ein Lebewesen und kein Artefakt, über den verkümmerten waltet; verkümmert ist die Dorf- und Stadtgemeinde zum Glied eines Verwaltungsapparates, die Genossenschaft zum Werkzeug einer Wirtschaftspartei, die Kameradschaft zum Verein, die religiöse Einung zum kirchlichen Sprengel. Es gilt ihnen allen Blut, Kraft und vollgültige Realität wiederzugeben; es gilt das wirkliche Leben zwischen Menschen und Menschen freizumachen. Die Gesellschaft ist heute ein Organismus aus absterbenden Zellen, eine gespenstische Tatsache, die durch das zuverlässige Funktionieren eines scheinorganischen Mechanismus aus höchstleistungsfähigen Teilen, des Staates, verdeckt wird. Der Mechanismus kann zur Vollkommenheit einer restlos wirksamen Ordnung gebracht und sein Bewegungssystem dem der Lebendigen ununterscheidbar angeglichen werden, die Zellen werden nur vollends absterben. Nur von innen her, durch Wiederbelebung des Zellengewebes kann sich die Heilung und Erneuung vollziehen. Die Gemeinde in all ihren Formen muß mit neuer Wirklichkeit gefüllt werden, mit der Wirklichkeit unmittelbarer, reiner, gerechter Beziehungen zwischen Mensch und Mensch, zwischen Menschen und Menschen, damit aus dem Zusammenschluß wahrhafter Gemeinden ein wahres Gemeinwesen erstehe, das lächelnd zusieht, wie das verrostende Räderwerk Stück um Stück dem Schutthaufen verfällt. Eine große Begierde nach Gemeinschaft geht durch alle Seelen seelenhafter Menschen in diesem Lebensaugenblick der abendländischen Kultur. Nicht mehr wie einst in die Unmittelbarkeit des Miteinander gebettet und an einen natürlichen Verband geschlossen, mit dem man in so sicherer und selbstverständlicher Wechselbeziehung steht, daß man sich getrost von ihm in eine p o s i t i v e Einsamkeit entfernen kann, – vielmehr den absterbenden Zellen der Gesellschaft entfallend, einer radikalen Verlassenheit mitten im Getriebe preisgegeben, diese negative Einsamkeit notwendig als absolute, als das erfahrend, was der religiöse Mensch Gottferne, Gottmangel nennt: begehren sie die Gemeinschaft, werben, dienen um sie. Und wie Jakob, dem Sohne Isaaks, nach sieben Jahren

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des Dienstes an Stelle der geliebten Rahel die trübäugige Lea ins Brautbett gelegt wird, so dürfen sie statt der Erträumten die wohlaufgezogene Staatspuppe umarmen; dies die Seelengeschichte Europas während seines großen Kriegs. Möge sie sich in der Revolution, die diesen ablöste, nicht noch bitterer, noch trostloser wiederholen! Der gegenwärtige Staat, auch wenn er sozialistisch wird, kann die Sehnsucht nach Gemeinschaft nicht erfüllen, den Einzelseelen das elementare Bewußtsein der Verbundenheit nicht geben, das sie von der Gemeinschaft begehren: weil er keine Gemeinschaft ist und keine werden kann. Ein großer Menschenverband ist nur dann so zu nennen, wenn er aus kleinen lebendigen Gemeinschaften, aus kräftigen Zellenorganismen unmittelbaren Miteinanderseins besteht, die zueinander in gleich direkte und vitale Beziehungen treten wie die ihrer Mitglieder sind und die sich in gleich direkter und vitaler Weise zu diesem Verband zusammenschließen, wie ihre Mitglieder sich zu ihnen zusammengeschlossen haben. Wo das wirkliche Leben zwischen Menschen und Menschen in seinen natürlichen Einheiten zersetzt ist, kann der große Menschenverband der Begierde nach Gemeinschaft nur Trug und Blendwerk entgegenhalten. Es gilt die Befreiung des wirklichen Lebens zwischen Menschen und Menschen. Es gilt die Wiedergeburt der Gemeinde. Der Ortsgemeinde, der Genossenschaft, der Kameradschaft, der religiösen Einung. Diese, heute sei es zu staatsähnlichen Maschinerien entartet, sei es vom Staat geduldete oder übersehene Schlupfwinkel einer unzeitgemäßen Vegetation, müssen wieder die Stätten werden, an denen das Auf-Erden-Sein seelenbegabter Wesen zu seiner Fülle kommt. Hier muß sich das öffentliche, das ist das zum Gemeinschaftsleben erweiterte Leben des Menschen vollziehen. Hier allein können die inneren Bindungen der primitiven Gemeinschaft, gemeinsamer Bodenbesitz, gemeinsame Arbeit, gemeinsame Sitte, gemeinsamer Glaube – die vier Prinzipien der Bindung, die jenen vier Arten der Gemeinschaft entsprechen – in neuer Gestalt erstehen. Nicht Staat, nur Gemeinde kann rechtmäßiges Subjekt gemeinschaftlichen Bodenbesitzes 2 , nicht Staat, nur Genossenschaft rechtmäßiges Subjekt gemeinschaftlicher Produktion werden. Nicht in der Gesellschaft, nur in Kameradschaften kann neue Sitte wachsen, nicht in der Kirche, nur in Brüderschaften neuer Glaube gedeihen. Dazu gehört freier Raum für die Gemeinden, unbestrittene Geltung ihres Willens innerhalb ihres natürlichen Umkreises, uneingeschränktes Wirken im Rahmen ihrer natürlichen Aufgaben, gehört wahre Auto2.

der sich sehr wohl mit einem E i g e n t u m der Gesamtheit an Grund und Boden verträgt.

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nomie; die ihre Grenzen am Zwischengemeindlichen und Übergemeindlichen findet, an alledem, was gemeinsame Sache mehrerer Gemeinden ist und in geeigneter Weise – am zweckmäßigsten wohl in einem gestaffelten Vertretungssystem – von gemeinsamen Organen zu beraten, zu beschließen, zu verwalten ist. Dieser freie Raum aber, diese Autonomie der Gemeinden – die zuinnerst gleichbedeutend ist mit einer Autonomie der organischen Willenssphären – wäre vom gegenwärtigen Staate niemals zuerkannt worden; erst recht würde sie es nicht von dem sozialistisch gewordenen, denn der aufs straffste zentralisierte wird seine eigene Dezentralisierung nicht aussprechen, der in seiner Mechanik vollendete nicht zu Gunsten des Organischen abdanken. Nur der in der Entwicklung zum Sozialismus begriffene (und diese Entwicklung wird trotz aller gegenteiligen Anzeichen nicht kurz sein) wird sich der starken Forderung sozialistischer, das ist gemeinschaftlich leben und wirtschaften wollender Gemeinden nicht entziehen können. Aber dazu müssen sie eben erst wahrhaft da sein, wahrhaft wollen. Dekretierbar ist die Autonomie überhaupt nicht. Sie kann nicht anders errichtet werden als durch Wachstum und Selbstbehauptung eines vom fiktiven zum realen Sein aufgestiegenen Gemeindewesens. Wenn die heute absterbenden Zellen sich verjüngen, wenn um sie sich neue in starker Jugend atmende reihen, wenn, des großen Sinns solchen Geschehens tätig bewußt, die Gemeinden gleicher Art und verschiedenen Orts sich verbünden, die gleichen Orts und verschiedener Art sich verbrüdern, wenn so aus dem Zusammenschluß wahrhafter Gemeinden ein wahres Gemeinwesen zu werden beginnt, – dann kann es nur noch Bestätigung, nicht Zuerkennung geben. Damit all dies aber werde, tut not, daß Menschen, Menschenscharen sich vieler privaten Vorteile und Vorrechte um der Gemeinden willen begeben, und sich deren Gemeinwirtschaft mit ihrer ganzen Werkfähigkeit einordnen; tut somit das Unerhörte not, daß Menschen, Menschenscharen die Gemeinde mit aller Kraft, die ihre Seele herzugeben vermag, w o l l e n . Daß sich Menschen um die Gemeinden, denen sie angehören, wie um ihre Liebschaften und Freundschaften bekümmern, – vielmehr wie sie sich in ihren innigsten Augenblicken um ihre Liebschaften und Freundschaften zu bekümmern gedenken; daß sie neue Gemeinden gründen, wie man sein Haus gründet, – vielmehr wie man es gründete, als es noch wahre Häuser gab. Und hinwieder, daß Menschen erkennen, wie dieses schmale, unscheinbare Gebilde, das sie mit kurzem Halbmesser umzirkelt, nicht geringeren Ranges ist und höheren werden kann als der breite und großmächtige Staat; wie rechte Teilnahme an einer rech-

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ten Gemeindeversammlung nicht leichtre Seelenmacht als die an irgend einem Parlament erheischt. Ja, wie über der Politik am Fremden, Fernen, Unbekannten, die allgemein geübt wird, die Tätigkeit am Eignen, am Nahen, am Vertrauten steht; wie einzig diese ihrem Wesen nach (jene nur in urseltnen großen Momenten) nicht unverbundenes, unbefugtes Gerede und Getue, sondern rechtmäßige Hilfe ist; und wie eine künftige legitime »Staatspolitik« nur als Auslese und Ergebnis eines vollkommen durchgebildeten gemeindehaften Wirkens entstehen kann: weil – mit Ausnahme jener beherrschenden Geister, die die Ferne naturhaft durchdrangen – nur dem, der in echter Aktivität am Nahen die Seele bewährte, das Ferne nah werden kann. Das aber ist eben das entscheidend Problematische am Menschen unsrer Zeit, das, worin sich die Auflösung der Gemeinschaft durch die Gesellschaft am eindeutigsten kundgibt: daß er, auch wo er sich am »öffentlichen Leben«, an der res publica beteiligt, es ohne Verbundenheit und überhaupt fiktiv tut. Besonders deutlich, noch deutlicher als an den ganz vom Fiktiven besessenen Typen des Wählers und des Abgeordneten, deutlicher als an den krassen Interessenpolitikern wird dies an jenen Ideenpolitikern, die eifrig dafür wirken, daß etwas z. B. in der Form der Gesetzgebung getan werde, was in der Form des Lebens zu tun sie keinerlei innere Nötigung verspüren; für die etwa Gerechtigkeit ein Ding ist, das »durchzusetzen« ist, nicht eins, mit dessen Verleiblichung begonnen werden kann und soll, wo immer ein Mensch inmitten von Menschen wohnt; die nicht ahnen oder nicht ahnen wollen, daß, wenn nicht allerorten mit freier seelenhafter Gerechtigkeit begonnen wird, die »durchgesetzte« eine leere Hülse, ein Prunkgewand auf einem Kleiderstock bleiben muß. Wenn etwa ein Kreis von Intellektuellen die Umgestaltung der menschlichen Beziehungen mit dialektischem Pathos erörtert und verficht, aber die ihm Angehörenden ahnungslos mit einander ebenso verblasen, ebenso indirekt verkehren, wie dies unter Intellektuellen heutzutage üblich ist, dann wird ihr Wille die soziale Wirklichkeit nur dem Schein nach in höherem Maße bestimmen, als er ihre persönliche Wirklichkeit zu bestimmen vermochte. Die Echtheit des politischen Gehalts eines Menschen erprobt sich, bildet sich in seiner natürlichen, seiner »unpolitischen« Sphäre. Hier ist der Keimboden aller wahrhaft in die Gemeinschaft wirkenden Kraft. Die erleuchtende chassidische Lehre, daß jedem Menschen die Dinge seiner Umgebung zugeteilt sind, daß er sie erlöse, darf ergänzt werden: nicht kürzeren Weg als diesen geht die Erlösung der Welt. Keine gelebte Gemeinschaft ist verloren; und nicht aus andren Elementen kann sich Gemeinschaft des Menschengeschlechts aufbauen.

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Damit sie aufgebaut werde; damit das Verhängnis der »unentrinnbaren Evolution« zur endgültigen Entgemeinschaftung gebrochen werde; damit die Wende, die wahre Revolution geschehe – dazu tut das Unerhörte not: die große, Gemeinschaft wollende, Gemeinschaft stiftende Kraft. Sie scheint in unsrer Zeit zu fehlen. So leidenschaftlich die heutigen Menschen nach Gemeinschaft begehren, sie scheinen nicht die Kraft zu haben, sie zu tun. Und doch lebt sie, die Kraft, in den Tiefen der Generation. Blind, tastend, verfehlend; ungeehrt, verkannt, mißbraucht; tötend, wo sie zu zeugen, zerstörend, wo sie zu bauen vermeinte; unbewußt ihres Namens und ihrer Sendung; sich selber aufzehrend im Mißbrauch und in der Verfehlung; und unauslöschbar lebt sie, funkenhaft in aller Seelen ausgestreut, glimmend, gewaltig. Wer wird sie sammeln, richten, führen? Keiner vermag es als der ewige Geist der Wende, der Überwinder der Entwicklungen, der Eine, der allein, wenn die letzte Not ihn ruft, den verirrten Menschen umkehren macht: das menschliche Gottwollen. Ihn meint sie, die unsterbliche, die heute wieder unterirdische, nur dem Tiefenblick erscheinende, in der Welt der Dinge vorerst unwirksame, ihren Traum wunderlich ausstammelnde Bewegung. Wieder meint sie das Gottwollen, den Geist der Wende. Menschenwille kann, was ihm als das Schicksal der Menschheit erscheint, wenden: wenn er sich auf nichts anderes richtet als daß Gott sei. Denn dann, und nur dann, will Gott sich in ihm. Wann immer das gefügte Geschehen, die »Entwicklung«, den gepeinigt peinigenden Menschen als ein vom Karma oder vom Demiurgen, von der Moira oder dem »Kampf ums Dasein« unentrinnbar auferlegtes Schicksal erscheint, darin sie als in rettungsloser Gottferne eingeschlossen sind, ist der Wille zur göttlichen Befreiung, zur Theophanie – ist göttliche Befreiung, Theophanie nah. Wie immer sie sich ereignet, ob durch dionysische Entfesselung oder durch buddhistische Versenkung, ob ein junges Volk von einer Flammensäule und einem Menschenstab durch die Wüste zum Berg der Offenbarung geleitet wird, ob alten Völkern der blutige Glanz gottmenschlichen Sinnbilds die haltlose Fülle zerreißt: – das menschliche Gottwollen und das göttliche Menschwollen sind nicht zu trennen. Wenn der menschliche Wille mitten in einer Welt der Determination die Freiheit Gott zu wollen bekundet, ist Gottesfreiheit über ihm. Wende hat doppeltes Antlitz; und eins der beiden ist das Antlitz wollenden Menschentums. In diesem Geheimnis ihres Werdens gleichen sich die Theophanien, aber in dem ihrer Gestalt wandeln sie sich. Hier zeigt sich im Höchsten, daß Geschichte trotz allem ein Vorgang der Wahrheit und des Sinns ist.

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Denn reifen will das Göttliche in der Menschheit. Immer schwerer läßt es sich finden, immer inniger will es getan werden. In Wettergesichten und Wachträumen erschien es einst den rein Empfangenden, die nur zu schauen hatten; im Leben des »weltüberwindenden« oder »welterlösenden« Meisters sodann, das mitgelebt werden muß, um aufgenommen zu werden; aber endlich senkt es sich in das Mögliche ein, das zwischen den Wesen webt, will sich nur noch aus dessen Verwirklichung, aus der wahren Gemeinschaft offenbaren. Wir fühlen seine Gegenwart aufkeimen, so oft ein Mensch einem Menschen in Wahrheit die Hände reicht; aber wir ahnen, daß es nur in der wahren Gemeinschaft aus Erlebnis zu Leben werden kann. Die Menschen, die nach Gemeinschaft begehren, begehren nach Gott. Alle Begier nach wahrer Verbundenheit geht nach Gott; und alle Begier nach Gott geht nach der wahren Gemeinschaft. Aber Gottbegier ist nicht Gottwollen. Die Menschen suchen Gott, aber er ist nicht aufzufinden, denn er ist nicht »vorhanden«. Die Menschen möchten Gott haben, aber er gibt sich ihnen nicht, denn er will nicht besessen, sondern verwirklicht werden. Erst wenn die Menschen wollen werden, daß Gott sei, werden sie die Gemeinschaft tun. Die letzte Not ruft das Gottwollen, den Geist der Wende.

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Landauer und die Revolution Es hat in Deutschland in der Zeit seiner größten Gottferne einen Mann gegeben, der wie kein andrer Mensch dieses Landes und dieser Stunde zur Umkehr aufrief. Um einer kommenden Menschheit willen, die seine Seele schaute und begehrte, stritt er gegen die Unmenschheit, in der er leben mußte. Aber sein echtes Kämpfertum verschmähte den Scheinkampf der Politik. Er schloß sich keiner der Parteien an, die gegen das Bestehende anrannten, um sich des Bestehenden zu bemächtigen. Das Parteiwesen, das mit seinem fiktiven Zusammenschluß das natürliche Zueinanderkommen und Miteinanderwirken, die natürlichen Verbände der Menschen verdrängt, erschien ihm als des verrotteten Staatswesens verrottetster Teil. Staatsbureaukratie und Parteibureaukratie, Regierungsdemagogie und Parlamentsdemagogie gehörten vor seinen Augen zusammen. Den Staat erkannte er als ein Gebilde des Zwangs und der Gewalt, an dessen Erhaltung alle Parteien interessiert waren, auch die ihn zu bekämpfen vorgaben; auch die Partei, die sich die sozialistische nannte und die in Wahrheit nur aus den Proletariern des kapitalistischen Betriebs Staatsproletarier, aus allen Menschen Wirtschaftsbeamte des Staates machen wollte. Gustav Landauer verwarf diesen Staat, weil er nach einem wahren Gemeinwesen, nach einem Bund wahrer Gemeinden, Verlangen trug; er verwarf diesen zentralistischen, mechanistischen Scheinsozialismus, weil er einen förderalistischen, organischen Gemeinschaftssozialismus in seiner Sehnsucht trug. So mußte er in einer Gesellschaft, in der alles öffentliche Leben zur Politik verengert und aller umgestaltende Wille zur Parteiung erstarrt war, ohne Verbündete bleiben. Und er hatte es schwer, für seine Wahrheit zu werben. So mächtig und feuerbeseelt seine Rede war, sie erschütterte immer nur einzelne: die wenigen, die innerlich offen und bereit waren. Forderte er doch ein Unerhörtes: daß man sich nicht damit begnüge, eine Idee anzuerkennen und sich zu ihr zu bekennen, sondern daß man mit ihr Ernst mache und sie zu verwirklichen beginne; daß Sozialismus nicht eine Sache von dann und dort, sondern von jetzt und hier sei. Solch einer Forderung standen Proletarier und Intellektuelle gleich stumpf und unzugänglich gegenüber: die Proletarier, weil sie in der Lehre aufgewachsen waren, der Sozialismus sei der unausweichliche Endzustand einer unabänderlichen, wissenschaftlich zu errechnenden Entwicklung, und weil diese Lehre in ihnen den unbefangenen Wagemut, das Urprinzip alles verwirklichenden Beginnens, erstickt hatte; die Intellektuellen, weil sie dem gesellschaftlichen Geschehen und den elementaren Beziehungen zwischen den Menschen entweder

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völlig entfremdet waren oder sie mit politischen Schlagworten meistern zu können vermeinten. In diese Wüste der stumpfen und unzugänglichen Seelen rief Gustav Landauer sein Metanoeite. Er sagte dieser Welt des Ungeistes, in der wir leben, dieser haltlosen, mittelpunktlosen Welt der kapitalistischen Zivilisation den Untergang an. Aber nicht einen, hinter dem ablösungsbereit eine inzwischen fertiggewordene sozialistische Welt wartet. Er wußte, daß hinter dem Kapitalismus nichts anderes wartet als seine eigene Fäulnis und Verdammnis. An dieser Fäulnis und Verdammnis muß, das wußte Landauer, die abendländische Kultur, muß das, was einstmals abendländische Kultur war und heute ohne deren Geist, aber mit deren Angesicht und Gebärde fortlebt, zugrunde gehen. Wenn in früheren Epochen der Geschichte der Tod über die Kultur eines Volkes oder einer Völkergruppe kam, erschien er in der Gestalt ausgeruhter Völker, die in die Zersetzung einbrachen, und die wandernde Wolke entlud sich erst in zerschmetterndem Blitz, dann in befruchtendem Gewitterregen. Heute aber, das wußte und verkündete Landauer, ist die Anähnlichung der Völker in Zivilisation und Dekadenz so weit gediehen, daß solche Hoffnung uns nicht mehr zusteht. Es muß, wenn dieses Ende nicht das der Erdmenschheit sein, wenn sich diesem Untergang ein Aufgang gesellen soll, ein Urneues geschehen, eine neue Art der Erneuerung, »eine Erneuerung, wie sie in der uns bekannten Menschenwelt noch nicht war«. Die Rettung kann in dieser entscheidenden Weltstunde nirgendwo anders mehr herkommen als aus uns selber, aus unserm innersten Entschluß und unserer innersten Verwandlung. Von keinem Außen mehr winkt uns das Heil, nur noch aus der eigenen Wiedergeburt, der Wiedergeburt der Völker aus dem Geist der Gemeinde. Wird sie sich vollziehen? Wir wissen es nicht, antwortet Landauer, wir können es nicht wissen; »wir wissen es nicht und wissen darum, daß der Versuch unsre Aufgabe ist«. »Wir haben nichts vor uns und alles nur in uns.« So müssen wir beginnen, müssen wahre Gemeinschaft stiften, Gemeinschaft aus Gemeinden, neuen Bund, ein neues Volk. »Sozialismus ist Umkehr und Neubeginn.« Wo immer sich eine echte, lebendige Gemeinschaftszelle bildet, ist sie ein Anfang des neuen Lebens. So lehrte Gustav Landauer, so rief er auf. Und langsam, mit jener herben, bedeutungsvollen Langsamkeit, wie sie im Gegensatz zu den Parteien und Organisationen den echten Bewegungen des Geistes eigen ist, sammelten sich Menschen um ihn. Richtige und unrichtige Menschen, verstehende und mißverstehende, zum vollkommenen Opfer bereite und Mitläufer; immerhin, der wachsende Kern einer Gemeinschaft. Der »Sozialistische Bund« entstand, ein Geringes erst, aber doch eine Stätte, wo

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wie nirgendwo anders im deutschen Land der Klassenunfug im Feuer des Miteinander schmolz und ein einiges Menschtum geschmiedet wurde. Die Zeitschrift »Der Sozialist« entstand, von Mitgliedern des Bundes verfaßt, gedruckt und verlegt, die sechs Jahre hindurch, von 1909 bis 1914, das charaktervollste, also das beste Blatt Deutschlands war. All dies in Stille und Echtheit, jenseits der Politik, jenseits der Parteien, jenseits des Kapitals, jenseits des Getriebes, in wahrhaft aufbauender Arbeit. Ein Anfang war da. Da kam der Krieg. Landauer hatte von 1909 an diesen Krieg vorhergesagt. Er hatte gezeigt, daß der Gewaltstaat nach außen hin nichts anderes sein kann als »eine Kampforganisation zur Behauptung und Eroberung gegen die anderen Staaten«. Er hatte gezeigt, daß das aus diesem Wesen des Staates hervorgegangene System des bewaffneten Friedens zum Krieg der großen Staaten gegeneinander führen muß; er hatte in zwanzig denkwürdigen Aufsätzen und Flugschriften die nahende Katastrophe beschrieben. Er hatte unablässig gewarnt und gemahnt; aber nicht zur Erhaltung des Friedens gemahnt: er wußte, daß es zwischen den Staaten keinen Frieden geben kann; nicht zu internationalen Vereinbarungen: er wußte, daß sie nur durch Phrasen und Gesten die öffentliche Lüge verdecken können; er mahnte zu dem einzigen wahren Kampf gegen den Krieg, zum Kampf gegen den Staat; er mahnte zu einem Generalstreik der Arbeiter, der aber nicht ein Nein, sondern den Anfang eines neuen Ja bedeuten würde. Aber sein Wort hatte die in der Parteidogmatik und Parteitaktik befangenen Massen nicht ergriffen. Was er angesagt hatte, traf ein. Und damit fiel zusammen, was er in Jahren stiller Arbeit aufgerichtet hatte. Denn unter der Militärdespotie konnte es keine wahrhaft sozialistische Sache mehr geben, keinen sozialistischen Bund, keine sozialistische Schrift, keine sozialistische Rede. Im Anfang des Krieges, ehe Landauer seiner Sache verstummte, sprach er noch als erster das wesenhafte Wort, das in späteren Jahren viele nachgesprochen haben, das damals aber unempfangen und unerwidert blieb: »Keiner ist schuldig, alle sind schuldig. Alle – auch wir sind schuldig.« Fortan trug er durch die Jahre des Krieges in schweigsamem Herzen »das unstillbare Verlangen nach der Stunde, wo dieser Riese, der Krieg der andern, rasselnd zu Boden bricht und, nach einem Augenblick zauberhafter Verwandlung und Erneuerung, aufsteht als mein Krieg um die Durchsetzung und den Umschwung«. Diesem Augenblick entgegenharrend, schwieg er fortan von seiner Sache. Er redete nur noch von Dingen der gedanklichen und künstlerischen Schaffung. Und doch, wovon immer er sprach, er sprach in Wahrheit nur von seiner Sache. Wenn er den

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Lear deutete, schilderte er den Zusammenbruch einer Scheinwelt der Macht und Willkür, und wenn er Hamlet deutete, »den geistigen Menschen der neuen Tat, der in dieser unsrer Welt der Vereinsamte, der Aufrührer, der Höhnische und der Dichter ist, der Worte ballen muß, weil man ihn nicht Menschengesellschaften zu formen gönnt«. Seiner Ausgabe von Briefen aus der französischen Revolution schickte er im Juni 1918 den Wunsch voraus, »die intime Kenntnis des Geistes und der Tragik der Revolution möchte uns in den ernsten Zeiten, die vor uns stehen, eine Hilfe sein«. Und wieder traf es ein: der Augenblick, dem er entgegengeharrt hatte, kam. Der Krieg endete, wie er enden mußte, und in dem besiegten Deutschland brach die Revolution aus, oder ein Etwas, das sich Revolution nannte. Um Gustav Landauers Stellung in dieser deutschen Revolution recht zu erfassen, muß man zuvor erfassen, welche Stellung die Revolution in seinem Weltbild einnahm. Es gibt nach Landauers Einsicht, wenn man unter Revolution einen gewaltsamen Umsturz versteht, ausschließlich politische Revolutionen; denn eine sozialistische Umgestaltung ist etwas völlig anderes: »ein friedlicher Aufbau, ein Organisieren aus neuem Geiste und zu neuem Geist«. Wohl kann diese Umgestaltung »ohne vielerlei politische Revolutionen nicht lebendig werden und bleiben«, aber nur, weil die Revolution den Boden erschüttert und auflockert, aus dem das Neue wachsen soll. Die Kraft der Revolution liegt in der Rebellion und Negation, sie ist ihrem Wesen nach »ein Aufschwung und ein Traumdasein und ein Taumel«, ihrem Wesen nach ein Provisorium, unfähig sozialistische Probleme mit ihren eigenen, politischen Mitteln zu lösen; und »ihre Auskunftsmittel, damit die Gemeinschaft von Tag zu Tag weiter existiert«, sind »kümmerlicher, alltäglichhergebrachter und gemeiner Natur«. »Wenn eine Revolution aber gar«, so fährt Landauer, von der französischen sprechend, fort, »in die fürchterliche Lage kommt wie diese, daß ringsum Feinde sind, innen und außen, dann müssen die noch lebendigen Kräfte der Negation und Destruktion sich nach innen, gegen sich selbst schlagen.« So geschah es (das schrieb Landauer zehn Jahre später über die gleiche Revolution aus der gleichen Erkenntnis), »daß die innigsten Vertreter der Revolution in ihren reinen Stunden, gleichviel in welches Lager sie schließlich von den tobenden Wogen geworfen wurden, glaubten und wollten, sie solle die Menschheit zu einer Wiedergeburt führen; daß es aber nicht dazu kam und sie zugleich sich gegenseitig daran hemmten und einander die Schuld beimaßen, weil die Revolution sich mit dem Krieg, mit der Gewalttat, mit der Befehlsorganisation und autoritären

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Unterdrückung, mit der Politik verband«. Solange eben Politik und nicht Gemeingeist, Machtspiel und nicht Liebeswerk, der Staat und nicht die Gemeinde, das Getümmel und nicht die Stille waltet, so lange muß sich aller Umschwung in den Ungeist verstricken. Er hebt Herrschaftsformen auf (meist nur damit sie nach einer Weile unter anderm Namen wiederkehren), aber er verwandelt die menschlichen Beziehungen nicht, und so wird er immer wieder zuletzt dem Alten und Verrotteten dienstbar. »Geben wir uns keinem Zweifel hin,« schrieb Landauer im Juli 1914, »es steht heutigentags in allen Ländern so, daß die revolutionären Erregungen schließlich, wenn es zu den Ergebnissen kommt, nur der nationalkapitalistischen Machterweiterung gedient haben, die Imperialismus heißt; daß die revolutionären Erregungen, auch wenn sie ursprünglich sozialistisch gefärbt waren, doch mit Leichtigkeit von irgendeinem Napoleon, Cavour oder Bismarck in den Strom der Politik geleitet werden, weil alle diese Insurrektionen tatsächlich nur Mittel politischer Revolutionen oder nationalen Krieges, aber gar nicht Mittel des sozialistischen Umschwungs sein können, weil die Sozialisten sich in Wahrheit als Romantiker der Mittel ihrer Feinde bedienen, und Mittel zur Verwirklichung des neuen Volkes und der neuen Menschheit nicht üben und nicht kennen. So erleben wir es immer wieder, daß sie einer großen Volksbewegung die Stoßkraft geben, daß sie wie im roten Rausch sich halb von der Woge tragen lassen, halb die Woge lenken, – und daß, wenn es zum Ergebnis kommt, der graue Katzenjammer da ist: nationalistischer Kapitalismus ist mächtiger geworden oder hat sein Gebiet erweitert; von Sozialismus ist weit und breit keine Spur zu sehen.« Wohl schließt jede echte Revolution eine Regeneration ein, »und ohne diese vorübergehende Regeneration könnten wir nicht weiterleben und müßten versinken«; aber neuer Gestaltung wird sie erst dann den Boden freimachen, wenn »die Institutionen bereitet sein werden, in denen der Bund der wirtschaftenden Gesellschaften leben kann, der dazu bestimmt ist, den Geist auszulösen, der hinter dem Staate gefangen sitzt«. Und weil sie noch nicht bereitet sind, rief Landauer wieder und wieder den Völkern zu: »Käme heute euch Völkern allesamt der große Moment der Revolution auf einmal, wo wolltet ihr Hand anlegen? … Und gar, wenn die Revolution in einem einzelnen Land ausbräche? Was könnte sie nutzen? wohin könnte sie zielen?« So ganz erfüllt von der Tragik aller bisherigen Revolutionen – von der Tragik, die darin begründet ist, daß es noch nirgends einen Sozialismus als Wirklichkeit gibt – war Gustav Landauer, als die Reihe von Revolten ausbrach, die man die deutsche Revolution genannt hat. So war denn das Gefühl, mit dem er in sie eintrat, dem der geläufigen Hoffnung durchaus unähnlich; es war nicht Hoffnung, sondern ingrimmige Entschlossen-

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heit, in dieser Krisis zu tun, was ihm, nicht als einem geistigen Führer und Bahnbrecher, sondern als einem aus der kleinen Schar der rechtschaffenen deutschen Revolutionäre, zu tun oblag: am Segen der Revolution zu wirken, was er wirken konnte, vom Fluch der Revolution zu verhüten, was er verhüten konnte. Es war nicht seine Schuld, daß der Fluch, wie er vorausgesagt hatte, auch diesmal, und diesmal erst recht, den Segen erdrückt hat. Man hat behauptet, es hätte für Landauer in München gegolten, »sein Leben durch die Tat zu rechtfertigen, den Beweis zu erbringen, daß er mit dem, was ihn jahrzehntelang erfüllt hatte, auf dem rechten Wege war, kurz gesagt: die Probe aufs Exempel zu machen«. Unter all dem ungeheuerlich Falschen, das über Gustav Landauer nach seinem Tode verbreitet wurde, ist diese Behauptung mit das Falscheste. Das Leben eines reinen, schöpferischen Menschen bedarf keiner »Rechtfertigung«, und gar Landauers Leben, in dem Jahre stiller, getreuer, aufbauender Tat sich an Jahre reihten. Wer unter den heutigen Literaten, die richtende Worte im Munde führen, dürfte sich vermessen, vor solcher Tat zu bestehen? Den Beweis aber, daß Landauer auf dem rechten Wege war, konnte – das habe ich mit seinen Worten gezeigt – keine Revolution erbringen. Nein, diese Revolution war nicht seine Sache und konnte sie nicht werden; noch kurz vor dem Tode Kurt Eisners sagte mir Landauer, er sehe den Tag seiner Sache noch fern. Nein, es galt für Landauer nicht, die Probe aufs Exempel zu machen; es galt ihm, sich einzustellen, sich in Reih und Glied zu stellen, die Pflicht des Augenblicks, die Pflicht der Solidarität zu erfüllen, kurz gesagt: sich zum Opfer zu bringen. Als ein sich zu opfern Entschlossener trat Landauer in die deutsche Revolution ein. Er wußte, was er damit, wenn es aufs letzte kam, zum Opfer brachte: mehr als sein Leben – seine Sache, insofern sie auf seine Person gestellt war. Ob er damit recht getan hat, ist nach höheren Maßen zu entscheiden, als die die Zeitungsrichter anwenden. Ich habe zu bekennen, daß ich meine, er habe damit unrecht getan. Meiner Einsicht nach gab es am 7. November für Gustav Landauer eine höhere Pflicht und eine größere Verantwortung: eben die seiner Sache und damit der Sache der wahren Umgestaltung gegenüber. Denn was der revolutionierten Menge fehlte, wessen Fehlen sie zerriß und richtungslos machte, das war ein B i l d , ein ganzes, echtes, zulängliches Bild, das verwirklicht werden sollte und konnte: ein Bild von Einrichtungen, von Beziehungen, von Zuständen, das Bild einer neuen Gesellschaft; ein nicht willkürliches, nicht aus dem Intellekt konstruiertes, sondern rechtmäßiges, aus der Anschauung der geschichtlichen Zusammenhänge und der in der Tiefe des natürlichen Volkslebens erhaltenen Gemeinschaftskeime gewordenes Bild. In Ruß-

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land mit seiner Folge revolutionärer Geschlechter und der unmittelbaren Überlieferung ihres Werkes konnte in Ermanglung eines solches Bildes doch zumindest das Marxsche System mit echten Farben übermalt werden. In Deutschland, das ohne revolutionäre Tradition und ohne revolutionäres Leben war, blieb es ein bildloses Schema. Landauer hatte Bruchstücke eines Bildes geschaffen; jetzt war es an ihm, sie zur Einheit zu ergänzen. Er wußte es, er dachte daran, er arbeitete daran, er hat es während der Revolution angekündigt. Aber er beschloß nicht am 7. November, sich abzusondern und auf sein Werk zu sammeln, oder auch, wenn er es sogleich vermochte, sein Wort zu sprechen und den neuen vervielfachten Widerhall zu erwarten, oder auch die wahren Sozialisten zu vereinigen und aus ihnen nunmehr wahrhaft den Kern der neuen Gemeinschaft aufzubauen; sondern er beschloß, sich in die Bresche zu werfen, die eines Menschenleibes zur Ausfüllung bedurfte. Stärker als die Verantwortung vor der Zukunft bedrängte ihn die furchtbare Not und Problematik des Augenblicks; er erlag ihr. Ich glaube, daß er gefehlt hat; aber ich glaube auch, daß kein Mensch je aus reinerem Grunde gefehlt hat. Was er in der Revolution wollte, war – ich habe es gesagt – beides: wirken und verhüten; aber weit mehr verhüten als wirken. Seiner Anschauung von der Revolution gemäß dachte er nicht daran, seine positiven Ideen in diesem ihrem Stadium zur Geltung zu bringen. Ja, er hat sie Kurt Eisner, seinem Freund, erst kurz vor dessem Tode eingehend dargelegt. Er arbeitete vor allem daran, den Gefahren der Revolution, die er wie kein anderer klar erkannte, die Gegenkräfte des Geistes und der sittlichen Autorität entgegenzuwerfen. Zwei Grundgefahren waren es, die er erkannte: die der Versumpfung im Parteigetriebe und die der Selbstvernichtung in der Gewalttat und Gewaltgebärde. Die erste galt es zu bekämpfen in dem ersten, längeren Abschnitt der Revolution, von dem Augenblick an, da Landauer, wenige Tage nach ihrem Ausbruch, unmittelbar vom Krankenlager nach München kam und sich Eisner zur Verfügung stellte, bis zu dessen Tode; die zweite in dem letzten, kürzeren Abschnitt, der die wenigen Tage seiner Teilnahme an einer Regierungsverantwortung einschloß. Die erste dieser zwei Gefahren hat Landauer am 18. Dezember in einer Rede im provisorischen Nationalrat des Volksstaates Bayern mit den Worten gekennzeichnet: »Es kam das Schauspiel, daß die, die maßlos überrascht worden waren, die auch erschreckt waren, auf einmal sich wieder erholten, und sich sagten, nicht bloß sagten, sondern sofort in die Welt schrien: Es ist noch nichts geschehen.« Und weiter: »Das Schmachvollste an all dem, was jetzt so schnell, so fingerfertig, so mund-

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fertig vor sich gegangen ist, ist gerade das, daß die alten Parteien, die toten Parteien sich eingerichtet haben in dem, was die Revolution ihnen als Raum, als Sprungbrett zur Verfügung gestellt hat, und daß sie glauben, da können sie nun auch ganz gut wirtschaften.« Diese Gefahr, die seither der Revolution obgesiegt hat, schien es zeitweilig schon nach der Ermordung Kurt Eisners getan zu haben. Damals schrieb Landauer in einem Brief, die heroische Epoche sei zu Ende. Aber er wußte, daß die Revolution noch nicht zu Ende war. Wenige Tage danach schrieb er: »Es gilt, all die Gefahren der Revolution zu sehen und doch weiterzugehen: solange die Revolution lebendig ist.« Die Schwermut seiner Worte gibt die Seelenverfassung kund, in der Landauer sich bald danach zum zweiten Male opferte, indem er, an ihrer Zukunft fast völlig verzweifelnd, doch noch mit endgültiger Einsetzung seiner Person den Versuch machte, sie zu retten, sie vor allem vor ihr selbst, vor der Selbstvernichtung in der Gewalttat und Gewaltgebärde zu retten; er trat in die erste Räteregierung ein. Der Eintritt Landauers in die Revolution war mir als eine Verfehlung gegen seine Aufgabe erschienen. Sein Eintritt in diese Regierung war gewiß eine Verfehlung gegen die Vernunft. Er verbündete sich mit Menschen, von denen er in früheren Tagen, in der Zeit der unberührbaren Überlegenheit seines Geistes auf den ersten Blick erkannt hätte, daß in einem Zusammenarbeiten mit ihnen kein Werk, und gar dieses allerschwerste, schier aussichtslose, geraten konnte. Aber die Qual um den Zerfall der Revolution hatte offenbar Landauers Überlegenheit versehrt. Die Tage, die nun folgten, waren – darüber liegen untrügliche Äußerungen vor – die schwersten in Landauers vielfältig schwerem Leben. Rings um ihn war Zersetzung und Auflösung, Widerspruch und Widersinn: in den Massen, unter den Führern, in seiner nächsten Umgebung; er trug das Haupt hoch durch das Chaos und tat das Seine. Über diese Tage Landauers ist von sogenannten Berichterstattern eine Flut der öffentlichen Lüge ausgegossen worden, daß uns, die wir infolge der bisherigen Leistungen der Presse während dieser deutschen Revolution nicht mehr erstaunen zu können meinten, der Schauder überkam. Ich glaube nicht an dieser Stelle die Niedertracht widerlegen zu müssen. Die wahre Geschichte dieser Tage wird noch geschrieben werden. Landauer tat, ich wiederhole es, inmitten der allgemeinen Auflösung das Seine; und das war vor allem, sowohl während er an der Regierung teilnahm, als auch danach bis ans Ende, der Kampf gegen die Gewalttat und Gewaltgebärde. In diesem Kampf war sich Gustav Landauer, seit er selbständig zu denken begann, treu geblieben. 1901 hatte er geschrieben: »Ein Ziel läßt sich

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nur erreichen, wenn das Mittel schon in der Farbe dieses Zieles gefärbt ist. Nie kommt man durch Gewalt zur Gewaltlosigkeit.« 1914: »Jetzt kann es vielen klar werden, daß Freiheit und Frieden den Völkern nur kommen, wenn sie, wie Jesus und seine Nachfolger, in unserer Zeit vor allen Tolstoi, es raten, völlige Enthaltsamkeit von jeglicher Gewalt erwählen. Gewalt führt nur immer zu Gewalt.« Dieser Wahrheit diente er bis auf den Tod. Ich werde bis an meinen eigenen die Nacht nicht vergessen, in der ich, wenige Tage vor der Ermordung Eisners, unter der leidenschaftlichen Zustimmung Landauers einigen der Kommunisten, die später seine Nachfolger wurden, die zersetzende Rückwirkung der terroristischen Methode auf die mit ihrer Hilfe durchzusetzende Idee darzulegen versuchte. Wenn ich an jene leidenschaftlichen Blicke und Worte meines toten Freundes denke, weiß ich, mit welcher Seelengewalt er, als es galt, die Revolution vor sich selbst zu schützen, gegen die Gewalt gestritten hat. Die zwei Mächte, denen der Kampf seines Lebens gegolten hatte, der Staat und die Partei, taten sich zusammen, das letzte irre Flackern der Revolution niederzutreten. Es ist ihnen, wie es nicht anders gehen konnte, geglückt. Ihr Sieg brachte es, wie es bei solchen Siegen zu gehen pflegt, mit sich, daß Gustav Landauer getötet wurde. Er starb aufrecht, wie er gelebt hatte. Gustav Landauer war ein deutscher Jude. Er war, wie nur wenige und umfassende Menschen, wahrhaft Deutscher und wahrhaft Jude. So durfte er einmal von sich sagen: »Mein Deutschtum und mein Judentum tun einander nichts zuleid und vieles zulieb.« Man hat nach seinem Tode, wie so vieles an ihm, so auch sein Deutschtum und sein Judentum fragwürdig zu machen gesucht. Wie er zum Deutschtum stand, bekundet ein Brief, den er am 1. Oktober 1918 schrieb. Er weist darin auf die Legende hin, Karl der Große habe vom griechischen Kaiser die Dornenkrone zum Geschenk erhalten, und als der Behälter, der sie umschloß, geöffnet wurde, habe sie ein Tau vom Himmel befeuchtet, und sie habe Blüten getragen, von denen ein Duft ausging wie vom Paradiese. »Möge«, schrieb Landauer, »die Dornenkrone, die unser Reich sich nun verdient hat, uns und der Menschheit auch himmlische Blüten tragen.« Wie er zum Judentum stand, bekunde ich nach vielen Reden und Gesprächen. Er kannte das Siechtum seines Stammes und begehrte für ihn nach der Heilung. Er fühlte in sich den urjüdischen Geist, der zur Ve r w i r k l i c h u n g drängt, leibhaft gegenwärtig; er fühlte sich seinen Ahnen, den jüdischen Propheten und den jüdischen Blutzeugen, verbunden.

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Gustav Landauer hat als ein Prophet der kommenden Menschengemeinschaft gelebt und ist als ihr Blutzeuge gefallen. Er ist den Weg gegangen, von dem das Wort des Maximus Tyrius, das Landauer vor sein Buch »Die Revolution« gesetzt hat, sagt: »Hier siehst du nun den Passionsweg, den du Untergang nennst, der du nach dem Wege derer urteilst, die schon auf ihm fortgegangen sind, ich aber Rettung, da ich nach der Folge derer urteile, die da kommen werden.« In einer Kirche zu Brescia sah ich ein Wandbild, dessen ganze Fläche von Gekreuzigten bedeckt war. Das Feld der Kreuze dehnte sich bis an den Horizont, und an allen hingen Männer mannigfachen Wuchses und Angesichts. Da erschien mir, dieses sei die wahre Gestalt Jesu Christi. An einem der Kreuze sehe ich Gustav Landauer hängen.

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Der heimliche Führer Chawerim! Wir haben eben unserer toten Brüder in Erez-Israel gedacht und vor allem derer, die in Verteidigung unseres Werkes gefallen sind. Wir wollen aber auch des Mannes gedenken, der, ohne daß er uns eigentlich kannte, und ohne daß ihn die meisten von uns gekannt haben, doch unser heimlicher Führer gewesen ist: G u s t a v L a n d a u e r . Gustav Landauer war ein prädestinierter Führer des neuen Judentums und es ist ein Zeichen der Tragik unseres Schicksals, wie wenig anderes in dieser Zeit, daß er in der Wirklichkeit des Lebens nicht unser Führer geworden ist und daß er im fremden Lande, im feindlichen Lande, in der Arbeit, in der verzweifelnden Arbeit an einem aussichtslosen Aufbau neuen Lebens in diesem fremden, feindlichen Lande ermordet worden ist. Es ist eine Tragik unseres Schicksals, daß dieser Mann und die Sache, für die er geschaffen war, nicht zusammengekommen sind. Landauers Idee war unsere Idee. Es war die Erkenntnis, daß es nicht darauf ankommt, Einrichtungen zu ändern, sondern das menschliche Leben, die Beziehungen der Menschen zueinander zu verwandeln. Daß Sozialismus nicht etwas ist, was aus der Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse, aus irgendeiner automatischen Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse heraus entsteht, sondern daß Sozialismus etwas ist, was nie kommen wird, wenn es nicht jetzt und von uns getan wird. Das war die Idee Gustav Landauers und das ist unsere Idee. Und diese Idee hängt zutiefst zusammen mit dem Wesen dieses Mannes. Gustav Landauer war ein Mann, der ganz und gar bis in seinen Leib hinein mit allen Teilen seines Wesens auf unmittelbare Verwirklichung gestellt war, nicht auf Politik, sondern auf unmittelbares Tun und Leben. Und dieser Idee, diesem Wesen entsprechend, war Landauers heimliche unerfüllte Bestimmung, an dem Aufbau eines neuen Landes, an dem Aufbau eines Neulandes führend und lehrend teilzunehmen. Diese Bestimmung Landauers ist nicht erfüllt worden. Sein Schicksal war ein ganz anderes. Jahre, jahrzehntelang hat er in diesem fremden Lande, in dem er lebte, in dieser Seelenwüste, in der er lebte, umsonst gerufen. Und wenige, sehr wenige haben diesen Ruf wahrhaft mit ihrer Seele vernommen. Und dann kam das Ereignis, das man die deutsche Revolution genannt hat, und das im Grunde nur eine armselige Militärrevolte geworden ist. Gustav Landauer trat in diese Scheinrevolution eines fremden Volkes als Täter, als tuender Mensch ein. Er verkannte ganz und gar, daß der Blutkreislauf dieses fremden Volksorganismus ein ganz anderer ist, als seiner und unserer. Er woll-

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te das Tempo seines Blutes, den Rhythmus seines Blutes diesem fremden Volksorganismus aufzwingen, er und ein paar andere jüdische Menschen mit ihm. Und das ist nicht geglückt und konnte nicht glücken. Daran, nicht an äußeren Dingen, an dieser inneren notwendigen Tragödie ist Gustav Landauer zugrundegegangen. Und als die Scheinrevolution sich als das enthüllte, was sie war, glaubte er sie noch einmal retten zu können und irrte neuerlich. Er trat in die erste bayerische Räteregierung ein. Und als er ganz unmittelbar mit diesem Volke zu tun hatte, als dieses Volk ihm nicht mehr gegenüberstand, daß er es wie einen Horizont sah und als Ganzes idealisierte, sondern als er mit dem Menschen unmittelbar zusammentraf, da ging ihm die Erkenntnis auf. In diesen wenigen Tagen ging Landauer, das glaube ich aus Aeußerungen aus dieser Zeit entnehmen zu können, die Erkenntnis auf. Er schrieb in dieser Zeit an einen Freund einen Zettel, auf dem nur die Worte standen: »Welche Arbeit, welche Qual!« – Das war es. Das war die Qual der unmittelbaren Erkenntnis. Bald nachher geschah, was geschehen mußte. Er wurde zuerst beiseite geschoben, dann von den einziehenden Regierungstruppen gefangen genommen und von ihnen getötet. Und sein Herz, das Herz unseres Führers, wurde von der Stiefelsohle eines deutschen Soldaten zertreten. So war dieses Leben und so war es, daß er und wir nicht zusammengekommen sind. Er hat oft davon gehört, daß es ein Neues im Judentum gibt, er hat durch mich oft davon gehört, aber es war nicht unmittelbare Gegenwart für ihn, irgendwie war dieses Neue, das in dieser Versammlung heute fühlbar wird, ihm noch nicht fühlbar geworden. Vielleicht war er gerade in diesen letzten Tagen nahe daran, zu erkennen, daß es ein solches Neues gibt, denn für eben die Woche, in der Gustav Landauer in die Regierung eintrat, für eben diese Woche war nach derselben Stadt, nach München, eine Konferenz der jüdisch-sozialistischen Jugend einberufen worden, von Gustav Landauer und mir. Und auf dieser Konferenz wollte Gustav Landauer seinen Plan des sozialen Aufbaus Palästinas entwickeln. Vielleicht wäre es – wenn man so etwas aussprechen darf – vielleicht wäre dann diese Verbindung doch geschehen. Aber ich weiß nicht, ob man ein solches Wort aussprechen darf, denn im Grunde ist geschehen, was dem Sinne dieser tragischen Situation nach geschehen mußte. Und nun gedenke ich dieses Mannes hier und ich möchte, daß ihr seiner gedenkt in einem ganz bestimmten Sinn: Wir sind als Ganzes für diesen Mann doch noch nicht bereit gewesen, denn sonst wären wir ihm doch irgendwie sichtbar, fühlbar gewesen. Seien wir, die wir für den Lebenden nicht bereit waren, für den Toten bereit, für seine Lehre: für die Lehre des schöpferischen Sozialismus, die unsere eigene Wahrheit ist, endlich mit ganzer Seele bereit.

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Martin Buber-Abende. Erste Besprechung vom 24. November 1923. Diese fünf Abende, die wir gemeinschaftlicher Arbeit widmen wollen, sollen ein Versuch sein, ein Versuch besonderer Art. Wir wollen versuchen, ein Thema nicht als Gegenstand ausser uns zu behandeln. Sondern wir wollen selbst der Gegenstand sein; als gemeinschaftliche Menschen am Gegenstande arbeiten; mit seiner Wirklichkeit zu tun bekommen. Ein jeder von uns will, soweit es ihm gegeben ist, an der gemeinsamen Arbeit teilnehmen. Nicht etwa so, dass einer von sich verlangen soll, zu reden. Sondern so, dass wen es drängt, etwas zu sagen es sagen soll. Es ist aber auch nicht so, dass der, der eine gedanklich festgelegte Meinung hat, diese Meinung äussern soll. Das wäre zu wenig. Sondern es ist so, dass wenn einer mit seinem Wesen etwas weiss, er es sagen soll: ohne Rückhalt. Die Abende sollen auch nicht Vortrags- oder Diskussionsabende sein, an denen ein »Lehrender« »Lernende« belehrt, an sie etwas Fertiges heranbringt, zur Mehrung ihrer Kenntnisse. Das wäre heute, in einer Zeit, wo es nichts Gegossenes, Festes, mehr giebt, wo kein mitgebrachter Halt ausreicht, nutzlos. Wir wollen nicht, dass uns ein Lehrender von oben Kenntnisse, oder sogar Erfahrungen herunterreicht. Ein solches Lernen kann nicht helfen, den Weg zu gehen. Was wir wollen ist zusammen gehen. Dieses sollte möglich sein; ist möglich, wenn ein jeder von uns sich selbst als Beitrag mitbringt. Wir wollen miteinander von der Gemeinschaft sprechen. Beim sprechen wollen wir auf zweierlei achten: Wir wollen erstens begriffskritisch sein. Das heisst: Wir wollen keinen Begriff anwenden, ohne uns dabei etwas Wirkliches, Gegenwärtiges, vorzustellen. Und wir wollen es auf uns nehmen, sofort Einspruch zu erheben, wenn wir eine solche Vorstellung mit einem geäusserten Begriffe nicht verbinden. Wenn ein Begriff genannt wird, so stellt ein jeder sich darunter etwas vor. Zwischen diesen verschiedenen Vorstellungen besteht Spannung. Diese Spannung ist uns wertvoll. Wirkliches Sprechen geschieht aus Spannung. Sprache ist nicht Gemeinsamkeit, sondern Mannigfaltigkeit. Sie ist lebendige Dynamik, Geburt. Die fruchtbare, wesenhafte Verschiedenheit des Meinens soll durch die Sprache zum Ausdruck kommen. Das Factum der Spannung soll uns Anregung sein weiter, zu einem Anderen, zu kommen. Wenn unsere Arbeit

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glückt, so werden wir nicht bei diesem Factum stehen bleiben. Wir werden zu etwas anderem kommen. Unser Gespräch soll so sein: Wenn der Eine fragen muss, oder sagen muss, so soll der Andere, der eine gleichgerichtete oder gegenteilige Erfahrung weiss, – nicht: Meinung hat – sie äussern. So wollen wir Fragen, die sich uns aufdrängen, besprechen. Und dann wollen wir zweitens nicht nur begriffskritisch sein, sondern wir wollen darüber hinaus auch Begrifflichkeitskritik üben. Das heisst: Wenn wir uns einen Begriff erobert haben, wenn er uns tragfähig erscheint, so wollen wir uns jedes Mal und immer wieder fragen: Ist das die Wirklichkeit? Diese Frage können wir nur beantworten aus unserem Innersten heraus, aus innerster Erfahrung. Wir meinen dabei nicht aus der Erfahrung des Einzelnen im Gegensatz zur Erfahrung der Welt, nicht aus abgelöster Selbsterfahrung, sondern wir meinen im Gegenteil, Selbsterfahrung aus dem Kontakte mit dem Anderen. Wir meinen wohl aus dem Innersten des Einzelnen, jedoch nicht von der Welt gelöst, sondern mit ihr verbunden. Was ist Gemeinschaft?

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Ist es gedankliche Bewusstheit der Gemeinsamkeit? Ist es gefühlsmässiges Verbundensein und das Wissen um dieses Verbundensein? Oder ist es mehr noch? Ist es das mit dem Wesen Erfahren des anderen Wesens. Ist dieses wesenhafte Erfahren Gemeinschaft? Oder genügen Gedanke, Gefühl und Erfahrung noch nicht, damit Gemeinschaft sei? Muss nicht zu dem wesenhaften Verstehen, das zwischen Zweien besteht, noch ein Drittes hinzukommen? Gnadenartig? Ein Drittes, Lebendiges, für sich Seiendes? Das Dritte muss sein. Damit Gemeinschaft sei, müssen beide Wesen durch ihre Beziehung zueinander in eine Beziehung zu dem Dritten treten. Erst dann entsteht Gemeinschaft. Gemeinschaft ist also, wenn Mehrere zusammen Etwas haben, was etwas Anderes ist, als die Summe der Anteile. Dieses Andere, die Gemeinschaft, ist nicht Resultat, nicht Produkt, nicht abgezogen aus dem Tatsächlichen. Sie ist viel mehr das Primäre. Sie ist das Ursächliche, das Ewige. Giebt es die Realisierung der Gemeinschaft, die Verwirklichung des Ewigen? Es giebt die Sehnsucht nach der Erfüllung und es giebt die Vorwegnahme der Erfüllung. Wenn wir in uns einen Hinweis auf das Vollkommene und gleichzeitig Wirkliche erkennen, so ist Gemeinschaft für uns

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als Wirklichkeit erfassbar. Die Vorwegnahme der Vollendung ist der Weg zur Vollendung, der Weg, mit den Merkmalen der Erfüllung und der Schwermut des Unerfülltseins. Beides zugleich. Beides Wahrheit und Wirklichkeit. In der Ebene des Denkens giebt es solche zwiefache Wahrheit nicht. Es giebt immer ein Entweder-oder. Entweder ist nur das Eine wahr, oder ist nur das Andere wahr. Beides zugleich ist nicht »denkbar«. Im wirklichen Leben ist es anders. In der Wirklichkeit ist Beides zugleich wahr. (Z. B. ist der Mensch frei und er ist – zugleich – anheimgegeben.) Und so ist es auch in der Wirklichkeit Gottes: Die Gegensätze umschliessen einander; sie fallen zusammen. Gott ist zugleich in aller Wahrheit ausser und in der Welt. Es giebt einen Weg Gottes durch die Welt, ein Werden des in Ewigkeit seienden Gottes in der Welt, ein Schicksal des schicksallosen Gottes in der Welt. Gott wird einst Alles in Allem sein. Diese Lehre – sie ist nicht theologisch zu verstehen und sie darf auch nicht erstarren zu anwendbaren Begriffen – sagt, dass bei völliger Wahrung der Geschiedenheit, ohne Milderung, ohne Abschleifung der Getrenntheit der Wesen, aus ihnen Reich wird; Vereinung. Die Welt schliesst sich zusammen zum Bilde Gottes, zur Darstellung Gottes. Wenn wir das verstehen, so verstehen wir welche Verheissung in einer jeden Vorwegnahme liegt: Hingehenwollen der Kreatur zur Uebereinung. Gemeinschaft ist Geschehen um die lebendige Mitte, um die Einheit, die sich verwirklichen will. Durch das Factum der Radien – also nicht durch die Beziehung der Einzelnen zueinander, die noch nicht Gemeinschaft ist – schliesst sich der Kreis; wird Gemeinschaft. Diese Mitte ist nicht etwas, das wir uns denken oder Wegdenken können. Sie ist das Wirkliche, das wir nicht handhaben, sondern dem wir uns nähern oder von dem wir uns entfernen können. Das Wirkliche, das Reich, kommt nicht zum Menschen. Der Mensch muss zu ihm. Es kommt darauf an, was der Mensch tut. Es entscheidet sich dadurch, dass er sich entscheidet. Der Mensch findet sich in einem richtungslosen Leben vor. »Das Böse«, das ist die Richtungslosigkeit, der Wirbel. Daraus und dem gegenüber giebt es die Richtung – nur eine Richtung und nicht etwa Richtungen –, nämlich die Richtung auf Gott hin. Dieses Wissen ist nicht Gesetz. Als Gesetz könnte es nicht ausgesprochen werden. Es wäre sofort falsch. Frage: Kann Gemeinschaft gewollt werden? Nein.

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Gemeinschaft kommt nur zu Stande, wenn sie nicht »gewollt« wird; als Nebenerscheinung; nicht bewirkt, verursacht. Das Wollen, Bezwecken, der Gemeinschaft schliesst sie aus. Wollen, erstreben, ersehnen, kann man nur Gott. Weil er ist.

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Martin Buber-Abende. Zweite Besprechung am 26. November 1923. Beantwortung der Fragen: Menschen die aus Not und Drang zusammen gekommen sind, können zur wirklichen Gemeinschaft dadurch kommen, dass sie als Einzelne eine elementare Beziehung zueinander haben & sich in einer objektiven Situation befinden. Nicht nur in einer Menschennot, sondern in einer gemeinsamen Not, kleine Kundgabe der Weltnot. »Kann man Gemeinschaft tun?« Nein, man kann sie auch nicht wollen – nur Gott wollen. Gott wollen heisst aber nicht, Gott für sich haben, das wäre Vermessenheit! Gott kann nicht zum Objekt des Triebes gemacht und gebraucht werden. Gott wollen heisst die Verwirklichung Gottes in der Welt wollen, da die Welt die Stätte seiner Verwirklichung ist. Es heisst auch Gemeinschaft wollen, die Einheit mitbereiten wollen. Es bedeutet aber nicht die Einzelseele verstehen. Gemeinschaft ist das Geheimnis der Objektivität, etwas wirkliches geschieht zwischen den Seelen, es begiebt sich etwas zwischen Ihnen. Gemeinschaft ist nicht mehr seelisch, sondern ist das Faktum zwischen den Seelen, die Seele hat bloss dienende Bedeutung demgegenüber, das in der Mitte steht. Der Lehrer sucht keinen unmittelbaren Kontakt mit seinen Zuhörern, er bemüht sich den Gegenstand rein wesenhaft zu erfassen, aber er befasst sich mit dem Gegenstand »zu Menschen sprechend«. Es ist ein »Ansprechen« eine Vergegenwärtigung des Du. Beim wirklichen Sprechen ist das nicht nur das Wort in uns, sondern wir stehen im Wort, ein jeder mit seiner Spannung, die Sprache ist etwas Ewiges. – Gibt es Einsamkeit des Menschen vor Gott? Der Mensch befasst sich nicht mit Gott, Gott ist kein Gegenstand. Wenn er wesenhaft vor Gott steht, geschieht am Menschen etwas. Gott offenbart nicht sich – er entsendet den Mensch zur Welt. Der Entsendete steht in der Offenbarung und Gott bleibt ihm gegenwärtig. Die Askese hat ihr Ziel in sich selbst, diese Versenkung ist Abspiegelung – ein Ichvorgang. Dieses Wahn- oder Traumphänomen hat nichts mit der Wirklichkeit Gottes zu tun – Die wirkliche Versenkung ist nur Bereitung, Sammlung. Wer mit Gott ist, ist auf die Welt, auf die Gemeinschaft hingewiesen. – Ueber die Gemeinschaft mit Fernbleibenden oder gar mit Toten, giebt es keine Aussage, der Einzelne kann es erfahren. Das Geheimnis des Todes will gewahrt werden, es wäre Entheili-

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gung, das mitteilen zu wollen. Gewiss giebt es aber eine Gemeinschaft alles Seins. Und jetzt müssen wir einen Schritt weiter gehen. Wir müssen auf die Erfüllung zugehen. Die sinnvolle Vorwegnahme, die daraus hervorgeht, nennen wir im persönlichen Leben Gemeinschaft – wir müssen tun, was an uns ist – die Grenzen unseres Tuns am Tun selbst ermessen. Das Verhältnis von Wille und Gnade wird nur experimentell ermittelt. Durch Wagnis erfährt der Mensch was die Gnade mit ihm zu tun hat, worum er sich zu kümmern hat. (Wille). Eine falsche und eine wirkliche Autonomie wird unterschieden: die falsche Autonomie verfährt so als ob es nur den Menschen gäbe; er könne das Rechte von sich aus, der Geist stelle sich in der Entwicklung ein – Die wahre Autonomie weiss, dass der Mensch in der Vorläufigkeit lebe und nicht von sich aus das Gesetzhafte hervorbringe. Wir gehen wohl von uns aus, versuchen was wir können, der ewige Geist will dass wir Geist zeugen, Geist aus uns hervorbringen, Geist in seiner menschlichen Form. Wir haben die Wahrheit werden zu lassen, soweit wir können; wir sind nicht ins Sein gestellt, durch das Werden nähern wir uns dem Sein.

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Wir gehn zu einem neuen Abschnitt über. Was wissen wir vom Staat? Ist der Staat eine Gemeinschaft? Staat, Status, ist der Stand, der Zustand des noch nicht Verwirklichtseins der Gemeinschaft: das Gesetz (Losung, Sprache des Staates) ist da für das, was noch nicht verwirklicht ist. Die Zentralisierung ist die Charakteristik des modernen Machtstaates (sie hat sich durch die russ. Revolution z. B. nicht verändert). Im Staat kann etwas geändert werden, der Staat selbst aber ändert sich nicht, jedenfalls nicht wenn nicht eine Aenderung am Leben der Menschen in der Gemeinschaft entstanden ist.

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Die Wirklichkeit, die dem Staat gegenüber steht ist die politische Gemeinde. Aus der ursprünglichen Verbundenheit des Primitiven (gewiss eine Art Gemeinschaftlichkeit) aus der historischen Gemeinschaftlichkeit sind Reste am Leben stehen geblieben – unter anderem die Gemeinde. Hier ist die Anlage zur Gemeinschaft in der politischen Sphäre. Ein Bund solcher wirklicher Gemeinden zueinander ergäbe etwas anderes, als der moderne Staat, nämlich eine verwirklichte Gemeinschaft. Ein

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Minimum vom Zentralismus (Verkehr, Verwaltung) dürfte erhalten bleiben. Die wirkliche Gemeinschaft kann nur aus den menschlichen Beziehungen gebaut werden. Zwischen den Menschen herrscht überall das falsche, das Verhältnis des »Gebrauchen wollen« besteht statt Beziehung. Eine wirkliche Beziehung zwischen dem Wähler und seinem Repräsentanten tut not. Es gilt am Grundverhältnis zum Mitmenschen und am eigenen inneren Staat – das, was noch nicht geworden ist, anzusetzen.

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Frage: Ob der Staatsbegriff Dr. Bubers nicht zu einseitig, zu negativ sei. Der Staat ist doch entstanden im Augenblick wo sich aus der ursprünglichen Gemeinschaft einzelne starke Individualitäten herausdifferenzierten. Aus Kompensation dazu musste die Gemeinschaft durch den Zwang des Staates gesichert werden. Diese regulative Funktion des Staates wurde in unserer Zeit konstitutiv, Selbstzweck. Das ist das Gefährliche, aber nicht die Funktion an sich. Es muss doch immer eine regulative, zentralisierende, organisierende Funktion bestehen, schon damit die grossen wirtschaftlichen Wechselbeziehungen zustande kommen können. Antwort: Hier ist zu trennen zwischen einer terminologischen und einer realen Fage. Es ist terminologisch zweckmässiger die grossen Gebilde, die den wirtschaftlichen und anderen Wechselbeziehungen dienen und die selbstverständlich immer bestehen müssen nicht als Staat zu bezeichnen. Die dynamischen Verhältnisse werden deutlicher, wenn wir den Begriff Staat reservieren für die Ansammlung der Machtmasse in einem Zentrum, bei der die lebendigen Zellen, die Gemeinden, nur noch unwesentliche Machtbefugnisse erhalten. So ist eben der heutige Staat und dieser Staat entspricht auch dem faktischen Nichtverwirklichtsein der Gemeinschaft. So viel Zwang ist noch nötig. Zwang ist aber immer etwas Zentralistisches. Der richtige Zustand wäre, dass die Machtbestimmung den Gemeinden zuerkannt und dass dem Zentrum nur so viel Macht gelassen würde, damit der Zusammenhalt des Gemeinwesens gesichert sei. Die andere Frage ist die reale Frage nach dem Ursprung des Staates. Es ist durchaus richtig, dass die Differenzierung (aber die Differenzierung, die vom Geist nicht bewältigt wurde), durch den Zwang des Staates bewältigt werden musste. So entstand Zentralgewalt, um die Herausbrechenden, die Verbrecher, niederzuhalten. Aber noch aus einer anderen Ursache konnte Zentralgewalt entstehen: dadurch, dass man aggressiv gegen eine andere Gemeinschaft vorging. Je stärker die Tendenz zur Oppression und Aggression, umso mehr Zentralisation ist von Nöten. Eine Frage für sich ist die, wie viel Zentralisation ist noch nötig und soll sie staatlich sein? Es gibt nötige Zentralisationen: Verteilung der Rohstoffe Administration u. s. w. Aber diese Zentralisationen sollen kei-

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ne staatlichen Machtansammlungen sein, sondern technische Angelegenheiten. Vor allem dürfen die einzelnen Zentralisationen nicht unter einander zentralisiert werden. Sogar die Polizei sollte dezentralisiert werden. Wenn einmal alle die künstlichen, zwanghaften, staatlichen Gebilde wegfallen, deren Grenzen künstlich durch die heutigen politischen Grenzen gebildet werden, dann entstehen zwanglose zwischengemeindliche Gebilde, die dann wirkliche Gemeinwesen sind. Frage: Was sollen wir jetzt und hier dem Staate gegenüber tun? Antwort: Man muss mit sich selber anfangen und das falsche Prinzip des Gebrauchenwollens überwinden innerhalb seiner eigenen Person und seiner persönlichen Beziehungen. Das ist die wesentlichste Betätigung und wirkt von selber auf die Gemeinde. Dann aber gibt es eigentlich politische Aufgaben. Erstens dass man sich wirklich um die Gemeinden bekümmert und ihnen mehr Wirklichkeit zu bringen sucht. Zweitens, dass man eine unaufdringliche, inoffizielle Propaganda der Wahrheit treibt. Die Frage nach dem Verhältnis zu den politischen Parteien wird noch offen gelassen. Frage: Ob Steiner mit seiner Dreigliederung nicht etwas Richtiges im Sinne hatte. Antwort: Steiner will das noch verstaatlichen, zentralisieren, was bis jetzt noch frei war. Der Mensch wird aufgeteilt unter drei parlamentarisierte, zentralisierte Staaten: Rechtsstaat, Wirtschaftsstaat, Kulturstaat. Es ist die richtige dreigeteilte Hölle. Frage: Ob die Dorfgemeinde nicht in grösserer Vollkommenheit Gemeinschaft darstelle, als die Stadt. Antwort: Gewiss, aber nicht so, dass wir nun aus der Stadt ins Dorf flüchten könnten. Das Dorf ist eben noch näher an der primitiven Gemeinschaft. Die Stadt ist die Form, die der Differenzierung entspricht. Wir können nicht hinter die Stadt zurückkehren, wir müssen die Stadt selbst überwinden. Die Diskussion wird zusammengefasst durch Lektüre aus der Schrift: Gemeinschaft erschienen 1919 im Dreiländer Verlag, Seite 15 bis 23. Nun wird übergegangen zu einem Problem, das eine Schicht tiefer liegt: das Problem der Kultur. Die Wirklichkeit des Problems wird uns fühlbar wenn wir an Kultur im prägnanten Sinn denken, also an Zeiten, die Kultur hatten. Kultur tritt dann auf, als Ausdruck der Berufung einer Gemeinschaft. Am Anfang jeder Gemeinschaft ist das Geheimnis der Berufung, dadurch entsteht Gemeinschaft, dass einer Schar Menschen etwas widerfährt, das nicht aus ihr heraus stammt. Indem diese konkrete Gemeinschaft aufsteigt in

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eine Zeit der Reife, wo sich um das Geheimnis der Berufung herum alle Elemente der Welt schliessen zu einem Kosmos, zu einem Weltgehäuse – dadurch entsteht eine Kultur. Kultur ist ein menschlischer Kosmos, ist Hauswerden der Welt um das Geheimnis herum. An zwei Beispielen wird dieser Gedanke verdeutlicht: an der mittelalterlichen und an der griechischen Kultur. Die mittelalterliche Kultur muss zeitlich gerechnet werden bis in die Mitte des Quatrocento. Sie hängt damit zusammen, dass der Mensch sich in einer endlichen Welt fand, die vom Geist aus gebildet wurde. Der Christ befindet sich in einem Weltgehäuse, in dem das Coordinatensystem des Kreuzes steht. Der Längsbalken ist der Raum, der Querbalken die Zeit. Ueber dem Menschen wölbt sich der feste, firmamentartige Dreifaltigkeitshimmel. Unter ihm in der Erde ist die in Wirbeln sich ausbauende Hölle. Die Achse geht durch das Herz eines jeden sündigen Menschen. Dem entspricht in der Zeit das Eingespanntsein zwischen Schöpfung und jüngstem Gericht und in der Mitte der Erlösungstod Christi. Der gotische Turm weist nicht zum astronomischen Sternenhimmel, sondern zum Dreifaltigkeitshimmel der Christen. So lebt der Bauer – Ueberrest der vergangenen Zeit – noch heute in einer Welt, in der die Sonne sich dreht. Nur wir eigentlich moderne Menschen leben in einer Welt, die überall räumlich und zeitlich vom Grauen der Unendlichkeit durchzogen ist. Von einer römischen Kultur im prägnanten Sinn kann man nicht sprechen. Der Staat hatte nie kulturelle Funktion, die einzige Aeusserungsmöglichkeit des römischen Staates war sich zu codifizieren. Dass Kultur nur mit der Existenz wirklicher Zellen, Gemeindewesen, zusammenhängt, wird deutlich aus der Betrachtung der griechischen Tragödie. Aus zwei Ansätzen entstand sie: 1. Aus den Umzügen des Dyonisos, wobei die Teilnehmer sich als wirkliches Gefolge des Gottes empfanden. 2. Aus dem Totenkult, der Klage um den toten Heros. Die Bindung dieser zwei Elemente in einem nichtumkehrbaren dramatischen Vorgang geschah von den eleusinischen Mysterien aus. Das eigentliche Drama entstand dann aber dadurch, dass dem Dichter ein Chor anvertraut wurde, eine Gemeinde, und dass die Aufführung als einmaliger Akt geschah und als wirklich sich ereignender göttlicher Vorgang von der versammelten Stadtgemeinde empfunden ward. Daraus, dass etwas vorging zwischen wirklicher Menschengemeinde und den Göttern, geschah der Mythos. Für die griechische Kultur ist es aber bezeichnend, wie schnell der Mythos Literatur wurde. Euripides, der Literat reicht noch in die Lebenszeit des Aeschilos, des Sehers, hinein. Der griechische Mythos hatte zum Inhalt das Schicksal. Der griechische Schicksalsbegriff ist perspektivisch. Es gibt immer grössere Tiefen

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des Schicksals, zuerst das kleine Schicksal der Menschen, dann das grössere Schicksal der Geschlechter, dann das noch grössere Schicksal der Götter, das zuletzt noch überwölbt wird von dem unerkennbaren höchsten Schicksal. Aber mit dieser Perspektive in der Zeit war verbunden, das, was die oberflächlichen Betrachter als das eigentliche Wesen des Griechentums anschauen: die geschlossene Raumgestalt. In dieser Einbauung der Schicksale in den geschlossenen Raum beruht auch das Wesen der Polis. Sie war nicht Harmonie, sondern tragische Gemeinde, die auf der Ausschliessung der Sklaven stand. In aller Pracht und Herrlichkeit lebt dieses Urschicksal dass sie auf Bändigung und Unterdrückung gebaut ist; dass im zitternden Unterbau beständig zu spüren ist, wie unter dem Boden das gefesselte Volk lebt. Aber umso ausschliesslicher wirkt sich die Geschlossenheit des Raums aus, die ganz unter der Hegemonie des Gesichtssinnes steht. Auch hier zeigt sich das Wesen der Kultur: dass sie die Auesserung des Geheimnisses einer Gemeinschaftsberufung ist. Kultur gibt es überall und immer in dem Masse, je mehr eine Gemeinschaft des Geheimnisses ihrer Berufung so inne wird, dass sie es äussern muss.

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Alles kommt darauf an, dass tief innerlich erfasst werde: Es ist nicht möglich, fiktiv zu betreiben, was seinem Wesen nach Wirklichkeit ist. Das, um was es uns geht, kann deshalb nicht anders, als aus aktiven Beiträgen entstehen. Es kann allerdings auch schweigsam beigetragen werden, da die ganz schweigende, aber wirkliche Bereitschaft auch ein Beitrag ist. Ein Erlebnis, reizvoll während es erlebt wird und erfreulich, als aufbewahrte Erinnerung, ist von diesen gemeinsamen Stunden nicht zu erwarten. Wer hofft etwas aufzunehmen, erleben zu können, wird getäuscht werden. Das, worauf es uns ankommt, ist Heran- vielleicht Hereinführung in etwas, das wirklich umgebend wirklich ist, etwas, an das der Mensch heran oder wenn es ihm gewährt wird, in das der Mensch hereintreten kann. Das bedeutet aber, dass nicht blos aus dem Augenblick, den wir jetzt erleben, gesprochen werden kann, sondern dass wir uns äussern müssen aus dem ganzen Menschentum, aus allem Wissen himmlischer und höllischer, gewichtiger und flüchtiger Gemeinschaft, die uns wurde. Wir haben an unsere Aufgabe nicht als an etwas ganz neues heranzutreten, wohl aber aus der ganzen Wirklichkeit Menschenblutes und Menschengeistes, die uns bis hieher getragen hat. Es gibt nichts Neues, das nicht echt Anknüpfendes und Fortsetzendes wäre. Es geht zu tiefst auch um ein Wissen dessen was war und werden will, dessen was ewig ist und zeitlich werden will. Es ist aber auch möglich, all dies sehr wohl zu verstehen, dieses Wissen trotzdem einfach einzureihen in das Gewusste, in das, was der Mensch gesichert besitzt. Wer dies tut, wer dieses Wissen mit dem Gewussten identifiziert, der irrt. Wenn uns aus diesem Wissen nicht Unruhe, Pein, Schicksal und Widerspruch aufsteigt, so haben wir es nicht gewusst, so wissen wir es nicht. Das was zu wissen ist in dieser Wirklichkeit, an die wir rühren, das ist Unruhe, Pein und Widerspruch; es ist eine gewaltige Unzufriedenheit mit uns selber, ein Stachel. Es geht um die Bereitschaft um der Bereitung willen. Der spricht ist ein Geringes, aber das spricht, ist nichts Geringes. Es geht letztlich um ein Angerufenwerden, um ein Aufgerufenwerden, dem wir in unserem Wesen, in unserem wesenhaften Bereitsein antworten müssen: Hier bin ich. Je nachdem ob dies geschieht, redend oder schweigend, mit Leidenschaft oder mit Ruhe, je nachdem geschieht das, um dessentwillen wir zusammengekommen sind oder es wird verfehlt. Anknüpfend an die letzte Besprechung, in der das Symbol des Kreuzes

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erläutert wurde, wird dann gefragt, ob jede wahre Gemeinschaft zum Symbol gelangen müsse, das das Geheimnis ihrer Berufung darstelle. Antwort: Es ist in der Tat so, dass ein Symbol in diesem Sinne erwächst. Es ist jedoch wichtig, sich über den Ernst, der damit verbunden ist, klar zu werden. Das Symbol wird in unserer Zeit leicht als aesthetische Kategorie betrachtet, als sinnliches Vertretungsbild irrealer geistiger Konzeptionen. Demgegenüber kommt das wirkliche Symbol aus der Wirklichkeit und zwar aus äusserstem Vorgang. Ein Symbol kann man sich nicht wünschen, es kommt auch nicht aus irgendeinem künstlerischen Trieb, aus dem Bedürfnis nach sinnlichem Ausdruck. Das Symbol kommt aus wirklichem Vorgang am und im wirklichen Schicksal. Es heisst dann: – hier ist es um das Letzte gegangen. Die Entstehung des Symbols hat immer mit Tod, mit dem Sterben eines Menschen und mit Wahrheit zu tun. Wenn Leben und Sterben eines Menschen mit dem zusammenhängt, aus dem für Menschen Gemeinschaft entsteht, dann entsteht für diese Menschen ein Symbol. Dabei ist nichts, was mit der Befriedigung inneren aesthetischen Gefühls zu tun hat. Symbol ist etwas, was aus der Letztheit unseres Menschentums, aus der Letztheit, die unmittelbar an das Andere streift, herauskommt. Ein Beispiel aus der Sphäre des Judentums ist das Symbol der Lade. Jeder jüdische Tempel ist auf die Lade zu aufgebaut, wie die christliche Kirche auf den Altar zu. Die Lade ist heute der Schrein, in dem die Schriftrollen verwahrt werden. Es ist dies eine Umbildung. Ursprünglich war die Lade der Schrein, über dem, zwischen den beiden Cherubien, die Schechina thront. Es ist dies die Einwohnung Gottes in der Welt: Einwohnung durchaus real gemeint. Dieses Symbol hängt zusammen mit der primitiven Lade, die beim Auszug aus Egypten durch die Wüste vorausgetragen wurde. Es sind darin ausgedrückt die vierzig Jahre Wüste, mit dem Leben und Begrabenwerden der Geschlechter, – endend mit dem Tode Moses. Er, der Führer, auch noch bestimmt zum Schicksal der vorsterbenden Geschlechter. Dieses Sterben ist nicht beiläufig, sondern höchst gemeint. Dieses Sterben angesichts des gelobten Landes hat den Charakter der Letztheit. Es wird berichtet, Moses sei im Kusse Gottes gestorben, er habe seine Seele nur Gott selbst geben wollen und Gott hatte sie aufgesogen. Das bedeutet die Letztheit in der das Andere gestreift wird. Die Lade ist das Symbol des Bleibens in allem Wandel. Frage: Ist ein solches Sterben auch Voraussetzung künftiger Symbole? Hat nicht Christus den Tod überwunden, so dass es dieses Wesentlichen nicht mehr bedarf? Antwort: Es ist da etwas Bedeutsames geschehen, doch ist die Welt wohl nicht vom Tod erlöst worden, der Tod ist nicht aufgehoben wor-

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den. Es ist, als wenn wir den Tod, der das ganze Leben durchzieht, erst seither zu kosten bekommen hätten: – den Tod, der sich summiert aus dem Leben, der sozusagen das Facit zieht. Dieses Leben, das eigentlich nichts anderes bedeutet, als lebenslängliches Sterben, das ist uns wohl erst seither geworden. Es ist am besten, man bleibt in der Unsicherheit und bleibt auf alles gefasst. Frage: Ist mit diesem Sterben nicht einfach das höchste Opfer, also nicht nur der Tod gemeint? Antwort: Sicherlich nicht blos der Tod als Tod. Es ist irgendwie das Opfer damit verbunden. Dieses sterben wurzelt irgendwo in einem Sich opfern, in einem geopfert werden, in einem Versagt-sein. In der dogmatischen Auslegung des Todes Christi liegt eine Verengerung. Dieser Tod ist nur im Zusammenhang mit den letzten Worten zu verstehen; darin ist das Opfer aber auch das, was über das Opfer hinausströmt. Es liegt auch die Menschlichkeit des sich nicht Opferns darin. Frage: Wie haben wir die Mahnung, dass wir mit dem Sterben ernst machen und das Ende annehmen müssen zu verstehen, im Zusammenhang damit, dass wir dann auch wissen dürfen, dass wir nie sterben müssen? Antwort: Der Tod ist das Eingehen in das Geheimnis. Davon dürfen wir nichts vorweg nehmen, das wäre eine Entheiligung. Wenn wir unerbittlich mit dieser spielhaften Auffassung aufgeräumt haben, dann dürfen wir wissen, dass der Tod Eingehen in das Geheimnis, in die Ewigkeit, in Gott, in das ewige Leben bedeutet. Wir verlieren die Pein im Angesicht des Todes, wenn wir auf den Tod zugehen, als auf Gott zugegangen. Dieser Weg auf das Ewige zu, ist ein schmaler Grat. Beidseitig ist Abgrund. Nur mit der Beziehung selber kann man ohne zu straucheln Fuss vor Fuss weitergehen. Wer glaubt er kenne sich aus, er habe Boden, der hat noch eine lange Schule nötig. Anknüpfend an die letzte Besprechung: Es ist darauf aufmerksam zu machen, wie tief der gotische Dom mit dem Gemeindehaften zusammenhängt. Zu einem solchen Bau gehört eine wirkliche Stadtgemeinde, d. h. eine gemeindehafte Einheit, die sich aus kleineren gemeindehaften Einheiten aufbaut. Das Gemeindehafte geht hinein bis in die Häuser, jede Familie ist gemeindehaft. Die Stadtgemeinde äussert sich wirklich in dem Auftrag, den sie erteilt. Dieser Auftrag geht durch viele Geschlechter. Dabei bleibt die Einheit der Gemeinde und gewährleistet die Einheit des Baus. Das Bauen geschieht wohl von den Baumeistern aus; diese sind jedoch nicht Künstler in unserem Sinne, solche, die im Atelier Grundrisse machen, sondern Führer des wirklichen Bauens. Die Lehr-

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linge scharen sich um den Meister als wirkliche Gemeinde. Es ist eine Werk- und Lerngemeinde zugleich. Sie lernen vom Meister nicht blos das Hand- und Kopfwerk, – sie lernen von ihm alles, was man von einem Menschen lernen kann, wenn man mit ihm lebt. Von einem chassidischen Rabbi, den er besuchen wollte, sagte einer: Ich bin nicht zu ihm gefahren, um von ihm zu lernen, sondern um zu sehen, wie er seine Schuhriemen knüpft und löst. In diesem Zusammenhange wird uns klar, wie Kultur im prägnanten Sinne mit Gemeinschaft zusammenhängt. Es gehört zweierlei dazu. Das Vorhandensein wirklicher Gemeinden und den Glauben an die Wirklichkeit. Beides schwächt sich mit der Zeit ab. Damit schwächt sich die Wirklichkeit der Kultur ab. Es folgt eine Tendenz zur Verselbständigung der Kultursphären. Diese Sphären sind in der Kultur auf einander bezogen, sie sind eingefügt, sie dienen einander. In demselben Masse wie sie sich verselbständigen, werden sie reif, brechen sie aber auch aus, aus dem Zusammenhang der Kultur und es zerbricht die Kultur selbst. Diese Zeit führt zur Einsamkeit des geistigen Werks. Es gibt zweierlei Einsamkeit in der Welt. Eine solche innerhalb der Gemeinde, in die man immer wieder einkehrt, so dass Vertrautheit und Spannung zugleich besteht. Es gibt aber auch Einsamkeit, die wirkliche Verlassenheit ist. Da kommt immer irgendwie die Unendlichkeit herein. Es werden Breschen in den Kosmos geschlagen. Frage: Was haben wir hier unter Kosmos zu verstehen? Ist es ein geistiger oder ein realer Begriff? Antwort: Unter Kosmos ist die vom Geist aus gebaute Weltbehausung des Menschen gemeint. Es ist das, worin sich der Mensch wirklich behaust und heimisch fühlt. Das ist nichts Geistiges, es ist Wirklichkeit. Das Verständnis dafür ist uns allerdings heute verloren gegangen. Jeder Kosmos ist endlich. Wir wohnen nicht im abgelösten Sein. Diese Einsamkeit, von der wir sprachen, zeitigt einsame Menschen, unverbundene, gemeinschaftslose, irgendwie verdammte. Es fängt an mit Michelangelo, Rembrandt und führt hinüber zu Beethoven. Diese Einsamkeit mangelt nicht der Grösse. Der Weg geht wohl durch diese Dunkelheit zu neuer Einheit. In all dieser Einsamkeit ist Zerfall und Werden und Geburt und Verheissung. Frage: Ist die Sehnsucht nach Synthese, nach Gemeinschaft, die uns neu erfüllt, nur eine bedeutungslose Welle oder vielleicht die Ankündigung eines neues Anfangs? Antwort: Die Frage ist: wie haben wir uns zu verhalten, damit, wenn es das ist, es dann auch darin wachse. Vor allem haben wir uns dann

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wohl darum zu kümmern, dass Lüge und Wahrheit geschieden werde. Der gute aesthetische Wille reicht nicht aus. Es tut eine Veränderung im Menschen und zwischen Menschen not. Die Erneuerung muss vom Centrum, von der Tiefe aus geschehen. Geschieht das, dann bekommt alles, was an der Fläche geschieht, seinen Sinn, seine wahre Fruchtbarkeit; dies aber nur dann, wenn es einbezogen ist und sich dem Kerne zustürzt. Es geht immer von einem Kern aus, – von einem Menschen, aber auch von einem Miteinander von Menschen. Alles andere, was dann besteht, geht nicht unter, es wird ergriffen. Nichts hat vergeblich gelebt und gewirkt.

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Und nun: Wir haben gesehen, dass die politische Gemeinschaft an Politik zerbricht, nämlich am Element der Aggression und Oppression. Kulturgemeinschaft zerbricht an Kultur. Es löst sich davon ab, woraus es geworden ist. Verhält es sich etwa auch so mit der religiösen Gemeinschaft? Zerbricht auch Religion an Religion?

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Auch in den Gebieten, die vom kulturellen ausstrahlen in das persönliche, Erziehung, Ehe u. s. w. lässt sich das, was wir vom Wesen der Gemeinschaft, von ihrer Labilität, von ihrem Werden und Vergehen, von ihren Möglichkeiten der Erneuerung wissen, vielleicht wiederfinden. Frage: Ist das kategorische Befehlen in der Erziehung notwendig? Ist nicht Autorität weniger schlimm, als allzu grosses Wichtignehmen der Kinder? Antwort: Das Problem von Freiheit und Autorität oder Freiheit und Verantwortung ist das centrale Problem der Erziehung. Repräsentative Erziehungsgemeinschaften sind – die griechische Philosophenschule, die platonische Akademie und auf der anderen Seite der Orden. Beiden ist gemeinsam, dass der Meister lehrt aus einer Autorität, die darin besteht, dass er das, was er lehrt, hört. Platon ist in seiner lehrenden Funktion nicht zu verstehen, ohne das was Sokrates von seinem Dämonion sagt, dass der Mensch Verkehr habe mit der Stimme. Der Ordenslehrer hat Autorität, insofern er mit Christus in wirklichem Verkehr steht. Es gibt keine legitime menschliche Autorität. In der Akademie und im Orden ist sozusagen eine Einfaltung der ganzen Gemeinschaftskräfte der Zeit zu Stande gekommen. Der Autorität ist dadurch Leiblichkeit gegeben, dass sie zusammenhängt mit Gemeinschaftskräften und deren Berufung. Dieser lebendige, unmittelbare Verkehr fehlt in unserer Zeit. Auch Erziehung kann man nur aus der Beziehung zur Wirklichkeit erneuern. Wir dürfen Zöglingen gegenüber nur so viel Autorität anwenden, als wir empfangen. Es ist eine Verantwortungsfrage. Wo wir keine

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Autorität haben, müssen wir uns neben das Kind stellen, mit ihm fragen, mit ihm suchen. Es gibt jedoch durchaus immer wieder das rechtmässige Befehlendürfen. Wer wirklich verantwortet, der verantwortet sich vor. Hat er dies, hat er schon das Element, aus dem die Autorität kommt.

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Stadt und Dorf. Wir können heute nicht hinter die Stadt zurück, wie wir nicht hinter die Maschine zurück können. Wir müssen über die Stadt hinaus kommen. Nicht durch Abstrich kann Leben herbeigeführt werden. Das Ganze muss genommen werden, wie es ist, & von da aus muss gegangen werden. Tagore sprach sich dahin aus, es wäre besser, Maschinen und Kriege aufzugeben und in das innere Leben der Dinge zu schauen, dann könne sich Orient und Occident in einem geistigen Leben verbinden. Dies ist falsch. Es ist dies wie wenn einem Menschen, der sich vorgenommen auf einem Berge ein Kreuz aufzurichten & der an der Last schwer trägt zugerufen würde, er solle doch die Last abwerfen. Seine Aufgabe ist mit der Last den Gipfel zu erreichen. Die Last ist die Compliziertheit unseres Lebens unsere schicksalhafte Aufgabe. Anderes Beispiel: Wirkung einer Aussprache Indier, Anhänger von Gandi (indische Bewegung, Verknüpfung v. Politischem und Menschlichem) auf junge Menschen, die wegsehen möchten von der Schwere der Begebenheiten. Der Orient überschreitet seine lehrende Fähigkeit, wenn er dem Abendland den Weg zur Einheit vorschreiben will, er hat Wichtiges zu geben, indem er Einheit zeigt, wie sie vom Abendmenschen nicht geschaut werden kann. Der Orient hat zu lehren, dass der Weg zu gehen ist, aber sein Weg ist für das Abendland nicht der gültige. Glaube, dass neue Raumform des Zusammenlebens von Stadt & Dorf sich entwickeln kann aus neuer Organisation der Arbeit. Dabei würde Arbeitsteilung in das Leben des einzelnen Menschen hineingehen, es wäre nicht mehr in bestimmte Arbeitsform hineingezwängt. Er bildet dann eine natürliche Ganzheit, wird vollständiger Mensch. Frage der Fabrikarbeit selbst muss dabei bewältigt werden. Verpflanzen der Fabriken aufs Land. Bildung eines Dritten, was nicht Dorf nicht Stadt ist. Erziehung. Wirkliche Erziehung nur dann, wenn religiös getragener Unterricht. Religionsunterricht dadurch ausgeschlossen. Problem der Ehe. Ehe ist dann wirkliche Ehe, wenn Gemeinschaft, das Dritte, zwischen 2 Menschen besteht, so dass sie beide diesem Dritten dienen. Hier besondere Gemeinschaft zweier fundamental verschiedener Menschen. Frage: Sind nicht in den Worten Gottes an Adam und Eva: »Du sollst im Schweisse deines Angesichtes dein täglich Brot essen, du sollst mit Schmerzen Kinder gebären« zwei Aspekte dieses Gemein-

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schaftsproblemes gegeben? Antwort: Hier Funktion der Frau mit allem animalischen Wesen gemeint. Beim Mann kommt etwas hinzu. Gebären naturhafter als Arbeit. Scheidung zwischen Natur und Geist. Frage: Ist nicht im Wort »mit Schmerzen« etwas was auf Ueberanimalisches hinweist, auf Gemüt? Antwort: Gemüt ist Sammlung und Verklärung dessen, was wir in der Kreatur vorfinden, Uebertragung eines naturhaften Verhältnisses in die Situation des Menschen. Weib hat grössere Naturgebundenheit – und Nähe als Mann. Das Verhältnis zu einem Dritten ist constituierendes Element der Ehe. Das Dritte, das Göttliche ist für den Menschen kündbar als Einheit von Geist & Natur. Dieses Eine erscheint der Frau wesenhaft als Geist, dem Mann wesenhaft als Natur, dem Manne durch sein Weib, dem Weibe durch seinen Mann. Beide offenbaren einander das Du, das nicht ich ist. Ehe ist Gemeinschaftsform, in der naturhaftes und geistiges Element zusammen wirken müssen & die nur durch dieses Zusammenwirken entsteht. Doppelbogen: der eine Bogen durch naturhafte Verbundenheit, der andere durch den Geist gestiftet. Verbindung in der Ehe als Ehe durch Beziehung zum Göttlichen. Zweiheit von Natur und Geist spiegelt sich in Doppelfunktion von Mann und Weib. Dies Ungeheure, nur Umschreibbare trägt dazu bei, dass Ehegemeinschaft notwendiges Element aller Gemeinschaften. Dauernde Gemeinschaft kann nur entstehen bei Vergemeinschaftung aus familienhaften Zellen. Scheinbare Ausnahmen sind zwei Gemeinschaften: 1.) conspirative Gemeinschaft, die nur auf Tat gerichtet ist und nur solange besteht, bis die Handlung getan ist, 2.) religiöse Gemeinschaft in Epoche der Kampfstellung gegen die Umgebung, Sekte. Die Familie wird dabei als etwas gesehen, was zur Religionserstarrung gehört. Sowie diese Gemeinschaft aus ihrer Kampfstellung heraustritt, tritt Familie, umgebildet und vertieft, in ihr Recht. Diese Ausnahmen bestätigen die Regel: Gemeinschaft hier nicht dauernd, nur situationshaft. Ehe erfüllt ihren Sinn im selben Masse als sie Monogamie wird. Absolutes Verhältnis zweier Menschen. Ausschliesslichkeit erreicht Intensität der Verbindung. Frage: Muss nicht gerade auch Gleichheit von Mann und Frau betont werden, nicht nur Verschiedenheit? Bei beiden kann sich Machttrieb auswirken, Monogamie muss genommen werden nicht als etwas, das ist, sondern als etwas, was von beiden gefunden werden muss. Oft wird betont Natur strebe nach Polygamie. Monogamie als inneres Gesetz muss erst erobert werden. Antwort: Manch monogame Ehe ist schlechter als Polygamie, wenn polygame Versuchungen nicht an den Menschen getreten, wenn Reinheit bewahrt ist, weil Problematik ferngehalten worden. Der Mensch taugt erst dann für Gemeinschaft,

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wenn er sich bewährt hat, wenn er durch die Probe gegangen ist. Monogamie meint Ehe, die Vielheitsdrang überwunden hat. Mensch kann der Lebenseinheit nur teilhaftig werden, indem er die ganze Welt in einem Wesen einsammelt und aus diesem Wesen neu empfängt. Dies ist sein Einheitsschicksal, von dem sich abzukehren er einen Drang hat; er will sich von verschiedenen Seiten vom Leben etwas zutragen lassen. Dies ist nicht das Wirkliche. Der Ernst dieses Problems wird deutlich am Faktum des Todes. Das Leben ist nicht zusammengesetzt aus einer Anzahl von Augenblicken, es ist ein Gang auf Etwas hin. Erscheint Mensch als Ganzheit, Einheit, der sich für sein Lebensganzes verantworten kann? Er gelangt nicht von vornherein zu diesem Einheitsbewusstsein, es muss werden. Die Verantwortung des Menschen für & in der Ehe hängt mit der Verantwortung für diese Ganzheit des Lebens zusammen. Der Weg des Menschen ist zur Einheit des Sichoffenbarenden zu kommen. Monogamie und Monotheismus hängen zusammen. Der Mensch beginnt als Polytheist & kommt zur Erkenntnis des einen Gottes, die nur dann wirklich ist, wenn der Götzendienst mit Füssen getreten ist. So fängt der junge Mensch an als polygam in dynamischem, leidenschaftlichem Nichtgesammeltsein. Der Weg ist, alles in der einen Kreatur zu finden, mit der allein er sich in Wahrheit zur Eheeinheit verbinden kann. Die wahre Ehe ist ein Heiligtum und nicht eine Institution. Wenn die Ehe aus Heiligtum zu Institution geworden ist & Problematik sie überströmt, kann die Wiederherstellung nie aus dem Gefühl entstehen. Die erneuernde Kraft kommt aus dem Wirklichkeitwerden der gemeinsamen Beziehung zur Einheit. Liebe ist etwas ungeheuer viel Grösseres als das Liebesgefühl. Liebe ist etwas worin die Menschen stehen, Liebesgefühl nur eine kleine Brechung und Spiegelung des welthaften Faktums der Liebe. Frage: Wie kann die Liebe näher umschrieben werden? Antwort: Hinweis auf die Formulierung in »Ich und Du«. Frage: Was ist denen zu sagen, die eine solche Beziehung nicht finden können? Antwort: Dies ist allgemein schwer zu formulieren, jedem ist es im Grund anders zu sagen. Jeder Mensch, sei seine Situation zu andern Menschen noch so tragisch, kann auf die Liebe und ihre Wirklichkeit hingewiesen werden. Es gibt keinen, dem das Reich der Liebe verschlossen ist, keinen dem sein Anteil an Liebe letztlich vorenthalten ist. Seine Tragik ist nicht aufgehoben, aber ganz preisgegeben ist er nicht. Irgend etwas wartet auf den Mensch zu dem er hingeführt werden kann. Die Menschen, die zu geistigem Leben berufen sind, haben die Aufgabe, andern Menschen zur Freimachung zu verhelfen. Wird der Mensch losgebunden, so äussert sich dies als Seele, als Berührung mit andern Kreaturen. Man muss bis an die Grenzen des Helfenkönnens gehen.

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Verhältnis der Gemeinschaft zu religiösem Leben. Religiöse Gemeinschaft: Bei keiner andern Form historischer Gemeinschaft war es so deutlich, dass Gemeinschaft ereignishaft aus Mitte zwischen Menschen entstanden. Religion beginnt mit dem Faktum der Offenbarung. Sie wird erfasst unmittelbar in dem Gerichtetsein auf den Menschen oder mittelbar. Immer tritt eine Umwandlung ein, ein Neubeginn, dadurch dass Menschen inne werden, dass etwas in ihr Leben getreten ist, das nicht aus ihnen allein erwachsen konnte. Durch dieses wird die religiöse Gemeinschaft constituiert. Es ist etwas, das der Mensch als das ihm gegenüberstehende anerkennen muss, das er weder in die bewusste noch in die unbewusste Ichheit hineinziehen kann. Es umfasst mein Selbst und will vom Selbst erfasst werden als etwas anderes. Der Mensch erfährt, dass er Kraft zugeteilt bekommt, die nicht aus ihm stammt. Richtung, die er selbst nicht finden konnte, Gnade, das ist das Urphänomen, das in wunderbarer Weise gesteigert, gesammelt am Anfang der religiösen Gemeinschaften erscheint. Diese Offenbarung darf nicht aufgefasst werden als etwas, was sich hineinschüttet aus einer andern Sphäre. Der Mensch ist das Gefäss der Offenbarung, der Mund, das Organ, das selbst die Stimme neu hervorbringt, ein Organ, das das vernommene menschlich wortet und es damit aus Göttlichkeit in Gottmenschlichkeit verwandelt, in etwas, woran auch das Menschliche seinen Anteil hat. So sich zu berühren mit dem Göttlichen ist das Höchste, das dem Menschen gegeben ist. Auch das Höchste des Menschen ist Begegnung. Hier ist leibhaftige Mitte. Das wahrhaft Mensch gewordene Wort deckt sich mit dem Menschen, der es im Namen spricht, kann von seinem Wesen nicht abgelöst werden. Dieses Wort, das so an den Menschen, der es trägt gebunden ist, ist das wesende Wort. Um dieses wesende Wort bildet sich die Gemeinde. Aus den Radien zwischen den einzelnen Menschen und der Mitte constituiert sich der Kreis. Diese Urgemeinde verbindet den höchsten Grad der Intensität mit einem hohen Grad von Labilität, Unsicherheit, Bedrohung. Die Präsenz des Wortes kann sich mit dem Tode des Menschen, an den es gebunden ist, steigern. Solange das wesende Wort in der Mitte der Menschen ist, ist die Gemeinschaft darauf aufgebaut. Die Weitertragung des Wortes geschieht durch den religiösen Akt selber, dadurch, dass die Menschen ein Verhältnis zur Präsenz des Wortes gewinnen. Jeder Einzelne muss mit seinem Wesen in die Wandlung eintreten. Es ereignet sich, dass die Gemeinschaft sich gegen die Labilität sichern will. Sie will nicht angewiesen bleiben auf ein unsicheres Kommen der Menschen. Es kommt der Augenblick (der Jahrhunderte dauern kann) in welchem die religiöse Gemeinschaft die Sicherung statuiert. Im Chri-

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stentum ist dies die Einsetzung des Sakramentes der Kindertaufe. Im Moment der Erneuerung tritt die Taufe des Erwachsenen auf. Es besteht eine Verschiedenheit in der Auffassung Christi in der Urgemeinde und später. In der Urgemeinde ist die Auffassung die, dass Jesus in der Taufe in die Sohnschaft Gottes aufgenommen wird, es ist eine Geburt aus Gott, eine exemplarische Begegnung. Der Eintritt in die Sohnschaft erfolgt durch Anschluss an Christus. Diese Auffassung gibt die Kirche auf, indem sie Christus sozusagen biologisch aus Gott geboren werden lässt. In der Urauffassung des Christentums erfolgt die Geburt mitten im Leben. Indem sich die Kirche davon abwendet, entsteht die spezifische Dogmatik. Die Taufe des Kindes wird zur Sanktionierung des biologischen Faktums der Geburt. Damit ist die Continuität garantiert. Die Kirche wirkt im Sinne einer Macht, die die Gemeinschaft entgemeinschaftet, denn es gibt keine garantierte Gemeinschaft. Das letztlich Gemeinschaftliche wird durch Garantierung verleugnet. Neben der Continuität in der Zeit wird die Continuität im Raume gesucht, die Ausbreitung. Wenn die religiöse Wirklichkeit sich zu sich bekennt, besteht keine Bürgschaft für Verbreitung. Die religiöse Wirklichkeit macht das Leben des Menschen schwer und wirklich. Die religiöse Gemeinschaft verträgt nicht ein einfaches sich ausbreiten, sie kann nur wachsen durch Bildung und Angliederung neuer Gemeinschaftsstellen. Die Sicherung in der Zeit und die Ausbreitung im Raum zersetzen den Gemeinschaftscharakter. Die religiöse Gemeinschaft hebt sich auf an der Religion, die Selbstzweck wird. Die »religiösen Bewegungen« wollen Religion haben und nicht ein Verhältnis zu Gott. Religion kann nicht von der Religion aus erneuert werden. Erneuerung ist nur möglich aus neuer, wirklicher Verbindung mit der Mitte des Seins. Religiöse Gemeinschaft ist nur möglich, wenn wieder Gemeinschaft möglich ist. Frage: Ist Erneuerung nur an neuer Offenbarung möglich? Antwort: Diese Frage lässt sich nicht mehr aus der Sphäre der Ueberlegung, sondern nur aus der Sphäre des Glaubens beantworten. Glaube, dass, wenn wirkliche Bereitschaft des menschlichen Elementes da ist, die Berührung nicht ausbleibt. Frage: Gilt als Consequenz der Ausführungen für die Gegenwart, dass eine besondere religiöse Gemeinschaft nicht möglich ist? Ist eine religiöse Gemeinschaft nur mitten im Alltag möglich? Antwort: Religion ist nicht eine Abteilung des Lebens, sondern das Leben selber in seiner Ganzheit. In der letzten Wahrheit ist das noch nie geschehen. Es gibt keine Kammer mehr für Religion, wenn Religion die Heiligung alles Lebens bedeutet. Dann ist die Welt Gottes Reich geworden. Frage: Müssen wir nicht schon jetzt diesen Weg gehen?

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Antwort: Gewiss. Das Reich darf nicht als etwas gesehen werden, was nicht nach der schwachen, aber ganzen Möglichkeit unseres Tages in unserem Leben der Verwirklichung näher gebracht werden soll. Es wächst in unserer und aus unserer Mitte. Hier, wo wir stehen, müssen wir das ewige Leben bauen mit dem, woraus uns zu bauen aufgegeben ist. Frage: Gilt es nicht auch für die Kirche, dass das Neue nicht durch Abstrich gefunden wird? Dürfen wir nicht auch der Kirche das Recht zusprechen wie andern Bezirken? Die Massen brauchen die Kirche, solange sie noch nicht im Reiche stehen. Weitere Frage: Brauchen wir nicht des Mittlers bei religiöser Gemeinschaft? Offenbarung wird nicht jedem von uns. Antwort: Es soll nicht ein Weg vorgeschrieben werden, nicht die Kirchenlosigkeit als Weg. Jeder muss das Gemeinsame von seinem Lebensgesetz ausprägen, aktiv lebendig ausdeuten. Man soll nicht wagen zu entscheiden, bis wann es Kirchen geben muss. Für wen die Kirche nötig ist, der muss diesen Weg gehen, bis ihm kundgetan wird, dass er ihn nicht mehr zu gehen habe. Zusammenfassung: Was wir zusammen zurückgelegt haben, ist ein kleines gemeinsames Wegstück. Keiner wird herausgerissen aus seiner Gegebenheit, keinem wird etwas aufgelegt, das seiner Sogewordenheit nicht entspricht. Es ist ein Unsentdecken in der seienden Gemeinschaft. Das Wirkliche umfasst unser aller Wirklichkeit.

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Wir sind seit zehn Jahren, wenn es und soweit es um uns richtig bestellt ist, in eine Schule gegangen, und ich will jetzt einiges davon festzustellen versuchen, was wir in dieser Schule gelernt haben oder gelernt haben sollen. Es betrifft zunächst, und so müssen wir hinschauen, das ist unsere notwendige Blickrichtung, es betrifft zunächst die Dinge, die sich in Deutschland und mit Deutschland ereignet haben. Aber indem wir diese Dinge betrachten, erfahren wir, und zwar in indirekter Weise, was sich in der Welt und mit der Welt ereignet. Es ist wohl so, dass hier, in diesem Lande der Mitte, wie gesagt worden ist, dass hier die Dinge irgendwie exemplarisch sind, die geschehen, dass das, was an dem Geschehen dieser zehn Jahre wesentlich ist, bleibend ist, dass dieser Vorgang hier am deutlichsten wird an dem, was sich hier ereignet hat und ereignet. Wenn wir etwa die Auseinandersetzung zwischen dem Staat und der Wirtschaft ansehen, von der ich heute nicht sprechen will, aber etwas sehr Wesentliches, die wirkliche Auseinandersetzung von Staat und Wirtschaft, also ein Geschehen, das für das ganze Zeitalter von grösster Bedeutung ist, so ist Deutschland wohl das Land, das diesen Vorgang zunächst sichtbar deutlich darbietet, zeigt, was sich eigentlich hier ereignet, den Schauenden am deutlichsten zeigt und gewissermassen in diesem Sinne vorangeht. Wir haben nun, wir in Deutschland Lebenden diese Dinge unmittelbar erlebenden Menschen haben in diesen zehn Jahren die ganze Sinnspannung des Staatsbegriffes und des Gemeinschaftsbegriffes durchlaufen. In zehn Jahren sind wir von dem einen Pol des Begriffes Staat bis an den andern gelangt. Wir haben die ganze Spannung der Begriffe aktual kennen gelernt. Das möchte ich zunächst kurz aufzeigen. 1914 gab es in dem wirklich lebenden Teil des Volkes und insbesondere der Jugend – die Jugend bekommt diese Dinge am unmittelbarsten zu spüren – ein Gefühl der Identität von Staat und Gemeinschaft. Jene kurze, aber wie mir scheint, auch geistesgeschichtlich nicht unwichtige Wirklichkeit von einer fast religiös zu nennenden Begeisterung bedeutet das Verschmelzen der Begriffe, aber nicht bloss der Begriffe der Realitäten Staat und Gemeinschaft in eine unmittelbar erlebte Wirklichkeit, der man sich ergibt, und diese zehn Jahre als ein Letztes, wenn man es auch Staat, wenn man es auch Gemeinschaft nennt, wie immer man es nennt, das Letzte, das Unnennbare, das eben, für das der Mensch leben und sterben kann, irdisch, erdenhaft darstellt. In diesen zehn Jahren vollzieht sich

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nun ein wachsendes, zunehmendes Auseinanderfallen dieser beiden Begriffe. Ich will Ihnen nicht aufzeigen, unter dem Einfluss welcher einzelnen Ereignisse. Ich kann Ihnen hier keine Geschichte dieser zehn Jahre, auch nicht im allgemeinsten Abriss zu geben versuchen. Ich spreche also nur von der Wirkung der uns allen bekannten, von uns erlebten Ereignisse auf das Verhältnis zu Staat und Gemeinschaft. Ich sage also, es vollzieht sich ein wachsendes Auseinanderfallen von Staat und Gemeinschaft. Betrachten wir zunächst den Staat. Am Anfang dieser zehn Jahre, am Anfang des Krieges wird der Staat als etwas erlebt, was absolut primär ist, was schlechthin da ist, über der Person, vor der Person, was sich nicht aus den Personen zusammenfügt, sondern woraus die Personen hervorgehen, was sich in die Personen zerlegt, und zwar so elementar, wie etwa ein grosser dichterischer Vers uns immer wieder so erscheint, als ob er nicht aus Worten zusammengefügt, sondern als ob seine ursprüngliche [Leerstelle im Text] Der Staat vertritt das so, dass er immer wieder unabhängig davon angesehen wird, gleichsam als gebe es keine anderen Staaten, als seien die anderen Staaten und insbesondere die, mit denen dieser Staat eben Krieg führte, nicht etwa bloss gegen den Staat, sondern als seien sie unwirklich. Das ist eine, wenn man es vom Letzten aus ansehen will, Vergötzung des Staates, dieses, wo er nicht mehr das Letzte vertritt, sondern das Letzte sein will, die Wirklichkeit. Also zunächst bis dahin, bis zu dieser Grenze ist der Staat absolut primär. Nun vollziehen die zehn Jahre seither, ich möchte es zunächst in einem Begriff sagen, eine normalisierende Funktion. Die Geschichte dieses Jahrzehnts hat eine normalisierende Funktion. Denken Sie dabei an den Gegensatz der Begriffe Realismus und Nominalismus. Realismus bedeutet die Lehre von der Wirklichkeit der allgemeinen Begriffe, der Nominalismus dagegen die Lehre, dass diese allgemeinen Begriffe nur nominal, nur Worte, Bezeichnungen sind. Also eine solche Funktion, die allgemeinen Begriffe als Wirklichkeit auflösende Funktion hat die Geschichte dieses Jahrzehnts. Also der Staat, diese Allgemeinheit Staat, der als absolut, als primäre, Leben und Sterben des Menschen fordernde, rechtmässig fordernde Wirklichkeit auftritt, wird immer mehr zu einem notwendigen Begriff, einer Zusammenfassung, zu einem, ich möchte sagen, dauernden Notbau. Auf die Ursachen will ich nicht eingehen, aber ich kann es vielleicht in einem Satz zusammenfassen. Es kommt der Staat, und zwar nicht bloss in Deutschland, wenn es auch in Deutschland als besiegtem Staat am sichtbarsten ist, es gibt ja nur sogenannte Siegerstaaten, ist das ja nicht im wesentlichen anders. Der Staat hat seine Inkongruenz als handelndes Wesen aufgedeckt. Man glaubt zunächst an den Staat als ein Wesen, als ein handelndes Wesen,

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ein Wesen, das, wie eben ein vernünftiges, zielbewusstes Wesen, kongruent handelt, in sich übereinstimmt. Der Staat versagt eben darin. Er demoralisiert den Bürger. Aber das hängt auch damit zusammen. Alles einzelne Versagen, alles taktische und politische und moralische Versagen des Staates gehört in dieses eine hinein, dass er eben kongruent handelt. Er widerspricht sich. Er hält nicht aufrecht. Er hält nicht stand. Er meistert die Ereignisse nicht; er meistert das nicht, was er eben selbst gewollt und getan hat. Er bekennt sich nicht zu dem, was er getan hat, er hält die Linie nicht ein, er handelt wie ein charakterloser, aber jetzt nicht im moralischen Sinn charakterloser Mensch, wie ein nicht beeinflusster, im hohen Sinn beeinflusster, begabter Mensch, er handelt wider den Sinn. Und das, worauf man hingewiesen hat, dass es an Staatsmenschen fehlt, an zentralen Menschen, in denen das Geschehen wie doch sonst in Zeiten solcher Katastrophen sich darstellt, Menschen, zu denen man hinsehen kann, an denen man ablesen kann, was eigentlich geschieht, und Menschen, die Losung ausgeben können, denen man vertrauen, Menschen, die schliesslich Menschenworte sprechen, indem sie das Geschehen zusammenfassen – es hat an alledem gefehlt, es hat solche Menschen nirgends gegeben. Und schliesslich ist es dazu gekommen, dass der Staat heute im Grunde aufgefasst wird als ein, ich möchte sagen, als ein gebilligtes Gezwungenwerden. Der Staat ist eigentlich ein Zwang geworden, ein Zwang, in den man hineingeboren wird, den man, und zwar ob man es eingesteht oder nicht, billigt, nämlich der Sicherung wegen, die der Staat verleiht nach innen und aussen. Billigen tut man ihn, denn wer ihn nicht billigte, der wäre doch nicht hier, der würde entweder auswandern oder persönlich auf eigene Faust revoltieren. Diese Auflösung des Staatsbegriffs ist nicht etwa etwas Neues, es gab es immer schon, aber jetzt und hier ist es eine Folge dieser Verquickung von Nutzen und Wirkung, und zwar auch die, die sich für den Staat heute zu begeistern glauben, sind, wenn man sie auf die Realität ihres Lebens prüft, von dem Staat, und es gibt nur ein Sein im Staat, es gibt keinen gedachten Staat, es gibt nur den Staat, in dem man lebt. Und wie steht es mit dem Begriff der Gemeinschaft? Gemeinschaft ist ursprünglich am Anfang dieses Jahrzehnts das allgemeine Leben, in dem der einzelne Mensch sich befindet. Und nun vollzieht sich mit dem Auseinanderfallen von Staat und Gemeinschaft immer stärker das Innewerden des Menschen, dass dieses Leben, dieses allgemeine Leben gemeinschaftslos ist, dass es kein wirkliches Zusammen-, Miteinander-, Ineinanderleben von Menschen ist, dass es nicht getragen ist von den persönlichen, von den unmittelbaren Beziehungen von Mensch zu Mensch, sich nicht auf ihnen von innen aufbaut. Ein allgemeines Leben wohl,

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aber ohne wirklichen Gemeinschaftskult. Und da kommt es schliesslich zu jenem Auflehnungsversuch, der für die Nachkriegszeit charakteristisch ist, wo gerade die Jugend sich praktisch aufzulehnen sucht und aus der tiefen, verzweifelten Erkenntnis der Ungemeinschaftlichkeit dieses allgemeinen Lebens nun Gemeinschaften zu stiften sucht ausserhalb des allgemeinen Lebens, Gemeinschaftsinseln, Gemeinschaftsoasen zu entdecken. Was bedeutet dieser Hergang? Am Ausgangspunkt, am Anfang steht ein, das müssen wir uns unerbittlich sagen, ein illusionärer Glaube, ein Glaube wohl mit der ganzen Begeisterungshaltigkeit des wirklichen Glaubens, aber ein illusionärer Glaube, der nicht bloss nicht standgehalten hat, sondern nicht standhalten kann. Zunächst vom Staat aus. Er beruht auf einer Verwechslung von Staat und Volk, und zwar auf einer romantischen Verwechslung. Es gibt den Satz eines Romantikers, der sehr deutlich ist für das, um das es sich hier handelt. Adam Müller bezeichnet den Staat als die Gemeinschaft einer langen Reihe von vergangenen, jetzt lebenden und noch kommenden Geschlechtern, die [Leerstelle im Text] Es ist das Grundgefühl der Jugend von 1915. Der Staat ist das nicht, und darum ist der Staat auch nicht, wie Adam Müller an einer anderen Stelle sagt, der Gegenstand unendlicher Liebe. Freilich es gab eine Zeit, wo Staat und Volk anders zusammenhingen und irgendwie ein solcher Satz eine grössere Berechtigung hatte, und das war die Zeit der Polis, wenn es auch damals den Volksbegriff nicht gab, aber er gilt für dieses zentrale Gebilde der Polis. Damals hatte der arist[Leerstelle im Text] Satz Berechtigung, dass [Leerstelle im Text] in diesem Gebilde, an dem der Mensch teilnahm, mit seinem persönlichen und allgemeinen Leben fast ununterscheidbar ineinanderfloss. Er gilt noch in einem gewissen Sinn für das christliche Mittelalter, für den Stadtstaat, der noch ein solches Umfangen des persönlichen Lebens, ein solches Ruhen auf der unmittelbaren Beziehung von Mensch zu Mensch hatte. Aber er gilt ganz gewiss seit der Reformation, wenn wir eine äusserliche Geschichtsscheide hier aufstellen wollen. Das heisst, seit es das Faktum der abgetrennten Person gibt, nicht. Staat ist bestenfalls Gebilde, ist Element, auf das man immer wieder zurückgehen, zurückgreifen muss, aus dem sich das zu Wollende bildet. Also dies ist eine Verwechslung. Das andere ist eine Verwechslung der primitiven Gemeinschaft mit der existenten Gemeinschaft. Primitive Gemeinschaft ist die, womit die Entwicklung, jedenfalls die Entwicklung, die von uns überschaubar ist, des Menschengeschlechts anfängt, das Zusammenleben des Menschen in einer Einheit, in einer stammhaften, ja wenn wir weiter zurückgreifen wollen, hordenhaften Einheit, die durch undurchbrechbare Klammern gehalten wird, wo der Einzelne hineinge-

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stellt ist in eine religiöse, wirklich undurchbrechbare Gesetzhaftigkeit, die so unmittelbar ist, so konkret ist, dass, wenn der Vertreter dieser Gesetzhaftigkeit, der Häuptling, wie es heute noch bei australischen Stämmen beobachtet werden kann, einem begegnet und zwei Finger ausstreckt, das heisst, er lehnt diesen Mann ab, der hinfällt und tot ist. So dieses Faktum dieser ungeheuren, bis ans Letzte, bis an den Tod gehenden schicksalhaften Einbezogenheit des Einzelnen, diese Gemeinschaft, aus der die Person noch gar nicht hervorzutreten begonnen hat, wo es das Problem der Person noch gar nicht gab, also auch noch nicht die Realisation zwischen Person und [Leerstelle im Text] Diese primitive Gemeinschaft wird von der Jugend, insbesondere der deutschen Jugend dieser zehn Jahre am Ausgangspunkt und nicht bloss am Ausgangspunkt, sondern das ist etwas, was auch weiter bleibt mit der existenten Gemeinschaft, mit der Gemeinschaft, in der sie leben wollen, von der sie träumen, dass sie sich aus dem heutigen Menschen, aus dem personhaften heutigen Menschen gestalten könnte, zu der sich diese personenhaften, abgetrennten, vereinzelten Menschen zusammenordnen könnten, verwechselt. Diese existente Gemeinschaft ist aber geschichtlich trotzdem auf höherer Stufe immer wieder, dass jene primitive Gemeinschaft in höheren Formen wiederkehrt. Trotzdem in Wirklichkeit also frei, als ein freies Zusammenleben von Menschen, als etwas von Menschen Gestiftetes, Gegründetes, realisiert sich die Gemeinschaft geschichtlich als in der geschichtlich empirischen Wirklichkeit oder richtiger kongruent nur im Bunde, und zwar im persönlichen Liebesbund, im Tatbund und im religiösen Kultbund. Aber die alle sind ihrem Wesen nach auf Zeit, sie alle tragen die Ankündigung des Schicksals, dass es diesen Bund zu kündigen gedenkt, schon zu Anfang an sich, der Liebesbund offenbar, der Tatbund offenbar. Denn mit der Handlung, es geht immer um eine Einzelhandlung, ist der Bund gesprengt. Und der religiöse Kultbund, Sie wissen es, hat seine Wirklichkeit kaum länger als die Präsenz des zentralen Menschen, ich meine jetzt nicht als sein Leben, aber als seine Präsenz, seine wirkliche Präsenz nach seinem Leben dauert. So steht es am Ausgangspunkt. So zieht sich dies noch in diese zehn Jahre hinein. Und was steht nun am Ende? Jetzt in dem Augenblick, bei dem wir halten? Nun, täuschen wir uns darüber nicht hinweg, es steht zunächst die Verzweiflung. Aber die Verzweiflung, die sich nicht eingesteht. Eine Verzweiflung, die sich mit Fiktionen, nicht mehr mit Illusionen, sondern mit Fiktionen tröstet. Das ist kein illusionärer Glaube, sondern das ist eine fiktierende Verzweiflung. Und von dieser Verzweiflung sind ihre Fiktionen, ihre theoretischen Fiktionen, ihre Staatsideen, ihre Gemeinschaftsversuche bestimmt. Und beides ist Beginnen

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des Unmöglichen, und zwar des Unmöglichen nicht in dem hohen Sinn, wie es immer wieder den Menschen hinaufträgt, das Wollen des Unmöglichen, sondern in einem trüben und dürftigen Sinn. Im Sinne eines Sichverhebens, eines Sichhinwegtäuschens über das, worin man lebt und zu leben hat, des Nichtwahrhabenwollens des Schicksals. Und wieder möchte ich scheiden: zunächst sprechen vom Staat und dann von der Gemeinschaft. Ein junger Mensch, der im Felde neunzehnjährig stand und dessen Briefe und Aufzeichnungen viele von Ihnen kennen, Otto Braun, schreibt vom Felde diesen Satz, der charakteristisch ist für diese Generation: »Meine reinste, wenn auch geheimste Flamme, mein tiefster Glaube und mein höchster Wunsch, dieses alles heisst mir Staat. Einmal den Staat bauen wie einen Tempel, rein und stark hinaufwärts, in eigener Schwere ruhend, streng und erhaben, doch auch heiter, wie es die Götter sind, und mit lichten Hallen, durchschimmert vom Spiel der Sonne, das ist im Grunde doch alles Ziel und Ende meines Strebens.« In diesem Satze wird schon die ganze Unwirklichkeit, der illusionäre Charakter dieser Generation an ihrem Ausgang deutlich. Es ist nicht an dem, den Staat zu bauen wie einen Tempel. Man darf so nicht sprechen. Aber der so sprechen durfte, das war Platon, und zwar in seiner Zeit und Situation; er durfte so sprechen, er hätte so sprechen dürfen, weil es Tempel, wirkliche Tempel gab, lebendige. Und damals durfte die Politeia, eine wirkliche Idee des Staates, entstehen wie ein Tempel, entstehen, nicht etwa verwirklichen. Aber warum gibt es auch nicht einmal ein mittelalterliches oder ein neuzeitliches Anomalium, warum konnte nicht etwa der Staat von einem Ideologen in diesem platonischen Sinne, warum konnte der Staat nicht gebaut werden wie eine Kirche? Kirchen gab es damals noch, heute gibt es auch keine Kirchen mehr, lebendige Kirchen, aber damals gab es noch wirkliche Kirchen. Fassen wir die Politeia wirklich als Grundriss eines Tempels. Warum konnte nicht der Grundriss eines Staates wie eine Kirche gezeichnet werden? Nun, deshalb, glaube ich, weil es die Kirche gab, die Kirche im augustinischen Sinn, die eben die Civitas Dei, den Gottesstaat prädestinierte und kraft ihrer Realität prädestinieren durfte. Es war für den Bau eines Staates wie eine Kirche, für den Grundriss eines Staates kein Platz mehr. Aller Platz für den Staat war ein ausgesparter Platz, und irgendwie gilt von dort aus, wo das Leben wirklich war, immer noch dieses augustinische Grundgefühl, dass der weltliche Staat der Staat des Bösen, der Staat des Verworfenen ist. Also dies, an dem ist es nicht mehr, und erst recht heute nicht, wo es auch die Kirche in jenem Sinne der Wirklichkeit und des Lebens nicht mehr gibt. Also nicht so sollte man sprechen, nicht so sollte die Jugend,

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die in der Wirklichkeit, in der menschlichen Wirklichkeit leben und bestehen will, sprechen. Nicht ein Tempel, ein Wohnhaus, ein umbaubedürftiges Wohnhaus, ein, wollen wir noch richtiger sagen, noch exakter, ein auch stark reparaturbedürftiges Wohnhaus, das ist das, was uns das Schicksal zugeordnet hat, und an das haben wir uns zu halten und nicht von Tempel zu sprechen. Schwärmerisch sollte man solche Worte nicht sprechen. Staatsbilder sind nicht mehr möglich. Heute noch nicht, vielleicht noch nicht, das wollen wir dahingestellt sein lassen. Aber von Staatsprojekten wimmelt es in der Zeit, die sich mit dem Staatsumbau hätte befassen sollen, und zwar zumeist von solchen Projekten, die den Umbau nicht fördern, weil sie vorgeben, Bilder zu sein, statt eben das zu tun, was not ist: Vorschläge für die Republik. So steht es mit dem Staat. Und die Gemeinschaft? Was ist, wenn Menschen sich zusammentun, um Gemeinschaften zu stiften, etwa Siedelungen, Gemeinschaftssiedelungen? Was wird hier versucht? Etwas, was nicht versucht werden kann, was wohl da sein, sich ereignen, aber nicht versucht werden kann. Gemeinschaft kann entstehen, wenn wirkliches Leben zwischen Menschen ist. Wenn Werkgemeinschaft zwischen Menschen ist, dann kann Gemeinschaft entstehen immer nur als Provisorium, soweit wir Geschichte kennen. Aber gemacht, versucht, gegründet kann sie nicht werden. Und auch diese Verwechslung ist eine romantische. Wenn Staat von uns gefasst werden muss – das ist schicksalhaft als gebilligter Zwang, so steht es mit der primitiven Gemeinschaft, mit der die existente Gemeinschaft verwechselt wird, anders. Diese ist auch taktisch ihrer geschichtlichen Tatsächlichkeit nach ein Zwang gewesen, und zwar notwendig, unentrinnbar, und zwar ein nicht etwa gebilligter, nicht bewusster und auch nicht nur gewusster, sondern ein Zwang, in dem der Mensch atmet, in dem der Mensch sein Leben verbringt, wie in einem Gehäuse, das er von sich nicht wegdenken, ohne das er nicht leben kann. Und dieser Zwang kehrt dann wieder zum glaubenhaften Zwang in den Staatsformen, die irgendwie, ich möchte sagen, gemeinschaftshaltig sind, wie eben die Polis und die Stadt des Mittelalters, dass die Menschen wirklich in etwas hineingestellt sind, was sie bestimmt – bei der Polis ganz deutlich –, wie der Einzelne, wie sein Leben ganz und gar gefärbt und durchdrungen wird von dem Faktum dieser Polis. Aber dieser glaubenhafte Zwang, wenn auch das gilt, dass die Polis Religion war, und in anderem Sinne von der mittelalterlichen Stadt, dieser glaubenhafte Zwang kehrt in dieser Weise [Textverlust] Aber das ist immer wieder primitive, oder auf höherer Stufe wiederkehrende Gemeinschaft, nicht eine Gemeinschaft wie die, die die heutige Jugend meint, zu der sich Menschen zusammentun, indem sie miteinander einen Bund

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schliessen, indem sie zueinander in unmittelbare Beziehung treten, sondern sich aus dieser Unmittelbarkeit der Beziehung von Mensch zu Mensch Gemeinschaft aufbaut. Gemeinschaft entsteht niemals von den einzelnen, insofern sie besteht, und auch die historische Gemeinschaft, insofern wir da der Entstehung nachgehen können. Und jeder Bund, alles das entstand und entsteht und kann nur entstehen nicht von den einzelnen Menschen aus, sondern von der Mitte aus, von einer Mitte, zu der diese Menschen in gleichmässiger Beziehung stehen, also nicht so, wie die jungen Menschen sich heute vorstellen, dass man gleichsam einen Reigen schliesst und jeder einem rechts und einem links die Hand reicht und nun sich ein Kreis geschlossen hat, sondern so mag ein Reigen entstehen, aber ein Kreis nicht. Ein Kreis entsteht dadurch, dass es eine Mitte gibt und dass es eine Schar von Menschen gibt, von denen aus, von jedem einzelnen aus Radien zu dieser lebendigen Mitte gehen, und die Auswirkung dieser Mitte durch die Radien, die schafft den Kreis. Die Peripherie verwirklicht sich von den Radien aus, nicht umgekehrt. Das heisst, Gemeinschaft ist letztlich ein religiöses Faktum, und alle nicht religiöse Gemeinschaft tendiert auf diese hin und verweist auf sie. Und wenn die Mitte nicht religiös gefasst ist, so vertritt sie die Wirklichkeit, die religiös gefasste Mitte, das heisst die Mitte des Seins. Um es zusammenzufassen: Staat entsteht nicht aus Wollen, und Gemeinschaft, jedenfalls die unprimitive, aber insofern wir die Entstehung früherer Gemeinschaften fassen können, jedenfalls nicht aus Willen zur Gemeinschaften. Sie kann aus Willen entstehen, aber aus Willen dann zur Mitte, aus Willen zu Gott. Gemeinschaft wollen heisst sie verfehlen. Gemeinschaft entsteht nur als [Textverlust] Und nun wollen wir, nachdem wir so das retrospektiv zu fassen versucht haben, versuchen vorzudringen zu der Namengebung. Woher diese Worte kommen, was das eigentlich ist letztlich. Wirkliche Worte, das sind keine Wörter, das sind Worte. Worte wurzeln in einer Wirklichkeit. Was sind das letztlich für Wirklichkeiten? Wir wollen das tun, um aus dem Nebeneinander der Begriffe Staat, Gemeinschaft, dieser abgegrenzten Begriffe nun zu kommen zu dem Ineinander der Wirklichkeiten Staat und Gemeinschaft, denn das kann als Wirklichkeit nur ein Ineinander, nicht ein Nebeneinander sein. Darum wollen wir fragen: Was ist das eigentlich? Was ist Staat und was ist Gemeinschaft? Oder beginnen wir mit Gemeinschaft. Gemeinschaft ist eine messianische Kategorie, nicht eine geschichtliche. Als geschichtlich weist sie auf ihren Charakter als messianisch. Gemeinschaft kann von Menschen gefasst werden daher, weil sie sie zu fassen vermögen. Das Reich Gottes, die Vollendung der Wirklichkeit zu einer Gemeinschaft

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der Kreatur, die Vollendung der Schöpfung zur Gemeinschaft. Wie das Wort sagt: Da Gott alles in allem sein wird. Das heisst nicht eine Verwischung, nicht eine Abschwächung der Individualisation (?), sondern die ganze Vielheit und Verschiedenheit der Geschöpfe. Bleibend, aber sich zusammenfassend und überwölbt von einer wirklichen, alles umfassenden Gemeinschaft. Wohl ist es messianische Kategorie, aber von da aus legitimiert sich aller andere Gemeinschaftsbegriff. Alle konkrete Gemeinschaft ist in ihrem Wesen Ankündigung und Vorwegnahme dieser Gemeinschaft. Von da aus als Ankündigung, aber auch als Vorwegnahme müssen wir jede einzelne menschliche und geschichtliche Gemeinschaft verstehen, und dann erkennen wir ihre Höhe und ihre Vergänglichkeit, ihre Rechtmässigkeit und ihre Problematik. Und was ist nun der Staat? Aber ich meine jetzt nicht das gedachte Gemeinwesen, nicht den Staat in diesem hohen Sinn, sondern den wirklichen, den Staat, in dem man lebt, den jeweiligen, den tatsächlichen Staat. Der Staat ist Status, der Stand, der Zustand, und zwar der jeweilige Zustand des Nichtverwirklichtseins der wirklichen Gemeinschaft. Eine Linie, die sich stets verschiebt, um es krass zu sagen, so weit muss es Zwang geben und in dieser Weise. Dieser Stand, diese Linie, die anzeigt, wie weit die Menschen frei und fähig sind, das ist nicht etwa in der Linie eines Fortschritts zu machen, aber immer diese wechselnde Linie, auf und nieder wechselnde, vielleicht auch steigende Linie des Verwirklichenkönnens der Gemeinschaft, der Fähigkeit des Menschen zu einem Zueinandertreten, zur Freiwilligkeit des Miteinander, die Fähigkeit zum Miteinander, Ineinander, Füreinanderleben der Menschen. Die wird angezeigt durch den Staat. Der Staat zeigt jeweilig an, so weit kann noch verwirklicht werden, so viel Zwang, Zwangsorganisation ist noch nötig, und zwar so nötig, dass ihr sie nicht etwa bloss dulden, sondern billigen müsst. Und dieses Negative, das gewinnt immer wieder Form, oder richtiger gesagt, es kristallisiert sich. Staat ist Kristallisation des Negativen, und diese Kristallisation ist Schicksal. Auch noch in einem gemeinschaftshaltigen Staat wie der Polis ist sie schicksalhaft. Und diese Schicksalhaftigkeit der jeweiligen Kristallisierung des Negativen, die ist der Sinn davon, dass die Politeia nicht wirklich gebaut werden konnte. Wie stehen nun diese beiden zueinander, Staat und Gemeinschaft? Dieser Staat und diese Gemeinschaft, sofern sie sich messianisch kristallisiert. Sie stehen, ich sagte es schon, nicht gegeneinander, sondern sind ineinander verflochten, begreiflicherweise, denn der Staat zeigt ja an, soweit kann Gemeinschaft nicht verwirklicht werden. Dann zeigt er zugleich an, von da aus kann sie verwirklicht werden. Da gibt es also Gemeinschaft. Irgend eine Gemeinschaft ist auch noch in gemeinschaftsfeind-

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lichen Staaten, als der Staatsgewalt unkenntlich, irgendwo in Gemeinden, in Bünden, in Sekten irgendwo noch fortlebend. Also ein dynamisches Ineinander von Staat und Gemeinschaft. Wenn wir an den Staat denken, der die Gemeinschaft umfasst, dann kann man sagen, dass der Staat gemeinschaftshaltig sei, dass jeweilig so viel Gemeinschaft in ihm möglich ist. Man kann ja unterscheiden zwischen gemeinschaftgebenden und gemeinschaftbannenden Staaten. Das heisst, die gemeinschaftgebenden Staaten sind solche, die sich immer wieder wie ein relatives Maximum von Gemeinschaft zulassen und fördern und die die Starrheit ihrer Struktur immer wieder durch die unmittelbare Beziehung, auf der die Gemeinschaft beruht, aufbaut. Ein solcher Staat ist eben die Polis gewesen. Das war ihre Stärke und gewiss auch eine Schwäche, historisch-machtgeschichtlich betrachtet. Und die unmittelbare Beziehung gehört ja schon bei der primitiven Gemeinschaft zur Grundlage. Also gemeinschaftgebende Staaten und gemeinschaftbannende Staaten als zentralisierte Staaten, die alle Autonomie der Gemeinschaft, welcher Art sie auch ist, unterdrücken, in denen das Gemeinschaftsleben nur noch eben so verschüttet, versprengt ist. Ich sagte schon, das ist das Grundwesen des modernen abendländischen Staates, der ist zentralistisch, und wenn Staatsänderungen heute vollzogen werden, wie bei der russischen Revolution, dann muss der Zentralismus mit Notwendigkeit wieder einsetzen. Es ist also zwischen Staat und Gemeinschaft jeweilig eine Demarkationslinie, die sich stets verschiebt, die immer neu gezogen wird, aber freilich nicht von uns. Aber das ist ja ebenso, wie es im persönlichen Leben ist. Zwischen Verwirklichen und Nichtverwirklichenkönnen wird im Leben jedes Menschen Tag für Tag eine Linie gezogen. Jeder Mensch, der wirklich lebt, wacht ja am Morgen auf mit dem Gefühl der Verantwortung dieses Tages: Wieviel kann ich heute verwirklichen? Er erfährt es, wieviel. Das erfährt er nur dadurch, dass er verwirklicht, dass er an die Grenze seines Verwirklichens kommt und merkt, mehr ist mir nicht gegeben, bis dahin bleibe ich stecken. Diese Demarkationslinie wird täglich neu gezogen. Ich brauche wohl kaum darauf einzugehen, welchen Ursprung der Zentralismus hat. Es ist klar, dass der Zentralismus des Staates äusseren und inneren Zusammenhang hat. Sie sind einmal genannt worden vor [Leerstelle im Text] und [Leerstelle im Text], also Angriff nach aussen, Expansion, wie man auch sagt, Verlangen nach dem, was man nicht hat, mehr haben wollen, und dessen, was im Staat sich auflehnt, was aus seinem Zwang herausbrechen will, Unterdrückung der Verbrechen. Ich sage, das ist etwas, was den abendländischen modernen Staat charakterisiert. Demgegenüber können wir aus den geschichtlichen Vorwegnahmen, also unschwärmerisch,

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sondern aus der Wirklichkeit, in der wir stehen, von da aus können wir auch geschichtlich konzipieren, was wahre Gemeinschaft ist, was realisierbare Gemeinde ist. Also der gemeinschaftsdurchzogene Staat. Nicht als Staatsidee, das ist sie nicht mehr, sondern als die etwa mögliche Verwirklichung der Gemeinschaft selbst. Dieses Gemeinwesen muss und kann sich nur aufbauen aus wirklichen lebendigen Gemeinden. Die wirkliche Gemeinde, die auf dem wirklichen Zusammenleben von Menschen, auf der unmittelbaren Beziehung von Menschen beruht, ist die Zelle des Gemeinwesens. Kein wirkliches Gemeinwesen kann sich aus Individuen zusammensetzen, nur aus Gemeinden. Gemeinde muss erst da sein, damit sich eine eigene Ordnung vollziehen kann. Gemeinde also, ihre Wirklichkeit gefasst durchaus im Gegensatz zu der heutigen entarteten Gemeinde. Es gibt ja nicht bloss diese Ortsgemeinde, sondern auch Werkgemeinschaft, es gibt Glaubensgemeinschaft, alle immer wieder letztlich bestimmt von dem Verhältnis zur Mitte. Aber alle diese Gemeindearten müssen lebendig werden, dass ein Zusammenfassen von Gemeinden zu verschiedenartigen Gemeindeverbänden möglich wird. Freilich dazu gehört, dass die einzelnen Gemeinden einen hohen Grad von Selbstbestand, von Selbstbestimmung haben, von Kraftbestand, Substanz. Dann sind die Gemeindeverbände auch Wirklichkeit, dann flüchten sich ihre Vertretungen nicht zu Parlamenten der heutigen Art, sondern bleiben mit dieser konkreten Substanz der Gemeinde unmittelbar verbunden. Also eine Verwandlung des Parlamentarismus von diesem unwirklichen, sinnlosen Verhältnis von Wählern zu Gewählten, eine Lüge, die von der Fiktivität der Partei überdeckt ist. Verwandlung also auch der Vertretung. Und dann weiter aufsteigen, wobei ein gewisser Zentralismus, eine Zentralisierung notwendig bleiben muss, aber eine, die immer mehr technisch-administrativen Charakter annimmt, sodass immer mehr das öffentliche Leben nach unten in die Gemeinden, in die wirkliche Gemeinschaft verlegt ist. Dass sich nun wirklich der Mensch um seine Gemeinde kümmert und die Gemeindeversammlung eine grössere, echtere, geliebtere Wirklichkeit wird, unendlich geliebter als heute der Reichstag. Die Agora hatte noch ihre Künstlichkeit, ihre Willkür, das war der Grund, auf dem sie ruhte, die Sklaverei. Und erst dann, wenn solches Gemeinwesen aus Gemeinden entsteht, erst dann konstituieren sich wirklich die Völker. Es stellt sich vor, dass aus den heutigen Staaten Gemeinden entstanden sind, um die sie sich zusammenschliessen, zueinanderfinden. Dann gibt es nicht mehr diese Klammer der Staaten innerhalb der Völker, sondern da schliessen sich die Gemeinden aus ihrer natürlichen Zueinandergehörigkeit zusammen zu einem wirklichen Ge-

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meinwesen, und das Volk kann sich erst dann konstituieren. Solange gibt es auch keinen Völkerbund, keinen Bund der Völker. Dann gibt es erst wirkliche Beziehungen zwischen den Gemeinwesen. Ich muss mich mit diesem Hinweis begnügen. Es ist ein Hinweis, und nur ein solcher, auf den Weg zur wachsenden Ueberwindung des Staates in jenem engeren Sinne, also zu einem nicht mehr Auf und Nieder, zu einem Wirklichen, zu einer Richtung zu einer Verschiebung des Status und Verwirklichtsein nach oben zu einer Verwirklichung der Gemeinschaft. Und wenn dieser Hinweis noch so sehr ausgebaut würde, er würde niemals einen solchen bedeuten, niemals eine Staatsidee und niemals einen Gemeinschaftsversuch, sondern es ist der Hinweis auf den Weg, auf dem allein Gemeinschaft sich verwirklichen kann. Immer politisch betrachtet. Denn auf das andere, auf das Religiöse, das grundlegend ist, versage ich mir hier einzugehen. Dieser Hinweis kann aber, das müssen wir uns klar machen, soweit müssen wir die Frage des persönlichen Menschentums einbeziehen, er kann nicht konkret werden von der Politik aus. Er kann aber auch nicht konkret werden auch von einem sogenannten Zusammenschluss, von irgend etwas Organisativem aus, auch nicht derart, wie diese organisationsfeindlichen Zusammenschlüsse der Jugend sind. Und hier müssen wir eine Frage streifen, die man doch wohl in diesem Zusammenhange aufwerfen könnte, die Frage der Revolution. Alle Revolution ist in ihren [Leerstelle im Text] messianisch. Wie 1914 der Staat mit der Gemeinschaft verwechselt wurde, so verwechseln wir die revolutionäre Aktion, die Staatsänderung, mit der Erlösung. Sie meint Freiheit und sie kann doch nur den Zwang ändern, und zwar kann sie das nur so lange, solange der Mensch, der in ihr steht, nicht freiheitsfähig, das heisst, nicht gemeinschaftsfähig ist, solange es die lebendige Gemeinde noch nicht gibt und noch nicht geben kann. Die Revolution kann so lange nur ändern die sogenannte Verfassung, die äussere Form des Staates, und die wirkliche Machtverteilung. Beides bedeutet aber nicht das, wovon wir sprechen. Das bleibt unbeeinflusst. Das wirkliche Leben der Menschen bleibt unverändert in dem aus der Revolution hervorgehenden Gebilde. Ich möchte jetzt lieber als die sogenannte deutsche Revolution, die ich nicht so recht als Revolution zu empfinden vermag, die russische Revolution ansehen, die ja eine tatsächliche Revolution gewesen ist. Wir können in dem Verlauf der russischen Revolution drei Stadien unterscheiden. Das erste ist die Konstituierung der Sowjets, der Räte, das heisst, der einzelnen autonomen Gruppen, auf denen sich das revolutionäre Gemeinwesen aufbauen soll, die einzelne autonome Gruppe, wir könnten sagen, Gemeinde, derart, dass ein Kreis von Menschen an allen Orten, die das öffentliche Leben zu ertragen und zu bestimmen haben, sich

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zusammenschliesst. Aber diese autonome Gruppe erweist sich nicht als widerstandsstark genug, als dagegen nun einsetzt die Zentralisierungstendenz des modernen Staates, wieder einsetzt von den Führern der kommunistischen Partei, da diese zur Macht gelangt ist, von den Parteizentralen aus, nämlich von den Staatsorganen aus, in die ihre Zentrale nun verwandelt worden ist, von der Macht, diese Zentralisierungstendenz gegen die Autonomie der Sowjets. Das ist das zweite Stadium. Sie setzt sich allerdings zum grossen Teil nicht durch. Das hängt mit dem Russentum und seiner besonderen Lebensform zusammen. Sie setzt sich durch, vermindert ihre Autonomie und damit ihre eigentliche Substanz. Sie bleiben vorhanden, aber sie haben kein wirkliches Leben mehr. Und jetzt kommt die Aktion der Gegenbewegung. Aber da, und das ist der Moment, in den wir jetzt eingetreten sind, wenn Sie sich die Vorgänge von Russland genau ansehen, so finden Sie, dass man in ein Entwicklungsstadium tritt, in eine Gegenbewegung gegen die zentralisierte Gewalt. Diese geht nicht mehr aus von den einzelnen Sowjets, von den Gemeinden, von der Wirklichkeit aus, sondern von einer Minderheit, und zwar von einer amorphen, formlosen Parteiminderheit. Sie ist eine vulgäre Parteigegenbewegung, die Gegenbewegung einer Parteiminderheit, die Parteimehrheit werden will. Also das, was eigentlich eine Gegenbewegung hätte tragen können, die wirkliche einzelne Gemeinde, die sich hätte auflehnen können gegen diese Zentralisierungstendenz von oben, die besteht in Wahrheit nicht mehr. Und diese Gegenbewegung ist ebenso von Zentralisierung bestimmt. Der Zentralismus, so könnte man ja diesen Ausbau des Gemeinwesens von der Gemeinde aus bezeichnen, man sagt auch Föderalismus, aber ich meine Zentralismus, wenn Sie wollen, als politisches Programm, ohne Bestehen wirklicher lebendiger Gemeinden ist unwirksam und irreführend. Wo also, und das wollen wir uns zum Schluss noch fragen, wo also ist anzusetzen? Und auch da kann nur hingewiesen werden. Vor allem anzusetzen ist an dem Verhältnis des einzelnen Menschen zu den Gemeinschaftswirklichkeiten, und zwar zu den Gemeinschaftswirklichkeiten institutioneller, einrichtunghafter Art, die es noch gibt, die freilich allesamt in eine Krisis eingetreten sind. Ich will ein paar Beispiele anführen. Ein positives Verhältnis also zu diesen Gemeinschaftswirklichkeiten vermisse ich in der heutigen Jugend ganz und gar: erstens zur Familiengemeinschaft, zweitens zur Werkgemeinschaft, drittens zur Ortsgemeinschaft. Die sind alle in einen Verfall, in eine entscheidende Krisis eingetreten, die den Charakter der Entscheidung, das heisst aber auch den Charakter einer möglichen Regeneration in sich trägt. Es geht nicht an, und es hängt mit dem Verderben unserer Zeit zutiefst zusammen, dass die Jugend glaubt,

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neben dieser Krisis leben zu können, sich darüber hinwegsetzen zu können, von ihr wegsehen, wegleben zu können. Das kann sie nur dadurch, dass sie ins Unwirkliche hineinlebt. Sie muss in diese Krisis der Gemeinschaftsreste, der Reste unmittelbarer Beziehungen der Menschen zueinander, eintreten, sie muss diese Krisis in ihrem persönlichen Leben austragen, dann vielleicht tritt sie und treten diese Gemeinschaften durch sie in die Erneuerung ein, nicht anders. Es ist also nicht so, dass man irgendwie aufgeben kann alle diese Bindungen, weil sie Zersetzung in sich tragen, und in die Freiheit eintreten kann. Diese Freiheit, in die die Jugend einzutreten glaubt, indem sie die Bindungen aufgibt, ist die Leere, das heisst, die unfruchtbare Freiheit. Die Freiheit, aus der nichts werden kann, weil sie keine Wirklichkeitskeime in sich trägt. Es ist eine sterile Freiheit. Damit die Freiheit fruchtbar wird, damit eine fruchtbare, eine erfüllte Freiheit werde, muss der heutige Mensch, die heutige Jugend in die Krise der Gemeinschaft mit ihrem persönlichen Leben, nicht mit ihrem Denken, mit ihrem persönlichen Leben eintreten, muss sie austragen. Das bedeutet aber zugleich eine elementare Aenderung des Verhältnisses von öffentlichem und persönlichem Leben. Denn machen wir uns das klar. Ich habe es noch ungesagt gelassen, aber ich glaube, mancher von Ihnen hat es sich selbst ergänzt. Das was ich vom Staat als Status gesagt habe, das betrifft ja nicht bloss das öffentliche Leben. Diesen Status gibt es ja in jedem von uns, Status des Wirklichkeitseins, den Staat. Der Staat ist in jedem von uns und zwischen uns, er ist überall zwischen Mensch und Mensch das Unverwirklichte, das Hemmende, die Bannung. Da ist anzusetzen. Von da aus ist, von diesem Unwirklichkeitsein ist die Brücke zu schlagen zu allem Unverwirklichtsein und so vom persönlichen Leben ins öffentliche einzutreten. Der Status des Staates ist nur exponiert. Er exponiert nur den Status zwischen den Menschen und im einzelnen Menschen. Es ist also das eigentliche Uebel des politischen Lebens in dem, wenn wir den Ausdruck behalten, politischen Grundverhältnis von Mensch zu Mensch enthalten. Dass der Mensch den Menschen als etwas ansieht, was er erfahren, ermitteln, und zwar in seiner Brauchbarkeit, in seiner Verwendbarkeit ermitteln und sodann verwenden, gebrauchen kann. Das heisst, das Verhältnis, wie es heute zwischen Mensch und Mensch in Geltung ist, dieses, wenn wir es so nennen wollen, dieses politische Grundverhältnis, das ist das Uebel, von dem aus sich der ganze Staat aufbaut. Dieses ist das zu Ueberwindende. Und da steht freilich dem eigentlichen Ansetzen ein grosses Hindernis im Wege. Das ist der falsche Radikalismus bei der heutigen Jugend. Die Jugend liebt es, sich die Dinge so vorzustellen: Man hat ein Ideal der Dinge, wie sie sein sollen, also etwa des Staates

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oder der Gesellschaft, wie sie sein sollen. Dies kann auf politischem oder revolutionärem Wege irgendwie durchgesetzt werden, kann also jetzt und hier nicht durchgesetzt werden. Durch dieses Hinüberschieben gewinnt man die Grundlage für ein Leben ausserhalb der Verwirklichung. Also jetzt und hier macht man das mit, was nun gilt. Das ist der Radikalismus als Flucht. Sozialismus etwa konzipieren als etwas, was irgendwo und irgendwann durchgesetzt werden soll, was es aber nicht jetzt und hier geben kann, wenn es nicht möglich ist, zwischen den Menschen, die sich zu ihm bekennen, dann ist es zwischen keinem Menschen und zu keiner Zeit. Dieser Radikalismus als Flucht vor der Wirklichkeit, vor der Verantwortung, das ist das stärkste Hindernis. Demgegenüber erkennen die Demarkationslinie, die Tag für Tag neu gezogen wird: So viel kann heute, kann von mir, kann zwischen uns, kann in diesem gegebenen Leben verwirklicht werden, und so viel nicht. Ich erfahre es immer wieder nur indem ich es tue. Schicksal. Indem ich mich dem Schicksal des Versagens, dem Schicksal des Andiegrenzekommen Tag für Tag neu aussetze. Das bedeutet Verantwortung. Und freilich, wenn man das Wort Verantwortung in seiner ganzen Wirklichkeit nimmt, dann bedeutet das Wort immer Verantwortung vor Einem. Selbstverantwortung ist eine Täuschung. Wirkliche Verantwortung ist immer Verantwortung vor Einem. Wirkliche Verantwortung beruht immer auf der Wirklichkeit von Ich und Du. Das heisst, auch dies, wozu wir gekommen sind, fängt mit dem Faktum der Mitte und der Beziehung zur Mitte, die wir wieder finden müssen, zusammen. Verantwortung also im wirklichen Sinn. Verantwortung der letzten menschlichen Wirklichkeit. Verantwortung des hic et nunc, des Jetzt und Hier. Das ist das Letzte, wozu wir in der Wirklichkeit kommen können. Alles andere ist persönlich, alles andere muss sich der Mensch, der einzelne Mensch selbst sagen, und es gilt nur, wenn er es sich von seiner Situation, von seinen Gaben, seinen Möglichkeiten, von seinem Ort und seinem Augenblick aus sagt. Aber er muss es sich sagen in dieser Verantwortung, die bedeutet, dass der Mensch sich inne wird seines Anteils an der Verwirklichung des Reichs, seines Anteils an der Verwirklichung der Gemeinschaft der Schöpfung.

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Flucht? Die Aeußerung Karl Wilkers im Hochschul- und Jugendblatt (vom 6. März) kann den Eindruck erwecken, als sei sie durch eine Stelle der Rede veranlaßt, die ich kürzlich im Frankfurter Republikanischen Studentenbund gehalten habe. Denn in dem im Hochschul- und Jugendblatt vom 7. Februar veröffentlichten Referat über meine Rede heißt es: »… Gewarnt sei vor allem – mit diesen Worten wandte sich Dr. Buber an die Jugend – vor jeder Flucht aus der Wirklichkeit. Es heißt aber fliehen, wenn man den Ort verläßt, an den man gestellt ist, und etwa auf kleine Gemeinschafts-Inseln sich zurückzieht.« Aber diese Sätze des Referats geben das, was ich gesagt habe, nicht völlig zutreffend wieder. Keineswegs habe ich das Siedeln als Flucht bezeichnet: als ob einer nicht etwa erst in einer Siedlung den Ort finden könnte, an den er in Wahrheit gestellt ist. Die Klärung der Frage scheint mir wichtig genug, um aus dem mir vorliegenden Stenogramm die einschlägigen Stellen anzuführen. Die erste lautet: »Was ist das, wenn Menschen sich zusammentun, um Gemeinschaft zu stiften, etwa in Gemeinschaftssiedlungen? Was wird hier versucht? Etwas, was nicht versucht werden kann; was wohl sich ereignen kann, aber eben nur, wenn es nicht gewollt wurde. Gemeinschaft kann nur entstehen, wenn wirkliches Leben zwischen Menschen ist, etwa wenn Werkgemeinschaft zwischen ihnen ist. … Aber gemacht, versucht, gegründet kann sie nicht werden.« Hier wird also gesagt, daß Gemeinschaft zu den Dingen gehört, deren Wirklichkeit auf ihrer Unwillkürlichkeit beruht; die nur als heiliges Nebenprodukt entstehen können; die fiktiv werden, wenn sie willkürlich werden; die man somit nur anzustreben braucht, um sie zu verfehlen. Nicht aber wird damit gesagt, wenn einige Menschen irgendwo, etwa in einer Siedlung, gemeinsam leben und arbeiten wollen, um ein Werk zustandezubringen, das sie nur gemeinsam zustandebringen können, wäre das ein unrechtmäßiges Beginnen und es könnte daraus keine Gemeinschaft entstehen. Die zweite in Betracht kommende Stelle lautet: »Vor allem anzusetzen ist bei dem Verhältnis des einzelnen Menschen zu den Gemeinschaftswirklichkeiten institutioneller Art, die es noch gibt, wie die Familie, die Berufsgenossenschaft, die Ortsgemeinde. Sie sind alle in einen Zerfall, in eine entscheidende Krisis eingetreten, die in Wahrheit den Charakter der Entscheidung trägt, das heißt aber eben auch: die Möglichkeit der Regeneration in sich birgt. Es hängt mit dem Verderben unserer Zeit zu tiefst zusammen, daß die Jugend glaubt, neben dieser Krisis leben zu können, sich darüber hinwegsetzen zu können, von ihr wegsehen, wegleben zu

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können. Das kann sie nur dadurch, daß sie ins Unwirkliche hineinlebt. Sie muß in diese Krisis der Gemeinschaftsreste, der Reste unmittelbarer Beziehungen der Menschen zueinander in einrichtunghafter Form, eintreten, dann vielleicht tritt sie und treten diese Gemeinschaften durch sie in die Erneuerung ein, nicht anders. Es ist also nicht so, daß man alle diese Bindungen, weil sie sich zu zersetzen begonnen haben, aufgeben und aus ihnen in die Freiheit hineinspringen könnte. Die Freiheit, in die man durch einen Sprung aus den Bindungen gelangt, ist die fiktive, die leere, die unfruchtbare Freiheit; die Freiheit, aus der nichts werden kann, weil sie keine Wirklichkeitskeime in sich trägt. Damit sie eine fruchtbare, eine erfüllte Freiheit werde, muß der heutige Mensch, die heutige Jugend in die Krisis der Gemeinschaft mit ihrem persönlichen Leben eintreten, muß sie da wahrhaft austragen.« Der Gegensatz, auf den hier hingewiesen wird, ist doch wohl etwas ganz anderes als der Unterschied zwischen denen, die in der Stadt bleiben, und denen, die sich auf dem Land ansiedeln. Den Siedlungsfreudigen wird die Krisis in die »neue« Institution hinein folgen, und mit ihr ihre unerbittliche Frage: »Hast du den Willen und die Macht – und das heißt: den Opferwillen und die Opfermacht –, mich auszutragen?« Es gibt also Flucht in den Städten wie in den Siedlungen, und es gibt Treue in den Siedlungen wie in den Städten. Das Wort »Flucht« habe ich übrigens in meiner Rede nur einmal gebraucht, und zwar als ich von dem falschen Radikalismus sprach, der sich die Dinge etwa so vorstelle: »Man hat ein Ideal des Staates oder der Gesellschaft, wie sie sein sollen. Das kann auf politischem oder revolutionärem Weg ›durchgesetzt‹ werden, das heißt also: es kann jetzt und hier nicht zu verwirklichen begonnen werden. Durch dieses Hinüberschieben auf die Ebene der Durchsetzung gewinnt man die respektable Grundlage für ein Leben außerhalb der Verwirklichung. Jetzt und hier macht man eben mit. Das ist der Radikalismus als Flucht.« Es ist also die Rede von einer Flucht und ihr entgegen von einem Verharren und Verwirklichen, die überall möglich sind.

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Vortrag über Erziehung und Volkstum Herr Rabbiner Dr. Grünewald eröffnet den 4. Erziehungsabend, der in theoretischer und praktischer Hinsicht die Klärung der bisherigen Abende ergeben soll. Er begrüsst Herrn Dr. Martin Buber. Dr. Grünewald weist auf die Gefahr der Isolierung des jungen Menschen, der seine Heimat im Judentum gefunden hat, zur Umwelt hin. Die Jugend sei auf Vorbilder angewiesen, die zeigen, dass es eine Einheit gibt im Zusammenhang mit anderen. Dr. Buber habe in seherischer Weisheit aufgezeigt, was in Gegenwart und Zukunft dem Judentum zur Aufgabe werden müsse. Er soll uns vom Erkennenden aus in diesen Fragen weiter führen. Hierauf ergreift Herr Dr. Buber das Wort: Ich beabsichtige nicht etwa, einen fertigen, geschlossenen Gedankengang über das gestellte Thema vorzutragen, sondern ich will gemeinsam mit Ihnen eine Antwort suchen auf die ernste, ungeheuer schwere Frage, die dieses Thema andeutet. Das Wort »Erziehung« ist nicht nur Eigentum der deutschen Sprache. Es hat seine Herkunft aus »Heranziehen« eines Baumes, eines Tieres, und bedeutet ursprünglich die einfache Erziehung eines Wesens, ohne Beeinflussung. Jedoch, Erziehung im höheren Sinne ist nicht nur Pflege angedeihen lassen, sondern Auslese, Bändigung, Beschränkung der Triebe. Die Erziehung darf kein Zwang sein; es muss von der Wirklichkeit ausgegangen und die vorhandenen Kräfte müssen zur möglichst vollkommenen Entfaltung gebracht werden. Dies kann eben praktisch nur gelingen, wenn der Erzieher eine Auslese trifft innerhalb der Welt, die auf das Kind einwirkt und in den Kräften der Seele dieses jungen Menschen. Diese Aufgabe ist so verantwortungsschwer, dass wir fast verzagen möchten vor ihrer Grösse. Denn es gilt, dass dieser werdende Mensch und diese Welt, der er sich gegenüber gestellt sieht, zu einer Einheit verwachsen, auf dass ein wirkliches Menschentum in ihm reife. Der Erzieher soll nicht nur in seinem Denken, seiner Erkenntnis, sondern in seinem ganzen Wesen ein Kriterium haben, eine feste Wertskala, von der aus er bejahen und verneinen, hervorheben und verwerfen kann, ein zuverlässiger Prüfstein für gut und böse. Welch schwere Aufgabe, zumal in einer Zeit wie der unseren, wo die abgesteckten Masstäbe erschüttert sind und die Welt in einer fast das innerste Wesen zersetzenden Weise relativiert ist. Die Kraft der Seele des jungen Menschen muss confrontiert werden mit der Wirklichkeit der Welt. Z. B. ist der Farbensinn des Zöglings in Berührung zu bringen mit der Farbenwelt in Natur und Kunst, sodass sich dieser Sinn bestätigt fühlt in der Welt der äusseren Erscheinungen. Diese

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besondere Aufgabe des Erziehers ruht auf der geheimnisvollen Tatsache, dass Innen und Aussen nicht letztlich verschiedene Welten sind, sondern dass diese sich einander entsprechen – eine grosse Zwiesprache zwischen Ich und Du. Es gibt im Menschen eine weite Schicht, die von der Vergangenheit des Menschengeschlechts gebildet ist. Der Wurzelgrund der Seele hängt zum grossen Teil mit der Geschichte seiner Gemeinschaft zusammen. Dies hat durch die Kette der Geschlechter eine geschlossene Menschengruppe – Volk – ergeben und eine Ablagerung von Geschlecht zu Geschlecht bildete sich in dieser Menschenseele. Je geschlossener sich die Gemeinschaft in der Kette der Generationen darstellt, umso ablesbarer ist der gemeinschaftliche Wurzelgrund der Seele. Es gibt eine gemeinsame Gestaltungskraft im innersten Sinn. Dieser ablesbare Wesensgrund der Seele bildet das innere Volkstum; die Ablagerungen von Geschlecht zu Geschlecht in dieser Seele bindet den Menschen mit Nebeneinander und Urzeit. Zum eigentlichen Thema dieses Abends erhebt sich die Frage: Wie ist es möglich, jenen Wurzelgrund, jenen Gemeinschaftsgrund der Seele zu entfalten und zu verwirklichen? Wie confrontieren wir jenes Ergebnis der Jahrtausende langen Kette von Geschlechtern mit dem heutigen Geschlecht, sodass diese Gemeinschaftskraft der Seele fruchtbar werde für die Gemeinschaft, dass eine Vereinigung sich vollziehe zwischen Welt und Seele im Sinne der Gemeinschaft? In den Fällen ist das Problem ein verhältnismässig einfaches, wo inneres Volkstum mit dem äusseren Volkstum in Zusammenhang steht. So bildet z. B. die Sprache eine ungeheuere Aufspeicherung des Volkstums. Hier braucht der Erzieher das natürliche Leben nur zu fördern, sorgsam und zurückhaltend zu beeinflussen. Der Kontakt zwischen dem Wurzelgrund der Seele und der Gemeinschaft ist hergestellt. Anders im Judentum, wo dieser natürliche Zusammenhang nicht vorhanden ist, wo die Sprache, in der jene Kräfte der Seele Gestalt genommen haben, eine andere ist als die, in der dieser Mensch heute redet. So entsteht ein Zwiespalt im innersten Sein der Seele zwischen jener Gemeinschaft, der er verschrieben ist, und der Gemeinschaft, in der sein Leben gelebt werden soll. Diese besondere Problematik des Juden soll uns hier beschäftigen. In der heutigen Zeit ist der junge Mensch versucht, sich allzu sehr mit seinem Ich zu beschäftigen. Es kann hieraus ein pathologischer Egotismus (Selbstbefassung), ein Insichzurückgebogensein entstehen und zur Folge haben, dass das rechtschaffene Verhältnis zur Welt mangelt. Ebenso wie einen persönlichen Egoismus, gibt es einen Gruppenegoismus (sacro egoismo); und wie den Egotismus des Einzelnen gibt es einen Grup-

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penegotismus. Der Erzieher hat also die Aufgabe, den Zusammenhang zur Gemeinschaft zu einer selbstverständlichen zu machen. Dies ist verhältnismässig einfach bei anderen Völkern. Doch beim Judentum entstehen Schwierigkeiten, da es an einfachem natürlichen Zusammenhang hier fehlt. Vor allem mangelt die lebendige Sprache! So bleibt das innerste im Menschen meist verschüttet. Die hebräische Sprache ist zu einer gelernten Sprache geworden. Das Leben dieser Sprache kann sich dem Menschen nicht auftun und somit auch die innersten Quellen der Seele nicht. Dies ist eine tragische Situation für den Lehrer und die Eltern. Die Kinder wachsen auf von Geschlecht zu Geschlecht mit verschütteter Seele, sodass sie nur mit der Oberfläche der Seele in die Gemeinschaft eintreten. Die Urkraft bleibt verschüttet, steril. Es hilft nicht, etwa jüdisches Bewusstsein in den Kindern zu erwecken. Durch Bekenntnis und Bewusstsein wird nichts an der Situation geändert. Wo der Zusammenhang des Einzelnen zwischen ihm und seinem Volkstum gefährdet ist, besteht auch Gefahr der Zusammenhanglosigkeit zwischen ihm und den einzelnen Gliedern dieses Volks. Solange diese Gefahr vorhanden ist, muss das Volkstum zum Gegenstand der Erziehung gemacht werden, nicht im Sinne eines abstrakten Bewusstseins, sondern im Zusammenhang mit der Realität des Lebens. Dieses Ziel der Erziehung soll Gegenstand unserer heutigen Aussprache sein.

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* In der sich nun entwickelnden Diskussion richtet Herr Dr. Grünwald an Dr. Buber die Frage, wie zunächst einmal die Beziehung zum Volkstum, zur Gruppengemeinschaft herzustellen ist. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gibt es eine Anzahl von Juden, die sich wohl zur jüdischen Religion bekennen, aber keinen Zusammenhang mit der Realität der jüdischen Gemeinschaft haben. Wie ist es möglich ein Geschichtsjude zu sein, und wie ist es möglich, einen Juden, der nur von dem Gefühl seiner Religiosität erfüllt ist, der Gemeinschaft zuzuführen? Herr Dr. Buber: Man kann bei diesen Menschen nicht vom Volkstum ausgehen. Man soll aufzeigen, dass die jüdische Religion geschichtlich ist und nichts anderes bedeutet als ununterbrochenen Geschlechterzusammenhang, dass die jüdische Religion nicht zulässt, dass man sich zu ihr in abstracto bekennt. Denn diese Religion lässt sich nicht schlechthin in Dogmen fassen. Die Bekenntnisse müssen erst erfüllt werden mit der Vitalität des tatsächlichen jüdischen Lebens. Es gilt, die Wirklichkeit des Lebens des jungen

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Menschens zu confrontieren mit dem, was er zu sein vorgibt. Es gilt, jeden einzelnen Menschen zur harten Selbstbekenntnis aufzurufen. Herr Dr. Billigheimer glaubt, dass bei allem Bewusstsein der jüdischen Gemeinschaft die religiösen Bedürfnisse nicht immer befriedigt werden, so wie manches jüdische Individuum es sucht. Es gibt Juden, die dem Gottesdienst fern bleiben und doch in der Stille ihren festen Zusammenhang mit der jüdischen Gemeinschaft finden. – Dem Lehrer steht ein Chaos von jungen Menschen gegenüber; wie ist es möglich, den Weg zur Gemeinschaft innerhalb einer solchen Vielheit zu finden? Ist die Gemeinschaft in einer Erziehungsgruppe möglich? Bleibt die religiöse Erziehung nicht eine unmittelbare Angelegenheit oder ist sie Gemeinschaftsangelegenheit? Dr. Buber: Es muss die Fülle des Ich im jungen Menschen zunächst unmittelbar vergegenwärtigt werden zu einem Wir. Der junge Mensch wird dies zunächst nicht verstehen. Aber dann wird er entdecken, wahrnehmen, dass er in einem Wir steht. Man muss ihn dazu führen, dass er den Irrwahn aufgibt, als ob der Jude nur persönliche Religiosität treiben kann; dass er merkt: hier ist innerhalb der Geschichte der Religion (verstanden als Geschichte der Beziehungen zwischen Gott und Menschheit) ununterbrochene Generation. Der Lehrer muss hinweisen auf die geschichtliche Entwicklung: wie aus einer Schar von Menschen ein Volk wurde, das eine wahrhafte Volksverfassung erhielt: ein Gotteskönigtum; und unter Gottes Herrschaft aus Freiwilligkeit in einer Gemeinschaft lebte. Justizrat Dr. Appel: Herr Dr. Buber hat die Aufgabe des Erziehers gekennzeichnet und auf die gegenwärtige schwierige Lage des Erziehers und der Eltern hingewiesen. Dr. Appel wirft nun die Frage auf, ob es Dr. Buber für unumgänglich notwendig finde, den jüdischen Kindern auch die jüdische Mutter zu geben. Herr Dr. Buber stellt zunächst klar, dass seine heutigen Ausführungen nicht seine persönlichen Ansichten und Entscheidungen zum Ausdruck bringen, sondern rein objektiv besprochen werden sollen. Die Schüler sollen erst ihre Wirklichkeit suchen und dann folgen. Vom Gesichtspunkt der Erhaltung des jüdischen Volkes aus muss den Mischehen entgegengetreten werden. Doch ist die Frage der personenhaften Verantwortung hiervon zu sondern. Es ist ein Geheimnis an die Menschenseele. Man kann sich nicht hineinversetzen in die Wirklichkeit des Anderen und darf kein sittliches Urteil sprechen. Ob ein jüdischer Mann sich getraue, seinen

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ungeborenen Kindern eine nichtjüdische Mutter zu geben, darüber muss er sich Gott verantworten. – Es werden nun im weiteren eine Reihe von Fragen an den Vortragenden gestellt, die Dr. Buber zusammenfassend als Abschluss der Diskussion des Abends beantwortet. 1. Herr Simon: Nach Auffassung Herrn Dr. Bubers kann eine Erziehung nur zu einem guten Resultat führen, wenn wir den Wurzelgrund der Seele in Verwirklichung im Leben bringen. Er zeigte als Mittel hierzu die Sprache. Doch die hebräische Sprache kann im Kinde nicht mehr zum Leben, Wirken, erweckt werden. Gibt es noch eine andere Möglichkeit zur Verwirklichung? 2. Frl. Dr. Kuhn: Herr Dr. Buber ist vom Gemeinschaftsbewusstsein ausgegangen und hat eine Basis gesucht, von der der Lehrer darauf hinwirken kann. Ist das Gemeinschaftsbewusstsein eine Tatsache oder nur ein zu erstrebendes Ziel? 3. Frau Dr. Bödenheimer-Biram: Wie weit ist das jüdische Volkstum, um das wir uns bemühen, identisch mit dem Nationalismus der heutigen Völker? Und wie weit unterscheidet es sich hiervon? 4. Dr. Billigheimer: Herr Dr. Buber hat von der grossen Verantwortlichkeit gesprochen und der Unmöglichkeit des Erkennens des Anderen. Wäre die Folge hiervon im letzten Sinne nicht die Unmöglichkeit der Erfüllung der Aufgaben des Erziehers? 5. Herr Dr. Hildesheimer: Sinn der Erziehung ist die harmonische Persönlichkeit. Doch zwischen dem Wesensgrund der jüdischen Seele und der Art, wie der Jude leben muss, herrscht Diskrepanz. Sieht Herr Dr. Buber für uns westeuropäische Juden die Möglichkeit des Gelingens zur Heranbildung einer harmonischen Persönlichkeit? 6. Dr. Eppstein: Hat diese Wirklichkeit, wie sie uns Herr Dr. Buber darstellt, Sinn für uns, die wir uns nicht nur in innerer, sondern auch in harter äusserer Not des alltäglichen Lebens befinden? Die Diskrepanz zwischen unmittelbarer Wirklichkeit und der vermittelten, metaphysischen, Wirklichkeit ist das wirkliche Problem. … (unvollständig) 7. Frl. Strauss: Steht der besprochene Egotismus nicht im Widerspruch mit der Forderung der Selbstkritik? Ferner: Ist die Einhaltung der jüdischen Gesetze Erfordernis zur Verbundenheit mit dem Judentum? 8. Frau Schwarz: Wie können wir Eltern voll inneren Zwiespalts ungebrochene Kinder erziehen? Herr Dr. Buber: ad 1.: Ich habe die Sprache nur als stärkstes Beispiel angeführt. Der Erziehung in der jüdischen religiösen Geschichte fehlt die Verbindung mit der hebräischen Sprache. … (unvollständig)

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ad 2.: Auf Gemeinschaftsbewusstsein kann kein Leben aufgebaut werden. Ich glaube nicht, dass das Gemeinschaftsbewusstsein das wesentliche ist. Das Fundament für den Lehrenden ist die Tatsache, dass es in dem jungen Menschen eine jüdische Existenz gibt, eine Grundbeschaffenheit des Wesens, die man aktualisieren und die man in den Formen des Lebens im Alltag verwirklichen kann. ad 3.: Die Frage des »Nationalismus« lehne ich ab. Das Judentum ist von einer solch ungeheuren Einmaligkeit, bedeutet viel mehr als »Nation« im europäischen Sinne. Das Judentum ist in Wort und Blut fundiert. ad 4.: (unvollständig) ad 5.: In einer Zeit der Verworrenheit und des Lebenswiderspruchs ist Erziehung zu einer harmonischen Persönlichkeit im Goetheschen Sinne unmöglich. Sie wäre nur Täuschung und Lüge. Man soll dem jungen Menschen ein Ziel geben, das höher und grösser ist als er selbst. Aufgeschlossen-sein für die Wirklichkeit im Menschen erwecken. ad 6.: Dr. Eppstein unterscheidet eine innere und eine äussere Lebensnot. Die Wirklichkeit, von der ich heute sprach, bedeutet nichts anderes als Alltag. In den Bedingtheiten des Alltags muss der Zusammenhang mit dem Göttlichen verwirklicht werden! Die Religion muss die Ganzheit des Lebens umfassen. ad 7.: Selbstkritik ist nicht misszuverstehen mit Egotismus. – Die jüdischen Gesetze sollen nicht befolgt werden in der Auffassung, als ob das jüdische Volk nicht ohne Formen bestehen könnte. Wir müssen erst zurückgehen auf den Sinn des Gesetzes. Jeder Einzelne muss sich mit den jüdischen Gesetzen auseinandersetzen und dann entscheiden, ob er sie befolgen kann. ad 8.: Eltern können ihre Kinder nicht erziehen, ohne in der Tat sich selbst zu erziehen. Sie müssen erst in Selbstbesinnung auf die Urfragen ihres Lebens zurückgehen. Doch die Eltern können mit ihren Kindern gehen. Auf diesem Weg, zu dem die Selbstbesinnung die notwendige Voraussetzung ist, werden sie vorwärts kommen. Herr Dr. Grünwald bringt Herrn Dr. Buber für seine bedeutsamen Ausführungen tiefen Dank zum Ausdruck und schliesst die Diskussion.

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Drei Sätze eines religiösen Sozialismus Aus einer Reihe von Thesen, die nicht als Programm, sondern als Bekenntnis gemeint sind, teile ich hier die drei ersten mit und widme sie Leonhard Ragaz, indem ich einen Satz von ihm davor setze: »Jeder Sozialismus, dessen Grenze enger ist als 5 Gott und der Mensch, ist uns zu wenig.«

1. Religiöser Sozialismus kann nicht Verknüpfung von Religion und Sozialismus bedeuten, dergestalt, dass jeder seiner beiden Bestandteile auch unabhängig vom andern, wenn nicht sein Genügen, so doch sein selbständiges Leben finden könnte und die beiden nur eben einen Vertrag geschlossen hätten, um ihre Selbständigkeiten zu einer des gemeinsamen Seins und Wirkens zusammenzufügen. Religiöser Sozialismus kann vielmehr nur bedeuten, dass Religion und Sozialismus wesensmässig aufeinander angewiesen sind, dass jedes von beiden zur Erfüllung und Vollendung des eigenen Wesens des Bundes mit dem andern bedarf. Die r e l i g i o , d. i. die Verbundenheit der Menschenperson zu Gott, kann ihre volle Wirklichkeit nur am Willen zu einer Gemeinschaft des Menschengeschlechtes – als die allein dem Gotte sein Reich bereiten darf 1 – gewinnen; eine s o c i a l i t a s , d. i. ein Genossenschaftwerden der Menschheit, ein Genossewerden von Mensch zu Mensch, kann nicht anders wachsen, als aus der gemeinsamen Beziehung zu der, wenn auch wieder und noch namenlosen, göttlichen Mitte. Verbundenheit zu Gott und Gemeinschaft zu den Kreaturen gehören zusammen. Religion ohne Sozialismus ist entleibter Geist, also auch nicht wahrhafter Geist; Sozialismus ohne Religion ist entgeisteter Leib, also auch nicht wahrhafter Leib. Aber: Sozialismus ohne Religion vernimmt die göttliche Ansprache nicht, er geht nicht auf Erwiderung aus, und doch geschieht es, dass er erwidert; Religion ohne Sozialismus vernimmt die Ansprache, und erwidert nicht. 1.

Um deutlicher zu machen, was mit diesen Worten gemeint und was damit nicht gemeint ist, führe ich den Anfang der vierten, in diesen Abdruck nicht mitaufgenommenen, These an: »Es ist unzulässig, die Verwirklichung des Sozialismus mit dem Reiche Gottes gleichzustellen: sie sind verschieden wie Menschentat und Gnade. Aber es ist ebenso unzulässig, sie vom Reiche Gottes abzuscheiden; sie hängen zusammen wie Menschentat und Gnade.«

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Alle »religiösen« Formen, Institutionen und Verbände sind je nachdem real oder fiktiv, ob sie einer wirklichen religio – einer wirklichen Verbundenheit der Menschenperson zu Gott – zum Ausdruck, zur Gestalt und zum Träger dienen, oder nur neben ihr her bestehen, oder gar die Flucht vor der wirklichen religio – als welche die konkrete Antwort und Verantwortung des Menschen im Jetzt und Hier einschliesst – decken. So sind auch alle »sozialistischen« Tendenzen, Programme und Parteiungen je nachdem real oder fiktiv, ob sie einer wirklichen socialitas – einem wirklichen Genossenschaftwerden der Menschheit – zur Kraft, zur Anweisung und zum Werkzeug dienen, oder nur neben ihrem Wachstum her bestehen, oder gar die Flucht vor der wirklichen socialitas – als welche das unmittelbare Miteinanderleben und Füreinanderleben der Menschen im Jetzt und Hier einschliesst – decken. In der Gegenwart sind die geltenden religiösen Formen, Institutionen und Verbände in die Fiktivität eingetreten, die geltenden sozialistischen Tendenzen, Programme und Parteiungen noch nicht aus der Fiktivität herausgetreten. So steht heute im Bezirk der Geltung Schein gegen Schein. Aber im Bezirk der verborgenen Künftigkeit hat die Begegnung zu geschehen begonnen. 3. Der Ort, wo Religion und Sozialismus einander in der Wahrheit zu begegnen vermögen, ist die Konkretheit des persönlichen Lebens. Wie Religion in ihrer Wahrheit nicht Glaubenslehre und Kultvorschrift, sondern das Stehen und Standhalten im Abgrund der realen wechselseitigen Beziehung zum Geheimnis Gottes ist, so ist Sozialismus in seiner Wahrheit nicht Doktrin und Taktik, sondern das Stehen und Standhalten im Abgrund der realen wechselseitigen Beziehung zum Geheimnis der Menschen. Wie es Vermessenheit ist, an etwas zu »glauben«, ohne – wie unzulänglich auch – auf das zuzuleben, woran man glaubt, so ist es Vermessenheit, etwas »durchsetzen« zu wollen, ohne – wie unzulänglich auch – auf das zuzuleben, was man durchsetzen will. Wie das Dort versagt, wenn das Hier nicht drangegeben wird, so muss das Dann versagen, wenn das Jetzt es nicht bewährt. Die Religion soll wissen, dass es der Alltag ist, der die Andacht heiligt und entheiligt. Und der Sozialismus soll wissen, dass die Entscheidung darüber, wie ähnlich oder unähnlich der erreichte Zweck dem einst gesetzten ist, davon abhängt, wie ähnlich oder unähnlich dem gesetzten Zweck das Mittel war, durch das er erreicht

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wurde. Religiöser Sozialismus bedeutet, dass der Mensch in der Konkretheit seines persönlichen Lebens mit den Grundfakten dieses Lebens Ernst macht: den Fakten, dass Gott ist, dass die Welt ist, und dass er, diese Menschenperson, vor Gott und in der Welt steht.

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Religion und Volkstum Wilhelm Michel.

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Sehr verehrter Herr Buber, wie schon der Einleitende des Abends gesagt hat, ist es ein Versuch, den wir heute Abend machen. Ein Versuch, die Wahrheit um einen bestimmten Gegenstand zu finden, und zwar ist es ein gemeinsames, ein in diesem Augenblicke sich vollziehendes Bemühen um eine Wahrheit, bei der das Wort den Entstehungsprozeß zeigen soll. Es ist also das Herantreten von zwei Menschen an einen bestimmten Gegenstand mit der Hoffnung es werde sich das, was die beiden Menschen in sich haben, in diesem Augenblicke an einem Problem entzünden. Wir können nur das eine hoffen, daß die Hörer stillschweigend mithelfen. Das Thema heißt Religion und Volkstum. Und diese Frage scheint mir zwei Möglichkeiten, zwei Fragenreihen in sich zu schließen. Die eine Fragenreihe wäre etwa so zu bezeichnen: Wie verbindet sich Religion mit einem bestimmten Volkstum, oder genauer gesagt, gibt es regelmäßige Zusammenhänge zwischen einem bestimmten Volkstum und einer bestimmten Religion, etwa in der Weise, daß man sagen könnte, zu einem bestimmten Volkstum gehört eine bestimmte Religion in dem Sinne, in dem jüngst ein Aufsatz der katholischen Zeitschrift das »Hochland« geschrieben war. Kann man davon sprechen, daß die germanischen Völker zum Protestantismus bestimmt sind?, kann man dagegen sagen, daß die romanischen Völker zum Katholizismus bestimmt sind? Es ist dies eine Fragenreihe, von der ich noch nicht weiß, ob wir sie heute Abend verfolgen wollen, aber ich glaube, daß auf der Linie dieser Frage das Problem der Assimilation sich erheben würde, die Frage, ob man als Jude auch Deutscher in einem mehr als formalistischen Sinne sein könne oder nicht. Das wäre die eine Fragenreihe. Und die andere Fragenreihe, die hier benannt wird mit dem Stichwort Religion und Volkstum, scheint mir zu sein: Wie verhält sich Religion zum Lebenwollen eines Volkes? Daß hier eine Frage vorliegt, das ist durch sehr viele Erscheinungen des heutigen öffentlichen Lebens bewiesen. Daß hier insbesondere für uns heute eine Frage in dieser Verbindung vorliegt, scheint mir besonders dadurch bewiesen zu sein, daß wir heute das Nationale in allen Richtungen und Regionen im Wachsen sehen, daß die Nation für viele Menschen die Rolle des höchsten Gesetzes und höchsten Zieles, des höchsten Interesses spielt. Daß hier eine Frage vorliegt, das läßt sich vielleicht durch eine Gegenüberstellung erläutern.

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Es gibt in den Briefen von Tolstoi eine Stelle, an der er voll Schärfe sagt, wir müssen uns freuen über jedes Unglück, das unserem Lande als einer politischen Einheit zustößt, es ist nicht ein Nachteil, sondern ein großer Vorteil; er sagte: so oft ich krank werde, so oft sich die Auflösung meiner Existenz zu vollziehen scheint, habe ich ein Gefühl der Erleichterung der Befriedigung, und so oft ich gesund werde, habe ich das Gefühl einer Unruhe und einer Unzufriedenheit. Demgegenüber sei erinnert an ein Buch, das jetzt gerade in Frankreich außerordentlich scharf und lebhaft umstritten wird, das Buch von Benda: »Der Verrat der Geistigen«. Er wirft darin den geistigen Menschen von heute vor, daß sie einer Vergöttlichung des Diesseits anheim gefallen sind. Sie haben die Nation und die Klasse, der sie selbst angehören, an die Stelle Gottes gesetzt. Er wirft ihnen vor, daß die Geistigen dem kein Halt entgegengerufen haben, daß die Geistigen heute die wesentlichen Träger und Vertreter dieses Übergriffes, dieses geistigen Übergriffes des Nationalismus sind, daß die Geistigen, die eigentlich das Wort des Geistes zu führen haben, heute die Überläufer zum Irdischen hinüber sind. Der Verfasser des Buches meint es hat immer Patriotismus und Nationalismus gegeben, aber daß die Nationen mit der höchsten geistigen Würde umkleidet werden, von berufenen Wortführern des Geistigen, das ist eine neue Erscheinung, die noch nicht da war in dieser Weise. Wir müssen uns klar werden darüber ob wir auf der Linie der Ersten, oder der zweiten Fragenreihe vorgehen wollen.

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Dr. Martin Buber Ich möchte vorschlagen, daß wir uns heute auf die zweite Fragenreihe beschränken, denn die Frage, wie Religion und Volkstum historisch, ethnologisch zusammenhängen, das ist eigentlich eine wissenschaftliche Frage. Das heißt, es ist eine Frage, die entweder exact, oder gar nicht beantwortet werden kann. Wenn wir uns hier zu unterhalten suchen, ob dieses oder jenes Volk, oder Völkergruppe, mit dieser oder jener historischen Religion wesenmäßig zusammenhängen, so würden wir uns bemühen müssen, die Sache streng sachlich zu behandeln, da wir sonst leicht Gefahr laufen, in gefühlsmäßige Wertungen hineinzukommen, nicht vielleicht, wenn wir uns statt einer Stunde ein paar Tage unterhalten würden. Ich fürchte also, daß wir zu sehr zu unzulänglichen Formulierungen kommen, und dazu kommt noch, daß ich ja gar nicht weiß, wie weit wir in dieser Frage verschiedner Meinung sind. Aber es ist durchaus nötig, daß wir uns in dieser exacten Fragestellung bewegen.

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Es gibt manches, was ich abweichendes zu sagen hätte, z. B. über den Zusammenhang, daß die germanischen Völker mit dem Protestantismus, die romanischen Völker mit dem Katholizismus einig sind. Wir werden wahrscheinlich, vermute ich, beide zu etwas skeptischen Formulierungen kommen, und wir werden uns nicht zu weit einlassen, daß es z. B. im Buddhismus einen Katholizismus gibt. Schon deshalb weil wir beide wissen, daß Katholizismus und Protestantismus religionsgeschichtliche Kategorien sind. Also ich schlage vor, daß wir uns an die zweite Fragestellung halten. Und nun wollen wir auf allgemeine Gesichtspunkte eingehen, oder wollen Sie nicht vielleicht lieber noch einiges dazu, in Bezug auf Ihre besondere Stellungnahme vorbringen? Wilhelm Michel.

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Mich interessiert an der Erscheinung, daß diese Nationalismen, wie ich behauptet habe, in neuerer Zeit einen besonderen Auftrieb gewonnen haben; mich interessiert an dieser Erscheinung die geistige Seite, die geistesgeschichtliche Wurzel. Man macht auf der einen Seite für die neue Kräftigung des Europäischen Nationalismus etwa Fichte verantwortlich, oder auf der anderen Seite die französische Revolution. Das sind Erklärungen, die ganz sicher wertvolles Material für die Durchleuchtung dieses Vorganges beizubringen geeignet sind. Es gibt aber diese Erscheinungen nicht nur als ein Hochkommen der Nationalismen, sondern auch in einer ganzen Reihe von anderen Gestalten. Es gibt sie auf sehr vielen Gebieten in der Gestalt dieses allgemeinen Herübergehens der Menschen in den Bereich des Greifbaren. Es gibt sie in der Gestalt, daß die Menschen ihr Interesse heute viel mehr der Naturgrundlage des Lebens zuwenden. Für mich ist das die Entstehung der modernen Nationalismen. Sie haben dieselbe Wurzel, wie das Hochkommen des Dämonischen überhaupt. Ich sehe überall die gleiche Tendenz der Menschheit, ins Dämonische zu verfallen. Ich sehe darin eine geistige, eine sehr tiefreichende geistige Veränderung, die unter Anderem ausgesprochen wird in dem bekannten Buche von Spengler. Sie ist nicht allein als negative Erscheinung zu werten, sie ist auch zu den positiven Dingen zu rechnen. Es würde sich in Ihrer Antwort darum handeln, ob man zugestehen kann, daß die Nationalismen heute in der Tat diesen breiten Boden haben. Ich glaube, daß im großen Ganzen die Nationalismen erwachsen sind auf dem Boden der Tendenz, dem Dämonischen, ein weites Tor aufzutun. Ich möchte noch einen Satz sagen der meine Stellung dazu von weitem andeuten soll: Ich glaube nicht, daß das Übel darin liegt, daß dies

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dämonische Elemente sind, das Übel liegt darin, daß sie die Herrschaft an sich reißen wollen. Sie wollen sich vom zweiten Platz an den ersten und höchsten setzen. Dr. Martin Buber. Ja alles in Allem genommen scheint mir die Übereinstimmung zwischen uns größer zu sein, als die Verschiedenheit. Aber ich werde, schon um des Weitergehens des Gespräches willen, das Trennende stärker betonen, als das Gemeinsame. Zunächst aber muß ich von einer Übereinstimmung ausgehen. Auch ich sehe die Tatsache, daß heute der Nationalismus an die höchste Stelle gerückt ist, vielfach an die höchste Stelle gerückt ist, als eine pathologische an, als eine zu den am schwersten zu bekämpfenden Krankheitserscheinungen unserer Zeit an. Das deutlichste Beispiel hierfür ist mir entgegengetreten – Sie haben Tolstoi zitiert – bei dem anderen großen Russischen Dichter, bei Dostojewski, jenem merkwürdigen Führer des Polydämonismus unserer Zeit, – (Ich werde ersucht lauter zu sprechen. Ich werde dem Wunsche nachkommen, aber Sie werden verstehen, warum Michel und ich nicht so laut sprechen, weil es der Charakter des Gespräches verbietet. Aber wenn Sie nicht hören, muß ich eben lauter sprechen.) Also ich sage der Polytheismus, der sich in dieser nationalen Überspannung ausdrückt, ist mir am deutlichsten entgegengetreten bei Dostojewski in der Ihnen bekannten Stelle des Romanes, »die Teufel«, »die Besessenen«, oder auch »die Dämonen« genannt. Dostojewski läßt eine Gestalt, die zweifellos ihm dem Dichter sympatisch ist, und die zweifellos im höheren Maße, als die anderen Personen seine eigene Ansicht ausdrückt, dies können wir an verschiedenen direkten Äußerungen Dostojewski’s feststellen, er läßt also diesen Sch. sagen, es gäbe einen Kampf zwischen den Göttern der Völker. Jedes Volk hätte seinen Gott, und diese Götter kämpften miteinander, und dieser – Dostojewski sagt es nicht wörtlich so, aber man kann die Folgerung ziehen – dieser Kampf der Götter der Nationen miteinander ist die Weltgeschichte. Es ist dies der äußerste Gegensatz zu der Tolstoischen Äußerung, und ich glaube man kann Dostojewski zutrauen, daß er sich etwas ganz wirkliches dabei gedacht hat, daß er damit keine Metapher aussprechen wollte, sondern, daß er, wenn er Götter sagt, wirklich etwas ganz reales meinte, wenn auch nicht sichtbare Figuren, so doch etwas ganz reales, wodurch diese Völker weltwendende, weltgroße Kämpfe miteinander ausführen. Wenn wir nun die Tolstoische Äußerung dagegen halten, so sind wir, zunächst auch ich geneigt, mich zu Tolstois Seite zu stellen, denn dieser moderne Polytheis-

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mus Dostojewskis der zerreist den Zusammenhang der Menschen mit der Einheit des Seins, den Zusammenhang der Menschen mit der einen Wahrheit, die vielleicht niemand von uns, keine Menschenschaar, kein Volk, keine Religion besitzen kann, aber zu der wir alle mit unserem Leben eine Beziehung suchen, nicht wahr, diese Beziehung wird ja unmöglich, wenn Wahrheit gegen Wahrheit, nationale Wahrheit gegen nationale Wahrheit letztlich gegeneinanderstehen, wenn die Völker nicht Sendlinge eines überlegenen Geistes sind, sondern souveräne Mächte gegen souveräne Mächte stehen, Macht gegen Macht. Was entscheidet? Worin wurzelt die Entscheidung? Woher nimmt sie ihren Sinn? Es ist etwas letztliches, eine Preisgegebenheit der Schale des Menschengeistes, zu der diese Auffassung Dostojewskis führt. Es ist dies Kriterium Dostojewskis, als Kriterium wird man es wohl fassen dürfen, dieses Kriterium spricht hier ein schlechthin heidnisches Wort aus. Ich sage also, daß diesem Wort gegenüber ich zunächst geneigt bin, mich zu Tolstois Seite hinüberzuschlagen. Aber das halte ich nicht lange aus. Denn ich frage mich diesem Tolstoischen Wort gegenüber, ob man so etwas darf, verstehen Sie mich recht, daß man es für seine Person darf, vielleicht darf man sagen, daß diese opferhafte Auffassung des persönlichen Lebens uns aufgegeben ist, daß der Sinn des persönlichen Lebens sich im Opfer erschließe, das glaube ich mit Ihnen, mit Tolstoi. Aber daß man dies auch auf andere anwenden darf, daß dies wahr wird, wenn es aus dem Bereiche des persönlichen Lebens, wo es der Mensch nur mit sich selbst zu tun hat, hinübergeholt wird in das Verhältnis zu seiner Gruppe, dies ist mir außerordentlich zweifelhaft. Es wird uns dies deutlicher, wenn wir statt Nation eine wesentlich kleinere Gruppe einsetzen, eine natürliche einsetzen, die natürlichste die es gibt, die Familie. Ja für seine Person darf, und vielleicht soll der Mensch opferbereit sein, aber vergegenwärtigen wir uns, was es bedeutet, dies auf diese kleine Gruppe, die Familie anzuwenden. Soll der Mensch, ich spreche natürlich nicht von jenem höchsten Falle, wo wie von Abraham die Stimme Gottes das Opfer des Sohnes fordert; es ist klar, daß hier das größte Opfer gemeint ist, noch mehr als das eigene Leben. Aber diese Grenzfälle, wo die Stimme am Abgrund am Rand der Welt, die Stimme, die wir die Stimme Gottes nennen, zum Menschen spricht, diese Grenzfälle dürfen wir nicht heranziehen, wenn wir davon sprechen, was der Mensch von seinem natürlichen Leben aus empfinden kann und will. Und das meint Tolstoi. Tolstoi meint nicht den Rand der Welt, wo die Stimme Gottes redet, sondern das natürliche persönliche Leben. Und ich sage im natürlichen menschlichen Leben soll der Mensch nicht zum Opfer seiner Kinder bereit sein. Er muß sich dagegen auflehnen, als eine natürliche

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Erscheinung. Er tut es, der natürliche Mensch, und kann nicht anders und soll nicht anders. Das heißt also, daß das Gesetz des persönlichen Lebens ein anderes ist, als das Gesetz, das über dem Verhalten des Menschen zu seiner natürlichen Gruppe steht. Nun ich gebe ohne weiteres zu, daß das Verhältnis zum Volk nicht völlig analog ist, denn lösen wir uns von dieser Abstraktion Volk, Nation einen Augenblick ab, vergegenwärtigen wir uns, welche Individuen wir sind, nämlich der und der und der, und fragen wir uns dann meinen wir das wirklich, was Tolstoi sagt, und wenn es nicht um ein politisches Leiden geht, etwa um eine politische Niederlage, wenn es z. B. um eine Naturkatastrophe geht, um Tod und Siechtum von so und so vielen tausenden von Menschen, dann stimmt das alles nicht. Ich sage also, daß dieser Satz Tolstois ehrlich, aber abstract ist. Um uns die Antwort zu vergegenwärtigen, was heißt das eigentlich, Leiden? Dostojewski spricht einmal vom Leiden der kleinen Kinder. Gott könne das nicht verantworten. Die Vergegenwärtigung des Leidens, das etwa eine solche Niederlage des Volkes bedeutet, für die Menschen, ist etwa gerade so, wie man sich seine Familie besser als eine andere vergegenwärtigen kann. Ich sage also, diese individuelle Kategorie des Niedrigsten und des Höchsten kann nicht ohne weiteres auf das Verhältnis des Menschen zu seinem Volke angewandt werden. Es gibt einen Willen zum Glück und zur Größe einer Nation, der gerade so wie der Wille eines Menschen zur Größe und zum Glück seiner Kinder legitim ist. Der führende Mensch fühlt sich väterlich zum Volk. Er vergegenwärtigt sich das Volk, wie ein Kind. Aber wir sind ja an schlechte Führer gewöhnt, für die das Volk eine Summe von verschiedenartigen Zahlen und Ziffern ist. So meine ich es nicht. Nun ist die Frage, wie verhält es sich denn in Wirklichkeit? Sind wir eigentlich gestellt in diese Alternative, haben wir zu wählen zwischen dem Dostojewskischen Polytheismus und dem abstrakten Monotheismus Tolstois. Ich glaube wir haben ein großes geschichtliches Beispiel, das uns zeigt, daß wir nicht in dieser Alternative stehen, daß für uns der wirkliche Weg weder der eine noch der andere ist. Das ist der religiöse Nationalismus der israelitischen Propheten, die zunächst so aussehen, wie Tolstoi, weil sie nämlich auch die politische Niederlage ihres Volkes, ihres Staates zu bejahen im Stande sind. Weil sie das Volk aufrufen gegen die nationalen politischen Postulate, weil ihre Forderungen der geläufigen politischen Weisheit stracks entgegengehen, weil der Gehorsam, wenn das Volk ihnen gehorsam gewesen wäre, weil der Gehorsam des Volkes den Untergang bedeutet hätte. Weil – das ist eben nun schwer, in Wirklichkeit

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ist es anders gewesen; wir sehen deutlich, daß das Volk ungehorsam gewesen, und daß mit diesem Ungehorsam der Untergang zusammenhing. Der Gehorsam des Volkes hätte zweifellos zunächst eine geschichtswidrige Situation geschaffen, wenn das Volk etwa einen Krieg, den es führte abgebrochen hätte, wie der eine oder andere der Propheten es meinte, dann wäre zunächst, ich möchte sagen, eine geschichtswidrige Situation entstanden, aber es wäre dann eine Konsolidierung des Volkes möglich gewesen, die unter dem aufgezwungenen Joch nicht möglich war. Wenn das Volk sich aus eigenem Antrieb gebeugt hätte, nicht unter Gottes Hand, das ist leicht, sondern unter die Hand Assurs und Mitrajims, wenn das Volk sich aus eigenem Antrieb gebeugt hätte, wäre es gegangen in die politische Abhängigkeit irgendwelchen Mächten gegenüber, so wäre eine Erneuerung in der politischen Abhängigkeit möglich gewesen, weil das Volk seinen Weg, sein Gehen eines Weges bewahrt hätte, die Richtung bewahrt hätte, die man im Zwang nicht bewahren kann. Und dies meinten die Propheten. Es war ihnen wirklich um das Wohl des Volkes zu tun. Sie bejahten nicht das Leiden als solches, sondern um des Wohles des Volkes willen. Es war ihnen nur um das Volk zu tun, aber freilich nicht um das Volk, wie es der heutige Nationalismus meint, als Souverän, als eine Macht die keiner anderen Rechenschaft schuldet, sondern das Volk als Dienstgruppe, das heißt, als Gruppe von Menschen die geeint sind, durch einen ihnen eigentümlichen, von ihnen zu leistenden Dienst. Ich weiß nicht, ob dies ganz klar ist, was ich hier meine. Also ich meine die Propheten faßten das Volk auf als eine Gruppe, die einen Gottesdienst zu leisten hat, nicht Kult, sondern Gottesdienst des Menschenlebens, die um dieses Dienstes willen, den nur sie leisten konnten, auch ihr Leben zu bewahren hatten. Denn dieses spezifische Dienstbewußtsein, ich meine etwas, was das ganze Leben umfaßt, dies ist der Nationalismus der Propheten. Daß es Dienst gibt, den nur eine Schaar leisten kann, nur eine Gemeinschaft, und nur eine besondere Gemeinschaft, dies ist das Volksbewußtsein jener Menschen. Wenn wir nun fragen, was denn das ist, was heute anders geworden ist, so ist es dies, daß der heutige Mensch nicht mehr an den Dienst glaubt, daß der heutige Mensch diese Gruppenberufung zu einem Dienst, es muß nicht der Name Gottes sein, aber zu einem wahrhaftigen Dienst an dem Weg des Höchsten der Menschheit, aber nur so, daß dieses Volk wirklich in diesem Völkerverhältnis diesem Dienst gegenüber lebte, dieser Glaube besteht nicht mehr, und darum ist der Nationalismus zu einem Götzen geworden.

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Sie führen an, daß die Geistigen unserer Zeit das Diesseits verharren. Ich halte diesen Vorwurf nur für sehr bedingt gerechtfertigt. Mit Jenseits meint hier Benda nur den reinen Geist, der sich nicht realisieren kann. Er ist der Meinung, daß der Geistige diesem reinen Geist, der sich nicht realisieren kann, in dieser empirischen Welt huldigen soll. Nun, mir scheint, wenn es wahr wäre, was Benda meint, wenn es eine Scheidung gäbe zwischen dem Geist der Menschen, die im Diesseits leben, in dem vom Geist verlassenen Diesseits, und jener kleinen Schaar von geistigen Menschen, die im reinen Geiste leben, wäre die Sache der Menschheit schlechthin hoffnungslos. Unsere Hoffnung beruht darauf, daß der Geist sich durch die wahren Menschen des Geistes und ihr Wirken je und je zu verwirklichen strebt, im Diesseits, in dieser wirklichen Welt, in dem wir leben, die die einzige Ebene der Verwirklichung ist. Es gibt keine andere. Wir haben nur dieses irdische alltägliche sterbliche Leben, in dem wir den Geist verwirklichen können, in jeder Stunde ein wenig, soviel wir vermögen, und dies, das dem einen oder anderen irgendwo in der Verborgenheit, gar nicht in der manifestierten Welt, geschieht, sondern in der Verborgenheit seines persönlichen Lebens, daß er etwas in dieser Stunde, soviel er vermag, verwirklicht, dies ist die Bürgschaft dafür, daß die Menschheit trotz allem einen Weg geht. Daß der Geist nicht throne über dem Leben, daß der Thronende da oben ein falscher Geist ist, daß das der aufgeblähte Dämon ist – sondern der wahre Geist ist der demütige Geist, der stille Geist, der überall in den Alltag eingeht, das Leben selbst aufbaut. Und weil es so ist, scheint es mir, daß man nicht zu wählen hat, zwischen der Sache des Geistes und der des Volkstums. Und dann sind wir wieder einig, daß man von der Wirklichkeit des Volkslebens ausgehen muß, aber ausgehen muß, wie der gläubige Mensch von jeder natürlichen Tatsache, um es zu heiligen. Dies freilich – ich sage es noch einmal, – wo die Nation als Selbstzweck gefaßt wird, dieses etwas, das nicht dadurch seinen Sinn bekommt, daß es im Dienste geheiligt wird, sondern als etwas, das nicht der Heiligung bedarf, sondern das für sich aus eigenem Gesetz leben kann und darf, dies ist die Erkrankung des Volkslebens. Also ich sehe in der Tat den modernen Nationalismus als Erkrankung des Volkslebens an, daß er den Zusammenhang des Volkes mit der einen Wahrheit verläßt, aufgibt, verrät. Sie haben auf die Tendenz der Wahrheitsbeachtung hingewiesen. Es ist richtig, daß der moderne Nationalismus diese in sich birgt, aber vergiftet wie fast alles in unserer Zeit, das diese Tendenz in sich birgt, vergiftet dadurch, daß es des Zusammenhanges mit der Wahrheit entbehrt. Statt die Wahrheit in ihrem großen Zusammenhange zu sehen, als etwas, in

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das man mit seinem persönlichen Leben eintritt. Dies scheint mir auch in dem Verhältnis zum Nationalismus ganz deutlich zu sein. Es gilt zu erkennen, daß wir wählen, daß wir an das Kommen einer Menschheit glauben, und vielleicht darf ich sagen an ihrem Kommen mitarbeiten, gewillt sind mitzuarbeiten, es kommt darauf an, daß wir in diesen unseren Willen das Volk einbeziehen. Die Menschheit kann nicht gebaut werden aus menschlichen Individuen, sowie das Volk nicht etwa gebaut werden kann aus Bürgern, hieraus kann nur ein Staat gebaut werden, ein Volk besteht aus Familien und eine Menschheit kann niemals bestehen aus Menschheitsbürgern, hieraus könnte höchstens ein Volksbund bestehen. Eine Menschheit besteht aus Völkern. Denn der Völkerbund ist eine Lüge, im Worte selbst, da es ja die Völker, die sich verbinden könnten, noch gar nicht als konstituierte Gruppen gibt. Der moderne Nationalismus irrt am schwersten darin, daß er aus einer Erkrankung des Nationallebens entstanden, den Krankheitszustand für den normalen hält. Der moderne Nationalismus in seiner Überbewußtheit ist eine Krankheitserscheinung, wie wenn sich ein einzelner Mensch mit der Tatsache beschäftigen muß, daß er Augen hat, indem er die Augen spürt, einen Mund hat, wie dies eine Krankheitserscheinung ist, denn der gesunde Mensch braucht sich nicht mit der Tatsache zu befassen, so ist auch der moderne Nationalismus eine Krankheitserscheinung, der nicht wie die Propheten eine Aufgabe sieht, sondern sich mit sich selbst als einer letzten Existenz befaßt. Und diese politisch verlogenen Völker, deren Ausdruck er ist, für die eigentlichen Völker hält, während wir erst gesunde Völker haben müssen, die sich als Völker erst konstituieren, ehe wir einen wirklichen Bund der Menschheit haben können, dies ist das Eine, worauf es, wie es mir scheint, praktisch ankommt. Das Zweite ist, der Dienst eines einzelnen Menschen, oder Dienst einer Gruppe wird nicht vollzogen mit dem Geist, sondern mit dem natürlichen Leben. Das heißt, man kann, talmudisch ausgedrückt, nicht ohne den bösen Trieb Gott dienen. Eine Familie etwa entsteht auf ganz natürliche Weise; daß diese Lebensinstinkte nun in der Ehe in ihrer Erfüllung geheiligt werden, dadurch entsteht diese Wirklichkeit dieser Gruppe Familie. Ihre wirkliche Existenz, die es nicht nur bei 2, 3, 4 oder 12 Menschen gibt, die eine gemeinsame Wirtschaft haben, sondern, daß hier eine neue Art von Gruppe da ist, diese Gruppe von Personen mit ihrem eigenen Leben, eigenen Aufgabe und Dienst. Das kommt daher, daß der Geist eingetreten ist in eine Natur-entstandene Gruppe, und daß der Lebensinstinkt selbst geheiligt worden ist. Und so scheint es mir auch mit der Nation zu sein. Ich glaube, daß

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auch hier die Nation auf naturhafter Grundlage entstanden ist, daß aber in schicksalhaft entscheidender Weise sich der Geist je und je eines solchen Volkes betätigt, und ihm die Möglichkeit gibt, die natürliche Grundlage zu heiligen, in einer Art Auserwähltheit, in einem Dienst, den nur dieses Volk vollziehen kann, d. h., daß dieses Volk sich lebensmäßig zur Verfügung stellt, indem es etwas mit Hilfe dieser Naturtatsache vollbringen will. Zum Letzten also, ob ein Volk legitimiert ist oder nicht, ob ein Volksgedanke legitimiert ist, oder nicht, dies scheint sich mir zu entscheiden, ob dieses Volk in der Verantwortung steht, oder nicht. Das heißt, ob sich das begibt, daß jeweils ein Teil des Volkes da ist, lebendig da ist, der sich für sich zur Verfügung stellt, und das Volk aufruft, sich zur Verfügung zu stellen, zu dem was mit ihm gemeint ist, und was von ihm gefordert wird. Das was sonst nur im Leben der Personen geschieht, das Antworten des Menschen auf den Anruf, der an ihn ergeht, geschieht nun im Leben einer Menschenschaar, die biologisch, naturhaft begründet ist und doch als solche dem Geiste botmäßig ist. Wie wir freilich zu einer solchen Überwindung des modernen Nationalismus gelangen können, vermag ich nicht zu sagen. Ich glaube, nicht anders, als daß wir den Glauben wieder gewinnen, der uns fehlt, den Glauben, ich sage absichtlich kein größeres Wort, an den Dienst.

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Wilhelm Michel. Es ist mit Ihren Ausführungen zum Teil schon eine Frage berührt, die ich in der Öffentlichkeit zum Nutzen der Hörer und zu meinem Nutzen an Sie stellen wollte. Die Frage ist die, ob nicht gerade in der Geschichte des jüdischen Volkes häufig eine Überbewertung der nationalen Existenz vorkommt, eine Überbewertung, die nicht unter dem Dienst-Gedanken steht. Sie erinnern sich, daß wir in Ponte Tresa über das Buch Samuel gesprochen haben. Es ergab sich da unter anderem, daß dort die Rebellion gegen die Einheit und Geschlossenheit des Volkes geradeswegs gleichgesetzt wurde mit der Empörung gegen Gott. Muß man hier nicht von einer Überbewertung der nationalen Existenz sprechen? Und liegt nicht dieselbe Überbewertung vor, wenn biblische Schriftstellen Gott gewisse Befehle in den Mund legen, die sich wohl verstehen lassen, wenn man sie als Äußerungen des Willens zu nationaler Selbstbehauptung auffaßt, die aber schrecklich und ärgerniserregend werden, wenn man sie Gott in den Mund legt. Ich denke dabei an Stellen wie »Du sollst alle Völker fressen« (jüngst in der C.V.-Ztg. von Lewin behandelt) oder wie den von Samuel überbrachten Befehl Gottes an Saul, daß er nicht nur den

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König Agag, sondern auch alle Männer, Frauen und Kinder schlachten solle (dazu noch die schreckliche Bestimmung: »Spielkind und Säugling«). Diese Dinge haben namentlich auch jüdische Menschen zum Erbeben gebracht und »geärgert« (wie aus altem jüdischem Sagengut hervorgeht). Lewin ist, in Übereinstimmung mit den für uns verbindlichen Menschlichkeitsgefühlen, von diesen grausamen Dingen abgerückt; er glaubte aber, sie in gewissem Sinn abschwächen zu können, indem er auf die Grausamkeiten hinwies, die so zahlreich in christlichen Zeiten (und oft unter Berufung auf Gott) geschehen sind. Da scheint mir der Kernpunkt des Ärgernisses verfehlt. Gewiß sind in christlicher Welt Grausamkeiten vorgekommen, die sich neben allen Wildheiten, die je und je geschehen sind, sehen lassen können. Aber das Schreckliche in unserem Falle ist, daß sie nicht der sündigen Wildheit der Menschen zugeschrieben werden, sondern daß autoritär gesagt wird: Gott will sie, Gott befiehlt sie. Dr. Martin Buber.

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Ja es ist die Frage, die hier gestellt worden ist, eine sehr schwere Frage, es ist eine Frage, die so schwer ist, daß man ihr entweder auf zweierlei Arten ausweicht, entweder, indem man sie als eine nicht zu behandelnde betrachtet, oder indem man sie apologetisch behandelt, d. h. daß man allerlei Deutungen findet. Ich möchte weder zu der einen noch zu der anderen Behandlungsweise greifen. Ich will Ihnen zunächst erzählen, was ich wegen dieser Sache erlebt habe. Kurz nachdem wir in Ponto Tresa über die Sache gesprochen hatten, war ich mit einem Vertreter der jüd. Orthodoxie zusammen, und wir kamen darauf zu sprechen, wie das zugeht, daß Gott Saul, den von ihm gesalbten König, deshalb verwirft, weil er den König Agag nicht nach Gottes Befehl tötete, sondern ihn am Leben läßt, und noch anderes tut er, aber dieses Andere ist weniger wichtig. Es ist dies eine vielfach interpretierte Stelle. Ich sagte diesem Vertreter der jüd. Orthodoxie meine Meinung hierüber und sagte, das geht nicht, und wenn Samuel sagt, das hat Gott gesagt, so kann ich dazu nur sagen, »dann hat Samuel Gott mißverstanden«. Worauf dieser Vertreter der jüd. Orthodoxie, für die ja ganz anders als für mich der biblische Text Offenbarungscharakter hat, antwortete »das glaube ich auch«. Nun mehr wollte ich nicht, soviel wagte ich gar nicht zu hoffen. Was heißt das nun aber, wenn ein prophetischer Mensch »Gott mißversteht«. Wie ist das überhaupt möglich, daß Gott mißverstanden wird? Nun zunächst ein solches Mißverstehen kann nur möglich sein, in einem Volke, das alle Erscheinungen des Lebens schlechthin auf Gott

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bezieht. Nur ein Volk, das schlechthin alle Erscheinungen des Lebens und die mit seinen eigenen Lebensinstinkten zusammenhängen, auf das Göttliche bezieht, d. h. ein Volk für das es nur Dienst Gottes, oder Dienst des Baal gibt, keinen dritten, nur Dienst, rechten Dienst und falschen Dienst, zu dem wahren Gott oder dem falschen Gott, und mit dem man doch den wahren Gott meint, also das alle Lebensinstinkte auf das Göttliche bezieht, nur in einem solchen Volke kann Gott so mißverstanden werden, daß dies gedeutet wurde als Gottes Stimme. Und ich sage nun dieses Ungeheure, daß dies gedeutet wurde als Gottes Stimme, hängt mit dem Gewaltigsten dieses Volkes zusammen. Nun dies ist ja kein Trost. Es wäre kein Trost, wenn es sich nicht so verhielte, daß von diesem Punkt aus, von diesem geschichtlichen Punkt aus, wo ein Volk alles, auch etwas so Gottwidriges auf das Göttliche beziehen muß, und von ihm aus empfangen zu haben glaubt, – ich sage, daß von diesem Punkte aus zur Entfaltung des wahren Gottesglaubens ein gerader Weg führt, nämlich von der Wirklichkeit aus, daß alle Lebensäußerungen auf das Göttliche bezogen werden. Von jenem Mißverstehen führt ein Weg, wogegen von einer sittlich höher stehenden Stufe, wo etwa diese gemein-antike Kriegsführung schon verlassen wird, und etwa schon ein Teil des besiegten Volkes geschont, oder das ganze Volk geschont wird, wogegen aber dieser Bezug auf das Göttliche nicht vorhanden ist, der Weg zur Entfaltung des wahren Gottesglaubens nicht führt. Die Wahrheit einer Religion ist, – lassen Sie mich das zuerst mit einem Begriff sagen, – keine statische, sondern eine dynamische. Die Wahrheit einer Religion ist nicht so, daß sie aufgefunden werden kann, sondern die Wahrheit der Religion liegt in ihrem Weg. Die Wahrheit einer Religion ist nicht Inhalt, der irgendwo aufgezeigt werden kann, sondern religiöse Wahrheit ist das Gehen eines Weges, das heißt, das Werden eines Glaubens ist der Glaube. Die Befreiung von den falschen Gottesvorstellungen ist die Wahrheit des Glaubens. Der Glaube ist nicht geschichtlich irgendwo aufzeigbar, sondern der Glaube hat seine Wahrheit in diesem sich immer wieder Befreien, in diesem Ringen um größere Reinheit der Konzeption von Gott. Das, daß Gottes Bild wächst in den Augen der Menschen, daß das Bild Gottes wächst, das ist die Wahrheit der Religion. Nicht ein irgendwo aufnehmbares Gottesbild, sondern das Wachsen des Bildes, das ist die Wahrheit der Religion. Und darum, daß es so beginnt, mit einem wirklichen Bild, mit einem Angeredetwerden und Antworten, mit einem vielfach grausamen, aber personhaften Verhältnis zu Gott, das somit wirkliche Gegenwärtigkeit ist. Und nun von da aus immer wieder die Frage, ja kann denn das Gott

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sein, der solches befiehlt? und von da aus wandelt sich beides, die Konzeption Gottes und der Lebensinstinkt. Ich meine also, einer Frage wie dieser ist nicht nur nicht auszuweichen, sondern ich darf dies wohl von mir persönlich sagen, von Jugend auf bin ich auf diese harten Fragen zugegangen und habe mir fast als Junge schon den Kopf an ihnen eingerannt, und ich betrachte dies, daß mir das widerfahren ist, diesen harten Weg betrachte ich als die Gnade dieses Lebens. Daß ich nur ein klein wenig mehr erfaßt habe von der Wirklichkeit zwischen Mensch und Gott, das habe ich doch wohl dem zu verdanken, daß ich in den Abgrund dieser Fragen jeweils mit einem Schwindelgefühl gegangen bin, und andersherum geht es glaube ich nicht. Wilhelm Michel.

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Es war dies die Antwort, die ich mit diesem Vorstoß zu hören hoffte, nicht in meinem, sondern auch im Interesse der Zuhörer, denn das eine habe auch ich gewußt, daß auf Erden nichts umsonst ist, daß alles bezahlt werden muß, und daß der große Gedanke der Einheit Gottes, der große Gedanke der Verschlungenheit Gottes in alles wirkliche Leben, daß dieser Gedanke bezahlt werden muß, nach einer gewissen Seite hin. Es handelt sich eben hier um das Werden einer religiösen Wirklichkeit, um das Ernstmachen mit einem neuen Gedanken, der einen großen Teil der Welt erobert hat. Ich erkläre mir auch mit diesem Gedanke der Verschlungenheit Gottes in alles Wirkliche die Schwierigkeit für das Judentum, sich den Raum des Bösen genau abzutrennen von dem Anderen, wie es mir auch scheint, daß durch diesen Gedanken der Einheit und Verschlungenheit Gottes dem Judentum gewisse Trennungen schwerer werden, als dem Christentum. Sie erinnern sich, daß unsere jungen Juden in Ponte Tresa Schwierigkeiten hatten, sich damit abzufinden, daß Gott einen bösen Geist über Saul sende. Man sieht in ihnen eine Empörung gegen diese Art von Unrichtigkeit. Vielleicht ist auch hierüber von Ihnen noch etwas zu sagen; ich habe mir das auch nur als Frage gedacht, gerade die Schwierigkeit, die darin liegt. Dr. Martin Buber.

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Ich kann dazu nur sagen, es ist in der Tat so, daß entweder, wie es in der alten Persischen Religion war, entweder zwei einander ebenbürtige Substanzen zwei Mächte gegeneinander gestellt werden, Licht und Finster-

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Religion und Volkstum

nis, gut und böse, die miteinander einen Kampf um die Welt auskämpfen, und dann ist alles verständlich. Für den persischen Glauben ist die ganze Weltgeschichte ein Rechenexempel. Die Welt ist schlechthin verstanden. Man kann eine Karte von Raum und Zeit, von dem Sein schlechthin zeichnen. Das andere ist die jüd. Konzeption, wo nicht zwei Substanzen einander gegenüberstehen, Gott und Mensch, sondern Gott und der Mensch, der natürlich nicht eine Substanz ist gegen die Göttliche, sondern von Gott geschaffen ist, so daß er immer noch Gottes Partner sein kann in der Weltgeschichte. Und nun scheint es mir, ich glaube, daß dies der Weltaspekt ist, wo das Böse schlechthin keine Substanz mehr sein kann, wie das Gute, sondern wie die jüdische Lehre auszudrücken vermag, eine Schale um das Gute herum, die durchbrochen werden muß, d. h. wo das Böse schlechthin auf das Geheimnis hinführt, und den Menschen niederwirft zu den Füßen des unbegreiflichen Gottes. Ich glaube, daß dies die eigentliche Existenz ist, wo der Mensch hingeworfen wird durch dieses Schauen, vor dem ungeheueren unbegreiflichen Geheimnis, vor dem SEIENDEN der sagt

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»ICH WERDE DA SEIN ALS DER ICH DA SEIN WERDE« das heißt ich nehme keine meiner Erscheinungen vorweg, ihr könnt mich nicht auffangen, ihr könnt keine Karte dieses Seins zeichnen, denn das Sein ist das Geheimnis.

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»ICH BIN ES, ICH BIN DA.« Wilhelm Michel. Ich möchte diesen Worten von Herrn Buber nicht meine eigenen entgegensetzen, sondern zum Schluß eine Prägung, die ein großer Mann des Altertums über die Frage des Nationalismus einmal gegeben hat anführen. Aristoteles hat sie einem Manne gegeben, der sich rühmte, er stamme aus einer reichen und ausgezeichneten Stadt. Aristoteles hielt ihm entgegen, »es ist kein Ruhm aus einer solchen Stadt zu stammen, wohl aber, einer solchen Stadt würdig zu sein.«

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Dr. Hefele Sie erlauben Herr Buber, dass ich an dem letzten Abend, an Ihr Gespräch mit Herrn Wilh. Michel anknüpfe, und zwar dass ich Bedenken vortrage wegen zweier Punkte, die damals zur Sprache gekommen sind. Einmal die Leichtigkeit, mit der Sie beide über das schwierige Problem hinweggegangen sind, wie weit die religiöse Form das Volk beeinflussen kann und tatsächlich beeinflusst hat. Und zweitens, die Unbefangenheit und die Selbstverständlichkeit, mit der Sie von Begriffen wie Gott, Offenbarung, Missverständnis eines Wortes Gottes gesprochen haben. Im ersten Falle gingen Sie beide von einem Begriff der Religion aus, der durchaus ideologisch abstract war, und in diesem Falle hatten Sie tatsächlich Recht, eine Beeinflussung einer solchen Form des Religiösen durch nationale Eigentümlichkeiten abzulehnen. Im zweiten Falle dagegen gingen Sie nicht nur von einer Stelle der Bibel aus, sondern auch geistig von einer Voraussetzung eines Religionsbegriffes, der ganz anderer Art war, nämlich einer geschichtlichen Tatsache. Diese beiden verschiedenen AUFFASSUNGEN führen uns in ein sehr wesentliches Problem des Religiösen überhaupt hinein. In die Tatsache, dass es sich dabei um 2 grundverschiedene Dinge handelt nämlich einmal um das persönliche religiöse Erlebnis, die innere religiöse Anlage, die religiöse Kraft der élan vitale aus dem heraus religiöses und sittliches Leben nur möglich ist. Im zweiten Falle handelt es sich um die geschichtliche Form der Religion, ausserhalb der persönlichen Stellungnahme ruhend um eine objektive traditionell geltende Form der Religion und diese scheint mir, ist doch tatsächlich von Zeit und Raum von Nationalem und geschichtlichem Character eines Volkes beeinflussbar und tatsächlich beeinflusst. Diese Zweiheit im Religiösen scheint mir auch entscheidend zu sein für das was man unter religiöser Kultur heutzutage versteht. Ueberall dort wo eine Krisis empfunden wird, handelt es sich immer darum, dass beide Formen des Religiösen in Widerspruch geraten sind. Dass ihre Grenzen und ihre Bedeutung vom einmaligen Erlebnis verdeckt und verwischt sind. Entweder fühlt sich das religiöse Leben der Persönlichkeit behindert durch die historische Form der Religion, oder aber andererseits fühlt sich die historische Form der Religion genötigt, sich gegen Uebergriffe des Persönlichen des privaten religiösen Lebens zu verteidigen. Es handelt sich dabei durchaus nicht etwa nur um die alten Konflikte der Ketzerei, die Probleme liegen wesentlich tiefer. Ich habe darum, als der Vorschlag gemacht wurde unserer Auseinandersetzung den Inhalt Autorität

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und Freiheit zu geben, meinerseits vorgeschlagen, dafür Form und Freiheit zu setzen. Denn es handelt sich nicht um geschichtliche Bedingtheiten wie sie in der Geschichte immer wiederkehren, sondern es handelt sich um grosse geistige Tatsachen, nämlich um die Grenzen die sich zwischen Form und Freiheit im Leben der Gemeinschaft und im persönlichen Leben der letzten inneren Freiheit der einzelnen Individuen vollzieht. Die Sache ist nun nicht so, wie ich glaube, dass wir hier gleichsam die zwei Ansichten vertreten, etwa Sie die Freiheit und ich die Form. Es handelt sich vielmehr um, eine Aussprache über 2 bei vieler Verschiedenheit doch oft gleichen Ansichten. Wenn wir einmal dazu gekommen sind, die Grenzen zwischen Individuum und Gemeinschaft nicht nur in der Geschichte sondern im persönlichen Leben festzustellen, wenn wir dann heute die gegenseitigen Bedingungen beider Formen festzustellen suchen haben wir das Problem von der vollständigen Seite erfasst. Wichtig freilich ist hier eine Erklärung der Begriffe. Wir kommen nicht bloss mit einer historischen Betrachtung, nämlich damit durch, dass wir aus der Geschichte der Religion und der Geschichte der religiösen Bekenntnisse einzelner Menschen Aufklärung suchen zu keiner endgültigen Lösung. Wir bedürfen auch einer rein kritischen Untersuchung einer Untersuchung darüber, wie weit der Geist der Gesammtheit das Object das man die Form im religiösen Leben nennen kann seine Geltung in innerster Beziehung des Lebens hat. Indem jeder festzustellen sucht wo innerhalb seiner Auffassung der religiösen Dinge eine solche Grenze zu finden und zu ziehn ist. Dr. Buber Ich will zunächst klarstellen, was Sie zu Anfang zu dem vorangegangenen Gespräch sagten. Ich möchte mich nicht ganz zu der Leichtigkeit bekennen, mit der Ihnen die Frage behandelt scheint, die von Wilh. Michel aufgeworfen war, wie die Religionen durch die Nationen und Völker beeinflusst werden. Dass ich diese Frage nicht einbezogen habe, dafür bin ich mir der Verantwortung wohl bewusst, nämlich, dass es in der Form unmöglich ist, sie zu behandeln. Ich muss an Stelle der Begriffe die Wirklichkeit einsetzen, wenn ich zum Ziel des Wirklichen gelangen will. Hätten wir uns auf die wissenschaftliche Frage geeinigt, dann wäre dieses Problem durchaus von uns ernstlich erörtert worden, dann hätten Sie uns in dieser Form keinen Vorwurf zu machen. Ich hätte dann die konkreten religiösen Dinge auch in diese Wissenschaft einbeziehn müssen. Ich wäre der zweiten Frage entgangen, indem ich gar nicht über Gott geredet hätte. Aber ich hatte mich entschieden und dazu bekan[n]t und bestehe noch darauf. Ich möchte die Konkretheit des Religiösen soweit

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wahren, soweit es konkret ist. Den anderen Vorwurf muss ich acceptieren, eben davon aus, was ich sagte. Ich könnte und kann nicht anders, als davon was, religionswissenschaftlich gefasst, in der Tat Begriff ist, und mit den besondern Handschuhen anzufassen ist, die im Verkehr mit Begriffen gebräuchlich sind, ich kann nicht umhin, wenn ich von der religiösen Wirklichkeit ausgehe, wenn ich das tue, kann ich nicht umhin, an Stelle der Begriffe die Wirklichkeit einzusetzen, soweit ich von ihr weiss, auf meine Art, von ihr zu wissen. Das ergibt natürlich Problematik im Verhältnis der beiden Partner zueinander, auch im Verhältnis zu dem Publikum. Aber es scheint mir, dass man das wagen muss, weil es doch darauf ankommt, die Konkretheit wenigstens zu berühren, und darum glaube ich sagen zu dürfen, es war auch dies nicht leicht, wenn das Erste Entschluss war, so war das Zweite Wagnis. Wenn man wagt, tritt man leicht, man tritt auch auf dem Drahtseil nicht wuchtig auf. Und nun zu dem Problem! Sie haben unterschieden, die Subjektivität, das was in der einzelnen Seele vor sich geht, wenn sie das, was wir mit einem unzulänglichen Ausdruck nennen, ihr widerfährt, und zwischen den objektiven geschichtlichen Gebilden, der Religionen und Religionsgemeinschaften. Das Erste so meinten Sie, sei Gegenstand der persönlichen Stellungnahme, und die Personen können sich doch wohl nicht anders verhalten. Und die Krisis, jede religiöse Krisis, auch die religiöse Krisis der heutigen Zeit, sofern man davon rechtmässig sprechen darf, bezieht sich auf den Konflikt dieser beiden Sphären miteinander, und dass das eine dem Andern nicht mehr entspricht. Ich möchte in Bezug auf die religiöse Krisis unserer heutigen Zeit doch etwas anders denken, dass das, was Sie heute Krisis nennen, nicht auf einem Konflikt beruht. Denn es scheint mir, dass das Wort religiöse Krisis nicht geeignet ist. Ich möchte sagen, die heutige Krisis beruht auf der Mangelhaftigkeit beider Sphären, darin, dass die Religiosität der objektiven Religion zu wenig zu sagen hat. Ich meine ganz einfach, das der heutige Mensch sich Mühe gibt zu glauben, aber nicht natürlich glaubt. Es scheint mir eine Krisis, nicht des Verhältnisses zwischen Religiosität und Religion, sondern eine Krisis des Glaubenkönnens zu sein. Also intellektuell das vorwegzunehmen, was es in der wirklichen Erfahrung nicht gibt. Was nun aber das grosse ernste Problem betrifft, über diese Fragen hinaus, die Sie angeschnitten haben, das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft in religiösem Sinne, so scheint mir dies vor Allem eine Frage der Grenzziehung zu sein. Zunächst müssen wir wenigstens streifen die Frage, wie weit ist uns gestattet, wenn wir nicht zum Zwecke wissenschaftlicher Uebersicht in der Materie, sondern wenn wir vom Konkreten auf das Konkrete hin

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Grenzen ziehen, wie weit ist das zulässig, d. h. gibt es einen Punkt, wo wir vielleicht mit unserer Grenzziehung der Wirklichkeit Unrecht tun? Und das scheint mir bei diesem Problem der Fall zu sein. Vergegenwärtigen wir uns dies einen Augenblick, sowohl in der Geschichte, als auch in der Person. Soweit ich sehe gibt es keinen Zustand religiöser Freiheit ohne Form, eine ungeformte Freiheit, eine Freiheit, in der nicht bereits Gestalt, Ausdruck Symbol wäre, d. h. gerade sowie in dem spontanen Sprachausdruck bei uns Menschen dieses Entwicklungsstadium, die Form bereits darin ist, so dass eine natürliche Menschenschaar etwas von einer Interjection hat, so scheint mir auch die religiöse Situation des Einzelnen nicht ohne diese Gestalt möglich. Das heißt, ich finde niemals einen Zustand reiner Subjectivität reiner Religiosität der Person vor, sondern die Religiosität ist durchdrungen von Geschichte, also von Überkommenem und vom Augenblick Geborenem. Von hinten und von vorne dringt das Gestaltende ein in dieses einsame religiöse Geschehen. Und wenn Sie sagten, dass man bei der Frage der religiösen Subjektivität wohl die Frage des Einflusses ausschalten kann, so möchte ich sagen nein! Auch bei der Subjektivität, sofern wir sie nur zum Gegenstand machen, finden wir selbstverständlich tausendfache Einflüsse. Dass dieser Mensch, dieser von dieser Ueberlieferung herausgegangene Mensch als solcher in die Erfahrung eintritt, und die Erfahrung selbst ist auch so, dass sie überall schon von seinen Kräften geformt ist. Denn wenn ich einen Augenblick statt Freiheit ein anderes Wort wählen darf, das mir mehr entspricht, ich meine das Wort Intention nicht wahr also: die religiöse Spannung, die soll auf einen Gegenstand hin, also etwas deutlich gerichtetes auf einen religiösen Gegenstand hin, wenn ich diese Intention hier mit Freiheit gleichsetzen darf, so meine ich der religiöse Wert einer Form, einer religiösen Form ist von Ihrem Intentionsgehalt unabtrennbar, d. h. die religiöse Form hat auch kulturellen Wert unabhängig von ihrem Intentionsgehalt, aber ihr religiöser Wert ist unabtrennbar von ihrem Intentionsgehalt. Das heisst also, dass auch in der Form, in einem Sacrament, sagen wir in einem Kult, wenn wir so überhaupt Religion betrachten, wir gar nicht anders fragen können, als: Was ist lebendig in der Intention, die in diesem Gehäuse lebt? Was an Intention ist überkommen, was von der Intention, die einst sich ein Haus in dieser Form gebildet hat, lebt noch in ihm? Das heisst, eine Grenzziehung, die sich kaum wieder nachprüfen lässt und erst recht möchte ich die Grenzziehung für eine Lüge halten, denn es ist ja nicht die Wirklichkeit so. Aber ganz abgesehen davon, ist es ja so, dass es nicht bloss auf der einen Seite die einsame Person im Angesichte der Erfahrung gibt, und

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auf der anderen Seite die grossen Gemeinschaften der Religion. Sondern es gibt ja zwischen beiden je und je die grosse Gemeinde, das Zusammenkommen der Gläubigen. Nicht wahr dieses, das sich je und je Gemeinschaft bildet und zwar gerade von der gemeinsamen Erfahrung aus, ich sage dass es das gibt, dass diese Gemeinschaft ein dynamisches Factum ist, müssen wir diese ganze Welt dieses tatsächlichen Gemeinschaftslebens in dem Sinne der grossen historischen Gebilde betrachten, und auch da berichtigt sich die Grenzziehung durch das Koncrete. Was ich nun meine ist, dass wir hier miteinander versuchen, dieses Koncrete so gut zu berücksichtigen, als wir vermögen. Und dies scheint es auch zu sein, um was es geht. Ich glaube, dass mir diese kleinen Gemeinschaften wichtiger sind, als die grossen mich manchmal recht abstract anmutenden Gebilde. Dr. Hefele. Und trotzdem möchte ich sagen, dass eine solche Grenzziehung erst recht dann möglich ist, wenn wir das religiöse Leben als etwas Koncretes erfassen. Es war die Aufgabe der mittelalterlichen Mystik nach diesem Punkte der innersten und persönlichen Freiheit zu forschen. Das 1. Zeugnis dieser Art ist eine Stelle aus den Bekenntnissen Augustins und zwar die Stelle wo er im Gespräch mit seiner Mutter von dem Ewigen spricht was er hier in psychologischer Form vorbringt, ist nichts anderes als die Grenzziehung zwischen dem objektiven und persönlichen Koncreten. Er schildert selbst, wie sie ihr Innerstes suchend, über sich selber weit hinausreichen und schliesslich an das Absolute rühren. Das ist zweifellos auch der Vorgang der jeder Bewusstwerdung des Persönlichen zu Grunde liegt. Jeder Mensch hat im Tiefsten etwas, das absolut frei ist. Hier ist Freiheit nicht als eine Möglichkeit, eine Pflicht gemeint, sondern als Selbstverständlichkeit. Sie wird freilich immer nur in gelegentlichen Augenblicken zum Bewusstsein kommen. Sie haben mit Recht gemeint, dass der Mensch unter einem ungeheueren Drucke anschaulicher religiöser Erfahrung steht, aber trotzdem gibt es einen Punkt, wo diese Erfahrung von dem Menschen negiert wird, wo gleichsam aus dem Mittelpunkte der Idee heraus ein Gegendruck stattfindet. Es liegt nur in der Fähigkeit, sich selber unabhängig von jeder Erfahrung jedem Eindruck, jedem Einfluss darstellen zu können. Das ist die Region des letzten inneren Schweigens. Sowie der Mensch noch in Bildern so lange er noch in Worten denkt, Formen die ihm nicht zu eigen sind, ist er nicht frei. Er steht immer im Banne der Gemeinschaft, der Gesamtheit. Nur dort, wo er nicht mehr das Bedürfnis hat, sich mitzuteilen, nur dort kann der Mensch tatsächlich frei sein. Sowie der Mensch nach Ausdruck sucht,

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nach der Mitteilung an andere, kann er gar nicht mehr frei sein. In seiner Vorstellung selbst ist er gezwungen, mit Worten zu operieren, die ihm gar nicht zu eigen gehören. Er gebraucht Worte, Worte wie Seele oder Gott, die er nicht geschaffen hat, die er auch nur von Aussen her erhalten konnte und sowie er mit solchen Worten operiert, da hat er die Grenze der innersten Freiheit überschritten. Wo nur aus dem inneren religiösen Impuls der Mensch in ein objectives religiöses Gemeinschaftsleben tritt, wird er Object ihrer Form, ohne dass er deshalb den Impuls aufgeben würde, er kann diesen nicht aufgeben, denn seine religiöse Tätigkeit steht unter diesem Druck unter dieser absoluten Stille, der nicht einmal Worte der Vorstellung zur Verfügung stehen. Er steht unter diesem Druck auch wenn er vollständig kulturelle Formen gebraucht. Sein religiöses Innenleben kann immer noch vorhanden sein. Hier, und hierum handelt es sich, dass der Impuls dieser heftige Drang Persönlichkeit bleiben zu wollen und trotzdem zu sprechen, dieser Drang aus der schweigenden Religion heraus zur geformten Religion, dass dieser Drang sich seiner Grenzen bewusst bleibt. Jede religiöse Gemeinschaft geht schließlich davon aus, dass sie als ihr persönliches Eigentum beansprucht, was der Einzelne an religiöser Form gebraucht. Der religiöse Mensch übermittelt einen Eindruck, von dem er nicht einmal weiss, auf welche Weise dieser Eindruck im Anderen weiterwirkt. Er übt eine Autorität aus, ohne sich zu fragen, wie weit er dazu befugt ist. Sämtliche Religionen haben dieses Problem gefühlt, und waren deshalb immer bestrebt, dem Einzelnen diese Grenze zu ziehen in seinem religiösen Innenleben. Niemals kann ein Mensch von aussen dem Anderen an jene letzte innere Freiheit rühren. Sobald er anfängt zu sprechen den anderen zu beeinflussen, gebraucht er Worte oder Bilder die ihm nicht zu eigen sind. Nach meinem Empfinden ist das Problem was die Freiheit dem Einzelnen bedeutet, das Bewusstsein der Grenzen, die hier von der Natur aus gezogen sind, dass der Mensch dort frei sein wird, wo er im Bewusstsein für sich bleibt. Dass er unfrei sein und unfrei wirken muss, wenn er sich unterfängt, einem Anderen eine Darstellung zu machen, was in ihm persönlich vorgeht. Dr. Buber. Wir haben hier nun einen sehr wichtigen Punkt erreicht, dessen Klärung wichtig und vielleicht nicht ganz leicht ist. Es geht hier eigentlich um nichts geringeres, als für meine Auffassung eine Abgrenzung zwischen Mystik und Religion. Diese Grenzziehung ist für mich ein Stück Autobiographie. Sie sprachen von der innersten Erfahrung, von dem Fünklein und Sie meinten, dies ist die vollkommene Abgeschiedenheit der Seele, in diesem vollkommen auf sich gestelltsein der Seele, die nun

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aller Gewänder bloss auf sich steht, und gewiss dies ist ein Grenzzustand des Menschen, etwas Aeußerstes, wozu der Mensch gelangen kann. Und die Mystiker haben je und je versucht, dieses Unsagbare dennoch zu sagen. Aber es ist doch etwas seltsames, und wie mir scheint für uns wichtiges, dass dieses innere Schweigen, diese Abgeschiedenheit, dieses auf sich gestelltsein, das jenseits der Sprache so nicht da ist, wovon die grossen religiösen Menschen, die Stifter der grossen religiösen Sozietäten ausgehen. So eigentümlich die Bedeutung dieses mystischen Lebens ist, so unwichtig ist es für die Geschichte der Religion. Ich sage vielleicht etwas übermässig betont unwichtig, aber Sie verstehen was ich meine. Die Propheten, die Menschen, die in den grossen religiösen Gebilden Sprecher sind, berufen sich nicht auf die wortlose Erklärung, sondern das, worauf sie sich berufen, und von wo aus sie selbst sprechen, ist immer Sprache. Sie sprechen, weil sie angesprochen worden sind. Das worauf sie sich berufen ist niemals die nackte Einsamkeit der Seele, sondern es ist das, dass sie mitten in der Welt, mitten im Leben gerufen worden sind, von einem sie anredenden, von einer Rede, wie Jeremia. Alles Visionhafte ist angefüllt in der Audition, ist eigentlich nur Hilfsbau zum Hören, der Rede, die ihn von seinen natürlichen Zusammenhängen reisst, ihn handeln lässt gegen seine Instinkte, die ihn schliesslich zum Gegensatz zu der Gemeinschaft werden lässt. Ich sage dieser Rede der dient er. Er kann der Rede nur dienen, indem er redet. Das schafft eine andere Situation, als die des Mysteriums. Es geht hier nicht mehr an, das Erlebnis zu wahren, sondern das worauf es ankommt, das wodurch man der Botschaft, die man empfangen, sich botmässig erweisst, das ist ja das Leben. Und das, was Sie meinen, nicht wahr, dass der Mensch nun zu anderen hingeht, zu anderen redet, das ist ja für diese Menschen nicht ein nach Ausdruck suchen, sondern es ist ja für ihn das, dass das Göttliche den Menschen in seinem So-sein ergreift. Da es so ist, sucht er nicht nach Ausdruck, sondern er vollstreckt was ihm geboten ist. Indem er redet, erfüllt er Rede, vermenschlicht er Rede, gibt er der Rede, die nicht nach Allem was wir zu fassen vermögen, menschliche Gestalt hat, menschliche Gestalt. Eine von seinem Wesen mitbestimmte Gestalt, denn er ist wirklich Mund, lautschaffendes Werkzeug, d. h. dass er nicht in der Spaltung steht, die Sie gekennzeichnet haben, zwischen einer seinem Wesen nach unaussprechlichen Erklärung und einem nun Hinausgehen zu den Menschen. Sondern er steht unter dem Gesetz des legitimierten Stammelns. Er ist darin legitimiert. Was wollte die Weltgeschichte auch anderes sein können, als Stammeln. Nicht wahr die heutigen Religionspsychologen sagen, die Propheten waren Derwische. Nun ja die Derwische, die wir kennen reden nicht, also

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sind die Propheten keine Derwische. Die religiöse Wirklichkeit fängt da an, wo der Prophet aufhört Derwisch zu sein. Nun gebe ich zu, dass dieses rechtmässige Stammeln Schritt für Schritt bedeutet ein Aufsichnehmen der Welt und ihrer Sprache. Es kann nicht anders sein. Gradweise wird diese Kraft auf den Menschen kommen. Er kann nicht anders, denn er kann ja nicht in Engelszungen reden, und das heisst, er muss die ganze Last der Welt immer stärker auf sich nehmen. Was ich nun noch meine, ist dass nicht bloss auf die Rede hin Hinweis und Auftrag in der Botschaft war, sondern auch in der Gemeinde. Der religiöse Mensch in diesem grossen Sinne, der Mensch, von dem religiöses Geschehen ausgeht, der also im Ursprung der grossen objektiven Gebilde steht, was er empfindet ist nicht bloss Hinweis auf Reden, sondern auch auf die Gemeinde. Dieses Gegenüber ist nicht etwa ein einzelner Mensch, sondern immer eine Gemeinde. Und sogar die Jüngerschaft tritt als Gemeinde auf, wenn sie hier auch auserwählte aus der Menschheit sind. Das sind nicht einzelne, sondern es ist eine Schaar. Und diese Jüngergemeinde, das ist die Urgemeinde, aus der dann die Gemeinschaft sich bildet. Ich meine also der Hinweis auf die Gemeinde als die Stätte der Verwirklichung der Botschaft, die er hört, dazu und darum. Wie sehr er auch das Menschliche der Gemeinschaft einbezieht Schritt für Schritt, wie sehr er sich auch der Blösse begeben muss, so tut er dies in der besonderen Verantwortung der Botschaft, dass er indem er sich, indem er die Welt auf sich nimmt, indem er die Botschaft selber bildet, tut er dies in der natürlichen Verantwortung seines Berufenseins. Gerade diese Spaltung des Wortes, ja Zersprengung des Wortes, oder die Formung, die von jener Einsamkeit des Gegenüber wegführt, alles dies tut er in der besonderen Verantwortung. Und er tut recht daran. Und religiöses Geschehen scheint mir unablösbar von dieser heiligen Problematik einer menschlichen Heiligung. Man dient als Mensch. Und darum möchte ich vorschlagen, dass wir in diesem Gebiete des koncret-religiösen Geschehens verweilen, und auf das Mystische, das sich am Rande der Welt begibt verzichten. Dr. Hefele Ich hätte meinerseits nicht nach Religions-Stiftern gegriffen. In solchen Fällen handelt es sich meist um Genien, und das Genie hat nie beispielhaften Wert. Die Religions-Stifter selbst tendieren mit ihrem inneren Impuls nach einem Mittel objektiver Form, das sie den Anderen im Guten oder Bösen aufzunötigen bereit sind. Jeder Religions-Stifter hat immer eine grosse subjektive Wirkung ausgeübt. Das mag einmal in dem eigentlichen Charakter der Genien liegen, andererseits in dieser Form der aufs Objektive gerichteten Religion, wie es in der Absicht der

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Rel.-Stifter liegt. Freilich hat der Rel.-Stifter in sich ein religiöses Innenleben, von dem er den Impuls bezogen hat. Es ist aber schon zu beachten, dass nie ein Rel.-Stifter sich auf sich selbst berufen hat. Diesen innersten Impuls, der ihn treibt, die Menschen anders zu machen, diesen Impuls interpretiert er als Auftrag von aussen her. Jeder Religions-Stifter war immer revolutionär, aber es ist interessant, zu beachten, dass nie ein Religions-Stifter diesen revolutionären Instinkt nach aussen bekannt hat. Der Religions-Stifter kommt nicht, um ein Gesetz umzustürzen, sondern um ein Gesetz zu erfüllen, innerlich neu aufzubauen, ohne traditionelle Werte preiszugeben. Daraus wird klar, dass diese Form, aus der er aktiv wird, dass das immer eine nach aussen gewendete und expansive Form der Religiosität ist. Hier sind die Grenzen die das persönliche religiöse Leben sich selbst zu ziehen hat, längst überschritten. Auch diese Form zielt vielmehr nach aussen. Es kommt den Religions-Stiftern nicht darauf an, dass sie persönlich irgend eine Wahrheit sagen, es kommt ihnen auf die Wirkung an, auf die Umgestaltung. Aber neben diesen Religions-Stiftern, den eigentlichen Schöpfern der äusseren religiösen Form, gibt es ein inneres religiöses Leben das tatsächlich für die Gesamtheit das Entscheidende ist, nämlich die Frage, wie weit darf ich mich dem Eindruck dieser grossen religiösen Form in meiner Person hingeben. Zweifellos wird die Mehrzahl der Menschen wieder durch eine Interpretation eines inneren Vorganges nach aussen hin sofort erklären, dass sie glaube, weil sie überzeugt ist. Jede Jüngerschaft gibt den eigentlichen Bezirk der persönlichen Freiheit von sich aus und von Vornherein auf. Das Problem ist also dadurch nicht gelöst, es ist nur auf eine ganz andere Ebene verschoben. Ich versuchte vorhin, das Problem aufzufassen als rein Individuelles. Der Gedanke an Offenbarung hat damit zunächst nichts zu tun. Tatsächlich, sowie ich eine objektive Religion anerkenne, betrachte ich das Objekt als gegeben. Ich will noch weiter gehen, das Dogmatische, das im Begriff der D. liegt. Jeder Mensch verfährt dogmatisch rezeptiv auf diese Weise. Und die Grenze, auf die kommt es jetzt an, nämlich ob ein Akt der Freiheit noch möglich ist, solange ich mich in diesem Bezirk befinde. Ein religiös freier Akt ist immer nur in der völligen Einsamkeit des innersten Lebens möglich. Werden diese innersten religiösen Dinge auch nur bekenntnismässig geäussert, so verlässt er den Bezirk des rein Persönlichen. Er schafft auf diese Weise selbst objektive Religion. Die Religion empfindet einen derartigen Eingriff einer privaten zur objektiven erhobenen Religion als einen störenden Eingriff in die Rechte der Gesamtheit. Das Dogma, die religiös feste Form, die sich in der Gemeinschaft weiterpflanzt, hat ja aber die eigentliche Aufgabe, die

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Persönlichkeit an die Gemeinschaft zu binden. Durch die äussere Form wird zugleich die innerste Einsamkeit an die Gemeinschaft gebunden. Solche objektive Religion erfüllt die eigentliche Tradition, nämlich die Gemeinschaft zu erhalten, ohne die wirkliche Freiheit vernichtet zu haben. Hier scheint das entscheidende Problem zu liegen. Genau wie bei politischen Revolutionen ist ein Religions-Stifter, der Erfolg hat, im Recht, im anderen Fall im Unrecht. Ein Werturteil über diese Dinge ist nicht möglich. Es handelt sich darum, bewusst zu werden, wie weit das rein Persönliche in der Gemeinschaft noch möglich ist. Dr. Buber. Ich habe nur jenem Aeusseren des mystischen Lebens, von dem kein Weg in die Wirklichkeit führt, das persönliche Aeussere gegenübergestellt, von dem aus das Wort ergeht. Nur in diesem Sinne konnte ich es. Folglich scheint es mir so zu sein, dass von diesem Aeusseren aus eine unendliche Abstufung führt bis zum Unrecht. Ich glaube, dass die Unterschiede schon nicht überschätzt werden dürfen. Ich muss gestehen, dass mir sogar die Bezeichnung religiöses Genie widerstrebt. Es ist mir irgendwie peinlich von Jesus als einem religiösen Genie zu sprechen. Mir dem Juden ist dies peinlich, weil das in der Tat zu wenig ist. Wie die Propheten mit den Derwischen nur das Unwichtige gemeinsam haben, so ist es auch hier. Sie sagten diese religiösen Genies interpretieren den inneren Impuls, indem sie ihn als Offenbarung deuten. Nun das ist wie mir scheint eine Differenz zwischen uns. Ich glaube, das was Sie sagten ist eine in sich durchaus gültige wissenschaftliche Definition. Die Wissenschaft darf nicht, und hier müssen Sie mir schon erlauben, den Namen Gottes zu gebrauchen, ich kann nicht anders, die Wissenschaft ist nur dadurch möglich, dass sie Gottes Existenz nicht in ihre Methode einschliesst. Sonst wäre sie unmöglich. Wenn man weiss was Gott ist, kann man nicht Wissenschaft betreiben. Gott und Wissenschaft gehen auseinander. Ich sage nochmals ich selbst, wenn ich das bemerken darf treibe Wissenschaft und ich glaube, dass die Wissenschaft eine grosse Pflicht des Menschengeistes ist, durch die erst die Kontinuität möglich wird. Denn diese Erkenntnispflicht, die sich von den koncreten Zusammenhängen entfernt, die sich über das Leben hinwegsetzt und hinwegsetzen muss, und recht tut, indem sie dies tut, dies ist der Weg der Menschen. Durch dieses immer erneute Vergehen durch diesen an jedem Tag geforderten Sündenfall geht die Menschheit ihren Weg. Aber wenn ich – und ich kann nicht anders über diesen Gegenstand reden, d. h. ich kann

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auch anders, aber eine Empfindung veranlasst mich, solange ich unter dem Gesetz der Wissenschaft rede, immer wieder auszubrechen, d. h. genau so wie es mir scheint, dass die Wissenschaft ihre Pflicht genau so erfüllt, wenn sie sich nicht darum bekümmert, was Gott ist, sondern immer auf die unübersteigbare Mauer hinsieht, so darüber hinaus ist der lebendige Mensch, der von diesen Dingen redet. Der lebendige Mensch bricht eben aus dieser Pflicht, indem er auf das Koncrete hinzeigen will. Nur dann wenn man dies tut, wenn man auf das Koncrete zurückgreift, dann ist es nicht eine Interpretation des inneren Impulses, sondern es ist die Offenbarung, die vom Menschen ja nicht anders gefasst werden kann, denn als Interpretation eines inneren Impulses. Dies erweitert zunächst die Entfernung zwischen uns, aber ich hoffe, dass das nicht endgültig ist, ich hoffe, dass wir wieder zusammenkommen. – Perspektivische Differenz – Sie sagten nun diese religiösen Genien tendieren nicht nach Religiosität, und da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Aber wenn Sie dann sagen sie tendieren nach Religion, dann stimme ich mit Ihnen nicht überein. Denn das wonach der stifterische Mensch tendiert, das nenne ich nicht Religion. Es ist nämlich nicht dieses objektiv dauernde Gebilde, das der stifterische Mensch meint, sondern es ist etwas, was die Geschichte übersteigt, es ist wenn wir den religiösen Namen dafür gebrauchen dürfen, nicht Religion, sondern das Reich Gottes. Das Reich Gottes kann in verschiedenen Formen Gegenstand der Religion sein, aber es ist nicht Religion. Im Reich Gottes braucht es nicht Religion zu geben. Ich meine nun die stifterischen Menschen tendieren nicht nach Religion, sondern nach dem Reiche Gottes. Nun möchte ich zunächst noch diese so wichtige Frage aufrühren, die Sie stellten. In der Tat eine Frage, wie weit sich der Mensch diesem, von den stifterischen Menschen Ausgehenden hingeben darf. Und dies bejahe ich dies ist identisch, es ist beinahe identisch sowie Offenbarung und Gott. D. h. das Verhältnis des Menschen der Offenbarung gegenüber. Das Verhältnis des Menschen dem Dogma gegenüber. Dogma ist auf jenem Wege die Umkleidung der Botschaft. Auf jenem Wege der die Botschaft in die Bedingtheit der Welt führt. Wenn es manchmal auch Jahrzehnte dauert bis die Botschaft Dogma annimmt. Vielleicht ist Ostern die Botschaft noch nicht da, und Pfingsten das Dogma schon da. Die Botschaft hat, wenn sie auch so erfahren werden kann, gerade dann, wenn sie als Dogma auftritt, jenes Ursprunghafte nicht mehr. Aber jene Receptivität, die der Offenbarung gegenüber nicht etwa bloss son-

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dern die einzige mögliche Haltung ist. Die ist dem Dogma gegenüber nicht so. Die Frage, wie weit man sich hingeben darf, wie weit man sich mit der fremden Erfahrung füllen darf. Mir scheint es so zu sein, dass das Hinaustragen der Botschaft durch den stifterischen Menschen so ist, dass jeder Mensch den sie trifft, nicht etwa bloss hingewiesen wird, auf das von wo die Botschaft ausgeht, sondern gleichzeitig hingewiesen wird, auf das wo es sich vollzieht d. h. es wird nicht gefordert der Gehorsam gegen das was in der formenden Erfahrung sich manifestiert sondern es wird gefordert das sich Auftun das nun auch dieses ganz Primäre erreicht. Es wird nichts gefordert, als das Abtun der Kruste. Nun liegt das Herz offen für das was es trifft, für das Wort, das redet, für die Stimme die tönt, und sie tönt immer noch. Gott hat keine Geschichte. Die Stimme tönt noch weiter. Es bedarf keines anderen Gehorsames. Darum also sich nicht mit fremder Erfahrung füllen. Aber dieses Oeffnen ist so schwer, etwas so dem Menschen widerstrebendes, dass er sich weigert, und keine geringere Handlung nötig ist, als die des Stifters. Wie etwa ein chassidischer Rabbi sagt: Sprenge dein Herz auf mit dem Nagel. Dieses Aufsprengen, das ist die Tat des Stifters. Man darf nicht von fremder Erfahrung sprechen. Die Einsamkeit des Herzens tut sich durch des Stifters Wort auf. Die Frage des Zerreissens und Stiftens von Gemeinschaften. Sie sagten ein Stifter zerreisst alle Gemeinschaften, ob er damit mit diesem Zerreissen Recht oder Unrecht tut, das entscheidet der Erfolg, das entscheidet die Geschichte. Vielleicht ist das wieder eine Differenz. Ich weiss die Geschichte gibt dem Recht, der den Erfolg erzielt. Aber ich glaube, dass die Geschichte Unrecht hat. Ich glaube, dass die Geschichte mit ihrem Recht- oder Unrecht-verteilen irgendwo Unrecht bekommt. Ich glaube, dass es ein anderes Kriterium, ein anderes Urteil, als das der Geschichte gibt. Wenn der Prophet der geheimnisvolle Prophet, der zweite Jesaia zu Gott sagt »Du hast mich zu einem blanken Pfeil gespitzt«, so ist das etwas, was unter die Geschichte hinunter führt. Die Erfolglosigkeit, die Zersetzung, die Fäulnis, das ist vielleicht die eigentliche Geschichte. Dr. Hefele Dass eine solche Wirkung vorhanden ist, bestreite ich nicht. Wie es im Bau des Körpers Krankheiten gibt, so sind auch im Leben der Gemeinschaft solche auflösende Elemente, die Reaktion hervorrufen, an sich notwendig und gut. In der Wirkung auf den Einzelnen sind sie verschieden. Wir fühlen die von ihnen ausströmenden Kräfte vielleicht

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auf Umwegen, und auf dem Umweg der objektiven Zweifel hat die geschichtliche Gestalt des hl. Franz befruchtend und anregend gewirkt. Seine Wirkung auf eine grosse Zahl von Menschen war aber nur durch die grosse Gemeinschaft gewährleistet, in der er geblieben ist. Setzen wir den Fall, er wäre genau wie Joachim aus der Gemeinschaft ausgetreten, weil er glaubte, es sei notwendig, die alte Form zu sprengen [Leerstelle im Text] In der Wirkung wäre es zweifelhaft gewesen. Dr. Hefele Für das Geschichtliche gilt natürlich nur die Geschichte. Sobald ein persönliches Erlebnis geschichtlich wird, d. h. nach aussen tritt, ist Objektives aufgerichtet. Sobald er um ein persönliches Erlebnis weiss, ist es auf dem Weg das Objekt, und es ist auf diesem Weg ein Stück im Wirken der Gemeinschaft schon geworden. Es mündet also sofort in das objektive Wirken der Religion. Dr. Buber Verzeihen Sie mir, wenn ich wieder von der Wirklichkeit aus spreche, aber ich kann nicht umhin, wenigstens immer wieder hinzuzeigen auf das, was mir das Wichtigste ist. Es kann also auch so sein, dass Gemeinschaft Prüfstein wird. Dass die Geschichte das einfach als eine Ketzerei bezeichnet, und dennoch das ist Knecht Gottes. Ich weiss dass diese Menschen, eben diese Menschen von uns deshalb nicht in ihrer Wirkung erkannt werden, weil wir ja die echte Geschichte nicht haben, sondern nur jene eigenmächtige Auswahl aus dem geschichtlichen Geschehen, die man Geschichte nennt. Ich glaube, dass das Christentum den versagenden Menschen nicht weniger zu verdanken hat, nur dass der Dank unfassbar ist, und so wird diesen Dank auch niemand ernten. Sie haben für das Christentum, für die wirkliche Nachfolge gewirkt. Dieses Unsichtbare, das brauche ich dazu. Dr. Buber Nehmen wir diesen Begriff von Krankheit. Es gibt Krankheiten, die eine Regeneration des Organismus sind. Wir dürfen aber nicht sagen, dass dies eine Krankheit und das andere Gesundheit sei. Die Krankheit, die zur Regeneration und die zum Tode führt sind gar nicht so verschieden voneinander. Aber die Qualität dieses Vorganges wird nicht danach bestimmt. Weil Sie sagen, das eine ist Krankheit und das andere nicht, will ich fragen, was entscheidet, ob eine Krankheit zum Tode führt, oder zur Regeneration? Einzelne Aerzte haben zuweilen dem nicht widerspro-

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chen, dass vielleicht in einem entscheidenden Augenblick der eine Mensch etwas tut, was der andere Mensch unterlässt. Es ist vielleicht ein letzter Augenblick der Entscheidung, die vielleicht mit dem Sterben und dem Nichtsterben eines Menschen verknüpft ist. Vielleicht ist es in der Gemeinschaft auch so. Und nun meine ich es muss erlaubt sein, auch die Vorgänge für sich anzusehen, unabhängig von ihren geschichtlichen Wertungen. Erlauben Sie mir noch einen Vorschlag. Sie haben gesagt, dass der Mensch, den Sie religiöses Genie nennen, das Gesetz nicht umstösst, sondern erfüllt. Und nun möchte ich vorschlagen, dass wir an ein paar Beispielen uns vergegenwärtigen, wie das geschieht, inwiefern er umstösst und inwiefern er erfüllt. Wie geschieht das, wenn ein religiös handelnder Mensch sich gegenübersieht einer Form einem Gesetz? Was bedeutet das, wenn er erfüllen will? Zunächst ein Beispiel von den Propheten, wo vielleicht die Situation einfacher gefasst ist. Bei den Propheten Israels steht es so, die eine grosse Form wogegen der Prophet sich erhebt, ganz ausdrücklich gegen sie, das ist das Tieropfer. Die Propheten sprechen von den Tieropfern in der entschiedensten ablehnenden Sprache. Jeremia sagt »Nein, dies habe ich nicht geboten«. Er gibt ein Wort, als Gottes Wort den Menschen gegenüber aus, dass dies was Gott im Gesetze geboten hat, nicht geboten worden ist. Es ist oft versucht worden, die Stelle zu interpretieren, gleichviel es steht so da. Nun was bedeutet dieses, dieses Umstossen wollen? Vielleicht ist das Erfüllen-wollen mit dem Umstossen unlösbar verbunden? Der israelitische Opferkult hat wie mir scheint sein Hauptwesen in zwei Phänomenen. Das eine, dass der Mensch Tiernahrung geniesst. Der Mensch tötet Tiere und isst davon. An dieses Töten von Tieren ist das Gebot der Opfer gebunden. Es ist nicht, wie bei den meisten anderen Völkern etwas von dem unmittelbar gelebten Leben des Menschen abhängiges, sondern es ist die einfache Darheiligung die allein das Töten und Essen von getöteten Tieren sanctioniert, weil es nun auch, das Töten und das Essen in Darheiligung geschieht. Das ist das Erste und das Andere ist, dass diese Darheiligung in einer besonderen Form geschieht, die soviel ich weiss in der ganzen Religionsgeschichte nur dieses eine Mal vorkommt, das ist das, dass der Mensch oder die Menschengruppe, für die dieses Opfer dargebracht wird, ihre Hand auf das Haupt des Opfers stützen, dass der für den dieses Tier dargebracht wird, seine Hand auf das Haupt dieses Tieres stemmt. Das ist dieselbe Haltung der wir bei Moses wieder begegnen, wie er sein Amt Josua übergibt, er stemmt die Hände auf den Kopf des Jüngers und sagt damit, »Das bin nun ich«. Er überträgt den Ruach, das Geisteselement, das über ihn kommt. Dies vollzieht nun

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der Opferer. Er sagt damit ich meine mich, diese Darheiligung ist die Darheiligung meiner selbst. So wie Abraham seinen Sohn darbringen will und sich selbst meint eigentlich muss ich mich selbst darbringen. Dieser Act ist der Ursprung des israelitischen Opfers. Nun als ich vor 1 ½ Jahren das Pessachopfer der Samaritaner sah, da durchzuckte es mich, dass dies nicht das israelitische Opfer sein kann. Mir ist es offenbar geworden, dass dies nicht möglich ist, dieser Act der Semichah fehlte, das Opfer hatte etwas grausames, instincthaftes blutrünstiges. Die Samaritaner sind eine vollkommene Kirche, die ein paar hundert Seelen umfasst. Keine Secte, weil sie nicht in einem bestimmten Gegensatz zu einer grossen Organisation stehen. – Da verstand ich stärker noch als vorher, was die Propheten meinten. Es ist doch etwas ungeheueres, dass der Mensch die Hand auflegt und sagt, das bin nun ich. Und nun aber wenn der Mensch noch weiter das vollzieht, ohne dies zu meinen, dann entsteht ja eine Verruchtheit des religiösen Geschehens. Tausend Mal lieber der Atheist als dieser Mensch, der die Gebärde des Aeusseren, das zwischen Mensch und Gott geschehen kann tut, und nicht mit dem Wesen vollzieht, der es tut, als eine Gebärde. Das Opfer war gegeben das war, wenn man so sagen darf, geboten. Und nun die Propheten, die dies entgeistigt geworden vorfanden, was konnten sie sagen, wenn nicht dies, »Dies habe ich nicht geboten«. Ja ist es denn bloss Form? Ist es denn dem Auge ein Unterschied, wenn diese Gebärde kunsthaft geschieht, und welcher Mensch könnte so schauspielerisch sein, wie der religiös gläubige Mensch? Ich sage für den ästhetisch empfindenden Menschen ist vielleicht zwischen dieser Gebärde und jener, die geboten war, kein Unterschied mehr. Erfüllung ist Umsturz. Alle Erfüllung ist Reformation. Nicht aufgeben der Form, sondern die Läuterung, die Wiederherstellung der Form zum Ursprung, dahin wo, vielleicht die Form sich erneuern kann. Dieses Recht auf Erneuern, dieses immer wieder Konfrontieren der Form mit dem Wort, dies ist die Handlung des religiös handelnden Menschen. Mit dem Exil ist der Opferkult, der die Propheten überdauert hat, zu Ende gewesen. Ich kann es nicht sagen, wieviel die Propheten auf der Ebene der Geschichte gewirkt haben. Vielleicht ist es ihnen nicht gelungen, den Opferkult abzuschaffen, jedenfalls der Opferkult hat sie überdauert. Der Opferkult hat dann mit dem Zerfall des Staatswesens, nach dem 2. Exil sein Ende gefunden. Und nun geschieht das, dass im jüdischen Volke an Stelle des Opferkultes einerseits die Gebetsform tritt, aber anderseits doch jenes natürliche Geschehen des Essens von der Darheiligung nicht geschieden wird, durch das Schächten. Jener selbe Geist im Volke, der die Propheten bewegte, dem genügt das nicht. Und wenn

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freilich einerseits in den Gebeten um die Wiederherstellung des Opferkultes gebetet wird, so ist immer stärker die Tendenz die das natürliche Leben selbst an einen religiösen Act bindet, wie im 18. Jahrhundert dann im Chassidismus das Essen eine Opferhandlung wird, der Tisch ein Altar und gesagt wird, im Tiere selbst sind göttliche Funken bewahrt, die durch die Handlung des Essens erlöst werden. Mir scheint, dass es hier gewissermassen das Gegenstück und die positive Antwort ist zu jenem Umsturz der Propheten. Es ist der selbe Vorgang. Dieses Neinsagen und dieses innigste Jasagen, wenn das Tier umfangen wird, dieses dynamische ist die religiöse Wirklichkeit, um die es geht. Dieses Vergehen und Zerfallen in diesen reinen Erfüllungsact ist doch unwesentlich ein Umstossen des Ritus des Lebens. Nichts darf von der religiösen Form ausgeschlossen werden, alles wird Sacrament, alles wird Form. Dr. Hefele Das ist ein treffendes Beispiel. Es spricht für meine These. Nehmen Sie an, Franz von Assisi wäre ausserhalb der Gemeinschaft der Kirche getreten. Es gab ja eine Reihe von Menschen, die sich abgesondert haben, die nicht den Willen hatten, in der Gemeinschaft zu bleiben. Er wäre dann ein blosser Ketzer geblieben ohne geschichtliche Wirkung, wie viele andere, die die Gemeinschaft verlassen haben und deshalb ausser Stande waren eine neue abendländische Tradition zu bilden. Dr. Buber Ja ich gebe zu, dass es zwei zusammenwirkende Kräfte im Menschen gibt. Vielleicht darf ich noch etwas praktisch hinzufügen, das die Sache der Judenheit angeht. Es wird vielleicht, das was ich sage, irgendwie auch auf die Christenheit Geltung haben. Vielleicht sind sogar Katholizismus und Protestantismus als abendländische Explicationen jener zwei Mächte anzusehen, die eben nicht im Kampfe liegen, sondern zwischen denen sich immer wieder das religiöse Geschehen austrug. Ich sage nun, vielleicht gilt auch das was ich jetzt andeuten will, auch irgendwie für das Christentum. Heute gibt es im Judentum religiös betrachtet, Orthodoxie und Liberalismus. Die Orthodoxie und der Liberalismus verhalten sich nun, wie mir scheint, beide – ja ich möchte kein zu scharfes Wort wählen – in unrichtiger Weise zu eben diesem Problem, das zwischen uns deutlich geworden ist. Indem auf der einen Seite einseitig das Objektive gefasst wird, und auf der andern Seite einseitig das Subjektive. Verkannt wird auf beiden Seiten, dass es im religiösen Leben geht um die Begegnung zwischen Objektivität und Subjektivität. Die Orthodoxie meint, dem re-

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ligiösen Gesetz, der religiösen Form gegenüberzustehen, als einem schlechthin unteilbarem unreduzierbarem, ich will nicht sagen unabänderlichen, aber geschichtlich unabänderlichen Ganzen, wenn nicht ein neues Sanhedrin entsteht. Ich sage diesem Gesetz steht sie so gegenüber, dass es nur eine Acceptation dem Gesetze gegenüber gibt. Auf der anderen Seite meint der Liberalismus – ich bitte die anwesenden Liberalen sich nicht betroffen zu fühlen – das Problem der religiösen Selbstständigkeit der Person in einem solchen Sinne fassen zu dürfen, dass zwar das Gesetz des Haltens in das Gesetz des Lebens in die Materie hineinbezogen werden soll, es jedoch in der freien Entscheidung des Einzelnen liegt, inwieweit er es einbezieht oder nicht. Es ist in die persönliche Entscheidung gestellt. Auf diese Weise kommt Montefiore zu seiner Aufhebung ganzer Bezirke der Ueberlieferung, ja ganzer Bezirke der Offenbarung. – Diese Beziehungen sind nicht mehr zeitgemäss. Als ob dieses was wir Zeit nennen, dieses Schmeicheln dem Zeitgeist eine solche Entscheidung zu treffen hat. Beides scheint mir eine unrichtige Stellungnahme zu sein. Ich kann meine Stellungnahme weder hier [Textverlust]

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[Stellungnahme zur Strafbarkeit der männlichen Prostitution] Die Gesellschaft besitzt meiner Ansicht nach kein Kriterium, von dem aus sie im Urteil und in der Behandlung einen einschneidenden Unterschied zwischen den verschiedenen Arten der sogenannten gewerbsmäßigen Unzucht machen dürfte. Weib oder Mann, gewerbsmäßig oder nicht gewerbsmäßig, sie hat sich im Bereich der »Unzucht« wie in jedem andern, damit zu befassen, die Schutzbedürftigen zu schützen; darüber hinaus hat sie hier kein Amt und keine Befugnis.

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Vorwort [zu »Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen«]

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Von dieser Briefsammlung darf in einem besondern Sinn gesagt werden, daß sie den mit dem Leben vollzogenen Gang eines Menschen durch unser Zeitalter urkundlich darstellt. Gustav Landauer ist seinen Weg wirklich selber gegangen, menschlichen, kreatürlichen Schritts. Er rannte nicht blindlings und ließ sich nicht schieben, er war kein Doktrinär und kein Opportunist; er war geistgetreu und schicksalgehorsam. Einige Monate vor seinem Tod schrieb er in einem (uns nicht zur Veröffentlichung übergebenen) Brief: »Es wird anders kommen, als ich voraussehe und will, trotz all meiner Tätigkeit. Ich tue also meine Sache, immer bereit, mich um ihretwillen der jeweiligen Situation einzufügen.« Das ist die gerechte Haltung des handelnden Menschen, der weiß, daß er das nichtbegriffliche, das wahre Bild seiner Idee nur in den lebendigen Wassern der Wirklichkeit zu erblicken vermag, und daß ihm erst aus diesem Blick die echte Verantwortung, die Substanz des tätigen Daseins, ersteht. Und Landauer ging seinen Weg mitten durch sein Zeitalter. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens ist das am deutlichsten wahrzunehmen. Er hat in den fünf Jahren vor dem Ausbruch des Kriegs ihn vorhergesagt und ihn zugleich bekämpft, nicht als Angehöriger einer politischen Gruppe, sondern als Einzelner und Einsamer, und nicht mit Schlagworten, sondern mit Aufdeckung und Aufzeigung verborgener Wirklichkeit. Er hat die Revolution vorhergesagt und an ihr, wiewohl der Menschheitsrevolution leidenschaftlich zugetan, als Einzelner und Einsamer eine unerbittlich klarsichtige vorwegnehmende Kritik geübt, von der er auch, als es geschah und er, im Bewußtsein, ein gebotenes Opfer zu bringen, sich der Erhebung anschloß, nicht abgewichen ist. Aber vor diesem letzten Jahrzehnt ist er der gleiche. Keiner hat in dieser Epoche so glühend und mächtig wie er den Sozialismus gepredigt, und keiner hat so große Waffen gegen die fast allgemein mit dem Sozialismus identifizierbare Parteiprogrammatik und Parteitaktik geführt. Wie solch ein Mensch jeweils zum gleichzeitigen Geschehen steht, von ihm Kunde gibt und immer zugleich über es hinaus kündet, das ist einzigartig in einem sehr ernsten Sinn. Aber all dies ist eingefügt in ein großes, wahrhaftes, aus Geist und Liebe wachsendes Menschenleben. Landauer betonte gern, er sei »antipolitisch« gesinnt; das bedeutete natürlich ganz und gar nicht: einer, der sich aus der Öffentlichkeit in die private oder intellektuelle Existenz zu-

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Vorwort

rückzieht; es bedeutete: einer, der gegen eine falsche Öffentlichkeit für eine künftige rechtmäßige, gegen eine zerfallende Gesellschaft für den Bau einer Gemeinschaft mit seiner Person eintritt; aber eben nicht »politisch« eintritt, wie für etwas, was man nur »durchsetzen« will, sondern mit den Mitteln des Lebens selber, im Leben selber, im eignen Leben, mit dem eignen Leben. Er verstand den Sozialismus als etwas, womit man da wo man eben eingesetzt sei, und nur da, beginnen könne und solle; und sein eignes Dasein war ihm eine Stätte der Verwirklichung. Von diesem seinem verwirklichenden Leben mit Nahen und Fernen zeugt urkundlich dieses Buch. Wenn man von den ersten sechs Briefen absieht, die nur zum bessern Verständnis des biographischen Zusammenhangs mit aufgenommen worden sind, umfaßt das Buch 20 Jahre. Der Brief, mit dem es eigentlich beginnt, einer an Hedwig Lachmann, stammt vom März 1899 – da ist Landauer fast 29 1 . Es ist eine Zeit einschneidender Vorgänge in seinem Leben, äußerer und innerer: der Anfang der Beziehung zu seiner zweiten Frau; der Ziethenprozeß und die Gefängnishaft; während dieser die Helfer-Arbeit an Fritz Mauthners sprachkritischem Werk, in der Landauers Denken zur Selbständigkeit reift; dann die Anteilnahme an der Begründung der »Neuen Gemeinschaft«, die ihn lehrt, wie Gemeinschaft nicht entsteht. Es ist das Jahr, in dem er sein personhaftes Gepräge empfängt; auch seine schriftlichen Äußerungen bekommen erst jetzt »seinen« Ton. Ich habe Landauer damals kennengelernt. Die Briefe sind so ausgewählt, daß die Schritte des Lebensgangs von ihnen abzulesen sind. Die Auswahl versucht, äußere und innere Biographie zu verknüpfen. Jeder Brief soll entweder als Äußerung oder als Dokument, womöglich als beides, bedeutsam sein. Beschränkend für den hier unternommenen Versuch, aus dem ganz spontanen, nur als Mitteilung von Person zu Person gemeinten Ausdruck der Lebensmomente ein Bild des Lebensgangs und -Zusammenhangs zu fügen, mußte die Beschränktheit des Materials sein. Manches, insbesondre aus dem letzten Jahr, ist verloren. Mehrere Korrespondenten haben die Briefe, die in ihrem Besitz sind, nicht hergeben wollen oder können. Andere haben gewünscht, selber eine Auswahl zu 1.

Briefe, Tagebücher und andere Dokumente der Jugend sollen später in einem Band veröffentlicht werden, den Landauers Schwiegersohn, Dr. Max Kronstein, vorbereitet.

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treffen. Um nur die wichtigsten zu nennen: von den Briefen an Fritz Mauthner ist mir ein kleiner, von denen an Ludwig Berndl ein größerer Teil nicht bekannt geworden; Constantin Brunner hat die sehr umfänglichen letzten Briefe Landauers an ihn, deren Entwürfe sich im Nachlaß befinden, nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Margarete Faas-Hardegger hat die nach 1909 an sie geschriebenen Briefe nicht auffinden können. In den aufgenommenen Briefen ist, außer den für die Öffentlichkeit bedeutungslosen Teilen sowie Wiederholungen des in anderen Geäußerten, weggelassen worden: 1. gemäß Landauers letztwilliger Verfügung alles, wodurch »sich ein Lebender oder unmittelbarer Nachkomme oder Ehegatte eines Toten verletzt fühlen können« (wozu ich kritische Äußerungen über Werke auch bei großer Schärfe nicht zählen zu dürfen glaubte), 2. einige Stellen, deren Streichung vom Verlag unter Berufung auf ein Rechtsgutachten gefordert worden ist. Auf alle Auslassungen ist durch das Zeichen […] hingewiesen. Die Anmerkungen sollen im wesentlichen die Ergänzung der aus den Briefen selbst erkennbaren biographischen Zusammenhänge ermöglichen. Sie sind zum größten Teil aus der unermüdlichen Arbeit Ina Britschgi-Schimmers hervorgegangen; mehrere stammen von Dr. Max Kronstein, der eine Fülle wertvollen Materials zusammengetragen hat. Ludwig Berndl hat zu den an ihn gerichteten Briefen eine Reihe von Erläuterungen beigesteuert, die zumeist mit seinen Initialen gezeichnet sind. Ihm und allen andern Korrespondenten, die die Abfassung der Anmerkungen gefördert haben, sei herzlich gedankt. Ein besondrer Dank gebührt meinem Freund, Bibliotheksrat Dr. Hans Lindau, der, gesinnungsmäßig manchem in diesem Buch Ausgesprochenen sehr fern stehend, an seiner Vorbereitung (in einem frühen Stadium der vieljährigen Arbeit) doch mit vorbildlicher Hingabe mitgewirkt hat. An Bild- und Faksimile-Beigaben enthält das Buch ein Bild Landauers von 1916, eins seiner Frau vom Frühjahr 1917 und drei Briefstücke aus verschiedenen Zeiten seines Lebens.

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[Religion und Politik] (17. 2. 1929) Bäuerle. Lieber Herr Buber! Wenn wir über Religion und Politik miteinander und vor Zeugen uns jetzt unterhalten wollen, so bin ich mir wohl bewußt, daß dies ein etwas kühnes und gewagtes Unterfangen ist. Nicht nur weil wir Beide doch in gewisser Hinsicht eine verschiedene Sprache sprechen, sondern auch weil das Thema außerordentlich umfassend, eigentlich beinahe das ganze Leben umspannend, ist und weil die Zeit, auch wenn wir die Ausdauer der Zuhörer erheblich in Anspruch nehmen, doch immerhin kurz ist. Es handelt sich um zwei Gebiete, die unser Volk bis in die letzte Tiefe trennen, ja nicht nur trennen, sondern zerreißt und die, gerade wenn man sie auch noch gegenüberstellt, die Schwierigkeit noch vermehren. Eine weitere Complizierung liegt darin, daß wir in der Welt der Tatsachen bleiben wollen und daß wir deshalb nicht nur von Religion und Politik schlechthin miteinander reden wollen, sondern auch von den Formen, in denen Religion und Politik auftreten, d. h. auch von Kirche und Staat. Und daß wir wohl in diesem Zusammenhang auch einiges über Kirchenpolitik auf der einen Seite und Staatsreligion auf der andern Seite werden sagen müssen. Aber die Schwierigkeit wird dadurch noch vermehrt, daß wir ja alle diese Spannungen und Gegensätzlichkeiten nicht nur innerhalb unseres Volkes oder der Menschheit, oder der einzelnen Gruppen unseres Volkes finden, sondern daß alle diese Schwierigkeiten in jedem einzelnen von uns selbst sich auftun, daß also in uns, in jedem Einzelnen von uns, Religion und Kirche, Politik und Staat in all ihren Verschlingungen, Gegensätzlichkeiten, in ihrem Zueinanderwollen und Auseinanderstreben, ihre Heimstätte haben, und außerdem, daß die Wirklichkeit des Lebens gerade auf diesem Gebiet und diesen Fragen jeder Theorie spottet. Dagegen steht noch die andere Tatsache oder die andere Notwendigkeit, daß wir in uns selbst und daß wir zwischen uns Friede und Gemeinschaft brauchen, haben müssen, daß dies also sein muß. Wie können wir dies in einem Gespräch auch nur einigermaßen meistern? Und weil es sich hier um so schwere und auch um uns persönlich so nahe berührende Fragen handelt, deshalb gestatten Sie mir, lieber Herr Buber, – und ich bitte auch die Zuhörer darum – daß ich eben persönlich rede und gar nichts weiter tue, als eben meine Auffassung sagen

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und daß ich sonst in niemandens Auftrag und niemand zulieb und niemand zuleid reden möchte und daß ich lediglich von mir aus (und ich denke, daß wir Beide das wollen) eben einen Beitrag zum Mitdenken und Weiterdenken über diese Fragen geben will, denn um irgend ein Rezept, um ein Mittel, das für alle gültig wäre, kann es sich nicht handeln. Ich stelle mich mitten in dieses Streitleben hinein und habe nun einfach meine Position einmal aufzuzeichnen. Mir ist Religion das sich Eingebettet- und Geborgenwissen im letzten, in dem Urgrund und Sinn des Lebens und damit auch gleichzeitig ein Teilhaben an diesem Sinn. Diesen Sinn nun, den finde ich nicht in der Erscheinungswelt des Lebens. Ich finde in unserem Leben, in dem Alltag, in dem, was sich um uns immer ereignet, ich finde darin viel zu viel Sinnlosigkeit, ich finde darin viel zu viel Unvernunft, ich finde darin zuviel Unmenschlichkeit, aber ich glaube daran, ich glaube daran trotzdem, trotz all dieser Sinnlosigkeit und trotz all dieser Unmenschlichkeit, ich glaube also ganz einfach an die letzte Wirklichkeit, und indem ich glaube, baue ich aus diesem meinem Glauben die Welt neu auf. Und indem ich so meinen Glauben aufbaue, eben indem ich glaube an diese letzte Wirklichkeit, indem ich das tue, bin ich frei und ich erlebe in mir den paradoxen Tatbestand der Freiheit in letzter und tiefster Bindung. Und indem ich nun dies glaube, habe ich teil an diesem Sinn, teil an dieser Urkraft, teil an all dem Zwiespalt, an all der Unzulänglichkeit, an all der Sinnlosigkeit, die ich in der Wirklichkeit, in der Erscheinungswelt des Tages finde. Aber indem ich glaube, löse ich mich von der Herrschaft dieser Dinge, auch von der Herrschaft meines Ichs und meiner Sinnlosigkeit. Religiös gesprochen: Ich löse mich von meiner Schuld, von meiner Sünde. So ist also mir die »Erlösung« der Sinn aller Religion und ich wage es zwar kaum, aber ich möchte es doch auch sagen: eben weil ich diese Erlösung als Ziel und als Weg nirgends klarer und wahrer finden kann als im Christentum, darum bin ich ein Christ. Ich achte jeden andern Weg zu solcher Lösung und Erlösung, wenn und sofern er wahrhaftig beschritten wird. Das Kriterium für alle Glaubensechtheit und Glaubenswahrheit ist nicht die Lehre, sondern der Erweis der Kraft eben in dieser zwiespältigen Erscheinungswelt. Wo religiöse Menschen sind, gleichviel worauf sie die Formulierung dieses ihres Glaubenserlebens eingebettet wissen, da ist Gott und somit ist mir Religion letzte Sinngebung und tiefste Quelle der Kraft. Und der erlöste Mensch, das ist der Mensch, der Gott liebt. Aber eben dieser religiöse Mensch, der wird und muß sich erweisen im Leben oder anders ausgedrückt: er muß sich erweisen im Wirken. Wirken aber heißt (religiös gesprochen) nichts anderes, als Gott verherrlichen im Le-

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ben und im Bereich des Lebens. Diesen Gott, diesen letzten Sinn, den verherrlichen in der Gemeinschaft mit allem, was lebt, also auch in der Politik, innerhalb dieses Lebensbereichs der Politik, also auch durch die Politik. Politik ist mir die Ordnung und Regelung der für eine Gruppe von Menschen gemeinsam oder diese Gruppe von Menschen betreffenden Angelegenheiten des äußeren und inneren Lebens. Nun ist alles Leben, wie ich schon eben andeutete, zweipolig und das Grundgesetz allen Lebens heißt Spannung. Und diese Spannung, diese Gegensätzlichkeit, diese Zweipoligkeit reicht bis in die letzten Lebensbezirke, und so ist es sowohl auf dem Gebiet der Politik, als auch auf dem Gebiet der Religion. Um nur eines zu nennen, wir haben also im Bereich der Politik es mit einer Minimalforderung zu tun und mit einer Maximalforderung. Die Minimalforderung mit Beziehung auf das politische Leben und das politische Gebiet würde heißen, daß für eine solche Ordnung, von der ich vorher gesprochen habe, nur das allernötigste Mindestmaß an Eindrücken, an Intentionen, an Maßnahmen usw. geschieht. Die Maximalforderung heißt, daß das gesamte Leben von der Politik erfaßt und der politischen Wirtschaft unterstellt wird, also die Regelung der Gesamtheit aller Lebensbeziehungen. Wir sehen schon daraus, je nachdem ich mich für das eine oder andere entscheide, bekommt Politik einen völlig verschiedenen Sinn und selbstverständlich, wenn dazu das religiöse Verhalten kommt, in dem einen oder im andern Fall, dann ergeben sich schon da ganz verschiedene politische Verhaltungsweisen, auch des religiösen Menschen. Aber die Schwierigkeit hier wird dadurch noch verstärkt, daß auch im Bereich des religiösen Lebens diese Zweipoligkeit, dieses Oppositionelle, durchaus vorliegt und tatsächlich von ganz außerordentlicher Bedeutung auch auf die Gestaltung des politischen Lebens durch religiöse Menschen nun sich vollzogen hat. Ich erinnere nur an einige solche oppositionell religiöse Orientierungen, die aber durchaus wirklich sind in dem tatsächlichen Verhalten religiöser Menschen und wo wir nicht sagen können, das eine ist religiös, das andere nicht. Zum Beispiel, die Haltung des religiösen Menschen, dessen Ausgangsund Zielpunkt das Verhältnis der einzelnen Seele zu ihrem Gott ist und ein dem entgegengesetztes Verhalten des religiösen Menschen, dessen Grundeinstellung nicht der Einzelne, sondern die Gesamtheit aller oder irgend einer Gruppe, also irgend eine Form von Gemeinschaft, zu Gott ist. Je nachdem das eine mir gegenwärtig ist im religiösen Verhalten, wird

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sowohl mein religiöses Wirken, als auch – wenn wir dies im politischen Leben nehmen – die politische Auswirkung ganz verschieden sein. Ich will nun noch ein paar solcher Spannungsmomente nennen. Alles religiöse Leben trägt in sich auf der einen Seite ein Moment der Flucht vor der Welt, vor der Berührung mit der Welt; auf der andern Seite in sich das Streben, Gott in der Welt Gott zu verherrlichen oder das Reich Gottes zu bauen oder irgendwie das Religiöse innerhalb der Welt zur Darstellung bringen. Noch anders ausgedrückt, ist eine solche Opposition, die ja in der Geschichte religiöser Menschen und politischer Menschen und religiöser Politiker von so grosser Bedeutung war, auf der einen Seite der Ausgangspunkt, »Die Ehre Gottes«, auch unter Absehen etwa von dem Wohl einzelner Menschen oder ganzer Menschengruppen, und auf der andern Seite, das Wohl und Heil des Einzelnen, der Alltag und die Ewigkeit, Erlösung und Bindung, das innere Licht und die Erbsünde. Schließlich gehören in diesen Zusammenhang auch noch diese beiden Pole religiöser Betrachtungsweise: Gott und der Teufel, wenn ich es so ausdrücken darf. Nun geht alle Politik zunächst – und sofern sie verwirklicht wird – von den Außenbezirken des Lebens aus und erfasst irgendwie und irgendwo auch das Innere, ja kann ohne diese Beziehung sich gar nicht auswirken. Die Religion umgekehrt, geht von den Innenbezirken, von den seelischen Bezirken des Lebens aus und erfasst, und muß erfassen, das Aeußere, muß in ihm irgendwie in Erscheinung treten. Und der Politiker selbst nun, wenn er ernsthafter Politiker ist, muß sich ja für sich selbst aus den Innenbezirken seines Lebens auch für seine Politik und für sein Handeln im Aeußern und allenthalben orientieren. Der religiöse Mensch selbst muß und will immer wieder die Welt gestalten und umgestalten, sofern er nicht aus der Welt will und darnach hängen Politik und Religion auf das allerengste zusammen, wirken immer und allezeit in Gruppen und im einzelnen, im großen und kleinen, wirken ineinander und gegeneinander und entfalten eine ganze Welt von Complicationen und Nöten. Die Frage ist, gibt es hier überhaupt eine Grenze, gibt es überhaupt etwas, was außerhalb dieser beiden Bezirke liegt, was nicht der Beachtung von dem einen oder andern durchaus und wesentlich unterworfen ist? Nun ist das Fundament aller Religionen (soweit ich es sehe) und alles religiösen Verhaltens, vom Menschen aus gesehen, Erlösung und Friede oder Friede durch Erlösung. Das Fundament alles politischen Handelns ist Macht und Recht.

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Es ist die Frage, kann der religiöse Lebensbezirk sich entfalten unter der Herrschaft von Macht und Recht oder steht das nicht von vornherein einander gegenüber, oder anders ausgedrückt, können Macht und Recht durch die Religion geheiligt, legitimiert oder gar aufgehoben werden? Das sind so einige grundsätzliche Fragen und einige Gegensätze, was mir zur Einleitung unseres Gesprächs wichtig erschien. Vielleicht darf ich Sie bitten, nun dazu von sich aus Stellung zu nehmen.

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Buber. Ich möchte eigentlich jetzt, in diesem Stadium unseres Gespräch[s], nur in einem das ergänzen, was Sie sagten und vielleicht – ich weiß nicht inwieweit – was davon Ergänzung, und was schon Beginn einer Erörterung ist. Ich will zunächst meinerseits sagen, was ich mit Religion meine, obwohl eigentlich, darin sind wir uns wohl einig, eine Formulierung geradezu dem Wesen der Religion widerspricht. Aber wir müssen der Orientierung halber doch bezeichnen, was jeder von uns meint, weil wir dasselbe und doch nicht dasselbe meinen und weil es vielleicht sicherlich richtig ist, daß wir gegenseitig erkennen, worin sich unsere Begriffe, worin sich er Inhalt unserer Begriffe voneinander scheidet. Das ist ja im Gespräch zwischen Menschen vielleicht die eigentliche Fruchtbarkeit, daß die Spannung sich auch in den Begriffen selbst ausdrückt, daß also Menschen wohl, (zwei Menschen) wenn sie einen Begriff gebrauchen, denselben Begriff, jeder von Ihnen meint etwas persönlich Bestimmtes und doch können sie miteinander reden, indem sie diesen Begriff gebrauchen. Ich glaube, das geschieht eben dadurch, daß beide in die Gemeinsamkeit eintreten und einander zu verstehen geben, was sie meinen, und nun, ohne daß sie in Bezug auf den Inhalt der Begriffe einander entgegenkommen, nun in dieser so ausgesprochenen Spannung zwischen dem Begriffsinhalt, miteinander reden. Gerade daß sie genau dasselbe und doch nicht genau dasselbe meinen, schafft die eigentliche Fruchtbarkeit des Gesprächs. Ich glaube, darin sind wir einig. In Bezug auf Politik habe ich keine Differenz zwischen meiner Definition, die ich zu geben hätte, gefunden. Für Religion möchte ich, wenn ich es ganz persönlich sagen soll, also keine allgemeine Formulierung, sondern nur, was ich damit persönlich meine, so würde ich sagen: Religion ist die unbedingte Annahme des Lebens, die unbedingte Annahme, Acceptation des Lebens und zwar des Lebens in seiner ganzen, realen Doppelseitigkeit, d. h. des Lebens, insofern es sich uns antut, und des Lebens,

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insofern es von uns getan wird, also in dieser Vollständigkeit des gelebten Lebens. Nur wenn wir von der Hälfte des Lebens, von einer Seite des Lebens abstrahieren, gelangen wir zu einer einfachen aktiven oder passiven Auffassung des Lebens, des vollständigen Lebens, das von uns erfahren wird als etwas, was uns widerfährt und zugleich von uns erfahren wird als etwas, was wir wirken. Beides gehört zusammen und kann nur von der logischen Betrachtung geschieden werden, aber in der gelebten Wirklichkeit ist es unlösbar miteinander verbunden. Und nun meine ich, daß Religion die Annahme und zwar die unbedingte Annahme, also nicht vorläufige, nicht korrigierbare, nicht etwa durch irgendwelche Lebenskatastrophen, auch die ungeheuerlichsten, zu berichtigende Annahme, sondern die schlechthin unbedingte Annahme eben dieses Lebens [ist], so wie es ist. Das sagt zugleich, dass dieses Leben, also wenn ich sowohl mit seinem mir Angetansein, als mit meinem es Tun ernst mache, so sagt das, daß ich dieses Leben in meiner ganzen Unzulänglichkeit dennoch dialogisch zu leben versuche, dennoch im wirklichen Zwiegespräch mit dem, was mir eben dieses Leben zutut, mit dem Subjekt des mir Angetanwerden des Lebens, daß ich im lebendigen Zwiegespräch dieses Leben, eben dieses Leben, zu leben versuche; in meiner ganzen Brüchigkeit, Bedingtheit, Unzulänglichkeit dennoch zu versuchen, dies mit dem gelebten Leben meine, d. h., daß ich also auch meine Seite, die Seite des tuenden Lebens, im Ernst meine als das, was ich zurücktue, was ich antworte, was ich also verantworte. Daß ich – durchaus wissend, daß ich nicht wahrhaft antworten kann – dennoch immer wieder das Wort der Erwiderung nicht rede, sondern das getane Leben als Wort der Erwiderung hervorstammle, dies gehört durchaus zu dem, was ich mit Religion meine. Also es ist nichts anderes als die Konkretheit, die mit jeder Stunde, mit jeder mir entgegentretenden Situation eine neue Gestalt, einen neuen Ausdruck findet. Es gilt also nicht ein für allemal. Denn so, wie ich nicht die Situation vorauszusehen vermag, die im nächsten Augenblick an mich herantritt bezw. meine Bereitschaft von mir fordert, so kann ich mich schlechthin nicht vorbereiten, kann ich nirgends nachsehen, was werde ich nun im nächsten Augenblick tun; ich weiß es nicht, denn diese Tat ist eine Erwiderung auf das, was sich mir im nächsten Augenblick kundtun wird. Wenn es so ist – und wie gesagt, ich vermag es nicht anders aufzufassen –, wenn es so ist, dann ist Religion, auch wo sie durchaus (Sie haben darauf hingewiesen, daß es ein mehr persönlich gefasstes religiöses Leben und ein mehr von der Gemeinschaft gefasstes religiöses Leben gibt) ich glaube auch dann, auch das im persönlichsten gefasste religiöse Le-

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ben, das Leben in der Gemeinschaft und mit der Gemeinschaft mit zu umfassen strebt. Ich meine, wenn ich antworte, dann antworte ich eben: In dieser Welt der Menschen, in dieser Welt der großen zwischenmenschlichen Zusammenhänge, in der ich jetzt in dieser Situation stehe, ich kann mich nicht isolieren, ich kann nicht angesichts der Situation, die mich in dieser großen Menschenwelt antritt, sagen, ich will mich nun auf meine Persönlichkeit zurückziehen und dem Göttlichen in meinem Kämmerlein gegenübertreten, ich kann mich nicht vor der Situation, in deren Gestalt ich angesprochen werde, zurückziehen. Also das ist das eine, das mich anweist auf Gemeinschaft im religiösen Leben. Aber es gibt ein Negativum, eine Problematik des Zusammenhangs in der Gemeinschaft und zwar gerade durch die Politik, die mich als religiöser Mensch angeht. Das, was ich eben sagte, ist das Positivum des Zusammenhangs, aber es gibt ein Negativum, das in jedem Augenblick uns unmittelbar gewiss wird, das ist, wenn ich in dieser Menschenwelt stehe, dann werde ich in allerlei Bindungen einbezogen, von großen Verbänden, von natürlichen Verbänden, die etwa Völker heißen, von sozialen Verbänden, von politischen Verbänden im engeren Sinn (die Partei heißen) und überall da werde ich sozusagen in die Rechnung dieser Gruppe einbezogen. Diese Gruppe hat ihre Gesetze, ihre Gesichtspunkte, wie Sie sagten: ihre Gesichtspunkte, etwa der Macht und des Rechts. Aber überall da, wo ich im konkreten Sinn in die Gruppe einbezogen werde, fühle ich etwas, was meine persönliche Verantwortung in ihrer Reinheit, Unmittelbarkeit, bedroht, ich fühle, daß ich da etwa in Gruppenverantwortungen hineinbezogen werde oder schlimmer, Gruppenverantwortungslosigkeit. Ich werde in das verantwortungslose Handeln, Wirken, Agitieren von Gruppen hineingezogen, sodaß ich irgendwie, gerade wenn ich mit dem Zusammenhang mit dieser Gemeinschaft ernst machen will, eben diese Verantwortungslosigkeit mitmache. Und nun das ungeheure, wirklich manchmal bestürzende Problem, wie grenze ich ab, wie setze ich mitten im Gemeinschaftsleben den Ernst meiner konkreten Verantwortung, meiner Verantwortung an das, wovon ich angesprochen werde, durch, wie erkämpfe ich das, ohne mich zu isolieren? Das ist für mich das Problem, unter dem der religiöse Mensch steht, der politisch lebt und vom politischen Leben darf sich – darin stimme ich Ihnen vollkommen zu – der religiöse Mensch nicht ausnehmen. Wenn ich es nun ins Objektive wenden soll: die Politik hat für die Religion keinesfalls etwa nur eine negative Bedeutung, sozusagen als die Verwaltung des weltlichen Staates, die – sagen wir – das, was in die Kirche nicht einbezogen werden kann, verwest; das ist ja ein in der Kirchengeschichte, in der Religionsgeschichte bekannter Standpunkt. Ich glaube

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durchaus nicht, daß das die eigentliche, legitime Betrachtung der Religion ist, gewissermaßen das Reich der Politik als Reich des Satans anzusehen und die Erlösung von ihm, nicht die Erlösung des Reiches der Politik selbst, anzustreben. Vielmehr erscheint es mir, daß die Politik, weil sie ausgeht von den großen natürlichen Verbänden, von dem Leben der Völker und ihre[n] institutionellen Gestaltungen, dennoch von der Religion angesehen werden darf als die Verwalterin einer Aufgabe, die für die Religion ungemein wichtig, geradezu zentral ist, nämlich der Aufgabe, die Gemeinschaft der Menschen, ja die Gemeinschaftlichkeit der Welt aufzubauen. Wenn die Religion, vor allem die Religion, die mit dem Gedanken, mit dem Glauben an die Schöpfung ernst macht, mit dem Glauben, daß die Menschenwelt Schöpfung geworden ist, d. h. also, daß sie unmittelbar daraus hervorgeht, d. h. also, daß sie auf eine Vollendung angelegt ist, darauf angelegt, daß aus ihr ohne Reduktion, aus ihrer ganzen Vielfältigkeit, Gottes Reich erwächst; gerade die Religion also, die die Menschengemeinschaft, das Werden einer menschlichen Gemeinschaft, als eine Aufgabe, als höchstes Ziel ansieht, muß dieses »Ja« zu der Politik sagen, daß sie, die alle diese Verbände aufbaut, eben damit diesem religiösen Grundwerk des Aufbaus der Menschengemeinschaft dienen kann, daß es die eigentliche Wesensaufgabe der Politik ist, diesen Dienst zu leisten. Nun aber steht dem die schwere Problematik der politischen Realität gegenüber, wovon ich nur die zwei wichtigsten Fragen, die zwei wichtigsten Probleme herausgreifen will. Das eine ist, daß es eben kein einheitliches Material der aufzubauenden Gemeinschaft gibt. Daß es die Menschheit als Einheit, die aufgebaut, als Gemeinschaft aufgebaut werden soll, als solche nicht oder noch nicht gibt, sondern dass das, was es gibt und womit die Politik real zu tun hat, die Völker sind und die Institutionen, in denen sich das Völkerleben ausdrückt, befestigt, bestenfalls ausdrückt, bestenfalls verdichtet und verfestigt, aber oft genug Institutionen, von denen das Leben der Völker (der einzelnen Völker) eingeengt, umpanzert, gehindert wird, oft genug Institutionen, in denen sich die Völker nicht wahrhaft, sondern zum Schein konstituieren. Ich sage, diese Vielheit der gegebenen Verbände, diese Vielheit der gegebenen Gebilde, aus denen Gemeinschaft werden kann, die Vielheit, die Verschiedenheit und die Gegensätzlichkeit und daß die Politik nun nicht die eine ist, die etwa mit der Menschheit zu tun hätte, sondern es sind die Politiken aller dieser Völker, nein schlimmer, eben nicht der Völker, sondern mehr oder weniger der Zwangsverbände, in denen die Völker organisiert sind; dies ist das eine, schwere Problem, das dazu führt, daß der einzelne religiöse Mensch in all diesen

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Gruppenbildungen so einbezogen ist, daß sie immer wieder gegen seine persönliche Verantwortung streiken. Und das zweite ist, daß die Politik in ihrem Wirken ein Mittel eingestellt hat, das eigentliche Mittel, mit dem sie wirkt, und zwar innerpolitisch, innerhalb der einzelnen Völker und Institutionen, das ist das Mittel, das man auf Grund der geschichtlichen Erfahrungen bezeichnen kann als das politische Mittel im eigentlichen Sinn, nämlich die, vielleicht können wir es einem religiösen Mittel sogar gegenüberstellen: ich meine, wenn ein religiöser Mensch im Ernst des religiösen Lebens auf einen anderen Menschen einwirken will, etwa für die eine oder andere Sache, die zu seiner religiösen Einsicht, zu seiner religiösen Verbindlichkeit gehört, ihn für diese Sache gewinnen will, dann geht er darauf aus (daß die Religionsgeschichte dem, was ich sagen werde, häufig widerspricht, spricht nicht gegen die Wahrheit dessen, was ich sage, sondern nur für die ungeheuerliche geschichtliche Politisierung der Religion), ich sage, das wahre religiöse Mittel ist, daß dieser Mensch den andern Menschen, auf den er einzuwirken sucht, aufschließt, d. h., daß er Vertrauen hat; wenn auch dieser andere Mensch wirklich das andere ist, etwa das sehr verschiedene, etwa das scheinbar gegensätzliche zu meinem Bekennen, zu meinem Erkennen, so habe ich doch als religiöser Mensch das Vertrauen zu ihm, wenn ich ihn aufschließe, im buchstäblichen Sinn erziehe, heraufziehe, heraufhole, das, was in der letzten Wirklichkeit seines Wesens ruht, vielleicht verschüttet ruht, wenn ich dies hervorhole, kann ich dies schon gleichsam aktiver, ohne mich ihm aufzuerlegen. Gerade dann gelangen wir zu jener Gemeinsamkeit, die ich als religiöser Mensch meine. Und wenn ich etwa von dem, was mir aus der Tiefe dieses andern Menschen so entgegenkommt, selbst mich überwältigen lassen muß, selbst von diesem andern aus Korrektur brauche, dann ist es recht. Ich habe sie zu empfangen; wenn mir wirkliches Leben, Lebenswirklichkeit entgegentritt, die meinem Erkennen und Bekennen entgegensteht, so habe ich aufzuschließen, nicht nur den andern Menschen, sondern mich so aufzuschließen, daß ich mich treffen lasse von dem; von dem, was so aufstrebt, mich nicht zurückhalte, keine Vorbehalte mache, geradezu Vorbehaltlosigkeit scheint mir die einzig religiöse Haltung. Was in Wirklichkeit aufsteigt, das soll mich in Empfang nehmen. Diesem religiösen Mittel steht gegenüber in der Geschichte, freilich – wie ich schon sagte – oft genug in der Geschichte der Religion, das politische Mittel, d. h. daß der Mensch auf einen anderen Menschen um einer Sache willen, die ihm als höchstes erscheint (gerade wenn diese Sache eine religiös sanktionierte Sache ist) einwirkt, ihn für diese Sache gewinnen will – und anders als durch solche Gewinnung kann sich Poli-

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tik nicht verwirklichen –, indem er auf ihn Macht ausübt, d. h. Gewinnung anderer Menschen für die Sache, die ich für richtig erachte, nur dass ich diesen andern Menschen nicht aufschließe, sondern so nehme, wie er ist und seinem sich Aufschließen eher entgegenwirke, indem ich mich, meine Fertigkeit, diesem andern Menschen auferlege, mich nicht dem aufschließe, was etwa an Unvorhergesehenem mir da entgegentreten könnte, sondern verschließe, eingebettet in meine Sache, sodaß nun mich und meine Sache, beides in einem, dieser andere Mensch aufnimmt, gleichviel auf welchem Wege. Das kann von äußerster Gewalt, physischer Gewalt, bis zu der zartesten Dialektik des scheinbaren Ueberzeugens gehen. Ich sage, dieses politische Mittel, das ist die zweite große Problematik, die den religiösen Menschen hindert, politisch zu wirken und zwar, weil hier das politische Mittel herrscht, und zwar so herrscht, daß auch irgend ein religiöser Verband, der in der Geschichte Macht anstrebt, sich bisher immer wieder des politischen Mittels bedient hat und zwar manchmal mit noch größerer Rücksichtslosigkeit als die politischen Verbände, weil die Verantwortlichkeit für ihn eine größere ist. Damit hängt nun zusammen die reale Gegenüberstellung der Realisationsformen. Vielleicht darf ich schon an diesem Punkt ins Einzelne gehen: Staat und Kirche. Der Staat hat sicherlich eine große Tradition der Form, die griechische. Das erste, was wir historisch orientierte Menschen uns vorstellen, wenn wir von der »Polis« sprechen, ist Form. Ein großes Formgebilde der Gesellschaft des öffentlichen Lebens, aber wenn wir genauer zusehen, werden wir gewahr, wie dieser schöne Bau der Polis durchaus auf der Selbstverständlichkeit der Sklaverei ruht, jene Freiheit des Athenischen Bürgers auf der Unfreiheit der Kariathyden dieses Staatswesens ruht, die gar nicht in die öffentliche Erörterung einbezogen werden, weil es das schlechthin Selbstverständliche ist. Ich sage, so enthüllt sich das Wesen des Staates selbst, trotz dieser seiner Form der Ueberlieferung, die auch noch im heutigen Staat irgendwie fortbesteht, als ein Element des Zwangs. Auf der einen Seite ein Formgebilde der Gesellschaft, auf der andern Seite – ich möchte beinahe sagen – ein Pegel, der anzeigt, wie hoch der Stand der Freiwilligkeit in einer bestimmten Epoche ist, d. h. wie weit heute schon die Menschen miteinander in Freiwilligkeit leben können und wo, wie hoch oder wie niedrig, schon der Zwang anfangen muß, der Zwang, die Obrigkeit, die Polizei, die Gemeinsamkeit der Zwangsinstitutionen, also die Unerlöstheit des Menschen, die Unerlöstheit des Gemeinschaftsmenschen.

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Das ist das eine, was dem gegenüber die eine große Realität, der gegenüber der religiöse Mensch steht, daß nun eben die Freiwilligkeit, die Gottesherrschaft, Zwangslosigkeit ist, – ein religiöser Mensch darf unter keiner andern Herrschaft stehen, als unter der Herrschaft des Göttlichen – als Erlösung, als Ziel der Menschheit meint. Nun aber das – ich deutete das schon an, daß sich das Problem in die religiösen Gebilde selbst hinüberwirft und die Kirche selbst, die eben diese religiöse Wirklichkeit gemeinschaftsmäßig aufzubauen sucht neben dem Staat, also ein Reich der Freiwilligkeit neben dem Staat aufzubauen sucht, eben so, daß es ihn durchdränge und überwältige und von da aus die Gemeinschaft des Menschengeschlechts aufbaut. Diese Kirche selbst macht nun einen Machtanspruch und verficht ihn so, daß sie das politische Mittel in Gebrauch nimmt und verwaltet und – wie ich schon sagte – umso gefährlicher, als sie in tiefere Verantwortlichkeitsschichten eindringt. Das ist, wie mir scheint, das erste Problem, wo die Verquickung von Religion und Politik unmittelbar eintritt.

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Bäuerle. Ja wenn ich gerade hier anknüpfen und daran weitermachen darf, so scheint mir hier die große Gefahr solcher Organisation der Ordnung des politischen und religiösen Lebens gegeben zu sein. Denn wenn das Religiöse als »Kirche« in die Erscheinung tritt, und es ist wohl nicht anders möglich, als daß es so geht, wenn also das religiöse Leben konstitutionell wird, eine Organisationsform annimmt, dann wird es damit gleichzeitig ein politischer Machtfaktor und indem so das religiöse Leben, durch diese Organisation, ein politischer Machtfaktor wird, stehen nun zwei politische Machtfaktoren einander gegenüber und daraus ergibt sich, daß immer wieder der Versuch gemacht wird, – und gemacht werden muß –, durchgeführt wird, und durchgeführt werden muß, Politik und Religion eben in dieser Erscheinungsform als Kirche und Staat irgendwie miteinander zu verquicken oder anders ausgedrückt: indem dieses Ineinander und Miteinander und Zueinander sich auswirkt, selbstverständlich gleichzeitig auch das Gegeneinander, das Ringen um die Macht in die Erscheinung tritt. Das ist für den religiösen Mensch glaube ich eine der schmerzlichsten Erfahrungen, wo man gar nicht, soweit ich es sehe, von Schuld sprechen kann, sondern von einer schicksalshaften Entwicklung. Ich sage also, so wie die Dinge in der Wirklichkeit des Lebens sind, sehe ich, auf das Ganze gesehen, keinen andern Weg, als daß immer wieder auch das religiöse Leben politisiert wird, dann haben wir das Eindringen der Politik in das

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religiöse Lebensgebiet und damit gleichzeitig und notwendig das Eindringen des Religiösen, und zwar in Form religiöser Institutionen, also als Machtanspruch, in die Politik. Und von hier aus ist der Weg gar nicht mehr weit, sozusagen zur Inanspruchnahme eben des religiösen Lebensbezirks, weil er in die größeren Tiefen geht, zur Befestigung der Politik, dann haben wir und bekommen wir den nationalen Gott. Auf der einen Seite den Gott der Deutschen, auf der andern den der Engländer, der Franzosen, der Italiener, der Inder oder Chinesen, oder wie wir das heißen wollen. (Einwurf Buber: Sie erinnern sich daran, wie in Dostojewskis »Teufel« dies sanktioniert wird, ja das sind die Götter und diese kämpfen miteinander und jedes Volk muß rücksichtslos an seinem Gott festhalten.) Und damit sind wir schon tief in die Sphäre des Unmöglichen hineingekommen, in der Politik getrieben wird mit Hilfe, ja nicht nur mit Hilfe, sondern im Namen der Religion. Wir haben auch von hier aus nur einen Schritt zu dem Bestreben, auch die politische Obrigkeit und das politische Recht und auch die Macht zu legitimieren, z. B. durch das Gottesgnadentum; auch eine Sache, die ich gar nicht leicht abtun möchte, denn immer wieder und immer wieder kommt schließlich der ernsthaft religiöse Mensch hierauf zurück. Unter politischem Gesichtspunkt betrachtet kann der Politiker, der ernsthaft religiös ist, nicht anders, als daß er sich legitimiert durch den Auftrag Gottes. Damit ist Tor und Tür geöffnet für all die Gefahren und gewiss auch großen Wirkungen, die durch ein solches politisches Wirken in Verbindung mit dem religiösen Verhalten gegeben sind. Ich erinnere dann nur noch an Staatskirche und Staatsreligion, an all die Versuche, die immer wieder und immer wieder gemacht werden, im Namen Gottes, und im Auftrag Gottes das religiöse und politische Leben zu gestalten und da scheint mir, daß gerade in dieser Hinsicht einer der allerdeutlichsten und stärksten Versuche bei dem jüdischen Volk vorliegt, nämlich in dem Versuch (es ist ja nicht nur bei dem jüdischen Volk so) einer theokratischen Gestaltung auch des ganzen politischen Lebens, auch des Zusammenlebens. Es wäre mir interessant, gerade von Ihnen darüber einiges zu hören, über diese organische, also ganz in eine Einheit übergehende Verbindung von Politik und Religion. Buber.

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Ich habe schon bei dem, was Sie vorher sagten vom Gottesgnadentum an Biblisches gedacht, denn das ist ja das große Problem des Zusammenhangs zwischen Königtum und Messianismus in der jüdischen Religion, daß immer wieder der König erwartet wird, der den Auftrag, der sich auf ihn niedergelassen hat im Sakrament der Salbung, diesen Auftrag nun lebensmäßig zu erfüllen, also wirklich als Statthalter Gottes zu regieren und als Statthalter Gottes zu leben. Diese immer wiederkehrende Enttäuschung, das immer wieder Versagen der Königlichen Person, also das Zerbrechen des Gottesgnadentums in der Empirie, das bringt die messianische Konzeption hervor, also den Glauben an den Menschen und das Harren auf den Menschen, auf den König, auf den gesalbten König, der den Auftrag der Salbung erfüllen wird. Und so in der Tat scheint mir, daß wir für dieses Problem der Theokratie, also eines Versuchs der Religion, die Herrschaft Gottes unmittelbar im Aufbau des Gemeinwesens zu verwirklichen, daß wir dafür das größte instruktive Beispiel in der biblischen Geschichte haben und auch in der nachbiblischen Geschichte des Judentums im zweiten Reich, im Reich nach dem babylonischen Exil. Ich habe mich ein wenig damit befasst, wie die Theokratie der Antike und der neueren Zeit ausgesehen haben. Es gibt ja aus allen Zeiten und Kulturen der Völker Versuche die Theokratie zu verwirklichen, soweit ich sehe sind sie ohne Ausnahme – sei es ausgeartet, sei es schon im Keim verkehrt worden in Hierarchie, in Priesterherrschaft – die Conzeption, daß die Menschen, eine Schaar von Menschen, ein Verband von Menschen, sich unmittelbar unter die Herrschaft Gottes begeben können und ihr Leben, ihren Staat aufbauen können ohne Obrigkeit, ohne den Menschen oder die Menschen, ohne das Amt, ohne die Organe einer solchen menschlichen Regierung, das ist mir eigentlich ganz rein nur entgegengetreten in der biblischen Politeia (biblisch, durchaus nicht philosophisch, nicht theoretisch, sondern biblisch geschichtlich), den Büchern der Richter und Samuel. In dem ersten Teil dieser Politeia wird der Versuch berichtet und – wie mir scheint – gegen die Meinung der herrschenden Wissenschaftsschule mit guter gesetzlicher Fundierung, der naive Versuch, eine Gottesherrschaft aufzubauen, d. h. theologisch ausgedrückt, eine auf reiner Freiwilligkeit aufgebaute Gemeinschaft, unmittelbar dem Königstum Gottes unterstellt. Aber hier können die Juden ernst machen und Israel ernst machen um nun dieses Gotteskönigtum in der ganzen Breite und Fülle des Gemeinschaftslebens zu realisieren und nun erzählt dieses Richterbuch, wie das Volk dieses höchste, schwerste und eigentlich fast unerhört schwere Unternehmen nicht durchführt, wie es versagt hat, wie diese Theokratie, die einzige von der ich weiß in der Geschichte, die eine wirk-

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liche Theokratie gewesen ist, eine naive, nicht aus der politischen Proklamation hervorgehende, sondern aus der Königsproklamation, nicht durchgeführt wurde; ich sage, daß wenn das Volk versagt, daß das in Anarchie ausartet, und daß nunmehr ein Königtum eintreten muß, das sozusagen dieses notwendige Glied einführt, ohne daß offenbar das Volk es nicht zu realisieren vermöchte; aber nun tritt das andere, tritt eben dieses Versagen des Königs ein, von dem ich spreche. Dann gibt es nachher, nach dem babylonischen Exil, also nachdem der Staat, der von diesem König regiert worden war, vielmehr die beiden Staaten, in die der Einzelstaat sobald zerfiel, nachdem diese beiden Staaten zerstört, ihre Hauptstädte erobert, ihr Volk ins Exil verschleppt war, nachdem eine kleine Minderheit nunmehr aus dem Exil hervortritt, gibt es nun einen zweiten, nicht mehr naiven Versuch, sondern einen Versuch aus religiös-politischer Programmation, aus bewußter Zielsetzung, der nun freilich nicht mehr diesen unmittelbar religiösen Charakter hat, sondern der ausgeht von einer Ueberlieferung, etwas was aus der Frühzeit berichtet wird, nunmehr mit den Mitteln des bewußten Menschen, mit der Verwirklichung der Institutionen, ihre Dispositionen zu verwirklichen suchen und der große Notstand dieses zweiten Reiches ist, daß diese unmittelbare Revelation fehlt oder, wie das die jüdische Tradition ausdrückt, es in dieser Zeit keine, oder sehr bald keine Propheten mehr gibt. Einzelne von Ihnen, die reichen noch in diese Zeit hinein, aber wir haben eigentlich keine nachexilische Prophetie – und es sind verschwindende Reste der Propheten, die noch hinüberreichen; eine selbständige Prophetie haben wir nicht mehr. Der Geist der Heiligung ist nicht mehr da, der »Ruach hakodesch« fehlt der unmittelbaren Künde der Rede Gottes und daraus ergibt sich, daß sich nun diese Kündung stützen muß auf eine Tradition, auf sein Buch und seine Auslegung, auf eine Verwaltung und Interpretation des Gesetzes, durchaus Dinge, die zu einer solchen Kündung gehören würden, aber ihr eigentliches Leben empfangend von der Unmittelbarkeit Gottes. Daß die Prophetie eben das Exil nicht überlebt hat, sondern im Exil untergeht, das ist das Verhängnis, das über dem zweiten Reich schwebt und deshalb, scheint mir, haben wir für diese Theokratie, ihre Auswirkung, die symbolisch ist und die uns ein Bild für das, wovon wir sprachen, gegeben hätte, ist ausgeblieben, diese haben wir nicht, eine unmittelbare, zuverlässige, historische Begründung nicht. Nun gibt es ja im Christentum eine Uebernahme der theokratischen Tendenz, vor allem in der Conzeption des Gottes-Staats, also eines Staates, in dem das Religiöse sich unmittelbar verwirklicht aber über der ganzen Conzeption des civitas dei waltet und ihrer Auswirkung gleicht mehr

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oder weniger bewußt, mehr oder weniger eingreifend – die augustinische Conzeption, daß die Menschenwelt geschieden ist in Erwählte und Verdammte, in das Reich Gottes, das bindende Reich Gottes und das in der Tat auch bindende Reich des Satans. Das Reich Gottes auf Erden, das verbündet ist mit der Gemeinschaft der Engel, das Reich des Satans, das verbündet ist mit der Gemeinschaft der gefallenen Engel, der Dämonen. Jedes dieser beiden Reiche, die hier nebeneinander wohnen und sich verwirklichen wollen, verbindet mit überirdischen Mächten und das Reich des Satans, im Grunde genommen der weltliche Staat, wenn er auch je und je Christlichkeit anzieht, in seinem eigentlichen Wesen der Verdammnis preisgegeben. Es ist ja so, daß wesensmäßig die Kirche neben dem Staat existiert und zwar wohl als göttlicher Staat, der aber seinem Wesen nach nicht die ganze Breite und Fülle des Lebens umfasst, sondern nur das Heilige, das Kultische, das Sakrale, sozusagen den Ueberbau des Lebens. Aber der Alltag, die gelebte Stunde, die tatsächlichen Beziehungen der Menschen zueinander, insofern sie nicht sakramental gefasst sind, und vor allem die ganze gesellschaftliche Oeffentlichkeit, das ganze Zueinander und Ineinander des öffentlich lebenden Menschen, ist dem Staat, also dem Satan, überantwortet und die Vollendung der civitas dei bedeutet von hier aus die Befreiung der Kirche vom Staat, letztlich die Erlösung des Reiches Gottes vom Bösen, das sich im Staat ausdrückt, nicht etwa so, daß der Staat selbst erlöst würde, sondern die Menschheit wird von ihm erlöst, d. h. also Erlösung – um das schwere, harte Wort zu gebrauchen – Erlösung durch Reduktion, d. h. durch Abstrich. Nicht die ganze vielfältige Menschenwelt mit all ihren gesellschaftlichen Complicationen wird erlöst, sondern all das, was die Erlösung sozusagen dem Wesen nach erschwert, wird abgestrichen, also der Verdammnis überantwortet und die Menschen, die darin leben, mit und der Rest, der wird erlöst. Erlauben Sie mir, dass ich persönlich spreche: Ich empfinde dieser Conzeption gegenüber, deren Großartigkeit ich bewundere: dann lieber mit Satan unerlöst bleiben, dann lieber dahin, in die Unerlöstheit hinein, lieber unerlöst, als auf Kosten all dieser Lebendigkeit erlöst werden und wie nun in der Ewigkeit leben & nicht wissen, daß all dies unerlöst geblieben, daß all dies verdammt worden ist? Oder wissen, in der Ewigkeit wissen, – eins so furchtbar als das andere. Ich meine also, dies ist die schwere, große Problematik der civitas dei bezüglich des auf Ewigkeit gegründeten Nebeneinander von Gut und Böse, erwählt und verdammt und zwar so, daß die Organisation des gesellschaftlichen Alltags des Menschen der Verdammnis überantwortet wird.

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Solche Versuche, das Reich Gottes mit Hilfe der Politik und politischer Machtmittel zu erlösen, haben wir ja immer durch die Geschichte hindurch. Ich möchte nur an einiges erinnern. Ich möchte über das Papsttum und das Verhältnis zwischen Papst und Kaiser, Papst und politischen Realitäten hier nicht reden, sondern einige Dinge anführen, die mir etwas näher liegen. Es ist doch etwas ganz Bezeichnendes, daß das Lutherische Christentum, daß das in seiner Organisationsform durchaus dem politischen unterlegen ist und daß wir doch eigentlich in der Einrichtung der Fürsten als Landesbischöfe die Unterordnung oder Verquickung des Religiösen im Politischen dokumentiert haben, was wohl darauf zurückzuführen ist, daß eben für Luther diese politische Seite oder Durchsetzung des Reiches Gottes mit Hilfe weltlicher Mittel etwas selbstverständliches war, während wir umgekehrt bei Calvin ja die durchaus entgegengesetzte Einstellung haben. Hier lautet bei einem großen Mann, bei einem großen Willensmenschen als Grundthese seines ganzen Lebens die Ehre Gottes und die Durchsetzung der Ehre Gottes, auch ohne Rücksicht auf das Wohl oder Wehe des einzelnen Menschen, mit allen Mitteln, selbst den Mitteln der Inquisition. Es ist eigentlich erschütternd, daß wir gerade während der Herrschaft Calvin’s in Genf nicht nur die Hinrichtung, und zwar den Feuertod, Michael de Servet’s haben, sondern auf der andern Seite auch durchaus üblich, und mit der religiösen Sanktion bekleidet, (begleitet ?) die Folter und nicht nur das, es werden mit der größten Härte all die Familien aus Genf ausgetrieben, die dieser Verwirklichung der Ehre Gottes hindernd im Wege stehen. Ich glaube, es ist dies die Auswirkung eines irrtümlichen religiösen Denkens, aber ganz zweifellos darf man von dieser Tatsache aus nicht schließen, daß hier die Religion verraten worden sei; es ist dies vielmehr eine ungemein heroische Auffassung des Religiösen, daß der Mensch lediglich Mittel und Werkzeug zur Ehre Gottes sei, der Mensch darf schließlich dabei keine wesentliche Rolle spielen, weil die Ehre Gottes das Höchste ist. Wir haben einen Ausläufer dieser Einstellung in Cromwell, dem eigentlichen Vater und Begründer des Britischen Imperiums, merkwürdigerweise gemischt und gemildert durch einen durchaus protestantischen, – sozusagen sektenhaften – Einschlag ganz eigenartiger Mischung, aber auch hier der Versuch, mit Hilfe durch die Religion zusammengeschlossener Menschen nun das Reich, das politische Reich, zu retten, diese Politik durchzuführen –, was ja auch tatsächlich gelungen ist durch den Zu-

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sammenschluß der Gläubigen in den Regimentern Cromwells und der versucht, mit diesen Gläubigen auch Politik durchzuführen. Merkwürdig bleibt dabei immer, daß gerade solche Willensmenschen, solch religiös bedeutende Persönlichkeiten, die in die Politik hineingehen und die die Politik als Mittel zur Verwirklichung des Religiösen nehmen, daß sie, daß wir da immer eine Bezugnahme auf das alte Testament finden, daß all die Maßnahmen begründet werden mit Zügen, mit Tatsachen aus dem alten Testament. (Einwurf Buber. Weil eben die Realisierungstendenz hier so stark war.) Und nun haben wir eigentlich einen vollwertigen Gegenspieler auf diesem Gebiet, nämlich den Versuch, nun eigentlich rein aus dem Zentrum des Religiösen, d. h. der Gottesverbundenheit, nicht der Organisation, also nicht der Kirche, nicht der Ehre Gottes, die durchzuführen ist, sondern aus innerstem religiösem Leben heraus auch Politik zu machen, das politische Leben zu gestalten. Soweit ich sehe, ist das großartigste Beispiel William Penn, der Gründer von Pennsylvanien, einer der Väter der amerikanischen Verfassung und man kann wohl sagen, daß diese Kraft, die dieser William Penn der nordamerikanischen Welt eingegeben hat, auch heute noch ihre Segensmacht innerhalb des amerikanischen Volkes auswirkt. Ein Mensch, der von gar nichts anderem ausging, als dem inneren Licht und dem Glauben an das innere Licht, das in jedem Menschen ist, und von diesem Glauben aus nun eine ganz andere Politik, nicht etwa eine Unterdrükkungspolitik gegenüber den Untertanen, sondern durchaus ein Vertrauensverhältnis, durchaus keine Autokratie, sondern den Aufbau der Verfassung auf der Freiheit und Freiwilligkeit der einzelnen Bürger. Eine Verfassung und ein Versuch, der eigentlich auch heute noch an Großartigkeit nicht übertroffen worden ist. (Einwurf Buber. Hinweis auf den Jesuitenstaat als Gegensatz hierzu.) Aber auch hier, glaube ich, dürfen wir die Tatsache nicht vergessen, daß auch dieser Versuch keinen dauernden Erfolg hatte, sowenig als der von Calvin und sowenig als der von Cromwell, da nach einiger Zeit die ganze Ordnung teils heruntergefallen, teils auseinandergefallen ist. Ist doch ganz bezeichnend, daß gerade die Gruppe, deren Hauptvertreter William Penn ist, nämlich die Quäker, daß sie, weil sie so eingestellt war, heute und wahrscheinlich für alle Zeiten darauf verzichten muß, irgendwie als eine Einheit, als eine Organisation, also irgendwie als ein Faktor, in der aktiven Politik in Erscheinung zu treten. Aber hier ist noch eine andere Frage, oder ein anderer Zusammenhang, der mir wichtig erscheint, nämlich dieses innere Inbeziehungsetzen von Religion und Politik.

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Buber.

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Es ist vielleicht noch wichtig bei William Penn, daß hervorgehoben wird, was wohl das Wichtigste ist, dieses Vertrauen zu den Mitmenschen, Vertrauen dazu, daß das eine innere Licht in allen Menschen ist, daß man die Menschen nur aufzuschließen braucht. Bäuerle.

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Der Glaube an das innere Licht in jedem Menschen, das ist eigentlich ein Negieren des Schlechten und ein völliges Absehen davon, auch die Politik auf die Schlechtigkeit der Menschen aufzubauen. Wirklich etwas ganz Grandioses, aber nur ein Versuch. Diese Versuche sind ja nie unterblieben und ich habe den Eindruck, daß sie auch heute immer und immer wieder gemacht werden, nämlich die religiöse Ueberzeugung zur Grundlage auch der politischen Haltung und Einstellung zu machen. Das sind die religiösen Parteien, die wir haben. Auf der einen Seite etwa die Zentrumspartei, auf der anderen Seite eine Partei, wie wir sie hier in Württemberg haben, der sogenannte christliche Volksdienst. Ich glaube Versuche, die wir in ihrer Ernsthaftigkeit und dem wichtigen und wesentlichen, was dahintersteckt, wirklich nicht unterschätzen dürfen, der Versuch, durch unmittelbare Uebertragung der religiösen Haltung auf das politische Leben nun möglichst stark im Sinne der Religion zu wirken. Die große Gefahr, die ich darin sehe und weshalb ich einen solchen Weg eben im wesentlichen und grundsätzlichen für unmöglich halte, das ist, daß sofort als Wirkung das eintritt, daß die andern, die nicht dieselbe politische Haltung haben, auch als religiös falsch orientiert betrachtet werden. Diese Gefahr ist außerordentlich groß, also daß es dann eine Art rechtgläubige politische Partei gibt, wobei sowohl die Ungläubigen im Sinne des Religiösen, als auch die nicht richtig politisch Handelnden ausgeschlossen sind. Ich habe den Eindruck, daß wir mit Beziehung auf dieses Problem heute eigentlich schon bei einer so großen Partei, wie das Zentrum, diese inneren Schwierigkeiten außerordentlich deutlich haben, z. B. der rechte und linke Flügel, der ganz zweifellos vorhanden ist, aber es ist ein Beweis für die außerordentliche Kraft eben des Religiösen, daß auch diese so ganz Extremen im politischen und wirtschaftlichen Flügel durch die Macht des Religiösen zusammengehalten sind, vielleicht auch durch die politische Macht des politisierten Religiösen. Nun meine ich, es wird vielleicht ganz zweckmässig sein, wenn wir

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auch noch um das, um was es sich hier handelt, deutlich zu machen, in ganz kurzen Zügen, wenigstens in ganz groben Strichen, vielleicht einige Gebiete, die wir jetzt in grossen Umrissen behandelt haben, jetzt noch an einzelnen Beispielen aufzeigen, um dadurch darzulegen, wie auf allen Gebieten, in allen Bezirken des Lebens, sich das Politische und das Religiöse mischen, in Widerstreit miteinander kommen, sich gegenseitig befruchten, oder sich gegenseitig bekämpfen und wenn Sie damit einverstanden sind und die Zuhörer noch eine ganz kurze Zeit dafür Interesse haben, so wäre es vielleicht ganz zweckmäßig, ein Gebiet herauszunehmen, wo das Politische und Religiöse in einer ganz seltsamen und ganz bezeichnenden Mischung auftreten, ich meine das Gebiet der Erziehung, sofern es sich um eine öffentliche Angelegenheit handelt, die etwa im Bereich der Schule als öffentliches Erziehungswesen in Erscheinung tritt. Wir haben hier ein Gebiet vor uns, auf dessen irgendwie mitverantwortliche Bearbeitung weder der religiöse, noch der politische Mensch, und ich möchte jetzt noch weiter sagen, weder Kirche noch Staat verzichten können. Wie steht es damit?

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Buber. Es ist das ein Gebiet, auf das weder Kirche noch Staat letztlich legitimen Anspruch erhebt. Ich könnte dazu nur sagen, dass es ganz wesentlich mit dem Problem zusammenhängt, auf das ich hingewiesen habe, dass es ein religiöses Mittel gibt, das dem politischen gegenübersteht, das Aufschliessen oder Erziehen des Menschen, oder genauer, institutionell gefasst. Die Schule ist sozusagen die letzte Zuflucht, wo dieses Mittel eigentlich uneingeschränkt walten soll, denn dass es so ist – und wir sind uns einig darüber – haben wir an den Beispielen gesehen. Wir sind uns einig in Bezug auf die Politisierung der Kirche, dass also in der Kirche selbst dieses Mittel nicht waltet, oder nur sehr eingeschränkt. Es ist sozusagen die Schule unsere letzte Hoffnung darauf, dass das religiöse Mittel, dass die Einwirkung auf einen Menschen durch Aufschliessen und Heraufziehen dessen, was in ihm herrschend ist, geschieht und zwar je im Verhältnis der gleichzeitig lebenden Generationen, der Herangewachsenen und Heranwachsenden zueinander. Nun scheint aber die Geschichte der Schule, soweit ich sie übersehen kann (Sie können das ja vielleicht besser als ich) zu zeigen, dass auch diese Institution das religiöse Mittel verraten hat, ebenso wie die Kirche das religiöse Mittel verraten hat, also einen Abgrund aufgetan hat zwischen ihrer Zielsetzung und der Wahl ihrer Mittel, und ich brauche ja nur darauf hinzuweisen, (und ich glaube, dass diese Parenthese nicht unrichtig ist), dass es

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nicht wahr ist, dass das Ziel von der Wahl der Mittel unberührt bleibt. Die Mittel der Gewalt werden wirken auf das Ziel zurück, sodass das, was mit Hilfe der falschen, der illegitimen Mittel tatsächlich erreicht worden ist, nicht mehr die Farbe des ursprünglich gesetzten Zieles trägt, sondern die Farbe der Mittel. Ich glaube, diesem Verhängnis ist eine Institution nach der andern, ein politisches Unternehmen nach dem andern anheimgefallen. Es scheint, dass sich die Schule in der Wahl oder Durchführung des ihr wesensmäßig zugewiesenen Mittels doch auch immer wieder in den Dienst von Machtverbänden gestellt hat und zwar, dass sie nun im Dienst dieser Machtverbände, etwa des Staates am deutlichsten, aber zuweilen auch der Kirche (ich weiss nicht, ob das ein Vorzug ist) und nun im Dienst des Staates stehend, auch seine Mittel sich angeeignet hat, also nicht etwa nur die jungen Menschen, die ihr überantwortet waren, zur Staatsauffassung zu erziehen suchte, d. h. ihren natürlichen Gemeinschaftstrieb zu entfalten suchte, sondern die bestimmte geltende Staatsauffassung ihnen aufzuerlegen suchte, genau so, wie die politischen Verbände es tun, ja einem Menschenmaterial aufzuerlegen suchte, dem man so leicht etwas aufzuerlegen vermag. Es sind Menschen, die noch keinen Weg sehen, sondern mehr oder minder undeutlich einen Weg suchen und die einer Wegweisung sehr leicht erliegen; sogar dann, wenn sie sich gegen den Lehrer auflehnen, wie es so oft in der Staatsschule geschehen ist und geschieht, sogar dann erliegen sie, ohne es zu wissen, dieser Beeinflussung, indem sie in diese Sphäre, sei es auch sich auflehnend, wie als Rebellen einbezogen werden, indem sie das als Wirklichkeit anerkennen, was von da aus als Wirklichkeit proklamiert wird. Dieser Staatsdienst der Schule ist eine sehr schwere Problematik, d. h. dass der Lehrer, der vor allem das Vertrauen zu Menschen, oder in der Sprache der Quäker, das Vertrauen zu dem den Menschen gemeinsamen inneren Licht, das nur entzündet zu werden braucht, haben und ihm in seiner Berufung nachgehen müsste; dass der Lehrer nun dieses sein Wissen, dieses seine Berufung verrät. Diese schwere Problematik scheint mir auch heute noch eine Problematik der Schule zu sein. Freilich haben wir nun die sogenannte freie Schule, die neben die Staatsschule tritt, aber es ist sehr fraglich, ob diese Schule wirklich ein Gegenstück, ein befreiendes Gegenstück zur Staatsschule ist. Diese Schule ist ja schon in der Wahl der Kinder gebunden, vom Kapitalismus abhängig, in der Wahl der Kinder, die hier erzogen werden; das wichtigste der Schule, dass sie ein Abbild der Welt ist in der Verschiedenheit und Vielfältigkeit der Zöglinge, fällt weg. Die Verschiedenheit der Klassen, das Nebeneinanderwohnen der Gesellschaftsklassen in der Schulklasse, fällt weg. Das Gegenteil wäre eine wirklich öffentliche, wirklich allgemein zugängliche Freischule und diese

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könnte, glaube ich, nur dann entstehen und damit, wenn das religiöse Mittel in die Institution der Erziehung einbezogen wird, wenn schlechthin kein anderer Verband in deren Welt, in den inneren Aufbau der Schule dreinreden könnte, sondern die Schule selbst sich ihren Weg, ihre Mittel bestimmt. Dann würden wir das grosse Experiment der Erziehung erleben, dann würden wir erfahren, ob es Erziehung als öffentliche Institution gibt oder nicht, und ich habe Vertrauen. Es wäre vielleicht noch über (ich kann nicht aus eigener Kenntnis sprechen) das Problem der Schule und Kirche einiges zu sagen.

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Bäuerle.

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Ich möchte Ihnen in dem, was Sie vorhin sagten, nur zustimmen können. Leider bringe ich diesen Glauben an den Optimismus, den Sie haben, nicht auf und zwar aus dem Grunde, weil nämlich bei all diesen Fragen ein Moment noch mitspielt, eine Zelle möchte ich sagen, in der wiederum das Politische und Religiöse sich stösst und zwar »die Familie«, und das ist mir immer wieder etwas vom Allerschwersten bei dem Durchdenken dieses Problems. Ich will meinerseits ganz offen reden. Wenn wir heute von Seiten der Kirche vor allem das Elternrecht betont sehen und hören, so liegt darin etwas formal durchaus richtiges, denn die Kirche als Organisationsform des religiösen Lebens hat, formal gesprochen, ein Recht dazu, die Zahl der ihr zugezählten oder zuzuzählenden Anhänger in die Waagschale zu werfen und zu sagen: So und soviel Millionen Familien sind protestantisch oder katholisch; diese Familien bekunden damit, dass sie auf ihre Zugehörigkeit zu dieser Organisationsform Wert legen. Wenn sie darauf Wert legen, dann ist damit eigentlich gegeben, dass sie darauf Wert legen, dass auch ihre Kinder in diese Organisationsform hineingeführt werden und daraus ergibt sich nun, wieder formal gesprochen, soweit ich sehen kann, dieser Anspruch der Kirche zum Mindesten auf Mitbestimmung hinsichtlich der inneren Formung der Kinder. Dass das den Tatsachen zum großen Teil nicht entspricht, darüber habe ich keinen Zweifel, denn die äussere rechtliche Zugehörigkeit zur Kirche besagt heute für einen ausserordentlich grossen Teil der der Kirche zugehörenden Kirchenmitglieder nichts über ihr inneres Verhältnis z. B. zu der programmatischen Fassung, wie sie in der Kirche in Erscheinung tritt, das aber, wird die Kirche, insbesondere von sich aus, nicht untersuchen (und solange der Zustand besteht, sagen wir einmal, dass die Zugehörigkeit zur Kirche eine gesellschaftliche Angelegenheit ist, eine Selbstverständlichkeit ist) solange werden wir immer diese Schwierigkeiten haben: Auf der einen Seite der durchaus legale Anspruch

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der Kirche auf einen massgebenden Einfluss auf die Kinder, auf ihre Zugehörigkeit zur Kirche durch die Familie, und auf der anderen Seite, dass das in der Wirklichkeit vielfach nicht stimmt. Ich glaube, wir stehen hier vor einer ausserordentlich ernsten Frage. Wir wollen von der Verantwortung der Eltern gar nicht reden, sondern nur von unserem Thema: Religion und Politik. Wenn wir unsere Aufgabe der Erziehung ernst nehmen, dann gebietet die Ehrfurcht vor dem aufdämmernden und aufleuchtenden inneren Licht, vor dem göttlichen Funken in unseren Kindern, dieses Licht leuchten zu lassen oder zum Leuchten zu bringen, nicht unser Licht hineinzustellen, d. h. unsere Kinder so wachsen zu lassen, wie es ihrem innersten Wesen entspricht. Das ist aber nur möglich unter zwei Voraussetzungen, nämlich wenn auf der einen Seite bei denen, die dieses Erziehungsgeschäft besorgen, der unbedingte Glaube vorhanden ist, dass wenn wir das tun, es recht wird und zwar recht wird in Staat und Kirche. Ich persönlich habe diesen Glauben. Wo wirklich Ehrfurcht, d. h. religiöse Haltung vor diesem Geschöpf, dieser Schöpfung Gottes, genannt Kind, vorhanden ist und wo diese verantwortlich bewusste Haltung, selbstverständlich innerhalb der Gemeinschaft, sich auswirkt, da habe ich den Glauben, es wird recht. Ich habe den Eindruck, dass eben nur die Organisationsformen des politischen und religiösen Lebens sich mit diesem Glauben nicht begnügen, vielleicht nicht begnügen dürfen, vielleicht nicht können, weil sie eben selbst an der Unvollkommenheit ausserordentlich starken Anteil haben, weil man nicht traut und weil bei dieser ganzen Frage selbstverständlich im Hintergrund die Frage nach der Macht steht, auch wenn man es nicht sagt oder nicht wahrhaben will. Und so haben wir diesen paradoxen Zustand, dass von dieser religiösen Haltung aus eine Freigabe des Kindes da sein müsste, was aber von dem Standpunkt der Kirche und des Staates aus – ich möchte einmal sagen – weder als notwendig noch als erwünscht bezeichnet wird, weil ja die Eltern dieser Organisationsform zugehören und damit bekunden, dass sie glauben, dass die Entwicklung innerhalb dieser Organisation sich vollzieht. Wir haben hier die merkwürdige Tatsache, dass auf der einen Seite durchaus die Grundforderung der Freiheit gerade in der Erziehung gestellt werden muss und auf der anderen Seite diese Freiheit etwa erreicht werden soll durch Zwang und Beeinflussung. Wir haben aber weiterhin die Tatsache, dass wir ja aus diesem Zirkel überhaupt nicht herauskommen, weil das Kind in seiner Entwicklung immer irgendwie abhängig ist von seiner Umgebung, den Lehrern, der Familie, dem sonstigen Lebenswandel. Mir scheint hier eine der allerschwersten Fragen vorzuliegen – ich

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möchte wirklich nicht den Eindruck erwecken, dass ich das eine verurteilen, das andere etwa zugeben würde – aber wir stehen hier vor ungeheuren Schwierigkeiten, denen nach meiner Überzeugung nur einigermassen begegnet werden kann, wenn wir grundsätzlich als religiöse Menschen den Glauben an die Göttlichkeit in der Entwicklung der Menschen haben und wenn wir als religiöse Menschen grundsätzlich auf jede Form von Zwang verzichten. Damit weitet sich diese Frage, soweit wir sie innerhalb des Rahmens der Erziehung angedeutet haben, zu einem ganz allgemeinen Problem. Ich möchte wirklich nicht, dass wir es hier ausdrücklich anschneiden, vielleicht wäre es aber doch gut, ein Wort darüber zu sagen, nämlich zu dem ganz allgemeinen Problem: Gewalt oder Nichtgewalt. Ich möchte nur, dass wir darüber ein Wort sagen, weil gerade oft von wirklich religiöser Seite diese Frage, nach meiner Meinung, zu leicht genommen wird. Diese Frage der Stellung zum Gewalttun und Gewalttunmüssen. Wir haben hier das Beispiel von Mahatma Gandhi, der durchaus als religiöser Mensch in das politische Leben als grandioser Führer eingetreten ist und unter dem Stichwort: »Nichtgewalt« ungeheure Gewalt ausübt. Buber. Wenn Mahatma Gandhi eine andere Methode vorgeschlagen hätte, würde eine andere Methode angewendet. Wenn er Gewalt geboten hätte, hätten die Anderen Gewalt getan. Es ist dies ein klassisches Beispiel für ein Anhängertum, das dadurch, dass es seinem Führer anhängt, ihn verrät. Meinerseits stellt sich die Frage der Gewalt und Gewaltlosigkeit; es ist fast das deutlichste Beispiel für die konkrete Verantwortung des religiösen Menschen. Ich sagte schon, der religiöse Mensch ist der Mensch, der in der Konkretheit steht, d. h. sich von jeder Situation wirklich antreten lässt, oder in die Situation, die ihn antritt, wirklich eingeht, d. h. also schlechthin nicht prinzipiell lebt, sondern real lebt, keine fertigen, schlechthin auf alle Fälle anwendbaren Prinzipien hat, wie etwa der philosophische Mensch oder ein anderer, sondern ganz demütig bereit ist, in die Situation, die er nicht vorhergesehen hat, für die er sich also nicht vorbereiten konnte, in diese einmalige, unvergleichbare Situation in jedem Augenblick einzutreten, d. h. dass er den Widerspruch, in dem der Mensch lebt, dass er Gewaltlosigkeit gar nicht lebensmässig proklamieren kann, weil die Wirklichkeit dagegen steht; dass er das weiss und ernst macht, dass er weiss, dass er als lebendes Wesen Gewalt ausübt. Dass die Bakterien für uns in unserer Vorstellung kein Individuum

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sind, das hängt nur mit den Grenzen unseres Vorstellungsvermögens, unserer Phantasie, aber nicht mit der Wirklichkeit zusammen. Eine Fliege ist viel weniger ein Individuum für uns als ein Hund, aber glauben Sie doch nicht, dass das in Wirklichkeit so ist, das ist Sache unserer Augen und unseres Denkens, aber nicht der Wirklichkeit. Wir vernichten unzählige Wesen, indem wir leben und unser Leben schützen und wir müssen das wissen, dass es so ist, wir können uns dem nicht entziehen, wir dürfen nicht unschuldig werden wollen. Die Vegetarier – gegen die ich sonst nichts sagen will – die es prinzipiell sind, die meinen, dass sie dadurch, dass sie nicht das Fleisch von getöteten Tieren essen, dass sie dadurch unschuldig, von Gewalt frei werden, diese sind in einem schwereren Irrtum befangen als die Menschen, die bewusst Gewalt üben. Ich meine, dass wir also diesen Widerspruch des Lebendigseins, Menschseins, diese schwere Fragwürdigkeit des Lebens und Menschseins nun wirklich auf uns nehmen und in dieser Konkretheit mit der Demut des religiösen Menschen stehen und wissen, es gibt kein Entweder-Oder, ich kann mir nicht vornehmen, gewaltlos zu leben, sondern ich kann mir nur vornehmen, die Grenzen der Gewaltlosigkeit in jeder gelebten Stunde soweit vorzurücken, als ich vermag, d. h. in der Situation, die ich jetzt noch nicht kenne, die an mich in den nächsten Stunden herantritt, dass ich da die Gewaltlosigkeit nicht realisiere, das kann ich nicht, sondern das quantum satis das vorrücke, was in dieser Stunde von mir mit diesen Kräften, die ich habe, so wie sie sind, verwirklicht werden kann. Dieses Vorrücken der Demarkationslinie zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit je und je, das ist also der gegebene Widerspruch, in dem wir stehen und zugleich anerkennen, aber nicht als ob der nun in seiner biologischen und psychologischen und soziologischen Gesamtheit und Unentrinnbarkeit gottgegeben wäre, sondern das ist das uns als Situation aufgegebene. Innerhalb dieses Gegebenen können wir nun die Menschlichkeit verwirklichen, indem wir diese so weit vorrücken und nun etwas mehr gewaltfrei werden als wir bisher waren. Bäuerle.

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Ich möchte also das hinzufügen, indem ich auch grundsätzlich dieser Situation begegne, weil ich sie nicht verneinen kann, weil ich einfach in dieses Leben eingespannt bin: Als religiöser Mensch muss ich mich wehren, dauernd gegen das Gewalttun wehren, aber ich werde dann auch unter dem Gewalttunmüssen leiden, d. h. es wird sich in mir, indem ich Gewalt tun muss, eine Gegenkraft entwickeln, die über das Gewalttunmüssen hinauskommt. Mir scheint es für den religiösen Menschen eine

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ganz selbstverständliche Aufgabe zu sein, innerhalb der Politik jede Gewalt, jede Gewalttätigkeit, jedes Gewalttunmüssen grundsätzlich als nicht sein müssend oder nicht sein sollend anzusehen und alles einzusetzen, um es zu verhindern; dass nicht Gewalt geschieht, nicht an mir, dass ich nicht an einem anderen Gewalt tue, insbesondere nicht töte. Ich möchte so sagen: Als religiöser Mensch muss ich auch gegen den Tatbestand des Lebens, des Alltags, das Gewalttunmüssen ablehnen, als das, was nicht sein sollte, und als handelnder Mensch in der Wirklichkeit muss ich immer wieder Gewalt tun, es braucht nicht gerade das Töten zu sein. Aber meine Aufgabe als religiöser Mensch ist, gerade innerhalb der Politik alles zu tun, um die Grenzen des Gewalttätigseinmüssen möglichst weit hinauszuziehen.

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Buber. Ich würde das anders formulieren. Ich würde sagen, als religiöser Mensch beides. Als religiöser Mensch muß ich die Konkretheit der Welt, der Schöpfung, in der ich lebe, auf mich nehmen und als derselbe religiöse Mensch muß ich je und je soviel von Gottes Willen, soweit ich ihn zu erkennen vermag, verwirklichen, soviel ich kann.

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Und als religiöser Mensch muß ich auch den Mut haben, entgegen der Wirklichkeit des Alltags diese größere religiöse Wirklichkeit zu vertreten, auch wenn sie unsinnig ist. Also z. B. der Nichtgewalt, des Nichtkriegs etwa, und was alles diese Dinge sind, denn es liegt durchaus in der Sphäre des Religiösen und die Gefahr, über die wir uns nicht weiter unterhalten können, ist außerordentlich groß, ich möchte sagen, die Gefahr, die in der Notwendigkeit, jeden Tag ein Compromiss schließen zu müssen, liegt, und zwar mit der Tatsächlichkeit des Geschehens, dass man dieses Compromiss grundsätzlich bejaht, an und für sich für wichtig halte.

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Buber.

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Das ist kein Compromiss, wenn ich vorgehe und weiter vorgehe bis an die Mauer und an der Mauer stehen bleibe. Compromisse schließe ich dann, wenn ich nicht an die Mauer gehe, sondern ein paar Schritte vor der Mauer stehen bleibe, aber ich gehe bis an die Mauer, schlage mir den

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Kopf etwas wund, aber zerschlagen tue ich ihn mir nicht, und das ist kein Compromiss, weil ich nicht durch die Mauer durchkomme. Bäuerle.

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Ich sehe diese Schwierigkeiten sehr gut, insbesondere in einer Frage, die ja teilweise die brutalste Gewalttätigkeit darstellt und die immer irgendwie mit dem Religiösen verbunden ist, nämlich der Frage der Revolution. Wenn ich die Revolutionen überblicke, entweder treten sie auf im Namen Gottes, etwa von der Papstrevolution an, bis herein etwa in die Revolution des Mahatma Gandhi, und wir haben sie bei Cromwell, bei Zwingli, bei Andreas Hofer und ganz negativ bei der französischen und russischen Revolution; bei der französischen nicht ganz negativ, wo versucht wird, eine Religion sozusagen konstruktiv an Stelle der alten zu setzen, die nun zu den neuen Dingen und der neuen Ordnung etwas besser passen würde, ein Versuch, der restlos gescheitert ist. Tatsache ist, dass Revolutionen immer mit den Zentralpunkten des Lebens, nämlich des religiösen Lebens, zusammenhängen, dass sie entweder im Namen der Kirche oder gegen die Kirche, vielleicht sogar atheistisch auftreten, wie wir das ja in der russischen Revolution haben. Merkwürdig und Tatsache bleibt immer dabei, daß das Religiöse eine ganz wesentliche Rolle spielt und daß mitunter die allerstärksten und blutigsten Revolutionäre wirklich religiöse Persönlichkeiten sind, denen man eine wirkliche Verbundenheit mit der Religion nicht absprechen kann. Dr. Buber.

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Ich möchte dazu noch sagen, daß das Wichtigste der Revolution, das Bild der Gemeinschaft, das sie verwirklichen will, von der Religion herkommt. Es gibt kein soziales Bild, das irgendwo anders hergenommen wäre, als aus den Schatzkammern der Religion. Diese Konzeption der Gemeinschaft, sofern sie eben nicht blos Gedanke ist, sondern wirkliches Bild, das gleichsam in den Augen der revolutionierenden Menschen lebt und von da aus Gestaltung will, das haben sie von der Religion. Die Revolution will die versteiften Institutionen auflockern oder sogar zerstören, damit eine Gemeinschaft aufkommt. Dieses Bild nun, das auf den Trümmern der zerstörten Institutionen die sozusagen rechtmäßigen Institutionen entstehen sollen, das Bild dieses Baues, der nicht mehr trennt, wie alle früheren, sondern wahrhaft ein Bau der Gemeinschaft ist, das ist ein religiöses Bild.

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Die Problematik der Revolution – wieder vom Religiösen aus gesehen – scheint mir nicht ihre Gegnerschaft zur Religion zu sein, wie am deutlichsten die russische Revolution zeigt (wie überhaupt der Atheismus nicht etwa das Schlimmste für die Religion ist), ebenso ist die Gegnerschaft der Religion oder die Religion selbst nicht das Bedenken der Revolution, sondern daß die Revolution selbst das Bild, das sie von der Religion übernommen hat und um dessentwillen die Religion ihren Weg mit wachenden und sehenden Augen verfolgt, daß sie diesem Bild untreu wird, daß sie insbesondere in der Wahl ihrer Mittel dem Bild untreu wird und dadurch das Bild, wie in dem Roman von Wilde, durch seine Handlung entstellt wird und so das Bild, die Idee, die die Revolution realisieren will, Schritt um Schritt entstellt und verdirbt durch die Mittel, mit denen sie realisieren will. Das ist die eigentliche Untreue der Revolution, derentwegen der religiöse Mensch sich ihr nicht etwa entziehen darf; wenn etwas gegen seine Religion aufsteht, daß er sich nicht entziehen will, aber wenn er sich nicht entzieht, wenn er in sie eintritt, dann hat er als der religiöse Mensch diese besondere Verantwortung, für die Reinheit des Bildes in der Revolution anzutreten, Schritt um Schritt zu kämpfen. Das ist die Funktion, die dem religiösen Menschen in der Revolution zusteht, unterzugehen, vielleicht darf man sagen, exemplarisch unterzugehen als der, der die organische Substanz, die die Religion meint, durch den Abgrund hindurchtragen will, der nicht um den Abgrund herum, sondern hindurch sie tragen will, wohin er sie zu tragen hat, durch das Dunkel, durch den Abgrund in eine neue Welt und wenn er dann untergeht, geht er richtig, exemplarisch unter.

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Bäuerle. In dem Buch »Ein Jahr Bergarbeiter« hat ein baltischer junger Graf u. a. eine Diskussion dargestellt mit seinen Freunden, jungen Bergarbeitern, und da sitzt ihm gegenüber ein bolschewistischer Bergarbeiter, Heinrich, der stellt am Schluß der Unterhaltung folgende Frage: Heinrich sagt zu dem jungen, baltischen Grafen, der durchaus eine feudale Einstellung noch hat: Was würdest Du tun, wenn heute die Revolution ausbräche zwischen der schwarzen und der roten Armee und wir würden im Strassenkampf einander gegenüber stehen, würdest Du mich totschiessen? Seine Antwort lautete: Eigentlich müsste ich das tun. Selbstverständlich, wenn es so kommt, würde ich auf der Gegenseite in den Kampf treten, ob ich Dich totschiessen würde, weiss ich nicht, denn Du bist ja mein Freund. Der andere sagte: Ich würde ohne Besinnen Dich niederschiessen,

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denn hier handelt es sich um die Verwirklichung eines neuen Zustandes der Menschheit, wer dem entgegensteht, ist mein Feind, sei er mein Bruder, mein Vater oder meine Mutter. Ich würde Dich niederschiessen. Dann sitzen sie noch eine Weile beieinander, gehen mit Händedruck und in Freundschaft auseinander und tragen diese Zwiespältigkeit nunmehr mit sich in ihr Leben, in die Wirklichkeit hinein, das hier in der Wirklichkeit nun wieder in Erscheinung tritt, etwa in dem Tatbestand: Parteigenosse gegen Glaubensgenosse, Parteigenosse, der nicht Glaubensgenosse ist, Glaubensgenosse, der nicht Parteigenosse ist. (Einwurf Buber: Der religiöse Mensch ist der, der nicht weiss, was er tut: der politische Mensch weiss, der Religiöse weiss nicht, sondern lässt sich von der Situation antreten.) Ich glaube, wir müssen nun Schluss machen. Vielleicht darf ich noch von meinem Standpunkt aus in ein paar Worten das zusammenfassen, was mir wesentlich erscheint. Ich meine, es hat sich als Tatsache doch ergeben, dass sich das Religiöse aus keiner Lebensbeziehung ausschliessen lässt, auch nicht aus dem Bezirk der Politik. Ich kann also als Politiker ein religiöser Mensch sein, ich muss zu dem Bereich des Religiösen Stellung nehmen. Verhältnismäßig einfach ist die Sache dann, wenn die Religion in einer allgemein, von allen anerkannten Form innerhalb des Gemeinwesens lebendig ist und wenn dieses Gemeinwesen selbst als solches, als Staat, ebenfalls grundsätzlich nicht … Da ist die Situation einfach. Schwieriger aber, und alle Schwierigkeiten eigentlich kommen aus dem Zerfall dieser einheitlichen und allgemein als gültig und als heilig anerkannten Form, sowie aus dem Machtanspruch der Politik auch auf die inneren Lebensgebiete und aus dem äusseren Machtanspruch der organisierten Religionen und aus dem Zusammenstoss dieser beiden Ansprüche innerhalb des Streitlebens unseres Volkes ergeben sich diese ungeheuren Schwierigkeiten, um die wir ringen und um die wir auch heute abend ein kleines Stück gerungen haben. Alle Revolution wird im Namen der Religion oder gegen die Religion, jedenfalls mit ganz zentralem Hereinziehen des Religiösen geführt. Wie ist der Tatbestand heute? Der scheint mir so zu sein: Einmal wiederum eine eigentümliche Erscheinung ist, dass die Religion, d. h. das Fragen nach Gott, das Ringen um den letzten Sieg des Lebens heute zweifellos grösser ist als vor 10, 20 und 30 Jahren, dass heute – ich könnte das mit vielen Beispielen belegen – dass das religiöse Leben tatsächlich im Wachsen ist, dass aber die Kirche, als die Organisationsform des religiösen Lebens für sehr viele und zwar auch für einen grossen Teil derer, die sich

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noch äusserlich als zu dieser Kirche gehörig bezeichnen, nicht mehr der verpflichtende Ausdruck dieses religiösen Strebens und Lebens ist, und Tatsache scheint mir weiter das zu sein, vom Standpunkt der Politik aus jetzt, dass die Politik nicht mehr eine aristokratische Angelegenheit, sondern heute eine Angelegenheit aller geworden ist, dass also auch die politischen Fragen und Fragestellungen heruntergedrungen sind in das Gesamtleben aller, d. h. Zusammenschluss einzelner Schichten. Auch dieser Zustand ist dahin, wesentlich auch durch andere Entwicklung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Also ist sowohl vom Standpunkt der Politik als auch der Religion und zwar des wachsenden politischen und religiösen Lebens, aber weil das so ist, werden die Schwierigkeiten und die Nöte vergrössert und nun, wenn das beides lebendig wird, so ist es nun so, dass beides, Religion und Politik, immer wieder nach Formen ringen und dass die Opposition gegen die formgewordene Religion und das formgewordene politische Leben, nämlich gegen Staat und Kirche, im letzten Grund nichts anderes ist, als wie wieder Kirche und wieder Staat und dass wir so aus diesen Schwierigkeiten nicht herauskommen. Und so sage ich, wenn ich in unsere Zeit hineinsehe, gerade unter Berücksichtigung dieser beiden Gebiete: Ebenso schwer und gefährlich, wie gross und schön, und ich möchte eigentlich diese Zeit mit all ihrer Not und all ihrem Schweren von ganzem Herzen bejahen. Aber der Tatbestand, wie er heute ist, macht eine planvolle, generelle Regelung eigentlich unmöglich. Wenn ich nun von hier wieder ein paar Dinge noch sagen darf, so scheint mir dies zu sein: Der Staat, so wie heute die Dinge liegen, muss darauf verzichten, die Seelen zu leiten, muss der Ausprägung der verschiedenen Religionsformen Raum geben. Die Kirche muss darauf verzichten, Politik zu treiben, d. h. den Staat zu beeinflussen. Die Kirche muss ganz ernst damit machen, dass in ihren Kreisen politische Gegensätze in den Glaubensgenossen selbst vorhanden sind und muss diesem Tatbestand Rechnung tragen dadurch, dass sie sich zurückhält. Dagegen der religiöse Mensch (nicht Kirchenmensch) muss sich um die Politik kümmern und dabei religiös bleiben, also das gefährliche der doppelten Moral erkennen, bekämpfen, ablehnen. Der politische Mensch darf nicht die Religion, insbesondere nicht in ihrer Organisationsform als Kirche, als eine politische Angelegenheit betrachten und dies scheint mir nun, wenn ich auf das komme, was wir im Anfang besprochen haben »Gemeinschaft«. Ich sehe keinen anderen Weg zur Gemeinschaft, als das zu wissen, dass zum Wesen des Menschen seine Beschränktheit, Einseitigkeit, Unzulänglichkeit gehört und dass die Fülle des Göttlichen grösser

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und mannigfaltiger ist als ein einzelner oder eine Gruppe oder ein Volk fassen kann und dass das auch für die politische Form gilt. Dass wir also religiös und politisch miteinander ringen müssen, miteinander kämpfen müssen, unter Umständen, es könnte ja sein, dass wir beide auch einmal politisch gegeneinander stehen müssten. Aber immerhin müssen wir mit solchem Tatbestand rechnen und ich meine, dass wir es hier mit unserer Not zu tun haben, das ist unsere tiefste Not, aber weil es eine Notwendigkeit ist, so liegt in dem Sehen und Bejahen dieser Not auch gleichzeitig die Möglichkeit, diese Not zu wenden. Ich möchte also sagen, dass vom religiösen Standpunkt aus die Forderung da sein muss, dass wir im Kampf das Lebensrecht des andern erkennen und anerkennen, also auch im Kampf wahrhaftig und Menschen sind, Gottesmenschen sind, dass wir wissen, dass der religiöse Mensch, und auch ich als religiöser Mensch, sündige und dass der politische Gegner fromm sein kann, auch wenn er mein Gegner ist, dass also der Weg zur Gemeinschaft in dem Wissen dieser Schicksalshaftigkeit und dieser Not und dieser Zufälligkeit beschlossen liegt, und wenn ich das noch mit einem Wort zusammenfassen darf, dass also zu der Forderung »Liebe Deinen Nächsten«, also Deinen Parteigenossen, Deinen Kirchengenossen, die andere Forderung kommen muss, auf die keine ernsthaft religiöse Überlegung und Welt verzichten kann, die andere Forderung »Liebe Deinen Feind, nimm ihn ernst, nimm ihn auch ernst in seiner Gottesbeziehung, in seiner Gottesnähe«. Dr. Buber.

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Ich sprach zu Anfang von zwei Problemen: erstens von der Entwicklung des politischen Mittels und zweitens von der Vielheit der gegebenen Gebilde. Ich meine von da aus, wo wir jetzt – ich glaube sagen zu dürfen – gemeinsam angekommen sind, möchte ich sagen: Es gibt einen von uns zu überschauenden Horizont, eine Sphäre des Wirkens auf die Überwindung der Problematik [h]in und es gibt einen von uns aus nicht mehr zu überschauenden Horizont, der nur religiös geahnt werden kann, auf den wir nicht zu wirken, sondern nur zu harren vermögen. Den ersten von uns zu überschauenden Horizont möchte ich etwa so bestimmen: Ich sprach von der Entwicklung des politischen Mittels. Dieses kann, glaube ich, dadurch nicht prinzipiell, nicht absolut, sondern je und je überwunden werden, also menschlich überwunden werden, dass das religiöse Mittel, das Wirken und Aufschliessen des Göttlichen im

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Menschen in die Politik selbst eingeführt wird, d. h. also, dass der religiöse Mensch, das schwerste Opfer, das er sich zumuten kann, das schwerste Opfer, das er bringen kann und die schwerste, härteste Probe der Echtheit seiner Religiosität bringt, dass er also in die Politik eindringt und dass er da das religiöse Mittel zu verwirklichen sucht, dass er eintritt in die Politik und von ihr nicht verschlungen wird, dass er diese Welt auf sich nimmt und ihrem Gift nicht erliegt, dass er seine Sache, sein grosses Zeichen hineinträgt in diese Welt und von da aus wirkt, dass er unter Umständen, wenn es nötig ist, auch in die Partei hineingeht, dass er nun da in den Parteien die neue Front, die wirklich religiöse Front aufrichtet, d. h. die innere Front, die Front, die in jeder Partei steht für die Realgesinnung, für die Gesinnung, die Ernst macht, die gelebt wird, gegen die Ganzheitsgesinnung, wenn ich das Wort, das nicht missbraucht werden darf, hier gebrauche: Für die Wahrheit gegen die Lüge, in der Partei mitten drin und d. h. also, dass eine neue Front errichtet wird, quer durch alle Parteien, quer durch das politische Gebilde, die das äussere Linke mit dem äussersten Rechten verbindet, die echten, die Menschen, die es meinen, die es leben, miteinander verbindet, ohne dass sie einen politischen Ausdruck, Ganzheitsausdruck, finden und dennoch: sie ist politisch, wird politisch da sein und sich politisch auswirken. Das ist das eine, was getan werden kann, durch Einritt des religiösen Menschen in das politische Leben. Und das andere, schwerer von der Person anzustrebend, aber dennoch innerhalb des von uns zu überschauenden Horizonts, dass die Vielheit der gegebenen Gebiete nicht überwunden, aber übereint wird durch eine heute von uns natürlich nicht vorzubereitende und dennoch zu bereitende überstaatliche Autorität. Diese Autorität kann natürlich nicht auf diese Weise entstehen, dass sich, wie in dem sogenannten Völkerbund, die Vertreter der Staaten, also der gegenwärtigen Zwangsverbände, die eine Konstituierung der Völker verhindern, zusammensetzen und miteinander verhandeln, sondern die Voraussetzung ist eine echte Konstituierung der Völker und dann ein Zusammentreten der Völker, so wie gesagt wird: Wenn zwei oder drei zusammentreten in meinem Namen Bischemi, d. h. ohne Namen, aber wenn sie in Wahrheit zusammentreten, wie Menschen in Wahrheit miteinander zusammentreten können, unmittelbar einander anreden und einander antworten, dann glaube ich, wird der Name da sein, dann wird die Gegenwart da sein, die die Autorität über Völker errichtet. Wenn wir dies als Horizont sehen können, dann dürfen wir auch endlich darüber reden, dass der Zwang fällt zwischen und vielleicht sogar in den Menschen (denn aller Zwang zwischen den Menschen kommt aus einem Zwang gegen die einzelne Person) überwunden wird,

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dass dann nicht wieder Kirche und nicht wieder Staat sein wird, sondern ein Aufgehen von Kirche und Staat in der alles Leben umfassenden Gottesgemeinschaft der Menschen.

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Erziehung zur Gemeinschaft Diejenigen von Ihnen, die mir schon früher einmal zugehört haben und mit mir über diese Dinge gesprochen haben, wissen, wieviel mir daran liegt, dass ich nicht sozusagen von oben herunter sprechen muss, nicht einen fertigen Gedankengang darüber geben muss, sondern in wirkliche Wechselwirkung treten darf, also hören, erfahren darf, was zu dem Gegenstand, zu dem ich spreche, an Fragen, Zweifel und Schwierigkeiten in den Gemütern der mit mir hier vereinigten vorhanden ist. Dies, was schon seit vielen Jahren immer wieder in mir wach wird, wenn ich vor eine Vielheit, insbesondere vor zum Teil mir unbekannten Menschen trete, um über Dinge zu reden, das ist besonders stark in mir heute, wo ich über diesen Gegenstand sprechen will, der – es wird Ihnen deutlicher werden, was ich meine, wenn ich sage – der etwas für mich selbst als Gegenstand, als Thema ein Neues ist, der mir überhaupt etwas Neues zu sein scheint, wenn man nämlich an seine Wirklichkeit heranzugehen versucht, wie ich es versuchen will. Ich möchte also Sie besonders bitten, dass wir es so halten dürfen, dass ich jetzt zunächst nur die allgemeinen Umrisse dieses Problems zeichne, und ich möchte Ihre Mitwirkung erbitten, dass Sie mir dann sagen, über welche Punkte wir dann besonders sprechen wollen. Das Thema ist nämlich ein ungeheures, und was ich zunächst tun kann, auch tun muss, damit wir uns verstehen, – damit wir wissen, wovon die Rede ist, so ist das Thema zu umzeichnen, was mit dieser Gemeinschaft, von der ich sprechen will, von der Erziehung, von der ich sprechen will, – was gemeint ist und was nicht gemeint ist. So bitte ich es aufzufassen, was ich zur Klärung des Problems vorausschicke. Es wird heute vielfach von Gemeinschaftserziehung gesprochen. Ich habe mir die Sachen, die darüber gesprochen worden sind, angesehen, soweit sie mir bekannt geworden sind, und ich habe die Erfahrung gemacht, dass das doch eigentlich gar nichts mehr mit dem zu tun hat, was ich unter Gemeinschaft verstehe. Gemeinschaftserziehung, soweit ich mir aus der Literatur einen Begriff machen konnte, – Gemeinschaftserziehung das ist nach diesen Darlegungen eine Befähigung oder Ausrüstung des heranwachsenden Menschen, auch in den grossen Objektiven – Gesellschaft, Staat, Partei und Verbandszusammenhänge, in die das Leben einstellen will, sich zurecht zu finden in ihm – zu bewähren, ein brauchbares, leistungsfähiges Mitglied dieser verschiedenartigen gesellschaftlichen, sozialen, politischen Verbände zu werden, – also nicht ein glattes Rad zu sein, das sich nur um seine Achse drehen kann, eine Per-

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son, sondern ein Rad, das mit Zähnen ausgestattet ist und nun befähigt ist, in andere Zahnräder, in andere Rädchen dieses ungeheuren Apparates einzugreifen und an dieser ungeheuer komplizierten Gesamtbewegung teilzunehmen. All das aber scheint mir mit Gemeinschaft sehr wenig zu tun zu haben. Ich vermag nicht einzusehen, was diese Verbände, von denen hier die Rede ist, was der heutige Staat, die heutige Gesellschaft usw. als solche mit Gemeinschaft zu tun haben. Ich empfinde zwar wohl und erfahre es auch, dass auch in diesen Verbänden Gemeinschaftsgehalt vorhanden ist. Aber sozusagen [Leerstelle im Text] es gibt Schlupfwinkel der Gemeinschaft im Staat, in der Gesellschaft usw. Das Leben des Menschen ist auch in unserer Zeit noch nicht so zum Getriebe geworden, dass nicht überall noch Gemeinschaft steckte. Auch in all diesen grossen, wie man sagt, aber kein glückliches Wort – mechanisierten, ich würde sagen, objektivierten Verbänden. Aber in Wirklichkeit, wenn wir von diesen Resten, von denen sozusagen, diese grossen Verbände nichts wissen wollen, mit Absicht ein wirkliches Gemeinschaftsleben [Leerstelle im Text] keiner von ihnen. Wir merken das ganz deutlich in Zeiten der Krisis, der Katastrophe, in Zeiten, wo es aussieht, als ob der Charakter eines solchen Verbandes sich änderte [Leerstelle im Text] sondern ob etwas Verschüttetes nach oben kommen wollte. Mir ist es niemals so deutlich geworden wie 1914, wo es den vielen jungen Menschen, die diese besonders grosse echte Art von Begeisterung hatten, so war, als ob nun dieser Staat, von dessen Gemeinschaftslosigkeit, Gemeinschaftswidrigkeit, sie nicht wenig erfahren hatten, doch so etwas wie eine lebendige Gemeinschaft wäre, für die es sich eben nicht bloss zu leben, sondern auch zu sterben lohnt. Dies Eigentümliche, ich möchte fast sagen [Leerstelle im Text] der inneren Gemeinschaftlichkeit in diesen Verbänden also hineinschütten, [Leerstelle im Text] was man an Gemeinschaftssehnsucht, Ahnung in sich trägt, das war [Leerstelle im Text], wo eine tiefe Skepsis in dieser Hinsicht da war. Aber jedenfalls damals war es so – mir ist es darum zu tun, Ihnen klar zu machen, was das ist – dieses, was ich Gemeinschaft nenne und was in der heutigen Gemeinschaft eben nur noch so restartig vorhanden ist oder auch wieder nicht war in Kreisen von Menschen, insbesondere von jungen Menschen, als Verlangen, als Sehnsucht [Leerstelle im Text] Es ist vielleicht am besten, wir gehen von den Begriffen der modernen Soziologie aus. Es gibt über den Gegenstand des Verhältnisses [Leerstelle im Text] Bücher. Das von Tönnies stellt Gesellschaft und Gemeinschaft einander so gegenüber, dass er sagt: Gesellschaft das ist ein Verband von Menschen, die durch Zwecksetzung miteinander vereinigt sind, die etwa gemeinsame Interessen haben und die sich zusammentun, um diesen Inter-

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essen gemeinsam zu dienen und diese Zwecke gemeinsam zu erreichen. Es ist also eine auf Entschluss gegründete Konvention. Dagegen: Gemeinschaft ist ein Verbundensein von Menschen ihrem Wesen und Wesenswillen nach, – ein Verbundensein von Menschen durch gewordene, nicht gemachte, nicht gesetzte, sondern gewordene Gemeinsamkeit der Abstammung, der Sitte, des Eigentums usw. In die Gemeinschaft also wird der Mensch hineingeboren. Sie ist seine Voraussetzung, er lebt, atmet in ihr, sie trägt ihn. Die Gesellschaft ist etwas, was er sozusagen je und je von neuem anerkennt, was er als für seine Lebensführung, seine Zwecksetzung und Zweckerreichung, eben als zweckmässig akzeptiert und in das er sich von eben da aus einfügt. Diese Gegenübersetzung der beiden Begriffe Gesellschaft und Gemeinschaft geht, – wie man auf den ersten Blick sieht – von historischem Blick aus. Was hier Gemeinschaft genannt wird, ist ein primitiv sozialer Zustand. Es sind also historische Kategorien, die in der Menschheitsentwicklung aufeinander gefolgt sind, in der Entwicklung der einzelnen Kulturen. Aber dadurch, von da aus, wird das, was unter Gemeinschaft im heutigen Leben verstanden ist, nicht erfasst. Wir fühlen, dass diese primitive Gemeinschaft der Gemeinsamkeit von Sitte, Eigentum usw., das was wir eben mit Gemeinschaft meinen, nicht umfasst. Nun ist von einigen modernen Philosophen versucht worden, dies zu ergänzen (Schmalenbach), indem man zu diesen zwei Begriffen – Gesellschaft und Gemeinschaft einen dritten setzte, den Begriff des »Bundes«. Er sagte: Gemeinschaft ist dieses gemeinsam Gewordene, in das der Mensch hineingeboren wird, was sozusagen mit seinem Unterbewussten zusammenhängt, nicht mit seinem bewussten Wählen und Entscheiden, das nicht zur Gesellschaftsbildung führt, sondern zu wirklich organischem Zusammenhang von Menschen, Bildung eines echten Menschenkreises, und das nennt er, wie mir scheint, mit Recht einen »Bund«. Was das ist, das wissen wir aus unserer Zeit. Und dieses Deutschland, in dem wir leben, ist jetzt in ziemlich weitem Mass von sehr verschiedenartigen, schaffenden zum Teil religiösen usw. Bünden [Leerstelle im Text] ich möchte beinahe sagen – unterminiert. Aber wenn wir die Existenz unserer Zeit und in der Geschichte betrachten, dann finden wir, dass sie sich in etwas sehr wesentlich unterscheiden. Schmalenbach hat es nicht gesehen d. h. dass sie zwar in der Tat sich abheben gegen die primitive Gemeinschaft, dass aber, das was über die primitive Gemeinschaft hinaus an Gemeinschaftlichkeit vom heutigen Leben aus gedacht, angestrebt werden könnte, davon nicht erfasst wird. Ich meine damit, dass der Bund etwas ist, und zwar nicht bloss zufällig, sondern seinem Wesen nach etwas ist, was nicht das ganze organische Leben des Menschen einschliesst, – sondern es ist

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etwas, was neben dem natürlichen organischen Leben des Menschen hergeht, oder nur einen besonderen Kreis daraus hervor-, heraufhebt. Ein Bund ist etwa politischer Art und bezieht dann die Menschen ein als Menschen, die eine bestimmte Aenderung erstreben. Oder er ist religiöser Art – aber, wie man heute von »religiös« spricht, also eine Abteilung des Lebens [Leerstelle im Text] irgend einer Weihesammlung in Stunden, die gleichsam aus dem Leben gelöst werden, die sich gleichsam über das Leben, über den Alltag heben. Immer wieder aber ist der Bund etwas, was eben nicht den Alltag, nicht das Gleichmass des Lebens umfasst. Er will gleichsam das Höchste des Menschen organisieren, nicht in herabsetzendem Sinn, denn die höchsten Absichten, die höchsten Unternehmungen eines Kreises von Menschen eine Vereinigung von Menschen zu einer Handlung, zur Vorbereitung einer Handlung oder zu einer Haltung [Leerstelle im Text] Aber immer typisch für den Bund ist, dass diese Menschen aus ihren Häusern herausgehen, um in den Raum zu kommen, in dem sie dem Bund angehören, – dass sie aus den Zusammenhängen, in denen ihr Lebensgleichmass heraustreten, um in diese Weihe des Bundes zu gelangen. Der Bund ist dualistisch fundiert. Niemals ist er etwas, was das ganze natürliche Leben des Menschen, das Leben des Hauses, der Strasse, der Werkstatt mit umschliesst. Der Bund umfasst Menschen, die sich zurückziehen (sinnlich gemeint), herausziehen, aus diesem Getriebe herausziehen und sich zusammenschliessen zu dieser gemeinsamen Existenz, die räumlich, zeitlich, wesenhaft von jenem Leben abgehoben ist. – Und wenn ich nun von Gemeinschaft spreche, so meine ich damit, etwas, was das ganze Leben, das ganze naturhafte Dasein des Menschen mitumfasst, was nichts davon ausschliesst. Entweder ist dies Gemeinschaft oder es muss auf eine wirkliche Gemeinschaftlichkeit verzichtet werden. Es hängt eben viel von der Möglichkeit eines solchen Totalitätszusammenschlusses, hängt es schicksalshaft ab, ob es Gemeinschaft geben kann oder nicht. Ich meine, Gemeinschaft, die neben dem Leben sich aufbaut ist keine, – womit ich nun nicht die Existenz der Bünde irgendwie beeinträchtigen möchte, – aber meinem Gefühl nach sind sie alle nur – ich möchte sagen – Ahnungsverbände, oder – Vorwegnahmeverbände. Die Bünde realisieren in der Abhebung, in der Ueberhebung (?) des Lebens, das was jetzt und hier (oder: früher?) in der Fülle und Arbeit des Lebens nicht realisiert werden kann, oder wovon gemeint wird, dass es nicht realisiert werden kann. Diese Resignation, oder diese Erkenntnis, dieser Verzicht, dieses Negativum liegt den Bünden zu Grunde. Der Bund schafft eine Ebene, auf der das realisiert werden kann, was auf der Ebene des Lebens nicht realisiert wird. Ueber dieses Nicht-realisiert-werden der Gemein-

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schaft in der Breite und Fülle des gelebten Lebens führt der Bund in einer tröstlichen Weise hinaus, indem er Gemeinschaftserlebnisse gibt, aber Gemeinschaftserlebnisse, die eben nun nicht in das gelebte Leben eingehen, sodass sie alle Fugen, Poren durchsetzten, überallhin sich ausbreiteten und nun als Leben ein Mal da stehen, sondern es ist gleichsam ein negativer Pakt geschlossen, eine Mauer gezogen, es ist anerkannt: Bis hierher und nicht weiter. Und dieses »bis hieher«, wenn man da ganz genau hingeht – da fängt das eigentliche Leben an, das unpathetische, unfassliche (?), das wirkliche Leben. Nun könnte man sagen, – und es ist mir auch je und je begegnet, dass gesagt wird: Ja, ist dies aber nicht eine, wenn auch vielfach tragische Notwendigkeit? Gibt es denn, kann es denn in dieser Welt, in der wir leben, in dieser Menschenwelt, kann es denn anders Gemeinschaftlichkeit noch geben, als in der Form des Bundes? Ist nicht jene Gemeinschaft, die das Ganze umfasst, eben wirklich ein primitiver Zustand, ein Zustand geringerer persönlicher Differenzierung, – ein Zustand, wo eben wirklich die Menschen nicht in Gemeinschaftlichkeit leben können, weil sie voneinander noch nicht so durch personhaftes Werden abgehoben sind, wie die heutigen Menschen, – weil sie einander nicht in solcher Vielfältigkeit gegenüberstehen? Es sind eben diese naturhaften Verbände, aus denen die Menschen in diese Differenzierung der heutigen Gesellschaft hinein-, hinaufgewachsen sind, und es ist nur Romantik, zurück zu wollen in Gemeinschaft hinein, die als solche, aller Leben umschliessend uns verloren ist. Diese Frage scheint mir die zentrale zu sein, ob in der Tat Gemeinschaft – jetzt wollen wir von dem Bund als einem Verband, der nicht die Gesamtheit des Lebens umfasst, absehen – ob Gemeinschaft in der Tat identisch ist mit untergemeinschaftlicher Gesellschaft, – also ich meine, die Gemeinschaft, die von der Soziologie in Gegensatz gestellt wird, ist zweifellos eine untergemeinschaftliche, – die Gemeinschaft, aus der die individualistische Ordnung als Grundlage der heutigen Sozialität sich heraus entwickelt hat. Und ich gebe nicht bloss zu, – sondern ich will es selbst spontan als eine hoffnungslose Tendenz bezeichnen, hinter diese Differenzierung der heutigen Gesellschaftsordnung zurückgehen zu wollen. Alles kommt darauf an, ob es ein Darüber-hinaus in Gemeinschaft gibt oder nicht d. h. ob es nicht bloss eine untergesellschaftliche, sondern auch eine übergesellschaftliche Gemeinschaft gibt oder nicht d. h. ob die Realisierung mit den Voraussetzungen, mit den Mitteln in der Situation der heutigen Ordnung möglich ist oder nicht. Ich bitte, diese Fragestellung nicht zu betrachten unter »Entweder – Oder«. Entweder kann man durch ein Kunststück persönlich aus der Gesellschaft Gemeinschaft machen, – oder sie ist unmöglich. Unter diesem Entweder – Oder lässt sich

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überhaupt nicht sprechen, also lässt sich realisieren, so meine ich’s, insofern sich überhaupt Dinge in der menschlichen Ordnung realisieren lassen, – in der Bedingtheit aller Verwirklichung, in diesem Element – Materie [Leerstelle im Text] so wie verwirklicht wird, sodass das Morgen etwas anders aussieht als das Heute. Wenn Morgen etwas mehr dieses gesellschaftliche Leben, etwas gemeinschaftshaltig geworden ist, als es heute ist, – so ist es genug d. h. dies ist mir Erweis genug; denn wenn es wirklich so ist, wenn es so zwischen den Stunden, den Zeiten, ein Mehr, eine Aenderung in einer bestimmten Richtung gibt, in e i n e r Richtung, – das ist genug. Das ist der menschliche Erweis, mehr tut nicht not. Dies nun ist also die Voraussetzung, die ich mache, davon spreche ich. Die Frage, die uns heute beschäftigt, ist die Frage: Was hat Erziehung von Menschen, Erziehung heranwachsender Menschen in unserer Zeit zu tun mit dem Heraufkommen einer übergesellschaftlichen Gemeinschaft d. h. mehr Durchdringung der Gemeinschaft mit neuem Gemeinschaftsgehalt? Dieser neue Gemeinschaftsgehalt kann – ich will es noch einmal kritisieren, es ist ein Gebiet, das von möglichen Missverständnissen gleichsam durchsetzt ist – dieser neue Gemeinschaftsgehalt beruht nicht mehr auf Gemeinsamkeit, objektive[m] Besitz wie Sitte und dergl. oder Rechtszusammenhang oder irgend etwas, was man von der primitiven [Leerstelle im Text] fassen kann, auf keiner Gemeinsamkeit als notwendige Grundlage, – sondern dieser Gemeinschaftsgehalt kann begründet sein auf Gemeinschaftlichkeit, noch deutlicher: nicht auf statischem, sondern dynamischem Zusammensein, von gleichartigen, gleich konstruierten, gleich geschaffenen, gleichgeordneten Menschen, sondern auf einer echten Beziehung zwischen verschieden geschaffenen, verschieden geordneten Menschen, – diese Verschiedenheit der Art und Situation – Wir gehen von dieser Verschiedenheit als von dem Wesen der heutigen Ordnung aus und fordern von da aus: Wie kann es Gemeinschaft geben nur noch dynamisch, dass Gemeinschaft waltet als etwas, was zwischen Mensch und Mensch geschieht, was zwischen Ich und Du geschieht d. h. wenn ich versuchen soll – aber natürlicherweise notdürftig – aus der Situation der heutigen Menschheit einen echten Gemeinschaftsbegriff abzuleiten, so bedeutet Gemeinschaft jetzt und hier, einen Zustand, eine Vielheit von Menschen, indem es je und je irgend welchen dieser Vielheit zugehörigen Menschen möglich ist, zueinander in die rechten, totalen und zweckfreien Beziehungen zueinander zu treten [Leerstelle im Text] indem zwischen allen Mitgliedern eine solche Beziehung vorhanden ist. Es geht um den Funken, das wirkliche Geschehen. Aber der Status, die Struktur dieser Vielheit von Menschen muss so sein, dass nichts diese Art von Beziehungen zwischen ihnen abschnürt,

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unmöglich macht. Und ich möchte nocheinmal darauf hinweisen, vor allem – unmittelbar d. h. dass der Mensch dem anderen Menschen gegenübersteht in der Beziehung, Wechselwirkung, ohne dass etwas persönliches oder sachliches [Leerstelle im Text] also nicht dadurch, dass sie beide zu einer Sache, etwa zu einem Unternehmen, zu einem Werk, zu irgend einem sachlichen Zusammenhang eine Realisation haben, sondern unmittelbar, sodass nichts zwischen ihnen ist. Hinüber und herüber schlägt der Funke der Beziehung von Person zu Person. Das ist das, was ich mit Direktheit meine. Das zweite ist Totalität der Beziehung d. h. dass der Mensch zu dem anderen in Beziehung steht nicht mit einem Teil seines Wesens, wie es ja heute häufig ist, wie die Bezirke des Geistigen heute voneinander abgesondert sind: Jeder sein eigenes Gesetz, seine eigene Struktur hat, jeder seine gesonderte Buchführung. Es gibt bestimmte geistige Beziehungen zwischen Menschen, – eine höchst absonderliche Sache, die darin besteht, dass z. B. ein paar Menschen an einem Abend zusammenkommen und sich über Dinge, die ihnen die höchsten sind, unterhalten, so, als ob sie wirklich miteinander zu tun hätten, – in Wirklichkeit nichts miteinander zu tun haben! Sind völlig unverbindlich! Es gibt erotische Beziehungen, die in Bezug auf die Ganzheit des Lebens der Menschen keine Existenz haben. Diese Aufteilung des Menschen in ein Reich von Sphären, die geht auch auf die Realisation der Menschen zueinander über. Was ich meine –: Als zu einer Gemeinschaft notwendig gehörig ist die Totalität der Beziehung, in die der Mensch zum anderen mit allen diesen Eigenschaften, Fähigkeiten, Möglichkeiten hintritt, dass zwischen diesem Menschen, so wie er ist, diesem anderen Menschen, etwas geschieht, – etwas geschieht und nicht mehr! Ich spreche bei Leibe nicht von ausserordentlichen Dingen – irgend ein Geschehen, kann ein höchst negatives Geschehen sein, – ich meine wirkliches Geschehen, unmittelbar zwischen Mensch und Mensch z. B. dass diese Menschen mit ihrer Ganzheit eintreten. Und das Dritte kann ich gar nicht erläutern – dass der eine Mensch für den andern nicht Mittel sei, um einen Zweck zu erreichen, – dass der eine Mensch den andern nicht verwende, sondern dass der eine den andern als ihm gegenüber lebendes Wesen vergegenwärtige, – als ihm gegenüber lebendes Wesen d. h. ein Wesen, für das ich ebenso da bin wie es für mich. – Dies also scheint mir der aus unserer Situation abzuleitende Gemeinschaftsbegriff zu sein [Leerstelle im Text] dass irgend welche Menschen der Vielheit, die umfasst ist, zueinander in solche Beziehungen treten. Nun, es kann geleugnet werden, dass dies in unserer Situation möglich

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sei d. h. dass es möglich sei, solchen Gemeinschaftsgehalt je und je in diese grossen objektiven Verbände, in dieses ungeheure Getriebe unseres Lebens einzuführen. Wie viel eben möglich ist! Es kann theoretisch geleugnet werden. Es hat keinen Sinn, dies zu leugnen. Die Frage, die ich stelle, ist nur experimentell zu beantworten – nur von Menschen. Ob es diese Sehnsucht gibt, den Willen zur Gemeinschaft, von dem heute viel gesprochen wird, als wirkliche Kraft gibt, die Leben bewirkt und Leben aufbaut, ich sage – ob es so ist, ob das Schwärmerei ist oder Wirklichkeit, kann sich nur erweisen, wenn die Menschen, die dieses Ideal haben, aufhören, es als Ideal zu haben, – sondern wenn diese Menschen mit der Wirklichkeit ihres Lebens, da wo sie stehen, in den Zusammenhängen, in denen sie stehen, Familie- oder Berufszusammenhang oder gesellschaftlicher Zusammenhang – dass diese Menschen mit ihrem Leben in den Zusammenhängen, in denen sie stehen, von da aus Ernst machen, nur mit ihrem eigenen Leben! Ein anderes Ernst-machen gibt es nicht. Es ist die einzige Materie, die wir in Wirklichkeit haben. Alles durchsetzen in andere Materie ist [Leerstelle im Text] Nur hier können wir etwas recht schaffen. Dieses gelebte Leben, dieser Alltag, dieser Beruf, diese Zusammenhänge, in denen wir schicksalsmässig stehen jeder von uns, dieses ganz persönliche – das ist das Element des Bauens von Gemeinschaft. Und wenn ich nun von Erziehung zur Gemeinschaft spreche, so meine ich durchaus Gemeinschaft in diesem Sinn, also Erziehung dazu, Bereitung zu Gemeinschaftsgehalt im persönlichen Leben mit dem persönlichen Leben, von dem persönlichen Leben aus einzuführen in das, was heute ist, – in diese Gesellschaft, in dieses Getriebe – man mag es nennen wie man es will. Aber alle die düsteren Ausmalungen des heutigen Zustands haben etwas für mich abschreckendes – nämlich, sie dienen nur zu leicht dazu, von dem jetzt und hier von Experiment, von der Möglichkeit, vom Augenblick, von der ganzen Fruchtbarkeit des Augenblicks abzusehen. Diese düsteren Ausmalungen führen dazu. – Nun es ist einer der vielen Fluchtapparate, die das heutige Leben des Menschen ausfüllen, die ihm ein gutes Gewissen ermöglichen, indem er sich bestenfalls damit begnügt, etwas durchzusetzen, etwa politisch zu verfechten. Also Erziehung zur Gemeinschaft in diesem besonderen Sinn. – Ich schlage vor, dass wir heute davon sprechen wollen [Leerstelle im Text] Nun, eines scheint sich mir daraus zu ergeben: Erziehung zur Gemeinschaft kann keine theoretische sein – oder noch deutlicher: Erziehung zur Gemeinschaft kann nur durch Gemeinschaft geschehen. – Nun, das ist ja etwas. Vielleicht machen wir uns einen Augenblick klar, was über das Problem hinausreicht.

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Was erzieht? Wer erzieht? Die Erzieher, die unter uns sind, werden mir wohl hoffentlich zum grossen Teil zustimmen, wenn ich sage: Der erziehen will, erzieht nicht!! Was erzieht – ist eigentlich das unwillkürliche. Das grösste Beispiel von Erziehung ist die Natur – durch Licht, Luft, Wald, Tiere, und was man sonst noch erfährt – in der Stadt weniger. Aber immerhin ein Weniges davon. Dadurch wird der erwachsene Mensch erzogen. Wir ahnen gar nicht, in welchem Mass ein Kind durch das Licht erzogen wird. Ich habe das selbst an Kindern beobachtet, – dass das Kind davon am allerwenigsten weiss, und die Menschen leider auch sehr wenig, die mit dem Kind zu tun haben. Diese ganze unbewusste Einwirkung, die naturhafte Umgebung zunächst. Was erzieht sonst noch? Man kann sagen: Gemeinschaft erzieht, nämlich: sofern sie da ist. Man kann auch sagen: Der einzelne Mensch erzieht, sofern er da ist. Denken Sie nur daran: Wenn ein Mensch daherkommt [Leerstelle im Text] und die Kinder sitzen da, um erzogen zu werden, – glauben Sie denn, dass die Kinder nicht durchdrungen sind von der Situation: Jetzt sollen wir erzogen werden! Glauben Sie, dass das eine Fruchtbarkeit des Bodens [Leerstelle im Text] Wie soll sich ein Mensch nicht dagegen wehren, erzogen zu werden [Leerstelle im Text] Betrachten wir nocheinmal die Einwirkung von Lehrer auf Schüler. Wann wirkt ein Lehrer auf Schüler wirklich ein, wenn diese Abwehr nicht vorhanden ist, – wenn zwischen ihm und den Schülern nicht diese Situation vorhanden ist: »Aha, jetzt wird erzogen!« d. h. wenn der Lehrer im Unwillkürlichen zum Schüler steht und diese es nicht spüren und erfahren. Mit seiner personhaften Existenz erzieht er, wenn er erzieht, und kann er so nicht erziehen, dann empfiehlt es sich doch, den Beruf zu wechseln!! Nun ich sage: Das Unwillkürliche ist es, was überhaupt erzieht und Erziehung zur Gemeinschaft ist nur möglich, wenn es Gemeinschaftlichkeit gibt, die zur Gemeinschaft erzieht. Ich will es verdeutlichen: Erziehung in der Familie. Ich glaube, in der Familie – ich weiss nicht, ob man das sagen kann – dass in der Familie erzogen wird. Ich bin so rückständig zu glauben, dass d i e Familie erzieht, wenn sie es ist, genau so wie die wirkliche Person durch ihr Dasein erzieht, – so erzieht die wirkliche Familie durch ihr Dasein, [Leerstelle im Text] nämlich die notwendig kleinste Gemeinschaftszelle, unentbehrlich für Bildung von Gemeinschaft. Niemals wird sich eine wirkliche Gemeinschaft, die das ganze Leben umfasst, aus Individuen aufbauen, sondern durch Gemeinschaftszellen usw., durch welche Krisen sie immer hindurchgehen, und ich unterschätze die Krisen der Familie durchaus nicht. Ich halte sie für

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notwendig, wie immer es sich mit diesen Krisen verhält. Diese kleinste Zelle ist notwendig zum Bau der Gemeinschaft und diese Zelle erzieht zur Gemeinschaft, wenn sie Gemeinschaft ist. Also nicht durch eine bewusste [Leerstelle im Text] Gemeinschaftspropaganda, sondern dadurch, dass Gemeinschaft am besten ohne das Wort Gemeinschaft [Leerstelle im Text] Ich liebe die Begriffe überhaupt nicht sehr. Durch das einfache gemeinschaftliche Leben werden die Menschen, die da hineingeboren werden, die da drin wachsen, zur Gemeinschaft erzogen. Von da aus können wir uns die Frage vorlegen, wie das ist mit der Schule, wenn es so ist, dass zur Gemeinschaft nur durch Gemeinschaft erzogen werden kann. Welche Möglichkeiten hat die Schule zu einer solchen Erziehung? Man wird auf den ersten Blick sagen: Die grössten Möglichkeiten haben offenbar die sog. freien Schulen. Die Schulgemeinden stellen doch ihrem Wesen nach Gemeinschaften dar. Das sieht in der Tat grundsätzlich so aus, dennoch ist [Leerstelle im Text] Wenn ich vor 10 Jahren über diesen Gegenstand zu sprechen gehabt hätte [Leerstelle im Text] Dennoch gibt es, und zwar eine doppelte Problematik: Ich habe nämlich die Erfahrung gemacht, die Beobachtung gemacht 1. dass es in den freien Schulen – in der Aussprache können wir darauf eingehen – merkwürdig wenig – vielleicht verallgemeinere ich – merkwürdig wenig Gemeinschaft zwischen den Lehrern gibt, zwischen der Leitung. Das ist doch das allerwichtigste. Wenn ich z. B. in einer freien Schule sehe, dass zwischen Leitung und Lehrerschaft keine Gemeinschaft da ist, dass die Lehrerschaft aus einsamen Menschen besteht, – wie soll sich Gemeinschaft zwischen Lehrer und Schüler, innere Schülergemeinschaft bilden, – Gemeinschaftssinn, Gemeinschaftsgehalt da unter diesen Menschen wachsen und in das Leben, in das sie eintreten werden, hinübergreifen? Diese Problematik, das ist etwas, was hier jedenfalls neben die grossen Chancen der freien Schule zu stellen ist. Es gibt da einen Typus Schule, der für mein Gefühl immer noch besonders günstige Aussichten hat. – Gemeinschaftgehalt aufzubauen – ist die Dorfschule – von dieser überhaupt viel [Leerstelle im Text] Ich will damit die tatsächlich vorhandene Dorfschule nicht überschätzen, aber ich habe eine Reihe von sehr erfreulichen kennen gelernt [Leerstelle im Text] Trotz aller Entartung des Bauerntums gibt es doch noch in diesem entarteten Bauerntum natürlichen, unzerstörten, vorläufig unstörbaren Gemeinschaftsgehalt, und zwar – ich sage es ganz heraus – primitive Gemeinschaft, Reste primitiver Gemeinschaft, – durchaus nicht Gemeinschaft in dem Sinn, wie ich es vorausgeschickt habe, die Dynamik, sondern es sind Re-

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ste von der primitiven Gemeinschaft der Gemeinsamkeit, Reste der alten Dorfgemeinschaft, die es heute noch in dem Bauerntum, unter den selben Bauern, die das Zweikindersystem haben, gibt, Reste wirklichen Gemeinschaftsgehalts. Es sind heute schon Versuche gemacht worden [Leerstelle im Text] Einzelne haben Dörfer, in denen sie leben, beschrieben, dass es solche noch gibt jetzt in dieser verrotteten Zeit. Ich sage n o c h ! Trotzdem aber, dass dies ein N o c h ist – Gemeinschaft ist Gemeinschaft, d. h. also: Dieses Element, das da ist, kann das Neue, das Werdende speisen, und ich glaube überhaupt, dass wir ohne das nicht auskommen. Es ist nicht so, dass hier Romantik und hier modern, hier das Alte und hier das Neue ist. Es ist so, dass durch diese Auflösung, die sich bereitet, hindurchgewandert werden muss, sodass es diese organische Substanz noch gibt, dass man hindurchdringt, dass man durch den Abgrund dieser Auflösung hindurchgeht, die organische Substanz hinübertragend, in das, was [Leerstelle im Text] und dazu gehört auch das, was noch am wirklichen Bauerntum da ist. Darum, es gibt für den Dorfschullehrer Konkretes, an das er anknüpfen kann. Wenn er es nicht tut, dann liegt es an ihm. Aber es ist da in der Schwester-Situation (?), die Stadtschule. Die städtischen Schulen, die Volks- und Mittelschule, hat weder das, was die freie Schule hat, dass sie eine Gemeinschaft, wenn auch zum Teil auch eine [Leerstelle im Text] Gemeinschaft, immerhin die Möglichkeit einer Gemeinschaft, noch die Anknüpfungsmöglichkeit an alte Gemeinschaftsüberlieferung wie die Dorfschule. Dennoch glaube ich, dass auch in der städtischen Schule Gemeinschaftserziehung in diesem Sinn möglich ist, – freilich nur durch etwas, was im heutigen Leben möglich ist, nur durch persönlichen Einsatz, in der sich der heutige Mensch in seinem Beruf im allgemeinen nicht persönlich einzusetzen pflegt. Darüber will ich gern noch in der Aussprache reden. Mir scheint, dass das in der Sch.Situation nur zu überwinden ist durch persönlichen Einsatz des Lehrers. Die Lehrer, die heute trotz aller Schwierigkeiten, den persönlichen Einsatz wagen und zustande bringen, Gemeinschaftserziehung mit ihrem Leben zu unternehmen, die, glaube ich, die werden in einer Zeit, die wagen wird, auf das Experiment, von dem ich heute sprach, – zurückblicken – als die Pioniere angesehen werden. Und nun, was ist das eigentlich, dass Erziehung zur Gemeinschaft durch Gemeinschaftlichkeit geschieht? Was ist das nun eigentlich: Erziehung zur Gemeinschaft? Ganz personhaft gefasst: Was wird bewirkt? Worum geht es? Ich meine die einzelnen Zöglinge, die einzelnen erzogenen Menschen. Was heisst das: Sie werden zur Gemeinschaft? Was wird in ihnen erzogen? Was wird in ihnen bewirkt und welche Aenderung in

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der seelischen Struktur und in der Struktur der Beziehungen zur Umwelt? … Ich glaube, Erziehung zur Gemeinschaft ist Beziehung, Befähigung. Ich verstehe unter Beziehung direkte zweckfreie Beziehung, also Befähigung zu solcher Beziehung zu den Menschen, mit denen man lebt. Das ist das, wozu die Gemeinschaftserziehung erzieht. Also, sie führt über die indirekten Beziehungen von Mensch zu Mensch direkt, über die verzweckten zu zweckfreien Beziehungen, denn alle diese falschen Beziehungen, die ich eben angedeutet habe, die gibt es nicht bloss bei den Erwachsenen, sondern ebenso bei den Kindern. Beobachten Sie die heutigen Kinder. Obwohl all dieses Getriebe nicht da ist, sondern die Kinder miteinander spielen und scheinbar keine Zwecke haben und diese Sachlichkeit [Leerstelle im Text] und alles, was es in diesem grossen Getriebe gibt, gibt es auch unter den Kindern [Leerstelle im Text] also über dieses zu der echten Art [Leerstelle im Text] Und ich möchte das noch näher bezeichnen. Was heisst das? Was tut not, damit ein Mensch zum andern Menschen in solche Beziehung tritt? Was tut vor allem not? Ich weiss nicht, ob es mir gelingt, Ihnen allen, das sinnlich klar zu machen, was ich meine. Ich kann es nicht mit einem anderen Wort bezeichnen als mit dem ganz simplen Wort: Hinwendung. Das, was vor allem not tut, ist »Hinwendung«, – also dass ein Mensch zu einem anderen Menschen in wirkliche echte Beziehung tritt. Dazu ist vor allem notwendig, dass er sich ihm wirklich zuwendet, so wie er ist, d. h. dass er mit ihm nicht verkehrt so [Leerstelle im Text], dass er eigentlich so herumgeht [Leerstelle im Text] oder so herum [Leerstelle im Text], sondern dass er wirklich mit seiner Fläche sich der Lebensfläche dieses anderen Wesens zukehrt. Wesen zu Wesen wendet. Diese Zuwendung – ich habe es mal bezeichnet – dieses Du-sagen, das ist die letzte Voraussetzung. Ein Mensch kann einen anderen Menschen betrachten als eine Summe von Eigenschaften, die man kennen kann, die man benützen kann, oder aber, er kann den anderen kennen [Leerstelle im Text] erkennen, erfahren in jenem eigentümlichen Sinn, wie etwa sogar Liebesbeziehung als Erkenntnis bezeichnet wird, also in der Wesensberührung [Leerstelle im Text] den andern erfahren als nicht eine Summe von Eigenschaften, als diesen bestimmt benamten Menschen, der einem gegenüber lebt. Wenn man alle diese Summen von Eigenschaften nimmt, so hat man doch nichts von ihm, nicht diese Stimme, nicht diese Person. Aber ich meine die Person die, der wirklichen Person, unauflösbar, einmalige Person, die diesen Namen hat, gegenübersteht, sie mit dem Namen ansprechen, anrufen, Du zu ihr sagen und sie mit dem Namen nennen, den sie hat [Leerstelle im Text] also sich in dieser Einzigkeit dieser Einzigkeit zu-

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wenden. Ich sage das begrifflich deshalb, weil es etwas Verschüttetes, Verschollenes ist. Aber was ich meine, ist sehr unbegrifflich, ganz reales, – es ist das, worauf das Leben von Menschen miteinander, sofern es überhaupt ein wirkliches Miteinander gründet [Leerstelle im Text] alles andere ist nur eine Ansammlung, eine Zusammenkoppelung von Menschen. Ich will nicht von den höheren Graden sprechen, dass man nicht bloss von mir, sondern von dem anderen Menschen aus erfährt, und erst recht nicht von dem höchsten Grad, dass man die gemeinsame Situation, die man mit dem andern Menschen hat … auch zugleich von dem anderen Menschen aus erfährt – sondern ich will das jetzt bezeichnen, was unumgängliche Voraussetzung für alles Gemeinschaftswirken ist. Dieses Hinwenden von Mensch zu Mensch ist nicht etwas, was einer Anstrengung bedarf, Reflexion [Leerstelle im Text] so steht Mensch zu Mensch, etwas ganz einfaches ist es – es ist nur verschüttet und verdorben, es ist nicht etwas, was wir uns erst zu machen, zu erobern brauchen, sondern wir brauchen es nur wiederzufinden unter den schweren harten Bedingungen dieses heutigen Lebens, das so wenig Pause, so wenig Atem lässt, so wenig Selbstbesinnung, so wenig Zeit lässt, sich selbst oder gar dem andern gegenüberzutreten. Es wird schon, wenn Menschen so zueinandertreten, wird es zu Zerreissungen des Getriebes führen. Es ist schon [Leerstelle im Text] aber man braucht zunächst nur das positiv Reale, Einfache zu wollen und es gewähren zu lassen. Was ich also nicht meine, um es abzugrenzen, ist etwa der Gegensatz Egoismus usw. Das ist künstliches. Es gibt keinen Egoisten. Das was unsere Zeit beschwert, was unserer Zeit hinderlich ist, ist nicht der Egoismus, sondern der Egotismus (?), nicht dass der Mensch allerlei Dinge für sich haben will, dass das, was er erlebt, auf sich bezieht [Leerstelle im Text] dass er diesen anderen Menschen nicht als das gegenüber [Leerstelle im Text] erfährt, sondern als sein eigenes Erlebnis, die Verselbstung, nicht die Selbstsucht, die Verseelung der Welt, dass man nicht die Welt fasst als die Wirklichkeit, die einem gegenüber ist, die anders ist als [Leerstelle im Text] und sie erfährt als etwas, was ich nicht bin, was mir gegenüber lebt, mich anlebt, sondern man bezieht alles dies in die Seele ein. Das sind Prozesse in der eigenen Seele und unsere Zeit hat es sogar zu stande gebracht, auch den Gott zu einem Erlebnis zu machen. Ich sehe in dieser Verseelung etwas Negatives, wie in der ausschliesslichen Versachlichung [Leerstelle im Text] Es gibt Menschen, die sich mit Sachen befassen – sie rahmen die Sachen ab und heimsen die Erlebnisse ein. Das sind all diese verschiedenartigen Entfernungen von dem Einfachen, Natürlichen der Welt. Das ist das [Leerstelle im Text] Im Grund genommen haben alle diese Dinge, diese Hindernisse etwas merkwürdiges, etwas

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abstraktes, weil man der ganzen Konkretheit des gelebten, die immer das andere bedeutet, etwas abbricht, abbiegt, indem man diese Anderheit nicht wirklich in ihrer ganzen Konkretheit [Leerstelle im Text] jetzt erfahre ich eine, beziehe ich es gleich ein, subsumiere ich diesen Menschen unter irgend einen allgemeinen Begriff oder geniesse mich selbst an diesem Menschen, – selbst das zu erfahren, was ich immer wieder zu erfahren habe, immer wieder das lebendige [Leerstelle im Text] Das ist das, was ich zunächst an allgemeinen Grundsätzen sagen wollte. Was ich weiter darüber hinaussage, ist nur andeutend. Wir können die Punkte dann noch miteinander besprechen. Ich habe einen angedeutet, was ich unter Erziehung zur Gemeinschaft verstehe und auch, dass dies nur durch Gemeinschaftlichkeit geschehen kann. Ich will sie Ihnen gleichsam wie Kapitelüberschriften anführen, welche Arten von Gemeinschaftlichkeit, die in solcher Weise wirken kann, in der Schule selbst bestehen – nur als Kapitelüberschriften: Ich habe es schon gesagt: Eine Gemeinschaftlichkeit, die man freilich zumeist vermisst, ist ein Zusammenhang der Lehrerschaft selbst. Gemeinschaft zwischen Lehrern, zwischen den Menschen, die dieses schwerste und ernsteste Werk unserer Zeit zu tun haben. Wirkliche Verbundenheit von Menschen. Ich gebe zu, dass es nicht die Gesamtheit der Lehrerschaft sein kann, der wirklichen Lehrer, die den Einsatz wagen, die also miteinander etwas zu tun haben … Zum zweiten: Gemeinschaftlichkeit zwischen Lehrer und Schüler d. h. dass der Lehrer zum Schüler selbst in der Gemeinschaftlichkeit steht, zu der er ihn erziehen will. Anders kann er nicht, wenn der Schüler nicht etwa in den Momenten – nicht in den lauten, sondern in den stillen – irgend einmal wo er den Lehrer als Lehrer empfindet, – wenn der Schüler nicht immer wieder wahrnimmt: »Ja, das ist es«. Dann kann dies eben nicht werden. Es wächst nur aus eben diesem Grund heraus. Wenn der Lehrer diese Gemeinschaftlichkeit natürlich, naturhaft, wesensmässig zum Schüler hat und gibt, dann wächst es, dann überträgt es sich. Ein weiteres wichtiges Erfordernis, was schon in die Organisation der Schule eingreift – ist die Wechselwirkung zwischen den Altersklassen. Diese sind zu abgesondert. Gewisse freie Schulen haben versucht, dem abzuhelfen, indem sie einen Gesamtunterricht einführten. Der ist nur ein Anfang. Ich habe manchen solchen Stunden beigewohnt. Sie haben noch etwas Beiläufiges, Unterrichts-mässiges. Eine Möglichkeit müsste gefunden werden, einen Kontakt zwischen die älteren Klassen zu bekommen, dass die [Leerstelle im Text] wirklich etwas zu schaffen haben, Lebensinteressen austauschen. Ich meine nun nicht, dass man [Leerstelle

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im Text] Aber das müsste eine Sache der Lehrer, der Erzieher, der Menschen, die an der Schule arbeiten, sein. Eine weitere Frage ist: Wirkliche Wechselbeziehung der Geschlechter. Es ist eine Wechselbeziehung [Leerstelle im Text] von den meisten Leuten, die sich damit befassen in einer Weise d. h. als die Mädchen Buben wären. Es kommt darauf an, dass die beiden Geschlechter miteinander erzogen werden d. h. also, dass nicht ein drittes Geschlecht entsteht für die Dauer der Schulzeit, sondern dass es eine wirkliche Wechselbeziehung zwischen den verschiedenartig heranwachsenden Menschen, gerade von ihrer verschiednen Artung aus, gibt, genau so, wie es heute ungeheuer wichtig wäre, dass sich die 50 jährigen mit den 20 jährigen unterhalten, aber nicht, dass sie sich hinüberwenden zu den 20jährigen, sondern unbefangen, rückhaltslos mit den anderen verkehren und sich ihnen erschliessen. Und ebenso meine ich, müssten diese verschieden gearteten Menschen in eine Beziehung [Leerstelle im Text] sondern einer wirklichen Gemeinschaft, so die Schule im Verhältnis zur Gesellschaft [Leerstelle im Text] Diese Problematik, die sich hier auftut, ist mir besonders deutlich geworden an den freien Schulen. Sie sind merkwürdige Oasen zumeist, wirkliche Inseln, etwas Ausgespartes. Aus dieser Höhe der modernen Gesellschaft ist das kleine Paradieschen ausgespart. Ich kenne freie Schulen, deren Schüler nicht wissen, welche Industrien in der nächsten Umgebung sind, wie die Bauern im nächsten Dorf gar keine Ahnung haben [Leerstelle im Text] also natürlicherweise als Fabeltiere angesehen werden. Dieses absurde Verhältnis zur Umwelt, das passt zu diesem Oasencharakter dieses kleinen Paradieses, und wenn diese Menschen heraustreten, kommen sie in eine Welt, für die sie nicht bereitet worden sind, entweder gehen sie zu Grunde oder fassen sich in einer sonderbaren Weise an, – machen die Gesetze der heutigen Wirtschaft mit, wie man sie eben mitmachen kann. Aber sie behalten sich eine Kapelle in ihrem Haus, behalten sich Weihestunden, in denen man an das verlorene Paradies zurückdenkt. Also ein widergöttliches Verhalten, ein Auf-sich-nehmen des Widersinns und ein Kult für ein sinnreiches [Leerstelle im Text] das mit diesem Leben gar keinen Zusammenhang hat. Eine Schule muss einen Zusammenhang mit der Gesellschaft haben, so wie sie ist und sie hat den Schüler zu bereiten, diese Gesellschaft zu kennen und in sie einzutreten, als etwas, was mit Gemeinschaftsgehalt zu durchdringen gilt d. h. dass die verschiednen Institutionen der Gesellschaft erkannt werden, so wie sie geschaffen sind und zugleich in ihrer Aufnahmefähigkeit d. h. dass man jedes Stück dieser Gesellschaft als etwas, was Gemein-

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schafts-arm und Gemeinschafts-bedürftig und fähig ist, mit Gemeinschaft gefüllt zu werden. Und das ist möglich. Und schliesslich, um vielleicht das Allerschwerste noch anzuführen: Das Verhältnis der Schule zum Haus. Die freie Schule hat es in der Hinsicht scheinbar leichter und besser, denn sie kennt das Haus nicht. Aber Sie wissen ja, dass die freien Schulen zum grossen Teil mit zerstörten Häusern zusammenhängen … das ist nur eine scheinbare Art … denn die Einwirkung dieser Häuser zu den Kindern in den Ferien ist von der freien Schule aus weniger erfassbar als die Einwirkung des Hauses auf die Kinder, auf die freie Stunde des Tages von der städtischen Schule. Die städtische Schule hat eine Institution, die heute freilich noch lange nicht lebendig geworden ist und hie und da ein gewisses Leben hat, aber eine ungeheure Zukunftskraft, in den Elternräten. Es gibt einzelne Orte, wo es wirkliche Elternräte gibt d. h., die eine Art von Gemeinschaft sind, wo nämlich die Eltern sich wirklich miteinander unterhalten, nicht jede Mutter von ihrem Kind redet, sondern auch um die andern sich kümmert, und wo sogar eine Gemeinsamkeit zwischen den Eltern entstanden ist, die nun den Lehrern gegenübertritt und mit dem Lehrer über die gemeinsamen Dinge verhandelt. Ich möchte etwas erwähnen: Diese Elternräte sind in proletarischen Kreisen häufiger als in bürgerlichen. Das Proletariat hat diese Fähigkeit zum Zusammenhalten, der Zusammenlegung ihrer Interessen, gemeinsame Behandlung. In bürgerlichen Kreisen ist das sehr viel seltener. Ich meine nun: Die Schule hätte die Aufgabe – oder die Lehrer hätten die Aufgabe – die Sache der Gemeinschaft in die Häuser zu tragen, die Häuser heranzuziehen für das Wirken, für die Erziehungsarbeit an der Gemeinschaft. Das ist sehr schwer, aber es ist nicht unmöglich. Ich verkenne nicht einen Augenblick, dem Lehrer mit seinen Pflichten, so wie sie sind, das alles auch noch zuzumuten. Ich weiss, wie schwer er es hat, oft nur das rein äusserlich Auferlegte zu bewältigen und ich weiss – ich rede nicht leichten Herzens – und dennoch: Ich weiss keinen andern Weg. Ich weiss niemand, von dem dieses Werk ausgehen könnte. Auch das Hinaustragen der Aufgabe in die Häuser der Familien, und ich möcht sagen: das Mitaufbauen der Familie, denn diese Elternräte werden auf die Familie zurückwirken. Es könnte noch gefragt werden, wie es mit dem Unterricht ist. Ich kann es nur ganz kurz streifen. Es gibt Unterrichtsgebiete, von denen [Leerstelle im Text] aber Bildung des Wissens um die Gemeinschaft möglich ist. Wie etwa die Geschichte nicht getrieben wird als Geschichte von Staaten: welcher Staat gegen welchen Staat, – als ob die Geschichte eine Geschichte des Erfolges wäre, als ob sozusagen Gott wirklich der

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[Leerstelle im Text] Repräsentant des Erfolges wäre, sondern wenn man Geschichte lehren würde von der Frage aus: Wie viel Gemeinschaft je und je zwischen Menschen realisiert war, wie, in welcher Weise, unter welchen Schwierigkeiten, unter welchen Widerständen, diese Kämpfe, diese unterirdischen Kämpfe – die unendlich wichtiger sind als alle die überirdischen Kämpfe, von denen so viel geredet wird – um ein Menschheitswerden, dass die Menschheit zu einer lebendigen Gemeinschaft werde. Diese Kämpfe der Kraft, die diese meinten, gegen die Kraft, die ihnen gegenüberstand und sie hemmten –. Ich glaube, dass Geschichte so unterrichtet werden kann. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: die Sprachen. Diese werden heute etwa so wie Schafhürden – hier eine Hürde [Leerstelle im Text] Ich habe sehr selten Sprachunterricht kennen gelernt, der Sprachunterricht war, also wo die Schüler etwas erfuhren von dem Leben der Sprache d. h. von dem Sprechen zwischen Menschen, von dem, was dieses Gebilde [Leerstelle im Text] Grammatik [Leerstelle im Text] dass dieses wirkliches Sprechen zwischen Menschen ist, eine besondere Art des Sprechens, besondere Beziehungen, die darin zum Ausdruck kommen, die dadurch beeinflusst werden: Wie wird menschliche Beziehung durchs Sprechen beeinflusst? Wie hängt die Geschichte der menschlichen Beziehungen mit den Geschichten einer Sprache zusammen? Jeder Bedeutungswandel eines Worts hat aufzeigbare Wichtigkeit für die Geschichte der menschlichen Beziehung. Ich sage: Die Sprache als Gesprochenheit, als Wirklichkeit, die geschieht zu nehmen, dieses ganze Herbarium der lehrbaren Sprache aufzuschlagen und bei jeder eingepressten Pflanze [Leerstelle im Text] hinzuführen, wo diese Pflanze lebt, wächst, – zu zeigen die Gesprochenheit dieses Worts und die Geschichte dieser Gesprochenheit [Leerstelle im Text] Es ist wichtiger, 20 Worte solcher [Leerstelle im Text] zu lernen, als 500 [Leerstelle im Text] Nun freilich, wie wichtig auch solcher Unterricht ist [Leerstelle im Text] wichtiger als Gemeinschaftsinhalt des Unterrichts ist der Charakter des Unterrichts, dass der Lehrer Gemeinschaft [Leerstelle im Text] in der Gemeinschaftsweise zu unterrichten, mit Gemeinschaftlichkeit zu unterrichten, – also vor allem, dass er das tut, was allerdings das Alpha aller Erziehung ist, das erzieherische Mittel, das er sich [Leerstelle im Text] auferlegt, sondern dass er aufschliesst. Keine Gemeinschaft kann ohne dies bestehen. Alle politischen Verbände sind dadurch Gemeinschafts-widrig, dass jeder glaubt, nur dadurch in eine Gemeinsamkeit mit sich ziehen zu können, dass er ihn mit Gewalt oder sonstigen Mitteln der Ueberredung sich aufzuerlegen sucht, während der gläubige

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Mensch, der Vertrauen hat, dass auf dem Wesensgrund die Menschen zueinander gehören, die Menschen miteinander eines Geschlechtes sind, – seines Geschlechtes, sagt ein [Leerstelle im Text] Dichter, des göttlichen Geschlechtes, – dass die Menschen im Grund des Wesens miteinander verbunden sind, und dass es nur darauf ankommt, den Menschen in Wahrheit aufzufassen, in Wahrheit wachsen zu lassen, in Wahrheit zu erziehen um diese Verbundenheit offenbar und wirkend zu machen. Freilich, der Lehrer muss dem Schüler in Wirklichkeit begegnen, muss hergeben, was er hat, wie man dem andern im Du gegenübertritt, sich bereitstellt, sich darbietet, aber nicht aufzwingt, also zugleich aufschliesst und entgegentritt, und selbst ihm sich darbietend entgegentritt. Solche Begegnung ist das Menschenleben. Und nun noch zum Letzten: Die verschiedenen Arten des Zusammenseins der Schüler: Spiel, Musik, Religion. Es sind verschiedene Arten des Zusammenseins, die nicht zweckhaft sind, sondern aus der zweckhaften Spannung ihrem Wesen nach [Leerstelle im Text] Der Unterricht kann niemals ganz zweckfrei werden; denn die Menschen sind hier zu diesem Zweck zusammengekommen. Aber Spiel, das ist etwas anderes, das ist Entspannung. Gemeinsamer Gesang auch. Aber ich glaube, dass dies sehr wichtige Gemeinschaftlichkeiten der Schüler sind. Ich will von der religiösen nicht sprechen; die gibt es kaum in der Wirklichkeit. Nehmen wir diese Beispiele – so wichtig sie sind, so bergen sie doch eine Gefahr in sich, auf die man in diesem Zusammenhang noch hinweisen soll. Es gibt eine Verführung, eine Gefahr, die den Menschen von der Gemeinschaft als Aufgabe eher entfernt. Das ist das Gefühl des Gemeinschafthabens. Der Mensch ist in manchen Situationen eingetaucht in einen Zusammenhang von Menschen, von dem er gleichsam getragen wird. Das allerdeutlichste Beispiel ist die Masse in den grossen Momenten in einer revolutionären Stunde. Dieses ungeheure Getragen-werden eines Einzelnen von der Bewegung der Masse – das ist ja nun ein ungeheures Gefühl des Gemeinschaft-habens, des in der Gemeinschaft-seins. Zugleich aber ist hier, wenn wir dies herübernehmen in den Alltag, eine ungeheure Versuchung von der Dynamik der Gemeinschaft, von dem in die Gemeinschaft eintreten [Leerstelle im Text] Das wovon ich spreche, diese Vergemeinschaftung, dass der Mensch je und je zu dem anderen hintritt und dass nun diese Beziehung weiter um sich greift, und dass so sich jener Zustand herausbildet, von dem ich sprach, in dem irgend welche Menschen in wahrhafte Beziehungen zueinander treten können [Leerstelle im Text] und es gibt kein Gebiet des heutigen Lebens [Leerstelle im Text] aber dieses Gefühl im Spiel oder in der Musik, Teil einer Vielheit zu sein, die einen einfach trägt, dass man dem andern sich her-

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zugeben erlaubt, – das ist eine ästhetische Versuchung. Z. B. wenn Kinder untereinander Musik treiben oder wenn sich in einer Schule ein Quartett gebildet hat, das nun miteinander übt, so ist es ungeheuer wichtig, dass jedes der Mitglieder den Beitrag der andern Mitglieder kennen lernt d. h. dass es merkt, was der andere zu tun hat, was er selbst nicht tut, welcher Art das ist, was der andere tut, – dass es den anderen anschaut, in diesem seinem Beitragen wahrnimmt, dass er in dieser Gemeinschaft Beziehung stiftet, also soweit der Lehrer auf so etwas einwirken kann und darf, in diese ästhetische Organisation einführen. Er kann die direkte Beziehung, insofern sie in dieser Situation rechtmässig möglich ist d. h. von dem Gemeinschaft-haben hinführen auf die Vergemeinschaftung, auf das Gemeinschaft-schliessen, auf das in Gemeinschafttreten. Ich habe ein grosses Gebiet unberührt gelassen, weil es zu gross ist, um hier einbezogen werden zu können. Das ist das Problem der Verwirklichung der Gemeinschaft durch die Menschen, die aus der Schule treten. Wie würden Menschen, die so erzogen sind, in das Leben eintreten? Was würden sie an Gemeinschaftsgehalt in die Bezirke des heutigen Lebens legen? auf welche Weise, welche Konflikte, welche Kämpfe? Was würde zwischen einer so herangewachsenen Generation und der heutigen Welt geschehen? Es würde etwas geschehen, etwas ganz anderes, etwas der Art nach anderes als Jugendbewegung [Leerstelle im Text] Die Menschen, die aus der Jugendbewegung in die Welt eingetreten sind, sind versunken. Ich kann den einen oder anderen herausfischen. Ich meine, ganz anders würde die Begegnung einer so erzogenen Generation mit der heutigen Welt – es würde nichts heroisches zustandekommen, – nicht mit grossen Lettern zu schreibendes. Es würde das Angesicht der Wirklichkeit haben, das Angesicht des Alltags, der menschlichen Realisation, am Ende so viel eben im Vermögen dieses Augenblicks dieser Menschenschar steht, aber einer Menschenschar, die sich einsetzt, die sich einsetzt da in dieser wirklichen Situation, in die sie aus der Schule eingetreten sind und für die sie von der Schule bereitet worden sind.

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Als Gustav Landauer am 6. Februar 1919 in München Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die Gedächtnisrede hielt, sprach er zunächst von der Sozialdemokratie. »Hat sie nicht einen Januskopf?« fragte er) 1 . »Ist es nicht so, dass jeder kühne Mann des Geistes zu ihr hingezogen wird als der Vertreterin des Sozialismus, der Gerechtigkeit – von ihr abgestossen wird als einer Kirche der Unfreiheit, der Bureaukratie, des militärischen Geistes … ?« Aber dieser Begriff des militärischen Geistes brachte ihn auf einen andern Gedankengang. »Oh«, rief er, »es gibt einen kriegerischen Geist, der noch lebendig ist, der auch uns das Herz bewegen kann … Hören Sie!« Und er las ein Gedicht des ungarischen Lyrikers Petöfi (gefallen 31. Juli 1849) in der (zuerst 1899 veröffentlichten) Uebertragung von Hedwig Lachmann – Gustav Landauers Frau, die im Februar 1918 gestorben war. Es beginnt: Mich quält ein leises Angstgefühl: Ich möchte nicht sterben auf weichem Pfühl – Will mich nicht qualvoll in Kissen wälzen, Will nicht langsam verwelken, zerschmelzen, Wie die Kerze, die man im Zimmer vergisst, Wie die Blume, die ein Wurm zerfrisst.

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Und dann heisst es darin: Wenn einst ein freiheitstrunkener Geist Die Sklavenvölker dem Schlummer entreisst, Sie sich den Schlaf aus den Augen reiben Und »Weltfreiheit!« auf die Fahne schreiben Und auf gemeinsamem Kampfesplane Mit flammendem Antlitz und blutroter Fahne Dem Tyrannen entgegentreten Und die schmetternden Kriegsdrommeten Weithin erschallen – Dann will ich fallen!

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»Er starb,« sprach Landauer weiter, »wie er sich’s gewünscht hatte, er fiel in der Freiheitsschlacht – sein Leichnam ist nicht gefunden worden. So 1.

Ich zitiere nach Landauers handschriftlichen Notizen zu der Rede.

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starb auch Rosa Luxemburg, so auch Liebknecht … Und doch – wie anders war diese Schlacht! Im Strassenkrieg der antirevolutionären Soldateska, geführt von Berufsunteroffizieren und Offizieren des Generalstabs, sind Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gefangen genommen, als Gefangene sind sie von einer ehrlosen Kriegführung feig, von einer Ueberzahl – die Einzelnen, die Wehrlosen, ermordet worden.« Drei Monate später, am 2. Mai, ist Gustav Landauer von ebender »antirevolutionären Soldateska« ermordet worden.

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* Aber was ist das, Soldateska, und was ist das, Revolution? Eine Soldateska besteht aus Menschen, die man Soldaten nennt, und eine Revolution wird von Menschen gemacht, die sich Revolutionäre nennen. Das, wodurch diese wie jene verbunden werden, ist die aktuelle Situation. Die aktuelle Situation des Soldaten ist, dass er das ihm als »feindlich« Bezeichnete – gleichviel ob der »Feind« ein »äusserer« oder ein »innerer« ist – zu »bekämpfen«, also, wo das Menschenwesen sind, diese mit allen angeordneten Mitteln, von der Freiheitsberaubung bis zur Vernichtung, »kampfunfähig« zu machen hat, so gut er vermag und soweit es ihm jeweils befohlen wird. Dieser Situation kann eine Gesinnung entsprechen: der Glaube, dass das als feindlich Bezeichnete wirklich feindlich ist, nicht in dem Sinn bloss, dass es einem selbst hier toddrohend gegenübersteht, sondern feindlich seinem Wesen, seinem Lebensgrund, seinem höchsten Wert, und dass, wenn es nicht vernichtet wird, es diesen höchsten Wert vernichten würde. An der Stelle einer solchen Gläubigkeit gibt es aber auch Zweifel, Unsicherheit, Bedenken, bis zur entgegengesetzten Ueberzeugung: dass das Gegenüberstehende gar nicht das Feindliche ist. Und diese Ueberzeugung kann auch, allmählich oder plötzlich, unter jener Gläubigkeit hervorbrechen. Als »Müssende« sind alle diese Soldaten immer noch verbunden, aber als »Wollende« nicht; freilich, die Situation selber, die wollen sie wohl alle nicht, aber ihre eigene Haltung in dieser Situation – wie sehr der Einzelne die eigene Haltung, die »gemusste«, will oder nicht, darin liegt seine eigentliche Personhaftigkeit innerhalb der gemeinsamen Lage. Und gar erst, wenn die Frage wach wird, was das ist, »müssen«! Mitten durch die »Soldateska«, mitten durch den Soldaten geht die wahre Front. Die Situation des Revolutionärs gleicht der des Soldaten darin, dass es auch hier das Feindliche und die Bekämpfung gibt. Als den Unterschied möchte man zunächst dies ansprechen, dass der Revolutionär sich seinen Feind selbst wähle; aber wie wenige »erkennen« den wirklich, wie vielen

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ist er auch hier, wissentlich oder unwissentlich, von Rednern und Büchern, von Kindheits- und Jugenderlebnissen, von Entbehrungen und Enttäuschungen »bezeichnet« worden! Freilich gibt es hier jene Spannung zwischen Situation und Gesinnung, Müssen und Wollen nicht. Aber noch wichtiger ist, dass für den Revolutionär der Kampf nicht die Situation selber, sondern nur ihr Begleitmotiv ist; um was es hier geht, ist nicht wie dort der Kampf, sondern das revolvere, der Umschwung, und der Kampf bedeutet nur die Beseitigung der Hindernisse: damit die gewünschten neuen oder veränderten Einrichtungen kommen können (welche doch auch die im Sinn haben, die nichts als die »fruchtbare Freiheit« anstreben), müssen die Machthaber überwunden werden, die die alten Einrichtungen verteidigen. Das bedeutet, dass der Revolutionär situationsmässig in der Spannung zwischen Ziel und Weg und in ihrer Verantwortung steht, die der Soldat nicht kennt. Sein personhafter Spruch ist nicht: »Ich muss hier Gewalt üben, aber ich will das nicht«, sondern: »Ich habe es auf mich genommen, hier so viel Gewalt zu üben als not tut, damit der Umschwung sich vollziehe; aber wehe mir und ihm, wenn mehr Gewalt geübt wird als not tut!« Die personhafte Verantwortung des Soldaten ist eine prinzipielle; er kann den Widerspruch folgerichtig in seiner Seele austragen und etwa zur Entscheidung gelangen, sich lieber töten zu lassen als zu töten; auch wenn er diese praktische Folgerung nicht zieht, ist ihm die grundsätzliche Formulierung freigegeben. Aber die personhafte Verantwortung des Revolutionärs ist eine demarkationsmässige ihrem Wesen nach; die Parole seines Geistes ist »Bis hierher und nicht weiter«, und für das »Bis hierher« gibt es keine feste Regel, der Augenblick zeigt es mit immer neuem Gesicht. Der menschliche Revolutionär lebt auf der Schneide des Messers. Und die Frage, die ihn bedrängt, ist ja nicht bloss die sittliche oder religiöse nach dem Tötendürfen; es ist nichts damit getan, dass er, wie mir zuweilen gesagt worden ist, »seine Seele dem Teufel verkauft,« um der Revolution zum Sieg zu verhelfen. Vielmehr ist hier die situationsmässige Verstrickung eben von der Spannung zwischen Zweck und Mittel bestimmt. Ich kann mir nichts Reales darunter vorstellen, dass der Zweck das Mittel »heilige«, aber ich meine etwas äusserst Reales, wenn ich sage, dass das Mittel den Zweck – nämlich dessen Realisierung! – entheiligt, nein: entwest. Das Verwirklichte ist dem als Ziel Gesetzten umso unähnlicher, je ungemässer dem der Weg war, auf dem es verwirklicht worden ist. Es gibt eine »Sicherung« der Revolution, die ihr das Herzblut entzieht. Die Verantwortung, die sich aus diesen Voraussetzungen ergibt, muss am tiefsten im Führer reichen, der die Parole des Geistes zur Parole des Geschehens zu machen berufen ist. Aber kein Geführter kann sie anders als durch

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Flucht vor der Selbstbesinnung, das heisst: durch Absterben des Geistes in ihm vernachlässigen. Die wahre Front geht auch hier mitten durch. * Die Erinnerung an den Tod Gustav Landauers bringt immer wieder zwei andere Erinnerungen in mir herauf. Die eine stammt aus dem Herbst eben des Jahres 1919. Ich fuhr am frühen Morgen von München nach einer Stadt am untern Inn. Obwohl ich zeitig zum Bahnhof kam, waren alle Wagen so besetzt, dass es unmöglich schien, Platz zu bekommen. Ich versuchte es doch und kam noch in einem Wagen zu stehen; die Leute machten freundlich, soweit es ging, Platz. Es waren nur Männer und fast alle in feldgrauer Uniform, »Weissgardisten«. Es wurde laut durcheinander gesprochen. Plötzlich vernahm ich deutlich den Namen Landauer, und überrascht suchte ich mit dem Blick den Sprecher. Ein Soldat, ein Mann mittleren Alters mit rötlichem Bart, sagte nun noch zu seinem Nachbarn: »Nein, so war das nicht mit dem Landauer. Der Landauer hat schon das Richtige gewollt, bloss einer von den Unsern hätt er sein müssen.« Die andere Erinnerung ist älter, aber aus demselben Jahr. Etwa zwei Wochen nach jener Gedächtnisrede Landauers auf Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg war ich eines Abends mit ihm und mehreren andern revolutionären Führern in einem Saal des Landtaggebäudes beisammen. Den Gegenstand der Aussprache hatte Landauer vorgeschlagen, es war der Terror; aber er selbst beteiligte sich kaum, er sah schwermütig und nahezu erschöpft aus – ein Jahr vorher hatte seine Frau die tödliche Krankheit durchlitten, jene Tage wiederholten sich ihm nun im Herzen. Das Gespräch wurde im wesentlichen zwischen einem Spartakusführer – der später in der »zweiten«, Landauer und seine Genossen ablösenden Räteregierung bekannt geworden ist – und mir geführt. Der Mann ging sporenklirrend durch den Raum; er war im Krieg deutscher Offizier gewesen. Ich lehnte es ab – was manche anscheinend von mir erwartet hatten –, hier von dem sittlichen Problem zu reden, und legte dar, wie ich über das Verhältnis von Zweck und Mittel denke; ich belegte meine Ansicht aus geschichtlicher und zeitgenössischer Erfahrung. Mein Partner ging darauf nicht ein. Aber auch er versuchte seine Apologie des Terrors mit Beispielen zu belegen. »Dscherschinski,« sagte er, »der Vorsitzende der Tscheka, konnte hundert Todesurteile an einem Tag unterzeichnen, aber mit ganz reiner Seele.« »Das ist ja das allerschlimmste,« antwortete ich, »diese ›reine‹ Seele, auf die man keinen Blutspritzer fallen lässt! Es kommt nicht auf ›Seele‹ an, sondern auf Verantwortung.« Mein Partner

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sah mich mit ahnungsloser Ueberlegenheit an. Landauer, der neben mir sass, legte seine Hand auf die meine. Sein ganzer Arm zitterte. * 5

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Die wahre Front geht durch die Soldateska, die wahre Front geht durch die Revolution, die wahre Front geht durch den Soldaten, die wahre Front geht durch den Revolutionär. Die wahre Front geht durch jede Partei und durch jeden Angehörigen einer Partei, durch jede Schar und durch jedes Glied einer Schar. An der wahren Front kämpft einer gegen seine Genossen und gegen sich selber, und erst von den Entscheidungen dieser Kämpfe aus wird er zu andern ermächtigt. Das sind die Menschen, denen man nachsagt, sie hätten die Kampfkraft geschwächt; das sind die Menschen, die die Kampfwahrheit am Leben halten. Landauer hat in der Revolution gegen die Revolution – um die Revolution gekämpft. Die Revolution wirds ihm nicht danken, aber danken werden es ihm die, die ebenso kämpfen, und vielleicht einst die, um derenwillen gekämpft wird.

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Warum muß der Aufbau Palästinas ein sozialistischer sein? Ich habe aus der Einladung zu dieser Konferenz erfahren, daß ich über das Thema sprechen soll: Warum muß der Aufbau Palästinas ein sozialistischer sein? Diese Formulierung stammt nicht von mir, und wenn ich auf diese Frage antworten sollte, würde ich verlegen sein. Denn ich glaube zwar, daß der Aufbau sozialistisch sein soll, aber nicht, daß er es sein »muß«. Die Kategorie des Müssens erscheint mir auf historische Vorgänge, die von menschlichen Entscheidungen abhängen, nicht anwendbar. Das historische Geschehen sieht nicht so aus wie eins von jenen Garnknäueln, die man für die kleinen Mädchen zurechtstopft, damit sie ihre Handarbeit gern machen; in das Garnknäuel werden allerlei hübsche Dinge, Püppchen, Konfekt und dergleichen eingewickelt, und es erfreut die Kinderherzen, das allmählich herauszuwickeln. Eher möchte ich das geschichtliche Geschehen mit einem Teppich vergleichen, für den das Muster nicht streng vorgeschrieben wäre, auf dem vielmehr Linienführung und Farbenwahl weitgehend der Entscheidung der daran arbeitenden Menschen überlassen blieben. Aber doch nicht ganz, denn jeder Arbeiter setzt doch an einem bestimmten Punkte an und hat das fortzuleiten, was schon begonnen und eben so weit gediehen ist. Der Mensch hat hier anzusetzen, darf nicht willkürlich verfahren, sondern muß fortführen, was da ist; er muß bei dieser so beschaffenen Tatsächlichkeit anheben und wirkt doch zugleich in echter Entscheidung am Geschehen der Geschichte mit. Solch ein absolutes Muß also können wir nicht meinen; wohl aber dürfen wir das doch in einer bestimmten Verbindung verwenden, nämlich verknüpft mit »wenn«. Man darf sagen: Wenn der Aufbau Palästinas wirklich geraten soll, muß er sozialistisch sein. Doch schon wieder halte ich ein. Wenn ich verantwortlich reden will: k a n n der Aufbau denn sozialistisch sein? Können wir in diesem Augenblick, mit diesen Kräften, die uns zur Verfügung stehen, wirklich Palästina aufbauen? Niemand von uns, auch von den Radikalsten unter uns, glaubt, daß wir es können. Wir können nur im Gange unserer Arbeit Sozialismus so sehr realisieren, wie es von den Gesamterfordernissen der jeweiligen Aufbausituation aus möglich ist. Nehmen wir etwa die drei aktuellen Hauptpostulate hierfür: das Gemeineigentum am Boden, die Selbstarbeit und die freie Bestimmung der Siedler über die Normen ihres Gemeinschaftslebens. Diese unsere drei Hauptpostulate für die gegenwärtige Praxis im Aufbau Palästinas be-

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anspruchen Alleingültigkeit, und ich als jüdischer Sozialist, der von der Wirklichkeit ausgeht und nicht von der Ideologie, muß sagen, daß sie sie gegenwärtig nicht erlangen können. Denn die gegenwärtige Aufbauarbeit an Palästina setzt sich aus zwei notwendigen Komponenten zusammen, der Volksinitiative und der Privat- oder Individualinitiative. Diese Komponenten stehen zueinander in wechselnder Proportion. Wir Sozialisten hoffen, daß diese sich immer mehr zu Gunsten der Volksinitiative verschieben wird. Aber solange der Aufbau der Privatinitiative nicht entraten kann, können wir von einem ausschließlichen Geltungsanspruch der drei Postulate nicht reden. Wohl aber ist zu sagen, daß sie für die Volksinitiative bestimmend sein müssen, damit der Aufbau gelinge. Denn er braucht drei Dinge. Er braucht erstens Land in möglichst schnellem Zuwachs; das bedeutet: er muß Bodenspekulation verhüten. Er braucht zweitens nicht bloß Siedler, sondern auch Nachkommen, die in der Siedlungsarbeit bleiben. Es ergibt sich daraus, daß diese eben das werden wollen müssen, was die Väter waren. Das erfordert ein soziales Wertungskriterium: man kann die Söhne im Typus des »selbstarbeitenden« Menschen nur dann festhalten, wenn er im Lande der höchstbewertete und maßgebende ist. Und zum dritten: Der Aufbau braucht gleichmäßigen Zustrom von Menschen, die an eben diesem schweren, entbehrungsreichen Arbeitsleben teilnehmen wollen. Das bedeutet, daß es notwendig ist, die soziale Anziehungskraft dieses Lebens zu erhalten und zu erhöhen. Die nationale Anziehungskraft genügt nicht; man muß dem Menschen, von dem eine solche Hingabe erwartet wird, ein ganzes, seinen Gemeinschaftswunsch erfüllendes Leben anbieten. Nun möchte ich einen Seitenblick werfen auf die Individualinitiative. Es ist zu fragen, ob diese in einem absoluten Gegensatz zur Volksinitiative steht, ob sie also ausschließlich bestimmt ist vom Rentenhunger. Es ist bei der Erörterung dieser Frage ganz verfehlt, dem Rentenhunger als seinen – wirtschaftlich widersinnigen – Gegenpol die Rentenaskese gegenüberzustellen und mit dem Hinweis auf deren Unmöglichkeit die Sache als erledigt anzusehen. Es empfiehlt sich vielmehr, ohne alle extreme Begrifflichkeit sich zu vergegenwärtigen, daß gerade der Großunternehmer für Palästina besondere Gesichtspunkte hegen und anwenden mag, die er nicht oder doch nicht in diesem Maße bei Unternehmungen in anderen Ländern kennt. Er ist hier in einer besonderen Weise interessiert an der biologischen Qualität, der menschlichen Substanz des Arbeiters, da er ja auf ihr und aus ihr dieses Land sich aufbauen lassen will, an dessen Aufbau er eben nicht bloß privatwirtschaftlich, sondern auch »national«, also gemeinwirtschaftlich interessiert ist. Dieser Dualismus seines Interesses muß dem Arbeiter zugute kommen. Auch wird der nationalgesinn-

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te Großunternehmer in Palästina – ich meine also den, der nicht aus privatwirtschaftlichen Motiven allein sein Kapital in Palästina arbeiten läßt – darauf bedacht sein, daß die soziale Spannung den Siedepunkt nicht erreiche und das Aufbauwerk nicht gefährde. Er wird also bei aller Innehaltung der Rentabilitätsrechnung Zugeständnisse an den Sozialismus machen, die über die bloße Opportunität in den Bereich einer grundsätzlichen Entscheidung hinaufreichen. Die Frage, ob denn eine solche »Durchbrechung der sozialen Gesetze« möglich sei, verwandelt sich uns in diese: Gibt es einen jüdischen Kolonisationswillen, der sich in der ganzen Breite der Realität auswirkt, oder nicht? Gibt es ihn, dann muß er auch die Privatwirtschaft, soweit sie am Kolonisationsakt teilnimmt, im Gemeinschaftssinn beeinflussen. Zwischen Rentenhunger und Rentenaskese gibt es ein Drittes: spezifische Verantwortung. Diese spezifische Verantwortung ist die Probe des jüdischen Kolonisationswillens. Aber gehen wir nun zu der wesentlicheren Frage über: Wie steht es um uns Sozialisten? Sind unsere Postulate nur praktisch-politischer Art oder wohnt ihnen eine tatsächliche sozialistische Verwirklichungstendenz inne? Sind sie bestimmt von dem Willen, Sozialismus im gegenwärtigen Aufbau Palästinas zu realisieren, in jeder Stunde und an jedem Punkte so sehr, als den Gesamtanforderungen des Aufbaus gemäß möglich ist? Von den beiden ersten Postulaten brauche ich in diesem Zusammenhang nicht zu sprechen. Hier ist die dritte Frage der eigentliche Brennpunkt. Es ist das Problem der Kwuzah. Ich halte die Frage der Bewertung der Kwuzah für eine, die nicht theoretisch entschieden werden kann, vielmehr für eine jener merkwürdigen Fragen der Menschheit, die nur durch das Experiment zu entscheiden sind. Die Menschen der Kwuzah sind ein lebendes Experiment. Manche von uns sind geneigt, es zu unterschätzen. Es ist in unseren Kreisen zuweilen gesagt worden, es komme für uns Sozialisten in Palästina nur darauf an, eine starke Arbeiterschaft hinzubringen, und dann werde diese ihre sozialen Forderungen in derselben Weise durchsetzen wie in den anderen Ländern der Welt, also – je nach der Einstellung des Sprechers – auf dem Weg der parlamentarischen Reform, auf dem des Klassenkampfes oder auf dem der Revolution. Ich halte diese Auffassung nicht nur für eine irrtümliche, sondern für eine verhängnisvolle. Ich glaube nicht, daß es eine politische Durchsetzung der großen sozialistischen Forderungen gibt, wenn man nicht zugleich diese im tatsächlichen Leben zu verwirklichen strebt. Wenn die Verwirklichung nicht schon jetzt und hier beginnt, auch in der Art, wie wir das Ziel zu erreichen suchen, dann wird es nicht erreicht. Das falsche Mittel verfälscht den Zweck im Gange der Durchführung. Schlimmer als die Nichtverwirklichung der sozialen Idee ist die Scheinverwirklichung. Die

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Nichtverwirklichung läßt Sehnsucht, Hoffnung und Kampf übrig; die Scheinverwirklichung des Sozialismus wäre das Ende der Menschheit. Aber das »Experiment« hat noch manche andere Bedeutung. Betrachten wir zunächst das große wirtschaftspolitische Problem der Entwicklung des Weltmarktes. Dessen Problematik wächst in beängstigender Weise mit dem Tempo der Industrialisierung der Abnehmerländer, deren Abnahmebereitschaft den bereits hochindustrialisierten Ländern gegenüber im gleichen Tempo abnimmt. Der Augenblick ist abzusehen, wo die Agonie des Weltmarktes beginnt. Die Frage der Agrarordnung und der Intensivierung des Bodenbaus wird dann von ungeheurer Wichtigkeit werden, und damit auch die, welche Organisationsformen diese neue Landwirtschaft (denn sie wird von Grund auf erneut werden müssen) annehmen soll; denn daß sie Gemeinwirtschaft wird sein müssen, besagt viel zu wenig. Es wird sich darum handeln, wie die notwendige Aufrechterhaltung, ja Steigerung des technischen Entwicklungsstandes mit dem Charakter des gemeinwirtschaftlichen Subjekts zu vereinbaren ist, insbesondere, wie innerhalb der Wirtschaft das Recht der Gesamtheit und das der einzelnen wirtschaftlichen Genossenschaften gegeneinander abzugrenzen sind. Wenn Sie nun auf Palästina schauen, so merken Sie, daß das Probleme der palästinensischen Wirtschaft sind. Das alles, was uns von der Menschheitsperspektive aus auf den ersten Blick so klein vorkommt gegenüber den abendländischen Evolutionen, das sind in Wirklichkeit die Vorboten der großen abendländischen Entscheidung, und zwar ihre experimentellen Vorboten. Was sich dort zwischen den verschiedenen Genossenschaftsformen einerseits und den zionistischen Faktoren andererseits abspielt, ist ein höchst bedeutsames Vorspiel der Dinge, die kommen werden. Ich weiß kein Land in Europa, wo so das Kommende vorentschieden wird, nicht ideologisch, sondern aus der Lebenswirklichkeit selbst. Eine andre Frage, die nicht bloß von der sozialistischen Ideologie in den Ländern, wo der Sozialismus ein Kämpfer ist, vernachlässigt wird, sondern die von der sozialistischen Praxis vergewaltigt wird, wo der Sozialismus ein Herrscher geworden ist, ist die der hochindustriellen Arbeitsform; wie arbeitet hier der Mensch, als Fortsatz einer Maschine, oder als lebender Leib? Ist jene Zweiteilung des Lebens in zwei Hälften, eine so und so viele Stunden dauernde Hölle – deren Höllenkraft die gleiche bleibt, wenn ihrer Stunden auch weniger werden – und die übrige nachfolgende Erholung von der Hölle, die aber in ihrem Wesen von dieser bestimmt ist, unabänderliches Schicksal? Niemand, der sich ernstlich mit dieser Frage beschäftigt, kann an ein Zurückschrauben der technischen Entwicklung denken. Nicht gegen die Rationalisierung der Wirt-

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schaft ist zu kämpfen, sondern für die Humanisierung der Ratio. In die Aufgaben, die der Technik gestellt werden, ist die Wirklichkeit des lebendigen arbeitenden Menschen mitbestimmend einzubeziehen. Werfen wir von hier aus wieder einen Blick auf Palästina, so finden wir, nicht ideologisch, sondern lebensmäßig begründet, die wahrhaft organische Form der Arbeit: die durch den ganzen Menschen mit ungeteiltem Wesenswillen getan wird. Auch hierin sehe ich im ernstesten Sinn ein soziales Pioniertum Palästinas. Eine dritte Frage, an die der heutige Sozialismus nicht gern herangeht, ist die von Zentralismus und Dezentralisation. Diese Frage ist nicht eine organisatorische; sie ist mit Recht von Gustav Landauer zu oberst gestellt worden. Vergessen wir doch einen Augenblick die geläufigen Parolen! Was jeder im Herzen meint, wenn er »Sozialismus« sagt, ist wirkliche Gemeinschaft zwischen den Menschen, unmittelbares Leben zwischen Ich und Du, echte societas, echtes Genossentum. Wir müssen also eine echte Gemeindeautonomie haben, die so weitgehend ist, als es die rechtmäßigen Ansprüche der Gesamtheit erlauben. Es handelt sich nicht um ein prinzipielles Entweder-Oder, sondern darum, daß die Demarkationslinie zwischen zentralisiertem und dezentralisiertem Gebiet immer neu im Sinne wahrer Gemeinschaftlichkeit gezogen wird. Man muß Tag für Tag verantwortlich bedenken: wieviel Sozialismus vermag heute realisiert zu werden, wieviel Gemeindeautonomie, d. h. wieviel echte Gemeinschaft zwischen den Menschen, die miteinanderleben oder miteinanderarbeiten, läßt sich jetzt von der Gesamtheit aus realisieren. Die Frage: zentralistischer oder dezentralistischer Sozialismus? ist also falsch gestellt. Ein zentralistischer Sozialismus ist keiner. Ein Sozialismus, in dem sich die Machtverhältnisse zugunsten der Arbeiterschaft verändert haben, ohne daß sich die Beziehungen der Menschen zueinander gewandelt hätten, ist keiner. Es sind ja nicht nur die Beziehungen zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, an denen die heutige Menschheit krankt, es ist die Entartung der menschlichen Beziehungen überhaupt. Blicken wir nun wieder auf den sozialistischen Aufbau Palästinas, so tritt uns von neuem das Problem der Kwuzah entgegen. Nicht darum geht es, ob Moschaw oder Kwuzah; es gibt eben Menschen und wird wohl auch weiterhin Menschen geben, die in dieser, und andere, die in jenem ihre sozialistische Erfüllung finden. Das was sich in Wahrheit dort entscheidet, ist die Frage zwischen Zentralisation und Dezentralisation. Darum hat unser Postulat der sozialen Selbstbestimmung eine Vorpostenbedeutung für die Menschheit. Die Weltsituation unserer Zeit ist, sieht man von dem aus der Hand in den Mund lebenden Scheinparlamentarismus ab, durch die beiden

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Brennpunkte Moskau und Rom gekennzeichnet. Wenn jener, die Demokratie ohne Demos, d. h. ohne wirklich konstituiertes Volk, weder der Idee noch der Realität gegenüber Verantwortung übt, stehen hier ein falscher Dienst an der Idee und ein ebensolcher an der Realität wider einander. In Moskau wird die lebendige Idee durch das Prinzip ersetzt. Die lebendige Idee ist immer Bild, ein Bild dessen, was aus bestimmten Möglichkeiten bestimmter Menschen und Menschengruppen werden kann und soll; das Prinzip ist die Entbildung der Idee, an Stelle der konkreten, volksmäßig, kulturmäßig, schicksalsmäßig bestimmten Personen und Gruppen tritt die Abstraktion »des« Menschen, »des« Bürgers, »des« Proletariers, – an die Stelle des Leibes ein Knochengerüst, an die Stelle der Wegsuche mit ihren realen Entscheidungen die vorgezeichnete Route. Moskau ist die durch den Widerstand der Realität gemilderte Herrschaft des Prinzips; und auch nachdem man diesen Widerstand in Rechnung zu stellen beschließt, ihn also sozusagen in das Prinzip selbst einbezieht, wird es zwar inhaltlich »bis auf weiteres« modifiziert, aber es hört nicht auf, seinem Anspruch und Charakter nach das bildlose Prinzip zu sein. In Rom ist die Anschauung der Wirklichkeit mit ihrer Tiefenperspektivik und ihrem immer neu auftauchenden Imprévu ersetzt durch ein Beschweidwissen um einen reliefhaft auffälligen Teil der Wirklichkeit, den man mit der ganzen identifiziert, nämlich um die menschlichen Machtwünsche, Machtbegierden, Machtgenüsse und Machtsorgen. Man sieht den Staat als eine Schichtung von Machthaben und Machtwollen und meistert ihn, indem man dem Machtwollen in dem Maße, als es sich aktuell erweist, Macht zuteilt und durch die so entstehenden sozialen Zusammenhänge die ideologisch fundierten überwindet. Die Anschauung der Wirklichkeit ist immer Ehrfurcht vor ihr, auch wenn man sie zu ändern sich berufen fühlt; der Aktualismus ist ehrfurchtslos, er will nicht wahrhaft kämpfen und bewältigen, sondern nur jeweils mit dem Gegebenen fertig werden. Die Herrschaft des Aktualismus ist in Rom durch eine dekorative und wirksame Anknüpfung an eine verschollene Tradition eher verkleidet als gemildert. So stehen ideologische und antiideologische Diktatur einander gegenüber. In jeder von beiden birgt sich eine echte Kraft, in der einen die des Glaubens an die sozialistische Idee, wenn diese auch verzerrt und entstellt worden ist, in der andern die des Wissens um die Wichtigkeit des Bundes mit der konkreten Tatsächlichkeit, wenn diese auch flach und substanzlos gefaßt wird. Aber was hinauswirkt, von Moskau aus zu Anschluß, von Rom aus zu Nachahmung bewegend, sind nicht die echten

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Kräfte, sondern die Herrschaftsformationen, in die sie eingegangen und in denen sie untergegangen sind. Die große Frage, die immer wieder in meinem Herzen aufkommt, wenn ich, bedrückt und aufgerührt durch die massive Existenz dieser beiden unfruchtbaren Kolosse, der nahen Zukunft der Menschen nachsinne, ist: Gibt es ein Jerusalem? Gibt es zu diesen beiden ein Drittes, ein noch nicht eigentlich existentes, aber werdendes, – über jene hinaus werdendes? Zu den beiden allhin wahrnehmbaren tönernen Gesichtern ein drittes, noch verborgenes, eins von Fleisch und Blut, mit heiterer Stirn, liebenden Augen und einem Mund, der singen kann, ein m e n s c h l i c h e s Antlitz? Ist das, was wir mit vorerst so knabenhaft geringen Mitteln unternommen haben und nun mit größeren fort- und auszuführen suchen, ein Einsatz in der Weltgeschichte, – der wirklichen Weltgeschichte, die nicht in den riesigen Lichtreklame-Lettern des Erfolges, sondern in geheimen Zeichen auf eine noch verhüllte Tafel geschrieben wird und die einst all jene »Siege« der Historie als maskierte Niederlagen offenbaren wird? Wächst in der Epoche der Scheinrealisierungen eine echte Verwirklichung auf? Gibt es ein Jerusalem, wird es eins geben, das gewiß nicht neben Moskau und Rom, aber ihnen gegenüber zu stellen sein wird? Wird hier der Geschichte etwas »vorgelebt«? Ich glaube an »Jerusalem«. Wir dürfen daran glauben, denn in dem, was heute in Palästina geschieht, begegnen einander Geist und Wirklichkeit. Was hier an genossenschaftlichem Bau entsteht, ist so, als ob die Wirklichkeit allein es gemacht hätte, aber sie hatte den Geist zur Seite. Das sozialistische Leben, das da im Werden ist, scheint ohne menschliche Zielsetzung, ganz aus der Nötigung der gegebenen Verhältnisse gewachsen zu sein; dennoch, es hätte nie solche Gestalt gewonnen, wenn nicht in den Menschen, die sich zusammenschlossen, die lebendige Idee als Bild der Gemeinschaft geträumt und nun in ihrem Zusammenschluß bildnerisch sich ausgewirkt hätte. Was sie denken, ist zuweilen vom Prinzipiell-Ideologischen angehaucht, aber der Geist, der in ihnen träumt und wirkt, ist größer als ihre Gedanken. Sie werden ihn einst erkennen – wiedererkennen. Wenn ich den Aufbau Palästinas seinem Kern nach als einen sozialistisch sein sollenden bezeichne, wird mir oft, und zwar nicht nur von Antisozialisten aus gesagt: Warum denn nicht einfach das, was geschehen soll, dem Leben überlassen? Kommt es für uns im Augenblick denn nicht darauf an, so viel Kräfte wie möglich nach Palästina zu bringen, und können wir es nicht viel besser, wenn wir unbehindert sind durch ideelle Beschränkung? Das erinnert mich daran, was wiederholt einem geistigen Zionismus

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entgegengehalten worden ist: er wolle die Entwicklung des jüdischen Volkes von oben, von einer Konzeption des »Judentums« aus regeln, statt sie von selber, eben aus den freigewordenen Möglichkeiten des Volkstums werden zu lassen. Wir brauchten nichts als das Volk, das Land und die Sprache. Darauf war und ist zu antworten: Es mag sein, daß die Propheten eine Stechbremse auf dem Nacken des Pferdes Israel waren. Aber wenn diese Bremse nicht gewesen wäre, wenn diese unbarmherzige Vertretung der lebendigen Idee, des Gottesgebotes einer Verwirklichung des Geistes durch Israel nicht gewesen wäre, was wäre aus der Substanz des Volkes geworden? Wäre es überhaupt noch da? Wäre günstigstenfalls ohne diese Stiche, ohne diese beständigen Aufrufe etwas anderes aus Israel geworden als ein östliches Kultürchen, das mit den anderen untergegangen wäre? Es ist das ewige Volk nicht dadurch geworden, daß man es leben ließ, sondern daß man es nicht leben ließ; dadurch, daß man immer mehr als das Leben von ihm verlangte, gewann es das Leben. Wenn wir heute auf das, was in Palästina geschieht, die sogenannten Gesetze des Lebens anwenden wollten, dann würden wir sehr bald von ihnen aufgefressen werden. Der Zionismus, der glaubt, sich auf das »Leben« verlassen zu können, der faschistische Zionismus, der SimsonZionismus, ist nicht etwa bloß ideell verkehrt, sondern gerade von der Wirklichkeit aus betrachtet widersinnig und aussichtslos. Und wenn man mir und meinem Freundeskreis von dort aus um unsere fordernde und mahnende Haltung zu diskreditieren, nachsagt, wir stellten diesem prächtigen gesunden Lebenszionismus einen lebensfremden oder gar lebensfeindlichen »Kulturzionismus« gegenüber, so ist das heillos falsch. Kultur ist kein Programm, ebensowenig wie etwa Persönlichkeit ein Programm ist. Wenn ein Mensch sich vornimmt, eine Persönlichkeit zu werden, ist er auf dem besten Wege, die Möglichkeit dazu zu verlieren. So ist es auch mit Volk und Kultur. Wenn ein Volk etwas zu tun, zu wirken hat, wenn es etwas verwirklichen will in der Breite und Fülle seines natürlichen Lebens, dann entsteht nebenbei, wie ein chemisches Nebenprodukt, Kultur. Also nicht Kulturzionismus bekennen wir, sondern Werkzionismus, Verwirklichungszionismus. Es gibt etwas, was von Israel, gerade von ihm, nur von ihm, verwirklicht werden will und kann. Es ist immer noch dasselbe. Es gibt etwas, was von uns verwirklicht werden will, nicht in der Sphäre des Geistes, denn in ihr gibt es keine Verwirklichung, sondern nur von ihr aus, in der ganzen Breite und Fülle des von Menschen gemeinsam gelebten Lebens: als die wahre Gemeinschaft. Dazu sind wir erhalten worden, dazu erfahren wir die Erneuerung. Darum ist der ein-

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zige Zionismus, der geraten kann, der des Gemeinschaftsideals – der sozialistische Zionismus. In diesem Zusammenhange, Freunde und Genossen, sehe ich die große Bedeutung, aber auch die große Verantwortung der palästinensischen Arbeiterschaft; sie ist der zentrale Träger der Verantwortung für den jüdischen Aufbau Palästinas.

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[Drei Diskussionsbeiträge in »Sozialismus aus dem Glauben«] [I.]

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Dem Referat von de Man stimme ich in einigen wesentlichen Ausführungen zu. Wesentlich ist mir besonders der nachdrückliche Hinweis darauf, daß der geläufige Marxismus, so wie er uns in der Realität zumeist begegnet, die Pflicht zur persönlichen Verantwortung bedroht. Er ist in der Tat zu einem der Fluchtsysteme unserer Zeit vor der konkreten Verantwortung geworden. Diese Flucht ist vielfältig und systematisch organisiert, und man gebraucht alte und neue Weltanschauungen dazu, sie zu beglaubigen. Daß eines dieser Systeme aus dem Marxismus gemacht worden ist, halte ich für das Wichtigste, was in dieser Stunde gesagt werden muß. Zunächst muß ich aber auf einiges antworten, was Heimann gesagt hat. Ich muß das auf der theologischen Ebene tun, auf der auch Heimann gesprochen hat. Heimann wandte sich gegen de Mans Versuch einer religiösen Formulierung, und er tat es – und zwar um den Sozialismus in seiner Sinnmöglichkeit zu erfassen – zunächst vom Glauben an die Schöpfung aus, an den vom Schöpfer ausgehenden Lebensstrom, der durch alles Geschehen braust, also auch durch alles, was an uns und mit uns geschieht. Gegen diese theologische Formulierung muß ich mit einem theologischen Einwand auf der theologischen Ebene des Suchens nach der Wirklichkeit antworten. Es geht darum, daß Heimann hier einen religiösen Satz so ausspricht, wie er nicht ausgesprochen werden darf. Das Religiöse selber in seiner Ungebrochenheit darf nicht logisiert werden. Es ist wahr, daß der Strom des Lebens vom Schöpfer ausgeht, daß wir eingefügt sind in ein Geschehn, das schlechthin nicht von uns ausgeht, daß wir eingesetzt sind, schöpfungsmäßig, auf diese Erde. Aber gerade darum ist es ebenso wahr, daß etwas von uns aus geschieht. Nur beides zusammen ist die Wirklichkeit. Wenn Heimann von diesem Gesichtspunkt aus weiter sagt, es gäbe ein Böse-geworden-sein der Schöpfung, ein Mißbrauchthaben der Kräfte, so ist zu berichtigen: nein, nicht ein Böse-geworden-sein, sondern ein Böse-werden in jedem Augenblick, ein Mißbrauchen der Kräfte in jedem Augenblick. Und nun zur Frage des Sündigens. Wohl gilt das Wort vom »kräftig Sündigen«, aber man darf das nicht aus der Perspektive herausreißen; es bedeutet: Mensch, bilde dir nicht ein, Vollkommenheit in die Tasche stecken zu können, sondern wisse du, dein Los ist das Sündigen und die Gnade, du kannst dich aus dieser Zweiheit nicht herausheben. Man sagt:

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[Drei Diskussionsbeiträge in »Sozialismus aus dem Glauben«]

»der Sünder«, aber man meint den guten, liebenswerten Sünder, man meint nicht den eigentlichen Sünder, nämlich den die Kraft mißbrauchenden. Man darf sich nicht gerecht wähnen, aber man soll Gerechtigkeit üben wollen. Ich meine auch, daß es nicht angeht, von Sozialismus zu sprechen, indem man das Leben schlechthin verabsolutiert. Die Scheidungen und Entscheidungen gehen quer durch das Leben, zwischen bejahtem und verneintem Leben. Daher besteht die Verpflichtung, zwischen diesen beiden Arten von Leben auch zu unterscheiden. Aber ich meine damit keine in ethischer Systematik erfaßte, sondern nur eine je und je in konkreter Verantwortung gelebte Unterscheidung. De Man gegenüber muß ich – auf die Gefahr hin, die Grundlage der Tagung anzugreifen – sagen, daß es mir bedenklich erscheint, eine sittliche Begründung des Sozialismus anzustreben. Am bedenklichsten halte ich es, wenn man auf diese Begründung ausgeht als auf ein Mittel zur Steigerung der Stoßkraft. Es geht auch nicht an, daß man unabhängig von letzten Wahrheitsfragen diese Begründung sucht. Denn es kann sich nicht darum handeln, den Sozialismus zu »begründen«, sondern nach seinem wahren Ursprung zu fragen; nicht um etwas sich zu bemühen, was wir brauchen, um die Massen zu befeuern, sondern gemeinsam die Wahrheit des Sozialismus, des echten Sozialismus zu suchen. Der Sozialismus als historische Erscheinung hat keinen einheitlichen Ursprung. Wie in allen historischen Erscheinungen geht auch durch den Sozialismus die eigentliche Demarkationslinie zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Realgesinnung und Fiktivgesinnung. Wir fragen nach dem Ursprung des echten Sozialismus. In der Frage nach dem Ursprung des echten Sozialismus zeigt de Man eine wohl verständliche, aber sachlich nicht völlig gerechtfertigte Tendenz zur Universalität, wenn er sagt, man brauche es nur mit irgendeiner Weltanschauung ernst zu meinen, dann komme man zum Sozialismus. Wenn dem so wäre, dann gäbe es nur noch den Kampf zwischen Wahrheit und Lüge, nicht mehr den bis in die letzten Tiefen reichenden Kampf zwischen Sozialismus und Antisozialismus oder Kapitalismus. Leider geht die Demarkationslinie zwischen Ernst und Unernst einerseits durch den Sozialismus, anderseits durch mancherlei außerhalb des Sozialismus; es gibt Menschen, die lebensmäßig Nicht-Sozialisten sind. De Man hat nicht bedacht, was für ein Verdammungsurteil er mit seinem Satz ausgesprochen hat. Es gibt auch außerhalb des Sozialismus Lebensernst und Wirklichkeitsgesinnung. Überdies genügt nicht Anerkennung des Postulats sozialer Gerechtigkeit, es kommt darauf an, welcher Platz ihm angewiesen wird. Nicht alle Religionen führen zum Sozialismus. Immer-

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hin mag das von denen gelten, die eine Haltung der konkreten Verantwortung für die anvertraute Welt gebieten. Die wahrhaft religiöse Haltung des Menschen ist ihnen die, daß er handelnd zu antworten sucht. Ich will jedoch gerecht werden denen, die den Namen Gottes nicht nennen oder sogar verabscheuen, die aber die konkret religiöse Haltung einnehmen, die also antworten, aber nicht wahr haben wollen, wem sie antworten. Aber auch hier liegt die Entscheidung innerhalb der einzelnen Werturteile, die Allgemeingültigkeit beanspruchen. Und von da aus ist auch die Realität des entscheidenden Kampfes zu verstehen als eines Kampfes auf mehreren begrifflich nicht leicht zu formulierenden Fronten. Es ist aber überall die Front der Wahrheit gegen die Lüge, die Front der Wirklichkeit gegen den Schein. So erscheint mir denn de Mans Zielformulierung einerseits zu unbestimmt, andererseits nicht ausreichend. Zu unbestimmt, weil sie den Ernst, der auch in der antisozialistischen Haltung liegen kann, verkennt. Nicht ausreichend, weil sie bloß von der institutionellen Ordnung auf den Menschen zu gefaßt ist und nicht auch umgekehrt. Damit ist Wesentliches nicht erfaßt. Wenn ich auf dieses hinweise, so weiß ich wohl, daß in dem Augenblick, wo ich Beispiele gebe, eine Scheidung der Geister geschehen muß, weil es hier nicht mehr um Parolen geht, sondern um das wirkliche Zusammenleben der Menschen, die Echtheit von Mensch zu Mensch, die Unmittelbarkeit der Beziehungen. Es kann Scheinrealisierungen des Sozialismus geben, unter denen sich das wirkliche Leben von Mensch zu Mensch wenig verändert. Es ist dies das Problem von Zentralismus und Dezentralisation. Wirkliches Miteinanderleben von Mensch zu Mensch kann nur da gedeihen, wo die Menschen die wirklichen Dinge ihres gemeinsamen Lebens miteinander erfahren, beraten, verwalten, wo wirkliche Nachbarschaften, wirkliche Werkgilden bestehen. Politisch bedeutet das die Forderung weitgehender Gemeindeautonomie. Wir sehen etwa an dem russischen Realisierungsversuch, daß sich die Beziehungen der Menschen untereinander wenig verändern, wenn sie in eine sich sozialistisch nennende zentralistische Machtordnung eingefügt sind, die das Leben der Personen und das Leben der natürlichen sozialen Gruppen determiniert. Natürlich können wir nicht zum primitiven Agrarkommunismus und nicht zum Ständestaat des christlichen Mittelalters zurück. Wir müssen ganz unromantisch, ganz heute lebend, mit dem widerstrebenden Material unseres Geschichtstags echte Gemeinschaft aufbauen. Auch in der heutigen Großstadt kann es Nachbarschaften, auch in der heutigen Fabrik Werkgilden geben. Es geht nicht an, das als utopisch zu bezeichnen, woran wir unsere Kraft noch nicht erprobt haben. Wie viel Raum Gott uns ein-

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räumt, können wir nur erfahren, wenn wir drauf losgehen. Dann werden wir erkennen, wieviel Schicksalsgenossenschaft es in dieser unserer Welt gibt. Es sind das freilich auch eminent politische Probleme; das Problem etwa, ob der Staat oder die Genossenschaft das legitime Subjekt einer sozialisierten Produktion ist. Ein anderer großer Fragenkomplex ist die Tatsächlichkeit des Produktionsprozesses. Ich erinnere an das, was Heimann von der Würde der Arbeit sagte, allerdings nicht konkret genug. Es geht vor allem um das »Wie« der Produktion als des wirtschafts-institutionell geregelten Teils des persönlichen Menschenlebens. Hier spricht de Man in seinen Thesen von der Unterordnung unter die Ziele der Bedürfnisbefriedigung. Nach dem, was er vorher sagte, klingt das so, als ob Bedürfnisbefriedigung im Sinne des Konsums gemeint sei. Ich kenne de Mans Buch über die Arbeitsfreude und meine daraufhin, er hätte heute dazu umfassender sprechen sollen. Was ist Bedürfnis in diesem Sinn? Es gibt – nach de Mans Buch – Arbeitsfreudige, Nicht-Arbeitsfreudige und »Gemischte« in der heutigen Industrie. Ich habe von manchen dieser Arbeitsfreudigen einen ziemlich deprimierenden Eindruck und muß dabei an das Wort Lassalles von der »verdammten Bedürfnislosigkeit« denken. Diese Menschen wissen nicht um ihre wirkliche Not, ihre wirkliche kreatürliche Not. Es gibt eine empfundene und eine existentielle Not; von der letzteren Art ist der den »Arbeitsfreudigen« oft nicht ins Gefühl dringende Zwang zu nichtkreatürlichem Leben. Es kommt auf eine Erhebung der Not an, auf ein Identisch-werden der gefühlten mit der existenziellen. Der Zwang zum nichtkreatürlichen Leben ist der äußerste Tiefstand, der äußerste Abstand des Menschen von seinem Ebenbildscharakter. Ist das nur Zwang oder echte Notwendigkeit? Es gibt durchaus ernsthafte Menschen, die behaupten, die Überspannung der Technik sei Notwendigkeit, und wir Romantiker, die wir das leugnen. Wir sind es nicht, denn wir denken nicht zurück, sondern darüber hinaus. Es muß von dieser Entwicklung aus und über sie hinaus eine Durchmenschlichung der Technik geben. Ich weiß wohl, daß sozialistische Volkswirtschaften genau so oder jedenfalls nicht wesentlich anders für den Weltmarkt produzieren müßten wie alle anderen Wirtschaften heute, da es in der Weltmarktkonkurrenz keine Menschheitswirtschaft gibt. Nur im Zusammenhang damit kann die Aufgabe erst wahrhaft gestellt werden, nur mit der Forderung einer Überwindung der Weltmarktproblematik die Forderung einer wirklichen Überwindung des Proletariats als der zum nichtkreatürlichen Leben gezwungenen Menschheitsschicht. Zusammenfassend ist zu sagen, daß beim »Abbruch des Privateigentums« das eigentliche Problem erst beginnt, nicht ein neues, sondern das

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Problem des Sozialismus, des wirklichen Zusammenlebens der Menschen und des wirklichen Zusammenhanges des Menschen mit seiner Arbeit. Es geht hier nicht um eine »Begründung«, sondern um die Zielsetzung von der konkret verantwortlichen Haltung des Menschen aus. Das ist kein »Hirngespinst«, sondern wirklicher Schöpfungsgehorsam, damit nicht nur etwas an uns, sondern damit auch etwas von uns aus geschehe, die wir schöpfungsmäßig eingesetzt sind, an der Schöpfung zu wirken. Ich hoffe auf eine Scheidung der Geister und wünsche sie, überall da, wo Menschen im Zeichen des Sozialismus zusammenkommen. Es geht darum, daß die fiktiven Scheidungen aufhören und die realen beginnen. [II.]

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Ich habe vor: erstens eine Richtigstellung und zweitens eine Anfrage. Eine Richtigstellung an die Adresse des Vorsitzenden. Er hat die Beispiele, die ich angeführt habe, als utopischen Sozialismus bezeichnet. Ich weiß wohl, daß es um ein zeitloses Problem geht, aber in der Form der Zeitlichkeit, der Aktualität dieser Stunde. Es kommt auf die wahrhafte Lebensverantwortung an. Ich wollte gegenüberstellen Bewegung und Ideal, Masse und Person. Die Menge besteht aus Personen, die einzelne Person geht uns an. Es handelt sich um den Appell von der sogenannten Wirklichkeit an die Wirklichkeit der Situation, der wir standzuhalten haben. Denn hier liegt das Gemeinsame zwischen uns. Es gibt ein konkretes Gemeinsames zwischen uns, das ist nicht Weltanschauung, nicht begrifflich zu formulieren, nur durch das Unaussprechliche der konkreten persönlichen Haltung. Es gibt in unserer Mitte einen unsichtbaren Bund für sozialistische Verantwortung, eine Front quer durch die sozialistischen Parteien hin, die der Verantwortung. Das zweite ist eine Frage an Tillich. Er spricht von der werdenden Gestalt. Ich möchte fragen: Was ist die verantwortliche Tat? Was ist eine werdende Gestalt, die aufruft zur Verantwortung? Was bewirkt sie? Wird sie von selbst? Was ist unser Anteil? Ist das Werden gesichert? Durch was? Was für ein Handeln steckt in dieser Schau, was für ein Handeln, das dieser Schau den Sinn und das Recht gibt? Was für eine Sicherung haben wir, daß der Sieg des Proletariats das Werden einer neuen Gestalt ist? Welche Sicherheit gibt es, daß der Sieg des Proletariats Gestalt bedeutet und nicht Zerfall? Heimann: Tillich hat gesprochen von dem Wagnis, aber eine Beweisbarkeit gibt es nicht. Es ist immer ein Wagnis mit dem, was wir wollen.

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Buber: Ich möchte deutlicher sehen: Wie hängt das Handeln mit der Schau zusammen? Ich meine die organisch-reale Verknüpfung, die Mitbestimmung. Es ist doch in unsere Mitbestimmung gelegt, in der ganzen Skala von bloß parteihaftem Mittun bis zum Opfer. Löwe gegenüber bekenne ich mich als revolutionärer Sozialist. Aber ich glaube nicht an die automatische Fruchtbarkeit der gewaltsamen Revolution; die größte Sorge ist die um das, was aus der Revolution wird. Ich kenne die deutschen und die russischen Erfahrungen; Revolutionen können das Grab der Hoffnung werden. Diese Sorge meine ich vor allem. Nicht etwa der, der einen Plan aufstellt für das, was nachher gemacht werden soll, nicht der handelt von dieser Sorge aus, sondern der, eben auch um dieses Dann und Dort willen, der jetzt und hier in die konkreten Situationen eingeht. Er entscheidet mit, denn er entscheidet, ob der persönliche Durchbruch durch die Sicherung der begrifflichen Systeme organisch geschieht und dadurch jenen künftigen Durchbruch, der notwendig ist, bereitet.

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[III.] Es ist hier von einigen Seiten eine Forderung ausgesprochen worden, deren subjektive Berechtigung ich anerkennen muß und die dennoch ungerecht ist. Es ist gesagt worden, daß wir darauf bedacht zu sein haben, daß die und jene, die unter uns sind, der Arbeiterschaft eine Parole mitbringen können. Das ist unmöglich, oder wir versagen vor der Aufgabe, die wir uns gestellt haben. Ich habe dabei ein unheimliches Gefühl. Ich hatte an eine andere Zusammensetzung dieses Kreises gedacht, gemeint, daß sich etwa 20-30 Menschen zusammensetzen würden in der gespannten Situation dieser Stunde und versuchen, einander helfend gemeinschaftlich zu leisten, was offenbar kein einzelner zu leisten vermag, gemeinsam die Wahrheit dieser Situation zu erkennen. Wir haben das trotz der erschwerten Form doch zu tun versucht. Aber wenn wir vor dieser Aufgabe stehen, dann können wir nicht dem Rufe folgen, den Arbeitern eine Parole zu geben. Eins oder das andere: wenn die Wahrheit, dann nicht die Parole. Wir müssen vielleicht zunächst in einem kleineren Kreise wieder zusammenkommen und weiter suchen. Ich kann überhaupt nur arbeiten, wenn mir nicht dieser Ruf nach der Parole in den Ohren gellt, ein Ruf, den ich an sich für gerecht halte, aber nicht hier. Wenn wir hier miteinander die Wahrheit suchen, so können wir Intellektuellen dies nur in der leidigen Begriffsprache tun. Wir sollen freilich immer wieder diese Sprache auflockern, Begriffskritik üben, jeden Begriff nach seinem

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konkreten Inhalt befragen. Ich habe trotz allem Freude an dieser Tagung, weil immer wieder solche Kritik geübt worden ist. Ich möchte diese Kritik an einem Punkt üben: Lebensgestaltung. Wir verstehen hier sehr verschiedenes darunter. Die einen meinen Gestaltung im Sinne der wirklichen Gestalt, Entstehung einer Lebensbildung, Formung, Gestalt im Sinne von Tillich, Gestaltetheit. Die Möglichkeit einer solchen Gestalt sehe ich überhaupt nicht. Unsere Zeit ist der Moment der Gestaltlosigkeit. Was möglich ist, ist: jeweils den Sozialismus jetzt und hier realisieren, überall im Leben der einzelnen und der Gruppen, so gut und schlecht es geht. Das ist keine Gestaltung, aber das gehört dazu. Ohne das wird der große Sozialismus nicht verwirklicht werden können, ohne die Verwirklichung im Kleinen, in jeder Stunde, jeder Person, jeder Gruppe. Es geht um eine Horizonterweiterung. Ich möchte einen sehr ernsten Punkt herausgreifen, der besonders wichtig ist, damit aber am stärksten der »Parole« widersprechen. Genossin Roland-Holst hat gesprochen von der Verknüpfung von Zweck und Mittel, Idee und Methode. Das ist eine Frage von grundsätzlich ungeheurer Bedeutung, die ich nicht zureichend zu formulieren vermag, die ich in ihrem historischen Ausmaß nicht zu formulieren wage. Ich möchte hier nur andeuten, daß die Methode auf die Idee realiter zurückwirkt, daß nicht etwa bloß das Mittel den Zweck entheiligt, sondern daß das Mittel den Zweck ändert, verfälscht. D. h. das, was realisiert werden soll, verändert sich in dem Maße, in dem die Methode, die zur Realisierung verwandt wird, der Idee widerspricht. Es gibt im wahren Sozialismus nicht die Unterscheidung von Jetzt und Dann, d. h., die Verwirklichung im Kleinen ist nicht etwas, was neben der Realisierung des großen Sozialismus einherläuft und ohne die es auch gehen könnte, sondern: Wenn nicht dieses Jetzt, dann nicht jenes Dann. Das ist mein großes Bedenken gegen den Marxismus. Wenn in Rußland z. B. als sozialistische Erziehung die herrschende Generation kraft ihrer Mächtigkeit der nächsten Generation die fertigen Werte auferlegt: Das habt Ihr zu glauben, so ist das bürgerliche Erziehung. Eine Bewegung, die sich so gegen das Jetzt verfehlt, verfehlt sich damit gegen das Dann. Wenn ein sozialistischer Staat nicht über sich hinaus arbeitet, dann stirbt er nicht ab, dann hört er nicht auf Staat zu sein und fängt nicht an, Sozialität zu werden.

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Gandhi, die Politik und wir 1. Die Frage nach dem Erfolg Als Gandhi im Gefängnis saß, äußerte sich ein hoher britischer Beamter folgendermaßen über die damals jüngstvergangene Zeit, als der Mahatma vom Kongreß von Ahmedabad (Dezember 1921) weitgehende Vollmachten empfangen hatte und sodann das Ultimatum an den Vizekönig erließ (Februar 1922), es aber wenige Tage danach, auf den Ausbruch der Unruhen von Chauri Chaura hin, widerrief: »Er jagte uns einen tüchtigen Schrecken ein. Sein Programm füllte unsre Gefängnisse – man kann aber nicht immerzu einsperren und einsperren, zumal wenn es sich um ein Volk von 319 Millionen handelt. Und wenn sie einen Schritt weiter gegangen wären und die Steuerzahlung verweigert hätten – wer weiß, wohin das geführt haben würde! Was Gandhi unternahm, war das gewaltigste aller Experimente, die die Weltgeschichte kennt, und nur noch wenig fehlte, so wäre es ihm gelungen. Doch ging ihm der Blick für die menschlichen Leidenschaften ab.« Das war falsch formuliert. Was Gandhi »abging«, war nicht der Blick für die menschlichen Leidenschaften, sondern die Bereitschaft, sie auszunützen. In dem Widerruf des Ultimatums spricht sich beides, der vorhandene Blick und die mangelnde Bereitschaft, eindeutig aus, wenn darin der Ausbruch der Unruhen eine Warnung Gottes genannt wird, »daß es in Indien noch nicht jene wahrheitliche und gewaltlose Atmosphäre gibt, die und die allein den Massen-Ungehorsam rechtfertigen kann«. Das Endurteil des hohen britischen Beamten bedeutet also im Grunde nicht: »Politischer Erfolg ist nicht möglich ohne Blick für die menschlichen Leidenschaften«, sondern: Politischer Erfolg ist nicht möglich ohne Ausnützung der menschlichen Leidenschaften. Das ist doch wohl nicht wahr. Aber von hier aus ist weiter nach dem Verhältnis Gandhis zum politischen Erfolg zu fragen. Als, keine zehn Tage nach dem Widerruf, Gandhis Haltung auf der Tagung des allindischen Komitees in Delhi einer starken Opposition begegnete, und er, »um eine peinvolle Erörterung zu vermeiden«, darauf verzichten mußte, daß die Bezeichnungen »wahrheitlich« und »gewaltlos« in die programmatische Resolution aufgenommen würden, schrieb er, er hätte gewünscht, wie früher schon oft so auch jetzt in einer kleinen Minderheit zu bleiben: »Ich weiß, daß das einzige, was die Regierung fürchtet, diese ungeheure Mehrheit ist, die ich zu befehligen scheine. Sie wissen nicht, daß ich die noch mehr fürchte als sie selber. Mir ist buch-

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stäblich übel davor. Ich würde mich meines Bodens sicher fühlen, wenn ich von ihr angespieen würde.« Und weiter: »Und stehe ich etwa auch vor der Aussicht, mich in der Minderheit einer Stimme zu befinden, ich glaube in Demut, daß ich den Mut haben werde, in solch einer hoffnungslosen Minderheit zu verbleiben. Dies ist für mich die einzige wahrheitliche Lage.« Das ist zweifellos die Erklärung eines wahrheitlichen Menschen, und ich weiß ihr aus dem modernen Abendland im Bereich des öffentlichen Lebens kaum etwas an die Seite zu setzen, es sei denn – bei aller wurzelhaften Verschiedenheit – einige Worte des Amerikaners Thoreau in seinem klassischen Traktat über die Pflicht des bürgerlichen Ungehorsams; aber ist es auch die Erklärung eines politischen Menschen, das heißt, eines Menschen, der die Gestaltung der Institutionen und ihrer Wirksamkeit zu beeinflussen unternimmt? Mit andern Worten: ist die angeführte Äußerung Gandhis nur eine Erklärung gegen die Lüge in der Politik oder ist sie eine Erklärung gegen die Politik? Gibt es eine politische, institutionsändernde Aktion, gibt es politischen Erfolg ohne eine mehrheitliche oder revolutionär-minderheitliche, befohlene oder freiwillige Massengefolgschaft? Ist der Ibsensche Aphorismus von dem Starken, der am mächtigsten allein sei, nicht bloß sittlich wahr, also auf der Ebene der persönlichen Bewährung, sondern auch politisch wahr, also auf der Ebene der gesellschaftlichen Realisierung? Wird er anders politisch wahr, als indem dem Einsamen, von seinem Charisma bezwungen, die Massen »nachkommen«? Aber solch ein Nachkommen ohne innere Verwandlung kann ja eben, wie Gandhis Wort von seiner »Furcht« beweist, ihm nicht genugtun. »Im Ramayana«, schreibt er, »sehen wir, daß Rama, als alles zu seiner Krönung bereit ist, in die wilden Wälder verbannt wird.« Nun, im indischen Epos wird Rama, nachdem er sich lange weigert, die Herrschaft anzunehmen, weil die Zeit der Verbannung sich erst erfüllen muß, endlich doch zum König geweiht. Aber das entspricht keiner politischen Hoffnung mehr, keiner im öffentlichen Bereich durch öffentliches Wirken unmittelbar zu verwirklichenden, sondern nur noch einer religiösen. Keiner Hoffnung auf ein angebliches »Nachkommen«, sondern nur noch der auf die Umkehr. In dem denkwürdigen Aufsatz »Weder ein Heiliger noch ein Politiker« erläutert Gandhi seine Position: »Ich scheine an der Politik teilzunehmen, aber dem ist bloß deshalb so, weil die Politik uns heutzutag wie die Windungen einer Schlange umstrickt, denen man nicht entschlüpfen kann, was immer man versucht. Ich begehre daher mit der Schlange zu ringen.« Und weiter: »Ich habe mit mir selbst und mit Freunden experimentiert, um die Religion in die Politik einzuführen.« Unsere Frage

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wechselt noch einmal die Form; sie lautet nun: Läßt sich die Religion in die Politik so einführen, daß dennoch politischer Erfolg erzielt wird? Religion meint Ziel und Weg, Politik Zweck und Mittel. Der politische Zweck ist dadurch gekennzeichnet, daß er – eben im »Erfolg« – erreicht und sein Erreichtsein historisch verbucht wird. Das religiöse Ziel bleibt auch in den höchsten Erfahrungen dem sterblichen Weg das schlechthin Richtungverleihende, es geht nie in geschichtliches Gewordensein ein. Die Geschichte der erschaffenen Welt, wie die geschichtsgläubige Religion sie bekennt, und die Geschichte der menschlichen Person, wie alle, auch die nicht geschichtsgläubige Religion sie bekennt, das Geschehen auf der Wanderschaft vom Ursprung in die Vollendung, wird mit anderen Zeichen als mit denen des Erfolgs eingetragen. »Das Wort« siegt, aber anders, als seine Träger erhofften. Nicht in seiner Reinheit siegt das Wort, sondern in der Zersetzung; seine Fruchtbarkeit vollzieht sich in der corruptio seminis. Hier wird kein Erfolg erfahren und verbucht; wo in der Religionsgeschichte doch dergleichen vorkommt, waltet nicht mehr Religion, sondern Religionspolitik, d. h. das Gegenteil dessen, was Gandhi verkündet: die Einführung der Politik in die Religion. Noch einmal also: läßt sich mit religiöser Tat politischer Erfolg erzielen? Daß Gandhis eigene Haltung eine religiöse im echtesten Sinn ist, bleibt unanzweifelbar. Aber schon wenn er davon redet, daß er auch »mit Freunden experimentiere«, drängt sich die schmerzliche Frage nach der Gesinnung mancher dieser Freunde auf. Haben doch vor Gericht einige seiner nächsten Anhänger versichert, solange Gandhi die Parole der Gewaltlosigkeit ausgebe, würden sie sich unverbrüchlich dran halten; käme freilich eine andre aus seinem Mund, dann würden sie eben dieser folgen. Und gar die weitern Kreise der Bewegung! »Ich sehe«, schrieb Gandhi nach dem Tag von Delhi, »daß diese unsre Gewaltlosigkeit nur hauttief ist … Diese Gewaltlosigkeit scheint mir lediglich unsrer Hilflosigkeit zu entstammen … Kann echte freiwillige Gewaltlosigkeit aus dieser anscheinend zwanghaften Gewaltlosigkeit des Schwachen kommen?« Diese Worte haben wohl auch heute, trotz Gandhis großer erzieherischer Wirkung, noch sehr viel von ihrer Gültigkeit behalten. Soweit Gandhi politisch handelt, soweit er z. B. an parlamentarischen Beschlußfassungen teilnimmt, führt er nicht die Religion in die Politik ein, sondern verbündet seine Religion mit der Politik der andern. Er kann nicht ununterbrochen mit der Schlange ringen, er muß sich zwischendurch mit ihr vertragen, weil er im Reich der Schlange zu wirken angewiesen ist, das zu vernichten er auszog. Er weigert sich, die menschlichen Leidenschaften auszunützen, aber er ist als politisch Handelnder

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an den »politischen«, an den unverwandelten Menschen gekettet. Die Schlange ist ja nicht bloß draußen mächtig, sondern auch drinnen in den Seelen derer, die den politischen Erfolg ersehnen. Es ist reinster Bewunderung wert, wie Gandhi immer wieder, wenn die innere Schlange sich in der Bewegung übermächtig erwies, strenge, bis zu schweren Kasteiungen und Läuterungen gehende Selbstkritik übt. Aber wir folgen ihm darin nicht; wir wissen, wenn wir den tragischen Charakter seiner Größe beachten, daß es nicht die Tragik eines innern Widerspruchs ist, sondern die des Widerspruchs zwischen der Unbedingtheit eines Gemüts und der Bedingtheit einer Situation, zu welcher Situation eben die Artung der Massen, der Anhängerschaft, auch der Jünger gehört. Es ist dies eine Tragik, die allen vordergrundsoptimistischen Ausgleichungsversuchen widersteht; die wohl überwunden wird, aber nicht anders, als wie wenn am Ausgang einer griechischen Tragödie eine Theophanie (der sogenannte deus ex machina, in Wahrheit ex gratia) das unlösliche Verhängnis löst. Das aber ist der sehr leise, sehr langsame, sehr umwegige, gar nicht »erfolgreiche« Schritt der Gottheit durch die Geschichte. Im September 1920 sagte und schrieb Gandhi, wenn das indische Volk Disziplin, Selbstentäußerung, Opferwilligkeit, Ordnungsfähigkeit, Vertrauen und Mut erwiese, würde in einem Jahr Svaraj, die indische Unabhängigkeit, errungen werden. Drei Monate später von dem Vertreter der Times befragt, wie er das meine, erklärte er, das britische Volk werde zugleich die Kraft der indischen öffentlichen Meinung und das greuliche Unrecht erkennen, das in seinem Namen Indien angetan wurde, und es werde diesem unverzüglich eine Verfassung anbieten, »die den Wünschen des indischen Volkes genau entsprechen wird«. Das Gespräch endete damit, daß Gandhi ein Prophetenwort variierte: »Der Löwe ruht dann beim Lamm.« Man kann nicht deutlicher den religiösen Charakter jener Erwartung aussprechen; aber wenn er ernst genommen wird, bedeutet die Voraussetzung, die Gandhi dafür macht, nicht bloß eine Haltung des Volkes, sondern dessen innere Umwandlung: Gandhi sagt unverkennbar dem »politischen«, dem unverwandelten, dem sich nicht wandelnden Menschen ab. »Wenn Indien«, schreibt er später einmal, »frei werden will, kann es das nur mit Gottes Hilfe erlangen. Gott liebt die Wahrheitlichen und Gewaltlosen.« Aber Gottes Liebe ist nicht am Erfolg zu messen. Wie Gottes Liebe sich auswirkt, ist seine Sache. Man darf für die Wahrheitlichen und Gewaltlosen der Liebe Gottes gewiß sein, aber nicht der Erlangung von Svaraj in einem Jahr. »In einem Jahr« ist eine politische Parole; die religiöse Losung müßte lauten: Irgendwann, vielleicht heute, vielleicht in einem Jahrhundert. In der religiösen

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Wirklichkeit gibt es keinen Zeitvertrag, und der Sieg kommt zuweilen eben dann, wenn man ihn nicht mehr zu erleben vermeinte. Im letzten Teil jenes Jahrs der Erwartung schrieb Gandhi, dem »Wunder« einer so schnellen Erlangung von Svaraj müsse »eine wunderbare Bekehrung Indiens zur Lehre der Gewaltlosigkeit vorausgehen, zumindest in deren eingeschränkter Absicht, d. h. als eine unentbehrliche Vorbedingung zur Sicherung von Indiens Freiheit«. Aber bedeutet das nicht: Bekehrung zu einer religiösen Lehre, »zumindest« in deren politischer Form? In der religiösen Lehre bleibt Gewaltlosigkeit der Weg zum Ziel, auch wenn sie als Mittel zum Zweck versagt. Freilich muß es Gandhi als politisch Handelndem genug sein, wenn die Massen die rechte Haltung einnehmen; aber Bekehrung heißt Umkehr des Wesens, innerste Umsinnung. Gewiß wird, wenn ein religiöser Mensch, ein mit seiner Religiosität überall wo er sich einsetzt Ernst machender, im politischen Bereich wirkt, Religion in die Politik eingeführt. Aber da der Weg zum religiösen Ziel in Bahnführung, Perspektivik, Gangart, Tempo und letztlich in seiner Unvorhersehbarkeit dem Erreichen des politischen Erfolges wesenhaft unähnlich ist, läuft bei diesem ihrem heiligen Werk der »Einführung« die religiöse Wirklichkeit Gefahr, daß die Kategorien sich vermischen, daß das Ziel zum Zweck, der Weg zum Mittel wird, daß der Mensch, statt in die Stapfen jenes Gottesschrittes zu treten, sie in blindem Lauf überrennt. Ist die Religion am andern Ende von einem Eis der Isolierung bedroht, in dem sie die Verbindung mit dem gemeinschaftaufbauenden Menschenanteil am Werden des Reichs verliert, hier droht ihr das Aufdampfen im Schnellfeuer des Getriebes. Nicht eher als in der großen Polis Gottes werden Religion und Politik zu einem Leben der Weltgemeinschaft im Angesicht der Ewigkeit verschmelzen, darin weder Religion noch Politik mehr besteht. Die natürlichste aller Fragen, die nach dem Erfolg, ist die Feuerprobe der Religion. Weicht sie der Sphäre aus, wo die Frage gefragt wird, dann entzieht sie sich trotz aller Heilsgüter und Sakramente der Verleiblichung; verfällt sie jener Sphäre, dann hat sie die Seele verloren. Gandhi zeigt uns wie kein anderer Mensch unsres Zeitalters die Schwere der Situation, die Tiefen der Problematik, die Vielfältigkeit der Streitfront, die von Paradoxie umwitterte Gewaltigkeit des allstündlich zu bestehenden Widerspruchs. Der Mahatma hat sich jetzt, während ich dies schreibe, auf seinen Gang – ein sinnbildweites Gegenstück zur Flucht des alten Tolstoj – begeben. Es ist ersichtlich keine politische Fahrt, sondern ein Pilgergang. Ein Pilgergang mit politischer Absicht; aber unter aller politischen, ver-

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mutlich dem Bewußtsein der meisten Mitgehenden verborgen, lebt die religiöse, wo die Verweigerung einer Steuer nicht mehr ein Mittel im Kampf gegen die britische Regierung um die Unabhängigkeit Indiens, sondern eine Ergreifung des Menschen bedeutet, dem es in dieser Weltstunde frommt, faktisch und unter Hergabe seiner selbst zu erfahren, wieviel des Kaisers ist. Ich glaube nicht, daß am Ende dieses Pilgergangs schon die Unabhängigkeit Indiens stehe. Aber ich glaube, daß dieser Pilgergang wesentlich mitbestimmt, wie der Mensch eines unabhängigen Indiens, wann immer und wodurch immer es errungen wird, beschaffen sein wird. Und was wäre Svaraj, wenn es nur Umwandlung von Institutionen und nicht auch Umwandlung des Menschen wäre! 2. Gandhis Werk und eine indische Politik

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Aber wir müssen, wenn wir Gandhis Platz nicht bloß in der Geschichte der Religiosität und ihrer Auswirkungen, sondern auch in der der Politik erkennen wollen, das indische Unabhängigkeitsideal seinen – wirklichen und möglichen – Inhalten nach betrachten. Das scheint mir am deutlichsten zu geschehen, indem wir das Programm des Mahatma mit dem seines Gegners, des großen Patrioten Chitta Ranjan Das vergleichen. Während Gandhi gefangen saß – am 26. Dezember 1922 – eröffnete Das den allindischen Kongreß in Gaya mit einer Rede, in der er, mit einer Huldigung für den Mahatma beginnend, drei Postulate formulierte. Das erste, taktische, stellte der non-cooperation Gandhis die Forderung eines »inneren« Boykotts der gesetzgebenden Räte entgegen, in die man sich entsenden lassen und deren Tätigkeit man obstruieren solle. Diese Forderung tritt nicht aus den Grenzen der Gewaltlosigkeitsidee, aber sie versucht ihr statt eines passiven Gehalts einen unmittelbar-aktiven zu geben, – freilich einen, dessen mögliche Folgen für die Wahrung der Gewaltlosigkeit bedenklich sein könnten. Das zweite, außenpolitische, Postulat entwarf im Gegensatz zu Gandhi, der Indien nur auf sich selbst gestellt vorgehen lassen wollte, das Programm einer asiatischen Föderation, die Indien anzuregen und in der es zu wirken hätte. Man muß, um diesen Gedanken zu würdigen, sich vergegenwärtigen, daß er in einem indischen Mund ganz anderes bedeutet als etwa in einem russischen oder japanischen. Auch er tritt nicht aus den Grenzen der Gewaltlosigkeitsidee; was er meint, ist ein asiatischer Bund, der dem Abendland die Kooperation kündigt und sich eben dadurch von ihm unabhängig macht. Die möglichen Folgen sind hier aller-

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dings für die Wahrung der Gewaltlosigkeit noch weit bedenklicher als beim ersten Postulat. Das dritte und wichtigste, konstruktive, betraf den inneren Aufbau eines unabhängigen Indiens. Der Svaraj, erklärte Das, dürfe weder eine parlamentarische noch eine bürokratische Regierung werden. Die britische durch eine indische Bürokratie ersetzen, wäre nutzlos. Man müsse vielmehr die Grundform der alten indischen Dorfgemeinschaft erneuen. Es gelte, ein System relativ autonomer kleiner Gemeinschaften zu errichten, die sich zu größeren und die wieder zu größeren, ebenfalls autonomen, zusammenfügen sollten, die ihrerseits um eine einigende zentrale Macht von vorwiegend konsultativem Charakter gruppiert wären, welche nur in Ausnahmefällen ihre Autorität auszuüben hätte. Dieses dritte Postulat, das ich als eine brüderliche Erwiderung aus Asien auf verwandte Ideen eines europäischen Kreises empfunden habe, stellt in meinen Augen eine Gipfelhöhe des politischen Menschen dar. Was sich hier ausspricht, ist die Ahnung einer Überwindung der politischen Entartung, die sich im modernen Staatszentralismus Politik nennt, von der Politik selber aus; es ist der Wille zum legitimen Aufbau eines echten Gemeinwesens, das den Staatsapparat auf das technisch notwendige Minimum reduziert. Anfang Februar 1924 wurde der kranke Gandhi aus dem Gefängnis entlassen. Im Mai erklärte er sich öffentlich gegen das erste der drei Postulate von Das, das des obstruktionellen Parlamentarismus, im Juli gegen das zweite, das einer asiatischen Föderation, zu gleicher Zeit gegen das dritte, gegen das innere Programm. Gegen dieses äußerte er, Svaraj sei nichts anderes als jene Verfassung Indiens, die das Volk in einem gegebenen Augenblick verlangen würde. Das ist eine rein politische, demokratiepolitische Äußerung, die mir aber an politischem Substanzgehalt und an politischer Autochthonie weit ärmer erscheint als Das’ fundamental-revolutionäre Idee. Im November schloß Gandhi das bekannte Kompromiß mit den von Das geführten Svarajisten, das einen persönlichen, aber keinen sachlichen Sieg Gandhis bedeutete. Im Juni des folgenden Jahres starb Das. An eine Weiterbildung und Ausführung seines Programms ist seither nicht gedacht worden. Über den taktischen Gegensatz kann ich nicht urteilen. Das’ asiatischer Gedanke ist von unverkennbarer politischer Größe. Ich habe schon gesagt, daß die Gefahren beider für die Sache der Gewaltlosigkeit nicht zu übersehen sind; damit ist immerhin auch von dieser Sache aus nicht grundsätzlich gegen sie entschieden. Aber, was uns hier angeht, ist das konstruktive Postulat.

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Gandhi strebt ja nicht ein beliebiges freies Indien an, sondern eine in Wahrheit indische Gesellschaft, in der das in Einzelseelen, Lehren, heiligen Büchern zu erahnende Volkswesen seinen Leib gewinnt. Eine solche kann sich aber nicht aus einem amorphen, nur eben staatlich umfaßten Haufen von Einzelpersonen aufbauen, sondern nur aus natürlich gegliederten, mit einer so weit als möglich reichenden Autonomie ausgestatteten kleinen und größeren Gemeinschaften, in denen nicht mehr das von aller menschlichen Wirklichkeit absehende Unwesen waltet, das heute als die Politik gilt, sondern konkretes Miteinanderberaten, Miteinanderbeschließen, Miteinanderhandeln im konkreten Öffentlichkeitsbereich; Gemeinschaften, in deren Staffelgefüge sich das Volk erst als solches politisch konstituiert. Gandhi hat nicht erkannt, daß hier eine politische Vision war, die seine eigne religiöse ergänzte; daß es von dieser aus für die indische Sache grundwichtig sein müßte, auch in einem großen politischen Sinn praktisch zu ermitteln, wieviel des »Kaisers«, d. h. der zentralistischen Staatspinne überhaupt, und wieviel »Gottes«, d. h. politisch formuliert: des kreatürlich-unmittelbar miteinander lebenden Menschenvolkes ist. Gandhi freilich glaubt der kommenden indischen Gesellschaft die Reinheit und Eigenheit, die er ihr wünscht, dadurch sichern zu können, daß sie vor der »Zivilisation« bewahrt bleibt. Schon 1909 schrieb er aus Südafrika in die Heimat, es gebe keine unüberschreitbare Schranke zwischen Osten und Westen; es gebe nicht so etwas wie abendländische Zivilisation, nur eben die moderne Zivilisation, die eine rein materielle sei; sie, nicht das britische Volk, beherrsche Indien; wenn das britische Regime durch ein indisches ersetzt würde, das auf den modernen Methoden begründet wäre, würde Indien nicht besser dran sein. Osten und Westen könnten erst dann wirklich zusammenkommen, wenn der Westen die moderne Zivilisation nahezu gänzlich über Bord geworfen hätte; nähme der Osten die moderne Zivilisation an, so würden sie nur scheinbar zusammenkommen, das würde nur einen bewaffneten Waffenstillstand bedeuten, »wie etwa der zwischen Deutschland und England ist, welche beiden Nationen in der Halle des Todes leben, um nicht eine von der andern verschlungen zu werden«. – Aber wovor Gandhi in diesem in manchem Belang so hellsichtigen Brief Indien bewahren zu wollen erklärt, davor ist es, dem vor unseren Augen sich an dem Land vollziehenden Industrialisierungsprozeß nach, anscheinend nicht zu bewahren. Das Spinnrad, als Symbol auch von sympathisierenden Textilfabrikanten geehrt, kann in der Tatsächlichkeit wohl nicht erhalten werden. Die »moderne Zivilisation« ist ein Schicksalsweg der Menschheit, der ihre höchste Aufgabe und ihre entscheidende Probe umschließt. Alle Re-

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duktionsversuche, auch die erhabensten, weichen dieser Aufgabe und Probe aus. Die moderne Zivilisation ist ihrem Grundwesen nach durchaus nicht »materiell«: sie erscheint notwendigerweise so, nur weil und insofern sie noch unbewältigtes – vom Geist noch nicht durchdrungenes – Material darstellt. Es geht darum, in Indien wie überall, die menschliche Substanz zu retten und zu erschließen, die dieser Zivilisation gewachsen ist und sich in ihr, mit ihr, durch sie hindurch geistverleibend bewährt. Es geht darum, aus dem geretteten Seelenelement den standhaltenden Menschen zu bilden. Dies ist in Indien Mahatma Gandhis großes Werk, das nicht im Tempo der politischen Unternehmungen und ihrer Erfolge, aber in dem des Gottesschrittes gewirkt wird.

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3. Ist also Politik zu treiben? Das moderne Abendland steht auf der sanktionierten Entzweiung von Politik und Religion. Man höre nur, wie der Politiker das Wort »Ethik« und wie der Theologe das Wort »Aktion« ausspricht. Die Politik ist unverklärt, aber mächtig; die Religion (im weitesten Sinn, also der Überbau der geheiligten »Werte«) ist Gegenstand abgestufter Weihegefühle, aber unverbindlich. Mit seinem Versuch, »die Religion in die Politik einzuführen«, ist Gandhi in die Reihe derer getreten, die die noch immer wachsende Entzweiung von Politik und Religion zu überwinden streben. Die Tragik, in die er damit eingetreten ist, ist die eigentümliche des prophetischen Menschen. Diese Tragik ist zu erkennen und zu verehren. Emil Roniger sagt in seinem Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Buch »Gandhis Leidenszeit«: »Das Leben läßt sich mit Religion durchdringen – die Politik nicht. Ein Leben, das von Religion durchdrungen wäre, würde keine Politik mehr kennen. Einzig Durchdringung des Lebens mit dem Sauerteig des Religiösen kann uns eines Tages von der Schlange Politik erlösen, die uns mit ihren kalten Schlingen umstrickt hält.« Aber das hieße: faktisch, für jetzt und hier, das öffentliche Leben der Verdammnis preisgeben, privates und öffentliches Leben zerscheiden, die Transmissionslosigkeit, Nichtveröffentlichung des Geistes in unserer Zeit bestätigen, das Werden einer neuen – notwendigerweise »politischen« – Gemeinschaftsstruktur, einer den gegenwärtigen Staatsapparat von innen aufzusprengen bestimmten verhindern, der Menschheit vor ihrer entscheidenden Probe die Kräfte, die sie dafür braucht, entziehen. Jesus konnte sich mit dem Gebot begnügen, dem fernen rö-

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mischen Kaiser nur eben zu geben, was »sein« sei, und das eigne Reich so gegen das des nicht aktuellen, weil das Leben des Bürgers, und gar des palästinensischen, nicht aufsaugenden Staatszentralismus abzugrenzen; die Propheten Israels mußten dem König in Jerusalem, als dem Schutzherrn des Unrechts im Land, mit den Feuerbränden des religiös-politischen Wortes entgegentreten. Man soll, meine ich, die Politik weder aufsuchen noch meiden, man soll weder prinzipiell politisch noch prinzipiell apolitisch sein. Das öffentliche Leben ist ein Bezirk des Lebens, es ist in unsrer Zeit in seinen Gesetzen und Gestalten ebenso entstellt wie alles Leben, seine Entstellung nennt man heute Politik, wie man die Entstellung des Arbeitslebens Technik nennt, aber wie diese ist jene nicht in ihrem Wesen Entstellung, – wie diese ist jene erlösbar. Die Staaten und die Parteien sind erfolgreich bemüht, die Wirklichkeit der öffentlichen Situationen durch die Fiktionen der politischen Gespinste zu verdecken. Es gilt, die Gespinste zerreißend in die jeweilige öffentliche Situation, die einen fordert, einzugehen und in ihr und für sie Verantwortung zu üben. Die Staaten und die Parteien sind weiter erfolgreich bemüht, das Zustandekommen der Bünde und letztlich des Bundes der Menschen, die Realgesinnungen (zu lebende Gesinnungen) hegen und daher in der realen Verantwortung zusammenwirken können, durch Scheinbünde zu verhindern. In diesen wird eine Minderheit von Realgesinnungs-Menschen mit einer Mehrheit von Menschen einer angeblich gleichgerichteten Fiktivgesinnung (nur durchzusetzenden, nicht auch zu lebenden Gesinnung) zusammengekoppelt und dadurch unschädlich gemacht. Wer in der Politik dem Geist gehorsam bleiben will, darf in keiner Situation vergessen, daß es auf das Werden jener echten Bünde und letztlich jenes Bundes ankommt, – daß das aber, wenn es sein Werk am öffentlichen Leben tun soll, nicht über dem Handgemenge, sondern in ihm sich vollziehen muß. Derjenige soll in die Parteien, wer sich stark und frei genug weiß, um in ihnen gegen jene Lüge des Parteiwesens zu kämpfen. Auch wenn er erliegt, hat er sein Werk getan. Das eigentliche Übel an der Politik ist das in ihr wie anderswo herrschende »politische Mittel«: den andern Menschen zu gewinnen, indem man sich ihm auferlegt. Es ist aber möglich und not, im öffentlichen Leben (wie anderswo) anstatt des politischen das religiöse Mittel zu verwenden: den andern zu gewinnen, indem man ihn erschließt. Wer das versucht, mag im politischen Getriebe schwach erscheinen – er arbeitet, indem er am Reich des Menschen baut, am Reich Gottes. Am Reich Gottes können wir nur arbeiten, indem wir an allen Bereichen des Menschen arbeiten, die uns angewiesen sind. Auf das Reich

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Gottes hin gibt es keine allgemeingültige Auswahl des Zweckentsprechenden wie auf das Reich des Menschen hin; man kann nicht sagen: hier ist zu wirken und da nicht, dies führt zum Ziel und das nicht. Wir können die messianische Welt nicht vorbereiten, wir können sie nur bereiten. Das heißt: es gibt keine messianistische Politik. Das heißt aber auch: von der Heiligung aller Dinge darf der politische Bereich nicht ausgenommen werden. Die »Schlange« ist nicht das Urböse, sie ist selber nur verirrt, sie selber wird endlich erlöst werden wollen. Es frommt nicht, auf sie loszuhauen, es frommt nicht, sich von ihr abzuwenden, sie gehört mit zur kreatürlichen Welt, wir müssen uns mit ihr abgeben, ohne allmalig maßgebende Prinzipien, in nackter Verantwortung. Auch da haben wir von Gandhi zu lernen; auch da können wir nicht einfach seinen Spuren folgen. Das Abendland kann und darf die »moderne Zivilisation« nicht aufgeben, das Morgenland wird sich ihr nicht verschließen können. Aber gerade das Werk der Bewältigung dieses Materials, der Durchmenschlichung dieser Dinglichkeit, der Heiligung dieser unsrer Welt wird beide zusammenführen, indem sie den Bund der wirklichkeitstreuen Menschen hüben und drüben stiftet. Das kreisende Flammenschwert der Cheruben am Eingang des Gartens Eden verwehrt den Rückweg; aber es erleuchtet den Weg.

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Ich habe vor einigen Monaten etwas mir sehr Merkwürdiges erfahren. Ich wurde von einem medizinischen Universitäts-Institut eingeladen, mir ein eigentümliches Phänomen anzuschauen unter dem Mikroskop. Es handelte sich um ein Teilchen, das Teilchen eines Tierherzens, oder genauer, um das Teilchen des Herzens eines Embryos, eines Hühnerembryos, der fünf Tage alt war. Sie müssen sich vorstellen: ein fünf Tage alter Embryo, ein toter Organismus, das Stückchen Partikelchen eines ungereiften Teilorganismus. Unter dem Mikroskop sah man deutlich, dass dieses Teilchen sich bewegte. Deutliche Bewegung und zwar keine regelmässige Bewegung, sondern eine zuckende, dann wieder aussetzende, dann wieder stärker werdende zuckende Bewegung, also eine Bewegung, die nicht etwa den rhythmischen Bewegungen des Herzens selbst entsprach, von denen man jedenfalls beim gesunden Herzen eine einigermassen regelmässige Kurve zeichnen kann, sondern es war etwas höchst Unregelmässiges, eine Bewegung, die wohl in ihrer Art nicht vorherzusehen war. Man wurde überrascht durch diese neue einsetzende Bewegung. Nun war schon ein Rhythmus ohne alle Regelmässigkeit, ein nicht vorhersehbarer Rhythmus. Nun, mir war dies eine der merkwürdigsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe. Mir wurde etwas daran deutlich, nämlich dieses Herzteilchen, dass aus diesem Teilorganismus, den wir Herz nennen, diesem Teilindividuum herausgenommen war, aus der organischen Skulptur dieses Organs herausgenommen war, hatte dadurch eine Individualität, ja wie will ich sagen, wieder bekommen; nämlich stellen Sie sich vor, das Herz hat diesen ganz annähernd regelmässigen Rhythmus. Dieses Partikelchen des Herzens hat ihn nicht, sondern hat etwas schlechthin nicht regelmässiges dargestellt, eine Bewegung, eine Bewegung, wenn ich menschlich ausdrücken darf, es klingt lächerlich, aber es ist nicht zum Lachen. Dieses Herzpartikelchen hat sozusagen eine Biographie bekommen, wie eine Person sie hat. Es war ein Individuum mit einer Lebensgeschichte geworden. Also durch die Herauslösung aus diesem Zellenverband des Herzens, durch die Herauslösung dieses Zellenverbandes aus dem grösseren Zellenverbande war ein Individuum mit einem Leben, mit einer Geschichte dieses toten Stücks organischer Substanz geschaffen. Dieser Bestandteil eines am Gesamtorganismus eine bestimmte Funktion ausübenden Organs, das war nun in eine funktionslose gesetzlose Freiheit, in die Freiheit des Individuums geraten. Das ist Individuum, eine Freiheit ja, die also, wenn wir das so uns mit der Phantasie ausmalen könnten, die also im [Leerstelle im Text] würde, ehe er

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sich zur Gemeinschaft zusammenschliesst, die wir gewöhnlich Individuum nennen. Ich weiss nicht, ob ich Ihnen irgendwie durch diesen sachlichen Hinweis etwas von dem Schauer mitteilen kann, der sich von dem mikroskopischen Vorgang aus auf mich übertrug. Ich habe damals geahnt, was das ist, wenn aus einem sozialen Ganzen, wenn aus einer uns selbstverständlich geltenden Gesellschaft ein Staat, ein Volk, durch eine Katastrophe ein Individuum herausgelöst wird, sagen wir Scharen von Individuen in ihre individuellen Bestandteile zerfallen in Folge einer Katastrophe. Und nun das einzelne Individuum, aus diesem selbstverständlichen gesetzhaften Zusammenhang hingestürzt in seine individuelle Freiheit und Einsamkeit, in einer grossen Weltangst erfahren, ja nun etwa den Weg sucht, irgend einen Weg zum Zusammenhang, zur Gemeinschaft, zum Nichtmehrpreisgegebensein. Es ist irgendwie die Geschichte, die Seelengeschichte des Menschen der Nachkriegszeit, es ist ein Mensch, der aus einem Zusammenhang herausgeworfen worden ist und zwar aus einem Zusammenhang, der ihm selbstverständlich war, so selbstverständlich beinahe, wie so ein Organismus, dem so ein Individuum, das wir Organ heissen, eingefügt ist, und nun diese Fragwürdigkeit einer solchen Existenz, zurechtzufinden und nicht zurückzufinden, aber irgendwie hinzufinden. Dieser Mensch, von dem wir sprechen, hat die Zukunft dieses Suchens. Von diesem Suchen aus gibt es die eigenartige Problematik des Verhältnisses zwischen Person und Masse, die wir heute erleben. Das Verhältnis zwischen Person und der Masse gilt viel stärker, hängt aber heute vielfach mit einer sehr sonderbaren Begriffverwirrung zusammen. Es ist zu verstehen, das in einem so katastrophalen Vorgang so etwas wie Verwirrung der Begriffe gewissermassen mit dazu gehört. Was ich Ihnen heute sagen will, soll nur ein kleiner Beitrag dazu sein, die Begriffe, um die es hier geht, zu klären. Die Verwirrung ist durch [Leerstelle im Text] nicht zu überwinden. Aber man kann je und je versuchen zu einer etwas grösseren Klärung in dieser Situation zu gelangen. Die erste Frage ist eigentlich die scheinbar überflüssige aber wie mir scheint doch nicht zu umgehende, was eigentlich ein Individuum sei. Man geht nämlich heute mit diesem Individuum so um, als ob das sozusagen etwas in den Zusammenhang etwa der naturwissenschaftlichen Ursächlichkeit sich sehr leicht und einfach Einfügendes wäre. Ich glaube, dass es sich nicht so verhält. Ich glaube, dass mit keiner wissenschaftlichen Methode das Einmalige am Individuum, das Einzigartige, das in Wahrheit nicht vergleichbar ist d. h. wir können auf irgend welche Weise ableiten, was sich irgendwie ableiten lässt. Wir können etwa eine Person vornehmen, irgend ein Wesen. Wir nehmen einen Menschen. Ja weiter, ein Kind. Stellen Sie sich

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vor, wir könnten das zustande bringen und schreiben Eigenschaft für Eigenschaft, alle körperlichen und seelischen auf, sodass wir sozusagen zuletzt eine Summe von Eigenschaften bekommen, ein Inventar dieses Individuums aufgenommen wird. Unsere Methoden wären so ausführlich, dass wir für alle diese Eigenschaften auch noch ganze Entstehungsgeschichten schreiben, also das ganze Entwicklungsschema aufzeichnen. Weiter und weiter zurück, wie Sie es wollen, und wenn wir dies alles aufgeschrieben, diese ganze Bestandaufnahme dieses Individuums, dann würden wir von der Einmaligkeit, von der Einzigkeit dieser Gesichtszüge, dieses Bewegungssystems, dieser Stimme nichts erfasst haben. Wir könnten schlechthin, wenn wir alles dies abgeleitet haben, über das Geheimnis dieses benannten Wesens, das mit uns hier an diesem Fleck der Erde, zwischen diesem und diesem Augenblick der Zeit lebt, dieses Geheimnis wäre von unserem Verfahren unberührt. Dieses Individuum das ist es, diese Unerfassbarkeit, dieser Widerstand, dem das Dasein dieses Einmaligen jedes von uns allen Erkenntnis leistet, dieses Standhalten des Wesens. Ich sage das ist es, was das Individuum ausspricht. Es liegt in diesem ein Geheimnis, eine geheimnisvolle, nicht auszusagende auch von ihm selbst im [Leerstelle im Text] Selbstgespräch nicht auszusagende und dennoch von ihm zu erfüllende Aufgabe. Von da aus, von diesem eigentümlichen Ausgangspunkt spannt sich, wie mir scheint, das eigentliche Problem aus. Weil es so ist, ist es schon deshalb eigentlich töricht, von diesem Idealismus was man sozusagen fordert oder anstrebt, oder so etwas. Idealismus ist keine Tatsache. Idealismus ist eine Sache des Geistes, der Phantasie, es ist keine Tatsache der Existenz. Es ist sinnlos zu fordern, dass es Idealismus gebe. Also ich würde sagen, Idealismus, aller Ismus, sei eine unzulängliche Theorie, eine unnötige eigentlich sinnwidrige Theorie, die durch kein Streben irgendwie zu überbieten ist. Gewöhnlich meint man mit diesem Ismus Personalismus. Man meint, dass es nicht auf Idealismus ankomme, sondern man meint Person oder Persönlichkeit. Das ist offenbar etwas anderes wie Idealismus. Es ist nicht einfach zu erfassen was das ist. Persönlichkeit, wodurch sich etwa eine menschliche Persönlichkeit von einem Menschenindividuum unterscheidet. Mir scheint es ist so, dass der wesentliche Unterschied, das was bei einer Persönlichkeit wesentlich hinzukommt, zum Individuum dies ist, dass eine Persönlichkeit eine Beziehung, eine echte wirkliche vollständige Beziehung zur Welt und zu dem anderen, zu dem Du hat, also nicht etwa Entwicklung oder Entfaltung des Idealismus, sondern was dazu kommt ist, dass dieses Individuum nun wirklich lebt mit der Welt, in die es eingestellt ist, mit den Wesen, zu denen es in unmittelbare Beziehung treten kann, und dass es

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dieses Leben in der Welt und mit der Welt sei, gestellt in diesen urgegebenen Bau, der es ist, d. h. nicht etwa so, dass es allerlei erlebt, wie man sagt, seine Seele bereichert, dass es Vorstellung, Empfindung, Gefühle und dergleichen mehr auf [Leerstelle im Text], sondern die Persönlichkeit ergibt sich an der Beziehung zu dem anderen; also Persönlichkeit ist überhaupt nicht etwas, was sich sozusagen aus dem Individuum herausspielt. Persönlichkeit ist eigentlich, wenn ich das so paradox ausdrücken darf, was zwischen diesem Wesen und der Welt da ist, auf dieses Individuum einen Bezug hat. Also das Leben mit der Beziehung zwischen diesem Individuum und dem Dasein der Welt ergibt bezogen auf das Dasein dieses Individuums diese Person. Damit habe ich schon gesagt, dass Persönlichkeit niemals ein Zweck sein kann. Niemals kann Persönlichkeit als etwas Gewolltes entstehen, denn gerade die unwillkürliche, die unmittelbare, die wurzelhafte Echtheit, das Nichtbeabsichtigte, das Nichtvorbereitete, das Nichtzurechtgemachte des Lebens mit dem Wesen mit der Welt, was zur Persönlichkeit führt, das kann man nicht beherrschen. Alle bezweckte Persönlichkeit ist Scheinpersönlichkeit. Wirklich ist das Gewachsene, das sich selbst erfährt. Also zur Persönlichkeit gehört dieses Weltbezogene auf das Selbst, gehört dieses Unaussprechliche der Beziehung von Wesen zu Wesen, das mich erfährt wie ich es erfahre, durch das ich mich begrenzt erfahre, begrenzt, wirklich begrenzt, so wie meine Hand durch dieses Holz begrenzt wird, an das es stösst, und doch zugleich ergänzt, nicht blos in Liebe, auch im Hass noch ergänzt. Ich sage dieses gegenüber Welt und du, dies ist es, was die Persönlichkeit aufrichtet. Von da aus kann sie erfasst bestimmt werden, von uns selbst allein aus nie. Also nur aus der Willkürlichkeit des Wesens, das seiner Lage in der Welt seiner Beziehung zu den Wesen standhält, gerecht wird des Wesens, das antwortet, lebensmässig antwortet auf das, was es aus aller Welt, was es von allen Wesen emporbringt. Weil es so ist, ist, wie der Idealismus so auf der anderen Seite auch der sogenannte Kollektivismus eine etwas fragwürdige Sache. Denn wenn es nicht angeht, aus einer Grundtatsache wie die Individualität einen Ismus zu machen, so geht es auch nicht, aus der [Leerstelle im Text] dieses ungeheuren Eingefügtseins in das All, darin die Gesamtheit der Menschenwesen, sowie sie einem begegnen, geht es nicht, wieder einen Ismus zu machen und zu erklären, es komme nicht auf das Individuum sondern auf die Kollektivität an. Handelt es sich dabei um eine Tatsache, dass Kollektivitäten diese grösste [Leerstelle im Text], die ich angedeutet habe, mit dem uns das Leben zusammenbringt, dass dies Tatsachen sind, so braucht dies nicht in einem Ismus besonders betont zu werden. Wenn man aber sagt, dass es auf Individuen nicht ankomme, sondern

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auf Kollektivitäten, dann scheint es mir, dass damit eine [Leerstelle im Text] vollzogen würde, vor jener geheimnisvollen Aufgabe, die ich in der Tatsache des Idealismusses jedes Individuums vorgefunden zu haben glaube, d. h. also wir müssen, wenn wir dieser Zweiheit Individuum und Kollektivität irgend gerecht werden wollen, der Wirklichkeit, die damit gemeint ist, dann müssen wir dies in seiner ganzen Tatsächlichkeit erfassen, also nicht als etwas, was man, sagen wir es kommt darauf an, sondern wir müssen suchen wie sehr es wirkliche Individuen gibt, bis in die Tiefe des Geheimnisses der Menschenperson und wie sehr es wirklich Kollektivität gibt bis in die äusserste Ausspannung des Unendlichen hin, wo unsere Feststellung nicht mehr hinlangt. Vielleicht kann ich da, was ich meine, etwas deutlicher machen an Beispielen. Das einzelne Kollektiv, das was ich meine, wie bedenklich ist es, aus dem Ernst der Tatsächlichkeit und dem Ernst des Hineingestelltseins als Individuum in diese Welt der [Leerstelle im Text] Kreise der Kollektivitäten, wie bedenklich ist es, sage ich, aus dieser Tatsache hinüberzuspringen in solche weltanschauliche Flüchtigkeiten und Unzulänglichkeiten, wie solche Ismen sind. Das möchte ich an einem solchen Beispiel sagen. Eines ist geläufig, Nation. Nation ist nun zunächst sicherlich eine andere Betrachtungsweise, eine andere Kollektivierung. Nation ist Volk, gesehen in seiner Abhebung von anderen Völkern. Ich denke zu dem Begriff Nation kommt hinzu, dass es andere Völker gibt, von denen es sich, das Volk abhebt, gegen die es sich behauptet. Solange dies in der Selbstverständlichkeit der organischen geschichtlichen Vorgänge sich abspielt, überschreiten wir die Existenz der Nation als solche nicht. Dagegen wenn ein Volk, ein gesundes starkes Volk, neben anderen Völkern lebt und sich auf natürliche geschichtliche Weise neben diesen Völkern, im Verhältnis zu diesen Völkern behauptet, dann können wir von Nation sprechen. Aber wie mir scheint noch nicht von nationalem Bewusstsein. Das ist, wie wenn jeder von uns sich beschäftigt mit der Frage, mit der Tatsache, dass er Augen hat. Aber wir haben kein Augenbewusstsein. Wenn unsere Augen krank sind, bekommen wir ein Augenbewusstsein. Nur wenn unsere Augen krank sind, dann erfahren wir, dass wir ein Augenbewusstsein haben. Wenn etwas an diesem nationalen Leben nicht in Ordnung ist, entsteht Nationalbewusstsein als ein Krankheitsanzeichen. Und nun wenn die Krankheit ausbricht und wenn wir den normalen Zustand wieder irgendwie herzustellen versuchen, wissen wir, dann gibt es jenes merkwürdige Phänomen, das man Nationalismus nennt. Die Kollektivität wird fragwürdig dadurch, dass man sie zu einem Ismus macht, statt in ihr zu leben, statt diesem Leben verantwortlich zu sein, diesem Leben mit der Gemeinschaft und ihr gerecht zu werden, dass

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man daraus eine Weltanschauung oder ein politisches Programm macht. Wenn wir von Volk sprechen, so meinen wir das eigentümliche Leben dieser Gesamtheit, seine Sprache, sein Leben, sein Sittenleben, das Leben seiner eigenen Ordnungen nicht in Bezug auf andere Völker, sondern in sich selbst. Dieser Volksbegriff hat dieses unvergleichliche an sich, dass er, ich möchte sagen, in sich beruht, dass er nicht verführt zu einer Weltanschauung aufgeplustert zu werden. Er eignet sich nicht dazu. Es ist ein etwas in sich Existierendes dieses Volk und nicht über sich Hinausstrebendes. Nur soweit gibt es Volk. Nun freilich – wir leben in einem Zeitalter, die letzten Jahrhunderte, in dem Volk in diesem Sinne der Selbstbezogenheit, genau wie Personen, dass eine Gruppe, eine natürliche Gruppe, die mit der Welt auf die Welt zulebt und dieses Leben auf sich selbst bezogen erfährt, wir leben im Zeitalter des Volkszerfalls. Ich möchte dies sagen und ohne romantische Wehmut feststellen. Es ist eine Tatsache des geschichtlichen Vollzugs, dass das Volk seit Jahrhunderten immer mehr sich zersetzt, dass immer grössere Teile ins Unwillkürliche zerfallen. Und nun bei diesem Zerfall, wenn man ein Land nennt wie Deutschland, man könnte beinahe versuchen eine Landkarte zu zeichnen, wo man in Deutschland aufmalt, was es noch an Volk gibt, ohne Romantik statistisch abzeichnen, was es an Volk gibt. Ich glaube, dass es eine recht nachdenkliche Sache wäre. Volk ist Gemeinschaft, natürliche Gemeinschaft d. h. ein Zusammenleben von Menschen, das urtümlicher ist als die Menschen. Masse ist nun ganz gewiss nicht dies, ist überhaupt nicht eine Beschaffenheit. Masse ist nicht etwas, wovon man sagen kann, das und das ist es. Masse ist eigentlich eine Not, Masse ist eine Vielheit von Menschen, die nicht das und das ist, sondern das und das nicht ist. Also Masse ist etwas was nicht ist. Jede Masse existiert eben in dieser Abwägung, in dieser Unzufriedenheit, in diesem Nochnichtsein, in diesem Anderen, in diesem Danebenwollen, in dieser Not. Masse geht auf etwas zu, was im Werden ist. Masse ist nichts Dauerndes, Masse ist etwas Bedürftiges. Etwas was in seiner Bewegung, in dieser Bedürftigkeit, im Ausdruck dieser Bedürftigkeit, in den Ausbrüchen dieser Bedürftigkeit ist, das ist das Leben der Masse. Das was wir die aktuelle Masse nennen, das eigentlich ist sie. Wir können noch von der unterirdischen Masse sprechen, die aber immer auf diese zugeht, von diesen Ausbrüchen aus zu erfassen und zu verstehen ist. Sie will aussprechen, sie will ändern und werden d. h. Masse ist in einer Vielheit von Menschen dergestalt wirkliche, wirklich gewachsene, wurzelhaft gewachsene Lebensnot und Werdensnot; also Urgestalt von Volk zersetzt diese Not dieses Zerfalls, diese Not dieser Zersetzung in etwas Gestaltloses, was aber wieder hergestellt werden soll, in etwas Heilloses, was aber

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nach Heil begehrt, – das ist Masse. Also Masse ist nicht etwas, wie man heute anzunehmen geneigt ist, was sozusagen ein dauernder geschichtlicher Bestand ist, sondern Masse ist Uebergang, von Menschenwillen aus überwindlich bestehender Uebergang, Uebergang zu Gemeinschaft, die wir Volk nennen. Wir fühlen, dass hier eine Skulptur, eine Gestalt, ein eigensätzliches Leben nicht vorhanden ist, sondern ein Durchgang durch dieses dunkle Tor, durch das die Geschichte hindurch muss. Sie weiss nicht wohin, wir stehen drin. Nun wir haben aber nicht blos das Phänomen der Massen schlechthin, sondern wir haben das Phänomen der organisierten Masse. Wenn wir heute von Massen sprechen, so denkt man an eine organisierte Masse. Das ist etwas Sonderbares. Nämlich im Grunde genommen, leben Massen in dem Augenblick wirklich, wo sie ausbrechen. Wo die ganze angesammelte Unzufriedenheit zustimmende Aeusserungen findet. Jede Masse ist eigentlich ihrem Wesen nach Revolutionsmasse. Nun diese Masse im Augenblick der Aeusserung, das ist die Masse, die von den organisierenden Faktoren festgehalten wird. Organisierte Masse heisst eine Masse, die dauernd im Zustand der Aeusserung, im Zustand inneren Selbstbewusstseins festgehalten werden kann. Denken Sie daran was ich vom Nationalsozialismus sagte, dementsprechend hier ein bestimmtes Massenbewusstsein, das gepflegt, gefördert, organisiert wird. Man will diese Aktualität der Masse zu einer dauernden Einrichtung machen und in einer gewissen Weise gelingt es. Wie ist das Verhältnis des Individuums zur Masse. Wie ist das Verhältnis der Persönlichkeit zur Masse. Der einzigartige einmalige Mensch in seiner Gegebenheit, in seiner tatsächlichen Gegebenheit etwa in dem Augenblick einer Spannung, eines Nichtaussprechens, eines Geladenseins? Was geschieht? Er wird von der Masse getrieben und wird getragen von der Masse als Individuum und nicht als Persönlichkeit. Aber nicht ebenso einfach ist es zu sagen, wie es für die Person ist, die etwa der Masse nahetritt d. h. die ihre Sache mit der Sache einer Masse verbindet und verbündet. Wenn es eine Persönlichkeit ist in jenem Sinne, die ich angedeutet habe, so ist ihr Verhältnis kein so einfaches, es ist ein Widerspruch. Es ist eine höchst zwiespältige Angelegenheit. Es gibt auf der einen Seite dieses Getragensein, auf der anderen Seite den tausendfältigen aus dem ganzen Dasein der Masse herausbrechenden Widerspruch gegen die Rechtmässigkeit dieses personhaften Lebens. Man hat manchmal darüber gescherzt, wie es einer Person ergeht, die in eine Masse eintritt. Diese Verbindlichung, die von der Masse her sich androht der Persönlichkeit, dieses Hereingelassen-Werden in eine Dumpfheit der Masse, das bedeutet, dass einerseits der Mensch, der in ein Verhältnis zur Masse tritt, einerseits von dieser grossen Lebensnot und

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Werdensnot, die in der Masse Ausdruck nimmt, mitergriffen wird, dass er andererseits aber in seiner eigentlichen Existenz, die Welt und Du auf sich selbst bezogen hat, fragwürdig gemacht wird. Daraus ergibt sich, dass die Person der Masse gegenüber eine eigentümliche Verantwortung hat. Ich glaube, dass der Mensch, der sich in einer Zeit, wo jenes Zersetzungsprodukt so ungeheuer geworden ist, dass sich der persönliche Mensch ihr nicht entziehen darf. Wenn er auf diese Individualität verzichtet und vor das Angesicht der Masse tritt, dass er dies nur vermag, indem er sich zwar hingibt aber nicht ergibt, indem er ihr hilft, indem er für sie eintritt und zugleich an ihrer Ueberwindung arbeitet, mit anderen Worten jener Vorkriegszustand des persönlichen Menschen, der neben der Masse existieren zu können glaubte, der ist dahin und unwiderbringlich. Der Krieg, die Geschichte der Kriegszeit, diese Zeit hat als Enthüllung der Unmöglichkeit dieser Situation der Persönlichkeit neben der Masse gewirkt. Diese Fragwürdigkeit, ich möchte sagen Nichtswürdigkeit des isolierten Menschen in einer Zeit, wo es so etwas wie diese dumpfe leidende Masse gibt, diese ist aufgedeckt worden und ein Zurück gibt es nicht mehr. Aber die Frage dieser Enthüllung dieser Aufdeckung gegenüber ist: was wird nun? Sie wissen, nach dem Kriege gab es eine Situation, ich habe zu Anfang darauf gedeutet, die irgendwie an solch losgerissene Teile eines Organismus erinnert, nämlich, dass die Menschen losgerissen wurden aus jenem Zusammenhang einer Volksexistenz oder nationalen Existenz, an die sie glaubten, an dessen Wirklichkeit nicht zu zweifeln ist. Legen Sie sich nun die Frage vor, wie sie zu einer Gesamtheit sich finden könnten, und die erste Antwort ist jene, die die ersten Generationen nach dem Kriege gaben; indem sie versuchten, Gemeinschaften zu gründen, indem sie versuchten, da es sich ergeben hat, dass es eine wirkliche Verbundenheit aller nicht gibt, wo sich diese fundamentale Einsamkeit der Person ergeben hat, wo sie versuchten, Gemeinschaften zu stiften, sich zusammenzutun, Siedlungen zu gründen aller Art. Nun Gemeinschaften, organische Gemeinschaften, wirkliche Lebenszusammenhänge von Menschen lassen sich nicht stiften. Sie kennen alle den Schiffbruch dieser romantischen Unternehmungen und nun tritt die andere neue Generationen auf, die wir heute so deutlich sehen. Das ist die Generation, die alle diese Versuche, alle diese Romantik beiseite wirft und die die Masse als die wirkliche Gesamtheit akzeptiert die Masse, das Formlose, Gestaltlose, die Werdensnot in der gestaltlosen Freiheit, diese Masse akzeptiert. D. h. – stellen Sie sich vor, dass so ein Herzpartikelchen, das nicht zum Herzen nicht zum Organismus zurückkommt, versucht, Bestandteil eines menschlichen Ganzen zu werden, um dort wieder einer Gesamtheit sich anzuschlies-

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sen. Die Masse ist eine Maschine von höchster Spannung, von ungeheurer Energie, aber sie ist kein Organismus. Es ist mir zweifelhaft in dieser Unternehmung der Generation etwas sehr grosses, bei manchem Opfer, wenn man diese Menschen betrachtet wie sie geworden sind. Man kann schon sehen, wie sie geworden sind, man sieht, dass ihnen zwei Dinge abhanden gekommen sind. Die Dinge, die die Persönlichkeit aufbauten. Die Welt, das Du und irgendwie auch das Selbst. Ich meine diese Menschen haben diese Hingabe, dieses Hingabeverhältnis zur Masse, aber sie haben kein Verhältnis zur Welt mehr. Ich glaube nicht, dass einer dieser Menschen, die ich meine, wirklich empfindet, was dies ist: zur Welt, dieses Unendliche, in das man hier an diesem kleinen Ort und in diesem kleinen Zusammenhang eingefügt ist, und das man dort wirklich zu erfahren bis in die fernsten Sterne hin, wirklich damit verbunden zu werden vermag, mit den Augen, die dieses Licht trifft, mit dem Vorstellungsvermögen, das diesen Weltkörper als Wirklichkeit zu fassen sucht in der unnennbaren Bezogenheit auf das Kosmische. Ich glaube, dass dies dem Menschen, der sich so der Masse ergeben hat, abhanden gekommen ist. Das andere ist das Du. In aller dieser bewundernswürdigen Hingabe ist immer seltener zu finden, dass zu irgend einem dieser Menschen, mit denen man so werkmässig, betriebmässig, gewerkschaftsmässig, vereinsmässig, parteimässig verbunden ist, dass man zu irgend einem Menschen das ganz einfache Verhältnis des Miteinanderlebens, des Austauschs von Wesen zu Wesen hat, und sogar da, wo persönliche Beziehungen sind, Beziehungen der Freundschaft, Beziehungen der Geschlechter, ist eine eigentümliche wie man sagt Versachlichung in Wirklichkeit Verfremdung eingetreten. Es ist nicht zu leugnen, dass sowohl die Welt als das Du in der Phase der Gemeinschaft durchaus [Leerstelle im Text] gewesen war. Die neue Generation hat auf dieses Verhältnis resolut verzichtet. Ich habe schon angedeutet, dass im Zusammenhang mit der Welt, im Zusammenhang mit dem Du allein das Selbst wächst und wird auch auf die beiden Bezug haben. Und nun von der anderen Seite her, von der Seite der Masse her gesehen. Wenn ich das einem Menschen, von denen ich hier sprach, sagen würde, so würde er mir das bestreiten. Es kommt auf das private Leben nicht mehr an. Es kommt darauf an, diese Massensache, der ich mich ergeben habe, durchzusetzen. Wir haben diesen Luxus, dem privaten Leben zu fröhnen, aufgegeben. Es handelt sich um die harten Kämpfe der Masse um die Durchsetzung der primitivsten Forderung der Masse, oder gar um die Erlösung der Masse. Diese ganze Rechnung, dieses ganze Nachrechnen hat überhaupt keinen Wert. Es ist zu fragen wie steht es um die Lebensverantwortung der Masse gegenüber, an die sie sich in dieser Weise

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hingibt. Es ist so, wenn man nun einen solchen Menschen fragt: du forderst für die Masse dies und dies, du stellst dieses Ziel über die Masse auf, und du wünscht der Masse zu helfen, dieses Ziel zu erringen, wie steht es nun um die Erfüllung eben dieses Ausspruchs im persönlichen Leben. Er antwortet, dazu haben wir keine Zeit. Wir können uns nicht damit beschäftigen, in der kapitalistischen Gesellschaft irgend welche Oasen von Sozialismus aufzurichten. Wir haben die kapitalistische Gesellschaft so zu nehmen, wie sie ist, d. h. dieses Provisorium muss eben so genommen werden wie es ist. Es ist eine grundsätzlich falsche Haltung. Weltgeschichtlich geht dies nicht an. Als ob ein Mensch für ein Ziel arbeiten könnte und anders leben, grundsätzlich anders leben, unabhängig leben von dem, was dieser Zweck in Bezug auf das persönliche Leben dieses Menschen fordert Ich meine nicht das persönliche Schicksal des Einzelnen. Ich meine, dass auf diese Weise, wenn Menschen etwas durchsetzen wollen, durchzusetzen suchen, ohne es zu verwirklichen, ohne dieses Durchzusetzende soweit zu verwirklichen, als es mit ihren Kräften in ihrer Situation je und je möglich ist, dass dann die Durchsetzung eine Scheindurchsetzung ist. Es ist nicht möglich zu scheiden zwischen einem Ziel das dort ist, auf das man einfach hoffend zugeht, und dann wird die Verwirklichung sein. Es ist also nicht so, dass man sich auf die künftige Gestalt verlassen kann und sagen, jetzt opfere ich eben, verzichte ich auf ein Leben wie es meinem Wesen gemäß ist um eben jenem künftigen zu dienen, sondern wie es falsch ist, zu glauben, dass nach einer Revolution eine ungeheure Fruchtbarkeit, Wertfruchtbarkeit einbricht, und die revolutionäre Menschheit alles aus sich hervorbringt, so falsch ist es anzunehmen wird die moderne Theorie, dass eine provisorische Ordnung, die hergestellt wird, dass diese Ordnung irgendwie abzusterben geneigt ist oder geneigt sein könnte. Es gibt nicht diese Fruchtbarkeit, es gibt nicht dieses Absterben eines zentralistischen Machtstaates, es gibt nur das wirkliche Leben der Menschen, persönliches Leben jetzt und hier baut an dem was werden soll, und wenn jetzt nicht gebaut wird durch das Leben der Menschen, dann wird dann und dort kein Bau richtig sein, sondern es wird nichts sein. Also dieses jetzt schon wirkende Bild der Menschen vom künftigen Bau, dieses in der Materie ihres eigenen Lebens in ihrem Lebenszusammenhang sich auswirkende Bild, das ist die Voraussetzung dafür, das einst ein Bau wird. Grundriss eines künftigen Gesellschaftsbaues gibt es nur in der Form des personhaften Lebens der Menschen miteinander. Gibt es diesen Grundriss nicht, dann gibt es in keinem Land den Bau. Die andere Verantwortung ist die von Person zu Kosmos. Es geht nicht an, dass die Person der Masse gegenüber ihre Stellung ansieht als einen Vollzug des-

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sen, was die Masse wünscht. Verantwortung heisst wirkliches Antworten auf das, was an einem aus dieser ungeheuren Lebensnot und Werdensnot der Masse herantritt. Aber Antwort heisst nicht Echo. Antwort heisst, dass diese Persönlichkeit, wie sie es ist, die Welt und Du auf das Selbst bezogen hat, dass die nun dieser Not wirklich antwortet. Und wirklich einer Not antworten das heisst nicht blos sie zu stillen versuchen. Stellen Sie sich vor, dass einer von Ihnen einer persönlichen Not gegenübersteht, gewiss der erste Antrieb ist diese Not abzuschaffen; aber dann ist die grössere unendlich schwere Frage: ja ist damit diesem Menschen wirklich geholfen, gibt es nicht in der Existenz eines Menschen eine Not, die tiefer ist als die, von der er weiss, muss ich nicht so sehr ihn erfahren, ihn erkennen, dass ich nun auch die Not herausnehme, von der er nichts weiss. Muss ich mich nicht, statt mich mit seinem Bewusstsein zu begnügen, muss ich nicht die Not seiner Existenz erkennen und der abzuhelfen versuchen. Ist es Recht der Masse gegenüber dabei stehen zu bleiben? Es gibt eine Bedürfnislosigkeit der Masse d. h. wenn die Masse, was ist unmittelbar verständlicher als dies eine, kürzere Arbeitszeit fordert. Aber wenn nun Menschen wirklich der Masse antworten und nicht blos widerhallen, dann müssten diese Menschen fragen: worin besteht denn die eigentliche existenzielle Not der Masse, besteht sie nun darin, dass man 10, 9, 8, oder 7 Stunden arbeitet, oder besteht sie darin, dass das Leben entzwei gerissen wird? Heisst es denn der Masse, der Not, der Lebensnot und Werdensnot wirklich antworten, wirklich ist dies genug ist diese verantwortende Antwort für einen 8 Stundentag zu kämpfen genug getan zu haben. Das ist nicht genug. Ich glaube, dass ein schlechtes Uebel nicht durch Zeitminderung, durch Zeitverkürzung überwunden wird, dass ein Arbeitstag von 7 Stunden im nicht geringeren Masse ein Leben in sich birgt wie ein 8 Stundentag. Das ist eben diese Not, diese existenzielle Not, das ist die Not des Menschen, der wirklichen menschlichen Kreatur, die nicht dulden darf, dass ein Leben zerrissen wird in eine solche durchrationalisierte aber unmenschlich rationalisierte Arbeitszeit. Ich sage dass die Verantwortung der Masse gegenüber bedeutet, Behebung der Not, Verantwortung nicht etwa blos für das, was diese Menschen brauchen, zu brauchen glauben, sondern für ihre natürliche Existenz, und von da aus die sozialen Aufgaben, die technischen Aufgaben, die laufenden Aufgaben, von da aus von menschlicher Existenz aus soll rationalisiert werden. Einen Schritt tiefer möchte ich zuletzt antreten. Die Masse ist ihrem Wesen nach Formmasse. Sie ist nicht Gemeinschaft, aber das ist nicht so als Verhängnis zu fassen, dass der Mensch der Masse hingebungsvoll gegenübersteht, dieses Faktum schlechthin zur Kenntnisnahme zu nehmen

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hätte. Ueberall bekommt er es mit Menschen zu tun. Wenn er diese Menschen ernst nimmt, wenn er zu diesen Menschen echte unmittelbare Beziehungen aufrichtet, dann wird augenblickshaft, stundenhaft, taghaft und weiter und weiter Gemeinschaft möglich mittendrin, mittendrin in dieser gestaltlosen Massenexistenz entsteht Gemeinschaft. Es bildet sich etwas vor, es ist nicht so, dass die Masse abgelöst würde durch ein Wunder. Gemeinschaft wird nur aus Gemeinschaft entstehen, aus kleinen Gemeinschaften, und so wichtig es eben heute ist, so wichtig, dass die Ehe, die die Krisis durchmacht, dort als Gemeinschaftsform bewahrt wird, dass sie aus diesem Abgrund dieser Krise hervortrete, ebenso wichtig ist, dass sich in der organisierten Masse, dass da wirklich Gemeinschaft, wirkliche Kameradschaft, wirklicher Zusammenhang von Mensch zu Mensch sich bildet. Dazu kann der personhafte Mensch, der sich der Masse hingibt, stärker wirken als irgend einer der in der Masse selbst steckt. So ist der Unterschied zwischen falscher und echter Hingabe. Es hat in der vergangenen Epoche eine sogenannte Unabhängigkeit von der Masse gegeben. Es gibt eine neue echte Unabhängigkeit. Leben und Standhalten, Leben und Widerstehen, zuletzt wenigstens hindeutend eine Folgerung zu ziehen für das grosse Problem der Beziehung. Es gibt keine sogenannte Beziehung zur Persönlichkeit mehr, wo so etwas noch hie und da gepflegt wird, ist es nichts als Schein. Einmal käme ein Sichhineintäuschen über die Tatsächlichkeit, in der man steht. Es kann keine geben, weil Persönlichkeit kein Zweck ist. Man kann aus sich keine Person machen, auch aus anderen nicht. Aber auch die Erziehung, die man heute manchesmal verkünden hört, zu einem Bestandteil der Masse ist sinnlos und sinnwidrig d. h. Organisches zum Bestandteil einer ungeheuer gespannten aber doch seelisch amorphen Uebergangseinheit zu machen, also nicht zum Bestandteil der Masse, sondern zu einem leibhaften Glied der Gemeinschaft, die in der Masse und durch sie, durch die Gliederung die Gestaltung der Masse werden soll, zum Glied der in der Masse und durch sie werden könnenden Gemeinschaft. Also es ist nicht an dem, dass man zu wählen hat zwischen Masse und dem Geheimnis dem die lebendige menschliche Person lebensmässig standhält, sondern in dem man sich rechtmässig in dem ganzen Widerspruch gelegten Widerspruch des Mitgehens der Masse ergibt. Dann erfährt der persönliche Mensch, der Mensch, vielleicht dürfen wir hoffen des morgigen Tages, er schaut zum Sternenhimmel hinauf und sieht die Tatsächlichkeit mit unerbittlichen schonungslosen Tatsachen, erblickt die Tatsächlichkeit um sich herum. Er geht ein in diese ungeheuren enormen Zusammenhänge und er rückt je und je nach unmittelbaren Beziehungen zu den Menschen, die er da antrifft. Er nimmt die Pflicht

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der Stunde, die grausame Pflicht der Stunde auf sich und er dient dem Geheimnis, das er in seiner Einmaligkeit in seiner personenhaften Einmaligkeit zuerst erfahren hat und das letztlich eins ist mit dem Ziel, das er meint und auf das er zuzugehen und mit diesen unzulänglichen Schritten hinzugehen versucht.

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Religion und Politik (Vortrag) Erwarten Sie bitte von mir nicht, dass ich antworte oder gar Recepte gebe in diesem Bereich, von dem ich Ihnen sprechen will. Es geht mir darum, und ich glaube, dass man einzig dieses in dieser Stunde vermag, gemeinsame Fragen zu behandeln und ich weiß es jetzt in diesem Augenblick noch nicht – da es mir ernst ist darum zu diesen Menschen nicht ins Blaue zu reden –, ob es sich erweisen wird, dass es wirklich unser aller gemeinsames Fragen ist oder nur ein Kreisen in diesem Kreis. So also bitte ich Sie in diesem Sinne sich als von mir angeredet zu empfinden. Und nun muss ich noch etwas vorausschicken: Inwiefern ist es möglich, zugleich – wie ich versuchen muss – ganz ernst, also ganz wirklich von Religion zu reden, von der Beziehung zur Religion und irgend einem Bezirke des Lebens, und doch notwendigerweise allgemein. D. h. also: wie ist es möglich von Religion, also von dem, was man, wenn man es kennt, doch nur aus dem persönlich gelebten Leben, aus der Erfahrung, aus dem Erfahren kennt, allgemein gültig zu sprechen. Es scheint mir, dass dies ein Widerspruch ist, dass man vielmehr gerade wenn man von sich aus, von der religiösen Wirklichkeit aus und ich darf sagen von der Wirklichkeit seines Lebens aus redet, was man gerade dann, nur dann von allem aus, von aller Religiosität aus, etwa über menschliche Religiosität hinaus, von dem reden kann und reden darf, was aller gläubigen Menschen Gläubigkeit meint. Denn nur, wenn man irgend ein Heiligtum von innen erfahren hat, kann man von der Wirklichkeit der Heiligtümer und von der Wirklichkeit des heiligen Zweckes – natürlich nicht zulänglich aber doch rechtmäßig – reden. Und nun fragen wir uns zunächst obgleich dies eigentlich eine unmögliche Frage ist, aber es muss doch zu Anfang gefragt werden, damit wir uns verstehen; was ist denn das: Religion? Es ist deshalb so wichtig dies zu Anfang zu fragen und natürlich nicht mit philosophischen Definitionen, aber doch etwa so konkret als möglich zu beantworten, weil je nachdem, wie diese Beantwortung ist, das Verhältnis zwischen Religion und Politik sich ganz verschieden darstellt. Wäre nämlich Religion eine Abteilung des Geistes, wäre Religion lediglich der Glaube daran, dass dies oder dies ist, oder wäre Religion eben diese oder jene Handlung, vorgeschrieben oder nicht vorgeschrieben, wäre Religion irgendwie etwas, was am Sonntag geübt wird aber nicht am Wochentage, wäre Religion etwas, was in besonderer weihevoller Stunde gedacht oder gefühlt wird aber nicht in den Entscheidungen des Alltags, den großen und den kleinen, dann wäre es doch einfach,

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Religion und Politik abzugrenzen, dann hätte man nur einfach zu bestimmen: Politik hat diese und diese Sphäre des Lebens und Religion diese und diese und die beiden Mächte hätten sich nur miteinander zu vertragen u. z. sowohl im Leben der Gesellschaft, als auch im Leben der Person. Im Leben der Gesellschaft könnte man sich über die Verteilung sehr wohl verständigen, dass jeder seine eigenen Besitze, seine eigene Sprache, seine eigene Buchführung hat und dass er dem anderen nicht in das Gehege kommt. – Aber wenn es anders ist, und es ist anders, wenn Religion nicht irgend so etwas ist, was sich dem Menschen begibt, sondern etwas, was sich zu dem Menschen in einer letzten unaussprechlichen Wirklichkeit begibt, wovon der Mensch überhaupt nur eine Seite, seine Menschenseite, seine in seiner Innerlichkeit erfahrene Menschenseite kennt und verwaltet, dann ist es anders, dann ist eine bequeme Abgrenzung: Hier eines, hier das andere, nicht möglich, dann sind es überhaupt nicht 2 gleichberechtigte oder doch auf gleicher Ebene stehende Abteilungen des Lebens. Es ist aber so, dass Religion, wenn sie etwas ist – und es gibt sie – faktische Gebundenheit ist, faktische Verbundenheit mit einem Seienden, das nicht aufgezeigt werden kann, nicht gefasst werden kann, nicht erwiesen werden kann; aber erfahren werden kann und erfahren wird und von dem aller Sinn kommt, der in unserem Leben erfahren wird. – Dann sind es nicht 2 Abteilungen, die gegeneinander abgegrenzt werden können oder in ihrem Recht, ihren Handlungen und Dasein, sondern dann ist Religion etwas völlig anderes als Politik und als irgend ein anderer Bezirk des Lebens, denn sie allein meint das Ganze, sie allein kann es meinen und welcher andere Bezirk es sich auch einbildet es zu sein, er wird durch die blose Existenz dieser Verbundenheit widerlegt und gerichtet. Ist Politik die Ordnung und Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten menschlicher Gruppen und Verbände irgend welcher geschichtlicher oder sonstiger Art, ist sie das, dann hat sie eben diesen besonderen Bezirk sich zugewiesen. Dem gegenüber steht aber, wie allen einzelnen Bezirken, der Totalanspruch der Religion, den sie erheben muss, wenn sie ihrem Wesen, ihrer Berufung treu (wird?), d. h. Religion verrät je und je ihre ernste Sache, wenn sie sich mit irgend einem Bezirk des Lebens in der Gesellschaft oder Person so verständigt, dass eine Grenze gezogen wird. Religion ist sich selbst und darüber hinaus, sie ist der Wirklichkeit die sie meint nur dann treu, wenn sie weiss und verficht, dass sie und sie allein das Ganze meint und das Ganze zu beanspruchen hat; natürlich nicht so das Ganze als Summe der Bezirke, sondern das Ganze, als die sie allumschliessende, lebendige Einheit. Aber, und dies wird immer wieder erkannt aus den Tatsachen der Geschichte. Religion

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verliert immer wieder das Recht auf den Totalitätsanspruch. Dann, und immer solange als sie selber der Politisierung verfällt d. h., als sie in ihrem eigenen Leben, in ihrem Verhältnis zu den Menschen, die ihr im einzelnen angehören und zu den Menschen, die ihr nicht angehören, eben zu denen die sie gewinnen will, politisch steht. – Wenn sie das Mittel, das Prinzip, das in der Politik herrscht sich aneignet, wenn sie sich also der Politik zwar nicht äusserlich aber innerlich in ihrem eigenen Wirken unterwirft, dann begibt sie sich des Totalitätsanspruchs, dann ist sie Bezirk zwischen Bezirken; aber das, was ich anzudeuten versuchte, ist es dann nicht. Diesen Anspruch kann sie dann nicht mehr begründen. Ist Religion faktische Verbundenheit, also nicht vorgestellte, gemeinte, gefühlte, visionäre, die sich in allen diesen menschlichen Vorstellungen und Gefühlen zeigt, dann bedeutet sie zugleich etwas so ungeheueres, vielleicht das grösste, was wir von unserem persönlichen Leben aus zu kennen vermögen, nämlich die unbedingte Annahme des Lebens, dass Annehmen des Lebens, u. z. nicht irgend eines illusionären, vorgestellten, gewünschten Lebens, etwa wie man gern möchte, dass es so sei, sondern des wirklichen Lebens, – so hart, so grausam, so widerspruchsvoll es ist. Des Lebens, in dem es all dies gibt, was es gibt, diesen Tod, dieses Siechtum, dieses Leiden der kleinen Kinder. Wenn Religion faktische Verbundenheit mit dem Geheimnis der Wirklichkeit, des Seins ist, faktische Verbundenheit vom Ich zum Du, bei wie unmessbarem Abstand, dennoch Verbundenheit, dann ist sie zugleich trotz aller Verzweiflung die Gläubigkeit, die nicht entgehen kann, trotz aller Enttäuschung und Auflehnung, die je und je unter den Menschen geschehen. – Trotz allem ist es immer wieder der Glaube, der in der Verzweiflung doch wieder erwacht mit seinem grossen Losungswort: Dennoch! Dann wird das Leben immer wieder, eben dieses Leben u. z. dieses Leben nicht blos als etwas, was einem widerfährt, nicht als das Leben, das sich einem antut, sondern das Leben in seiner ganzen realen, geheimnisvollen Doppelseitigkeit, das Leben, das sich einem antut, und das Leben, das von einem getan werden will. Also das in jedem Augenblicke doppelseitige Leben. Dieses Leben und dieses Leben, beide gehören in jedem Augenblick unlösbar zusammen. Dieses »Zusammen« wird angenommen; – das ist Religion! Der religiöse Mensch der [Leerstelle im Text] sondern wie es sich in diesem Menschen von etwa der Scheide zwischen Morgenland und Abendland, bis in das äusserste Abendland hinüber, wie sich daraus die Religion ausprägt, ausgeprägt hat, so scheint es mir so zu sein, dass dieser Mensch, wir könnten ganz einfach den abendländischen Menschen nennen, das ist aber zu einfach begriffen, sondern

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dieser morgen-abendländische Mensch, wie man ihn deutlich erkennt, von Beginn der israelitischen Religion, bis zu einer Ausbildung der christlichen Gläubigkeit [Leerstelle im Text] Dieser Mensch ist der, der lebt in einem Zwiegespräch, deutlich oder undeutlich wissend, aber in einem Zwiegespräch stehend, natürlich nicht mit dem Munde redend und mit den Ohren hörend, sondern so, dass das Widerfahrene Sprache ist, die von ihm vernommen, von ihm gelebt, von ihm gedeutet wird und das, was er tut und lässt, sein Handeln und sein Nichthandeln, auch sein Unterlassen der Handlungen bestimmt. Dieses dialogische Leben, dieses Hinüber und Herüber der Begebenheiten und der menschlichen Versuche auf diese Begebenheiten zu antworten. – Dieses beides zusammen möchte ich das dialogische Leben nennen, in dem wir alle mehr oder weniger es wissend stehen. Dazu gehört nun, dass jeder von uns, dass ich meine Seite dieses Zwiegesprächs im letzten Ernst meine, eben als das, was ich mit meinem Leben und Sterben antworte, was ich verantworte. Ein echtes Verantworten ist antworten und dazu gehört einer, dem man antwortet. Dass ich also dieses im letzten Ernst meine, wissend, dass ich nicht zulänglich antworten kann und dennoch das Wort der Erwiderung je und je hervorstammle, so gut man kann und man die Zeichen vernehme – und man vernimmt sie –, man nimmt sie wahr, aber man muss im innersten Leben der Person sich verantworten, in der Substanz des gelebten Lebens ausdeuten und wie geht das zu: Es gibt kein Wörterbuch, in dem man nachschlagen kann, keine heilige Schrift ist ein Wörterbuch, in dem man nachschlagen kann, auf Fragen, die einem im Leben gegeben werden. Sie sind deutbar und undeutbar zugleich; sie sind deutbar, aber mit Furcht und Zittern, – sie sind deutbar, aber so, dass man nicht sagen kann, das und das ist es, sie sind deutbar, aber sie sind nicht übersetzbar, sie sind deutbar im Wagnis und als ein Wagnis. Es kann nicht empfangen und nicht erwidert werden. Ich will damit keine Geschichtsbetrachtung, ich weiss nur in dem Augenblick, den wir jetzt leben, ich weiss nur um das, was ich selber wahrnehme, denn davon darf man ja nur reden. Also keine Geschichte kann mich hier belehren, sondern nur eben dieses Lebendige in mir und um mich. Da ist es jedenfalls. Es gibt ja unzählige Menschen, die irgend einer Religion angehören, sich ihnen zuzählen und etwas ganz anderes meinen. Es gibt diejenigen denen es ganz behaglich wohl ist, Religion und irgend ein Gebiet des Lebens abzugrenzen z. B. Religion und Politik, aber dann gibt es die Gesicherten, die des Sinnes sicher sind, die religiös Bescheid wissen, d. h. die, wenn ihnen etwas widerfährt, genau wissen, was Gott ihnen damit sagen will, die ablesen und nachschreiben uns es sagen können, in fassbaren Begriffen. – Ich gestehe weder zu den einen

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noch zu den anderen wirklich sprechen zu können. Ich vermag also nicht so zu reden, dass man etwas vorträgt, sondern dass man wirklich nicht blos von hier oben herüber und hinüber, sondern eigentlich auf derselben Ebene miteinander spricht; so vermag ich zu Ihnen nicht zu reden. Ich vermag nur zu reden zu denen, denen es sich gibt, wie ich es sage, zu denen, die zwar in einer Richtung weisen mit ihrer Seele und mit ihrem Leib, aber so, wie die Magnetnadel nach Norden weist, zitternd nur, mit denen vermag ich zu reden. – Zu diesen Menschen rede ich von unserer gemeinsamen Not, von dieser Not, die wir kennen. Wir kennen jetzt im Leben der Gesellschaft und der Person diese Not des Dunkels, aus der wohl je und je ein Gebilde unser Auge trifft, aber undeutlich, wo eine Stimme redet, aber eine leise, je und je fast verklingende Stimme; wie sehr wir auch spannen auf sie zu lauschen, wir verlieren sie je und je aus dem Ohr. Und so gehört freilich dazu, dass wir nun, wenn wir auch so wie ich sagte stammelnd immer wieder zu antworten versuchen, dass wir immer wieder verstummen, ich meine die, die wirklich versuchen, dann verstummen und nicht mehr wissen, wie es weiter geht. – Es scheint, dass dies unsere gemeinsame Situation ist. Noch einmal, gleichviel wie es gewesen: Es geht uns jetzt nicht mehr an, was eben gewesen ist, sondern was jetzt ist und was werden soll. Auf das persönliche Leben angewendet: Der Mensch, der in dieser Not und in diesem Glauben steht d. h., ich will es paradox ausdrücken, hat keine Prinzipien. Er hat keine in der Tasche, die er jeweils herausziehen und nach denen er handeln kann, die ein für alle mal gelten für das ganze Leben; Prinzipien, die auf die einzelnen Situationen angewendet werden. Mir scheint, es ist immer so gewesen, dass der Gläubige keine Prinzipien hat, dass ihm vielleicht Gebote, Gesetze gesagt waren, aber doch nicht so, dass er diese zum Prinzip machen konnte, die er in den beliebigen Situationen verwenden konnte. Denn die Situationen stehen ja in keinem Buch, auch in keinem heiligen Buch, sondern die Situationen treten doch immer uns von neuem an, mit neuem Gesicht, so wie je und je ein Menschenkind geboren wird und dieses Gesicht war noch nicht da und diese Stimme war noch nicht da, so mit den Situationen unseres eigenen Lebens. Wie wir keine von ihnen vorher sagen können, so können wir für keine von ihnen irgendwie sagen, wie wir jetzt dieser Situation zu begegnen haben. Sie fordert unser Wesen an mit einer Einmaligkeit, dieses noch nie dagewesene, was mich jetzt anfordert in diesem Augenblick. Ich muss mein Wesen hergeben und dann bin ich noch ungewiss; indem ich in diese Situation eingegangen bin mit meinem Wesen, nachdem ich versucht habe, dieser Situation zu begegnen und zu entgegnen, dieser persönlichen oder sozialen oder politischen, dieser mir geschick-

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ten Situation. Nachdem ich versucht habe zu entgegnen bin ich ungewiss, ob ich wirklich entgegnet habe. Und so muss es sein. – Der gläubige Mensch hat im letzten Grunde keine Prinzipien, er hat nichts als eine Richtung. Und diese Richtung ist keine von mehreren Richtungen, es gibt keine Richtungen, sondern es ist die eine Richtung auf der er in faktischer Verbundenheit, die so geschaffen ist, dass man sich verlassen und preisgegeben fühlt, als ob Gott nicht da sei. Also Richtung wohl, aber eine Richtung, die man sich je und je im Dunkeln ertasten muss und auch da kann man nicht zufrieden sein, sondern dieses ewig erneute Wagnis, dieses immer erneute Tasten und Suchen, und Finden und Nichtfinden, dies ist die Richtung dieser lebendigen menschlichen Substanz. Dieses brüchige, sterbliche, vergängliche, verwesende Wesen, das dennoch mit dem Grunde alles Seins unmittelbar verbunden ist und Du sagen kann rechtmäßig, und dies ist das tröstliche; dies ist Religion! – Mehr ist nicht not, dieses Ertasten, dieses Stammeln, das quantum satis: So viel genug der Stunde. – Wir fragen, wieviel ist genug? und antworten: soviel, wie du jetzt eben vermagst, aber auch nicht weniger, d. h. der Mensch. Und jetzt möchte ich immer wieder hindeuten auf das Leben der Gemeinschaft und Politik. Je und je rückt der Mensch, der so versucht, so bewegt die Linie, die Demarkationslinie, die so in jedem Augenblick vorschwebende Demarkationslinie, dies in der verwirklichten Gottesherrschaft und in der nichtverwirklichten, in dieser Demarkationslinie rückt der Mensch in all der Unzulänglichkeit seiner Antwort immer irgendwie vor, d. h. es gibt – wie immer die Religionen sich darinnen unterscheiden wie sie das fassen – es gibt dennoch für sie alle erkennbar einen menschlichen Anteil in dieser Verwirklichung der Gottesherrschaft, an diesem Kommen des Reichs, einen menschlichen, nicht abgrenzbaren Anteil, aber je und je in dieser harten Wirklichkeit des Lebens erprobten Anteil: Also das Vorrücken, das je und je irgend etwas verwirklichen, wir wissen nicht wieviel. Soviel, wie wir jetzt in dieser Stunde vermögen, und mit welchen Kräften? Ja, wer erfährt seine Kraft anders, als dass er sie erprobt? – Also wenn ich sage, keine Prinzipien die man anwendet, nichts wovon man sagt, das und das bekenne ich, so bin ich. – Aber je und je echte Entscheidung. Jetzt fliegt einem der Ball »Schicksal« entgegen und man muss zurückschlagen. Wenn man soviel wie möglich verwirklicht, also nicht von einem Prinzip aus, nicht von einem »entweder-oder«: Entweder kommt nun ein echter Sozialismus, oder es ist nichts damit – entweder kommt jetzt eine rechte Erneuerung, eine Herrlichkeitszeit, oder es ist nichts damit; oder wie man sonst formuliert. – Nicht entweder kommt das, oder ich muss in meinem persönlichen Leben die Hände davon lassen; sondern gerade

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soviel ich vermag und es gilt garnichts, wenn ich es durchzusetzen bestrebt bin für die anderen, für die Nachkommen, für irgend eine Menschheit, wenn ich nicht jetzt und hier mit den Möglichkeiten dieses Augenblicks in den Zusammenhängen, in denen ich von Natur und Schicksal stehe, in Haus und Schule und Beruf und allen den gesellschaftlichen Zusammenhängen, in die ich schicksalsmässig hineinbezogen werde, das zu verwirklichen versucht bin, soweit man kann, eben das, was man meint. Da sind die Menschen geschieden, aber wenn sie es wirklich meinen, mit ihren ganzen Wesen, so werden sich diese Parallelen ihres Meinens, ihres echten Meinens, da schneiden, wie sie sich zu schneiden haben in der letzten Wirklichkeit des Seins. Das bedeutet dieses nicht prinzipielle Handeln, sondern dieses echte Handeln, dieses Handeln aus dem Erfassen der einen Richtung, freilich jeweils in der neuen Situation. Dieses darf auch nicht etwa als Kompromiss angesehen werden; was ich meine ist: Der Mensch, der so lebt, geht jeweils Stunde um Stunde aus, er geht so weit er kann, er geht in der politischen Verwirklichung so weit er kann, aber es ist nicht zu vergessen: Immer zugleich mit diesem ganz persönlichen Leben, sonst gilt es nicht und natürlich erfährt er eine Schranke, er erfährt, dass dadurch der Widerstreit, der Widerstreit der jeweiligen Realität der Gesellschaft, daraus der Widerstreit, der politische Zustand usw. anfängt. Er erfährt die Schranke und das ist das wirkliche Leben, das aktive Erfahren der Schranke. Religiös gesprochen. Er erfährt die Schranke und erfährt die Gnade zugleich. Denn diese Schranke zugleich ist ja nicht blos etwas, was die Menschen eingerichtet haben, sondern in dieser Schranke erfährt er etwas, was über alle Schranken hinausweist; wenn er nur mit seinem ganzen Leben, mit seiner ganzen Lebensmächtigkeit hingegangen ist; wenn er nur, wie das Wort lautet, mit dem Kopf an die Mauer gegangen ist. D. h. Beispiel dafür: Es ist sehr einfach Gewalt und Gewaltlosigkeit gegeneinander als Prinzipien aufzustellen, aber auch das Prinzip der Gewaltlosigkeit ist nicht Gläubigkeit, sondern Gläubigkeit bedeutet nicht in dieser Sache Anwendung des Prinzips der Gewaltlosigkeit, sondern es bedeutet in jeder Stunde, in den durchaus wechselnden Situationen, soviel von dieser von mir gemeinten, geglaubten Gewaltlosigkeit zu verwirklichen, als ich in dieser Situation der besonderen Verantwortung dieser besonderen Situation nach verwirklichen kann und darf. Niemand nimmt mir diese Verantwortung dieser Situation ab, kein Prinzip, keine Schrift, keine Offenbarung, niemand; Gott selber nicht. Und wenn in heiligen Schriften Gebote Gottes überliefert sind, so nicht anders als das »Du« der Gebote wird wirklich in wirklichen Situationen und dann ist es kein Prinzip, sondern dann trifft uns

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von daher eine Stimme von dem letzten Tun des Lebens, und dann müssen wir scheinbar das tun, was dieses Gebot verbietet, dies und nichts anderes. So schwer und nicht leichter ist Menschenleben. Also es gibt kein Sichvorbereiten, keine Sicherung, es gibt nichts als offenbar sein, als bereit sein. – Aber von da aus muss noch eine Frage gefragt und beantwortet werden, nämlich die Frage, die heute besonders die Theologie fragt, da, wo sie am ernstesten ist. Gilt denn überhaupt menschliches Handeln vor dem Absoluten? Gibt es überhaupt einen menschlichen Anteil, der in letzter Wirklichkeit gültig wäre? Gibt es also das [Leerstelle im Text] ? oder sind alle menschlichen Handlungen unter dem Gericht? Gelten sie alle gleicherweise nur in der Bedingtheit, sodass sie alle gleicherweise von oben her verneint und letztlich verworfen, gerichtet werden? – Mir scheint das, wenn man von der theologischen Dialektik weggeht und auch von ihr muss man weggehen, wenn man die Frage richtig stellen will, dann weiss jeder Mensch in dem, was ihm sein gelebtes Leben sagt, weiss er, dass es Anrede ist, dass es also auch Antwort gibt, mit Furcht und Zittern. Gibt es eine Anrede in der ganzen Breite der Geschichte, in der Problematik des persönlichen Lebens, so gibt es auch die Möglichkeit der Antwort, wenn man angeredet wird. In dem was einem geschieht und in dem, was um-uns-her geschieht; dann ist es nichts zum Schein, dann geschieht es auch nicht dazu, dass man sich im Staube niederwirft, sondern dann geschieht es auf die so verschieden gearteten Personen, an sie alle, doch nur damit jeder von ihnen aus seiner Annehmlichkeit und Einzigartigkeit mit seinem Leben antwortet. Also nicht übersetzbar, aber hörbar ist dies, hörbar mit Furcht und Zittern; in der heiligen Unsicherheit des gelebten Lebens Deutung, d. h. es ist droben und wenn das je erkannt, dann glaube ich müsste es jetzt erkannt werden, in diesem Augenblick, den wir jetzt miteinander am Abgrund verbringen; ich weiss nicht ob schon am letztesten Boden, aber jedenfalls sehr weit unten und von da, das müssen wir uns sagen, führt es nicht in eine Sicherheit zurück, nicht in die Hut von Prinzipien zurück, nicht einmal in die Hut von Glaubenssätzen, sondern mit zitternder Entscheidung hindurch, irgendwie mitten durch diesen Abgrund, irgendwohin; aber wir können den Weg dahin gehen u. z. was so für die Person gilt, das gilt auch für alles Leben, sofern es von der Gemeinschaft aus gefasst ist. Es ist Wahn und Aberglaube anzunehmen, dass es zweierlei Gesetze, zweierlei Lebensformen und Lebensnormen gibt, eine für die Person und eine für die Gemeinschaft oder soziale Gruppe oder anderes. Wenn man von der Wirklichkeit spricht, dann ist es für die Gemeinschaft genau als für die Person. Es gibt ja die Gemeinschaften nur so, dass die Personen, die ihnen angehören, das Leben der Gemeinschaft

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und ihre Entscheidungen in sich einfangen, es gibt in Wirklichkeit doch nur den und den, es gibt also letztlich die berühmte »Masse« nicht, sondern es gibt nur unsere schlechten Augen, die so sehen. Es gibt doch nichts anderes als bestimmte Zusammenballungen von Personen, also es ist nichts anderes in den Gemeinschaften als in den Personen und tatsächlich ebenso wie man auf der einen Seite nun nicht die Person (das gehört dazu) in der Gemeinschaft aufgeben kann, so kann man nun freilich auch nicht das andere. Ich menschliche Person kann mich in der jetzt eintretenden Situation, die ja niemals nur mich angeht, nicht isolieren; ich kann diese Situation, die mich mit anderen zugleich angeht, doch nicht durch eine von mir selbst angefragte isolierte Situation ersetzen und das ist nun eine grosse Problematik der persönlichen Lage des Menschen gegenüber der Gruppe. Die erstere verhältnismässig noch einfache, aber doch zu allerlei Bedenklichkeiten führende: Ich werde in meinem Leben, gerade wenn ich mich nicht isoliere, in die Bindungen einbezogen, ich werde in die Gemeinsamkeit und damit in die Rechnung aller dieser Verbände einbezogen und meine persönliche Verantwortung, mein personenhaftes Antworten in seiner Rechtschaffenheit ist je und je bedroht von dieser Rechnung der Verbände mit mir. Ich bin, soweit ich an dem Tun und Lassen der Gruppen Teil habe denen ich mich anschliesse, hereinbezogen und leider auch in Gruppenverantwortungslosigkeit und das ist die erste Frage. Ich darf nicht dem Gemeinschaftsleben in seinem natürlichen und geschichtlichen Gebilde fern bleiben und die Frage ist die: Wie erkämpfe ich je und je mitten in diesem Gemeinschaftsleben den Ernst meiner konkreten Verantwortung? Das ist die erste Frage des religiösen Menschen, der Gesellschaft der Politik gegenüber und sie ist nicht zu beantworten; aber dass die Menschen, die in diesen Gruppen wirken, diese Frage nicht fragen d. h. zu der Schwere unserer Situation sicherlich sehr erheblich beigetragen haben und Tag für Tag beitragen. – Es ist so, dass man sich nicht damit beruhigen kann, die Politik hat für die Religion eine nur negative Bedeutung. Beispiel: Augustin, wie er das politische und staatliche als ein Reich des Satans bezeichnet, das sozusagen hinter und neben dem eigentlichen Leben zurückbleibt und der Verwirrung anheimfallen muss – sondern wir verstehen, wie damals dieser Staat diesem Imperium gegenüber gesagt und zugesagt werden musste. – Aber wir können nicht dabei stehen bleiben irgend einen Teil der Welt für unerlösbar anzusehen. Dieses ganze ungeheure Getriebe nunmehr etwas beiseite zu lassen, sondern so schwer auch solche Fragen sind wie ich sie eben angedeutet habe, die Politik muss von der Religion angesehen werden als die derzeitige wie auch fragwürdige Verwalterin der Aufgabe, die Gemeinschaft

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der Menschen aufzubauen, und welche Religion könnte diesen nicht offenbaren oder verborgenen Aufbau der wahrhaften Gemeinschaft der Menschen, welche Religion, die schöpfungsgläubig ist könnte meinen, dass die Schöpfung nicht angelegt ist darauf, zur Vollendung zu kommen der Wesen miteinander unter der Herrschaft Gottes? Also so schwierig diese Problematik ist, sie will vom Religiösen erfasst und überwunden werden, aber sie muss immer wieder in ihrem ganzen Ernst geschaut werden in dem Bekenntnis der Problematik einen Schritt weiter: Es gibt die Menschheit, die zur Gemeinschaft aufzubauen ist, noch nicht, als eine biologische wohl, aber es gibt sie als menschliche Einheit noch nicht. Es gibt die Völker, die Verbände, die Einrichtungen, die Institutionen, in denen das Leben dieser Völker eingeengt wird aber von denen ihr Leben auch je und je eingeengt und überkrustet wird und wie die Völker nun zu einander stehen, das wissen wir. Es ist am grossartigsten und furchtbarsten von Dostojewski ausgesprochen (Roman »Die Besessenen«) »Die Völker miteinander kämpfen so, dass eigentlich ihre Götter miteinander kämpfen«. Wir haben dergleichen erfahren. Es gibt also nicht eine Politik, zu der sich die Religion in Unterordnung zu stellen hätte, sondern es gibt die Brückenlose, trotz aller Völkersünde, es gibt die brückenlose Politik der Völker, vielmehr der Zwangsverbände, in denen die Völker organisiert sind und doch in der äusseren politischen Problematik. Dann gibt es die andere, die innenpolitische, das ist die, wie Politik gehandhabt wird von Mensch zu Mensch. Nicht wird politisch gearbeitet, da, wo die Politik von Mensch zu Mensch ganz deutlich wird. – Wie etwa ein Mensch andere Menschen für seine Politik gewinnen will, ich möchte dies das politische Mittel nennen, als etwas, was in der Politik herrscht; einmal dass hier Mensch zu Mensch einwirkt dadurch, dass er sich ihm auferlegt, auf eine gewaltsame oder gelinde Weise. Es gibt 2 Arten, einen Menschen für eine Sache zu gewinnen, es gibt die leichte die aber in Wahrheit keine Gewinnung ist, sondern blos eine Herüberziehung, das ist die politische; und den anderen, den schwereren Weg der gewagt ist, aber irgendwo hin führt – der erste führt nirgendwo hin –, man wagt es, den anderen Menschen zu erschliessen, aufzuschliessen, zu erziehen, nicht herüberzuziehen sondern heranzuziehen, etwas in ihm aufzutun und heran an das Leben, an die Welt, an die Sichtbarkeit zu bringen. – Das ist eine undankbare Geschichte und es verlangt etwas, was anscheinend sehr schwer ist: Vertrauen zum Menschen, Glauben daran, dass so etwas in dem anderen ist, nämlich dass, wenn meine Sache in der Wahrheit ist, dass ich den anderen Menschen gleichzeitig zu mir in die Wahrheit meiner Sache ziehen will. Habe ich sie nicht, das erfahre ich dann. Es handelt sich

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gleichzeitig bei diesem Aufschliessen um ein sich selber aufschliessen müssen, um ein sich selber treffen lassen von dieser Person, von dieser Existenz, auf die ich einzuwirken wage. Wenn er mich nun überrascht, ich darf dann nicht, in keiner Sache, die mich demselben zuträgt eine Sicherung haben, die mich veranlasst, mich nun diesem Menschen zu verschliessen. Also das eine, ja das politische Mittel bedeutet was ganz anderes, etwas sehr einfaches, es bedeutet Machtauswirkung, nicht aus der Mächtigkeit, die aus dem Geheimnis des Menschen in das Geheimnis des anderen eindringt, sondern einfache Machtauswirkung von der rigorosesten Gewalt bis zur zartesten Dialektik. Diese Machtauswirkung, dieses politische Mittel scheint mir heute über den politischen Bereich weit hinaus zu gehen, das, den Verkehr der Menschen miteinander zu beherrschen vom politischen her, aber über dasselbe weit hinaus. Die je und je heraufkommenden Generationen der Jugend angesehen und ich habe gefunden, dass diese Jugend in einer seltsamen Weise politisiert ist. Es ist nicht gemeint, dass die Politik einen so grossen Rahmen im Leben dieser Menschen einnimmt, nein ich meine, dass sie der Problematik der Politik in ihrem Leben miteinander verfallen sind und dazu eine ganz einfache Bemerkung: Früher, wenn junge Menschen sich kennen lernten – der eine weiss nichts vom anderen – sprachen sie über eine Sache, die sie beide angeht, der eine äussert sich, der andere fragt sich: ist das wahr? Heute ist das anders, sodass wenn der eine etwas äussert, fragt sich der andere offenkundig: warum sagt er das? Entweder: von welchem psychologischen Komplex sagt er das, von wo ist er abhängig? Oder, von welcher sozialen Gruppierung, von welchem Interesse aus sagt er das? und darüber hinaus. Das Verhältnis zwischen Zweck und Mittel in der Politik ist so: man kümmert sich um die Art des Mittels, mit dem man einen Zweck erreichen will, nicht in der politischen Verantwortung gesprochen. Der heutige politische Mensch ist blind, dass der Zweck vom Mittel abhängig ist, das Mittel entheiligt den Zweck, sondern in der Wirklichkeit der Erreichung des Zweckes, je ferner das gebrauchte Mittel von dem erstrebten Zweck ist, umso ferner wird das, was er erreicht mit diesem Mittel von dem er etwas gerne erreichen wollte. Es ist unsere Zeit die Zeit charakteristischer Scheinerreichungen, jede dieser Scheinerreichungen ist falsch, eine jede ist statt eine Erfüllung zu sein, das Grab einer Hoffnung. Diese Verkehrung des Verhältnisses zwischen Zweck und Mittel, greift heute unübersehbar hinaus über den Bereich des politischen in das persönliche Leben und der Menschen miteinander. Und nun dasselbe was ich von den Personen gesagt habe, diese doppelte Problematik, dasselbe gilt für die grossen Gestaltungen der Geschichte. Beispiel: Staat und Kirche. Was

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Staat ist könnte man zunächst versuchen, aus 2 geschichtlichen Traditionen zu entnehmen. Die eine, die griechische Tradition, da ist der Staat ein gemeinschaftliches formelles Gebilde. Hier muss der Mensch vergessen, dass dieses Gebilde auf der Selbstverständlichkeit der Sklaverei steht. Hier schon ist das Element deutlich, dass man, wenn man von dieser Tradition spricht das Element des Zwanges kennt, nur dass man hier mit einem Gruppenzwang ermöglicht hat, im einzelnen für die [Leerstelle im Text] keinen Zwang mehr nötig zu haben. Die andere Tradition, die altjüdische, nämlich jener merkwürdige und sonderbarerweise auch nicht von der Theologie erkannte Versuch mit grosser und geringer geschichtlicher Zwanglosigkeit – das Buch der Richter und Samuelis erzählen davon – eine naive Theokratie zu erzielen. Es scheint, dass sie diesen Versuch unternommen haben nicht auf der Ebene des Geistes, sondern einfach da, wo man miteinander lebt, in der ganzen Breite des gesellschaftlichen Lebens haben sie versucht, darin Ernst zu machen, woran sie geglaubt haben –, dass es keine Könige gibt, ausser Gott. König bleibt »Er« in Zeit und Ewigkeit. Der eine Ausgangspunkt ist also die Sklaverei, der andere das Ereignis. Demgegenüber bringen es allerdings noch Leute fertig eine Heilslehre des Staates zu verkündigen, dass der Zwang durch den Zwang überwunden wird. Der Staat wird immer verklärter werden, er ist der Idee nach verklärt. Die Marxisten (Lenin) meinen, der Zwangsstaat würde absterben, dieser massive Staatszentralismus würde ganz neue Bürgertugenden entwickeln. Es hat sich so etwas in der Geschichte noch nie begeben, aber offenbar, es wird und muss geschehen. – Die andere Auffassung, dass der Staat ohne abzusterben immer vollkommener wird, bis er der Gottesstaat selber ist. Demgegenüber: Es ist und bleibt Ziel des religiösen Menschen: Gottesherrschaft, d. h. Zwanglosigkeit, es ist und bleibt das Ziel, dass die Gewalt unter einer anderen Herrschaft stehe als unter Gottes Herrschaft und in dessen Erreichung es doch einen menschlichen Anteil gibt, der sein Anteil ist. Und nun die Kirche: Die Kirche macht den Versuch und ist der Versuch in ihrem Ursprung und Sinn darauf zu warten, ein Reich der Gottesherrschaft, ein Gottesreich aufzubauen, aufzubauen neben dem Staat. Wie? d. h. die Funktionen verwaltend, die der Staat nicht erfasst hat und die Kirche kann nun diese Funktionen erfassen und daraus etwas aufbauen. Aber dadurch hat sie sich zu einer Abteilung neben den Abteilungen begeben. Sie will den Staat verdrängen oder sich mit ihm vertragen, sie hat einen Machtanspruch ihm gegenüber. Diese Politik, mit der sie solchermaßen zu tun wagt, greift in sie selber hinein. Die Kirche wird politisiert, das politische Mittel dringt in immer tiefere Schichten der Verant-

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wortlichkeit des religiösen Menschen. Es ist nicht so, dass von dem Staat ein direkter Weg zur Gemeinschaft führt, es ist nicht an dem, dass von der Kirche, von dieser Kirche, die eben die Funktionen verwaltet, die der Staat ihr freilässt, ein Weg zur wahren Gemeinschaft führt. Was dann also? Keine Rezepte, aber ein paar Hinweise u. z. ein paar unansehnliche Hinweise kein Programm, wir reden miteinander wirklich nur ins Leben hinein und ich sage: Es gibt 2 Wege zur Überwindung der Problematik von der ich spreche, einen, den wir übersehen können mit unserem Willen und unserer aktiven Hoffnung; und den anderen, den man nur ahnen kann des man zu harren hat. Es gibt eine Überwindung vor allem des politischen Mittels; es gibt eine Überwindung des politischen Mittels nicht als Gruppe, sondern Mensch um Mensch, Mensch zu Mensch. Wo irgend einer vermag, das zu ändern, diese Rechte zu verwirklichen, das Aufschliessen des andern, das erzieherische Mittel an die Stelle des politischen Mittels zu setzen, aber nicht progammatisch, sondern dass wir es setzen, das bedeutet einen Verzicht auf Erfolg u. z. auf einen falschen Erfolg, nämlich auf den Erfolg, wo anstatt des ursprünglich gemeinten Zweckes, ein ganz anderer, ein Schatten, ein Schein verwirklicht wird. – Das andere, dieses stille und einsichtige Aufschliessen, das hat eine ganz andere [Textverlust]. Ich meine also nicht, dass der religiöse Mensch die Politik, das Parteigetriebe, die Partei zu meiden hat, sondern, dass er gerade das, was er meint, in der Politik so weit er befähigt ist, auszuwirken hat, er kann und soll sich eben da auswirken, nämlich in diesem sonderbaren Gebilde: Partei, indem er da den rechten Kampf kämpft. In jedem dieser Gebilde sind zusammengekoppelte Menschen, die Menschen, die es wirklich meinen und die anderen. Man ist gewöhnlich den anderen in der Partei anheim gegeben, aber das eben zeigt den Weg zur Bewährung, dass er in der Partei für die Wahrheit gegen die Lüge kämpft, dass er und die mit ihm gleicher Gesinnung sind, eine Front aufrichtet in der Partei, dass in jeder dieser sonderbaren Parteien, die jetzt unser Schicksal bestimmen, sich eine solche Querfront bildet, derer, die es wirklich meinen. Glauben Sie nicht, dass die einen mit den anderen, die Sozialisten und diese Konservativen auf eine ungewöhnlich echtere Weise mit einander zu tun bekämen, im Kampf oder anderes, wie bisher Menschengruppen noch nicht miteinander zu tun bekommen haben, – was dann geschehen könnte? Und nun das andere, die Überwindung der Problematik zwischen den Völkern. Das ist so ungeheuer schwer und dennoch gewiss; es ist nicht an dem, dass man, wie es der billige Pacifismus tut: Frieden ist besser als Krieg. Der Krieg ist durch Nichtkrieg überhaupt nicht zu überwinden; der Frieden, der nicht Krieg ist, hat überhaupt keine Leiblichkeit, dieser Platz kann nur von einer Wirk-

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lichkeit besetzt werden, die wirklich mehr ist als Krieg. Diese sogenannte Völkerverständigung, die nun wohl durch irgend welche Abkommen einen Frieden zwischen allen Völkern herbeiführen will, kann nicht das wirkliche Ziel erreichen, sondern auch da müssen wir bei uns selbst anfangen; wir müssen anfangen mit Vergegenwärtigung des anderen und dann von Volk zu Volk aber nicht von Staat zu Staat, sondern in einer Weise, für die ich kein Recept habe. Zwischen den Völkern, zwischen Volk zu Volk und den Völkern zusammen die Erkenntnis, dass es keine Not eines Volkes mehr gibt in dieser Stunde, dass es wirklich nur noch gemeinsame Not gibt. Es gibt schlechterdings kein Heilmittel für die Not eines Volkes, es gibt nichts anderes, als die Erkenntnis der gemeinsamen Not. Dass sie wirklich sich zusammen tun, ganz real, zu gemeinsamer Arbeit und was dazu gehört: zu ernster gemeinsamer Führung. – Ich glaube, wenn man die zerbröckelnde Kurve des Weltmarktes beobachtet dann weiss man, dass es, wenn nichts geschieht, zu einer Katastrophe führt, von der ich nicht weiss – auch religiös gesprochen – wie ein Weg überhaupt noch aus ihr führen könnte. Wenn man in diese Verlorenheit nicht hinein will, so werden die wirklichen Völker sich über den Kopf aller dieser Scheinbünde hinweg miteinander irgendwie verständigen müssen, über die gemeinsame Not und den gemeinsamen Weg aus der Not. – Und nun noch eines: Wenn dies, worauf ich hingedeutet habe geschieht, wenn dies von den Menschen guten Willens, wieviel oder wenige es sind, und von den Verbänden, die aus diesen Menschen sich bilden werden, getan wird, dann dürfen Sie getrost sein, dann würde es das quantum satis, das vom Menschen je und je gefordert wird; dass er das tue, was er mit seinen Kräften zu tun vermag, – nicht mehr, nicht weniger. So glaube ich, gibt es ein quantum satis, dieses wäre genug, das wird genug sein.

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Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee Ich fasse hier einige Grundgedanken meiner Ausführungen von der Arbeitswoche auf der Comburg aus Vortrag und Aussprache zusammen. M. B.

Es wird immer offenbarer, daß es die Schicksalsfrage der gegenwärtigen Menschheit ist, ob sie sich zu einem gemeinsamen Wirtschaften entschließen und erziehen kann; und kein andres gemeinsames Wirtschaften ist möglich als ein sozialistisches. Aber die Eigentlichkeit der Frage besteht in der nach dem Sozialismus selber: was für einer es sei, in dessen Zeichen, wenn in einem, das gemeinsame Wirtschaften der Menschheit zustande kommen werde. Denn von da aus entscheidet sich, ob die Stillung der Not unserer Geschichtszeit die Erfüllung einer Urhoffnung aller Geschichte oder ihre Vernichtung bedeutet. Die Zweideutigkeit der verwendeten Begriffe ist hier größer als irgendwo. Man sagt etwa, Sozialismus sei der Uebergang der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel aus den Händen der Unternehmer in die der Kollektivität; aber alles kommt darauf an, was man unter Kollektivität versteht. Ist sie das, was wir Staat zu nennen gewohnt sind, d. h. eine Einrichtung, in der eine wesentlich ungegliederte Menge ihre Geschäfte von einer sogen. Vertretung führen läßt, dann wird sich in einer sozialistischen Gesellschaft vornehmlich dies geändert haben, daß die Arbeiter sich als von den Inhabern der Verfügungsgewalt vertreten empfinden werden. Aber was ist Vertretung? Liegt nicht am Ende gerade in dem allzu weitgehenden Sichvertretenlassen die schlimmste Fehlhaftigkeit der modernen Gesellschaft? Und wird nicht in einer »sozialistischen« zum politischen eben das wirtschaftliche Sichvertretenlassen hinzukommen, so daß erst dann das fast unbeschränkte Vertretenwerden, und damit schließlich die fast unbeschränkte zentrale Machthäufung waltet? Je mehr aber eine Menschenschar in der Bestimmung ihrer gemeinsamen Sachen sich vertreten läßt und je mehr von außen her, um so weniger Gemeinschaftsleben gibt es in ihr, um so gemeinschaftsärmer wird sie. Denn Gemeinschaft – nicht die primitive, aber die uns heutigen Menschen mögliche und angemessene – bekundet sich zunächst in der gemeinsamen aktiven Behandlung des Gemeinsamen und kann ohne sie nicht bestehen. Die Urhoffnung aller Geschichte geht auf eine echte, somit durchaus gemeinschaftshaltige Gemeinschaft des Menschengeschlechts. Fiktiv, vorgetäuscht, eine planetengroße Lüge wäre eine, die nicht aus wirklichem Gemeinschaftsleben zusammenwohnender oder zusammen-

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werkender kleiner und größerer Gruppen und aus ihren wechselseitigen Beziehungen sich errichtet. Es kommt also alles darauf an, daß die Kollektivität, in deren Hände die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel übergeht, ihrer Struktur und ihren Anstalten nach wirkliches Gemeinschaftsleben der mannigfaltigen Gruppen ermögliche und fördere, ja, daß diese selber zu den eigentlichen Subjekten des Produktionsprozesses werden; daß also die Menge so gegliedert und in ihren Gliedern (den verschiedenartigen »Gemeinden«) so mächtig sei, als das gemeinsame Wirtschaften der Menschheit gestattet; daß also das zentralistische Sichvertretenlassen nur so weit reiche, als die neue Ordnung gebieterisch fordert. Die innere Schicksalsfrage hat nicht die Form des grundsätzlichen Entweder-Oder: sie ist die Frage nach der rechtmäßigen, immer neu zu ziehenden Abgrenzungslinie, dem tausendfachen Abgrenzungslinien-System zwischen den notwendig zu zentralisierenden und den freigebbaren Bereichen, zwischen dem Maß der Regierung und dem Maß der Autonomien, zwischen dem Gesetz der Einigkeit und dem Anspruch der Gemeinschaft. Die unablässige Prüfung des jeweiligen Standes der Dinge von dem Anspruch der Gemeinschaft aus als dem stets der Vergewaltigung durch die Zentralgewalt ausgesetzten, die Wacht über der je nach den sich wandelnden geschichtlichen Voraussetzungen wandelbaren Wahrheit der Grenze wäre die Aufgabe des geistigen Menschheitsgewissens, einer Instanz von unerhörter Art, der zuverlässigen Vertretung der lebenden Idee. Der Idee, sage ich: nicht eines starren Prinzips, sondern der lebendigen Gestalt, die nun im Stoff eben dieses Erdentages bildsam werden will. Auch Gemeinschaft darf nicht zum Prinzip werden; auch sie soll, wenn sie erscheint, nicht einem Begriff, sondern einer Situation Genüge tun. Verwirklichung der Gemeinschaftsidee, wie Verwirklichung irgendeiner Idee, gibt es nicht ein für allemal und allgemein gültig, sondern immer nur als die Augenblicksantwort auf eine Augenblicksfrage, somit als die rückhaltlos ehrliche Austragung eines Handels zwischen einem Glauben und einer Tatsächlichkeit. Um dieses seines Lebenssinns willen muß dem Gemeinschaftsgedanken alle Sentimentalität, alle Uebersteigerung und Schwärmerei ferngehalten werden. Darf man auf der einen Seite nicht dulden, daß massive, jedem wirklichen unmittelbaren Miteinanderleben fremde soziale oder politische Gerüste als Gemeinschaft bezeichnet werden, in der und für die man leben könne und solle, so ist mit nicht geringerer Entschiedenheit jener Mißverstand selbstzufriedener Bünde zurückzuweisen, die sich in dem feierlichen oder gefühlvollen Ausnahmezustand eines Beisammenseins als »Gemeinschaft« gebärden. Jene haben mit Gemeinschaft

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nur so viel zu schaffen, als sie, nicht eben willentlich, wirklichen Gemeinschaften Raum gewähren, diese mögen immerhin als Ahnung und stimmunghafte Vorwegnahme dessen gelten, was seine Wirklichkeitsform im dauernden, dem ganzen Alltag standhaltenden gemeinsamen Dasein hat. Gemeinschaft selbst ist nie Stimmung, und auch wo sie Gefühl ist, ist sie stets das Gefühl einer Verfassung. Gemeinschaft ist die innere Verfassung eines gemeinsamen Lebens, das die karge »Rechnung«, den widerstrebenden »Zufall«, die überfallende »Sorge« kennt und umfängt. Sie ist Gemeinsamkeit der Not und von da her erst Gemeinsamkeit des Geistes; Gemeinsamkeit der Mühe und von da her erst Gemeinsamkeit des Heils. Auch diejenige Gemeinschaft, die den Geist ihren Herrn und das Heil ihre Verheißung nennt, die »religiöse«, ist Gemeinschaft nur, wenn sie ihrem Herrn in der unerlesenen, unerhobenen, schlichten Wirklichkeit dient, die sie sich nicht gewählt hat, die ihr vielmehr, eben so, geschickt worden ist; nur, wenn sie ihrer Verheißung durch das Gestrüpp dieser unwegsamen Stunde den Weg bahnt. Gewiß, es gilt nicht die »Werke«, aber es gilt das Werk des Glaubens. Glaubensgemeinschaft ist es wahrhaft nur dann, wenn sie Werksgemeinschaft ist. Wohl ist das eigentliche Wesen der Gemeinschaft in dem – offenkundigen oder verborgenen – Faktum zu finden, daß sie eine Mitte hat. Wohl ist die eigentliche Entstehung der Gemeinschaft nur daraus zu begreifen, daß ihre Glieder eine gemeinsame und allen andern Relationen überlegene Beziehung zur Mitte haben: der Kreis wird von den Radien gezeichnet, nicht von den Punkten der Peripherie. Und wohl ist die Ursprünglichkeit der Mitte nicht zu erkennen, wenn sie nicht als durchsichtig in das Göttliche erkannt wird. Aber je irdischer, kreatürlicher, verhafteter sich die Mitte darstellt, um so wahrer, um so durchsichtiger ist sie. Das »Soziale« gehört dazu. Nicht als Abteilung, sondern als die Welt der Bewährung: an der die Wahrheit der Mitte sich bezeigt. Den frühen Christen genügte die Gemeinde nicht, die neben oder über der Welt war, und sie gingen in die Wüste, um keine Gemeinschaft mehr als mit Gott und keine störende Welt mehr zu haben. Aber es wies sich ihnen, Gott wolle nicht, daß der Mensch mit ihm allein sei; und über dem heiligen Unvermögen der Einsamkeit erwuchs der brüderliche Orden. Endlich schloß, Benedikts Bereich überschreitend, Franz den Bund mit den Geschöpfen. Doch braucht eine Gemeinschaft keineswegs »gestiftet« zu werden. Wo das geschichtliche Schicksal eine Menschenschar in einen gemeinsamen Natur- und Lebensraum getan hatte, war Raum für das Werden einer echten Gemeinde; und es bedurfte keines Altars eines Stadtgotts inmitten, wenn die Bürger sich um das Unnennbare und durch es vereinigt wußten. Ein lebendiges und stetig erneuertes Miteinander war ge-

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geben und wollte nur noch in der Unmittelbarkeit aller Beziehungen ausgebildet werden. Die gemeinsamen Angelegenheiten wurden gemeinsam – in den glücklichsten Fällen nicht durch Vertreter, sondern in der Versammlung auf dem Marktplatz – beraten und entschieden; und die in der Oeffentlichkeit erfahrene Verbundenheit strahlte in jede persönliche Berührung aus. Die Gefahr der Absperrung mochte drohn: der Geist bannte sie, der hier wie nirgendwo anders gedieh und zur Sicht auf Volk, Menschtum, Kosmos seine großen Fenster in die engen Wände brach. Das ist ja aber nun eben, so wird mir entgegnet, unwiederbringlich dahin. Die moderne Stadt hat keine Agora und der moderne Mensch hat keine Zeit für Verhandlungen, die ihm seine gewählten Vertreter abnehmen können. Ein konkretes Miteinander ist schon durch den Zwang der Quantität und der Organisationsform zerstört. Die Arbeit verknüpft einen mit andern Personen als die Muße, der Sport mit andern als die Politik, Tag und Seele sind sauber aufgeteilt. Die Verknüpfungen aber sind eben sachlich, man betreibt mitsammen die gemeinsamen Interessen und Tendenzen und hat keine Verwendung für »Unmittelbarkeit«. Kollektivität ist kein trautes Beisammenhocken, sondern ein großer wirtschaftlicher oder politischer Kräfteverband, für romantisches Vorstellungsspiel unergiebig, aber ziffernmäßig erfaßbar, in Aktionen und Wirkungen sich äußernd, dem der einzelne ohne Intimitäten, aber im Bewußtsein seines energetischen Beitrags angehören darf. Was an »Bünden« sich gegen die unvermeidliche Entwicklung wehrt, muß zerrinnen. Es gibt zwar noch die Familie, die als Hausgemeinschaft ein Maß von Zusammenleben zu erfordern und zu verbürgen scheint, aber auch sie wird aus der Krisis, in die sie eingetreten ist, als Zweckverband hervorgehen oder verschwinden. Diesem Gemisch von richtigen Feststellungen und verkehrten Folgerungen gegenüber bekenne ich mich zur Wiedergeburt der Gemeinde. Wiedergeburt, nicht Wiederbringung. Wiederzubringen ist sie in der Tat nicht, obgleich mich dünkt, daß jeder Anhauch hilfreicher Nachbarschaft in der Mietskaserne, jede Welle einer wärmeren Pausen-Kameradschaft in der höchstrationalisierten Fabrik ein Wachstum der Gemeinschaftshaltigkeit der Welt bedeutet, das vom Buchenden gebucht wird, und obgleich mich zuweilen eine rechtschaffene Dorfgemeinde wirklicher anmutet als der Deutsche Reichstag; wiederzubringen ist sie nicht. Aber ob eine Wiedergeburt der Gemeinde aus den Wassern und dem Geistbraus der nahenden Gesellschaftswandlung geschieht, davon scheint mir das Los der menschlichen Gattung bestimmt werden zu sollen. Ein organisches Gemeinwesen – und nur solche können zu einer gestalteten und gegliederten Menschheit sich fügen – wird nie aus Indi-

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viduen, nur aus kleinen und kleinsten Gemeinschaften sich aufbauen: ein Volk ist in dem Maße Gemeinschaft, in dem es gemeinschaftshaltig ist. Wenn die Familie aus der Krisis, die heute wie Zerfall aussieht, nicht gereinigt und erneuert hervortaucht, wird die Staatlichkeit vollends nur noch ein Apparat sein, der mit den Leibern der Generationen geheizt wird. Die Gemeinde, die sich solchermaßen erneuern könnte, gibt es wohl nicht mehr. Wenn ich von ihrer Wiedergeburt spreche, denke ich nicht an eine fortdauernde, sondern an eine geänderte Weltlage. Mit den neuen Gemeinden – man mag sie auch die neuen Genossenschaften nennen – meine ich die Subjekte des gewandelten Wirtschaftens, die Kollektive, in deren Hände die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel übergehen soll. Noch einmal: alles kommt darauf an, ob sie bereit, bereit sein werden. Wieviel wirtschaftlicher und politischer Autonomie – denn sie werden notwendigerweise wirtschaftliche und politische Einheiten zugleich sein – ihnen zuzugestehen sein wird, ist eine technische Frage, die man immer neu zu stellen und zu beantworten haben wird, aber zu stellen und zu beantworten von der übertechnischen Erkenntnis aus, daß die innere Mächtigkeit einer Gemeinschaft von ihrer äußeren mit abhängig ist. Das Verhältnis von Zentralismus und Dezentralisation ist ein Problem, das wie gesagt nicht grundsätzlich, sondern wie alles, was den Verkehr der Idee mit der Wirklichkeit betrifft, mit dem großen Takt des Geistes, mit dem nimmer ermüdenden Wägen des rechtmäßigen Wieviel zu behandeln ist. Zentralisierung, ja, aber immer nur so viel, als nach den Bedingungen der Zeit und des Orts zentralisiert werden muß; wenn die zur Ziehung und Neuziehung der Abgrenzungslinien berufene Instanz in ihrem Gewissen wach bleibt, wird die Verteilung zwischen Basis und Spitze der Machtpyramide eine ganz andere sein als heute auch in Staaten, die sich kommunistisch, das heißt doch wohl: gemeinschaftsstrebig, nennen. Ich verkenne nicht, daß mit dem einstigen Grundriß der Sowjets ein sehr bedeutsamer Ansatz zu neuer Ordnung gegeben war; aber die Idee dezentralisierten Vertretertums, die sich darin kund tat, wurde bald in verhängnisvoller Weise einer Machthäufung zum Opfer gebracht, die umfassender ist als alle vorhergehenden. Ein Vertretungssystem wird es auch in der Gesellschaftsgestaltung, die ich meine, geben müssen; aber es wird sich nicht, wie die heutigen, in Scheinvertretern amorpher Wählermassen, sondern in den arbeitserprobten Vertretern der wirtschaftenden Gemeinschaften darstellen. Die Vertretenen werden mit ihren Vertretern nicht wie heute in leerer Abstraktion, durch die Phraseologie eines Parteiprogramms, sondern konkret, durch gemeinsame Tätigkeit und gemeinsame Erfahrung verbunden sein. Die Repräsentanz der Produzen-

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ten, d. h. der gemeinschaftsgegliederten Gesellschaft, wird nicht ein einheitliches, sondern nur ein mannigfach – in Kreisparlamenten, Berufsparlamenten usw. – sich staffelndes Vertretungssystem sein können, und die untern Staffeln werden ihre erprobten Vertreter in die höheren zu entsenden haben. Die höchste, die allgemeine Repräsentanz der Produzenten, als das Wirtschaftsparlament eines Gemeinwesens, wird durch die Repräsentanz der Konsumenten, d. h. der ungegliederten Seite der Gesamtheit, ohne gestaffelten Unterbau, aus direkter Wahl hervorgehend, als durch das Staatsparlament des Gemeinwesens, die Stätte des Interessenausgleichs ergänzt werden. Daß auch deren Wählergrundlage eine organischere sein möchte als die uns gewohnte, kann hier nur als Wunsch angedeutet werden. Das Wesentlichste aber muß dies sein, daß der Prozeß der Gemeinschaftsbildung sich ins Verhältnis der Gemeinschaften zueinander hinein fortsetze. Nur eine Gemeinschaft von Gemeinschaften wird Gemeinwesen heißen dürfen. Die Bildskizze, die ich flüchtig entworfen habe, will zu den Akten des »utopischen Sozialismus« gelegt werden, bis der Sturm die aufblättert. Ich glaube weder an Marxens »Ausbrütung« der neuen Gestalt noch an Bakunins Jungfernzeugung aus dem Schoß der Revolution, aber an die Begegnung von Bild und Geschick in der plastischen Stunde.

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Aus einem Rundfunk-Dreigespräch über »Religion und Gemeinschaft« Das Gespräch ist im Jahre 1932 im Frankfurter Rundfunk mit einem katholischen und einem protestantischen Theologen geführt worden. 5

Das Judentum strebt von je, die Scheidung zwischen einem sakralen und einem profanen Bereich zu überwinden, wenn es auch etwa in den Kämpfen der Propheten gegen die Priesterschaft einerseits, gegen die Könige anderseits, schwer darum zu ringen hatte. Das Judentum hat seine eigentliche, innere Geschichte in der Tatsache, daß dieses sein Streben immer umfassender und bestimmender wird, bis es die große chassidische Weltfrömmigkeit erzeugt. Ist die Religion nicht eine bloße Ansammlung menschlicher Vorstellungen und Gefühle nebst deren Ausformungen, meint sie das Leben im Angesicht Gottes, dann kann sie sich nicht mit einem Zustand vertragen, in dem nicht nur Raum und Zeit des Menschen, sondern auch seine Substanz selber aufgeteilt ist zwischen seelische Erhebungen, in denen man sich der Macht des Himmels präsentiert, und die Verwaltung des Alltags, in die man ebender Macht den Zugang verwehrt. Das auf den Ursinn Gerichtetsein wird erst dadurch wirklich, daß es sich in der Vollständigkeit der gelebten privaten und öffentlichen Existenz auswirken will und nichts ihm grundsätzlich Entzogenes duldet. Eine behütete heilige Vergesellschaftung geht ihm ebenso gegen das Innerste wie eine preisgegebene unheilige. Kirche und Staat sind ihm gleicherweise auch in ihren reinsten Formen Fragmente der echten Gemeinschaftsgestalt, Fragmente, deren höchste Bedeutung ist, die Ahnung der einigen Ganzheit und die Sehnsucht nach ihr zu erwekken; der Anspruch, das Ganze selber, das werdende Ganze selber zu sein, steht keinem von beiden zu. In beiden haben wir rechtschaffen und treu zu wirken, aber in beiden nicht um ihrer, sondern um der echten Gestalt willen; d. h. wir haben in beiden um die Verheißung zu dienen. Es ist eine fundamentale Erfahrung des Glaubens, daß die Menschenwelt auf Gemeinschaft angelegt ist: die Schöpfung vom Schöpfer auf dies hin erschaffen, daß sie sich zu seinem Reich, d. h. zur Gemeinschaft ihrer Wesen in der Gemeinschaft mit ihm vollende. Aber es ist der Kern dieser Glaubenserfahrung, daß die Vollendung der Welt zur Gemeinschaft, der Menschenwelt zur Menschheit nicht durch Abstrich, nicht durch Reduktion, nicht durch ein Absterben dieser oder jener Elemente des Daseins geschehen kann: daß sie nicht unterhalb, sondern

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nur oberhalb des unendlichen Widerspruchs geschehen kann. All die Gegensätze, in deren unversöhnlicher Strenge das spröde Leben unsrer Zeit verhaftet ist, geben erst mitsammen die Baumaterie des Reichs ab. Das heißt: sie müssen ohne Abstumpfung ihres Ernstes ausgetragen werden. Und das heißt zugleich: sie müssen ausgetragen werden in dem gemeinsamen Blick auf das Kommende. Es ist die Sache der Religionen, das wachsende Geschlecht dazu zu erziehen, wie es die Sache der »Profanität« sein wird, diese Erziehung zu bewähren. Ich sagte eben: der Religionen. Auch wir, auch unsre Bekenntnisse sind getrennt. Wir sind in verschiedne Pflicht genommen und haben ihre Verschiedenheit auszuhalten. Aber da wo wir stehen, an diesen unsern Standorten, stehen wir in der gemeinsamen Erwartung: daß Gott, der uns in die Exile der Konfessionen geschickt hat, uns daraus befreie in das Eine Reich. Und wir alle Menschen der Religion zusammen stehen in einer gemeinsamen Erwartung mit aller heimlichen namenlosen Gläubigkeit der Profanität: daß Gott die Weltmauer zwischen Religion und Profanität niederlege und beide erlöse in die eine Gemeinschaft mit ihm. *

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Rundfunkgespräch über Religion und Gemeinschaft zwischen Buber, Steinbüchel und Tillich. 1. Buber Die Religion im Abendland in ihrem Verhältnis zur Gemeinschaft. Die Gemeinschaft für die Religion selbst konstitutiv.

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2. Tillich Mit der Begrenzung, die Sie, Herr Buber vorschlagen, bin ich einverstanden. In erster Linie ist zu sprechen von der von der Religion selbstgeschaffenen Gemeinschaft der Kirche. Aber sie ist nicht die einzige, heute vielleicht nicht einmal die wichtigste religiöse Gemeinschaft.

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I. Steinbüchel Bezugnahme auf die letzte Formulierung von Tillich vom Standpunkt des Katholiken aus. Die Anrede Gottes ergeht an jeden Menschen. Aber in der konkreten Welt findet die Begegnung mit Gott innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft statt. Die Kirche ist communio sanctorium. Ihre Aufgabe ist Sorge von Mensch zu Mensch, vor allem in religiöser Beziehung. Die Kirche ist hierarchisch organisiert. Sie greift als solche

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in die gesellschaftliche Lage ein. Sie nimmt Stellung zum Problem der Ehe, der Familie, des Staates und der Gesellschaft. Ueber den Sinn der von der Kirche gegebenen Richtlinien. Die Aufgabe, die für den Einzelnen bleibt, diese Richtlinien konkret zu verwirklichen. 3. Buber All das gilt nur für die Angehörigen der kirchlichen Gemeinschaft. Aber das Gemeinschaftsproblem geht über die konfessionellen Grenzen hinaus. Vielleicht können Sie Herr Tillich von protestantischer Seite dazu Stellung nehmen.

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II. Tillich Nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Wirklichkeit des Redens Gottes in der Profanität ist gegeben. Dieser Glaube steht im Zusammenhang mit dem ursprünglichen protestantischen Protest gegen die Ineinssetzung von Kirche und religiöser Gemeinschaft. Aus diesem Protest eröffnet sich ein Verständnis für den religiösen Sinn der profanen Gemeinschaftsform, für ihren positiven und negativen Sinn. Vor allem wird sichtbar die letzte Zerspaltenheit der gegenwärtigen Gesellschaft durch die Klassenspaltung. Der dämonische Sinn der Klassenspaltung wird offenbar. Ebenso das Getragensein vieler profaner Gruppen in der Form der Hoffnung. Es wird hier eine latente Kirche sichtbar, die heut vielleicht wichtiger ist als die manifeste.

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4. Steinbüchel Die Kirche ist werdende Kirche. Wie die profane Begegnung steht auch die Kirche in der Erwartung. Vielleicht können Sie, Herr Buber, uns vom Judentum her darüber etwas sagen. III. Buber Das Judentum hat die Tendenz, die Scheidung von sakraler und profaner Sfäre zu überwinden. In der Wirklichkeit freilich bleiben immer Spannungen, z. B. häufig zwischen Profet und Priester. Im Judentum werden alle Seiten des Lebens und wird die ganze Menschheit beansprucht. Die Menschheit ist angelegt auf Gemeinschaft. Sie ist Vollendung der Schöpfung oder Reichsgottes. Nichts ist dabei ausgeschlossen. Die Erwartung umfasst alle Religionen und zugleich Religion und Profanität.

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Es gibt zweierlei Zeiten in der Menschheit, gläubige und ungläubige. Unter »Gläubigkeit« verstehe ich hier nicht den Glauben an irgend etwas Bestimmtes, sondern die gläubige Gesinnung zum Leben, das »Trotzdem!« des Menschenherzens. Man kann gläubige und ungläubige Zeiten nicht nach ihren Vokabeln unterscheiden. Es gibt ungläubige Zeiten, die von Gott zu reden lieben. Es gibt gläubige Zeiten, die das Geheimnis beschweigen. Aber an etwas anderm kann man sie voneinander unterscheiden. In den gläubigen Zeiten arbeiten die Menschen gern; wie sie ans Leben glauben, so glauben sie auch an die Arbeit. In den ungläubigen Zeiten ertragen die Menschen die Arbeit als einen unüberwindlichen Zwang. In den gläubigen Zeiten entdecken die Menschen den Segen, der in dem Fluch »Im Schweiß deines Angesichts« verborgen liegt; in den ungläubigen vergessen sie den Segen und wissen nur noch den Fluch. Die Zeit, in der wir leben, ist leicht als eine ungläubige zu erkennen. Aber hier und da wird in ihre massive Ungläubigkeit eine Bresche geschlagen. Solch eine Bresche war die Arbeitsgläubigkeit der zweiten Alija, Ahron David Gordons und der Seinen Glaube an den kosmischen Sinn und Wert der Arbeit, – daran, daß die Arbeit den Menschen mit der Erde, den »Adam« mit der »Adama« vermählt. Das ist in der Stille dieses Ländchens geschehen, und man hat anderswo nicht viel davon erfahren. Aber die Stille dieses Ländchens hat schon zuweilen erwiesen, daß sie eine langsam und zuverlässig in die Ferne wirkende Kraft hat. Wer weiß – ?

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Israel und die Völker Referat auf der Tagung des Köngener Bundes von Ende Dezember 1932 Ich habe während dieser Tage darüber nachgedacht, in welcher Weise ich den Gegenstand, um dessen Behandlung ich ersucht wurde, in den Zusammenhang dieser Tagung einzufügen habe. Es ergab sich mir, es sei das beste, wenn ich ihn so behandle, dass ich damit eine Voraussetzung liefere für alle Behandlung der Judenfrage, sofern sie eine Frage nach dem Verhältnis zwischen Israel und den Völkern ist. Das aber ist nur möglich von der biblischen Tiefe aus, welche zugleich im genausten Sinn Geschichte und im genausten Sinn religiöse Wirklichkeit, also nicht geschichtsverhaftete Wirklichkeit ist. Und eben deshalb, weil sie beides ist, ist sie unmittelbar je und je schlechthin aktuell. Ich habe damit schon etwas Wesentliches ausgesagt, nämlich, d a ß e s I s r a e l g i b t . Das bedeutet zunächst, daß es eine Wesenheit dieses Namens gibt, die nicht einem Gattungsbegriff eingeschrieben werden kann und auf die nichts, was von einem allgemeinen Begriff her abgeleitet ist, schlechthin anwendbar ist. Was man von ihrem Verhältnis zu anderen Wesenheiten sagen will, ist nur von hier aus zu erfassen. Daß es Israel gibt, bedeutet des weiteren, daß dieser Einzigkeit auch noch heute eine Wirklichkeit entspricht. Freilich nicht die Wirklichkeit, die man Judentum nennt, aber etwas, was diesem Judentum in entstellter, verzerrter, oft unkenntlich gewordener Weise, aber durchaus real innewohnt. »Israel und die Völker«, das besagt also, daß man Israel von den anderen Völkern nicht so abgrenzen kann, wie man diese untereinander abgrenzt, sondern daß hier eine Einzigkeit da ist, deren Verhalten und Verhältnis zu den andern nur in der Strenge des Einmaligen erfaßt zu werden vermag. Nun will ich genau zu bezeichnen versuchen, was ich mit E i n z i g k e i t im geschichtlichen Sinne meine: Volk, also das Volk, das in der Bibel Israel benannt wird, ist einmal entstanden und – und das scheint mir dies, wovon ich spreche, abzuheben von allem anderen, was in der Geschichte bekannt ist – die Bibel berichtet von der Stunde, in der dieses Volk e n t s t e h t . Ich möchte schon jetzt sagen, daß ich auch wissenschaftlich, mit all meinen Möglichkeiten, zu dem Gegenstand vorzudringen, mit meinem Forschen dazu gelangte, daß das, was die Bibel hier sagt von der Entstehung eines Volkes, zugleich geschichtsgültig, zuverlässig ist. Es sind vielfach mythisierte Erinnerungen; es ist dies die notwendige Sprachform für das Aussprechen einer echten Erinnerung,

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jener Erinnerungen, die die Menschenschar, die sie zu erinnern haben, so überwältigen, daß es gar nicht mehr möglich ist, sie anders als mythisch zu fassen, anders als mythisch an sie sich zu erinnern. Das organische Gedächtnis erinnert sich an alles, was geschah, aber das Gedächtnis selbst kann das Uebermächtige nur in mythischer Form, aber in einer rechtmäßigen, nirgends willkürlichen bewahren. Der Kern solcher mythischer Erinnerung ist geschichtlich zuverlässig. Die Volkentstehung, die da berichtet wird, ist – und das scheint mir das Einzigartige zu sein – geschichtlich identisch mit der Glaubenserfahrung und der Glaubenshandlung einer Menschenschar in ihrer plastischen Stunde. Volkentstehung und diese Glaubenserfahrung, Glaubenshandlung der Menschenschar, die in dieser ihrer entscheidenden Stunde geschieht, sind identisch, die Knetung dieser Menschenschar, die bislange noch nicht Volk ist, zum Volk ist identisch mit ihrer entscheidenden Glaubenserfahrung und Glaubenshandlung, indem sie dies als glaubende Schar erfährt, was sie erfährt, indem sie dies tut, was sie tut, d. h. indem sie angesprochen wird, sich als angesprochen erfährt, wird sie zum Volk. Das ist so zu fassen, wie jeder von uns wohl weiß, daß man angesprochen wird in der Sprache der Situation und angesprochen werden kann in der Frage des menschlichen Handelns, d. h. des Reagierens auf die Situation. Damit allein hebt sich in der Art der Einzigkeit Israel von den Völkern, von den Nationen oder wie Sie es sonst nennen wollen, ab. Alles andere ist entweder sekundär oder falsch gesehen. Diese Konstituierung eines Volkes geschieht nun nicht lediglich durch etwas, was im Volk selbst geschieht, nicht durch einen Vorgang in der Menschenschar, sondern durch einen Bund zwischen ihr und Einem, der ihr nicht einzufügen ist, der Menschheit nicht, dem Kosmos nicht, seinem Wesen nach. Durch einen B u n d – ich finde kein anderes deutsches Wort für die Uebertragung, wenn auch das hebräische Wort nicht ganz wiedergegeben worden ist, denn es bedeutet die Umschränkung zweier Partner zu einer eigentümlichen Einheit, wie die Einheit des Königs mit seinem Volk. Wenn wir den König nicht zum Volk rechnen, sondern ihn als Wesenheit für sich fassen und ihn umschränkt sein lassen zu einer Einheit mit dem Volk, in einer dauernden, ewigen Beziehung, die verletzt werden kann, die je und je auch von dem Volk her verletzt werden kann und wird, die aber – und dies ist eben das, worauf Israel geschichtlich und übergeschichtlich steht – nicht zerrissen worden ist. Mehr glaube ich nicht sagen zu dürfen – ich sage darum: worden ist. Diesen Bund bezeichne ich von den Worten der Bibel her als einen Königsbund. Denn der Bund besteht von der Seite des Volks aus darin,

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daß das Volk diesen einen, den Gott, der nicht auf es eingeschränkt ist, der nicht auf die Völker, nicht auf die Menschheit, nicht auf die Welt eingeschränkt ist, der eben Gott schlechthin und unbedingt ist, daß es diesen Gott zu seinem König proklamiert. Den Textbeleg dazu finden wir in dem Schluß des [Leerstelle im Text] und Pentateuch. Ich sage: zu ihrem König proklamiert; aber das Wort König ist hier keine ganz zulängliche Uebertragung. Die orientalischen Völker, besonders die Westsemiten, kennen Götter, die Könige sind, in Aegypten etwa einen Gott, der König über den Königen ist, in Babylon Götter, in deren Namen, als deren Statthalter die Könige regierten. Bei den Westsemiten gab es das Eigentümliche: die Westsemiten waren zuerst sehr intensiv wandernde Völker und sie bezeichneten denn mit diesem Königsnamen den, der unsichtbar an der Spitze ihrer Wanderungen und Eroberungszüge schritt, der ihnen Landnahme ermöglichte, den Stammesgott. Aber es war überall so, daß dieser Gottkönig die tatsächliche irdische Macht, die Macht des Häuptlings, die Macht des Fürsten deckte, es war die religiöse Sanktion einer politischen Macht. Dies war hier in Israel nicht. Und darin scheint mir die moderne Wissenschaft fehlgegriffen zu haben, daß sie dies nicht erkannte, daß von Anfang an etwas anderes gewesen ist, das Wagnis, Gott selber unmittelbar in aller politischen Wirklichkeit anzuerkennen als den König, nicht einen menschlichen Fürsten zu erkennen, der sich auf diesen seinen unsichtbaren Souverän je und je berufen kann als auf den, der seine Entscheidungen deckte und gut machte, sondern das Wagnis, den König, der hier in den irdischen Zeitläuften keine Form der Zwangsordnung und Zwangsexekutive kennt, Führer, der den, der seinen Befehlen widerspricht, nicht sofort mit seinen Blitzen niederstreckt, sondern der eine andere Art des Tuns hat in der Geschichte, ihn anzuerkennen, ihn als den König in der politischen Wirklichkeit, als den Vorangehenden, als den, der in dieses Land geführt hat, der hier in diesem Land ist, anzusehen, ihn so in die politische Wirklichkeit aufzunehmen. Dies ist das Wesentliche dieses Königsbundes, der von der Bibel, die hier etwas beurkundet, was diesem Volk widerfuhr, gefaßt wird als ein Gegenseitigkeitsbund im genauesten Sinn, ein Gegenseitigkeitshandeln, nicht als etwas, was vom Volk aus geschieht, sondern was zwischen Gott und diesem Volk geschieht, zwischen Göttlichem und Menschlichem in der widerspruchsvollen Gestalt eines Volkes. Es gab auch orientalische Formen des Bundes von Göttern mit Völkern um 700 der vorchristlichen Aera, aber von einem Volk, das s o sein Reich konstituiert, wissen wir nicht in der Geschichte. Ich sage: R e i c h . Das Zweite, was wichtig ist zu erkennen, ist das: daß schon in jener

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Zeit, dann aber mit dem Wachsen jener eigentümlichen glaubensgeschichtlichen Erscheinung, die wir Prophetie nennen, dieses Volk, seine Bildung, sein Staat als Vo r f o r m d e s R e i c h e s ü b e r h a u p t , des Gottesreichs durch den Menschen verstanden und verkündigt wird. Das heißt, biblisch gesprochen, Israel versteht sich selbst in diesem Königsbund immer genauer als Anfang, nicht als ein Ende in sich, nicht als etwas, was überholbar und letztgültig ist, sondern als einen Anfang, von dem Gott sagt: Mein Erstlingsteil von der Ernte. Dies wird geschichtlich dadurch dargestellt, daß erzählt wird, wie Gott sich zuerst eine Menschheit zu bilden versucht – (dieser Mythos berichtet offenbar nicht von einem allmächtigen Gott, obwohl immer wieder seine Allmacht als Geheimnis offenbar wird) – wie er aber diesen Versuch gleichsam fallen läßt und sich zuerst ein Volk, ich möchte sagen: z ü c h t e t , genealogisch, auslesemäßig, biologisch züchtet als A n f a n g , (das ist das, was die Propheten immer wieder sagen) als den Anfang des Reichs, der zuerst die Menschheit selbst aufbauen sollte. Der Bundesschluß ist der Vo l l z u g d i e s e r Vo l k w e r d u n g in der geschichtlichen Stunde. Hier tut es aber auch not, zu erfassen, wie wesentlich für dieses Verstehen Vo l k ist, wie wesentlich als Vo r f o r m einer Menschheit und eines uneingeschränkten Gottesreichs. Dieses Volk versteht sich in den Führern seiner Glaubenswirklichkeit, versteht sich in ihnen als eine Struktur, die so die menschlichen Gegensätze zusammenbildet, wie sie einst in der reifen, für Gott erwachsenen Menschheit zusammengeführt werden sollen, als die Einheit einer Vielheit, die so zustande kommt, daß von der Vielheit nichts abgestrichen wird. Und so allein wird Menschheit gefaßt und deshalb wird Volk als Vorform dieser Menschheit, einer Einheit aus der Vielheit der Völker in all ihrer Vielfältigkeit ohne Abstrich und Reduktion verstanden. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß an der entscheidenden Stelle der Bibel, an der oft angeführten Stelle, wo Gott sagt, Israel solle ihm ein heiliges Volk sein, daß hier zunächst das Wort steht, von dem die Broschürenschreiber, die heute so vielfältig die öffentliche Meinung beherrschen, behaupten, daß Israel einfach nur auf die anderen Völker angewandt wird, das Wort: Ihr sollt mir ein goi kadosch sein. [Leerstelle im Text] = Leiblichkeit, Körper, und [Leerstelle im Text], das ist eine Heiligkeit in allem Leben, ein Dahingewendetsein und Von-Daher-Sich-Bestimmen-Lassen. Das Wort Königtum heißt eigentlich Königsbereich und Priester heißt ursprünglich etwas lediglich die Unmittelbarkeit, den Anfang Aussprechendes. Volk ist hier die Voraussetzung auch für die Antwort der Person an das Göttliche. Ich meine damit die Person, die

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vom Göttlichen angesprochen wird und ihm lebensmäßig erwidert, – und das ist ein urisraelitischer Glaube, der sich fortentfaltet hat bis an die Schwelle unserer heutigen Zeit, bis zum Chassidismus, die Antwort des ganzen und ungeteilten Lebens. Es geht nicht an, Abteilungen zu errichten: bis hierher geht Gottes Herrschaft und hier hört sie auf, soweit teile ich mich Gott zu und von hier erkenne ich andere Gewalten an; es ist von Gewalten nicht abzusehen, und man kann sich nicht frei machen von Gewalten, die walten, aber es darf kein Verhältnis zu irgend einer der Gewalten geben, das nicht letztlich bestimmt wäre von Dem, der auch in der gebrochenen Form dieser Gewalten ist, so daß man nicht ihnen sondern Ihm antwortet. Das Volk gehört zu diesem ganzen Menschenleben, der abgetrennte Mensch kann nicht an das Ganze antworten, und der Mensch, der im Volk und doch nicht im Volk ist, kann nicht ganz antworten, sondern es tut not, daß das öffentliche Leben für die menschliche Person ganz einbezogen werden könnte in die heilige Lebensordnung – und darum t u t Vo l k n o t . Und nun weiter die Biblische Verfassung, das Gesetz, das in der Bibel diesem Volk von seinem König gegeben wird, diese soziale Verfassung, wesentlich agrarisch, denn es war ein B a u e r n v o l k , ein landhungriges, erdehungriges, nach Erde, nach Leben auf der Erde und Vermählung mit der Erde sehnsüchtiges Volk, das nach Kanaan wanderte. Diese agrarische, soziale Verfassung hat den Grundsinn: es darf nichts geschehen, was den G e m e i n s c h a f t s c h a r a k t e r dieses Volkes zersetzt, und insbesondere in ihrem Prinzip, den Ungesicherten zu sichern, daß immer wieder darauf geachtet wird, die sozialen Unterschiede, überhaupt die Unterschiede zwischen den Volksgliedern dürfen nicht so anwachsen, daß der Gemeinschaftsgehalt dieses Volkes, d. h. die jeweilige Möglichkeit, zwischen Volksglied und Volksglied Unmittelbarkeit entstehen zu lassen, zersetzt wird. Gemeinschaft des Volkes: das heißt, zwischen jedem Menschen und jedem Menschen im Volk, und wenn sie sich zum erstenmal begegnen, muß die Unmittelbarkeit möglich sein, Unterschiede dürfen nie so anwachsen, daß sie diesen Zusammenhang, diese Unmittelbarkeitsfähigkeit im Volk zersetzen. So wird festgesetzt: alle 7 Jahre Ausgleich des Besitzes, und alle 50 Jahre vollkommener Ausgleich, sodaß jeder zu seinem Sippenboden zurückkehrt. Es darf das nicht geben, daß es heimlose, erdlose Menschen gibt im Volk, das wäre ein Unterschied, der die Volksgemeinschaft zersprengte, das J o b e l j a h r bringt den Ausgleich wieder zurück; der Mensch muß Erde haben, die Sippe muß Erde haben, und deswegen muß die Volksgemeinschaft den A u s g l e i c h s a t z u n g s m ä ß i g f e s t l e g e n . Ich möchte Sie aber bitten, immer wieder zu beachten, daß der Blick

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auf das We l t k ö n i g t u m dieses Gottes nicht aussetzt. Darauf warten die Propheten, sie erinnern das Volk immer wieder daran – und das Volk ist so geneigt, das zu vergessen – daß dieser König ein König der Welt ist, und daß es, das Volk, ein A n f a n g für ein Königtum der Welt ist, das durch die Verfehlung des Menschen verhindert wird. Und die Propheten sagten immer wieder: das d u r c h e u c h , Israel, euch Juden behindert wird; die Propheten sagen nicht: durch Babylons Verfehlung, sondern durch e u r e Verfehlung. Das bedeutet die Erkenntnis dieser Hindernisse, des Weltwiderspruchs, die Tragik der Welt in ihrem ganzen Wirklichkeitsernst, und die Erkenntnis der Uebertragik der Erlösung dadurch, daß die Begegnung zwischen Gott und den Menschen sich vollendet, wozu der Mensch, das Leben des Menschen und die Entscheidung des Menschen gehört. Beachten Sie also bitte: gewiß, das Bewußtsein der Auserwähltheit ist da, aber die Führer des Volks, Geschlecht um Geschlecht wissen, daß dieses Bewußtsein der A u s e r w ä h l t h e i t eine große G e f a h r ist. Sie sehen im Volk den falschen Anspruch auf Gott als Machtlieferanten. Und darum sagen sie die Wahrheit so nachdrücklich immer wieder aus, daß das Geschichtsgeheimnis Gott nicht durch den Begriff der Macht allein zu erfassen ist; daß Macht zur Geschichte gehört, zum Werdegang der Geschichte, daß aber das das Entscheidende ist, wieviel E r m ä c h t i g u n g je und je dieser Macht verliehen ist. Es gibt nicht bloß ermächtigte Macht! Und weiter: daß aber auch diese sichtbare Machtgeschichte, die Geschichte der verzeichneten Erfolge, was wir Weltgeschichte nennen, die G e s c h i c h t e d e r E r f o l g e , daß auch dies nicht die Geschichte Gottes auf seinem Weg durch die Menschheit erschöpft, ja daß das das tiefste Geschichtsgeheimnis von anderer Art ist, etwa, daß das Leben etwas Unmittelbares mit Gott zu tun hat, daß Gott den Lebenden in einer Weise liebt, die wir nicht zu umschreiben vermögen; beides gehört zusammen. Weiter: Gott ist die g a n z e Geschichte: dieses Volk und k e i n Volk darf die Geschichte von sich aus erfassen. Ein Prophet der Zeit unmittelbar am Ende des babylonischen Exils nennt den Völkerherrn, der einen Teil von Israel nach Kanaan zurückführt den »Knecht Gottes«, aber mit demselben Namen »Knecht Gottes« ist jener Völkerherr Nebukadnezar von den Propheten bezeichnet worden, der der Urheber der Not des Volkes Israel gewesen ist. So soll von den Propheten aus gefaßt seine Stellung, seine dialogische Stellung gegenüber dem Herrn der Geschichte stehen, der überall sich seine Gehilfen erwählt und zuweilen solche, die als Gehilfen Gottes zu verstehen dem Volk sehr schwer wird. Denn – und da kommen wir auf den Kern dieses dialogischen Sich-Ver-

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stehens – das Volk ist je und je sündig, abtrünnig seinem (in aller politischen Wirklichkeit zu verstehen) König gegenüber. Es kann gefragt werden, und diese Frage sollte in allem Ernst gestellt werden; kann ein Volk sündigen? Nicht bloß ein Mensch, kann der M e n s c h a l s Vo l k s g l i e d sündigen, kann ein Volk sündigen, nicht etwa bloß gegen sich, sondern gegen Gott, indem es nämlich auf sich dann hört, wenn es auf Ihn hören soll, indem es jenes Gesetz der verborgenen Geschichte verkennt, daß Gott zwar immer wieder Macht entsendet, aber sich nie mit ihr identifiziert, daß es etwas Anderes ist, auf sich zu hören und etwas Anderes, auf Gott. Das Volk das auf sich hört und das nennt auf Gott hören, dessen Verhalten fassen die Propheten als Sünde des Volkes auf. Es ist für einen heutigen Menschen schwer dies in seiner ganzen Wirklichkeitstiefe zu fassen und zwar, weil das dialogische Verhältnis für die meisten Menschen verblaßt ist. Das scheint mir die eigentliche Krisis unserer Zeit zu sein, weil ein M o n o l o g i s m u s herrscht, weil jeder Einzelne und jede Gruppe nur mit sich wirklich ringt, mit den andern nur scheinbar; mit sich vom Innersten zum Innersten, mit dem Andern auf seine Oberfläche hin, ohne auf ihn wirklich einzugehen. In Dostojewskis Roman »Die Dämonen« spricht einer die Anschauung aus: Jedes Volk hat einen Gott, und diese Götter kämpfen miteinander; der Gott ist also der Exponent seines Volkes! Das ist der äußerste Gegensatz zu dem, was ich meine. Ist es so, hat jedes Volk seinen Gott, geht der Unterschied zwischen den Völkern bis ins Aeußerste, gibt es keinen von den Völkern gemeinsam anzurufenden Souverän und sei es auch mit schweigender Seele, gibt es den für die Völker nicht, dann gibt es wirklich keine Brücke zwischen den Völkern, keine Menschheit, dann ist die Menschheit eine Illusion, man sollte von ihr nicht sprechen, und man sollte in der Tragik der Situation ohne Hoffnung auf Erlösung verharren und von sich aus sagen: finis populorum; das wäre nicht das Ende der Menschheit, sondern das Ende der Völker selbst, die sich folgendermaßen bis in die Transzendenz fortzusetzen vermeinen. Daraus ergibt sich nun für die Glaubensführer des Volkes folgendes: (zwei prophetische Sprüche): der eine von Amos, dem ersten der Schriftpropheten, von dem uns schriftlich ein Teil seiner Reden bewahrt ist: »Gott spricht zu Israel: Seid Ihr mir nicht wie des Mohrenlandes Söhne, Söhne Israels; habe ich nicht Israel aus Aegypten herausgebracht, und die Philister aus Kaphtor und die Aramäer aus [Leerstelle im Text] Philister und Aramäer waren die zwei großen, feindlichen Völker, die man zu fürchten hatte. Gott sagt damit, er lasse sich nicht monopolisieren, nicht von Israel mit Beschlag belegen, er ist der, den die Völker wie immer nennen mögen, der V ö l k e r f ü h r e r , er hat jedes Volk zu seiner Frei-

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heit geführt, gleichviel, ob dieses Volk ihn erkannte und nannte oder nicht. Der zweite Spruch steht bei Jesaias und lautet: »An jenem Tag wird [Leerstelle im Text] Israel das Dritte zu Aegypten und Assyrien sein, ein Segen in der Mitte des Erdlandes, wozu Jahwe (der, der gegenwärtig ist, der Umscharte) es gesegnet hat, sprechend: Gesegnet, Aegypten, mein Volk und Assyrien, Werk meiner Hände und Israel, mein Eigentum.« Vom »Tag der Erfüllung« wird eschatologisch gesprochen. Es ist irreführend, wenn man meint, damit habe man im Augenblick praktisch nichts zu tun. Das ist nicht gemeint. Sondern mit Eschatologie ist das gemeint, was in jedem Augenblick eintreten kann, die Verantwortung dem Letzten gegenüber, jetzt und hier, es gibt keine Sicherheit gegen die Verwandlung. In jedem Jetzt und Hier kann – und will das Letzte aufbrechen. Das Konkrete muß man hier dazu bedenken: die beiden Weltreiche, die immer gegeneinander kämpften, haben zum Schauplatz und zur Beute ihrer kriegerischen Unternehmungen gegen einander das Land Israel gemacht. In diesem Zusammenhang ist noch zu besprechen der Begriff des H e i l i g e n K r i e g s . Es gibt keinen biblischen Pazifisten. Einen Pazifismus, eine Erklärung gegen den Krieg in der Geschichte gibt es in dem so genannten Alten Testament nicht, ich glaube auch nicht im Neuen Testament. Die Landnahme, die kriegerische Eroberung des Landes, das diesem Volk not tut, um den Königsbund zu erfüllen, diese Landnahme wird als ein von Gott geführter Krieg angesehen und das spricht sich darin sakramental aus, daß die Lade, über der je und je die Gegenwart Gottes sakramental geschaut wird, mitzieht, die Lade des Königsbundes, des Bundes mit dem vorangehenden Gott, aber nur bis zu dem Augenblick, wo die Landnahme durch David vollendet ist, in dem Kampf, in dem er die Lade dann zuletzt als Krönung des Siegs nach Jerusalem bringt und hinsetzt, und da bleibt sie und zieht nicht mehr voran. Es gibt keinen Heiligen Krieg mehr. Wohl gibt es noch Kriege: David hat seine Davidskriege – aber es gibt keine Sanktion mehr. Der Krieg hat seine religiöse Grenze gefunden. (In diesem Wort: G r e n z e , das ich hier in allen Aussprachen vermißt habe, sehe ich das wichtigste Wort in der Gegenwart überhaupt.) Wenn man prinzipiell redet: Krieg oder Frieden, Volk oder Menschheit, verfehlt man die Wirklichkeit ganz und gar. Das Entscheidende ist nicht die Frage nach dem Prinzip, sondern die: wie weit ist ein so und so beschaffener Menschenweg noch im Recht und in der Gnade, wie weit darf

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ich gehen? Das ist natürlich nicht prinzipiell zu beantworten, das ist nicht in einer allgemeingültigen Formel zu sagen – jeder Situation muß man mit neuen Sinnen gegenüberstehen, aber das Wichtige ist, daß der Mensch im Augenblick der Entscheidung weiß, es kommt auf die Grenze an, wie weit ich etwa in der Verteidigung meiner Existenz gehen darf; das ist furchtbar schwer, das Schwerste, was es überhaupt gibt in der Menschheit, d. h. so scheint es mir. Frieden wird so verstanden, und Weltfriede wird wohl verheißen in jenem Satz, der davon spricht, daß die Schwerter zur Pflugschar, und die Karste zu Winzermessern werden. Die menschliche Entscheidung geht in der Tragik auf die Uebertragik zu, nicht so, daß man sich auf die Seite der Gnade hinüberwirft – das kann kein Mensch – sondern so, daß man das Seine tut mit dem Vermögen dieser Stunde und aus der Lage dieser Stunde. Nun die Stadien der biblischen Reichsidee: Das erste ist, daß man die unmittelbare Gottesherrschaft zu realisieren sucht in der n a i v e n T h e o k r a t i e . Das ist geschichtlich nachzuweisen. Wir finden die Spur geschichtlicher Wirklichkeit, nämlich eines Versuchs, dieses Paradies der unmittelbaren Gottesherrschaft zu realisieren, in der man auskommt ohne Obrigkeit und sichtbaren Zwang. Die landläufige Vorstellung von Staat ist: er hat Doppelnatur, auf der einen Seite nimmt er die große Ordnung vorweg, auf der anderen Seite ist er eine Zwangsordnung, die das Leben der Menschen knapp ermöglichen soll. Dagegen erscheint es als ein Paradox, daß man es wagt, mit keiner anderen Obrigkeit als mit Gott auszukommen, d. h. die Kontinuität der Herrschaft nicht zu sichern. Die naive Theokratie ist antidynastisch orientiert. Sie stellt den Versuch der unmittelbaren Gottesherrschaft dar. Das ist paradox noch in einem anderen Sinn. Dieses Volk war ein wanderndes Volk, hatte einen unbändigen Freiheitswillen, wollte keinen Menschen als Herrscher anerkennen. Auf diesem anarchischen Volksgrund, diesem unbändigen Freiheitswillen errichtet sich diese Theokratie, in der nun gesagt wird: Du sollst niemand gehorchen als deinem König allein und Menschen nur insoweit, als sie sich rechtmäßig auf ihn berufen können durch einen persönlichen Auftrag. Dieser Personalauftrag dauert bis zum Tode des Betreffenden. Die Führer des Volks sammeln nie das ganze Volk. Immer wieder tritt Unordnung ein. Ein späterer Schriftsteller, der ebenso monarchistisch gesinnt war, wie der Hauptstock der Richterzeit antimonarchistisch war, zeigt in den letzten Kapiteln, daß das Volk nicht reif gewesen ist, aber auch die Erwählten nicht. Mythisch wird in der Simsongeschichte die Geschichte der Verwerfung eines Erwählten dargestellt, wie auch in der Geschichte Sauls. Die Theokratie

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artet praktisch immer wieder in Anarchie aus. Von dieser Tatsache aus können wir die Einsetzung eines Königs verstehen. Aber die Führer des Volks nehmen dieses Volkswissen nach einem Königstum, das die Ordnung verbürgt in sichtbarer Gestalt in dem Sakrament der Königssalbung hinein, wo der König eingesetzt wird zum Statthalter Gottes. Er vertritt Gott nicht im Sinn eines Personalauftrags, sondern eines Dauerauftrags, der einen dynastischen Charakter bekommt, der schon gleich nach dem Tod des zweiten Königs auf die Unzulänglichkeit der Könige hinweist, indem das Reich zerfällt. Zu allem orientalischen Gottesstatthaltertum gehört, daß der König wirklich v e r a n t w o r t l i c h ist, und daß die Geschichte, die Zusammenbrüche der Geschichte von dem Führer aus verstanden werden, einem Versagen des Königs, davon, daß der König jene Verfassung, jene Gemeinschaftsverfassung, von der aus allein das Volk den Königsbund als Gemeinschaft erfüllen kann, nicht realisiert. Darum steht der Prophet gegen den König. Darum steht der Prophet gegen den König, der Prophet im Namen des Gottes, an dem sich der Statthalter Gottes vergeht, als Mahner gegen das unverantwortliche, verantwortungswidrige Statthaltertum, das seinem Auftrag gegenüber versagt. Bei Jeremia, in den Fragmenten, steht der Prophet immer wieder gegen die Machthaber und ihre gemeinschaftsverletzenden, nicht sie verwirklichenden Satzungen. Man kann da Ethik, Politik, Religion nicht voneinander scheiden, all das ist eins. Auch die Religion ist keine Abteilung, wer das meint, irrt von Grund aus. Sie ist nur von der unteilbaren Ganzheit des sich auf Gott zu heiligenden Lebens her zu erfassen. Nun kommt die Katastrophe. Es kommt die Zeit des falschen Anspruchs, der Selbstsicherheit, die sich auf Gott als eine religiöse Sanktion beruft. Daraus geht hervor – nach der naiven Theokratie und dem Statthaltertum – die Glaubensvorstellung des K ö n i g s g o t t e s , d. h. es ist nicht mehr das Volk und die je und je zur Herrschaft im Sinn eines zeitlichen Auftrags berufenen Menschen, es sind auch nicht mehr die Könige und Dynastien – es bleibt nichts anderes mehr, als der im Dunkeln leidende, aber um der Erfüllung des Reiches, des Königstum Gottes leidende Knecht, nicht als eine einzelne Person leidend, sondern als eine Totalität, eine Menschenart, die durch die Geschlechter hin spricht, die in der Verborgenheit ihr Amt erfüllt. Dieses Leiden im Dunkeln um Gottes und seines Reiches willen, es ist die verborgene Geschichte dieses Menschen, der sagt, Gott habe ihn zu einem blanken Pfeil gemacht und dann in seinem Köcher versteckt, das ist der Mensch, der in der verborgenen Geschichte wirkt und an diese verborgene Geschichte glaubt, und diesen Glauben hat als etwas, was je und je da ist, als wirklichstes Wirken, mächtiger als die Weltgeschichte, die mit den leuchtenden Zeichen

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des Erfolgs geschrieben wird, die verborgene, die aufsteigen wird ins Licht der Welt, die Geschichte der Knechtschaft. Jetzt kommen wir zu den traurigsten aller schweren Dinge: zu dem erneuten Versagen in der Gestalt der restaurativen Theokratie, die nicht aus der Situation herkam, sondern um etwas wieder herzustellen, aber nicht so, daß man wagt, bis zu der Charismatik zurückzugehen, sondern als Verfassung, daß man die Theokratie aus dem Wissen um frühere Formen wieder herstellt und darum sie verfehlt, verfehlen muß – aber man wagte nicht, bis zu jenem ursprünglichen Preisgegebensein zurückzugehen. Die Urkraft ist nicht mehr da – und es gibt keine Propheten mehr. Es gibt noch einige Nachfahren, aber es gibt den Gegenruf, die Mahnung, die Richtigstellung der Ausartung gegenüber nicht, und so ist diese neue Form von Anfang an problematisch. Aber schließlich, als die Fremdherrschaft endgültig verjagt wird, im syrischen Gebiet der makkabäische Befreiungssieg erfochten ist, da gerade kommt die entscheidende Entartung zur P r i e s t e r h e r r s c h a f t , dieser Karikatur der Theokratie, diesem Affen der Theokratie. Die großen Befreiungskriege gegen die Römer waren auch innere Kriege gegen die Priesterherrschaft zugleich, z. B. die Kämpfe gegen Hadrian, die zu den größten Befreiungskriegen der Weltgeschichte gehören. Dieser Krieg endet mit dem völligen Zusammenbruch; damit ist die Priesterherrschaft, aber auch alle Erfüllungsmöglichkeit beendet gewesen. Aber ehe dies geschehen ist, ein Jahrhundert zuvor, hatte ein Mensch aus Israel, J e s u s , die zur Karikatur entartete Priesterherrschaft bekämpft. Er hatte bekämpft die Verkehrung des biblischen Verhältnisses von Religion und Leben, die eine Einheit sein sollten. Er erneuerte zugleich (nicht im Sinne einer Restauration) jene Knechtskonzeption in der Rechtmäßigkeit, d. h. das Leiden in der Verborgenheit, im Dunkel, um des Reiches willen. Ich bitte, sich gegenwärtig zu halten, daß es hier um konkrete Eschatologie sich handelt. Ich behaupte, daß Jesus nie vom Jenseits spricht, sondern er meint immer das kommende Reich auf der Erde als die siegreiche Offenbarung der verborgenen Weltgeschichte, die der Knecht Gottes auf Erden lebt, nicht in dieser Gestalt, sondern als einer zweiten getrennten Gestalt. Dieses C h r i s t e n t u m wird von den Völkern – und darüber will ich nur andeutungsweise reden – jetzt in ihre politische Haltung einbezogen und verwandt, z. B. von Konstantin, später vielfach in weniger bewußter, weniger taktischer Art. Es wird wirkliche Einheit versucht. Die Völker suchen über die Augustinische Zweiheit von Reich Gottes und Reich des Staates hinwegzukommen von der Politik aus. Das heißt, es gibt Reichsgedanken der Völker. Es gibt einen Reichsgedanken des christlichen

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Rom, einen Reichsgedanken in Byzanz und bei Karl, einen bei den Ottonen, einen englischen, einen französischen, einen russischen (im 19. Jahrhundert). Sie alle greifen auf den biblischen Reichsgedanken zurück, von dem Gedanken aus, daß die biblische Reichssache zu Ende sei mit der Verwerfung Israels durch Gott, und daß nun die Christenheit diese Berufung übernehme. Es handelt sich nun um die Aufrichtung des Reichs der Christenheit. Dieses Rückgreifen auf die biblische Sache geht bis ins Sakramentale hinein; es wird z. B. in der Königsweihe unmittelbar auf die Salbung des israelitischen Königs zurückgegriffen und zwar so, daß nun gesagt wurde: dies ist jetzt der rechtmäßige König durch die rechtmäßige Salbung, – obwohl die Salbung aus der Körperlichkeit in die Fläche übergegangen ist, weil das Zwiegespräch des Statthalters mit dem rechtmäßigen Herrscher, Gott, verschwunden ist. Die Völker – und nun kommen wir zu dem Judentum – die Völker stehen von hier aus zur Bibel, von der Grundvorstellung her, daß Israel verworfen ist, daß die Christenheit sein Erbe im Sinn des Reichsbaues schlechthin angetreten hat. Die Haltung Israels im J u d e n t u m ist, daß es weiß, es sei nicht so, daß es glaubens-, lebensmäßig weiß, es sei nicht an dem, ohne daß es irgend einen der Reichsgedanken zu bestreiten imstande wäre. Es gibt keine solche Bestreitung. Das Positive kann nicht negative Formen annehmen. Israel weiß, es hat eine Möglichkeit, es traut Gott zu, daß alle Möglichkeit bei ihm ruht und nicht erstirbt, es ist sich seiner Sünde zutiefst bewußt, aber es weiß zugleich in einer Weise, die nicht zu umschreiben ist, daß es preisgegeben und doch nicht verworfen ist, daß sein Amt abgebrochen und doch nicht zu Ende ist. Und so steht es inmitten der Völker, sie durchaus anerkennend: es ist nicht wahr, daß Israel den Völkern ihr Recht auch im höchsten Sinn aberkennt. Es weiß nicht darum – es weiß nur von seinem Amt und überschreitet dieses Wissen nicht. Es erscheint mir diese Verlassenheit und Doch-Nicht-Verworfenheit so: es ist neulich bei einer Morgenfeier vom Dom zu Worms gesprochen worden. Als ich das erste Mal in Worms war, sah ich mir zuerst den Dom an, wie es natürlich ist, und sah mir dann den jüdischen Friedhof an, was auch natürlich ist. Und ich sah von dem jüdischen Friedhof zum Dom hinauf. Der Dom ist echte, vollkommene, ungebrochene, gewachsene Gestalt; der jüdische Friedhof, diese zerstellten, schiefen, widereinander stehenden Grabsteine, ist die Gestaltlosigkeit selber – und von dem tiefgelegenen Friedhof hinauf zum Dom spürte ich stärker als je vorher dieses Verhältnis von Israel zwischen den Völkern. Aber es muß hier zu den Völkern etwas gesagt werden. Jeremia schrieb einen Brief an die [Leerstelle im Text], sie sollten sich auf lange Zeit vor-

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bereiten: »Baut Häuser und sammelt, pflanzt Gärten und eßt ihre Früchte« d. h. bereitet Leben für Geschlechter und Geschlechter, den Baum pflanzt, der lebt im Exil nicht als im Exil, – und dann weiter: »Trachtet nach dem Heil der Stadt (die Ganzheit der Glieder des Staates), dahin ich euch verschleppen ließ, betet für sie zu Jahwe, in ihrem Heil wird euch Heil sein.« Was ich auf die Völker zu meine, ist dies: daß sie die Juden nicht r e z i p i e r t haben in jenem Sinn, daß sie den Juden nicht ermöglicht haben, den Satz Jeremiä zu erfüllen, daß sie ihnen nicht die Möglichkeit gegeben haben, Häuser zu bauen und Bäume zu pflanzen, d. h. daß sie sie von der U r p r o d u k t i o n ausgeschlossen haben; daß sie sie dann in die Ghetti sperrten, daß sie sie äußerlich abriegelten, war nur eine äußere Konsequenz dieses inneren Verhaltens, vielleicht weil sie meinten, Gott habe die Juden verworfen, obwohl sie wohl hätten spüren mögen: wenn mir ein Mensch ins Haus kommt, so ist er g e s a n d t , und ich habe eine Aufgabe an ihm eben dadurch, daß er mir gesandt ist, und zwar nicht die Aufgabe, ihn zu meinem Glauben zu bekehren, sondern eine Aufgabe an seiner menschlichen N o t . Ich sage, daß die Völker die Juden in die Ghetti eingesperrt haben, war die Absperrung von der Urproduktion, diese Preisgabe an jenes zweifelhafte obere Stockwerk, wo man die Güter nicht schafft, sondern nur vermittelt. Sie wurden hineingeworfen in das Verließ des Handels, des Bankwesens, sie, ein B a u e r n v o l k , das Sehnsucht nach Erde hat. (Nur in der Sowjet-Republik hat man die Juden wieder zur Urproduktion, zur Erde zugelassen). Es sind einzelne Menschen aufgenommen worden, aber nicht das Vo l k I s r a e l . Man hat es entweder als rückständige Religionsgemeinschaft oder als Rest einer Nation angesehen und abgetan: Israel, dieses einzige, das nicht mit dem Begriff der Nation, des Volks allein zu erfassen ist, das hier hineingestellt ist in das Leben der Völker. So willkürlich vom Bewußtsein aus läßt sich diese schwerste Aufgabe nicht lösen. Daß sich die Völker nicht haben sagen lassen, was das alte Testament von dem »Gastsaßen« sagt als dem, den man teilnehmen läßt am Leben der Gesamtheit. Und nun glaubt an die Geschichte, glaubt an Gott, an die Gesandtheit und glaubt, wenn unserem Glauben, unserer Aufgeschlossenheit eine Gestalt erwachsen will, daß sie dann auch erwächst, auch vom schwersten Widerstreit aus, wenn wir erst wirklich ihn im Namen Gottes zu bewältigen versuchen, ohne ihn zu vergewaltigen. Diese Einzigkeit Israels bedingt eine Einzigkeit der Situation, die Unverwendbarkeit aller verwandten Kategorien. Israel empfindet seine

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Glaubenshoffnung, seine Verkündigung, sein Amt nicht so, als ob sich begriffliche oder sonstige Grenzen ziehen ließen, sondern es empfindet auch dieses Amt, auch diese Berufung im Zusammenhang mit der ganzen Wirklichkeit, der es treu sein will, weil es glaubt, daß Gott es hierher nicht verschleppt, sondern g e s c h i c k t hat. Ich sagte: es gibt Israel. Ich sagte auch: Israel ist nicht mit dem Judentum identisch. Das heißt, es gibt im Judentum einen Zerfall, der durch den Abfall von Israel und seinem Amt entsteht. Dieser Zerfall ist nicht bloß für Israel eine schwere Bedrohung, sondern er hat auch seine Bedenklichkeit für die Völkerwelt. Wenn in einem Volk oder Staat jemand etwas sagt oder treibt, wovon man fühlt oder weiß, daß es dem Innersten des eigenen Volks widerspricht oder widerstrebt, dann scheint es mir dem Sinn der Situation zu widersprechen, daß man sagt: den muß man mundtot machen, sondern es scheint mir, daß es dem Sinn der Aufgabe entspricht, dem Mann sein P u b l i k u m zu nehmen, d. h. das Volk so zu führen, daß es ihn nicht anhört. Im Hyde-Park in London gibt es Redner, die mehr oder weniger zweifelhafte Heilslehren verkündigen. Die einen haben Hörer, die anderen gar keine! Eingriffe sind falsch, vom Wesen der Situation her. Ich sage das nicht von Israel her, ich sage das, mich in die Lage der Völkerwelt versetzend. Nun zu allerletzt die Frage: ist eine echte R e z e p t i o n möglich? Diese Frage scheint mir identisch zu sein mit der Frage, die hier schon aufgetaucht ist: ist ein Handeln der christlichen Völker von Jesus her möglich? Ich möchte aber das, so sehr es mir Ehrfurcht abgenötigt hat, was von Quäkerseite gesagt wurde, bezweifeln. Ich weiß, wie ungeheuer schwer es hier steht. Aber ich meine, es handelt sich nicht darum, die Bergpredigt zu tun, sondern sie t u n z u w o l l e n . Ich glaube nicht, daß man hier allgemein gültige Regeln ableiten kann, sondern daß man sich von da bestimmen lassen kann; jeweils in dem ganzen Widerstreit und Widerspruch. Was man tun kann, wird einem dann geboten, wenn man sich gebieten lassen will von der ganzen Wirklichkeit, ihr zugleich gerecht werden wollend. Ja, das ist schwer. Das ist das Leben der Völker mit einander, das ist das Leben Israels mit den Völkern und der Völker mit Israel. Aussprache nach dem Vortrag E h l e n : Man begeht überall den Fehler, daß man einen Punkt herausgreift und dann vergißt, daß dieser Punkt im Zusammenhang mit der ganzen Welt steht. Wir vergessen, daß er ein Stück der Dinge ist wie die

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Linie nur in der Ebene ist, und die Ebene nur am Körper, und dieser nur in der Totalität der Welt. Das müssen wir bedenken, bei unserer Aussprache. K r a n n h a l s bittet, die Lesung der Texte zu unterlassen, die Buber angekündigt hatte für den Schluß der Aussprache. B u b e r : Diese Texte sind nicht etwa bloß eine Bestätigung meiner Ausführungen, sondern sie enthalten allerlei, worüber ich nicht sprechen konnte. Aber ich bin bereit, sie zurückzustellen. M . We b e r : Ich würde vor allem vorschlagen, über die Frage zu sprechen: Ist echte Rezeption möglich, warum oder warum nicht? J . H ü t t e n m e i s t e r : Warum hat Israel selbst nicht dafür gesorgt, daß eine Rezeption möglich war, und warum ist diese Zerstreuung möglich geworden? D a n n e m a n n : Zur Diskussion: Die Gefahr des Bewußtseins der Auserwähltheit. B u b e r : Der Glaube an die Auserwähltheit ist eine schwere innere Gefahr, daß er vom Volk lebensmäßig so mißverstanden werden könnte, daß es glaubt, ein Monopol auf Gott zu haben. D a n n e m a n n : Ich meine die Auserwähltheit unter den V ö l k e r n . B u b e r : Die gab es nur in der vorisraelitischen Zeit. D a n n e m a n n : Hat das nicht charakterprägend gewirkt auch auf die nachisraelitische Zeit? H a u e r : Worin besteht die Aufgabe dieses auserwählten Volkes in der Gegenwart und in der Zukunft? K r a n n h a l s : Aus welchem Kriterium heraus stellt Israel fest, wie groß und welcher Art seine Ermächtigung ist? D a u r : Es wurde gesagt: das Volk Israel ist etwas Einzigartiges, ist in einzigartiger Weise von dem Gott aller Völker auserwählt und geführt worden. Ich möchte fragen, ob nicht eine ganze Anzahl von Völkern dieser Geschichte dieser Ueberzeugung sind. Ob nicht jedes Volk irgendwie auf diese Linie geführt worden ist; ob nicht etwa China, oder das deutsche Volk hier durchaus dasselbe Schicksal, im wesentlichen identisch mit Israel, teilen; ob dieser alte Anspruch: wir sind das auserwählte Volk, in dieser Weise geschichtlich zu rechtfertigen ist. K r a n n h a l s : Ist aus germanisch-deutschem Seelentum heraus der Begriff des Bundes nicht eine Unmöglichkeit? Er setzt die Trennung Mensch-Gott voraus, nicht das Erlebnis des Gott-Menschentums. B u b e r : Ich wollte und will keine Auserwähltheit Israels anerkennen, wenn es noch nicht deutlich geworden ist. Wenn wir den Begriff der Auserwähltheit nehmen wollen: Jedes Volk ist auserwählt. Eine Schar wird Volk: d. h. sie wird zum Volkwerden auserwählt. Jedes Volk hat

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eine Aufgabe an der Menschheit, und die Aufgaben sind nicht mathematisch abzugrenzen. Wenn ich das gesagt habe, daß Israel sich abhebt von den Völkern, dann weil dieser Vorgang des Volkwerdens einen bestimmten Charakter angenommen hat, daß eine Stunde erinnert wird, wo das Volkwerden zusammenfällt mit einer bestimmten, ausgesprochenen Glaubenserfahrung und Glaubenshandlung. Dieses Volkwerden fällt hier zusammen mit dem, was die Bibel die Offenbarung nennt, und die geschieht, nachdem das Volk eine nicht staatliche, aber Volksordnung erhalten hat. Diese eigentümliche Glaubenseinheit ist keine Synthese, sondern ist in einem geschichtlichen Moment da. K r a n n h a l s : Gerade das hat mich im Tiefsten aufgewühlt, daß wir eben in diesem innigsten Gefühl leben: Unsere Stunde des Auserwähltseins naht jetzt. Wir wollen aber gerade in diesem Gefühl der nahen Stunde unsere Kräfte bis ins Innerste prüfen, um zu unterscheiden, wo sind die wahren und wo die falschen Propheten! H a u e r : Zu dem Begriff des Auserwähltseins: es liegt hier zunächst religionsgeschichtlich ein einzigartiges Phänomen vor. Diese Einzigartigkeit besteht darin, daß ein Volk vorhanden ist, das als Volk glaubt, von Gott in ganz bestimmter Weise auserwählt zu sein, in bestimmter Weise herausgehoben vor dem andern. Nicht nur mit einer bestimmten Aufgabe: dieses Volk erhebt den Anspruch, das Volk zu sein, dem Gott als einzigem eine ganz umfassende Aufgabe anvertraut hat. Das gibt es sonst nicht, vielleicht noch bei den Briten, ab und zu. Nun scheint mir darin der große Unterschied zu liegen zwischen der Art, wie andere Völker ihre Aufgabe erleben und dieser Art, und da scheint mir in der Tat ein tiefgreifender, ja fast radikaler Unterschied zu bestehen. Niemand wird bestreiten, daß die Griechen ihre eigentümliche Aufgabe hatten, und daß ihre Aufgabe zusammenfiel mit ihrem Volk- und StaatWerden. Aber jedenfalls soviel ist sicher: Mit ihrer Volkwerdung fällt zusammen das Erkennen oder mindestens Erfüllen ihrer eigentümlichen Aufgabe. Aber das griechische Volk hat nie in dieser Weise eine Einzigartigkeit beansprucht, sondern hat diese Aufgabe still bezwungen, und hat sie gelassen, als seine Sendung vorbei war. Bei den Römern dasselbe. Es entstand aber kein Bund. Woran liegt das? Ich glaube, daß das in der Tat die Eigentümlichkeit des israelitisch-jüdischen Geistes ist, daß er, anstatt sich der Aufgabe stumm hinzugeben, wissend, daß es verschwinden wird, hat Israel diese Einzigartigkeit verewigt, verabsolutiert. Das tun etwa die indogermanischen Völker nicht. So ist der Bund mit dem Gott Israels ein Versuch, eine gewisse Bewußtseinsstruktur, die die Aufgabe so ansieht, irgendwie religiös zu sanktionieren. Ich bin ganz mit Buber einig: Gott hat dem

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Volk eine Aufgabe gesetzt, die nicht mehr und nicht weniger ist als irgend eine andere. Aber daß man gemeint hat, Gott habe gerade mit diesem Volk einen Bund geschlossen, das ist der Ausdruck eines bestimmten Charakters, der im Ewigen nicht zu Recht besteht. Das ist meine Deutung dieser Lage. Daraus ergibt sich das Andere: hat das Volk Israel seine Aufgabe erfüllt als Volk, wenn es nicht den Anspruch erhebt, Volk in dem alten Sinn zu sein? B u b e r : Darauf zu entgegnen, wird mir schwer, und zwar aus einem ganz allgemeinen Grund: die Dinge, von denen her ich gesprochen habe, sind Dinge, die man weiß innen in einem Raum, wenn man drinnen ist. Das heißt: Im Tempel stehend weiß man, was Tempel ist. Nun ist es ein Wagnis, herauszutreten und von diesem durchaus Unerweislichen allem, was von der Objektivität her, vom dem allgemeinen Weltzusammenhang gesagt werden kann, entgegenzutreten. Ich habe es auf mich genommen, und es ist mir sehr schwer geworden in meinem Leben. Diese Tagung hat es mir nicht leichter, sondern bis auf schöne menschliche Begegnungen schwerer gemacht. Aber, lieber Wilhelm Hauer: Ich bin schlechthin nicht befähigt und nicht ermächtigt, ein von innen her in dieser Weise Erfahrenes einreihen zu lassen und unser Werk einordnen zu lassen oder einem Werk unterordnen zu lassen, das ich nicht anerkenne. Sie können mir sagen: Mein Lieber, Sie weichen aus. Ich sage darauf: ich kann nicht anders, denn als von der Unbedingtheit her reden. Wenn Ihr mich aber an die Bedingtheit zwingt, dann wird etwas anderes daraus. Damals vor 3000 Jahren habe ich mich aufgemacht hierher in diesen Raum, und ich rede von daher, wo allein ich rechtmäßig reden kann. Ihr könnt mir das Wort versagen: dem bin ich ausgesetzt. Aber ob das, was ich sage, wirklich ist oder nicht, kann nicht anders entschieden werden – d. h. ich bin dem wohl ausgesetzt. Ich bin bereit, über alles zu sprechen, aber ich kann nicht darüber sprechen, ob das, w o h e r ich spreche, in Frage zu stellen ist oder nicht. Ich ziehe damit eine gewisse Grenze, die ich ziehen m u ß , weil ich nicht ein philosophischer, oder diskutierender, oder Begriffs-Mensch bin: Ich bin der Mensch von dort vor 3000 Jahren. H a u e r : Ich verstehe das ganz, was Buber gesagt hat und zwar nicht nur intellektuell, sondern wesensmäßig als die Aeußerung aus den tiefsten religiösen Gründen heraus, in denen ich auch lebe. Und so rede ich hier auch von meiner Seite her aus ähnlichen religiösen Gründen heraus, d. h. wenn ich Bubers religiöser Substanz eine andere entgegensetzen werde, die, die mit der 5000 jährigen Geschichte der indogermanischen Bewegung verhängt ist, die mir genau so gottesverhängt ist wie die Geschichte Israels.

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Zur Absteckung der Grenze dies: Ich werde nie von einem Christen verlangen, daß er mir den Absolutheitsanspruch beweist, ebenso nicht von Buber, da gebe ich ihm recht. Das ist eine religiöse Glaubensüberzeugung. B u b e r : Ich will nur sagen: es ist ein Unterschied, der Absolutheitsanspruch des Christentums ist anderer Art, als der Anspruch, von dem ich gesprochen habe, und den ich nicht Absolutheitsanspruch nenne. Das Christentum in seiner geläufigen Gestalt beansprucht, daß dieser Glaube der Glaube der Menschen überhaupt wird, daß seine Absolutheit von der gesamten Menschheit dadurch anerkannt wird, daß sie den Glauben zu ihrem G l a u b e n machen. I c h melde lediglich eine W i r k l i c h k e i t an, ohne irgend etwas für andere Wirklichkeiten des Kosmos abzuleiten. H a u e r : Ja, ich meine auch nicht, daß dieser Absolutheitsanspruch Wirklichkeit wäre. Was ich meine, ist, daß er der Art nach ähnlich ist. Absolutheit kann man nicht beweisen, man leitet sie ab, aus einer unabweisbaren Autorität. Buber spricht von der Einzigartigkeit des israelitischen Volkes. Das ist dem Charakter nach das Gleiche. Ich möchte auch gar nicht das, was von Buber hier gesagt wurde, in die Relativität hineinziehen, nein, für mich ist die Aufgabe Israels eine absolute gewesen, aber absolut in dem Sinn: für eine bestimmte Situation bestimmt und wirkend von Gott her. Dem setze ich entgegen: Dieselbe Absolutheit nehme ich in Anspruch für das indische Volk, für das römische Volk, für das griechische, das deutsche Volk. Ich muß dem widersprechen, daß man diesen Absolutheitsanspruch anders faßt, als wie wir ihn hier fassen. Buber kann sich nicht ändern, aber dann wissen wir, daß wir in diesem Punkt nicht mehr hören können auf diesen Absolutheitsanspruch, ihn nur noch zur Kenntnis nehmen; er bedeutet für uns religiös nichts mehr. M . We b e r : Aber das ist ein Mißverständnis Bubers! H a u e r : Gut, dann wird Buber es selbst sagen. Ich muß diesem Absolutheitsanspruch widersprechen, weil er auf die Gegenwart und auf die Zukunft geht und in sich enthält, daß für die Gegenwart und für die Zukunft dieser Anspruch, eine einzigartige Sendung zu haben, ebenso besteht wie für die vergangene Situation. Ich nehme Buber ernst: muß er nicht dem Absolutheitsanspruch Folge leisten? I c h kann diesen Absolutheitsanspruch nicht anerkennen, wenn es heißt: »von Gott gesetzt«. Daraus kommen dann die anderen Ansprüche. Ich glaube, Israel hat auch in dem von hier gemeinten Sinn auf den Absolutheitsanspruch der anderen Völker zu hören, und wenn es das nicht tut, haben wir diesen Absolutheitsanspruch abzuweisen.

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E h l e n : Mir scheint eine Klärung möglich. Hauer wird zugeben müssen, daß solange diese Sendung vorhanden ist, als das Volk da ist. Solange das deutsche Volk da ist, ist auch irgendwie in ihm diese letztliche Sendung mitgegeben. Und so auch die Sendung des israelitischen Volkes. Wir können es nicht zurückweisen auf eine Zeit vor Jahrtausenden, sondern wir müssen ihm heute gerecht werden. B ä u m e r : Mir scheint, daß in dieser Debatte etwas miteinander verbunden ist, was getrennt gehört. Einen Absolutheitsanspruch als Anspruch eines religiösen Glaubens können wir gar nicht ablehnen. Es ist das Wesen jedes religiösen Glaubens, in diesem Absoluten sich selbst verwurzelt zu fühlen. Eine Sendung aus diesem Glauben hängt nicht zusammen mit der Weiterexistenz eines Volkes als Volk. Ich glaube, es besteht noch eine Sendung des Griechentums, es bildet noch weiter, trotzdem das Volk nicht mehr existiert. Ich glaube, daß man ganz klar trennen muß, ob dieser Glaube sich verbindet mit dem Willen zu einer politischen Existenz. Das ist entscheidend. Es ist von Buber gesagt worden, daß das Christentum eine andere Art von Absolutheitsglauben hat. Die von Buber hier dargestellte Glaubenswelt ist verbunden mit der Existenz einer völkischen Realität. Das, was im Hintergrund der Befürchtungen Außenstehender hier steht, ist dies: verbindet sich mit diesem religiösen Glauben an die Sendung in irgend einem Sinn ein neu konzipiertes politisches Ziel, soll diese Einheit von Volk und Glauben in unserer heutigen Welt wiederhergestellt werden? Insofern ist das Absolutheitsbekenntnis ein totaleres, als das des Christentums, das sagt, es ist nicht abhängig davon, ob Völker existieren, die es kraft ihrer völkischen Eigenart tragen. Ich finde, daß die indogermanischen Völker, ohne daß in ihnen der Glaube an ihre Weltsendung so tief verwurzelt wäre, doch den Anspruch, daß nach ihren Grundsätzen die Welt sich gestalten soll, aufstellen. Wenn man mit den Angelsachsen zu tun hat, staunt man über die Naivität der Weltmission. Hier ist ein Imperialismus, den ich nicht da finde, wo ausdrücklich ausgesprochen ist, wie bei Buber, daß Israel Gott monopolisiert, und daß in einem bestimmten Stadium der Geschichte die Bundeslade im Tempel bleibt. H a u e r : Ich muß dem widersprechen, daß man einen Absolutheitsanspruch nicht ablehnen könnte. Man kann ihn nicht nehmen dem Menschen, der ihn erhebt. Freilich geht es nicht nur um die Frage, ob hier politische Gestaltung vorgenommen wird, sondern es geht hier um die religiöse Sendung. Ich habe nicht gesagt, daß die Indogermanen das Bewußtsein ihrer Sendung nicht hätten, sondern sie haben sie nicht in einem Bund mit

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Gott ausgedrückt. Das scheint mir ein Wesensunterschied des Charakters zu sein. B u b e r : Zunächst von da aus, wo ich zuletzt angelangt war: es ist nicht so, daß Israel etwa irgend eine Auffassung, die es von sich hatte, in die Form eines Bundes gekleidet hat, der doch ein Akt der Gegenseitigkeit ist, daß es sich also den Partner ausgesonnen haben müßte. Ebensowenig wie dies vermöchte ich zuzugeben, daß Israel seine Aufgabe verewigt und verabsolutiert hat. H a u e r : Das ist es nicht ganz. Es ist jetzt nötig, klar zu sein, um der Sache willen. Ich habe es nicht so gesagt, daß Israel etwas subjektiv erlebt hat und sich einen Partner ausgedacht hat. Israel ist von Gott ergriffen worden und hat seine Aufgabe bekommen und gestaltet und hat dieses Ergriffenwerden dargestellt. Das ist nichts Subjektives. B u b e r : Nun kämpfen Sie gegen Windmühlen. Ich habe Sie nicht mißverstanden. Einen Beweis dafür, daß Israel seine Aufgabe nicht verewigt hat: Gott hat mir den Bund nicht gekündigt! Das ist etwas, was von dem indogermanischen Menschen schwer verstanden wird. Er kennt nicht ein Gegenüber. Aber ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal deutlich sagen: ich spreche nicht von Absolutheitsanspruch. Daß ich in demselben Sinn, wie ich hier von dem Geheimnis Israels gesprochen habe, die Geheimnisse der abendländischen Völker anerkenne, das nenne ich nicht Absolutheitsanspruch. Geheimnis ist Geheimnis. Es ist aber viel in der Welt geschehen, wenn ein Geheimnis das andere anerkennt. Ich wollte hier keinen Absolutheitsanspruch anmelden, weil ich ihn gar nicht darzulegen vermöchte und berufen bin. Wenn Sie sagen, Israel h a b e den Absolutheitsanspruch, so sage ich, daß ich niemals wagen würde, über das Geheimnis des Christentums, das ich in einem gewissen Sinn viel weniger verstehe wie das Deutschtum, von dem ich viel verstehe, von innen her, durch die Sprache etwa, über das Christentum, an dessen Struktur mir vieles fremd ist, über sein Geheimnis irgendwie abzusprechen. Noch weniger über das des Deutschtums. Ich habe also nicht von Absolutheitsanspruch geredet, sondern von Geheimnis. Dieses G e h e i m n i s ist nicht auf Zeit beschränkt. Ich weiß schlechthin von keinem Aufhören dieses Geheimnisses, das durchaus historischen Charakter hat, im Gegensatz zu allen Geheimnissen, von denen hier gesprochen wurde, nämlich den Charakter des einmaligen Ereignisses, an das sich alle Geschlechter erinnern, als ob es ihnen selbst geschehen wäre. Dieses Verhältnis zu der konkreten, geschehenden Geschichte ist etwas Anderes. Damit will ich nichts sagen über die Geheimnisse innerhalb der Völkerwelt, denen ich mich beuge, wie ich mich dem unbegreiflichen Walten Gottes in der Welt beuge.

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E h l e n : Ich verstehe, wenn Hauer sagt, daß er aus religiösen Gründen vom deutschen, indogermanischen Volk aus den Anspruch ablehnen muß als noch jetzt zu Recht bestehend. Aber ich meine, wir müssen doch darüber nachdenken, solange wir überhaupt Christentum in der Form verstehen, daß es eine gewisse Nachfolge Jesu bedeutet, ob nicht auch jetzt weiter in dem Bestehen Israels, und in der Art, wie es in den Völkern lebt, ob da nicht das eine darin liegt: der im Dunkeln leidende Knecht, der um der Erfüllung des Gottesreichs willen leidende Knecht. Dieser Glaube, der mehr bedeutet als alle Geschichte, diese ungeheure Leidensfähigkeit des jüdischen Volkes, das ist das, was uns immer wieder zum Besinnen bringen muß: was lebt in diesem Volk, daß es trotz aller Unterdrückung es leistet, der leidende Knecht Gottes zu sein und doch zu glauben? R i c h t e r : Ich stelle die Frage, ob die Einzigartigkeit des Volks und seiner Berufung, von der zuletzt die Rede war, die unter keine Kategorie zu fassen ist, nur das bedeutet, wie mir scheint, was man sonst Individualität des Einzelgeschehens in der Geschichte nennt, so wie ich das Werden des Deutschen Volkes auch als ein ganz einzigartiges und individuelles in der Geschichte fasse. B u b e r verneint das. K r a n n h a l s : Ich glaube aus einer anderen Substanz heraus, aber aus demselben Grunderlebnis heraus zu sprechen wie Buber, wenn er sagt: »Bei dem, was vor 3000 Jahren am Sinai geschah, war ich selbst dabei«. Was für ihn eine Ewigkeit ist, das ist für mich auch eine Ewigkeit. Das ist kein Geheimnis, sondern es ist die Wirksamkeit des Ewigen jenseits von Zeit und Raum, und das ist das eminent Wirksame. Das hat uns Deutsche Buber gelehrt in dem, was er uns vorgetragen hat. E h l e n : Alle Individualität und Einzigartigkeit ist hineingenommen in die letzte Wirklichkeit, daß wir uns davor besinnen und schweigen. Nun wollen wir über die Frage der Rezeption sprechen. B u b e r : Auf die Frage, ob Rezeption möglich ist, kann ich nicht antworten. Ich weiß nichts davon. Ich weiß nur, wie wesentlich es ist für Israel und die Völker, ob sie geschieht. H a u e r : Wenn die Aufgabe Israels so verknüpft ist mit seinem Volksein, wie kann dann diese Aufgabe weiter erfüllt werden, solange es nicht Volk ist? Ich frage: was ist Volk? B u b e r : Volk ist gemeinsame Leiblichkeit einer Vielheit von Menschen. Leiblichkeit – das ist nicht bloß Körperlichkeit: dazu gehört a l l e s . Auf die Frage nach der Aufgabe ist schwer zu antworten. (»Aufgabe« ist ein schlechtes Wort, viel zu rational, besser vielleicht: Beru-

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fung, Geheimnis). Es ist nicht so wie Sendung, als ob man eine Mission hätte für die Andern. H a u e r : Diesen Anspruch erhebt aber Israel. B u b e r : Ich verstehe Israel nicht so. Ich bin Anti-Missionar. Es hat keine Mission in dem Sinn, daß es den reinen Gottgedanken unter den Völkern zu verbreiten hätte. Das finde ich lächerlich. Ich finde nicht, daß Ihr uns braucht, um einen reinen Gottgedanken zu haben, gleichviel, ob wir in Zerstreuung oder in Palästina leben, sondern das, was ich Aufgabe oder Berufung nenne, ist etwas, was Israel zu tun hat dadurch, daß es auf eine bestimmte Weise d a ist. Israel hat keine Propaganda, es hat kein Heil zu bringen, sondern es hat etwas Bestimmtes zu tun, was es verfehlt hat, es hat eine bestimmte Art von Gemeinschaft zu bauen. Eben das meinte ich, als ich von der Sozialgesetzgebung sagte, es dürfe nichts die Gemeinschaft sprengen. Aber Israel ist nie eingefallen, mit dieser Gemeinschaft Mission zu treiben. Ich wünsche, daß jetzt und hier auch Bedingungen gegeben werden – nicht für ein Davidisches Reich, das versagt hat, wie andere versagt haben. Das Gebot kleidet sich in immer neue Gestalt, es ist nicht so, daß wir es einmal aufschreiben und nun besitzen wir es für alle Zeit, sondern so, daß es von eben daher, woher es erklungen ist, von derselben Stimme aus, die gesprochen hat, nun von Zeit zu Zeit in den Wandel der Zeiten hineinspricht, selber sich bildend und doch einig bleibend. Ich lasse mich nicht festlegen auf »Davidisches Reich«, für das ich als heutiger Mensch eine nur sehr begrenzte Sympathie habe. Was ich als Stimme höre, ist anders als geschichtliche Wesenheit. Ich widerspreche der Geschichte, indem ich dem Herrn der Geschichte gehorche M . We b e r : Wir sprechen von der konkreten Frage, ob eine echte Aufnahme des jüdischen Volkes möglich und nötig ist. Ich könnte darauf nur antworten, ich weiß es nicht. Ob der letzte Untergrund der Humanität zu einer solchen Aufnahme noch vorhanden ist, weiß ich nicht. Aber ich halte die Zielrichtung darauf für notwendig. Die echte Aufnahme bestünde darin, daß man sich sagt: Wir stehen vor der Tatsache, daß in unserer Volksgemeinschaft seit Jahrhunderten eingesprengt ist eine andere Rasse, ein anderes Volkstum, das nun unlöslich, wie mir scheint, in unsere eigene Existenz verflochten ist und zwar in doppelter Weise: auch durch die geistig-religiösen Schätze, die es uns vermittelt hat. Das können wir nicht mehr ausscheiden. Unsere größten Volksführer, die größten Repräsentanten unserer deutschen Nation wie z. B. Luther und Goethe, sind überhaupt in ihrer Sprache nicht ohne die Bibel zu denken. Deshalb haben wir eine Verpflichtung gegenüber diesem höchst eigentümlichen und in vielem anders konstituierten und uns fremd blei-

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benden Volk. Wir sind nun einmal von der Geschichte vor diese Aufgabe gestellt. Eine echte Rezeption würde darin bestehen, daß gewisse jüdische Eigenschaften, die uns nicht leicht zu ertragen sind, die es uns vielleicht nicht immer leicht machen, im Daseinskampf gegen die Intelligenz (nach einer bestimmten Richtung hin entwickelt!) des Judentums zu behaupten – daß unser Verhalten an diesen Eigenarten des fremden Volkes eine Mitschuld trägt. Wir haben eine tragische Schuld auf uns geladen, als wir das Gastvolk nicht aufnahmen, sondern es in die Ghetti sperrten. Durch die Tatsache, daß die Juden nur auf dem Umweg über das Geld zur Macht kommen konnten, haben wir mitgewirkt an bestimmten Qualitäten ihrer Intelligenz, die uns heute schwer zu tragen sind. Es fragt sich nun, ob wir die Situation, die wir angetreten haben, positiv bewältigen. Wir müssen uns gegen eine ausdrückliche, mit politischen Mitteln betriebene antisemitische Propaganda wenden, die nach einem Sündenbock sucht. K r a n n h a l s : Aus dem Grunderlebnis des Letzten, aus dem ich die Einheit betont habe, die ich mit Buber fühle, aber aus einer anderen Substanz heraus muß ich jetzt auf das Unterschiedliche zwischen ihm und mir eingehen. Die Welt ist Einheit und Mannigfaltigkeit, unendlich gegliedert; das Volk ist ein Gedanke Gottes. Es wird also mit der Bejahung der echten Aufnahme die Idee des Volks zerstört. Ich wende mich dagegen, das Judentum sei eine Wurzel unserer geistigen und seelischen Existenz. Die praktischen Fragen: wie stellen wir uns positiv zum Judentum? sind unendlich kompliziert. Ich begrüße den Versuch in Palästina. D a n n e m a n n : Vor mir steht Buber viel zu groß, als daß ich ihm alles anhängen möchte, was sich heute als Judentum manifestiert. Was haben die Juden in Persien, in Rom getan? Von unserer Seite wird das, wovon M. Weber sprach, unsere Schuld, als bewußte Geschichtsfälschung bezeichnet. B u b e r : Das stimmt aber historisch nicht. Wir haben überall agrarische Siedlungen der Juden, sogar in Deutschland gab es sie, ehe diese neue Haltung der Feindlichkeit kam. Noch vor dem Jahr 1000 gab es dörfliche Siedlungen der Juden in Deutschland. So einfach liegen die Dinge nicht. Und zur Schuld? Nun, ich fühle mich nicht befugt, über Schuld zu reden. Aber es hat doch einmal eine große religiöse Begeisterung gegeben: die Zeit der Kreuzzüge! Womit hat man angefangen beim Einzug in Jerusalem? Mit der Niedermetzelung von Juden. Ich klage an – ja – ich wollte nicht darüber reden, nicht darüber hinweg, – – Ich habe nicht von einer Aufnahme durch das deutsche Volk gesprochen, sondern durch die Völkerwelt. Das ist etwas Anderes. Es gibt die

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Völker nicht bloß als Völker. Und schließlich: man sagt immer, diese Zeit ist eine Zeit der Krisis. Ich sage: es ist eine Zeit der P r o b e , der schwersten Probe. H a u e r : Auch ich glaube, wir dürfen um die Frage der Schuld nicht herumgehen. Ich war vor 3 Jahren im Orient und habe aus diesem Anlaß die Geschichte der Kreuzzüge studiert, und habe die Schilderung der Metzeleien damals in Jerusalem studiert und bin fast zusammengebrochen. Da wurden weder Greise noch Säuglinge geschont – das Blut ging bis an die Säume der Pferde! Und ich bin dort gestanden als Kreuzfahrer – und fühlte die Schuld. Nun dürfen wir aber aus diesem Gefühl heraus nicht sagen: nun müssen wir den Juden alles zuliebe tun. Wir wollen nicht noch einmal Schuld auf uns laden, sondern wollen mit ganzer Seele danach ringen, daß die Lösung geschieht. Ob das die Lösung von M. Weber oder von Dannemann ist, das weiß ich nicht. Hier sind Menschen, die tragen an dieser Schuld, und die haben die geschichtliche Tragik des jüdischen Volkes schwer empfunden. Aus diesem Geist heraus wollen sie das Problem lösen, aber sie wissen nicht, wie sie es lösen sollen. Man darf auch nicht die Sache zu leicht machen, auch für die Juden nicht zu leicht.

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Zur Ethik der politischen Entscheidung Unter »politischer Entscheidung« versteht man heute im allgemeinen den Anschluß an eine politische Gruppe. Ist dieser vollzogen, dann ist alles endgültig geordnet, die Zeit des Sich-entscheidens ist vorüber. Man braucht fortan nichts anderes zu tun als die Bewegungen der Gruppe, der man angehört, mitzumachen. Nie mehr steht man am Kreuzweg, nie mehr hat man unter den möglichen Handlungen die rechte zu erwählen, es ist entschieden. Was man einst glaubte: daß man stets neu, Situation um Situation, das jeweils Gewählte zu verantworten hätte, das ist man nun los. Die Gruppe hat einem seine politische Verantwortung abgenommen. Man fühlt sich in ihr verantwortet, man darf es fühlen. Die eben gekennzeichnete Haltung bedeutet, wenn sie dem gläubigen Menschen (nur von ihm will ich hier reden) widerfährt, seinen Sturz aus dem Glauben, – ohne daß er es sich einzugestehen, sich zuzugeben geneigt ist: seinen faktischen Sturz aus dem Glauben, wie laut und nachdrücklich auch er ihn nicht bloß mit dem Munde, sondern mit der die innerste Wirklichkeit überschreienden Seele selber fortbekennt. Eins vorweg zur Klärung: unter dem »gläubigen« Menschen verstehe ich keinen anderen als jenen, der sich dem Einen Seienden, Gott, angelobt hat; glauben ist geloben. Wohl redet man in unserer Zeit gern von dem »Glauben« an eine Sache, an ein Volk, an ein Reich, ja an eine Partei; aber das sind Metaphern, brauchbar, wo man ihrer Einschränkung bewußt bleibt, sonst aber der Vorstellung eines modernen Pantheons zugehörig, darin nebeneinander die Baale der »Sachen« thronen, unter denen jeder von uns sich den zu ihm passenden erkürt, um von da an für ihn gegen die anderen zu fechten. Echter Glaube meint echte personhafte Gegenseitigkeit; echten Glauben gibt es nur als Glaubensverhältnis, in dem der, dem ich mich angelobt habe, selber mich hält und hegt. Man erklärt heute freilich auch gern, man glaube »an den Führer«; aber die menschenleibigen Götzen sind noch schlimmer als die ideeförmigen, weil sie stärker das Wirkliche vortäuschen. Der echte Führer, der sich von oben her führen läßt, fordert nicht, daß man an ihn glaube, sondern daß man ihm, eben deshalb, vertraue, – wie Jesus die ablehnt, die seiner »Zeichen« halber »an seinen Namen glauben« (Joh. 2, 23 ff.). Das Glaubensverhältnis zu dem Einen Seienden aber verkehrt sich in Schein und Selbstbetrug, wenn es nicht ausschließlich ist. Die »Religion« mag sich dazu verstehen, eine Abteilung des Lebens neben anderen, ebenso wie sie eigenständigen und eigengesetzlichen, zu sein, – sie hat damit das Glaubensverhältnis schon verkehrt. Diesem, seiner Bestim-

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mungsmacht, irgend einen Bereich grundsätzlich entziehen, heißt, ihn der Bestimmungsmacht Gottes, die dem Glaubensverhältnis obwaltet, entziehen wollen. Dem Glaubensverhältnis vorschreiben: »So weit darfst du bestimmen, was ich zu tun habe, und nicht weiter, an dieser Grenze endet deine Gewalt und beginnt die der Gruppe, der ich angehöre«, heißt, eben so zu Gott reden. Wer sein Glaubensverhältnis nicht, so sehr er eben je und je vermag, sich in den unverkürzten Maßen seines gelebten Lebens erfüllen läßt, der unterfängt sich, Gottes Herrschaft über die Welt in ihrer Erfüllung zu verkürzen. Wohl ist das Glaubensverhältnis kein Regelnbuch, in dem man nachschlagen kann, was in dieser Stunde da zu tun ist. Was Gott von mir für diese Stunde verlangt, erfahre ich, sofern ich es erfahre, nicht eher als in ihr. Aber auch dann ist es mir nicht anders gegeben, es zu erfahren, als wenn ich sie, diese Stunde, als m e i n e Stunde ihm, Gott, gegenüber verantworte, wenn ich die Verantwortung für sie auf ihn zu austrage, so sehr ich eben jetzt vermag. Was mich jetzt angetreten hat, das Unvorhergesehene, Unvorhersehbare, ist Wort von ihm, Wort, das in keinem Wörterbuch der Welt steht, Wort, das jetzt gewortet worden ist, – und was es von mir heischt, ist Antwort, meine Antwort an ihn. Ich worte meine Antwort, indem ich unter den möglichen Handlungen die erwähle, die meiner hingegebenen Einsicht als die rechte erscheint, indem ich mich für sie entscheide. Mit meiner Wahl, meiner Entscheidung, meiner Handlung – Tun oder Lassen, Eingreifen oder Aushalten – antworte ich, wie unzulänglich auch, dennoch rechtmäßig dem Wort, verantworte ich meine Stunde. Diese Verantwortung kann mir meine Gruppe nicht abnehmen, ich darf sie mir von ihr nicht abnehmen lassen, sonst verkehre ich mein Glaubensverhältnis, sonst schneide ich aus Gottes Machtbereich den Bereich meiner Gruppe zurecht. Nicht aber als ob die mich in meiner Entscheidung nichts anginge; sie geht mich ungeheuer an; ich sehe ja, indem ich mich entscheide, von der Welt nicht ab, ich sehe sie an und ein, und in ihr zuvorderst, der ich mit meiner Entscheidung gerecht zu werden habe, mag ich meine Gruppe sehen, an deren Heil ich hange; ihr vor allem mag ich gerecht zu werden haben. Dies jedoch nicht für sich, sondern ihr in Gottes Angesicht; und kein Programm, kein taktischer Beschluß, kein Führerbefehl kann mir sagen, wie ich, mich entscheidend, meiner Gruppe in Gottes Angesicht gerecht zu werden habe. Es kann sein, daß ich ihr so dienen darf, wie Programm, Beschluß, Befehl angeordnet haben; es kann sein, daß ich ihr anders dienen soll; es könnte sogar sein – wenn in meinem Entscheidungsakt so Unerhörtes mir aufginge –, daß ich grausam wider ihren Erfolg gestellt wäre, weil ich inne würde, wie Gott sie anders liebt

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als zu diesem Erfolg. Auf eins nur kommt es an: daß ich mein Ohr für die Situation, wie sie sich mir dartut, als für das Wort an mich öffne bis auf den Grund, wo das Hören ins Sein verfließt, und vernehme, was zu vernehmen ist, und auf das Vernommene antworte. Wer mir eine Antwort so einsagt, daß er mich am Vernehmen hindert, ist der Teufel, er sei sonst, wer er sei. Keineswegs ist gemeint, der Mensch müsse allein, unberaten aus seiner Brust die Antwort holen. Nichts derartiges ist gemeint: wie sollte etwa die Weisung des Führers nicht wesenhaft mit eingehen in die Substanz, aus der die Entscheidung geschmolzen wird? Aber ersetzen darf sie diese nicht; es wird kein Ersatz angenommen. Wer einem Führer vertraut, mag »sich« ihm anvertrauen, seine leibliche Person; seine Verantwortung nicht. Zu der muß er sich selber aufmachen, ausgerüstet mit allem in der Gruppe geschmiedeten Sollen, aber ausgesetzt dem Schicksal, daß im abgründigen Augenblick alle Rüstung von ihm abfällt. Er darf sogar an dem »Interesse« der Gruppe mit seiner ganzen Kraft festhalten, – bis etwa in der letzten Konfrontation mit der Wirklichkeit ein allerleisester, aber unverkennbarer Finger daran rührt. Das ist freilich nicht der »Finger Gottes«, dessen zu harren wir nicht befugt sind, und so ist nicht die geringste Gewißheit einer anders als persönlichen Richtigkeit der Entscheidung zulässig. Gott reicht mir die Situation hin, auf die ich zu antworten habe; daß er mir von meiner Antwort etwas zureichte, habe ich nicht zu erwarten; wohl bin ich antwortend seiner Gnade anheimgegeben, aber ich vermag den oberen Anteil nicht zu bemessen, und auch das seligste Gnadengefühl kann täuschen. Der Finger, von dem ich rede, ist lediglich der des »Gewissens«, aber nicht des geläufigen, des nutzbaren, benutzten und abgenutzten, des Oberflächenspiels, mit dessen Diskreditierung man die Tatsächlichkeit einer positiven Antwort des Menschen aufgehoben zu haben gewähnt hat; es ist das unbekannte, immer erst entdekkungsbedürftige Gewissen auf dem Grunde, auf das ich hinzeige, das Gewissen des »Fünkleins«, denn das echte Fünklein ist auch in der einigen Gelassenheit jeder echten Entscheidung wirkend. Die Gewißheit, die dieses Gewissen erzeugt, ist freilich nur eine personhafte; es ist die ungewisse Gewißheit; aber was h i e r Person heißt, ist eben die angerufene und antwortende. Ich sage also, daß der Einzelne, d. h. der verantwortlich Lebende, auch seine politischen Handlungen nur von jenem Grunde seines Daseins aus, an dem er der göttlichen Anrede inne wird, rechtmäßig vollziehen kann, und daß er, wenn er diese Gewärtigkeit des Grundes sich von seiner Gruppe abschnüren läßt, Gott die aktuelle Erwiderung verweigert. Mit »Individualismus« – das ist das Schlagwort, mit dem die sich in

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ihren inneren Sicherungen durch das Anliegen der gläubigen Personhaftigkeit gestört fühlenden Gruppen es belegen – hat das, wovon ich rede, nichts zu schaffen. Ich halte das Individuum weder für den Ausgangsnoch gar für den Zielpunkt menschlicher Welt. Aber ich halte die menschliche Person für den unverschiebbaren zentralen Platz des Kampfes zwischen der Bewegung der Welt von Gott weg und ihrer Bewegung auf Gott zu. Dieser Kampf begibt sich heute zu einem unheimlich großen Teil im Bereich des öffentlichen Lebens; aber die Entscheidungsschlachten auch dieses Bereichs werden in der Tiefe der Person, Grund oder Abgrund, geschlagen. Die Generation ist bestrebt, sich dem gewaltig heischenden Immerwieder solchen Verantwortens durch die Flucht in ein bergendes Einfür-allemal hinein zu entziehen. Auf den Freiheitsdusel des nächstvergangenen Geschlechts ist die Bindungssucht des gegenwärtigen gefolgt, auf die Untreue des Rausches die Untreue der Hysterie. Treu dem Einen Seienden ist einzig, wer sich gebunden weiß an seinen Standort – und eben da frei zur eigenen Verantwortung. Nicht anders als aus so Gebundenen und Freien wird ein Gebild entstehen, das nicht mehr Gruppe, sondern Gemeinschaft genannt werden darf. Doch auch jetzt schon tut der gläubige Mensch, wenn er einer Sache anhangt, die sich in einer Gruppe darstellt, recht, sich der anzuschließen; aber ihr angehörend muß er mit seinem ganzen Leben, also auch mit seinem Gruppenleben dem Einen botmäßig bleiben, der sein Herr ist. Das wird zuweilen seine verantwortende Entscheidung gegen eine etwa taktische seiner Gruppe setzen, zuweilen ihn bewegen, den Kampf für die Wahrheit, die menschliche, die ungewiß-gewisse Wahrheit, die das tiefe Gewissen ihm schöpft, in die Gruppe selber zu tragen und damit eine innere Front in ihr aufzurichten oder zu verstärken. Diese kann – da sie, wenn überall aufrecht und stark, als eine heimliche Einheit quer durch alle Gruppen liefe – für die Zukunft unserer Welt wichtiger werden als alle Fronten, die heute zwischen Gruppe und Gruppe, Gruppenverband und Gruppenverband sich ziehen.

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Die Tugend der Propaganda Zum 50. Geburtstag Kurt Blumenfelds. Ein alter chinesischer Philosoph wurde einst gefragt, warum er mit seiner Lehre hinter den Leuten her sei. Ein schönes Mädchen verweile daheim und werde umworben; triebe sie sich auf der Gasse umher, würde man ihr bald keine Beachtung mehr schenken. Er antwortete, der Geist habe es in einer verderbten Zeit wie diese nicht so gut wie die schönen Mädchen: »Bedrängte man die Leute nicht, um ihnen die Lehre beizubringen, bliebe sie unbemerkt.« Eine solche Betrachtungsweise steht dem Philosophen schlecht an; es ist das Wesen seiner Idee, dem Wechsel der Zeiten in ihren verschiedenen »Verderbnis«-Graden überlegen zu sein und die erwarten zu können, die ihr gewachsen ist. Anders verhält es sich mit dem politischen Denken. Die politische Idee ruht ja nicht in sich, sie begehrt nach Verwirklichung, und zwar notwendigerweise nach einer geschichtsbedingten; so muß ihr bange sein, ob sie ihre Stunde nicht verpasse. Daraus ergibt sich die hohe Pflicht der Propaganda. Aber zugleich auch ihre Problematik. Denn sie wird nur so lange der Idee selber und nicht einem Zerrbild dienen, als sie der Zeit, auf die sie wirken will, widersteht, sie also gewinnt, ohne sich mit ihr gemein zu machen. In dem Maße, in dem ein Mann des Geistes, der sich der Propaganda ergeben hat, diese schwere Aufgabe erfüllt, wird er zum Erzieher.

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Wir brauchen eine Bestandaufnahme unseres Daseins, und zwar eine, die die Perspektiven mit umfaßt, die also über das Vorhandene hinaus zukünftige Möglichkeiten, insbesondere auch Möglichkeiten von Verbesserungen aufzeigt. Das bedeutet zum ersten, daß keine andere Absicht die einer redlichen Erfassung der Wirklichkeit beeinträchtigen oder gar durchkreuzen darf; die Selbstkritik, wo sie nottut – und sie ist ja die unerläßliche Voraussetzung aller gesunden Änderungsvorschläge –, muß sich vollziehen, als redeten wir in einem geschlossenen Raum, in dem nur wir uns befänden. Und es bedeutet zum zweiten, daß da die Möglichkeiten von Verbesserungen nur insofern zu betrachten sind, als sie von uns selber abhängen – wiewohl es naturgemäß auch nicht das geringste zu tun gibt, was von uns allein abhängt –, jede andre Instanz unberücksichtigt bleiben muß; unser Schicksal muß also betrachtet werden, als hätten wir es zu bestimmen. Beides ist richtiges, situationsgerechtes Verhalten. Ein Mensch gerät unversehens in eine Lage, die die Grundfesten seiner Existenz in Frage stellt. Was soll er tun? Er muß den Bestand aufnehmen: muß ermitteln, woran er hält, was er besitzt, über welche Kräfte er verfügt; alles weitere wird sich daraus, kann sich erst daraus ergeben. Es mag sein, daß es ihm sinnlos vorkommt, dergleichen zu beginnen, weil er sich für bankrott hält; aber ohne ein echtes Wesens- und Lebens-Inventar aufgenommen zu haben darf sich kein Mensch dafür halten, und wer es aufgenommen hat, der wird zumeist nicht mehr geneigt sein sich dafür zu halten, denn es haben sich ihm Reserven der Lebenstiefe erschlossen, die er vordem nicht kannte. Wie nun aber, wenn dem inventarmachenden Ladeninhaber die Leute von der Straße durch die Fenster zugucken? Wird er aufspringen und alles hinwerfen? Wird er den Raum verdunkeln? Wenn seine Seele gelassen ist, wie eine rechtschaffne Menschenseele es in allen Lagen bleibt, wird er unbeirrt seine Arbeit zu Ende führen. Es gibt den Raum nicht mehr, in dem wir zu den andern sprechen und von ihnen vernommen werden können. Es gibt den Dialog nicht mehr. Also gibt es auch die Apologie nicht mehr. Keine Apologie, nicht einmal die sokratische, wäre je erklungen, wenn die Versammlung der Ankläger und Richter ihr nicht gelauscht hätte. Der Raum ist taub geworden. Und doch auch wieder nicht. Denn was wir im ertaubten Raum der Öffentlichkeit zu uns selber, nur noch zu uns selber sagen, kann ja doch von jedem Beliebigen, dem es gar nicht zugedacht war, gehört werden. Wohl,

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so werde es gehört! Dieses ganz unapologetische, nichts als feststellende Sprechen ist für unsere Ohren gemeint – so ist es das für die Ohren der Welt, wo sie noch etwa Ohren hat für diese unsre Beredung, sie die für unsre Anrede keine mehr hat. Die Türen bleiben auf, wer hören mag höre was im Hause gesagt wird, unsre Verlassenheit kennt keine Scheu. Aber geziemt es uns, wie auf offenem Markte Selbstkritik zu üben, wo rings um uns eine Kritik laut ist, die uns das Recht auf Dasein bestreitet, unsern Wert und unsre Würde verneint? Es geziemt uns. Denn von alledem hebt sich unsere Eigenkenntnis, wenn sie rückhaltlos vordringt, dadurch ab, daß sie weiß und zum Ausdruck bringt, wie unser Höchstes stets unserm Niedersten entsteigt und aus der Überwindung unserer Entartungen die Größe unserer Art sich gebiert. Nicht Rechtfertigung trete in den tauben Raum gegen die Beschuldigung, sondern unbefangen erhebe sich die niemandem erwidernde, unbemühte, gelassene Stimme des Wissens um Licht und Finsternis in unserm eignen Leben, um Treue und Untreue in ihm. Dann dürfen wir, trotz allem, an das unterscheidende Ohr glauben. Und das andre: In einer Zeit der äußersten Dürre stellt der Bauer die Aussaat nicht ein. Freilich erscheint’s ihm, als würde sein Acker ihm nichts tragen, wenn nicht ein Regen das Erdreich lockert. Aber er tut das Seine, schwer besorgt, doch unverzweifelt. Ohne daß er das Seine tut, wird’s keinesfalls geraten. Darum wirft er das Korn aus, als hinge alles nur davon und nicht vom Wetter ab. Wird es regnen, so hat er recht getan. Und wird es nicht regnen, – so hat er recht getan. Die rechte Handlung fruchtet, auf gewohnte oder ungewohnte Weise. Wetterprophezeiungen sind unverläßlich; aber wenn wir, wohl wissend wie abhängig wir sind, unsern Acker bebauen, als hätten wir sein Schicksal zu bestimmen, dann wird etwas durch uns bestimmt, wenig oder viel, was auch komme, – was auch komme, genug. Man wird einwenden, es sei doch zum Erkennen aufgefordert worden und Erkennen sei doch nicht Tun. Ich antworte, daß es Situationen gibt, in denen eine Erkenntnis die vorderste Tat ist. Man ist ja heute geneigt, den Einfluß der Erkenntnis auf das Geschehen zu unterschätzen. Aber der Rückschwung des Pendels hebt in diesem Augenblick an.

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Editorische Notiz Der vorliegende Band folgt den neuen, in Band 9 der MBW (»Schriften zum Christentum«) erstmals vorgestellten Editionskriterien. Die Gesamteinleitung, die der Textsammlung vorausgeht, enthält allgemeine Hinweise zur Entstehungsgeschichte der Texte, ordnet sie in Bubers Gesamtwerk ein und erläutert ihre zeitgenössische Rezeption. Die hier gebotenen Fassungen von Bubers Texten sind im Allgemeinen auf Grundlage der Erstdrucke erstellt und folgen ihnen in Orthographie und Interpunktion. Die Texthervorhebungen der Originaltexte mit gesperrter und kursiver Schrift sowie Kapitälchen werden beibehalten. Die Reihenfolge der Texte Bubers im vorliegenden Band folgt einer möglichst chronologischen Ordnung. Vereinzelt wurde vom Prinzip des Erstdrucks abgewichen. »Über die Todesstrafe« erschien zwar bereits 1928, wird aber hier in Fassung und Anordnung gemäß der Veröffentlichung in Nachlese (1965) abgedruckt, da Buber diesen Text offenkundig auch als Kommentar zur Gegenwart verstanden hat. »Geltung und Grenze des politischen Prinzips« wird in der Fassung von Hinweise (1953) wiedergegeben, da diese nur unwesentlich später als die vorhergehenden Veröffentlichungen in Zeitschriften erschien und die verlässlichere Textgestalt besitzt. Berichtigende Eingriffe in Texte, denen Drucke zugrundelagen, werden nur im Fall von offenkundigen Druckfehlern und angesichts von Korrekturen Bubers in späteren Drucken vorgenommen. Diese Eingriffe sind im Variantenapparat des Kommentarteils zum jeweiligen Text verzeichnet. Es wurde nach Möglichkeit darauf verzichtet, mit Korrekturen in die zum Abdruck kommenden Typoskripte einzugreifen, die in der Regel stenografische Mitschriften der unmittelbaren Rede Bubers darstellen. Der freien Rede ist es geschuldet, dass die Sätze mitunter ihrem syntaktischen Bau nach unvollendet geblieben oder in sich nicht stimmig sind. Es erschien den Herausgebern nicht legitim, an diesen Stellen einzugreifen und dadurch den Duktus der freien Rede zu stören. Eine stillschweigende Berichtigung erfolgte nur im Fall von offenkundigen Tippfehlern, nicht geschlossenen Klammern und fehlenden An- oder Abführungszeichen. Die Schreibung von Namen wurde vereinheitlicht oder bei offenkundigen Fehlern korrigiert. Die Kommasetzung hingegen wurde nicht verändert. *

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Editorische Notiz

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Im Kommentarteil des Bandes wird zu jedem Text zunächst eine individuelle Einleitung geboten, die auf die Textentstehung eingeht, die Quellen analysiert und die Rezeptionsgeschichte umreißt. Anschließend werden die in den Variantenapparaten berücksichtigten, mit Siglen versehenen Textzeugen aufgelistet und, falls erforderlich, kurz charakterisiert. Darunter befinden sich ggf. Handschriften und Typoskripte aus dem MBA und die zu Bubers Lebzeiten erschienenen, d. h. die von ihm autorisierten Drucke. Der Bestimmung der Druckvorlage folgen ggf. die bibliographischen Angaben zu den Übersetzungen des Textes. Darauf folgend, wird ein Variantenapparat geboten, der inhaltliche, den Sinn des Textes verändernde Abweichungen der vorhandenen Textfassungen von der Druckvorlage verzeichnet. Einträge des Herausgebers sowie herausgeberbezogene Zeichen werden kursiv, der edierte Text recte formatiert. Der Kommentarteil zu dem jeweiligen Text wird durch Wort- und Sacherläuterungen vervollständigt. Den Abschluss des Bandes bilden umfangreiche Register zu der verwendeten Literatur, den Sachbegriffen, den Bibelstellen und den Personen.

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Diakritische Zeichen Ko r r e k t u re n v o n B u b e r s Ha n d : [Text] Texttilgung hTexti Texteinfügung ! Korrektur zu folgender Variante Herausgeberbezogene Zeichen: x, xx, xxx … Unentzifferte(s) Zeichen X Unentzifferte Zeichenfolge ? unsichere Lesung des davor stehenden Wortes [Textverlust] eindeutig fehlende, nicht ergänzbare Textlücken wegen Schreibabbruch, Textzeugenbeschädigung etc. {Text} Variante aus einem Textzeugen, eingeblendet innerhalb einer Variante aus einem anderen Textzeugen / Zeilenumbruch Te x t z e u g e n - S i g l e n : D1, D2 … Drucke d1, d2 … Teilabdrucke, Druckfahnen und Korrekturbögen H1, H2 … Handschriften h1, h2 … Teilhandschriften TS1, TS2 … Typoskripte TS1.1, TS1.2… Schichten innerhalb eines Textzeugen

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Einzelkommentare Geleitwort [zur Sammlung Die Gesellschaft] Im Jahr 1906 erschien die Broschüre Das Proletariat von Werner Sombart, mit der die umfassende, von Martin Buber herausgegebene Buchreihe Die Gesellschaft eröffnet wurde. Der Abhandlung Sombarts ging ein kurzer Text Bubers voran, der als Geleitwort zur gesamten Sammlung diente. In Bezug auf diese wenigen Seiten, in denen der 28jährige Buber zugleich als Autor und Herausgeber auftritt, sind die äußeren Umstände, die ihre Entstehung ermöglicht haben, nicht weniger bedeutsam als ihre Inhalte. Im Frühjahr 1905 wurde Buber als Lektor beim 1844 von Joseph Rütten (1805-1878) und Zacharias Löwenthal (1810-1884) gegründeten Frankfurter Verlag Rütten & Loening tätig. Direktor des Verlags war seit 1903 Wilhelm Ernst Ostwald (1877-1942), der auch der Ansprechpartner Bubers war. Damals begann Buber seine Forschungsarbeit für das Buch Die Geschichten des Rabbi Nachman, das im November 1905 in Florenz beendet und am 25. Oktober 1906 von Rütten & Loening veröffentlicht wurde. Zugleich wurde Buber von dem Verleger beauftragt, Planung und Herausgabe einer Sammlung zu betreuen, in welcher kompakte, aus dem Gesichtspunkt der Sozialpsychologie geschriebene Monographien erscheinen sollten, die jeweils einer der Grundformen des gesellschaftlichen Lebens gewidmet waren. Buber kümmerte sich um das Projekt sofort mit großem Engagement und nahm mit den bedeutendsten Intellektuellen seiner Zeit brieflichen Kontakt auf, um sie als Autoren zu gewinnen. Obwohl der Titel der Sammlung – Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien – auf eine eher wissenschaftliche Ausrichtung verweist, wurden keineswegs nur akademische Autoren kontaktiert. Aus den zahlreichen Briefen, die Buber damals schrieb, um namhafte Gelehrte bzw. Schriftsteller für sein Projekt zu rekrutieren, werden die ursprünglichen Absichten des Herausgebers, mehr als ein Jahr vor der Veröffentlichung seines Geleitworts, deutlich. So schrieb Buber z. B. am 20. Juni 1905 an den Schriftsteller Hermann Stehr (1864-1940): »Unter dem Gesamttitel ›Die Gesellschaft‹ gedenke ich eine Sammlung von Studien zur sozialen Psychologie herauszugeben. Ich verstehe darunter nicht eine begriffliche fachwissenschaftliche Erörterung, so sehr ich den sachlichen und positiven Charakter dem Ganzen gewahrt wissen möchte, sondern eine Darstellung der

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seelischen Wirklichkeiten, die aus dem Zusammenwirken von Menschen entstehen. Überall da, wo durch Wechselbeziehungen mehrerer Individuen neue, in keinem isolierten Individuum mögliche Werte, neue psychische Tatsachen geschaffen werden, scheint mir ein Gegenstand gegeben zu sein, der der sozialpsychologischen Betrachtung unterworfen ist. Die psychischen Tatsachen werden selbstverständlich nur im Einzelmenschen vorgefunden, aber durch ihre Entstehung und ihren Zusammenhang gehören sie einer über den Einzelnen hinausgreifenden, überindividuellen Ordnung an. Wenn irgendwo der nachschaffenden Darstellung seelischen Geschehens eine Aufgabe gestellt ist, die nur durch den tiefsten Erkenntnisblick und die höchste Macht der Gestaltung gelöst werden kann, so ist es diese. Ich muß daher darauf bedacht sein, neben jenen wenigen Wissenschaftlern, die genügende Freiheit und genügendes künstlerisches Können besitzen, diejenigen Schriftsteller heranzuziehen, die das Miteinanderleben und Aufeinanderwirken von Menschen zum Gegenstande ihres dichterischen Werkes gemacht haben.« (B I, S. 230 f.)

Fast ein Jahr später schrieb Buber an den seit dem Ende der 1890er Jahre mit Gustav Landauer befreundeten Schriftsteller Fritz Mauthner (18491923), einen der wichtigsten Sprachphilosophen der Zeit, einen Brief, in dem eine erheblich knappere Beschreibung der editorischen Initiative zu lesen ist. Der Brief wurde von Buber, 30 Jahre jünger als der Empfänger, in quasi ehrfürchtigem Ton formuliert: »Ich möchte Sie zur Mitarbeit an einer Sammlung sozialpsychologischer Monographien oder vielmehr Essays einladen, die ich unter dem Gesamttitel ›Die Gesellschaft‹ herausgebe. Ich meine damit eine Darstellung der einzelnen Gebilde menschlichen Zusammenlebens und Aufeinanderwirkens in ihrem seelischen Ursprung und ihrem seelischen Ergebnis. Ich weiß, daß ich Sie mit dieser Bitte in wesentlicher Arbeit störe, und ich habe daher lange gezögert. Aber die Sache läßt mit sich nicht reden: sie braucht Sie, braucht Sie mehr als irgend einen Anderen, – und so komme ich zu Ihnen und tue meine Bitte.« (Brief vom 24. April 1906, B I, S. 238.) Aus verschiedenen, meist persönlichen Gründen lehnten manche Briefpartner das Angebot Bubers ab, obwohl sich so gut wie alle interessiert zeigten. Im Sommer 1905 erwiderte z. B. Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) mit ermutigenden Worten: »Ihr Unternehmen und besonders die Zusammenstellung der Mitarbeiter und die Verteilung der Themata interessiert und fesselt mich ungemein. Ich werde sicherlich jede dieser Monographien mit dem größten Interesse lesen. Ob ich eine schreiben kann weiß ich im Augenblick nicht.« (Brief an Buber vom 17. Juli. 1905, ebd., S. 232.) Bereits im Mai 1905 standen die ersten Mitarbeiter fest: Werner Sombart, Georg Simmel, Eduard Bernstein (18501932) und Franz Oppenheimer (1864-1943), der allerdings wegen Ver-

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Geleitwort [zur Sammlung Die Gesellschaft]

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zögerungen durch Alexander Ular (1876-1919) (»Die Politik«) ersetzt wurde. Im September 1905 bot Buber seinem verehrten Lehrer Georg Simmel an, die Verantwortung für die gesamte Sammlung zu übernehmen. Dieser Versuch, die Herausgeberschaft abzugeben, könnte nicht zuletzt dadurch motiviert worden sein, dass Buber, der sich seit seiner Entzweiung mit Theodor Herzl und der Niederlage seiner kulturzionistischen Bestrebungen von politischen Aktivitäten immer mehr zurückzog, zunehmend einem Zustand innerer Krise und Unsicherheit verfiel. So schrieb Buber im Sommer 1905 in einem Brief an Marcus Ehrenpreis: »Ich habe mich bis auf weiteres von allen zionistischen Aktionen völlig zurückgezogen, um mich ganz meinen Arbeiten widmen zu können. […] Zum Kongresse fahre ich in dieses Jahr nicht; die Berliner Konferenzen an denen ich teilgenommen habe, haben mir die Sache vollends verleidet. Ich sehe wahrhaftig in dieser Partei, wie sie jetzt ist, keinen Platz für mich, für uns.« (Brief Bubers an Ehrenpreis vom 30. Juni 1905, MBA, Arc. Ms. Var 350 04 627/7, zitiert nach Anatol Schenker, Der Jüdische Verlag 1902-1938. Zwischen Aufbruch, Blüte und Vernichtung, Tübingen 2003, S. 70.) Kurz nachdem sich Simmel in einem Brief an Buber vom 20. November 1905 für außer Stande erklärt hatte, eine so anspruchsvolle Aufgabe zu übernehmen, die sich für ihn als übermäßig zeit- bzw. kraftraubend darstelle (B I, S. 234), brach Buber nach Florenz auf, wo er bis Juni 1906 lebte und sich der literarischen Arbeit an Die Geschichten des Rabbi Nachman widmete. Den folgenden Sommer verbrachte er in Tirol und ließ sich schließlich ab November 1907 in Berlin dauerhaft nieder. Weitere Details zu Bubers damaligen Lebensumständen sind bei Grete Schaeder zu finden: »Großmutter Adele Buber ermöglichte ihrem Enkel im Jahr 1905/1906 einen Aufenthalt in Florenz, damit er sich in Ruhe einen Beruf wählen könne. Buber dachte zunächst an eine Habilitation, entschied sich aber dann für das Lektorat bei der Literarischen Verlagsanstalt Rütten & Loening« (Grete Schaeder, Martin Buber. Ein biographischer Abriß, B I, S. 22). Die Niederschrift des »Geleitworts« zur Sammlung Die Gesellschaft fiel also in eine Zeit der Neuausrichtung seiner literarischen Interessen und einer gewissen Unsicherheit, welche Laufbahn er einschlagen solle. In einem Brief aus Florenz von Weihnachten 1905, den Hans Kohn in einer Anmerkung seiner Buber-Biographie druckt – ohne den Empfänger anzugeben –, bekundet sich das Ausmaß von Krise und Neuorientierung sehr deutlich: »Nur Abscheidung von allem, was nur scheinbar unser war, nur scheinbar unserem eigenen Leben angehörte, was uns nicht nährte und nicht besonnte, nicht emporregte und nicht befriedete, was uns nicht durch die Welten

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trug und uns nicht stille machte, nur Abscheidung von alledem kann uns zu uns selbst bringen. Ich habe es erfahren … Wie ich lebe? Wie im Anfang eines guten Weges, den man noch nicht ganz kennt, aber von dem man weiß, daß er der rechte ist … Froh bin ich, daß ich von … einer falschen Arbeitssphäre losgekommen bin; ich fühle, wie ich erst jetzt wieder seit Jahren ganz und frei arbeiten kann … Ich bin froher geworden.« (Kohn, Martin Buber, S. 309). Die Tätigkeit Bubers als Herausgeber der Sammlung Die Gesellschaft und als Lektor des Verlags Rütten & Loening ging derart mit einer Neubelebung seiner literarischen Arbeit einher. »Ich bin jetzt seltsamerweise und zum ersten Mal in meinem Leben, in eine Zeit des Werkes eingetreten, und so waltet es jetzt«, schrieb Buber am 9. Januar aus Florenz an Karl Wolfskehl (1869-1948) (B I, S. 235). Wolfskehls Frau Hanna (1878-1946) konnte am 20. November 1906 gegenüber Albert Verwey (1865-1937) feststellen: »In mystisch interessierten Kreisen giebts ein neues wichtiges Buch von einem unserer Freunde: Dr. Martin Buber (Jude und sehr bedeutender Simmel-Schüler und Philosoph): des Rabbi Nachman Erzählungen! Es ist bei Rütten u. Loening erschienen und Sie bekommen es gewiß als Recensions-exemplar! Dieser Buber hat eine ›Gesellschaft‹ gegründet, darin erscheint von Prof. Simmel ein Büchlein: die Religion was Sie auch interessiert und ebenfalls bei Rütten und Loening Verlag in Frankfurt/Main erscheint. Ich habe die Druckbogen eben da und lese das feine wunderbare Gespinst mit Genuß« (vgl. Wolfskehl und Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897-1946, hrsg. von Mea Nijland-Verwey, Heidelberg 1968, S. 45). Am 24. Februar 1906 befinden sich die ersten vier Bände der Sammlung bereits im Druck (vgl. Brief an Hugo von Hofmannsthal, B I, S. 235), der sich mindestens bis Ende Juli hinzieht. (Vgl. Brief an Landauer vom 26. Juli 1906: »… Wenn Sie [in einigen Tagen] mein Geleitwort lesen, in dem ich meine Absichten skizziere«; ebd., S. 246). Die charakteristische Umschlaggestaltung der Bände wurde von Peter Behrens (1868-1940), einem angesehenen Vertreter des Jugendstils in Deutschland, konzipiert und realisiert. Schon im Frühjahr 1906 zeigte sich Buber jedoch von den ersten Publikationen der Reihe relativ enttäuscht: »Von den ersten vier kann ich aber nur Simmels ›Religion‹ und Ulars ›Politik‹ als wirklich lesenswert bezeichnen; Eduard Bernsteins ›Streik‹ hat das Material nicht überwunden und Sombarts Arbeit sagt mir in ihrer schnell zusammenfassenden, unterschiedsblinden Art recht wenig zu. So habe ich bisher keine rechte Freude daran; aber die zweite Reihe wird voraussichtlich gleichmäßigeren Wert haben.« (Brief an Hugo von Hofmannsthal vom 15. März 1906,

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Geleitwort [zur Sammlung Die Gesellschaft]

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B I, S. 236 f.) Buber machte sich wieder auf die Suche nach neuen Mitarbeitern. So bat er seinen Freund Gustav Landauer darum, das Bändchen Die Revolution (»als seelischer Prozeß«, ebd., S. 245) zu schreiben, weil der Verlag nach dem Ausbruch der Russischen Revolution 1905 ein solches Thema für sehr aktuell hielt. Unter den Persönlichkeiten, die Buber für die Sammlung als Autoren miteinbeziehen wollte, die aber entweder seine Einladung ablehnten oder die eigenen Beiträge nicht rechtzeitig abgaben, so dass keine Publikation zustande kam, befanden sich unter anderem Sigmund Freud (18561939), Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Harry Graf Kessler (1868-1937), Franz von Liszt (1851-1919), Georg Lukacs (1885-1971), Robert Michels (1876-1936), Walther Rathenau (1867-1922), Gustav von Schmoller (1838-1917), Ernst Troeltsch (1865-1923), Alfred Weber (1868-1958) u. a. (vgl. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 115). Es ist merkwürdig, dass auch der antisemitische Kulturphilosoph Houston Stewart Chamberlain (1855-1925) zum Kreis der von Buber Angefragten gehörte. Zwischen 1906 und 1912 sind sukzessive sechsundreißig Bände der von Buber geplanten Sammlung erschienen, und zwar: 1906 Das Proletariat (Werner Sombart), Die Religion (Georg Simmel), Die Politik (Alexander Ular), Der Streik (Eduard Bernstein), Die Zeitung (J. J. David), Der Weltverkehr (Albrecht Wirth), Der Arzt (Ernst Schweninger), 1907 Der Handel (Richard Calwer), Die Sprache (Fritz Mauthner), Der Architekt (Karl Scheffler), Die geistigen Epidemien (Willy Hellpach), Das Warenhaus (Paul Göhre), Die Revolution (Gustav Landauer), Der Staat (Franz Oppenheimer: zwei Unterbände), Die Schule (Ludwig Gurlitt), Das Parlament (Hellmuth von Gerlach), Das Theater (Max Burckhard), Die Kolonie (Paul Rohrbach), 1908 Das Kunstgewerbe (Oskar Bie), Der Ingenieur (Ludwig Brinkmann), Die Börse (Friedrich Glaser), Der Sport (Robert Hessen), Erfinder und Entdecker (Wilhelm Ostwald), Die Sitte (Ferdinand Tönnies), 1909 Die Kirche (Arthur Bonus), Der Richter (Martin Beradt), Die Frauenbewegung (Ellen Key: zwei Unterbände), Die Partei (Karl Jentsch), Das Recht (Joseph Kohler), Die Erziehung (Rudolf Pannwitz), Die Erotik (Lou Andreas-Salomé), 1910 Der Dilettantismus (Rudolf Kassner), Die Arbeiter-Bewegung (Eduard Bernstein: zwei Unterbände), Das Heer (Carl Bleibtreu), Der Schriftsteller (Wilhelm Schäfer), 1912 Die Technik (Julius Goldstein). (Die tabellarische Aufstellung findet sich in Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 115 f. und Bourel, Martin Buber, S. 746 f.) Auffallend ist, dass unter den Autoren nur zwei Frauen vertreten sind, die schwedische Pädagogin Ellen Key (1849-1926) und Lou Andreas-

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Einzelkommentare

Salomé (1861-1937), die als Freundin Friedrich Nietzsches und Sigmund Freuds bekannt geworden ist. Beide Autorinnen befassen sich übrigens mit jenen typischen »Frauenthemen« wie etwa Suffragetten und Erotik, die damals eine Art kulturelles Gehege darstellten, das »anständige« Frauen nicht überschreiten sollten (zur Rolle der Frau im fin de siècleWien und zum möglichen Einfluss auf Buber vgl. Nike Wagner, Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne, Frankfurt a. M. 1982). Von vielen Rezensenten wurde die Sammlung Bubers mit Begeisterung aufgenommen, z. B. von Hermann Hesse in der Zeitschrift März vom 28. November 1911, obwohl es an kritischen Stimmen nicht gefehlt hat. Rudolf Hilferding z. B. stieß sich an dem bürgerlichen Hintergrund der Autoren und deren herablassenden Ton (vgl. die Besprechung »Literarische Rundschau«, in der sozialistischen Zeitschrift Die Neue Zeit, 25. Jg., 1907, S. 853-855). Das Misstrauen, wenn nicht sogar die Feindseligkeit dem Marxismus gegenüber kennzeichnete die politische bzw. theoretische Einstellung Bubers von Beginn an. Bubers Geleitwort zur Sammlung erörtert tatsächlich den Terminus der Gesellschaft als sozialpsychologische Metapher und als Inbegriff der wichtigsten soziologischen Kategorien, worunter das neue, von Buber geprägte Wort »das Zwischenmenschliche« besonders hervorzuheben ist. Dabei hat man oft und mit guten Gründen bemerkt, dass die Sozialpsychologie damals noch stark von der Völkerpsychologie beeinflusst wurde. Zum ersten Mal wurde dies bereits im Titel der 1896 erschienenen Abhandlung von Alfred Vierkandt (1867-1953) Naturvölker. Ein Beitrag zur Sozialpsychologie deutlich (vgl. ausführlich Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 29 ff.), obwohl eine Schrift von Ferdinand Tönnies, einem damals von Buber besonders geschätzten Autor, die auf Englisch 1899, auf Deutsch 1906 erschien, eine sozialphilosophische Sprache aufweist (vgl. Ferdinand Tönnies, Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht, in: ders., Gesamtausgabe, Band 7: 1905-1906, Berlin u. New York 2009, S. 119 ff.). Während im Psychologisieren der Sozialanalyse der Einfluss der beiden wichtigsten Lehrer Bubers, d. h. von Wilhelm Dilthey und vor allem Georg Simmel (vgl. z. B. Georg Simmel, Exkurs über Sozialpsychologie, in: ders. Gesamtausgabe. Band 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], Frankfurt a. M. 1992, S. 625 ff.) zu erkennen ist, weist die von Buber verwendete Begrifflichkeit zudem auf andere bedeutende Soziologen bzw. Sozialphilosophen hin. Somit gleicht das Geleitwort einem komprimierten Lexikon der sich damals erst allmählich durchsetzenden Soziologiesprache, wie die folgenden Wort- und Sacherläuterungen zeigen.

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Geleitwort [zur Sammlung Die Gesellschaft]

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Textzeuge: D: »Geleitwort« zu: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1906, S. V-XIV (MBB 75a). Druckvorlage: D Wort- und Sacherläuterungen: 101,21-22 mehr Zivilisations- als Kulturprodukt] Typischer Gegensatz der Kulturkritik um die Jahrhundertwende, den Friedrich Nietzsche am klarsten formulierte. Zum Thema publizierte Buber 1901 den Aufsatz Kultur und Zivilisation. Einige Gedanken zu diesem Thema (jetzt in: MBW 1, S. 157-159). Zur Einführung in Bezug auf die entstehende deutschsprachige Soziologie vgl. Franz Graf Solms-Laubach, Nietzsche and Early German and Austrian Sociology, Berlin 2007, S. 117 ff. 102,1 Giardinetto] Auf Italienisch bedeutet das Wort buchstäblich »Gärtchen«, hier aber »gemischter Salat«. 103,17-18 an ihrer Verwirklichung] Mit der Schrift Daniel. Gespräche von der Verwirklichung, die 1913 beim Leipziger Inselverlag erschien, wurde die Idee der in existentiellem bzw. mystischem Sinne verstandenen Verwirklichung im Denken des jungen Buber zentral. »Wir sprachen ja schon einmal davon, daß es ein doppeltes Verhalten des Menschen zu seinem Erleben gibt: das Orientieren oder Einstellen und das Realisieren oder Verwirklichen.« (Martin Buber, Daniel. Gespräche von der Verwirklichung, Leipzig 1913, S. 31; jetzt in: MBW 1, S. 183-245, hier S. 192.) Ab spätestens 1914 wurde »Verwirklichung« ebenfalls zu einem Grundbegriff der Rechtssoziologie Carl Schmitts (vgl. Carl Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914, S. 81), eines Autors mit dem sich Buber in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre intensiv auseinandersetzte. Zur Stellung Bubers gegenüber der politischen Philosophie Schmitts vgl. Martin Buber, Die Frage an den Einzelnen, Berlin: Schocken 1936 (jetzt in: MBW 4) und Werner Kraft, Gespräche mit Martin Buber, S. 44 f. 103,21 Prinzip der individuellen Berufung] Im November 1904 erschien der erste, im Juni 1905 der zweite Teil der bahnbrechenden historisch-soziologischen Analyse, die Max Weber der »Berufung«, der lutherischen Übersetzung des paulinischen Begriffs klēsis, widmete. Hier pointierte Weber die Bedeutung dieser Erscheinung für die Entwicklung der modernen wirtschaftlichen Rationalität und Arbeits-

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teilung. Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus, in: Max Weber Gesamtausgabe, hrsg. von Wolfgang Schluchter, Band 9, Tübingen 2014, S. 183 und 188. 104,7-8 Problem des Zwischenmenschlichen] Zur Bedeutung dieses Begriffes für die weitere Entwicklung des sozialphilosophischen und dialogischen Denkens Bubers vgl. Buber, Elemente des Zwischenmenschlichen (1954), jetzt in: MBW 4, S. 212-228. 104,18 in Wechselbeziehung, in Wechselwirkung] Zentrale Kategorie der Sozialphilosophie Georg Simmels. Wechselwirkung ist praktisch ein Synonym von Vergesellschaftung: »Was nun die ›Gesellschaft‹, in jedem bisher gültigen Sinne des Wortes, eben zur Gesellschaft macht, das sind ersichtlich die so angedeuteten Arten der Wechselwirkung. […] Soll es also eine Wissenschaft geben, deren Gegenstand die Gesellschaft und nichts anders ist, so kann sie nur diese Wechselwirkungen, diese Arten und Formen der Vergesellschaftung untersuchen wollen.« Georg Simmel, Das Problem der Soziologie, in: ders. Gesamtausgabe. Band 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), Frankfurt a. M. 1992, S. 19. 104,28 Tatsache der Individuation] Dem principium individuationis widmete Buber 1903/1904 seine zu Lebzeiten unveröffentlichte Dissertationsschrift Zur Geschichte des Individuationsproblems (Nicolaus von Cues und Jakob Böhme); jetzt in: MBW 2.1, S. 75-101. 104,40-105,3 Statik des Zwischenmenschlichen […] Dynamik des Zwischenmenschlichen] Die Kategorien der »sozialen Statik« und der »sozialen Dynamik« sind charakteristisch für den Positivismus Auguste Comtes (1798-1857). Vgl. z. B. Auguste Comte, Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug. (»Cours de philosophie positive«), Stuttgart 1974, S. 118-166 (Kap. 7: »Soziale Statik oder Theorie von der natürlichen Ordnung der Gemeinschaften« und Kap. 8: »Die soziale Dynamik oder die Lehre vom Fortschritt«). 106,2-3 Zustande der Vergesellschaftung] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 104,18. 106,16-17 bei gewissen Massenphänomenen.] Als Buber sein Geleitwort schrieb, steckte die Massensoziologie noch in den Kinderschuhen. Der Gründungsmoment war die Veröffentlichung des in Europa lange Zeit unbekannt gebliebenen Aufsatzes des französischen Kriminologen und Soziologen Gabriel Tarde (1843-1904), Les lois de l’imitation. Étude sociologique (1890). Kurz danach erschien die einflussreiche Studie des französischen Anthropologen und Völkersoziologen Gustave Le Bon (1841-1931), Psychologie des foules 1895, dessen deutsche Übersetzung erst 1916 erschien. Die deutsche Über-

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Die Revolution und wir

setzung von Rudolph Eisler (1873-1926) veränderte die gesamte soziologische Sprache unwiderruflich, indem er das klare Wort foule (»Menge«, Englisch: crowd) durch jenen unbestimmten Begriff der »Masse« ersetzte, der die Sprache der Sozialpsychologie während der Weimarer Zeit bestimmen sollte (vgl. z. B. Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, 1921; Theodor Geiger, Die Masse und ihre Aktion. Ein Beitrag zur Soziologie der Revolutionen, 1926; Wilhelm Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus, 1933; zum Thema vgl. ferner Helmuth Berking, Masse und Geist: Studien zur Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1984). Das sorgte dafür, dass »Masse« und »Massengesellschaft« sich weithin als Grundbegriffe der europäischen Soziologie durchsetzen konnten. Die Revolution und wir Dieser kurze Text eröffnet eine Reihe von politischen, in den Wirren und Umwälzungen der sogenannten deutschen sozialistischen Revolution abgefassten Schriften aus den Jahren 1918-1920 wie »Die Ueberwindung«, Der heilige Weg, Worte an die Zeit, »Landauer und die Revolution«, »Der heimliche Führer«, »Über die Revolution«. Der Text wurde in politisch unruhiger Zeit verfasst, in der zahlreiche dramatische Ereignisse von historischer Tragweite eintraten. Jeder Text muss also sehr genau datiert und in dem eigenen historischen Zusammenhang gelesen werden, um in seinem jeweiligen Inhalt richtig verstanden zu werden. Darüber hinaus nahm Buber damals, d. h. ungefähr zehn Jahre nach dem Erscheinen seiner zwei erfolgreichen Bücher Die Legende des Baalschem (1908) und Die Geschichten des Rabbi Nachman (1906), das intensive Studium des Chassidismus wieder auf (vgl. z. B. Mein Weg zum Chassidismus vom Frühjahr 1918 und Der große Maggid und seine Nachfolge vom Sommer 1921; jetzt in: MBW 17; vgl. Brief Landauers an Buber vom 10. Mai 1918 in: Gustav Landauer, Sein Lebensgang in Briefen, Bd. 2, S. 232). Aus diesem Grund passt die ironische Bezeichnung Bubers als »zadikaler Sozialist«, die auf Arnold Zweig (1887-1968) zurückzuführen ist und dank Schalom BenChorin neben zwei weiteren humoristischen Definitionen überliefert wurde – als »Zaddik von Zehlendorf« wurde Buber von seinem Freundeskreis in der Berliner Periode, als »Rabbi aus dem Odenwald« von der Dichterin Else Lasker-Schüler (1869-1945) nach Bubers Umzug nach Heppenheim benannt (vgl. Ben-Chorin, Zweisprache mit Martin Buber, S. 60 f.) – ganz gut zur Gestalt Bubers in der Revolutionszeit. Am 2. November 1917 wurde die Balfour-Erklärung veröffentlicht

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und kurz darauf, am 6./7. November, hatte sich mit der kommunistischen Machtergreifung der Bolschewiki in Russland jener Revolutionsprozess zugespitzt, der neun Monate zuvor mit der sogenannten Februar-Revolution begonnen hatte. Hinsichtlich dieser zwei epochalen Ereignisse begriff Buber sofort, dass der Moment gekommen sei, durch fieberhafte Arbeit für sich selbst und das deutsche Judentum den Ort im Rahmen der aufkommenden Weltordnung neu zu bestimmen. Schon am Ende des Jahres 1917 taucht in Bubers Briefwechsel plötzlich »das Palästinaproblem« auf (vgl. Brief an Hugo Bergmann, B I, S. 526). »Ich sehe einen Knoten von Problemen«, schrieb ihm Arnold Zweig am 27. Dezember 1917, insbesondere die »Neuschaffung der Kolonisierung« durch »die westlichen Methoden der Industrialisierung« (B I, S. 520). Wie dringend dieses Problem damals unter den jungen Zionisten – Buber eingeschlossen – wahrgenommen wurde, lässt eine Erinnerung Gershom Scholems erahnen: »Schließlich war es die Zeit der Balfour-Erklärung, die die Hoffnung beflügelte, und auch in Deutschland wurde die Erregung spürbar. Heute mutet es gewiß seltsam an, daß damals in vielen zionistischen Kreisen […] ein gegen die Industrialisierung des Landes gerichteter Geist herrschte.« (Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, Frankfurt a. M. 1997, S. 122). Bald erschien es auch Buber als Gefahr, dass das Land Israel vom »westlichen« Geist ergriffen werden könnte. Bereits im Dezember 1917 plante er die Veröffentlichung einer »Sammelschrift gegen das drohende Eindringen des europäischen Ungeistes (Merkantilismus, Imperialismus usw., mit einem Wort: des Habenwollens) in ein werdendes jüdisches Palästina« (Brief an Ernst Elijahu Rappeport [1889-1952] vom 28. Januar 1918, B I, S. 523). Während der folgenden Wochen bat er viele Freunde – darunter Arnold Zweig, Ernst Elijahu Rappeport, Hugo Bergmamm, Franz Oppenheimer, Stefan Zweig (1881-1942), Ludwig Strauß (1892-1953), Gustav Landauer u. a. – um Beiträge für diese neue politische Sammlung, die aber niemals erschien. Die Befürchtung, dass in Palästina »der Ungeist im Zionismus« die Oberhand gewinnen könnte, formuliert Buber in einem Brief an Hugo Bergmann mit aller Deutlichkeit: »Wir dürfen uns nicht darüber täuschen, daß die meisten führenden (und wohl auch die meisten geführten) Zionisten heute durchaus hemmungslose Nationalisten (nach europäischem Muster), Imperialisten, ja unbewußte Merkantilisten und Erfolganbeter sind. Sie reden Wiedergeburt und meinen Unternehmen. Wenn es uns nicht gelingt, eine autoritative Gegenmacht aufzurichten, wird die Seele der Bewegung verdorben werden, vielleicht für immer. Ich bin jedenfalls entschlossen mich hier bis aufs letzte einzusetzen, wenn meine Lebenspläne auch dadurch beeinträchtigt werden müßten«

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(Brief an Hugo Bergmann vom 3./4. Februar 1918, B I, S. 526 f.) Dieser Gedanke fand nicht nur in vielen Briefen Bubers, sondern auch in seinem Artikel »Die Eroberung Palästinas«, der im Februar 1918 in Der Jude erschien, wiederholten Ausdruck: »Eroberung durch die Waffe: ein kühner Wahn. Aber Eroberung durch das Geld: ein elender Trug.« (S. 633-634, hier S. 633; jetzt in: MBW 3, 360-362, hier S. 361.) Zudem gab Buber Hugo Bergmann die Gelegenheit, den wichtigen Aufsatz Die wahre Autonomie (1918) im selben Heft zu veröffentlichen (in: Hugo Bergmann, Jawne und Jerusalem. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1919, S. 67: »Wir wenden uns gegen das Eindringen des Kapitalismus und Merkantilismus nach Palästina«). Mit solchen Befürchtungen verband sich zugleich die positive Vorstellung, dass sich endlich die historische Chance biete, eine »neue Gemeinschaft« stiften zu können. Als »der gefährliche Traum eines Judenstaates mit Kanonen, Flaggen, Orden« von Stefan Zweig, der dem Zionismus ablehnend gegenüberstand, beschworen wurde (Brief an Buber vom Ende Januar 1918), erwiderte ihm Martin Buber am 4. Februar: »Was werden wird, hängt von denen ab, die es schaffen, und gerade deshalb müssen die wie ich menschlich und menschheitlich Gesinnten bestimmend mittun, hier, wo es wieder einmal in den Zeiten in die Hand von Menschen gelegt ist, eine Gemeinschaft aufzubauen.« (B I, S. 525 f.) Nunmehr trennte Buber die pars destruens, d. h. die kritische Einstellung der geplanten Sammelschrift, von der pars construens, d. h. der Erwartung einer neuen jüdischen Gemeinschaft in Palästina nicht mehr voneinander: »Ich plane«, schrieb Buber am 4. Februar 1918 an Franz Oppenheimer, »eine Sammelschrift gegen das Eindringen des Imperialismus, Merkantilismus und andren Ungeistes in Palästina, die aber nicht eigentlich einen polemischen Charakter tragen, sondern zwar auf die drohende Gefahr hinweisen, zugleich aber ein Bild der Gemeinschaft geben soll, die wir meinen und wollen« (B I, S. 527). Gustav Landauer erklärte sich gegen das neue editorische Projekt seines Freundes und für das Schweigen zu Palästina: »Je mehr sich Deutschland und die Türkei auf der einen Seite, England, Amerika und die politischen Zionisten auf der andern für Palästina interessieren, umso kühler stehe ich dieser Gegend gegenüber, zu der mein Herz mich noch nie gezogen hat und die für mich nicht notwendig die örtliche Bedingung einer jüdischen Gemeinschaft ist. Das wirkliche Ereignis, das für uns Juden bedeutsam und vielleicht entscheidend ist, ist nur die Befreiung Rußlands. Was in und um Palästina jetzt und in nächster Zeit geschieht, sind fiktive Angelegenheiten auf dem Gebiet des politischen Sehwinkels.« (Brief an Buber vom 5. Februar 1918, B I, S. 528.)

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Obwohl das Thema der neuen Siedlungsgemeinschaft und der künftigen Gestalt des jüdischen Gemeinwesens in Palästina immer wieder in den Reden und Schriften von 1918 vorkommt (vgl. z. B. die am 18.-20. Mai beim zionistischen Jugendtag in Wien gehaltene, am 6./8. Oktober in Berlin wiederholte Ansprache Zion und die Jugend, jetzt in: MBW 8, S. 84-92), hielt Buber selbst monatelang an einer »politischen« Empfehlung fest, die er Anfang 1918 Ludwig Strauß im Hinblick auf dessen erwarteten, Palästina und die Erneuerung der Gemeinschaft betitelten Beitrag zur geplanten Sammelschrift mitteilte: »Im übrigen möchte ich Ihnen empfehlen, in diesem [Beitrag] so weit wie möglich lieber konkrete Vorschläge als den Begriff des Sozialismus zu verwenden und mehr das Spezifische als das allgemein Theoretische herauszuarbeiten« (Brief an Ludwig Strauß vom 19. Januar 1918, BBS, S. 59; der Beitrag von Strauß erschien dann in Der Jude, 2 [1917/1918], S. 740-742). Der Aufsatz Die Revolution und wir ist auch deshalb sehr wichtig, weil Buber hier zum ersten Mal seinen eigenen sozialistischen Überzeugungen expliziten, wenn auch noch unbestimmten Ausdruck gab: »Ein neuer Sozialismus, der den alten fortsetzt und umsetzt, bereitet sich in den schöpferischen Geistern des Zeitalters – nicht zuletzt in den jüdischen. Vielleicht beginnt jetzt erst wahrhaft die schöpferische Periode des sozialistischen Ideals.« (Jetzt in diesem Band, S. 110.) Was hat Buber dazu veranlasst, öffentlich eine klare politische Stellung zu dem, wenn auch in einer »neuen« Form gedachten Sozialismus zu beziehen? Diese Frage hat mit der genauen Datierung dieser kurzen Schrift zu tun. Zu Beginn des Textes bietet Buber eine wichtige Zeitangabe, indem er behauptet, er habe vor »mehr als anderthalb Jahren« die russische Revolution »an dieser Stelle«, d. h. in der Zeitschrift Der Jude, begrüßt. Buber spricht offensichtlich von seiner Stellungnahme zur sogenannten Februarrevolution, die am 15. März 1917 (nach gregorianischer Zeitrechnung) zur Absetzung des Zars Nikolaus II. (1868-1918) führte: »Ich schreibe diese Worte wenige Wochen nach dem Ausbruch der russischen Revolution« (Martin Buber, »Unser Nationalismus. Zum zweiten Jahrgang«, Der Jude, 2. Jg., H. 1/2 (1917), S. 1-3, hier S. 2; jetzt in: MBW 3, S. 333-335, hier S. 334; vgl. auch den Kommentar hierzu, S. 434 f.). Darum kann man mit guten Gründen vermuten, dass »Unser Nationalismus« Ende März bzw. Anfang April 1917 verfasst worden ist. Infolgedessen lässt sich schließlich folgern, dass der mehr als 18 Monate später geschriebene Aufsatz Die Revolution und wir in der zweiten Hälfte des November 1918 niedergeschrieben worden ist, d. h. kurz nach dem Waffenstillstand von Compiègne vom 11. November 1918 – dem faktischen Ende des ersten Weltkrieges – und vor allem nach dem Aus-

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bruch der Novemberrevolution in Deutschland. Das wird von Buber selbst bestätigt: »Auf die russische ist nun die deutsche Revolution gefolgt« (Die Revolution und wir, jetzt in diesem Band, S. 108). Auslöser der Revolution war der Kieler Matrosenaufstand vom 24. Oktober, so dass z. B. Kurt Eisner (1867-1919) am 7. November in München und Karl Liebknecht (1871-1919) am 9. November in Berlin das Ende der alten Ordnung erklären konnten – eine Zeitangabe, die in Bezug auf diesen Text als terminus post quem gelten kann und mit der Anteilnahme Bubers an der Münchner Revolution koinzidiert. Um die Reihen der Revolutionäre zu vergrößern schrieb ja Gustav Landauer am 15. November an Buber, wie auch in jenen Tagen an weitere Freunde und Bekannte, dass »ich heute abend nach München fahre […]. Sie sollten auch kommen, Arbeit gibt es genug.« (B II, S. 10.) Schließlich darf man als terminus ante quem den Brief an Buber vom 2. Dezember 1918 annehmen, in dem Gustav Landauer sich auf diesen offenbar schon abgefassten, vor dem Druck in Der Jude befindlichen Text bezieht – »Sehr schönes Thema, die Revolution und die Juden« (B II, S. 15). Die eschatologische, ja apokalyptische Stimmung jener Tage wird im Text durch das abschliessende Zitat Bubers aus dem pseudepigraphischen 4. Buch Esra deutlich spürbar. Textzeugen: D1: Der Jude III/8-9, Nov./Dez. 1918, S. 345-347 (MBB 207). D2: Die Jüdische Bewegung – Gesammelte Aufsätze und Ansprachen, Zweite Folge, 1916-1920, Berlin: Jüdischer Verlag 1920, S. 182-188 (MBB 233). Druckvorlage: D1 Variantenapparat: 108,1 Die Revolution und wir] ergänzt Untertitel November 1918 D2 108,19-20 Gestaltungstriebs erweisen.] ergänzt Anmerkung Während ich die Korrektur dieses Aufsatzes für die Buchausgabe lese, mehr als ein Jahr nachdem er niedergeschrieben wurde, scheint dieses »Morgen« ferner als damals; zu Unrecht. Freilich dürfen wir das Geschehen, an dessen A n f a n g wir stehen, nicht nach Jahren messen und unsere Betrachtung von den Enttäuschungen der Oberfläche ebensowenig wie von ihren Täuschungen bestimmen lassen. D2 108,21 wirken zusammen und werden zusammenwirken] wirken heute zusammen und werden weiter zusammenwirken. D2 109,34 zwischen Rhein und Wolga] fehlt D2

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110,10 Revolution] kontinentale Revolution D 110,15 jetzt erst wahrhaft zu erschauendes Ziel] hervorgehoben D2 110,21 auch es soll] es soll D2 110,31 besonderen] hervorgehoben D2 2

Wort- und Sacherläuterungen: 108,3 gegrüßt habe.] Vgl. Martin Buber, Unser Nationalismus. Zum zweiten Jahrgang, S. 2 (jetzt in: MBW 3, S. 335): »Wir grüßen die Freiheit, Freiheit des Menschen, Freiheit der Völker, wo immer sie, die von Männern unsrer Vorzeit zuerst ersehnte und geforderte, erscheint, dreifach, wo ein großer Teil, der Kernteil unsres Volkes sie aufbauen helfen darf«. 108,4 Das Gestrüpp] Hier meint Buber wahrscheinlich den Versuch, die russische Revolution nach ihrem Ausbruch im Frühjahr vom Juli 1917 an durch reaktionäre Kräfte gewaltsam zu unterdrücken. Die Februarrevolution wurde noch von den Menschewiki politisch geleitet, während Lenin erst im April 1917 nach Rußland zurückkehrte und seine berühmten Aprilthesen veröffentlichte. Im Juli 1917 haben Alexander Kerenski (1881-1970), Chef der provisorischen Regierung, und der diktatorische General Lawr Kornilow (1870-1918) sowohl den Aufstand der Massen niedergeschlagen als auch die Führung der Bolschewiki großenteils inhaftiert. 108,5-6 täppische, brutale Hände] Wahrscheinlich spielt Buber auf die Machtergreifung durch die Bolschewiki im Oktober 1917 an. 108,10 deutsche Revolution] Gemeint ist die im November 1918 beginnende Revolution in Deutschland, deren erste, von Arbeiter- und Soldatenräten geprägte Phase ihren Höhepunkt mit der Ermordung Kurt Eisners am 21. Februar 1919 erreichte. Die schönste und lebhafteste Beschreibung der Münchner Ereignisse bleibt immer noch die persönliche, im Herbst 1920 im Gefängnis abgefasste, nach Moskau an Lenin gesandte Rechenschaft von Erich Mühsam, Von Eisner bis Leviné. Die Entstehung der bayerischen Räterepublik. Persönlicher Rechenschaftsbericht über die Revolutionsereignisse in München vom 7. Nov. 1918 bis zum 13. April 1919, Berlin-Britz 1929. 108,29-30 »ins Volk Gehenden«] Anspielung auf die sogenannten »Narodniki«, die russischen Populisten (»Volkstümler«, »Volksfreunde« oder eben »die ins Volk Gehenden«), d. h. Mitglieder einer sozialrevolutionären Bewegung, die in der zweiten Hälften des 19. Jahrhunderts in Rußland entstand. Die Narodniki wollten den Sozialismus durch die Dorfkommune als zentrale Einrichtung der Gesellschaft erreichen.

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108,37 »Neuwerden aller Dinge«] Vgl. Apk 21,5 (»Siehe, ich mache alle Dinge neu«). Zum chiliastischen Hintergrund einiger Novemberrevolutionäre vgl. Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, S. 19 ff. 110,34 »Denn der Äon eilt mit Macht zu Ende«] Zitat aus 4. Esra 4,26 nach der deutschen Übersetzung von Hermann Gunkel, Das vierte Buch Esra, in: Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, hrsg. von Emil Kautzsch, Band 2, Tübingen 1900, S. 357. Das 4. Buch Esra ist eine pseudepigraphische und apokryphe Apokalypse circa aus dem Jahr 100 n. Chr., die als christliche Verarbeitung einer ursprünglich jüdischen Schrift gilt. Die Ueberwindung Zweifellos gibt dieses bisher unveröffentlichte Typoskript, wie seine ersten Zeilen zeigen, den Text einer Rede wieder, die anscheinend vor einem kleinen Publikum gehalten wurde. Laut der Überschrift, die nicht von Bubers Hand stammt, handelt es sich hier um die »Nachschrift eines Vortrags von 1918-1919«. Im gleichen Archivkonvolut findet sich ferner eine handschriftliche, ebenso wenig von Buber stammende Notiz: »Der heutige Mensch / Probleme der Krise / Vortrag 1918/19 (über Gemeinschaft)«. Da sich Buber laut Schalom Ben-Chorin nie einer Schreibmaschine bediente (vgl. Ben-Chorin, Zwiesprache mit Martin Buber, S. 84), ist zu vermuten, dass es sich bei dem Text um das verhältnismäßig lückenhafte Typoskript eines Vortrages handelt, das Buber erst später an manchen Stellen handschriftlich emendierte, etwa im Hinblick auf eine mögliche, jedoch nie erfolgte Veröffentlichung. Für die Buber-Forschung ist diese kurze geschichtsphilosophische Schrift bedeutsam, weil sie den wohl frühesten Hinweis auf die Begrifflichkeit von Bubers Hauptwerk Ich und Du (1923) enthält: den Gegensatz zwischen Du-Welt und Es-Welt (vgl. in diesem Band, S. 115 f.). Trotz ihrer Abstraktheit, die nur wenige Anhaltspunkte historischer Natur bietet, ist es also nicht ohne historischen Wert, ihren Entstehungskontext genauer zu bestimmen. Die Theaterschauspielerin Louise Dumont (1862-1932) und ihr Mann, der Theaterregisseur Gustav Lindemann (1872-1960) gründeten 1904 das Düsseldorfer Schauspielhaus, das neben einer reformerischen Bühne eine damals sehr angesehene Theaterakademie umfasste sowie die Zeitschrift für Theaterkultur Masken herausgab. Außerdem fand unter dem Titel »Morgenfeier« eine Vortragsreihe am Sonntagvormittag

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statt, die als eine der liberalsten in Deutschland galt. In diesem Rahmen trat auch Gustav Landauer wiederholt – vor allem mit Vorträgen über Shakespeare – auf und sollte schließlich deren Programm gestalten. (Zum Verhältnis Landauers zum Düsseldorfer Schauspielhaus vgl. den Kommentar zu »Landauer und die Revolution«, in diesem Band, S. 488 ff.) In zwei Briefen an Buber vom 15. November und 22. November 1918 lud Landauer den Freund ein, einen Vortrag im Rahmen der Morgenfeiern zu halten (vgl. B II, S. 10 f. u. S. 12 f.). Dabei ist nicht zu vergessen, dass Buber ab 1914 »dem außerordentlichen Lehrkörper« der dem Düsseldorfer Schauspielhaus angeschlossenen Hochschule für Bühnenkunst angehörte (zum intensiven Verhältnis zwischen Buber und dem Düsseldorfer Schauspielhaus vgl. MBW 7, S. 47 f.). Nachdem Buber Landauer das Thema seiner Rede mitteilte – wahrscheinlich die »Krisis des gegenwärtigen Menschen« (vgl. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen, S. 300, Anm. 2) bzw. »Probleme der Krise« oder »Der heutige Mensch« – und seine Bereitschaft bestätigte in Düsseldorf zu sprechen, schrieb Landauer am 22. November: »In Düsseldorf werden Sie bei diesem tief erschütternden Thema gewiß nicht bloß ›berichten‹, sondern, gleichviel in welcher Form, appellieren. Sie dürfen in diesem Hause alles sagen.« (Ebd., S. 300.) Am 13. Dezember 1918 schrieb Landauer aus München wieder an Buber: »Ich möchte mich, soweit es menschenmöglich ist, darauf verlassen können, daß Sie am Sonntag den 5. Januar in Düsseldorf sprechen. Die Belgier und Engländer, die Sie als Zuhörer haben können, brauchen Sie keineswegs zu stören. Über welches Thema?« Erst am 5. Januar 1919 hielt Buber also seinen Vortrag in Düsseldorf zum Thema »Überwindung« – wahrscheinlich vor einem Publikum, das aus den Mitgliedern des Theaterensembles bestand. Da die Vorträge der »Morgenfeiern« für gewöhnlich in der Zeitschrift Masken auf Grund der Stenogramme nachträglich veröffentlicht wurden (vgl. MBW 7, S. 196), wurde an Buber das Typoskript seiner Rede gesandt, das er in den nächsten Wochen offenbar korrigierte bzw. ergänzte. Da aber Dumont und Lindemann am 1. März 1919 von der Leitung des Düsseldorfer Schauspielhauses zurücktreten mussten, wurde Landauers Stellung als Dramaturg unsicher (vgl. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen, S. 378 und 380). Auch hatte sich Landauers Situation aufgrund seines Engagements in der Münchner Räterepublik nach der Ermordung Kurt Eisners am 21. Februar sehr kompliziert (vgl. den Kommentar zu »Landauer und die Revolution«, in diesem Band, S. 489). Diese Umstände können vielleicht die Tatsache erklären, dass der Text dieser Rede Bubers nicht mehr veröffentlicht wurde. Da das Typoskript

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zudem lückenhaft zu sein scheint, sah sich Buber vielleicht auch außerstande, zeitnah eine korrigierte, zur Publikation in den Masken geeignete Fassung zu erstellen. Bubers Behauptung, er habe seit 1916 an Ich und Du gearbeitet (vgl. z. B. Martin Buber, »Vorwort« zu ders., Dialogisches Leben. Gesammelte philosophische und pädagogische Schriften, Zürich: Georg Müller 1947, S. 9) lässt sich zumindest anhand des Briefwechsels nicht belegen. Der erste Verweis auf Ich und Du findet sich in einem Brief, den Buber am 21. Januar 1919 an Hugo Bergmann schrieb und in dem er sein neues Projekt ankündigt: »Ich arbeite jetzt an den allgemeinen Grundlagen eines philosophischen (gemeinschafts- und religionsphilosophischen) Systems, dessen Aufbau die nächsten Jahre gewidmet sein sollen. Dabei wird eine seltsame Schwermut, das Gefühl, zwischen zwei Welten zu stehen, das Erlebnis der Grenze immer stärker in mir.« (B II, S. 28; über »das Erlebnis der Grenze« vgl. den Brief an Rappeport vom 27. Oktober 1918, B I, S. 542 und den Brief an Strauß vom 7. Januar 1919, BBS, S. 64) Da aber die Düsseldorfer Rede – in welcher wiederholt von der »Grenze«, der »Schwelle« und der »Spaltung« die Rede ist – schon am 5. Januar gehalten wurde, darf man ohne weiteres annehmen, dass Buber schon Anfang 1919 zu der in seinem philosophischen Hauptwerk und für seine eigene Denkentwicklung so zentralen Idee des Gegensatzes zwischen Es-Welt und Du-Welt kam. Das wird übrigens ein Jahr später bestätigt, als Buber am 3. März 1920 an Robert Weltsch schrieb: »Ich bin gegenwärtig ganz tief in der Arbeit an meinen religionsphilosophischen Prolegomena und zwar an ihrem schwersten Abschnitt. Zu dieser Arbeit, die fünf Jahre lang fast ganz ruhte, bin ich erst seit kurzem wieder gekommen, nach Überwindung starker seelischer und körperlicher Hemmung. Auch jetzt muß ich mir die innere Möglichkeit zu ihr noch täglich neu erkämpfen.« (B II, S. 65 f.) Die Rede kann auch verstanden werden als mildernde, entpolitisierende Reaktion angesichts einer historisch und psychologisch bestimmten Konstellation, die Bubers »Gefühl« der Grenze bzw. Spaltung einigermaßen erklären kann. Nach dem Aufbruch Gustav Landauers am 15. November 1918 nach München, wo »kein öder Parlamentarismus«, sondern eine »anarchistische« Demokratie unter Kurt Eisner etabliert werden sollte (Brief Landauers an Buber vom 22. November 1918, B II, S. 12), hat sich die Aufmerksamkeit Bubers vor allem auf die Entwicklung der Bayerischen Revolution gerichtet, wo sich die Situation bald zuspitzte. Nachdem Landauer am 2. Dezember 1918 erfahren hatte, dass Buber einen Essay zum Thema »die Revolution und die Juden« (unter dem Titel »Die Revolution und wir« jetzt in diesem Band, S. 435) ge-

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schrieben hatte, richtete er sich an den Freund: »Behandeln Sie dann nur auch den führenden Anteil der Juden an dem Umsturz. Die Revolution in München z. B. ist, ohne daß man irgend daran dachte, größere Kreise vorher einzuweihen, von sieben Personen vorbereitet worden: an der Spitze Kurt Eisner, der sich den Weg im Gefängnis ausgedacht hatte; zwei junge glühende Juden waren seine besten, fortwährenden Helfer […].« (B II, S. 15; es handelt sich sicher um Ernst Toller [1893-1939] und vielleicht um Max Levien; vgl. Richard Dove, Ernst Toller. Ein Leben in Deutschland, Göttingen 1993, S. 83 ff. und Dieter Diestl, Ernst Toller. Eine politische Biographie, Schrobenhausen 1993, S. 39 ff.) Kurz danach schrieb Stefan Zweig an Buber am 8. Dezember 1918 einen sehr nüchternen, die gegensätzliche Bitte enthaltenden Brief: »In diesen entscheidungsvollen Tagen wende ich mich wieder an Sie als einen der Menschen, von dem ich das Gefühl des Verstehens im höchsten Maße habe. Ich denke an eine sehr notwendige deutsche Aktion, die Sie vielleicht im ersten Augenblicke befremden wird: an einen Aufruf von uns […] Einen Aufruf an die Juden in Deutschland und Österreich, – sich jetzt nicht vorzudrängen, nicht die Politik an sich reißen zu wollen. An einen Aufruf zur Bescheidenheit. Es ist mir entsetzlich zu sehen, wie alles – Revolution, Rote Garde, Ministerien von Juden gestürmt wird, welche unreine Machtgier unreiner Menschen sich jetzt entlädt. Wäre es nicht an uns allen […] der berechtigt antisemitischen Entrüstung vorzugreifen und zur Besinnung zu mahnen. Schreiben Sie den Aufruf, er ist nötig besonders vor den Wahlen und ich unterzeichne ihn gern. Er soll nicht ein Manifest im nationaljüdischen, zionistischen Sinn sein, zunächst nur ein Appell zur Reserve, zur Achtung der deutschen und österreichischen Angelegenheiten.« (B II, S. 17; vgl. auch Stefan Zweig, Briefe 1914-1919, Frankfurt a. M. 1998, S. 245.) Buber scheint zunächst die Empfehlung Landauers aufgenommen und den Vorschlag Zweigs übersehen zu haben, wie die eindeutigen, vielleicht in letzter Minute hinzugefügten Worte aus »Revolution und wir« deutlich zeigen: »So treibt es ihn [den Juden], an der Umwandlung mitführend teilzunehmen; so wird er dort und hier zum Auslöser und Kampfgefährten. Von je hat er an die Erneuerung geglaubt […] Mit der wirkenden Kraft dieses Glaubens und dieses Verlangens stellt er sich in die beginnende Umwälzung ein.« (In diesem Band, S. 108 f.) Ähnliches wird in Bezug auf »die Führer des Judentums« im einleitenden, zwischen Ende 1918 und Frühjahr 1919 abgefassten Abschnitt von Der heilige Weg nochmals wiederholt: »[…] ein Menschheitswerk, in dem den Juden freilich eine besondere, erschließende Funktion zufällt; die Forderung der Einheit sol-

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len sie durch ihre Tat erheben: indem sie im Werk vorangehen.« (In diesem Band, S. 127.) Wird die auffällig starke Beteiligung der Juden an der sozialistischen Revolution hier als positives Moment betrachtet, so wurde sie nach ihrem Scheitern im Laufe des Jahres 1919 als entscheidender Faktor von der antisemitischen Propaganda ausgenutzt. Nachdem der Aufsatz »Die Revolution und wir« in der Zeitschrift Der Jude erschien, gab Stefan Zweig hellsichtig am 30. Dezember 1918 seinen tiefsten Befürchtungen Buber gegenüber Ausdruck: »Mir ist es leid, daß wir nicht einer Meinung sind: ich wiederhole nur, was immer jetzt erreicht oder verloren wird, Jahrhunderte in Deutschland werden den jüdischen Führern die Schuld am Zusammenbruche zuerkennen (und tatsächlich ist ihr desorganisatorischer Sinn, ihre Ungeduld an vielem Schuld). […] Nicht sie haben das Reich geschaffen, nicht sie andererseits den Krieg. Ich hielte es für klarer ihrerseits, den Aufbau abzuwarten und ihm ihre geistige Kraft hinzugeben: zu wirken zwar, aber nicht im Vordergrunde. Nur darin sehe ich jetzt Heroismus, anonym zu wirken, Ideen sprechen zu lassen, nicht selbst zu sprechen. Aber ich urteile da vielleicht aus der Angst um das Schicksal der jüdischen Nation, die mir in dieser Zeit ebenso wichtig ist als die deutsche.« (B II, S. 21; Zweig, Briefe 1914-1919, S. 255.) Ähnliches pointierte Fritz Mauthner etwas später in einem Brief vom 20. April an Buber: »Sehr traurig, daß just der Idealismus seines [Landauers] Kreises – von einigen mir verdächtigen Russen gar nicht zu reden [vielleicht Tobias Akselrod und Eugen Leviné] – eine neue Welle des Antisemitismus über Deutschland stürmen lassen wird. Die Wut in Bayern ist bedenklich.« (B II, S. 36.) Obwohl die Geschichtsschreibung inzwischen nachgewiesen hat, dass der Anteil der Juden an der deutschen Revolution verhältnismäßig gering war und dass sie auch in den Reihen der Gegenrevolutionäre tätig waren (vgl. dazu Heinrich Hillmayr, Roter und Weißer Terror in Bayern nach 1918. Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen der Gewalttätigkeiten im Verlauf der revolutionären Ereignisse nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, München 1974, S. 47 ff.), war die Sorge, dass antisemitische Kräfte die Ereignisse in ihrem Sinne ausschlachten würden, berechtigt, wie die folgenden Jahre zeigen sollten. (Vgl. Adolf Hitler, Stichworte zu einer Rede [München, zum 13. November 1919], in: ders., Sämtliche Aufzeichnungen 1905-1924, hrsg. von Eberhard Jäckel, Stuttgart 1980, S. 92: »Wer waren die Führer der blutigen Räteherrschaft in Bayern? Der Jude Mühsam, der Jude Landauer, der Jude Levien, der Jude Leviné, der russische Jude Axelrod, auch Eisner war ein Jude« und ferner Hans Blüher, Die Erhebung Israels gegen die christlichen Güter, Hamburg u. Berlin

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1931, S. 200: »Daß Martin Buber zusammen mit Gustav Landauer und anderen weniger erfreulichen Erscheinungen des Judentums die Unterstützung derjenigen Kreise betrieben, die später die Widerstandskräfte der Nation gegen den Feind lähmten und zur Kapitulation zwangen, versteht sich von selbst. Was sollte er als Jude anders tun, noch dazu, nachdem die Balfour-Deklaration über Palästina vorlag.«) In jenen Wochen zwischen Ende 1918 und Anfang 1919 befand sich Buber also in einem inneren Zwiespalt, der auch in seiner Rede »Die Überwindung« zum Ausdruck kommt. Das damals oft wiederholte »Erlebnis der Grenze« schlug sich konkret in einem Gegensatz zwischen Judentum und Menschheit, jüdischem Nationalismus und Sozialismus, Politik und Religion, Revolution und Gewaltlosigkeit usw. nieder, aber vor allem im Gegensatz zwischen jüdischer Teilnahme an der Revolution und Angst davor, dass potentiell verhängnisvolle Auswirkungen aus einer führenden, sozusagen »überbelichteten« Beteiligung der Juden an der politischen Umwälzung entstehen könnten, die immer mehr als »jüdisch« wahrgenommenen würde. In der »Überwindung« wird eine thematische Verlagerung von der revolutionären Politik zur Religion spürbar und eine vorsichtigere, verinnerlichte Version des (nunmehr stark religiös geprägten) Sozialismus entwickelt. Im Unterschied zu den leidenschaftlichen Behauptungen anderer zeitgenössischen Schriften Bubers wie »Die Revolution und wir« und Der heilige Weg – welche eine etwas frühere politische Situation widerspiegeln – scheint »Die Ueberwindung« die oben erwähnten Befürchtungen von Stefan Zweig rezipiert zu haben, wie der letzte Satz der Rede deutlich macht: »nur wenn die Stimmen, wenn alle Stimmen schweigen, kann die Stimme laut werden.« (In diesem Band, S. 122.) Textzeugen: TS1: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var 350 007 071); 2 lose, unpaginierte Blätter in A3-Format. Die Blätter sind mittig gefaltet, Vorder- und Rückseiten beschrieben, so dass das Typoskript insgesamt 8 Seiten umfasst. Das Typoskript trägt auf der ersten Seite den handschriftlichen Vermerk: »Nachschrift eines Vortrags (von 1918-19)«. Das Typoskript ist zweischichtig: TS1.1: Grundschicht. TS1.2: Einzelne Korrekturen von Bubers Hand. Druckvorlage: TS1.2

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Variantenapparat: 113,41 des Heidentums] der heidnischen Völker TS1.1 114,20 geprägten Form] gefragten Form TS1.1 114,32-34 und Staat, immer […] einzelnen Menschen] und steht immer unerbittlicher TS1.1 115,4 Unmöglichkeit] Schwermut TS1.1 Wort- und Sacherläuterungen: 111,11-12 in den zwei Morgenfeiern, die dieser vorangegangen sind] Gemeint sind die Veranstaltungen, die am Sonntagvormittag im Rahmen des Düsseldorfer Schauspielhauses als Vortragsreihen stattfanden und damals unter der Leitung von Gustav Landauer standen. Über die Beteiligung Bubers an den »Morgenfeiern« vgl. MBW 7, S. 47. 112,18 Folge mir nach] Vgl. Mk 2,14 par. Mt 9,9 und Lk 5,27; 9,59; Mk 10,21 par. Mt 19,21 und Lk 18,22; Joh 1,43; 21,19 u. 22. 112,25 Bekenner Paulus] In einer Reihe von Essays, die Eduard Strauß (1876-1952), Freund und enger Mitarbeiter von Franz Rosenzweig am Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt, von Anfang der zwanziger Jahre an zuerst in der Monatsschrift Der Jude und später in der von Buber mitgeleiteten Zeitschrift Die Kreatur veröffentlichte, griff der Autor diese Bubersche Vorstellung einer religionsphilosophischen Entwicklung von Jesus über Paulus und Augustin bis Franziskus auf. Vgl. Eduard Strauß, Jesus von Nazareth, Der Jude 6 (1921/1922), S. 686691; ders., Paulus der Bekehrer, Der Jude 7 (1923), S. 32-44; ders., Augustinus der Bekehrte, Der Jude 7, 1923, S. 355-376; ders., Franziskus, Die Kreatur 1, (1926/1927), S. 214 ff., 336 ff., 468 ff. 112,27-28 Das Gute, das ich will, […] das tue ich.] Röm 7,19. 112,36 Augustin] Augustinus von Hippo (354-430) einer der bedeutendsten Kirchenväter der Spätantike und Begründer einer christlichen Geschichtsphilosophie. Buber spielt auf Augustinus »zwei Reiche« Lehre an, die dieser in seiner Schrift De civitate Dei entwickelte. Demnach sei mit dem Heilsgeschehen um Jesus Christus und der Bildung der Kirche das Reich Gottes als civitas Dei bereits präsent und stehe der Profangeschichte der civitas terrena unversöhnlich gegenüber. 113,22 Dante] Dante Alighieri (1265-1321): ital. Philosoph und Dichter. 113,24 Franziskus] Franz von Assisi (1181-1226): Begründer des Ordens der Minderen Brüder (Franziskaner) und Klarissen und Heiliger der kath. Kirche.

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113,25 Ekkehard] eigentl. Eckhart von Hochheim: bedeutender Theologe und Philosoph des späten Mittelalters; verknüpfte in Predigten und Traktaten Denkweisen negativer Theologie mit einer Spiritualität des Alltagslebens. 113,30 Greife und Chimären] Es ist unklar, auf welche Figuren Buber hier anspielt. In den Fresken an den Wänden der Basilika San Francesco in Assisi (basilica maior, Oberkirche), die in den letzten zwei Jahrzehnten des 13. Jh. gemalt wurden, treten Engel häufig auf, ohne aber jene urmythische Gestalt zu haben, die ihnen Buber zurechnet. Da Buber allerdings im Text von »Arkaden« spricht, liegt es nahe, dass er an die Fresken im Hauptschiff der Oberkirche dachte, wo Giotto u. a. um 1290 die Lebensgeschichten des heiligen Franziskus realisierte. Hier finden sich jedoch keine in der Gestalt von Greifen und Chimären erscheinende Engel, sondern Dämonen, die in der Episode von der »Verbannung der Teufel aus Arezzo« (Giotto, Cacciata dei diavoli da Arezzo, 1290 ca.; vgl. Legenda maior 6,9) dargestellt sind. 114,26 Bruno] Giordano Bruno (1548-1600): ital. Philosoph, auf Urteil der Inquisition wegen seiner als häretisch befundenen Lehre von unendlich vielen Welten auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Hier scheint Buber an den philosophischen Dialog De l’infinito, universo e mondi (1584, »Über das Unendliche, das Universum und die Welten«) gedacht zu haben, in dem der italienische Denker die Unendlichkeit des Weltalls, die Vielheit der Welten und die Gleichsetzung von Gott und unendlicher Welt zum ersten Mal konzipierte. 115,21 Verdrängung der Duwelt durch die Eswelt] Hier beginnt der Teil, in dem die keimhafte Formulierung der zentralen Begriffe von Ich und Du (1923) zu finden ist, wie Buber übrigens in jenem Brief an Hugo Bergmann ausdrücklich bestätigt, der in der Einleitung zu diesem Textes erwähnt wurde (Brief an Hugo Bergmann vom 21. Januar 1919, B II, S. 28). 117,19 indische Legende] Es handelt sich um die indische Sage vom Asketen Markantei (eigentlich Mārkaṇḍeya) und Indra. Diese Geschichte wird in zwei berühmten Werken des Hinduismus erzählt, und zwar dem Bhāgavatapurāṇa und dem Mārkaṇḍeyapurāṇa. In der Zeit Bubers war der Bhāgavatapurāṇa in einer französischen Ausgabe zugänglich, die um die Mitte des 19. Jh. vom französischen Orientalisten Eugène Burnouf herausgegeben wurde (vgl. Bhâgavata Purâna ou histoire poétique de Krichna, 3 Bände, Paris 1840-1847). Das andere Buch war 1904 in englischer Übersetzung erschienen. Vgl. The Mārkaṇḍeya Purāṇa, Harvard 1904.

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[Über die Revolution]

118,2 Historizismus] Da Buber die geschichtsphilosophische Betrachtung der Kulturen als Organismen bzw. als sich in der Zeit entwikkelnder biologischer Wesen so explizit kritisiert, ist anzunehmen, dass er den ersten Band vom Hauptwerk Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte – in dem die Vorstellung eines »naturhaften« Werdegangs der Kulturen ihren höchsten und klarsten Ausdruck gefunden hatte – kurz nach dessen Erscheinen las. Der erste Band dieser damals sehr populären Abhandlung wurde 1918 im Wiener Verlag Braumüller veröffentlicht. 119,7-8 indische Krisis des Buddha] Buber verweist offenbar auf eine existentielle Wende im Leben von Siddhartha Gautama, die in der Mittleren Sammlung (Majjhima-Nikāya) vom Suttapitaka, d. h. dem Pali-Kanon des Buddhismus, erhalten ist. Hier wird berichtet, dass Gautama in Alter zwischen 29 und 35 Jahren, d. h. in seiner asketischen Zeit nach seiner Flucht aus dem königlichen Palast und vor der ersten Erleuchtung, die strenge, äußerste Askese zurückwies und trotz des Tadels seiner Schüler den asketischen Weg verließ, um den »Mittleren Weg« zu gehen und ausschließlich die Meditation zu üben. Vgl. Majjhima Nikāya, 12.36. 120,3 Metano[ein] der Umkehr] Vermutlich benutzte Buber hier den griech. Begriff μετανοεῖν, der »sich umdrehen, umwenden«, aber auch die »Meinung wechseln« bedeutet. Hier wird der Begriff Neutrum, insofern Buber ihn als Substantivierung des Infinitum verwendet. Im Neuen Testament wird der Begriff auch durch »umkehren, bekehren« übersetzt. Vgl. Apg 17,30; 26,20. 121,8 Wirklichkeit der Tiefe] Der Gegensatz von »Wirklichkeit der Oberfläche« und »Wirklichkeit der Tiefe« nimmt ein Thema vorweg, das Buber 1933 im Aufsatz »Geschehende Geschichte« (jetzt in: MBW 15, S. 277-280) geschichtsphilosophisch entwickeln wird. 121,31 In einer alten jüdischen Sage] Nicht nachgewiesen. [Über die Revolution] Es handelt sich hierbei um ein undatiertes Manuskript Bubers, das im MBA erhalten ist und bisher unveröffentlicht blieb. Wegen zahlreicher Korrekturen von Bubers Hand ist die Handschrift mitunter schwer zu entziffern. Die Datierung des Textes ist problematisch. Buber spricht im Präsens von der sich in Gang befindenden, »westwärts« gerichteten Revolution als »Ausgang« eines Zeitalters, was sich nicht nur auf den Aus-

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bruch der russischen Revolution im Oktober 1917, sondern auch auf die Revolution in Deutschland im November 1918, vielleicht auch auf die Proklamation der ungarischen Sowjetrepublik durch Bela Kun (18861938) am 21. März 1919 beziehen könnte. Da die »Zeichen des Institutionismus«, die in den anfänglichen Zeilen des Textes erwähnt werden, in der politischen Sprache Bubers normalerweise als Hinweis auf die bolschewistische Variante des Sozialismus gelten, darf man annehmen, dass das Manuskript zwar nach der Machtergreifung in München durch die KPD Mitte April 1919, aber vor der im Text nicht erwähnten Ermordung Landauers am 2. Mai 1919 verfasst wurde. Da ferner die Satzung des im Text ebenso erwähnten Völkerbundes am 28. April 1919 bei der Friedenskonferenz von Versailles angenommen wurde, spricht einiges dafür, dass diese Aufzeichnungen Bubers aus der zweiten Hälfte des April 1919 stammen. Textzeuge: H: Handschrift im MBA (Arc. MS. Var. 350 02 163a); 3 lose unpaginierte Blätter; einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit mehreren Korrekturen versehen. Druckvorlage: H Variantenapparat: 123,2 , die westwärts gerichteten, ungleichen] h, die westwärts gerichteten,i ungleichen H 123,9 ihrem Wesen nach vorrevolutionären] hihrem Wesen nachi vorrevolutionären H 123,11 Menschen] [Völker] ! Menschen H 123,13-16 durch das Zusammenwirken […] zu sichern] [den Übergriffen Einzelner vorzubeugen, und den Völkerbund, um den Übergriffen einzelner Nationen vorzubeugen] ! durch das Zusammenwirken […] zu sichern H 123,16 Gemeinwesen] [Städten] ! Gemeinwesen H 123,29 Miteinanderleben] [Zusammenleben] ! Miteinanderleben H 123,37 Wachstum] [Werden und] Wachstum H 123,39 erfolgreich entgegenarbeiten] [entgegenwirken] ! erfolgreich entgegenarbeiten H

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Der heilige Weg

Der heilige Weg Für die intellektuelle Entwicklung und das politische Selbstverständnis Bubers ist dieser Text aus dem Jahre 1918/1919 von entscheidender Bedeutung. Er stellt einen Knotenpunkt dar, in dem Buber in einem umfassenden Entwurf jüdischer Geschichtsphilosophie zentrale Gedanken resümiert, die er in den vorangegangenen Jahren, besonders in den ersten »Reden über das Judentum« formuliert hatte und in den kommenden weiter ausarbeiten sollte. Einerseits finden sich hier die wichtigsten Themen der sogenannten jüdischen Renaissance, der Rolle von echten Gemeinschaften, der historischen Stellung des Chassidismus bzw. der jüdischen Mystik in der Geschichte des Judentums u. v. a. Anderseits nimmt Buber hier Begriffe und Forschungstendenzen vorweg, die seine theoretische Produktion der Weimarer Zeit charakterisieren werden, wie etwa den religiösen Sozialismus. »Die Rede, die hier mitgeteilt wird«, schreibt Buber selbst zum Anfang dieser Schrift, »ist im Mai 1918 gesprochen, in etwas abgeänderter Fassung im Oktober des gleichen Jahres wiederholt worden« (in diesem Band, S. 127). Sie war als Fortsetzung und Vollendung jener sechs Reden gedacht, die Buber in der Zeit von 1909 bis 1914 hielt, und 1923 gemeinsam unter dem Titel Reden über das Judentum gesammelt und veröffentlicht hatte (zur Entstehungsgeschichte der Reden vgl. MBW 3, S. 414). Im Frühjahr 1919 erschien die Rede mit dem Titel Der heilige Weg. Ein Wort an die Juden und an die Völker als selbständige Publikation, auf die der hier gedruckte Text zurückgeht. Dieser Text entstand allerdings nicht in einem einzigen Guss. Vielmehr besteht er aus drei Teilen: 1) drei einleitende, im Februar/März 1919 niedergeschriebene Abschnitte; 2) eine mindestens zweimal im Jahr 1918 vor jüdischen Jugendorganisationen gehaltene, ursprünglich »Das Judentum und die wahre Gemeinschaft« betitelte öffentliche Rede; 3) drei abschließende Abschnitte, die im Frühjahr 1919 verfasst wurden. Der erste Beleg dieser Rede findet sich im Dezember 1918 in der Zeitschrift Der Jude (Jg. 3, Heft 8/9, xi-xii 1918, S. 365 ff.), wo ein dreiseitiger Auszug der Rede unter dem Titel »Wege und der Weg« publiziert wurde (vgl. den Variantenapparat zu 125,1-2 sowie die Wort- und Sacherläuterungen zu 145,31). In einer editorischen Anmerkung schrieb Buber: »Diese Ausführungen sind der mittlere Teil einer Rede (gesprochen im Mai und im Oktober), deren erster Wesen und Geschichte der Verwirklichungstendenz und Gemeinschaftsidee im Judentum, deren Schlußteil den Aufbau des neuen palästinensischen Gemeinwesens be-

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handelt. Die Rede wird demnächst unter dem Titel ›Der heilige Weg‹ als Buch (bei Rütten & Loening) erscheinen.« Paul Mendes-Flohr hat versucht, die verwickelte Entstehungsgeschichte dieses Textes zurückzuverfolgen: »Die Vorlesung […] sollte – laut einem Entwurf – zunächst den Namen tragen Das Judentum und die wahre Gemeinschaft [Anm.: MBA H/23. Ein erstes Mal wurde dieser Vortrag im Mai 1918 in Wien gehalten, weitere Male im Oktober desselben Jahres in Berlin und im Dezember in München {…}]. Sie erschien später unter dem Titel Der heilige Weg. Ein Wort an die Juden und an die Völker und war mit der Widmung versehen: Dem Freunde Gustav Landauer aufs Grab« (Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 145). Auf jeden Fall stellt das Thema der »wahren Gemeinschaft« den inhaltlichen Kern dieser Schrift dar, wie seine beinah obsessive Wiederholung im Text zeigt. Teile der im MBA enthaltenen Handschrift, die nicht in die Druckfassung von Der heilige Weg von Buber aufgenommen worden sind, gingen dann auch umgearbeitet in Worte an die Zeit: Gemeinschaft (jetzt in diesem Band, S. 161-171) ein (vgl. den Variantenapparat, S. 452 u. 480). Vor jüdischen Jugendversammlungen sprach Buber im Verlauf des Jahres 1918 des Öfteren. Am 5. März hielt er z. B. die Rede »Verständigungsgemeinschaft« in Berlin bei der Tagung der jüdischen Jugendorganisationen Deutschlands, zu der ihn der Verband der Jüdischen Jugendvereine Deutschlands (VJJD) eingeladen hatte. Am 18.-20. Mai hielt Buber im Großen Saal des Wiener Musikvereins das Referat auf dem Wiener Zionistischen Jugendtag mit dem Titel »Zion und die Jugend« (vgl. MBW 8, S. 387 f.), dem mit großer Erwartung begegnet wurde (vgl. B I, S. 535). Später wurde dieses Referat auf dem vom 6. bis zum 8. Oktober angesetzten Nationaljüdischen Jugendtag in Berlin wiederholt (BBS, S. 62; vgl. MBW 8, S. 388). Hierüber berichtet Heinrich Loewe (1869-1951), die nationaljüdischen und zionistischen Jugendvereine hätten »für die zweite Oktoberwoche einen Jugendtag nach Berlin einberufen, der in dem ähnlich gerichteten nationaljüdischen Jugendtage Österreichs, rund ein Vierteljahr früher, einen Vorläufer hatte. […] Der Jugendtag dauerte, abgesehen von den ihm vorangehenden Besprechungen und den ihm noch folgenden Beratungen rund drei Tage. Er wurde durch eine, auf Veranlassung des ›Jüdischen Volksheim‹ einberufene, gleichwohl aber offizielle Versammlung eingeleitet, in der Martin Buber über ›Das Judentum und die wahre Gemeinschaft‹ sprach. Auch darin besteht eine Anlehnung an den Wiener Jugendtag. Dort hatte Martin Buber diese Rede bereits gehalten und sie dann nach einiger Zeit in München wiederholt […] Ein dreistündiges Referat [d. i. »Zion und die

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Jugend«], das Martin Buber außer seinem einleitenden Vortrage auf der Tagung hielt, ging über die Kopfe der Hörer hinweg«, (Heinrich Loewe »Zionistischer Jugendtag«, Neue jüdische Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Literatur in Ost und West, 3. Jg., Heft 2 vom 25. Oktober 1918, S. 44-46, hier S. 44 f.). Die Rede »Das Judentum und die wahre Gemeinschaft«, die die Grundlage für Der heilige Weg bilden sollte, wurde also am Sonntag den 6. Oktober einleitend vorgetragen – und vielleicht am Mittwoch den 9. Oktober für ein kleines Publikum nochmals. Eine zugleich humorvolle und kritische Beschreibung der Wiener und Berliner Versammlung, und insbesondere der Wirkung der Buberschen Reden, ist im erwähnten Bericht Loewes überliefert: »Er [Bubers Vortrag] gab gewissermaßen der Tagung die religiöse Weihe. Man geht nicht zu Martin Buber wie zu einem Volksredner. Man will auch von ihm keine philosophische oder andere wissenschaftliche Belehrung. Man will ihn in religiöser Stimmung hören und wenn man ihn nicht in dieser Absicht hören will, so empfindet man sehr bald, daß man an der ganz falschen Stelle ist. So ging es dem weitaus größten Teile des ihm aufmerksam lauschenden Publikums. Es fand nicht die Verbindung mit dem Redner. Dieser Teil der Zuhörer beachtete mehr, daß in Bubers Reden die Person Jesu und das paulinische Christentum eine nach ihrer Meinung über Gebühr starke Rolle spiele [vgl. in diesem Band, S. 139-141]. Sie kämpften mit der schweren Sprache Bubers, die nun einmal zu der ganzen religiösen Stellung, die er in der Welt einnimmt, zugehört. Wenn schon tagelang vor dem Jugendtage keine Einlaßkarte für jemanden zu erhalten war, der nicht zu den Veranstaltern besonders gute Beziehungen hat, wenn Martin Bubers Vortrag am Mittwoch im kleineren Saale wiederholt werden mußte, so ist das ein Beweis der hohen Wertschätzung, deren sich Buber auch bei denen erfreut, die ihn nicht verstehen, und die sich wohl hüten, einzugestehen, daß sie aus Mangel an Verständnis unbefriedigt nach Hause gehen. Merkwürdig ist nur, daß nicht Bildung und Wissenschaft, nicht weite Gedanken und tiefgründiges Eindringen in die Weltprobleme notwendig sind, um dieses Verständnis zu haben, daß vielmehr selbst unklare Köpfe ihm zu folgen vermögen, wenn sie nur auf ihn ›eingestellt‹ sind. Fehlt diese religiöse, diese der Mystik geneigte ›Einstellung‹, so nützt kein Wissen und kein Verständnis, um in diese Gefühlswelt einzudringen. Wenn wir hier den bestimmten Eindruck haben, als ob der Wiener Jugendtag ganz unter Bubers Einfluß stand, und als ob er dort eine unübersehbare Gefolgschaft gefunden habe, so hat der Berliner Jugendtag bewiesen, daß er den Kontakt mit der zionistischen Jugend Deutschlands keineswegs in gleicher Weise gefunden hat« (ebd., S. 5).

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Nach seiner Teilnahme an dem Jugendtag schrieb Buber am 27. Oktober an seinen jungen Briefpartner Ernst Elijahu Rappeport: »Ich bin auf der Heimfahrt von Berlin erkrankt und habe die Grippe in ziemlich schwerer Form durchgemacht; es geht mir auch jetzt noch nicht ganz gut. […] Im übrigen empfehle ich Ihnen, sich mit dem neugegründeten Berliner Hechaluz […] in Verbindung zu setzen. Ich habe von den jungen Leuten einen recht guten Eindruck gehabt, obgleich sie das Entscheidende nicht ahnen und nicht ahnen können.« (B I, S. 541.) Die Einstellung der Hechaluz-Bewegung (hebr.: »Der Pionier«) auf dem Berliner Jugendtag hat auch Loewe zustimmend beurteilt: »Saßen doch zweitausend junge Menschen vom frühen Morgen bis in die Nacht, vergaßen zu essen und zu schlafen, weil sie keinen Augenblick dieser Sitzungen versäumen und vermissen wollten. Bei den ihnen völlig unverständlich bleibenden Worten Bubers hörten sie stundenlang mit derselben rührenden Disziplin und dem gleichen Eifer zu. Sie hatten das Gefühl heiliger Weihe dieses Tages, das nicht erst durch weihevolle Worte hervorgerufen zu werden brauchte. […] Das war die Stimmung der ersten Schöpfer der Kolonien und des nationaljüdischen Gedankensystems. Die Bewegung ist wieder jung. […] In dieser Richtung verdient besondere Beachtung die He-Chaluz-Bewegung. Diese jungen Menschen wollen restlos und ohne Vorbehalt Palästinapioniere sein […] sie stellen sich rückhaltlos zur Verfügung.« (Loewe, Zionistischer Jugendtag, S. 46.) Im gleichen Brief vom 27. Oktober 1918 an Rappeport deutete Buber an, dass sich für ihn nach seiner vielleicht ein wenig enttäuschenden Teilnahme am Berliner Jugendtag eine neue Gedankenlandschaft eröffnet habe: »Meine Berliner Rede (voraussichtlich die letzte für lange Zeit) soll wohl veröffentlicht werden, aber ich habe jetzt anderes im Sinn. Übrigens habe ich dabei das Erlebnis der Grenze gehabt: ich kann nicht mehr ›zu Juden‹ reden, überhaupt nicht mehr zu … Incipit vita nova.« (B I, S. 542.) Kurz danach formulierte Buber diese Vorstellung etwas präziser in einem bedeutsamen Brief an Ludwig Strauß: »Das Erlebnis der Grenze, das mich seit einem Jahr immer wieder heimgesucht hat (die letzten Dinge, nun auch soweit sie Anruf bedeuten, nicht mehr in judaistischer Begrenzung und pros Hebraious formulierbar), ist vor kurzem so gewaltsam geworden, daß ich die feste Umzäunung, meiner Hände Werk, niederriß und pros anthropous zu reden (zu schreiben) begann.« (Brief vom 7. Januar 1919, BBS, S. 64, Hervorhebung des Hrsg.) Diese neue Richtung wird in den einleitenden, offenbar Ende Dezember 1918/Anfang Januar 1919 abgefassten Abschnitten von Der heilige Weg deutlich spürbar. Es scheint nicht mehr das zu gelten, was Buber am 5. März

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1918 in der Rede »Verständigungsgemeinschaft« vor den jüdischen Jugendorganisationen Deutschlands vortrug: »Das Primat des Judentums: daß das Judentum für uns über allen anderen Gemeinschaften steht.« (»Verständigungsgemeinschaft«, Mitteilungen des Verbandes der Jüdischen Jugendvereine Deutschlands, Heft 2/3, Berlin, April/Mai 1918, S. 79-82, hier S. 79; jetzt in: MBW 8, S. 104-108, hier S. 104.) Jetzt gilt also ein neues Werk und ein neuer Weg, resp. die »Verwirklichung des Göttlichen in der Menschheit« und der »Aufbau der wahren Gemeinschaft« (in diesem Band, S. 127). Ludwig Strauß schrieb am 19. Dezember 1918 an Buber, dass er dem Hapoël Hazaïr, einer jüdischen sozialistischen Gruppierung, beigetreten war: »Bei dieser Bewegung habe ich die Hoffnung, daß sie zu wirklichem Sozialismus kommen kann.« (BBS, S. 63.) Im Januar 1919, als er Den heiligen Weg abfasste, vollzog auch Buber diesen politischen Schritt (vgl. dazu B II, S. 26; BBS, S. 65; Kohn, Martin Buber, S. 174; Bourel, Martin Buber, S. 266). Die Antwort Bubers an Ludwig Strauß vom 24. Dezember 1918 gibt einen Hinweis auf den terminus post quem der Niederschrift: »Ich arbeite augenblicklich an einer kurzen Darlegung des Sozialismus, den ich meine, und habe sozusagen keine Atempause. Ich denke daran, in einigen Wochen eine Zusammenkunft der sozialistischen Journalisten nach München einzuberufen.« (BBS, S. 64.) Im Februar erreichte Buber tatsächlich Gustav Landauer in München und setzte sich mit jenen jüdischen Führern der Revolution auseinander, deren universelle Verantwortung in den ersten Zeilen von Der heilige Weg angemahnt wird (vgl. in diesem Band, S. 127). Da im Text keine inhaltliche Anspielung auf die Ermordung Gustav Landauers am 2. Mai 1919 vorkommt, war die endgültige Abfassung des Textes zu diesem Zeitpunkt offensichtlich schon beendet, so dass Buber seine einführende Widmung wahrscheinlich erst in der Korrekturfahne, d. h. kurz vor dem Buchdruck vornehmen konnte. Der Todestag Landauers kann also als terminus ante quem zur Endfassung des Buches gelten, das dann in den nächsten Wochen erschien. Am 31. Mai 1919 wurde ein zweiseitiger Auszug des Aufsatzes unter dem widersprüchlichen Titel Revolutionäre Kolonisation in der Parteizeitschrift des Hapoël-Hazaïr publiziert. Relativ spät, in einem Brief an Buber vom 25. September 1919, reagiert Arnold Zweig auf die Buchveröffentlichung und bemerkt Bubers neuen Schreibstil: »Den ›Heiligen Weg‹ habe ich mit einer Art von Glücksgefühl gelesen und durchdacht, das ich schwer beschreiben kann. Schon das erste, daß Sie dies endlich haben aussprechen dürfen: radikale Beschreibung unserer Lage und ebenso radikale Deutung des Auswegs. Ich fühle stark die Befreiung mit, daß Ihnen diese

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Worte kamen, diese Gegenstände sprechbar, greifbar, ausdeutbar wurden. Ich weiß ziemlich abzuschätzen, wie schwer das Problem des Wortes bei Ihnen gestellt ist: das eigentlich Unsagbare immer wieder anfassen zu müssen; mit dem unendlich wichtigen Gegenstand das zwingendste Wort zu verbinden; so gut, frei und einfach ist Ihre Sprache nie zu uns gekommen. Eine aufgeschriebene und gelesene Rede ist ja ebenso problematisch wie eine abgelesene, Sie wissen selbst; aber diesmal ist eine starke Einfachheit in Ihrem Ton und eine Energie, die zwingt.« (B II, S. 60.) Textzeugen: h1: unvollständige Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var 350 05 23); Konvolut von 13 losen Blättern, teils einseitig, teils zweiseitig beschrieben mit blauer Tinte, mit vielen Korrekturen und Streichungen versehen. Die Handschrift enthält Entwurfsfragmente zu den hinteren Abschnitten teils in doppelten und dreifachen Fassungen, teils unterschiedlich angeordnet und mit Passagen vermischt, die in »Worte an die Zeit: Gemeinschaft« eingingen. Die Blätter sind teils unpaginiert, teils tragen sie Paginierungen von S. 46 bis 57, ohne dabei allgemein zusammenzuhängen. Aufgrund der vielen Redundanzen konnten im Variantenapparat nur jene Passagen berücksichtigt werden, die sich eindeutig als Entwurfsstufen des Textes zu h2 identifizieren ließen. 2 h : unvollständige Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var 350 05 23); 62 lose, zumeist paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte, mit vielen Korrekturen versehen; Seite 2 fehlt. Die Paginierung endet mit Seite 52, so dass der folgende Abschnitt »Welches andere Volk […] Gottes Angesicht ist.« (in diesem Band, S. 153,19-154,35) auf gesonderten, unpaginierten Blättern vorliegt. Der Abschnitt »Wenn solchermaßen […] erlöst werden kann.« (in diesem Band, S. 154,37-155,39) fehlt. d1: »Wege und der Weg«, Der Jude, 3. Jg., 8/9, November/Dezember 1918, S. 365-368 (MBB 211). Enthält den Abschnitt »Von Rabbi Jaakob […] Sinai der Zukunft.« (In diesem Band, S. 145,31-150,15.) d2: »Revolutionäre Kolonisation«, Die Arbeit. Organ der zionistischen volkssozialistischen Partei Hapoël-Hazaïr, 1. Jg., 10./11. Heft, 31. Mai 1919, S. 113-114 (in MBB nicht verzeichnet). Enthält den Abschnitt »Was die abendländischen Revolutionen […] Kraft gesteigert sind.« (In diesem Band, S. 152,19-156,12.) D3: Der heilige Weg. Ein Wort an die Juden und an die Völker, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1919, 90 S. (MBB 215).

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D : Der heilige Weg. Ein Wort an die Juden und an die Völker, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1920, 4.-13. Tausend [Zweite Auflage], 90 S. (MBB 215). D5: Reden über das Judentum, Berlin: Schocken 1923, S. 143-197 (MBB 284). D6: Reden über das Judentum, Berlin: Schocken 1932, S. 143-197 [Zweite Auflage] (MBB 449). D7: JuJ, S. 89-122 (MBB 1216). 4

Druckvorlage: D3 Übersetzungen: Englisch: The Holy Way. A Word to the Jews and to the Nations, übers. von Eva Jospe, in: On Judaism, hrsg. von Nahum N. Glatzer, New York: Schocken Books 1967, S. 108-148 (MBB 1298). Französisch: La Voie, übers. von Bernard Poliakov, La Revue Juive, 1. Jg., Nr. 6, November 1925, S. 631-675 (MBB 313). Hebräisch: Derekh ha-kodesch. Davar le-Israel u-le-amim, übers. von Zvi Israel Schweid, Hugo Bergmann u. Hans Kohn, le-zikhro schel [Zum Gedenken an] Gustav Landauer, Tel Aviv: Ha-po’el ha-tza’ir 1929, 55 S. (MBB 412); Derekh ha-kodesch [Ausschnitt], in: Buber, Netivot be-utopija, Sifrijat da’at, Tel Aviv: Am oved 1947, S. 144-147 (MBB 777); Derekh ha-kodesch (Mai 1918), in: Teʿ uda we-ji’ud, Bd. 1: Ma’amarim al injane ha-jahadut, Jerusalem: Ha-sifrija ha-zionit 1960, S. 89-116 (MBB 1135). Italienisch: La via sacra, in: Sette discorsi sull’ebraismo, übers. von Dante Lattes u. Mosé Beilinson, Firenze: Israel 1923, S. 129-178 (MBB 285); in: Sette discorsi sull’ebraismo, Assisi-Roma: Carucci, 1976, S. 129178 (MBB 1391). Jiddisch: Der heiliker Weg, Volk un Zion, 14. Jg., Nr. 10-11, Juni-Juli 1965, S. 43-44 (MBB 1278). Niederländisch: in: Over het Jodendom, übers. von F. de Miranda, Utrecht: J. Bijleveld 1978 (MBB 1402). Ungarisch: A szent út, übers. von Hillel Danzig, Javne Könyvek, 6, in: Az eszme Kovácsai, Budapest: Magyar Zsidók Pro Paleszina Szövetsége 1942 (MBB 650). Variantenapparat: 125,1-2 Der heilige Weg […] die Völker] [Das Judentum und die wahre Gemeinschaft] ! Die Verwirklichung des Judentums h2 Wege und der Weg zusätzliche Anmerkung Diese Ausführungen sind der mitt-

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lere Teil einer Rede (gesprochen im Mai und im Oktober 1918), deren erster Wesen und Geschichte der Verwirklichungstendenz und Gemeinschaftsidee im Judentum, deren Schlußteil den Aufbau des neuen palästinensischen Gemeinwesens behandelt. Die Rede wird demnächst unter dem Titel »Der heilige Weg« als Buch (bei Rütten & Loening) erscheinen. d1 125,3-11 Zieht, zieht […] Jesaja 35,8] fehlt h2, d1, D5, D6, D7 126,1-3 Dem Freunde […] aufs Grab] fehlt h2 127,1-128,3 Die Rede […] Abschnitte hinzugefügt.] anderer Vorspruch Ehe ich zu sagen beginne, was ich Ihnen zu sagen habe, sei zum Verständnis dessen, um was es geht, eine Erklärung vorausgeschickt. / Ich stehe heute vor Ihnen nicht als einer, der Ihnen von der Grösse und Herrlichkeit des Judentums zu erzählen wünscht, und wer [Textverlust] geschmeicheltem Stolz aus diesem Saal gehen wird, zu dem werde ich nicht gesprochen haben. Ich stehe vor Ihnen vielmehr als ein Ankläger und Forderer; und die ich anklage, sind hier beisammen, Sie sind es und ich; von denen ich fordere, sind in dieser Stunde verbunden, wir alle sind es. In diesem Sinn und keinem andern nehme meine Worte auf, wer die wahrhaft aufzunehmen gewillt ist: als an ihn [das Geheimnis] ! die Heimlichkeit seines Herzens gerichtet, als von ihm eine Antwort, die schweigsame, Jahrzehnte dauernde Antwort erwartend. h2 fehlt d1, D5, D6, D7 129,2-17 an Geheimnis […] eignem Recht] Textverlust wegen fehlender Seite h2 129,15-16 europäischen] abendländischen D7 129,24 Gottes ist. Gott] des Absoluten ist. Das Absolute h2 129,25 elementar gegenwärtige Substanz] [elementare Gegenwart] ! elementar, gegenwärtige Substanz h2 129,25 Substanz] Wesenheit D7 129,25 von reiner Vernunft] fehlt h2 129,26 von einer praktischen] fehlt h2 129,27-28 das Geheimnis der Unmittelbarkeit,] fehlt h2 129,30 Angesichte Gottes] Angesicht des Absoluten h2 129,33 nicht als Wirklichkeit,] nicht als Wirklichkeit, [nur als Erlebnis, nicht als Leben,] h2 129,36 Gott] das Absolute h2 129,37-130,5 Gott ist in […] Welt einfügt] Wohl ist Gott in den Dingen zu schauen, aber wie der Keim im Samenkorn; nur wer ihn entfaltet, wird ihm gerecht. Die Wahrheit, die erkannt wird, darf nur Anreiz und Antrieb sein; erst die Wahrheit, die getan wird, ist Erfüllung. Wenn das Innen bei sich bleibt, ist es unfruchtbar, auch wenn es er-

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haben ist; erst wenn es ins Aussen tritt, sich mit dem Aussen eint, fruchtet es. Gott ruft uns aus allen [Dingen] ! Wesen an, ihn in ihnen zu verwirklichen – die Wahrheit in ihnen und an ihnen zur Wirklichkeit zu machen. Dies aber kann nicht in einem einzelnen Wesen geschehen, überall muss das Innen ins Aussen treten, muss es von Wesen zu Wesen strömen, muss sich eins am andern vollenden. Was in sich verschlossen ist, reicht zum Dasein aus, nicht zur Verwirklichung h2 130,5 Göttliche] Absolute h2 130,6 seine wahre Fülle] [sein X Wachstum und seine Weite erreicht und] ! seine wahre Fülle h2 130,6 wahre Fülle] irdische Fülle D7 130,8 mitteilen, einander helfen] [geben] ! mitteilen, einander helfen h2 130,9 erhabene Kerker] sublime Kerker D7 130,16-17 zu Worte zu bringen] [auszusprechen] ! zu Worte zu bringen h2 130,20 bestimmende Kraft] [Regel und Ordnung] ! bestimmende Kraft und Regel h2 130,31 ausgehen soll] angelegt ist h2 130,37 den Völkern gleichsetzen] [unter die Völker mischen] ! den Völkern gleichsetzen h2 130,41 das Reich Gottes nicht erstanden] die wahrhafte Gemeinschaft nicht [verwirklicht] ! entstanden h2 131,3 Gottes Macht in der Erdenwelt zu begründen] [Gott in der Welt verwirklichen] ! Gottes [Herrschaft] ! Macht in der Erdenwelt zu begründen h2 131,4 ruht] haust D7 131,6 zwei Seiten] [noch Erscheinungen] ! zwei Seiten h2 131,7 die Welt mit Gott erfüllen] [Gott in der Welt verwirklichen: Wer dem Absoluten anhangt, [muss] ! will seine Erfüllung auf Erden [, die wahre Gemeinschaft]; wer nach der wahren Gemeinschaft strebt, ist, ob er es auch nicht weiss, dem Absoluten ergeben, auch wenn er glaubt, von ihm nicht zu wissen, weil er] ! die Welt mit Gott erfüllen h2 131,9 Ideal] [persönliches] Ideal h2 131,10 wahrhafte Gemeinschaft mit Gott] [vollkommene Gemeinschaft mit den Wesen] ! wahrhafte Gemeinschaft mit Gott h2 131,11 i n e i n e m ; die Zerrgebilde] [in einem. Das Geheimnis des Bundes zwischen Gott und Mensch ist die Verwirklichung.] ! in einem; die Zerrgebilde h2

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131,12 Gnadenheiligkeit] [Wortheiligkeit] ! Gnadenheiligkeit h2 131,25-26 trotz Widerstand […] Untergangs,] htrotz Widerstand […] Untergangs,i h2 131,28-29 diese Welt […] Parteiung bedeutet] hdiese Welt […] Parteiung bedeuteti h2 131,31-32 usurpieren den Namen Juden] [verdienen nicht Juden genannt zu werden] ! usurpieren den Namen Juden h2 131,32 den Arbakanfes] die Schaufäden D7 131,33 wahren Judentums] [jüdischen Geistes] ! echten Judentums h2 131,39 Absolute] Unbedingte D5, D6, D7 132,5-6 , zur Offenbarung […] Sache ist] h, zur [Lehre] ! Offenbarung […] Sache isti h2 132,8 Offenbarung] [Lehre] ! Offenbarung h2 132,11-12 mir ein priesterliches Reich […] sein] mir werden ein Königsbereich von Priestern, ein heiliger Stamm D7 132,16 Wir wollen tun und vernehmen] Wir tuns, wir hörens D7 132,17 vernehmen] hören D7 132,19 Ewigen] Herrn D7 132,20 Gewaltigen] starken Helden D7 132,20-21 vernehmen] hören D7 132,21 Vernehmen] Hören D7 132,22 Spruch des Talmud] talmudischen Spruch D7 132,23 Gottes] Gottes, an der eignen Tat erkennt es, wie nahe schon, wie fern noch seine Gemeinschaft der Erfüllung der in sie gelegten Lehre, der Entfaltung des [in sie gelegten] ! ihr eingetanen Urbilds ist h2 132,30 Gnade] Gunst D5, D6, D7 132,32 geschaut] [gekostet] ! geschaut h2 132,33 schon schmerzlich] [wieder und wieder] ! schon schmerzlich h2 132,39 wird in deren Schlamm gezogen] wird hohne Widerstandi in deren Schlamm gezogen h2 133,2 Erbgewohnten] [Überlieferten] ! Erbgewohnten h2 133,3 Augenblickssklaven] [Erbgewohnten] ! Augenblickssklaven h2 133,8-9 ; und zudem alle […] wollen] h; und zudem alle […] wolleni h2 133,25 diese messianische […] Anpassungskunst] hdiese messianische […] Anpassungskunsti h2 133,27 gewaltigen] leitenden D7 133,34 ewigen] zähen D7 133,38 zersetzt.] zersetzt. [Nicht dass die Theokratie, die Idee Gottes als des alleinigen Herren des Gemeinwesens als der gottunmittelbaren Gemeinde, so spät Form gewann, sondern dass sie nicht reine Form gewann, war das Verhängnis des zweiten Reichs.] h2

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134,1 Von welcher Art] [Wie ungeheuer aber die Forderung, welcher Art] ! Von welcher Art h2 134,5 dem Philosophem […] Gebilde] der Idee und in dem Kunstwerk, unmittelbare [Teilnahme] ! Verbundenheit des Bürgers mit dem Leben des Ganzen, [reine Gemeinsamkeit] ! reines Gebilde h2 134,6 Aber dies […] Volksteile] Aber all dies nicht bloss auf der Grundlage der Sklaverei, [die erst dem Freien ermöglicht, die Arbeit verschmähend sich den Geschäften der Allgemeinheit zu ergeben, und auf der radikalen Ungleichheit des Besitzes, die nur zeitweilig gewaltsam durch politische Umwälzungen für einen Augenblick ausgeglichen wird, und einer darauf gegründeten] ! sondern auch der Differenzierung der Volksteile h2 134,10-11 alle umfassenden] allen im gleichen Masse zugänglichen h2 134,15 äußerlich […] aufgehoben wurde] aufgehoben wurde h(natürlich abgesehen von der Sklaverei)i h2 134,17-19 , eines sozialen […] beginnen läßt] h, eines sozialen […] beginnen lässti h2 134,25 Und das Land […] verkaufen] Nicht werde das Land in die Dauer verkauft D7 134,26 Fremdlinge und Gäste] Gäste und Beisassen D7 134,28 sozialen Konzeption] [Gemeinschaftskonzeption] ! sozialen Konzeption h2 134,29 Gottesherrschaft] [Theokratie] ! Gottesherrschaft h2 134,30-31 Mochte diese Idee] [Diese anderwärts oft durch freieste Umtriebe einer machtsüchtigen Priesterschaft missbrauchte Äusserungsform? tritt in der jüdischen Gesetzgebung in unbedingter] ! Mochte diese Idee h2 134,39-135,1 (Ich sehe hier […] unverkennbar.)] h(Ich sehe hier […] unverkennbar.)i h2 135,5 Kelter wegholte] Kelter wegholte, [Jephtas Berufung durch das Volk bestätigte,] h2 135,14 sein wie alle Völker] werden wie die Weltstämme alle D7 135,15-16 sondern mich, daß ich […] herrsche] mich ja haben sie verworfen, König über sie zu sein D7 135,24 Größeres] [wesenhaft anderes] ! Grösseres h2 135,29 seiner Verwirklichung] [seine Forderung] ! seine Verwirklichung h2 135,30 Achija] [der Ungenannte aus Judäa] ! Achia h2 136,4 der Mächtigen] [des Nutzens und der äusseren Zweckmässigkeit und der äusseren Macht] ! der Mächtigen h2

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136,9 Staat] Staat [, dem Staat, der sich von der wahren Gemeinschaft] h2 136,14 lassen nicht ab] lassen nicht ab [sie ziehen sich nicht in die einsame Sphäre des Geistes zurück, sie] h2 136,28 zu bewahren] zu bewahren [, von der sie ersehnen, dass sich aus ihr die wahre aufbaut] h2 136,32-33 die Ausgestaltung des Messianismus] der Messianismus h2 136,36 abgelösten Geistern] Engeln oder reinen Geistern h2 137,1 Reiches] Staates D7 137,3 ein Zerrbild] [eine Karikatur] ! ein Zerrbild h2 137,9 Ordnung] Ordnung [; die Scheidung ist da, wenngleich? nicht von ihnen aus vollzogen, sondern von aussen aufgenötigt worden] h2 137,9 Andrerseits] Sodann D5, D6, D7 137,18 religiöse Hoffnungen] [politische Macht mit der religiösen zu verquicken – die Gestaltung des politischen] ! religiöse Hoffnungen h2 137,30 tiefen] [ungeheuren] ! abgründigen? h2 137,38 anscheinend] vielleicht h2 138,3 Kult] [Mysterienkult] ! Kult h2 138,7 Tausch und freie Gabe] [ein geselliger Tausch] ! Tausch und freie Gabe h2 138,9 Atem] [Grundzug] ! Atem h2 138,11-13 Das Mahl […] nicht zu.] hDas Mahl […] nicht zu.i h2 138,14] Anordnungen] [Befehlen] ! Anordnungen h2 138,23 Wort] [nackte] Wort h2 138,28 Körnchen] [Samenkern] ! Körnchen h2 138,28-31 Ein vitaler […] zu machen.] hEin vitaler […] zu machen.i h2 138,33-34 der Essäer, für das Ohr] [der Essäer. Die Essäer sind verschwunden, ihr Werk ohne sichtbare Fortwirkung untergegangen, aber sie haben nicht umsonst gebaut] ! der Essäer, für das Ohr h2 138,37 zentralen] grossen h2 138,38 sammelte und durch den er sich brach] [wunderbar] sammelte und [wunderbar brach] ! durch den er sich brach h2 138,39 wahren Gemeinschaft] [Verwirklichung] ! wahren Gemeinschaft h2 139,3 Was er das Reich] [Dennoch ist von seinen Worten und den Worten seiner Jünger, vielmehr von der Umbiegung dieses Wortes im Gemüt] ! Was er das Reich h2 139,3-4 – mag es […] bestimmt sein –] fehlt h2 139,5 Tröstung] [Erfüllung] ! Tröstung h2 139,9 Königtum] [Kaisertum] ! [seine menschliche Verwirklichung] ! Königtum h2

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139,12-16 Das Reich […] hervorgehen kann] [Dieses Reich ist nicht von der Welt, die den Lehrenden umgibt und auf die er mit dem Finger weist; aber es ist von der kommenden Welt, die diese seiende durchdringen soll. Man muss die Hand an den Pflug legen und die Schollen dieser Welt auflockern, um den Samen des Reichs in sie zu werfen.] h2 139,17-18 – worin immer […] scheiden mag –] fehlt h2 139,21-22 glühende Reinigung und bildnerische Vollendung] hglühendei Reinigung und hbildnerischei Vollendung h2 139,22-23 das verwüstete Haus […] gerichtet] [das Haus des Geistes ist, das für ihn bereitet] ! verwüstete Haus […] gerichtet h2 139,25 abgründliche] abgründige D6, D7 140,2 Willkür,] Willkür, [wahrlich zu Recht das kälteste aller Ungeheuer genannt] h2 140,7 der göttliche Auftrag] [die hohe Tendenz] ! der göttliche Auftrag h2 140,12 großen Rebellen] [starken Männer] ! grossen Rebellen h2 140,25 , nicht weil […] erlöst habt] h, nicht weil […] erlöst habti h2 140,25-26 aus dem Judentum den Tempel] aus dem Judentum – an ein anderes Material hat er nie gedacht – den Tempel h2 140,27 zerfallen] [niederbrechen] ! zerfallen h2 140,34 göttlichen erhebt, das Ebenbild sich vollendet] göttlichen h, das Ebenbild zum Bildi vollendet h2 140,35 Gottes ewige Geburt] ewige Geburt aus Gott D7 140,35 ereignet] [vollzieht] ! ereignet h2 140,37 Der Wille] [Welt und Geist, Werke und Glauben, Kaiser und Gott] ! Der Wille h2 140,38 durch das Geheimnis] [in seinem Grunde rein und] durch das Geheimnis h2 140,41 in all seinem […] Möglichkeit] hin all seinem […] Möglichkeiti h2 141,18 Mystik] Mystik [, vornehmlich der deutschen] h2 141,24 Tendenz] Idee h2 141,25 eingegangen] eingegangen [; die Völker hätten sie auch nicht ertragen können] h2 141,35 rasendsten] [furchtbarsten] ! rasendsten h2 141,37 , ein repräsentativer Jude] h, ein repräsentativer Judei h2 142,1 Urerlebnis] Urerlebins [– ein allgemein menschliches –] h2 142,7-8 was ich vollbringe […] das tue ich] das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich h2 142,15 titanischer] [ungeheurer] ! titanischer h2 gigantischer D7

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142,23-24 bekannt war, daß auch in der Legende] bekannt war (die Kindheitsgeschichten der Evangelien sind späte Zutat), dass von der Zeit h2 142,27 Durch diese verwandelt] [Wohl übte er nunmehr in ihrem Dienste] ! Durch sie verwandelt h2 142,28 Lehre Jesu den Völkern] Lehre Jesu, übermittelt das Judentum den Völkern h2 142,31 dessen Todeszuckungen] [das in unseren Tagen zu Ende geht] ! dessen Todeszuckungen h2 143,2 einen Akt innerer Verwirklichung] [den inneren Aufschwung] ! einen Akt innerer Verwirklichung h2 143,3-6 ; jetzt aber […] versank] h; jetzt aber […] versanki h2 143,11 die Gewalt der fremden Welt] [der Seelenzwang der Fremde] ! die Gewalt der fremden Welt h2 143,12-13 Einstellung] [Abhängigkeit] ! Einstellung h2 143,16-17 da nur ist die Schechina behaust, wo] dann nur ist die Schechina daheim, wenn D7 143,18 mächtig ist] [lebt] ! [glüht] ! mächtig ist h2 143,18 wo] wenn D7 143,18 sich unterfängt] [es wagt] ! sich unterfängt h2 143,19 Absoluten] Unbedingten D6, D7 143,19 wo] wenn D7 143,20 wo] wenn D7 143,21 der Jude] [die Juden wie auch andere Völker] ! der Jude h2 143,21 Absoluten] Unbedingten D6, D7 143,22-24 Das ist grauenhafter […] alle Pogrome.] [Diese Einsicht ist schreckhafter und peinvoller als Inquisition und Pogrom. Theodor Herzl deutet einmal darauf hin, die jüdische Volkheit werde durch den gemeinsamen Feind konstituiert. Aber das ist ein schwer erkranktes Volkstum, dessen Einheit solchermassen auf den Feind angewiesen ist. Die Einstellung auf das Fremde, die sich aus der Abhängigkeit von ihm ergibt, hat] ! Das ist grauenhafter […] alle Pogrome h2 143,30 riesenhaften] großen D7 143,34 unterband] verkümmerte D7 143,40 eigentlichen] [wesentlichen] ! eigentlichen h2 144,2 Substanz] Materie D7 144,2-3 Unmittelbarkeit] [Unmittelbarkeit] ! [Wahrheit] ! Unmittelbarkeit h2 144,13 tefillinlegend] tefillintragend D7 144,14 spricht] redet D7

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144,21 Satan] Krieg h 144,24-25 Und wer unter uns […] wollen?] fehlt h2 144,28 Seele] Seele h(denn es gibt eine Fortpflanzung der Seele wie eine des Leibes)i h2 144,32 verwegene] [grosse] ! [wagemutige] ! verwegene h2 144,38 Zaddiks] [Führers] ! Zaddiks h2 144,39 Absoluten] Unbedingten D5, D6, D7 145,25 jüdischen Ethos] jüdischen Ethos [und jüdischer Tendenz] h2 145,26 ekelerregende] widerwärtige D5, D6, D7 145,27 Anpassung] Anpassung [und [die niedere Schmach] ! das sichtbarste Zeugnis des Galuthlebens] h2 145,31 Von Rabbi Jaakob] Beginn von d1 146,4-6 Was soll es tun, […] zu gelangen?] hWas soll es tun, […] zu gelangen?i h2 146,8 formalen] reinen h2 146,9 sie prüfen] sie prüfen, ehe wir die rechte Antwort suchen h2 146,10 – ich wähle die besten unter ihnen –] h– ich wähle die besten unter ihnen –i h2 146,12 Sehnsucht] [so wertvollen] Sehnsucht h2 146,15 sprenget] [erbrecht] ! sprenget h2 146,22 während eines Erdbebens] [in einem brennenden Haus] ! während eines Erdbebens h2 146,23-24 und nichts davon […] nichts von ihr] [und seit Babels Zeit haben unsere Sohlen keinen andern als zitternden Boden gekannt. Ihr redet von unserer Sehnsucht mit unkeuschen Lippen; sie ist andern Wuchses und Sanges als die eifrige Unzufriedenheit, die ihr seit drei und dreiviertel X ihr vermeint. Wohl wollen wir nicht länger das unwirkliche, das gespenstische Leben ertragen] ! und nichts davon […] nichts von ihr h2 146,29 sie will] sie [hat nicht vergessen] ! will h2 147,6 fremden Volke] Volke h2 147,7 Ansätzen] Anlagen und Ansätzen h2 147,7-9 So ist […] der tragische Konflikt […] entstanden] Das hat […] den tragischen Konflikt […] mitgeschaffen D5, D6, D7 147,15 Nationaldogmatiker] [Nationalisten] ! Nationaldogmatiker h2 147,20 Überlasset es ihr] [Verlanget nicht von ihr, dass sie diesen oder jenen Geist als ihren Geist anerkenne, diese oder jene Idee zur Grundlage ihrer Gemeinschaft mache!] Überlassen es ihr h2 147,27 Wir brauchen] [Ja, das Judentum soll sich verwirklichen, wie jede andere Nation, indem es sein] ! Wir brauchen h2 147,33 Angepaßt] Angepasst [, assimiliert] h2 2

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147,40 heute] in dem Weltkrieg d 147,41-148,1 inappellable Instanz respektiert] entscheidende Instanz angesehen D5, D6, D7 148,2-3 an diesem blutigsten […] Dogmas] [dieser blutigste der Erdentage ist das Ende des krassen Nationalismus] ! an diesem blutigsten […] Dogmas h2 148,4-5 fundamentalen] hfundamentaleni h2 grundlegenden D5, D6, D7 148,5 Menschheitslebens] [allgemeinen Lebens] ! Menschheitslebens h2 148,12 und im Rücken des Absoluten leben] hund im Rücken des Absoluten lebeni h2 148,12 Absoluten] Unbedingten D5, D6, D7 148,17 das säkulare Volk des Geistes] hdas säkulare Volk des Geistesi h2 148,20-21 nie getan] [einstmals nicht getan und werden seine rechtmässigen Führer niemals tun. Nicht Mose und nicht die Propheten X X] ! nie getan h2 148,24 Wir wollen dem Geiste] [Der Geist wird sich durch und eine neue Form, eine neue Wirklichkeit] ! Wir wollen dem Geiste h2 148,26 des Geistes sind] [des Wortes des Geistes] ! [seines neuen Wortes harren] ! des Geistes sind h2 148,37 Und wie könnt ihr] [Und wenn ihr dem Worte lauscht, wie könnt ihr es von Gott selber, von dem jüdischen Gott trennen?] Und wie könnt ihr h2 148,40-41 zurückkehren zu der gläubigen Ergebenheit] [euch mit dem Volk zusammenfinden in der gläubigen Annahme Gottes und seiner] ! zurückkehren zu der gläubigen Ergebenheit h2 148,41-149,2 Nur in diesem, […] bekommen] Und könnt ihr nicht glauben, so müsst ihr doch das Gesetz annehmen, weil ihr nur in ihm, in der einzigen volksgemeinsamen jüdischen Form, mit dem Volk zusammenwachsen [könnt, ihr Lösgelösten], und Boden [der Wirklichkeit mit euren Füssen betreten, ihr Allzugeistigen] unter eure Füsse bekommen könnt h2 149,3 O ihr Sicheren und Gesicherten] [»So kommt es uns heute zu, für den jüdischen Gott gegen euch zu zeugen, ihr [Kleingläubigen] ! stark aber klein Gläubigen! Denn er ist nicht ein Gott, der einstmals schuf und nicht weiter, sondern das Volk bekennt ihn als den, »der an jedem Tage das Werk der Schöpfung erneut«. Und es ist nicht Gott, der einstmals offenbarte und nicht wieder, sondern [er ruft uns aus? dem Propheten] ! der Prophet spricht in seinem Namen: »Gedenkt nicht an das Vormalige, und auf das Einstige besinnet euch nicht, siehe ich mache ein Neues.« So ehrfürchten wir die 1

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Schrift, aber nicht durch die Schriften sind wir mit ihm verbunden,] ! O ihr Sicheren und Gesicherten h2 149,4 berget] niederduckt h2 149,6 unendlichen Tiefe] [ewigen] ! unendlichen Tiefe [und harren der neuen Stimme h2 149,11 eure Fülle] [euren Reichtum] ! eure Fülle h2 149,11-12 euch ist Gott einer] [wir müssen? unseren namenlosen Gott hingeben für euren namentragenden] ! euch ist Gott einer h2 149,15-20 Wirklichkeit eingehen; wie er […] als Worte] [[Wirklichkeit eingehen. Euer Gesetz ist eins, das [einmal gegeben ward und fürder gilt; unser aber schreibt uns der unsichtbar] ! in Büchern geschrieben steht und seither gilt; uns gegeben ward, in Büchern steht und seither gilt; unser aber wird uns allmorgendlich mit schwarzem Feuer auf die weissen Feuer unserer Seelen geschrieben. Euer Gesetz ist ein langes Verzeichnis von Geboten und Verboten] ! Euer Gesetz ist eins, das einmal erlassen wurde, von Mund zu Mund ging, in Büchern aufgezeichnet wurde und seither gilt; es ist ein langes Verzeichnis von Geboten und Verboten und es ordnet euch an, was ihr an jedem Ort und zu jeder Zeit zu tun und was lassen sollt. Unser Gesetz aber ist eins, das jedem echten Juden [mit schwarzem Feuer auf das weisse Feuer seiner] ! in die Seele geschrieben ist und allmorgendlich neu geschrieben wird; [es ordnet nicht an, es kennt keine Gebote und Verbote] ! enthält keine Anordnungen für alle Lebenslagen, [aber es enthält ein Geheiss, dessen Stimme wir nicht entrinnen können, das wir selber] ! uns selber ist angewiesen, sein Geheiss ewig neu im Stoff der Wirklichkeit auszuprägen] ! Wirklichkeit eingehen; wie er […] als Worte h2 149,18 Gegenwart] Menschenwelt 149,19-10 – Größeres als Worte] fehlt D7 149,21-31 Wir ehren […] Gottes stellt] Abschnitt auf separatem Blatt h2 149,24 ungehemmt] [unbehindert, vom Gefühl des Auftrags beflügelt, frei und stark] ! ungehemmt h2 149,30 uns erwehren] [mit eben diesen Waffen bekämpfen. Am schärfsten aber haben wir uns gegen die zu wenden] ! uns erwehren h2 149,33-34 wir Ausschauenden, wir Bettler aber] wir aber h2 149,35-36 , selbst sein […] ausprägen] fehlt h2 149,37-150,7 und meint, den rechten […] Wahrheit gehen] [Ihr habt die Formen; wir sollen die Form erst schaffen. Ihr kennt euren Weg; wir sollen ihn erst ertasten. Aber uns leitet nicht Willkür, sondern tiefe Notwendigkeit. Denn vor unseren Augen brennt der Dornbusch der Menschenwelt; und eine Stimme redet daraus zu uns – Grösseres als

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Worte: Verwirklichung gebietet sie uns, Aufbau der Gottesgemeinschaft, Neubeginn. Wir wollen ihr gehorchen. Wir wollen neu beginnen. Wir wollen den Weg nach Zion, das ist der Weg nach der gelebten Wahrheit gehen. [Wohl können wir auf diesem Weg nicht wie ihr alles mitnehmen, was die religiöse Kraft des Judentums geschaffen hat, sondern müssen scheiden zwischen dem, worin wir die Stimme wiedererkennen, die aus dem Dornbusch redet, und dem, worin wir sie nicht erkennen; aber wir nehmen die religiöse Kraft des Judentums selbst, die schaffende Kraft, in unseren Herzen mit und hoffen auf ihr Werk – das Werk nicht einer Reformation, sondern wahrhafter Erneuerung, die hervorgehen wird aus unserer Verschmelzung mit dem Volke.]] ! und meint, den rechten […] Wahrheit gehen h2 150,4-5 Brechet euch einen Neubruch] Erackert euch einen Acker D7 150,5 »und säet nicht zwischen] säet nicht unter D7 150,17-21 Indem wir die Wege […] In den messianischen] [Ich habe vorher dargelegt, wie im Galuth die Gewalt der fremden Welt die Seelen zwang, ihre Kraft in Einstellung auf das Fremde zu verbrauchen.] In den messianischen h2 150,31 ausgestattet] ausgestattet [, wie sie den territoriumbegabten Völkern naturgemäss fremd bleiben] h2 150,32 gerechteren] besseren h2 150,34-35 einer nationalen Renaissance] heiner nationalen Renaissancei h2 151,1 besondren] [neuen] ! besondren h2 151,5 der Kern] [das Ziel] ! der Kern h2 151,10 von selber bilden.] ergänzt Freilich dürfen wir das nicht so verstehen, als ob eine Wiedergeburt der Sprache sich vollziehen könnte, ohne dass wir an ihr tätig teilnähmen; der Geist kann die Sprache nur bilden, nicht schaffen. Gemeinsamer Geist ohne gemeinsame Sprache wäre stumm; aber gemeinsame Sprache ohne gemeinsamen Geist wäre leer. h2 151,15 zu bemächtigen] zu bemächtigen [und ihn zu durchdringen beginnt] h2 151,23-25 Den Nurpolitikern […] eins wird] In die gleiche Richtung weist eine vertiefte politische Einsicht. Wenn ein jüdisches Gemeinwesen in Palästina errichtet wird h2 151,25 meskin-profane] wesenlose D6 151,28-29 Gemeinwesen, wo Geltung] Gemeinwesen, in dem edle Phrasen und Gesten das unbeeinträchtigte Walten aller niedern Süchte verhüllen, [wo der Geschickte reich, der Reiche mächtig, wo der Nie-

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dere gemein wird, weil er erraffen muss und der Hohe] ! wo Geltung h2 151,33-34 ob es sich auch […] deklariert,] hob es sich auch […] deklariert,i h2 151,34-35 wird das Getriebe der Intrigen es erdrücken] [aus ihm in den Händen der [heutigen Mächte] ! zuständigen Instanzen ein kleiner Pufferstaat, ein interessanter kleiner Korridor, ein unterhaltsamer Spielball werden, und das Getriebe der Intrigen wird es [verschlungen haben] ! [ausgesogen haben] erdrückt haben, ehe noch die stärksten Kiefer zuschnappen h2 151,36-37 kulturelle Leistung] kulturelle Leistung; darauf dürften die zuständigen Instanzen wenig Rücksicht nehmen h2 151,40 Vermählung] [Einswerden von Geist und Volk, gegenseitige] Vermählung h2 151,41-152,2 Es bedeutet […] Moral und Politik.] fehlt h2 152,4 Lebens, der Offenbarung Gottes in der Gemeinschaft] [Lebens in Gott] ! Lebens, der [Verwirklichung] ! Offenbarung Gottes in der Gemeinschaft h2 152,6-7 wie Mose dem Pharao gegenüber] fehlt h2 152,11 Welches andere Volk] Beginn des Textfragments in h1 152,13-14 , tausendfach befleckt, […] unentreißbar] fehlt h1 152,16 schauerweckender] schauererregender D5, D6, D7 152,16-18 schauererweckender Spuren […] Gestaltung ist] ungeheurer Erinnerungen voll und doch wieder soziales Neuland ist h1 auf anderem Blatt alternative Formulierung ungeheurer Erinnerungen voll und zugleich soziales Neuland ist – und doch nicht ganz, weil darin Siedlungen bestehen, einzelne, selbständige Siedlungsgemeinden, die darauf warten, mit gerechter Wirklichkeit gefüllt zu werden, damit das werdende Gemeinwesen sich durch sie damit erfüllt? h1 152,19 Was die abendländischen] davor Überschrift Revolutionäre Kolonisation [Anmerkung Aus dem demnächst erscheinenden Buch »Der heilige Weg«.] Beginn von d2 152,20-21 vermorschte Herrschaftswurzeln] [verwestes Sinnbild] ! vermorschte Herrschaftswurzeln h1 152,24-28 zerrissen; diejenigen […] vergeblich] zerstampft [und der blosse Intellekt das organische Zusammenhangsgefühl] ! [und der allem Verbund mit Organischem beraubte Intellekt der Sieger vergeblich sich bemüht] ! zerrissen; diejenigen […] vergeblich h1 152,26 organischen] organisch-geistigen h2 152,32 entgeistetes] verwesendes h1 [verwesendes] ! [faulendes] ! entwestes h2

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152,33 Zaubernamen] [Prunknamen] ! Zaubernamen h 152,37-38 bestehende Struktur umzubauen] Bestehendes zu ändern h1 152,40 Werk behindern;] Werk behindern; aber in unserem Volksgedächtnis, unserer innerer Geschichte überliefert tragen wir [das Uralte] ! hohes Gebot gemeinschaftsechter, noch unverwirklichter Einrichtung; es gilt das Reine und Ewige dieses Überlieferten vom trübend Zeitlichen zu scheiden und in [die Tat] ! das Werk zu leiten. Was an den [äusseren Einrichtungen so schwer zu vollziehen ist, Sonderung des niedergehaltenen Lebenden vom herrschenden Toten, sollten wie es vom Erbe unserer nicht vollziehen können? [Die wir auf die angstvolle Frage der Stunde ureigne Antwort wissen, die nur durch die Tat sichtbar werden kann, der Krisis der abendländischen Kultur wollen wir dieses Wissen nicht [Textverlust]] h1 152,41 aufzurichten] [aufzubilden] ! aufzurichten h2 153,12 Element] Element, als den Kern künftiger Kristallisationen h2 153,12 Menschheitsrevolution] [Weltrevolution] ! Menschheitsrevolution h2 153,13 wählende] hervorgehoben h2 153,16 nicht Willkür] nicht Willkür [, sondern urtiefe Notwendigkeit] h2 153,19 »Eine Erneuerung] davor einfacher Absatzwechsel d2 153,19-22 »Eine Erneuerung […], die Auswanderung] [Revolutionär ist das Ziel des Zionismus: Verwandlung des jüdischen Menschen.] Die Auswanderung h2 153,23-24 Selbstverwaltung erscheinen] Selbstverwaltung käme im wesentlichen eine organisatorische, regelnde und keine ideelle, schöpferische Bedeutung zu, wenn sie nicht Mittel zu dem grossen Zweck wären, den ich heute kaum anders benennen kann als vor nahezu zwanzig Jahren: »eine Erneuerung des ganzen Menschen«. Erneuerung, Wiedergeburt, Verwandlung des jüdischen Menschen – um nichts Geringeres geht es h2 153,23-24 erscheinen] darstellen d2 153,25 Lehren] [Religionen] ! Lehren h2 153,29 wieder wirksam gemacht] [reaktiviert] ! wieder wirksam gemacht h2 153,30 erworbene] [eingeborene] ! [naturgewordne] ! erworbne h2 153,30 Streben] Sehnsucht h2 153,31-35 genommen wird, und daß […] Streben] [genommen werde. [Als erworbne Lebensform oder als eingeborne Sehnsucht; die erste will nur wiederangenommen] ! Dabei ist zuvorderst ein Drittes auszuschalten: der [künstliche] ! einsichts- und aussichtslose romantische Versuch, den geistigen Überbau einer Antike allein ohne ihre 1

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natürlichen Lebensgrundlagen wiederherzustellen, also etwa eine »jüdische Kultur« anzustreben, ohne vor allem ein jüdisches Bauerntum zu wollen – da doch Kultur allzeit aus nichts anderem wachsen kann als aus [dem Produktivwerden der] ! der einsetzenden geistigen Produktivität ausgesuchter Bauerngeschlechter. hAls erworbne Lebensform oder als eingeborne Sehnsucht.i h2 153,39 Inbesitznahme wäre] Inbesitznahme eines Verlorenen [darf als Renaissance bezeichnet werden, und eine Renaissance] wäre h2 154,1 Erdgenuß] Erdgenuss [in einer veränderten Welt und aus einer veränderten Seele] h2 154,1-2 eingeborenes Streben] eingeborene Sehnsucht h2 154,2 armselige, […] fiktive] [armselige und scheinhafte] ! armselige, […] fiktive h2 154,3-5 es sich so […] fortsehnte] diese Sehnsucht [nach der wahren Gemeinschaft] wiederaufzunehmen und neu zu üben, sich von neuem nach der wahren Gemeinschaft fortzusehnen h2 154,7-8 wiederbeleben] dem Schein nach [zu reaktivieren] ! wieder wachsen zu lassen h2 154,8 Kundgebungen] [eitler Proklamation] ! Kundgebungen h2 154,9 eingeborenes Streben] eingeborene Sehnsucht h2 154,9-10 Eingebüßtes oder Geschwächtes] Verlornes h2 154,11 mitten im Ringen […] Augenblicks] hmitten im Ringen […] Augenblicksi h2 154,12 Erfüllung] [Verwirklichung] ! Erfüllung der Sehnsucht h2 154,12 furchtbar] fehlt h2 154,14-15 offenbart sich […] Aufgabe] ist der Ort, wo sich der revolutionäre [Charakter] ! Gehalt unserer siedlerischen Aufgabe am deutlichsten offenbart h2 154,16 Beides aber] Beides aber [, ihr Renaissancecharakter und ihr Revolutionscharakter] h2 154,17-18 im alten Judentum war jenes Streben] jene Sehnsucht war auf nichts anderes als auf die Vollendung h2 154,30 menschgewordnen] [zu Gott verklärten, zu seiner Verwirklichung] ! menschgewordnen h2 154,30 gottwollenden] [gottebnenden] h2 154,33 Einatmen] [Erhebung] ! Einatmen h2 154,35 von Gottes Angesicht ist.] aus Gottes Nähe bedeutet. / [Mit der Erde ist zu beginnen.] h2 154,37-155,9 Wenn solchermaßen […] erlöst werden kann.] Abschnitt weder in h1 noch in h2 überliefert 155,14 verklären] erheben D7

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155,36-37 entwachsen […] entwachsen] entbunden […] entbunden d2 155,38-39 faulende Gottesbezeichnungen […] werden kann] die ihnen sinnlose Gottbezeichnungen im Munde führen D7 156,12 gesteigert sind.] Ende von d2 156,15 Auch kann es] Beginn eines weiteren Textfragments h1 156,16 Kommenden] dem kommenden Gemeinwesen h1 156,16 Einzelfügung] Organisationsformen h1 156,21-22 selbstgezogenen] [selbstgesteckten] ! selbstgezogenen h1 156,23 wird es tun.] wird es tun. [Ich stehe dafür ein, dass er es tun wird.] h1 156,39-40 , über alle […] hinaus,] fehlt h1 156,40 Gottes gewärtig.] ergänzt Ein grosses Wissen sagt uns, dass wir in das dritte Reich reiferen, weiteren, e n d g ü l t i g e r e n Sinnes treten als wir einst in das zweite getreten sind. Und über alle gewesene und künftige Enttäuschung hinaus braust das unsterbliche Wort: »Siehe, es kommen Tage, spricht der Ewige, da wird man nicht mehr sagen: So wahr der Ewige lebt, der die Kinder Israel hinausführte aus dem Lande Ägypten, sondern: So wahr der Ewige lebt, der hinausführte und brachte den Samen des Hauses Israels aus dem Land des Nordens und aus allen Ländern der Verbannung.« h1 Wort- und Sacherläuterungen: 125,6 Jesaja 62,10] Die beiden Jesaja-Zitate stammen aus exilisch-nachexilischer Zeit und verweisen auf das zukünftige Heil. In der Verdeutschung durch Buber-Rosenzweig lautet die Stelle wie folgt: »Zieht, / zieht durch die Tore! / bahnet dem Volke den Weg! / dämmet, / dämmet die Dammstraße auf! / räumt die Steine hinweg! / hebt ein Banner den Völkern zu!« (Das Buch Jeschajahu [Die Schrift X], verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Berlin: Lambert Schneider [1930], S. 254.) 125,11 Jesaja 35,8] Abweichend die Buber-Rosenzweig-Übersetzung: »Eine Dammstraße wird dort sein, ein Weg, / Weg der Heiligung wird er gerufen«. Ebd., S. 140. 127,3-4 »Drei Reden« (1909-1911, Buchausgabe 1911)] Martin Buber, Drei Reden über das Judentum, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1911; jetzt in: MBW 3, S. 219-256. Bei den Drei Reden handelt es sich um »Das Judentum und die Juden«, »Das Judentum und die Menschheit« und »Die Erneuerung des Judentums«. Vgl. auch den Kommentar in MBW 3, S. 414 ff. 127,6-7 von weiteren drei (1912-1914, veröffentlicht in dem Buch »Vom Geist des Judentums« 1916)] Buber verweist auf die drei Reden »Der

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Mythos der Juden«, »Der Geist des Orients und das Judentum« und »Jüdische Religiosität«. Jetzt in: MBW 2.1, S. 171-179; S. 187-203; S. 204-214. 127,18 »Von einem Juden zu Juden gesprochen«] Vgl. Drei Reden, [Vorbemerkung, S. 7] (jetzt in: MBW 3, S. 219). 127,21-22 »wieder dem tausendfältigen […] Einheit erheben wird«] Zitat aus der Rede »Das Judentum und die Menschheit« Drei Reden, S. 55 (jetzt in: MBW 3, S. 237). 127,25-27 »das Unbedingte im Stoff […] Welt herausmeißeln«] Zitat aus der Rede »Jüdische Religiosität« in: Vom Geist des Judentums. Reden und Geleitworte, Leipzig u. München: Kurt Wolff Verlag 1916, S. 4974, hier S. 74 (jetzt in: MBW 2.1, hier S. 214). 129,21-22 Erbe des klassischen Judentums] Es ist keineswegs klar, was Buber damals unter »klassischem Judentum« verstand, ob nur die alte monarchische Zeit des sogenannten Ersten Tempels, die vor- und nachexilische Zeit als historische Einheit oder nur die nachexilische Zeit des Zweiten Tempels vor seiner Zerstörung im Jahr 70 n. Chr. 129,27-28 Geheimnis der Unmittelbarkeit] Wie andere zentrale Kategorien aus den frühen Schriften Bubers, besonders aus den Reden über das Judentum (vgl. Gershom Scholem, Walter Benjamin. Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a. M. 1976, S. 102 ff., bes. 112 ff.) wird der Begriff der Unmittelbarkeit eine wichtige erkenntnistheoretische Rolle in der damaligen Geschichtsphilosophie Ernst Blochs (1885-1977) spielen. Zum »Urgeheimnis« des hic et nunc vgl. Ernst Bloch, Gesamtausgabe. Band 3. Geist der Utopie (2. Ausg. 1923), Frankfurt a. M. 1964, S. 243 ff. 131,16-18 Nationalismus […] als isolierte Lebensanschauung] Hatte Buber 1914 Nationalismus und Sozialismus zugleich kritisiert (vgl. z. B. »Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform«, jetzt in: MBW 3, S. 135), so versucht er sie hier zum ersten Mal programmatisch zu vereinigen. Sie können eine Synthese in dem Ort finden, den Buber reichlich abstrakt »echtes« Judentum bzw. »wahre Gemeinschaft« oder »heilige Gemeinde« nennt. 131,32 Arbakanfes] Von Hebr.: arba kanfot (»vier Ecken«). Mit diesem jiddischen Wort wird der kleine Gebetsmantel mit Schaufäden bezeichnet, der unter der Kleidung von männlichen orthodoxen Juden ständig getragen wird. Vgl. Num 15,37-41 und Dtn 22,12. 131,37-38 »Genosse am Werk der Schöpfung«] Die Mitwirkung des Menschen am Werk Gottes und die Wechselwirkung zwischen Menschen und Gottheit ist ein verbreitetes kabbalistisches bzw. chassidisches Motiv. Der Anteil des Menschen an der Schöpfung Gottes

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taucht mehrfach in Bubers Schriften jener Jahre auf. Vgl. z. B. Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse (1910), jetzt in: MBW 2.3, S. 70, 72, 117; »Jüdische Religiosität« (1914), jetzt in: MBW 2.1, S. 208; »Mombert«, Der Neue Merkur, 5. Jg., Nr. 11, Februar 1922, S. 770-774, hier S. 771, jetzt in: MBW 7, S. 217-222, hier S. 218; aber vor allem in den Redemanuskripten Drei Reden (1926/27), jetzt in: MBW 2.1, S. 230: »Schöpfung ist Prinzip der Urzeit, aber nicht auf die Urzeit beschränkt. – So heißt es im jüdischen Gebete: täglich erneuert Gott das Werk der Schöpfung. – Der Mensch aber wird Genosse Gottes an diesem Werk.« Dazu ist zu bemerken, dass der Begriff »Genosse« (Hebr. reʿ a) in der Verdeutschung der Bibel durch Buber und Rosenzweig den gewöhnlichen, aus der christlichen Tradition stammenden Begriff des »Nächsten« ersetzt. Vgl. auch »Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee«, in diesem Band, S. 636: »Der Mensch kann Gottes Genosse im Werk der Schöpfung werden.« Vgl. dazu Katherina Westerhorstmann, Das Liebesgebot als Gabe und Auftrag. Moraltheologie im Licht des jüdisch-christlichen Dialogs, Paderborn 2014, S. 48 ff. (Lit.). 132,11-12 »Ihr sollt mir ein priesterlicher Reich […] Volk sein«] Zitat aus Ex 19,6. 132,15 Es heißt aber im Talmud] Zitat von Rabbi Eleazar aus dem Talmud (bShab 88a). Die in dieser Talmudstelle angedeuteten Bibelstellen verweisen auf Ex 24,7 bzw. Ps 103,20. In der deutschen Übersetzung von Lazarus Goldschmidt lautet die Stelle wie folgt: »R. Eleazar sagte: Zur Stunde, da die Jisraéliten das Tun früher als das Hören zugesagt hatten, ertönte eine Hallstimme und sprach (zu ihnen): Wer hat meinen Kindern dieses Geheimnis verraten, dessen sich die Dienstengel bedienen? Denn es heißt: preiset den Herrn, ihr, seine Engel, starke Helden, die ihr seinen Befehl tut, die Stimme seines Wortes zu hören; vorher tun und nachher hören.« BT, Bd. I, S. 695. 134,4 in dem ein Eidos] Auf Griechisch bedeutet εἶδος »Gestalt, sichtbare Form, Schein«. 134,11 der Demos, das »große Tier«] Auf Griechisch bedeutet δῆμος »Volk, Bevölkerung«. Die antiken Sophisten und Philosophen bezeichneten das Volk als »großes Tier« (vgl. z. B. Plato, Politeia, Sechstes Buch 493c). Es ist bemerkenswert, dass Carl Schmitt knapp zwei Jahre danach dieselbe Bezeichnung verwendet. Vgl. Carl Schmitt, Die Diktatur: von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedanken bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 1921, S. 10: »θηρίον ποικίλον καὶ πολυκέφαλον«. 134,16 Idee des rhythmischen Ausgleichs] Anspielung auf das Erlassbzw. Jubeljahr nach dem Torah-Gebot von Lev 25,8-55.

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134,25-26 »Und das Land […] bei mir.«] Lev 25,23. 134,29 die Idee der Gottesherrschaft] Deutscher Begriff für griech. θεοκρατία (»Theokratie«). Zum ersten Mal entwirft Buber in diesem Abschnitt die radikal theokratische Vorstellung vom »Königtums Gottes«, die er dann, besonders am Anfang der dreißiger Jahre, als persönliche, jüdische Theopolitik entwickelte. Vgl. dazu u. a. das umfassende Werk Königtum Gottes von 1932 (jetzt in: MBW 15, S. 93276) mit der Rede Israel und die Völker von 1933; jetzt in diesem Band, S. 388-411. 134,36 denkwürdigen Szene] I Sam 8,5. 135,3 Geist über Otniel kam] Vgl. Ri 3,9. 135,4 Ehud zum Helfer erweckte] Vgl. Ri 3,15. 135,4 Debora mit Prophetie begabte] Vgl. Ri 4,4. 135,4-5 Gideon von der Kelter wegholte,] Vgl. Ri 6,11. 135,5 Simson im Mutterschoß auserwählte] Vgl. Ri 13,3. 135,6 Samuel sich im Traum offenbarte,] Vgl. I Sam 3,4 ff. 135,9 Söhne zu Richtern] I Sam 8,1. 135,13-14 »Wir wollen sein wie alle Völker«] Vgl. I Sam 8,5. 135,14-16 »Höre auf die Stimme des Volkes […] sie herrsche.«] Vgl. I Sam 8,7. 135,30 Natan] Vgl. II Sam 7.12. 135,30 Achija] Vgl. I Kön 14. 135,31 Elija] Vgl. I Kön 17-22. 135,31 Amos] Vgl. Am 1,1. 135,31 Jeremija] Vgl. Jer 1,3. 135,34 Nichteinhalten des Gebotes vom Freijahr] Vgl. Jer 34,16 ff. 136,37-38 »einen neuen Himmel und eine neue Erde«] Vgl. Apk 21,1. 137,16 hellenistischen Hohenpriesters] Hier spielt Buber auf den Unterschied zwischen Theokratie als religiöse Gottesherrschaft und Hierokratie bzw. »falsche Theokratie« als politische Priestermacht an. Historisch stellt die biblische, von Buber geteilte Vorstellung einer reinen vormonarchischen Theokratie ein blosses Theologumenon dar, das im Grunde genommen eine nachexilische Situation widerspiegelt und als priesterliche, antimonarchische Rückprojektion in die älteste Zeit des Mythos gilt. Eine der ersten historisch-soziologischen Analysen der Hierokratie wurde gerade in jenen Jahren durch Max Weber entworfen, mit dem Buber damals in persönlicher Verbindung stand (vgl. Buber, In Heidelberg, jetzt in MBW 11.2, S. 363). Zum Weberschen Begriff der Hierokratie vgl. den Aufsatz aus dem Jahre 1912-1913: Max Weber, Staat und Hierokratie, in: Max Weber Gesamtausgabe, Band 22/4, Tübingen 2005, S. 564 ff.; diese Abhand-

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lung wurde dann als 11. Kapitel in Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, S. 779 ff. eingegliedert. 137,35 Essäertum] Eine der jüdischen Denkrichtungen aus der hasmonäisch-römischen Zeit, die Flavius Josephus »Philosophien« nennt (vgl. Antiquitates Judaicae 13,171-173; 18,11 ff.). Neben den Essenern werden Pharisäer, Sadduzäer sowie Zeloten als vierte Philosophie aufgelistet. 137,36 Gruppe von »Chassidim«] Auf Hebräisch wörtlich »Fromme«. Damit meint Buber die hebräische Bezeichnung einer antihellenistischen Partei, die in 1 Makk 2,42 als synagoge Asidaion, »Gemeinschaft der Hasidäer«, erwähnt wird. Man vermutet, die Essener hätten sich aus den Hasidäern entwickelt. 138,1 Philo] Buber entnimmt die Informationen über die Essener aus Philo von Alexandrien, Quod omnis probus liber 72-91. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei jedoch um eine pseudepigraphische Schrift, die Philo (um 15/10 v. Chr.-ca. 40 n. Chr.) erst in späterer Zeit zugeschrieben wurde. 139,12 »k o m m e n d e « Welt gegenüberstand] Vgl. Joh 18,36. Buber wird sein großes Projekt der Dreißiger Jahre über den Messianismus mit dem Titel Das Kommende versehen. Dass dieser theologische Begriff in der Weimarer Zeit auch bei Neonationalisten sehr beliebt war, zeigt sowohl die von Ernst Jünger (1895-1998) geleitete Zeitschrift Die Kommenden als auch Die kommende Gemeinde, d. h. die Zeitschrift der Gruppe um Jakob Wilhelm Hauer (1881-1962), der Tübinger Indologe, mit dem Buber in den Zwanziger Jahren befreundet war. Vgl. den Kommentar zu »Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee«, in diesem Band, S. 625 sowie die Literaturangaben im Einzelkommentar zu »Israel und die Völker«. 139,28-29 »Gebt dem Kaiser […] Gottes ist.«] Vgl. Mt 22,21 par. Mk 12,17; Lk 20,25. 140,8 Jochanan ben-Sakkai] Jüdischer Gelehrter aus dem 1. Jh. n. Chr. und Schüler von Hillel. Er gehörte zur ersten Generation der Tannaiten und gründete nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 die Akademie von Jawne. 140,13 Barkochba] Schimon bar Kosiba genannt bar Kochba (»Sohn des Sternes«) lebte im 2. Jh. n. Chr. und wurde in den Jahren 132-135 zum messianischen Führer des zweiten und letzten antirömischen Aufstands. Nach ihm wurde der Prager Studentenverein Bar Kochba benannt, bei dem Hans Kohn und Hugo Bergmann u. a. tätig waren und Buber in den Jahren um 1910 seine berühmten Drei Reden über das Judentum hielt.

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140,15 »Niemand kann zwei Herren dienen«] Mt 6,24 par. Lk 16,13. 140,21 »Widerstrebet nicht dem Übel!«] Mt 5,39. 141,6-7 Augustin, das Reich der auf ewig Verdammten] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 112,36. 141,8-9 Thomas, eine Vorstufe […] wahren Gemeinschaft] Thomas von Aquin (1225-1274); bedeutendster Philosoph der Hochscholastik; bereits 1325 heiliggesprochen, wurden seine Schriften im 19. Jahrhundert von der katholischen Kirche zur Grundlage der christlichen Philosophie und der katholischen Lehre erhoben. 142,7-8 »Denn was ich vollbringe […] das tue ich.«] Röm 7,15. 142,22 »von keiner Sünde wußte«] 2 Kor 5,21. 142,30-31 das Paulinische Zeitalter] Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (1921), Frankfurt a. M. 1996 spricht ebenso von »paulinischen Jahrhunderten« (S. 312) und »paulinischer Epoche« (S. 315-320). Rosenzweig beendete die Niederschrift des Buches zwischen Mitte 1918 und Februar 1919 (Brief an J. Carlebach vom Ende November 1926, FR W i/2, S. 1111) und schickte das Manuskript 1919 an Buber mit einem undatierten Brief, vermutlich vom Ende August 1919 (vgl. B II, S. 54). Es ist also plausibel, dass Rosenzweig, der Buber seit 1914 kannte und im Frühjahr 1919 auf der Suche nach einem jüdischen Verlag für sein opus magnum war, dieses klare Urteil Bubers über das damalige Ende des paulinischen Zeitalters in den Monaten erfuhr, als Buber an seiner Rede »Das Judentum und die wahre Gemeinschaft« 1918 arbeitete bzw. seine Schrift Der heilige Weg im Frühjahr 1919 erscheinen ließ. 143,15-16 die Schechina […] ins Exil gegangen] Die talmudische Literatur stellt die Schechina als die Gegenwart bzw. Herrlichkeit Gottes (kavod jhwh) dar. In den mystischen Strömungen des Judentums (bes. im kabbalistischen Buch Bahir und dem Sohar) gilt die Schechina hingegen als weiblicher Aspekt Gottes. Als Symbol der Versammlung Israels lebt sie wie Israel im Exil. Vgl. z. B. Gershom Scholem, Ursprung und Anfänge der Kabbala, Berlin 1962, Teil 2, Kap. 8. 144,13 tefillinlegend] In der jüdischen Tradition (vgl. Ex 13,9 u. 16; Dtn 6,8; 11,18, wo jedoch der Begriff totafot verwendet wird) bezeichnen »Tefillin« die Gebetsriemen, die im Morgengebet am Werktag angelegt werden. 144,14-16 Eine wundersame Sage […] Volk auf Erden«;] bBer 6a (BT, Bd. I, S. 19); »der Spruch«: Zitat von II Sam 7,23. 144,16-18 eine wundersame Legende […] Boden gefallen!«] Die erwähnte Geschichte wurde von Rabbi Levi Jizchak von Berdyczew (1740-1810) überliefert bzw. ihm unter dem Titel »Gottes Tefillin«

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zugerechnet. Vgl. Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich: Manesse 1949, S. 355 f.; jetzt in: MBW 18.1, Nr. [398]. 144,28 Erew Raw] Vgl. Ex 12,38, wo erew raw gewöhnlich durch den Ausdruck »Pöbelvolk«, »gemischte Leute«, »Mischvolk« übersetzt wird – Buber bedient sich hier der Wendung »Mischbrut«. In der Bibel weist das Wort auf die Nomadengruppe hin, die sich dem aus Ägypten ausziehenden Volk Israels anschloss. Es war nicht möglich, die Sage und den namenlosen Rabbi zu ermitteln, die Buber hier zitiert. 145,4 Vogelnest] Vgl. Sohar II,8a. Das esoterische Sefer ha-sohar (»Buch des Glanzes«) ist eines der wichtigsten Schriften der jüdischen Kabbala. Der Überlieferung zufolge gilt Schimon ben Jochai, Rabbi aus dem 1.-2. Jh. n. Chr., als sein Autor, obwohl solche Zuschreibung nach den modernen Forschungen als pseudepigraphisch gilt, weil das Buch erst im Spanien des 13. Jh. erschien. 145,15 Geheimnisse der Intention] Neben Hitlahavut (»Eifer, Inbrust, Entflammung«), Avodah (»Dienst«) und Schiflut (»Demut«) ist die Kawwanah (»Intention, Ausrichtung, innerliche Sammlung«) einer der wichtigsten Begriffe der chassidischen Lehre. Dazu vgl. z. B. Martin Buber, Die Legende des Baal-Schem, Frankfurt a. M. 1908, S. 22 (jetzt in: MBW 16, S. 169-324, hier S. 187: »Kawwana ist das Mysterium der auf ein Ziel gerichteten Seele«. Im »Geleitwort« zu Der große Maggid und seine Nachfolge, Frankfurt a. M.: Rütten und Loening 1922, S. XXXIX (jetzt in: MBW 17, S. 53-96, hier S. 67) schrieb Buber: »Ein Zaddik sprach: ›Merke wohl, daß das Wort Kabbala von kabbel, aufnehmen, und das Wort Kawwana von kawwen, richten, stammt. Denn der Endsinn aller Weisheit der Kabbala ist: das Joch des Gottesreichs auf sich nehmen, und der Endsinn aller Kunst der Kawwanot ist: sein Herz auf Gott richten. […]‹.« 145,22 Abwehr und Anpassung] In seiner bitteren Beschreibung des historisch mehr und mehr korrumpierten Chassidismus scheint Buber die scharfe Kritik an der katastrophalen Lage von Frauen und Kindern in den chassidischen Höfen vollkommen übersehen zu haben, die Bertha Pappenheim (1859-1936) und Sara Rabinowitsch 1904 im Buchform beschrieben hatten. Vgl. Bertha Pappenheim und Sara Rabinowitsch, Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reiseeindrücke und Verbesserungsvorschläge der Verhältnisse, Frankfurt a. M. 1904 (wiederabgedruckt in: Bertha Pappenheim, Sisyphus. Gegen den Mädchenhandel – Galizien, Freiburg i. Br. 1992, S. 43-106). 145,31 Von Rabbi Jaakob Jizchak von Przysucha] Hier beginnt der dreiseitige Auszug, den Buber Ende 1918 in Der Jude unter dem Titel

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»Wege und der Weg« veröffentlichte (Jg. 3, Heft 8/9, xi-xii 1918, S. 365-368). Er erstreckt sich bis zu den Worten »… verdienten wir nicht mehr zu sein.« (In diesem Band, 148,28.) 145,34-40 »Ich muß daran denken […] Israel tun?«] Vgl. Buber, »Vom Verfall«, in: Die Erzählungen der Chassidim, S. 725 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [1027]). 146,15-16 Bastille des Geistes] Die Wendung »des Geistes Bastille« kommt in Heinrich Heines (1797-1856) Gedicht Deutschland. Ein Wintermärchen (Caput 4, V. 41) aus dem Jahre 1844 vor und bezieht sich mit polemischer Absicht auf den Kölner Dom: »Doch siehe! dort im Mondenschein / Den kolossalen Gesellen! / Er ragt verteufelt schwarz empor, / Das ist der Dom von Cöllen. / Er sollte des Geistes Bastille seyn, / Und die listigen Römlinge dachten: / In diesem Riesenkerker wird / Die deutsche Vernunft verschmachten!« (V. 37-44.) 149,19 Urim und Tumim] Kultische Gegenstände des Hohen Priesters nach Ex 28,30, welche die Funktion eines Orakels innehatten. (Vgl. ebenso Lev 8,8; Dtn 33,8; Esra 2,63; Neh 7,65; Urim werden in Num 27,21; I Sam 14,41; 28,6 erwähnt.) In der Verdeutschung durch Buber und Rosenzweig werden sie durch »die Lichtenden und die Schlichtenden« übersetzt. 150,4-5 »Brechet euch einen Neubruch«] Hos 10,12. 150,5-6 »säet nicht zwischen die Dornen.«] Anspielung auf Mk 4,7 par. Mt 13,7; Lk 8,7. 151,4 der hebräische Humanismus] Dieser Begriff sollte im späteren Werk Bubers eine zentrale Bedeutung gewinnen. Vgl. Martin Buber, Hebräischer Humanismus, Neue Wege 35 (1941), S. 1-11; jetzt in: MBW 20, S. 147-158. 153,19 »Eine Erneuerung des ganzen Menschen«] Vgl. Martin Buber, Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus, in: Die Stimmer der Wahrheit. Jahrbuch für wissenschaftlichen Zionismus, hrsg. von Lazar Schön, 1. Jg. Würzburg 1905, S. 205-217, hier S. 205 (jetzt in: MBW 3, S. 185-204, hier S. 185). 154,15 unserer siedlerischen Aufgabe.] Damals war die Siedlungsbewegung in Deutschland sehr stark verbreitet, und gründete meistens auf der Jugendbewegung. Die jungzionistische Siedlungspolitik von Palästina stellte die jüdische Version dieser breiteren Bewegung dar. 154,39 Grundsätze in weltweiten Zeichen dar:] Diese zehn Grundsätze erinnern an die Thesen Gustav Landauers (Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus. Ein Vortrag, Berlin 1911) und stellen etwa eine religiöse Version der »12 Artikel des Sozialistischen Bundes« dar, die Landauer am 14. Juni 1908 publizierte. Vgl. Gustav Landauer, Die 12

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Artikel des Sozialistischen Bundes, in: ders., Aufruf zum Sozialismus, Frankfurt a. M. u. Wien 1967, S. 187 f. 156,1 In einem Wort lassen sich die Grundsätze] Von da an sind die Schlussbemerkungen zu lesen, die Buber im Frühjahr 1919 abgefasst hat. Worte an die Zeit: Grundsätze Dieser Text und der folgende, der »Gemeinschaft« betitelt ist, gehören als Teile einer Schriftenreihe zusammen, die Buber Anfang 1919 konzipierte und im Laufe des Jahres unter dem Titel Worte an die Zeit in Druck gab. Bereits nach zwei Ausgaben wurde diese Reihe eingestellt. Obwohl die Schrift »Grundsätze« als eröffnender Beitrag gedacht war, erschien zuerst der mittlere Teil von »Gemeinschaft« bereits im Januar 1919 als selbstständiger Text, und zwar in der spätexpressionistischen Halbmonatsschrift Neue Erde (1. Jg., Heft 1), die im Dreiländerverlag in München von Friedrich Burschell (1889-1970) herausgegeben wurde. Dank der Archivarbeit von Paul Mendes-Flohr ist die Liste der weiteren geplanten, aber nie realisierten Beiträge der Reihe bekannt, die in einem Handzettel zu »Gemeinschaft« skizziert wurden: »In Vorbereitung sind u. a. folgende Hefte: Jenseits der Politik, Die Problematik der Kultur, Die religiöse Kraft, Über den Völkern, Vom Wahn der Einrichtungen, Herrschaft und Führung, Das Prinzip der Revolutionen, An die Jugend.« (Vgl. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 176 f., Anm. 237.) Unter der Überschrift Worte an die Zeit findet sich ferner eine zusätzliche Liste im MBA (Arc. Ms. Var 350 008 911), welche weitere Beiträge erwähnt, wie z. B. »Von menschlicher Gemeinschaft«, »Das Zwischenmenschliche«, »Der Aberglaube an die Institutionen«, »Kulturproblematik«, »Volksvertretung und Volksbestätigung« usw. (ebd., S. 177). Als ursprüngliche Schriften der Reihe sind »Gemeinschaft« und »Grundsätze« erstmals in einem Brief an Ludwig Strauß vom 19. Januar 1919 erwähnt. Strauß hatte Buber um einen Beitrag für Die Arbeit, d. h. die zionistische volkssozialistische, von Strauß selbst bis mindestens zum 22. Oktober 1919 geleitete Parteizeitschrift des Hapoël Hazaïr, gebeten. Die Zeit der Abfassung dieser zwei kleinen Schriften fällt also in den Monat vor Bubers Auseinandersetzung mit den jüdischen Führern der Münchner Revolution und der Ermordung Kurt Eisners. So schrieb Buber damals an Strauß: »Ich wäre natürlich gern bereit, Ihnen etwas für die ›Arbeit‹ zu geben – denke ich doch überhaupt daran, dem Hapoël Hazaïr beizutreten als der einzigen Gruppe, die meinem politischen

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Gefühl entspricht – aber etwas speziell dafür schreiben kann ich jetzt nicht. Nicht als ob ich mich vom Gegenwärtigen abgelöst hätte; vielmehr gerade weil ich endlich für meine Äußerung hierzu die Form gefunden habe und nur dieser die ganze noch verfügbare Zeit widmen muß (es ist eine Reihe kleiner Schriften, deren erste ich bereits einem Verlag geschickt habe und an deren zweiter ich arbeite).« (BBS, S. 65 f.) Beide Texte wurden von Buber als »Flugschriften« bezeichnet, die eine mehr religiöse als sozio-politische Prägung aufweisen: »Für die ›Arbeit‹ habe ich noch nichts; meine zwei Flugschriften scheinen mir dafür nicht geeignet, da sie ganz allgemein und zudem religiös gerichtet sind.« (Brief an Ludwig Strauß vom 22. Februar 1919, BBS, S. 67.) Den Kern von »Gemeinschaft« hatte Buber also am 19. Januar fertiggestellt und bereits an Burschell, d. h. an den Dreiländerverlag in München geschickt, damit der Text im ersten Heft der Zeitschrift Neue Erde erscheinen konnte. »Grundsätze« fasste Buber in den letzen Januar- bzw. ersten Februartagen ab, und zwar vor den dramatischen Ereignissen der Münchner Revolution. Friedrich Burschell hatte sich in Berlin, im Seminar von Georg Simmel mit Ernst Bloch und vor dem Krieg in Heidelberg mit Georg Lukács angefreundet (vgl. Friedrich Burschell, Erinnerungen 1889-1919, Ludwigshafen 1997, S. 56 ff. und 76 ff.). Mitte November 1918, als die Revolution in Bayern ausbrach, schloss er sich Kurt Eisner an: »Ich war von dem gerade in seinem Amt am Promenadeplatz installierten Ministerpräsidenten Kurt Eisner gekommen, der mich zu einer Art von militärischem Adjutanten gemacht hatte.« (Ebd., S. 205.) Kurz darauf schloss sich Burschell für die Publikation der von ihm herausgegebenen Wochenschrift Revolution dem Münchener Dreiländerverlag an. Seine Zeitschrift erschien dort »sorgfältig ausgestattet und gut gedruckt. Um sie noch attraktiver zu machen, waren jeder Nummer ein oder zwei Originalgraphiken beigeheftet. […] Auch der Titel wurde geändert. Revolution klang mir denn noch zu laut und kategorisch, zu sehr auf bloße aktuelle Politik gestimmt. ›Neue Erde‹ schien mir besser die damals verbreiteten chiliastischen Erwartungen auszudrücken.« (Ebd., S. 210.) Diesem editorischen Projekt war jedoch nur ein kurzes Leben beschieden: »Streiks, die Einstellung des Postverkehrs und andre Erschwerungen des täglichen Lebens verhinderten das weitere Erscheinen der Zeitschrift. Außerdem war Kurt Eisner Ende Februar 1919 ermordet worden. […] Die Räterepublik, an der ich keinen Anteil haben wollte, folgte bald darauf und rasch dahinter der unbarmherzige weiße Terror, den man aus der unglückseligen deutschen Geschichte kennt oder doch kennen sollte. Damit war die Neue Erde nach drei Nummern [Januar,

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Februar und April 1919] begraben, und ich verließ das mir unleidlich gewordene München.« (Ebd., S. 213.) Die ideologische Ausrichtung der Zeitschrift Neue Erde wurde im Vorwort zum ersten Heft von Burschell selbst dargestellt: »Diese Zeitschrift will die Tendenzen weiterführen, die in den beiden Flugblättern ›Revolution, An Alle und Einen‹ zum Ausdruck kamen. Sie will versuchen, die menschlichen, warmen, gütigen und lebendig-leidenschaftlichen Stimmen zu sammeln, die jenseits des Lärms und der bloßen politischen Betriebsamkeit zum allein Wichtigen aufrufen, zur Revolutionierung des Einzelnen, zur Besinnung, daß entscheidend neue Dinge auf dieser Erde nicht möglich sind, wenn sie nicht zuvor der Bereitschaft und Erneuerung des Herzens entspringen.« (Ebd., S. 210.) Am 10. Mai 1919 schrieb der Verleger Kurt Wolff (1887–1963) an Buber über »den Gesamtkomplex publizistischer Fragen, die wir in den vergangenen Wochen erörtert hatten« (B II, S. 42). Es handelt sich offenbar darum, dass Buber nicht nur die Publikation eines Sammelbuches mit dem Titel Die Gemeinschaft, in welchem Beiträge erscheinen sollten, die laut Wolff unter dem Begriff des »dezentralistischen autonomen Kommunismus« (ebd., S. 43) standen, sondern auch die Gründung einer Reihe »Kultur-Monographien« sowie einer ideologisch entsprechenden »Zeitschrift« vorgeschlagen hatte. Es geht offenbar darum, in einem neuen politisch-ideologischen Rahmen die editorische Operation zu wiederholen, die 1913 beim Verlag Kurt Wolff mit der erfolgreichen Publikation Vom Judentum. Ein Sammelbuch (Leipzig 1913) unternommen wurde. Über die politische Neuorientierung Bubers, die allerdings durch den Begriff »Kommunismus«, wenn auch »autonom«, verfehlt wird, unterrichtet auf jeden Fall die Tatsache, dass sich Buber hier unter dem Zeichen des »Frei-« bzw. »Volkssozialismus« für eine Schriftenreihe engagierte, die »Gemeinschaft« heißen sollte, was nach den Kategorien Bubers als Gegensatz zu der ersten Schriftenreihe Die Gesellschaft gelten kann, die er 1906 beim Verlag Rütten & Loening herausgab (vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 423-428). Da sich Kurt Wolff allerdings nur dazu bereit erklärte, einzig das Sammelbuch zu veröffentlichen, sind die Verhandlungen erfolglos abgebrochen worden. Auf eine vermutlich gegenseitige Abhängigkeit beider Projekte verweist Grete Schaeder: »Buber läßt zwei Heftchen ›Worte an die Zeit‹ erscheinen, die erst im Zusammenhang mit dem vorhergehenden größeren Plan voll verständlich werden: sie waren als eine Art Manifest gedacht, um das sich verwandte Geister sammeln sollten.« (Martin Buber, S. 69.) Der zentrale Teil des zweiten Heftes »Gemeinschaft«, wurde, wie oben erwähnt, im Januar 1919 in der von Friedrich Burschell herausgegebe-

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nen Zeitschrift Neue Erde publiziert. Es ist also plausibel anzunehmen, dass Buber im März bzw. April 1919 dem Verlag Kurt Wolff ein umfassendes editorisches Projekt vorgeschlagen hatte, das entweder auf beiden, teilweise schon abgefassten Flugschriften basierte oder unabhängig von ihnen war und eher zufälligerweise den Arbeitstitel »Gemeinschaft« erhielt. Als die erwähnte Verhandlung scheiterte, wahrscheinlich wegen der politischen, von Wolff als ungünstig empfundenen Ausrichtung des Buberschen Projektes, kam Burschell bzw. der Münchener Dreiländerverlag wieder ins Spiel. Zu diesem Zeitpunkt, d. h. nach der brieflichen Antwort Bubers an Kurt Wolff vom 12. Mai 1919 (B II, S. 45 f.) wurde der Titel Worte an die Zeit konzipiert und der schon im Januar 1919 geschriebene Erstling »Gemeinschaft« durch die einleitenden und abschließenden, im Mai bzw. Juni abgefassten Abschnitte erheblich erweitert. Die Hefte, beide »Flugschriften« Bubers enthaltend, kamen erst im Sommer, und zwar zwischen Ende Juni und Anfang Juli 1919 heraus und übten von nun an ihre Wirkungen aus, wie dem Briefwechsel Bubers zu entnehmen ist. Am 23. Juli 1919 teilte Ernst Michel (1889-1964) dem Autor den Empfang mit: »Ihre ›Worte an die Zeit‹, die mir gestern durch den Verlag zugingen, besonders Ihre Worte über ›Gemeinschaft‹, haben mich tief ergriffen und ich habe Ihnen über den Raum hinweg dankbar die Hand gedrückt.« (B II, S. 51.) Ähnlich schrieb Louise Dumont-Lindemann an Buber am 5. August: »Ihre Worte an die Zeit habe ich mit inniger Dankbarkeit empfangen – zu jedem schrie meine Seele ja! – und ich habe, da ich die Hefte auch schon bestellt hatte, sie auch schon weiter verteilt.« (B II, S. 53.) Am 20. September reagierte Florens Christian Rang, mit dem Buber seit 1914, als beide im Rahmen des Forte-Kreises tätig waren, in guten Beziehungen stand: »Mit großer Bewegung und Anteilnahme las ich endlich heute – gute Worte wollen wie gute Früchte ihrer Lese-Zeit warten – die beiden Hefte der ›Worte an die Zeit‹, die Sie so freundlich mir zugesandt. Ich kann jedem Worte darin zustimmen. Wie Sie wohl auch dem Gefühl zustimmen werden, daß dies Gemeinschafts-Begehren auch noch nicht das volle, das verwirklichende ist: erst Wort vor und statt Tat. Aber, setze ich hinzu, vor Tat dennoch als schon vorbereitend. Es sind stärkende Worte … stärkend zu dem Entschluß, wenn sein Moment – sehnlich erhofft, gefürchtet trotzdem – endlich erglänzt.« (B II, S. 59 f.) In der Zeitschrift Der Morgen wird dann im Februar 1938 unter demselben Titel »Worte an die Zeit« eine kleine Sammlung bzw. ein Florilegium von Zitaten aus Bubers bekanntesten Werken veröffentlicht (vgl. Martin Buber, Worte an die Zeit, in Der Morgen: Monatsschrift der Ju-

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den in Deutschland, Jg. 13, 1937-1938, Heft 11, Febr. 1938, S. 456-457). Diese kleine Auswahl, die aber bis auf den Titel nichts mit der Broschüre aus dem Jahre 1919 zu tun hat, ist als Anhang einem preisenden Artikel von Eduard Strauss über die Denkentwicklung Bubers bis 1938 (ebd., S. 453-456) beigegeben. Anlässlich der Emigration Bubers nach Israel ist der Artikel von Strauss etwa als Gruß- bzw. Abschiedswort zu verstehen. Es ist also plausibel anzunehmen, dass diese Auslese von Buberschen Zitaten auf Strauss selber zurückzuführen ist. Textzeuge: D: Worte an die Zeit. Eine Schriftenreihe, Erstes Heft, München: Dreiländerverlag 1919, S. 5-11 (MBB 216). Druckvorlage: D Worte an die Zeit: Gemeinschaft Zur Einleitung vgl. die Ausführungen zum vorigen Text, »Worte an die Zeit. Grundsätze«, in diesem Band, S. 476-480. Textzeugen: h1: unvollständige Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 66); 12 paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit vielen Korrekturen versehen. Die Paginierung umfasst die Ziffern 46-60. Sowohl die Paginierung als auch der Inhalt der zusätzlichen Textabschnitte zu Beginn (vgl. den Variantenapparat, in diesem Band, S. 481-486) weisen darauf hin, dass die Handschrift zu Entwürfen gehört, die den Vorträgen zuzurechnen sind, die dem Text von »Der heilige Weg« zugrunde lagen. Denn auch zu Letzterem liegen alternative Abschnitte mit ähnlicher Paginierung vor. (Vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 447 ff.) Die letzten Seiten, S. 57-60, sind im MBA irrtümlich den Handschriften zu Der heilige Weg zugeordnet (vgl. Arc. Ms. Var 350 05 23), was auch auf die Abhängigkeit bzw. Überschneidung der Texte zurückzuführen sein dürfte. H2: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 66); 21 paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; mit wenigen Korrekturen und einem Titelblatt versehen. d1: »Gemeinschaft«, Neue Erde (Eine Halbmonatsschrift), hrsg. von Friedrich Burschell, I. Jahrgang, Heft 1, Jan. 1919, S. 6-8 (in MBB nicht verzeichnet). Vorabdruck des mittleren Abschnitts, »Eine große

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Begierde […] Menschengeschlechts aufbauen.« In diesem Band, S. 166,31-169,41. D2: Worte an die Zeit. Eine Schriftenreihe, Zweites Heft, München: Dreiländerverlag 1919, S. 7-26 (MBB 217). Druckvorlage: D2 Übersetzungen: Hebräisch: Chavrut, übers. von Zvi Diesendruck, Gvulot. Divre sifrut, 1. Jg. (1920), Heft 5-6, S. 145-154 (MBB 247); Ha-eda, Ma’averot, 3. Jg. (1920), Heft 1-2, S. 94-102 (MBB 249). Variantenapparat: 161,2-15 »Und da […] 21. März 1898.] fehlt h1, H2 162,1 Es ist] davor zusätzliche Abschnitte Aber ist hier in Wahrheit – so möchte gefragt werden – dem Judentum eine Sonderaufgabe vorbehalten? Hat nicht der Wille, die Menschengemeinschaft nach dem Gesetz der Gerechtigkeit umzubauen, die Völkermassen des Abendlands ergriffen? Ist nicht – vom Osten wohl, aber vom europäischen – die Welle der sozialen Realisierung ausgegangen und muss sie nicht, mögen ihr auch die zur Erhaltung der Irrealität verbündeten Gewalten noch so kunstreich Dämme [entgegenbauen] ! entgegenzimmern, morgen das Gelände des Westens überfluten? Wohl waltet in der Bewegung selbst noch Irrtum und Verfehlung; aber muss daraus nicht endlich Klärung, Gestalt, echtes Gebilde einer tellurischen Einung aufsteigen? Kann ein konsolidiertes Judentum dann anderes, Besseres tun als der aufgerichteten Weisung des verwandelten Europa folgen? Kann einem erneuten Palästina dann eine höhere Funktion zufallen als eine ausführende? Der Sturzbach reisst uns mit – wer vermisst sich da noch, von Vorangehen zu reden? / [Uns zu erklären, warum wir uns trotz alledem solcher Rede, solcher Ansage, solchen Aufrufs vermessen dürfen, müssen wir die soziale Geschichte der modernen abendländischen Kultur (die im Typischen vielleicht die jeder Kultur ist) überschauend, die Strecke ihres Ablaufs [abgrenzen] ! bestimmen, die unsere Epoche ist, und damit den historischen Sinn der heute sich vollziehenden Umwälzung aufzeigen.] / Es ist h1 162,1 reifste Einsicht] reifste [, vielleicht die einzige wesenhafte] Erkenntnis h1 162,1-2 als einer g e n e t i s c h e n […] Menschheit] fehlt h1 162,1 einer g e n e t i s c h e n ] [der analytischen] ! einer genetischen H2

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162,5-6 Die Gemeinschaft ist Ausdruck] [Das Zeitalter der Gemeinschaft steht im Zeichen] ! Die Gemeinschaft ist Ausdruck h1 162,7 bindungsgetragenen] [schöpferischen] ! bindungsgetragenen h1 162,9 vorteilsüchtigen] vorteilsüchtigen [; so erscheint die eine als gewordne, die andre als gemachte [Verbindung]] ! Einheit h1 162,10-11 »Damals] [»Die reinen Menschen der Vorzeit handelten ohne Berechnung, suchten nicht Ergebnisse zu sichern, gaben sich nicht mit Plänen ab«, von diesen: »Überlieferung des Wissens führt zur Vorherrschaft des Werkzeugs«] ! »Damals h1 162,12-14 Verstand tauschte […] zu bringen.] fehlt h1 162,14 ist gewachsene Verbundenheit, innerlich] [stellt sich in den natürlichen Formen des Hauses, der Gemeinde, der Landschaft dar] h1 162,15 gemeinsamen Besitz] [Verständnis, Eintracht] ! gemeinsamen Besitz h1 162,17-18 ist geordnete Getrenntheit […] Meinung] [stellt sich in den künstlichen Formen der Großstadt, des Staates, des Weltmarkts dar und wird zusammengehalten] ! durch [Kontrakt] ! Vertrag, Politik, Konvention, öffentliche Meinung h1 162,19-20 »Da kam Verwirrung unter die Menschen«] »Das sind umgekrempte Menschen« h1 162,23 domhaft gewachsene] fehlt h1 domhaft gewachsene und [geglückte] ! geratene H2 162,28 gegliederte] [geordnete] ! gegliederte H2 162,29-36 eine Masse […] schicksalhaft bekundet] [»ein Gewühl von Kräften aufeinander schlagend und aneinander vorbeistürmend ohne Mass und Weg«, von »jagenden, zweckvollen Kräften«, »aneinander vorbeirennend und vorbeigleitend wie ein geschlossener Tanz von Gespenstern«] ! eine Masse […] schicksalhaft bekundet h1 162,37 Moment nun greift] Moment, da die Auflösung der Gemeinschaft durch die Gesellschaft schicksalhaft bekundet erscheint h1 162,37-38 in seiner herrschenden Form] fehlt h1 h in seiner herrschenden Formi H2 163,4 Entwicklungsprozesses] Entwicklungsprozesses [und mit Recht] h1 163,9-10, restlos verwirklicht,] h, restlos verwirklicht,i H2 163,12 Ideologie] [Evolution] ! Ideologie h1 163,13 Gesellschaft] Menschengemeinschaft h1 [Menschengemeinschaft] ! Gesellschaft H2 163,15 ihrer Herrschaft] [ihres Wirkens] ! ihrer Herrschaft h1 163,19 Verderben] Hinmetzelung h1 163,20 entrückt oder von ihr unbemerkt] [unerreichbar] ! entrückt oder von ihr unbemerkt h1

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163,21 Verborgenheit der Bünde und Kameradschaften] Verborgenheit [rebellischer Kameraderien] h1 163,22 Ordnung] Ordnung, der werden will, h1, H2 163,29 allgemeiner] [natürlicher] ! allgemeiner h1 163,30 B e g e b e n h e i t ] [Geschehen] ! B e g e b e n h e i t h1 hervorgehoben H2 163,32-37 und verharrt […] widerstehen können] das sich überall da ereignen kann, do der Staat hinlangt. Diese Bezirke, wo der Staat nicht hinlangt, mögen sie nun [Sekte] ! Genossenschaft oder sonstwie heissen, werden der Allmacht des konsequenten sozialistischen Staats nicht widerstehend können; h1 die Gemeinschaft wird aus ihnen, wo sie doch noch eine organische Grundlage hatte, in esoterisch abgeschlossene Kreise flüchten, die, von aller natürlichen Verleiblichung nunmehr notwendig geschieden, einer wachsenden Intellektualisierung verfallen und damit die Lebensbedingungen der Gemeinschaft vollends aufheben müssten h1, H2 163,32 und verharrt] [das sich überall da ereignen kann, wo der Staat nicht hinlangt] ! und verharrt h1 163,33 – zumeist verkümmerten oder verkümmernden –] h– zumeist verkümmerten oder verkümmernden –i h1 163,36 umfangenden] [Allmacht] ! universalen Macht h1 164,3-165,13 In der Tat […] Revolution geschehe] Man kann zur Gemeinschaft nicht mehr zurückkehren. Aber man kann zur Gemeinschaft vordringen. hWir können nicht hinter die X Gesellschaft zurückgehend; aber wir können über sie hinausgehen. Wir können die primitive Gemeinschaft nicht wiederherstellen; aber wir können einer neueren Gestaltung des sozialen Lebens den Weg bahnen, in der ihr Prinzip der neuen Bewusstheit u. X wiederkehrt. Aller Evolutionismus ist nur für die Vergangenheit gültig und der Einblick in eine verhängnisvolle Entwicklung kann nur unseren dem historisierenden Blick wie Notwendigkeit paradox und fundamentlos erscheinenden Willen stärken und bestätigen, mitzuhelfen, dass die We n d u n g , die wahre Revolution geschehe h1 164,6 Gesonderte] Einzelne H2 164,13 g e w a c h s e n ] nicht hervorgehoben H2 164,14 g e s c h a ff e n ] nicht hervorgehoben H2 164,26 bewußtem Wirken] [neuer Bewusstheit und Durchbildung] ! bewusstem Wirken H2 164,37-38 so oft wahrer Blick seinesgleichen begegnet] [immer wieder Blick in Blick] ! so oft wahrer Blick seinesgleichen begegnet H2 164,38 Einander] [Zwischen] ! Einander H2

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164,41 aller Art] aller Art [, darunter die des herrschenden Sozialismus] H2 165,3-4 Ernst machen, überflammt […] Bogenlichter] die Hand an den Pflug legen, hat das Fünklein Recht behalten H2 165,5 wohl verwendbar] [unentbehrlich] ! wohl verwendbar H2 165,19 Denn es ist] Denn [– dies muss nun mit aller Deutlichkeit gesagt werden –] es ist h1 165,20 Machtrausch] [Machtwillen] ! Machtrausch h1 165,21-22 überaus sichtbare und wirksame] sehr sichtbare [, sehr deutliche, sehr mächtige] und wirksame h1 165,27-28 und alsdann […] ausgesetzt ist] fehlt h1 165,34-35 Gewalt] äusserer Macht h1 [äusserer Macht] H2 165,36 und zu führen] fehlt h1 und zu führen [ – sie im gleichen Masse, wie sie ihr Werk tut, der äussern Sinn und Bestand entzieht – ] H2 165,37 Einrichtungen] Institutionen h1, H2 165,40 Einrichtungen] Institutionen h1, H2 166,8-11 der Homunkulus […] verkümmerten] fehlt h1 166,8 der Homunkulus] [das »Ungeheuer«] ! der mechanische Homunkulus H2 166,15-16 ihnen allen Blut, […] es gilt] fehlt h1 166,18 gespenstische Tatsache] [Realität] ! gespenstische Tatsache h1 166,19 scheinorganischen Mechanismus] höchstleistungsfähigen Teilen h1 166,21-23 und sein Bewegungssystem […] angeglichen] fehlt h1 166,25 Erneuung] Erneuung des kranken Organismus h1 166,25 in all ihren Formen] fehlt h1 166,29 das lächelnd zusieht] [um dessen mächtigen Wuchs das] ! das lächelnd zusieht h1 166,33-34 in die Unmittelbarkeit […] gebettet und] hin die Unmittelbarkeit […] gebettet undi h1 166,38 mitten im Getriebe] [im Angesicht des] ! mitten im jagenden Getriebe h1 167,11 Gemeinschaften] [Zellen der Gemeinschaft] ! Gemeinschaften h1 167,11-12 Zellenorganismen unmittelbaren Miteinanderseins] [Einheiten unmittelbaren Beziehung] ! Zellenorganismen unmittelbaren Miteinander h1 167,21 Diese] Diese [müssen die Stätten werden, in denen das Leben der Menschen zu seiner Fülle kommt] h1 167,23 unzeitgemäßen] [dürftigen] ! unzeitgemäßen h1

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167,24-25 seelenbegabter Wesen] [der Menschen] ! seelenbegabter Wesen h1 167,27-35 Hier allein […] Glaube gedeihen. ] fehlt h1 167,27 allein können die inneren Bindungen] [müssen die Grundlagen] ! allein können die inneren Bindungen h1 167,35 Brüderschaften] [religiösen Einungen] ! Brüderschaften h1 168,7-8 organischen Willenssphären] Lebenssphären h1 168,12-17 Nur der in der Entwicklung […] wahrhaft wollen.] fehlt h1 168,18 Dekretierbar ist die Autonomie überhaupt nicht. Sie kann] Die Autonomie kann h1 168,28 tut not] tut ein [Ungeheures] ! Unerhörtes not h1 168,29-32 sich vieler privaten Vorteile […] Menschenscharen] fehlt h1 168,34-36 , – vielmehr wie sie sich […] gedenken] fehlt h1 168,37 Haus gründet] Haus gründet [wohl, dass sie der künftigen Gemeinschaft, der wahren Gemeinschaft dienen, die der Gläubige Gott dient] h1 168,41-169,1 einer rechten Gemeindeversammlung] seinen Rat h1 169,4 ihrem Wesen nach] Abbruch von h1 169,9-10 – mit Ausnahme […] durchdrangen –] h– mit Ausnahme […] durchdrangen –i h1 169,22 Verleiblichung] Leibwerdung h1 170,2 endgültigen Entgemeinschaftung] [vollkommenen] Entgemeinschaftung h1 170,7 sie zu tun] sie zu wollen. Sie suchen sie; und es ergeht ihnen wie denen die Gott suchen: sie ist nicht aufzufinden, denn sie ist nicht »vorhanden«; sie kann nicht gefunden, sie kann nur getan werdenDie Gemeinschaft wollen heisst sie tun wollen; sie scheinen nicht die Kraft zu haben sie zu tun h1, H2 170,16 umkehren macht: das menschliche Gottwollen] umkehren heisst und umkehren macht: der ihm die Umkehr befiehlt, die ein Vordringen ist h1 170,19-171,12 Wieder meint sie […] Die Menschen] [Sie ist es, die unsterbliche, die heute nur unterirdische, nur dem Tiefenblick erscheinende, in der Welt der Dinge vorerst unwirksame, ihren Traum wunderlich ausstammelnde Bewegung, gegründet auf dem Primat des Geistes als der schöpferischen Kundgebung menschlichen Gottverlangens, getragen von dem Streben aller echten Menschlichkeit nach der wahren Gemeinschaft als der Offenbarung des wieder unbekannten Gottes: sie ist die ewig wiederkehrende. /] Die Menschen h1 171,13 Gott; und alle Begier] [Gott. Aber noch wollen die Menschen nicht Gott] ! Gott; und alle Begier h1

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171,14-20 Aber Gottbegier […] Geist der Wende] Denn nur in ihr kann er zu gegenwärtiger Erfüllung werden – nicht zu Erlebnis: zu Leben. Wenn die Menschen Gott w o l l e n werden, werden sie die Gemeinschaft tun. Wir rufen das Gottwollen, den Geist der Wende h1 Wort- und Sacherläuterungen: 161,7 Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft] Das vollständige Zitat aus Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887), 8. Aufl. (1935), Darmstadt 1963, S. 250 f. lautet wie folgt: »Die Menge gelangt zur Bewußtheit, vermöge einer mannigfachen, durch Schulen und Zeitungen eingegebenen Bildung. Sie erhebt sich vom Klassenbewußtsein zum Klassenkampf. Der Klassenkampf mag die Gesellschaft und den Staat, welche er umgestalten will, zerstören. Und da die gesamte Kultur …«. 161,12 Landauer, Aufruf zum Sozialismus] Vgl. Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus. Ein Vortrag, Berlin 1911, S. 154. 161,15 Tolstoi, Tagebuch: 21. März 1898] Zitat aus den 1923 beim Diederichs Verlag neu erschienenen Tagebüchern Leo Tolstois (18281910) in deutscher Übersetzung. Vgl. Lev Nikolaevič Tolstoi, Tagebuch. Erster Band 1895-1899, Jena 1923, S. 123. Diesem Zitat aus der Notiz vom 21. März werden folgende Überlegungen vorangestellt: »Die Sozialisten werden die Armut, die Ungerechtigkeit der Ungleichheit der Fähigkeiten nicht abschaffen. Die Stärksten, Klügsten werden immer die Schwächsten, Dümmsten ausnutzen. Gerechtigkeit und Gleichheit der Güter kann man durch nichts geringeres als durch das Christentum erlangen, d. h. durch Selbstverleugnung und Anerkennung dessen, daß der Sinn des eigenen Lebens darin besteht, den anderen zu dienen. […] Kluge Sozialisten sind sich darüber klar, daß zur Erreichung ihres Zieles vor allem notwendig ist, die Arbeiter geistig und physisch zu heben. Das ist nur durch religiöse Erziehung zu erreichen; aber das geben sie nicht zu, und deshalb ist alle ihre Mühe vergebens.« Ebd., S. 122. 162,10-20 »Damals wurde nichts so gemacht […] unter die Menschen«] Nicht nachgewiesen. 162,23-28 »einen engen Verband […] von Individuen«] Vgl. Peter Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (1902). Gustav Landauer gab 1904 eine autorisierte dt. Ausgabe im Theodor Thomas Verlag in Leipzig heraus (Zitat auf S. 171). 162,29-33 lauter freien Personen […] (Tönnies).] Zitat aus Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 246.

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163,41-164,2 »keine Rückkehr mehr […] Ursprünglichkeit.«] Nicht nachgewiesen. 166,31 Eine große Begierde] Hier beginnt der Auszug »Gemeinschaft«, den Buber bereits im Januar 1919 in der Zeitschrift Neue Erde erscheinen liess. Vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 476 ff. 167,1 die trübäugige Lea] Vgl. die Bibelstelle von Gen 29,17, wo Lea, die älteste Tochter Labans, der schönen Schwester Rachel gegenübergestellt wird. Der Text berichtet: »Die Augen Leas waren schwach und Rachel war schön.« 169,34-35 seiner »unpolitischen« Sphäre] Zum Zeitpunkt als Buber diese Worte abfasste war der Begriff des »Unpolitischen« durch Thomas Manns im Herbst 1918 erschienene Schrift Betrachtungen eines Unpolitischen geläufig, weshalb vermutet werden kann, dass Buber den Begriff nicht zufällig gebraucht. 169,40-41 Menschengeschlechts aufbauen] Hier endet der in der Zeitschrift Neue Erde veröffentlichte Auszug »Gemeinschaft« vom Januar 1919. 170,25-26 Karma […] »Kampf ums Dasein«] In den philosophischen und religiösen Lehren Indiens bedeutet Karma »Tat, Handlung« und insbesondere »Ritus, religiöse Handlung«. Auf Griechisch ist mit dēmiourgós ganz allgemein der produktive Arbeiter oder Handwerker als »Urheber« gemeint, in der Philosophie Platos (ca. 428-348 v. Chr.) hingegen weist der Begriff auf den Schöpfergott hin, der nach rationalen Prinzipien die Welt gestaltet. In der griechischen Mythologie ist Moira bzw. sind die drei Moiren Schicksalsgöttinnen. Nachdem der Begriff struggle for existence (»Kampf ums Dasein«) von Charles Darwin (1809-1882) (On the Origin of Species, 1859, Kap. 3) und Alfred Wallace (1823-1913) in die Wissenschaft des 19. Jh. eingeführt wurde, wurde er bald als Grundlage einer sozialdarwinistischen Weltanschauung benutzt, die besonders von Herbert Spencer (1820-1903) vertreten wurde und im Buch von Thomas Henry Huxley (1825-1895), The Struggle for Existence in Human Society (1888) zum klarsten Ausdruck kam. Nicht zuletzt als Kritik an dieser zum modischen Schlagwort gewordenen Vorstellung verfasste Peter Kropotkin 1902 sein schon zitiertes Hauptwerk Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt.

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Landauer und die Revolution Bei diesem Text handelt es sich um eine Gedenkschrift, die Buber für den kurz zuvor ermordeten Freund Gustav Landauer verfasste. Sie erschien im September-Sonderheft der seit fast 15 Jahren existierenden Zeitschrift des Düsseldorfer Schauspielhauses Masken, das ausschließlich dem Tod und der Persönlichkeit Landauers gewidmet wurde, nachdem andere Schriften Landauers in den vorangehenden Heften publiziert worden waren. Louise Dumont, die gemeinsam mit ihrem Mann Gustav Lindemann das Düsseldorfer Schauspielhaus 1904 gründete und seitdem leitete, war bekannt, wie sehr sich Gustav Landauer für das Theater interessierte. Der Name Landauers taucht in ihren Briefen sehr früh, spätestens seit dem Jahr 1898 auf (vgl. Louise Dumont an Bruno Petermann am 10. November 1898 in: Louise Dumont, Eine Kulturgeschichte in Briefen und Dokumenten. Bd. 1: 1879-1904, hrsg. von Gertrude Cepl-Kaufmann u. a., Essen 2014, S. 227). Im Rahmen der vom Düsseldorfer Schauspielhaus veranstalteten »Morgenfeiern« (vgl. den Kommentar zu »Die Ueberwindung«, in diesem Band, S. 437 ff.) trat Landauer erstmals am 18. November 1917 mit einem Vortrag über Hamlet auf. Seine Begeisterung über die Atmosphäre am Düsseldorfer Theater, die Zeitschrift Masken und die sogenannten »Morgenfeiern« sprach Landauer mehrmals und deutlich aus (vgl. z. B. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen. S. 195 f.). Überraschend erhielt Landauer von Dumont und Lindemann das Angebot als Dramaturg am Theater zu wirken und das Programm der »Morgenfeiern« mitzugestalten, was am 27. Oktober 1918 offiziell beschlossen wurde. Zudem wurde Landauer zum neuen Herausgeber der Masken bestimmt, die er noch mindestens bis Juli 1919 hätte weiter leiten sollen. Als die Revolution in München ausbrach, entschied sich Landauer, sich auf der Seite Kurt Eisners zu engagieren, ohne seine Verpflichtungen und Tätigkeiten am Schauspielhaus zu vernachlässigen. Am 4. Februar 1919 konnte er immer noch schreiben: »Die Leute vom Schauspielhaus sind so charmant, daß sie auch mit meiner Arbeit aus der Entfernung zufrieden sind. Ich bin überdies seit November die meiste Zeit in München, wo ich, ohne mich zu binden, bei der Revolution helfe, solange etwas zu helfen ist.« (Ebd., S. 376.) Im März 1919 traten allerdings Louise Dumont und Gustav Lindemann von der Leitung des Theaters zurück, womit auch Landauers Engagement als Dramaturg, Leiter der Masken und Gestalter der sonntäglichen »Morgenfeiern« hinfällig wurde. Landauer nahm die Nachricht von der zunehmenden Bedrängnis seiner Freunde als »einen Stoß« auf (Brief an

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die Tochter vom 8. Februar 1919, ebd., S. 378), weil er damals im Begriff war, mit seinen Töchtern nach Düsseldorf-Benrath zu ziehen. Am 30. April, d. h. kurz vor Landauers Tod, schrieb Louise Dumont in einem Brief an die gemeinsame Freundin Auguste Hauschner (18501924): »In der Sorge um den Freund haben auch wir schon recht bange Stunden verbracht – wir wissen nichts – die letzten Nachrichten über L.[andauer] gab uns ein in München studierender Neffe, der über seine Gesundheit wenig Gutes sagte, über ›seine erstaunliche Arbeitsleistung, die Tag und Nacht füllte‹ und seine unermeßliche Geduld ›bewundernd‹ berichtete; diese Nachricht ist also auch vor den entscheidenden Ereignissen [d. h. vor dem Putschversuch am 13. April] abgeschickt. Das letzte direkte Wort L.s voll Zuversicht ist vom 3. 4. datiert. Sie wissen doch, daß L. hierher übersiedeln wollte? nachdem er die Dramaturgie und Leitung der Morgenfeiern im Schauspielhaus übernommen hatte; – wir hatten schon – auf seinen Wunsch – ein Haus in B.[enrath] mit einem köstlichen Garten für ihn gemietet so wie: ›er sichs sein ganzes Leben gewünscht hatte‹ –! […] hier wurde uns aus bürgerlichen Kreisen der Vorwurf gemacht: durch Landauers Wirken am Schauspielhaus (das rein geistig fern aller Politik war) in Düsseldorf die Spartakistenherrschaft vorbereitet zu haben! Damit zerfielen unsere letzten Hoffnungen – damit auch Landauers Aussicht auf das ersehnte Haus mit Garten (das gekündigt werden mußte, woraus L. aber keine Belastung erfuhr, – dies zu Ihrer Beruhigung) und nach unserem schmerzlich leidenden Gefühl verschwand die letzte Aussicht auf Ruhe für den Freund!« (Brief Louise Dumonts an Auguste Hauschner vom 30. April 1919, in: Martin Beradt u. Lotte Bloch-Zavřel (Hrsg.), Briefe an Auguste Hauschner, Berlin 1929, S. 189 f.). Am 7. April 1919 wurde die Räterepublik in Bayern proklamiert und Landauer von der neuen Räteregierung als Minister bzw. »Volksbeauftragter für Volksaufklärung« eingesetzt (vgl. die ausführliche Dokumentation in Ulrich Linse, Gustav Landauer und die Revolutionszeit. Die politischen Reden, Schriften, Erlasse und Briefe Landauers aus der November-Revolution 1918/1919, Berlin 1974, S. 223 ff.). Obwohl er sich bald entschied, sein Amt niederzulegen, konnte er seinen Entschluss nicht durchführen, weil die Republikanische Schutztruppe unter politischer Führung des SPD-Vertreters Johannes Hoffmann (1869-1930) am 13. April einen Putsch unternahm, der als Palmsonntagsputsch bekannt wurde. Mehrere revolutionäre Führer wurden in München verhaftet, darunter auch Erich Mühsam (1878-1934), der kurz darauf einen lebhaften Bericht dieser Tage verfasste (Erich Mühsam, Von Eisner bis Leviné. Die Entstehung der bayerischen Räterepublik, Berlin 1929). Landauer be-

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fand sich auf einer Reise und entging so der Inhaftierung. Bald wehrte die kommunistische Rote Garde bzw. Rote Armee den gegenrevolutionären Putschversuch ab und rettete dadurch vorläufig die Räterepublik, die so in ihre zweite, kurze Phase eintrat (Heinrich Hillmayr, Roter und Weißer Terror in Bayern nach 1918, München 1974, S. 50 ff.). Obwohl sich Landauer den in der Regierung zur Mehrheit gewordenen Kommunisten sofort – und später noch einmal am 27. April – zur Verfügung stellte, wiesen die KPD-Vertreter seine Hilfe zurück, was Landauer dazu veranlasste, sich am 16. April von der neuen Räteregierung zu distanzieren (Linse, Gustav Landauer und die Revolutionszeit, S. 248 f.). Die Freunde Landauers befürchteten während der zweiten Hälfte des April und der ersten Woche des Mai 1919, dass Landauers Leben gefährdet sei (vgl. z. B. B II, S. 36-42) – vor allem nachdem zahlreiche Zeitungen antikommunistische Propaganda betrieben und falsche Nachrichten über die angeblich von Landauer selbst erlassenen Gesetze zur Kommunalisierung der Frauen in München publizierten. In jenen Tagen bemühte sich Buber, einen öffentlichen, von prominenten Persönlichkeiten der deutschen Kulturwelt zu unterzeichnenden Appell an die Bayerische Regierung zur Verteidigung Landauers vorzubereiten (vgl. z. B. der Brief Bubers an Auguste Hauschner vom 15. April 1919: »Diesem Ausschuß sollten etwa angehören: Sie, ich, Dehmel, Einstein, Dumont, Mauthner, Mombert, Sußmann. – Wer noch?«, in: Martin Beradt u. Lotte BlochZavřel (Hrsg.), Briefe an Auguste Hauschner, S. 184 f.). Zugleich wurden von verschiedenen politischen Gruppen Telegramme an die Bayerische Regierung Johannes Hoffmanns mit der Bitte versendet, kein Todesurteil gegen Landauer zu vollstrecken. Sie trafen allerdings zu spät ein, weil Gustav Landauer am 1. Mai 1919 in München von Freikorpssoldaten verhaftet, am 2. Mai ins Zuchthaus Stadelheim überführt und hier von jungen Soldaten ermordet worden war. Die erste »offizielle«, wenn auch falsche Nachricht von Landauers Tod, dass er beim Fluchtversuch erschossen worden sei, wurde am 4./5. Mai vom militärischen Ministerium bekannt gegeben. Erst am 13. Mai wurden erste glaubwürdige Details seiner Ermordung publik. Louise Dumont begann in der zweiten Hälfte des Mai damit, im Freundeskreis Landauers nach Beiträgen für eine Sondernummer der Masken zu fragen, die ganz dem Andenken Landauers gewidmet sein sollte. Wegen verschärfter Zensurbestimmungen – über Düsseldorf war der Belagerungszustand verhängt worden – konnte diese Ausgabe nur mit Schwierigkeiten realisiert werden. Am 5. Juni 1919 hatte Buber seinen Beitrag fertiggestellt, wie aus einer etwas kritischen Bemerkung von Louise Dumont zu seinem Aufsatz hervorgeht: »[…] dennoch bin ich

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entschlossen mit jedem Atemzug für die geistige Zukunft der Menschen weiter zu kämpfen, im festen Glauben an sie! Diese unerschütterliche Überzeugung einte mich so sehr mit Landauer, daß ich so gut sein Eintreten in die Münchener Bewegung verstehe; wenn auch ihm die Möglichkeit gering schien, er mußte sie nützen; ich verstehe Bubers Anschauung (in den ›Masken‹) gut – aber ich bin auch da nicht seiner Ansicht – stehe vielmehr ganz absolut auf Landauers Seite; wo nur ein schwacher Schein einer Verwirklichungsmöglichkeit der Idee, die uns leitet, besteht – da muß auch das praktisch Unmögliche versucht werden. Mit all dem, was an Spartakistischem und anderen Versuchen dabei war, hatte L. ja nichts zu tun, er wollte Geistiges bauen – einbauen.« (Ebd., S. 199 f.) Hier bezieht sich Dumont allgemein auf Bubers vorsichtige Betonung der unausweichlichen, jeder Revolution innewohnenden Tragik und Gefährlichkeit, ganz besonders aber auf einen bestimmten Satz: »Der Eintritt Landauers in die Revolution war mir als eine Verfehlung gegen seine Aufgabe erschienen. Sein Eintritt in diese Regierung war gewiß eine Verfehlung gegen die Vernunft.« (Buber, Landauer und die Revolution, jetzt in diesem Band, S. 179.) Neben dem einleitenden Beitrag Bubers erschienen im Sonderheft Beiträge von Margarete Susman (1872-1966) (»Gustav Landauer«), Fritz Mauthner (»Zum Gedächtnis«), Auguste Hauschner (unbetitelt), Eduard von Bendemann (»Erinnerung an Gustav Landauer«) und Raphael Ed. Liesgang (»Ein Fragebogen«). Das Gedenkheft schloss mit Landauers Aufsatz »Vom unstillbaren Verlangen«. Durch Landauer verfestigte sich übrigens die seit 1914 belegte Beziehung zwischen dem Düsseldorfer Schauspielhaus und Buber selbst, der nicht nur am Sonderheft mitwirkte, sondern in den nächsten Jahren mit Louise Dumont und Gustav Lindemann intensiv zusammenarbeitete, zumal sein Schwiegersohn Ludwig Strauß in den 1920er Jahren dort als Dramaturg, Regisseur und Lehrer tätig wurde (zum Verhältnis Bubers zum Schauspielhaus vgl. Freddie Rokem und Heike Breitenbach, Buber und das Theater, in: MBW 7, S. 47 f.). Außerdem gab Buber 1920 die Sammlung der Theateraufsätze bzw. -vorträge heraus, die Landauer ab 1917 über Shakespeares Dramen schrieb resp. hielt, darunter »Coriolan« und »Hamlet, Prinz von Dänemark« – zwei Reden, die Landauer auf den Düsseldorfer Morgenfeiern vortrug (Gustav Landauer, Shakespeare, hrsg. von Martin Buber, Frankfurt a. M. 1920, 2. Ausg. 1962). Am 6. Oktober 1919 schrieb Buber an Hugo Bergmann: »Ich sende Ihnen morgen einige kleine Schriften, die ich kürzlich veröffentlicht habe und lasse Ihnen von Heppenheim aus das Landauerheft der ›Masken‹ zugehen, das auch meine Rede über ihn enthält. Ich weiß nicht, ob sie

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sich dazu eignet ins Hebräische übersetzt zu werden; der darin vorkommende Satz, ›er war wahrhaft Deutscher und wahrhaft Jude‹ wird, so exakt zutreffend er auch ist, da kaum verständlich werden. Aber entscheiden Sie selbst!« (B II, S. 61). Eine hebräische Übersetzung des Textes wurde 1920 in Ha-adama (»Die Erde«), der hebräischen Zeitschrift des Hapoël Hazaïr publiziert. Textzeuge: D: Masken, Jg. 14, 1919, Heft 18/19, S. 282-291 (MBB 221). Druckvorlage: D Übersetzungen Hebräisch: Landauer we-ha-mahpekha, Ha-adama, 1. Jg., Heft 4 (Tevet 1920), S. 477-496 (MBB 248); Landauer we-ha-mahpekha, in: Al Gustav Landauer, in: Gustav Landauer. Bi-mleat esrim schana lehartzacho, hrsg. von Ja’akov Sandbank, Tel Aviv: Ha-merkaz la-tarbut schel histadrut schel ha-ovdim ha-ivriim ha-klalit be-eretz Israel 1939, S. 22-37 (MBB 619); Landauer we-ha-mahpekha, in: Gustav Landauer, in Davar vom 9. u. 30. Juli sowie vom 6. August 1943 (MBB 674a); Landauer we-ha-mahpekha, in: Buber, Netivot be-utopija, Sifrijat da’at, Tel Aviv: Am oved 1947, S. 151-156 (MBB 777). Wort- und Sacherläuterungen: 172,22 Scheinsozialismus] Polemischer Begriff gegen die bolschewistische, zentralistische und bürokratische Version des Sozialismus. Die Spartakisten bzw. Kommunisten der KPD hatten hingegen die erste Phase der Münchner Novemberrevolution vom 7. November 1918 bis 7. April 1919 als »Schein-Räterepublik« bzw. »Literaten-Revolution« bezeichnet, weil diese meist von Intellektuellen, Schriftstellern und Dichtern wie Kurt Eisner, Gustav Landauer, Ernst Toller, Erich Mühsam usw. geführt wurde, keine radikale Sozialisierung der Wirtschaft unternahm und militärisch so gut wie hilflos blieb. Vgl. Mühsam, Von Eisner bis Leviné. Die Entstehung der bayerischen Räterepublik, Berlin 1929, S. 6 und 66. 173,3 Metanoeite] Auf Griechisch bedeutet der Imperativ μετανοεῖτε »kehrt um, tut Buße« (lat. poenitentiam agite) und ist in den Evangelien zu finden. Vgl. Mt 3,2; 4,17; Mk 1,15. 173,28-29 »wir wissen es nicht […] Aufgabe ist«] Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus. Ein Vortrag, Berlin 1911, S. 126. 173,32 »Sozialismus ist Umkehr und Neubeginn«] Ebd., S. 154.

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173,40-174,3 Der »Sozialistische Bund« […] »Der Sozialist«] Die Vorbereitungen zur Gründung des Sozialistischen Bundes wurden im September 1908 begonnen mit dem Ziel »die neuen Gefühle, Agitationen, Losreißungen und Negationen, die Aufbäumungen und den Radikalismus wie chemisch zu verbinden mit dem Kern des Lebens und Wesens, der inneren Ruhe, der ewigen Vergangenheit, dem stillen Frieden der Verbundenheit.« (Zitiert nach Heinz-Joachim Heydorn, »Vorwort« zu Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, Frankfurt a. M. u. Wien 1967, S. 5-46, hier S. 11.) Als Föderation waren die Gruppengemeinden des Bundes keiner Zentralinstanz untergeordnet und orientierten sich an der Struktur der Pariser Kommune von 1871. In wenigen Jahren bildeten sich über 20 Gruppen des Sozialistischen Bundes, dessen Versammlungen bis zu 800 Teilnehmer einbezogen. Presseorgan des Bundes war die 1909 neugegründete Zeitschrift Der Sozialist, für welche Landauer bereits von 1891 bis 1899 als Redakteur gearbeitet hatte. 174,12-13 »eine Kampforganisation […] anderen Staaten«] Das Zitat stammt aus dem Text der wichtigen »Rede von der Reichstagsgalerie«, die allerdings in der Sitzung vom 11. November 1911 gehalten wurde und nicht, wie Buber angibt, im Jahre 1909. Die vollständige Stelle lautet wie folgt: »Der Staat nach außen ist und kann nichts anderes sein als eine Kampforganisation zur Behauptung und Eroberung gegen andere Staaten; und der Staat nach innen ist und kann nichts andres sein als das elendeste und schlimmste Ersatzmittel der natürlichen Ordnungsbünde freier Art, die heute fehlen, und er muß immer wieder die Gestalt annehmen der Kampforganisation der Reichen und Sicherheitsbedürftigen gegen die Armen und Aufsässigen.« Landauer, Rechenschaft, Berlin 1919, S. 68. 174,33 »Keiner ist schuldig […] schuldig.«] Gustav Landauer, Der europäische Krieg (10. August 1914), in: ders., Rechenschaft, Berlin 1919, S. 178 f.: »Es gilt für die einzelnen, gleichviel welche Stellung sie bekleiden, wie für die Nationen: keiner ist schuldig, alle sind schuldig. Alle – auch wir sind schuldig. Noch mehr und das Höchste gesagt: selbst Buddha, selbst Jesus von Nazareth, der Friedens- und Gleichheitskünder, sind von der Mitschuld an dem Furchtbaren, das die Menschheit sich selber antut, nicht freizusprechen.« 174,34-38 »das unstillbare Verlangen […] den Umschwung«] Gustav Landauer, Aus unstillbarem Verlangen, in: ders., Rechenschaft, S. 191 (reproduziert auch in Masken, Jg. 14, 1919, Heft 18/19). 174,41-175,1 den Lear deutete] Gustav Landauer, König Lear, in: ders., Shakespeare. Dargestellt in Vorträgen, 2. Band, im letztwilligen Auf-

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trag des Verfassers hrsg. von Martin Buber, Frankfurt a. M. 1920, S. 80-129 (wiederabgedruckt in Gustav Landauer, Shakespeare, hrsg. von Martin Buber, Hamburg 1962, S. 264-301). 175,2-5 Hamlet deutete, »den geistigen […] zu formen gönnt«] Gustav Landauer, Hamlet, in: ders., Shakespeare. Dargestellt in Vorträgen, 1. Band, Frankfurt a. M. 1920, S. 254 (Ausg. 1962, S. 163). 175,6-9 Briefen aus der französischen Revolution […] eine Hilfe sein«] Es handelt sich um die hellsichtigen Worte, mit denen Landauer im Juni 1918 sein »Vorwort« zum von ihm herausgegebenen Buch abschloss. Vgl. Briefe aus der Französischen Revolution, ausgewählt, übersetzt und erläutert von Gustav Landauer, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1918, S. XXXII. 175,19-22 »ein friedlicher Aufbau […] werden und bleiben«] Landauer, Die Revolution, Frankfurt a. M. 1907, S. 115. Die ganze Stelle, die auf Vorstellungen Proudhons zurückgreift, lautet: »Es wird die Zeit kommen, wo man klarer sieht als heute, was der größte aller Sozialisten, Proudhon, in unvergänglichen, wiewohl heute vergessenen Worten erklärt hat: daß die soziale Revolution mit der politischen gar keine Ähnlichkeit hat, daß sie allerdings ohne vielerlei politische Revolution nicht lebendig werden und bleiben kann, daß sie aber ein friedlicher Aufbau, ein Organisieren aus neuem Geiste und zu neuem Geiste und nichts weiter ist.« Das Buch erschien in der Sammlung Die Gesellschaft, die Buber damals beim Verlag Rütten & Loening leitete. Vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 427. 175,25-33 »ein Aufschwung […] selbst schlagen«.] Ebd., S. 113. 175,35-176,1 »daß die innigsten Vertreter […] Politik verband] Landauer, »Vorwort« in: ders., Briefe aus der Französischen Revolution, Bd. 1, S. XII-XIII. 176,7-25 »Geben wir uns keinem Zweifel hin […] Spur zu sehen«] Gustav Landauer, Italien, in: ders., Rechenschaft, Berlin 1919, S. 164. 176,26-27 und ohne diese vorübergehende Regeneration […] versinken.] Landauer, Die Revolution, Frankfurt a. M. 1907, S. 109. 176,28-31 »die Institutionen […] gefangen sitzt«] Ebd., S. 116. 176,32-35 »käme heute […] sie zielen?«] Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, S. 138. 177,8-11 »sein Leben durch die Tat […] Exempel zu machen«.] Nicht nachgewiesen. 177,21 vor dem Tode Kurt Eisners] Eisner wurde am 21. Februar 1919 in München von dem Nationalisten Anton Graf von Arco (18971945) erschossen, nachdem er in Bern auf dem Sozialistenkongress gewesen war, »wo er den Sozialverrätern der Ententeländer eine Reu-

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und Bittrede für die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund und in seine sozialistische Dependance, die zweite Internationale, gehalten hatte. Mit dieser Rede hatte er sich […] den Haß der deutschen Nationalisten in einem Maße zugezogen, daß sein Leben verwirkt war.« (Mühsam, Von Eisner bis Leviné, S. 21.) Mühsam erklärt weiter: »Eisner wurde bekanntlich auf dem Wege von seiner Amtswohnung zum Landtagsgebäude erschossen, als er – wie bekannt wurde – eben im Begriff war abzudanken und seine ganze Macht dem gegenrevolutionären Parlament auszuliefern. Übrigens war das Attentat nicht die selbstständige Tat des Mörders Arco, wie er behauptet und vom Gericht als erwiesen angenommen wurde, sondern die Teilhandlung eines umfänglichen Komplotts, dem außer Eisner noch Landauer, Levien und ich zum Opfer fallen sollten. Am Tage vor der Tat war nämlich ein Soldat bei meiner Frau gewesen, um zu warnen.« (Ebd., S. 25.) Ähnlich berichtet Ernst Niekisch (18891967): »Die nationalistischen Kreise tobten, die studentische Jugend wurde gegen ihn [Eisner] aufgehetzt. In München bestand eine Geheimgesellschaft, die Thulegesellschaft, der damals neben anderen Alfred Rosenberg, der Verleger Lehmann, die Gräfin Westarp und auch Rudolf Heß angehörten. Hier wurde der Plan geschmiedet, Eisner zu ermorden. […] Die erste Parlamentssitzung wollte er [Eisner] benutzen, um seinen Rücktritt zu erklären. In der Frühe des Sessionstages, des 21. Februar 1919, begab er sich in Begleitung seines Sekretärs Fechenbach und eines Matrosen vom Außenministerium am Promenadenplatz zu Fuß in die nahegelegene Prannerstraße, in der sich das Landtagsgebäude befand. Er bog um die Ecke seines Ministeriums und mußte an einem verschlossenen Toreingang vorübergehen. Im Torrahmen stand ein Mann, den die drei nicht beachteten. Es war ein richtiges Meuchelmörderstück. Eisner brach sofort tot zusammen. Fechenbach griff nach seinem Revolver und schoß auf Arco, auch der Matrose begann auf Arco zu feuern. Von vielen Kugeln getroffen, sank Arco zusammen; doch keine war tödlich gewesen. Im Krankenhaus wurde er wiederhergestellt.« Ernst Niekisch, Gewagtes Leben. Begegnungen und Begebnisse, Köln u. Berlin 1959, S. 50. 177,31-32 am 7. November] An diesem Tag endete in München offiziell die Wittelsbach-Dynastie und als erster Staat in Deutschland wurde Bayern von Kurt Eisner zur Republik bzw. zum Freistaat erklärt. 178,31-32 sich Eisner zur Verfügung stellte] Vgl. den Brief Landauers an Buber vom 22. November 1918: »Dort [in München] bin ich in engstem Einvernehmen mit Kurt Eisner tätig. […] Ich arbeite dort, außer persönlicher Einwirkung, wie Eisner es ausdrückt, ›durch red-

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nerische Betätigung an der Umbildung der Seelen‹. Es läßt sich ausgezeichnet mit ihm zusammenwirken. Sie werden auch aus seinen Proklamationen ersehen haben, wie ›anarchistisch‹ seine Demokratie ist. – Mitwirkung aller in den gegebenen sozialen Gliederungen, kein öder Parlamentarismus.« B II, S. 12 f. 178,33-34 Teilnahme an einer Regierungsverantwortung] Buber bezieht sich hier auf die Teilnahme Landauers an der ersten Phase der Räteregierung vom 7. bis zum Palmsonntagsputsch des 13. April in der Rolle des »Volksbeauftragten für Volksaufklärung«. Zur Reihe seiner Proklamationen, Vollmachten, Erlässe usw. vgl. Linse, Gustav Landauer und die Revolutionszeit 1918/1919, S. 218 ff. 178,35-179,4 am 18. Dezember in einer Rede […] ganz gut wirtschaften.«] Beide Zitate sind folgendem Dokument entnommen: »Der Krieg und die Revolution: Rede vor dem provisorischen Nationalrat des Volksstaates Bayern am 18. 12. 1918«, in: Verhandlungen des provisorischen Nationalrates des Volksstaates Bayern im Jahre 1918/19. Stenographische Berichte Nr. 1 bis 10; 1. Sitzung am 8. 11. 1918 bis zur 10. Sitzung am 4. 1. 1919, München 1919. Der Text dieser Rede wurde zuerst in Erkenntnis und Befreiung, hrsg. von Pierre Ramus, Wien, 1. Jg., 1919, Heft 6/7/9 publiziert, aus welchem Buber wahrscheinlich zitiert, und danach in Linse, Gustav Landauer und die Revolutionszeit 1918-1919, S. 85-99 wiederabgedruckt. 179,7 in einem Brief, die heroische Epoche sei zu Ende.] Vgl. den Brief Landauers an Buber vom 20. März 1919: »Als die heroische Periode zu Ende war und die schimpfliche Episode der Parteiintrige sich an den Tisch ihrer kläglichen Herrschaft setzte, fuhr ich zur Erholung hierher.« B II, S. 33; auch in: Landauer, Sein Lebensgang in Briefen, Bd. 2, S. 401. 179,9-10 »Es gilt […] Revolution lebendig ist.«] Das Zitat stammt aus einem Text, den Landauer zunächst als Brief vom 20. März 1919 an Hans Cornelius (1863-1947) verfasste (ebd., Bd. 2, S. 402). Landauer hatte den Brief nicht abgeschickt, sondern bearbeitet und zehn Tage später als Zeitungsartikel unter dem Titel »Von der Rätedemokratie und dem Weg der Revolution«, in Neue Zeitung, Jg. 1, Nr. 82 (29. März 1919) publiziert. Aus diesem veröffentlichten Aufsatz entnahm Buber die zitierte Stelle, die vollständig lautet: »Wenn wir bloß die wären, die wir als Alltagsmenschen sind, wäre jede Revolution nicht bloß ein verzweifeltes, sondern ein hoffnungsloses Unternehmen; denn wie sollten Verhältnisse geändert werden können, wenn wir unser Verhalten zueinander und zu uns selbst nicht ändern? Die aber, die am ehesten befähigt sind, über den Alltag, über den des

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Durchschnitts und über den eigenen, hinauszusteigen, sind berufen, die Träger der Revolution zu sein; das sind als Einzelne die Geisterfüllten, wie Kurt Eisner einer war, und als Klasse das Proletariat, wenn es vom Geiste der wenigen und von verzweifelter Not seiner Schicksalsstunde zu dem Bewußtsein und Willen gebracht wird, daß es nichts zu verlieren hat als seine Ketten und daß es eine Welt zu gewinnen hat. Es gilt darum, all die Gefahren der Revolution zu sehen und doch weiterzugehen: so lange die Revolution lebendig ist.« 179,15-20 er trat in die erste Räteregierung ein. […] Er verbündete sich mit Menschen] Am 7. April 1919. Hier meint Buber die Kommunisten der KPD. 179,25 Die Tage, die nun folgten] Buber bezieht sich auf die Zeit vom 7. bis 13. April 1919. 179,41-180,2 »Ein Ziel lässt sich […] Gewaltlosigkeit.«] Gustav Landauer, Anarchische Gedanken über Anarchismus, Die Zukunft, Jg. 10, Bd. 37, Nr. 4 (26. Oktober 1901), S. 134-140, hier S. 136: »Die Anarchisten müßten einsehen: ein Ziel läßt sich nur erreichen, wenn das Mittel schon in der Farbe dieses Ziels gefärbt ist. Nie kommt man durch Gewalt zur Gewaltlosigkeit. […] Ich sage damit wahrhaftig nichts Neues; es ist das Selbe, was uns Tolstoi schon lange gesagt hat.« Vgl. Gustav Landauer, Briefe und Tagebücher 1884-1900, hrsg. und kommentiert von Christoph Knüppel, Bd. 1, Göttingen 2017, S. 977. 180,2-6 »Jetzt kann es vielen […] immer zu Gewalt.«] Gustav Landauer, Ein Protest in Volksliedern (1914), in: ders., Rechenschaft, Berlin 1919, S. 166-173, hier S. 169. Das Zitat wird folgendermaßen fortgesetzt: »Gewalt führt nur immer zu Gewalt. Wer aber jegliche Gewalt verwirft, wie wir es tun sollen, der wendet sich von denen ab, die wohl die Gewalttaten ihrer eigenen Nation und ihres Staates verherrlichen, die der Unterdrückten und der wilden Freiheitskämpfer feindlicher Nationen aber beschimpfen.« 180,7 die Nacht nicht vergessen] Auf diese Münchener Nachtgespräche, die am 18. bzw. 19. Februar 1919 stattgefunden haben, bezieht sich Buber in zwei Briefen jener Zeit. Einmal in einem Schreiben vom 22. Februar 1919 an Ludwig Strauß (B II, 29: »es ereigneten sich Nachtstunden von einer apokalyptischen Schwere …«), einmal am 28. April 1919 in einem Brief an den jungen Siegmund Kaznelson (1893-1959): »Über die Unzulässigkeit alles Terrors und den verderblichen Einfluß der Gewaltübung auf die Idee habe ich zu den Münchner Führern kurz vor Eisners Ermordung eine Nacht lang geredet – mit geringem Erfolg; Landauer stellte sich aber ganz auf meine Seite.« Ebd., S. 38.

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180,23-24 »Mein Deutschtum und mein Judentum] Leicht verlesenes Zitat aus Gustav Landauer, Sind das Ketzergedanken?, in: Vom Judentum. Ein Sammelband, hrsg. von Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba, Leipzig 1913, S. 250-257, hier S. 255: »und mein Deutschtum und Judentum tun einander nichts zuleid und vieles zulieb. Wie zwei Brüder, ein Erstgeborener und ein Benjamin, von einer Mutter nicht in gleicher Art, aber im gleichen Maße geliebt werden, und wie diese beiden Brüder einträchtig miteinander leben, wo sie sich berühren und auch, wo jeder für sich seinen Weg geht, so erlebe ich dieses seltsame und vertraute Nebeneinander als ein Köstliches und kenne in diesem Verhältnis nichts Primäres oder Sekundäres.« 180,27-31 ein Brief, den er am 1. Oktober 1918 schrieb […] Blüten getragen] Es handelt sich um einen Brief Landauers an Paula Buber, in dem auch der Tod Georg Simmels kommentiert wird. Der Inhalt wurde von Buber verkürzt wiedergegeben und der Hinweis auf den christlichen Klerus verschwiegen: »Das Folgende will ich Ihnen abschreiben, weil es an versteckter Stelle steht und Ihnen vielleicht in dieser Form nicht bekannt ist. – Görres schreibt im Rheinischen Merkur 1814 in einem politischen Gespräch: ›Karl der Große, erzählt die Legende, erhielt vom griechischen Kaiser die Dornenkrone zum Geschenke, und als der Erzbischof Ebraim in Gegenwart des Klerus den Behälter öffnete, der sie beschloß, da ging ein Duft von ihr aus wie vom Paradiese, und es befruchtete ein Tau vom Himmel das Holz und tränkte es, und es trieb Blüten, und solch ein Licht und ein köstlicher Geruch brach aus den Blumen hervor, daß alle Anwesenden im hellen Lichte standen und die Kirche vom Himmelsduft durchduftet glaubten.‹ Möge die Dornenkrone …« Landauer, Sein Lebensgang in Briefen, S. 266 f. 181,3 Maximus Tyrius […] kommen werden.«] Maximos von Tyros wirkte in der zweiten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. als Redner und Philosoph zuerst in seiner Heimatstadt Tyros und danach in Rom. Das Motto, mit dem Landauer seine Abhandlung Die Revolution (vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 427) eröffnet, ist Maximos’ Hauptwerk Dialéxeis (»Vorträge«) entnommen (aus der Dissertatio 41,4). 181,8 Kirche zu Brescia] Wahrscheinlich verweist Buber hier auf ein Bild, das auch heute noch im rechten Schiff der Chiesa di San Giovanni Evangelista zu Brescia (Lombardei, Italien) zu sehen ist. Es handelt sich allerdings um kein »Wandbild«, wie Buber schrieb, sondern um ein 3,85 x 2,58 Meter großes, von einem imposanten goldfarbigen Holzrahmen eingefasstes Altarbild. Diese Ölmalerei auf Leinwand aus der zweiten Hälfte des 17. Jh. stellt die Diecimila mar-

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tiri del monte Ararat (»Legende von den 10.000 Märtyrern auf dem Ararat-Berg«) dar. Das Motiv der zehntausend Märtyrer, einer mittelalterlichen Legende, die, anders als von Buber angedeutet, nichts mit der Kreuzigung Christi zu tun hat, kam nach Brescia aus Venedig, wo Vittore Carpaccio (1465-1525/26) 1515 ein ähnliches Altarbild mit demselben Sujet im Kloster von Sant’Antonio di Castello realisiert hatte (seit 1838 in der Galleria dell’Accademia di Venezia). Dieser unhistorischen Legende zufolge, die gegen Ende des 14. Jh. erstmals bezeugt ist, bekehrten sich neuntausend römische Soldaten in Armenien zum christlichen Glauben und da sie nicht abschwören wollten, wurden sie gegeißelt und gesteinigt. Da sie aber wunderhaft überlebten, bekehrten sich weitere tausend Soldaten, die dann auf Befehl des römischen Kaisers Hadrian mit den weiteren neuntausend auf dem Ararat-Berg massenhaft gekreuzigt bzw. gepfählt worden seien. Es ist bemerkenswert, dass diese Erinnerung an die Kirche zu Brescia in einem von Werner Kraft (1896-1991) überlieferten Gespräch vom 6. September 1959 wiederkehrt: »Ferner erzählte er [Buber] von einer Kirche in Brescia, dort gebe es ein Bild von einem Anonymus des 14. Jahrhunderts [sic!], auf dem nicht ein Gekreuzigter zu sehen sei, sondern hundert. Das Bild möchte ich sehen. Das ist ein genialer Gedanke, Auflösung der Dogmatik in die lebendige Wirklichkeit.« Werner Kraft, Gespräche mit Martin Buber, S. 54. Der heimliche Führer Dieser Text basiert auf der Rede, die Martin Buber gegen Ende März 1920, d. h. knapp ein Jahr nach der Ermordung Gustav Landauers auf der ersten Konferenz des Hapoël Hazaïr in Prag hielt. Während dieser Zeit kam es zu ersten gewalttätigen Unruhen zwischen Jerusalemer Arabern und der jüdischen Bevölkerung. Darauf verweisen die einleitenden Worte, welche die Redaktion von Die Arbeit, der deutschen Zeitschrift der jüdisch-volkssozialistischen Partei, Bubers Text voranstellte: »Auf der Prager Weltkonferenz unseres Verbandes hat Chawer [Genosse] Martin Buber in der ersten Sitzung im Anschluß an die Ehrung unserer in Palästina gefallenen Chawerim [Genossen] folgende Worte gesprochen« (Die Arbeit. Organ der zionistischen volkssozialistischen Partei Hapoël-Hazaïr, 2. Jg., Juni 1920, Gustav Landauer Gedenkheft, S. 36). Diese Veranstaltung war gleichzeitig als Ehrung für Gustav Landauer gedacht. In seiner Rede bezeichnet Buber hier zum ersten Mal die revolutionären Ereignisse in Deutschland zwischen Ende 1918 und Frühjahr

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1919 mit unverkennbarer Schärfe als »im Grunde nur eine armselige Militärrevolte« (vgl. in diesem Band, S. 182). Mitte Januar 1919 trat Buber der jüdisch-volkssozialistischen Partei Hapoël Hazaïr bei, aus der er bereits 1921 wieder austrat (vgl. Kohn, Martin Buber, S. 174). Anfang Januar 1919 wurde die Zeitschrift Die Arbeit als Presseorgan dieser kleinen Partei in Berlin gegründet, dessen erster Direktor Ludwig Strauß wurde. Diesem teilte Buber schon am 24. Dezember 1918 die Absicht mit, »in einigen Wochen eine Zusammenkunft der sozialistischen Journalisten nach München einzuberufen« (BBS, S. 64). Dafür setzte sich Buber gleichzeitig mit Landauer in Verbindung, um sich dessen Teilnahme an der »Münchner Zusammenkunft« zu sichern und ihm seinen letzten Aufsatz »Die Revolution und wir« zu senden (vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 435). Landauer antwortete am 30. Dezember 1918 und teilte Buber seine Zusage mit: »Dank für den Brief und ›Juden‹, lieber Buber. Zu dem Thema, das Sie in Ihrem Artikel behandeln, wünsche ich mir noch Bestimmteres von Ihnen. – Auf der Tagung sozialistischer Juden will ich, wenn ich in München bin, gerne teilnehmen« (Landauer, Sein Lebensgang in Briefen, Bd. 2, S. 343). Dieses von vielen begrüßte Vorhaben änderte bzw. erweiterte sich bald: »Eine (nichtöffentliche) Konferenz soll voraussichtlich in der zweiten Februarhälfte in München stattfinden.« (Brief Bubers vom 19. Januar 1919 an Moritz Spitzer; B II, S. 27.) Mit der Planung dieser für den deutsch-jüdischen Sozialismus epochalen Konferenz, nahm Buber unmittelbar an der ersten Phase der Münchener Revolution teil. Mitte Februar – genauer zwischen dem 15. und 21. Februar 1919 – verbrachte er eine »tiefbewegende Woche in einem steten Verkehr mit den revolutionären Führern« in München (Brief an Ludwig Strauß vom 22. Februar 1919; B II, S. 29), wo er sich direkt mit ihnen auseinandersetzte. Unmittelbar danach wurde Kurt Eisner, Hauptfigur der ersten Revolutionsphase, am 21. Februar ermordet. Die damals in den jüdisch-sozialistischen Kreisen als katastrophal wahrgenommene Ermordung Eisners hinterließ bei diesen einen tiefen Eindruck und löste Angst aus. Trotzdem hielt man zuerst an der Idee einer für wenige Teilnehmer gedachten Konferenz fest, die in den Ostertagen 1919 einberufen werden sollte. Um das Organisatorische kümmerte sich damals der junge Nahum Goldmann (1895-1982), der als Berliner Mitglied der Hapoël Hazaïr in einem wichtigen Brief an Buber vom 14. März 1919 den geplanten Konferenzverlaufs beschrieb: »Mitte April als Termin für die Konferenz würde uns hier passen. Auch mit München als Ort sind wir einverstanden, obwohl einige an Dresden gedacht haben.

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Aber für Sie, Landauer und die Wiener ist ja München bequemer. Die Pessachtage sind vom 15. bis zum 22. Ich würde Sie bitten, die Konferenz vom 20. bis zum 22. anzusetzen. […] Die Beschaffung eines Lokals wird nicht schwer sein, da wir ja nur einen kleinen Raum brauchen. […] Was die Liste der Einzuladenden betrifft, so bitte ich Sie, jedenfalls gleich die Wiener und Prager zu benachrichtigen. Über die von hier aus Einzuladenden werde ich morgen oder übermorgen mit den Freunden hier sprechen. Ich bin der Ansicht, daß Sie und Landauer die Einladungen unterzeichnen sollen, nicht aber ein Komitee. Programm der Tagung: 1. Palästinafragen. Und zwar würde ich vorschlagen diese in drei prinzipielle Gruppen zu teilen: a. Grundprinzipien des Aufbaus der jüdischen Siedlung b. soziale Fragen c. kulturelle Fragen Evtl. wäre noch die Araberfrage als besonderer Punkt anzusetzen. Der zweite Teil des Programms würde dann die zionistische nationale Politik im Galuth umfassen und zwar: a die außenpolitische Seite b die innerjüdische Seite. Glauben Sie, daß für die einzelnen Punkte Referenten notwendig seien? Besser wäre es vielleicht. Natürlich könnte es sich nicht um Referate handeln, sondern um Einleitung der Ansprachen durch Aufstellung gewisser Thesen. Ich würde vorschlagen, daß Landauer über die Grundprinzipien des Aufbaues der palästinensischen Siedlung spricht evtl. auch über die soziale Frage, für die ich sonst keinen wüßte, Sie über die Kulturfrage.« (B II, S. 31 f.)

Dem Programm zufolge sollte Buber also am 20. April über »kulturelle Fragen« der jüdischen Siedlung in Palästina sprechen, und zwar im dritten thematischen Teil der Tagung. Nach einer Woche, am 20. März 1919 kam Landauers Zustimmung: »Wegen der Konferenz jüdischer Sozialisten hat schon Goldmann an mich geschrieben […]. Eine weitere schriftliche Erörterung scheint mir der persönlichen Aussprache nicht mehr vorausgehen zu brauchen; ich hätte auch keine Zeit dazu. Ich glaube, die Konferenz kann fruchtbar werden; wir beide jedenfalls werden geladen genug sein.« (B II, S. 34.) Die darauffolgenden politischen Ereignisse zwangen die Organisatoren eine Woche vor dem Termin dazu, die Konferenz abzusagen und sie wegen der sich schnell verschlechternden Lage und der Ermordung Landauers am 2. Mai zu verschieben. Von den Münchner Ereignissen entsetzt, schrieb Robert Weltsch am 17. Mai 1919 an Buber aus Wien: »Wie ist es nur möglich, daß so etwas Schreckliches geschehen konnte! Ich bin in diesen Tagen wie verloren und kann es noch immer nicht fassen. Gibt es wirklich so wenig Empfinden für wahrhafte Größe, kann ein so herrliches Leben durch Men-

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schenhand so vernichtet werden! Ich habe selbst hier fast gar keinen Menschen gefunden, der gerade dieses Ereignis in seiner ganzen Schwere gefühlt hätte. […] Aus diesem Ereignis müßte eine Bewegung hervorgehen, ein Bund derer, die niemals so deutlich wußten wie jetzt, daß man es nicht aushalten kann und daß eine Rettung erzwungen werden muß. […] Über die Konferenz werde ich mit den Leuten hier sprechen und Ihnen dann schreiben. In Betracht kommen Bernfeld, Reiner, Czuczka, Erwin Kohn (ein junger, zu unserm engsten Kreis gehöriger sehr begabter Freund).« (B II, S. 48.) Damals war noch nicht festgelegt, wo die Konferenz der Hapoël Hazaïr stattfinden sollte, ob in München, Wien, Prag oder in der Schweiz. Am 5. November 1919 stellte Hugo Bergmann in einem Brief an Robert Weltsch zum ersten Mal fest, dass die Konferenz dazu dienen sollte, verschiedene jüdisch-sozialistische Gruppierungen zu vereinigen: »Ich sende Dir gleichzeitig den Aufruf, den wir drei, Kaplan, Sprinzak und ich an die Gruppe des Hapoel Hazair und der Ze’irei Zion schicken und mit dem wir zu einer gemeinsamen Konferenz der beiden Organisationen zwecks ihrer Vereinigung auffordern. Die Vereinigung soll nach meiner Auffassung der erste Schritt sein zur Bildung einer gemeinsamen Gruppe auch mit den uns nahestehenden Teilen der Poalei Zion, vor allem mit der palästinensischen Achdut Haawoda.« (Hugo Bergmann, Tagebücher & Briefe. Band 1: 1901-1948, hrsg. von Miriam Sambursky, Königstein/TS 1985, S. 129 f.). Ende 1919 wurde beschlossen, dass die Jahreskonferenz aller zionistischen Organisationen in London und die Konferenz der jüdischsozialistischen Parteien im Frühjahr 1920 in Prag stattfinden sollte. Am 6. Januar 1920 konnte Buber an Hugo Bergmann schreiben: »Ungemein freuen würde ich mich, wenn ich mit Ihnen in Prag zusammenkommen könnte. Denn ich nehme an, daß Sie zur Konferenz des Hapoël Hazaïr mitkommen würden.« (B II, S. 63.) Die Antwort Bergmanns kam am 13. Januar: »Ich werde mich bemühen zur Konferenz des Hapoel Hazair zu fahren« (Bergmann, Tagebücher & Briefe, Bd. 1, S. 135), was Bergmann auch tat – unmittelbar vor seiner Auswanderung nach Eretz Israel. Bis Anfang März blieb Buber allerdings unentschlossen, ob er an der jüdisch-sozialistischen Konferenz teilnehmen wollte, weil er gerade mit der Abfassung von Ich und Du beschäftigt war, d. h. mit der Abhandlung, die er gewissermassen mit der Düsseldorfer Rede »Die Ueberwindung« begann, worauf er in einem sehr eigenartigen Brief vom 3. März 1920 deutlich anspielt (vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 439). »Heute möchte ich mich an Sie mit der Bitte um einen persönlichen Rat wenden. Es handelt sich um meine Teilnahme an der Prager Kon-

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ferenz«, schrieb er an den Organisatoren Robert Weltsch. Weiter heißt es: »Ich bin gegenwärtig ganz tief in der Arbeit an meinen religionsphilosophischen Prolegomena und zwar an ihrem schwersten Abschnitt. […] Die Reise nach Prag würde mich aller Voraussicht nach für kürzere oder längere Zeit dieser Möglichkeit entreißen, mindestens für einen Monat (so ist das leider mit mir bestellt). Ich frage mich, ob ich sie trotzdem unternehmen soll. Dagegen spricht vor allem, daß ich in meiner gegenwärtigen Verfassung, ganz auf ein kosmisch-geistiges Geheimnis eingestellt, zwar hier und da Anregungen in jüdischen Angelegenheiten geben kann (sozusagen von einem autonomen Peripheriesegment meines Wesens aus), aber zur zionistischen Sache nichts Wesentliches zu sagen habe. Dafür spräche eigentlich, da ich nicht wirklich nützlich zu sein vermag, nur dies, daß ich gern mit Gordon zusammen wäre, gern auch Hugo Bergmann wiedersähe. Da ich aber 1921 für ein halbes Jahr nach Palästina gehen will [was dann nicht geschah], da ich ferner darauf rechne, Bergmann auf seiner Reise in Deutschland zu sehen, darf auch dies nicht entscheidend sein. Nachdem ich all dies erwogen habe, wende ich mich an Sie mit der Bitte, es ebenfalls zu tun und mir sodann auf Grund Ihrer Kenntnis auch der objektiven Situation zu sagen, ob Sie meine Anwesenheit in Prag für notwendig halten. Sagen Sie ja, so werde ich fahren. Sagen Sie nein, so würde ich Sie bitten, Bergmann und den andern aus diesem Brief so viel mitzuteilen, als Sie für angemessen halten (Bergmann wohl am besten alles); in diesem Fall möchte ich nicht andern Erklärungen geben müssen; auch müßte dafür Sorge getragen werden, daß von Berlin aus rechtzeitig ein Ersatzdelegierter gewählt wird.« (B II, S. 65 f.)

Dieses Zögern verweist darauf, dass Buber nach dem Tod Landauers sowie nach dem blutigen Scheitern der Münchner Revolution und dem raschen Aufkommen eines wütenden Antisemitismus – vgl. den Brief Arnold Zweigs an Buber vom 6. Juni 1919: »Hier, in Tübingen, grassiert eine unvorstellbare Gegenrevolutionsstimmung, die mit Antisemitismus identisch ist« (B II, S. 50) – die Positionen vom Ende 1918 bzw. Anfang 1919 zugunsten jenes Prozesses von »Spiritualisierung« bzw. Verinnerlichung des Sozialismus überwand, der zwar auch bei Buber von Anfang an gegeben war, sich nun jedoch beschleunigte und zu einer dominanten Größe wurde. Offenbar drängte Robert Weltsch Buber so überzeugend zur Teilnahme, dass dieser Ende März in Prag neben der Rede »Der heimliche Führer« sogar einen weiteren Vortrag zu programmatischen Fragen hielt. Hierbei ist bemerkenswert, dass Buber noch zu dieser Zeit nach einer antimarxistischen Synthese zwischen Nationalismus und Sozialismus suchte, die in Palästina Verwirklichung finden sollte. So forderte er die jüdische Jugend dazu auf, den wahren Sozialismus in Palästina durch

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»revolutionäre Kolonialisierung« aufzubauen. Sprachlich näherte er sich dabei dem neunationalistischen »Zeitgeist« der zwanziger Jahre an (vgl. Martin Buber, Al ha-chevra ve-al ha-tzibbur [Über Gemeinschaft und Gesellschaft], Maabarot, Juni 1920; jetzt in: MBW 21: »Wir sind Nationalisten und Sozialisten. […] jedes Volk hat seinen eigenen nationalen Sozialismus« usw.). Nach der Prager Konferenz, und zwar im Juni 1920, erschien dann die Nummer der Arbeit, in welcher die erste Rede Bubers publiziert wurde. Was die zweite Rede angeht, berichtet ein wichtiger Brief vom 14. Juni 1920 an Weltsch sehr ausführlich: »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich der Aufgabe, die Stenogramme zu bearbeiten, entheben würden. Zunächst sind sie sehr unzulänglich, voller Lücken und mit sehr vielen Unrichtigkeiten, und es würde mich viel Mühe kosten, all das zur Not zu ergänzen und zu korrigieren. Wichtiger aber ist, daß mich meine »richtigen« Prager Formulierungen auch nicht mehr befriedigen, und am wichtigsten, daß mir der ganze Gegenstand zur Teilfrage geworden und damit in einem Sinn, den Sie verstehen werden, ferngerückt ist – wie einem der die Linie eines Gebirges entdeckt, die einzelnen Formationen. Ich lebe einen Moment durch, in dem mich alle partiellen Interessen in dem schweren Ringen um das Eigentliche stören. Wenn ich sie doch für eine Zeit alle loswerden könnte! Ich weiß jetzt in Wahrheit, lieber Freund Weltsch, nicht bloß mit Hapoël Hazaïr, sondern auch mit Zionismus – mit Judentum nichts Rechtes anzufangen; und am allerwenigsten mit ›mir‹, das heißt mit dem, was ich bislang geredet und geschrieben habe. / Vielleicht machen Sie es so: Sie oder ein anderer stellen aus den Stenogrammen (die ich Ihnen schicken will, falls Sie sie nicht haben) einen referierenden Auszug zusammen, vielmehr nicht einen Auszug, sondern ein Résumé, und das sehe ich dann, ehe es in Satz geht, durch. Übrigens fehlt im Stenogramm die praktisch belangvollste meiner Prager Reden, die über die Prinzipien zionistischer Politik.« (B II, S. 67.)

Wurde die erste Rede im Juni 1920 in Die Arbeit veröffentlicht, so erschien die auf Hebräisch zusammengefasste zweite Rede unter dem Titel »Über Gemeinschaft und Gesellschaft« zwar zur gleichen Zeit, aber in Maʿ abarot, d. h. in der hebräisch-sprachigen Zeitschrift des Hapoël Hazaïr (jetzt in: MBW 21). »Der heimliche Führer« ist Landauer als dem »Führer des neuen Judentums« gewidmet, zugleich wird in diesem Text aber auch ungewöhnlich oft auf die Tatsache der jüdischen Fremdheit verwiesen, indem Buber betont, dass Deutschland ein »fremdes«, ein »feindliches« Land, »ein fremdes Volk« bzw. einen »fremden Volksorganismus« darstelle (in diesem Band, S. 182). Insbesondere hebt Buber hervor, »sein Herz, das Herz unseres Führers, wurde von der Stiefelsohle eines deutschen Soldaten

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zertreten« (in diesem Band, S. 183). Diese historisch zutreffende Metapher sowie die Betonung der jüdischen Fremdheit Deutschland gegenüber blieb nicht unbemerkt. So schrieb z. B. 1922 der spätere nationalsozialistische Ideologe Alfred Rosenberg (1893-1946): »Als im Frühjahr 1920 ein Zionistenkongreß in Prag stattfand, da hielt der Zionist und deutsche [sic!] Staatsbürger Martin Buber eine Rede auf den während der Niederringung der Münchener Räteregierung im Mai 1919 erschossenen Kommissar Gustav Landauer. Buber meinte voll Haß, Landauer sei unter dem Fußtritt des deutschen Soldaten gestorben, und bedauerte den Mann, der inmitten eines feindlichen Volkes zum Besten der Zivilisation mitarbeiten wollte. Diese Geistesverfassung ist recht charakteristisch. Wer hat wohl aber den armen Landauer gebeten, sich mit an die Spitze einer Revolte zu stellen?« (Alfred Rosenberg, Der staatsfeindliche Zionismus [1922], in: ders., Schriften aus den Jahren 1921-1923, 2. Band, München 1943, S. 22 f.) Ein erster Abdruck von Bubers Rede erschien bereits Anfang April in der Prager Wochenzeitung Selbstwehr. Da sie dort aber lediglich innerhalb des Gesamtberichts und nicht als eigenständiger Text abgedruckt worden ist, wurde als Druckvorlage auf die spätere Ausgabe vom Juni in der Zeitschrift Die Arbeit zurückgegriffen. Textzeugen: D1: Selbstwehr XIV, Nr 14, 2. April 1920, S. 6-7 (in MBB nicht verzeichnet). D2: Die Arbeit II/6, vi.1920, S. 36-37 (MBB 235). Druckvorlage: D2 Übersetzungen: Hebräisch: Ha-manhig ha-nistar, in: Al Gustav Landauer, in: Gustav Landauer. Bi-mleat esrim schana le-hartzacho, hrsg. von Ja’akov Sandbank, Tel Aviv: Ha-merkaz la-tarbut schel histadrut schel ha-ovdim ha-ivriim ha-klalit be-eretz Israel 1919, S. 22-37 (MBB 619). Variantenapparat: 182,1 Der heimliche Führer] fehlt, stattdessen sind die Ausfrührungen Bubers als Redebeitrag in das abgedruckte Sitzungsprotokoll eingebettet D1 182,7 gewesen ist: G u s t a v L a n d a u e r ] gewesen ist. Gustav Landauers D1 183,13 Er schrieb in dieser Zeit] davor Absatzwechsel D1

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Wort- und Sacherläuterungen: 182,2 Chawerim] Pluralform von Chawer, hebräisch für »Genosse«. 182,3 unserer toten Brüder in Erez-Israel] Anspielung auf die Unruhen zwischen Arabern und Juden, die Anfang März 1920 vor der traditionellen muslimischen Nabi-Musa-Prozession in Jerusalem ausbrachen. Am 4. April kam es zu pogromartigen Ausschreitungen. Vgl. Tom Segev, Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, 4. Aufl., München 2005, S. 142 ff. 183,2-3 ein paar andere jüdische Menschen mit ihm.] Gemeint sind hier vielleicht Ernst Toller und Erich Mühsam. 183,13-15 an einen Freund einen Zettel […] Qual!«] Es handelt sich um den Brief Landauers vom 14. April 1919 an Adolf Neumann. Das korrekte Zitat lautet wie folgt: »Welche Arbeit! Welche Qual!« Vgl. Landauer, Sein Lebensgang in Briefen, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1929, S. 416. 183,19 Stiefelsohle eines deutschen Soldaten zertreten.] Buber bezieht sich auf die Umstände von Landauers Tod in Stadelheim. Vgl. Emil Julius Gumbel, Gustav Landauers Ende, Die Weltbühne 20 (1924/25), S. 191-193, wiederabgedruckt in Linse, Gustav Landauer und die Revolutionszeit 1918-1919, S. 258 ff. 183,27-28 für eben diese Woche […] Jugend] Buber bezieht sich auf die Konferenz der jüdisch-sozialistischen Gruppen Deutschlands, die am 20.-22. April in München einberufen und nach dem Putschversuch vom 13. April abgesagt wurde. Die Konferenz sollte von einer Rede Landauers eingeleitet werden. Vgl. den einleitenden Kommentar zu diesem Text. Martin Buber-Abende Der Text dieser fünf Vorträge ist als unveröffentlichtes Typoskript sowohl im MBA in Jerusalem als auch im Leo Baeck Institut in New York erhalten und geht auf eine Reihe von Seminarabenden zurück, die Buber gegen Ende des Jahres 1923 in Zürich gehalten hat. Dank Hans Kohn, der in seiner Biographie Martin Bubers den Inhalt der Vorträge zusammenfasst – Kohn brachte wahrscheinlich auch das in New York erhaltene Typoskript mit, als er 1934 in die USA einwanderte –, können diese genau datiert werden: »Die Darstellung folgt der Niederschrift nach den fünf Besprechungen, die Buber in Zürich am 24., 26., 29. November, 3. und 6. Dezember 1923 über die Gemeinschaft gehalten hat.« (Kohn, Martin

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Buber, S. 351, Anm. zu Seite 210 f.). Ungeklärt blieb bislang jedoch der allgemeine Kontext, in dem diese Vortragsabende veranstaltet wurden. Buber benutzte die Zeit seines Aufenthalts in Zürich im Spätherbst des Jahres 1923 dazu, weitere, von den fünf Vortrags-Abenden unabhängige Vorträge in verschiedenen Zusammenhängen zu halten. So referierte er am 28. November, wahrscheinlich auf Einladung von Leonhard Ragaz, an der Universität Zürich vor der Studentenschaft zum Thema »Wissenschaftliche und religiöse Welterfassung« (vgl. MBW 2.1, S. 218-223). Zudem war Buber bereits im Oktober von Hans Trüb – damals noch Schüler von Carl Gustav Jung (1875-1961) – zu einem Vortrag nach Zürich eingeladen worden, woraufhin Buber am 1. Dezember 1923 in Zürich im Psychologischen Club zum Thema »Von der Verseelung der Welt« sprach (vgl. Judith Buber Agassi, Einleitung zu MBW 10, S. 14 f.; S. 29-36 und Einzelkommentar S. 259). Der Psychologische Club Zürich, am 26. Februar 1916 von Carl Gustav Jung und dessen Frau Emma sowie Toni (Antonia) Wolff, Jungs Mitarbeiterin, gegründet, sollte in späteren Jahren zu einem Forum zur Entwicklung und Verbreitung der analytischen Psychologie Jungs werden. Dort hielt Jung Vorlesungen und Seminare, zudem wurden bald Wissenschaftler aus ganz Europa eingeladen, um dort zu sprechen. Durch unveröffentlichte, im Leo Baeck Institut in New York erhaltene Briefe Bubers an Rosenzweig aus jener Zeit ist ersichtlich, dass er sich fast einen Monat, und zwar vom 22. November bis 10. Dezember in Zürich aufhielt und während dieser Zeit neben den genannten sogar zwei weitere, bislang nicht zu ermittelnde, insgesamt also vier Vorträge unabhängig von den Seminarabenden gehalten haben muss. Buber schreibt: »Lieber Freund – Gestern erhielt ich Deinen Brief vom 28. Dass ich den früheren noch nicht beantwortet habe, liegt an der anstrengenden Art meiner hiesigen Arbeit: in Zürich allein habe ich 4 Vortrags- und 5 Seminarabende: die grösste Hälfte ist vorüber (Ich habe, mit der einfachen Einsicht, die nun gemeinsam ist, stärker gewirkt als ich erwartet hatte.)« (Brief Martin Bubers an Franz Rosenzweig vom 2. Dezember 1923, in Martin Buber Collection; AR 9; Box 1; Folder 6.) Als Schlusssatz des Briefes fügte Buber noch hinzu: »Hier habe ich für den Stern Propaganda gemacht«, womit offenbar das Hauptwerk Rosenzweigs Der Stern der Erlösung gemeint ist. Am unteren Rand einer am 11. November 1923 an Franz Rosenzweig versendeten Postkarte hatte Buber dem Freund die Terminpläne der darauffolgenden Wochen mitgeteilt: »Meine Adresse: vom 16. bis 22.: p. Adr. Herrn Fueter, Bern, Habsburgstr. 12; vom 22. bis zum 6. XII.: p. Adr. Herrn Dr. Rosenbaum, Zürich 1, Stadelhoferstraße 26.« (Buber an Rosenzweig, 11. November 1923, in Martin Buber

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Collection; AR 9; Box 1; Folder 6; Leo Baeck Institut). Bei besagtem Dr. Rosenbaum, bei dem Buber während seines Züricher Aufenthalts wohnte, dürfte es sich um Dr. Wladimir Rosenbaum (1894-1984) gehandelt haben, Sohn eines russisch-jüdischen Rechtsanwalts und Duma-Abgeordneten. Rosenbaum betrieb mit seiner Frau Aline Valangin in Zürich einen Salon, der sich vor allem mit der Avantgarde, insbesondere dem gerade in Zürich entstehenden Dadaismus beschäftigte. Im Zürcher Haus des Paares Rosenbaum wurden angesehene Persönlichkeiten der Kunst- und Kulturszene Europas als Gäste beherbergt wie z. B. Hans Arp (1886-1966) und Max Ernst (1891-1976), Ignazio Silone (19001976) und Ernst Toller, Elias Canetti (1905-1994), Thomas Mann (1875-1955), Hermann Hesse, James Joyce (1882-1941), Kurt Tucholsky (1890-1935) und auch Martin Buber (zum Paar Rosenbaum vgl. Peter Kamber, Geschichte zweier Leben – Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin, 3. Aufl., Zürich 1990; verbesserte Ausg. 2000). Die direkte Verbindung von Frau Rosenbaum zum Psychologischen Club – damals war sie Schülerin und Analysandin Carl Gustav Jungs – hat es sicher ermöglicht, dass Buber bei den Rosenbaums untergebracht wurde. Deshalb ist es auch nicht auszuschließen, dass die Seminarabende Bubers im Haus der Rosenbaums stattgefunden haben. Aus einem Brief Bubers vom 15. Juli 1924 an Ludwig Strauß ist ersichtlich, wer an den Zürcher Seminarabenden Bubers teilgenommen hat. Im Frühjahr 1924 erhielt Buber die Einladung, im Sommer an jenem Seminar in Ascona teilzunehmen, das damals vor allen durch die Jungianer gefördert wurde und als Vorstufe der 1933 durch Olga Fröbe-Kapteyn (1881-1962) initiierten Eranos-Tagungen gelten kann. (Die Materialien dieses Seminars zu Laotse finden sich nun unter dem Titel »Besprechungen mit Martin Buber in Ascona« in: MBW 2.3, S. 227-268; vgl. auch den Kommentar, ebd., S. 379-381.) In seinem Brief vom 15. Juli 1924 berichtete Buber Strauß über das geplante Seminar in Ascona und informierte bei dieser Gelegenheit auch über die Teilnehmer der Seminarabende vom Winter zuvor: »Es freut mich, dass Sie mitkommen wollen. Ich habe es gleich Frau Rosenbaum [d. h. Aline Valangin] in Zürich, die die Vorbereitungen leitet, mitgeteilt und sie ersucht, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen. / Im Seminar soll hauptsächlich (nur am Morgen) Laotse gelesen werden. Teilnehmer sind u. a. Prof. Spoerri, der vortreffliche Romanist der Zürcher Universität, Pfarrer Schädelin aus Bern, vom Barth-Gogarten-Kreis, der Erhebliches über Pascal geschrieben hat; Dr. Maeder, ein von der Freudschen usw. Theorien unabhängig gewordener Psychoanalytiker; Dr. Trüb, bis vor kurzem Vorsitzender des Psychologischen Klubs in Zürich; wahrscheinlich der bekannte Politiker Mühlon, der Sozialist Dr. Erich Katzenstein, ein

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Freund Landauers, der nach der Räterepublik fortmußte; der Rechtsanwalt [Wladimir] Rosenbaum, dessen Schwester Sie ja kennen, mit seiner Frau; sonst noch einige angenehme Frauen. Im ganzen sollen es etwa 25 Menschen sein, größtenteils Teilnehmer meines Züricher Seminars vom Winter, aber auch einige, die ich noch nicht kenne. Außer den Seminarstunden am Morgen kommen alle nur noch zur gemeinsamen Hauptmahlzeit am Abend zusammen.« (BBS, S. 88; vgl. dazu die betreffenden biographischen Anmerkungen S. 308; Hervorhebung von d. Hrsg.).

Inhaltlich sowie sprachlich greifen diese fünf Seminarabende auf Themen zurück, die erstmals in Worte an die Zeit 1919 (vgl. in diesem Band, S. 157-171) und 1923 in Ich und Du behandelt worden waren. Außerdem nimmt Buber hier Fragen vorweg, die dann im Vortrag »Staatsideen, Gemeinschaftsversuche und die menschliche Wirklichkeit« vom 3. Februar 1924 in einem mehr systematischen Rahmen wiederaufgenommen wurden (vgl. in diesem Band, S. 207-221). Einerseits tritt in dieser Textgruppe 1923-1924 die Bedeutung der theokratischen Vorstellung vom Reich Gottes immer mehr in den Vordergrund, vielleicht aufgrund des Einflusses von Leonhard Ragaz, der seine wichtigsten theologisch-politischen Bücher seit 1922 publizierte. Darüber hinaus interessierte sich Buber zunehmend, von der Begrifflichkeit der Staatssoziologie Max Webers ausgehend – von 1921 bis 1922 erschien postum unter dem Titel Wirtschaft und Gesellschaft das Sammelwerk des 1920 verstorbenen Soziologen, – für einen staatsphilosophischen Problemkreis, der seinerzeit auch für den katholischen Rechtsphilosophen Carl Schmitt zentral wurde. Die Auseinandersetzung mit Schmitt unter Bezugnahme auf Weber sollte die zentralen Schriften Bubers zur Theopolitik prägen – Königtum Gottes von 1932 (jetzt in: MBW 15, S. 93-276) und »Israel und die Völker« von 1933 (jetzt in diesem Band, S. 388-411), die insbesondere 1936 in einer expliziten Diskussion des Denkens Schmitts kulminieren (vgl. Die Frage an den Einzelnen, jetzt in: MBW 4). Textzeugen: TS1: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 47d); 29 lose paginierte Blätter, deren Paginierung mit jedem »Abend« neu einsetzt. Das Typoskript ist zweischichtig: TS1.1: Grundschicht. TS1.2: Überarbeitungsschicht: vereinzelte Korrekturen und Ergänzungen von Bubers Hand. ts2: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 47d); 5 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben; ohne Korrekturen. Das Typoskript enthält die vierte Besprechung.

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TS : Typoskript im Leo Baeck Archiv New York (Martin Buber Collection. Box 1, Folder 14); 29 lose paginierte Blätter, deren Paginierung mit jedem »Abend« neu einsetzt. Abschrift von TS1.1. Es handelt sich nicht um einen Durchschlag. 3

Druckvorlage: TS1.2 Variantenapparat: 187,4 Weil er ist.] fehlt TS1.1, TS3 189,15 will dass] berichtigt aus will das 190,4 gebaut] gelernt TS1.1, TS3 191,6 starke Individualitäten] Staatenindividualitäten TS1.1, TS3 193,17 Sternenhimmel] Himmel TS1.1, TS3 193,39 Aeschilos] berichtigt aus Aechilos 194,6-7 In dieser […] Raum] Darin TS1.1, TS3 198,28 Verständnis] Gefühl TS1.1, ts2, TS3 199,25 sind] scheinen mir zu sein TS1.1, ts2, TS3 205,9 die Geburt] fehlt TS1.1, TS3 Wort- und Sacherläuterungen: 186,24-25 Gemeinschaft ist Geschehen um die lebendige Mitte […] Durch das Factum der Radien] Zum Begriff der »Mitte« bzw. der »lebendigen Mitte«, welcher im Denken Bubers keine bloß soziologische, sondern eine erkenntnistheoretische Bedeutung hat und auch in der späteren Produktion Bubers eine zentrale Rolle einnehmen wird, vgl. Martin Buber, Ich und Du (1923), S. 56: »die wahre Gemeinde entsteht nicht dadurch, daß Leute Gefühle füreinander haben (wiewohl freilich auch nicht ohne das), sondern durch diese zwei Dinge: daß sie alle zu einer lebendigen Mitte in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen und dass sie untereinander in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen. Das zweite entspringt aus dem ersten, ist aber noch nicht mit ihm allein gegeben. Lebendig gegenseitige Beziehung schließt Gefühle ein, aber sie stammt nicht von ihnen. Die Gemeinde baut sich aus der lebendig gegenseitigen Beziehung auf, aber der Baumeister ist die lebendige wirkende Mitte«. Die Idee kehrt noch im fünften Zürcher Abend vom 6. Dezember 1923 wieder: »So sich zu berühren mit dem Göttlichen ist das Höchste, das dem Menschen gegeben ist. Auch das Höchste des Menschen ist Begegnung. Hier ist leibhaftige Mitte. […] Aus den Radien zwischen den einzelnen Menschen und der Mitte constituiert sich der Kreis.« (In diesem Band, S. 204.) Zur politischen Deklination dieses Begriffes als Kritik

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des in Palästina praktizierten Zionismus vgl. Martin Buber, Israel und die Völker, Neue Wege, 35. Jg., Heft 3, März 1941, S. 101-113, hier S. 113 (jetzt in: MBW 20, S. 131-143, hier S. 143): »Wir haben gehofft, daß die palästinensische Siedlung die Mitte des jüdischen Volkes werde; aber was ist die Mitte dieser ›Mitte‹ ?« 188,31-32 Die Askese hat ihr Ziel in sich selbst, diese Versenkung ist Abspiegelung] Schon Anfang 1919 hatte sich Buber von asketischen Einstellungen distanziert, indem er auf die Überwindung der Askese im Leben Buddhas verwies. Vgl. Buber, Die Überwindung, jetzt in diesem Band, S. 119. 189,13-14 Die wahre Autonomie weiss, dass der Mensch in der Vorläufigkeit lebe] Vgl. Buber, »Worte an die Zeit: Gemeinschaft«, jetzt in diesem Band, S. 168. 192,18 Ob Steiner mit seiner Dreigliederung] Buber spielt auf die sozialtheoretischen Vorstellungen an, die Rudolf Steiner (1861-1925) 1919 unter dem Titel Die Kernpunkte der Sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft veröffentlichte. Zur Einführung vgl. Christoph Lindenberg, Rudolf Steiner, Hamburg 1992, S. 110 ff. Diesem Konzept der Dreigliederung zufolge sollte der Staat keine einheitliche Führung haben, sondern sich in drei unabhängig geführte Bereiche untergliedern, und zwar in Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben, in denen als führende Werte jeweils Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gelten. Bubers Kritik an Steiner betrifft die Idee des Zentralismus, die dieser folgendermaßen beschreibt: »Die drei Glieder sollen nicht in einer abstrakten, theoretischen Reichstag- oder sonstigen Einheit zusammengefügt und zentralisiert sein. Sie sollen lebendige Wirklichkeit sein. Ein jedes der drei sozialen Glieder soll in sich zentralisiert sein; und durch ihr lebendiges Nebeneinander- und Zusammenwirken kann erst die Einheit des sozialen Gesamtorganismus entstehen.« (Rudolph Steiner, Ausgewählte Werke. Band 6. Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft, Frankfurt a. M. 1985, S. 88.) Im April 1919 wurde der »Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus« in Stuttgart gegründet. 192,31-32 durch Lektüre aus der Schrift: Gemeinschaft] Vgl. in diesem Band, S. 165,41-169,40: »Das wirkliche Leben […] Gemeinschaft ist verloren; und nicht aus andren Elementen kann sich Gemeinschaft des Menschengeschlechts aufbauen.« 193,26 Betrachtung der griechischen Tragödie] Dass die antike Tragödie aus dem Dithyrambos der Satyren und aus den phallischen Umzügen entwickelt worden und deshalb dionysischer Herkunft sei, wurde

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schon von Aristoteles (vgl. Poet. 49a) behauptet und von Friedrich Nietzsche in seinen Frühwerken nachdrücklich wiederholt. 193,31 von den eleusinischen Mysterien aus] Als Eleusínia Mystēria bezeichnet man einen kultischen Komplex, der jedes Jahr mutmaßlich bereits seit der mykenischen Zeit in der altgriechischen Stadt Eleusis religiös gefeiert wurde. Nachdem Eleusis unter die politische Kontrolle Athens gelangte, wurden diese Weiheriten in ganz Griechenland veranstaltet, später auch im römischen Reich. In Athen wurden sie im Eleusinion, dem Heiligtum der Demeter zelebriert. Vgl. z. B. aus dem Zürcher Kreis die Abhandlung von Karl Kerenyi, Die Mysterien von Eleusis, Zürich 1962. 193,38 Euripides, der Literat] Wie bekannt führte Friedrich Nietzsche in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1876) den Verfall der antiken Tragödie auf Euripides (ca. 480-406 v. Chr.) zurück, der durch die Aufnahme des sokratischen Logos ihr ursprüngliches dionysisch-musikalisches und kollektives Wesens zerstört habe. Buber gebraucht denn auch die Begriffe »Literat« und »Literatur« hier in eher abschätziger Weise. 193,39 Aeschilos, der Seher] eig. Aischylos (525-456 v. Chr.); griech. Tragödiendichter. 194,8-9 tragische Gemeinde, die auf der Ausschliessung der Sklaven stand] Zum Begriff der Sklaverei und der davon abhängigen Muße als Ermöglichung der spirituellen Tätigkeiten bei den alten Griechen vgl. schon Friedrich Nietzsche, Der griechische Staat, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Band 1, München/Berlin/New York 1999, S. 764-777. 194,13-14 unter der Hegemonie des Gesichtssinnes steht] Dass den Griechen der Gesichts- und den Juden der Gehörsinn eigentümlich sei, ist ein mythisches bzw. ideologisches Thema, das sich zwischen 1913 und 1945 bei verschiedenen Autoren verfolgen lässt. Mit Bezug auf die Darlegungen Bubers in dessen Einleitung zu den Geschichten des Rabbi Nachman schreibt Hans Kohn in »Der Geist des Orients« »dem Griechen eignet vor allem der Raumsinn, die Verklärung des Raumes, die Herrschaft des Auges, dem Orientalen der Zeitsinn, die Verklärung der Zeit (in messianischen Hoffnungen wie in der Lehre von der Seelenwanderung), die Herrschaft des Ohres als des innerlichen Sinnes, wie die Zeit dem Raum gegenüber die Anschauungsform innerlichen Erlebens ist, woher es kommt, daß das Denken und Vorstellen des Orientalen musikhaft ist gegenüber der Bildhaftigkeit des Hellenen.« (In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch, hrsg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, Leipzig 1913, S. 9-18,

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hier S. 11.) Dieselbe Vorstellung kehrt 1947 bei Jacob Taubes (19231987) wieder, der sich auf Hans Kohn berufend so ausdrückte: »Wenn Hellas das ›Auge der Welt‹ genannt wird, so läßt sich vielleicht von Israel sagen, daß es das ›Gehör der Welt‹ ist. In der Offenbarung hört Israel die Stimme Gottes. Mit ›höre Israel‹ wendet sich Mose an die Stämme.« Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie, Bern 1947, S. 15. 196,24-25 zwischen beiden Cherubien, die Schechina thront] In der Bibel werden die rätselhaften kerubim (sing. kerub) als himmlische bzw. engelhafte Wesenheiten ca. 90 Mal erwähnt. Ein Schwert in der Hand haltend liegen sie auf der Lade (z. B. Ex 25,17 ff.) oder bewachen das Tor des paradiesischen Gartens (Gen 3,24). Zum Begriff der Schechina als Gegenwart bzw. Herrlichkeit Gottes vgl. die Wortund Sacherläuterungen zu 143,15-16. 196,25-26 Es ist dies die Einwohnung Gottes […] real gemeint] Dass die Einwohnung Gottes in der Welt »durchaus real« zu verstehen sei, war die zentrale Annahme von Oskar Goldberg (1885-1953) und seinem philosophischen Schüler Erich Unger (1887-1950), mit dem Buber seit 1916 bekannt war. Vgl. Manfred Voigts, Oskar Goldberg, der mythische Experimentalwissenschaftler. Ein verdrängtes Kapitel jüdischer Geschichte, Berlin 1992. 196,29-30 endend mit dem Tode Mose] Vgl. Dtn 35,5-9. 196,40-41 doch ist die Welt wohl nicht vom Tod erlöst] Dass die Welt noch nicht erlöst sei, vor allem für die Juden nicht, vgl. z. B. das Zwiegespräch »Kirche, Staat, Gott, Judentum« zwischen Karl Ludwig Schmidt und Martin Buber, das am 14. Januar 1933 im Stuttgarter Jüdischen Lehrhaus stattfand und im September 1933 in Theologische Blätter, 12. Jg., Nr. 9, Sp. 257-274 erschien: »Wir spüren die Unerlöstheit der Welt«. (Zitat, Sp. 267; jetzt in: MBW 9, S. 145-168, hier S. 158.) 197,11-13 In der dogmatischen Auslegung des Todes Christi […] mit den letzten Worten zu verstehen] Hier meint Buber offenbar die aramäischen Worte des gekreuzigten Jesus, die allein durch Mt 27,46 und Mk 15,34 überliefert wurden: »Eli, Eli, lama asabtani?, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« sowie die Auslegung des Todes Christi als Opfer in Hebr 9. 197,40-198,1 Führer des wirklichen Bauens. Die Lehrlinge scharen sich um den Meister] Mit einem ähnlichen Bild beschreibt Buber 1918 in Mein Weg zum Chassidismus die Versammlung der chassidischen Gemeinde um ihren Zaddik: »Wohl wird der Zaddik jetzt wesentlich um Hilfe in recht irdischen Nöten angegangen, aber ist er nicht

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trotzdem der Möglichkeit nach immer noch, als was er einst gedacht und eingesetzt worden ist: der Helfer im Geist, der Lehrer des Weltsinns, der Führer zu den göttlichen Funken? […] hier war, erniedrigt, doch unversehrt, der lebendige Doppelkern des Menschentums: wahrhafte G e m e i n d e und wahrhafte F ü h r e r s c h a f t . Uraltes, Urkünftiges war hier, Verlorenes, Ersehntes, Wiederkehrendes. […] als ich den Rebbe durch die Reihen der Harrenden schreiten sah, empfand ich: ›Führer‹, und als ich die Chassidim mit der Thora tanzen sah, empfand ich: ›Gemeinde‹. Damals ging mir eine Ahnung davon auf, daß gemeinsame Ehrfurcht und gemeinsame Seelenfreude die Grundlage der echten Menschengemeinschaft sind.« (Martin Buber, Mein Weg zum Chassidismus, S. 12 f.;jetzt in: MBW 17, S. 41-52, hier S. 44.) Eine weitreichende Diskussion zum Thema Führer und Lehrer wurde 1927 auch in der Zeitschrift Die Kreatur geführt, und dort vor allem durch die Artikel von Eugen Rosenstock-Huessy belebt. Vgl. Rosenstock-Huessy, Lehrer oder Führer? Zur Polychronie des Menschen, Die Kreatur, Jg. 1, 1926/1927, S. 52-68; Albert Mirgeler, Der Weg der kommenden Generation. Eine Erwiderung auf Eugen Rosenstocks »Lehrer oder Führer?«, Die Kreatur, 1. Jg., 1926/ 1927, S. 230-244. Vgl. ferner »Lehrer oder Führer? Zwei Stimmen aus der Jugendbewegung«, Die Kreatur, 1. Jg., 1926-1927, S. 361-366. 198,32 Michelangelo] eigentl. Michelangelo Buonarotti (1575-1564): ital. Maler, Bildhauer und Architekt; bedeutendster Künstler der Hochrenaissance. 198,32 Rembrandt] Rembrandt van Rijn (1606-1669): niederl. Maler. 198,32 Beethoven] Ludwig van Beethoven (1770-1827): dt. Komponist. 199,29 Dämonion] In der griechischen religiösen Kultur ist daímōn (»göttliche Macht«) ein Zwischenwesen – halb Gott, halb Mensch. Von Heraklit wurde der berühmte Spruch überliefert: ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμόνιον (»Der Charakter ist dem Menschen sein Dämon.«). (Heraklit B 119 Diels-Kranz.) Zum sokratischen Daimonion als »göttlichem Führer« und »innerer Stimme« vgl. Platon, Apologia, 28e, 31a. 199,32 keine legitime menschliche Autorität] Zur Frage der Legitimation menschlicher Autorität vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, S. 122-176 (Erster Teil, Kap. 3 »Die Typen der Herrschaft«) und S. 642-649 (Dritter Teil, Kap. 5 »Legitimität«). 199,38-39 Wir dürfen Zöglingen […] Verantwortungsfrage] Zur Gestalt Bubers als eines problematischen Erziehers, Vaters und Lehrers vgl. die zahlreichen Zeugnisse, die in Haim Gordon, The Other Martin Buber, Ohio 1988, zum Ausdruck kommen.

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201,7 Tagore] Rabindranath Tagore (1861-1941): bengal. Philosoph und Künstler; erhielt 1913 den Nobelpreis für Literatur. Zum Verhältnis von Buber und Tagore vgl. Buber, Ein Gespräch mit Tagore, jetzt in: MBW 11.2, S. 365-366 sowie den Kommentar in MBW 11.2, S. 366. 201,15 Gandi] Mohandas Karamchand Gandhi: indischer Politiker und Pazifist. Zum Verhältnis Bubers zu Gandhi vgl. in diesem Band, S. 340-350 sowie den Kommentar, S. 608 ff. 202,7-8 Weib hat grössere Naturgebundenheit – und Nähe als Mann] Vgl. die Formulierung von Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (4. Aufl. 1976), S. 362: »Ja, der Thora bedarf als bewußter Grundlage nur der Mann; bei der Geburt einer Tochter hatte der Vater nur gebetet, sie zu führen unter den Trauhimmel und zu guten Werken; denn die Frau besitzt diese Grundlage jüdischen Lebens auch ohne die dem lockerer in der Erde des Natürlichen wurzelnden Mann notwendige bewußte Erneuerung des ›Lernens‹ ; ist doch nach altem Rechtssatz sie es, durch die sich das jüdische Blut fortpflanzt.« 202,23-24 conspirative Gemeinschaft, die nur auf Tat gerichtet ist] Georg Simmel hatte 1907 einen bahnbrechenden Aufsatz über die geheimen Gesellschaften geschrieben, den Buber als Simmel-Schüler sicherlich kannte. Vgl. Georg Simmel, Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft, in: ders., Gesamtausgabe, Band 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M. 1992, S. 383-455. 203,29 Hinweis auf die Formulierung in »Ich und Du«] Wahrscheinlich wurde aus Bubers Ich und Du die folgende Stelle vorgelesen: »Die Gemeinde baut sich aus der lebendig gegenseitigen Beziehung auf, aber der Baumeister ist die lebendige wirkende Mitte. / Auch Einrichtungen des sogenannten persönlichen Lebens können nicht aus dem freien Gefühl erneuert werden (wiewohl freilich nicht ohne es). Die Ehe etwa wird sich nie aus etwas andrem erneuern, als woraus allzeit die wahre Ehre entsteht: daß zwei Menschen einander das Du offenbaren. Daraus baut das Du, das keinem von beiden Ich ist, die Ehe auf. Dies ist das metaphysische und metapsychische Faktum der Liebe, das von den Liebesgefühlen nur begleitet wird. Wer die Ehe von andrem her erneuern will, ist nicht wesensverschieden von dem, der sie aufheben will: beide sagen aus, daß sie das Faktum nicht mehr kennen. Und in der Tat, wenn man von all der vielberedeten Erotik des Zeitalters alles abrechnete, was Ichbezogenheit ist, alles Verhältnis also, worin eins dem andern nicht gegenwärtig, von ihm gar nicht vergegenwärtigt wird, sondern eins am andern nur sich selbst genießt, was bliebe wohl?« Buber, Ich und Du, S. 56.

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205,1 Einsetzung des Sakramentes der Kindertaufe] Das Sakrament der Taufe stützt sich auf den Ausspruch Jesu: »Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen.« (Joh 3,5.) Erst ab dem 5.-6. Jh. wurde die Kindertaufe in der Christenheit Gewohnheit. Aus einem Brief Bubers an Friedrich Gogarten vom 22. Dezember 1922 ist ersichtlich, dass Buber auf das Thema der Kindertaufe auch im zweiten, schließlich nicht mehr verfassten Band von Ich und Du zurückkommen wollte: »Vielmehr scheinen Sie mir erstens das metaphysische Gewicht des historischen Faktums nicht zu würdigen, daß in der christlichen Frühzeit die Bewegungsrichtung " sich in # verwandelt, – ein Vorgang, der sich im biblischen Schrifttum durch das Hinzukommen der Kindheitsgeschichte, zuletzt im Sakrament durch die Einsetzung der Kindertaufe kundgibt (im zweiten Band des Werkes, dessen ersten, ›Ich und Du‹, Sie kennen, versuche ich eine Darstellung dieses Vorgangs).« B II, S. 146. 205,7-8 indem sie Christus sozusagen biologisch aus Gott geboren werden lässt] Vgl. das apostolische Glaubensbekenntnis (»Filium eius unicum, Dominum nostrum: qui conceptus est de Spiritu Sancto, natus ex Maria Virgine«) oder das Nicäno-Konstantinopolitanum (»Filium Dei unigenitum, et ex Patre natum ante omnia sæcula […] Et incarnatus est de Spiritu Sancto ex Maria Virgine, et homo factus est«). Im Bekenntnis von Nicäa lautet die Stelle: »Fílium Dei, natum ex Patre unigenitum, hoc est de substantia Patris […] natum, non factum, unius substantiae cum Patre«. 205,16 die Continuität im Raume gesucht, die Ausbreitung] Gegen die Praxis der Mission vgl. Schalom Ben-Chorin, Zwiesprache mit Martin Buber., S. 131: »Buber ist radikal gegen jede Art von Mission. Darin unterscheidet er sich von Franz Rosenzweig, seinem langjährigen Mitarbeiter, der für jüdische Mission war. Buber hingegen lehnte Missionen in allen Formen ab, nicht nur die Judenmission. ›Der gläubige Mensch lebt in seinem Religionshaus‹, bemerkte er und deutete an, daß es Arroganz im ärgsten Sinne sei, zu meinen, man habe allein das Pneuma, den Heiligen Geist«. 205,39-40 Dann ist die Welt Gottes Reich geworden] Vgl. die wichtige Kritik, die Ernst Simon Anfang November 1923, d. h. kurz bevor Buber nach Zürich aufbrach, an der Buberschen Vorstellung vom Reiche Gottes in Bezug auf das Gedankensystem von Ich und Du und seiner unmöglichen Anwendung innerhalb des Freien Jüdischen Lehrhauses übte. Buber, so Simon, habe die »Wirklichkeit« seines Publikums verkannt. »Wer zu Menschen reden will, darf nicht zu Tieren

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reden, aber auch nicht zu Engeln. […] Die zeitlich punktuelle und soziologisch punktuelle Offenbarung, die für den einzelnen Augenblick und für den einzelnen Menschen Wirklichkeit ist, nicht aber für die Dauer der Zeit und nicht für die Masse des Volksraumes (Moses stieg allein auf den Berg und brachte dem harrenden Volke das Gesetz herunter) – sie kann kein Einwand gegen das Gesetz sein. Gewiß verkrustet Religiosität zur Religion: wir sind Menschen. Gewiß wird Du zum Es: weil wir Menschen sind. Dem einen Fehler entspricht der andere. Wie Sie inbezug auf das ›Gesetz‹ zu wenig tun, so in der Beziehung zum Mitmenschen zu viel. Wir leben nicht im ›Reiche Gottes‹, in dem die Halacha – auch nach ihrer eignen Meinung – aufhören darf und in dem jeder Mensch das Du zum Ich ist. Und wir können, ja dürfen es nicht durch die voreilige und illegitime Anwendung messianischer Kategorien in dieser Zeit (basman hase) ertrotzen, ohne ›das Ende zu bedrängen‹ und es eben dadurch zu verzögern. […] Die Wirklichkeit unseres Menschenlebens hat ein tragisch doppeltes Angesicht wie dieses Leben selbst. / So rächt sich die ›mittlere Wirklichkeit‹ an Ihnen dafür, daß Sie sie vernachlässigen. Ihren Kategorien, zu weit und zu eng, um sie einzufangen, entschlüpft sie und wird nun mächtig über Sie selbst, da es doch unser Menschenamt ist, eben sie einzufangen und zu beherrschen. Das mitanzusehen hat mich neulich so erschüttert. Sie glaubten ›nackt vor Gott‹ zu stehen und standen vor Fräulein H. [eine Teilnehmerin an den Seminaren des Frankfurter Jüdischen Lehrhauses] nackt – ein furchtbarer Anblick! Jeder der Sie liebt, mußte hier innerlich aufschreien. Und Sie merkten es nicht.« (Brief Ernst Simon an Buber vom 2. November 1923, B II, S. 175.) Hierzu bemerkt Grete Schaeder: »Nicht nur das hohe geistige Niveau der Kritik an den Lehrversuchen des damals fünfundvierzigjährigen Buber ist beachtlich, charakteristisch ist vor allem die Unbedingtheit des personalen Einsatzes, mit der Simon die Beziehung zu ihm aufs Spiel setzt.« B I, S. 83. Staatsideen, Gemeinschaftsversuche und die menschliche Wirklichkeit Im Dezember 1923 erhielt Buber an der Universität Frankfurt am Main einen Lehrauftrag für Vorlesungen über jüdische Religionswissenschaft und jüdische Ethik (vgl. Kohn, Martin Buber, S. 364). Laut Hans Kohn las Buber an der Universität erst im Sommer 1924 »Wie ist Religions-

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wissenschaft möglich« und behandelte im Seminar Texte von Maimonides. Gleichzeitig begann er seine Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Lehrhaus, in dem er sich in den nächsten Jahren immer intensiver engagieren sollte. Aus einer noch unveröffentlichten, beim Leo Baeck Institut in New York erhaltenen Postkarte Bubers an Franz Rosenzweig vom 27. Februar 1924 geht hervor, dass Buber am Sonntagvormittag den 3. Februar 1924 einen Vortrag zum Thema »Staatsideen, Gemeinschaftsversuche und die menschliche Wirklichkeit« vor den Frankfurter Mitgliedern des Republikanischen Studentenbundes hielt (vgl. die handschriftliche Postkarte Bubers an Franz Rosenzweig vom 27. Februar 1924, AR 9; Box 1; Folder 7; Leo Baeck Institut). Das Typoskript dieses Vortrags bildet die Grundlage für den hier abgedruckten Text. Der republikanische Studentenbund war Teil einer breiter organisierten Bewegung, die in ganz Deutschland nach dem Mord an Walter Rathenau am 24. Juni 1922 zur Gründung des Reichskartells der Republikanischen Studentenschaft sowie der Zeitschrift Die junge Republik führte (zur Geschichte der Republikanischen Studentenbewegung vgl. Franz Walter, Sozialistische Akademiker- und Intellektuellenorganisationen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 69-80). »Die Kooperationsbemühungen der sozialistischen Studenten«, so schreibt der Historiker Franz Walter, »beschränkten sich indessen nicht nur auf Organisationen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Die geradezu trostlose Minderheitsposition, in der sich alle republikanischen Studentenverbände an den Hochschulen befanden, der aggressive völkische Nationalismus, der große Teile der Studenten, aber auch der Hochschullehrer beseelte, zwangen der demokratischen Minorität das Zusammenstehen im Bündnis regelrecht auf. […] Der Rathenau-Mord, die offen geäußerte Sympathie, die viele Studenten für die Attentäter hegten, rüttelten die demokratischen Hochschulorganisationen endgültig auf und führten sie erstmals zusammen. An nahezu allen Universitäten bildeten sich sogenannte ›republikanische Blocks‹. Um deren Kampfkraft zu vereinheitlichen und zu verstärken, lud der Jenaer ›Block republikanischer Studenten‹ am 7. Juli 1922 zu einer Reichskonferenz ein, an der sich Studentenorganisationen aus 18 Hochschulen beteiligten. Die Konferenz fand vom 31. 7. bis zum 1. 8. 1922 statt und endete mit der Gründung eines ›Reichskartells der Deutschen Republikanischen Studentenschaft‹ […]. Den Kommunisten, die sich, angeführt im übrigen von Karl Korsch, ebenfalls um eine Aufnahme in das Kartell bemühten, wurde die Mitarbeit wegen ihrer mangelnden republikanischen Zuverlässigkeit verwehrt. […] Als Ziel hatte sich das republikanische Bündnis gesetzt, dem Schutz und sozialen Ausbau der Republik zu dienen und die

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politische Reaktion, den Geist der Völkerverhetzung und der militärischen Gewaltpolitik zu bekämpfen.« Ebd., S. 69 f. Am Donnerstag, den 7. Februar 1924 erschien im Abendblatt der Frankfurter Zeitung, und zwar in der Spalte »Für Hochschule und Jugend«, ein Artikel mit dem Titel »Staat und Gemeinschaft. Ein Vortrag Martin Bubers«, der über dessen Rede vom 3. Februar in Frankfurt zusammenfassend berichtete. Dieser Bericht wurde mit »Kr.« gezeichnet – ein Sigel hinter dem zweifellos die Feder von Siegfried Kracauer (18891966) zu erkennen ist, der in den Zwanziger Jahren nicht nur mit den Mitarbeitern des im Juni 1924 gegründeten Frankfurter Instituts für Sozialforschung in Kontakt stand, sondern auch Feuilletonist dieser Zeitung war. Seinen Artikel, der in weiten Teilen lediglich die Ausführungen Bubers referiert, beschließt Kracauer mit dem Urteil: »Mögen sie [die Thesen Bubers] im einzelnen manchen Widerspruch erwecken, so ist ihre Gesamtintention doch gewiß unantastbar. Konkretes Verhalten in konkreter Situation: das meint zuletzt ein jedes Wort. Nicht ungehört sollte der Hinweis in den Kreisen der Jugend verhallen.« Kracauer war mit den Arbeiten Bubers bekannt. So hatte er im August 1923 in der Zeitschrift Die Tat (Jg. 15, 1923/1924, Bd. 1, Heft 5, August 1923, S. 389-393) eine lange, durchaus wohlwollende Rezension von Bubers neu erschienenem Buch Ich und Du veröffentlicht (vgl. Siegfried Kracauer, Martin Buber, in: ders., Schriften 5.1. Aufsätze 1915-1926, S. 236242). Offenkundig – in den folgenden Wort- und Sacherläuterungen wird dies belegt – ist der Text der Rede Bubers inhaltlich von den Zürcher Martin Buber-Abenden vom Ende November/Anfang Dezember 1923 in vielerlei Hinsicht abhängig. Neu ist allerdings der wichtige Begriff der »Gemeinschaft als messianische Kategorie«, die in endzeitlicher Perspektive dem Staat gegenübergestellt wird, was der zeitgenössischen Position Carl Schmitts genau entgegengesetzt ist, der den Staat als Katechon, d. h. »Aufhalter« der als Antichrist betrachteten apokalyptischen Gemeinschaft deutete. Andere Autoren des Weimarer Nationalismus wiederum sahen das Messianische im historisch kommenden Reich als Staat bzw. verstaatlichte Gemeinschaft (vgl. z. B. Arthur Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich, Berlin 1923 und Friedrich Hielscher, Das Reich, Berlin 1931). Am 6. März 1924 erschien dann mit dem Titel »Flucht?« im Abendblatt der Frankfurter Zeitung ein vom Bericht Kracauers ausgehender Artikel von Dr. Karl Wilker (1885-1980). Dieser Reformpädagoge war zu Beginn des 20. Jh. eine Hauptfigur der Jugend- bzw. Wandervogelbewegung und Mitglied des Kreises um Eugen Diederichs in Jena. Es ist übrigens wenig bekannt, dass Karl Wilker der Autor eines der ersten

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biographischen Entwürfe von Martin Buber gewesen ist (vgl. Karl Wilker, Von Büchern: Martin Buber, Neue Wege, 4 [1923], S. 183-191). Da Buber in diesem hier im Anschluss teilweise reproduzierten Artikel Wilkers (vgl. in diesem Band, S. 526) eine kritische Anmerkung zu seinen eigenen Darlegungen zu erkennen glaubte, wollte er sein eigenes Denken zwei Wochen später, und zwar am 21. März 1924 durch einen kurzen Artikel mit demselben Titel »Flucht?« präzisieren, der jetzt in diesem Band S. 222-223 abgedruckt ist. Textzeuge: TS: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 47e); 20 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben; der Titel wurde handschriftlich nachgetragen. Mit vereinzelten Korrekturen von Tippfehlern versehen. Druckvorlage: TS Variantenapparat: 208,29 nominal] berichtigt aus normal Wort- und Sacherläuterungen: 210,6 Gemeinschaftsinseln, Gemeinschaftsoasen] Zu radikalen Siedlungsversuchen am Anfang der 1920er Jahre vgl. Ulrich Linse, Die Kommune der deutschen Jugendbewegung. Ein Versuch zur Überwindung des Klassenkampfes aus dem Geiste der bürgerlichen Utopie. Die »kommunistische Siedlung Blankenburg« bei Donauwörth 1919/20, München 1973; ders., Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890-1933, München 1983; ders., Barfüßige Propheten. Erlöser der Zwanziger Jahre, Berlin 1983; ders., Geisterseher und Wunderwirker. Heilssuche im Industriezeitalter, Frankfurt a. M. 1996, S. 120-125. 210,15 Adam Müller] Als Philosoph, Diplomat und Staatstheoretiker war Adam Heinrich Müller (1779-1829) führender Vertreter der deutschen Romantik und des Wiener Romantikerkreises. Zentral sind seine politisch-philosophischen Schriften wie Von der Idee des Staates (1809), Die Elemente der Staatskunst (1809) und Von der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der gesamten Staatswissenschaften (1819). In der Weimarer Zeit wurde die Gestalt Müllers wiederentdeckt. Vgl. Carl Schmitts Schrift Politische Romantik, München 1919 (2. Aufl. 1925; 3. Aufl. 1968) sowie Hannah Arendt, Adam-Müller-Renaissance?, Kölnische Zeitung, 13./17. Sept. 1932,

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wiederabgedruckt in: dies., Reflections on Literature and Culture, Stanford (Calif.) 2007, S. 38-45 (»Adam Müller – Renaissance?«). 210,15-17 Staat als die Gemeinschaft […] noch kommenden Geschlechtern] In seinem staatstheoretischen Werk Die Elemente der Staatskunst spricht Müller allerdings nicht vom Staat, sondern vom Volk: »[…] ein Volk ist die erhabene Gemeinschaft einer langen Reihe von vergangenen, jetzt lebenden und noch kommenden Geschlechtern, die alle in einem großen Verbande zu Leben und Tod zusammenhangen, von denen jedes einzelne, und in jedem einzelnen Geschlechte wieder jedes einzelne menschliche Individuum, den gemeinsamen Bund verbürgt, und in seiner gesammten Existenz wieder von ihm verbürgt wird; welche schöne und unsterbliche Gemeinschaft sich den Augen und Sinnen darstellt in gemeinschaftlicher Sprache, in gemeinschaftlichen Sitten und Gesetzen […]«. Adam Heinrich Müller, Die Elemente der Staatskunst. Erster Theil, Berlin 1809, S. 204. 210,19-20 der Gegenstand unendlicher Liebe] Vgl. Adam Heinrich Müller, Die Elemente der Staatskunst. Zweiter Theil, Bd. 2, Berlin 1809, S. 6: »Den Staat nun als Gegenstand einer unendlichen Liebe darzustellen, hatte ich mir vorgesetzt«. 211,3-4 bei australischen Stämmen beobachtet] Vgl. das damalige Standardwerk des Ethnologen Carl Friedrich Theodor Strehlow, Die Aranda- und Loritja-Stämme in Zentral-Australien, Frankfurt a. M. 1907-1920. Beispiele werden auch angeführt in Emile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en Australie, Paris 1912 (dt. ders., Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M. 1981). Im Jahr 1921 wurde auch das erste wichtige Werk des französischen Anthropologen Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939) in deutsche Sprache übertragen, in dem die Macht der Kollektivvorstellung beschrieben wird. Vgl. Lucien Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, Wien 1921. 212,9-16 Otto Braun […] Ende meines Strebens.«] Otto Braun (18971918) war ein hochbegabter und frühreifer Berliner Lyriker, der sich als 17-Jähriger freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte und 1918 in Frankreich fiel. Buber zitiert hier aus Otto Braun, Aus nachgelassenen Schriften eines Frühvollendeten. Mit drei Bildern in Kupferdruck, hrsg. von Julie Vogelstein, Berlin 1920, S. 168 (Brief an die Eltern vom 29. März 1916 »Im Felde«). 212,33 Civitas Dei, den Gottesstaat] Hinweis auf das bekannteste Werk von Aurelius Augustinus (354-430), das unter dem Titel De civitate Dei (»Vom Gottesstaat«) bzw. De Civitate Dei contra Paganos zwischen 413 und 426 verfasst wurde. Zu Bubers Zeit war gerade die an-

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thologische Ausgabe in deutscher Übersetzung beim Fischer Verlag erschienen, in der die wichtigsten politisch-philosophischen Kapitel dieses Werkes zusammengestellt wurden. Vgl. Augustinus von Hippo, Der Gottesstaat – De civitate Dei. Die staatswissenschaftlichen Teile übersetzt und teilweise mit lateinischem Begleittext versehen, hrsg. von Karl Völker, Jena 1923. 213,13-21 Was ist, wenn Menschen sich zusammentun, […] gegründet kann sie nicht werden] Das ist die erste Textstelle, die Buber in seinem Artikel »Flucht?« vollständig zitiert. Vgl. den Kommentar zu Martin Buber, Flucht?, jetzt in diesem Band, S. 525 f. 214,14 aus Radien zu dieser lebendigen Mitte gehen] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 186,24-25. 214,17-20 Gemeinschaft ist letztlich ein religiöses Faktum […] das heisst Mitte des Seins] Vgl. den fünften Buber-Abend vom 6. Dezember 1923 in Zürich: »Erneuerung ist nur möglich aus neuer, wirklicher Verbindung mit der Mitte des Seins. Religiöse Gemeinschaft ist nur möglich, wenn wieder Gemeinschaft möglich ist.« (In diesem Band, S. 205.) Oskar Goldberg hat 1925 diese Idee aufgenommen und durch seine eigenartige Exegese des Pentateuchs als System politischer Theurgie soziobiologisch aufgewertet, indem er die Götter und ausgerechnet Jahwe als biologisches Zentrum des Volkes definiert. Vgl. Oskar Goldberg, Die Wirklichkeit der Hebräer. Einleitung in das System des Pentateuch, Berlin 1925, S. 14-16. 215,16-17 Der Staat ist Status […] der wirklichen Gemeinschaft] Vgl. den zweiten Buber-Abend vom 26. November 1923: »Staat, Status, ist der Stand, der Zustand des noch nicht Verwirklichtseins der Gemeinschaft.« Jetzt in diesem Band, S. 189. 215,41-216,1 in gemeinschaftsfeindlichen Staaten] Man kann eine begriffshistorisch interessante Spiegelbildlichkeit zwischen dieser Definition Bubers vom Jahre 1924 und dem Titel eines antisemitischen Werkes, das Alfred Rosenberg 1922 publizierte, feststellen. Vgl. Alfred Rosenberg, Der staatsfeindliche Zionismus, in: ders., Schriften aus den Jahren 1921-1923, München 1943, S. 5-111. 216,39-40 was den abendländischen modernen Staat charakterisiert] Zur zentralistischen Definition des modernen Staates vgl. schon Les six livres de la République von Jean Bodin (1576): »Die Inhaber der Souveränität sind auf keine Weise den Befehlen eines anderen unterworfen.« Jean Bodin, Über den Staat, Stuttgart 1999, S. 24. 217,25 eine Lüge, die von der Fiktivität der Partei überdeckt ist] Vgl. die kurz zuvor erschienene Kritik des Parlamentarismus in Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Mün-

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chen und Leipzig 1923 (hier zitiert nach der 2. Aufl. von 1926), S. 9 und 11: »Das Parlament ist jedenfalls nur solange ›wahr‹, als die öffentliche Diskussion ernst genommen und durchgeführt wird. ›Diskussion‹ hat hier aber einen besonderen Sinn und bedeutet nicht einfach Verhandeln. […] Die Lage des Parlamentarismus ist heute so kritisch, weil die Entwicklung der modernen Massendemokratie die argumentierende öffentliche Diskussion zu einer leeren Formalität gemacht hat. [… Die Parteien] treten heute nicht mehr als diskutierende Meinungen, sondern als soziale oder wirtschaftliche Machtgruppen einander gegenüber […].« 217,26-28 wobei ein gewisser Zentralismus […] technisch-administrativen Charakter annimmt] Vgl. Martin Buber, Buber-Abende. Zweite Besprechung am 26. November 1923 (in diesem Band, S. 189 f.): »Ein Minimum vom Zentralismus (Verkehr, Verwaltung)«. In seinen Memoiren erzählt Friedrich Hielscher (1902-1990) 1954 lebhaft und ausführlich von seiner Begegnung mit Buber im Jahr 1930, bei der über das Verhältnis von Zentralismus und Föderalismus diskutiert wurde: »1930 saß er [Buber], wie ich schon erzählte, bei Albrecht Schaeffer während meines Streitgesprächs mit Friedrich Muckermann in einer Seitenlaube des Saales. Und gleich Schaeffer lud er mich ein. / Bei ihm daheim lernte ich nicht nur seine Frau kennen, eine herzensgute und streitbare Bayerin, sondern auch seinen Schwiegersohn Ludwig Strauß, der mich in seiner dunklen und schmalen Art, seinem aufgewühlten und gebändigten Antlitze in vielem an Friedrich Georg Jünger erinnerte, und dessen Gedichte ich mit Liebe las. / Durch Frau Bubers Stolz auf ihre bayrische Heimat und durch den meinen auf Schlesingen landeten wir, die über den Glauben – Bubers und den meinen – hatten sprechen wollen, statt dessen beim Unterschiede zwischen Bundes- und Einheitsstaat und bei der rechten Verfassung. Daß die Allgemeine Staatslehre ein Unterfall der Glaubenslehre ist, wußte ich damals noch nicht, sonst würde ich mich nicht so darüber gewundert haben. / Ich verfocht den Bundesstaat, und Buber nickte beifällig, wollte aber wissen, wie er aussehen müsse, um mir zu genügen, und ging hoch, als ich dem Bundesstaate in Recht, Wirtschaft, Außendienst und Heerwesen die oberste Entscheidung zusprach und den Gliedstaaten nur Verwaltung Kunst und Unterricht überließ. / ›Natürlich‹, rief er zornig, ›er denkt vom Bundesstaate und nicht von den Gliedern her, er sieht ihn gar nicht als Bund der Glieder, sondern als ihren Herrn, und gibt ihm alles, was er für wichtig hält; die Gliedstaaten dürfen dann gnädigst die Hausarbeit, sprich Verwaltung machen, Blumen auf den Tisch,

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sprich Kunst und Wissenschaft stellen und die Kinder aufziehen, die hernach dem Herrn zu dienen haben‹. / Da wurde ich auch zornig und wußte nicht warum, und am allerwenigsten, warum Buber es war: ›Wie soll denn das Ganze arbeiten, wenn es die für die Arbeit wichtigen Muskeln und Stränge nicht beherrscht? Und wer sagt Ihnen, daß ich Kunst und Wissenschaft für so unwesentlich halte?‹ / ›Das ist es eben‹ – Buber erregte sich immer mehr – ›daß Sie das Ganze als einen Arbeitsgang ansehen und in Wahrheit nicht als einen Bund. Sie lügen sich selber etwas vor, wenn Sie dieser Arbeitsmaschine den Sinn eines Bundes und die großen Namen geben, die Ihnen Kunst und Glauben anbieten. Hier wird ja nicht gebunden, sondern befohlen und gehorcht, und nicht behütet, was wachsen will, sondern gearbeitet.‹ / Ich staunte Buber an. Der trotz seiner wenig mehr als fünfzig Jahren schon wie ein Erzvater wirkende Mann mit dem grauen Barte, der starken und feinen Nase, den segensgewohnten Händen, dem zugleich gütigen und gebietenden Blicke hatte sich in einen grimmigen Propheten verwandelt. / Und da fuhr er auch schon fort: ›Ich will Ihnen voraussagen, was kommt. Sie werden erleben, was die Arbeit statt des Wachstums, was Befehl und Gehorsam statt des Bundes der Freien bedeuten. Dann werden Sie merken, daß Sie zwei Reiche zusammenzwingen wollten, die nicht zusammengehören, und dann wird es zu spät sein, für Sie, und für Ihre schlesische Heimat auch. Glauben Sie, meine Frau lehnt umsonst diesen sogenannten deutschen Staat ab? Wäre er deutsch, wie er sich nennt, sie würde ihm als Erste dienen. So aber frißt er Bayern auf, wie er auch Ihr schlesisches Land und Volk auffressen wird.‹ / 1933 merkte ich, daß Buber recht hat, 1938 begriff ichs, und 1945 erlebte ichs.« Friedrich Hielscher, Fünfzig Jahre unter Deutschen, Hamburg 1954, S. 223 f. 217,34 Agora] Die altgriechische agorá (abgeleitet von dem Verb ageirō, »zusammenkommen, sich versammeln«) war der zentrale Marktplatz der alten griechischen Polis, wo sich die Bürger versammelten, und stellte deshalb Herz und Symbol des politischen Raumes und Lebens dar. 217,40-41 aus ihrer natürlichen Zueinandergehörigkeit] Hier ist es nicht ganz klar, was Buber mit dem Wort »natürlich« meinte, obwohl er sich wahrscheinlich auf die ethnischen (oder sprachlichen) Verhältnisse innerhalb einer Gemeinde bezieht. Ein wirkliches Volk bzw. Gemeinwesen könne demnach erst dann bestehen, wenn die es bildenden Gemeinden eine »natürliche« Zugehörigkeit aufweisen. 219,8-9 mit dem Russentum und seiner besonderen Lebensform] Buber deutet hier offenbar auf die mittelalterliche Institution der Obscht-

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Flucht?

schina, d. h. die Dorfgemeinschaft oder Land- bzw. Bauerngemeinde, und des Mir, d. h. ihres Regierungsorgans hin, die erst 1917 abgeschafft wurde. Eine der schönsten und lebhaftesten Darstellungen der Obschtschina findet sich in Lev Tolstois letztem Roman Auferstehung (1899). 219,30-220,17 Vor allem anzusetzen […] muss sie austragen] Das ist die zweite Textstelle, die Buber in seinem Artikel »Flucht?« vollständig zitiert. Vgl. in diesem Band, S. 222 f. 220,23-25 Der Staat […] die Bannung] Diese messianische Betrachtung der Gemeinschaft spielt vielleicht auf den zweiten Brief an die Thessaloniker an, wo Paulus die paradoxe Gestalt erwähnt, die einmal als tò katéchon (2 Thess 2,6) einmal als ho katéchon (2 Thess 2,7), d. h. »das« bzw. »der Aufhalter« genannt wird, weil es bzw. er das Kommen des Antichrists und dadurch das Kommen des Gottesreichs verzögert. Diese Gestalt als Symbol der Rolle des Staates erlangte im Denken Carl Schmitts zunehmende Bedeutung. Vgl. dazu Felix Grossheutschi, Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon, Berlin 1996 und Alfons Motschenbacher, Katechon oder Großinquisitor. Eine Studie zu Inhalt und Struktur der Politischen Theologie Carl Schmitts, Marburg 2000. 220,33 und zwar in seiner Brauchbarkeit] Vgl. die zeitgenössische Ausgabe von Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), 5. Aufl., hrsg. von Karl Vorländer, Leipzig 1920, S. 54: »Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« 220,41-221,6 Man hat ein Ideal der Dinge […] Das ist der Radikalismus als Flucht] Das ist die dritte Textstelle, die Buber in seinem Artikel »Flucht?« vollständig zitiert. Flucht? Dieser kurze Text, der im Abendblatt der Frankfurter Zeitung vom 21. März 1924 erschien, ist eine Replik auf den Artikel des Reformpädagogen Karl Wilker, der am 6. März in der gleichen Zeitung erschienen war. Wilker reagierte darin auf kritische Bemerkungen Bubers zur lebensreformerischen Jugendbewegung, die in dessen Vortrag »Staatsideen, Gemeinschaftsversuche und die menschliche Wirklichkeit« vom 3. Februar 1924 in Frankfurt gefallen sind (jetzt in diesem Band, S. 207221, sowie der Kommentar, S. 519-520). In Wilkers Artikel heißt es:

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»[…] Wenn wir aber, nach ernstestem Erwägen, zu der Erkenntnis kommen: es ist notwendig, daß einige unter uns sich den klaren Blick für das Geschehen ringsum wahren, unbeeinflußt und unbeeinflußbar durch das Mitten-Drinstehen, das immer einen Einfluß ausübt; wenn wir meinen, daß unter uns Jungen auch welche sein müssen, die als Träger der Idee im stillen Kreise das gleiche wirken können, was sie gewirkt haben als Verkünder des Wortes im großen Kreise – dann werfe man uns nicht Flucht vor, sondern erwäge, ob nicht auch aus kleinstem Körnchen Same aufgeht und zum Blühen gedeiht und zu reifer Frucht? Gewiß: es gäbe da draußen vielleicht Arbeit übergenug für uns. Aber: sollen wir immer wieder eine Arbeit tun, deren Unfruchtbarkeit uns gewiß ist? Denn wie kann Arbeit Frucht tragen, wenn man sie nicht ganz tun kann und darf? Wenn man sich nicht ganz einsetzen darf und kann, weil man ganz ein anderer ist als die, die diesen Einsatz zwar von einem wollen und verlangen, aber in einem ganz anderen Sinne. Und ist nicht das einer der wundesten Punkte in unserer ganzen ›Jugendbewegung‹ : daß wir immer wieder drängen und darauf dringen, uns einsetzen zu dürfen, auf allen Gebieten des Lebens, vor allem auch auf dem seiner stärksten und vielleicht gefährlichsten Auswirkung: dem der Politik? Und daß wir immer wieder die Enttäuschung erleben, daß man uns nicht will? Die Macht aber, die sich durchsetzen würde gegen den Widerstrom des Alten, diese Macht sind wir, darüber dürfen wir uns nicht täuschen, trotz aller Jugendtage und Jugendkundgebungen noch immer nicht geworden! Wir haben irgend eine, sogar eine ganz bestimmte und bestimmbare Verpflichtung auf uns genommen. Einlösen können wir sie nicht eher, als bis uns Jungen der Weg frei gegeben wird. Wir glauben, daß heute mehr denn je wir jungen Menschen innerlich reich werden müssen, innerlich vorwärts kommen müssen, innerlich an uns gestalten und arbeiten müssen, um mit dem ganzen Einsatz dieses innerlichen Gereiftseins gestaltend einzugreifen in das Lebens- und Zeitgeschehen unseres Landes nicht nur, sondern womöglich der gesamten Menschheit.« (Karl Wilker, Flucht?, in Abendblatt der Frankfurter Zeitung, Donnerstag den 6. März 1924, Nr. 178, S. 4).

Bubers Replik besteht aus drei langen Zitaten, die Buber, wie er selbst behauptet, vom Stenogramm seiner eigenen Rede exzerpierte. Das Stenogramm, aus dem Buber damals zitierte, ist offenbar identisch mit dem im MBA gefundenen Typoskript (Arc. Ms. Var. 350 47e), das unter dem Titel »Staatsideen, Gemeinschaftsversuche und die menschliche Wirklichkeit« in diesem Band (S. 207-221) abgedruckt ist. Textzeuge: D: Frankfurter Zeitung, Abendblatt, 21. März 1924 (MBB 297). Druckvorlage: D

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Vortrag über Erziehung und Volkstum

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Vortrag über Erziehung und Volkstum Das stenographierte, im MBA in Jerusalem erhaltene und bisher unveröffentlicht gebliebene Protokoll dieses Vortrags trägt die Überschrift: »Vierter Erziehungsabend, veranstaltet von Frauenbund Caritas und Jüd. Frauenvereinigung, am 27. Februar 1928 in der August Lamey-Loge, Mannheim. Vortrag über Erziehung und Volkstum von Herr Dr. Martin Buber«. Buber hielt seinen Vortrag, in dem er sich vor allem mit dem Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum auseinandersetzte, im Rahmen einer Vortragsreihe über Erziehung, die von Dr. Max Grünewald (1899-1992), von 1925 bis 1936 Stadtrabbiner Mannheims, organisiert und geleitet wurde. Beteiligt waren zudem der Frauenbund Caritas und die jüdische Frauenvereinigung Mannheims. Der badische Rechtsanwalt und Politiker August Lamey (1816-1896) war Abgeordneter und Minister für die Liberalen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Lamey trat für eine deutliche Trennlinie zwischen Staat und Kirche sowie für Reformen ein, die z. B. die staatsrechtliche Gleichstellung aller Bürger und die Gleichberechtigung der Juden vorsahen. Als er 1896 in Mannheim starb, wurde aus diesem Grund die lokale Loge des jüdisch-freimaurerischen Ordens Bnai Brith nach ihm benannt. Bis 1937, als der Bnai Brith in Deutschland verboten wurde, spielte die Lamey-Loge in Mannheim im karitativen und kulturellen Umfeld der Stadt eine entscheidende Rolle. Das um 1900 errichtete Logengebäude war zentral gelegen und besaß im ersten Obergeschoss einen Saal, in dem Vorträge, Diskussionen, Zusammenkünfte, Konzerte und Sitzungen sowie ggf. Gottesdienste und andere Veranstaltungen der Gemeinde stattfanden. Dort hielt auch Buber am 27. Februar 1928 seine Abendrede. Max Grünewald, der die Vortragsreihe, in der Buber auftrat, organisierte, wuchs im polnischen Schlesien auf, studierte dann Philosophie, Psychologie, Nationalökonomie und orientalische Sprachen in Breslau, promovierte dort bei dem konservativen Professor Eugen Kühnemann, bei dem 1910 auch Paul Tillich promovierte (vgl. Max Grünewald Collection beim Leo Baeck Institut in New York, AR 7204/MF 727; vgl. dazu Karl Otto Watzinger, Geschichte der Juden in Mannheim 1650-1945, Stuttgart 1984, S. 93). Zugleich besuchte er das jüdisch-theologische Seminar in Breslau und wurde als Jugendrabbiner am 1. April 1925 nach Mannheim berufen. Im selben Jahr gründete er im Geist der Jugendbewegung die Mannheimer »Jugendgemeinde« und »war an der Konzeption des 1926 geschaffenen Wohlfahrts- und Jugendamts führend beteiligt« (Volker Keller, Bilder vom jüdischen Leben in Mannheim, Mannheim 1988, S. 64). Fotografien aus der zweiten Hälfte der Zwanzi-

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ger Jahre zeigen Grünewald unter seinen jugendlichen Gruppen als typische charismatische Führergestalt der Jugendbewegung (vgl. z. B. ebd., S. 64, Abb. 134 und S. 118-119, Abb. 317, 318, 319; 320). Bubersche Untertöne sind in der Vorstellung von der Gemeinschaft zu bemerken, die er damals vertrat. Michael Brenner verweist darauf, dass Grünewald den religiösen Individualismus als Ursache der Auflösung der Gemeinde betrachtete. So schrieb der 27-jährige Rabbiner am 23. August 1926 im Israelitischen Gemeindeblatt Mannheim: »Das ist der Kern der Krisis, die der westeuropäische Liberalismus durchmacht. Im Grunde krankt er an ihr von Anbeginn. Man sehe sich seine hundertjährige Geschichte daraufhin an. Was seine bedeutenden Gelehrten, seine vortrefflichen Kanzelredner nicht haben schaffen können, das ist die Gemeinde.« (Zitiert nach Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000, S. 57.) Ein weiteres Verdienst Grünewalds war 1929 die Gründung des Mannheimer Jüdischen Lehrhauses. Zur weiteren Bedeutung Grünewalds für das Mannheimer und das deutsche Judentum vgl. Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, S. 179-182. Nach der Zäsur von 1933 war Grünewald, der 1934-1938 Vorsitzender des Synagogenrats geworden war, zusammen mit Otto Hirsch an der Gründung der Reichsvertretung der deutschen Juden sowie an der neuen, durch Martin Buber angeregten Lehrerbildungsanstalt beteiligt. Diese Einrichtung wurde von der jüdischen Gemeinde in Mannheim verwaltet (vgl. resp. Briefe vom 29. Mai 1933 und 1. September 1933 in B II, S. 482 u. 503). Grünewald stellte Buber auch die Räume für die von diesem geplante »Schule für Judentumskunde« zur Verfügung (vgl. den Brief Leo Baecks (1873-1956) an Buber vom 14. Dezember 1933: »Die Synagogengemeinde Mannheim hat sich durch Herrn Rabbiner Dr. Grünewald bereit erklärt, für den genannten Zweck kostenlos 6 Räume zu überlassen und für die laufende Verwaltung zu sorgen«). Unter dem Titel »Das deutsche Judentum« plante Buber 1934 ein Sammelbuch beim Schocken Verlag unter Mitwirkung u. a. von Max Grünewald erscheinen zu lassen, was aber nicht realisiert werden konnte (vgl. B II, S. 542, Anm. 3). Im August 1938 emigrierte Grünewald nach Palästina und von dort in die USA, wo er 1944 Rabbiner der Gemeinde Millburn (New Jersey) und ab 1955 Präsident des Leo Baeck Instituts in New York wurde (vgl. Watzinger, Geschichte der Juden in Mannheim 1650-1945, S. 94). Erwähnenswert ist auch seine Beteiligung an der Wiedereröffnung der Mannheimer Synagoge am 13. September 1987 (Keller, Bilder vom jüdischen Leben in Mannheim, S. 47).

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Vortrag über Erziehung und Volkstum

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Textzeuge: TS: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 007 070); 5 lose paginierte Blätter, doppelseitig beschrieben, mit wenigen Korrekturen versehen. Dem Typoskript ist ein Beizettel des Archivs beigelegt mit der Notiz von anderer Hand: »Vortrag über Erziehung und Volkstum (LameyLoge, Mannheim) 27. 2. 1928 / Stadtbibliothek, Mannheim«. Druckvorlage: TS Wort- und Sacherläuterungen: 225,3-4 Eine große Zwiesprache zwischen Ich und Du] Später benutzte Buber diesen Begriff als Titel seiner bedeutsamen, 1932 publizierten Abhandlung Zwiesprache, die als erklärende Ergänzung zu Ich und Du dienen sollte. 225,40-41 sacro egoismo] Italienisch für »heiliger Eigennutz«. Der Ausdruck wurde 1914 vom italienischen Politiker Antonio Salandra (1853-1931) geprägt, um auf eine ausschließliche und unbegrenzte Hingabe für den italienischen Staat zu verweisen und wurde während und nach dem Ersten Weltkrieg zur Losung der Außenpolitik Italiens. 226,6-7 Die hebräische Sprache ist zu einer gelernten Sprache geworden.] Dieser Prozess begann nach dem Exil, als klassisches Hebräisch allmählich durch Reichsaramäisch ersetzt und lediglich als gelehrte Schriftsprache bewahrt wurde. Zur Zeit der Hasmonäer wurde Hebräisch als nationale Volkssprache für einige Generationen wieder belebt. Es ist bemerkenswert, dass die jüdische Gemeinde Mannheims 1922 das Studium der hebräischen Sprache finanziell unterstützte und zu einem Pflichtbestandteil des jüdischen Religionsunterrichts machte. Vgl. Israelitisches Gemeindeblatt Mannheim vom 17. September 1922, S. 4; erwähnt in Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, S. 272, Anm. 11. 227,3 Herr Dr. Billigheimer] Es handelt sich wahrscheinlich um Dr. Samuel Billigheimer (1889-1983), Pädagoge, Schriftsteller und Professor an der Lessingschule in Mannheim von 1920 bis 1933, als er aus rassischen Gründen zwangsweise pensioniert wurde. Von 1929 bis 1938 war er Leiter des Jüdischen Lehrhauses Mannheim. Im März 1939 wanderte er nach Australien aus, wo er bis 1959 als Lehrer in Melbourne arbeitete. Vgl. Watzinger, Geschichte der Juden in Mannheim 1650-1945, S. 81-82. 227,25 Justizrat Dr. Appel] Wahrscheinlich Justizrat Dr. Julius Appel (1881-1952), geb. in Homburg und Mitglied des lokalen Ausschusses des jüdischen Cartell-Vereins. Lange war er Präsident der August-La-

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mey-Loge und Vorsitzender der Liberal-Jüdischen Vereinigung Mannheims. Sein Hauptanliegen war die Erneuerung des Gottesdienstes durch intensive Mitwirkung der ganzen Gemeinde. Am 3. Januar 1939 emigrierte er in die USA, wo er sich in Philadelphia niederließ. Er starb in Mannheim auf Besuchsreise. Vgl. Watzinger, Geschichte der Juden in Mannheim 1650-1945, S. 78-79. 227,29-30 den jüdischen Kindern auch die jüdische Mutter zu geben.] Wahrscheinlich Anspielung auf die mitunter gegen Buber erhobene Kritik, die katholisch erzogene Paula Winkler geheiratet zu haben. 228,6 Herr Simon] Ernst Simon (1899-1988), Berliner Religionsphilosoph und Pädagoge, enger Freund von Martin Buber. 1928 emigrierte er nach Palästina, wo er zuerst jüdische Religion und Philosophie, später Geschichte der Pädagogik an der Hebräischen Universität Jerusalems lehrte. 228,12 Frl. Dr. Kuhn] Nicht ermittelt. 228,16 Frau Dr. Bödenheimer-Biram] Nicht ermittelt. 228,23 Herr Dr. Hildesheimer] Nicht ermittelt. 228,28-33 Dr. Eppstein […] Frl. Strauss] Es handelt sich wahrscheinlich um Dr. Paul Eppstein (1902-1944), Freund von Rabbiner Max Grünewald, und seine spätere Frau Dr. Hedwig Strauß Eppstein (19031944), die damals im jüdischen Wohlfahrts- und Jugendamt in Mannheim tätig waren. Paul Eppstein promovierte in Heidelberg in Soziologie und Volkswirtschaft, ab 1928 leitete er die bedeutende Volkshochschule in Mannheim. 1930 heiratete er Hedwig Strauß und lebte mit ihr in Berlin von 1934 bis zu ihrer Deportation nach Theresienstadt (zusammen mit Leo Baeck). Er lehrte in Berlin Soziologie an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und wurde bald Vertreter der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, während Hedwig Strauß die Leitung der Jugendalija (Einwanderung nach Israel) übernahm. Dabei verzichteten beide auf die Möglichkeit, selbst nach Palästina auszuwandern. Hedwig Eppstein wurde 1944 in Auschwitz ermordet, im Konzentrationslager Theresienstadt wurde Paul Eppstein anfänglich als »Judenältester« eingesetzt, bis er dort am 27. September 1944 von SS-Mitgliedern erschossen wurde. Zur Person Paul Eppsteins vgl. das Kapitel »›Judenältester‹ in Theresienstadt: Paul Eppstein«, in: Wolfgang Benz, Deutsche Juden im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts, München 2011, S. 6577; zum Problem der »Judenältesten« vgl. Beate Meyer, Tödliche Gratwanderung. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Zwang, Selbstbehauptung und Verstrickung (19391945), Göttingen 2011.

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Drei Sätze eines religiösen Sozialismus

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228,36 Frau Schwarz] Nicht ermittelt. Drei Sätze eines religiösen Sozialismus Dieser dreiteilige thesenartige Text erschien im Juli/August 1928 in der Sondernummer der Zürcher Zeitschrift Neue Wege, die dem Begründer und Leiter dieser Zeitschrift, dem reformierten Theologen Leonhard Ragaz zu seinem 60. Geburtstag gewidmet wurde. Wie Buber in der einzigen Anmerkung des Textes andeutet, umfasste diese Schrift ursprünglich eine weitere These, deren Entwurf sich in der Handschrift erhalten hat (vgl. den Variantenapparat in diesem Band, S. 539). Nicht zuletzt wegen der Heppenheimer Tagung der religiösen Sozialisten Ende Mai 1928 (vgl. die Aussprache in »Sozialismus aus dem Glauben«, jetzt in diesem Band, S. 333-339 und den Kommentar S. 599 ff.), kann die Zeit um 1928/1929 gewissermaßen als der Höhepunkt von Bubers um 1922/1923 begonnenem Engagement für den religiösen Sozialismus gesehen werden. Obwohl es geläufig ist, Buber als »religiösen Sozialisten« zu bezeichnen, ist der vorliegende Text so gut wie die einzige selbstständige Schrift theoretischer Natur, mit der er sich explizit auf den religiösen Sozialismus als historisch bestimmte theologisch-politische Bewegung bezieht. Hingegen sind die in Bubers 1952 veröffentlichtem Buch Pfade in Utopia gesammelten Aufsätze dem sogenannten »utopischen« Sozialismus gewidmet, der auf eine andere, wenn auch verwandte historische Erscheinung hinweist (vgl. auch die Abhandlung zur Gestalt von Moses Hess, in Bd. 11.2, S. 309-325). In einem späten Aufsatz hat Paul Tillich – einer der Begründer und profiliertesten Vertreter des deutschen religiösen Sozialismus – 1962 die gewöhnlich als selbstverständlich betrachtete Beteiligung Bubers an dieser Bewegung relativiert: »Nie hätte Buber sich der Bewegung der Religiösen Sozialisten anschließen können, wenn seine Mystik ihn von seiner prophetischen Tradition getrennt hätte. Verständlicherweise wurde er kein aktives Mitglied dieser kleiner Schar von Männern und Frauen im Nachkriegs-Deutschland, die sich ›Religiöse Sozialisten‹ nannten, immer aber war er ihr Freund und Ratgeber.« (Paul Tillich, Martin Bubers dreifacher Beitrag zum Protestantismus, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. von Renate Albrecht, Band 7, Stuttgart 1962, S. 141-150, S. 147.) Dass Bubers Verhältnis zum religiösen Sozialismus sich auf das eines »Ratgebers« beschränkte, könnte auch darin begründet sein, dass der deutschsprachige religiöse Sozialismus eine zwar weit verzweigte, jedoch eindeutig christlich geprägte Bewegung war. Dieser Bewegung nähert

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sich Buber als Jude mit seiner kleinen Schrift »Drei Sätze eines religiösen Sozialismus« an, zumal diese zusammen mit anderen Schriften Bubers aus derselben Zeit eine literarische Einheit bildet, und zwar mit der Veröffentlichung der Briefe Landauers (vgl. in diesem Band, S. 265-267) und der Erinnerung an dessen Tod (vgl. in diesem Band, S. 319-323), die ebenso in den von Ragaz herausgegebenen Neue Wege erschien. Der religiöse Sozialismus ist schwer zu definieren, da er aus mannigfaltigen Strömungen und Gruppierungen zusammengesetzt ist. Er kann als eine moderne Ausprägung sozialkritischer Impulse betrachtet werden, wie sie die Geschichte des institutionalisierten Christentums unter Rückgriff auf ein gemeinschaftlich orientiertes Urchristentum stets begleiteten. Ein erster umfassender Versuch zu Geschichte und Systematisierung findet sich bei Paul Althaus, Religiöser Sozialismus. Grundfragen der christlichen Sozialethik, Gütersloh 1921. Es ist allerdings nicht einfach, den Beginn des religiösen Sozialismus als moderne Erscheinung zu datieren. Was jedoch die Schweiz betrifft, so können der evangelische Pfarrer Johann Christoph Blumhardt (1805-1880) und vor allem sein Sohn Christoph Blumhardt (1842-1919) als Initiatoren jener modernen Bewegung betrachtet werden, die den Sozialismus und anfänglich speziell die Sozialdemokratie als irdische Mittel ansahen, um das Kommen des Reichs Gottes zu fördern. (Vgl. z. B. Religiöse Sozialisten, hrsg. von Arnold Pfeiffer, Olten u. Freiburg i. Br. 1976, S. 18 ff.) In ihren Schriften vertraten sie die These, dass, da die Kirche dem Proletariat gegenüber ihre historische Aufgabe verraten habe – so Blumhardt Sohn –, nun die messianischen Erwartungen der Christen und ihre ethisch-praktischen Aufgaben in die sozialistische Partei einfließen sollten. Der Kreis um Ragaz war unmittelbar von den Arbeiten der beiden Blumhardts beeinflusst, und auch Schweizer Theologen wie Karl Barth (1886-1968), Eduard Thurneysen (1888-1974), Emil Brunner (1889-1966) und weitere Begründer der sogenannten »Theologie der Krise« oder »dialektischen Theologie« wurden durch Botschaft und Wirkung von Blumhardt Vater und Sohn tief und dauerhaft geprägt. (Vgl. Leonhard Ragaz, Der Kampf um das Reich Gottes in Blumhardt, Vater und Sohn – und weiter!, Zürich/München/Leipzig 1922, S. 327 Lit.) Als eigentlichen Nachfolger beider Blumhardt kann man in der Tat Leonhard Ragaz betrachten, der sich als Zürcher Pfarrer und von 1908 bis 1920 auch als Professor für Systematische Theologie an der Universität Zürich für ein möglichst undogmatisches Christentum einsetzte und sich immer wieder in den Arbeitskämpfen sowie gegen Militarismus und Imperialismus engagierte (vgl. Religiöse Sozialisten, S. 143 ff.). Im November 1906 gründete er in Zürich die noch heute existierende Zeit-

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schrift Neue Wege, in der er in den nächsten Jahrzehnten seinen Begriff des religiösen Sozialismus entwickelte. Seine zahlreichen Aufsätze und Predigten, die im Laufe von fünfzehn Jahren in den Neuen Wegen erschienen sind, wurden erstmals 1922 unter dem Titel Weltreich, Religion und Gottesherrschaft im Rotapfel-Verlag als Sammelband publiziert. Darin heißt es: »Der Messianismus, der zum Reiche Gottes gehört, ging dem Christentum verloren. / Das Judentum aber hat ihn bewahrt. Und nun muß mit allem Nachdruck gezeigt werden, was die Christen ganz vergessen haben: Das Judentum ist Messianismus, nichts anderes. […] Das Judentum ist der Hauptträger des Sozialismus. Nichts ist natürlicher. Denn der Sozialismus ist ein ursprünglicher Bestandteil des Glaubens Israels. Es ist heute Messianismus in moderner Gestalt. / Dieser jüdische Sozialismus tritt in drei Formen auf. Da ist erstens seine mehr religiöse Gestalt, wie sie ein Gustav Landauer, Martin Buber und bis zu einem gewissen Grade auch Kurt Eisner vertreten. Hier ist der Sozialismus ein Ausfluß göttlichen Lebens, seine tiefste Wurzel die Liebe. Es ist wahre menschliche Gemeinschaft. An diese Form grenzt seine mehr philosophische, die Israels Hoffnung mit Kantischer Philosophie verbindet und auf sie stützt. Hier kommt vor allem die Marburger Philosophenschule in Betracht […]« (Leonhard Ragaz, Christentum und Judentum [1921], in: ders., Weltreich, Religion und Gottesherrschaft, 2. Bd., Zürich 1922, S. 365-375, hier S. 368 ff.)

Auf diese Formulierungen reagiert Buber in einem Brief an Ragaz vom 1. Februar 1923: »Ich spüre in ausnahmslos allen eschatologischen Äußerungen dieses Weltaugenblicks, in dem wir leben, eine Problematik, der auf den Grund zu kommen mir gegenwärtig nötiger ist als irgend etwas anderes. […] Aus Ihren Erwähnungen meiner Person, von denen mich eine wie nie zuvor ein Wort über mich berührt hat, und auch aus Ihren Erwähnungen dessen, der mein nächster Freund war, glaube ich schließen zu dürfen, daß auch Ihnen eine Aussprache, die hoffentlich nicht bloß Auseinander- sondern auch Ineinandersetzung wäre, nicht unerwünscht ist.« (B II, S. 155 f.)

Was die von Buber erwähnte »Problematik« der endzeitlichen Aussagen jener Monate angeht, gilt es vielleicht die ganze Messianismus-Stelle zu betrachten, die Ragaz unmittelbar auf die Würdigungsworte der Gestalten Bubers und Landauers folgen ließ und die eine eigenartige Nähe zu den Parolen der zeitgenössischen Antisemiten aufweist: »Damit sind wir zum Problem zurückgekehrt, von dem wir ausgegangen. Und an diesem Punkte zeigt sich die Kehrseite des Judentums. Es vertritt das Reich Gottes, aber nicht im Geiste Jesu Christi. Es fehlt ihm in manchen seiner Formen das Weite, der Universalismus. Das Reich Gottes verringert sich zu einer Herrschaft des

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auserwählten Volkes und der Messias wird der Ausdruck der jüdischen Weltherrschaft. Darum kann dieses Judentum leicht in einen neuen Imperialismus, sei’s des Finanzkapitals, sei’s des Bolschewismus, umschlagen. Die Hoffnung auf den Tag Gottes und des Menschensohnes wird Gewaltmessianismus. Es fehlt am Verständnis der Liebe. […] / Aber das Christentum ist daran mindestens ebenso schuldig wie das Judentum. Denn es hat seinen Messianismus, den Messianismus der Liebe, vergessen und darum ist der andere, der Messianismus der Gewalt gekommen. […] Darum müssen beide, Judentum und Christentum, erlöst werden.« (Leonhard Ragaz, Christentum und Judentum, S. 370.)

Kurz danach wurde das Buch von Ragaz durch Martin Buber in der Frankfurter Zeitung vom 28. April 1923 wohlwollend rezensiert (vgl. Martin Buber, Religion und Gottesherrschaft, jetzt in: MBW 9, S. 84-86 und dazu der Kommentar S. 340 ff.). Die Bekanntschaft Bubers mit Ragaz reichte jedoch schon bis in das Jahr 1916 zurück, in dem der Briefwechsel zwischen beiden beginnt. (Vgl. den Brief Ragaz’ an Buber vom 6. November 1916, B I, S. 457 f. sowie Leonhard Ragaz in seinen Briefen. 2. Band: 1914-1932, hrsg. von Christine Ragaz u. a., Zürich 1982, S. 92.) Durch sein Verhältnis zu Buber, den Ragaz als authentischen Vertreter bzw. Propheten »Israels« betrachtete – übrigens eine Kategorie, die Ragaz wie Buber selbst messianisch und durchaus »unkirchlich« verstand – versuchte Ragaz in seinen Begriff des religiösen Sozialismus auch das zeitgenössische Judentum miteinzubeziehen. 1923 war für Buber das entscheidende Jahr seiner Annäherung an den (christlichen) religiösen Sozialismus, der damals von vielen Gruppierungen repräsentiert wurde. Damals unternahm er es, das breite, in seinen unterschiedlichen Nuancierungen noch undeutliche Spektrum des religiösen Sozialismus zu erproben, um die eigene Stellung zu präzisieren und persönliche Brücken zu schlagen. So versuchte er z. B. schon Ende 1922 eine Zusammenkunft mit Karl Barth, Friedrich Gogarten, Carl Mennicke (1887-1958) und weiteren Persönlichkeiten für das Frühjahr 1923 zu organisieren, wie er in dem Brief an Ragaz vom 1. Februar schrieb: »Deshalb habe ich mit Barth, Gogarten und einigen anderen eine Zusammenkunft für die Ostertage vereinbart, die dieser Frage gewidmet sein soll, und deshalb möchte ich mit Ihnen eine vereinbaren. Ich will mich zwar demnächst zu Ihren Schriften, die ich mit innerstem Anteil gelesen habe, öffentlich äußern [es handelt sich um die oben erwähnte Rezension in der Frankfurter Zeitung vom 28. April 1923]; aber das Eigentliche kann so naturgemäß noch weit weniger als in einem Brief ausgesprochen werden.« (B II, S. 155 f.) Ob ein solches Treffen stattgefunden hat, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Das persönliche Ge-

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spräch, zu dem Buber Ragaz hier einlud, kam allerdings erst in späteren Jahren zustande. (Vgl. Leonhard Ragaz, Mein Weg, 2. Bd., Zürich 1952, S. 216 f.) Im März 1923 wurde Buber von Ragaz nach Zürich eingeladen, um neben anderen Veranstaltungen auch im Kreis der lokalen religiösen Sozialisten über jüdisch-politische Themen zu sprechen: »Den Wunsch Ihres Kreises, bei Ihnen über den Zionismus und den Sinn des Judentums zu sprechen, vermag ich nicht zu erfüllen. Über den Sinn des Judentums habe ich alles was ich darüber zu sagen hatte, gesagt und kann nun darüber überhaupt nicht mehr öffentlich sprechen. […] Liegt nun Ihrem Kreis an einem jüdischen Thema, so schlage ich vor: ›Menschenliebe und Gottesliebe im Chassidismus‹ oder allgemein verständlicher ›Mensch und Gott in der jüdischen Mystik‹.« (Brief Bubers an Ragaz vom 28. März 1923, B II, S. 165.) Im Herbst 1923 nahm Buber dann zum ersten Mal an einer Tagung der religiösen Sozialisten teil, die am 10.-12. Oktober 1923 durch den Berliner Kreis um Tillich, Mennicke und Eduard Heimann (1889-1967) in Kassel organisiert wurde. Die Präsenz Bubers in Kassel wird von verschiedenen Zeugen bestätigt. Erstens hat Paul Tillich selbst 1965 anlässlich des Todes Martin Bubers auf ihr erstes gemeinsames Treffen hingewiesen, das jedoch nicht 1924 – wie Tillich hier irrtümlich angibt –, sondern schon im Herbst 1923 stattfand: »Wenn ich im Geiste die vier Jahrzehnte von dieser letzten [in Jerusalem im Jahr 1963 stattgefundenen] zu unserer ersten Begegnung durchgehe, erinnere ich mich an eine Konferenz der Religiösen Sozialisten, die in Deutschland im Jahre 1924 stattfand. Unsere Bewegung, die nach dem ersten Weltkrieg entstand, versuchte die verhängnisvolle Kluft zwischen den Kirchen und der Arbeiterschaft in den meisten europäischen Ländern zu überbrücken. Es war mir aufgetragen worden, der Konferenz angemessene Vorstellungen hierfür aus theologischer, philosophischer und soziologischer Sicht zu unterbreiten. Das bedeutete, daß ich traditionelle religiöse Begriffe einschließlich des Wortes ›Gott‹ durch Begriffe zu ersetzen hatte, die für die zu unserer Bewegung gehörenden religiösen Humanisten annehmbar waren. Nachdem ich meinen Vortrag beendet hatte, stand Martin Buber auf und griff die ›abstrakte Fassade‹ an, die ich errichtet hatte. Mit großer Leidenschaft hob er hervor, daß es einige urtümliche Wörter wie beispielsweise ›Gott‹ gebe, die einfach nicht ersetzt werden könnten. Er hatte recht, und ich beherzigte seine Lehre.« (Paul Tillich, Martin Buber. Eine Würdigung anläßlich seines Todes (1965), in: Ders., Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere. Gesammelte Werke Band 12, Stuttgart 1971, S. 320 f.) Zweitens ist ein Bericht der Aussprache überliefert, die sich an den

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Vortrag Tillichs anschloss und an der sich Buber mit kritischen Äußerungen beteiligte. Der Bericht erschien in der Wochenzeitung Christliches Volksblatt. Sonntagsblatt evangelischer Sozialisten, zu der zahlreiche religiöse Sozialisten christlichen Bekenntnisses beitrugen, und wurde vom verantwortlichen Schriftleiter des Blattes Max Loeffler verfasst, der auch Bubers kritischer Intervention gedenkt: »Buber-Heppenheim: ›Religiöser Sozialismus‹ ist unsere Not. ›Relig.‹ verbaut den Weg zu Gott; ›Soz.‹ denjenigen zu den Menschen. In seine bewegt gläubig-hoffenden Schlußworte klang das ewige Rauschen der Fulda.« (Max Loeffler, Die religiös-soziale Tagung in Kassel 1. (Ein Bericht), Sonntagsblatt des arbeitenden Volks, Jg. 5, Nr. 43, Sonntag, den 28. Oktober 1923, S. 3-4.) Auch Hans Ehrenberg, Professor für Philosophie in Heidelberg, fasste kurz darauf die Ergebnisse der Kasseler Tagung zusammen und kam auf den Vorwurf des Intellektualismus zu sprechen, den Buber gegen die Vertreter des Berliner Kreises, vor allem Paul Tillich und Carl Mennicke erhob: »Sie sind vom Volk am weitesten entfernt. Daher war Kassel von programmatischen Auseinandersetzungen beherrscht, und es gelang nur zeitweise, den Gang der Unterhaltung von dem begrifflichen Gebiet weg auf das Gebiet von Tatsachen zu versetzen, auf dem sich auch genug ›nachdenken‹ läßt. Darum bemühten sich vor allem Buber, sein Freund Geheimrat Rang und auch ich noch.« (Hans Ehrenberg, Zur Tagung in Kassel 2. Einige Thesen. Volkskirchenbund und Religiös-Soziale, Sonntagsblatt des arbeitenden Volks, Jg. 5, Nr. 45, Sonntag, den 11. November 1923, S. 3.) Offenbar stellte Buber nach seiner Sondierung des religiös-sozialistischen Milieus christlicher Prägung fest, dass Leonhard Ragaz den besten Gesprächspartner abgeben könnte, was in den nächsten zwei Jahrzehnten zu einer beständigen Wechselbeziehung zwischen ihnen führte. Seine eigene Stellung zu den allgemein christlich geprägten Strömungen des religiösen Sozialismus fasste Buber in einem Brief vom 2. November 1931 an Hermann Gerson (1908-1989) zusammen: »Ich glaube, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß es mich verdroß, fast allgemein den Begriff ›religiöser Sozialismus‹ von christlichen Sozialisten mit Beschlag belegt zu sehen: ich bekam immerzu Einladungen zu Tagungen ›religiöser Sozialisten‹ (ohne Einschränkung) im Zeichen Christi u. dgl. m. Ich habe mich daher entschlossen, einen alten Plan nunmehr auszuführen und einen ›Bund jüdischer religiöser Sozialisten‹ zu begründen […].« (B II, S. 413.) Gerson, politisch offenbar viel selbstbewusster als Buber, lehnte die Vorschläge Bubers als zu theoretisch und daher in der politischen Praxis als fragwürdig ab (vgl. B II, S. 414 f.). In seinem Brief vom 21. November 1931 an Gerson ging Buber auf dessen Einwände ein, wo-

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bei er die klarste Selbstdarstellung von sich als religiösem Sozialisten formuliert und die eigene theologisch-politische Entwicklung seit Anfang der Zwanziger Jahre resümiert: »Ihre Einwände von neulich lassen sich hören, es sind gesunde wohlfundierte Lebensargumente, und ich hatte mir selber dergleichen entgegengehalten; dennoch kam ich darüber hinaus – mehr davon mündlich. Für Ihr Thema empfehle ich Ihnen sich die letzten etwa 5 Jahrgänge von Ragaz’s ›Neuen Wegen‹ anzusehen, seine Bücher ›Weltreich, Religion und Gottesherrschaft‹, ›Von Christus zu Marx‹ und besonders ›Der Kampf um das Reich Gottes in Blumhardt Vater und Sohn‹, die ausgewählten ›Predigten, Andachten und Schriften‹ des jüngeren Blumhardt (hrsg. von Lejeune, bisher II und III) und einiges von Kutter. Diese schwäbischschweizerische Linie des relig. Sozialismus ist für mein Gefühl die lebendigste. Von Ragaz dürfte Sie auch die kleine Schrift ›Judentum und Christenum‹ interessieren.« (B II, S. 415.)

Seit Bubers Übersiedlung nach Palästina und bis zum Tod von Ragaz im Jahre 1946 (vgl. beide Trauer- bzw. Gedenkschriften Bubers in: MBW 9, S. 184-186 u. S. 187-191) war die Zürcher Zeitschrift Neue Wege einer der letzten Orte im deutschen Sprachraum, an dem Buber noch auf Deutsch publizieren konnte. Außer Buber wurde in Eretz Israel auch Hugo Bergmann, Freund und frühester Anhänger Bubers, damals Rektor der Hebräischen Universität in Jerusalem, von dem Denken und der Person Ragaz’ tief beeinflusst, wie die zahlreichen Hinweise in seinen Tagebüchern aus jener Zeit und sein Briefwechsel mit Ragaz belegen (vgl. z. B. seinen Brief vom 17. Februar 1935 in: Hugo Bergmann, Tagebücher & Briefe, Bd. 1, S. 382 und vor allem 473 f., 555 f., 681 f.; das Interesse Bergmanns am Denken Ragaz’ schien auch in den fünfziger Jahren noch lebendig geblieben zu sein: vgl. dazu ders., Tagebücher & Briefe, Band 2: 1948-1975, Königstein/Ts. 1985, S. 58 und 92). Ähnliches galt auch für Schalom Ben-Chorin (Vgl. Ben-Chorin, Zwiesprache mit Martin Buber, S. 20.) Hans Kohn zog in seiner Buber-Biographie aus dem Jahre 1929 die »Drei Sätze eines religiösen Sozialismus« als die wichtigste Quelle zu Rate, um den religiösen Sozialismus Bubers darzulegen und zusammenzufassen: »So sind Religion und Sozialismus wesensmäßig aufeinander angewiesen. Verbundenheit zu Gott und Gemeinschaft zu den Kreaturen gehören zusammen. Religion und Sozialismus schließen beide konkrete Antwort und Verantwortung des Menschen im Hier und Jetzt ein, das Stehen und Standhalten im Abgrund der realen wechselseitigen Beziehung zum Geheimnis Gottes und der Menschen.« (Hans Kohn, Martin Buber, 1929, S. 210.)

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Textzeugen: H: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 26); 3 lose unpaginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte, mit Korrekturen versehen; undatiert. Die Handschrift enthält einen zusätzlichen Abschnitt. D1: Neue Wege, XXII 7/8, vii./viii. 1928, S. 327-329 (Sonderheft »Leonhard Ragaz zum sechzigsten Geburtstag«) (MBB 363). D2: Hinweise – Gesammelte Essays, Zürich: Manesse 1953, S. 259-261 (MBB 919). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: Three Theses of a Religious Socialism (1928), in: Buber, Pointing the Way. Collected essays, übers. von Maurice Friedman, New York: Harper 1957, S. 112-114 (MBB 1045). Variantenapparat: 230,1 Drei Sätze] Sätze H 230,2-5 Aus einer Reige […] davor setze:] fehlt H, D2 230,11 Vertrag] [Bund] ! Vertrag H 230,12 des gemeinsamen] höhern gemeinsamen H 230,16 Wesens] Wesens [, ja zur Wesenswerdung] H 230,17 Verbundenheit […] zu Gott] Selbstbindung […] an Gott D2 230,19 dem Gotte] Gott D2 230,Anm 1] fehlt D2 230,23 zu Gott] mit Gott D2 230,30 erwidert nicht.] erwidert nicht. [Religion und Sozialismus finden erst an einander ihre Wirklichkeit.] H 231,3 real] [wirklich] ! real H 231,3-4 Verbundenheit […] zu Gott] Bindung […] an Gott D2 231,7 decken] decken [und sanktionieren] H 231,8 Parteiungen] [Gruppierungen] ! Parteiungen H 231,13 unmittelbare […] der Menschen] [Miteinanderleben der Menschen in der Unmittelbarkeit] ! unmittelbare […] der Menschen H 231,14 In der Gegenwart] [An dem Welttag, den wir] ! In der Gegenwart H 231,17 Parteiungen] [Gruppierungen] ! Parteiungen H 231,17 herausgetreten] hervorgetreten D2 231,18 im Bezirk] [in der Welt] ! im Bezirk H

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Drei Sätze eines religiösen Sozialismus

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231,18-19 im Bezirk […] begonnen] [in der Welt der verborgenen Wahrheit hat die Zwiesprache begonnen] ! im Bezirk […] begonnen H 231,22 persönlichen Lebens] persönlichen Lebens [, seiner Entscheidungen, seiner Handlungen, seiner Beziehungen zu Individuen und Gruppen] H 231,24-25 wechselseitigen Beziehung zum Geheimnis Gottes] [Beziehung zu Gott] ! Gegenseitigkeit mit Gott H 231,27-28 wechselseitigen […] der Menschen] [Beziehung zu den Menschen] ! Gegenseitigkeit mit den Menschen H 231,27 zum Geheimnis] mit dem Geheimnis D2 231,33 das Jetzt es nicht bewährt] [es im Jetzt es nicht erprobt] ! das Jetzt es nicht bewährt H 231,33-232,1 Die Religion […] erreicht wurde] [Der Alltag heiligt oder entheiligt die Andacht. Wie ähnlich oder unähnlich der erreichte Zweck dem einst gesetzten ist, hängt davon ab, ob das Mittel, durch das er erreicht wurde, dem der Zwecksetzung folgte oder widersprach] ! Die Religion […] erreicht wurde H 232,3 Gott ist, dass die Welt ist] es Gott gibt und dass es die Welt gibt H 232,4 in der Welt steht.] ergänzt zusätzlichen Abschnitt 4. / Es ist unzulässig, die Verwirklichung des Sozialismus mit dem Reich Gottes [zu identifizieren] ! gleichzustellen h; sie sind verschieden wie Menschentat und Gottesgnadei. [Die Religion lehrt den Sozialismus, dass der Mensch ohne Gott nichts vermag. Aber der Sozialismus lehrt die Religion] ! Der Sozialismus ist der Wahrheit unkundig?, wenn er nicht erkennt, dass der Mensch ohne Gott nichts vermag. Aber die Religion ist der Wahrheit unkundig?, wenn sie nicht erkennt, dass Gott des Menschen bedürfen will, um des Weges der Welt zu Ihm willen. Gott will selber seine Schöpfung vollenden und erlösen; und er will in die Vollendung und Erlösung die Tat der Kreatur unentziehbar einschmelzen. Die menschliche Person erfährt in der stillen Tiefe ihrer Entscheidung beides in Einem: dass ihrem Handeln Wirklichkeit innewohnt und dass es doch kein Walten gibt als Gottes. [Sie lebt im Paradox, wie sie Gott nur im Paradox zu fassen vermag; die coincidentia oppositorum eignet nicht allein dem Sein Gottes, sondern auch der Konkretheit des persönlichen Menschenlebens.] Weil es so ist, [verlöre der Marxismus den Boden der Wirklichkeit] ! X der Marxismus versagt an der Wirklichkeit, indem er [das Geheimnis Gottes, das allein dem persönlichen Leben] ! das Paradox durch eine Dialektik und das Geheimnis [des Endes] durch ein überschaubares Geschichtsgesetz zu verdrängen sucht. H

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Wort- und Sacherläuterungen: 230,5-6 »Jeder Sozialismus […] zu wenig.«] Zitat aus Leonhard Ragaz, Unser Sozialismus, Neue Wege 11 (1917), S. 583-619, hier S. 610. Später wurde dieser Aufsatz in ders., Weltreich, Religion und Gottesherrschaft, 2. Bd., S. 7-61, hier S. 48 aufgenommen. Die vollständige Stelle lautet wie folgt: »So vertreten wir den Sozialismus als Sache nicht bloß des Proletariats, sondern des Menschen. Es muß darum auch ein Sozialismus sein, der alle höchsten Interessen des Menschentums einschließt, der der selbstverständliche Verteidiger aller wahrhaft menschlichen Güter ist, ein Sozialismus, der sich nicht kalt und hochmütig gegen alles verschließt, was nicht unmittelbar im Klasseninteresse des Proletariats liegt, der nicht sektenhaft mißtrauisch vor allem zurückbebt, was nicht den Klassen- und Parteistempel trägt und sektenhaft gehässig alles schlecht macht, was nicht aus der eigenen Werkstatt kommt, sondern ein Sozialismus des weiten Herzens, ein Sozialismus des Vertrauens, ein Sozialismus der Furchtlosigkeit, ein Sozialismus der Ritterlichkeit, der Geistesfreiheit, der Tiefe. Jeder Sozialismus, dessen Grenze enger ist, als Gott und der Mensch, ist uns zu wenig. Wir haben nicht die geringste Lust, ihm unsere freie Seele zu verkaufen.« (Ebd., S. 47 f.) Religion und Volkstum Dieser Text reproduziert das bislang unveröffentlichte, im MBA in Jerusalem aufbewahrte Typoskript des Gesprächs zwischen Martin Buber und Wilhelm Michel (1877-1942), das am Sonntag, den 4. November 1928, im Rahmen des Jüdischen Lehrhauses in Stuttgart stattfand und eine neue Reihe von jüdisch-christlichen Zwiegesprächen eröffnete, die Buber selbst konzipierte. Diese Reihe hieß »Öffentliche Zwiegespräche über Judentum und religiöse Fragen der Gegenwart«. Buber nahm als jüdischer Gesprächspartner an allen vier interkonfessionellen Dialogen teil, von denen drei in diesem Band zum ersten Mal publiziert werden. Im Rahmen dieser Veranstaltung fanden folgende Gespräche statt: am 4. November 1928 »Religion und Volkstum« mit dem deutschen Schriftsteller Wilhelm Michel (1877-1942), am 18. November 1928 »Religion und Autorität« mit dem katholischen Historiker und Romanisten Hermann Hefele (1885-1936) (jetzt in diesem Band, S. 247-263), am 17. Februar 1929 »[Religion und Politik]« mit dem evangelischen Theologen Theodor Bäuerle (1882-1956) (jetzt in diesem Band, S. 268-299), und schließlich am 14. Januar 1933 »Kirche, Volk, Staat, Judentum« mit

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dem evangelischen Theologen Karl Ludwig Schmidt (1891-1956), Professor für Neues Testament an der Universität Bonn (jetzt in: MBW 9, S. 145-168; vgl. auch den Kommentar ebd., S. 367 ff.; vgl. dazu den unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Buber und Schmidt und den kritischen Apparat zu diesem Gespräch in: Martin Buber, Israele e i popoli. Per una teologia politica ebraica, hrsg. und übersetzt von Stefano Franchini, Brescia 2015, S. 193-249). Darüber hinaus führten Martin Buber und Jakob Wilhelm Hauer (1881-1962), Professor für Indologie an der Universität Tübingen, am 16. Februar 1929 ein privates bzw. halböffentliches Gespräch über Jesus, das teilweise im Rahmen dieser LehrhausReihe einzuordnen ist (vgl. den Kommentar zu »[Religion und Politik]« von 1929, in diesem Band, S. 568-570). Am 17. Oktober 1920 wurde das Freie Jüdische Lehrhaus in Frankfurt mit einer Ansprache von Franz Rosenzweig eröffnet und sollte sich bald als neues Lehrmodell für Erwachsenen- bzw. Volksbildung in der deutsch-jüdischen Welt etablieren. (Zur Konzeption und Eröffnung des Frankfurter Jüdischen Lehrhauses vgl. Wolfgang Schivelbusch, Auf der Suche nach dem verlorenen Judentum: Das Freie Jüdische Lehrhaus, in: ders., Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren, Frankfurt a. M. 1985, S. 35-51, bes. S. 44 ff.; zum Überblick über die Entwicklung der Lehrhaus-Bewegung in Deutschland vgl. Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, S. 81-113.) 1926 wurde eine ähnliche Einrichtung auch in Stuttgart gegründet. Um die Mitte der zwanziger Jahre erkannten in Stuttgart »diejenigen unter den Kulturbegeisterten, die sich dem Judentum noch verbunden fühlten, daß es ihnen an Kenntnis der eigenen Glaubenswelt fehlte. In welchem Rahmen aber sollte den Lernwilligen geholfen werden? Der Berthold-Auerbach-Verein hatte sich vorwiegend der Jugend zu widmen, und die Stuttgart-Loge [des Bnai Brith] stand in Verdacht, sehr standesbewußte Mitglieder zu haben. Eine neue Logengründung wurde erwogen; ihr sollte Martin Buber auf die Beine helfen. Auf Bildung der Erwachsenen war man in Stuttgart sehr bedacht, aber jüdische Erwachsenenbildung hatte noch keinen festen Boden.« (Maria Zelzer, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein Gedenkbuch, Stuttgart 1964, S. 115.) Schon im Februar 1925 wurde Buber durch Walter Gutmann, Inhaber der Neffschen Buchhandlung, nach Stuttgart eingeladen, um dort zwei religionsphilosophische Vorträge im Rahmen der damals in Stuttgart einzurichtenden Erwachsenenbildung zu halten. Nach einem anonymen, im Stuttgarter Gemeindeblatt erschienenen Bericht hielt Buber am 9. Februar die erste, nicht erhaltene Rede »Das prophetische Wort« bei

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der lokalen, stark antizionistisch ausgerichteten Loge des Bnai Brith, den zweiten Vortrag »Die Religion als Wirklichkeit« hingegen am 10. Februar in der Buchhandlung Neef (jetzt in: MBW 12, S. 161-169; irrtümlich geht der Kommentar in MBW 12 davon aus, dass dieser Vortrag 1924 in Jena gehalten wurde; vgl. dazu Anja Waller, Das Jüdische Lehrhaus in Stuttgart 1926-1938. Bildung – Identität – Widerstand, Stuttgart 2017, S. 67, Anm. 67). Als Buber sich für diese Vortragsabende in Stuttgart aufhielt, war er im Hause des jüdischen Textilfabrikanten Leopold Marx (1889-1983) und seiner Frau Ida Marx (1893-1972) zu Gast. Bald kam das Gespräch zwischen Buber und Marx, der während des ersten Weltkrieges, als er in Gefangenschaft war, mit den Schriften Bubers bekannt geworden und seither ein begeisterter Verehrer war, auf die Gründung des Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt. Marx liess sich von Buber überzeugen, dass Ähnliches auch in Stuttgart möglich sei. Marx selbst und der mit ihm befreundete Jurist Otto Hirsch (18851941) diskutierten die Idee eines Stuttgarter Lehrhauses im Kreis des Bnai Brith, in dem sich schnell eine »Keimzelle« des künftigen Lehrhauses herausbildete. (Zur Zusammensetzung dieser Keimzelle vgl. Waller, Das Jüdische Lehrhaus in Stuttgart 1926-1938, S. 69 f.). Einstimmig wurde Buber als spiritus rector der geplanten Einrichtung betrachtet. So wurde Buber von der Loge erneut eingeladen, am 29. November 1925 einen Vortrag in Stuttgart zu halten, wo er über den Schöpfungsbericht sprach: »Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte sich durch die Vorträge im Winter zuvor eine so große Schar von Anhängern gebildet, dass aufgrund des zu kleinen Vortragsraumes nicht alle Besucher Bubers Vortrag hören konnten.« (Waller, Das Jüdische Lehrhaus in Stuttgart 19261938, S. 70.) Kurz danach entstand der neue Verein »Jüdisches Lehrhaus« und am 10. Februar 1926 konnte Leopold Marx vor einem großen Publikum, das größtenteils aus den neuen 130 Kursteilnehmern bestand, worunter vor allem Frauen und Mädchen waren, die Eröffnungsrede bei der Gründungsversammlung halten (Zelzer, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden, S. 116). »Die über 130 vor der Eröffnung und vor den ersten Kursen erfolgten Anmeldungen sprachen allerdings für ein großes Interesse. Auch die gut besuchte Gründungsversammlung zeigte, dass in der jüdischen Bevölkerung Stuttgarts das Bedürfnis nach einer neuen, anders konzipierten Bildungseinrichtung vorhanden war. […] Rund hundert Personen waren dem Verein bereits bei seiner Gründung beigetreten, und ebenso viele besuchten die Veranstaltungen des ersten Trimesters.« (Waller, Das Jüdische Lehrhaus in Stuttgart 1926-1938, S. 77.) Anfäng-

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lich dachte man Ernst Simon die Leitung des neuen Lehrhauses anzuvertrauen, da er aber mit seiner Frau 1928 nach Palästina emigrierte, konnte er den Auftrag nicht annehmen. »Martin Buber war häufig Gast im Lehrhaus und begann seine Tätigkeit mit einer dreiteiligen Vortragsreihe unter dem Titel ›Der heutige Mensch und die Bibel‹, sie umfasste die Vorträge: ›Die Wahrheit der Bibel‹, ›Der biblische Bericht von der Offenbarung‹ und ›Die biblische Verheißung‹. […] Alle drei Vorträge, die Buber im ersten Trimester des neu gegründeten Lehrhaus hielt, waren sehr gut besucht. Neben den Anhängern des Lehrhauses und anderen interessierten jüdischen Zuhörern bestand ein großer Teil der Besucher aus nicht-jüdischen Akademikern, Intellektuellen und Lehrern, die nicht nur den Ausführungen Bubers interessiert folgten, sondern sich auch an der anschließenden Diskussion rege beteiligten. Insgesamt blieb der überwiegende Teil der Zuhörer nach Bubers Vortrag, um das Vorgetragene zu diskutieren.« (Ebd., S. 89 f.) Im Herbst 1928 begann die Vortragsreihe »Öffentliche Zwiegespräche über Judentum und religiöse Fragen der Gegenwart«, die Buber selbst plante und leitete. »Nach dem erfolglosen Versuch, eine Reihe interkonfessioneller Debatten im Lehrhaus in Frankfurt zu veranstalten, machte Martin Buber das Lehrhaus in Stuttgart zum Mittelpunkt des christlichjüdischen Dialogs.« (Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, S. 108.) Mit guten Gründen ist vermutet worden, dass es wegen der starken Persönlichkeit Rosenzweigs nicht möglich war, solche Dialoge in das Programm des Frankfurter Lehrhauses aufzunehmen, das übrigens 1929 seine Tätigkeit aussetzte und erst 1933 durch Buber wiedereröffnet wurde. Buber konnte also in Stuttgart seine religiös-philosophischen Anschauungen uneingeschränkt durchsetzen. »Das ganz besondere aber innerhalb der Reihe von Vorträgen und Veranstaltungen und gleichsam ein historisches Ereignis bildeten die jüdisch-christlichen Gespräche. […] Es war das erste Mal – zumindest in Württemberg –, daß sich das Judentum als eine geistige Macht vor der Öffentlichkeit bekundete.« (Leopold Marx, Die Stuttgarter Religionsgespräche. Ein Rückblick, Jüdisches Gemeindeblatt für die israelitischen Gemeinde Württembergs, Jg. 6, Juni 1929, Nr. 5, S. 72-73, hier S. 72). Die Gespräche wurden nach einem festen Schema gestaltet: »Jeweils ein jüdischer und ein christlicher Vertreter sprachen und diskutierten über ein religiöses Thema.« (Waller, Das Jüdische Lehrhaus in Stuttgart 1926-1938, S. 96.) Im jüdischen Gemeindeblatt wurde die Veranstaltung wie folgt beschrieben: »Nun sollten christliche Denker gemeinsam mit einem jüdischen, frei von der Enge der Konfession, über religiöse Fragen der Gegenwart sprechen. Es war an keine Streitgespräche mittelalterlicher Art gedacht, son-

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dern an solche, die der Aufklärung dienen und so zum gegenseitigen Verständnis und zu gegenseitiger Achtung führen. […] Während auf christlicher Seite die Sprecher wechseln, ist das Judentum stets von Martin Buber vertreten.« (Vgl. Zeller, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden, S. 117-118.) In seinem Rückblick auf die zwei Zwiegespräche von November 1928 und auf das von Februar 1929 erklärte Leopold Marx im Juni 1929: »Warum war es hier nur einer, gegenüber dem Wechsel der Berufenen auf der anderen Seite? Hätte nicht auch die deutsche Judenheit Köpfe genug aufzuweisen, die einer solchen Aufgabe gewachsen wären? Gewiß! Aber keinen so eigen gewachsenen und doch ganz tief im Judentum verwurzelten Geist wie Buber. Keinen, der das Einzigartige, das eigentlich Jüdische in der jüdischen Religiosität, und das ist die besondere Einstellung dem Leben gegenüber, das Verwirklichungsstreben, so erfaßt und so darzustellen vermocht hätte wie Buber. Keinen, der jüdisches Wissen, Gewalt über das deutsche Wort und dazu das Wichtigste, die Erkenntnis der Bruderschaft zwischen Mensch und Mensch so in sich vereinigte. Keinen schließlich, dessen Stimme, als eine jüdische Stimme so weit über den Kreis der Blut- und Glaubensverbundenen hinausgedrungen wäre.« (Leopold Marx, Die Stuttgarter Religionsgespräche. Ein Rückblick, S. 72.)

Wie aus dem Briefwechsel Bubers ersichtlich ist, »stimmte Buber sich mit den für den christlichen Part in Frage kommenden Personen über das Gesprächsthema ab und besprach die Vorgehensweise des Abends« (Waller, Das Jüdische Lehrhaus in Stuttgart 1926-1938, S. 224). Vor dem geplanten Abend kündigte die jüdische Gemeindezeitung Thema und Partner des jeweiligen Gesprächs an, zu dem in der folgenden Nummer häufig ein Bericht erschien. Es ist bemerkt worden, »die wohl einschneidendste Neuerung war, dass der Wunsch nach einem interreligiösen Gespräch von jüdischer Seite ausging und sich die jüdische Seite sowohl ihre Gesprächspartner als auch den Ort selbst aussuchte und eine Themenvorauswahl traf. Man kann wohl davon ausgehen, dass Buber seine Gesprächspartner bereits mit einem für ihn stimmigen Themenvorschlag anfragte, jedoch für Änderungen offen war. […] Eine weitere Neuerung der Religionsgespräche waren die Rahmenbedingungen. Zum ersten Mal fand ein jüdisch-christliches Streitgespräch in einer jüdischen Einrichtung vor überwiegend jüdischem Publikum statt. […] jeder Interessierte hatte die Möglichkeit zur Teilnahme. Nur die Teilnehmerzahl für die anschließende Diskussionsrunde war begrenzt.« (Ebd., S. 223.) In Bezug auf das erste, am 4. November 1928 abgehaltene Zwiegespräch mit Wilhelm Michel, ist vor allem die Freundschaft zwischen Michel und Buber zu betonen. Nach dem Studium der Philologie und

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Rechtswissenschaften wirkte Michel als freier Schriftsteller in München und wurde 1906 Mitarbeiter der Weltbühne. Bekannt wurde Michel u. a. durch seine literarischen Studien über Rainer Maria Rilke (1905) und Friedrich Hölderlin (1912; vgl. auch Wilhelm Michel, Hölderlins abendländische Wendung, 1923 und ders., Hölderlin und der deutsche Geist, 1924). Dank seiner schriftstellerischen Tätigkeit wurde ihm 1925 der renomierte Büchner-Preis verliehen. Gegner des Nationalismus und des Antisemitismus, den er 1922 in seinem Pamphlet Verrat an Deutschland. Eine Streitschrift zur Judenfrage (Hannover/Leipzig 1922) als Entehrung des gesamten deutschen Volkes bezeichnet hatte, publizierte er 1925 in einer dem Antisemitismus gewidmeten Sondernummer der Zeitschrift Der Jude einen Aufsatz mit dem Titel »Deutsche und Juden« (vgl. Wilhelm Michel, Deutsche und Juden, Der Jude. Sonderheft. Antisemitismus und jüdisches Volkstum, Jg. 9, H. 1, S. 52-58). Hier analysierte er die auffallende Fremdheit und die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Deutschen und Juden, vor allem in Hinblick auf die Weltauffassung beider Kulturen. Im Jahr 1926 ließ Michel beim Verlag Rütten & Loening eine poetische Würdigung der geistigen Entwicklung Bubers erscheinen, die einen ersten, wenn auch kurzen biographischen Versuch über Buber vor der 1929 publizierten Biographie Hans Kohns darstellt. (Die früheste öffentliche Würdigung Bubers stellt der Aufsatz von Alfons Paquet, Martin Buber, in: Juden in der deutschen Literatur. Essays über zeitgenössische Schriftsteller, hrsg. von Gustav Krojanker, Berlin 1922, S. 165-178 dar.) In seinem Büchlein bezeichnet Michel den Schriftsteller Buber zweimal als »Führer« seiner Generation (vgl. Wilhelm Michel, Martin Buber. Sein Gang in die Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1926, S. 11 und 12). Auf die Religiosität Bubers, besonders auf die Studien über die chassidische Mystik und auf die Reden über das Judentum hinweisend, schreibt er: »Buber, der Jude, entdeckte sein Volk als Erlebnisort Gottes. Da, wo wir Vereinzelte Volk sind, nur da ist die religiöse Erfahrung echt, unzweideutig und vollständig.« (Ebd., S. 30.) Darüber hinaus beteiligte sich Michel seit 1927 mit drei Beiträgen an der von Buber mitgeleiteten Zeitschrift Die Kreatur. Einige Schlussworte von Otto Hirsch (1885-1941) beendeten das Zwiegespräch zwischen Buber und Michel (Zeller, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden, S. 119) und gaben Anlass, im engeren Kreis eine lebhafte Diskussion über das Thema des legitimen Nationalismus zu führen, wie man aus manchen Presseberichten ersehen kann. Obwohl man das Gespräch dafür kritisierte, dass die Positionen beider Redner – vielleicht auf Grund ihrer engen Freundschaft – nicht gegensätzlich genug waren, wurde der Abend als Erfolg gewertet (vgl. Waller, Das Jü-

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dische Lehrhaus in Stuttgart 1926-1938, S. 226). So urteilte z. B. die Rezensentin des zweiten Gesprächs zwischen Buber und Hermann Hefele in Bezug auf den ersten Abend: »Der erste Diskussionsabend Buber-Michel litt, wenn man so sagen darf, darunter, daß beide Redner in den wesentlichen Punkten übereinstimmten.« (Vgl. R. M. [= Emilie ›Millie‹ Rieger], Stuttgarter Religionsgespräche, Jüdisches Gemeindeblatt für die israelitischen Gemeinden Württembergs, Jg. 5, Dez. 1928, Nr. 17, S. 221223, hier S. 221.) Das wird auch in einem Bericht von Leopold Marx hervorgehoben, der in der Jüdischen Rundschau erschien und neben den wichtigsten Inhalten auch die Stimmung des Abends wiedergab: »[…] Eine zahlreiche Zuhörerschaft folgte mit gespannter Anteilnahme der Unterredung, die nach dem Plan des Lehrhauses wie auch nach der Absicht der beteiligten Sprecher nicht eine Auseinandersetzung zum Zweck der Hervorkehrung des Gegensätzlichen sein sollte, sondern wirkliches und wirkendes Gespräch, zwar von verschiedenen Schulungen und geschichtlichen Grundlagen her, aber hin auf die gemeinsame Konzeption der Religion als eine das ganze Leben erfassende und formende Haltung und nicht etwa ein abgesondertes Reservat des Geistes neben dem Leben her. […] Der Verlauf und die Aufnahme dieses ersten Versuches eines öffentlichen Zwiegespräches über religiöse Gegenstände darf das Lehrhaus ermutigen, ihn fortzusetzen. Das zweite Gespräch über ›Form und Freiheit‹ (Religion und Autorität) wird Buber mit dem Katholiken Hermann Hefele zusammenführen.« (Leopold Marx, Religionsgespräche, Jüdische Rundschau, Jg. 33, 20. Nov. 1928, Nr. 92, S. 645.)

In der Stuttgarter Gemeinde stieß das erste Religionsgespräch auf ein großes Interesse, wie die Tatsache zeigt, dass zwei weitere Berichte des Abends vorliegen. Im November-Heft der Württembergischen Gemeinde-Zeitung erschien ein Bericht von L. M. (= Leopold Marx), der bis auf wenige Details im Grunde genommen identisch ist mit dem Text, der in der Jüdischen Rundschau erschien. Zum Abschluss des Berichtes, an dem Punkt wo der Text in der Jüdischen Rundschau endet, ergänzt Marx seine Ausführungen um wichtige Informationen: »Daher die jüdische Polarität – tiefste Abkehr und innigste Verbundenheit – und die jüdische Auffassung des Bösen als ›Schale des Guten‹, des Versagens als Antrieb zu religiöser Vertiefung. An dieser Stelle hätte man gerne die Ansicht der beiden Männer über das ›auserwählte‹ Volk kennengelernt, schon weil anzunehmen war, daß sie in diesem Punkt auseinanderginge. Bubers Antwort streifte freilich den Mittelpunkt auch dieses Problems, wenn er sagte, für den Juden sei das Problem nicht, wie etwa für die persische und verwandte Auffassungen, ein Widerstreit zwischen Licht und Finsternis, sondern, im Erfüllen wie im Versagen, im ›Guten‹ wie im ›Bösen‹, Gespräch zwischen Gott und Mensch. Der Mensch weiss nie, wo und wie Gott ihm entgegentritt, ihn anrufend und ein Tun als Antwort hei-

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schend. Dies ist gemeint, wenn Gott zu Mose sagt: ›Ich werde dasein, als der ich dasein werde‹. In einer anschließenden Aussprache in engerem Kreis wurden als Beispiele für legitimen Nationalismus von Michel Hölderlin, von Buber Lagarde angeführt, für verirrt negative Haltung zur Nation Wilhelm Förster, der nicht aus der wirklichen Situation heraus, sondern unter Verschiebung der Dimensionen dem eigenen Volk gegenübertrete. Auch andere aufgetauchte Fragen, so die der im öffentlichen Gespräch nicht erörterten Wechselwirkung bestimmter Religion und bestimmten Volkstums, und die nach dem Wesen der Offenbarung kamen zur Sprache und wenigstens teilweise zur Klärung.« (Leopold Marx, Stuttgarter Religionsgespräche, S. 200.)

Ein dritter Bericht, gezeichnet mit »Sch.«, erschien kurz nach dem ersten Abend im Stuttgarter Neuen Tagblatt, der damals wichtigsten Stadtzeitung. Wahrscheinlich stammt er von Friedrich Schiker (1894-1977), einem Stuttgarter Schuldirektor und Reformpädagogen, der eine entscheidende Rolle bei der Organisation des halbprivaten Treffens vom 16. Februar 1929 zwischen Jakob Wilhelm Hauer und Buber in Stuttgart spielte, das Jesus zum Gegenstand hatte (vgl. den Einzelkommentar zu »[Religion und Politik]«, in diesem Band, S. 568 ff.). Schiker beschrieb die Besonderheit der Stuttgarter Veranstaltung wie folgt: »Das Jüdische Lehrhaus unternimmt einen interessanten Versuch: Gegenwartsprobleme nicht mehr in der gewohnten – allzu gewohnten Form von Einzelvorträgen, sondern in Gesprächsform behandeln zu lassen. Die Vorzüge dieser Form sind klar: größere Unmittelbarkeit der Diktion, Entzündung der Sprecher an der Antithese, stärkere Anteilnahme der Hörer an dem Hin und Her der Meinungen, aus allem sich ergebend eine Lebendigkeit des Ganzen, die einem lebendigen Problem angemessen ist und die von einem Einzelredner nur unter besonders günstigen Umständen erreicht werden kann. Ebenso klar freilich sind die Nachteile, wie sie sich beinahe in jedem philosophischen Universitätsseminar zeigen: Verreden des Themas, langsames Wegrücken des Gesprächs aus dem Mittelpunkt des Problems bis zum Festbeißen an Nebensächlichkeiten, bei denen sich eine mühelose Antithetik ergibt. Dieser Gefahr des Abschweifens begegneten die beiden Redner – oder besser Unterredner des Abends gleich zu Anfang dadurch, daß Wilhelm Michel aus dem Fragenkreis: Religion und Volkstum zwei Sektoren herausschnitt, zwei Fragereihen, die zu verfolgen er Martin Buber vorschlug. […] Martin Buber lehnte die erste Fragereihe als Gesprächsgrundlage ab und kam dabei auf die andere große Gefahr eines solchen Dialogs zu sprechen. Er sagte, hier sei die Stellung der beiden Unterredner zu wenig antithetisch, als daß sich eine fruchtbare Dialektik ergeben könnte. Tatsächlich war diese Gefahr den ganzen Abend über für ihn und Michel, den Verfasser des Buches von Bubers Gang in die Wirklichkeit durchaus gegeben und es entwickelte sich im folgenden auch keineswegs ein paritätisches Streit-

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gespräch, sondern eine Befragung des jüdischen Gelehrten durch seinen Partner, bei der aber, entgegen der sokratischen Gewohnheit, nicht der Fragende, sondern der Befragte das Heft in der Hand hielt.« (Vgl. Sch. [= Friedrich Schiker], Religion und Volkstum. Ein Gespräch zwischen M. Buber und W. Michel, Stuttgarter Neues Tagblatt, November 1928, Nr. 524, S. 15.)

Textzeuge: TS: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var 350 007 043); 17 paginierte lose Blätter, einseitig beschrieben, ohne Korrekturen. Auf einem Titelblatt ist der vollständige Titel angegeben: »Jüdisches Lehrhaus Stuttgart. / Öffentliche Zwiegespräche über Judentum und religiöse Fragen der Gegenwart. / Erstes Gespräch / zwischen / Dr. Martin Buber und Wilhelm Michel / über / Religion und Volkstum / am 4. November 1928.« Druckvorlage: TS Wort- und Sacherläuterungen: 233,20-21 jüngst ein Aufsatz der katholischen Zeitschrift das »Hochland«] Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst war die wichtigste Zeitschrift des deutschen Katholizismus. Sie wurde 1903 von Carl Muth (1867-1944) gegründet, der sie bis 1932 leitete. Aus dem Freundeskreis Bubers in den zwanziger Jahren haben u. a. Joseph Wittig und Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973) an der Zeitung mitgearbeitet. 234,1 in den Briefen von Tolstoi eine Stelle, an der er voll Schärfe sagt] Michel weist wahrscheinlich auf Themen hin, die in verschiedenen Briefen enthalten sind. So liest man z. B. in einem Brief Tolstois vom 15. Dezember 1894 an den Redakteur einer englischen Zeitung: »So ist für den Christen die Frage nicht so, wie sie die Anhänger der Staatsidee unabsichtlich und manchmal auch absichtlich stellen: hat der Mensch das Recht, die bestehende Ordnung zu zerstören und sie durch eine neue zu ersetzen? – der Christ denkt nicht an die allgemeine Ordnung, er überlässt die Ordnung Gott […] Wenn nun die Erfüllung des Willens Gottes die bestehende Ordnung zerstört, ist das dann nicht der untrügliche Beweis dafür, dass die bestehende Ordnung gegen den Willen Gottes ist und zerstört werden muss?« (Leo Tolstoi, Briefe 1848-1910, autorisierte vollständige Ausgabe, Berlin 1911, S. 361-365). Im Juli 1894 schrieb Tolstoi ferner an einen anonymen Briefpartner: »Je stärker die körperlichen Leiden sind, je näher uns das Leiden, das uns das grösste zu sein scheint – je näher der

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Tod kommt, um so leichter und notwendiger befreit sich der Mensch von den Lockungen des materiellen Lebens und um so sicherer gelangt er zur Erkenntnis seines geistigen Selbst. […] Gott gebe, dass wir die ganze Wohltat der Leiden, und des Herannahens des unvermeidlichen, physischen Todes erkennen lernen.« (Ebd., S. 355 f.) Und zur Idee der verletzen Einheit vgl. den Brief an I. F. Nashiwin vom 19. Januar 1904: »Wenn wir für andere leiden, so betrügen wir uns gewöhnlich selbst, indem wir glauben, wir litten mit den Leidenden, während wir doch um deren willen leiden, die anderen ein Leid zufügen. Wir leiden, weil das Gesetz der Einheit, der Gemeinschaft aller verletzt ist, und unsere Leiden weisen auf diese Verletzung dieses Gesetzes hin und rufen uns zum Kampfe auf und zur Herstellung der Einheit und Gemeinschaft in der Liebe.« (Ebd., S. 455.) 234,9-21 Buch von Benda: »Der Verrat der Geistigen«. Er wirft […] in dieser Weise] Michel meint hier das Buch La trahison des clercs (in dt. Übersetzung erschienen 1978 unter dem Titel Der Verrat der Intellektuellen) des französischen Philosophen jüdischer Herkunft Julien Benda (1867-1956), das erstmals 1927 im Pariser Verlag Bernard Grasset erschien und mehrere Auflagen erfuhr. Über die politischen Leidenschaften, die einen »caractère de mysticité, d’adoration religieuse« bekommen haben vgl. Julien Benda, La trahison des clercs, Paris 1977, S. 176 f. 235,31-32 in dem bekannten Buche von Spengler] Michel verweist auf das erfolgreiche Buch Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte von Oswald Spengler (1880-1936). Der erste Band war 1918 unter dem Titel »Gestalt und Wirklichkeit« im Wiener Verlag Braumüller, der zweite 1922 unter dem Titel »Welthistorische Perspektiven« im Münchener Verlag C. H. Beck erschienen. 236,21-31 bei Dostojewski […] die Weltgeschichte] Vgl. Fjodor Dostojewski, Die Dämonen, München u. Leipzig, 1906, Erster Teil 2, Kap. 6, § 7, S. 362 ff.: »Das ewige Ziel der ganzen Bewegung eines Volkes, jedes besondere Ziel in jedem Abschnitt seiner Geschichte liegt immer und einzig in seinem Suchen Gottes, in seinem Trieb nach Gott – nach seinem Gott, unbedingt nach seinem eigenen Gott, so wie der Glaube an diesen Gott als den einzig wahrhaftigen dann zum Symbol des ganzen Volkes selbst wird. Noch nicht ist es vorgekommen, daß zwei oder mehrere Völker ein und denselben Gott gehabt hatten. Jedes Volk hat stets seinen eigenen Gott gehabt. Wenn die Götter sich vermischen, dann vermischen sich auch die Völker und sterben dahin mit ihren Göttern. Je stärker und größer aber ein

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Volk ist, desto eigener gehört ihm auch sein Gott an. Nie noch hat es ein Volk ohne Religion gegeben. […] Ich erniedrige Gott zu einer einfachen Eigenschaft des Volkes!? Im Gegenteil, umgekehrt, ich erhebe das Volk bis zu Gott! Das Volk, das ist der Körper Gottes! Jedes Volk ist ja nur so lange Volk, wie es noch seinen besonderen, seinen eigenen Gott hat, und all die anderen Götter der Erde stark und grausam von sich stößt, so lange es noch glaubt, daß es nur mit seinem Gott siegen und alle anderen Götter und Völker sich unterwerfen kann. Das haben alle größten Völker der Erde von sich und ihrem Gott geglaubt, alle, die je die Führung der Menschheit nahmen«. »Sch.« steht für Schatoff, der in dieser Szene mit Stawrogin redet. Diese Stelle wird in anderen Schriften Bubers häufig zitiert wie z. B. in »[Religion und Politik]«, »Israel und die Völker« (1933), »Israel und die Völker« (1941). 237,31-32 wo wie von Abraham die Stimme Gottes das Opfer des Sohnes fordert] Hinweis auf die »Bindung von Isaak« in Gen 22. In der Übersetzung durch Buber und Rosenzweig lautet die Stelle wie folgt: »Nach diesen Begebnissen wars, / da prüfte Gott Abraham / und sprach zu ihm: / Abraham! / Er sprach: / Hier bin ich. / Da sprach er: / Nimm doch deinen Sohn, deinen Einzigen, den du liebst, Jizchak, / und geh du in das Land von Morija, / und höhe ihn dort zur Hochgabe auf einem der Berge, / den ich dir ansagen werde.« Das Buch Im Anfang (Die Schrift I), verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Berlin: Lambert Schneider [1925], S. 74. 238,15 Dostojewski spricht einmal vom Leiden der kleinen Kinder] Vgl. die Rede Iwans seinem Bruder Aljoscha gegenüber im Fünften Buch (»Pro und Contra«), Kap. 5 (»Die Empörung«) von Fjodor Dostojewski, Die Brüder Karamasoff. Roman in zwei Bänden, hrsg. von Müller van den Bruck, München u. Leipzig 1908, S. 470-492, bes. S. 472 ff.: »Doch es ist schon besser, nur von den Kindern zu reden …«. 238,34-35 Das ist der religiöse Nationalismus der israelitischen Propheten] Keimhaft wird hier die Vorstellung eines »prophetischen Nationalismus« angedeutet, die dann in späteren Aufsätzen entfaltet wird wie z. B. in Israel und die Völker (1933) und Israel und die Völker (1941). Vgl. ferner den Brief von Leonhard Ragaz an Buber vom 26. Februar 1941: »Besonders interessant war mir an Ihrem Aufsatz [scil. »Israel und die Völker«, der 1941 in der Zürcher Zeitschrift Neue Wege erschien] auch die Hervorhebung des Unterschiedes der

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Religion und Volkstum

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Linie Amos – Jesaja und Micha – Daniel. Das ist mir neu.« B III, S. 43. 239,10-11 unter die Hand Assurs und Mitrajims] Gemeint sind hier das assyrische Reich und Ägypten (hebr. mitzrajim). 241,11-12 Denn der Völkerbund ist eine Lüge, im Worte selbst] Ähnliches bemerkte Buber bereits 1919 in »Über die Revolution«, jetzt in diesem Band, S. 123. 241,30-31 Das heißt, man kann, talmudisch ausgedrückt, nicht ohne den bösen Trieb Gott dienen] Vgl. z. B. bBer 54a (BT, Bd. I, S. 235). 242,28-29 daß wir in Ponte Tresa über das Buch Samuel gesprochen haben] Von diesem Treffen, das vom 13.-19. August 1928 in Ponte Tresa an der Grenze zwischen Italien und dem Tessin, abgehalten wurde, hat sich eine Mitschrift unter dem Titel »Arbeitsgemeinschaft zu ausgewählten Abschnitten« aus dem Buche Schmuel erhalten. (Jetzt in: MBW 15, S. 46-92; vgl. auch den Kommentar, ebd., S. 415441.) Es beginnt jetzt eine Diskussion über das Böse und die sogenannten Theodizee, d. h. die Reflexion über die Herkunft des Bösen in der Welt und dessen Beziehung zu Gott. 242,37-38 Ich denke dabei an Stellen wie »Du sollst alle Völker fressen«] Vgl. die Bibelstelle in Dtn 7,16 In der Übersetzung durch Rosenzweig und Buber lautet die Stelle wie folgt: »aufzehrst du all die Völker, die Er dein Gott dir hingibt: / Dein Auge schone ihrer nicht, / so wirst du nicht ihren Göttern dienen, / denn Fallstrick ist dir das.« Das Buch Reden, Berlin: Lambert Schneider [1927], S. 39. 242,38 (jüngst in der C.V.-Zeitung von Lewin behandelt)] Dr. Reinhold Lewin (1888-1943): Gemeinderabbiner in Königsberg i. Pr. und Mitglied der Kant-Loge. Mit anderen Mitgliedern seiner Familie wurde er in Auschwitz ermordet. Wilhelm Michel verweist hier auf einen Artikel, den Lewin am 12. Oktober 1928 unter dem Titel »›Du sollst alle Völker fressen!‹. Eine apologetische Betrachtung« in der C.V.Zeitung erscheinen ließ. Dort wendet sich Lewin gegen die gängige antisemitische Instrumentalisierung des Verses Dtn 7,16: »[…] Im Grunde ist es keine Verfügung, von Gott erlassen, sondern dessen Verheißung, die er für den Fall, daß Israel seiner Stimme gehorcht, verwirklichen will. Er wird die Völker verschwinden lassen, die ihm widerstehen, wird sie ihm zur Vernichtung überliefern. Freilich, damit es nicht aussehen möge, als beschönige ein Winkelzug, werde eingeräumt: in Gottes Versprechen liegt noch mehr, liegt der bald dahinter rückhaltlos ausgesprochene Wille, ohne Scheu und Erbarmen von der Möglichkeit der Ausrottung auch Gebrauch zu machen (5. Mose 7,24). Aber dieser Befehl (und das stellt wieder der ganze

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Zusammenhang außer Zweifel) ging bloß auf die Stämme, die auf Kanaans Boden siedelten, deren Götzendienst oder Unsittlichkeit Israels geistiges Wachstum störten. Um dem Einheitsglauben nicht zum Fallstrick zu werden, sollten sie hinweg, sie, deren geile Zuchtlosigkeit, deren mitleidsloser Aberglaube mit Entrüstung und Abscheu gebrandmarkt werden. An ihnen wurde das Kriegsrecht vollstreckt, das im Altertum üblich war, über das am wenigsten unsere Zeit sich hinausgeschritten vorkommen sollte. […] Uns aber lasse diese Betrachtung zweierlei erkennen: die Hoheit dessen, was umsonst von Neid und Argwohn benagt, als Gottes Lehre uns begleitet, und darüber hinaus das Friedensziel, dem alles dient und alles zustrebt, was dem ungetrübten, wahrhaftigen Judentum entstammt!« Vgl. Reinhold Lewin, »Du sollte alle Völker fressen!«. Eine apologetische Betrachtung, C.V.-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum. Organ des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Jg. 7, Nr. 41, Berlin 12. Oktober 1928, S. 574-575. 242,39 Befehl Gottes an Saul] Zur Geschichte von Saul und Agag vgl. I Sam 15. Wilhelm Michel bezieht sich hier insbesondere auf die folgende Bibelstelle: »Schone es nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge Rinder und Schafe, Kamele und Esel!« (I Sam 15,3b). Diese Bibelstelle beunruhigte Buber seit seiner frühen Jugend. Der Auseinandersetzung mit ihr widmet er das Kapitel »Samuel und Agag« in seiner autobiographischen Schrift Begegnung, S. 44-47; jetzt in: MBW 7, S. 301-303. 243,5-6 Lewin ist […] von diesen grausamen Dingen abgerückt] Vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 242,38. 243,24-25 Vertreter der jüd. Orthodoxie] Nicht ermittelt. 243,31-32 so kann ich dazu nur sagen, »dann hat Samuel Gott mißverstanden«] Diese theologisch problematische Behauptung Bubers – denn wer kann entscheiden, ob eine biblische Figur ein Wort Gottes missinterpretiert hat – blieb natürlich nicht unbemerkt. Schon im zweiten Zwiegespräch im Jüdischen Lehrhaus Stuttgart vom 18. November 1928 zwischen Buber und Hefele wies der katholische Gesprächspartner gerade auf diese Position Bubers als verwerflich hin (vgl. in diesem Band, S. 247 sowie den Einzelkommentar, S. 557). Vielleicht noch fataler wirkte das von Buber Gesagte im völkischen Feld, wie Leopold Marx in seinem Rückblick vom Juni 1929 auf die drei, in den vorigen Monaten stattgefundenen Zwiegespräche andeutend und nicht ohne Sarkasmus schrieb: »Böswilliges Mißverstehen war nur einmal in einem Blättchen der Völkischen festzustellen, denen man die Freude anmerkte, in Bubers Rede eine Stelle (von der

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›sittlichen Religion‹) gefunden zu haben, die leicht genug war, daß sie sie wenigstens – mißverstehen konnten. Die Freude sei ihnen gegönnt, sie zu widerlegen, wäre zwecklos.« Leopold Marx, Die Stuttgarter Religionsgespräche. Ein Rückblick, in Jüdisches Gemeindeblatt für die israelitischen Gemeinde Württembergs, Jg. 6, Juni 1929, Nr. 5, S. 72-73, hier S. 72-73, hier S. 73. 245,29-30 daß Gott einen bösen Geist über Saul sende] Vgl. I Sam 18,10. 246,13-14 eine Schale um das Gute herum] Buber weist hier auf die kabbalistische Lehre der Qelippoth (sing. Qelippah, »Schale, Hülle«) hin, welche Lichtfunken göttlicher Natur enthalten. Vgl. z. B. schon in Sohar I,19b; II,69b; III, 185a. 246,19 »ICH WERDE DA SEIN ALS DER ICH DA SEIN WERDE«] Vgl. Ex 3,14: »ehejeh ascher ehejeh« (»ich bin, der ich bin« oder »ich werde sein, der ich sein werde«). Das hebr. Verb hajah bedeutet »werden, sein« aber auch »existieren, dasein«. In der Übersetzung Bubers und Rosenzweigs lautet der Name Gottes »Ich werde dasein, als der ich dasein werde.« Das Buch Namen, Berlin: Lambert Schneider [1926], S. 15. 246,30-31 »es ist kein […] würdig zu sein«] Nicht nachgewiesen. [Religion und Autorität – Form und Freiheit] Am Sonntag den 18. November 1928, rund zwei Wochen nach dem ersten Religionsgespräch zwischen Martin Buber und Wilhelm Michel (vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 540 ff.), fand im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart im überfüllten Großen Saal des Oberen Museums die zweite Veranstaltung der Vortragsreihe »Öffentliche Zwiegespräche über Judentum und religiöse Fragen der Gegenwart« statt. Buber diskutierte mit dem katholischen, in Stuttgart geborenen Historiker und Romanisten Herman(n) Hefele (1885-1936), obwohl er anfänglich den katholischen Religionsphilosoph Romano Guardini (1885-1968) als christlichen Gesprächspartner eingeladen hatte. Nachdem Guardini kurz vor dem Termin absagte, empfahl er Buber, an seiner Stelle den gleichaltrigen befreundeten Kollegen Hefele in Betracht zu ziehen, der damals noch als Regierungsrat am Stuttgarter Staatsarchiv tätig war, ab 1929 aber Professor für Geschichte in Braunsberg wurde (vgl. dazu Zelzer, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden, S. 120 und Waller, Das Jüdische Lehrhaus in Stuttgart 1926-1938, Stuttgart 2017, S. 100 f. und S. 227). Buber und Guardini hatten sich ursprünglich auf das Thema »Autorität und Frei-

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heit« geeinigt. Hefele teilte dann aber Buber mit, er würde lieber über »Form und Freiheit« sprechen. So wurde das Zwiegespräch schließlich »Religion und Autorität – Form und Freiheit« betitelt. Das unvollständige Typoskript dieses Zwiegesprächs zwischen Hefele und Buber wird im MBA in Jerusalem zusammen mit einigen Briefen aus der Zeit der Stuttgarter Gespräche (vgl. Arc. Ms. Var. 350 008 277) aufbewahrt (vgl. Arc. Ms. Var 350 007 043) und blieb bisher unveröffentlicht. Damals war Hefele ein angesehener Vertreter des Weimarer Katholizismus. So bezeichnete z. B. Alfred von Martin (1882-1979) 1926 im Hochland, der damals wichtigsten katholischen Zeitschrift in deutscher Sprache, das »Weltanschauungsideal« solcher Kreise als »das der neuen katholischen Klassik, die sich religiös auf Guardini und Abt Ildefons Herwegen, ästhetisch auf Hermann Hefele, juristisch-politisch auf Carl Schmitt beruft.« (Zitiert nach Thomas Ruster, Die verlorene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik, Paderborn 1994, S. 294, Anm. 485.) Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Hefele zahlreiche Schriften publiziert wie z. B. seine Untersuchung zu Dante Alighieri (vgl. Hermann Hefele, Dante, Stuttgart 1921: ein Exemplar dieses Buches befindet sich auch im MBA in Jerusalem, war also im Besitz Bubers). Zudem hatte er die Schriften Johann Gottfried Herders (1744-1803) zur Geschichte herausgegeben (Johann Gottfried von Herder, Vom Geist der Geschichte, hrsg. von Hermann Hefele, Stuttgart 1923). Am Anfang der Weimarer Zeit veröffentlichte der Verlag Eugen Diederichs weitere Bücher von Hefele wie z. B. eine Aufsatzsammlung (Das Gesetz der Form. Briefe an Tote, Jena 1919; das Buch enthält Schriften über Petrarca, Goethe, Schiller, Michelangelo, Lorenzo Valla, Erasmus, Machiavelli, Napoleon, Dante u. s. w.; auch in diesem Fall befindet sich ein Exemplar im MBA in Jerusalem). Von einem theoretischen Artikel ausgehend, den Hefele 1925 in Hochland unter dem Titel »Demokratie und Liberalismus« veröffentlicht hatte, darf man die damalige politische Ausrichtung von Hefele, die in manchen Punkten mit der Orientierung Bubers Ähnlichkeiten aufweist, am besten als »demokratischen« Elitarismus bezeichnen, wie schon Thomas Ruster in seiner Zusammenfassung des Textes hervorgehoben hat: »Seine zentrale These war, daß Liberalismus und Demokratie, anders als gemeinhin angenommen, gar nichts miteinander zu schaffen haben. Der Liberalismus, der die Freiheit der Individuen fordert und die Gleichheit aller behauptet, ist nur natürlicher Eigennutz, die Demokratie hingegen geformtes Gemeinwesen. […] Hefeles Überlegungen haben vor allem in der katholischen Jugend Wirkung gezeigt. Zusammen mit den staatsrechtlichen Ideen Carl Schmitts begünstigten

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sie in den Jahrgängen der ›Schildgenossen‹ ab Mitte der 20er Jahre die Entwicklung elitär-demokratischen Gedankenguts, das sich zwar an keiner politischen Realität festmachen konnte, dafür aber den Ausschluß der ›Masse‹ von der politischen Verantwortung mindestens gedanklich erreichte.« (Ruster, Die verlorene Nützlichkeit der Religion, S. 157 f.) Das Religionsgespräch zwischen Hefele und Buber wird in einem ausführlichen kritischen Bericht dargestellt, den Emilie (Millie) Rieger, Ehefrau des damals in Stuttgart amtierenden Stadt- und Reformrabbiners Dr. Paul Rieger (1870-1939) für die jüdische Gemeinde-Zeitung verfasste. »Religionsgespräche im 20. Jahrhundert, klingt das nicht wie Widersinn in einer Zeit, die für alles Religiöse scheinbar abgestorben ist? Trotzdem hat es das Jüdische Lehrhaus Stuttgart gewagt, zu öffentlichen Zwiegesprächen über Judentum und religiöse Fragen der Gegenwart einzuladen – und das kaum Glaubliche traf ein: sie kamen alle, der lustige Spötter und der nachdenkliche Grübler, der ungläubige Zweifler und der religiös Empfängliche, Männer von Geist und Frauen von Welt, um das neue Schauspiel zu genießen, zwei ernste Männer über ein religiöses Problem in Rede und Gegenrede zu hören. […] Die weitgehende Übereinstimmung zwischen Michel und Buber hatte die Aussprache des ersten Abends in ein Frageund Antwortzuviel aufgelöst. Diesmal war eine tiefe Gegensätzlichkeit in den beiden Sprechern des Abends gegeben, und das Gegenspiel traf ein: ›Das Wasser war viel zu tief‹, die Entfernung zwischen den beiden so groß, daß die Disputation ein Streiten war ohne gegenseitige Verständigung. Noch mehr – die Disputanten sprachen aneinander vorüber, so daß das Ergebnis der Aussprache die scharfe Antithese war, nicht, wie die meisten Hörer glaubten, zwischen Katholizismus und Judentum, sondern zwischen Katholizismus und Buber. Daß die Aussprache den Hörerkreis unbefriedigt ließ, lag aber nicht nur daran, daß die beiden Sprecher von verschiedenen, zäh festgehaltenen Voraussetzungen ausgingen, so daß schon darum eine Annäherung unmöglich war, sondern daß sie fortgesetzt wurde, obwohl sich die Unvereinbarkeit des Standpunktes der Beiden bereits in den ersten Minuten der Aussprache ergeben [hatte]. […] Die Aussprache endete in einem Monolog Bubers über das Tieropfer der Bibel und über seine, persönliche Einstellung zur religiösen Orthodoxie und zum Liberalismus, einen Monolog, den Hefele mit einigen liebenswürdigen Dankesworten für diese Darlegungen unerwartet abschloß.« (Vgl. R. M. [= Emilie »Millie« Rieger], Stuttgarter Religionsgespräche, S. 221.)

Nach etwa einem Monat, als Buber den Rahmen des nächsten Zwiegesprächs mit dem Tübinger Indologen Jakob Wilhelm Hauer brieflich besprach (vgl. den Einzelkommentar zum dritten Zwiegespräch zwischen Buber und Theodor Bäuerle, in diesem Band, S. 568 ff.), formulierte er ein persönliches Urteil über den Abend mit Hefele vom 18. November 1928. Um des Gesprächsgeists willen hatte sich Hauer nicht bereit erklärt, sich an einem Gespräch mit Buber vor einem zu gro-

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ßen Publikum zu beteiligen (vgl. Brief Hauers an Buber vom 31. Dezember 1928, B II, S. 326 ff.). Darauf antwortete Buber wie folgt: »Ihre Bedenken kann ich von meinen Erfahrungen aus mehr als verstehen. […] Das Schwere an dem zweiten Abend war ja eben doch nicht das Publikum, das, sowie sich die Scheidung vollzieht, eine Gemeinde in der echt gegenwärtigen Situation der Vermischung darbietet, eine über den Saal hin versprengte, anzeichenlose, von unserem Auge nicht zu umfassende und doch existente Gemeinde; das Schwere war, daß Hefele nicht den christlichen oder den katholischen Glauben, sondern die ›römische Kultur‹ meinte. Wir müssen nun zu Gesprächen vom Glauben und im Glauben gelangen.« (Brief Bubers an Jakob Wilhelm Hauer vom 3. Januar 1929 in B II, S. 328 f.)

Textzeugen: ts1: unvollständiges Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var 350 007 043); 24 lose paginierte Blätter einseitig beschrieben; auf der ersten Seite findet sich ein nachträglicher handschriftlicher Vermerk: »Nov. 1928 Stuttgarter Gespräche«. Die letzten Seiten fehlen. Das Typoskript ist zweischichtig: ts1.1: Grundschicht. ts1.2: Überarbeitungssschicht: Handschriftliche Korrekturen, wahrscheinlich von Bubers Hand. Druckvorlage: ts1.2 Variantenapparat: 247,9-10 Offenbarung] Begründung ts1.1 247,24 persönlichen Stellungnahme] Stellungnahme ts1.1 247,26 Zeit und Raum] Zeit ts1.1 247,37-38 Konflikte der Ketzerei] Konflikte ts1.1 248,16-18 mit einer historischen Betrachtung […] zu keiner] historisch dadurch, dass wir aus der Geschichte der Religion und der Geschichte der religiösen Bekenntnisse einzelner Menschen, wir kommen auf diesem Wege nicht zu einer ts1.1 251,20-21 von dem Ewigen spricht] an das Eheliche denkt ts1.1 251,23-24 ihr Innerstes suchend, über sich selber] fehlt ts1.1 256,4 vernichtet] eingetauscht ts1.1 259,10 geschichtlich wird, d. h. nach aussen tritt] da ist ts1.1 259,14 Wirken der Religion.] Wirken der Religion. / Dass es ein persönliches Erlebnis, dass es eine solche Wirkung gibt, ist anzunehmen. ts1.1 262,17 Es gab ja] Wahrscheinlich gab es ts1.1

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Wort- und Sacherläuterungen: 247,6-7 die Leichtigkeit, mit der Sie beide über das schwierige Problem hinweggegangen sind] Vgl. im vorigen Gespräch: »Ich möchte vorschlagen, daß wir uns heute auf die zweite Fragenreihe beschränken, denn die Frage, wie Religion und Volkstum historisch, ethnologisch zusammenhängen, das ist eigentlich eine wissenschaftliche Frage. Das heißt, es ist eine Frage, die entweder exact, oder gar nicht beantwortet werden kann.« Martin Buber, Religion und Volkstum, jetzt in diesem Band, S. 234. 247,8-10 die Unbefangenheit […] gesprochen haben] Vgl. im vorigen Gespräch: »Sie erinnern sich, daß wir in Ponte Tresa über das Buch Samuel gesprochen haben. […] das geht nicht, und wenn Samuel sagt, das hat Gott gesagt, so kann ich dazu nur sagen, ›dann hat Samuel Gott mißverstanden.‹« Martin Buber, Religion und Volkstum, jetzt in diesem Band, S. 242. 247,14-15 gingen Sie nicht nur von einer Stelle der Bibel aus] Es handelt sich um I Sam 15. Vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 242,39. 250,24-25 das Wort Intention] Im Begriff der Intention (Kawwanah) ist für Buber die ganze ethische Welt des Chassidismus enthalten. Vgl. den Einzelkommentar zu Der heilige Weg, in diesem Band, S. 474. 251,19 eine Stelle aus den Bekenntnissen Augustins] Die Stelle der Confessiones lautet nach der Übersetzung, die Herman Hefele selbst im Verlag Eugen Diederichs 1921 erscheinen ließ »Da sprachen wir denn einsam miteinander, gar süß und lieb, vergessen des Vergangenen und hingewandt zu dem, was vor uns lag (Phil. 3,13). Und vor dir, der du die Wahrheit, fragten wir uns so bei uns, wie wohl das ewige Leben deiner Heiligen sei, das da kein Auge noch gesehen und kein Ohr gehört und das in keines Menschen Herz gedrungen ist (1. Kor. 2,9). Und dürstend öffneten wir den Mund des Herzens den Wassern, die von oben strömen, deinem Quell, dem Quell des Lebens, der bei dir ist (Ps. 35,10), daß wir dort, wie wir es fassen könnten, Erquikkung fänden und die Kraft, so Hohes zu betrachten.« Des heiligen Augustin Bekenntnisse, übertragen und eingeleitet von Hermann Hefele, Jena 1921, S. 173-174. 253,40-41 die heutigen Religionspsychologen sagen, die Propheten waren Derwische] Als Derwisch (persisch für arabisch Sufi) wird der Angehörige eines muslimischen asketischen Ordens bezeichnet, der dem Sufismus, d. h. der islamischen Mystik zuzurechnen ist. 258,17-18 ein chassidischer Rabbi sagt: Sprenge dein Herz auf mit dem Nagel] Vgl. »Öffnen«, Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 428 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [526]): »Rabbi Schlomo von Karlin sagte zu

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einem: ›Ich habe keinen Schlüssel, dich zu öffnen‹. Der schrie: ›So sprengt mich denn mit einem Nagel auf!‹ Diesen Mann pflegte der Rabbi fortan sehr zu loben.« 258,30-32 der zweite Jesaja zu Gott sagt: »Du hast mich zu deinem blanken Pfeil gespitzt«] Vgl. die deuterojesajanische Stelle vom Knecht Gottes in Jes 49,2 nach der Verdeutschung Bubers und Rosenzweigs: »er machte mich zu einem blanken Pfeil«. Das Buch Jeschahaju, S. 200. 258,33-34 Erfolglosigkeit, […] die eigentliche Geschichte] Dieser Gedanke wird in mehreren theopolitischen Schriften Bubers weiter entfaltet wie z. B. 1928 »Biblisches Führertum« (jetzt in: MBW 13, S. 5859) und 1933 in »Geschehende Geschichte« (jetzt in: MBW 15, S. 277-280). 259,5 wie Joachim aus der Gemeinschaft ausgetreten] Gioacchino da Fiore (1130-1202) war Abt und Ordensgründer in der süditalienischen Region Kalabrien. Gegen das Jahr 1180 wurde er Abt der Benediktiner-Abtei von Santa Maria di Corazzo, die er aber 1186-1187 mit päpstlicher Genehmigung verließ, um sich der schriftstellerischen Tätigkeit zu widmen. 260,19-20 »Nein, dies habe ich nicht geboten«] Vgl. Jer 7,22. 260,36-37 ihre Hand auf das Haupt des Opfers stützen] Vgl. Lev 1,4; 3,2; 4,4; 16,21-22 (vgl. dazu Ex 29,10). 260,38-40 bei Moses wieder begegnen, wie er sein Amt Josua übergibt […] »Das bin nun ich«] Vgl. Dtn 34,9 und Num 27,18-20. 260,40-41 Er überträgt den Ruach] Hebr. ruach bedeutet »Wind, Atem, Geist«. 261,4-5 Nun als ich vor 1 1/2 Jahren das Pessachopfer der Samaritaner sah] Hier bezieht sich Buber auf seine erste Reise nach Palästina. Am 4. April 1927 landete Buber in Haifa und betrat zum ersten Mal Eretz Israel. Vgl. z. B. Bourel, Martin Buber, S. 383 f. 261,5 Pessachopfer der Samariter] Die Samaritaner (hebr. shomronim »Bewohner von Samaria« bzw. schomerim »Beobachter [des Gesetzes]«) sind eine religiöse Gemeinschaft, die aus dem alten Israel stammt und dem Judentum eng verwandt ist. Heutzutage zählt sie 800 Mitglieder, besitzt ein Heiligtum auf dem Garizim-Berg und eine alte, selbständige Version des Pentateuch, der an zahlreichen Stellen vom masoretischen Text (d. h. der im Judentum überlieferten Fassung) abweicht. 261,7 dieser Act der Semichah fehlte] Hebr. semikhah bedeutet »Auflegung« (aus der hebr. Verbalwurzel smk »stellen, legen«). 261,20-21 wenn nicht dies, »Dies habe ich nicht geboten«] Vgl. Jer 7,22.

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[Stellungnahme zur Strafbarkeit der männlichen Prostitution]

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261,32-37 Mit dem Exil ist der Opferkult […] sein Ende gefunden.] Mit Exil (hebr. galut) bezieht sich Buber hier nicht auf die Deportationen und die Zerstreuung in der babylonischen, sondern in der römischen Zeit (70 und 135 n. Chr.). Zahlreiche Propheten haben sich kritisch zum Opferkult geäußert wie z. B. I Sam 15,22; Ps 51,16; Jer 6,20; 7,21-23; Hos 6,6; Mi 6,6-8. 262,3-4 im 18. Jahrhundert dann im Chassidismus das Essen eine Opferhandlung wird]. Diese These wird von Buber genauer im »Geleitwort zur Gesamtausgabe«, in: Die chassidischen Bücher, Hellerau: Jakob Hegner 1928, S. XI-XXXI, hier S. XVIIf. (jetzt in: MBW 17, S. 129-143, hier S. 133) dargestellt. Bubers zentrale Auffassung, dass im Chassidismus die Heiligung alltäglicher Handlungen, die »Weihung des Alltags« sakramentale Bedeutung habe, ist ein wesentlicher Streitpunkt in der Kontroverse mit Scholem um das richtige Verständnis des Chassidismus. Vgl. Susanne Talarbadon, Einleitung, MBW 17, S. 29. 263,4 Sanhedrin] Hebr. sanhedrin (vom griechischen synédrion »Versammlung, Rat«): der Hohe Rat, d. h. das oberste jüdische Gericht und zugleich das wichtigste religiös-politische Organ der Juden. Der vom Hohepriester geführte und aus priesterlichen Richtern zusammengesetzte Sanhedrin wird erst im 2. Jh. v. Chr. erwähnt. Nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und der Stadt Jerusalem im 70 n. Chr. durch die Römer wurde der Sanhedrin nach Jawne verlegt. 263,12 Montefiore] Claude Joseph Goldsmid Montefiore (1858-1938), intellektueller Begründer und Hauptvertreter des englischen liberalen Judentums. [Stellungnahme zur Strafbarkeit der männlichen Prostitution] Buber verfasste seine Stellungnahme zur Strafbarkeit männlicher Prostitution im Herbst 1928 als Antwort auf eine Rundfrage, die in einem sehr eigentümlichen Sammelband erschien. Um diesen kurzen Text besser zu verstehen, sind die Bedingungen seiner Entstehung und die Situation, mit der sich Buber auseinandersetzt, genauer zu beleuchten. Die sexuelle Befreiung, die während der Weimarer Republik eine Beschleunigung erfuhr, und das seit Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt in Erscheinung tretende wissenschaftliche Interesse für sexuelle Fragen, hatten den geschlechtlichen Problemen eine unerhörte Bedeutung verliehen. Neben dem selbstverständlichen Einfluss der Psychoanalyse wäre auf das Berliner »Institut für Sexualwissenschaft« zu verweisen. Dieses wurde 1919

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durch den Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld (1868-1935), Arzt und Schriftsteller deutsch-jüdischer Herkunft, gegründet und seitdem von ihm geleitet. Hirschfeld war Begründer der Bewegung für die homosexuelle Befreiung und seit Jahren in der europäischen und internationalen Öffentlichkeit engagiert, um den berüchtigten Paragraph 175, der männliche Homosexualität unter Strafe stellte, abzuschaffen (vgl. dazu die Aufsatzsammlung von Kurt Hiller, § 175. Die Schmach des Jahrhunderts!, Hannover 1922). Diese neue soziale und kulturelle Bedeutung der Sexualität musste bald auch auf die Gesetzgebung Einfluss ausüben, wie die um die Mitte der zwanziger Jahre einsetzende Reform des deutschen Strafgesetzbuches zeigt. So wurde schließlich erwogen, den Paragraph 175 abzuschaffen. Obwohl der Entwurf der mit der Reform des deutschen Strafgesetzbuches beauftragten Kommission vorschlug, den § 175 zu streichen und so eine Zustimmung des Parlamentes zur endgültigen Tilgung des Paragraphen erhoffen ließ, wurden die Erwartungen durch die darauf folgende Einführung des § 297 enttäuscht. Nach dem Vorschlag der Kommission waren Strafen von 6 Monaten bis 10 Jahren Gefängnis für den Betrieb der mann-männlichen gewerbsmäßigen Prostitution bzw. gleichgeschlechtlichen Unzucht vorgesehen. Mit der Entlastung der Homosexuellen auf der einen Seite war also eine Verschärfung der Gesetzeslage an anderer Stelle verbunden. Den Vorschlägen der Kommission folgten langwierige und scharfe Debatten im Reichstag 1929. Wegen der zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Krise konnte die neue Gesetzgebung allerdings nicht mehr vor dem Kollaps der Demokratie auf den Weg gebracht werden und wurde angesichts der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik vollends hinfällig. (Vgl. zum Thema Laurie Marhoefer, Sex and the Weimar Republic. German Homosexual Emancipation and the Rise of the Nazis, Toronto 2015, S. 120-121.) Nach der Einführung des § 297 in den Reformentwurf der Kommission hat das Berliner »Institut für Sexualwissenschaft«, das bisher für die Abschaffung des § 175 gekämpft hatte, eine neue Kampagne gegen den neuen Paragraphen initiiert, um den Gesetzgeber zu beeinflussen. Im Rahmen dieser Kampagne wurde von Hirschfelds Mitarbeiter Richard Linsert (1899-1933) ein Sammelband herausgegeben, in den auch Bubers Beitrag aufgenommen worden ist. (§ 297, Ziff. 3 »Unzucht zwischen Männern«? Ein Beitrag zur Strafgesetzreform, hrsg. von Richard Linsert, unter Mitwirkung von Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld, Krim. Kommissar a. D. Gotthold Lehnerdt, Stadtarzt Dr. Max Hodann und Peter Martin Hampel, Berlin 1929.) Im ersten Teil folgte dem Vorwort des Herausgebers ein kurzer Aufsatz von Hirschfeld über Geschichte und

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[Stellungnahme zur Strafbarkeit der männlichen Prostitution]

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Ursachen der Homosexualität und die Ergebnisse einer umfassenden Untersuchung zur männlichen Prostitution in der Großstadt. Die kulturell-politischen Ziele des Bandes werden im Vorwort betont: »Die Aufgabe dieses Buches ist eine schwere. Es gilt, gegen Vorurteile anzukämpfen, Mißverständnisse hinwegzuräumen, Aufklärung zu schaffen über eine Erscheinung, deren Träger zu sein das entsetzliche Los einiger hunderttausend Menschen in Deutschland ist. Diesem Buch geht es um das Lebensglück von Mitmenschen, um das Wohl und Wehe von Daseinsgenossen, deren Tätigkeit man unsympathisch finden mag, die aber darum doch Anspruch haben auf das Elementarrecht jedes Individuums: körperlich über sich verfügen zu dürfen, über sich und über andere einsichts- und willensfähige Einzelne mit deren freier Zustimmung. Eingeschränkt werden darf dieses Verfügungsrecht nur, wo seine Ausübung eine Schädigung oder Gefährdung anderer Einzelner oder der Gesellschaft bedeuten würde.« (Ebd., S. 7.)

Im zweiten Teil des Buches wurden die »Meinungen der Kulturträger« publiziert. Die Einleitung von Richard Linsert zu diesem Teil enthält auch den Brief, in dem Linsert und das Institut für Sexualwissenschaft die angesehensten Persönlichkeiten der damaligen deutschen Kulturszene – unter ihnen auch Martin Buber– um eine Stellungnahme baten: »Hochgeehrter Herr! Erlauben Sie mir, in einer kulturpolitischen Angelegenheit von Bedeutung für kurze Zeit Ihr Interesse in Anspruch zu nehmen. / Der Amtliche Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches, der diesem Reichstage zur Beratung vorliegt, bedroht trotz eindringlichen Protestes der Sachkenner denjenigen Mann mit Zuchhaus (und zwar bis zu 10 Jahren), der ›gewerbsmäßig mit einem anderen Manne Unzucht treibt‹. / […] Den Berufenen erwächst somit die Pflicht, Aufklärung zu schaffen und, gerade weil das Thema peinlich ist, das Gewissen der Öffentlichkeit wachzurufen. Die parlamentarische Lage läßt in dieser heiklen Frage freilich keine aussichtsreiche Möglichkeit des Erfolges erhoffen. / So bleibt nichts anderes übrig als: der Appell an die geistigen Führer des Volkes. Sind die Beamten den Argumenten der Gerechtigkeit und Humanität einstweilen nicht zugänglich, so werden sie doch vielleicht auf die Stimme derer hören, deren Ruf und Ansehen für die Ernsthaftigkeit und Lauterkeit ihrer Gesinnung bürgt.«

Wie Linsert in seiner Einleitung zum zweiten Teil weiter ausführt, gingen zahlreiche Antwortschreiben auf die Anfrage ein. Unter den zahlreichen Persönlichkeiten, deren Stellungnahmen abdruckt wurden, befanden sich neben Martin Buber Alfred Döblin (1878-1957), Albert Einstein, Kurt Hiller, Karl Kautsky (1854-1938), Karl Kraus, Heinrich Mann, Bruno Taut (1880-1938), Kurt Tucholsky und Gustav Wyneken (1875-1964). Der Schriftsteller Alfred Döblin erklärte sich mit Linserts Argumenten völlig einverstanden: »Was nicht durch die Art seines Auftretens öffentliches Ärgernis erregt – geht keine Öffentlichkeit was an.« (Ebd., S. 114.)

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Albert Einstein (1879-1955), seit 1921 Nobelpreisträger für Physik, kommentierte: »Hoffentlich siegt hier ausnahmsweise die Vernunft und nicht jene Mischung von Prüderie und Stumpfsinn, die wir in solchen Dingen zu erleben gewohnt sind« (ebd., S. 115). Der österreichische Schriftsteller Karl Kraus (1874-1936) antwortete sarkastisch: »Im ewigen Reich der sinnlichen Triebe, die selbst älter sind als der Drang nach Heuchelei, wird der Gesetzgeber immer vergebens stümpern.« (Ebd., S. 119.) Der Philosoph und Schriftsteller Theodor Lessing (1872-1933) wies darauf hin, dass »der Begriff der ›gewerbsmäßigen Unzucht‹, ja der Begriff der Prostitution überhaupt, keineswegs aus der Erfahrung stammt und vorhandene Schäden und Laster konstatiert, sondern aus einer der Klärung bedürftigen Moraleinstellung und Weltauffassung, welche die Schäden, die sie bekämpft, selber erschafft.« (Ebd., S. 119-120.) Heinrich Mann (1871-1950) stellte u. a. die folgenden Fragen: »Erstens: Warum soll nur der ins Zuchthaus, der sich verkauft, nicht aber der Käufer? Zweitens: Wem wird geschadet mit der ›Gewerbsunzucht‹ der Männer? Wer wirft sich hier zum Vorgesetzten unserer privaten Neigungen auf, verbietet oder erlaubt sie nach seinem beschränkten Gutdünken?« (Ebd., S. 121.) Einige Auszüge des Buches und damit auch die Stellungnahme Bubers wurden zuerst im Dezember 1928 in der Zeitschrift Das Forum vorab publiziert. Im Januar 1929 erschien dann auch das vollständige Buch. Textzeugen: D1: Das Forum IX, Heft 3, Dezember 1928, S. 120 (MBB 379). D2: § 297, Ziff. 3 »Unzucht zwischen Männern«? Ein Beitrag zur Strafgesetzreform, unter Mitwirkung von Magnus Hirschfeld, Gotthold Lennerdt, Max Hodann und Peter Martin, hrsg. von Richard Linsert, Berlin 1929, S. 114 (in MBB nicht verzeichnet). Druckvorlage: D1 Vorwort [zu »Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen«] Während der Zeit seiner intensiven Beschäftigung mit dem religiösen Sozialismus (vgl. die Einleitung zu »Drei Sätze eines religiösen Sozialismus«, in diesem Band, S. 230-232) gab Buber 1929 »unter Mitwirkung« der Sozialwissenschaftlerin Ina Britschgi-Schimmer (1881-1949) die zweibändige Sammlung der Briefe Landauers im Frankfurter Verlag Rütten & Loening heraus und verfasste dafür dieses Vorwort. Dieses editorische Unternehmen sollte gewissermaßen eine Periode beenden, in der

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Vorwort [zu »Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen«]

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sich Buber »im letztwilligen Auftrag des Verfassers« um die Publikation zahlreicher Schriften des am 2. Mai 1919 ermordeten Freundes gekümmert hatte. Bis dahin waren erschienen: 1920 eine Sammlung von 17 Texten über die Dramen William Shakespeares (Gustav Landauer, Shakespeare. Dargestellt in Vorträgen, hrsg. von Martin Buber, Frankfurt a. M. 1920), die durch ein gemeinsames Vorwort des Herausgebers und des Verlegers ergänzt wurden; die Auswahl und Übersetzung einer Sammlung von Schriften Meister Eckharts, die erstmals 1903 erschienen war und von Buber ohne Vorwort wiederabgedruckt wurde (Gustav Landauer, Meister Eckharts mystische Schriften, Berlin 1920); dann 1921 beim Potsdamer Verlag G. Kiepenheuer eine Sammlung von 31 kulturund literaturkritischen Schriften mit einem Vorwort und einer Vorbemerkung Bubers (Gustav Landauer, Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum, hrsg. von Martin Buber, Potsdam 1921); 1923 beim Verlag F. J. Marcan zu Köln die zweite, nach Landauers Handexemplar von Martin Buber verbesserte und erweiterte Auflage von Gustav Landauer, Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, 1. Aufl. Berlin 1903; schließlich 1924 eine Sammlung von 22 sozialistischen Schriften beim Kölner Verlag MarcanBlock: Gustav Landauer, Beginnen. Aufsätze über Sozialismus, Köln 1924 mit einem Vorwort Martin Bubers. Die genannten Vorworte werden, da sie vornehmlich bibliographische Informationen enthalten, im Rahmen der MBW nicht abgedruckt. Anfänglich hatte Buber geplant, diese herausfordernde Arbeit zusammen mit Hans Lindau (1875-1963) zu unternehmen, der als Bibliothekar in Berlin tätig und ein alter Freund aus der Studentenzeit war. Nachdem er im Jahr 1924 vom Protestantismus zum Katholizismus konvertiert war, setzte Lindau jedoch das Projekt in der Anfangsphase aus (vgl. dazu Wolf von Wolzogen, Ina Britschgi-Schimmer, Co-Editor of Gustav Landauer’s Letters, in: Gustav Landauer: Anarchist and Jew, hrsg. von Paul Mendes-Flohr und Anya Mali, Berlin u. a. 2015, S. 191-204, hier S. 192). So vertraute Buber die Betreuung dieser großen Briefsammlung Ludwig Strauß an. Am 10. Februar 1925 aber schrieb Strauß an Buber: »Nun sage ich eine Bitte an Sie, die mir nicht leicht fällt: mich von meiner Zusage, die Herausgabe der Landauerbriefe betreffend, zu lösen. Ich hatte unter falschen Voraussetzungen den Auftrag übernommen. Vor allem: ich stellte mir die Theaterferien mindestens dreimonatig vor, und sie dauern praktisch nur 6 Wochen (die letzten 14 Tage muß schon vorbereitet werden); so dachte ich, wenn ich selbst während der Spielzeit nicht zu dieser Arbeit käme, könnte ichs im Sommer leicht nachholen. Nun sehe ich, daß ich zwar wirklich während der Spielzeit sehr beschäftigt bin und froh sein muß, hin und wieder ein paar Stunden für dichterische

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Arbeit zu finden. Die Zeit im Sommer, die doch nun kurz genug ist, brauche ich aber unter diesen Umständen nötig zu Ruhe und privater Arbeit (womit ich jetzt die nicht fürs Theater getane meine). Wenn also irgend möglich wäre, jemand unter den vielen jungen Leuten, denen Landauers Andenken teuer ist, zu finden, der mehr Zeit hat und mich ersetzen könnte, wäre ich sehr froh (kommt Ernst Simon nicht in Betracht?)« (BBS, S. 93 f.)

Daraufhin wandte sich Buber an die freisozialistisch orientierte Ina Britschgi-Schimmer, die 1903 ein ganzes Jahr in dem auch mit der Unterstützung Bubers neugegründeten Jüdischen Verlag in Berlin gearbeitet hatte, 1916 eine soziologische Untersuchung zur sozialen Lage der italienischen Arbeiter in Deutschland publiziert und soeben eine dokumentarische Biographie über Ferdinand Lassalle zum Druck gegeben hatte (vgl. Ina Britschgi-Schimmer, Lassalles letzte Tage. Nach den Originalbriefen und Dokumenten des Nachlasses, Berlin 1925). In der Berliner Zeit, als Landauer die Zeitschrift Der Sozialist gründete, konnte sie sich häufig mit ihm unterhalten und war von seiner Persönlichkeit so fasziniert, dass sie damals plante, eine Biographie Landauers zu verfassen, die aber nicht zustande kam, abgesehen von einem Abriss und einem im Herbst 1928 entstandenen, doch unveröffentlicht gebliebenen 18-seitigen Artikel über das Engagement Landauers in der Münchener Revolution, der von Buber revidiert wurde (vgl. Ina Britschgi-Schimmer, Gustav Landauers Weg durch die Münchener Revolution. Eine Darstellung, in Central Zionist Archive, Ina Britschgi-Schimmer File A 110, 12; vgl. auch Wolzogen, Ina Britschgi-Schimmer, S. 198.) In seinem Vorwort zur Briefsammlung erwähnt Buber in Bezug auf die Anmerkungen zu den 594 Briefen die »unermüdliche Arbeit«, die Ina Britschgi-Schimmer geleistet hat, ohne jedoch auf den wichtigsten Beitrag von ihr hinzuweisen, wie Wolf von Wolzogen richtig pointiert: »What Buber fails to mention, however, is that it was Ina Britschgi-Schimmer who conducted the painstaking and intensive search for the letters, and capably coped with the many unpleasant conflicts of interest that arose between the editors and their corrispondents. Her correspondence with Martin Buber also indicates that she occasionally even spent her own money to finance the copying and transcribing of letters.« (Wolzogen, Ina Britschgi-Schimmer, S. 193.) Obwohl der größte Teil der Sammlung bereits im September 1926 fertig vorlag (468 Briefe), wie Britschgi-Schimmer in einem Brief an Buber mitteilte, kam es wegen fehlender Druckerlaubnis seitens einiger Korrespondenten zu einer Verzögerung bis Ende 1928. Als engagierte Mitarbeiterin, die das Projekt bereits in seiner keimhaften Stufe übernahm, die anstrengendste Arbeiten durchführte und die Bände von Anfang an editorisch betraute, erwartete Britschgi-Schimmer

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Vorwort [zu »Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen«]

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selbstverständlich, dass sie zumindest als Mitherausgeberin genannt würde. Bitter enttäuscht wurde sie, als sie im Herbst 1927 entdeckte, dass Buber, wie dem Titelblatt in den Druckfahnen zu entnehmen war, sich als alleiniger Herausgeber ausgab, und ihre Rolle auf eine nebensächliche »Mitwirkung« begrenzt wurde. Bald kam es freilich zum Streit, wie der unveröffentlichte Briefwechsel vom Ende 1927 zeigt (ein Teil davon wurde in englischer Übersetzung in Wolzogen, Ina Britschgi-Schimmer, S. 200 ff. reproduziert). In Wahrheit – so die Rechtfertigung Bubers – könne er nicht frei entscheiden, weil er aus rechtlichen Gründen als einziger Herausgeber erscheinen müsse, weil er »im letztwilligen Auftrag des Verfassers« wirke. Ina Britschgi-Schimmer wurde dadurch so beleidigt, dass sie den Plan aufgab, die Biographie Landauers zu schreiben. Obwohl das Buch offiziell Anfang 1929 erschien, wurde es schon im November bzw. Dezember 1928 abgeschlossen, wie das Impressum des Verlags und andere zeitgenössische Quellen zeigen. So bestätigte etwa Wilhelm Michel am 29. Dezember 1928 Buber den Erhalt der Briefe: »Landauers Briefe habe ich auch erhalten; sie sind eine außerordentlich wichtige Ergänzung zu seinen Werken und zu seinem politischen Auftreten; letzteres besonders ist mir durch sein entschiedenes Abrücken von den Münchener Revolutionären in der erwünschtesten Weise klargestellt.« (B II, S. 325.) Wichtig ist festzuhalten, dass diese Briefsammlung, wie Buber selbst erklärt, eine Briefauswahl darstellt – zum einen wegen der Unmöglichkeit alle Korrespondenten Landauers zu ermitteln bzw. zu erreichen, zum Anderen weil diese häufig nicht dazu bereit waren, dem Herausgeber persönliche Schreiben zu übermitteln, und schließlich, weil es Buber manchmal nicht ratsam erschien, Texte zu publizieren, in denen lebende Personen erwähnt wurden. Das bedeutet ferner, dass diese Sammlung nicht alle Briefe Landauers, die dieser schrieb, enthält und auf solche, die er empfing, ganz verzichtet. Im selben Jahr, d. h. zwischen Ende 1928 und Anfang 1929 erschien z. B. im Rowohlt Verlag der Briefwechsel Landauers mit der Schriftstellerin Auguste Hauschner (1850-1924), die seit Frühjahr 1900 Briefpartnerin Gustav und Hedwig Landauers war und im Laufe der Zeit eine so enge Freundschaft zu ihnen entwickelte, dass ein erheblicher Teil der von Buber herausgegebenen Briefe Landauers an beide gerichtet waren. Trotzdem enthält der Briefwechsel Hauschners nicht wenige Briefe Landauers, die Buber nicht berücksichtigen konnte oder wollte. Leonhard Ragaz konnte das Erscheinen der Briefsammlung bereits im Februar-Heft der Zeitschrift Neue Wege mit den folgenden Worten ankündigen: »Am 15. Januar war der zehnte Jahrestag des Todes von Rosa

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Luxemburg und Karl Liebknecht, beides herrliche Menschen, vor allem Rosa Luxemburg, wie besonders ihre Briefe jedem zeigen, der nicht sieben Bretter des Parteihasses vor dem Kopf hat. Auch politisch haben sie das Rechte gewollt (eine richtige Revolution zu schaffen), es aber freilich mit falschen Mitteln durchzusetzen versucht. Am 21. Februar aber ist der zehnte Jahrestag der Ermordung Kurt Eisners. Auch dessen Gestalt tritt immer grösser und reiner hervor, in dem Masse, als die blutigen Nebel, die über jener ganzen Periode liegen, zu weichen beginnen. Gewaltig und erschütternd tritt das Bild jener Tage uns in den Briefen von Gustav Landauer entgegen, welche Martin Buber neuerdings herausgegeben hat. Ein Goldschatz und eine Lektüre von einzigartigem Wert. Davon anderswo mehr.« (Leonhard Ragaz, Sozialismus und soziale Zustände, Neue Wege 2 [1929], S. 101-102). Anlässlich des zehnten Todestags Gustav Landauers publizierte Hans Kohn im April 1929 in der Züricher Zeitschrift Neue Wege – die Ausgabe war dem Gedenken Gustav Landauers gewidmet – einen Gedenkartikel, der im Grunde genommen als Rezension des gerade erschienenen Briefwechsels Landauers anzusehen ist (Hans Kohn, Der Lebensgang eines Revolutionärs, Neue Wege 4 [1929], S. 165-171). Kohn beendet seinen Text mit den Worten: »Dem Herausgeber, Landauers treuestem Freund und Lebensgefährten, gebührt besonderer Dank dafür, dass er es verstanden hat, in der Anordnung der Briefe mehr zu geben, als eine Briefsammlung, dass wir vielmehr eine Biographie vor uns sehen, aus der die Entwicklung ihrer Idee, und in der sich zugleich alle kulturellen und politischen Ereignisse Mittel-Europas in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts spiegeln.« (Ebd., hier S. 171.) Im gleichen Heft der Neuen Wege, kam Ragaz in seinem Beitrag zu dem Urteil: »Ich betrachte ihr Erscheinen als ein Ereignis ersten Ranges, das freilich nur nach und nach seine ganze Tragweite offenbaren wird. Für mich jedenfalls sind diese Briefe ein solches Ereignis. Es hat mich gewaltig erschüttert und bewegt mich fortwährend aufs tiefste. Hier enthüllt sich nun der ganze Landauer.« (Leonhard Ragaz, Begegnung mit Landauer, Neue Wege 4 [1929], S. 176.) Eine weitere wichtige Rezension veröffentlichte zeitnah Max Nettlau (1865-1944), der bedeutendste Historiker des Anarchismus, der seinen Text mit folgenden Worten beendete: »Es sind ungewöhnlich reichhaltige Briefe wohl des ersten Denkers im deutschen sozialistischen Anarchismus neben Max Stirner. Der Sozialismus wird sich im Sinn solcher Ideen erneuern oder er wird in der Zwangsjacke eines Bolschewismus oder eines Fascismus untergehen.« (Max Nettlau, Boekbespreking: Gustav Landauer, Sein Lebenswerk in Briefen, Internationale Revue, i 10, [Amsterdam] 25. Juni 1929, S. 198-199.)

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Vorwort [zu »Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen«]

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Textzeuge: D: Vorwort, in: Martin Buber u. Ina Britschgi-Schimmer (Hrsg.), Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1929, S. V-VIII (MBB 387). Druckvorlage: D Wort- und Sacherläuterungen: 265,10 in einem (uns nicht zur Veröffentlichung übergebenen) Brief] Der Brief wurde nicht ermittelt. 266,14 Hedwig Lachmann] Hedwig Lachmann (1865-1918), Dichterin, Schriftstellerin und angesehene Übersetzerin, besonders von englischer und ungarischer Literatur. 1899 lernte sie in Berlin Gustav Landauer kennen, mit dem sie 1901 nach England zog. 1903 heirateten sie nach Deutschland zurückgekehrt, und hatten zwei Töchter. Hedwig Lachmann starb 1918 an einer Lungenentzündung. Zu ihrer Gestalt vgl. Birgit Seemann, Hedwig Landauer-Lachmann: Dichterin, Antimilitaristin, deutsche Jüdin, Lich 2012. 266,17-18 die Helfer-Arbeit an Fritz Mauthners sprachkritischem Werk] Gemeint ist das dreibändige Hauptwerk Fritz Mauthners, das unter dem Titel Beiträge zu einer Kritik der Sprache 1901-1902 beim Stuttgarter Verlag Cotta erschienen war und den Autor zu einem Begründer der modernen Sprachphilosophie machte. Kurz danach verfasste Landauer eine Schrift unter dem Titel Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Berlin 1903 (2. Aufl. hrsg. von Martin Buber, Köln 1923). Darüber hinaus hatte Fritz Mauthner eine der sozialpsychologischen Monographien in der 1906-1912 von Buber beim Rütten & Loening herausgegebenen Bücherreihe Die Gesellschaft verfasst und dem Freund Gustav Landauer gewidmet (vgl. Fritz Mauthner, Die Sprache, Frankfurt a. M. 1907; zur Sammlung Die Gesellschaft vgl. den Kommentar zu Bubers »Geleitwort«, in diesem Band, S. 424). Die Mitarbeit Landauers am Hauptwerk Mauthners fand in der Zeit statt, als Landauer im Gefängnis in Tegel saß. Er ließ sich das Manuskript des Werkes zukommen und schrieb ein Memorandum zum Buch Mauthners, wie aus dem Brief Landauers an ihn vom 13. September 1899 zu erfahren ist: »Es ist eine Zusammenstellung, alles dessen, was ich Ihnen zu diesem Teil zu sagen habe.« Gustav Landauer und Fritz Mauthner, Briefwechsel 1890-1919, bearb. von Hanna Delf, München 1994, S. 25; vgl. dazu auch die Briefe vom 29. September 1899 und vom 30. September 1899, ebd., S. 26 ff.

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266,19-23 Anteilnahme an der Begründung der »Neuen Gemeinschaft« […] Ich habe Landauer damals kennengelernt] Zur Gründung der Zeitschrift Neue Gemeinschaft durch die Brüder Heinrich (18551906) und Julius Hart (1959-1930) vgl. den Einzelkommentar zu Bubers Vortrag »Alte und neue Gemeinschaft« in MBW 2.1, S. 251 ff. Gegen Ende Juni 1900 wurde Buber von ihnen eingeladen, einen Vortrag über »Alte und neue Gemeinschaft« zu halten. Bei einem Treffen dieses Kreises im Berliner Architektenhaus lernte Buber Gustav Landauer kennen. Vgl. dazu ferner Kohn, Martin Buber, Hellerau 1929, S. 28-31 und Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 11 ff. und S. 183 ff. 267,2 Ludwig Berndl] Ludwig Berndl (1878-1946), Wiener Schriftsteller und Übersetzer, Freund und Anhänger Gustav Landauers. 267,3 Constantin Brunner] Arjeh Yehuda Wertheimer alias Constantin Brunner (1862-1937), nach dem Rufnamen Leo Brunner genannt, war ein Hamburger Philosoph und Schriftsteller jüdischer Herkunft, Antizionist und Freund Landauers. Er starb in Den Haag, wohin er wegen seiner Kritik am Nationalsozialismus emigrieren musste. 267,5-6 Margarete Faas-Hardegger] Margarete Faas-Hardegger (18821963), Schweizer Vertreterin der Frauen- bzw. Arbeiterbewegung, Gewerkschaftsführerin, gründete 1908 mit Gustav Landauer sowohl den Sozialistischen Bund als auch die Zeitschrift Der Sozialist. Nach 1913 kam es zu einem Bruch der Beziehungen. 267,21-22 Dr. Max Kronstein] Max Kronstein (1895-1992), heiratete 1922 Charlotte Landauer, Landauers älteste Tochter. 267,27-28 Dr. Hans Lindau] Hans Lindau arbeitete als Bibliothekar bei der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin und wurde von den Nationalsozialisten entlassen. [Religion und Politik] Am 17. Februar 1929 fand zum Thema »Religion und Politik« das dritte und vielleicht gelungenste Religionsgespräch in der Vortragsreihe »Öffentliche Zwiegespräche über Judentum und religiöse Fragen der Gegenwart« im Jüdischen Lehrhaus Stuttgart statt. Der hier zum Abdruck kommende Text des Gesprächs basiert auf dem bisher unveröffentlichten, im MBA erhaltenen Typoskript (vgl. Arc. Ms. Var 350 007 43). In diesem Gespräch setzte sich Buber mit Theodor Bäuerle (1882-1956) auseinander, einem evangelischen Reformpädagogen und Volkshochschullehrer, der von 1947 bis 1951 deutsch-demokratischer Politiker bzw. Kultus-

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minister des Landes Baden-Württemberg war (zu seiner Gestalt vgl. Dieter Schmitt, Theodor Bäuerle [1882-1956]. Engagement für Bildung in schwierigen Zeiten, Stuttgart 2003). Am Vorabend, d. h. am 16. Februar 1929, kam es aber zu einem weiteren Treffen, in dem Buber und Jakob Wilhelm Hauer, ein angesehener Tübinger Professor für Indologie und Allgemeine Religionsgeschichte, zwar gleichfalls im Rahmen derselben Vortragsreihe, aber nicht in den üblichen öffentlichen Räumen des Lehrhauses, sondern in einem Privathaus, über die Gestalt Jesu vor einem kleineren Kreis von Zuhörern diskutierten. Kurz nach dem Gespräch mit Hermann Hefele am 18. November 1928 (vgl. »[Religion und Autorität]«, in diesem Band S. 247-263 sowie die Wort- und Sacherläuterungen dazu) war Hauer – der zu den ersten zwei Stuttgarter Gesprächen als Zuhörer eingeladen war, aber nicht teilnahm – als neuer christlicher Gesprächspartner für den nächsten, dem Thema »Religiöser Weltbund« gewidmeten Religionsdialog im Jüdischen Lehrhaus in Betracht gezogen worden. (Vgl. Anja Waller, Das Jüdische Lehrhaus in Stuttgart 1926-1938. Bildung – Identität – Widerstand, Stuttgart 2017, S. 101.) Hauer äußerte Bedenken, zu religiösen Themen vor einem passiv rezipierenden Publikum zu sprechen: »Auf keinen Fall aber scheint mir das religiöse Gespräch fördernde Wirkung zu haben, wenn es sozusagen sich vor einer Versammlung abspielt, die nur zuhört und gespannt ist, wer am schlagfertigsten, am geistreichsten entgegnet. Unter dieser Bedingungen leert sich, bei mir wenigstens, alles aus, selbst wenn ich mich bis zu einem gewissen Grad von den Zuschauern lösen kann. Ein religiöses Gespräch vor einer Versammlung kann nach meiner Ansicht nur ein Monolog sein, weil dann der Sprechende sich gänzlich in sich zurückziehen und unbekümmert um die anderen und um ein menschliches Du aus dem innersten Heiligtum seines Herzens reden kann, unbekümmert darum, ob jemand lauscht oder nicht lauscht.« (Brief Hauers an Buber vom 31. Dezember 1928, B II, S. 327.) In seiner Antwort vom 3. Januar 1929 erklärte sich Buber mit Hauers Vorbehalten völlig einverstanden, obwohl er zugleich die positive Seite beleuchtete, die darin bestehe, dass das schwierige Reden vor einem großen Publikum an Konkretheit gewinne, weil eine so differenzierte Zuhörerschaft jene viel lebendigere Wirklichkeit widerspiegele, in der das Sprechen alltäglich geführt werden müsse, um real zu sein (vgl. Brief Bubers an Hauer vom 3. Januar 1929, B II, S. 328; dazu auch Einzelkommentar zum Gespräch mit Hefele, in diesem Band, S. 555 f.). Im Falle Hauers ist es übrigens bemerkenswert, dass seine Hemmung, vor der Öffentlichkeit über »Religion« zu sprechen, vollkommen verschwunden war, als er am 26. April

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1935, nachdem er im Mai 1933 sich der nationalsozialistischen Partei angenähert hatte und ab Sommer 1934 der SS beigetreten war, bei der Gründung der »Deutschen Glaubensbewegung« vor einem riesigen Publikum in der Berliner Sporthalle eine Rede hielt (vgl. Ulrich Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegungen, Marburg 1993, S. 276). Mit Hauer wurde schließlich am 16. Februar 1929 ein halböffentliches Gespräch über Jesus vor einem kleineren Kreis von »innerlich reife[n] Menschen« veranstaltet (vgl. hierzu Zelzer, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein Gedenkbuch, S. 123). Nach der Absage Hauers kam Theodor Bäuerle für das dritte Religionsgespräch in Frage. Mit ihm diskutierte Buber die Inhalte des öffentlichen, am Abend des 17. Februar 1929 abzuhaltenden Lehrhaus-Gesprächs brieflich vorab. Anfänglich schlug Buber als Thema und Titel des Abends »Religion und Revolution« vor. Da aber Bäuerle sich nicht imstande fühlte, über ein solch schwieriges Thema öffentlich zu sprechen, optierte man schließlich für »Religion und Politik«. In dem Brief an Bäuerle vom 18. Januar 1929 nahm Buber manche Themen des bevorstehenden Gesprächs vorweg: »Diese Welt, so erscheint es mir, ist weder Gottes noch des Teufels, sondern vorerst ihr eigen und des Menschen. Und für diesen gilt Gottes Gebot durchaus nicht im Sinn eines Entweder-Oder (Erreichung oder Nichterreichung, Erfüllung oder Nichterfüllung), sondern in die Wirklichkeit der menschlichen Situation hinein, wo wir jeweils etwas erfüllen können, eben nach dem Vermögen dieser Stunde dieser Person, und dieses Etwas (wenn wir es nur tun!) ist genau das was Gott von diesem Menschen fordert, das menschliche quantum satis. Nur weil wir uns Gottes Forderung als die zur Vollkommenheit denken (wie sollte Gott so etwas vom Menschen in concreto fordern!), geraten wir in den Dualismus, von dem Sie sprechen. Freilich können wir nicht gewaltlos leben, das vermöchten wir, vermöchte die Welt erst, wenn sie ganz erlöst wäre; aber wir können in jeder Lage, in jeder Umgebung ein Quentlein Gewaltlosigkeit wirklich machen; wieviel? soviel wir eben jetzt und hier vermögen. […] / Wahrscheinlich ist dennoch ›Religion und Revolution‹ nicht das richtige Thema; diese Vermutung hat mich schon vor Ihrem Brief wiederholt angewandelt. Aber das liegt daran, daß man – und auch dies klingt ja aus Ihren Worten – über Revolution kaum reden kann, ich meine: in der Verantwortung, also religiös; es liegt darin beinah eine ähnliche Gefahr wie darin, vom Tod zu reden: beide geschehen zu ihrer Zeit, beiden haben wir dann standzuhalten, sie redend vorwegzunehmen verletzt ihre eigentliche Wahrheit. Nur brüderlich einander stärken, sie zu bestehen, ist uns Recht und Pflicht. / Dagegen scheint mir ein zur Aussprache zwischen uns geeignetes, ja sich unserm Wesen und Leben nach geradezu darbietendes Thema ›Religion und Politik‹ zu sein. Hier gibt es eine Fülle von Fragen aus der Tatsächlichkeit, die zu besprechen erlaubt, geboten ist. Und auch das Problem der Gewalt würde sich hier in einen

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Zusammenhang einfügen, in dem es unmittelbar, faktisch und also besprechbar wird.« (Brief Bubers an Bäuerle vom 18. Januar 1929, B II, S. 329 f.)

Über das Gespräch zwischen Buber und Bäuerle wurde ausführlich und teilweise sehr kritisch in der lokalen jüdischen Gemeindepresse berichtet. »Kein verlorener Abend! Aber doch nicht die Erfüllung hochgespannter Erwartung. Beide Sprecher standen unter dem Bann der Auswirkung von Religion und Politik in Kirche und Staat. Aber Kirche und Staat sind nicht Verkörperungen, sondern Verkrustungen von Religion und Politik, nicht ihre natürlichen Fortbildungen, sondern ihre Entartungen. Man vergaß fast, daß beide ein Eigenleben haben, das groß und ernst genug ist, allein betrachtet zu werden. / Ebenso wenig befriedigte die konstruierte Gegensätzlichkeit zwischen beiden. In einem höheren Sinne gehören sie zusammen, sind sie Betrachtungsformen des einen Lebens von verschiedenem Standpunkte aus. […] Die Urkunde ihrer Harmonisierung ist die Bibel. Sie zeigt die Geschichte der Verschwisterung von Religion und Politik, ihre Grundlagen und ihre Erfolge. Der Messianismus ist nicht die Ausflucht aus dem Dilemma, da die Verschwisterung beider im Königtum nach dem Willen Gottes mißglückt war, sondern die natürliche Endfolgerung des theokratischen Gedankens, der die ganze Bibelwelt trägt: die Herrschaft Gottes auf Erden. Die heilige Schrift zeigt die Welt, in der Religion und Politik Einheit sind: beide sind hier das Leben mit Gott. Die Staatenbildung, das irdische Königtum erfolgt im Widerspruch zum Gottesstaat. Augustinus Gottesstaat ist ein bewußtes Zurückgehen auf sein Urbild in der heiligen Schrift, ebenso wie Penns und Cromwells Idealstaat an ihm orientiert sind. / Vielleicht hätte das Gespräch vom Weltbild der heiligen Schrift, vom Staate des Plato und des Aristoteles ausgehen und dann die Herabwürdigung beider zu ›Mitteln‹ aufzeigen und in die ideale Forderung der inneren Harmonie beider ausklingen sollen. Statt dessen unterhielten sich die Sprecher des Abends über die Entartungen der Religion und der Politk in Kirche und Staat und über die mißbräuchlichen Uebergriffe beider, an denen Religion und Politik so wenig schuld sind wie etwa das Recht an den Entgleisungen der Rechtswissenschaft oder die Sprache an den Ideologien der Philologie.« (Anonym, Das dritte Religionsgespräch. Direktor Theodor Bäuerle und Martin Buber über Religion und Politik, Jüdisches Gemeindeblatt für die israelitischen Gemeinden Württembergs 23 [1929], S. 302-303, hier S. 302).

In diesem Gespräch nimmt Buber zahlreiche Themen, insbesondere in Bezug auf die wahre oder falsche Theokratie und den Messianismus vorweg, Begriffe, die er 1932 in seinem Werk Königtum Gottes umfassend entfalten wird. Es sollte bei alledem nicht vergessen werden, dass diese Diskussion, vor allem aber die Erörterung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat, nur knapp eine Woche nach dem Abschluss der sogenannten Lateranverträge am 11. Februar 1929 stattfand, die zwischen dem Königreich Italien, damals vertreten von Benito Mussolini (18831945) als faschistischem italienischem Ministerpräsident, und der ka-

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tholischen Kirche geschlossen wurden. Diese historische Tatsache wirft ein besonderes Licht auf die ganze Diskussion. Textzeugen: TS1: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var 350 007 43a); 56 lose paginierte Blätter; einseitig beschrieben. Das Typoskript ist zweischichtig: TS1.1: Grundschicht. TS1.2: Überarbeitungsschicht: Handschriftliche Korrekturen, offenkundig nicht von Bubers Hand. Da sich die Korrekturen vornehmlich auf die Abschnitte Bäuerles beziehen, kann angenommen werden, dass sie von dessen Hand stammen. Druckvorlage: TS1.2 Variantenapparat: 268,9 umspannend] umfassend TS1.1 269,35 religiöse Menschen] erlöste Menschen TS1.1 269,38 Kraft] Wahrheit TS1.1 270,16 allernötigste] allerhöchste TS1.1 270,31-32 Orientierungen] Erörterungen TS1.1 271,40 Handelns] Lebens TS1.1 272,5 grundsätzliche Fragen] Fragen TS1.1 274,19 Rechnung] Richtung TS1.1 274,34 Problem, unter dem der religiöse Mensch steht] Grundproblem des religiösen Menschen TS1.1 274,38 negative] objektive TS1.1 275,2 Satans] Staates TS1.1 275,10 Welt] Menschen TS1.1 275,16-18 Werden […] Politik sagen] Wirken einer menschlichen Gemeinschaft, als eine, als die höchste religiöse Aufgabe ansieht, muß zu der Politik stehen TS1.1 275,25 Material] Mittel TS1.1 275,38 Politiken] Probleme TS1.1 277,1 indem er auf ihn Macht ausübt] das nennen wir Macht TS1.1 277,19-20 Realisationsformen] realen Form TS1.1 277,28 Kariathyden] Kreaturen TS1.1 280,3 Messianismus] Israelismus TS1.1 280,9 bringt] ruft TS1.1 280,19 neueren Zeit] neuen Welt TS1.1 280,20 Versuche die Theokratie zu verwirklichen] fehlt TS1.1

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280,28 in der biblischen Politeia] in dem ersten Teil, wenn ich mich so ausdrücken darf, der biblischen Politeia TS1.1 281,21 keine Propheten mehr gibt] keine Priester mehr gibt, die Propheten gaben TS1.1 281,23 Prophetie] Hierarchie-Prophetie TS1.1 282,29-30 Erlauben Sie […] spreche:] fehlt TS1.1 282,34 Lebendigkeit] Lebenden TS1.1 283,11 Verqickung] Aufgabe TS1.1 283,31-32 , weil die Ehre Gottes das Höchste ist] fehlt TS1.1 283,34 Imperiums] Territoriums TS1.1 283,38-39 , diese Politik durchzuführen] fehlt TS1.1 284,9 Realisierungstendenz hier so stark war] Erlösungstendenz der Gemeinschaft so überwältigend ist TS1.1 284,14 Leben] Zentrum TS1.1 284,20 Mensch] Versuch TS1.1 284,29 Hinweis […] Gegensatz hierzu.] fehlt TS1.1 284,38 aktiven Politik] Politik TS1.1 285,3 Mitmenschen] Menschen TS1.1 285,20 stark] eindeutig TS1.1 285,25 auch als religiös falsch orientiert] als nicht zu der religiösen Gemeinschaft gehörig TS1.1 286,37 aufgetan hat] aufriss TS1.1 287,24 wie als Rebellen] fehlt TS1.1 290,22 Methode] Methode (auch der Gewalt) TS1.1 290,22-23 Wenn er Gewalt […] Gewalt getan.] fehlt TS1.1 292,28 antreten] angreifen TS1.1 292,31 Das ist kein Compromiss] Ich schließe keine Compromisse TS1.1 292,31 und weiter vorgehe] fehlt TS1.1 293,1-2 , und das ist […] durchkomme] fehlt TS1.1 293,35 entstehen sollen] errichten will TS1.1 295,10-12 der politische Mensch […] antreten] etc. TS1.1 295,16-17 sich das Religiöse […] ausschliessen lässt] ich das Religiöse nicht aus meinen Lebensbeziehungen ausscheiden kann TS1.1 295,26 Zerfall] Verfall TS1.1 295,27 Machtanspruch] Herrschaftsanspruch TS1.1 295,28-29 organisierten Religionen] Religion TS1.1 297,25-27 Ich sprach […] Gebilde.] fehlt TS1.1 298,4 eindringt] eintritt TS1.1

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Wort- und Sacherläuterungen: 279,10 Dostojewskis »Teufel« dies sanktioniert wird […] an seinem Gott festzuhalten] Buber verweist in seinen Arbeiten aus jener Zeit des Öfteren auf Dostojewskis Roman Die Teufel (oder auch Die Dämonen oder Die Besessenen). Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 236,21-31. 279,32-34 nämlich in dem Versuch […] des Zusammenlebens] Theodor Bäuerle meint hier Theokratie im üblichen Sinne von Hierokratie bzw. Gottes- oder Tempelstaat, den die Hasmonäer versuchten, aufzurichten. Buber antwortet hier mit seiner theopolitischen Unterscheidung zwischen der ursprünglichen, unmittelbaren Souveränität Gottes als wahrer Theokratie des vormonarchischen Israels und der falschen Theokratie des Zweiten Tempels in hellenistisch-römischer Zeit. 280,5 Sakrament der Salbung] Hebr. maschiach (aus der Verbalwurzel m-sch-ch »salben, einölen«) wurde ins Griechische als christós »gesalbt« übersetzt. Die Salbung war die sakrale Handlung mesopotamischer bzw. amurritischer Herkunft, durch die ein Mensch zum König erhoben wurde. Der Bibel zufolge wurde der Benjaminiter Saul als erster König Israels gesalbt. Nach dem babylonischen Exil bekam der Begriff des Gesalbten endzeitliche Züge, indem man auf einen himmlischen König wartete. Auf dieser Grundlage baute man in neutestamentlicher Zeit die Vorstellung der Messianität Jesu auf, der ebenso gesalbt wurde. Vgl. die Salbung in Bethanien in Mt 26,613, Mk 14,3-9, Joh 12,3-8. 280,17 im zweiten Reich, im Reich nach dem babylonischen Exil] Die babylonische Gefangenschaft begann mit der Vertreibung aus Jerusalem und der Zerstörung der Stadt durch die Armee des neubabylonischen Königs Nebukadnezar II im Jahr 586 v. Chr. Symbolisch wird ihr Ende auf das Jahr 539 v. Chr. datiert, als der achämenidische Kaiser Kyros II das neubabylonische Reich eroberte und durch einen Erlass, der geschichtlich nicht sicher belegt ist, es den Juden freistellte, nach Kanaan zurückzukehren und ihren Tempel wiederaufzubauen. Es ist aber historisch unangemessen, in Bezug auf das nachexilische Judäa vom »Reich« zu sprechen, denn es handelte sich bloß um eine Provinz des persischen, dann hellenistischen Kaiserreichs. Erst unter den Makkabäern gewann Judäa eine Form von politischer Unabhängigkeit, wenn auch von kurzer Dauer. 280,28 der biblischen Politeia] Griech. politeía bedeutet »politische Verfassung«, »Staat«.

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280,35-36 unmittelbar dem Königtum Gottes unterstellt] Das stellt m. W. die erste Erwähnung des Begriffes dar, den Buber drei Jahre später als Titel für den ersten Teil seiner geplanten, dem jüdischen Messianismus gewidmeten, jedoch unvollendeten Trilogie Das Kommende benutzte. Vgl. Martin Buber, Königtum Gottes, Berlin: Schokken 1932; jetzt in: MBW 15, S. 93-176 sowie den einleitenden Kommentar dazu, ebd., S. 441-448. 281,24-26 eine selbstständige Prophetie haben wir nicht mehr […] »Ruach hakadosch« fehlt] Nach bSota 48b (BT, Bd. VI, S. 178) sind nach dem Exil nur Haggai, Sacharia and Maleachi als Propheten zu betrachten. Mit dem Ende der Prophetie sei die göttliche Stimme nur noch in abgeschwächter Form als Bat qol (hebr.: ungefähr »Echo«) zu vernehmen. Vgl. auch bJoma 9b (BT, Bd. III, S. 23). 281,39-41 Conzeption des Gottes-Staates […] Conzeption des civitas dei waltet] Buber weist auf die zentrale Vorstellung der Abhandlung De civitate dei, »Vom Gottesstaates« hin, die Augustinus von Hippo in der ersten Hälfte des 4. Jh. n. Chr. verfasste. Vgl. auch die Wort- und Sacherläuterungen zu 112,36. 283,5-6 über das Papsttum und das Verhältnis zwischen Papst und Kaiser] Bäuerle verweist hier wahrscheinlich auf den mittelalterlichen Investiturstreit zwischen weltlicher und geistlicher Macht, der zwischen dem 11. und 12. Jh. seinen Höhepunkt erreichte. Es kann sein, dass Bäuerle hier zudem auf die zeitgenössischen Lateranverträge anspielt. 283,8-11 das Lutherische Christentum […] der Fürsten als Landesbischöfe] Gemeint ist die Confessio Augustana, die 1530 durch Philipp Melanchthon (1497-1560) verfasst wurde und die religiös-politischen Prinzipien des Luthertums darstellte. 283,15 umgekehrt bei Calvin] Während man im Luthertum dem Fürsten religiöse Autorität zuerkannte, schrieb Johannes Calvin (15091564) in seinem Hauptwerk Institutio christianae religionis (1559) und in seinen Ordonnances ecclésiastiques (1541) der christlich-reformierten Obrigkeit lediglich die weltliche Macht zu, was in der Regierung von Genf besonders deutlich zur Geltung kam. 283,22 Feuertod, Michael de Servet’s] Miguel (franz. Michel) Servet (1511-1553), protestantischer Theologe, Humanist und Arzt spanischer Herkunft. In seinen theologischen Werken De Trinitatis erroribus (1531) und Christianismi Restitutio (1552) behauptete er anhand der Schrift die Illegitimität des trinitarischen Gedankens sowie der Praxis der Kindertaufe. Calvin trug entscheidend dazu bei, Servet zum Ketzer zu erklären, sodass dieser zuerst im April 1553 in Vienne

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in effigie, dann im Oktober 1556 in Genf mit der entscheidenden Zustimmung Calvins auf dem Scheiterhaufen hingerichtet wurde. 283,33-34 Cromwell, dem eigentlichen Vater und Begründer des Britischen Imperiums] Oliver Cromwell (1599-1658), englischer Abgeordneter puritanischen Glaubens. Als Gegner des Königs und Vertreter der Republik sowie Feldherr des Parlamentsheers während des englischen Bürgerkriegs, führte er als Lordprotektor von England, Schottland und Irland nach der Hinrichtung des britischen StuartKönigs Karl I eine Militärdiktatur ein, die u. a. durch zahlreiche Massaker geprägt war. 1661 wurde die Leiche Cromwells, der an Malaria starb, exhumiert und nachträglich wegen Königsmord zum Tode verurteilt. 284,16 William Penn] William Penn (1644-1718): Gründer der nach ihm benannten amerikanischen Kolonie. Penn stammte aus einer anglikanischen Familie, schloss sich aber bald den Quäkern an. Diese hatten um die Mitte des 17. Jh. die amerikanische Region New Jersey kolonisiert. Nachdem Penn die königliche Erlaubnis erhielt, eine weitere Region zu kolonisieren, wurde diese seither als Pennsylvania bekannt und blieb im Besitz der Familie Penns bis zur Amerikanischen Revolution. In seinem neuen Land gründete Penn die Stadt Philadelphia und setzte dort eine demokratische Regierung ein, die auf der Gewaltenteilung basierte und die religiösen Freiheiten anerkannte, was viele europäische Einwanderer anzog, die in ihrer Heimat unterdrückt wurden. 284,29 Hinweis auf den Jesuitenstaat] Im 17./18. Jh. gründete die Gesellschaft Jesu in Südamerika auf einem Gebiet, das sich über das heutige Brasilien, Paraguay, Argentinien, Bolivien und Uruguay erstreckt, zahlreiche Siedlungen für die friedliche Christianisierung der Ureinwohner. Auf Grund ihrer Unabhängigkeit von der spanischen Macht wurden sie als Jesuitenstaaten bezeichnet, und da sie ferner durch Geistliche verwaltet wurden, bezeichnete man sie, wenn auch meist ironisch, als »heiliges Experiment«. 284,35 die Quäker] Die religiöse Gemeinschaft der Quäker, auch als »Gesellschaft der Freunde« bekannt, entstand im 17. Jh. im Schoß des englischen puritanischen Calvinismus und wurde durch George Fox (1624-1691) gegründet. Das Weltbild des Quäkertums ist charakterisiert durch Pazifismus und Antimilitarismus, Gewissensfreiheit, Ablehnung der Sklaverei sowie durch die Verwerfung von Riten und geistlichen Hierarchien. 285,16-17 der sogenannte christliche Volksdienst] Der Christlich-Soziale Volksdienst war eine protestantisch-konservative Partei, die sich

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1929 formell konstituierte und besonders in Württemberg verwurzelt war. Die politische Orientierung schloss von Anfang an starke antisemitische Vorstellungen mit ein, was 1933 dazu führte, dass nach Auflösung der Partei zahlreiche Mitglieder in die NSDAP eintraten. 290,16 das Beispiel von Mahatma Gandhi] Vgl. den einleitenden Kommentar zu »Gandhi, die Politik und wir«, in diesem Band, S. 608-617. 293,9-10 bei Zwingli, bei Andreas Hofer] Als schweizerischer Humanist und Theologe, der vor allem in Zürich wirkte, verbreitete Huldrych Zwingli (1484-1531) die Reformation in der Schweiz, speziell in den Kantonen deutscher Sprache. Der katholische Gastwirt, Volksheld und Patriot Andreas Hofer (1767-1810) kämpfte für die Unabhängigkeit Tirols gegen Bayern und Franzosen, nachdem Napoleon Tirol besetzte und als Provinz Bayern anschloss. Als die bayrisch-französische Regierung politische und religiöse Reformen einführte wie vor allem den Pflichtdienst in der Bayrischen Armee, führte Hofer die Aufstandsbewegung der lokalen Bevölkerung an. 294,10 wie in dem Roman von Wilde] Gemeint ist der philosophische Roman The Picture of Dorian Gray, den der englische Schriftsteller und Dichter Oscar Wilde (1854-1900) 1890 publizierte. Eine erste Übersetzung in deutscher Sprache erschien im Jahre 1901, der weitere folgten. Zahlreiche Ausgaben erfuhr auch die zweite deutsche Übersetzung des Romans, die Hedwig Lachmann und Gustav Landauer 1909 für den Insel-Verlag besorgten. 294,27 In dem Buch »Ein Jahr Bergarbeiter«] Das hier erwähnte Erinnerungsbuch heißt eigentlich Meine Erlebnisse als Bergarbeiter und wurde von Graf Alexander Stenbock-Fermor (1902-1972) aus Riga verfasst, der vom 16. November 1922 bis zum 20. Dezember 1923 als Bergmann im Ruhrgebiet arbeitete. Die zitierte Stelle lautet wie folgt: »›Falls es nun zum entscheidenden Bürgerkrieg kommen sollte zwischen Kapital und Proletariat, […] würdest du gegen uns kämpfen?‹ fragte Heinrich. ›Ja, selbstverständlich, es wäre meine Pflicht und Überzeugung.‹ – ›Wenn wir uns dann, sagen wir mal im Straßenkampf, treffen sollten, würdest du auf mich schießen?‹ Ich überlegte. ›Du stellst natürlich eine schwierige Frage, die nicht so leicht zu beantworten ist. […] Da ich dich als Mensch liebe und schätze, würde ich wahrscheinlich nicht schießen! Und du?‹ – ›Ich würde es tun! Auch ich habe dich sehr gern – doch höher als alles auf der Welt steht mir die Sache des Proletariats! […]‹« Alexander Stenbock-Fermor, Meine Erlebnisse als Bergarbeiter, Stuttgart 1928, S. 126. 298,10-11 die neue Front, […] die innere Front] Zur Vorstellung der inneren Front, die Buber seit diesem Zeitpunkt häufiger thematisierte,

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vgl. den Einzelkommentar zu »Erinnerung an einen Tod«, in diesem Band, S. 582. 298,33 Wenn zwei oder drei zusammentreten in meinem Namen] Vgl. Mt 18,20. 298,33-34 Bischemi] Hebr.: »in meinem Namen«. Erziehung zur Gemeinschaft Dieser Text ist als bisher unveröffentlichtes Manuskript im MBA überliefert. Es handelt sich offenbar um ein teilweise lückenhaftes Typoskript eines Vortrags, der, wie auf dem ersten Blatt vermerkt ist, am 6. April 1929 gehalten wurde und sich mit Erziehungsfragen beschäftigte. Am 17. Februar 1929 fand das Stuttgarter Religionsgespräch zum Thema »Religion und Politik« zwischen Martin Buber und Theodor Bäuerle statt, in dem auch Fragen von Schule und Erziehung behandelt wurden (vgl. in diesem Band, S. 286-288). In dieser Zeit war Buber mit Fragen der Erziehung und Erwachsenenbildung intensiv beschäftigt, die gewissermaßen in den Mittelpunkt seiner theoretischen Überlegung gerückt waren, wie auch aus den zahlreichen Schriften zur Erziehung ersichtlich ist, die Buber in jenen Jahren verfasste (vgl. MBW 8). Dabei spielte die Gestalt Theodor Bäuerles und der von diesem mitgegründete, speziell mit Fragen der Volksbildung befasste »Hohenrodter Bund« eine entscheidende Rolle. Im Rahmen der Veranstaltungen, die von diesem Kreis seit der Zeit des Ersten Weltkriegs organisiert wurden, wurde Buber ab 1928 aktiv. An der 6. Hohenrodter Tagung, die vom 17. bis 25. Mai 1928 stattfand, nahm Buber teil, indem er dort ein Referat mit dem Titel »Philosophische und religiöse Weltanschauung« hielt (vgl. jetzt MBW 8, S. 165168 und S. 394; zur Beteiligung Bubers an der 6. Hohenrodter Tagung vgl. Rita van de Sandt, Martin Bubers Bildnerische Tätigkeit zwischen den beiden Weltkriegen. Ein Beitrag zur Geschichte der Erwachsenenbildung, Stuttgart 1977, Kap. 8, S. 122-136). Neben Buber sprachen dort u. a. auch der Schriftsteller Wilhelm Michel (vgl. Religion und Volkstum, in diesem Band, sowie den Kommentar, S. 544 f.), der Buber bekannte Eugen Rosenstock-Huessy, Otto Stählin (1868-1949), ein deutscher Historiker der Jugendbewegung und Professor an der Universität Erlangen (vgl. z. B. Otto Stählin, Die deutsche Jugendbewegung. Ihre Geschichte, ihr Wesen, ihre Formen, 2. Aufl., Leipzig 1930), und der reformierte Theologe Alfred de Quervain (1896-1968) (vgl. »Zur Ethik der politischen Entscheidung«, in diesem Band, S. 412-415 sowie den Einzelkommentar, S. 675679). Nach den damaligen Berichten hat die Aussprache dank Buber eine

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sonst »selten erreichte ›Höhenlage‹« gehabt (zur Entstehung und Entwicklung sowie ausführlich zu den Tätigkeiten des Hohenrodter Bundes vgl. Jürgen Henningsen, Der Hohenrodter Bund. Zur Erwachsenenbildung in der Weimarer Zeit, Heidelberg 1958, hier bes. S. 32). Viele Teilnehmer bezeichneten diese sechste Woche als den Höhepunkt der Hohenrodter Tagungen, obwohl damit nicht alle einverstanden waren, wie z. B. der Geschäftsführer Theodor Bäuerle, der kritisierte, dass es in der Aussprache »zu viel Professorales und Privatdozentliches« gegeben habe. Am 3. April 1929 hielt Buber in Stuttgart die Rede »Die Bildungsnot des Volkes und die Volksnot der Gebildeten. Ein Vortrag« (jetzt in: MBW 8, S. 173-182). Es ist plausibel, dass diese Rede in Verbindung mit der geplanten Gründung und Gestaltung des Bildungswesens in Palästina gehalten wurde. Kurz danach, und zwar vom 25. bis 28. April 1929 fand eine Konferenz zum Thema »Universität und Volkshochschule« in Heidelberg statt, die durch das »Institut für Sozial- und Staatswissenschaft« und die »Deutsche Schule für Volksforschung und Erwachsenenbildung« organisiert wurde. Daran waren zahlreiche Vertreter des Hohenrodter Bundes ebenso beteiligt wie Buber, während die Universität Heidelberg durch Karl Jaspers (1883-1969), Alfred Weber (1868-1958), Viktor von Weizsäcker und Ernst Kantorowicz (1895-1963) vertreten wurde. In der Aussprache trat »die ›glaubensverwurzelte‹ Sprache Bubers (›Ich bitte mir zu glauben, daß ich glaube‹)« deutlich hervor (Henningsen, Der Hohenrodter Bund, S. 63). Die zahlreichen Wortmeldungen Bubers in der Heidelberger Diskussion dokumentieren sein damaliges Engagement für Erziehungsfragen in Bezug auf das zentrale Problem des Proletariats (ausführlich dazu van de Sandt, Martin Bubers Bildnerische Tätigkeit, S. 140 ff.). Es ist also anzunehmen, dass der hier zum ersten Mal publizierte Vortrag »Erziehung zur Gemeinschaft« vom 6. April 1929, in welchem allgemeine, mit der zionistischen Kolonisierung Palästinas keineswegs verbundene Erziehungsprobleme behandelt werden, im Rahmen der fieberhaften Tätigkeiten des Hohenrodter Bundes in Baden-Württemberg gehalten wurde. Textzeuge: TS1: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 47d); 33 lose paginierte Blätter; das erste Blatt trägt den maschinenschriftlichen Vermerk: »Vortrag von Herrn Professor Martin Buber: Erziehung zur Gemeinschaft. (6. April 1929)«. Das Typoskript weist viele Textlücken auf, die wahrscheinlich auf Verständnisprobleme zurückzuführen sind. Das Typoskript ist zweischichtig:

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TS : Grundschicht. TS1.2: Überarbeitungsschicht: vereinzelte Korrekturen von Bubers Hand. 1.1

Druckvorlage: TS1.2 Variantenapparat: 302,8 Gesellschaft] Gemeinschaft TS1.1 304,23 aller Leben] als Leben TS1.1 313,4 subsumiere] berichtigt aus subsummiere 313,33 Altersklassen] A l t e r s g e n o s s e n TS1.1 315,13 Zukunftskraft] Zugkraft TS1.1 Wort- und Sacherläuterungen: 301,38-39 Das von Tönnies stellt Gesellschaft und Gemeinschaft einander so gegenüber] Ferdinand Tönnies (1855-1936) hatte 1887 die erste, unter dem Titel Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, 1912 die zweite unter dem Titel Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 1920 die dritte Auflage seines berühmten Hauptwerks veröffentlicht. Vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 3. durchgesehene Auflage, Berlin 1920. 302,21 Schmalenbach] Gemeint ist hier der Sozialphilosoph Herman Schmalenbach (1885-1950). Er studierte bei Georg Simmel und promovierte bei Rudolf Eucken (1846-1926) in Jena. Seit 1931 wirkte er als Professor in Basel. Buber verweist auf folgenden Artikel: Herman Schmalenbach, Die soziologische Kategorie des Bundes, Die Dioskuren 1 (1922), S. 35-105. 306,32-33 dass der eine Mensch für den andern nicht Mittel sei] Zur Definition des kategorischen Imperativs bei Immanuel Kant vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 220,32. 312,30 die Verseelung der Welt] Diesen Begriff benutzte Buber bereits in einem Vortrag vom 1. Dezember 1923 in Zürich. Vgl. Martin Buber, Von der Verseelung der Welt, jetzt in: MBW 10, S. 29-36.) 318,23-24 Die Menschen, die aus der Jugendbewegung in die Welt eingetreten sind, sind versunken] Vgl. das Urteil über die Jugendbewegung, das Buber wenig später in Zwiesprache formulierte: »Die Männer des Kollektivismus blicken mit überlegener Gebärde auf die ›Sentimentalität‹ der nächstvergangnen Generation, des Geschlechts jener ›Jugendbewegung‹ nieder. Damals befaßte man sich weitläufig und tiefsinnig mit der Problematik aller Lebensbeziehungen, man in-

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Erinnerung an einen Tod

tendierte ›Gemeinschaft‹ und problematisierte sie zugleich, man kreiste in Kreisen und kam nicht vom Fleck. Jetzt aber wird kommandiert und marschiert, denn jetzt gibt es die ›Sache‹. […] Der problematisierende Mensch der Jugendbewegung befaßte sich, um welche Sache immer es jeweils ging, mit seinem höchsteignen Anteil daran, er ›erlebte‹ sein Ich, ohne ein Selbst einzusetzen, – um nicht ein Selbst in Antwort und Verantwortung einsetzen zu müssen«. Martin Buber, Zwiesprache, Berlin: Schocken 1932, S. 83 f. (jetzt in MBW 4, S. 142) Erinnerung an einen Tod Der Gestalt Landauers widmete die Zürcher Monatsschrift Neue Wege unter dem Titel »Zum Gedächtnis Gustav Landauers« im April 1929, zum zehnten Jahrestag der Ermordung Landauers am 2. Mai und anlässlich der von Buber organisierten Veröffentlichung der Briefsammlung Landauers einen erheblichen Teil ihres April-Hefts (vgl. Zum Gedächtnis Gustav Landauers, Neue Wege 4 [1929], S. 161-182). Dieser als Gedenknummer gestaltete Heftteil bestand aus drei Beiträgen: Martin Bubers Erinnerung an einen Tod (S. 161-165), Hans Kohns Der Lebensgang eines Revolutionärs (S. 165-171) und Leonhard Ragaz’s Begegnung mit Landauer (S. 171-182). Buber verfasste seinen Text Anfang April 1929, wie aus einem Brief von Ragaz an Buber vom 12. April 1929 ersichtlich ist: »Infolge des Umstandes, daß ich Ihren Artikel über Landauer unmittelbar vor meiner Abreise hierher in meine Retraite erhielt, komme ich erst heute dazu, Ihnen dafür zu danken. Er war mir eine liebe und wertvolle Überraschung. Merkwürdig, ich hatte seit der mich mächtig anziehenden und zuletzt erschütternden Lektüre dieser Briefe [Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen, hrsg. von Martin Buber, unter Mitwirkung von Ina Britschgi-Schimmer, 2. Bd., Frankfurt a. M. 1929; vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 562-567] das Bedürfnis, Ihnen zu schreiben. Denn ich verstand, was Ihnen dieser Mann sein und sein grauenvoller Tod bedeuten mußte. Nun aber, da auch Doktor Kohn über die Briefe geschrieben hat [vgl. den Artikel Kohns im selben Sonderheft], will ich selbst noch einen Beitrag hinzufügen und so wird das Heft, dessen übriger Inhalt dazu paßt, ein wenig auch ein Gedächtnisheft für Landauer. Es ist mir außerordentlich lieb, daß sich das nun so gemacht hat. Sie werden also in meinem Artikel lesen, was mir diese Briefe und Landauer überhaupt bedeuten und auch, wie ich Ihr Werk bewundere, das gerade auch in der Herausgabe der Briefe steckt. Ich darf Ihnen aber wohl auf den 2. Mai hin noch besonders die Hand drücken in einem Mitgefühl, das mehr

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Einzelkommentare

ist, als was man sonst so nennt. Was für eine Beraubung, daß dieser Mann nicht mehr leiblich-geistig unter uns ist und doch, was für ein Reichtum, daß wir ihn haben.« (Leonhard Ragaz in seinen Briefen, Bd. 2, S. 394.)

Indem Buber in seinem Beitrag eine »Anthropologie« des Soldaten und des Revolutionärs skizziert und dabei die wichtige Frage der menschlichen Einstellung zur Gewalt streift, formuliert er entscheidende Gedanken über Gehorsam und politische Verantwortung und verwendet an dieser Stelle den Begriff der »Front«, der für seine reife politische Philosophie von zentraler theoretischer Bedeutung werden sollte und auf den er häufig zurückgreifen wird (vgl. in diesem Band, S. 298; dazu vgl. auch Martin Buber, Die Frage an den Einzelnen, S. 72 f.; jetzt in MBW 4, S. 182 f.) In seinem Artikel resümiert Hans Kohn das Leben Landauers, indem er den gerade erschienenen Briefwechsel, den Buber herausgegeben hatte, analysiert, sodass dieser Beitrag Kohns als eine Art erster Rezension des Buches anzusehen ist. Kohn war auch Autor der ersten umfassenden Biographie Bubers, die am Ende desselben Jahres 1929 erschien. Dort findet sich eine lange Beschreibung des religiösen Sozialismus Bubers –, besonders in Bezug auf das Verhältnis zwischen ihm und Landauer sowie Ragaz (vgl. Kohn, Martin Buber, S. 197-210 und 217 ff.). In seinem bewegenden Erinnerungsbeitrag, der das Gedenkheft abschließt, berichtet Ragaz von seiner ersten Begegnung mit Landauer. Sie fand 1914 in Zürich statt, als die Schweizer religiösen Sozialisten versuchten, mit den deutschen Anarchisten eine antimilitaristisch ausgerichtete »Sozialistische Gesellschaft« zu begründen. Schon kurz nach dem Tode Landauers, und zwar erstmals in der 1919 in den Neuen Wegen erschienenen kleinen Schrift Der neue Katholizismus, stellte Ragaz eine Verbindung her zwischen dem religiösen Sozialismus christlichen Ursprungs und dem, was er als revolutionären jüdischen Messianismus verstand, den er durch Landauer und Buber vertreten sah. Buber sollte in der Frankfurter Zeitung vom 28. März 1923 Ragaz’ Textsammlung Weltreich, Religion und Gottesherrschaft rezensieren, worin jene Verbindung noch deutlicher zum Ausdruck kam (vgl. den Kommentar zu »Drei Sätze eines religiösen Sozialismus«, in diesem Band, S. 532-534). Die Verbindung zwischen Landauer, Ragaz und Buber sollte später in einer Sammlung ideell zur Geltung kommen, die ihre gemeinsame Freundin, die deutsch-jüdische Schriftstellerin Margarete Susman 1965, d. h. ein Jahr vor ihrem Tod, veröffentlichte (vgl. Margarete Susman, Vom Geheimnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze 1914-1964, hrsg. von Man-

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fred Schlösser, Zürich 1965). Dort waren Aufsätze Susmans zu Landauer (1919, dann erweitert), zu Buber (1927) und Ragaz versammelt, in denen die wichtigsten politischen und intellektuellen Bezugspunkte unterstrichen wurden. Kurz nach dem Erscheinen des Zürcher Erinnerungshefts der Neuen Wege im April 1929 wurde Landauer die Gedenknummer einer anderen Zeitschrift gewidmet, an der Buber ständig mitarbeitete. Es handelt sich um einen Teil des Mai/Juni-Heftes der von Karl Wilker zusammen mit Elisabeth Rotten (1882-1964) gegründeten und geleiteten Zeitschrift Das Werdende Zeitalter (zu Karl Wilker, mit dem sich Buber im Februar/März 1924 im Abendblatt der Frankfurter Zeitung auseinandersetzte, vgl. den Einzelkommentar zu »Staatsideen, Gemeinschaftsversuche und die menschliche Wirklichkeit«, in diesem Band, S. 519 f. und zu »Flucht?«, in diesem Band, S. 525-526). Unter dem Titel »Dem Gedächtnis Gustav Landauers« wurden neben mehr oder weniger bekannten Texten Landauers Beiträge von Friedrich Franz von Unruh (»Gustav Landauer – Ein Vermächtnis«), Elisabeth Rotten (»Durch Absonderung zur Gemeinschaft«) und eben Martin Buber publiziert (vgl. Martin Buber, Erinnerung an einen Tod, Das Werdende Zeitalter. Eine Monatsschrift für die Erneuerung der Erziehung 5/6 [1929], S. 279-282). Bei dem das Heft eröffnenden Text Bubers handelt es sich um einen unveränderten Wiederabdruck der Fassung aus den Neuen Wegen. Textzeugen: D1: Neue Wege XXIII/4, iv.1929, S. 161-165 (MBB 394). D2: Das Werdende Zeitalter. Eine Monatsschrift für die Erneuerung der Erziehung 5/6 (1929), S. 279-282 (in MBB nicht verzeichnet). D3: Hinweise – Gesammelte Essays, Manesse: Zürich 1953 (MBB 919). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: Recollection of a Death, in: Buber, Pointing the Way. Collected essays, übers. von Maurice Friedman, New York: Harper 1957, S. 115-120 (MBB 1045). Hebräisch: le-zekher mawet echad, Ha-po’el ha-tza’ir, 22. Jg., Nr. 27 vom 10. Mai 1929, S. 7-8 (MBB 412); zikhron mawet (1929), in: Buber, Netivot be-utopija, Sifrijat da’at, Tel Aviv: Am oved 1947, S. 151-156 (MBB 777).

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Variantenapparat: 320,16 also, wo das Menschenwesen sind, diese] also die so bezeichneten Menschenwesen D3 320,21 einem] ihm D3 Wort- und Sacherläuterungen: 319,2-3 Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die Gedächtnisrede hielt] Die Rede konnte nicht ermittelt werden. 319,11 Gedicht des ungarischen Lyrikers Petöfi] Sándor Petöfi (18231849), Dichter, Vertreter der ungarischen Romantik und Volksheld der ungarischen Revolution von 1848. Er starb mit 26 Jahren im ungarischen Freiheitskampf gegen die Habsburger. Hedwig Lachmann, zweite Frau Gustav Landauers, hatte mehrere Dichtungen von Petöfi nachgedichtet, die von ihrem Mann nach ihrem Tod im Frühjahr 1918 gesammelt wurden und im Verlag Kiepenheuer erschienen (vgl. Gesammelte Gedichte von Hedwig Lachmann. Eigenes und Nachdichtungen, hrsg. von Gustav Landauer, Potsdam 1919). Unter den Nachdichtungen finden sich auch poetische Texte u. a. von Dante, Gabriele Rossetti, Paul Verlaine und Oscar Wilde. Das Gedicht, das Landauer in seiner Gedächtnisrede für Liebknecht und Luxemburg zitiert, wurde in der deutschen Ausgabe nach dem ersten Vers »Mich quält ein leises Angstgefühl« benannt. 320,4 Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gefangen genommen] Die Festnahme und Ermordung beider KPD-Führer fand am 15. Januar 1919 in Berlin durch Angehörige jener Garde-Kavallerie-SchützenDivision statt, die zur Verfolgung der Berliner Spartakisten eingesetzt wurde und am 8.-12. Januar den Spartakusaufstand mit einem Blutbad gewaltsam niedergeschlagen hatte. 320,15-16 gleichviel ob der »Feind« ein »äußerer« oder ein »innerer« ist] Zum Begriff des Feindes als Wesen des Politischen hatte Carl Schmitt schon 1927/1928 seine bekannte Abhandlung veröffentlicht. Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin-Grünewald 1928 (erstmals als Artikel erschienen unter gleichem Titel im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 58, 1927). 321,7 revolvere] Lat. »zurückrollen, zurückwickeln, zurückkommen«. 322,18-21 zwei Wochen nach jener Gedächntnisrede […] in einem Saal des Landtaggebäudes in München beisammen] Dieses Treffen sollte sich gegen Ende Januar oder Anfang Februar 1919 ereignet haben, doch waren keine weiteren Informationen hierzu zu ermitteln. Besser bekannt ist das nächtliche Treffen mit den Führern der Revolution in München, an dem Buber kurz vor dem 21. Februar, dem Tag der Er-

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mordung Kurt Eisners, teilnahm. Vgl. die Briefe vom 22. Febraur 1919, 28. April 1919 und 28. März 1923, B II, S. 28, S. 38 und S. 166. 322,26 zwischen einem Spartakusführer] Sehr wahrscheinlich handelt es sich hier um Max Levien (1885-1937), der schon seit November 1918 an der Münchener Revolution auf der Seite von Kurt Eisner und Erich Mühsam aktiv teilnahm. Auch war er an der Gründungskonferenz der KPD beteiligt und wurde Anfang 1919 Parteivorsitzender der neuen Partei in Bayern. Nach dem Scheitern des sogenannten Palmsonntagsputschs Mitte April 1919, wurde er einer der wichtigsten Anführer der letzten Phase der Räterepublik. Nachdem Gustav Landauer am 2. Mai ermordet wurde, konnte Max Levien nach Wien fliehen, wo er aber festgenommen und Ende 1920 freigelassen wurde. So konnte Levien nach Moskau übersiedeln, wo er Ende Juli 1937 als Opfer des sowjetischen Terrors zum Tode verurteilt und erschossen wurde. 322,35-36 »Dscherschinski« […] Tscheka] Felix Edmundowitsch Dserschinski (1877-1926), russischer Berufsrevolutionär und Protagonist der Oktoberrevolution 1917. Als Organisator und erster Leiter des Allrussischen Außerordentlichen Komitees zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage, besser bekannt als Tscheka, d. h. die erste politische Geheimpolizei Sowjetrusslands, organisierte er den roten Terror nach dem Attentat auf Lenin am 5. September 1918. Er blieb Chef der Tscheka bis zu seinem Tod, der unter nie geklärten Umständen erfolgte. Warum muß der Aufbau Palästinas ein sozialistischer sein? Am 29. und 30. Dezember 1928 fand unter dem Titel »Für das arbeitende Erez-Israel« die Gründungskonferenz der Liga für das arbeitende Palästina in Deutschland in Berlin statt. Martin Buber hielt eines der Hauptreferate mit dem Titel Warum muß der Aufbau Palästinas ein sozialistischer sein? – eine Überschrift, die aber nicht von Buber selbst stammt, wie er einleitend eindeutig erklärt. Ein zweiseitiger Auszug dieser Rede wurde bereits im Februar 1929 in der von Elisabeth Rotten und Karl Wilker geleiteten Zeitschrift Das Werdende Zeitalter unter dem Titel »Die Frage nach Jerusalem« publiziert. Dieser Auszug erschien dort als Einleitungstext für ein Palästinaheft, zu dem bekannte zionistische Reformpädagogen wie Ernst Simon beitrugen. Der vollständige Text der Rede Bubers wurde noch im Laufe des Jahres, wahrscheinlich schon im Frühjahr 1929, in dem Sammelband Für das arbeitende Erez-Israel ver-

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öffentlicht, der die Protokolle der Gründungskonferenz der Liga enthielt und auch von ihr herausgegeben wurde. Die Liga für das Arbeitende Palästina in Deutschland entstand 1928 durch den Zusammenschluss zweier verschiedener ideologischer Strömungen der jüdischen Jugendbewegung. Zum einen handelte es sich um ehemalige Mitglieder des Jüdischen Jugendwanderbunds Blau-Weiß (JJWB), eine der größten Gruppen innerhalb der deutsch-jüdischen Jugendbewegung, die 1926 aufgelöst wurde, nachdem ein durch sie gefördertes Siedlungsprojekt in Palästina gescheitert war (vgl. dazu Hermann Meier-Cronemeyer, Jüdische Jugendbewegung, in Germania Judaica, Bd. 8, 1969, S. 1-122, bes. S. 87). Andererseits waren sozialistische Gruppierungen an der Gründung beteiligt: »Die ›Liga für das arbeitende Palästina in Deutschland‹ war eine Organisation, die aus der Arbeit der Poale Zion entstanden war. Mitte der 1920er Jahre begannen deutsche und deutsch-jüdische Sozialisten, sich verstärkt für den sozialistischen Zionismus zu interessieren. […] / Die Liga wurde am 30. Dezember 1928 nach einer zweitägigen Konferenz in Berlin gegründet. Sie diente dem sozialistischen Aufbau der jüdischen nationalen Heimstätte in Palästina. Satzungsgemäß förderte sie das Werk der organisierten jüdischen Arbeiterschaft in Palästina, der Trägerin dieser Aufgabe, und beabsichtigte, all diejenigen zu vereinigen, die sich für das Werk und die Aufgabe einsetzen wollten. / Die konstituierende Berliner Konferenz fasste eine Entschließung, in der es hieß, der Aufbau Palästinas sei nicht nur eine allgemeine jüdische Aufgabe, sondern auch eine Aufgabe von allgemeiner sozialistischer Bedeutung.« (Ludger Heid, Oskar Cohn. Ein Sozialist und Zionist im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. u. New York 2002, S. 372 f.)

In ihrer auf der Berliner Konferenz beschlossenen, sozialistisch orientierten Resolution nahm sich die Liga vor, die politische Unabhängigkeit der arabischen Bevölkerung zu achten und jüdischen Chauvinismus zu vermeiden: »Es gilt hier produktive Kräfte zu entfalten in neuen sozialen Formen, es gilt das Beispiel einer nationalen kolonisatorischen Arbeit zu geben, die sich frei hält von der Ausbeutung und Unterdrückung der Bevölkerung anderer Nationalität, es gilt innerhalb der neuen jüdischen Heimstätte die Kräfte der Arbeiterschaft gegenüber anders gerichteten sozialen Kräften zu unterstützen.« (Vgl. Central Zionist Archives Jerusalem, F 4/129, zitiert nach Heid, Oskar Cohn, S. 373.) Dank dieser politischen Plattform konnte die Liga angesehene Persönlichkeiten des Weimarer jüdischen Sozialismus anziehen, die dann als Mitglieder eines Liga-Präsidiums auftraten, dem die Aufgabe zukam, »einen achtköpfigen Arbeitsausschuss« zu wählen. Dieser Ausschuss als führendes Organ sollte seinerseits ein Programm verfassen und die allgemeinen Beschlüs-

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se der Versammlung durchführen. Zum Präsidium gehörten u. a. Eduard Bernstein (1850-1932), Martin Buber, Oskar Cohn (1869-1934), Simon Dubnow (1860-1941), Lion Feuchtwanger (1884-1958), Georg Landauer (1895-1954), Robert Weltsch und Arnold Zweig. Der exekutive Arbeitsausschuss der Liga erarbeitete ein Programm, das im Juni 1929 als »Mitteilungen der Liga für das arbeitende Palästina in Deutschland« veröffentlicht wurde (Programm der Liga für das arbeitende Palästina findet sich in Der Junge Jude, Jg. 2, Nr. 2, Juni 1929, S. 55): »Die Liga für das arbeitende Palästina in Deutschland hat die Aufgabe, die sozialistisch gesinnten Juden mit dem Aufbauwerk der jüdischen Arbeiterschaft in Palästina zu verbinden. Die Förderung des Aufbaus der jüdischen nationalen Heimstätte in Palästina in sozialistischem Geiste durch die Liga kann nur dann wirklich fruchtbar werden, wenn die Verbindung zwischen den sozialistischen Juden in Deutschland und in Palästina sich gründet auf einer Kenntnis der Wirklichkeit und der Probleme des Lebens und der Arbeit in Palästina. Wir erstreben tatkräftige Hilfe der jüdischen Sozialisten aller Länder für das Arbeiterwerk in Palästina. Aber wir wollen diese Hilfe nicht als eine philanthropische Leistung organisieren, die dem guten Herzen Ehre macht, aber den Geist unberührt läßt. Wir wollen vielmehr, daß jede praktische Hilfeleistung aufgebaut wird auf dem Gefühl der geistigen Zusammengehörigkeit, auf dem Gefühl einer Gemeinsamkeit des Werkes und der Ideale.« (Vgl. Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus 1882-1933, hrsg. von Jehuda Reinharz, Tübingen 1981, S. 419 f.)

Die Losung, die Buber in seiner Rede bei der Gründungskonferenz der Liga formulierte, d. h. Jerusalem als sozial-nationalen »dritten Weg« zwischen dem bürokratischen, zentralistischen Sozialismus Moskaus und dem diktatorisch-nationalen Sozialismus Roms anzusehen, war dem Programm der Liga angepasst. Textzeugen: h: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 06 27); 4 lose unpaginierte Blätter, teils doppelseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit Korrekturen versehen. Die Handschrift ersetzt eine gestrichene Passage des Typoskripts, ist also offenkundig nachträglich angefertigt worden. Enthalten ist der Abschnitt »Die Weltsituation unserer Zeit […] wiedererkennen.« (In diesem Band, S. 328,40-330,33.) Da dieser Abschnitt dem in d1 abgedruckten entspricht, kann vermutet werden, dass Buber h für d1 auf Grundlage des Typoskripts angefertigt hat. TS1: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 06 27) 14, bis auf ein Blatt zweiseitig beschriebene Blätter. Die Blätter enthalten das Stenogramm der Rede Bubers. Die erste Seite trägt den handschriftlichen

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Vermerk: »›Protokoll der Gründungskonferenz der ›Liga für das arbeitende Palästina Deutschland‹‹, Berlin 1929 [irrtümliche Datierung] / Warum muß der zionistische Aufbau sozialistisch sein?«. Das Typoskript enthält in neu einsetzender Paginierung zusätzliche Seiten mit einem »Schlusswort des Herrn Dr. Buber, Heppenheim«, das erst in D3 und D4 berücksichtigt wurde. Das Typoskript ist zweischichtig: TS1.1: Grundschicht: Stenogramm der Rede sowie des »Schlussworts«, mit je neu einsetzender Paginierung. Die Abweichungen der Grundschicht zur Überarbeitungsschicht sind derart gravierend, dass sie nicht mehr sinnvoll als Textvariante darstellbar sind. Da sich das Stenogramm, vielleicht aufgrund akustischer Probleme, in einem sprachlich fragwürdigen Zustand befindet, werden im Variantenapparat lediglich längere gestrichene Stellen berücksichtigt. TS1.2: Überarbeitungsschicht: Erhebliche Streichungen, Ersetzungen und Korrekturen von Bubers Hand. d1: Die Frage nach Jerusalem, Das Werdende Zeitalter. Eine Monatsschrift für Erneuerung der Erziehung, Jg. 8, H. 2, Febr. 1929, S. 65-66; jetzt in: MBW 8, S. 171-172 (MBB 395). Enthält den Abschnitt: »Die Weltsituation unserer Zeit […] erkennen – wiedererkennen.« (In diesem Band, S. 328,40-330,33.) D2: Für das arbeitende Erez-Israel, hrsg. von der Liga für das Arbeitende Palästina in Deutschland, Berlin 1929, S. 10-18 (MBB 404). D3: Kampf um Israel. Reden und Schriften 1921-1932, Berlin: Schocken 1933, S. 283-302 (MBB 459). Enthält das »Schlußwort«, das in TS1 zusätzlich überliefert ist und in früheren Drucken nicht berücksichtigt wurde. Vgl. Variantenapparat, in diesem Band, S. 594-596. D4: JuJ, S. 376-387 (MBB 1216). Enthält das »Schlußwort«, das in TS1 zusätzlich überliefert ist und in früheren Drucken nicht berücksichtigt wurde. Vgl. Variantenapparat, in diesem Band, S. 594-596. Druckvorlage: D2 Übersetzungen: Hebräisch: Ne’um bi-weʿ idat alef-jud ha-ovedet be-Germanija, Davar vom 17. Januar 1929 (MBB 413); mi-schum ma chajevet benijat eretz-israel lihjot sotzialistit, in: Buber, Teʿ uda we-jiʿ ud, 2. Bd.: Ma’amarim al injane ha-schaʿ a, Jerusalem: Ha-sifrija ha-zionit 1961, S. 258-267 (MBB 1182).

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Variantenapparat: 324,Titel Warum muß […] sozialistischer sein?] Referat des Herrn Dr. Martin Buber, Heppenheim / Warum muß der zionistische Aufbau sozialistisch sein? TS1.2 324,Titel] ergänzt (Auf der Gründungskonferenz der Liga für das arbeitende Palästina, in Berlin, Dezember 1928, gesprochen.) D3, D4 324,3 Aufbau] zionistische TS1.2 324,7 Aufbau] Aufbau Palästinas D3, D4 324,25 meinen] brauchen TS1.2 324,26 das doch] das Wort D3, D4 324,31 Palästina] ein sozialistisches Palästina D3, D4 324,38 Normen] Formen TS1.2 325,8 der Privatinitiative] des gegenwärtig erwünschten Masses der Privatinitiative TS1.2 325,9-10 von einem […] der drei Postulate nicht reden] den drei Postulaten einen […] nicht zugestehen D3, D4 325,16 erfordert] bedeutet TS1.2 325,22 Anziehungskraft] Attraktivität TS1.2 325,23 Anziehungskraft] Attraktivität TS1.2 325,26 Individualinitiative] Individualinitiative, es ist nämlich so anzusehen, dass wir das wahrhafte Leben im gewöhnlichen Sinne meinen, als ob die Individualkomponente aus Unternehmertum entstehe TS1.1 326,23 Problem der Kwuzah. Ich halte] Problem der Kwutza. Die Kwutza ist eigentlich das Problem, an dem es sich mit Deutlichkeit zeigt, ob es sich um ein Volksproblem oder um einen Realisierungsversuch handelt. Erlauben Sie mir bitte, Ihnen meine ganz persönliche Stellungnahme zu diesem Punkte zu sagen. Ich bin nicht überzeugt davon, dass die Kwutza die ideale sozialistische Lebensform ist, so wie ich nicht überzeugt bin von der Realisierung des Sozialismus, ich bin auch nicht vom Gegensatz überzeugt, sondern ich halte TS1.1 326,34-35 eine verhängnisvolle.] ergänzt Ich hatte vor einiger Zeit in Heppenheim an einer sozialistischen Aussprache teilgenommen, und da wies ich darauf hin, dass die eigentlichen sozialistischen Lebensforderungen, wo es darum geht, wie arbeitet der Mensch, wie lebt er mit anderen Menschen, wo es vom Konkreten zum Abstrakten übergeht, dass das Programm da schweigt, dass da die soziale Verwirklichung fehlt. Zur Antwort wurde mir von dem Vorsitzenden vorgehalten: Es ist ja der bekannte utopische Sozialismus, der nun überwunden sei. Ich glaube, es steht umgekehrt. Utopischer Sozialismus ist der, der von der Theorie ausgeht, und das vernachlässigt, worauf eigentlich das sozialistische Sinnen gehen muss, und die Gestal-

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tung des sozialistischen Lebens miteinander. Ich nenne diesen Sozialismus in dieser Form, der Lebensform der Tatsachen, der Gemeinschaft mit Menschen, ihrer Selbsterhaltung, den Realistischen. TS1.1 326,37 zu verwirklichen strebt. Wenn] verwirklicht werden; und ich glaube nicht, dass Sozialismus zugleich mit den tatsächlichen Forderungen, die die Menschenseele meint, wenn das Wort Sozialismus gesprochen wird, übertäubt wird. Ich meine also nicht blos für Palästina, sondern für die ganze Welt, dass die Politik ein Unheil für den Sozialismus ist. Man hat einen sozialistischen Zweck, aber man kann ihn mit Mitteln der Kolonisation realisieren, dieses scheint mir der schlimmste Aberglaube des Zeitalters zu sein, wenn nicht auf dem Wege zur Verwirklichung eines Zweckes die Mittel gewährt werden, d.h. wenn nicht TS1.1 326,38 beginnt] geschieht TS1.2 326,40 im Gange der Durchführung] im Masse der Verwirklichung. Meine grosse Befürchtung geht dahin, dass, wenn nicht jetzt und hier verwirklicht wird, soviel, wie ermöglicht werden kann, nur dann und dort die Verwirklichung geben wird, wie diese jetzt und hier sowie dann und dort unlösbar abhängt. Wenn nicht jetzt und hier, dann nicht dann und dort. Wenn man auf diesem Wege angelangt sein wird, wird man sehen, an was man sich hält TS1.1 327,2 Ende der Menschheit] ergänzt Es gibt, meine Freunde, es gibt nicht blos die vergangene Romantik, die uns jeweils vorgeworfen wird, sondern es gibt auch eine Zukunftsromantik, die sehr viel schlimmer ist. Von dem Absterben des Staates. Wenn erst der Zentralismus realisiert wird, dann wird das staatliche, das Zwanghafte an ihm von selbst absterben, niemals stirbt eine Macht von selbst ab, so immer weiter muss er. / Und nun gehen wir noch einen Schritt weiter nach innen. Ich gehe noch einmal von dem dritten Postulat aus. Die aus Palästina sind so nur auf die dortigen Verhältnisse zugeschnitten. Sehen wir uns von ihnen aus die Beschränktheit der gegenwärtigen sozialistischen Postulatsideologie an. Zum ersten: Freilich, wir heutigen Menschen leben auf dem sozialen wie auf anderen Gebieten von der Hand in den Mund. Wir kümmern uns jeweils darum, was morgen sein wird, aber wir schauen nicht weiter voraus. Versuchen wir so weit zu schauen, wie es der sozialistische Betrachter tun muss: TS1.1 ergänzt Es gibt nicht blos die Vergangenheitsromantik, die man törichterweise mir und meinen Freunden vorwirft, es gibt auch eine Zukunftsromantik, die sehr viel bedenklicher ist TS1.2 327,13 sie Gemeinwirtschaft] es eine Gemeinschaft D3, D4

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327,22 den abendländischen Evolutionen] der grossen Idee der abendländischen Entwicklungen TS1.2 327,35 Zweiteilung] Zerreißung D3, D4 328,14 unmittelbares Leben] unmittelbare Lebensbeziehung D3, D4 328,15 echtes Genossentum] echte Gemeinde TS1.2 328,31 Beziehungen überhaupt.] ergänzt Das bedeutet nicht, dass an Stelle des Privatkapitals das Staatskapital getreten ist. Staatskapital ist weder sozialistische Verwirklichung noch ein Weg dazu. TS1.1 328,40-330,33 Die Weltsituation […] wiedererkennen.] Ich möchte sie darauf aufmerksam machen, was die Jugend in der Weltsituation bedeuten kann. Wir sehen von dem Gesichtspunkte aus, wie die Politik des falschen Parlamentarisierens, wo die Wirtschaft keine organischen Zusammenhänge hat, in der Tat von der Hand in den Mund lebt, ohne Verantwortung der Idee gegenüber und ohne Verantwortung der Wirklichkeit gegenüber. Wir sehen zwei Versuche, über dieses von der Hand in den Mund zu leben herauszukommen. Der eine ist Moskau. Moskau ist ernstlich von der Idee aus, aber von einer Idee, die völlig Prinzip geworden ist. Idee ist ein Bild. Eine wirkliche Idee ist immer die Idee eines Volkes, jede solche Idee ist ein konkretes Bild. Was kann aus diesen Menschen mit diesen bestimmten Gaben werden? Also sagen wir, eine durch Widerstand gemilderte Prinzipherrschaft dem Staat gegenüber. So gibt es nun das Experiment von Moskau wie auch ein solches von Rom, nur anders aussehend. Rom bedeutet den Verzicht auf die Ideen, bedeutet den Wirklichkeitsglauben aller aktivistischen Ideen an Stelle der lebendigen Idee setzt man hier den Begriff der Ideologie. Man braucht die Idee nicht, man lebt, indem man die Situation, wie sie sich bietet, mehr oder weniger erlebt zum Besten des Volkes. Wir haben dort die ideologische Diktatur, hier die antiideologische Diktatur. Es scheint mir, es kann so hier unmöglich Praktisches herauskommen. Die grosse Frage, die ich mir in meinem Herzen immer und immer wieder stelle und zu beantworten suche, gibt es ein Jerusalem. Ist das, was wir dort mit diesen lächerlich geringen Mitteln unternommen haben und unternehmen, ist dies ein Einsatz in der wirklichen Weltgeschichte, die nicht von Erfolgen geschrieben wird, sondern die mit geheimen Zeichen geschrieben wird. Erweist es die Weltgeschichte, dass diese Erfolge in Wirklichkeit Scheinrealisierung waren? Also in diesem schweren, ernsten Sinne meine ich die Frage, gibt es ein Jerusalem, wird es ein Jerusalem geben, das man nicht neben jeden Staat, sondern ihnen gegenüber zu stellen vermöchte. Jerusalem, die Stadt der Heiligung des ganzen ganzen Lebens, des ganzen gelebten Alltags,

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des gelebten sozialistischen Alltags. / Wir dürfen, so sehr es uns geziemt, bescheiden zu sein, in solcher Stunde des Überschauens stolz sein, auf das, was getan worden ist. Es scheint in Palästina ein Zusammengehen von Geist und Wirklichkeit zu geschehen, den wir heute in Ländern der grossen Kulturen trotz ihrer unvergleichlichen Grösse nichts an die Seite stellen können. Das ist, glaube ich, für den unbefangenen Menschen, der hinkommt, der überwältigend eindeutige Eindruck. Diese drei Postulate erweisen das. Sie sind alle drei nicht ideologisch, und nicht unabhängig von der Idee, sondern eine Begründung der Idee, und zwar nicht von Menschen jetzt ausgesucht, sondern der Idee Israels. Auch hier erweist es sich, dass mit dem, was dort geschieht, etwa der Ansatz der Geschichte vorgelebt wird, und mehr vermögen wir nicht zu fassen. TS1.1 328,40 Die Weltsituation] Beginn von h, d1 328,40 Die Weltsituation] davor Titel Die Frage nach Jerusalem / (Aus einer auf der deutschen Konferenz für das arbeitende Palästina gesprochenen Rede) d1 328,41 Scheinparlamentarismus] Scheinparlamentarismus [, der »Volksherrschaft« ohne wirklich konstituiertes Volk] h 329,1 Rom] Rom (ich meine das faschistische Rom) D4 329,3-4 ein falscher Dienst] [eine falsche Verantwortung] ! ein falscher Dienst h 329,10 volksmäßig, kulturmäßig, schicksalsmäßig bestimmten Personen] hvolksmäßig, kulturmäßig, schicksalsmäßig bestimmteni Personen h 329,12– an die Stelle des Leibes ein Knochengerüst] h– an die Stelle des Leibes ein Knochengerüsti h 329,12-14 , an die Stelle […] Route] fehlt h 329,18 bildlose] [steife] ! deduzierte, bildlose h 329,20-28 mit ihrer Tiefenperspektivik […] fundierten überwindet] [und die Ehrfucht vor ihr durch ein aktivistisches Immerwiederfertigwerden mit der realen Situation ersetzt; man bewältigt sie nicht, aber man wird mit ihr fertig, umso leichter, als man durch keine Pflicht einer Idee gegenüber gebunden ist, und dann gibt es ja wieder eine neue Situation] ! mit ihrer Tiefenperspektive […] fundierten überwindet h 329,22 reliefhaft auffälligen] bestimmten h 329,28-29 Anschauung] echte Anschauung D4 329,30 Aktualismus] [Aktivismus] ! Aktualismus h 329,32 Aktualismus] [Aktivismus] ! Aktualismus h 329,33 dekorative und wirksame] dekorative hund wirksamei h

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329,34 eher verkleidet als gemildert] [umkleidet] ! eher verkleidet als gemildert h 329,35 stehen] stehen, in einer um die Verdeutlichung willen gewählten antithetischen Formulierung h 329,36 eine echte Kraft] [hinter dem falschen Realismus nie hinter dem falschen] ! eine echte Kraft h 329,37-38 entstellt worden] [verkannt] ! entstellt worden h 329,39 Bundes mit der konkreten Tatsächlichkeit] Anknüpfens an die [gegenwärtige] ! konkrete Tatsächlichkeit h 329,39-40 flach und substanzlos] [zu äusserlich] ! flach und substanzlos h 330,1 Herrschaftsformationen] Machtformationen h 330,8 allhin wahrnehmbaren tönernen Gesichtern] [harten blanken Erzgesichtern] ! allhin sichtbaren blanken ehernen Gesichtern h 330,13 Einsatz in der Weltgeschichte] [Haus unter den Häusern in der Weltgeschichte] ! Einsatz in der Weltgeschichte h 330,15 auf eine noch verhüllte Tafel] [geschrieben wird, vor deren Enthüllung, aber in Zeichen, vor deren aufstrahlenden Sternenglanz] h 330,20 etwas] [ein Sozialismus der Wirklichkeit] ! etwas h 330,23 genossenschaftlichem Bau] [sozialistischer Organisation] ! genossenschaftlichem Bau [der Gemeinschaft] h 330,24 Wirklichkeit allein] Wirklichkeit allein [, die Tatsächlichkeit der Lebensverhältnisse] h 330,24 sie hatte den Geist zur Seite] [es ist doch der Geist der es aus ihr gezeugt hat] ! sie hatte den Geist zur Seite h 330,25 sozialistische] [sozialistische] ! [gemeinschaftliche] ! sozialistische h 330,32-33 wiedererkennen. ] Ende von h, d1 331,20-21 , der Simson-Zionismus,] fehlt D3, D4 331,27-30 , ebensowenig wie etwa […] Volk und Kultur] fehlt D3, D4 331,27-28 , ebensowenig wie etwa Persönlichkeit ein Programm ist] fehlt TS1.2 331,31-32 der Breite und Fülle seines natürlichen Lebens] in seinem natürlichen Leben D3, D4 332,1-2 sozialistische Zionismus.] ergänzt Ich sagte schon, es ziemt uns Bescheidenheit, aber es ziemt uns nicht Hochmut, sondern Stolz, es ziemt uns Demut und Stolz in einem. Wir müssen wissen, wie wenig wir getan haben, wie wenig wir tun. Und was jetzt weiter geschehen wird, wir werden sehen, dass dieses der Beginn der Verwirklichung, der Beginn des dritten Versuches ist. Das ist nicht Ueberhebung, das ist Einsicht, die uns geziemt. TS1.1

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332,6 jüdischen Aufbau Palästinas] ergänzt Die Verwirklichung, ich sage es nun noch einmal, Verwirklichung nicht für uns, Verwirklichung, wenn es erlaubt ist, das religiöse Wort zu sprechen, für das Reich Gottes, ist Verwirklichung der wahren Gemeinschaft des Menschengeschlechtes, und so dürfen wir an diesem Punkte einander zurufen das Gotteswort: TS1.1 ergänzt SCHLUSSWORT ZUR AUSSPRACHE / / Es ist keine dankbare, aber eine notwendige Aufgabe, in dieser Stunde einer gemeinsamen Begeisterung noch einmal eine Klärung dessen zu versuchen, was geklärt sein sollte, ehe wir auseinandergehen. / Ich möchte mit etwas Persönlichem beginnen. Arnold Zweig sagte von mir, ich hätte wie ein Seher von Morgigem und Übermorgigem gesprochen. Ich muß diesen hohen Titel ablehnen. Ich bin kein Seher, aber ich glaube ein sehender Mensch zu sein. Und ich denke nicht daran, von morgen und übermorgen zu sprechen, sondern was ich mit allem, was ich sage, meine, ist durchaus dieser gegenwärtige Augenblick. Ich meine durchaus das, was bereits in Palästina die siedelnde Arbeiterschaft begonnen hat, und zwar nicht von der bloßen Idee aus und nicht von dem bloßen Leben, sondern von der bedeutsamen Begegnung beider aus. Und ich meine, daß wir, um die Sympathien der abendländischen Arbeiterbewegung für unsere Sache zu gewinnen und die bereits gewonnenen zu steigern, nicht bloß sagen sollen: »Wir haben dieselbe Gesinnung, die ihr habt«, sondern auch zeigen müssen: »Wir verwirklichen etwas von dieser Gesinnung, was anderswo noch nicht verwirklicht wird.« Es ist wichtig, daß wir uns in allem Ernst besinnen darauf, was wir getan haben, tun und noch tun wollen, und was das bedeutet für die Sache des Sozialismus und der Menschheit. Es gibt in diesem werdenden jüdischen Palästina etwas, was es sonst nirgends gibt, nämlich umfassende konstruktive sozialistische Arbeit. Bedeutet denn der Sozialismus wirklich für uns die Frage der Verteilung des Arbeitsertrags oder nicht vielmehr die sie freilich miteinschließende Umgestaltung der Beziehungen der Menschen zueinander? Hier, bei uns, gibt es einen Anfang seiner Realisierung, das Beginnen ist da. / Von dieser Wirklichkeit aus, an der nichts Künstliches ist, müssen wir das, was uns weiter obliegt, erkennen. Und von hier aus muß ich mich gegen die Stimme wenden, die mir unter allen, die hier erklungen sind, am tiefsten das Herz bewegt hat, die Isaak Steinbergs. Wir können nicht rechtschaffen von der Idee aus leben, ohne daß wir hinschauen auf die gegenwärtige Situation und ihre Bewältigung. Da steht es ganz anders als Steinberg meint. {ergänzt Ich glaube, es sagen zu dürfen, nicht mehr in der Subjektivität von Menschen, es geht

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darum, dass wir gemeinsam anschauen, was geschieht, die unerbittliche Forderung dieses Augenblicks. Ich nehme das Leichteste und Einfachste vorweg. Steinberg hat das Verhältnis zwischen den Arabern gestreift und es ist geantwortet worden. Ich möchte Sie auf etwas aufmerksam machen. Es gibt in Palästina auch schon ein wirkliches Zusammengehen von Juden und Arabern und zwar durch die Arbeiterschaft. Ich meine die einfachen Fakten, dass unsere Arbeiterführer für die arabische Arbeiterschaft Gewerkschaften, Zeitungen und Krankenkassen gemacht haben, dass wir unser Leben praktisch einsetzten für die Araber und halfen. Denn der Arabische Arbeiter braucht eine Krankenkasse, darum geschieht nichts vom Prinzip aus, sondern im Zusammenleben. Zu dieser Frage möchte ich nichts sagen. Die eigentlich schwierige Frage, deren Erklärung ich in dieser seltenen Stunde noch verbuchen will, ist das Verhältnis unseres sozialistischen Aufbaus zum jüdisch-Zionistischen. TS1.1} Ich muß mich hier auch gegen die Jugend wenden, obwohl das mir schwer fällt. Sie hat bemängelt, daß wir von dem Geld reden, das wir brauchen, das aber nicht unser Geld ist. Als ob wir den Aufbau ohne Geld machen könnten, oder als ob wir andres Geld als eben dieses bekommen könnten! Wenn die Jugend jetzt noch, in dieser harten Stunde, in den Wolken leben will, verwirkt sie ihre Aufgabe an ihrem Volk. Sie muß die Schwierigkeit der Situation sehen und daß ihr nicht zu entgehen ist. Steinberg gegenüber ist zu sagen, daß wir mit der jüdischen Bourgeoisie zwar nicht verheiratet, aber unausweichlich assoziiert sind. {ergänzt Es hat einen Vorgang dieser Art nicht gegeben, und was auch jetzt etwa noch geschehen wird, wird eine solche Verheiratung nicht bedeuten. Wir sind faktisch verstrickt, wir können in der Tat diesen Kampf, den wir kämpfen nicht führen, wir können den Aufbau, den wir möchten nicht tun, ohne dieses Geld. TS1.1} Nun ist es freilich nicht mehr so wie früher, wo die Leute nicht sehr genau zuschauten, wofür sie ihr Geld gaben. Sie schauen jetzt sehr genau zu, und wir müssen es sogar begrüßen, daß sie das Geben zu einer Frage der Verantwortung gemacht haben. Aber wir müssen ihnen diese noch viel ernster machen. Wir müssen ihnen sagen und beweisen, daß das jüdische und menschliche Palästina, das sie selbst wollen, nicht anders entstehen, nicht anders geraten kann als durch das, was jetzt durch die Arbeiterschaft in Palästina geschieht. Die Erhaltung des jüdischen Volkes ist eben nur noch möglich durch seine Erneuerung, und für diese ist es ein zentraler Vorgang, was die Chaluzim tun, was die Arbeiterschaft in Palästina tut. / Wir werden aber gefragt: Können wir dieses unser Werk betreiben gemeinsam mit all

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denen, die doch nicht wirklich mit uns sind? {ergänzt Ja Gideon hat, ehe es in den Kampf ging, aussortiert und hat alles, was er nicht braucht, alles nichtkoschere weggeschmissen. Aber im Kampf kann man nicht mehr wegschmeissen, da muss die Front zusammenhalten. Wir stehen im Kampf, nicht vor dem Kampf. TS1.1} Nun, wir wählen uns die Situation nicht, wir sind in sie verflochten, und jetzt haben wir uns ihr gewachsen zu zeigen. Es geht nicht um Bewährung der Reinheit um jeden Preis, es geht um Bewältigung einer Situation und Bewährung zugleich. Es geht darum, die Idee da zu wahren, wo es am schwersten ist, in der Vermengung. Die wahre Reinheit ist nicht die Unberührtheit. Die eigentlichen Proben des Lehens geschehen nicht abseits, sondern im Gewühl, da, wo es einen anfaßt, wo einem der Atem vergeht, und wo man sich dennoch bewähren kann. Nicht die Koalitionen sind vom Übel, sondern wie man sich zumeist in ihnen benimmt. Die Utopie ist lebensmäßig in jeder Stunde zu konfrontieren mit einer Topie. Das ist die Bewährung in der Verflochtenheit: soviel man je und je vermag. / Diese Gesinnung der stets neu zu ziehenden Demarkationslinie des jeweils zu Realisierenden scheint mir die Gesinnung zu sein, auf der wir diese Liga begründen wollen. {ergänzt Ich meine, dass diese Liga dann gedeihen wird, wenn sie nicht nur eine Organisation ist, sondern wenn wirklicher Zusammenschluss zwischen uns sein wird. Dieses ist der Wunsch, den wir der Liga auf den Weg geben möchten. TS1.1} Sie wird in einer strengen Stunde begründet, deren ganzer Ernst uns heute noch nicht aufgehen kann. {ergänzt Wir Mitlebenden können den Ernst, die Verantwortung eines solchen gelebten Augenblicks immer nur schwer ahnen, wenn wir diese Dinge, die geschehn, betrachten. TS1.1} Es kommt darauf an, daß in der sich nur erst ankündigenden Situation, die wir zu bewältigen haben werden, innerhalb des gewandelten Kolonisationsprozesses, der sich vorbereitet, die Arbeiterschaft die Stellung erlange, die ihr ihren Kräften und ihren Werken nach zukommt. Das wird vermutlich zugleich Vertrag und Kämpfe bedeuten {; so simpel liegen die Dinge nicht, daß wir mit der andern Seite nur einen Vertrag machten, aber erst recht nicht so, daß wir gegen sie nur Kämpfe auszufechten hätten D3}. Die Aufgabe der Liga ist, der palästinensischen Arbeiterschaft auf ihrem neuen Wege mehr Macht zu geben, mehr Macht für den Vertrag, mehr Macht für den Kampf, – mehr Macht für die Erfüllung. TS1.1, TS1.2, D3, D4

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Wort- und Sacherläuterungen: 326,23 das Problem der Kwuzah] Mit dem Begriff Kwuzah (pl. Kwuzoth) werden die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften bezeichnet, die seit 1909 im Rahmen der Chaluziut, d. h. der sozialistisch-zionistischen Pionierbesiedlung Palästinas gegründet wurden. Die Kwuzoth unterscheiden sich von den später in Palästina eingeführten Kibbuzim dadurch, dass sie aus einer kleineren Mitgliederzahl bestehen und als überschaubare Gemeinschaften wirken. 326,39-40 Das falsche Mittel verfälscht den Zweck im Gange der Durchführung] Dieser Gedanke kommt sehr häufig in den Schriften Bubers der zwanziger Jahre vor und reicht über Landauer bis zu Tolstoi zurück. Vgl. z. B. der Brief des alten Tolstois an W. A. Molotschnikow vom 6. Juni 1908: »Die Menschen wollen jedoch die Gewalt mit Hilfe der Gewalt beseitigen, die sie doch selbst verwerfen, sie begreifen nicht, dass sie selbst durch die Anwendung von Gewalt gegen Gewalt, die Gewalttaten, die sie bekämpfen, in der mächtigsten Weise fördern.« Tolstoi, Briefe 1848-1910, S. 529. 327,8-9 Der Augenblick ist abzusehen, wo die Agonie des Weltmarktes beginnt] Eine sehr genaue Prognose, denn die Börse an der Wall Street stürzte zweimal ein, zuerst anlässlich der finanziellen Panik vom Donnerstag den 24. (Black Thursday) und dann wieder am Dienstag den 29. Oktober 1929 (Black Tuesday). Dieser Börsenzusammenbruch löste eine Krise auf dem Weltmarkt aus, die in Deutschland 1930 und noch stärker 1931 spürbar war. Zu den Ursachen der Krise vgl. z. B. die Übersicht von Michael E. Parrish, Anxious Decades. America in Prosperity and Depression 1920-1941, New York-London 1992, Kap. 11 und Joh Kenneth Galbraith, Der große Crash 1929. Ursache, Verlauf, Folgen (1955), München 2005. 327,33-34 die der hochindustriellen Arbeitsform] Eine zeitgenössische Reflexion über dieselbe Frage, wenn auch mit anderen Nuancen, hat auch Ernst Jünger 1932 in seinem Werk Der Arbeiter entwickelt. Vgl. Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Stuttgart 2007. 328,10-12 Zentralismus und Dezentralisation […] sie ist mit Recht von Gustav Landauer zu oberst gestellt worden] Zu den verschiedenen Aspekten der Zentralisation in der Wirtschaft, in der Technik, im Staat, vgl. z. B. Landauer, Aufruf zum Sozialismus, S. 52 ff. 328,15 societas] Lat. societas bedeutet »Genossenschaft, Gesellschaft«. 328,40 Die Weltsituation unserer Zeit,] Hier beginnt der Textauszug, den Buber in Februar 1929 in der Zeitschrift des Freundes Karl Wilker erscheinen ließ. Vgl. Buber, »Die Frage nach Jerusalem«, Das wer-

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dende Zeitalter. Eine Monatsschrift für Erneuerung der Erziehung, Jg. 8, H. 2, Febr. 1929, S. 65-66; jetzt in: MBW 8, S. 171-172. 329,1-5 Moskau und Rom […] an der Realität wider einander] Hier versteht Buber Jerusalem als dritten Weg neben dem russischen Bolschewismus und dem italienischen Faschismus. Auf dieses Thema kam er auch in einem Brief an Ernst Simon vom 2. Dezember 1932 zu sprechen, der gewissermaßen als Vorspiel seines späteren Werkes Die Frage an den Einzelnen (1936) zu betrachten ist, auf das Buber hier durch den vorläufigen Titel »Gemeinschaftsbuch« hinweist: »Mit Faschismus und Kommunismus werde ich mich in meinem Gemeinschaftsbuch eingehend befassen. Mit ›Vergangenheit‹ und ›Zukunft‹ scheinen sie mir nicht erfaßt werden zu können; ich wäre froh, annehmen zu dürfen, daß im Faschismus ›nur das Tote gespenstisch wieder aufsteige‹, aber ich darf es nicht. Für meinen Blick verhalten sich die beiden zu einander wie das Falsche und die falsche Realisierung des Rechten.« (B II, S. 452.) Eine kritische Auseinandersetzung Bubers mit dem italienischen Faschismus findet sich in der Schrift »Volk und Führer« (jetzt in: MBW 11.2, S. 285-296), mit dem russischen Bolschewismus in seinem Buch Pfade in Utopia (jetzt in: MBW 11.2, S. 117-259). 329,30 der Aktualismus ist ehrfurchtslos] Mit dem Begriff »Aktualismus« wird das philosophische System bezeichnet, das der italienische Philosoph Giovanni Gentile (1875-1944) schon vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte und in den zwanziger Jahren als offizielle Philosophie des Faschismus angesehen wurde. Gentile galt als Unterstützer Mussolinis und einer der wichtigsten Intellektuellen des Faschismus. Wahrscheinlich bezeichnet Buber den Aktualismus deswegen als ehrfurchtslos, weil die Religion, wenn auch als notwendiger Moment, von Gentile dem Staat untergeordnet wird. 330,14-15 in den riesigen Lichtreklame-Lettern des Erfolgs] Zum Thema der historischen Erfolglosigkeit vgl. Martin Buber, Geschehende Geschichte, (jetzt in: MBW 15, S. 277-280). 330,32-33 Sie werden ihn einst erkennen – wiedererkennen] Hier endet der Auszug »Die Frage nach Jerusalem«. 331,20-21 der faschistische Zionismus, der Simson-Zionismus] Mit der Formel »Simson-Zionismus« weist Buber auf die biblische Gestalt von Simson bzw. Samson hin, der im Buch der Richter einen so offenen wie ständigen Krieg gegen die Philister führt (Ri 13-16) und hier als Symbol jenes revisionistischen Zionismus dient, den Wladimir Zeev Jabotinsky (1880-1940) damals vertrat. Nach Jabotinski sollte die jüdische Besiedlung Palästinas als militärische Kolonisierung

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durchgeführt werden, ohne Berücksichtigung der Rechte der arabischen Bevölkerung. [Drei Diskussionsbeiträge in »Sozialismus aus dem Glauben«] Nach der Tagung der religiösen Sozialisten in Kassel am 10.-12. Oktober 1923, an der auch Buber aktiv teilnahm (vgl. Einzelkommentar zu »Drei Sätze eines religiösen Sozialismus«, in diesem Band, S. 535 f.), wurde für die Pfingstwoche 1928, und zwar vom 31. Mai bis 2. Juni, eine ähnliche Tagung mit teilweise den gleichen Teilnehmern im Parkhotel »Halber Mond« in Heppenheim an der Bergstraße einberufen. Dass die Veranstaltung gerade dort stattfand, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass Buber in Heppenheim wohnte und scheinbar eine gewisse Rolle bei der Organisation bzw. Unterbringung dieses Treffens spielte. Damit verknüpfte sich der Name Bubers eng mit dieser Tagung, als sei sie von ihm ausgegangen, was nicht ganz den Tatsachen entspricht. Abgesehen von einer Publikation der Protokolle der Hauptreferate und der betreffenden Aussprachen im Herbst 1929 beim Zürcher, der Gruppe um Leonhard Ragaz nahestehenden Verlag Rotapfel, war diese Tagung von lediglich schwacher Wirkung und löste selbst von Seiten der Redner ganz wenige, meinst ablehnende oder enttäuschte Reaktionen bzw. Buchbesprechungen aus. Wie einem Brief Bubers an Leonhard Ragaz vom 20. Februar 1928 zu entnehmen ist, waren zu diesem Zeitpunkt Termin und allgemeiner Rahmen der Tagung noch nicht festgelegt: »Was wir im Herbst besprochen haben, ist mir seither gegenwärtig geblieben, vielmehr hat sich in mir die Überzeugung noch verstärkt, daß eine Zusammenkunft wie die von uns in Aussicht genommene – Zusammenkunft einiger Menschen in aller Stille zur Beratung über den Wirklichkeitsaspekt des Sozialismus in dieser Weltstunde – gerade jetzt von großer Wichtigkeit wäre. Ich schlage vor, sie um die Ostertage abzuhalten. Sollten Sie es etwa wünschen, so wäre ich gern bereit, an der Einberufung teilzunehmen; nur das ›ich‹ will mir in dieser Sache nicht über die Lippen, das ›wir‹ leicht und gut.« (B II, S. 311.) Für die ersten generellen Vorbereitungen wurde allerdings die Mithilfe Bubers nicht in Anspruch genommen – ihm gab Ragaz durch den Brief vom 30. März 1928 bloß darüber Bescheid, dass die Konferenz in der Pfingstwoche »in vertraulichem Kreise« stattfinden und dass Buber dazu freilich eingeladen würde. Das Einladungskomitee, in dem Buber überraschenderweise nicht auftritt, bestand mehrheitlich aus Akademikern, Theologen, Rechtswissen-

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schaftlern und Politikern hohen Ranges und war wie folgt zusammengesetzt: Georg Beyer (Lebensdaten nicht ermittelt, Redakteur der Rheinischen Zeitung, Köln), Dr. Emil Fuchs (1874-1971, evangelischer Theologe, Pfarrer in Eisenach), Dr. Hendrik de Man (1885-1953, belgischer Sozialpsychologe und Politiker, Flims-Waldhaus, Schweiz), Carl Mennicke (evangelischer Theologe, Direktor der Hochschule für Politik in Berlin), Prof. Dr. Gustav Radbruch (1878-1949, Rechtswissenschaftler, Sozialdemokrat und Justizminister der Weimarer Republik, Heidelberg), André Philip (1902-1970, französischer Sozialist und Politiker), Prof. Dr. Leonhard Ragaz (Zürcher reformierter Theologe), August Rathmann (1895-1995, Politiker, Kiel), Wilhelm Sollmann (1881-1951, Reichstagsabgeordneter, Köln), Prof. Dr. Hugo Sinzheimer (1875-1945, Rechtswissenschaftler und Sozialdemokrat, Frankfurt a. M.). Dieses Komitee verfasste die »Einladung zu einer sozialistischen Aussprache in der Pfingstwoche 1928 in Heppenheim a. d. Bergstr.«, die wie folgt lautete: »Die Unterzeichneten verfolgen mit Sorge die Schwächung des Vertrauens in die Lebenskraft des sozialistischen Gedankens in unserer Zeit. Ein Grund dafür liegt zweifellos in der äußeren Entwicklung, die durch die Fülle neuer Erscheinungen, neuer Aufgaben und Probleme die sozialistische Beherrschung der Wirklichkeit immer schwieriger erscheinen läßt. Der Hauptgrund aber ist innerer Art. / Der Sozialismus wird oft nur als eine fundamentale Änderung des Wirtschaftssystems angesehen, nicht aber auch zugleich als eine Erneuerung des Menschen, die sein geistiges, ethisches und seelisches Sein erfassen soll. Auch glauben viele, daß er nur eine Folge aus wirtschaftlichen Ursachen sei, obwohl er vor allen Dingen einen sozialistischen Willen und eine sozialistische Gesinnung erfordert, die eine ethische Forderung an uns selbst und eine Gerechtigkeitsforderung an die Gesellschaft in sich schließt. / Es müssen daher von neuem die inneren Kräfte des Menschen genährt werden, auf denen der Glaube an die sozialistische Erneuerung beruht, die den sozialistischen Willen und die sozialistische Gesinnung bestimmen. Eine Schwächung jener Kräfte wäre eine Gefahr für die sozialistische Bewegung, die ohne sie trotz äußerer Erfolge ihre Kraft und Wirkung verlieren kann.« (Abgedruckt in Sozialismus aus dem Glauben, S. 243-244.)

Die Konferenz wurde allerdings nicht mehr »in vertraulichem Kreise« abgehalten, wie Ragaz anfänglich erwartet hatte, weil man schließlich mit ca. achtzig Beteiligten rechnen konnte. Ziel der Tagung war nicht »irgendeine neue Organisation den vielen hin[zu]zufügen, die sich um die sozialistische Lebens- und Anschauungswelt gruppieren. […] Der Sinn dieser drei Tage war vielmehr: das lebendige sozialistische Erkennen von den Schlacken erstarrender Tradition zu reinigen und die sozialistische Bewegung in ihrer gegenwärtigen Situation durch junge Antriebe

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im Willen und im Handeln zu stärken.« (August Rathmann und Georg Beyer, »Vorwort«, in: Sozialismus aus dem Glauben, S. 7.) Die dreitägige Konferenz, die von einer Rede Hugo Sinzheimers eröffnet wurde, war in zwei Hauptteile gegliedert: 1) Begründung des Sozialismus und 2) Sozialismus und persönliche Lebensgestaltung. Im ersten Teil wurden zwei Hauptreferate gehalten, und zwar von Hendrik de Man – der in den dreißiger Jahren als belgischer antimarxistischer Sozialist als Arbeits- und Finanzminister tätig war und 1940 zunächst mit dem NaziBesetzungsregime kollaborierte – und von Eduard Heimann, einem Nationalökonomen und Sozialwissenschaftler, der auch Mitglied des Berliner Kreises um Paul Tillich war. In der darauffolgenden bewegten Aussprache ergriffen neben Martin Buber u. a. Paul Tillich, Elisabeth BusseWilson und Leonhard Ragaz das Wort. Im zweiten Teil wurden zwei Vorträge von Henriette Roland-Holst (1869-1962), einer niederländischen Dichterin und Schriftstellerin, die mit Rosa Luxemburg befreundet war, sich später aber dem religiösen Sozialismus zuwandte, und von dem evangelischen Theologen und Mitglied der Sozialdemokratie Emil Fuchs gehalten. Der problematische Verlauf der Tagung, die unüberbrückbaren Spannungen zwischen den verschiedenen Positionen und Stellungnahmen sowie die Ambivalenz bzw. Differenziertheit der Ergebnisse wurde bereits im Vorwort des Protokolls angedeutet: »Alles, was zuletzt aus Glaubenskräften kommt, mögen sie religiös oder humanitär betont sein, wird sich durch die Glätte fester Lehrmeinungen nie völlig bewältigen lassen. […] Eines aber lehrte sie [die Diskussion]: daß dieses Suchen nach Wahrheit und Sicherheit aus den Erlebnissen und Erfahrungen der Nachkriegszeit mit ihren politischen, sozialen und seelischen Erschütterungen geboren wurde. Nicht das Mindeste hatten diese Auseinandersetzungen mit dem alten Streit zwischen ›Revisionismus‹ und ›Radikalismus‹, zwischen den Anhängern der ›Aushöhlungstheorie‹ und der ›Katastrophentheorie‹, zwischen Opportunisten und Revolutionisten zu tun. Sie führten in der grundlegend veränderten Situation der Gegenwart immer wieder zu dem entscheidenden Problem der Überwölbung aller sozialistischer Praxis durch das sozialistische Weltbild mit stärkster bekennerischer Erneuerung vom Geiste her.« (Ebd., S. 7 f.)

Ragaz veröffentlichte eine sehr kritische Besprechung der Heppenheimer Tagung wenig später im Juni-Heft der Neuen Wege (vgl. Leonhard Ragaz, Die sozialistische Konferenz in Heppenheim, Neue Wege, Jg. 22, H. 6, S. 256-259). Ragaz zufolge sei der ursprüngliche Zweck gewesen »nicht eine Konferenz, sondern eher irgend eine Art von gemeinsamer Erklärung von Gesinnungsgenossen. Auch war die Tendenz durchaus praktisch, auf unmittelbare Wirkung für die heutige Lage gerichtet, da-

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bei natürlich ganz ohne Nebenabsicht irgendwelcher Partei- oder Cliquenbildung.« (Ebd., S. 256.) Trotz der Absicht habe sich etwas anderes ergeben: »Daraus ist nun, gegen den Willen eines Teils der Initianten, zunächst eine Konferenz geworden. Das ursprüngliche, auf unmittelbar praktische Aktion gerichtete Programm war verschwunden […] Was einem jedoch mehr zu denken geben musste, als dieser Unterschied der Denkweisen, war der ganze Stil und Ton der Verhandlungen und des Zusammenseins. Es war darin viel kalter Intellektualismus, viel Uebergescheitheit; vom sozialistischen Herzen spürte man gelegentlich nicht viel.« (Ebd., S. 257.) Trotz seiner einleitenden Kritik konnte Ragaz der Konferenz auch positive Seiten abgewinnen, etwa dass kein dogmatischer Marxismus vertreten und die Rolle des persönlichen Lebens bei der Gestaltung des Sozialismus betont wurde. Schließlich hob er als »besonders kostbaren Gewinn der Zusammenarbeit das Auftreten und Hervortreten hervorragender und auch rein menschlich bedeutender Persönlichkeiten« hervor: »Martin Buber, der in Heppenheim wohnt, hat wiederholt mit sehr wertvollen Voten eingegriffen, die besonders auch religiös das sagten, was zu sagen war.« (Ebd., S. 258.) Schließlich kam auch August Rathmann, der in seiner Jugend als Tischler ausgebildet und bald danach in der Arbeiterbewegung politisch aktiv wurde, in seinen Lebenserinnerungen auf die Tagung zu sprechen und fasste auch das erste Votum Bubers zusammen: »Den ersten Widerspruch findet Heimann bei Martin Buber, dem in der ganzen westlichen Welt anerkannten originären jüdischen Denker. Er war mir als Herausgeber der vierzigbändigen Reihe ›Die Gesellschaft‹ und als enger Freund Gustav Landauers bekannt, mit dem er im entschiedenen Willen zum Sozialismus völlig übereinstimmte. Wie viele Juden, auch gehobener Schichten, wurden beide durch das dem Proletariat ähnliche Schicksal weitgehender Rechtlosigkeit und Unterdrückung zur sozialistischen Bewegung geführt. […] Buber bekennt sich ohne romantische Illusionen zur Wiedergeburt der Gemeinde, wie sie sich dann in den israelischen Kibbuzim als Vollgenossenschaft im sozialistischen Sinne vitalisiert hat – allerdings ohne die von Buber geforderte brüderliche Solidarität mit den Arabern.« (August Rathmann, Ein Arbeiterleben: Erinnerungen an Weimar und danach, Wuppertal 1983, S. 147.)

Zu den Tagungsinhalten aus christlich-theologischer Sicht vgl. Adrian M. van Peski, Sozialethische Urteilsfindung an einem geschichtsträchtigen Scheidewege: die Heppenheimer Debatte 1928 über die »Begründung des Sozialismus«, Eduard Heimann – Hendrik de Man – Paul Tillich (ein Rückblick nach 50 Jahren), Zeitschrift für evangelische Ethik.

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Kommentare, Studien, Berichte, Dokumentationen, Diskussionen, Rezensionen, Bibliographie, Gütersloh, Jg. 24, 1980, 3, S. 182-191. Textzeuge: D: Reden auf der sozialistischen Tagung in Heppenheim: »Die Begründung des Sozialismus«, »Sozialismus und persönliche Lebensgestaltung«, in: Sozialismus aus dem Glauben – Verhandlungen der Sozialistischen Tagung in Heppenheim, Pfingstwoche 1928. Zürich: Rotapfel 1929, S. 90-94, S. 121-122 u. S. 217-219 (MBB 400). Druckvorlage: D Wort- und Sacherläuterungen: 333,7 die Pflicht zur persönlichen Verantwortung bedroht] Buber weist hier offenbar auf die folgende Stelle des Referats von Hendrick de Man hin: »Dieselbe Nachdruckverlegung auf die ökonomischen Motive, die den Marxismus befähigte den ohnmächtig gewordenen Utopismus zu überwinden, nimmt ihm im jetzigen Stadium die Fähigkeit, die Nachdruckverlegung auf die Gesinnungsmotive zu begründen, ohne die es keine Überwindung des Reformismus und der Verspießerung geben kann. Es zeigt sich hier, wie gefährlich es war, daß Marx die Verantwortung für ethisch gerichtete Entscheidung den Menschen abnahm, um sie der überpersönlichen, anonymen und eigentlich verantwortungslosen ›Entwicklung‹ zu übertragen.« Vgl. Sozialismus aus dem Glauben, S. 28; vgl. überhaupt ebd., S. 2628. 333,13-18 auf einiges antworten, was Heimann gesagt hat […] zunächst vom Glauben an die Schöpfung aus] Die Stelle im Referat Heimann lautet: »Man vergewaltigt das Leben, wenn man es von außen her mit einem festen Maßstab zu meistern versucht; gerade das Wesen des Lebens, seine Buntheit im Nebeneinander und seine Wandlung im Nacheinander, ginge dabei verloren. Denn alles Lebendige, jedes Geschöpf und jede Gruppe von Geschöpfen und jede Epoche im Leben der Geschöpfe, ist einzigartig und inkommensurabel, noch nie dagewesen und unwiederholbar, wesenhaft und nur dem Gesetz seiner eigenen Schönheit, seines eigenen Sinnes unterworfen.« Ebd., S. 68. 333,29-30 Wenn Heimann von diesem Gesichtspunkt aus weiter sagt] Bei Heimann heißt es: »Indem der junge Mensch ins Leben eintritt und es auf seine Weise gestaltet, vollendet sich in ihm und durch ihn in der Welt ein neuer Akt der Schöpfung. Andere haben diesen gleichen Lebensraum vor ihm innegehabt und haben ihn gestaltet, auf

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ihre Weise und mit ihrer auch aus Gott stammenden Kraft; nun ist es ihre Sache, in das neue Leben hineinzulauschen, mit ihm mit- und in es einzugehen, statt ihm um der eigenen Herrlichkeit willen den Weg zu verlegen. Das ist ja das Böse: auf der eigenen begrenzten Leistung und Lebensform zu trotzen, als ob sie das Höchste wäre, und die Kraft jener Leistung zur Abwehr und zum Mißbrauch des anderen, des neuen Lebens zu benutzen. So ist auch die bürgerliche Welt noch groß und lebensvoll, aber zugleich lebensfeindlich …« Ebd., S. 88 f. 334,13-14 eine sittliche Begründung des Sozialismus anzustreben] So z. B. eine der ersten Thesen von de Man: »Der Sozialismus ist ein Streben nach gerechter Gesellschaftsordnung« (ebd., S. 13 und 15). Zur Erhöhung der Stoßkraft des politischen Kampfes durch einen sittlich-religiös begründeten Sozialismus vgl. ebd., S. 16. 334,28-41 Tendenz zur Universalität […] Nicht alle Religionen führen zum Sozialismus] Vgl. z. B. ebd., S. 41-43: »Die Begründung der sozialistischen Überzeugung jedoch scheint mir nur möglich auf Grund einer Kausalreihe, die der des Marxismus geradezu entgegengesetzt ist. Ich möchte sie im Gegensatz zu der marxistischen Kausalreihe Kapitalismus-Klassenkampf-Sozialismus zunächst so formulieren: Ethische Wertung-Sozialismus-Klassenkampf. […] Darum möchte ich nun noch einen Schritt weitergehen und statt Ethische Wertung-Sozialismus-Klassenkampf sagen: Religion-SozialismusKlassenkampf.« 336,7-8 was Heimann von der Würde der Arbeit sagte, allerdings nicht konkret genug] Vgl. z. B. was Heimann ebd., S. 72 f. schreibt: »Schreitet man von dem Sinn, dem Ideellen, zum Praktischen fort, so ergibt sich zuerst, daß, um die Würde der Arbeit herzustellen, die Bedingungen ihrer Erniedrigung beseitigt werden müssen. Alle diese Bedingungen sind aber im Privateigentum an den Produktionsmitteln zusammengefaßt, und so wird die Arbeiterbewegung notwendig zur sozialistischen Bewegung, weil eine dem Privateigentum entgegengesetzte Ordnung nun als Bedingung für die Durchsetzung des Anspruchs auf Arbeitswürde erscheint.« 336,10-11 Hier spricht de Man […] Bedürfnisbefriedigung] Hendrik de Man postuliert, »daß Lebenswerte höher stehen als Sachwerte, weshalb die Verfügung über letztere sich durch die Zweckdienlichkeit zur Befriedigung von Lebensbedürfnissen zu rechtfertigen hat; woraus folgt, daß wirtschaftliche Tätigkeit dem Ziele der Bedürfnisbefriedigung unterzuordnen und statt vom Gesichtspunkt des Privatgewinns von dem des Dienstes am Werk und an der Gemeinschaft einzurichten ist.« Ebd., S. 14.

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336,13-14 de Mans Buch über die Arbeitsfreude] Buber verweist auf die umfassende, beim Verlag Diederichs erschienene sozialpsychologische Abhandlung von Hendrik de Man, Der Kampf um die Arbeitsfreude. Eine Untersuchung auf Grund der Aussagen von 78 Industriearbeitern und -angestellten, Jena 1927. 336,18-19 an das Wort Lassalles von der »verdammten Bedürfnislosigkeit«] Die epochemachende Parole, die Ferdinand Lassalle, einer der Gründer und ersten Führer der politischen Arbeiterbewegung Deutschlands, am 17. Mai 1863 in einer Rede vor einer Frankfurter Arbeiterversammlung unter einstimmiger Zustimmung formulierte: »Ihr deutscher Arbeiter seid merkwürdige Leute! Vor französischen und englischen Arbeitern, da müßte man plaidiren, wie man ihrer traurigen Lage abhelfen könne, Euch aber muß man vorher erst noch beweisen, daß Ihr in einer traurigen Lage seid. So lange Ihr nur ein Stück schlechte Wurst habt und ein Glas Bier, merkt Ihr das gar nicht und wißt gar nicht, daß Euch Etwas fehlt! Das kommt aber von Eurer verdammten Bedürfnislosigkeit!« Arbeiterlesebuch. Rede Lassalle’s zu Frankfurt am Main am 17. und 19. Mai 1863, nach dem stenographischen Bericht, Frankfurt a. M. 1863, S. 31. 337,10-11 Es geht darum, daß die fiktiven Scheidungen aufhören und die realen beginnen] Hier endet das erste Votum Bubers (Sozialismus aus dem Glauben, S. 90-94) zu den zwei ersten Referaten. In ihren Schlussworten erwiderten beide Redner den Bemerkungen Bubers. So schrieb z. B. Eduard Heimann: »Mir ist zunächst von Buber entgegengehalten worden, es sei nicht erlaubt, nur zu sagen: es geschieht alles an uns als bloßen Objekten, auch das Gegenteil müsse ergänzend gesagt werden: es geschieht alles durch uns als Subjekte. Dies ist zwar richtig, aber kein Einwand gegen mein Referat. Ich habe ja überall dieses Moment der Freiheit in dem großen Strom der Dinge hervorgehoben. […] / Buber hat meine konkreten Ausführungen in zwei Punkten ausgebaut, die ich meinerseits unterstreichen möchte: erstens die Vermenschlichung der Technik. Ich habe ja auch auf die Arbeitswissenschaft hingewiesen, auf die Frage nach den Bedingungen, unter denen der Arbeiter lebt und arbeitet. Die zweite Frage ist die der Dezentralisation. Ich habe da auf den Syndikalismus hingewiesen. Ich persönlich stehe auf der Grundforderung: so weit dezentralisieren, wie man irgend kann, um der Freiheit und Aktivität und Lebensnähe halber.« (Heimann, Schlusswort, in: Sozialismus aus dem Glauben, S. 123 f.). Hendrik de Man zeigte sich mit der Kritik Bubers im Grunde genommen einverstanden und schrieb: »Von größerer praktischer Bedeutung als diese immerhin etwas außenseitigen oder

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historischen Probleme scheint mir der Einwand von Martin Buber zu sein: Wenn alle Realgesinnung zum Sozialismus führen sollte, dann gäbe es ja keinen wirklichen Kampf mehr gegen den Kapitalismus; daß wir aber diese prästabilierte Harmonie nicht haben, liegt daran, daß es Menschen gibt, die lebensmäßig keine Sozialisten sind. / Ich weise darauf hin, daß diese These Bubers ihren Sinn nur von der Unterscheidung erhält, die er selber zwischen Realgesinnung und Fiktivgesinnung macht. Diese Unterscheidung paßt vollkommen zu der von mir gemachten zwischen der sozialen Gesinnung, die ihre eigenen ethischen Gebote zu verwirklichen sucht, und den begrifflichen Konstruktionen – die natürlich auch Weltanschauungen sein können – die das Ausweichen vor dieser Forderung zu begründen suchen. Letztere sind es, die ich als Rechtfertigungslehren des schlechten sozialen Gewissens, als Hilfskonstruktionen der Fluchtversuche vor der Forderung der Mitmenschen zu kennzeichen versucht habe. Martin Buber meint offenbar dasselbe, wenn er von Fiktivgesinnungen spricht. Er bestätigt damit, daß uns allen hier der Glaube gemeinsam ist, den Heimann in dem Satz ausdrückte: Sozialismus und Wahrheit sind eins. Gut und Böse, soziale Gerechtigkeit und soziale Ungerechtigkeit, Wahrheit und Unwahrheit, Realgesinnung und Fiktivgesinnung, das sind in verschiedenen Bezugssystemen die Pole eines selben ewigen Spannungsverhältnisses, dessen heutiger sozialer Ausdruck der Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus ist.« Hendrick de Man, Schlusswort, in: Sozialismus aus dem Glauben, S. 130 f. 337,14 Eine Richtigstellung an die Adresse des Vorsitzenden] Vorsitzender bei der Aussprache war Adolf Löwe (1893-1995), Soziologe, Schüler Franz Oppenheimers, sozialdemokratischer Nationalökonom und damals Dozent am Institut für Sozialforschung der Goethe-Universität in Frankfurt, wo er enge Beziehungen zu Max Horkheimer (1895-1973) und Paul Tillich unterhielt. In seinem Kommentar zur Aussprache hatte sich Löwe so ausgedrückt: »Unsere Referenten haben die Arbeitsnot des kapitalistischen Abendlandes in den Mittelpunkt gestellt, also ein räumlich und zeitlich begrenztes Problem unseres Kulturkreises. Buber sprach von ganz anderen Dingen. Zeitlose Aufgaben, die ewig über der Menschheit stehen, hat er in den Vordergrund gerückt, als er die Neugestaltung des Verhältnisses von Mensch zu Mensch als sozialistische Aufgabe bezeichnete. Zwischen diesem ewigen und jenem historisch eng begrenzten Problem liegt vielleicht noch eine dritte Schicht in der Mitte: Dinge, die die abendländische Geschichte in ihrem ganzen Ablauf betreffen und im jü-

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disch-christlichen Gehalt unserer Religiosität verankert sind. Ich meine, die asketische Lebensführung und die eigentümliche Überschätzung der Arbeit, die selbst ein Ausfluß dieser asketischen Haltung ist.« Ebd., S. 118. 337,28-29 Das zweite ist eine Frage an Tillich. Er spricht von der werdenden Gestalt] In seinem Votum hat Paul Tillich gegen de Man behauptet: »Demgegenüber meine ich, daß jede Forderung, daß jede kritische Stellung zur gegenwärtigen Wirklichkeit Ausdruck einer kommenden Wirklichkeit, einer werdenden Seinsgestalt sein muß. Wir können gar nicht reden außer aus einer Gestalt der Wirklichkeit heraus. Das bedeutet freilich nicht, daß man die gegebene Wirklichkeit einfach beschreiben soll. Jede lebende Gestalt enthält in der Tiefe den Konflikt zwischen einer gegenwärtigen und einer werdenden Gestalt. Wir gehen aus von der Anschauung der werdenden Gestalt und dem Konflikt, in den sie die vorhandene hineintreibt: Das ist dialektisches Denken.« Ebd., S. 102. 337,37 Heimann: Tillich hat gesprochen von dem Wagnis] So Tillich in seinem Beitrag: »Unsere Schau ist ein Wagnis. Sozialismus ist ein Wagnis, das mißraten kann. Mit dem Mut, etwas zu wagen, was durch das Gericht der Geschichte zerstört werden kann: Das heißt aus der Wirklichkeit heraus handeln. Sozialismus ist ein Wagnis der Schau aus der Gegenwart in die Zukunft.« Ebd., S. 103. 338,5 Löwe gegenüber bekenne ich mich als revolutionärer Sozialist] Löwe hatte sich in seiner Auseinandersetzung mit der Position Bubers als Reformist erklärt: »Warum entscheide ich mich gegenüber dem proletarischen Problem für den Weg des Reformismus, warum nicht für die proletarische Revolution? An diesem Punkte werden die anderen, die tieferen Schichten der Fragestellung für uns bedeutsam, vor allem die Fragestellung Bubers. Ich bin Reformist und nicht Bolschewist, weil ich an keinen echten Gemeinschaftsbau glauben kann, der nicht die Gleichwürdigkeit aller, die Menschenantlitz tragen, als obersten Wert anerkennt – auch und gerade nicht als ›Übergang‹.« Ebd., S. 120. 339,15-17 Genossin Roland-Holst hat gesprochen […] Methode] So hatte sich Henriette Roland-Holst ausgedrückt: »Die große Gefahr für den politischen Radikalismus, auch dann, wenn er nicht demagogisch, nicht von Groll erfüllt, nicht rachebedürftig ist und nicht blind auf Gewalt schwört, ist seine zu ausschließlich auf die Eroberung der Macht gerichtete Einstellung. Diese bringt, wenn zur Gewohnheit geworden, die Gefahr mit sich, auch der lautersten Gesinnung zum Trotz, und wenn auch oft nur unbewußt, die Menschen immer mehr

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als Mittel zu betrachten, in nicht anderer Weise, als der Kapitalismus dies tut, wenn auch die Zwecke selbstverständlich andere sind.« Ebd., S. 164. Gandhi, die Politik und wir Dieser Text erschien im Frühjahr des Jahres 1930 zunächst separat in der letzten Ausgabe der von Buber mit herausgegebenen Zeitschrift Die Kreatur, bevor er kurz darauf in der vom Dresdner Schriftsteller Fritz Diettrich (1902-1964) herausgegebenen Aufsatzsammlung Die GandhiRevolution zum Abdruck kam. Anlass des Aufsatzes war sehr wahrscheinlich der am 12. März 1930 beginnende und von Gandhi geleitete »Salzmarsch«, eine gewaltlose Protestaktion gegen das britische Monopol der Salzproduktion, der nach 380 Kilometern Weg schließlich am 6. April an der Küste des Indischen Ozeans anlangte. Diese Aktion löste in Indien eine der erfolgreichsten Widerstandsaktionen aller Zeiten aus, in deren Verlauf die britische Kolonialregierung 60.000 Menschen verhaften ließ – darunter Gandhi selbst in der Nacht vom 4. auf den 5. Mai 1930 (zum Salzmarsch, seinen Folgen und der Verhaftung Gandhis vgl. Louis Fischer, Das Leben des Mahatma Gandhi, München 1951, S. 278286). Als Buber diesen in der Entwicklung seines politischen Denkens sehr wichtigen Aufsatz niederschrieb, war der Marsch Gandhis noch nicht beendet, wie dem Text selbst zu entnehmen ist: »Der Mahatma hat sich jetzt, während ich dies schreibe, auf seinen Gang […] begeben.« (Martin Buber, Gandhi, die Politik und wir, jetzt in diesem Band, S. 344.) Daraus lässt sich schließen, dass der Text sehr wahrscheinlich in der zweiten Märzhälfte 1930 verfasst wurde. Über Gestalt und Schrifttum Gandhis war Buber damals wohl vor allem aus jenen auch in seinem Aufsatz zitierten Quellen informiert, die zwischen 1923 und 1925 erschienen waren. Es handelt sich um 1) die von Romain Rolland herausgegebene Sammlung von Gandhis Schriften, die dieser in den entscheidenden Jahren 1919-1922 für die Zeitung seiner Unabhängigkeitsbewegung Young India schrieb (vgl. Mahatma Gandhi, Jung Indien: Aufsätze aus den Jahren 1919 bis 1922, Erlenbach-Zürich 1924); 2) die deutsche Übersetzung der ersten europäischen Biographie Gandhis, die von Romain Rolland verfasst wurde (vgl. Romain Rolland, Mahatma Gandhi, Erlenbach-Zürich 1923; im Lauf des Jahres 1930 war eine zweite Auflage erschienen); 3) Schriften, die mit der Verhaftung Gandhis in der Zeit von 1922-1924 zu tun haben und von Emil Roniger (1883-1958) gesammelt, ins Deutsche übersetzt sowie herausgegeben

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wurden (vgl. Mahatma Gandhis Leidenszeit, hrsg. von Emil Roniger, Zürich u. Leipzig 1925); 4) die Sammlung der Texte, die der junge Gandhi in der Zeit verfasste, als er in Südafrika tätig war (vgl. Gandhi in Südafrika, Erlenbach-Zürich 1925). Die ersten Ausgaben aller dieser vier Bücher sind im MBA in Jerusalem belegt, befanden sich also in Bubers Besitz. Dass Buber sich mit der Gestalt und Wirkung Gandhis ausgerechnet anlässlich des Salzmarsches zum ersten Mal beschäftigte, ist allerdings zu bezweifeln. In zwei verschiedenen Anmerkungen seiner 1929 fertiggestellten Buber-Biographie weist Hans Kohn darauf hin, dass Buber bereits 1926 mit dem Titel Gandhi und das Abendland drei Vorträge im Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt a. M. gehalten habe (vgl. Hans Kohn, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit, Hellerau 1930, S. 351, Anm. 1 zu S. 210 und S. 374, Anm. 1 zu S. 280). Kohn selbst zitiert einige Auszüge aus diesen nicht erhaltenen Frankfurter Vorträgen Bubers über Gandhi vom Herbst 1926, teils umschreibt er sie: »Hier gewinnt in der sich vorbereitenden Bewußtseinseinheit der Beitrag des Orients seinen Sinn, der sich im Taoismus, der seit über zwanzig Jahren Bubers Lehre mit beeinflußt hat, und in der Gegenwart in Gandhi ausspricht, das Wissen darum, ›daß das echte Wirken nicht das Eingreifen ist, nicht das Auspuffen der Macht, sondern das Insichverhalten, das In-sich-selber-ruhen, das mächtige Dasein, das nun freilich nicht den geschichtlichen Erfolg einbringt, den in dieser Epoche und in dieser Sprache auswertbaren, registrierbaren Erfolg, sondern nur die zunächst unscheinbare, ja unsichtbare Wirkung, die in die Geschlechter hinüberdauert und dort nicht etwa plötzlich als solche wahrnehmbar wird, sondern selbstverständlicher Bestandteil des Lebens der Menschheit geworden ist, so selbstverständlich, daß man nach ihren historischen Ursachen kaum noch fragt‹. ›Gandhi tut das Werk am indischen Menschen, das einmal so da sein wird, daß man gar nicht mehr wissen wird, wie es entstanden ist‹. Er hat in unserer Zeit am stärksten die Einheit von Idee und Methode verwirklicht. Wie alle Propheten ist er zutiefst mit dem Volk und seiner politischen Lage verbunden. Er ist aber der Versuchung aller Propheten erlegen: der kurzfristigen Verheißung. Er hat den baldigen Erfolg verheißen, das Ziel nahegerückt. Die Menge opfert nie ihr ganzes Leben dem langsamen Siegeszug der Idee. Gandhi folgte ihrem Drängen. In diesem Mißverstehen der wahren historischen Dynamik liegt seine Tragik. / Gandhi repräsentiert noch eine zweite typische Haltung, den Illusionismus einer gewaltsamen Umkehr an Stelle einer Überwindung auf dem betretenen schicksalsgewiesenen Wege. Eine tiefere Frage liegt zugrunde: Muß nicht der religiösen Mensch in dieser Welt ein Narr sein oder der Welt entsagen? Auch Askese ist Konkretion wie Religion, freilich aber eine durch Abstrich erzielte. Man verzweifelt an der religiösen Bewältigung der Lebensfülle, der Sinn erscheint in ihr nicht mehr aufgetan und erlangbar. Aber es handelt sich um die Erlösung, nicht um die Überwindung der Schöpfung: ›die Welt als solche

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soll nicht reduziert, sondern zum Reiche Gottes vollendet werden, nicht durch Erlösung vom Bösen, sondern durch Erlösung des Bösen als der von Gott zu seinem Dienst und zum Wirken seines Werkes erschaffenen Kraft. Die Einheit erhebt sich aus den Elementen der Gegensätzlichkeit.‹« (Kohn, Martin Buber, S. 280 f.)

In der Tat taucht der Name Gandhis auch in einem unveröffentlichten Brief Bubers an Franz Rosenzweig vom 1. November 1926 auf, in dem Buber sehr wahrscheinlich den dreifachen Termin seiner geplanten Vorträge im Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt festsetzte: »Gandhi: aber nicht am Bußtag (17. XI), weil ich da in Stuttgart bin (Lehrhaus, 3 Vorlesungen: Der heutige Mensch und die Bibel […]). Also wohl 24. XI., 1. und 8. XII« (vgl. Martin Buber Collection; AR 9; box 1; folder 9; Leo Baeck Institute). All dies legt nahe, dass Buber sich schon ab der Mitte der 1920er Jahre, und zwar nach dem Erscheinen der erwähnten Gandhi-Publikationen in deutscher Sprache, mit der aktuellen theologisch-politischen Aktion Gandhis intensiv beschäftigte. Als Jude und Zionist hegte Buber für die gewaltlose politische Protestaktion gegen das britische Reich sowie für die Swaraj-Bewegung, die Gandhi damals in Indien führte, offenbar ein Interesse, das wesenhaft verschieden war von jenem, das Romain Rolland und Leonhard Ragaz an Gandhi und seiner Gewaltlosigkeit nahmen. Denn Indien und Palästina standen damals, obwohl unter grundverschiedenen politischen Umständen, beide unter der Kolonialverwaltung Englands, und in beiden formierten sich zunehmend gesellschaftliche Bewegungen, die sich gegen die Kolonialmacht wandten. Mit dem antizionistisch orientierten Gandhi, nach dessen Ansicht Palästina den Arabern gehörte, wird sich Buber nochmals 1939 in seinem berühmten Offenen Brief an Gandhi (1939; jetzt in: MBW 21) scharf auseinandersetzen (vgl. auch dazu Wir wollen die Gewalt nicht: Die Buber-Gandhi-Kontroverse. Ein Beitrag zur praktischen Philosophie, hrsg. von Christian Bartolf, Berlin 1997). Textzeugen: D1: Die Kreatur, III/4 1930, S. 331-342 (MBB 427). D2: Die Gandhi-Revolution, hrsg. von Fritz Dittrich, Dresden: W. Jess 1930, S. 160-177 (MBB 427). D3: Die Frage an den Einzelnen, Berlin: Schocken 1936. S. 106-124 (MBB 533). D4: Hinweise – Gesammelte Essays, Zürich: Manesse 1953, S. 272-289 (MBB 919). 5 D : Werke I, S. 1079-1094 (MBB 1193).

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Übersetzungen: Englisch: Gandhi, Politics, and Us, in: Buber, Pointing the Way. Collected essays, übers. von Maurice Friedman, New York: Harper 1957, S. 126-138 (MBB 1045). Hebräisch: Gandhi, ha-politiqa wa-anachnu [gekürzt], in: Mi-divre M”B (Sonderheft zu Buber 70. Geburtstag), Be’ajot, 6. Jg., Heft 3-4, Februar 1948 (MBB 802). Variantenapparat: 341,18-19 Ibsensche Aphorismus […] allein sei] Schiller-Ibsensche Aphorismus […] allein, oder dem Alleinstehenden, der der stärkste Mann der Welt sei D2, D3, D4, D5 345,3 um die Unabhängigkeit Indiens] fehlt D3, D4, D5 345,12 Umwandlung] fehlt D3, D4, D5 345,32-33 Föderation, die […] wirken hätte] Föderation: Indien sollte sie anregen und sollte in ihr wirken D4, D5 347,15-16 zentralistischen Staatsspinne] Machtakkumulation D3, D4, D5 348,31 faktisch] tatsächlich D3, D4, D5 348,32-33 zerschneiden] voneinander schneiden D4, D5 348,33 Transmissionslosigkeit] Nichtübersetzbarkeit D3, D4, D5 348,33 Nichtveröffentlichung] Nichtveröffentlichbarkeit D4, D5 348,34-35 – notwendigerweise »politischen« –] fehlt D3, D4, D5 348,35-36 , einer den gegenwärtigen […] bestimmten] fehlt D3, D4, D5 349,30 Derjenige soll in die Parteien, wer] Er hat eine Aufgabe in den Parteien, wenn er D4, D5 349,32 sein Werk] sein fortwirkend Werk D3 sein fortwirkendes Werk D4 sein fortwirkend Werk D5 350,5 es gibt keine messianistische Politik] es gibt rechtmäßig keine messianistische, messianistisch intendierte Politik D3, D4, D5 Wort- und Sacherläuterungen: 340,3 Als Gandhi im Gefängnis saß] Buber bezieht sich auf die Verhaftung Gandhis am 10. März 1922 in seinem Ashram (seiner religiösen Einsiedelei) bei Sabarmati. Gandhi wurde wegen Subversion angeklagt und zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, aber bereits im Februar 1924 wieder freigelassen, weil er sich wegen einer Blinddarmentzündung einer schweren Operation unterziehen musste (vgl. dazu Mahatma Gandhis Leidenszeit, hrsg. von Emil Roniger, Zürich u. Leipzig 1925, S. 30 ff.: »Die Verhaftung« vom 15. März 1922). Dies

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war weder das erste noch das letzte Mal, dass Gandhi im Gefängnis saß. Dreimal wurde er 1908 in Südafrika, in Indien einmal 1919, zweimal 1930-1932 nach dem Salzmarsch, dann schließlich zwischen 1942 und 1944 nach den Unruhen der Quit India-Bewegung festgenommen. 340,3-16 ein hoher britischer Beamte […] Blick für die menschlichen Leidenschaften ab.«] Am 27./28. Dezember 1921 wurde Gandhi, der sich bereits als charismatischer Führer der antikolonialen Bewegung etabliert hatte, auch Vorsitzender des Indian National Congress. Anfang Februar 1922 rief Gandhi zur Swadeshi auf, d. h. zur gewaltlosen wirtschaftlichen Nicht-Kooperation mit der Kolonialmacht, insbesondere zum Boykott der aus England importierten Waren. Die enorm erfolgreiche Campagne zivilen Ungehorsams wurde aber nach wenigen Tagen abgebrochen, weil die britische Polizei am 22. Februar 1922 in der Stadt Chauri Chaura in der Region von Uttar Pradesh einen Demonstrationszug provozierte. Die aufgebrachte Menge reagierte mit Gewalt und mehr als zwanzig Polizisten wurden niedergetreten und verbrannt. Am 10. März wurde Gandhi wegen Subversion verhaftet. Der von Buber erwähnte »hohe britische Beamte« war der damalige Statthalter Bombays, der ultrakonservative Politiker Freiherr George Ambrose Lloyd (1879-1941), der die Verhaftung Gandhis befahl. Buber zitiert hier einen Artikel, den die Zeitung The Hindu vom 21. November 1923 unter dem Titel »Ein interessantes Interview« publizierte und den Buber in deutscher Übersetzung in der Sammlung von Emil Roniger las. Zur zitierten Stelle vgl. Mahatma Gandhi Leidenszeit, S. 225. 340,21-23 der Ausbruch der Unruhen eine Warnung Gottes genannt wird, »daß es in Indien […] rechtfertigen kann«] Es handelt sich um den Anfang des Artikels »The Crime of Chauri Chaura«, der in Young India vom 16. Februar 1922 erschien: »God has abundantly kind to me. He has warned me the third time that there is not as yet in India that truthful and non-violent atmosphere which and which alone can justify mass disobedience which can be at all described as civil, which means gentle, truthful, humble, knowing, wilful yet loving, never criminal and hateful.« Vgl. The Collected Works of Mahatma Gandhi XXII (December 1921 – March 1922), Ahmedabad 1966, S. 415. 340,30-34 Als, keine zehn Tage […] programmatische Resolution aufgenommen würden] Dies wurde von Gandhi selbst in dem Artikel »The All-India Congress Committee« in der Zeitung Young India vom 2. März 1922 beschrieben: »I was therefore deeply hurt when I

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found opposition to the note in the resolution about the creed and still more when I found opposition to my paraphrase of the two adjectives ›peaceful‹ and ›legitimate‹ into ›non-violent‹ and ›truthful‹ respectively. I had reasons for the paraphrase. I was seriously told that creed did not insist upon non-violence and truth as the indispensable means for the attainment of swaraj. I agreed to remove the paraphrase in order to avoid a painful discussion but felt that truth was stabbed.« Vgl. The Collected Works of Mahatma Gandhi XXII (December 1921 – March 1922), S. 503 f. 340,36-341,6 »Ich weiß, daß […] die einzige wahrheitliche Lage«] »I know that the only thing that the Government dread is this huge majority I seem to command. They little know that I dread it even more than they. I have become literally sick of the adoration of the unthinking multitude. I would feel certain of my ground, if I was spat upon by them […] The only tyrant I accept in this world is the ›still small voice‹ within. And even though I have to face the prospect of a minority of one, I humbly believe I have the courage to be in such a hopeless minority. That to me is the only truthful position.« Vgl. The Collected Works of Mahatma Gandhi XXII (December 1921 – March 1922), S. 501. 341,9-10 einige Worte des Amerikaners Thoreau] Anspielung auf den amerikanischen Schriftsteller, Dichter und Philosophen Henry David Thoreau (1817-1862) und seine Abhandlung Civil Disobedience. Das Buch erschien erstmals 1849 unter dem ursprünglichen Titel Resistance to Civil Government, nahm erst nach dem Tod des Autors den Titel Civil Disobedience auf und wurde später als On the Duty of Civil Disobedience weltweit bekannt. Gandhi las das Werk Thoreaus während seiner Zeit in Südafrika, wie ein Artikel von ihm in der Zeitung Indian Opinion vom 26. Oktober 1907 beweist. Vgl. Mahatma Gandhi, For Passive Resisters, Indian Opinion vom 26. Oktober 1907, in: The Collected Works of Mahatma Gandhi VII (June – December 1907), Ahmedabad 1962, S. 304-305. 341,18-19 Ist der Ibsensche Aphorismus von dem Starken, der am mächtigsten allein sei] Damit meint Buber die letzte Szene des fünften Aktes von »Ein Volksfeind«, einem Drama des norwegischen Dramaturgen und Dichters Henrik Ibsen (1828-1906) aus dem Jahr 1882. Von seinen negativen Erfahrungen mit der eigenen Gemeinde ausgehend behauptet der Protagonist, der Mediziner Doktor Thomas Stockmann, seiner Frau gegenüber, dass er »der stärkste Mann der Stadt« sei, weil er »eine große Entdeckung gemacht« habe, und zwar: »der ist der stärkste Mann auf der Welt, der allein steht«. Zitiert nach

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der Fischer-Ausgabe, die Buber wahrscheinlich kannte: Henrik Ibsen, Ein Volksfeind, in ders., Sämtliche Werke. Vierter Band, hrsg. von Julius Elias und Paul Schlenther, Berlin 1913, S. 181-298, hier S. 298. In Wahrheit ist dieser Spruch auf Friedrich Schillers (1759-1805) Wilhelm Tell zurückzuführen: »Der Starke ist am mächtigsten allein.« (3. Szene, 1. Aufzug.) 341,21-23 Wird er anders politisch wahr, als indem dem Einsamen, von seinem Charisma bezwungen, die Massen »nachkommen«?] In ähnlicher Weise hatte sich Buber schon am 17. Februar 1929 in seinem Stuttgarter Religionsgespräch mit Theodor Bäuerle geäußert: »Wenn Mahatma Gandhi eine andere Methode vorgeschlagen hätte, würde eine andere Methode angewendet. Wenn er Gewalt geboten hätte, hätten die Anderen Gewalt getan. Es ist dies ein klassisches Beispiel für ein Anhängertum, das dadurch, dass es seinem Führer anhängt, ihn verrät.« Jetzt in diesem Band, S. 287. 341,25-27 »Im Ramayana«, schreibt er, »sehen wir […] Wälder verbannt wird«] Im epischen Werk Ramayana (3. Kanda: »Aranjakanda«) wird der Held Rama, siebter Awatar der Gottheit Vischnu, zusammen mit seiner Braut und seinem Bruder in den wilden Wald verbannt, wo er vierzehn Jahre blieb (vgl. Rāmāyana: an epic of ancient India. Bd. 3: Aranyakānda, hrsg. von Sheldon I. Pollok, Princeton 1991). Das Zitat selbst konnte nicht ermittelt werden. 341,34-39 Aufsatz »Weder ein Heiliger noch ein Politiker« erläutert Gandhi seine Position: […] mit der Schlange zu Ringen«] In dem Artikel Neither a saint nor a politician, der am 12. Mai 1920 in der Zeitung Young India erschien, schrieb Gandhi: »[…] if I seem to take part in politics, it is only because politics encircle us today like the coil of a snake from which one cannot get out, no matter how much one tries. I wish therefore to wrestle with the snake, as I have been doing, with more or less success, consciously since 1894, unconsciously, as I have now discovered, ever since reaching the years of discretion. Quite selfishly, as I wish to live in peace in the midst of a bellowing storm howling round me, I have been experimenting with myself and my friends by introducing religion into politics.« The Collected Works of Mahatma Gandhi XVII (February – June 1920), Ahmedabad 1965, S. 406. 342,14-15 corruptio seminis] Lat. corruptio seminis bedeutet »Samenverderbnis«, hier im Sinne von »Vernachlässigung des ursprünglichen Prinzips«. In der Tat muss die Saat verderben, um zu keimen. Im biologischen Sinne wurde dieser Ausdruck durch Thomas von Aquin im Articulus primus der vierten Quaestio (»Über die Erbsünde«) von

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seiner theologischen Abhandlung De malo (»Über das Böse«) aus dem Jahre 1268-1270 benutzt. Vgl. Thomas Aquinus, Questio quarta. De peccato originali, in ders., De malo 4,1,12. 342,28-32 »Ich sehe«, schrieb Gandhi nach dem Tag von Delhi, »daß diese unsre Gewaltlosigkeit […] des Schwachen kommen«] Vgl. den Artikel »The All-India Congress Committee«, den Gandhi in Young India vom 2. März 1922 publizierte. Die vollständige Stelle lautet: »I see that our non-violence is skin-deep. We are burning with indignation. The Government is feeding it by its insensate acts. It seems almost as if the Government wants to see this land covered with murder, arson and rapine, in order to be able once more to claim exclusive ability to put them down. / This non-violence therefore seems to be due merely to our helplessness. It almost appears as if we are nursing in our bosoms the desire to take revenge the first time we get the opportunity. / Can true voluntary non-violence come out of this seeming forced non-violence of the weak?« The Collected Works of Mahatma Gandhi XXII (December 1921 – March 1922), S. 500 f. 343,15 deus ex machina, in Wahrheit ex gratia] Wortspiel Bubers. Die technische Formulierung aus der Sprache der alten griechischen Theaterkunst deus ex machina »Gott aus der Maschine« verweist darauf, dass eine komplizierte Situation auf der Bühne durch den Eingriff eines Gottes gelöst wurde, dessen Schauspieler durch eine Zugrolle vom Bühnenhimmel herunter abgeseilt wurde. Die religiöse Theophanie (»Gotteserscheinung«) findet hingegen ex gratia (»aus der Gnade«) statt. 343,18-21 Im September 1920 sagte und schrieb Gandhi […] Svaraj, die indische Unabhängigkeit, errungen werden] Gandhis Rede, die als Artikel in Young India vom 22. September 1920 erschien, heißt Swaraj in one year. Die Stelle, auf die sich Buber bezieht, lautet: »Training in arms for the present is out of question. I go a step further and believe that India has a better mission for the world. It is within her power to show that she can achieve her destiny by pure self-sacrifice, i. e., self-purification. This can be done only by non-co-operation. And non-co-operation is possible only when those who commenced to co-operate begin the process of withdrawal.« Vgl. The Collected Works of Mahatma Gandhi XVIII (July – November 1920), Ahmedabad 1965, S. 272. 343,21-28 Drei Monate später von dem Vertreter der Times befragt […] ruht dann beim Lamm«] Es handelt sich um den Text Interview to »The Times of India« vom 29. Dezember 1920, in dem Gandhi ausführte: »What I expect is that nothing of that kind will happen. In so

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Einzelkommentare

far as I understand the British people, I think that they will bow to the inevitable. They will recognize the force of public opinion when it has become real and potent.« Als der Journalist am Ende des Interviews fragte: »Where will the present Government be at the end of the nine months?«, antwortete Gandhi: »The lion will then lie with the lamb« (The Collected Works of Mahatma Gandhi XIX (November 1920 – April 1921), Ahmedabad 1966, S. 169 f.). Zum biblischen Spruch vgl. Jes 11,6 (»Der Wolf findet Schutz beim Lamm«). 343,33-35 »Wenn Indien«, schreibt er später einmal, »frei werden will […] Wahrheitlichen und Gewaltlosen«] Nicht nachgewiesen. 344,3-7 Im letzten Teil jenes Jahrs der Erwartung […] zur Sicherung von Indiens Freiheit«] Nicht nachgewiesen. 344,38-40 Der Mahatma hat sich jetzt, […] auf seinen Gang […] begeben] Buber bezieht sich hier auf den Salzmarsch, der unter Leitung Gandhis am 12. März 1930 begann und nach kaum einen Monat am 6. April 1930 endete. Vgl. die Einleitung zum Text, in diesem Band, S. 608. 344,39 Flucht des alten Tolstoi] In der Nacht vom 10. November 1910 verließ der zweiundachzigjährige Lev Tolstoi seine Residenz in Jasnaja Poljana zusammen mit seinem Arzt und seiner jüngeren Tochter, um sich von den familiären Konflikten zu distanzieren und eine befreiende Reise zu unternehmen. Kurz danach starb er am 20. November im Bahnhof von Astapowo an Lungenentzündung. 345,5-6 selbst zu erfahren, wieviel des Kaisers ist] Anspielung auf den biblischen Spruch, der in den synoptischen Evangelien enthalten ist (Mt 22,21 par. Mk 12,17 und Lk 20,25). 345,19 Chitta Ranjan Das] Chittaranjan Das (1870-1925), auch Deshabandhu (»Freund des Landes«) genannt, war Rechtsanwalt, Dichter und Politiker Indiens, Begründer der Swaraj Party of Bengal während der Britischen Kolonialbesetzung Indiens und Haupt der Non-Kooperationsbewegung. Nachdem Gandhi sich nach den Ereignissen in Chauri Chaura vom Februar 1922 gezwungen fühlte, die Non-Kooperation zu unterbrechen, verließen mehrere Führer wie Chittaranjan Das, Annie Besant (1847-1933) und Motilal Nehru (18611931) den Indian National Congress kurz nach dessen jährlicher Versammlung in Gaya Ende Dezember 1922 und gründeten im Januar 1923 die Swaraj-Partei. Als Gandhi 1924 aus dem Gefängnis entlassen wurde, fand er mit den Swarajisten einen politischen Kompromiss. Kurz danach, als der gesundheitlich angeschlagene Das im Juni 1925 starb, führte Gandhi den Trauerzug an. 345,20-21 eröffnete Das den allindischen Kongreß in Gaya mit einer Rede] Die Informationen über die Eröffnungsrede, die Chittaranjan

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Das als Vorsitzender der 37. Tagung des Allindischen Nationalkongress am 26. Dezember 1922 in Gaya hielt, stammen größtenteils aus einer langen Anmerkung Emil Ronigers. Vgl. Roninger, Mahatma Gandhis Leidenszeit, S. 189 f., Anm. 1. 346,22-23 Im Mai erklärte er sich öffentlich gegen das erste der drei Postulate] Vgl. z. B. das, was Gandhi am 8. Mai 1924 in Young India in dem Artikel Is it non-co-operation? schrieb: »They forget that the fourfold boykott [d. h. gegen Titel, Schulen, Gerichte und Räte] is like a scaffolding which is absolutely necessary till the whole structure is ready. It does not matter that the institutions, which are the symbols of the autority we seek to destroy, continue to exist so long as we do not make use of them. The fact is that we cannot erect our structure without the scaffolding of the fourfold boykott. And we must succeed if we can work the Congress organisation without the aid of these institutions and even in spite of them.« The Collected Works of Mahatma Gandhi XXIV (May – August 1924), Ahmedabad 1967, S. 13. 346,23-25 im Juli gegen das zweite, das einer asiatischen Föderation […] zu gleicher Zeit gegen das dritte, gegen das innere Programm] In dem von Gandhi kritisierten Dokument lauten drei der programmatischen Punkte wie folgt: »2) Establishing or helping in the establishment of factories and cottage industries on a strictly co-operative basis. 3) Helping the labourers and peasants of our land in obtaining their grievances redressed and organizing them for their own economic good and moral prosperity. 4) And finally to organize a federation of all the Asiatic races in the immediate future«. Gandhi antwortete in Young India am 17. Juli 1924 mit seiner Schrift »An appeal to the nation«, indem er alle Punkte verwarf: »The proposal for the establishment of factories has a strong Western flavour about it and ignores Indian conditions. The one cottage industry that is possible finds no mention in the programme. The proposal to help the labourers and peasants is a counsel of perfection. And the final proposal to organize a federation of all the Asiatic races in the immediate future demonstrates the present impossibility of the programme.« Vgl. Ebd., S. 395-397. 347,21-34 Schon 1909 schrieb er aus Südafrika in die Heimat […] um nicht eine von der andern verschlungen zu werden«] Nicht nachgewiesen. 348,25 Emil Roniger sagt in seinem Vorwort […] kalten Schlingen umstrickt hält«] Vgl. Roniger, Einleitung, in: ders., Mahatma Gandhis Leidenszeit, S. 13. 350,19-20 Das kreisende Flammenschwert der Cheruben am Eingang des Gartens Eden] Vgl. Gen 3,24.

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Einzelkommentare

Individuum und Person – Masse und Gemeinschaft Dieser Text ist als unveröffentlichtes Typoskript im MBA in Jerusalem überliefert (vgl. Arc. Ms. Var. 350 47d/alef). Die Überschrift lautet: Vortrag des Herrn Dr. Martin Buber am 24. Jan. 1931 über Individuum und Person – Masse und Gemeinschaft. Es ist schwierig, die genauen Entstehungsbedingungen dieser Schrift zu bestimmen, da diese keinen Anhaltspunkt inhaltlicher Natur liefert. Es handelt sich offensichtlich um die Umschrift eines Stenogramms eines Vortrags, in dem es keimhaft um sozialphilosophische Themen geht, die Buber erst später, und zwar 1936 im Rahmen seines politisch-philosophischen Aufsatzes Die Frage an den Einzelnen systematischer entfaltet (vgl. Martin Buber, Die Frage an den Einzelnen, bes. das Kapitel »Der Einzelne und das öffentliche Wesen«, S. 45-60). Aus anderen Quellen ist ersichtlich, dass Buber am 25. Januar 1931 einen Vortrag mit dem Titel »Das Judentum und die politischen Triebkräfte der Gegenwart« im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart hielt. Obwohl das Stenogramm dieser Rede als verschollen gilt, ist bekannt, dass Buber mit ihr die neue Vortragsreihe des Stuttgarter Lehrhauses mit dem Titel »Das Judentum und die Welt der Gegenwart« eröffnete. (Zur Geschichte des Jüdischen Lehrhaues in Stuttgart und Bubers Verhältnis zu diesem vgl. den Kommentar zu »Religion und Volkstum«, in diesem Band, S. 541 ff.) Da Buber seinen ersten Auftritt im Stuttgarter Jüdischen Lehrhaus im Oktober 1926 zum Thema »Der heutige Mensch und die Bibel« in drei Vorträge über drei Abende hinweg unterteilte (vgl. den Kommentar zu »Religion und Volkstum«, in diesem Band, S. 543), und der Vortrag, mit dem er die neue Vortragsreihe am Lehrhaus von 1931 genau einen Tag nach dem auf den 24. Januar datierten Vortrag »Individuum und Person« gehalten hat, kann vermutet werden, dass auch letzterer am Stuttgarter Lehrhaus gehalten wurde. Sollte es sich wiederum um einen dreiteiligen Auftritt wie 1926 gehandelt haben, könnte der nachfolgend in diesem Band gedruckte Vortrag »Religion und Politik« in den folgenden Tagen ebenfalls am Stuttgarter Lehrhaus gehalten worden sein. In Bezug auf den nicht erhalten gebliebenen Vortrag »Das Judentum und die politischen Triebkräfte der Gegenwart«, mit dem eine neue Vortragsreihe am Stuttgarter Jüdischen Lehrhaus eröffnet wurde, bieten zwei Quellen wichtige Hinweise. In der Februar-Nummer des Württembergischen Gemeindeblattes z. B. heißt es:

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»Innerhalb der vom Jüdischen Lehrhaus veranstalteten Vortragsreihe über das Judentum und die Welt der Gegenwart hielt am Sonntag, den 25. Januar, Prof. Dr. Martin Buber – Frankfurt a. M. einen Vortrag über ›Das Judentum und die politischen Triebkräfte der Gegenwart‹, ein Thema, das scheinbar von der Welt Buberscher Gedankengänge weit ablag, dem aber gerade er wertvolle neue Inhalte abzugewinnen verstand. Sein Vortrag war, wie der Vorsitzende des Lehrhauses, Ministerialrat Dr. Hirsch, in seinem Schlußworte sagte, eine politische Erziehungsstunde für uns alle. Es war das Programm eines religiösen Enthusiasten, das mit hinreißender Begeisterung vorgetragen wurde. / Der Redner wollte […] die Frage beantworten, ob das Judentum als solches eine Antwort auf die Frage der Politik zu geben hat. / Diese Frage müsse unbedingt bejaht werden. Während überall Religion und Politik getrennte Sphären umschrieben haben, bildeten sie im Judentum eine unlösbare Einheit. Das Judentum war eine Gedächtnisgemeinschaft, in der Volkstum und Glaube schon geschichtlich eine Einheit waren. In seiner Verfassung, die eine lautere Theokratie darstellt, ist Gott der König. Wenigstens eine Zeitlang war im Judentum das Königtum Gottes geschichtliche Wirklichkeit. Die nach Mose und Josua gewählten Richter erwarben noch kein Königsrecht. Gideon weist den Versuch, die Theokratie in ein Erbkönigtum zu verwandeln, entschieden zurück. Noch im späteren Königtum wirkt die Idee der Theokratie weiter. Ihre letzte Folgerung ist der messianische Königsgedanke. / Es ist die Aufgabe des Judentums, diese Idee in ihrer Reinheit zu erhalten. Anstatt des nationalen politischen Polytheismus hat es die alte Grundanschauung des Gotteskönigs zu wahren. Ist Geschichte Wirklichkeit im religiösen Sinne, dann gibt es keine persönliche Moral neben der Gruppenmoral der Völker, keine Scheidung zwischen Personalverantwortung und Gruppenverantwortung, dann muß der jüdische Mensch in seiner Partei für die Gruppe und in ihr gegen die Lüge kämpfen. Es genügt nicht, an der Durchsetzung eines politischen Programms tätig zu sein, sondern dieses Programm muß im Einklang mit dem persönlichen Leben stehen. Die Grenzlinie zwischen Religion und Politik, die Scheidung zwischen persönlichen und öffentlichen Leben muß verschwinden.« (Anonym, Judentum und Politik. Ein Vortrag von Martin Buber, Gemeindezeitung für die israelitischen Gemeinden Württemberg, 7. Jg., Februar 1931, Nr. 21, S. 253).

Auffällig sind hier die deutlichen Spuren der damaligen Reflexion Bubers über den theokratischen Bibelgedanken, die kurz danach in die Monographie Königtum Gottes (1932) eingeflossen sind. Neben dem Pressebericht der lokalen jüdischen Gemeindezeitung gibt Dominique Bourel in seiner neu erschienenen Buber-Biographie einen kurzen Auszug des Textes, den er exzerpiert und ins Französische übertragen hat, bevor die dokumentarische Grundlage verloren ging. »Mit der Bemerkung, die Juden seien Objekte, nicht Subjekte der gegenwärtigen politischen Ereignisse, schlägt Buber vor, die Debatte umzukehren: Er fordert seine Hörer auf, sich zu überlegen, was die Juden als Juden zur Politik zu sagen haben,

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Einzelkommentare

was bei ihnen einer ›Urweisheit‹, einem ›Urwissen‹ entspringt und was sich auf den Menschen und die Beziehungen zwischen den Menschen bezieht. Immer noch, sagt er, besteht bei den Juden ein Rest von Prophetie, der von den religiösen und politischen Begriffen untrennbar ist: ›Volk und Glaube waren für uns immer zu allen Zeiten eine unauflösliche und unzertrennliche Einheit. Wir sind eine Traditionsgemeinschaft, eine Erinnerungsgemeinschaft.‹« (Dominique Bourel, Martin Buber, S. 433.)

Textzeugen: TS1: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 47a 001); 20 paginierte Blätter; einseitig beschrieben; trägt den Titel: »Vortrag des Herrn Dr. Martin Buber am 24. Jan. 1931 über Individuum und Person – Masse und Gemeinschaft.« Das Typoskript weist etliche Auslassungen (»….«) auf, die wahrscheinlich auf akustische Verständnisprobleme zurückzuführen sind. TS2: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 47d 001); 20 paginierte Blätter; einseitig beschrieben. Das Typoskript ist zweischichtig: TS2.1: Grundschicht: Durchschlag von TS1. TS2.2: Überarbeitungsschicht: Ergänzung diverser Auslassungen durch Bubers Hand; vereinzelte Korrekturen, die von einer anderen Person vorgenommen wurden. 3 ts : unvollständiges Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 47d 001); 18 paginierte Blätter; einseitig beschrieben; das letzte Blatt fehlt. ts3.1: Grundschicht: mit etlichen, zu TS1 gleichlautenden Auslassungen. ts3.2: Überarbeitungsschicht: bis zu Seite 5 wurden diese Auslassungen nachträglich per Hand ergänzt. Da in ts3.2 vereinzelt Auslassungen ergänzt wurden, die in TS2.2 offengelassen sind, wurden diese Ergänzungen im Abdruck von TS2.2 berücksichtigt. Druckvorlage: TS2.2 und ts3.2 Variantenapparat: Vorbemerkung: nicht verzeichnet werden die nachträglichen Ergänzungen von Leerstellen in den Grundschichten. 351,3 medizinischen Universitäts-Institut] Institut TS1, TS2.1, TS2.2, ts3.1 353,4-5 ausführlich] ausgebildet ts3.2 354,14 unmittelbare] Unmittelbarkeit TS1, TS2.1, ts3.1 354,16-17 kann man nicht beherrschen] kann nicht herrschen TS1, TS2.1, ts3.1 354,24 dieses gegenüber Welt] dieser Welt TS1, TS2.1, ts3.1

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Religion und Politik [Vortrag]

355,31 Augenbewusstsein] Unterbewusstsein TS , TS , ts 355,32 Augenbewusstsein] Unterbewusstsein TS1, TS2.1, ts3.1 355,38 Nationalismus] Nation TS1, TS2.1, ts3.1 358,33-34 Unternehmungen] Unternehmer TS1, TS2.1, ts3.1 361,19 widerhallen] Widerhall TS1, TS2.1, ts3.1 362,7-8 entstehen, aus kleinen] entstehen und kleine TS1, TS2.1, ts3.1 363,1-5 auf sich […] versucht] fehlt aufgrund von Textverlust ts3.1 1

2.1

3.1

Wort- und Sacherläuterungen: 351,3-6 medizinischen Universitäts-Instituts […] Teilchen des Herzens eines Embryos] Es handelt sich wahrscheinlich um die Medizinische Klinik, die der Kardiologe Ludolf von Krehl (1861-1937) damals in Heidelberg leitete. Als Forscher und Direktor der neurologischen Abteilung an der Krehl’schen Klinik in Heidelberg wirkte damals dort auch Viktor von Weizsäcker, der mit Buber befreundet war, gemeinsam mit ihm 1926 die Zeitschrift Die Kreatur gründete und seither mitleitete. In den 1920er Jahren widmete sich Weizsäcker immer intensiver der medizinischen Anthropologie. In der Zeit seiner Habilitation beim Physiologen und Nobelpreisträger Otto Warburg (18831970) hatte er sich hauptsächlich mit der Physiologie des Herzens beschäftigt. Es liegt also nahe, dass Buber von Weizsäcker selber ins Medizinische Institut der Universität Heidelberg eingeladen wurde. 353,23 Idealismus] Es kann vermutet werden, dass sich Buber hier wie an den folgenden Stellen versprochen hat und eigentlich den »Individualismus« meinte. In der späteren Überarbeitung des Stenogramms wurden jedoch keine Korrekturen diesbezüglich vorgenommen. 357,19 was ich vom Nationalsozialismus sagte] Ort und Zeit eines solchen vorangegangenen Vortrags konnten nicht ermittelt werden, auch scheint sich keine Mitschrift erhalten zu haben. 361,16 Es gibt eine Bedürfnislosigkeit der Masse] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 336,18-19. Religion und Politik [Vortrag] Dieser Text, der auf ein bisher unveröffentlichtes Typoskript im MBA zurückgeht, ist dort in derselben Mappe enthalten, in der sich auch der Text von »Religion und Politik«, des Stuttgarter Religionsgesprächs vom 17. Februar 1929 zwischen Martin Buber und Theodor Bäuerle befindet (vgl. hierzu den Einzelkommentar in diesem Band, S. 568-572). Obwohl es sich um zwei verschiedene Schriftgattungen handelt – einmal ein Zwie-

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Einzelkommentare

gespräch einmal ein Vortrag –, wurden beide wahrscheinlich wegen des gemeinsamen Titels irrtümlicherweise unter derselben Signatur eingeordnet (vgl. Arc. Ms. Var. 350 47d/alef). Da die Überschrift hier »Vortrag. Martin Buber, ›Religion und Politik‹« lautet, ist keine direkte Beziehung zu den religiösen Zwiegesprächen gegeben, allerdings muss offen bleiben, welches Verhältnis der Text zu den anderen Veranstaltungen des Lehrhauses hat. Was die mögliche Datierung dieser Schrift angeht, könnte es sich hier um eine Rede handeln, die Buber neben den Vorträgen »Individuum und Person – Masse und Gemeinschaft« und »Das Judentum und die politischen Triebkräfte der Gegenwart« in der Zeitspanne zwischen dem 23. und dem 25. Januar 1931 im Stuttgarter Jüdischen Lehrhaus gehalten haben dürfte (vgl. den Einzelkommentar zu »Individuum und Person – Masse und Gemeinschaft«, in diesem Band, S. 618). Für diese Datierung auf das Jahr 1931 sprechen übrigens auch einige Indizien inhaltlicher Natur. Ein deutliches Indiz ist etwa der im abschließenden Textteil formulierte Hinweis auf die Weltwirtschaftskrise: »Ich glaube, wenn man die zerbröckelnde Kurve des Weltmarktes beobachtet, dann weiss man, dass es, wenn nichts geschieht, zu einer Katastrophe führt.« (In diesem Band, S. 377.) Solch ein dramatischer Akzent wäre im Februar 1929, als das Religionsgespräch »[Religion und Politik]« mit Bäuerle stattfand, noch nicht möglich gewesen, weil der Börsenkrach in New York erst im Oktober 1929 stattfand und Deutschland erst später traf. Der Hinweis verweist also eher auf das Jahr 1931, als die finanzielle Krise in Deutschland ihren höchsten Punkt erreicht hatte, ab Mai 1931 zahlreiche Kreditinstitute Bankrott anmeldeten und am 13. Juli 1931 in Berlin ein massenhafter Sturm auf die Banken erfolgte. Der unaufhaltsam scheinende Fall der deutschen Börsenkurse sollte erst ab Mitte 1932 wieder von einer allmählichen Erholung abgelöst werden. Weiterhin erwähnt Buber »diese sogenannte Völkerverständigung« (in diesem Band, S. 377), als ob es sich um ein aktuelles Diskussionsthema handele. Tatsächlich wurde in Deutschland die Frage nach der Völkerverständigung 1930-1931 intensiv debattiert – häufig mit unverkennbaren nationalistischen Untertönen, die auch in einem im Herbst 1931 erschienenen Artikel von zwei der angesehensten evangelischen Theologen der Weimarer Zeit zu bemerken sind (vgl. Emanuel Hirsch und Paul Althaus, Evangelische Kirche und Völkerverständigung, in Theologische Blätter, 10, 1931, Sp. 177). Dies alles lässt zumindest indirekt darauf schließen, dass der Vortrag auf das Jahr 1931 datiert werden kann und wahrscheinlich noch gegen Ende Januar 1931 im Rahmen der Vortragsreihe des Stuttgarter Lehrhaus gehalten wurde.

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Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee

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Textzeugen: TS1: Typoskript im MBA (Var 350 007 43a); 11 paginierte Blätter, einseitig beschrieben. Das Typoskript ist zweischichtig: TS1.1: Grundschicht. TS1.2: Überarbeitungsschicht: vereinzelte Korrekturen von Bubers Hand. Druckvorlage: TS1.2 Variantenapparat: 372,4 Zusammenballungen] Zusammenbildungen TS1.1 Wort- und Sacherläuterungen: 366,19-20 diesen Tod, dieses Siechtum, dieses Leiden der kleinen Kinder] Anspielung auf die Worte Iwans in Dostojewskis Brüder Karamasoff. Vgl. die Wort- und Sacherläuterung zu 238,15. 367,26 mit Furcht und Zittern] Anspielung auf das Werk Frygt og Baeven. Dialektisk Lyrik af Johannes de Silentio, welches der dänische Schriftsteller Sören Kierkegaard 1843 unter dem Pseudonym Johannes de Silentio publizierte. Als »Furcht und Zittern« wurde das Buch durch den evangelischen Theologen und späteren NSDAP-Anhänger Emanuel Hirsch (1888-1972) übertragen. 373,16-17 »Die Völker […] Götter miteinander kämpfen«] Zur VölkerDämonologie im Roman Dostojewskis, vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 236,21-31. 376,31 sich eine solche Querfront bildet] Zur Vorstellung der inneren Front vgl. den Einzelkommentar zu »Erinnerung an einen Tod«, in diesem Band, S. 582. 377,25 quantum satis] Den lateinischen Ausdruck quantum satis »so viel wie nötig« benutzte Buber damals des Öfteren. Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee Dieser Text geht auf das Stenogramm einer Rede zurück, die Buber auf der von Jakob Wilhelm Hauer organisierten Arbeitswoche des Köngener Bundes zum Thema »Der Mensch als Maßstab der Gesellschaftsordnung« hielt. Diese Arbeitswoche fand vom 1. bis zum 7. Januar 1931 auf der Comburg bei Schwäbisch Hall statt. Die Schrift wurde gleich viermal veröffentlicht: zunächst erschien sie im Sommer 1931 zweimal, sowohl in der von Hauer herausgegebenen, von Hermann Buddensieg (1893-1976) geleiteten Zeitschrift des Köngener Bundes Die kommende Gemeinde,

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Einzelkommentare

wo auch mehrere Chroniken der Tagung und die Vorträge der anderen Beteiligten publiziert wurden, als auch in Neue Wege, der Zürcher Zeitschrift der religiösen Sozialisten um Leonhard Ragaz. 1950 nahm Buber eine erweiterte und veränderte Fassung dieser Schrift als Kapitel unter dem Titel »In der Krisis« in Pfade in Utopia auf (vgl. MBW11.2, S. 251259). Da dieser Text selbst in Band MBW 11.2 abgedruckt ist, wird er an dieser Stelle weder als Textzeuge noch im kritischen Apparat berücksichtigt. Zuletzt wurde 1965 die originale Version in Nachlese aufgenommen, der letzten Sammlung vor Bubers Tod (vgl. Martin Buber, Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee, in: ders., Nachlese, Gerlingen 1965, S. 67-74). Im Nachlass Hauers, der im Bundesarchiv aufbewahrt wird, haben sich Stenogramme sowohl der Referate als auch der Aussprachen erhalten (vgl. Bundesarchiv, Nachlass J. W. Hauer, Ordner 48, bes. S. 8-12 und 103-122). Überliefert sind darin das Referat von Buber sowie zwei Aussprachen, die sich zwar offenkundig auf das erhaltene Referat beziehen, aber von zwei verschiedenen Stenogrammen stammen. Diese Texte werden im Anschluss hier im Kommentar abgedruckt. Einzelne Ausführungen und Wendungen aus dem erhaltenen Referat – das ansonsten erheblich von der Druckfassung abweicht und einen praktisch selbständigen Text darstellt – sowie aus einzelnen Antworten Bubers aus der anschließenden Aussprache fanden im schließlich veröffentlichten Text Verwendung, der demnach nachträglich auf Grund des vorliegenden Textmaterials von Buber verfasst worden sein muss. Deshalb spricht Buber aufgrund dieser Umarbeitungen in seiner dem Druck beigegeben Vorbemerkung davon, er habe im Text »einige Grundgedanken« von seinen »Ausführungen von der Arbeitswoche auf der Comburg aus Vortrag und Aussprache« zusammengefasst (in diesem Band, S. 364). Mit dieser Teilnahme an der Comburger Tagung begann die Beziehung Bubers zu dem Religionswissenschaftler, Yoga-Forscher und Upanischaden-Experten Jakob Wilhelm Hauer. Der anfänglich vom theologischen Liberalismus mit stark pietistischer Prägung beeinflusste Hauer war in der Weimarer Republik zugleich Kanzler des zur deutschen Jugendbewegung gehörenden, kurz nach dem ersten Weltkrieg in Köngen entstandenen »Bundes der Köngener« und Ordinarius für Indologie an der Universität Tübingen. Zur Zeit des Nationalsozialismus begründete Hauer im Sommer 1933 die Deutsche Glaubensbewegung, deren ideologischer Führer er bis März 1936 war, und wurde am 15. August 1934 offiziell Mitglied der SS, für die er als Informant und Spitzel des Sicherheitsdienstes im akademischen Bereich wirkte. Im Jahr 1937 wurde er Mitglied der NSDAP (zum Bund der Köngener, zu seinen Mitgliedern

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Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee

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und Tätigkeiten gegen Ende der Weimarer Republik vgl. die ausgezeichneten Beschreibungen einer durchaus selbstbewussten Teilnehmerin wie Marianne Weber (1870-1954), Lebenserinnerungen, Bremen 1948, S. 242-302; zur komplexen Gestalt Hauers vgl. Margarete Dierks, Jakob Wilhelm Hauer 1881-1962. Leben, Werk, Wirkung, Heidelberg 1986; zu seiner politisch hochproblematischen Entwicklung vgl. u. a. Ulrich Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993; zur Beziehung zwischen Hauer und Buber vgl. zuletzt auf Italienisch Stefano Franchini, Imbarazzi teologico-politici alle soglie della dittatura, in: M. Buber, Israele e i popoli. Per una teologia politica ebraica, Brescia 2015, S. 11-59). Wahrscheinlich waren Buber und Hauer schon 1926 miteinander bekannt geworden, als Buber mit Leopold Marx und seinem Kreis zur Gründung des Jüdischen Lehrhauses in Stuttgart Veranstaltungen zu konzipieren begann (vgl. den Einzelkommentar zu »Religion und Volkstum«, in diesem Band, S. 542 f.). Marx und sein Kreis beabsichtigten 1926 im Rahmen des Stuttgarter Lehrhauses regelmäßige Lehrtätigkeiten zur Erwachsenenbildung auf der Comburg zu organisieren, wo auch sommerliche Kurse der von Theodor Bäuerle begründeten und geleiteten Stuttgarter Volkshochschule abgehalten wurden (vgl. Brief Bubers an Leopold Marx vom 9. Februar 1926, B II, S. 245; zum Verhältnis zwischen Buber und Bäuerle vgl. den Einzelkommentar zu »[Religion und Politik]«, in diesem Band, S. 568 ff.). Zu diesem Zeitpunkt war auch der Köngener Bund in Comburg untergebracht (vgl. z. B. Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 164). Ein erstes klares Zeugnis eines Kontaktes ist allerdings erst aus dem Jahr 1928 überliefert, als Buber mit Hauer in Verbindung trat, um dem Tübinger Kollegen vorzuschlagen, an einem Religionsgespräch mit ihm am Stuttgarter Jüdischen Lehrhaus teilzunehmen. Hauer verweigerte seine Teilnahme an dem Zwiegespräch, führte jedoch mit Buber am 16. Februar 1929 ein halböffentliches Gespräch über Jesus vor einem auserwählten Publikum (vgl. den Einzelkommentar zu »[Religion und Politik]«, in diesem Band, S. 569 f.). Kurz darauf intensivierte sich die Verbindung zwischen Buber und Hauer, obwohl Hauer allmählich begann, sich vom religiösen Sozialismus zu distanzieren und sich statt für die jüdisch-christliche für eine allerdings noch weitgehend unbestimmte indoarische bzw. -germanische Religion zu engagieren. Die Nähe zwischen Buber und Hauer wurde auch 1929 von Hans Kohn in seiner Buber-Biographie betont, wo er auf »eine ähnliche wurzelverbundene und traditionsfreie Haltung« des Köngener Bundes verweist (Kohn, Martin Buber, S. 235 und 361-362). Darüber hinaus besuchten manche Mitglieder des Köngener Bundes wie

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Rudi Daur (1892-1976), evangelischer Pfarrer in Stuttgart, die Veranstaltungen des dortigen Jüdischen Lehrhauses (vgl. dazu Anja Waller, Das Jüdische Lehrhaus in Stuttgart 1926-1938, S. 116). Nach der negativen Erfahrung Bubers mit Hermann Hefele (vgl. den Einzelkommentar zu »Religion und Autorität«) schrieb er am 3. Januar 1929 an Hauer kurz vor ihrer ersten Begegnung in Stuttgart: »Wir müssen nun zu Gesprächen vom Glauben und im Glauben gelangen. Für diesen Weg scheint mir das zweite der von Ihnen erwähnten Themen – ich würde nennen: Die Wahrheit des Glaubens und die Vielheit der Religionen – von zentraler Bedeutung zu sein. Was Sie in dem zweiten Heft Ihrer Zeitschrift auf S. 20-42 dazu sagen, ist meinem eignen Gefühl sehr nah; dennoch bleiben zwischen uns ernste, einer gemeinsamen Bemühung höchst würdige Probleme. Diese müßten wir erst einmal im persönlichen Gespräch für das öffentliche herausarbeiten. Ich werde voraussichtlich vom 16.-18. Februar in Stuttgart sein.« (B II, S. 329; zum von Buber erwähnten Aufsatz Hauers vgl. Jakob Wilhelm Hauer, Eine religiöse Bruderschaft der Erde, Kommende Gemeinde, Jg. 1, Heft 2, Herbst 1928, S. 20-42). Die »ernsten Probleme«, die Buber 1929 in der Einstellung Hauers trotz aller geistigen Nähe immer noch sah, beziehen sich vielleicht auf eine Vernachlässigung des Judentums zugunsten des Christentums. In der Tat hatte Hauer sowohl in seinem einleitenden Text (vgl. Jakob Wilhelm Hauer, Eine religiöse Weltkonferenz, ebd., S. 5-19) als auch in seinem eigentlichen Aufsatz unter den Vertretern der Weltreligionen, die sich in ihrer wichtigen Vielheit versöhnen sollen, nur Christen, Mohammedaner, Buddhisten und Vedantisten, nie Juden genannt. Nur einmal wird das Judentum erwähnt, und zwar abschätzig: »Der Gottesbegriff der Christen auf der andern Seite ist immer in Gefahr, das Göttliche einzuschränken, eng und klein zu machen. Hier lebt er noch allzu viel von der israelitisch-jüdischen Tradition. Gewiß, die Gottesidee der großen Propheten ist etwas Gewaltiges. Aber wie eng, geradezu armselig wird dieser Gott, der in erster Linie für sein eigenes Volk sorgt und ihm die Herrschaft über alle Völker verspricht, oft auch in der Bibel dargestellt.« (Hauer, Eine religiöse Bruderschaft der Erde, S. 37-38). Diese Behauptung konnte Buber freilich nicht übersehen. Obwohl Hauer dazu neigte, die Herkunft des Christentums aus dem Judentum zu verschweigen, ist bei ihm eine allgemeine Tendenz festzustellen, Christentum und Judentum gewissermaßen zu assimilieren, gleichzustellen und den Begriff »Christentum« konturlos zu verwenden (kurz danach werden sogar beide unter den Begriff »jüdisch-christliche Religion« subsumiert und ablehnend betrachtet: vgl. Jakob Wilhelm Hauer, Die völkisch-religiöse Bewegung und das Christentum, Kommende Ge-

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meinde, Jg. 4, Heft 1/2, 1932, S. 8-34). In seinem von Buber gepriesenen Aufsatz von 1928 hat Hauer übrigens auf den jüdischen Ursprung Jesu kaum hingewiesen (vgl. z. B. Hauer, Eine religiöse Bruderschaft der Erde, S. 24-27), was Buber selbstverständlich Anlass gab, das Treffen über Jesus am 16. Februar 1929 in Stuttgart zu organisieren. In den Jahren 1928-1933 organisierte der Köngener Bund mehrere Arbeitswochen bzw. Tagungen, die aktuellen Themen gewidmet waren (vgl. Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 178): »Der katholische und der protestantische Mensch« (Januar 1928), »Krieg oder Frieden?« (Januar 1929), »Liebe und Ehe aus letzter Verantwortung« (Oktober 1929), »Die religiöse Wirklichkeit und die Kirche« (Januar 1930), »Der Mensch als Maßstab der Gesellschaftsordnung« (Januar 1931), »Die religiösen und geistigen Grundlagen einer völkischen Bewegung« (Januar 1933, vgl. den Einzelkommentar zu »Israel und die Völker«). Da jeder Vortrag zusammen mit der darauf folgenden Aussprache stenographiert wurde, publizierte die Zeitschrift des Bundes nach jeder Tagung die Texte der Hauptreferate sowie in der Regel einen umfassenden Bericht der Arbeitswoche und der verschiedenen Aussprachen. Die jährliche Tagung des Bundes, die normalerweise in der ersten Januarwoche stattfand, wurde erst 1932 wegen der Erschwerung der deutschen Wirtschaftskrise um ein Jahr verschoben und wegen des großen Publikumszulaufs nicht mehr auf der Comburg, sondern in einer Jugendherberge in Kassel abgehalten. Im Lauf der Zeit wurde die Thematik der Tagungen offenbar mehr und mehr politisiert, auch beteiligten sich ab 1931 Anhänger des Nationalsozialismus, den Hauer als politische, einer religions-»wissenschaftlichen« Auseinandersetzung würdige Religion betrachtete. Die Politisierung erreichte mit der Tagung 1933 ihren Höhepunkt, wo sie zu einem Faktor wurde, an dem der Köngener Bund endgültig zerbrach (vgl. Weber, Lebenserinnerungen, S. 294). Vom 1. bis 7. Januar 1931 fand auf der Comburg die Tagung zu sozialund wirtschaftspolitischen Themen unter dem Titel »Der Mensch als Maßstab der Gesellschaftsordnung« statt. Als Redner wurden eingeladen u. a. Eduard Heimann, religiöser Sozialist aus dem Berliner Kreis um Paul Tillich – Heimann war Buber seit 1923 bekannt (vgl. den Einzelkommentar zu »Drei Sätze eines religiösen Sozialismus«, in diesem Band, S. 535) und nahm auch an der sozialistischen Tagung in Heppenheim in der Pfingstwoche 1928 teil –, Karl Otto Paetel (1906-1975), Journalist und Vertreter des deutschen Nationalbolschewismus aus dem Kreis Ernst Jüngers, Nikolaus Ehlen (1886-1965), katholischer Mathematiklehrer und Siedlungsreformer, der Unternehmer Peter Haurand aus Iserlohn, Ernst Schneller (1890-1944), Mitglied der kommunistischen Reichstags-

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fraktion sowie Redakteur der Roten Fahne, Hans Dannemann, Mitglied der SA, der später zahlreiche Jungen des Köngener Bundes in die Hitlerjugend überführen sollte, die Soziologin Marianne Weber, und Martin Buber (vgl. Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 187). In einem Brief an Hauer bestätigte Buber schon am 6. Mai 1930 seine Teilnahme an der Arbeitswoche der Köngener mit folgenden Worten: »Auf der Comburger Woche einen Vortrag zu halten, wäre ich gern bereit, fühle ich mich doch den Köngenern unter allen verwandten Gemeinschaften am nächsten« (vgl. Brief Martin Buber an Hauer vom 6. Mai 1930, Bundesarchiv 13,25; hier zitiert nach Dierks Jakob Wilhelm Hauer, S. 187). In der Zeitschrift des Bundes (vgl. Kommende Gemeinde, Jg. 3, Heft 2: »Was uns fehlt. Gedanken zum wirtschaftlichen und sozialen Umbruch«, Juli 1931, S. 7-104) wurden im Sommer die drei Hauptreferate von Wilhelm Hauer (»Die Wirklichkeit als Grundlage der wirtschaftlichen und politischen Gestaltung«, S. 7-19), Martin Buber (»Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee«, S. 19-26) und Marianne Weber (»Erfülltes Menschentum und seine Voraussetzungen. Eine Betrachtung«, S. 26-42) zusammen mit drei Berichten veröffentlicht, die auf die Tagungsstimmung und die dort entwickelten Gedanken sehr eindrücklich hinweisen (vgl. ausführlicher Hermann Buddensieg, Das Ringen um die Eingliederung des Menschen in die Lebensordnung. Die Comburg-Tagung 1931, S. 43-96; vgl. ferner Nikolaus Ehlen, Vom Charakter der Tagung, ebd., S. 97-100 und Walther Warneck, Eindrücke von der Comburger Arbeitswoche, ebd., S. 100-104). Der Behauptung Hauers zufolge habe Buber drei Monate nach der Tagung den Tübinger Kollegen bei einer Sitzung der Weltkonferenz für den »Frieden durch Religion« in Marburg getroffen und ihm bestätigt, dass er einen guten Eindruck von der Tagung gewonnen habe (vgl. Brief Hauers an Nikolaus Ehlen vom 2. März 1931, erwähnt nach Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 194, Anm. 179). Anderen Quellen ist allerdings zu entnehmen, dass die Aussprache für Buber im Anschluss an das Referat des nationalsozialistischen Redners alles andere als ruhig verlaufen ist. So berichtete Marianne Weber von der Aussprache nach den Referaten der beiden Nationalsozialisten auf der Tagung 1931: »Im Gegensatz zu seinem Vorredner [es handelt sich um Karl Otto Paetel, den Marianne Weber irrtümlicherweise als jungen Nationalsozialisten und Hitler-Anhänger bezeichnet] erklärte Dannemann die ›Christlichkeit‹ der Partei, was ihm offenbar ein Sprungbrett zum Kampf gegen die Juden bedeutete. Aber er wehrte sich gegen den Vorwurf geistlosen Antisemitismus. Um ein Urteil zu haben, müsse man das Judentum so gründlich studieren, wie er es getan habe. Und nun teilte er aus einer antisemitischen Broschüre Zusammenstellungen aus den Sittenbüchern

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der Juden mit, wonach ihnen erlaubt sei, Christen auf jede Weise zu übervorteilen, zu belügen, zu betrügen. [Dannemann, damals enger Mitarbeiter Alfred Rosenbergs, bezieht sich vor allem auf das berüchtigte Buch von August Rohling, Der Talmudjude. Zur Beherzigung für Juden und Christen aller Stände, Münster 1871.] Angeblich lägen diese Bücher auch dem Synagogenunterricht zugrunde. Die ehrliche Überzeugtheit dieses jungen Mannes von der Beweiskraft eines Materials, dessen Wahrheitswert er nicht nachprüfen konnte, wirkte schauerlich. Man spürte die vergiftenden Wirkungen einer Demagogie, die an geheime Abwehrinstinkte gegen die andere Rasse appelliert und deshalb in ihr den Sündenbock für gegenwärtiges Unheil sucht. – Die Erregung schlug hohe Wellen. Martin Buber erklärte ›auf seine Ehre und seinen Eid‹, daß es keine für das Judentum bindenden und für irgendwelche pädagogischen Zwecke benutzten Schriften gäbe, die eine unterschiedliche Behandlung zwischen Juden und Nicht-Juden solchermaßen geböte oder rechtfertige. […] Er sprach dann zu den Fragen einer künftigen Gesellschaftsordnung. Er erschien uns anderen als Prophet, da er die ganze Diesseitsproblematik in den Glaubensgrund des Religiösen tauchte. Buber war ausgestattet mit dem historischen und philosophischen Rüstzeug seines Zeitalters. Er bekannte sich zum Sozialismus, wies aber den Marxismus ab. Sozialismus als gemeinsames Wirtschaften: – ja, aber nicht als unbeschränkte Machtanhäufung in den Händen einer bestimmten Klasse oder Partei, kein materialistischer, sondern religiös durchwalteter Sozialismus. Die Urhoffnung aller Geschichte gehe auf echte Gemeinschaft des Menschengeschlechts. Gemeinschaft sei keine Stimmungs- und Gefühlssache, wie sie in den Jugendbünden herrsche (dieser Hinweis war sehr eindrucksvoll), sondern Gemeinsamkeit der Not und von daher erst Gemeinsamkeit des Heils. Auch die religiöse Gemeinschaft sei nur echt, wenn sie dem Herrn in der unerlesenen, schlichten Wirklichkeit diene. Ein organisches Gemeinwesen werde sich nicht aus Individuen, sondern aus kleinen und kleinsten Gemeinschaften aufbauen. […] Die Hörer nahmen diese Gedanken mit Achtung entgegen. Die Verkündung der im religiösen Urgrund wurzelnden Gemeinschaftlichkeit als Gestaltungsgesetz übersehbarer Lebensordnung sprach zu uns als Idee aus der Tiefe. Aber zugleich regte sich das Wissen darum, daß ihre Verwirklichung auf Erden unmöglich sei.« (Weber, Lebenserinnerungen, S. 273-275.)

In seiner ausführlichen Chronik der Tagung führt Hermann Buddensieg, Mitarbeiter von Hauer und Chefredakteur der Kommenden Gemeinde, weitere Details über die Aussprache an: »Während Paetel die Rassenfrage nur gegen einen ›geistlosen Antisemitismus‹ abgegrenzt hatte und bemerkte, daß ›die Geschichte nicht in Rassen, sondern in Völkern sich abspielt‹, wird von dem Nationalsozialisten [Dannemann] nun die Judenfrage aufgerollt. ›Es sind in unserem Volke‹, wird da ausgeführt, ›heute Kräfte vorhanden, die volkszerstörend wirken. Wo sind diese Kräfte? Unsere Bewegung sagt, es ist der internationale Jude. Sie lachen vielleicht darüber! Das Judentum aber ist eine Macht, das auf Grund seiner inneren Struktur, seiner sittlichen Anschauungen, ganz etwas anderes ist, als das, was unsere westliche Kultur ist‹, so

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hören wir. Aus den ›Sittenbüchern der Juden‹, die, wie hier behauptet wird, auch dem Synagogenunterricht zugrunde liegen, werden dann einige Stellen verlesen, die den Juden von den Pflichten der Nächstenliebe und Gerechtigkeit gegenüber dem Nichtjuden entbinden, ihm falsche Eide zu schwören gestatten und ähnliches. Als besondere Beweiskraft für die Richtigkeit dieser im ›Talmudjuden‹ angeführten Stellen [vgl. August Rohling, Der Talmudjude. Zur Beherzigung für Juden und Christen aller Stände, Münster 1871] gilt dem Verfechter der Sache der N.S.D.A. P., daß man demjenigen 3000 Mk. ausgesetzt hat, der falsche Übersetzungen der herangezogenen Stellen od. dgl. nachweist, und er beteuert, ›wenn der Nationalsozialismus sich darauf stützt, so kann man nicht mehr mit einem Achselzucken daran vorübergehen‹. / Eine heftige Auseinandersetzung über Recht und Unrecht des Antisemitismus bricht aus. Die weitere Aussprache aber wird um der Sache willen bis zur Anwesenheit Martin Bubers verschoben als eines zuständigen Beurteilers dieser Anklagen gegen die jüdische Sittenlehre. Nach dessen Ankunft wird der Vertreter der N.S.D.A.P. noch einmal aufgefordert, die von ihm angeführten Stellen vorzulesen. Jetzt aber stellt sich heraus, daß es sich hier nicht lediglich um quellenmäßige Dokumente handelt, die Zeugniskraft besitzen, sondern auch um Zusammenfassungen des Verfassers jenes von ihm benutzten Buches ›Der Talmudjude‹. Da also der Aussprache bei dem Mangel an einwandfreien, beweiskräftigen Quellen keine sichere Grundlage gegeben ist, äußert sich lediglich Martin Buber zu den gegen die jüdische Sittenlehre vorgebrachten Anschuldigungen […].« (Hermann Buddensieg, Das Ringen um die Eingliederung des Menschen in die Lebensordnung. Die Comburg-Tagung 1931, S. 59-60.)

Der genaue Wortlaut der Entgegnung Bubers ist dem Typoskript aus dem Nachlass Hauers zu entnehmen, das im Anschluss reproduziert wird (vgl. in diesem Band, S. 645). Da das Referat Bubers, zusammen mit dem Text von Hauer und Weber, in der Kommenden Gemeinde vollständig publiziert wurde, widmete Buddensieg den Vorträgen des religiösen Sozialisten Heimann, des Nationalbolschewisten Paetel, des Nationalsozialisten Dannemann und des Kommunisten Schneller so gut wie zwei Drittel seiner Chronik (S. 43-76) und fasste das Referat Bubers durch folgende Worte zusammen: »Martin Buber sprach mit der Ergriffenheit des Propheten, der für das Wirken am Willen Gottes unter den Menschen wirbt, weil er überzeugt ist, daß Gott die Welt einst auf Vollendung anlegte: ›Gemeinden‹, die sich um eine echte Mitte scharen, sind ihm die Keimzellen einer edleren Zukunft.« (Ebd., S. 77.) Inhaltsreicher erweisen sich aber die von ihm exzerpierten Auszüge der Aussprache, an der Buber mehrmals teilnahm. »Noch einmal sucht man von der Frage der Gemeinde her im Sinne Martin Bubers dem Sowjetaufbau auf den Grund zu kommen. Das ›Aufwachen des Schöpferischen in der Masse‹ sieht Schneller hier als den ›Hauptmotor in Rechnung gestellt: das Drängende ist die Selbstverantwortung des einzelnen, die einzige Möglichkeit

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der Vollendung, unser Ziel überhaupt‹. Und so sieht er auch in den Sowjets neue Ansätze gemeindehaften Geistes. Martin Buber bezweifelt das. Wenn Lenin behauptet, daß der Staat absterben werde, so scheint ihm dieser Begriff ›bisher keine Bestätigung gefunden zu haben durch den Gang der Entwicklung‹. ›Die Tatsachen‹, stellt Martin Buber fest, ›haben dem nicht recht gegeben. Von dem Absterben der Staatsmacht scheint keine Rede zu sein, und von der Entwicklung jener neuen Tugenden, die nach Schnellers und auch Lenins Ansicht während dieses Übergangszeitalters aufkommen sollen, ist bisher nichts festzustellen gewesen‹. Martin Buber wünscht, daß ›das russische Experiment gelingt, damit wir etwas erfahren‹ : ›Es ist eine erhebliche Begeisterung, viel Kameradschaft da, aber von dem Aufkommen der Tugenden ist, glaube ich, nicht viel zu merken‹. / Die Tage des Zusammenlebens, des Ringens im gemeinsamen Gespräch, schufen insgeheim eine Atmosphäre, aus der heraus eine seltene Bereitschaft und Nähe auch der Widerstreitenden erwuchs. Und wenn auch die Sache, die Worte, das Gewordene und Gestaltete, das jeder in sich trägt, niemand verleugnete: man fühlte sich in eine Sphäre des Vertrauens gehoben, die als spürbare Gnade diese Tage belebte. Aus ihr heraus sprachen erneut Nikolaus Ehlen und Martin Buber. Und auch Ernst Schneller fand jetzt noch neue Klänge. […] Schnellers freimütiges Bekenntnis [dass der Kommunismus ein Wagnis sei] entrang Martin Buber das persönliche Geständnis, daß er vor der Art und Weise, wie dieser die Sache der kommunistischen Bewegung vertrete, ›einen besonderen Respekt habe‹. Aber, fuhr er fort, ›sie tritt mir selten in dieser Weise entgegen. Ich habe mit Kommunisten allerlei Berührung [vor allem in Bubers eigener Familie!]; ich kann leider nicht sagen, daß diese Anschauung, wie sie uns eben vorgetragen wurde, die herrschende sei. Ich wünsche der kommunistischen Bewegung, daß der Geist in ihr herrschen möge, der hier gesprochen hat, dann werden wir uns, wir anderen, vielleicht in entscheidenden Momenten mit der kommunistischen Bewegung viel unmittelbarer zu verständigen imstande sein, als jetzt‹. […] Martin Buber, überzeugt von dem Ernst des Willens, von dem Ernst des Bekenntnisses auch Schnellers, senkt tief seine Frage nach dem Zweck und den Mitteln, nach Schuld und Opfer in die Herzen. ›Wie tun diese Menschen in Rußland das Unrecht? Es wurde gesagt: ›Dsershinski konnte 300 Todesurteile am Tage unterzeichnen, aber mit reiner Seele.‹ Ich kann mir das nur so vorstellen, als eine feine Dame, die am Schlächterladen ihr Kleid rafft, daß sie unbefleckt bleibt. So wird er seine Seele behandelt haben, als er Menschen tötete, die ihm nahe standen. – Der andere sagt: Wir nehmen die Sünde auf uns; wir wissen, was wir tun. Wir tun Unrecht, indem wir es auf uns nehmen. Wir opfern auch noch unsere Seele, indem wir Sünde tun. – Ich fürchte nur, daß sie dann dieses Opfer vergeblich bringen, deshalb, weil das Ziel nicht etwas Festes, Unabänderliches ist, sondern Stunde um Stunde beeinflußt wird davon, wie ihm gedient wird. Wie kann aus einem rechtmäßigen Herrn ein Tyrann werden. Es kann aus einer göttlichen Vorstellung ein Moloch werden. Ich wage nicht zu rechten mit dem, der sagt, ich nehme die Sünde auf mich, ich fürchte nur, das Opfer ist umsonst.‹« (Ebd., S. 79-81.)

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Von Hauer befragt hatte sich Buber schon im Frühjahr 1931 bereit erklärt, an der nächsten, anfänglich für Anfang 1932 geplanten, dann um ein Jahr verschobenen Tagung der Köngener teilzunehmen. Buber folgte auch dieser Einladung, doch zögerlich, was verdeutlicht, dass sich die politischen Positionen Bubers und Hauers zunehmend entfremdeten (vgl. den Einzelkommentar zu »Israel und die Völker«, in diesem Band, S. 658-671). Textzeugen: TS: Typoskript im Bundesarchiv (Nachlass J. W. Hauer, Ordner 48, S. 812 und 103-122), buchartig zusammengeheftete, paginierte Schreibmaschinenseiten. Der Buber betreffende Abschnitt des Typoskripts umfasst 29 einseitig beschriebene Blätter, die mit vereinzelten Korrekturen von Tippfehlern versehen wurden. Das Typoskript enthält den Vortrag Martin Bubers und die sich daran anschließende Aussprache. Diese liegt in zwei Fassungen vor, deren erste aus unbekannten Gründen weit vor dem eigentlichen Vortrag (Typoskript S. 8-12) abheftet wurde. Die Buber betreffenden Passagen werden gleich im Anschluss reproduziert. D1: Kommende Gemeinde, III/2, vii.1931, S. 19-26 (MBB 435). D1.1: Autorenexemplar im MBA (Arc. Ms. Var. 350 07 52) von D1 mit handschriftlichen Änderungen Bubers, die für D3 umgesetzt worden sind. D2: Neue Wege, Juli-August 1931, S. 300-306 (MBB 435). D3: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 73-81 (MBB 1270). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: Comments on The Idea of Community, in: Buber, A Believing humanism. My Testament, 1902-1965, übers und eingel. von Maurice Friedman, New York: Simon and Schuster 1967, S. 87-92 (MBB 1293). Hebräisch: Heʿ arot la-raʿ jon ha-kibutzi, Ha-poʿ el ha-tzaʿ ir, 25. Jg., Nr. 1-2 vom 7. September 1931, S. 8-9 (MBB 443); Heʿ arot la-raʿ jon ha-kibutzi, in: Buber, Netivot be-utopija, Sifrijat daʿ at, Tel Aviv: Am oved 1947, S. 138-143 (MBB 777). Niederländisch: in: Sluitsteen, übers. von Hengel Baauw und Sunya F. des Tombe; Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285).

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Reproduktion des Typoskripts aus dem Nachlass Jakob Wilhelm Hauers: Vo r t r a g M a r t i n B u b e r. Zunächst muß ich um Nachsicht bitten. Es fällt mir schwer, zu Menschen, die ich noch nicht kenne, bei großer körperlicher Ermüdung streng Zusammenhängendes zu geben. Damit wirklich etwas gesagt wird, bitte ich Sie alle, nach meinen einleitenden Worten hinzuweisen darauf, wovon wir sprechen wollen, recht nachdrücklich mich zu fragen, möglichst konkret und eindringlich. Wie ich mich kenne, werde ich allmählich dann immer wacher und lebendiger werden, weil ich dann in Pflicht genommen bin, Fragen zu beantworten. Es ist mir oft begegnet, daß man es in Abrede stellt, Weltänderung hätte irgendetwas mit Weltanschauung zu tun, d. h. es wurde gesagt (z. B. von meinem Freund Landauer): man kann sich allerlei Gedanken über Dinge des Himmels und der Erde machen, ganz unabhängig davon ist die Stellung zur sozialen Frage. Wenn ein Mensch sich Sozialist nennt, kann er das ganz unabhängig von Religion und philosophischer Weltanschauung: es kann Menschen ganz entgegengesetzter Anschauungen geben, die praktisch zusammenarbeiten an dem, was mit dieser Gesellschaftsordnung geschehen soll, was für eine andere geschaffen werden soll und kann. Ich habe das nicht zu glauben vermocht. Ich bin der Ansicht, daß diese beiden Dinge, Weltänderung und Weltanschauung, zwar nicht sehr offenkundig, aber sehr oft sehr wirksam miteinander zusammenhängen. Scheinbar ist es freilich so, daß Menschen theistischen Glaubens und atheistisch glaubende Menschen (atheistisch heißt atheistisch glauben; es gibt Menschen, die mit der großen Leidenschaft des Glaubens sagen, Atheisten zu sein, Menschen ethisierender und ästhetisierenden Weltanschauung) optimistisch und pessimistisch gesinnte Menschen einander begegnen in gemeinsamer Front. Ein Beispiel: Menschen, die an das Kommen des Reiches Gottes glauben auf dieser Welt, die glauben daran, an dem Kommen dieses Reiches mitwirken zu dürfen und zu sollen, auf der einen Seite. An das Kommen, d. h. daß es gewißlich kommt, nicht daß es kommen k a n n unter Mitwirkung dieser Menschen. Die andere Gruppe von Menschen, die meinem Herzen besonders nahe stehen, die an den Untergang glauben dieser ganzen Welt, alles Vorstellbaren, aller Kultur, aller Ordnung, alles menschlichen Zusammenhanges. Nicht an den Untergang des Abendlandes, sondern an den großen Untergang. Nicht, daß sie vorweg nehmen, was dann kommen kann, daß sie keinen Uebergang kennen aus dem was jetzt ist in ein Kommendes, sondern sie glauben an das Verhängnis des Untergangs, die Weissagung des Untergangs, alles um uns her als Weissagung des Untergangs empfindend; in dieser Situation willens, für einen Sozialismus zu kämpfen, d. h. in einer untergehenden Welt das, was sie für das Rechte, für das Menschheitsweisende erkannt haben, zu vertreten, zu verfechten, obwohl sie glauben, daß sozusagen kein Raum mehr da ist, daß der Weltuntergang kommt. Diese und jene Menschen vereint in der sozialistischen Front (ohne Partei)! Scheinbar ist es so, und doch glaube ich, daß ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen diesen und jenen ist, vor allem ein ganz entscheidender Unter-

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schied zwischen zwei Arten von Weltanschauung. Die 1.) ist die, die in unserem Zeitalter vorwiegend ist, nämlich die Ueberzeugung, daß es keinen anderen Sinn des Daseins gibt als einen, den wir dem Dasein geben. Sinn des Daseins ist ein Erzeugnis des Menschendaseins. Wir verleihen dem Leben seinen Sinn, sonst hätte es keinen. Nietzsche z. B. gibt die sogenannte »Evolution«: wir greifen aktiv in diese Evolution ein, wir erzeugen etwas, was es bisher noch nicht gegeben hat, dieses unser Eingreifen gibt dem Leben einen Sinn, den es sonst nicht hätte. Oder die Philosophie des Als Ob: Wir haben brauchbare, lebensfördernde Fiktionen, sie helfen uns angeblich leben. In Wirklichkeit kann niemals ein Sinn, den wir dem Leben verleihen, wahrhaft geglaubt werden; niemals ein Sinn, den wir dem Leben verleihen, worunter wir uns stellen, das sein, was uns zu leben hilft. Alles das ist Scheinhilfe und Scheinkraft, die von Anfang an zum Zusammenbruch führen muß. 2.) Die Andern sind heute fast in einer Verteidigungsstellung, obwohl man annehmen sollte, daß die Religionszusammenhänge ihrer voll sind. Aber wie viele innerhalb dieser Zusammenhänge sind jenem Scheinsinn verfallen, wie viele von diesem modernen Fiktivsinn erfüllt und vermögen an den Sinn in Wahrheit, Gott gegenüber, nicht mehr zu glauben. Zwischen diesen beiden Gruppen besteht im Hinblick auf die soziale Frage ein wesentlicher Unterschied. Die Kraft, die Bedeutung, mit der ein Mensch an einem sozialen Kampf teilnimmt, die Art, wie er sich selbst einsetzt nicht bloß mit politischen Forderungen, sondern mit seinem persönlichen Leben Stunde um Stunde, das ist schlechthin davon bestimmt, ob er an einen tragenden Sinn zu glauben vermag an einen Sinn, der uns trägt, alle, die wir an ihn glauben – oder ob er nur an einen Sinn glauben zu meinen vermag, den letztlich nichts anderes trägt als wir selber, wir, der brüchige, sterbliche, im Leben verwesende Mensch. Dies ist ein Unterschied, der sich in jeder Stunde wirklichen Lebens (und um das geht es, es geht nicht um Partei, nicht um wirtschaftlichen Kampf, sondern um Verwirklichung des Geglaubten, des in Bezug auf diese Gesellschaftsordnung Geglaubten) zeigen wird, wie diese Person in dieser Stunde, mit diesen Kräften seinen Glauben zu verwirklichen vermag. Jede Person in jeder Stunde in einer noch so widerstrebenden Situation vermag etwas von dem, was sie in der gegenwärtigen Gesellschaft glaubt, zu verwirklichen. Dies scheint mir das erste zu sein, diese Scheidung, die über alle hinausgeht, von der aus dann etwa die andern zu betrachten sind, eine entscheidende Scheidung, die in Wahrheit in diesem Zeitalter vollzogen ist, die nicht wir zu vollziehen haben. Wenn wir innerhalb der einen Gruppe bleiben, derer, die daran glauben, daß es einen nicht von uns abhängigen Sinn gibt, von dem wir abhängen, in dem wir leben, weben und sind, dann mögen diejenigen, die nicht dieser Gruppe sich zugehörig fühlen, diese gewaltsame Art entschuldigen. Ich kann nicht anders, ich kann nur innerhalb dieser einen Gruppe bleiben, denn die Grenzen für mein vergegenwärtigendes Verstehen der Andern sind so gezogen, daß ich nicht unmittelbar über ihr Verhältnis zur sozialen Frage zu urteilen vermag. (Auf eine mir zugegangene Frage, welcher Zeitpunkt für den Untergang anzunehmen sei, möchte ich bemerken: Ich meine mit denen, die an den Untergang

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glauben nicht die, die an das Reich Gottes glauben und an das Ende der Dinge nach biblischer Auffassung, sondern Menschen, die nicht an das Reich Gottes glauben. Wer an das Reich Gottes glaubt, weiß nicht, ob es in irgend einer fernen Zeit ist, oder jetzt im nächsten Augenblick eintritt, kann es nicht wissen; nah und fern sind ganz verhältnismäßige Dinge. Wir müssen gewärtig sein. Ich, der ich an das Reich Gottes glaube, könnte nicht sagen, ob der morgige Tag diese mir geläufige Welt noch aufweist.) Nun zu den Anderen: Innerhalb der Menschen, die an einen tragenden Sinn glauben, gibt es eine wesentliche Scheidung. Es gibt sehr viele, die daran glauben, daß die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse von inneren Gesetzen her bestimmt ist, die schlechthin nicht von unserem Willen, von unserem Tun abhängen, Gesetze, die zwar irgendwie in ihrer Verwirklichung uns Menschen verwenden, aber die von uns ganz unabhängig sind, Gesetze der Wirtschaftsgeschichte, wonach aus einem bestimmten wirtschaftlichen Zustand unabhängig vom Wollen ein anderer Zustand sich entwickelt. Es gibt ein Abrollen einer gesellschaftlichen Weltgeschichte. Es steht irgendwo alles geschrieben, was sein wird, so daß wie auf einer langen Rolle alles aufgerollt wird vor den Augen der Geschlechter. Das hat es immer gegeben, das ist nicht eine Erfindung von Karl Marx, sondern die moderne Ausprägung uralter Lehre. Schon die alten Perser haben daran geglaubt, daß die Weltgeschichte ein Kampf zwischen Licht und Finsternis ist, die ganze Welt ist nichts Anderes als der Kampfschauplatz zwischen beiden. Es wird gekämpft, bis schließlich die rasenden Heere den Kampf zu Ende kämpfen und zwar in einer ganz bestimmten Abfolge strategischer Zustände. Nach einer festgelegten Zahl von Jahren siegt endgültig das Licht über die Finsternis. Der Mensch ist aufgeteilt zwischen dem Licht und der Finsternis. Wenn Licht über Finsternis siegt, muß die Körperwelt aufgezehrt werden und alles wird in Licht verwandelt. So großartig hat es kein Nachgeborener wieder zustande gebracht. Es kommt auf unser Tun, auf unsere Freiheit, unser Wohl schlechthin nicht an, nein, es gibt das alles nicht (Marx). Demgegenüber gibt es die andere Haltung derer, die nicht der Meinung sind, daß es gleichgültig ist, in welchen Zusammenhängen – und wie ungeheuer sind die gegenwärtigen Zusammenhänge – die Menschen stehen, die sich etwas vornehmen. Jetzt aber hängt, so glauben diese Menschen, Entscheidendes davon ab, wie die Teppichweber zu weben beginnen, was sie nun an Zeichen, an Farben, an Vorstellung des Bildes erreichen. Dieses Zusammenwirken von Seiendem und Gewolltem ist nicht so, daß man sagen kann, hier fängt es an, hier hört es auf. Der Gläubige sagt: Ich weiß nicht, wie weit mein Wille reicht und wo die Gnade beginnt. So ist die Haltung des gläubigen Menschen, der, um es deutlich zu sagen, glaubt an die personhafte Verantwortung. Ich bitte Sie, dieses mißbrauchte Wort sehr ernst zu fassen. Sie gibt es nur Einem gegenüber. Alles Verantworten ist Antwort, man verantwortet ein anvertrautes Stück Welt gegenüber Einem, der mich damit, daß er mir dieses Stück Welt zureicht, anredet. Wer an die personhafte Verantwortung in der Gesellschaft, für die Gesellschaft glaubt, der weiß, daß es einen notwendigen Anteil des Menschen, des freien, in Wahrheit wollenden, in Wahrheit mitentscheidenden Menschen gibt an der Wandlung der Welt, der Menschenwelt.

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Ich habe vor langer Zeit einmal ein Wort, das mich tief beeindruckte, aus dem Munde eines Kindes gehört. Es war zur Zeit des Erdbebens in Sizilien: meine Frau las aus italienischen Zeitungen unserer Köchin und Kinderfrau vor, die ganzen Einzelheiten, im Kinderzimmer. Wir dachten, die Kinder schliefen. Plötzlich hörten wir aus dem einen Bettchen: »Mutter, kann man die Welt nicht ändern?« Das ist die Frage, die wir fragen. Ja, die Welt ändert sich selbst, kann man sagen, sie ändert sich ganz richtig, vom Kapitalismus zum Sozialismus, und alles stimmt. Man kann auch sagen: Wir sind feste Kerle, wir wissen was wir wollen, wir fangen an, wir sprengen all diese Hindernisse in die Luft und dann machen wir das Andere. Die dritte Möglichkeit ist die wirkliche, glaube ich, sie sieht so aus, daß Ungeheures an der Welt geschehen ist, Unübersehbares, von keinem Geschichtsschreiber Zusammenzufassendes, was wir als unbeschreiblich schwere Last tragen, wir alle, wir tragen die Last der gesellschaftlichen Weltgeschichte bis auf diese Stunde. Von dieser Last aus haben wir zu erfüllen, was wir zu erfüllen vermeinen, nicht wissend, wie viel wir zustande bringen, aber glaubend daran, daß diese Schöpfung auf Vollendung angelegt ist. Wirkend an dieser Welt, die nicht aus sich geworden, sondern von einem Herrn erschaffen ist, der sie nicht auf den Widersinn, nicht auf den Widerspruch, nicht auf dieses Ungeheuerliche angelegt, sondern auf Vollendung. Damit gebe ich ein Bekenntnis. Ich glaube, es ist mir erlaubt, daß ich, wo es nottut, persönlich Geglaubtes bekenne und denen, die gemeinsam mit mir glauben, die Hände reiche. Davon geht der Gläubige aus, der an die Vollendung der Schöpfung, an die Erlösung der Welt von Widersinn zum Sinn, von all dieser ungeheuerlichen, kaum noch zu tragenden Last zur Freiheit der Kinder Gottes, der Brüder und Schwestern glaubt; wer so glaubt, der (die Kreise werden immer mehr) weiß, die Welt ist auf die Schöpfung, ist auf Erfüllung angelegt, weiß aber auch, worüber man schwer reden kann, und ich bitte Sie, es mir sagen zu helfen, der z u g l e i c h weiß, daß es auf ihn ankommt. Der so gläubige Mensch weiß, in dem Augenblick, wo er sich entscheidet, daß diese seine Entscheidung in Wahrheit geschieht, daß das keine Selbsttäuschung ist, daß etwas durch diese seine Entscheidung in ihm entschieden wird in Wahrheit. Wenn nicht früher, so weiß er, nachdem er aus dieser Entscheidung gehandelt hat, daß er in Gottes Hand gestellt war und ist, d. h. Wirklichkeit ist beides zusammen, nur beides zusammen. Wenn irgend welche Logik der Welt glaubt, das eine vom andern scheiden zu müssen, wenn es Logik gibt, die sagt: Nur Determinismus stimmt und Indeterminismus nicht, oder umgekehrt so ist das eine unangreifbare Logik. Sie hat recht. Nur die Wirklichkeit ist es nicht, die Wirklichkeit hat beides in einem, diese logischen Gegensätze sind unlösbar vereinigt und zusammen machen sie die gelebte Stunde der menschlichen Kultur aus. Dies gilt auch für unsere Frage. Wir sind eingestellt in das ungeheure Geschehen und handeln wirklich in dieses Geschehen hinein. Wir glauben, daß Gott uns brauchen will, und zwar in dem großen, letzten Ernst, in dem wir geschaffen sind. Wir sind geschaffen nicht zu einem Werkzeug, sondern zu einem mitbauenden Wesen. Es gibt ein jüdisches Wort: Der Mensch kann Gottes Genosse im Werk der Schöpfung werden, d. h. der Schöpfung, die sich Tag um Tag vollzieht. »Der Du in Deiner Güte alltäglich

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das Werk des Anfangs erneust.« Wir so belastete Menschen, Menschen der Spätzeit, mit dem ungeheuren Erbe, sind immer noch in der Lage des Anfangs, Adams und Evas, wie neugeschaffene Menschen. Das gilt auch für unsere Möglichkeit des Wirkens an der Gesellschaftsordnung. Soweit die Vollendung der Schöpfung den Menschen angeht, soweit sie vom Menschen aus sichtbar ist, geht sie diese Gesellschaftsordnung, die Art des Miteinanderlebens unmittelbar an. Soweit wir an der Vollendung der Schöpfung, der Erlösung der Welt mitzuwirken haben, soweit wir dies uns vorzusetzen vermögen, geht es um Wandlung nicht etwa einer Gesellschaftsordnung in eine andere, sondern geht es um Wandlung der Gesellschaft in etwas Anderes, wofür ich kein Wort bereit habe. Ich werde ein schlechtes Wort dafür wählen, wir haben kein gutes: Gemeinschaft. Es ist ein schlechtes Wort, weil jedenfalls die Soziologen, die es gebrauchen, Tönnies z. B., darunter einen früheren Zustand des Zusammenlebens der Menschen verstehen, wo die Gruppen der Menschen in Gemeinsamkeiten lebten der Sitte, des Besitzes, der Familien- und Herrschaftsordnung, eine Gemeinsamkeit, der die Gesellschaft unabänderlich entwachsen ist. Wenn man von Gemeinschaft spricht, so läuft man Gefahr, romantisch verstanden zu werden, d. h. daß man aus dieser Gesellschaftsordnung, die durch Technik hergestellt worden ist, flüchten will in einen vorgesellschaftlichen Zustand zurück. Ich bin mit den Kritikern dieser Tendenzen einig, daß es ein zurück nicht mehr gibt. Deshalb ist das Wort Gemeinschaft ein schlechter Begriff. Ich brauche ihn im Sinne nicht eines vorgesellschaftlichen Zustandes von ähnlichen, sondern einer Gemeinschaftlichkeit von verschiedenen Menschen höchster Arbeitsteiligkeit, die miteinander sich zusammenschließen. Das ist etwas Anderes, als was man so Gemeinschaft nennt, das ist etwas Anderes, was man in der Jugendbewegung so nennt, nicht Gemeinschaft von Ausnahmezuständen, der Festtage, der schönen edlen Zusammenkünfte, der Stimmung, sondern die harte, strenge Gemeinschaft des wirklich Miteinanderlebens. Harte Stunde um harte Stunde, Arbeit um Arbeit, wenn es kommt, auch Freude um Freude. Gemeinschaft also, die wirklich ist das Wagnis, daß in dieser so durchrationalisierten Welt Gemeinschaft doch möglich ist, gerade in ihr, in dieser neuen Gestalt als das Zueinanderkommen verschiedener arbeitsteiliger Menschen zu gemeinsamem Werk. Es kann keine Nachbarschaften mehr geben wie einst, keine Werkgilden wie einst, und dennoch, es kann, es soll wieder wahlhafte Genossenschaften von Menschen geben auf dieser Erde, auf die wir jetzt gestellt sind unter diesen Voraussetzungen, die wir nicht zu ändern vermögen. Das meine ich ganz bescheiden, man lebt in einem Hause, in einer Gasse, in einem Dorf, Raum ist Wirklichkeit, man lebt nicht bloß auseinander, man kann in irgend einem Maße, soviel die Stunde erlaubt, ein Miteinander haben. Was bedeutet Gemeinschaft in jenem großen Sinn, als Vollendung der Schöpfung? Nichts anderes, als eine Menschenwelt, die gemeinschaftshaltig ist. Der große Gesellschaftskörper, das Volk, ist dann Gemeinschaft, wenn es gemeinschaftshaltig ist, d. h. wenn hier und hier und hier Gemeinschaften wirklich möglich sind, wenn die Ordnung dieses Ganzen so ist, daß in ihm Gemeinschaften nicht so wie im modernen Staat bloß Platz haben, sondern daß sie eingefügt sind in dieses

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Ganze, d. h. daß dieses große Gemeinwesen sich aufbaut aus gemeindehafter Einheit. Mehr können wir vom Menschen aus nicht fassen. Wahre Gemeinde ist, daß Menschen zueinander 1.) echte Beziehungen haben, von Mensch zu Mensch, Ganzheitsbeziehungen, ein ganzer Mensch zum ganzen Menschen. Nicht nur mein Hirn, mein wirtschaftliches Interesse hat mit ihm zu tun, so zerlegt der Mensch sich selbst, und aus solchen Beziehungen kann niemals Gemeinschaft entstehen, keine Ganzheitsbeziehung; 2.) unmittelbare Beziehungen, von diesem Menschengesicht zu diesem Menschengesicht, 3.) zweckfreie Beziehungen, so dass nicht der Mensch für mich ein Mittel zum Zweck ist, sondern so für sich selbst, wie ich in meiner Selbsterfahrung selbst Wesen, selbst Zweck bin. Wo diese 2 Arten von Beziehungen da sind, da kann Gemeinde entstehen. Ich lasse mir nicht einreden, daß in diesen Verhältnissen es nicht möglich wäre, in der Fabrik, im Büro, überall, durch die furchtbarsten Krisen hindurch kleine Gemeinschaften zu gründen (Familie), die durch den Abgrund dieser Krise hindurchkommen müssen zu einer neuen Gestalt der Gemeinschaftsform. Aus solchen Gemeinschaften bildet sich ein Gemeinwesen dann, wenn diese Gemeinden zueinander in so echte Beziehungen treten, daß die Menschen miteinander Beziehungen haben, Ganzheitsbeziehungen zueinander, vom wirklichen Leben aus, nicht vom Geiste aus, mitten drin in den ganz strengen Forderungen des Alltags zur Heiligung des Alltags. So nur kann Menschengeschlecht wirklich Menschheit werden, niemals aber durch diese zentralisierte Staaten, wie wir sie heute haben, die schlechthin jede Gemeinschaft der Menschen vernichten, indem sie alles verfügen, da oben alles anhäufen und unten bleibt nichts als Wählerschaft. Aus diesen zentralistischen Machtstaaten, ob kapitalistische oder sozialistische, kann niemals, indem sich solche Staaten zu irgend einem Völkerbund oder irgend einer Internationale zusammenfinden, eine Menschheit werden. Nennen wir sie Sowjets, Räte, Gemeinde – wenn dieser große Prozeß fortschreitet und fortschreitet als lebendiges Wesen, wenn sie so echten Bund schließen als Mensch mit Mensch zu schließen vermag, so gemeinschaftshaltig werden, daß hier und hier und hier Gemeinschaft möglich wird, nichts mehr ist, was behindert, daß Mensch zu Mensch kommt, keine sozialen Vorrechte, dann erst kann es Gemeinschaft von Menschen geben. Ich fühle, daß ich hier von diesem Wichtigen nur andeutend gesprochen habe: wenn ich sagte, daß nicht das wirtschaftliche Geschehen aus sich selbst kraft seiner unabänderlichen Gesetze Gemeinschaft schaffen kann, und daß nicht wir selbst sie machen können, so ist damit etwas ausgesprochen, was praktisch mir das Wichtigste scheint: es genügt nicht, wenn ein Mensch, der die Welt gern ändern möchte, etwa sich in den politischen Kampf stellt und nun für die Durchsetzung seiner Wünsche kämpft; mit bloßer Durchsetzung geschieht keine Verwirklichung. Je mehr Kampf ohne Einsatz des ganzen persönlichen Lebens, um so ferner wird das, was man erreicht, von dem Geträumten. Verwirklichung geschieht nur dadurch, daß Menschen jetzt und hier in den Zusammenhängen, in die sie gestellt sind, mit dem Stoff, mit dem sie ihr Leben Stunde und Stunde zusammenführt, soviel verwirklichen, als man zu verwirklichen vermag. Je mehr der einzelne Mensch in diesen seinen natürlichen Lebenszusammenhängen verwirklicht, umso mehr wird

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das verwirklicht, was er zu verwirklichen meint. In der Wahrheit der Verwirklichung, die nicht von uns abhängt, gibt es kein Jetzt und Dann, kein Dort und Hier, d. h. beides ist unlösbar miteinander verbunden. Wenn wir heimgehen in unsere verschiedenen Leben hinein, wo andere Gesetze sind als bei einer freundschaftlichen Tagung, nicht, was wir dann als politische und soziale Wesen im großen Kampf tun, wird entscheiden, sondern was wir in der namenlosen Stille unseres eigenen Lebens etwa vollbringen, wird vollbracht sein.

A u s s p r a c h e nach D r. B u b e r [Erste Fassung] H a u e r : Ich sehe hier einen unbewussten von uns nicht gewollten organischen Aufbau der Tagung. Wir haben zunächst eine Vorarbeit geleistet. Wir sind heute morgen zu einem Resultat gekommen: wenn die Wirtschaft aufgebaut werden soll, so kann es nur unter dem Gesichtspunkt des Menschen geschehen. Ich glaube, darin sind wir uns alle einig gewesen. Wir haben die Frage offen gelassen, was nun dieser Mensch ist. Ich glaube aber, dass wir letzten Endes hier viel einiger sind, als es zunächst scheinen möchte und nun haben wir von Martin Buber bekommen soz. die schöpferischen Kräfte, die eine Gemeinschaft, in der der Mensch der Masstab ist, ich sage, dass er uns diese schöpferischen Kräfte dargestellt hat. So sehe ich den Aufbau und von hier aus wollen wir weiterarbeiten. Ich bitte also die, die jetzt sprechen wollen, von diesem Gesichtspunkt aus zu sprechen oder Fragen zu stellen. S t o c k m e y e r : Nur eine Frage. Wie es Martin Buber uns vorgestellt hat, kann alles, was wir zu tun und auch zu lassen haben, nur erfahren werden in dem Einsatz und in dem Augenblick und in dem wirklichen Handeln, in der Verwirklichung. Bedeutet das nun, dass wir auf jedes Gesetz, auf jede Regel, also auch auf jede Regelung und jedes Gesetz für unser politisches Handeln, für unsere Gerechtigkeit in der Wirtschaft, auf solche Gesetze und Regeln verzichten müssen? B u b e r : Ich bin keinesfalls der Meinung, dass wir auf Gesetze solcher Art verzichten sollen, sondern dass alle diese Gesetze in der Bedingtheit stehen, d. h. alle Gesetze schlechthin und alle Einrichtungen müssen von ihrer eigenen Untergangsmöglichkeit durchsetzt sein d. h. das höchste und beste Gesetz ist verderblich, wenn es dazu da ist, zu dauern. Denn wenn seine Lebensvoraussetzungen nicht mehr bestehen, die Menschen zu zwingen, d. h. also, wenn etwa seinerzeit im alten Israel eingesetzt wurde, alle 50 Jahre soll alles umgekrempelt werden, so ist darauf der richtige Grundsatz: keine Einrichtung, kein Gesetz darf schlechthin dauern, es muss die immanente, die innere Revolution da sein, die stark genug ist, immer wieder zu zerschmettern und alle Einrichtungen in die Luft zu werfen. Das stellt die Gesetze in die Bedingtheit, in der Bedingtheit als je und je geltend für einen bestimmten von uns als gerecht erkannten Kampf. Es gelten Gesetze, die von einer Gemeinsamkeit in diesem Sinne gestiftet sind solange nur diese Arbeit selber gerecht ist. S t ö l z e l : Meine Frage geht um die Macht. Es ist nämlich nicht so, dass wir neu anzufangen hätten. Das sagten Sie selbst. Dann muss man sehen, dass Macht

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gegenwärtig in unendlicher Fülle vorhanden ist und zwar kraft der bereits geschehenen Arbeitsteilung, gerade als Träger arbeitsteiliger Funktionen, gerade dadurch, dass Arbeitsteilung in der Menschheit vorhanden ist, hat sich Macht angehäuft in den Händen einzelner Menschen. So scheint es mir wenigstens. Und eine zweite Frage: Wenn eine Änderung dieser Zustände erstrebt wird, dann ist es die Frage: darf man dazu Macht erstreben und Macht anwenden? Ich bin mir nicht klar geworden darüber. Ich weiss selbst darauf keine Antwort. Aber es schien mir, dass Sie in der Verneinung der zentralistischen Macht auch eine prinzipielle Stellung zur Macht überhaupt einnehmen. B u b e r : Die eine Frage ist sehr kompliziert, die Frage, wie es mit der Änderung der gegenwärtigen Machtschichtung sich verhält. Es gibt eine Machtschichtung, gegen die ich durchaus bin, die sich dann ändern würde, wenn sehr viele mit Macht, mit lokaler, mit abgegrenzter Macht ausgestattete (Autonomien) da unten wären. Wir haben da eine Masse von Leuten, die eigentlich ohne Macht sind, die auch ihre gemeinsamen Angelegenheiten nicht selbst zu bestimmen haben. S t ö l z e l : … dass wir heute etwa Strassen brauchen, ist uns selbstverständlich, aber sie können nicht von diesen kleinen Gemeinschaften unterhalten werden. Darum ballt sich die Macht. B u b e r : Wenn nicht mehr Machtansammlung wäre als erforderlich, so wäre die Sache ganz so, wie Sie meinen. Tatsächlich ist es so, dass jede technische, bedingte Machtansammlung zu einer weiteren Machtansammlung führt, die nicht mehr arbeitsteilig bedingt ist. Und das ist das Verderben … nicht eine Machtansammlung wie heute, sondern eine administrative Verfügungsansammlung, die streng sachlich begründet wäre und ein Mehr nicht erlaubt. Das Mehr ist rein faktisch. Sie können sich’s veranschaulichen in der Entwicklung der Sowjetrepublik. Es geht aus von einer bestimmten Ordnung, wo so und viel Macht, es heisst sogar alle Macht, den Räten gehören sollte. Da wäre diesem Plan nach, oben bei der Zentralregierung nur so viel Macht als nötig ist, um die Einheit aller dieser Vielheiten zu konstituieren. In Wirklichkeit aber ist den Räten nämlich die Verfügungsmacht in lokalen und Kreisangelegenheiten entzogen worden und auch diese Macht hat sich nach Moskau verfügt. B u b e r : Es ist so, es begibt sich doch jeweils, auf diese Weise, dass Menschen, Personen, die eine rechtmässige, eine von einem System zugewiesene Macht haben, kraft dieser ihrer Stellung mehr Macht an sich ziehen. – Nun würde ich sagen, um auf die 2. Frage zu antworten: man darf und man muss da, wo es darauf ankommt, etwas zu verwirklichen was nicht ohne bestimmte Macht zu verwirklichen ist, Macht anwenden mit Furcht und Zittern. Solange man sie mit Furcht und Zittern wahrt tut man recht. Und sowie man die Furcht und das Zittern verliert, ist man des Teufels. S c h r e n k : Es ist eben gesagt worden, es hat sich eine Machtentziehung der (örtlichen) Gewalten vollzogen und diese Macht ist zusammengeballt worden in Russland. Nun glaube ich, kann man damit noch nichts anfangen, sondern die Hintergründe, das Grundsätzliche der Sache wird uns erst zeigen, warum das so geschehen ist.

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B u b e r : Es ist eine Frage, die von zwei oder beinahe von drei Enden aus zu beantworten ist. Zunächst einmal der eine Teil, das ist der psychologische. Dass Menschen das erfahren, das ist ja fast die Weltgeschichte, dass Menschen, die zu Macht kommen, dass diesen Menschen was passiert, dass die Macht Selbstzweck wird, dass die Menschen also die Würdigkeit, die eben in jedem in-der-Schwebestehen, unter dem Gebot stehen besteht, dass sie dies verlieren und sie dem Gebot entgleiten, das ihnen Macht verliehen hat und sich als Gebieter fühlen, statt mächtige Diener zu sein. Das ist das eine. Das andere Ende ist aber schwieriger zu fassen. Das ist die heute vorhandene, nach dem Zerschlagen so vieler gemeindehafter Existenz vorhandene Unreife, mangelnde Reife, mangelnde Fähigkeit der Menschen, selbstverantwortliche, autonome, gemeindehafte Gebilde aufzubauen. Die Sowjets wären ungeachtet gewisser zentralistischer Tendenzen in Moskau an der Macht geblieben, wenn sie wirkliches Leben, wenn sie diese Räte mit wirklichen Gemeindesachen, wirklichen Gemeindeberatungen und Gemeindebeschlüssen gefällt hätten, wenn also diese Sowjets irgendetwas wie eine moderne Agora gemacht hätten, wenn überall da die Leute auf den Märkten zusammengekommen wären und die gemeinsamen Angelegenheiten dieser kleinen Einheit beraten hätten. Agora ist ein Marktplatz. (In Russland konnte es solche Marktplätze geben, wo die gemeinsamen Angelegenheiten dieser Stadt oder Gemeinde beraten und beschlossen wurden.) Und dann hätte sich, wenn dies wirklich geschehen wäre, wenn diese Menschen in den Dörfern und Städten wirklich die gemeinsamen Angelegenheiten in solcher Weise in die Hand hätten nehmen und führen können, dann wäre da tatsächliche Macht gewesen, die man nicht hätte aussaugen können von Moskau her, sie hätten sich nicht aussaugen lassen, sie hätten Widerstand geleistet, wenn diese Menschen diese Eigengesetzlichkeit wirklich begründet erfüllt hätten. Aber das kennzeichnet ja gerade die Krisis, in der wir leben. Die Krisis der Gemeinde, dass in der Stunde der Entscheidung die Menschen das nicht aufzubauen vermochten und also die wirkliche Macht sich entgleiten liessen. Das ist das, was sich tatsächlich vollzieht. Aber es gibt noch ein drittes Ende, das glaube ich besonders schwer zu fassen ist. – – – Die Leute, die die Würdigkeit verleihen, die Leute, die nicht die Fähigkeit der Verwirklichung haben. Wir haben noch einen Apparat, nämlich den Apparat Staat, der arbeitet und diese Maschine Staat ist zentralistisch aufgebaut. Ihre Technik ist eine zentralistische. Und diese Maschine Staat arbeitet noch vom zaristischen Regime her, ungeachtet aller Umstürze. Und dieser Apparat – wenn er was zu mahlen hat, dann mahlt er, und wenn er nichts zu mahlen hat, dann läuft er leer – dieser Apparat ist es, der die Unreife, die mangelnde Reife zum gemeindehaften Dasein und diesen Machtmissbrauch von oben so begünstigt hat, dass das geschehen ist, was geschah. S c h n e l l e r : Ich möchte viel mehr die Frage der Entwicklungsmöglichkeiten stellen. Die Frage ist die: ist der zentralistische Staatsapparat, der zentrale Staatsaufbau als Übergang zum Staatsabbau organisiert, oder sind die Sowjets Voraussetzungen bei dem Übergang vom Zarismus in der Weiterentwicklung? Das ist die Frage. Sie stellen die Frage der Unreife zur Selbstverwaltung. Und woher

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kommt die Reife zur Selbstverwaltung? Kann die mit dem Schlage kommen? Es ist klar, dass die Gefahr des blossen zentralen Staates mit andern Vorzeichen vorliegen könnte, aber es ist ebenso klar, dass auf den demokratischen zentralistischen Staat nicht einfach folgen kann der Staat, der eigentlich kein Staat mehr ist, unmittelbar, weil die Voraussetzungen des Übergangs fehlen, umso mehr als die lokale Selbstverwaltung immer mehr verschwindet. Man muss so fragen: ist die lokale Selbstverwaltung abgebaut worden oder ist sie entstanden in der Zeit der Sowjets und erst in den letzten Jahren, ist begonnen worden mit dem systematischen Aufbau der Sowjets …. dass eben das Aufwachen des Schöpferischen der Masse als ein Hauptmotor in Rechnung gestellt ist, ohne den die ganze Durchführung der Arbeit nicht möglich ist. Ich stelle den Ausführungen von Buber gegenüber meine Auffassung, die ist, dass wir in der Entwicklung zu dem leben, zu dem Sie sprechen, aber nicht diese Entwicklung soz. abgeschnitten haben, sondern in ihr hinleben. Es wäre besser gewesen, wenn wir gerade auf dieser Grundlage die vorhergehende Diskussion hätten pflegen können. B u b e r : Das was Sie sagten, hat eine genaue Formulierung in Lenin »Staat und Revolution«. Nur frage ich mich, ob es wirklich so ist, Lenin hat die Formulierung gegeben, dass der Staat, der jetzt notwendig ist um der Durchführung der Revolution willen, dass dieser Staat absterben wird. Dieser Begriff des Absterbens des Staates scheint mir nur bisher keine Bestätigung durch den Gang der Geschichte gefunden zu haben, d. h. ich bin gern bereit, mich von den Tatsachen belehren zu lassen, sobald sie da sind. Ich habe ziemlich viel Kontakt mit Russland, familienmässig, freundemässig. Mir scheint, dass die Entwicklung jener neuen Tugenden, die nun während dieses Übergangszeitalters heraufkommen werden, nicht festzustellen ist. Ich wünsche durchaus, dass das Experiment gelingt, damit wir sehen, wie das zugeht. Aber von dem Aufkommen dieser Tugenden – es ist gewiss eine ehrliche Begeisterung auch heute noch, es ist viel Kameradschaft zu bemerken, aber dieses Aufkommen der Tugenden, die den Staat überwinden können – ich glaube nicht, dass davon viel zu merken ist. – Um auf das andere zurückzukommen. Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass ja unmittelbar im (?) davon nichts da war. Aber unter dem zaristischen Regime gab es Genossenschaftsformen, nehmen Sie doch einmal die Werkgenossenschaften, wie sie früher waren, z. T. wander [Textverlust] wie sie existierten als Genossenschaftskörper und wie es jetzt ist. S c h n e l l e r : Die Sowjets sind in einem ganz kleinen Teil vorhanden gewesen. Während des Bürgerkriegs stand die Verwaltung so zurück, dass das wirkliche Infunktiontreten der Sowjets erst nach dem Bürgerkrieg möglich war. B u b e r : Ich urteile nicht über die Sowjet-Republik als Ganzes. Und da wir mitten in der Geschichte stehen, lässt sich wohl nur Ansicht gegen Ansicht stellen ….. wenn danach wirklich ein Absterben des Staates kommen wird, werde ich mich selbstverständlich davon überzeugen lassen, weil ein neues grosses Phänomen da sein wird. H a u e r : Ich möchte Buber bitten, noch einmal in ein paar Sätzen zu sagen, wo er die tiefliegende Ursache der von ihm gezeichneten Entwicklungen in Russland sieht.

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B u b e r : Ich habe noch etwas unterlassen. Sie sagten: Es war ja keine Vorbereitung da für die Gemeinde, also musste es so kommen. Davon rede ich gerade, das was ich sagte, geht gerade darauf aus, dass wir eine Vorbereitung brauchen zu gemeindehafter Existenz. Ich habe es nur andeuten können. Wie, auf welche Weise auf welchem Wege lässt sich eine gemeindehafte Existenz innerhalb der Gesellschafts- und Staatsordnung vorbereiten, die diesen Apparat Staat so allmählich durchsetzen würde mit Leben, mit wirklichem Leben, dass er schiesslich ganz von selber ohne Dynamit in die Luft fliegt? – Ich meine: wenn also die Sowjets – nehmen wir an, dass sie vorbereitet gewesen wären in der russischen Revolution, es gab nämlich in Russland, das wissen ja diejenigen, die sich mit der russischen Revolution beschäftigt haben – eine revolutionäre Tradition, eine revolutionäre Erziehung von Generationen, hauptsächlich geübt durch die sozialen Revolutionäre die dann von den Bolschewisten hinausgeschmissen wurden. Es gab eine Tradition der revolutionären Arbeit. Dagegen gab es keine autonomistische Erziehung, eine autonomistische Revolution, die ein Gemeinwesen an die Stelle des zerfallenden Staates setzen würde, und dann wirklich nachdem der seine Aufgabe als Apparat erfüllt hätte in der Revolution, dann wirklich nicht absterben, sondern zerfallen. So kommt es untauglich gewordenen Maschinen zu … damit wir anders die Dinge bereiten, damit wir nicht diese Revolution erneuern, sondern eine Revolution vorbereiten, die ein wirkliches lebendiges Gemeinwesen an Stelle einer zerfallenden Maschine setzt. Stockburger H a u e r : Ich bejahe auch durchaus die Gemeindebildung und zwar bis hinein in das Geschäftliche. Ich bin durchaus einig mit Buber, dass hier der Kernpunkt liegt. Wir haben das Eisenbahnwesen, alle die genialen Menschen, die die Eisenbahn verwalten. Nun bin ich überzeugt mit Buber, dass wenn diese Menschen auch eine Gemeinde bilden würden, dass es dann ein Grossartiges gäbe in jeder Beziehung. Aber das scheint mir von einer Utopie des Menschen aus gedacht. Und da scheint mir der Haupteinwand gegen Buber zu liegen. Ich gehe von meiner Erfahrung aus. Ich nehme meine Fakultät oder meinen Senat. Nichts gegen meine Fakultät gesagt und nichts gegen meinen Senat. Nun habe ich dutzend mal während meiner akademischen Laufbahn, seit ich in diesen Körperschaften bin, das Gefühl gehabt: wenn das Gemeinde wäre in dem Sinn von Buber, was könnte man da schaffen. Es hat mich oft geradezu innerlich ein Sturm ergriffen bei bestimmten Dingen, bei dem Gedanken, was wir zusammen machen können. Denn es sind darunter Leute von hervorragender Kapazität. Aber nun habe ich die Entdeckung gemacht, die zu den bittersten meines Lebens gehört: dass das Wesen des Menschen, das zur Gemeindebildung gehört, nicht denen eigen ist, die die grössten Fähigkeiten haben. Da liegt die Schwierigkeit. Und nun ist es eben so, ich muss mit meiner Fakultät arbeiten und mit meinem Senat. Ich sage, wir können gar nicht erwarten, dass sie je Gemeinde werden, denn das liegt nicht in der Art dieser Menschen. Es ist eben so, dass wenn ein Wissenschaftsbetrieb da ist, er kraft der ihm innewohnenden Forderungen wissenschaftliche Menschen anzieht. Nun hat eben unglücklicherweise Gott die Welt so geschaffen, dass das nicht immer zusammengeht, der wissenschaftliche Mensch – es ist genau so beim Künst-

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ler – und der Mensch der Gemeinde. Denn der Mensch der Gemeinde muss ein religiöser Mensch sein im tiefsten und weitesten Sinn. Das ist die Grundlage, an dem liegt es. Und es ist eine Utopie vom Menschen, die uns immer wieder irreführen wird in unseren Versuchen, praktisch ins Leben einzugreifen. Es ist falsch, wenn wir auf die Utopie aufbauen, als ob diese Kräfte zusammengeordnet seien. Da liegt es und darum ballt sich dann etwa im Eisenbahn- oder im Kohlenrat oder in der Fakultät oder im Senat Macht zusammen für eine bestimmte Funktion, die sein muss ohne Gemeindebildung. Und da möchte ich nun Buber bitten, dass er uns einmal da hineinleuchtet und sagt, ob er nicht eher eine geradezu unüberwindbare Schwierigkeit sieht für seinen Aufbau ins Konkrete hinein, das wir hoffend und glaubend bejahen. Wir fragen uns, ob das je einmal wird in der Welt, ob das nicht Reich Gottes ist in einer ganz andern Sphäre. Es scheint mir hier der Fehler vorzuliegen, dass während der Wissenschaftsmensch und der Wirtschaftsmensch nur von der Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft lebt nun hier der Fehler gemacht wird, dass man von dem Gemeindemenschen redet ohne den konkreten Menschen in Betracht zu ziehen. Wir machen also vom Inneren her denselben Fehler, wie die andern vom Äusseren her. B u b e r : Ich empfinde sehr, dass es ernst geworden ist und möchte mich in diesem Sinn durchaus dem, was hier gesagt worden ist, stellen. Zunächst die Frage »Staat und Wirtschaft«. Ja natürlich, es ist in der Tat so, dass heute der Staat mit seiner Macht die Wirtschaft deckt. Aber denken wir uns doch einmal, dass die Wirtschaft ohne diesen Mantel da stünde, sozusagen nackt, wie dann die Auseinandersetzung würde. Es ist schon ein Unterschied. Sie verkennen auch das dabei, dass wie mir scheint, bei dieser Machtdeckung der Wirtschaft die Partei eine ganz eigentümliche Rolle spielt. Es ist nicht so einfach, dass die Staatsregierung die Wirtschaft deckt, sondern dass, dass wir zweierlei Parteien haben, wirtschaftlich begründete und über die wirtschaftliche Begründung hinaus existierende Parteien. Um es deutlicher zu sagen: wie kommt es, dass sagen wir für die Grossgrundbesitzer Leute stimmen, deren Interesse[n] dem ihren völlig zuwiderlaufen? S t o c k b u r g e r : Das kommt daher, dass man die Existenz dieser Gruppe im Gesamtkörper für unerlässlich hält. B u b e r : Ich sehe den tatsächlichen Fehler darin, dass Tausende von Leuten wählen, die nicht wählen dürften. Ich sehe also so die politischen Fiktionen, durch die es möglich ist, dass diese Leute gewählt werden, dass diese Partei nicht sofort zerfällt. Wenn die Grossgrundbesitzer selbst zu wählen hätten, wäre es doch aus mit ihnen. Dadurch, dass nicht etwas anders (?) als die Wirtschaft, werden sie gewählt. Das mögen Fiktionen sein, aber es sind mächtige Fiktionen. – Wenn ich von gemeindehaftem Leben spreche, so meine ichs nicht in dem Sinn, dass man so im privaten Leben miteinander zusammenkommt. Ich meine das öffentliche, eine andere Form des öffentlichen Lebens. Ich meine eine Form, wo nicht Leute sich vertreten lassen zum Schein von andern, die mit ihnen nichts zu tun haben, sondern wo wahrer Kontakt zwischen Vertretern und Vertretenen ist und wo die Vertreter hervorgehen aus dem Leben, dem öffentlichen Leben wirklicher Gemeinde, aus der Bewährung in der öffentlichen wirklichen Gemeinde. –

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Und da darf ich vielleicht gleich zur Frage der Professoren übergehen. Ich habe solche Erfahrungen auch schon gemacht. Aber ich glaube auch nicht daran, dass die Philosophen die geborenen Führer sind. Aber ich würde allen diesen Menschen sehr wünschen, dass sie in höchst gemischte Gemeinden hineinkämen, da wirklich sich betätigen. Ich meine aber mit den Gemeinden Menschen sehr verschiedener Art, sehr verschiedene Berufe umfassend und zwar in solcher Weise umfassend, dass sich in dem [Abbruch der Mitschrift] * […] Dannemann wird aufgefordert, im Beisein Martin Bubers die von ihm gebrachten Zitate aus dem Talmud nochmals vorzulesen. Es stellt sich aber dann heraus, daß es sich nicht um Dokumente, sondern um Zusammenfassungen des Verfassers des von ihm benutzten Buches handelt. Diesen zusammenfassenden Urteilen über das angeblich den Juden im Talmud gestattete, der christlichen Sittlichkeit hohnsprechende Verhalten der Juden wird von der Versammlungsleitung kein dokumentarischer Wert beigemessen. Mangels der eigentlichen Dokumente sei keine Grundlage für eine fruchtbare Aussprache gegeben, und so wird lediglich Martin Buber aufgefordert, sich zu den vorgebrachten Anschuldigungen gegen das Judentum zu äußern. M a r t i n B u b e r : Zur Klärung über die Tatsachen des Antisemitismus: es sind keine Dokumente hier. Ich erkläre: es gibt ein jüdisches Wort: »Jeder Ort ist tauglich zum Bezeugen der Wahrheit«. Alle Apologetik ist mir fremd. In diesem Sinne erkläre ich auf meine Ehre und meinen Eid, daß es keine für das Judentum gültige, keine zu irgendwelchen pädagogischen Zwecken verwandte Stellen aus irgend einer alten oder neuen Schrift gibt, die eine Differenzierung zwischen Nichtjuden und Juden solchermaßen geböte oder rechtfertige, daß ein nach biblischem Gesetz, d. h. alttestamentlichem Gesetz Unrechtes recht würde dem Nichtjuden gegenüber. Wenn es Jemandem scheint, daß noch irgendwo ein anderer Tatbestand bestünde, so bitte ich, das auszusprechen. Wer mit mir Texte zu besprechen geneigt ist, für den stehe ich zur Verfügung.

A u s s p r a c h e über Vortrag M a r t i n B u b e r [Zweite Fassung] H a u e r : Ich habe den Eindruck, daß der Vortrag von Martin Buber darin fortgefahren ist, was wir heute morgen erarbeitet haben. Wenn die Wirtschaft neu aufgebaut werden soll, so kann es nur unter dem Gesichtspunkt des Menschen geschehen. Wir haben die Frage offen gelassen, was dieser Mensch ist. Nun hat uns Martin Buber die schöpferischen Kräfte dargestellt, die eine Gemeinschaft, in der der Mensch der Maßstab und das Ziel ist, durchdringen müssen. Von hier aus wollen wir weiter arbeiten. S t o c k m e y e r : Sollen wir auf jedes Gesetz, auf jede Regel für unser politisches Handeln für unsere Gerechtigkeit in der Wirtschaft verzichten müssen? B u b e r : Ich bin keinesfalls der Meinung, nur daß alle diese Gesetze in der Bedingtheit stehen. Alle Gesetze müssen von ihrer eigenen Untergangsmöglichkeit

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durchsetzt sein; d. h. das höchste Gesetz ist verdorben, wenn es dazu da ist, zu dauern. Keine Einrichtung, kein Gesetz darf schlechthin dauern, sondern die immanente, innere Revolution muß da sein, die die Gesetze in Bedingtheit stellt. In dem von uns als gerecht erkannten Kampf gelten Gesetze, solange, als dieser Kampf selbst gerecht ist; ohne diese Einschränkung kann ich es nicht geben. S t ö l t z e l : Eine Frage um die Macht: sie ist gegenwärtig in unendlicher Fülle vorhanden. Wenn eine Aenderung des jetzigen Zustandes der Ansammlung von Macht in den Händen Einzelner erstrebt wird, dann ist die Frage, darf man zur Erreichung dieses Zieles Macht erstreben und Macht anwenden? B u b e r : Man muß und man darf, da, wo es darauf ankommt, etwas zu verwirklichen, Macht anwenden – mit Furcht und Zittern. Solange man sie so ausübt, tut man recht. Sowie man diese Gesinnung verliert, ist man des Teufels. – In Sowjetrußland geht man z. B. aus von einem bestimmen Plan, wonach alle Macht den Räten gehören sollte und bei der Zentralregierung nur soviel Macht ist wie unbedingt nötig. In Wirklichkeit ist die Macht in Verfügungsangelegenheiten entzogen worden und hat sich nach Moskau verfügt. S c h r e n k : Wie kommt die Machtentziehung in Rußland? B u b e r : Diese Frage ist beinahe von 3 Enden aus zu beantworten: 1.) vom psychologischen, daß Menschen – daraus besteht fast die Weltgeschichte, die zu Macht kommen, daß denen etwas passiert, daß Macht Selbstzweck wird, daß Menschen dem Gebot entgleiten, das ihnen Macht verliehen hat, und daß sie sich als Gebieter auftun, statt Diener zu sein. 2.) Das andere Ende ist schwieriger zu fassen: ist das heute Vorhandene nach dem Zerschlagen so vieler gemeindehafter Existenzen, mangelnde Reife, selbstverantwortliche Gebilde aufzubauen? Die Sowjets wären ungeacht gewisser zentralistischer Tendenzen in Moskau an der Macht geblieben, wenn sie wirklich Leben in diesen Räten aufgerichtet hätten, wenn sie sie mit wirklichen Gemeindeberatungen und -beschlüssen gefüllt hätten; wenn die Leute auf den Märkten zusammengekommen wären und gemeinsam beraten hätten. Das wäre dann tatsächlich Macht von solcher Konsistenz gewesen, daß man sie nicht hätte aussaugen können von Moskau her; sie hätte Widerstand geleistet. Das kennzeichnet die Krisis, daß die Menschen das nicht aufzubauen vermochten, die wirkliche Macht sich entgleiten ließen auf »administrativem Wege«. Das 3.) Ende: Diese Maschine Staat ist zentralistisch aufgebaut, die Technik ist eine zentralistische, die mechanischen Gesetze heißen Zentralismus und arbeiten noch vom zaristischen Regime her ungeachtet aller Umstürze. S c h n e l l e r : Ich möchte die Frage der Entwicklungsmöglichkeiten stellen. Ist der zentralistische Staatsapparat als Uebergang zum Staatsabbau organisiert oder sind die Sowjets Ziel? Besteht nur eine Unreife zur Selbstverwaltung, kann die Reife mit einem Schlag kommen? Nein! Die Gefahr des bloßen zentralistischen Staats mit anderen Vorzeichen könnte gegeben sein, aber es ist ebenso klar, daß auf den demokratischen Staat folgen kann der Staat ohne Staat, unmittelbar. Ich frage nun: ist die lokale Selbstverwaltung mehr abgebaut worden oder erst entstanden? Mit dem 5Jahres-Plan hängt zusammen stärkste Zuteilung von Auf-

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gaben bis zur untersten Einheit. Das Aufwachen des Schöpferischen in der Masse ist als Hauptmotor in Rechnung gestellt. Meine Auffassung ist, daß wir in der Entwicklung zu dem, von dem Sie sprechen, stehen, darauf hinleben. Das Drängende ist die Selbstverantwortung des Einzelnen, die einzige Möglichkeit der Vollendung, unser Ziel überhaupt. B u b e r : Ich frage demgegenüber, ob es wirklich so ist. Lenin hat die Formulierung gegeben, daß der Staat, der jetzt notwendig ist zur Durchführung der Revolution, absterben wird. Dieser Begriff scheint mir nur bisher keine Bestätigung gefunden zu haben durch den Gang der Entwicklung. Die Tatsachen haben dem nicht recht gegeben. Mir scheint von dem Absterben der Staatsmacht keine Rede zu sein. Von der Entwicklung jener neuen Tugenden, die während dieses Uebergangszeitalters heraufkommen sollten, ist bisher nichts festzustellen gewesen. Ich wünsche, daß das Experiment gelingt, damit wir etwas erfahren. Es ist eine erhebliche Begeisterung, viel Kameradschaft da, aber von dem Aufkommen der Tugenden ist glaube ich nicht viel zu merken. Ich sage nur, wie es bisher gegangen ist. Stalin ist mächtiger als Lenin. Ich sehe jetzt eine größere Machtansammlung als damals in Moskau. Aber wenn dann wirklich der Staat absterben wird, werde ich mich freuen. Vorläufig sehe ich noch keine Spur. H a u e r : Martin Buber soll noch ein paar Sätze sagen, worin er die tiefliegenden Ursachen dieser Entwicklung in Rußland sieht. B u b e r : Ich habe etwas noch unterlassen: es war ja keine Vorbereitung da für die autonomen Gemeinden. Davon spreche ich gerade: wir brauchen eine Vorbereitung zu gemeindehafter Existenz mitten in der jetzigen Staatsordnung. Auf welchem Wege läßt sich gemeindehafte Existenz vorbereiten, die diesen Apparat allmählich so durchsetzen würde mit wirklichem Leben, daß er schließlich ganz von selber in die Luft fliegt? Etwas haben die Sowjets in Rußland: eine revolutionäre Erziehung von Generationen, hauptsächlich ausgeübt durch die linken Sozialrevolutionäre. Es gab eine Tradition der revolutionären Arbeit, dagegen keine autonomistische, d. h. die ein Gemeinwesen an die Stelle des zerfallenden Staates setzen konnte. Um dessentwillen müssen wir die Dinge anders vorbereiten, eine Revolution herbeiführen, die ein wirkliches Gemeinwesen an Stelle einer zerfallenden Maschine setzen kann. S t o c k b u r g e r : Ich möchte auf deutsche Verhältnisse eingehen: glaubt Buber, daß die Zusammenballung von Macht in Deutschland beim Staat ruht oder nicht irgendwo anders? Ich glaube, daß unser heutiger Staat nur Werkzeug ist in den Händen der wahren Macht, in Händen der Wirtschaft. Wie kommt es, daß dieser Staat machtlos vor diesen Gruppen steht? Wir haben im Parlament eine ungeheure antikapitalistische Front, und dieser Staat tut nichts und nichts mehr, als die Wirtschaft schützen, indem er Lohnabbau festsetzt und gegen die Arbeiterschaft vorgeht. Liegt das nicht in einer Wirklichkeit, die in historischen Schicksalen wurzelt? Dieser Staat muß die Wirtschaft schützen, weil sonst die Wirtschaft gefährdet und dadurch der Staat gefährdet würde. Die Macht einer kleinen Gruppe, der Deutschen Volkspartei, ist größer als die Macht der Sozialdemokratie. Ich bejahe, daß wir Zellen bilden, vom Einzelnen her und aus seiner Initiative. Aber

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das genügt nicht, das ist die private Sphäre des Einzelnen. Wir haben eine außerordentlich starke öffentliche Sphäre, wir sind verpflichtet, für die Oeffentlichkeit, für das Ganze zu wirken und einen Weg zu suchen nicht nur für kleine Zirkel. Ich muß Sie fragen: Wenn wir Zellen bilden an unserer Stelle, wohin dann? Es genügt nicht, daß wir an unserer Stelle etwas zusammen sind, wir brauchen eine große Richtung irgendwohin; müssen wir Revolution machen, dürfen wir das, können wir das, oder müssen wir still halten, müssen wir uns bescheiden, müssen wir uns von diesem Staat den Lohn abbauen lassen? H a u e r : Ich bejahe auch durchaus die Gemeindebildung, bin durchaus einig mit Martin Buber. Nun aber die Wirklichkeit: Wir haben das Eisenbahnwesen, und alle die genialen Menschen, die die Eisenbahn verwalten. Wenn diese Menschen auch eine Gemeinde bilden würden, das müßte etwas Großartiges geben. Aber das scheint mir von einer Utopie des Menschen aus gedacht. Ich gehe von meiner Erfahrung aus: ich bin Professor. Nun habe ich dutzendmale während meiner akademischen Laufbahn das Gefühl gehabt: Wenn das Gemeinde wäre, was könnte man da schaffen. Was hat mich für ein Sturm ergriffen bei dem Gedanken, was wir zusammen machen könnten, Leute von hervorragenden Fähigkeiten, auch Menschen genialer Art. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß das Wesen des Menschen, das zur Gemeindebildung gehört, denen nicht eignet, die die großen Fähigkeiten haben. Ich muß mit meiner Fakultät arbeiten, mit meinem Senat. Wie können wir erwarten, daß sie je Gemeinde werden, denn das liegt nicht in der Art dieser Menschen. Der wissenschaftliche Mensch ist nicht der Mensch der Gemeinde. Er muß ein religiöser Mensch sein im tiefsten und weitesten Sinn. Es ist eine Utopie vom Menschen, die uns irreführen wird, als ob diese Kräfte zusammengeordnet wären. Darum ballt sich Macht zusammen ohne Gemeindebildung. Ist das nicht eine unüberwindliche Schwierigkeit? Wird das überhaupt je einmal anders in der Welt? B u b e r : Ich empfinde sehr, daß es ernst geworden ist. Zunächst zur Frage: Staat und Wirtschaft: Ja, es ist so, daß der Staat mit seiner Macht die Wirtschaft deckt. Aber denken wir einmal, daß die Wirtschaft ohne diesen Mantel dastünde, wie dann die Auseinandersetzung würde. Sie verkennen, daß die Partei eine ganz eigentümliche Rolle spielt. Wir haben zweierlei Parteien, wirtschaftlich begründete und über die wirtschaftliche Begründung hinaus existierende Parteien. Wie kommt es, daß für die Großgrundbesitzer Leute stimmen, deren Interessen denen der Großgrundbesitzer zuwiderlaufen? Dadurch, daß es etwas anderes gibt als Wissenschaft, werden Großgrundbesitzer gewählt. Die Frage von privater und öffentlicher Sphäre: Ich meinte nicht die private Sphäre, sondern ich meine gerade die öffentliche, eine andere Form des öffentlichen Lebens, wo die Leute sich nicht vertreten lassen zum Schein von Anderen, die nichts mit ihnen zu tun haben, sondern wo die Vertreter hervorgehen aus dem öffentlichen Leben wirklicher Gemeinden. Ich würde allen Menschen sehr wünschen, daß sie in höchst gemischte Gemeinden kommen und so Fähigkeiten in sich entdecken, die sie noch nicht kennen. Die Gemeinden sollen umschließen Menschen sehr verschiedener Art, sehr verschiedenen Berufs. Eine Auslese soll sich

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vollziehen, die Tauglichsten sollen sich bewähren. Bei einem doppelt gestaffelten Parlament aus Ortsgemeinden und Werkgruppen würde der, der sich in einem nächstniederen Kreise bewährt hat, Vertreter im nächsthöheren Kreise werden. Ich meine Utopie vom Menschen nur insofern, als diese und diese Fakten der Geschichte es rechtfertigen, Utopie im gerechten Sinn des Begriffs, in dem Sinn der Unentbehrlichkeit des Utopischen, daß es Richtung zeigt in schlechthin praktischer Bedeutung, einer Praxis tatsächlicher Bedeutung, und Gemeindebildung, daß im gegenwärtigen Staat die Gemeinde selbstverständlich Rechte fordern wird, Verfassungsänderung fordern und durchsetzen. Solche Gemeinden und solcher gemeindehafter Aufbau, wie er allmählich innerlich revolutionierend sich durchsetzte, würde allmählich an Stelle der Partei treten. Ein Wort über die Partei: Ich sehe das eigentlich Schlimme nicht in dieser Dekkung der Wirtschaft, sondern in der Verderbnis des Parteiaufbaus, daß eine Minderheit von Menschen, die es ernst meint, ausgeliefert ist einer Mehrheit, die es nicht ernst meint. Es ist gegenwärtig so, daß die Lüge mit der Wahrheit so verquickt ist, in der Partei so verfälscht, daß man sie nicht scheiden kann. Herrliche junge Menschen verkommen in den Parteien; sie müßten doch für die Wahrheit und Wirklichkeits-Gesinnung ernst machen. Das ist aber nur auf gemeindehafter Grundhaltung möglich. Die eigentlichen Dinge lassen sich nur experimentell erfahren. Es ist eine Chance, ich weiß keine andere. D. h. also ich spreche im Sinne einer künftigen Revolution einer Gattung, die es noch nicht gegeben hat, einer Revolution, die vorbereitet ist durch eine Revolutionierung des Aufbaus menschlichen Zusammenschlusses. Einmal müßte die Großindustrie zerschlagen werden. Die Frage ist, was tritt dann an ihre Stelle? Es kann daran treten der Staat, aber ich glaube, das ist das was vermieden werden sollte. Genossenschaften müßten die Subjekte werden. Wenn dann also auf so vorbereitetem Boden die Revolution ausbricht als Auslösung dieser Sprengkräfte, dann brauchen wir nicht Wunderkräfte zu erwarten, dann haben wir etwas, was da ist und an die Stelle des Zerfallenden tritt. Eine wirkliche Gemeinde setzt sich aus religiösen Menschen zusammen, entsteht nicht auf die Weise, daß einer seinem Nebenmann zur rechten und zur Linken die Hand reicht und man einen großen Reigen schlingt, sondern entsteht auf die Weise, daß eine Schar von Menschen eine gemeinsame Mitte hat. Durch dieses Strahlen von der Mitte aus entsteht der Kreis. Aber es geschieht in der Welt nicht so, daß die Dinge sich nur von der Religion aus erfüllen, sondern auch auf die religiöse Wirklichkeit zu, d. h. es ist nicht nur so, daß Menschen Gottes Namen gemeinsam aussprechen, sondern geschart sind um eine Mitte, deren Namen sie nicht kennen, sie rufen sie nicht an, und sind doch durch diese Mitte, die da ist, vereint. So entsteht religiöse Wirklichkeit. Sie wird nicht vom Geist aus niedergesenkt, sondern entsteht dadurch, daß wir menschlich miteinander da sind. So ist der Name Gottes unter uns. M a r i a n n e We b e r : Es ist mir schwer, kaltes politisches Wasser zu gießen in Bubers Wein. Ich halte seine Art Gemeindebildung für eine unerfüllbare Utopie. Er geht den Mahraunschen Weg. Wir haben doch auch jetzt Gemeindekörper, au-

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tonome Verwaltungskörper überall. Nun aber ist die Sache die, daß diese Gemeinschaften, die miteinander arbeiten müssen, weit entfernt sind von lebendiger Gemeinschaft. Nach meiner Meinung liegt da etwas Zwangsläufiges. Sobald es sich um die Regulierung wirtschaftlicher Interessen handelt, treten die Menschen in notwendige Interessengegensätze, die niemals aufgehoben werden können. Immer werden wir damit zu rechnen haben, daß wir es mit den allerverschiedensten Wollungen zu tun haben. Diese Gemeinschaften, die das wirtschaftliche und politische Leben zu gestalten haben, werden etwas absolut Anderes sein als die religiösen und Ideen-Gemeinschaften. Darum können wir sie überhaupt nicht miteinander vergleichen. Der Staat wurde gesehen als eine Veranstaltung, die man möglichst überwinden muß: aber der Staat ist da, einen möglichst gerechten Ausgleich zwischen diesen dauernd bestehenden Interessengegensätzen zu finden. Daraus besteht das Ringen der Parteien untereinander. Nur wenn nicht eine Gruppe herrscht, wie in Moskau, nur dann kann einigermaßen eine Balance gefunden werden. S t o c k b u r g e r : Die Formen des gesellschaftlichen Lebens erwachsen nicht allein aus der Absicht der Menschen, die sie bilden. Wie die Verfassung eines Staates sich bildet aus den wirklichen Kräften und nicht nach Paragraphen. Unsere Verfassung ist sehr schön, aber sie gilt für einen Zustand des deutschen Volkes, der vielleicht vor 70 Jahren möglich war, der es heute aber nicht mehr ist. Die Parteien entstehen nicht aus dem Machtwillen eines Einzelnen, sie entstehen aus der gesellschaftlichen Gliederung eines Volkes. Der Staat ist nicht zu negieren, wenn man nicht zugleich mit ihm die Zusammensetzung des Volkes und seiner Wirtschaft negiert. Man kann nicht das Bild des gesellschaftlichen Tatbestandes negieren, wenn man das andere läßt. Alle diese Formen sind doch nicht frei zu gestalten, sondern so, wie die Kräfte, die da sind, es zulassen. Deshalb halte ich einen Versuch, nicht von der Wirklichkeit, sondern von der Idee aus einen Aufbau zu machen, für Utopie. B u b e r : Ich will das Wichtigste herausholen und klären. Ich denke so: ich beginne da, wo der Sozialismus aufhört. Er genügt mir nicht. Ich will über die sozialistischen Forderungen hinausgehen. Wichtig ist, ob es so ist, daß ich die Interessenkämpfe vernachlässige. Ich tue es nicht, ich gehe von der Wirklichkeit des Interessenkampfes aus, möchte sie nur verpflanzen auf einen anderen Boden. Ich möchte sie aus dem Boden der Abstraktheit in den der Konkretheit verpflanzen. Der heutige Parlamentarismus ist ein System der Abstraktheit, so gut wie ein Feldherr über Menschen verfügt, von denen er nichts weiß. Ich denke nicht daran, die Interessenkämpfe aus der Welt zu schaffen, sondern will sie da ausgefochten haben, wo ganz konkrete, reale Wirklichkeiten gegeben sind. Ich bestreite nicht, daß ein großes System ausgleichender Instanzen notwendig ist. Sie werden keine Machtansammlung bedeuten, die über etwas Anderes verfügen, als ihnen zu verfügen aufgetragen ist. Diese falsche Machterraffung wird unmöglich sein, Menschen werden wieder mit Menschen zu tun haben, unmittelbar, auch im politischen Leben, d. h. die Regierung wird ein Ausgleichsorgan sein, ein Ausgleichsamt und keine Machtansammlung.

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Ich sehe den Staat an als einen Pegel, der den Wasserstand anzeigt, d. h., wie weit in einem gegebenen Augenblick der Menschheitsgesichte das Zusammenleben der Menschen durch Freiwilligkeit geordnet werden kann, wie weit es noch nicht geschehen kann, wie weit Machtansammlungen notwendig sind. Mir kommt es darauf an, ob der gegenwärtige Staat dem wirklichen Wasserstand entspricht oder nicht, ob Einrichtungen fortleben, die nicht mehr nötig sind, mehr Obrigkeit vorhanden ist, als wir brauchen. Wir sollen durch dieses Experiment feststellen, wieviel Staat wir noch brauchen. Es ist so wenig theoretisch, daß ich meine, man kann es nicht einmal theoretisch widerlegen. Ich halte es für möglich, daß es halsbrecherisch ist, aber ich sage mir: es lohnt, diesen Versuch zu unternehmen. Wenn ich von irgend einer irdischen Sache überzeugt bin, dann davon, daß es im Sinne eines sehr strengen Risikos lohnt. Kein Sozialismus wird die echte Beziehung der Menschen zueinander aufbringen. Die einen werden sich der Anderen nicht mehr bedienen können: das ist aufs höchste wünschbar; die Menschen werden mehr Zeit haben. Aber das ganze Leben der Menschen muß durchwirkt sein von einer neuen Kraft des Zusammenhanges um eine Mitte. Nennen wir es nicht Religion, aber Menschen werden sich als Kreis erfahren, wenn es gelingt. Wir haben Grund, uns aufs Ernsteste damit zu befassen vor allem im Sinne einer Erziehung.

Variantenapparat: 378,4-12 Es wird immer […] Vernichtung bedeutet.] fehlt D3 378,19 sogen.] sogenannten D3 379,23 lebenden Idee.] ergänzt Der platonischen »Wächter« harrt hier eine neue Erscheinungsform. D3 379,27 erscheint] auftritt D3 379,30-32 , somit als die […] Tatsächlichkeit] fehlt D3 379,35-380,4 Darf man […] Dasein hat.] fehlt D3 381,9 Das ist ja] davor kein Absatzwechsel D3 381,34 das vom Buchenden gebucht wird,] fehlt D3 381,36 der Deutsche Reichstag] ein Parlament D3 382,7 wohl nicht mehr] nur als Residuum D3 382,12 bereit, bereit] bereitet, bereit D3 382,30-34 Ich verkenne nicht, […] vorhergehenden.] fehlt D3 382,41-383,12 Die Repräsentanz […] angedeutet werden.] fehlt D3 383,19 Ich glaube weder […] noch an […] Revolution, aber an die] Wie ich nicht […] glaube, so glaube ich nicht […] Revolution. Aber ich glaube an die D3 Wort- und Sacherläuterungen: 380,20 Faktum zu finden, daß sie eine Mitte hat.] Dieses Bild von der Mitte und den Radien findet sich seit 1923 in den Schriften Bubers

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sehr häufig. Vgl. die Einleitung in diesen Band, S. 79 und die Wortund Sacherläuterungen zu 186,24-25. 380,29-36 Den frühen Christen genügte […], Franz den Bund mit den Geschöpfen] Buber gibt hier einen Abriss der historischen Entwicklung vom »individualistischen« Anachoretentum der Spätantike über das frühmittelalterliche Mönchstum eines Benedikt von Nursia (um 480-547) bis zur wandernden bzw. missionierenden Regel des Franziskus von Assisi (1181/1182-1226). 380,31 sie gingen in die Wüste] Das christliche Anachoretentum entstand im 3. Jh. n. Chr. in der Wüste von Fayyun in Ägypten, wohin sich einzelne Christen vor den Verfolgungen der röm. Kaiser Decius und Valerianus zurückzogen. 380,36 Doch braucht eine Gemeinschaft keineswegs »gestiftet« zu werden] Dieser »naturalisierende« Gedanke der Gemeinschaft erscheint zum ersten Mal in der Schrift Der heilige Weg (vgl. in diesem Band, S. 156) und wiederholt sich dann häufig, insofern Buber behauptet, die wahre Gemeinschaft könne nicht gewollt werden. 383,19-20 Marxens »Ausbrütung« […] Bakunins Jungfernzeugung] Besonders in seinem Spätwerk legt Karl Marx nahe, der Kommunismus sei objektiv eine notwendige, aber künftige Folge der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung, weil die Tendenz zur technischen und sozialen Revolutionierung sowie zur Monopolisierung der Produktionsmittel den gesellschaftlichen Antagonismus derart anwachsen lasse, dass schließlich das Proletariat die Sozialisierung der unter dem Kapital praktisch bereits gesellschaftlich gewordenen Produktionsmittel durchführen werde. Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814-1876) sieht dagegen subjektiv die Notwendigkeit einer aktuellen, spontanen Revolution von unten vor allem gegen die Institutionen. Über Religion und Gemeinschaft Zum ersten Mal werden hier Auszüge eines interreligiösen RundfunkDreigesprächs über Religion und Gemeinschaft publiziert, das Martin Buber 1932 in der »Südwestdeutschen Rundfunkdienst AG« – besser bekannt als Radio Frankfurt – zusammen mit zwei weiteren Vertretern des Weimarer religiösen Sozialismus führte: dem evangelischen Theologen Paul Tillich (1886-1965), damals Professor für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt und dem katholischen Priester Theodor Steinbüchel (1888-1949), damals Professor für Philosophie an der Universität Gießen. Erhalten haben sich im MBA sowohl eine vorbe-

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reitende Handschrift Bubers (4 Seiten) als auch ein zweiseitiges Typoskript. Eine etwas umfangreichere Kopie dieser Dokumentation befindet sich auch im Paul-Tillich-Archiv der Universitätsbibliothek Marburg (vgl. 001 B: Original-Handschriften und -Typoskripte; 002 Rundfunkgespräch über Religion und Gemeinschaft (Martin Buber, Theodor Steinbüchel, PT), 1932, Frankfurter Rundfunk). Es ist schwierig, dieses Radiogespräch genauer zu datieren, zumindest aber existiert ein verhältnismäßig sicherer, mit der Geschichte des Frankfurter Rundfunks selbst gegebener terminus ante quem. Radio Frankfurt wurde am 7. Dezember 1923 gegründet und war geprägt von einer freien, modernen und einfallsreichen Programmgestaltung (vgl. August Soppe, Rundfunk in Frankfurt am Main 1923-1926: Zur Organisations-, Programm- und Rezeptionsgeschichte eines neuen Mediums, München 1993, bes. S. 267 ff.). Zum kulturellen Sendeprogramm gehörten u. a. auch Vorträge, Hörspiele, Literatur- und Theaterbesprechungen, Lektüre, Gespräche, sowie Unterrichtsstunden zur allgemeinen Volksbildung.). Am 4. August 1932 teilte die Deutsche Reichspost allerdings jeder deutschen Rundfunkanstalt, darunter auch dem Südwestdeutschen Rundfunk A.G., offiziell mit, sie hätte »die Ihnen unter dem 4. März 1926 erteilte Genehmigung zur Benutzung einer Funksendeanlage der Deutschen Reichspost für die Zwecke des Rundfunks zum 30. September [1932]« zurückgezogen. Die Frankfurter Rundfunkgesellschaft wurde also bald liquidiert. »Mit der sogenannten Rundfunkreform des Jahres 1932 wurde der deutsche Rundfunk endgültig verstaatlicht. […] So endete die Rundfunkfreiheit, noch bevor die Nazis an die Macht kamen.« (Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Radio Frankfurt, in ders., Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren, S. 79-94, hier S. 93 f.) Es ist also plausibel anzunehmen, dass das Rundfunk-Dreigespräch zwischen Buber, Tillich und Steinbüchel vor dem 30. September 1932 stattfand. Die Gesprächsteilnehmer sind ausnahmslos Vertreter des deutschen religiösen Sozialismus der Weimarer Zeit. Paul Tillich und sein Berliner Kreis waren Buber schon seit Oktober 1923 wohl bekannt. Damals nahm Buber zum ersten Mal an einer Tagung der religiösen Sozialisten in Kassel teil (vgl. den Einzelkommentar zu »Drei Sätze eines religiösen Sozialismus«, in diesem Band, S. 531 ff.), was sich auch noch ein zweites Mal in der Pfingstwoche 1928 wiederholte, als sich beide bei einer weiteren Tagung der religiösen Sozialisten in Heppenheim trafen (vgl. den Einzelkommentar zu »Sozialismus aus dem Glauben«, in diesem Band, S. 599 ff.). Der Kölner Theologe Theodor Steinbüchel vertrat damals den weniger

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verbreiteten katholischen Sozialismus – der »ein katholisch entschärfter Sozialismus« war, in dem »es keinen Klassenkampf und keine Enteignung des Privateigentums zu geben bräuchte« (vgl. Thomas Ruster, Die verlorene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik, S. 140). Nach dem Studium der Philosophie, katholischen Theologie und Nationalökonomie in Bonn und Straßburg promovierte er 1911 in Philosophie mit einer Dissertation über den Zweckgedanken in der Philosophie des Thomas von Aquin. 1913 erhielt er die Priesterweihe in Köln und promovierte 1920 in Theologie mit einer Arbeit über den Sozialismus und seine Beziehungen zur christlichen Ethik. Er habilitierte sich 1922 in Theologie mit einer Dissertation über die christliche Wirtschaftsethik. Thomas von Aquin, Immanuel Kant und Karl Marx stellten seine intellektuellen Bezugspunkte dar, wie aus seinem Hauptwerk der 1920er Jahre zu erahnen ist (vgl. Theodor Steinbüchel, Der Sozialismus als sittliche Idee. Ein Beitrag zur christlichen Sozialethik, Düsseldorf 1921). Von 1926 an wurde er zum Professor für Philosophie in Gießen ernannt, 1935-1939 war er Professor für Moraltheologie in München (bis zur Schließung der Katholisch-theologischen Fakultät durch die Nationalsozialisten), dann ab 1941 nach Tübingen berufen, wo er 1946-1948 dank seiner offenen Opposition zum Nationalsozialismus Rektor wurde (zur Gestalt Steinbüchels vgl. Andreas Lienkamp, Artikel »Steinbüchel, Theodor«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 7, hrsg. von Hans Dieter Betz u. a., 4. Aufl., Tübingen 2004, Sp. 1701-1702). Textzeugen: H: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 40 f); 4 lose Blätter; einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit Korrekturen versehen. 3 der Blätter sind paginiert und enthalten Bubers Beitrag. Ein weiteres Blatt enthält einleitende Bemerkungen Bubers sowie eine vorformulierte Moderation, die im Anschluss abgedruckt werden. TS: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 40 f); 4 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben; ohne Korrekturen. Druckvorlage: TS Abdruck des zusätzlichen Textes in H: Wir sind zusammengekommen, m. H., um uns in der Öffentlichkeit über das Verhältnis der Religion zur Gemeinschaft zu unterreden. Für mache [orientalische]

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! andere Glaubenslehre mag dieses Verhältnis h– wirklich oder scheinbar –i keine entscheidende Bedeutung haben; für die Religiosität, die das Glaubensleben des Abendlands aufgebaut hat und die sich in den von uns dreien vertretenen Bekenntnissen mit einem sehr grossen Teil ihres Wesens darstellt, ist es g r u n d l e g e n d e r Bestand [, als Sorge, als Teilnahme, als Hoffnung]. Die Gemeinschaft als Frage und Forderung ist der Religion in dreifacher Gestalt [gegeben] ! gegenwärtig: im Verband ihrer eigenen Gläubigen, in der Allgemeinheit, in die sie eingefügt ist, und in der Verheissung einer wahrhaften [Menschengemeinschaft] ! Menschheit, um die sie betet und ringt. Was meinen Sie, Herr Tillich: womit wollen wir beginnen? / * / Sie haben uns, Herr Steinbüchel, von der Gemeinschaftswirklichkeit in der Kirche und von ihrer Gemeinschaftssorge gesagt. Aber das Problem, das uns hier zusammengeführt hat, greift über die Grenzen der Konfession hinaus; es gilt für die Religion, sich auch d e n Gemeinschaftsgebilden zu stellen, die nicht unter i h r e m Gesetz, aber ja doch auch nicht hinter Gottes Rücken [entstanden] ! geworden sind, denen des Staates und der Gesellschaft. Vielleicht wollen Sie, Herr Tillich, von der protestantischen Gesinnung aus dazu Stellung nehmen.

Variantenapparat: 384,7 Bereich] Bereich [des Lebens] H 384,11 umfassender] [mächtiger]! umfassender H 384,14 kann] [darf] ! kann H 384,16 Substanz] [Seele] ! Substanz H 384,20-21 privaten und öffentlichen] hprivaten und öffentlicheni H 384,27 werdende] hervorgehoben H 384,28-31 In beiden haben […] zu dienen.] fehlt H 384,31-32 Menschenwelt] [Welt] ! Menschenwelt H 384,37 ein Absterben] [Verzicht auf] ! ein Absterben H 385,13 Konfessionen] [Religionen] ! Konfessionen H 385,15 namenlosen] hervorgehoben H Wort- und Sacherläuterungen: 385,34 Die Kirche ist communio sanctorium] Die theologische Bezeichnung der Kirche als »Gemeinschaft der Heiligen« (lat. communio sanctorum) verweist auf die spirituelle Verbindung aller sowohl der noch lebenden als auch der schon verstorbenen Getauften als Glieder der als Leib Christi mystisch verstandenen Kirche. Zum ersten Mal ist diese Formulierung im 4. Jh. belegt, dann wurde sie in das Apostolikum im 5. Jh. aufgenommen (Credo in Spiritum Sanctum, sanctam Ecclesiam catholicam, Sanctorum communionem, remissionem peccatorum, carnis resurrectionem, vitam aeternam). Sie wurde wahrscheinlich erst nach dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 entwickelt, dessen Bekenntnis diesen Ausdruck noch nicht enthält.

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386,18-19 Der dämonische Sinn der Klassenspaltung wird offenbar] Der Begriff des Dämonischen spielt in der Theologie und Geschichtsphilosophie Tillichs während der Mitte der 1920er Jahre eine entscheidende Rolle und deutet auf eine endliche Größe hin, die sich auf verschiedenen Ebenen – in der Geschichte sowie im Einzelnen – als absoluter und unendlicher Wert darstellt und durchsetzen will. Vgl. z. B. die im Verlag Mohr erschienene Abhandlung von Paul Tillich, Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte, Tübingen 1926. Arbeitsglaube Dieser kurze Text erschien zuerst am 24. März 1929 auf Hebräisch in der Palästina-Ausgabe der Zeitschrift Hapoel Hazair (vgl. Martin Buber, Emunath haʿ avodah Ha-poʿ el Ha-tzaʿ jir, H. 22/23, Tel Aviv, 24. März 1929). Etwas später nahm Buber die deutsche Fassung dieser Schrift in die vom Schocken Verlag veröffentlichte Sammlung Kampf um Israel auf und ergänzte sie um eine einleitende Anmerkung: »In dem zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum der zweiten Alija herausgegebenen Sonderheft des ›Hapoel Hazair‹ erschienen.« (Martin Buber, Arbeitsglaube, in: ders., Kampf um Israel. Reden und Schriften (1921-1932), Berlin 1933, S. 281-282, hier S. 281.) Was die Datierung dieser deutschen Ausgabe angeht, gibt Buber an, dass diese Sammlung, die ursprünglich Dienst an Israel heißen sollte (vgl. B II, S. 449, Anm. 2), schon im Herbst 1932, und zwar zwischen Ende Oktober und Ende November fertiggestellt war. So schrieb Buber am 23. Oktober 1932 an Hermann Gerson: »Der Judaica-Band – den ich in ›Kampf um Israel‹ umgenannt habe – ist bis auf ein paar Kleinigkeiten, die ich noch ausarbeiten muß […], ausgesetzt; ich denke noch in diesem Monat mit dem Umbruch zu beginnen. […] Das Buch ist übrigens ein starker Band geworden, von mehr als 400 Seiten.« (B II, S. 449.) Aus dem Brief Bubers an Ernst Simon vom 26. November 1932 geht hervor, dass die Sammlung schon im Druck war (B II, S. 450: »Ich habe meinem neuen JudaicaBuch ›Kampf um Israel‹ (Reden und Schriften 1921-1932), das Ihnen im nächsten Monat zugehen wird …«). Dezember 1932 gilt daher als Zeitpunkt des Erstdrucks der deutschen Fassung. Durch diese Schrift, welche unter ähnlichen Rahmenbedingungen konzipiert wurde wie die Rede »Warum muß der Aufbau Palästinas ein sozialistischer sein?« vom Ende Dezember 1929 (jetzt in diesem Band, S. 324-332 sowie der Einzelkommentar, S. 585-587), wollte sich Buber an der Gedenkfeier zum 25. Jahrestag des Beginns der sogenannten

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»zweiten Alija« (»Aufstieg« im Sinne der Rückkehr der exilierten Juden nach Eretz Israel), d. h. der zweiten Einwanderungswelle von 1904 bis 1914 nach Palästina, beteiligen. Üblicherweise wird die neuzeitliche, durch Pogrome oder ähnliche Verfolgungen ausgelöste Emigration nach Palästina in mehrere Phasen gegliedert. Bis 1929, d. h. zur Zeit der Abfassung dieser Schrift Bubers, hatten sich bereits vier Alijot ereignet, die fast ausschließlich von Menschen aus dem osteuropäischen Raum ausgingen, während nur eine verschwindend kleine Minderheit westeuropäischer Juden vor 1933 ihre Heimat verließ – aus Deutschland z. B. allein wenige Hundert. Traumziel der Emigration blieb bis 1933 immer noch Amerika. Die erste Alija umfasste 20-30.000 Einwanderer, die von 1882 bis 1903, als Palästina noch in den Herrschaftsbereich des Osmanischen Reichs fiel, die ersten 28 ländlichen Siedlungen gründeten. In den Jahren 19041914 kamen dann weitere 35-40.000 Menschen nach Palästina. Diese zweite Alija war vom sozialistischen Pioniergeist sowie von der »Religion der Arbeit« geprägt, was zum Aufbau der ersten sozialistischen Parteien Israels wie Poalei Tzion und Hapoel Hazair führte. Ihr ist die Errichtung der strukturellen sozialen Voraussetzungen zur künftigen Staatsgründung Israels zu verdanken. Nach dem Ersten Weltkrieg, und zwar in den Jahren 1919-1923 brach die dritte Welle auf, in der die Organisationen der Jugendbewegung eine entscheidende Rolle spielten, besonders in Bezug auf die Gründung der Kibbuzim-Bewegung. Im Jahre 1929, d. h. in der Zeit als Buber diese Schrift verfasste, war noch die vierte, massenhafte Alija im vollen Gang (1924-1931). Vor allem im Raum Osteuropas griff mit der Gründung der im Gefolge des Ersten Weltkriegs und dem Zerfall der Habsburger Monarchie neu entstandenen, ethnisch orientierten Nationalstaaten ein aggressiver Antisemitismus um sich, der zehntausende Juden zur Flucht zwang. Da die Vereinigten Staaten 1924 beschlossen, ihre Grenzen für die meist osteuropäische Emigration zu sperren, und da der Völkerbund 1923 die völkerrechtliche Legitimität der Einwanderung nach Palästina absicherte, indem er die Teilung Palästinas anerkannte, emigrierten 80.000 Menschen aus Polen und Russland nach Eretz Israel (zur Geschichte der modernen Alija vor allem aus dem osteuropäischen Raum vgl. z. B. Lothar Mertens, Alija. Die Emigration der sowjetischen Juden, Bochum 1993; zur ersten Phase der zionistischen Politik in Deutschland vgl. Yehuda Eloni, Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914, Gerlingen 1987). Textzeuge: D: Kampf um Israel. Reden und Schriften 1921-1932, Berlin: Schocken 1933, S. 281-282 (MBB 459).

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Einzelkommentare

Druckvorlage: D Übersetzungen: Hebräisch: Emunat ha-avoda, Ha-poʿ el ha-tzaʿ ir, 22. Jg., Nr. 22-23 vom 24. März 1929 (MBB 410). Wort- und Sacherläuterungen: 387,13-14 »Im Schweiß deines Angesichts«] Vgl. Gen 3,19. 387,19-22 Ahron David Gordon […] »Adam« mit der »Adama« vermählt.] Aharon David Gordon (1856-1922), jüdischer Philosoph russischer Herkunft und führende Gestalt des Frühzionismus. 1904 emigrierte er nach Palästina wo er im Kibbuz Degania starb. Auf Hebräisch haben adam »Adam, Mensch« und adama »Erde« dieselbe Wurzel. Israel und die Völker Unter dem Titel »Die religiösen und geistigen Grundlagen einer völkischen Bewegung« fand die sechste und allerletzte jährliche Arbeitswoche des Köngener Bundes vom Montag den 2. bis zum Samstag den 7. Januar 1933 in der Jugendherberge von Kassel, – diesmal also nicht mehr wie zuvor üblich auf der Comburg bei Schwäbisch Hall – statt (vgl. den Einzelkommentar zu »Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee«, in diesem Band, S. 623-632, bes. 627). Am Freitag den 6. Januar hielt Buber auf dieser Tagung ein Referat unter dem Titel »Israel und die Völker«, das wie »Religion und Politik [Vortrag]« (jetzt in diesem Band, S. 364-377 sowie der Einzelkommentar, S. 621-623) inhaltlich eng mit seinem 1932 erschienenen Buch Königtum Gottes zusammenhängt (vgl. dazu MBW15, S. 93-276). Als 24-seitiges Typoskript hat sich der Text dieser Rede zusammen mit dem Text der darauf folgenden Aussprache im MBA erhalten (vgl. Arc. Ms. Var. 350 53-S). Direkt unter der maschinenschriftlichen Überschrift »Martin Buber, Israel und die Völker« befindet sich eine handschriftliche Ergänzung Bubers, die »Referat auf der Tagung des Köngener Bundes vom Ende Dezember 1932« lautet. Wegen des offenkundigen Datierungsfehlers im Titelzusatz ist zu vermuten, dass diese Ergänzung sehr viel später hinzugefügt wurde – vielleicht 1940/1941, als Buber einen Text mit dem gleichen Titel »Israel und die Völker« verfasste, der anfänglich eine inhaltlich und sprachlich revidierte Version dieses bis dahin unpubliziert gebliebenen Vortrags darstellen sollte (vgl. Martin Buber,

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Israel und die Völker, jetzt in: MBW 20, S. 131-143). Da sich Buber 1940/ 1941 wahrscheinlich besann, dass eine so tiefe Revision seines eigenen Textes damals zu schwer bzw. unmöglich gewesen wäre, gab er die alte Fassung auf und verfasste eine inhaltlich ähnlich gestaltete neue, ohne allerdings den Titel zu ändern. In der Tat weisen die vier einleitenden Absätze des bestehenden Textes sehr starke handschriftlichen Korrekturen bzw. Überarbeitungen durch Buber selbst auf. Eine kritische Edition dieses Textes samt der anschließenden Aussprache, der Erklärung seiner Entstehungs- und Redaktionsgeschichte und bisher unbekannter Briefwechsel sowie anderer Archivmaterialien wurde bisher allein in italienischer Übersetzung veröffentlicht (vgl. Martin Buber, Israele e i popoli. Per una teologia politica ebraica, hrsg. von Stefano Franchini, Brescia 2015, S. 71-89 und S. 111-191). Anders als nach der Teilnahme Bubers an der Tagung des Köngener Bundes im Januar 1931, weigerte sich Buber im Frühjahr 1933, sein Referat in der Zeitschrift Kommende Gemeinde von Jakob Wilhelm Hauer erscheinen zu lassen, wohl weil sich Hauer inzwischen offen für den Nationalsozialismus erklärt hatte. Auch in die Textsammlung Die Stunde und die Erkenntnis von Frühjahr 1936 nahm Buber seine Rede nicht auf, obwohl er auf sie verweist. Den Grund dafür hatte der Autor selbst in seinem Vorwort erklärt: »Von dem aus ihm [dem Anhang des Buches] weggebliebenen Material sei hier nur der Vortrag ›Israel und die Völker‹ erwähnt, der um die Jahreswende 1932/1933 in der von J. W. Hauer geleiteten Köngener Arbeitswoche über den Aufbau des völkischen Staates gehalten wurde; er hätte seinem Wesen nach den Rahmen dieses Buches überschritten.« (vgl. Martin Buber, Vorwort, in: ders., Die Stunde und die Erkenntnis. Reden und Aufsätze 1933-1935, Berlin 1936, S. 8-9; jetzt in: MBW 20, S. 111-112, hier S. 112). Am 2. Februar 1931, d. h. nur wenige Wochen nach der Comburger Arbeitswoche im Januar 1931, bei der der Antisemitismus plötzlich aufflammte (zur Auseinandersetzung zwischen dem Nationalsozialisten Hans Dannemann und Martin Buber vgl. den Einzelkommentar zu »Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee«, in diesem Band, S. 628 ff.), schrieb Hauer an Buber, um diesen um die Erlaubnis zu bitten, das Vortragsmanuskript Bubers in seiner Zeitschrift zu publizieren und ihn zur nächsten Tagung des Köngener Bundes einzuladen, bei der eine Konfrontation mit dem Nationalsozialismus ohne die Präsenz der Kommunisten geplant war: »Ich möchte Ihnen nocheinmal von Herzen danken, daß Sie trotz Ihrer vielen Arbeit zu uns gekommen sind. Ich habe mich mit dem Grunde, aus dem heraus Sie

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reden, wieder so verbunden gefühlt, daß alle die Gegensätze, die ich dann wieder im Einzelnen empfinde, nur dazu dienen, die schöpferische Spannung zu erhöhen. Ich hoffe bestimmt, daß Sie auch auf die nächste Arbeitswoche kommen und möchte Sie jetzt schon um einen Vortrag bitten etwa mit dem Thema ›Die Stellung des Judentums zu den Nationen‹ oder ähnlich. Ich glaube, ich kann dafür garantieren, daß eine Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten so verläuft, daß das Problem klarer wird als es bei den Nationalsozialisten heute ist. Es kommt sozusagen auf eine immanente Kritik des Nationalsozialismus vom Geistigen und Religiösen her an. Wir wollen nicht ihre [sc. der Nationalsozialisten] politischen Gegner einladen, damit können wir uns jetzt nicht belasten.« (Vgl. Brief Hauers an Buber vom 2. Februar 1931 im Bundesarchiv, Nachlass J. W. Hauer, Ordner 13, S. 32; hier zitiert nach Dierks, Jakob Wilhelm Hauer 1881-1962. Leben – Werk – Wirkung, Heidelberg 1986, S. 201.)

In einem Brief an Buber vom 25. Februar nimmt Hauer dann das Hauptziel der Tagung vorweg: »Auf alle Fälle rechne ich auf Ihr Dasein, denn ich verspreche mir davon sehr viel. Wir müssen einen unbedingt kompetenten und einen festgegründeten Mann haben, denn es wird sich wahrscheinlich um eine sehr tiefgehende Auseinandersetzung handeln. Ich hoffe aber, daß wir es schaffen und daß wir den Nationalsozialisten, die ich als Redner einladen will, mindestens eine Fragestellung mitgeben, die sie nicht mehr vergessen. Wir müssen ja auch dem neuen Aufbruch des Völkischen im deutschen Volke ganz ernst eine Wirklichkeit nehmen, denn nur so kommen wir vorwärts. Wenn Sie Freunde mitbringen, freue ich mich sehr. Ich hätte allerdings, offen gestanden, doch gern jene jung-jüdische Gruppe eingeladen [wahrscheinlich der Kreis um Hans-Joachim Schoeps], die offenbar eine besondere Art der Lösung der Judenfrage ins Auge gefaßt hat. Glauben Sie nicht, daß das zur Lösung der Judenfrage doch etwas beitragen würde? Ich kann es natürlich nicht genügend beurteilen, da ich die Leute kaum kenne. Ich weiß nicht, ob wir an diesen Gegensätzen innerhalb des Judentums vorbeigehen können, denn wir werden innerhalb des Christentums eine ganz ähnliche Lage haben. Da wir uns vornehmlich mit den weltanschaulichen Grundlagen des Nationalsozialismus auseinandersetzen wollen, kann es nicht ausbleiben, daß wir uns auch mit dem Katholizismus und Protestantismus, ebenso mit der germanisch-nordischen Bewegung befassen. Und hier treten natürlich sofort die schwersten Gegensätze auf. Es ist aber immer meine Erfahrung gewesen, daß wir am besten taten, wenn wir diese Gegensätze in ihrer vollen Wirklichkeit nahmen und trotz ihrer dann versuchten, einen gemeinsamen Grund zu finden. Sonst hängt ja doch die Auseinandersetzung z. T. in der Luft. Und wenn wir hinausgehen ins Leben, so treffen wir eine völlig andere Lage als die, die wir uns auf der Tagung geschaffen hatten. Ich möchte Sie herzlich bitten, sich diese Frage noch einmal zu überlegen, ehe wir uns entschließen.« (Vgl. Brief Hauers an Buber vom 5. Februar 1931 in Bundesarchiv, Nachlass J. W. Hauer, Ordner 13, S. 28 f.; hier zitiert nach Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 201 f.)

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Buber antwortet auf Hauers Ausführungen mit einer Zusage: »Auf die nächste Arbeitswoche komme ich gern und hoffe dann länger als diesmal verweilen zu können. Das Thema ist mir recht.« (Zum Brief Bubers an Hauer vom 5. Februar 1931, vgl. Bundesarchiv, Nachlass J. W. Hauer, Ordner 13, S. 30; hier zitiert nach Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 201.) Da die Tagung im Januar 1932 aufgrund der sich verschärfenden Wirtschaftskrise in Deutschland nicht abgehalten werden konnte und um ein Jahr verschoben wurde, schrieb Wilhelm Hauer erst am 30. September 1932 wegen der nächsten Tagung wieder an Buber: »Vom 2.-7. Januar wird unsere Comburger Arbeitswoche stattfinden und zwar diesmal in Kassel. Das Hauptthema ist ›Die geistigen und religiösen Grundlagen einer völkischen Bewegung‹. Wir wollen versuchen, in diesem Zusammenhang auch die auf der letzten Arbeitswoche angefangene Auseinandersetzung über die Judenfrage zu vertiefen und weiterzuführen. Eben habe ich die Zusage von Professor Krieck, einem Nationalsozialisten, erhalten, daß er kommen werde und daß er nicht, wie die andern Nationalsozialisten sich weigern würde, sich mit Ihnen auseinanderzusetzen. Ich möchte Sie deshalb herzlich bitten, diesmal auf unsere Tagung zu kommen und zu sprechen über die Judenfrage im Zusammenhang mit der völkischen Bewegung und dem völkisch-staatlichen Aufbau.« (Vgl. Brief Hauers an Buber vom 30. September 1932 in: B II, S. 447.)

Im Jahre 1932 vollzog sich in der theologisch-politischen Stellung Hauers eine entscheidende Wendung hin zu einer völkischen bzw. indogermanischen »Blutreligion«, die zugleich eine Preisgabe des Christentums darstellte. Diese ideologische Zäsur konnte Buber, der die Zeitschrift des Köngener Bundes regelmäßig las, freilich nicht unbemerkt bleiben (vgl. z. B. Jakob Wilhelm Hauer, Die völkisch-religiöse Bewegung und das Christentum, Kommende Gemeinde, Jg. 4, H. 1/2, April 1932, S. 8-34). Ernst Krieck (1882-1947), damals Professor für Erziehungswissenschaft und deshalb Kollege Bubers an der Universität Frankfurt, war diesem wohl seit Jahren bekannt. Aus einer durch Werner Kraft überlieferten Anekdote kann man allerdings erahnen, in welchem Sinne Krieck bereit war, sich mit Buber auseinanderzusetzen: »Buber erzählte, daß er bis 1933 an der Frankfurter Universität der Kollege eines Pädagogen namens Krieck war. Dieser wird Nationalsozialist und schreibt in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift einen Aufsatz über den ›Judengott‹. Buber bietet durch einen Dritten eine Berichtigung an, die nur das sachlich Unrichtige klarstellen will. Krieck antwortete diesem Dritten, er habe ja vor Buber allen Respekt, aber er sei doch zu naiv, er wisse gar nicht, daß dies eine politische Zeitschrift sei.« (Vgl. Werner Kraft, Gespräche mit Martin Buber, S. 23.) Nach der Machtergreifung wurde Krieck außerdem der erster Rektor der Universität Frankfurt am Main

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unter der Nazi-Diktatur und ließ als solcher am 26. April 1933, d. h. kurz nach der Tagung des Köngener Bundes in Kassel, allen Lehrkräften, darunter auch dem jüdischen Kollegen Buber, den offiziellen Brief zukommen, in dem er alle Dozenten aufforderte, an der Bücherverbrennung teilzunehmen. Unter den von Hauer erwähnten »anderen Nationalsozialisten«, die sich geweigert hatten, sich mit »einem Juden« auseinanderzusetzen, ist besonders Christian Mergenthaler (1884-1980) zu nennen, der wenig später Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg werden sollte. Alfred Rosenberg wurde ebenso zur Tagung eingeladen, beantwortete die Einladung aber nicht (vgl. dazu Horst Junginger, Die Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« im Nationalsozialismus, Darmstadt 2011, S. 108). Trotz seiner anfänglichen Zusage im Frühjahr 1931 erteilte Buber der erneuten Einladung Hauers eine eindeutige Absage streng politischer Natur: »So wie Sie es wünschen, ›im Zusammenhang mit dem völkisch-staatlichen Aufbau‹, kann ich über die Judenfrage nicht referieren. Das hieße ja, daß ich einem solchen Aufbau grundsätzlich zustimme und von da aus Thesen und Vorschläge für die Behandlung der Judenfrage in seinem Rahmen formuliere. Ich halte aber, so wichtig mir das Volkstum ist, den Gedanken des völkischen Staates für problematisch und seine heute übliche Verabsolutierung für den geraden Weg zur kommenden Katastrophe. Anderseits würde ich mich jedoch keineswegs befugt fühlen, bei einer Tagung wie die von Ihnen gekennzeichnete diese meine allgemeinen Bedenken darzulegen. Wozu ich mich seinerzeit bereit erklärt habe, war etwas anderes: da Texte ›zitiert‹ worden waren, die keine sind, habe ich mich Ihnen auf Ihr Ersuchen zur Verfügung gestellt für eine zuverlässige Erörterung der Frage, was das Judentum lehre und was nicht. Darauf bezogen sich auch, wie Sie sich erinnern werden, meine Bedingungen: vorherige Angabe der heranzuziehenden Texte usw. Ich habe mich bereit erklärt, auf dieser Grundlage mich auch mit Nationalsozialisten zu unterreden. Wozu Sie mich jetzt auffordern, ist etwas anderes; es schließt die Annahme einer anderen, nicht mehr neutralen (im guten Sinn), sondern tendenzhaft bestimmten Grundlage ein, die aber nicht die meine sein kann.« (Brief Bubers an Hauer vom 4. Oktober 1932 in: B II, S. 448.)

In den nächsten Tagen versuchte Hauer wiederholt den widerstrebenden Buber zu gewinnen, indem er ihm am 13. Oktober 1932 versichernd schrieb, dass Buber alle Texte die ggf. zitiert würden, rechtzeitig erhalten würde (vgl. Brief Hauers an Buber vom 13. Oktober 1932 in Bundesarchiv, Nachlass J. W. Hauer, Ordner 13, S. 43; vgl. auch Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 203). Buber gegenüber gab Hauer am 18. Oktober 1932 noch einmal weitere Versicherungen über den ordentlichen Ver-

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lauf der Tagung und sprach vom deutschen Staat, als ob die politische Wende bevorstehend und unumgänglich wäre: »Allerdings hatte ich das für die nächste Tagung so gemeint, daß Sie etwas Wesentliches zur Lösung der Judenfrage in der Neuorganisation des deutschen Staates sagen könnten. Denn mich treibt die Frage sehr um. Wenn Sie, wie Sie sagen, dazu keine Vorschläge zu machen haben, so halte ich es doch für wichtig, daß Sie da wären, um zur Judenfrage von Ihrer religiösen Haltung aus Stellung zu nehmen, die ja sowohl das deutsche Volk wie das Judentum betrifft. Der Eindruck, daß es sich hier um eine völkische Veranstaltung handelt, ist nicht richtig. Der Grundcharakter der Comburger Woche hat sich nicht geändert. Es sind nur die völkischen Fragen mehr in den Mittelpunkt getreten, und es ist vielleicht etwas mehr Neigung innerhalb unseres Kreises, sich von völkischen Gedanken bestimmen zu lassen. Die Tatsache, daß sowohl Gertrud Bäumer wie Nikolaus Ehlen, ebenso Frau Professor Krukenberg, eine Quäkerin, auf der Tagung sprechen werden, zeigt ja zur Genüge, daß wir uns in keiner Weise einseitig festgelegt haben. Ich glaube, Sie müssen unsere Schwierigkeit doch einigermaßen begreifen. Für uns ist die Judenfrage eine Frage, denn daß z. B. unser Theater und unsere Literatur oft in einer sehr unguten Weise gerade auch von jüdischer Seite beeinflußt worden ist, darüber ist wohl keine Frage. Oder geben Sie mir darin nicht recht? Und da wäre es mir nun darauf angekommen, von einem Mann jüdischen Glaubens, der aus dem Zentrum lebt, das gesagt zu bekommen, was hier gesagt werden muß. […] Es liegt mir fern, Sie irgendwie bestimmen zu wollen. Aber ich wäre für Ihre Mithilfe doch sehr dankbar.« (Brief Hauers an Buber vom 18. Oktober 1932 in Bundesarchiv, Nachlass J. W. Hauer, Ordner 13, S. 15; vgl. auch Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 203.)

Die Worte Hauers scheinen Buber überzeugt zu haben, denn dieser antwortete zwei Tage später wie folgt: »Ihre Mitteilung genügt mir. Ich bin also gern bereit, in der von Ihnen vorgeschlagenen Form an der Tagung teilzunehmen. Es ist mir noch in den Sinn gekommen, daß ich nicht über die Judenfrage im Zusammenhang eines völkischen Staatsbaus, aber – wenn es Ihnen erwünscht sein sollte – über die Gemeinschaftsidee des Judentums oder auch über Israel und die Völker referieren könnte; ich weiß freilich nicht, ob ein Thema dieser Art in den Rahmen der Tagung paßt.« (Brief Bubers an Hauer vom 20. Oktober 1932 in Bundesarchiv, Nachlass J. W. Hauer, Ordner 13, S. 14; vgl. auch Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 203.)

Zwischen Oktober und Dezember 1932 begann Buber mit einer intensiven Lektüre zum Problem des Staates und zur politischen Theologie der Gegenwart, wie aus mehreren Briefen aus jener Zeit ersichtlich ist (vgl. z. B. Brief Bubers an Hermann Gerson vom 23. Oktober 1932, an Ernst Simon vom 26. November und 2. Dezember 1932, B II, S. 450 und S. 452; die betreffenden Briefstellen werden zitiert im Einzelkommentar zu »Die Ethik der politischen Entscheidung«, in diesem Band, S. 678).

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Die Tagungsreferate sowie die betreffenden Aussprachen wurden in drei Hauptgruppen gegliedert: 1) Grundlegendes zur geistigen Wirklichkeit der Deutschen; 2) Die metaphysischen Grundlagen der Wirklichkeit; 3) Die Anwendung auf die Gestaltung von Volkstum und Staat. Buber sprach im dritten Teil der Arbeitswoche. In der Reihenfolge referierten der nationalsozialistische Schriftsteller Georg Stammler (1872-1948) (»Deutschtum als geistige Forderung«), der Neonationalist Friedrich Hielscher (»Das Reich als dauernde Wirklichkeit und als geschichtliche Aufgabe«), Ernst Krieck (1882-1947) (»Völkische Bildung«), Gertrud Bäumer (1873-1954), Vertreterin der konservativen Frauenbewegung und Abgeordnete der Deutschen Demokratischen Partei im Reichstag (»Führeridee und Führerwirklichkeit im Aufbau des Reiches«), der Katholik Nikolaus Ehlen (1886-1965) (»Philosophie der Erde«), der nationalsozialistische Philosoph und Rosenbergs enger Mitarbeiter Paul Krannhals (1883-1934) (»Das organische Weltbild«), Elsbeth Kruckenberg-Konce, sozialdemokratische und feministische Schriftstellerin sowie Vertreterin der Quäker, die sich aber bald zum Nationalsozialismus bekannte, und Martin Buber (»Israel und die Völker«). Die Tagung wurde mit der Rede Wilhelm Hauers (»Des Reiches Mitte. Das Religiöse in der Gestaltung von Volk und Staat«) zusammengefasst und abgeschlossen (vgl. die Chronik der Tagung in Hermann Buddensieg, Die religiösen und geistigen Grundlagen einer völkischen Bewegung. Zur Kasseler Tagung des Freien Dienstes, Kommende Gemeinde, Jg. 5, H. 2/3: »Vom geistigen und religiösen Durchbruch der Deutschen Revolution«, Juli 1933, S. 91-122; in diesem Heft wurden auch alle Hauptreferate abgedruckt, bis auf den Text Bubers; dazu vgl. ferner Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 204 ff.). Der Referatstitel Hauers beruft sich offenbar auf den Begriff der »Mitte«, der damals für Buber von zentraler Bedeutung war (vgl. den Einzelkommentar zu »Erinnerung an einen Tod«, in diesem Band S. 582). Am Mittwoch den 4. Januar, d. h. mitten im Tagungsverlauf, schrieb Buber einen Brief an seine Frau Paula und teilte ihr dadurch wichtige Eindrücke von der Stimmung mit, die in der Arbeitswoche herrschte und in der er am Tag darauf vortragen sollte: »Der heutige Tag war matter. Was mich an der Tagung zwar nicht erregt, aber doch negativ affiziert hat, ist die Macht der Vorstellung eines ›totalen Staates‹ – dem also nicht bloß die Wirtschaft, sondern auch Recht, Wissenschaft, Religion unterworfen sind – über die Gemüter. Sätze wie ›Der Richter ist nicht unabhängig, sondern Werkzeug des Staates‹ oder ›Das sichtbare Reich als Kirche (d. h. der Staat) hat die Künste unter sich‹ werden mit Gelassenheit, wie eine selbstverständliche Konsequenz, hingenommen. Es war insbesondere bei Hauer bemerkenswert, wie er

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zugleich sein eigenes Freiheitsbedürfnis bekannte und die Notwendigkeit des Kommens einer Zwangsordnung erklärte, wie er das Fazit zog, alle seien sich, wiewohl ›aus verschiedenen Seelenräumen‹ in der Wesentlichkeit des ›Gehorsam‹ einig, – als ob nicht alles darauf ankäme, wem man gehorcht. Es hatte etwas Trostloses, den gescheiten und offenbar auch innerlich lebendigen Krieck die Hitler-Gefolgschaft ansagen zu hören. Ich habe mich heute an der Aussprache gar nicht beteiligt. Erfrischend war eigentlich nur Ehlen; aber seine Sprechweise ist bei aller Stärke doch zu mild, so daß er nicht genug zur Geltung kommt. / Morgen [5. Januar 1933] kommt mein Vortrag dran. Es kann sein, daß die Aussprache erst am Freitag mittags endet und Hauer erst nachmittags spricht; dann würde ich erst mit dem letzten Zug kommen – und natürlich vorher telegraphieren.« (B II, S. 457.)

Bis zum 4. Januar meinte also Buber, seinen Vortrag am Donnerstag den 5. Januar halten zu müssen. Am selben Tag erhielt aber Buber, offenbar nachdem er seine Frau schon benachrichtig hatte, die schriftliche Mitteilung Hauers, dass die Planung der Tagung in der letzten Minute etwas abgeändert wurde. »Wir haben eben in unserem Arbeitskreis die Frage besprochen, wann wir Ihren Vortrag ansetzen sollen, damit genügend Zeit bleibt zur Aussprache und für die Texte, die Sie zu dem Vortrag noch bieten wollen. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die beste Zeit dafür der Freitagmorgen ist und haben unser Programm entsprechend geändert. Wir wollen um 1/2 9 anfangen, so dass um 9 spätestens der Vortrag beginnen kann. Es bleibt uns dann Zeit bis zum Mittagessen, das ist 1/4 vor 1 Uhr, also fast 4 Stunden. Ich schlage vor, dass Sie zunächst Ihren Vortrag halten, von 9 – 1/2 11 Uhr, dass wir dann nach einer Pause von 10 Minuten die Aussprache halten bis etwa um 12 Uhr und dass Sie dann während der Aussprache oder am Anschluss an sie die Texte bieten. Wenn Sie wünschen, dass nach der Darbietung der Texte noch eine Aussprache stattfinden soll, so ist ja auch, da wie Sie sagten, die Texte nur 20 Minuten in Anspruch nehmen würden, noch Zeit. Ich hoffe, dass Ihnen diese Zeit nun zusagt. Sie haben dann auch morgen mittag, der für nicht allgemeine Veranstaltungen und für einen Spaziergang frei ist, Zeit, sich zu dem Vortrag vorzubereiten. Ich werde meinen eigenen Vortrag erst am Nachmittag halten und wenn es sein muss so, dass ich ihn einfach als Abschluss der Tagung darbiete. Auf diese Weise glaube ich auch, dass der organische Aufbau der Tagung gewährleistet ist.« (Brief Hauers an Buber vom 4. Januar 1933 im MBA Arc. Ms. Var. 350 008 297-13.)

Vor dem Hintergrund der völkisch-staatlichen Begeisterung der Hauptbeteiligten ist es also kein Zufall, dass Buber selbst seinen Vortrag als »sehr rückhaltlos« bezeichnete (vgl. Brief Bubers an Ernst Simon vom 14. Februar 1933 in: B II, S. 466). Buddensieg zufolge kam in Bubers »von prophetischem Pathos durchglühten Rede« die »alttestamentliche, altisraelitische Reichswirklichkeit« zum Ausdruck (vgl. Buddensieg, Die

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religiösen und geistigen Grundlagen einer völkischen Bewegung, S. 115). Ähnlich schrieb eine der Beteiligten: »Buber sprach als ›Mann von vor 5000 Jahren‹ mit überlegener Sachkunde und verhaltenem Pathos über Israel und die Völker in Rückschau auf die Vergangenheit« (vgl. Weber, Lebenserinnerungen, S. 285). Obwohl Marianne Weber diesmal nicht als Rednerin auf der Tagung auftrat, gehörte sie zur Hörerschaft und nahm auch an den Aussprachen teil. So beschrieb sie die letzte Arbeitswoche der Köngener schwermütig: »Eine ruhige, aufgeschlossene Aussprache nach bewährtem Köngener Brauch kam diesmal kaum noch zustande, selbst Ehlens Friedensstimme verhallte. Die politischen und weltanschaulichen Fronten standen kämpferisch gegeneinander und ließen sich nicht mehr im Zeichen übergreifender Gemeinsamkeit einen. […] Die Atmosphäre war anders als sonst, zugleich gewitterhaft und frostig. Die inneren Grundlagen der Gemeinschaft begannen zu zerbröckeln, kämpfende Fronten standen einander gegenüber. Aber schließlich, nach Abreise der fremden Propheten [sc. Buber], siegte beim Schlußmahl doch noch einmal die freundschaftliche Verbundenheit. Die kämpferischen Frauen, über deren Haltung der ›Kanzler‹ [sc. Hauer] sich am meisten erregt hatte, saßen nun an seiner Seite. Man entspannte einander durch Humor und Heiterkeit. Die Köngener, die schon einen unheilbaren Riß zwischen ihren tragenden Kräften befürchtet hatten, atmeten auf: die Wege schieden sich noch nicht. Wir ahnten nicht, daß es bald geschehen werde.« (Weber, Lebenserinnerungen, S. 284 und S. 294.)

Schon am 7. Januar, und zwar unmittelbar nachdem Gertrud Bäumer im Nachtzug ihre Rückreise angetreten hatte, begann sie einen sehr wichtigen Brief an Buber zu verfassen, den sie am Tag darauf »in der sonnabendlichen Stille des Ministeriums« fertigstellte: »Was zu Ihrem Vortrag gestern – welch ein langer und bewegter Tag! – und zu der großen geschichtlichen und gegenwärtigen Glaubenswirklichkeit, die Sie zeigten, von ›unserer‹ Seite gesagt werden muß, läßt sich in den kleinen und leicht gemachten Worten einer Unterhaltung im größeren Kreise nicht richtig ausdrücken. Ich weiß auch nicht, ob ich dies richtig hätte sagen können, wenn eine Aussprache zustande gekommen wäre. Aber mich bedrückt das Gefühl, daß man Ihnen etwas an Echo schuldig geblieben ist. Ich auch – aus diesen äußeren Hemmungen. […] Nach meinem Gefühl hätte jede Äußerung zu Ihren Worten einsetzen müssen mit der Anerkennung der Größe und Gewaltigkeit der religiösen Welt, die Sie dargestellt haben. Dargestellt in dem vollen und plastischen Sinne – so wie Sie sagen, daß die Erinnerung an den Sinai mehr sei als die Vergegenwärtigung eines geschichtlichen Faktums […] und darum fand ich die ganze Aussprache schrecklich, auch das Gutgemeinte daran – wegen des falschen Kurses, den sie genommen hatte durch die Fragen, die an den Anfang gestellt wurden. Ich sollte auch diesen Brief eigentlich gar nicht beschweren mit der Erinnerung an eine mehr von den vielen qualvollen Erörterungen ähnlicher Art. Denn der Sinn dieses Briefes war nur,

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Ihnen noch einmal zu danken – ich kann Ihnen sagen, daß ich bei ganz wenigen Menschen meines eigenen ›Glaubens‹ (ich muß das in Anführungszeichen setzen!) die große Unmittelbarkeit Ihrer Mit-Teilung gefühlt habe. Daß Sie unter diesen Bedingungen und in diesem Kreis so frei und gelöst von Ihrer Wirklichkeit sprechen konnten, war etwas unbedingt Sieghaftes und Bezwingendes für alle Menschen, an denen Ihnen überhaupt gelegen sein kann.« (B II, S. 458 f.)

Außer der mehrmals erwähnten, in der Kommenden Gemeinde publizierten Chronik von Hermann Buddensieg und den späteren Erinnerungen Marianne Webers sind weitere Berichte kurz nach der Tagung erschienen (vgl. z. B. Anonym, Deutschtum als geistige Forderung. Bericht von der Arbeitswoche des »Freien Dienstes«, Kasseler Post, Jg. 51, Nr. 20 vom 20. Januar 1933; Gertrud Bäumer, Die religiösen und geistigen Grundlagen einer völkischen Bewegung, Die Hilfe, Nr. 2, 1933, S. 48-51; auch die Tägliche Rundschau publizierte einen Zeitungsbericht der Tagung, den Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 204, Anm. 200 nach einer sich im Nachlass Hauers befindenden Abschrift zitiert). In seiner späten Selbstdarstellung weist Friedrich Hielscher – dessen Hauptwerk Das Reich (Berlin 1931) Buber als »lesenswert« speziell in Bezug auf die darin enthaltene »durchaus anti-antisemitische Behandlung der Judenfrage« bezeichnete (vgl. Brief Bubers an Ernst Simon vom 14. Februar 1933, B II, S. 466) – auf eine teils theoretische teils persönliche Auseinandersetzung hin, die sich zwischen Buber und Hauer im Rahmen der Kasseler Arbeitswoche ereignete: »Als Hauer im Februar [sic!] 1933 noch nicht wußte, daß er ein alter Kämpfer sei – das entdeckte er erst im April 1933 bei der Versammlung der deutschgläubig Bewegten in Berlin – hatte er unter Anderen Martin Buber und mich zu einer religionsphilosophischen Tagung nach Kassel eingeladen und uns in seinem Vortrage die Yoga-Übungen als Weg zur Gottheit, und zwar als Weg eines jeden Frommen in einem jeden Glauben, empfohlen und war daraufhin von Buber und mir geschlachtet worden. Nach der Aussprache trat er zu uns Beiden und wollte wissen, warum wir ihn denn gar so schlecht behandelt hätten. / ›Wissen Sie‹, sagte zu mir gewandt Martin Buber: ›wissen Sie, Herr Hielscher, es gibt doch nur zwei Möglichkeiten: entweder Jener ist der Schöpfer aus dem Nichts, der Andere, welcher der Welt gegenübersteht, wie die Christen und wie wir Juden lehren, oder er ist der All und Eine, und die Welt befindet sich in ihm, wie Goethe lehrte und wie Sie heute lehren. Im ersten Falle kann ich nicht zu ihm aufsteigen, weil das Geschöpf den Abstand nicht zu überwinden vermag, im zweiten Falle brauche ichs nicht, weil ich sowieso in ihm bin. Also wozu das Geschrei?‹« (Vgl. Friedrich Hielscher, Fünfzig Jahre unter Deutschen, Hamburg 1954, S. 116; zur komplexen Gestalt Hielschers vgl. u. a. Ina Schmidt, Der Herr des Feuers. Friedrich Hielscher und sein Kreis zwischen Heidentum, neuem Nationalismus und Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Köln 2004; zur Beziehung zwischen Buber und Hielscher bes. S. 131 ff.)

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Am 14. Februar 1933 teilte Buber seinem Freund Ernst Simon mit, dass sein Kasseler Vortrag »veröffentlicht wird« (B II, S. 466). Dasselbe ist auch aus der Korrespondenz vom Frühjahr 1933 zwischen Buber und Hauer ersichtlich, den vor allem das Bubersche Urteil zur deutschen Judenfrage interessierte. Margarete Dierks fasst diesen Briefwechsel zusammen: »Buber hatte gern zugesagt, daß sein Vortrag in der ›Kommenden Gemeinde‹, wie die anderen, veröffentlicht würde, bat aber darum, ihm nach Möglichkeit den Termin erst für das zweite Heft, also einen sehr viel späteren, zu geben, und fragt, ob er ›wie seinerzeit nach der ComburgTagung, auch einen Abzug des Aussprache-Protokolls für kurze Zeit bekommen‹ könnte, ›ich würde gern den Vortrag einerseits kürzer fassen, andererseits aber einiges, was ich in der Aussprache gesagt habe, hineinarbeiten‹« (vgl. bes. Brief Bubers an Hauer vom 17. Februar 1933 in Bundesarchiv, Nachlass J. W. Hauer, Ordner 13, S. 22, zitiert in: Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 206-207; der Brief Hauers an Buber vom 20. März 1933, im MBA erhalten unter Arc. Ms. Var. 350 008 297-14 ist in ital. Übersetzung abgedruckt in Buber, Israele e i popoli, S. 179; und Hauers Brief an Buber vom 27. März 1933, B II, S. 473 f.). Das Protokoll von »Israel und die Völker« und der sich an die Rede anschließenden Aussprache wurde Buber zugeschickt. »Noch am 2. Juni war das Manuskript nicht bei Hauer eingegangen, der es veröffentlichen wollte in einem Heft seiner Zeitschrift über die Judenfrage, für das jedoch auch Hans Kohn, Jerusalem, die Mitarbeit verweigerte« (Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 207). Wahrscheinlich wollte Buber seinen Beitrag auch deshalb nicht in der Kommenden Gemeinde erscheinen lassen, weil Hauer am 29. Juli in Eisenach der Gründung der Germanischen Glaubensgemeinschaft vorstand, einer völkisch-religiösen Sammlungsbewegung, in der sich neopagane Gruppierungen, Freikirchler und Freidenker zusammenfanden, um das Christentum durch eine arische Gegenreligion zu ersetzen (vgl. Ulrich Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung, S. 143 ff. und Schaul Baumann, Die Deutsche Glaubensbewegung und ihr Gründer Jakob Wilhelm Hauer (1881-1962), Marburg 2005, S. 38 ff.). Trotz der politischen Wende bestand die Beziehung zwischen Hauer und Buber fort und die Kasseler Tagung wurde 1948 erstaunlicherweise noch einmal erwähnt, und zwar als Selbstrechtfertigung Hauers im Hinblick auf seine Entnazifizierung. Im August 1934 hatten sich Buber und Hauer in Ascona bei der jährlichen Tagung des Eranos-Kreises zum Thema »Ostwestliche Symbolik und Seelenführung« wiedergetroffen. Niemand aber wusste, dass Hauer inzwischen Informant des Sicherheitsdienstes der SS geworden war und »verdächtige« Intellektuelle und Kollegen wie Buber, Albert Schweitzer und Hermann Hesse beobachten

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und über ihre Haltung zum nationalsozialistischen Deutschland Bericht zu erstatten hatte, was er am 21. September 1934 auch tat: »Einer der Hauptredner der Tagung war der Arzt C. G. Jung, der in der Psychologie und Psychotherapeutik der Gegenspieler von Freud ist. Jung ist Schweizer, aber deutscher Abstammung (sein Grossvater ist in die Schweiz eingewandert) und hat soviel Verständnis für Deutschland und die nationalsozialistische Bewegung, wie man sie bei einem Schweizer selten findet. / Bei dieser Tagung waren etwa 200 Teilnehmer aus Deutschland, der Schweiz, Italien und England zugegen; gerade die besten Elemente des Auslands folgten den Vorträgen Prof. Hauers mit grossem Interesse und viel Verständnis. / Auch Martin Buber, der bekannte geistige Führer der deutsch-jüdischen Gemeinde war zugegen. Prof. Hauer besprach mit ihm die jüdische Frage in Deutschland eingehend. Buber versicherte, dass er und sein Kreis, sich in keiner Weise an der Hetze in Deutschland beteiligt hätten und beteiligen könnten. Er selbst habe verschiedene lockende Angebote sich im Ausland niederzulassen, abgeschlagen; er lehne die jüdischen Emigranten unbedingt ab. Nach seiner Ansicht hätte es zu einer Auseinandersetzung zwischen Judentum und Deutschtum kommen müssen, da die Juden auf ein falsches Geleise gekommen sind. / Hauer ist der Ansicht, dass eine Aussprache zwischen Vertretern der deutsch-jüdischen Gemeinde auf der einen und der nationalsozialistischen Bewegung sowie Vertretern der Regierung auf der anderen Seite sehr wirksam sein könne. Hierbei müssten genau die Pflichten, Beschränkungen und Rechte der noch in Deutschland lebenden Juden festgesetzt werden. Ein solcher Vertrag würde der Greuelpropaganda im Ausland, die in der Hauptsache von Juden ausgeht, die Spitze abbrechen und wäre ein wichtiger Faktor im Kampf gegen den wirtschaftlichen Boykott, der von Emigrantenjuden inszeniert, dann von vielen anderen aufgenommen wurde, die die Situation für sich ausnutzen wollen. Gerade in der Schweiz konnte Prof. Hauer wiederum feststellen, dass die Judenfrage in Deutschland unsere aussenpolitische sowie Wirtschaftslage stärkstens beeinflusst.« (Vgl. III 2d – hier Eranostagung in der Schweiz, in Bundesarchiv, R 58-Reichssicherheitshauptamt/6222, S. 226-227, jetzt abgedruckt in: Buber, Israele e i popoli, Bildapparat; dazu vgl. auch Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft: das Fach Religionswissenschaft an der Universität Tübingen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Dritten Reiches, Stuttgart 1999, S. 137 ff.; zum Versuch Hauers, Informationen über das Bild Deutschland in Ausland zu bekommen, vgl. den aufschlussreichen Brief von Hermann Hesse an Hauer vom 16. Mai 1935 in Hermann Hesse, Briefe, Berlin-Frankfurt a. M. 1951, S. 166-168; zur Rolle der Auslandspropaganda und zur falschen Haltung der ausländischen Presse mit ihren »äußerst aufgebauschten« Berichten von der »in durchaus korrekten Formen« ausgeführten Gestapo-Haussuchung bei Buber in Heppenheim vgl. den Brief an Ernst Simon vom 28. März 1933 in B II S. 475.)

Nach 1934 kreuzten sich die Wege Bubers und Hauers erst wieder am 14. Dezember 1948, als Hauer, der gerade aus der Gefangenschaft entlassen worden war, die Jerusalemer Adresse Bubers durch Nathaniel

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Mickem, damals principal des Mansfield College in Oxford, erhielt (vgl. Brief Hauers an Buber vom 14. Dezember 1948 im MBA, Arc. Ms. Var. 350 008 297:16, jetzt abgedruckt in: Buber, Israele e i popoli, Bildapparat). Nach der Beschreibung seiner materiellen Schwierigkeiten und dem »Zugeständnis«, der Nationalsozialismus habe eine »Fehlentwicklung« erfahren, obwohl Hauer selbst anfänglich durch ihn »die Erneuerung Deutschlands« erhofft habe, nutzt Hauer die vergangenen Begegnungen mit Buber, um die Bitte zu formulieren: »Ich las aber Ihr ›Königtum Gottes‹. Wie mag es Ihnen gehen in diesen schweren Zeiten. Das Schicksal Ihres Volkes beschäftigt mich viel u. ich würde gerne einmal ein Gespräch mit Ihnen haben, um Ihre Schau und Deutung kennen zu lernen. Sie wissen ja, dass ich mich einstens mühte um die rechte Sicht als wir auf der Comburg u. in Kassel Jan. 1933 u. später in Ascona um eine Lösung des Problems rangen. Ich habe auch versucht in den Gang der Entwicklung einzugreifen mit einer Denkschrift an Hitler durch den SS-Führer, der mich halboffiziell beauftragt hatte, in Ascona mit Ihnen zu sprechen. Denn dieser war für uns menschlich-organische Lösung, wie sie mir vorschwebte zu gewinnen. Aber alles scheiterte an dem festen Willen Hitlers. Ich war entsetzt über das Fanal der brennenden Synagogen Herbst 1938. Wenn ich trotzdem mich nicht abwandte, war es der zähe Wille, Einfluß zu nehmen bis zuletzt. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben wollen, denn es waren gute Triebkräfte in der Tiefe der Bewegung. Das Ganze ist mir ein dämonisch tiefes u. dunkles Rätsel. Aber ich fühle, daß es der Weg zu einer ganz neuen Welt ist. Darüber mit Ihnen zu sprechen, wäre mir Herzensbedürfnis. / Ich warte immer noch auf meine ›Entnazifizierung‹ – ohne Amt, bis jetzt ohne Einkommen, ohne Möglichkeit der Veröffentlichung. Wenn Sie mir ein paar Worte schreiben würden zu der Verhandlung, wäre ich Ihnen dankbar. Es könnte mir wohl helfen. Aber ich möchte Sie nicht bitten. Tun Sie es nur, wenn es Sie selbst dazu drängt.«

Buber nahm die Bitte auf und redigierte am 25. Februar 1949 ein offenbar überzeugendes »Persilschreiben«, in dem er Hauer grundsätzlich als einen »ehrlich nach Verwirklichung seines Glaubens strebenden, dabei aber allzu unkritisch vorgehenden Menschen« bezeichnet – was durchaus bemerkenswert ist angesichts dessen, dass Hauer sich in seinem Brief wenn überhaupt dann nur halbherzig vom Nationalsozialismus distanzierte und dieser »Bewegung« gar noch im Präsens attestierte, »der Weg in eine ganz neue Welt« zu sein (vgl. handschriftliches Gutachten Martin Bubers an das Staatskommisariat für die politische Säuberung TübingenLustnau / Spruchkammmer für den Lehrkörper der Universität im MBA, Arc. Ms. Var. 350 08 297:21, jetzt abgedruckt in: Buber, Israele e i popoli, Bildapparat; zum Text des Gutachten in italienischer Übersetzung vgl. ebd., S. 263-264). So schrieb Hauer an Buber am 12. April 1949: »Recht herzlichen Dank für Ihren Brief und Ihr Gutachten, das noch zur rech-

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ten Zeit ankam. Die Verhandlung sollte am 7. April sein; ist allerdings wieder verschoben worden […] Ihr Gutachten wird sicher Eindruck machen, denn die vorbildliche Objektivität und die Klarheit der begrifflichen Formulierung hebt dieses Gutachten über das Meiste hinaus, was in diesen Angelegenheiten geboten wird. Mir selbst ist es ein erfreulicher Beweis für die Tatsache, dass echte ethische und religiöse Haltung auch das Furchtbarste mit Tiefenblick zu durchschauen vermag. Sie haben in wenig Worten ganz Wesentliches gesagt, und das mit sicherem Wort getroffen, was mich in diesen Jahren bestimmte.« (Brief Hauers an Buber vom 12. April 1949 im MBA, Arc. Ms. Var. 350 08 297:17; in italienischer Übersetzung auch in: Buber, Israele e i popoli, S. 265-266.) In der Tat zog die Universitätsspruchkammer bei ihrem Urteil die entlastenden Worte Bubers, damals Ordinarius in Jerusalem, in Betracht (zum Spruch vgl. Wü 13 T 2 Nr. 2647/173 im Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Sigmaringen; vgl. auch Dierks, Jakob Wilhelm Hauer, S. 340-346, bes. S. 344 f.). Buber und Hauer begegneten sich in Tübingen im Sommer 1953 wieder und das stellte für Hauer den Anlass dar, einen letzten Brief an Buber zu versenden: »Diese Stunde mit Ihnen und Ihrer Frau zusammen war mir die Bestätigung dafür, dass Menschen, die im Letzten miteinander verbunden sind, durch nichts getrennt werden können. Die selbstverständliche Herzlichkeit unseres Beisammenseins und das unmittelbare Verstehen gerade auch in den schwierigsten Problemen der Zeit sind mir ein teures Geschenk.« (Brief Hauers an Buber vom 25. Juli 1953 im MBA, Arc. Ms. Var. 350 08 297:18; in italienischer Übersetzung in: Buber, Israele e i popoli, S. 275.) Textzeugen: TS1: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 53-S); 24 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben. Das Typoskript ist zweischichtig: TS1.1: Grundschicht. TS1.2: Überarbeitungsschicht: zahlreiche Korrekturen von Bubers Hand, die sich allerdings nur über die ersten beiden Blätter erstrecken und den Abschnitt »Ich habe […] erfaßt zu werden vermag« (S. 388,4-28) umfassen. Druckvorlage: TS1.2 Variantenapparat: 388,4-5 ich den Gegenstand] ich das, was ich etwa zu sagen hatte, den Gegenstand TS1.1 388,6 Es ergab sich mir] Und es ist mir erschienen TS1.1

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388,7 ich ihn so behandle, dass ich damit] ich hier wesentlich behandle etwas, was ein unmittelbarer Beitrag zu dem Gegenstand dieser Tagung ist, wenn ich also nicht bloß etwas, was im Umkreis dieser Tagung liegt, behandle, sondern auch, was ganz unmittelbar zu der Sache dieser Tagung gehört und zugleich damit TS1.1 388,10 Das aber ist nur möglich] Ich behandle im wesentlichen die biblische Reichssache, die alttestamentliche, altisraelitische Reichswirklichkeit, und ich knüpfe daran, andeutende Hinweise auf die Abhängigkeit aller nachbiblischen Geschichte von dieser Reichssache bis auf diesen Tag. Ich spreche also TS1.1 388,12 also nicht geschichtsverhaftete] nicht geschichtsgebundene, geschichtsverhaftete TS1.1 388,13 ist sie unmittelbar] Geschichte in diesem echten und letzten Sinn und übergeschichtliche Wirklichkeit in diesem letzten Sinn, ist sie unmittelbar TS1.1 388,17 und auf die nichts] eine Wesenheit, etwas Einmaliges, Einziges, was von keinem allgemeinen Begriff her erfaßt werden kann. Dieses Einmalige, das ich nicht mit einem Begriff, sondern mit einem Namen bezeichne, durch den die Einzigkeit ausgesprochen wird. Ich will damit sagen, daß ich nichts TS1.1 388,20-21 dieser Einzigkeit auch noch heute] diese Einzigkeit keine geschichtsbedingte, nicht auf irgendwelche abgegrenzte Geschichtsepochen beschränkte ist, und vor allem, daß diesem Israel, einem diabolischen Begriff, dem von Gott einem Menschen erteilte, in der Stunde der Berufung und Verwandlung erteilte Name auch noch heute TS1.1 388,24 »Israel und die Völker«, das besagt also,] Nur von hier aus kann ich über diese Sache sprechen und schließlich ist damit gesagt, »Israel und die Völker«, daß zweifellos dieses Israel ein Volk bezeichnet, aber nicht so TS1.1 Wort- und Sacherläuterungen: 390,4-5 Den Textbeleg dazu finden wir in dem Schluß […] und Pentateuch.] Das Typoskript ist hier lückenhaft. Buber meinte vielleicht den Schluß von Moses Siegeslied in Ex 15,18 Vgl. die ähnliche Anspielung in Ri 8,23. 390,7-8 besonders die Westsemiten] Hier verweist Buber auf die Bevölkerungen semitischer Sprache, die in den Regionen von Syrien-Palästina sowie der phönizischen Küste seit dem Neolithikum siedelten und von den Ostsemiten akkadischer Sprache zu unterscheiden sind, die in Mesopotamien lebten. Wahrscheinlich haben beide Gruppen

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ihren Ursprung in der nomadischen Amoriterkultur der syrischen Wüste. 391,8 Mein Erstlingsteil von der Ernte.] Jer 2,3. 391,13-14 z ü c h t e t , genealogisch, auslesemäßig, biologisch züchtet als A n f a n g ] Hier verweist Buber begrifflich auf die problematische Geschichtsphilosophie von Oskar Goldberg, Die Wirklichkeit der Hebräer. 391,35-37 Ihr sollt mir […] Heiligkeit in allem Leben] Vgl. Ex 19,6: »Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein (mamlekhet kohanim we-goj qadosch)«. Hier ist ein handschriftlicher Zusatz in der ersten Textlücke zu lesen, und zwar goj qadosch, obwohl man nach der Bibelstelle mamleket kohanijm zu erwarten ist. Der ganze Satz sollte vermutlich wie folgt ergänzt werden: »das Wort: Ihr sollt mir ein goj qadosch sein. Gewija = Leiblichkeit, Körper, und qodesch, das ist eine Heiligkeit in allem Leben«. Hier verweist Buber auf die gemeinsame Wurzel von gwj »Volk« und gwjh »Körper«. 392,34-35 alle 7 Jahre Ausgleich des Besitzes, und alle 50 Jahre vollkommener Ausgleich] Vgl. Lev 25,10-13. 393,32 Ein Prophet der Zeit] Hier wird auf den sogenannten DeuteroJesaja angespielt (Jes 40-55). Zu Israel als »Knecht des Herrn« (eved jhwh) vgl. z. B. Jes 41,8 und vor allem 42,8. In Jer 27,6 wird Nebukadnezar als melek-babel avdi (»König von Babel, mein Knecht«) bezeichnet. 394,18-19 In Dostojewskis Roman »Die Dämonen«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 236,21-31. 394,33-35 Amos […] »Gott spricht zu Israel] Amos lebte zwischen Juda und Samaria gegen Mitte des 8. Jh. v. Chr. Die zitierte Amos-Stelle lautet vollständig: »Seid ihr nicht wie die Kuschiten für mich, ihr Israeliten? – Spruch des Herrn. Habe ich Israel nicht heraufgeführt aus dem Land Ägypten und ebenso die Philister aus Kaftor und Aram aus Kir?« Am 9,7. 395,3-7 Der zweite Spruch steht bei Jesaias und lautet: […] mein Eigentum.] Vgl. Jes 19,24-25: »An jenem Tag wird Israel neben Ägypten und Assur der Dritte sein, ein Segen inmitten der Erde. / Denn der HERR der Heerscharen hat es gesegnet, indem er sprach: Gesegnet ist mein Volk, Ägypten, und das Werk meiner Hände, Assur, und mein Erbbesitz, Israel!« 395,29-31 in dem er die Lade dann zuletzt […] und hinsetzt] Vgl. II Sam 6. 395,34-36 In diesem Wort: G r e n z e […] das wichtigste Wort in der Gegenwart überhaupt] Das neue »Erlebnis der Grenze« begleitet

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Buber seit Oktober 1918. Vgl. den Einzelkommentar zu Der heilige Weg, in diesem Band, S. 450. 396,8-9 die Schwerter zur Pflugschar, und die Karste zu Winzermessern werden.] Vgl. Mi 4,3. 396,40-41 Simsongeschichte […] Geschichte Sauls.] Vgl. Ri 13-16 resp. I Sam 9-31. 397,19 Bei Jeremia, in den Fragmenten] Wahrscheinlich Hinweis auf Jer 22. 397,37-38 Gott habe ihn […] in seinem Köcher versteckt] Vgl. Jes 49,2. 398,13-15 als die Fremdherrschaft […] Befreiungssieg erfochten ist,] Im Jahr 164 v. Chr. besiegten die Hasmonäer bzw. Makkabäer die Truppen des Antiochos IV. Epiphanes, König aus der Dynastie der Seleukiden. 398,17-18 Die großen Befreiungskriege gegen die Römer] Es handelt sich um die sogenannten »jüdischen Kriege«, d. h. die Aufstände gegen Rom vom Jahre 66-70 n. Chr. unter Nero und Vespasian, 115117 n. Chr. in den Städten der Diaspora unter Trajan und 132-135 n. Chr. in Palästina unter Hadrian. 398,37 Konstantin] Unter dem römischen Kaiser Konstantin (274-337) wurden im Jahr 313 durch das sogenannte Toleranzedikt von Mailand die Verfolgungen gegen das Christentum offiziell beendet, was dessen Verbreitung in den Provinzen des Kaiserreichs stark förderte. 399,30-31 es ist neulich bei einer Morgenfeier vom Dom zu Worms gesprochen worden.] Diese Anekdote wurde eine Woche darauf nochmals erzählt, und zwar im Zwiegespräch am Jüdischen Lehrhaus zu Stuttgart zwischen Buber und Karl Ludwig Schmidt. Vgl. Buber, Kirche, Staat, Volk, Judentum, Sp. 273 (jetzt in: MBW 9, S. 166 f.). 399,40-41 Jeremia schrieb einen Brief] Laut Jer 29,1 schrieb der Prophet einen Brief an die Verbannten nach Babel. Zu den zwei Bibelstellen vgl. Jer 29,5 resp. 29,7. 400,31-32 was das alte Testament von dem »Gastsaßen« sagt] Vgl. z. B. Num 15,16.26; Lev 19,33; 24,22; Dtn 10,17 ff. Mit dem Thema des »Gastsaßentums« beschäftigte sich Buber 1933 auch in seinem »offenen Brief an Gerhard Kittel«, jetzt in: MBW 9, S. 169-174. Zur Ethik der politischen Entscheidung Dieser Text erschien zuerst im Frühjahr 1933 in dem Hamburger, vom Dichter Herbert Schaper herausgegebenen Januar/Februar-Heft der Monatsblätter des Versöhnungsbundes, das dem Thema »Politik und Ethik«

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gewidmet war. Kurz darauf wurde sie in der März-Nummer der Zeitschrift Neue Wege wiederabgedruckt, die damals weiterhin von Leonhard Ragaz geleitet wurde (zur Gestalt von Ragaz vgl. den Einzelkommentar zu »Drei Sätze eines religiösen Sozialismus«, in diesem Band, S. 532 ff.). Jedoch legen verschiedene Indizien die Vermutung nahe, dass der Text im Laufe des Jahres 1932 verfasst wurde. Aus dem Titel dieses Aufsatzes sowie aus dessen Inhalten ist zudem zu erahnen, dass es sich bei ihm um eine Reaktion auf Positionen Alfred de Quervains handelt, der sich 1931 u. a. mit den Gedanken Bubers aus der Perspektive des inzwischen marginalisierten religiösen Sozialismus beschäftigt hatte. Daher kann man diesen Text Bubers auch als seine letzte Schrift zum religiösen Sozialismus in der Weimarer Zeit ansehen. Als schweizerischer reformierter Theologe, damals Privatdozent an der Universität Basel, stand de Quervain der dialektischen Theologie Karl Barths sehr nahe und trat im Rahmen des deutschen religiösen Sozialismus mehrmals mit Paul Tillich und dessen Berliner Kreis in Verbindung. Daneben trat er aufgrund seines Interesses für die politische Theologie während der 1920er Jahre in einen intensiven Austausch mit den Juristen Carl Schmitt und Gustav Radbruch ein (zu diesem Verhältnis sowie zum »zweideutigen« religiösen Sozialismus von de Quervain vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, S. 82 ff.). Im Frühjahr 1931 publizierte de Quervain im Berliner Verlag Furche das erste Buch eines deutschsprachigen Theologen, das im Titel einen direkten Hinweis auf die politische Theologie enthielt (vgl. Alfred de Quervain, Die theologische Voraussetzungen der Politik. Grundlinien einer politischen Theologie, Berlin 1931). Kurz darauf veröffentlichte er im Sommer 1931 im selben Verlag eine Broschüre mit der Rede, die er am 4. August 1931 auf der 40. Konferenz der »Deutschen christlichen Studentenbewegung« in Saarow hielt und die als »notwendige Ergänzung« seines gerade erwähnten Hauptwerkes zu betrachten ist (vgl. Alfred de Quervain, Vorwort, in: ders., Theologie und politische Gestaltung, Berlin 1931, S. 3). Im Kapitel zur »aktivistischen Mystik« seines so wichtigen wie heute vergessenen Hauptwerkes nahm de Quervain eine kritische Stellung zu »den theologischen Grundlagen des religiösen Sozialismus« ein, wie sie im Katholizismus (Ernst Michel), Protestantismus (Paul Tillich) und Judentum (Hans Kohn und Martin Buber) entwickelt wurden, indem er die schwärmerischen, mystisch-theokratischen, anarchistischen und antistaatlichen Züge dieser spirituellen Haltung, besonders der jüdischen von Buber, zurückwies. (Zur Kritik des religiösen Sozialismus vgl. Alfred

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de Quervain, Die theologische Voraussetzungen der Politik, S. 29-39; zur ausführlichen Kritik der Stellung Bubers vgl. ebd., S. 34-39.) Während de Quervain hier den Genannten neben aller Kritik auch eine partielle Würdigung zukommen lässt (Buber wird z. B. etwas zweideutig unter die Denker gezählt, die durch eine individualistische Mystik zu einer theologischen Grundlage des Liberalismus beigetragen hätten; vgl. dazu ebd., S. 76 f.), verschärfen sich die Formulierungen im Sommer 1931 im seiner Rede vor den christlichen Studenten. De Quervain bezieht hier Positionen, welche die Antwort Bubers besser verstehen lassen: »Was heißt es nun positiv politisch handeln? Was bedeutet der Ausdruck politische Entscheidung? Was heißt das, die Gegenwart politisch gestalten? – Politisch handeln heißt, unter einer Fahne, unter einem Kampfes- und Hoheitszeichen stehen. Wir müssen zunächst bildlich reden. Aber es ist ja mehr als ein Bild; es ist ein Stück Anschauung, das mit zur politischen Welt gehört. […] Dieses Feldzeichen ist ein geschichtliches, an Zeit und Raum gebundenes. Es ist nicht das Symbol noch so wesentlicher naturrechtlicher Wahrheiten wie Freiheit, Menschenwürde, Gerechtigkeit, Friede. Es ist nicht ihre Zusammenfassung, die das politische Leben schafft; die politische Entscheidung erst verleiht ihnen Sinn und Gestalt.« (de Quervain, Theologie und politische Gestaltung, S. 16 und 24.)

In der Mitte dieser Reflexion steht also die von Carl Schmitt inspirierte Frage nach der politischen Entscheidung, die Buber in seinem Text, wenn auch mit einer entgegengesetzten Bewertung, ebenfalls als zentral ansieht und dann 1936 mit dem Aufsatz Die Frage an den Einzelnen entscheidend weiterentwickeln wird. Aus Bubers Perspektive besteht die Entscheidung darin, dass man sich nicht unter eine Fahne, nicht unter eine Front, sondern über alle äußeren Fronten hinaus sich der inneren Front stellt. Trotzdem koinzidieren einige theologische Vorstellungen Quervains – wie z. B. die Forderung, die Politik weder zu mythologisieren noch in eine Dämonenlehre zu verwandeln – mit Gesichtspunkten, denen Buber in jenen Jahren in Bezug auf seine Kritik des Nationalismus und des Bolschewismus häufig Ausdruck gab (vgl. die wiederholte Erwähnung der mythologischen Götterlehre im Dostojewskis Roman Die Dämonen; vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 236,21-31). Das Gegenstück der Gedankengänge Bubers sind offenbar Ausführungen in der Broschüre de Quervains, in denen sich der Autor, auf geläufige antisemitische Topoi zurückgreifend, mit dem Judentum als politischem Feind beschäftigt: »Wenn heute vom innenpolitischen Feind gesprochen wird, so kommt sofort die Rede auf die Front des liberalen, sozialistisch-kapitalistischen Judentums. Auch hier gilt die Forderung, die von der Theologie her erhoben wird, die wir als Chris-

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ten erheben müssen, daß der Kampf nicht mythologisiert werden darf, daß er politisch geführt werden muß. Politischer Sieg bedeutet nicht Zerstörung des Gegners sondern Ausschaltung der Gefahr, Ausmerzung des zerstörerischen Elementes, Einbeziehung in die politische Ordnung oder, wenn es nicht gelingt, Ausklammerung aus der einen gemeinsamen Front, aus der staatlichen Gemeinschaft. Die Führung des politischen Kampfes wird aber erschwert durch die Undurchsichtigkeit der gegnerischen Front. Sie ist als politische Front schwer zu fassen durch ihren Internationalismus und durch ihre völkische Gebundenheit, durch ihre finanzielle Machtstellung, durch ihre besondere Kampfeswaffe: Presse und Literatur. […] Gegen die Verächtlichmachung und gegen die Auflösung volkshafter Bindungen durch das liberale jüdische Literatentum wird eine Abwehrbewegung hervorgerufen, die zunächst nicht im Namen des Staates, sondern des Volkes den Gegner zurückdrängen und das Volk zu schützen versucht. So wird heute auch das Volk mobilisiert, zu einer politischen Front zusammengeschlossen. Das ist unumgänglich; dieser Kampf ist uns auferlegt und muß geführt werden. Und doch ist diese Situation nicht ohne Gefahr für das eigene Volkstum. Der Mythos des politisierten Volkstums wirkt, auf Grund seiner Verallgemeinerungen, seines grenzenlosen Rationalismus, selbst volksauflösend. Darum fehlt ihm auch der Blick dafür, wo der Gegner überhaupt steht und in welcher Weise eine Abgrenzung sinnvoll vollzogen werden kann. – Von diesem entwurzelten internationalen Judentum, das infolge seiner Anonymität oft schwer faßbar ist, müssen wir aber die Bewegung unterscheiden, an deren Spitze Männer wie Martin Buber und Hans Kohn stehen. Für diese letztere ist die politische Idee des Judentums zugleich seine Religion. Sie ist Gesinnung und nicht politischer Machthunger. Auch bekennt diese Bewegung dankbar, was sie dem deutschen Erbe schuldet. Aber auch wenn wir sie anhören und mit ihr in ein Gespräch treten, dürfen die Kampfesfronten nicht verwischt werden. Ein Satz von Hans Kohn scheint mir besonders aufschlußreich zu sein: ob auch Martin Buber ihn unterschreiben würde, weiß ich nicht: ›Das jüdische Volk hat seine Heimat aufgeschlagen nicht im Raume, sondern in der Zeit und in der Dauer, daher kann ihm die Zeit nichts anhaben.‹ (Die politische Idee des Judentums, S. 17). – Die politische Wirklichkeit, von der wir hier, von der wir als Christen, von der wir auf Grund unsrer Geschichte reden, ist mit dem Raume verwachsen; die politische Idee, die wir zu erkennen haben, ist auf den Raum bezogen. Es liegen da Spannungen, die schon zur Entladung gekommen sind. Das lehrt uns das Leben und Sterben Gustav Landauers. Es bestehen da Gegensätze, die in der Stunde der Entscheidung Deutsche, deutsche Christen und deutsche Juden zu Feinden machen könnten.« (de Quervain, Theologie und politische Gestaltung, S. 19 f.)

Am 30. Dezember 1931 schrieb Robert Weltsch an Buber: »Daß Quervain in seinem Buch ›Die theologischen Voraussetzungen der Politik‹ Ihnen ein Kapitel widmet und Sie in seiner letzten Broschüre scharf angreift, wissen Sie gewiß.« (B II, S. 423.) Weltsch bezieht sich hier auf bei-

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de theologisch-politischen Publikationen von de Quervain, die kurz vorher erschienen waren. Damals beschäftigte sich Buber intensiv mit der Problematik der politischen Theologie, weil er sich darauf vorbereitete, an der von Jakob Wilhelm Hauer in Kassel für Anfang Januar 1933 einberufenen Tagung zum Thema »Die geistigen und religiösen Grundlagen einer völkischen Bewegung« teilzunehmen (vgl. den Einzelkommentar zu »Israel und die Völker«, in diesem Band, S. 658-666). So schrieb er z. B. am 23. Oktober 1932 an Hermann Gerson: »Dabei lese ich allerlei Zeitgenössisches zum theologisch-politischen Problem, das ich ja dann in irgendeiner Form zu behandeln haben werde.« (B II, S. 450.) Und wieder am 26. November 1932 an Ernst Simon: »Ich bin jetzt tief mit dem Staatsproblem beschäftigt; daß es vom Theologischen her geschieht und zugleich die Stunde meint, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen.« (B II, S. 450.) Und weiter an Simon am 2. Dezember 1932: »Gegenwärtig beschäftigt mich das theologische Problem des Staates sehr. Im einseitigen Autoritätsglauben hat es die moderne Theologie ungeheuerlich weit gebracht; man muß ihr entgegentreten.« (B II, S. 452.) Am 18. Februar 1933, d.h. zwei Wochen nach Hitlers Machtergreifung, schrieb Buber an Hermann Gerson: »Den Aufsatz ›Zur Ethik der politischen Entscheidung‹ für die Menschingsche Sammelschrift habe ich geschrieben. Er behandelt nur die Frage, ob die Gruppe mir meine Verantwortung abnehmen kann; theologice, aber lebendig geschrieben. Hoffentlich geht es nun wieder mit den politisch-theologischen Gedanken.« (B II, S. 470.) Es ist also plausibel anzunehmen, dass Buber nach dem Erscheinen seines wichtigsten, schon Ende 1931 fertiggestellten Buchs zur politischen Theologie im Frühjahr 1932, d. h. des Königtum Gottes, eine intensive Auseinandersetzung mit den bedeutendsten Werken zum gleichen Thema unternahm, worunter auch die Bücher von de Quervain zu rechnen sind. Das führte gegen Ende 1932 bzw. Anfang 1933 zur Abfassung der Schrift »Zur Ethik der politischen Entscheidung« als Entgegnung auf de Quervains Behauptungen, die insbesondere im Ergänzungs-Pamphlet »Theologie und politische Gestaltung« enthalten sind (im MBA sind 11 Briefe von de Quervain an Buber aus der Zeit 1933-1964 unter der Signatur Arc. Ms. Var. 350 08 599 sowie 6 Briefe von Buber an de Quervain aus der Zeit 1947-1964 unter der Signatur Arc. Ms. Var. 350 08 599.I erhalten). Textzeugen: H1: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 116); 8 lose paginierte Blätter; einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit vielen Korrekturen versehen.

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H : Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 116); 6 lose paginierte Blätter; einseitig beschrieben mit blauer Tinte; Reinschrift von H1; mit wenigen Korrekturen versehen. D1: Dt. Sekretariat d. Versöhnungsbundes, H. Schaper (Hrsg.), Politik und Ethik, Petzen: Versöhnungsbund (Monatsblätter des Versöhnungsbundes für 1933, 1/2), S. 13-16 (MBB 485). D2: Neue Wege, Jg. 27, H. 3, 1933, S. 111-115 (in MBB nicht verzeichnet). D3: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965 (MBB 1270). 2

Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: On the Ethics of Political Decision, in: Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, übers und eingel. von Maurice Friedman, New York: Simon and Schuster 1967, S. 205-210 (MBB 1293). Variantenapparat: 412,5-6 die Bewegungen […] mitzumachen] [sich von den Bewegungen […] mitziehen zu lassen] ! die Bewegungen […] mitzumachen H1 412,8-11 es ist entschieden […] darf es fühlen] die Entscheidung ist getroffen, es ist für immer entschieden. Einst, in der vorkollektiven Ära deines Lebens, [liessest du dich] ! warst du dem Wahn ergeben, du hättest hstets neu, Situation um Situation,i das jeweils Gewählte zu verantworten. Das bist du nun los: die Gruppe hat dir deine Verantwortung abgenommen. Du darfst dich ganz und gar in ihr verantwortet fühlen H1 412,12-17 Haltung bedeutet […] fortbekennt] Haltung [nenne ich die neue Ungläubigkeit] ! bedeutet […] fortbekennt H2 412,15 faktischen] existentiellen H1, H2 412,20 geloben] geloben [, und geloben kann man sich in der letzten Wahrheit nur dem Unbedingten, der allein rechtmässig] H1 412,22 Metaphern] [unzulässige] Metaphern H1 412,22-23 brauchbar, wo man […], sonst aber] hbrauchbar, wo man […], sonst aberi H1 412,24 Baale] [Götter der Völker, die Götter] ! Baale H1 412,35 zu dem Einen Seienden] hzu dem Einen Seiendeni H1 413,13-14 ist es mir […] erfahren, als wenn] erfahre ich es nur, wenn H1 413,20-22 die erwähle […] entscheide] die rechte wähle, mich für sie entscheide H1

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413,24 , wie unzulänglich auch, dennoch rechtmäßig dem Wort,] fehlt H1 413,31 sehe sie an und ein, und in ihr] sehe sie an, [soweit mein Blick die unter den Blitzen der Gottesstunde aufleuchtende umfasst, und ihr zuvorderst, der Fülle zuvorderst, die ich] ! und ihn H1 413,33 Heil] Werk und Heil H1 [Werk und] Heil H2 413,36 , mich entscheidend,] h, mich entscheidend,i H1 [, in meiner Entscheidung] ! , mich entscheidend H2 414,8-9 die Weisung] [den Rat des Freundes,] die Weisung H1 414,14 geschmiedeten] ausgearbeiteten H1 [ausgearbeiteten] ! geschmiedeten H2 414,14 ausgesetzt] unbewehrt ausgesetzt H2 414,17 mit der Wirklichkeit] fehlt H1 414,18 daran rührt] daran rührt [, eine »Stimme verschwebenden Schweigens« (I Könige 19,12) lautbar wird] H1 414,20 anders als persönlichen Richtigkeit] Unfehlbarkeit H1 414,23 Gnade] Gnade [wie seinem Gericht] H1 414,23-24 ich vermag] ich [habe sie nicht zu erwarten] ! vermag H1 414,26-27 des nutzbaren, benutzten und abgenutzten] [brauchbaren, verbrauchten,] nutzbaren, abgenutzten H1 414,27 Diskreditierung] [Entlarvung] ! Diskreditierung H1 414,28 Tatsächlichkeit] Wirklichkeit H1 414,29-30 unbekannte, immer erst entdeckungsbedürftige] fehlt H1 414,31 Fünklein ist] Fünklein ist [nicht in Einkehr und Versenkung allein, sondern] H1 414,32 wirkend] wirkend und offenbar H1 414,35 antwortende.] antwortende. [Die dialogische Wirklichkeit zwischen Gott und Mensch [greift über] ! lässt sich in dem dialektischen Schema von [Heteronomie] ! Theonomie und Autonomie nicht einfangen.] H1 414,37 Handlungen] Handlungen [und Unterlassungen] H1 414,39 Gewärtigkeit] [Begebenheit] ! Gewärtigkeit H1 414,41-415,2 – das ist das Schlagwort, […] es belegen –] h– das ist das Schlagwort, […] es belegen –i H1 415,7 unheimlich großen] [wesentlich] ! unheimlich grossen H1 415,16 Standort] Standort, mit Gedeih und Bestimmung H1 415,18-19 wird ein Gebild […] werden] wird [Gemeinschaft] ! ein Gebild entstehn, [nicht eher, als der Glaube] ! das nicht mehr Gruppe, sondern Gemeinschaft heissen darf H1 415,26 die das tiefe Gewissen ihm schöpft] d. i. für die Gesinnung der lebensmässigen Verwirklichung] ! die das tiefe Gewissen ihm schöpft H1

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415,27-28 aufzurichten oder zu verstärken] aufzurichten [, die für die Zukunft unsrer Welt bedeutsamer werden mag] H1 415,28-29 wenn überall […] Einheit] [eigentlich] ! wenn überall verrichtet, heimlich H1 Wort- und Sacherläuterungen: 415,27-28 in die Gruppe […] zu verstärken] Zur Vorstellung der inneren Front vgl. den Einzelkommentar zu »Erinnerung an einen Tod«, in diesem Band, S. 582. Die Tugend der Propaganda Diesen kurzen Artikel publizierte Buber am 29. Mai 1934 anlässlich des 50. Geburtstags von Kurt Blumenfeld (1884-1963) am 9. Mai in der zionistischen Wochenzeitung Jüdische Rundschau, die Blumenfeld einen Teil der Nummer 43 widmete (vgl. Kurt Blumenfeld zum 50. Geburtstag, Jüdische Rundschau, Jg. 39, Nr. 43, S. 7-11). Den Beiträgen ging eine redaktionelle Anmerkung Robert Weltschs, des damaligen Chefredakteurs, voraus: »Der 50. Geburtstag von Kurt Blumenfeld ist ein Anlaß für den deutschen Zionismus, sich Rechenschaft darüber zu geben, was er diesem Manne zu danken hat, und was er noch von ihm erwartet. Blumenfelds Figur ist so eng mit der Geschichte des deutschen Zionismus verbunden, daß es bei einer solchen Würdigung um mehr geht als um eine persönliche Feier. Wir veröffentlichen eine Anzahl von Beiträgen, die Blumenfelds Wirken charakterisieren. […]« (Ebd., S. 7.) In dieser Blumenfeld gewidmeten Ausgabe der Jüdischen Rundschau fanden sich neben dem Text Bubers auch Beiträge u. a. von Leo Baeck, Chajim Weizmann und Salman Schocken (1877-1959) samt kurzen Exzerpten aus unterschiedlichen Schriften Blumenfelds. Kurt Blumenfeld studierte Rechtswissenschaften in Berlin, Freiburg und Königsberg und war einer der wichtigsten Führer sowie Propagandisten des deutschen und internationalen Zionismus. Er vertrat die Position eines »praktischen Zionismus«. Er nahm 1905 am 7. Zionistenkongreß in Basel teil, wurde 1909 Sekretär der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (Z.V.f.D.), als dessen Sekretär er 1924-1933 wirkte. In den Jahren 1911 bis 1914 wurde er zum Generalsekretär des zionistischen Weltverbandes ernannt. Ab 1929 war er Mitglied des Jewish Agency, verliess Deutschland 1933 und wanderte nach Palästina aus, wo er in zahlreichen, auch amerikanischen Organisationen, vor allem aber im Keren Hayesod, tätig wurde. Buber kannte er seit Jugendjahren, als beide

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in zionistischen Organisationen arbeiteten (zur Selbstdarstellung vgl. Kurt Blumenfeld, Erlebte Judenfrage. Ein Vierteljahrhundert deutscher Zionismus, Stuttgart 1962). Einige Jahre zuvor wurde die Ausgabe der Jüdischen Rundschau vom 7. Februar 1928 Bubers 50. Geburtstag gewidmet, aus welchem Anlass Blumenfeld als Gratulant auftrat, indem er einen eigenen Beitrag beisteuerte. Trotz solcher gegenseitigen Höflichkeiten relativ formeller Art waren die politischen Positionen Blumenfelds und Bubers allerdings deutlich entgegengesetzt, wie aus dem Briefwechsel Blumenfelds vom Anfang an bis in die 1950er Jahre hervorgeht. Am 16. Januar 1913 schrieb dieser z. B. aus parteipolitischer bzw. praktisch-zionistischer Sicht nach einem Besuch in Prag: »Der Prager Bar Kochba wird immer unbrauchbarer. Buber, den sie theosophisch fortbilden, ist ihr Rebbe und bringt die Leute aus der Partei und schließlich aus dem Zionismus heraus. […] Natürlich haben die maßgebenden Bar Kochbaner auf den Nachwuchs keinen Einfluß, und die fast durchweg höchst durchschnittlichen Jüngeren verbummeln zionistisch in einer durchaus begreiflichen Reaktion gegen die dekadente Hypergeistigkeit der Buberklique.« (Kurt Blumenfeld, Im Kampf um den Zionismus. Briefe aus fünf Jahrzehnten, hrsg. von Miriam Sambursky und Jochanan Ginat, Stuttgart 1976, S. 43; vgl. auch S. 59.)

Später in Jerusalem begann Blumenfelds Urteil über Buber etwas differenzierter auszufallen. Schon in einem Brief vom 19. Dezember 1947 an seinen Sohn Raphael Blumenfeld ist eine neue Nuance in den Worten Blumenfelds zu spüren: »Ich habe in diesen Tagen mich viel mit Buber unterhalten. Ich war überrascht, wie sich unsere Gedanken trafen. Buber ist kein Nationalist und ist frei von chauvinistischen Regungen. Wir bewunderten zusammen diesen unerhörten Lebenswillen, der sich z. B. bei den Juden Jerusalems zeigt. Von einem Viertel ins andere vertrieben, bauen sie mit erstaunlicher Erfindungsgabe neue Dinge auf. Buber, dem das Kleinliche und Lokalpatriotische so verhaßt ist wie mir, war überwältigt von der Art, wie man hier mitten im Kugelregen und unter Stacheldraht jetzt baut.« (Blumenfeld, Im Kampf um den Zionismus, S. 215.)

Zeichnet sich hier zwar der Beginn einer Neubewertung Bubers seitens Blumenfelds ab, bedeutete dies allerdings noch nicht, dass er nun Bubers politische Ansichten geteilt hätte, denen er auch weiterhin ablehnend gegenübersteht, wie der Brief Blumenfelds vom 23. April 1947 an seinen Sohn bei aller Anerkennung deutlich zu verstehen gibt: »Gestern hatte ich wieder eine lange Unterhaltung mit Buber, der, wie Du weißt, Mitglied des Ichud ist, ein intimer Freund von Magnes, der jetzt totkrank nach Amerika gefahren ist. Ich bespreche mit Buber gern meine Arbeit. Unsere politi-

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schen Meinungen gehen auseinander. Aber Du kannst Dir nicht vorstellen, wie dieser Mann, der doch grundsätzlich gegen den Staat und natürlich auch gegen den Judenstaat ist, jeden Schlag, den wir erleben, fühlt und wie er jeden Erfolg genießt. Er gehört eben zu unserem Volk, das er liebt. Ich bin jedesmal entzückt, wenn ich sehe, wie seine Kritik, oftmals eine sehr berechtigte und notwendige, frei ist von Ressentiments.« (Ebd., S. 221.)

Und ähnlich am 16. Mai 1948 an Felix Rosen: »Für mich ist es bezeichnend, daß z. B. ein Mann wie Martin Buber, ein Antinationalist, der intimste Freund von Magnes, mir jeden Tag mit Stolz und beglückt erzählt, wie sich alle Schichten des Volkes im Kampf bewähren.« (Ebd., S. 223.) Obgleich es, wie am Briefwechsel mit Hannah Arendt abzulesen ist, bei einer eher distanzierten Haltung Blumenfelds gegenüber Buber blieb, beschreibt er ein Zusammentreffen aus Anlass des 75. Geburtstags Bubers in einem Brief an Hannah Arendt vom 22. Februar 1953 etwas ausgewogener: »In diesen Tagen feiert Buber seinen 75. Geburtstag. Bei zwei dieser Feiern war ich anwesend, und bei einer mußte ich eine Rede halten. Mit Buber ist es mir sonderbarer ergangen. Es gab Zeiten, wo mir seine Verschmitztheit sehr auf die Nerven ging. Wenn er abfällig davon sprach, daß bei Simmel Leben und Lehre auseinanderklafften, dann wußte ich, daß er es meisterhaft versteht, Geschäft und Heiligkeit miteinander zu verbinden. / Trotzdem zog mich etwas zu ihm. Er ist der gebildetste Mensch, den ich in meinem Leben kennengelernt habe. Ich habe mich erst vor wenigen Wochen darüber mit Scholem geeinigt, der eine großartige Kritik über Buber im ›Haarez‹ als Glückwunsch veröffentlicht hat. Buber war böse, vielleicht auch deshalb, weil Scholem unvergleichlich viel besser hebräisch schreibt als er. Unter uns gesagt, schreibt Scholem auch besser deutsch. Trotzdem war der Festabend in der Wohnung von Werner Senator, bei dem ein kleiner Kreis zusammen war, eine ganz bemerkenswerte Angelegenheit. / Nachdem ich die Momente dargestellt hatte, in denen Buber aktiv in die Politik eingetreten war, sprach er über seine zionistische Haltung. Ich habe nie geglaubt, daß er so wirklichkeitsnahe ist, wie er uns an diesem Abend erzählte.« (Hannah Arendt und Kurt Blumenfeld, »… in keinem Besitz verwurzelt«. Die Korrespondenz, hrsg. von Ingebort Nordmann u. Iris Pilling, Hamburg 1995. S. 78.)

Die zuletzt eingetretene persönliche Nähe Blumenfelds zu Buber ist schließlich aus dem Briefwechsel zwischen Blumenfeld und Arendt vom 19. und 23. Mai 1957 ersichtlich. So schrieb Arendt an ihn: »Du weißt ja, daß Scholem hier ist, und eigentlich wollte ich mich mit Dir über ihn aussprechen. Aber auch dazu fehlt mir heute die Lust. Wir geben uns beide Mühe, aber es kommt doch nichts dabei heraus. Dafür aber habe ich Buber näher kennengelernt, und eigentlich hat er mir dann schließlich doch gefallen. Er ist besser als alle diese Juden, weil er eine wirkliche Neugier und Lernfähigkeit für die Welt

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hat, und er ist mit seinen beinahe 80 Jahren lebendiger und empfänglicher als alle diese dogmatischen Rechthaber und Besserwisser. Er hat eine gewisse Souveränität, die mir gefällt. Ganz abgesehen von all dem, was einem nicht gefällt und worüber wir uns gar nicht erst lange aufhalten müssen, weil wir es beide genau wissen und sowieso einer Meinung sind.« (Ebd., S. 191.)

Die darauf folgende Antwort Blumenfelds lässt seine neue Wertschätzung Bubers erahnen: »Über Menschen sind wir immer einer Meinung, deshalb lohnt die Unterhaltung. Scholem ist ebenso klug wie eitel und verrückt. Seine Selbstgefälligkeit ist unerträglich. Und doch will ich ihn von Zeit zu Zeit sehen und manchmal auch bewundern. Buber, der schlechthin gebildetste Mensch, den ich kenne, der einzige, mit dem man sich in Jerusalem über geistige Fragen unterhalten kann. Interessant, wie er sich jetzt in den letzten Jahren in die Karten gucken läßt. Ein alter Fakir, der keine Angst hat, daß ich ihm beim Zaubern zusehe« (Ebd., S. 192.)

Diese allmähliche Annäherung Blumenfelds an Buber sollte dazu führen, dass er zum 80. Geburtstag Bubers am 8. Februar 1958 einen Glückwunsch veröffentlichte (vgl. Kurt Blumenfeld, Gespräch ohne Ende. Martin Buber zum 80. Geburtstag am 8. 2., Mitteilungsblatt, Jg. 26, 7. Februar 1958, S. 5 und 7). Am Tag darauf berichtet er in einem Brief vom 9. Februar 1958 an Hannah Arendt das Ereignis: »Ich hatte vor 3 Tagen ein dreistündiges Gespräch mit Buber. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie frisch er ist, wie unprätentiös, wenn man mit ihm allein spricht, und wie gut er seine Grenze kennt. Die Nichtjuden machen aus ihm einen Heiligen, und hier versuchen seine Anhänger, ihn so zu denaturieren, wie es ihren Naturen paßt. […] / Vielleicht werde ich noch einmal einen richtigen Essay über Buber schreiben, um seine Unterhaltung mit Max Weber und Simmel festzuhalten. Außerdem hat keiner von seinen Adepten die Bedeutung seiner chassidischen Geschichten erkannt. Er war ein Religionswissenschaftler und hat sich nie persönlich mit dem Chassidismus identifiziert. Er hat mir das alles in der letzten Unterhaltung noch einmal bestätigt. […] Der Grund, warum ich mich zum Schreiben entschloß, warst Du. Was Du mir in einem Brief über Deine Begegnung mit Buber erzähltest, ist bei mir sitzen geblieben.« (Arendt u. Blumenfeld, »… in keinem Besitz verwurzelt«, S. 204 f.)

Inzwischen hatte Buber 1954 und 1959 anlässlich dem 70. resp. 75. Geburtstag Blumenfelds je eine persönliche Würdigung Blumenfelds veröffentlicht (vgl. Martin Buber, Die wahre Geschichte – Zu Kurt Blumenfeld 70. Geburtstag, in Mitteilungsblatt, Jg. 22, Nr. 22 vom 29. Mai 1954, S. 4 und ders., Für Kurt Blumenfeld, in Mitteilungsblatt, Jg. 27, Nr. 22 vom 29. Mai 1959, S. 5; jetzt in: MBW 21). Schließlich richtete Blumenfeld ein letztes Mal seine Glückwünsche an

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Buber anlässlich von dessen 85. Geburtstags am 8. Februar 1963. Es handelt sich überhaupt um den letzten, am 27. Januar verfassten Brief Blumenfelds der kurz danach, am 21. Mai 1963, starb. Dieser Text kann als Bekenntnis zu dem Mann verstanden werden, dessen Lehre für den alten Blumenfeld zuletzt wichtiger wurde. »Ich denke an Martin Buber oft, und jedesmal erscheinen mir dann die interessanten Züge seines Geistes – kein photographisches Bild – als eine Fülle von Strichen, eingezeichnet durch die mühevolle Arbeit großer Künstler, in Kupfer eingegraben in dauerndes Material. Wenn ich dann versuche, seine Züge festzustellen, muß ich immer erst die Scheu überwinden, ihn im Geiste anzureden, und mich zu fragen, was dieser Mann für eine Rolle in meinem Leben gespielt hat. Ein seltsamer Prozeß, wie er sonst ganz ungewohnt ist, wenn es sich um die Scheu vor einem Menschen handelt. Bisweilen fühle ich den Schauder, den seine Gegenwart in mir auslöst. Es dauert immer einen Moment, bis ich mit dem Ordnen seines Gesichtes fertig geworden bin. Dann kommt der Moment, wo ich verstehe, daß der Ruhm von Bubers Namen weiter [reicht?] als wir, die wir heute mit ihm zusammen leben, wissen! / Seltsam ist Prophetenlied. / Doppelt seltsam, was geschieht. / Dem einen erscheint Buber als ein Zeichen der Ruhe in aufgerührter Welt, den anderen gibt Buber ein Zeugnis des großen Stroms der geistigen Revolution, die uns in atemloses Erstaunen setzt, wenn wir von ihm angeredet werden. / Ich fühle mich heute glücklich, wenn ich seine Stimme hören kann. Ich sage mir dann, die geistigen Bündnisse, die er eingegangen ist, haben uns so erschüttert wie ein echtes Erlebnis. Er selbst hat wie ein Kind oder wie ein Weiser aus heimlicher Kunde uns Stoff gegeben zum Ja-sagen, zum Nein-sagen. Seine Stimme klingt bisweilen zart und schwillt dann zu mächtigen Akkorden an. Das Piano ist nicht weniger hörbar als das Forte. Es bleibt immer der Klang zurück, in dem das Eigentliche zum Ausdruck kommt. / Dem Denker, dem Sucher, dem großen Versucher, dem Manne, der den Mut hat, Gott und Welt in Einklang zu bringen, dem großen Kämpfer der Menschlichkeit, der uns unseren und seinen Zionismus neu zu Bewußtsein hat kommen lassen, ihm danke ich im Namen von vielen, die ebenso wie ich nicht in der Lage sind, bei den üblichen Gelegenheiten so zu danken, wie ich heute dankbar bekenne.« (Blumenfeld, Im Kampf um den Zionismus, S. 294 f.; vgl. ferner B III, S. 565 f.)

Textzeuge: D: Die Tugend der Propaganda, Jüdische Rundschau XXXIX/43, 29. Mai 1934, S. 9 (MBB 506). Druckvorlage: D Wort- und Sacherläuterungen: 416,3 Ein alter chinesischer Philosoph] Nicht ermittelt.

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Erkenntnis tut not Dieser kurze Text wurde 1935 im dritten jährlichen Almanach des Schocken-Verlags veröffentlicht. Der erste Almanach des Schocken Verlags für das Jahr 1933 sowie der vierte für das Jahr 1936 wurden nicht früher als im Sommer des betreffenden Jahres publiziert (vgl. Brief von Ludwig Strauß an Buber vom 15. Juli 1934 resp. vom 1. Juli 1936, BBS, S. 185 resp. 213), was vermuten lässt, dass auch die dritte Nummer im Sommer/Herbst 1935 erschienen ist. Bald wurde der Schocken-Almanach zu einem der letzten Publikationsorgane in Deutschland, in dem jüdische Literatur noch veröffentlicht werden durfte. Dieser als Tröstung bzw. Ermunterung gemeinte, an die deutschen Juden sowie implizit an den Autor selbst gerichtete Text wurde übrigens von Buber in einer für ihn sehr schweren Zeit verfasst, »in der ich aus vielfältigen Gründen des Zuspruchs bedurfte«, wie er Anfang Mai 1935 an Max Brod schrieb (vgl. B II, S. 564). In der Tat war diese Periode durch negative Ereignisse geprägt, und zwar durch den Tod seines Vaters Carl Buber am 18. April sowie durch den Erlass eines amtlichen Redeverbots. Das Geheime Staatspolizeiamt Berlins hatte schon am 21. Februar 1935 Martin Buber »bis auf weiteres jede Betätigung als Redner in öffentlichen Veranstaltungen und in geschlossenen Tagungen jüdischer Organisationen« untersagt (zitiert nach Rita van de Sandt, Martin Bubers Bildnerische Tätigkeit zwischen den beiden Weltkriegen, S. 204). Im Lauf desselben Jahres und dank der Vermittlung der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, die durch ein offizielles Schreiben an die nationalsozialistischen Behörden (vgl. Brief von Siegfried Moses an das Geheime Staatspolizeiamt vom 4. Juni 1935, ebd., S. 204 f.) den Einsatz Bubers für den zionistischen Nationalismus sowie seine Förderung der Auswanderung, insbesondere der deutsch-jüdischen Jugend, nach Palästina betonte, wurde das Redeverbot etwas gemildert und mit Erlaß vom 30. Juli 1935 teilweise, d. h. ausschließlich in Bezug auf Bubers Lehrtätigkeit bei der Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung, doch »ohne lokale Begrenzung in Deutschland« aufgehoben. Am 29. Oktober 1935 wurde dieser Beschluss allen Staatspolizeistellen offiziell mitgeteilt (ebd., S. 205 f.; vgl. dazu den Brief von Otto Hirsch an Buber vom 1. August 1935, B II, S. 570). Textzeugen: D1: Almanach des Schocken-Verlags auf das Jahr 5696, Berlin: Schocken 1935, S. 11-14 (MBB 523).

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Erkenntnis tut not

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D : Die Stunde und die Erkenntnis. Reden und Aufsätze 1933-1935, Berlin: Schocken 1936, S. 57-60 (MBB 538). D3: JuJ. S. 594-596 (MBB 1216). 2

Druckvorlage: D1 Wort- und Sacherläuterungen: 417,34-36 Keine Apologie, […] nicht gelauscht hätte] Anspielung auf den Text Apologie des Sokrates des jungen Plato (nach 399 v. Chr.).

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Inhalt Teilband 2: 1938-1965 Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit . .

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Die Macht der Zeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose . . . . . . . . . . . . .

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[Rede anlässlich des 1. Mai] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zwei Beiträge zur Klärung des Pazifismus . . . . . . . . . . . . . .

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Landauer heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Wenn Herzl noch lebte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Über das Wesen der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

Die Idee der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Der Weg des gemeinschaftlichen Dorfes

. . . . . . . . . . . . . .

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Über die große Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

The Crisis and the Truth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Individualismus und Kollektivismus

. . . . . . . . . . . . . . . .

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Ich rufe sie … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schriftstellergespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Schriftstellergespräche in der zweiten vom Premierminister [Ben-Gurion] einberufenen Sitzung am 11. Oktober 1949 . . . . . 104 [Vorwort zu Jacob Burckhardt, »Die Kultur der Renaissance in Italien«] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Pfade in Utopia . . Vorwort . . . . Der Begriff . . Die Sache . . . Die Ersten . . . Proudhon . . . Kropotkin . . .

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Landauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Versuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Marx und die Erneuerung der Gesellschaft . . . . . . . . . . 195 Lenin und die Erneuerung der Gesellschaft

. . . . . . . . . 213 Noch ein Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 In der Krisis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Zum Problem der »Gesinnungsgemeinschaft« . . . . . . . . . . . 260 Zwischen Gesellschaft und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Hoffnung für diese Stunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Abstrakt und Konkret Volk und Führer

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

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Geltung und Grenze des politischen Prinzips . . . . . . . . . . . . 297 Staat und Kultur

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Moses Hess und die sozialistische Idee . . . . . . . . . . . . . . . 309 Haltet ein! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Politik aus dem Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Der Mensch im Zeitalter der Weltraumfahrten . . . . . . . . . . . 332 Gruß und Willkomm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 [Dankesrede für den Münchner Kulturpreis] . . . . . . . . . . . . 335 Zu zwei Burckhardt-Worten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 [Greetings to Bertrand Russell]

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Nachbemerkung [Nach dem Eichmann-Prozeß] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Sie und wir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Schweigen und Schreien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 [Aus: Philosophical Interrogations] . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 In Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

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Inhalt

Erinnerung an Hammarskjöld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Ein Gespräch mit Tagore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Gemeinschaft und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 »In zwanzig Jahren«

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Über den »bürgerlichen Ungehorsam« . . . . . . . . . . . . . . . 372 Nochmals über den »bürgerlichen Ungehorsam« . . . . . . . . . . 373 Über die Todesstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Kommentar Einzelkommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756

Gesamtaufriss der Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790

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Die moderne Soziologie als selbständige Wissenschaft ist als eine kritische und fordernde Wissenschaft entstanden. Der Mann, auf dessen Einfluß ihre Begründung zurückgeht, Claude Henri de Saint-Simon, war ein sozialer Kritiker und Forderer, der den inneren Widerspruch des Zeitalters wahrnahm und als den entscheidenden Schritt zu seiner Überwindung die wissenschaftliche Erkenntnis der gesellschaftlichen Zustände bezeichnete; nicht mit Unrecht hat einer seiner Zeitgenossen seinen Grundgedanken eine Ideokratie genannt – er sah in dem erkennenden und entwerfenden Geist den Diktator der kommenden Dinge. Die beiden Männer, die unter seinem Einfluß die neue Wissenschaft, beide auf sehr verschiedene Weise, zu begründen unternahmen, Auguste Comte und Lorenz von Stein, haben die Absicht festgehalten, die Krisis des Menschengeschlechts zu überwinden. Comte hat, als er sich gegen seinen Lehrer wandte, dessen Programm doch als une régénération sociale fondée sur une rénovation mentale charakterisiert; eben dies war sein eigenes Programm. In seiner Jugend schon sah er die »tiefe sittliche und politische Anarchie«, welche die Gesellschaft mit der Auflösung bedroht, und verlangte eine geistige Grundlegung eines sozialen Neubaus. Er ahnte, was wir erkennen: daß neue Einrichtungen die Rettung nicht zu bringen vermögen, wenn nicht eine neue geistige Haltung des Menschen vorbereitet ist, die der Entartung und Verkehrung der Einrichtungen vorbeugt. »Ich betrachte«, schreibt Comte 1824 in einem Brief, »alle Erörterungen über die Einrichtungen als reine Possen, solange die geistige Reorganisation der Gesellschaft nicht verwirklicht oder doch wenigstens sehr gefördert ist.« Eine Soziologie im wissenschaftlichen Sinn hat Comte freilich nicht verfaßt; was er in seinem Werk so nennt, sind nur allgemeine Gedanken über die geschichtlichen Wirkungen der verschiedenen geistigen Prinzipien auf die gesellschaftliche Lage und die politische Verfassung. Erst Stein hat eine echte philosophische Erfassung und Erklärung der sozialen Grundbegriffe versucht. Aber auch er will erkennen um zu ändern. Der wissenschaftliche Begriff der Gesellschaft als einer vom Staat zu unterscheidenden, ja ihm vielfach entgegengesetzten Wirklichkeit, »das Dasein einer selbständigen Gesellschaft«, wird ihm aus den schweren Störungen offenbar, die das soziale Leben unseres Zeitalters einem Zustand entgegenführen, »den wir als den der Auflösung der Gemeinschaft und ihres Organismus bezeichnen können«. Dies soll »die kräftige Tat der Wissenschaft« verhüten. Um der Neuordnung willen soll

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die gegenwärtige Lage und ihre Entstehung erkannt werden; »an die Zukunft denken wir, wenn wir von dieser Gegenwart reden, und es ist umsonst, es sich zu verhehlen – wenn davon geredet werden soll, so wird eben um jener Zukunft willen davon geredet«. Und die notwendige Erkenntnis sieht er schon aufsteigen. »Auf allen Punkten«, schreibt er in dem Buch »Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich«, das 1842, gleichzeitig also mit dem Schlußband von Comtes Hauptwerk, erscheint, »fängt das menschliche Wissen an, eine neue, machtvolle Gestalt anzunehmen.« Die moderne Soziologie entstammt also der Begegnung des Geistes mit der Krisis der menschlichen Gesellschaft, die er als seine eigene Krisis verstand und durch eine geistige Wendung und Wandlung zu überwinden unternahm; die Einsicht in das Wesen der Krisis, ihre Ursachen und die durch sie gestellten Probleme, der Anfang dieser Wendung und Wandlung sollte eben die Soziologie sein. Ein amerikanischer Soziologe unserer Zeit, Edward Roß, meint, ein Soziologe sei »ein Mensch, der etwas ändern will«. Das sagt zu wenig und zu viel. Eher darf man ihn als einen Menschen bezeichnen, der erkennen will, was zu ändern ist. Aber es handelt sich darum, eine Welt in der Krisis zu erkennen, und der erkennende Geist weiß, daß er selbst mit in der Krisis steht. Nicht als ob er bloß ein Stück der gesellschaftlichen Wirklichkeit wäre. Er ist vielmehr ihr Partner, dazu bestimmt, von ihr zu lernen, was ist, und hinwieder ihr zu weisen, was sein soll, – und die Krisis umfängt sie beide mitsammen. In dem neuen, soziologischen Blick, den er erwerben muß, um zu erkennen, was hier zu erkennen ist, gewinnt er zugleich ein neues Lebensverhältnis, in dem er auf eine neue Art mit der Wirklichkeit verbunden wird, ohne in ihr unterzutauchen. Er gewinnt eine neue dialogische Relation, die ihn läutert. Unvergleichlich tiefer als Roß hat ein jüngerer Soziolog, Siegfried Landshut, in seinem Buch »Kritik der Soziologie« den Charakter der modernen Soziologie erfaßt. »Sie versteht sich heute selbst«, sagt er, »nur dann richtig, wenn sie sich als den zu Wort gekommenen Widerspruch der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst begreift«; denn in ihr komme »jene ›kopernikanische Wendung‹ des öffentlichen Bewußtseins« zum Ausdruck, »durch die sich die entscheidenden Erwartungen und Ansprüche vom Leben des persönlich Einzelnen weg auf die Ordnungen und Institutionen des Miteinanderlebens richteten«. Hier ist mit einer wichtigen Einsicht ein Irrtum verknüpft: aus dem Partner der Wirklichkeit, der ihr freilich ganz zugewandt bleiben muß, um ihre Frage recht zu vernehmen, wird der Geist zu ihrem Sprecher gemacht, in dem sie »zu Wort kommt«. Wo der Geist aber zum bloßen Sprecher der Wirk-

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lichkeit wird, vergißt er, daß die veränderte Richtung der Erwartungen, die Richtung auf die Ordnungen und Institutionen, falsch wird, wenn sie ausschließlich wird; nur wenn er der Partner der Wirklichkeit bleibt, besinnt er sich auf sein Amt, an der Wandlung des Geistes, an seiner eigenen Wandlung zu arbeiten, ohne die auch die veränderten Institutionen der Leerheit, der Unfruchtbarkeit, der Verderbnis verfallen müssen. Une renovation mentale, wie Saint-Simon meinte, genügt freilich nicht; der Geist, von dem ich rede, ist nicht eine der Potenzen oder Funktionen des Menschen, sondern dessen konzentrierte Totalität. Der Mensch selbst muß sich in ebendem Maße ändern, als die Einrichtungen geändert werden, damit sie die ihnen zugedachte Wirkung tun; zugleich mit den Ordnungen des Miteinanderlebens muß das Wesen des Miteinanderlebens selber eine Wandlung erfahren, wenn das neue Haus, das die Hoffnung des Menschen errichten will, nicht ihre Grabkammer werden soll. Hat der Vertreter des Geistes den neuen soziologischen Blick lediglich dazugewonnen, um nun soziologisch zu politisieren, dann geht das verloren, was er und nur er der Wirklichkeit zu geben vermag, er geht sich selber verloren; er muß auch soziologisch erziehen, er muß miteinander lebende Menschen erziehen, er muß den Menschen erziehen, der mit dem Menschen leben kann. Man wird mir vielleicht einwenden, daß beides, die politische und die erzieherische Einwirkung, den Aufgabenbereich des Soziologen überschreite. Dieser Einwand hat eine historische Begründung. Aus dem Philosophieren über soziale Gegenstände, das noch Comte und Stein trieben, wie z. B. Hobbes oder Condorcet es vor ihnen getrieben haben, hat sich in der zweiten Hälfte des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts eine selbständige Wissenschaft abgelöst, die den Namen der Soziologie beibehielt und sich die Beschreibung und Analyse der gesellschaftlichen Phänomene zum Ziel setzte. Sie hat aus ihrem Charakter als »objektive« Einzelwissenschaft vielfach die Pflicht abgeleitet, »wertfrei« zu sein, wie Max Weber und andere deutsche Soziologen es genannt haben, d. h. Tatsachen und Zusammenhänge darzustellen und zu erklären, ohne dabei eine Einschätzung zum Ausdruck zu bringen. Aber als einer dieser Soziologen, Ferdinand Tönnies, 1910 den ersten deutschen Soziologentag eröffnete, begann er seine Ausführungen mit dem Satz: »Die Soziologie ist in erster Linie eine philosophische Disziplin« und bemerkte ergänzend, man könne die theoretische Soziologie auch Sozialphilosophie nennen. Damit sprach er aus, daß die Betrachtung des sozialen Bereichs als eines Ganzen, die Bestimmung der Kategorien, die darin walten, die Erkenntnis seiner Beziehungen zu den anderen Lebensbereichen und das Verstehen des Sinns gesellschaftlichen Seins und Geschehens eine phi-

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losophische Aufgabe sind und bleiben. Philosophie aber gibt es nicht ohne die Bereitschaft des philosophierenden Menschen, überall da, wo die dringende Frage herantritt, ob ein Gedanke richtig oder falsch, ob eine Handlung gut oder schlecht sei usw., die Entscheidung nicht zurückzuhalten, sondern sie auf Grund der erkannten Wahrheit, so gut man sie eben zu erkennen vermochte, vorbehaltlos zu treffen, zu äußern und damit als wirkende Kraft in die Welt zu setzen. Philosophische Behandlung gesellschaftlicher Zustände, Vorgänge und Gebilde schließt demnach Wertung ein, sie schließt Kritik und Forderung ein, – nicht als etwas Gewohntes, aber als etwas Schweres und Verantwortliches, das man nicht scheut, wenn es darauf ankommt. Aber gibt es den Gegenständen gegenüber, die das Verhältnis von Klassen zueinander, das Verhältnis von Völkern und Staaten zueinander betreffen, eine unabhängige Wertung? Kann der Sozialphilosoph seine Erkenntnis und die auf ihrem Grunde zu treffenden Entscheidungen rein halten? Lebendige soziale Gedanken kommen doch einem nur, wenn er wirklich mit den Menschen lebt, ihren Gruppenbildungen nicht fremd bleibt und sogar eine bewegte Masse nicht von außen allein kennt. Ohne echte soziale Bindungen gibt es keine echte soziale Erfahrung, und ohne echte soziale Erfahrung gibt es kein echtes soziologisches Denken. Und dennoch bleibt es wahr, daß alle Erkenntnis ein asketischer Akt ist. In der Stunde der Erkenntnis muß der Mensch etwas Paradoxes zustande bringen: er muß zwar mit seinem ganzen Sein in die Erkenntnis eingehen, er muß auch die Erfahrungen, die seine Bindungen ihm geschenkt haben, unverkürzt in die Erkenntnis einbringen, aber er muß sich von dem Einfluß dieser Bindungen so sehr freimachen, als er mit der stärksten Konzentration der geistigen Kraft vermag. Zum soziologischen Denker wird ein Mensch nicht, wenn sein Traum und seine Leidenschaft sich nie mit Traum und Leidenschaft einer menschlichen Gemeinschaft vermischt haben; aber im Augenblick des Gedankens selbst darf er, soweit das in seiner Macht steht, nur noch Person sein, erkennende, dem Gegenstand aufgeschlossene Person. Ist das geschehen, dann braucht er nicht darüber zu grübeln, wie weit er entgegen seinem Willen auch noch in der Erkenntnis von seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe mitbestimmt war. In menschlicher Wahrheit, d. h. in dem Verhältnis eines Menschen zu der Wahrheit, die er entdeckt, ist immer Freiheit und Gebundenheit, Schau und Trübung verschmolzen; unsere Sache ist einzig dies, mit allem Vermögen unseres Geistes die freie Schau vollbringen zu wollen. Die so gewonnene Erkenntnis ist es, auf deren Grunde der soziologische Denker, wo die dringende Frage herantritt, werten und entscheiden, rügen und fordern darf, ohne sich gegen das Gesetz seiner Wissenschaft zu ver-

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gehen. So nur bewährt sich der Geist in der Krisis, die ihn und die gesellschaftliche Wirklichkeit mitsammen umfängt. Der Geist spricht sein Wort der Forderung, das die Wirklichkeit, das Herz der kranken Wirklichkeit von ihm – von ihm als von ihrem Partner, nicht als von ihrem Sprecher – fordert. Der Vertreter des Geistes spricht es zu einem wachsenden Geschlecht des Geistes, das erzogen werden soll, und er spricht es in die Welt hinein, die geändert werden soll. Aber welches Gewicht hat sein Wort, welche Wirkung ist ihm beschieden? Die ideokratische Zuversicht Saint-Simons hat nicht lange standgehalten. Man hat seither aus immer größerer Nähe etwas kennengelernt, was dem Geist massiv, gewaltig entgegensteht und widersteht, man pflegt es irreführend »die Geschichte« zu nennen. Gemeint ist jene Welt, die sich in den letzten hundert Jahren erneut und in immer größerer Vollständigkeit von aller geistigen Souveränität freigemacht hat, die Welt der faktischen Machterringung und Machtausübung. Aus der Forderung der »Wertfreiheit« der Soziologie klingt eine Resignation heraus, die man etwa so in Worte fassen kann: der Geist wirkt ja doch nur, soweit er sich unter das Diktat mächtiger Gruppen, unter das Diktat dessen was in der Geschichte waltet, d. h. der Macht stellt, – so wollen wir denn ein Gebiet abgrenzen, in dem der Geist nicht zu wirken, sondern nur zu erkennen hat, und sichern wir ihm immerhin innerhalb dieses Gebietes die Unabhängigkeit! Seither ist die Resignation in Europa noch sehr vorgeschritten; daß das Tempo ihres Schritts in Amerika ein langsameres ist, liegt wohl daran, daß man dort die »Geschichte« noch nicht so intim kennenzulernen Gelegenheit hatte. Der große Historiker Jacob Burckhardt hat bekanntlich einmal gesagt, die Macht an sich sei böse. Sie ist es aber eben nur als »Macht an sich«, d. h. wenn sie sich selbst will, wenn sie dem Geist widerstrebt, mehr noch wenn sie sich seiner bemächtigt, ihn durchdringt, ihn mit dem Trieb zur Macht an sich durchsetzt. Seit Hegel hat die Macht auch noch gelernt, ihrem Widerstand gegen den Geist eine großartige Begründung zu geben: der wahre Geist sei der, der sich in der Geschichte selbst, ihren Machtkämpfen und Machtentscheidungen kundgebe, sie, die geschichtliche Macht, sei also von Geistes Gnaden, der echte Vertreter des Geistes sei also der, der ihr, der Macht, diene, jener aber, der ihr mit Kritik und Forderung entgegentrete, sei dem frechen Wahn verfallen, es gebe etwas, das der Geschichte überlegen sei. Diese Begründung verwendet die Macht naturgemäß auch dann, wenn an ihrer eigenen Wiege Kritik und Forderung des Geistes gestanden hat: dann ist eben dieser der rechte gewesen, der aber, der an sie selbst mit Kritik und Forderung herantritt, sei der falsche, der unermächtigte.

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Dieser Situation und ihrer tiefen Problematik gegenüber muß der soziale Denker, der sein Amt kennt, sich immer von neuem die Frage stellen: Wie kann der Geist auf die Änderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit einwirken? Etwa fünfundsiebzigjährig schreibt Platon, nachdem durch die Ermordung seines Schülers und Freundes, des Fürsten Dion, in Syrakus das Unternehmen der Stiftung eines Reiches im platonischen Geiste gescheitert war, den Brief an die sizilianischen Freunde, in dem er über den Willen seines Lebens zur Änderung der staatlichen Wirklichkeit (worin für ihn die gesellschaftliche miteingeschlossen war), über seine Versuche zur Verwirklichung dieses Willens und über die Niederlagen, die er bei diesen Versuchen erlitt, Rechenschaft ablegt. Darin berichtet er, er habe, als er merkte, daß alle Staaten schlecht regiert werden, verkündigt: Von den Übeln werden die Geschlechter der Menschen nicht loskommen, bis entweder die rechten und wahren Philosophen zur staatlichen Herrschaft gelangen oder die Gewalthaber in den Staaten wirklich philosophisch leben. Den Spruch, den Platon anführt, hat er etwa zwanzig Jahre vorher in etwas anderer Sprache in der Herzmitte seines Buches über den Staat als den Hauptsatz niedergeschrieben. Daß er an dieser zentralen Stelle steht, bedeutet, daß es letztlich nicht auf die und die Einrichtungen – die Einrichtungen, von denen das Buch handelt –, sondern auf solche und solche Menschen ankommt und zunächst auf die führenden Menschen. Dazu aber, daß die rechten Menschen herrschen, kann man nach Platon auf zwei Wegen gelangen: entweder muß der Mann des Geistes zur Macht kommen oder er muß die Machthaber zum Leben des Geistes erziehen. In seinem denkwürdigen Traktat »Zum ewigen Frieden« tritt Kant der These Platons, ohne ihn zu nennen, entgegen, und zwar in einem Abschnitt, den er erst in der zweiten Auflage hinzugefügt und als einen »geheimen Artikel« seines völkerrechtlichen Entwurfs bezeichnet hat. Er schreibt: »Daß Könige philosophieren oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen; weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt. Daß aber Könige oder königliche (sich selbst nach Gleichheitsgesetzen beherrschende) Völker die Klasse der Philosophen nicht schwinden oder verstummen, sondern öffentlich sprechen lassen, ist beiden zu Beleuchtung ihres Geschäfts unentbehrlich.« Vorher bemerkt Kant ausdrücklich, es werde damit nicht vorgeschlagen, daß der Staat den Grundsätzen des Philosophen vor den Aussprüchen des Juristen als Stellvertreters der Staatsmacht den Vorzug gebe, sondern nur, daß man ihn höre. Die Resignation ist hier schon deutlich genug, aber auch die Enttäuschung am Geist selbst, an dessen Fähigkeit, zugleich mächtig zu werden und rein zu

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bleiben, Kant nicht mehr zu glauben vermag. Man darf wohl annehmen, daß es in den dazwischenliegenden mehr als zwei Jahrtausenden abendländischer Geschichte besonders die Kirchengeschichte, als die eigentliche Machtgeschichte des Geistes selbst ist, die Kant zu dieser Enttäuschung gebracht hat. Platon glaubt an den Geist und glaubt an die Macht, er glaubt an den Beruf des Geistes zur Macht. Die Macht, die er sieht, ist entartet, aber der Geist kann sie regenerieren. Platons Lehrer Sokrates hat der athenische Staat – das war des jungen Platon entscheidend schwere Erfahrung der »Geschichte« – verurteilt und hingerichtet, weil er nicht den Machthabern, sondern der Stimme gehorchte. Und doch war er, der allein zum echten Leben für die Gemeinschaft zu erziehen verstand, unter allen, die sich mit dem Staat abgaben, wie der Seher Teiresias im Hades, der einzige geistig Lebendige unter flatternden Schatten. Platon weiß sich als seinen Erben und Beauftragten. Er weiß sich berufen, das heilige Gesetz zu erneuern und den gerechten Staat einzurichten. Er weiß, daß ihm deshalb die Macht zusteht. Aber der Geist ist nur bereit, die Macht aus göttlichen und menschlichen Händen zu empfangen, nicht, sie sich zu nehmen. In der Politeia wird Sokrates gefragt: wenn der Mann des Geistes so sei, wie er ihn beschreibe, werde er sich wohl mit Staatsgeschäften gar nicht abgeben wollen. Darauf antwortet Sokrates, in seinem eigenen Staate würde der Mann des Geistes sich gewiß damit abgeben, aber dieser Staat, den er meint und der zu ihm paßt, würde wohl ein anderer als sein Vaterland sein müssen, »wenn nicht etwa eine göttliche Fügung geschieht«. Aber vorher schon war von dem Menschen die Rede, der vom Geist gesegnet doch einer tollen Menge gegenübersteht, ohne Bundesgenossen, um der Gerechtigkeit zu Hilfe zu kommen, und sich wie einer fühlt, der unter wilde Tiere geraten ist; der werde dann eben Ruhe halten, das Seine betreiben, zuschauen und dieses Leben ohne Unrecht zu Ende leben. Doch als man nun ruft, der Mann werde, wenn er stirbt, nicht Geringes vollbracht haben, wehrt Sokrates ab: »Aber das Größte nicht, da er den Staat nicht gefunden hat, der zu ihm paßt.« Das ist Platons Resignation. Nach Syrakus gerufen, begibt er sich Mal um Mal hin, obgleich er auch dort Enttäuschung um Enttäuschung erfährt. Er geht, weil er gerufen worden ist und weil es immer möglich ist, daß im Ruf der Menschen die göttliche Stimme redet. Was sich darzubieten scheint, ist nach Dions Worten: wenn je, müsse jetzt die ganze Hoffnung auf die Verbindung von Philosophen und Herrschern großer Staaten in Erfüllung gehen. Platon entscheidet sich, es zu »versuchen«; er habe sich geschämt, so berichtet er, weil er, wenn er nicht ginge, sich selbst so vorkommen könnte, als sei er nur noch Wort. Offenbar sollen wir werden,

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hatte er einst zu Dion gesagt, daß wir so sind wie wir reden. »Sollen« wir werden, heißt es, nicht etwa: wollen wir werden. Er geht, scheitert, kehrt heim, geht noch und noch einmal, und scheitert. Als er nach dem dritten Scheitern heimkehrt, ist er fast siebzig Jahre alt. Danach erst gelangt der Mann, den Platon erzogen hatte, zur Macht; aber ehe er die Zerrüttung des Volkes zu meistern vermag, wird er von einem ermordet, der sein Genosse in der platonischen Akademie war. Damit die Menschheit von ihren Leiden genese, so meinte Platon, müssen entweder die Philosophen – »die, die man jetzt Unnütze nennt« – Könige oder die Könige Philosophen werden. Er selber hat wohl zuerst auf das eine, dann auf das andre, auf beides als auf eine »göttliche Fügung« gehofft. Er ist aber in Griechenland nicht zum Basileus erhoben worden, und der von ihm zum Philosophen erzogene Fürst hat das sizilianische Chaos nicht gemeistert. Wohl mag die Befriedung Siziliens, die nach seinem Tode der Korinther Timoleon vollbrachte, unter einem Anhauch Platonischen Geistes gelungen sein, und Alexander, dessen Herrschaft später Griechenland vereinigte, hat gewiß nicht ohne Nutzen bei Platons größtem Schüler Philosophie gelernt, aber Platons Staatsidee ist weder dort noch hier verwirklicht worden. Platon hat die entartete athenische Demokratie nicht regeneriert, und er hat das Reich, das er meinte, nicht gegründet. Zeigt uns dieses edle Scheitern die Ohnmacht des Geistes der Geschichte gegenüber überhaupt? Platon ist das erhabenste Bild jenes Geistes, der in seinem Verkehr mit der Wirklichkeit von seinem Besitz der Wahrheit ausgeht. Nach der platonischen Lehre ist die vollkommene Seele ja die, die sich ihrer Schau der Vollkommenheit erinnert. Sie hat vor diesem Leben die Idee des Guten geschaut, hat in der Ideenwelt die Gestalt der Gerechtigkeit geschaut, und nun im Wachstum des Geistes entsinnt sie sich ihrer. Es kann ihr nicht Genüge tun, diese Gestalt zu kennen und sie andere kennen zu lehren. Sie will ihr den Atem des Lebens einflößen und sie lebendig in die Menschenwelt stellen als den gerechten Staat. Der Geist besitzt die Wahrheit, er schenkt sie der Wirklichkeit, durch den Geist wird die Wahrheit wirklich; das ist der Urgrund der Lehre. Aber die Lehre erfüllt sich nicht. Der Geist gelangt nicht dazu, der Wirklichkeit das zu geben, was er ihr geben will. Liegt das an ihr nur, liegt es nicht auch an ihm? Und liegt es nicht auch an seinem Verhältnis zur Wahrheit? Das sind Fragen, vor die Platons Scheitern uns stellt. Es ist ein Scheitern solcher Art, daß es uns davor stellen muß. Aber es gibt auch ein anderes, ganz andersartiges Scheitern des Geistes. »Im Todesjahr des Königs Usijahu« wird Jesaja in einer Vision des

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himmlischen Heiligtums zum Künder berufen. Der ganze Vorgang weist darauf hin, daß Usijahu noch am Leben ist. Dieser König ist seit langem aussätzig. Der Aussatz wurde bekanntlich in biblischer Zeit nicht als eine Krankheit wie andere angesehen, sondern als das Ausbrechen einer Verstörung des Verhältnisses zwischen Gott und einem Menschen am menschlichen Leibe. Man hat sich zugeflüstert, der König sei geschlagen worden, weil er sich im Heiligtum zu Jerusalem sakrale Funktionen anmaße, die ihm, als dem nur politischen Statthalter Gottes, nicht zustanden. Jesaja aber empfindet darüber hinaus, daß im Aussatz Usijas die Unreinheit des ganzen Volkes, auch seine, Jesajas eigene, ausgebrochen ist; sie alle sind »unreiner Lippen«, sie müßten alle, wie der Aussätzige muß, »den Lippenbart verhüllen«, damit in Atem und Wort ihre Unreinheit nicht in die Welt ziehe und sie verunreinige; sie alle sind dem wahren König unbotmäßig und untreu gewesen, in dessen himmlischem Heiligtum Jesajas Augen nun seine Glorie sehen. Hammelech – zum erstenmal in der Schrift steht hier die Bezeichnung Gottes als des Königs Israels so nackt und klar: er ist der König, der Aussätzige, den das Volk König nennt, ist nur sein ungetreuer Statthalter. Und der wahre König sendet Jesaja nun mit einer Botschaft an das ganze Volk, von der er ihm ankündigt, daß er mit ihr scheitern wird, so scheitern, daß diese vom Volk mißkannte, mißdeutete, mißbrauchte Botschaft das Volk – mit Ausnahme eines kleinen »Restes« – in seiner Untreue nur noch bestärken und »verstocken« wird. Der Träger des Geistes erfährt hier am Anfang seines Weges, daß er scheitern muß. Er wird nicht wie Platon enttäuscht werden: das Scheitern gehört zu dem Weg, den er zu gehen hat. Jesaja glaubt nicht wie Platon an den Geist als des Menschen Eigentum. Der Mann des Geistes – so ist es von der Urzeit her überliefert – ist einer, auf den der Geist eindringt, den er ergreift und mit dem er sich bekleidet; nicht ist er einer, in dem der Geist steckt. Der Geist ist ein Geschehen, er ist etwas, was am Menschen geschieht, der Sturm des Geistes trägt den Menschen, wohin er ihn tragen will, und dann stürmt er weiter in die Welt. Jesaja glaubt auch nicht wie Platon an die Macht als des Menschen Eigentum. Macht wird dem Menschen verliehen, damit er seinen statthalterischen Auftrag erfülle; mißbraucht er sie, dann verzehrt sie ihn, und an Stelle des Geistes, der auch zu ihm kam, um ihn zur Macht auszurüsten, sucht nun »ein böses Geisten« ihn heim. Der Machthaber steht in der Verantwortung einem gegenüber, der ihn in der Stille befragt und dem er antworten muß, oder es ist um ihn getan. Jesaja glaubt nicht an den Beruf des geistigen Menschen zur Macht. Er selbst weiß sich als einen Mann des Geistes ohne Macht. Es gehört zum

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Wesen des Künders, machtlos zu sein und als der Machtlose den Machthabern entgegenzutreten und sie an ihre Verantwortung zu gemahnen, wie Jesaja den Achas an der Straße zum Wäscherfeld. Er selber will keine Macht gewinnen. Das eben begründet den besonderen soziologischen Sinn seines Amtes. Jesaja fühlt nicht wie Platon eine vollkommene Seele sein eigen. Er fühlt und bekennt sich als unrein. Er spürt, wie ihm die Unreinheit, die seinen Atem und sein Wort durchsetzte, an den Lippen ausgebrannt wird, damit seine Lippen die Botschaft sprechen dürfen. Jesaja schaut Thron und Majestät dessen, der ihm die Botschaft gibt. Die Gestalt des gerechten Staates, die Platon schaut, kennt er nicht. Er weiß und sagt: es ist den Menschen geboten, gegeneinander gerecht zu sein. Er weiß und sagt: die Ungerechten gehen an ihrer Ungerechtigkeit zugrunde. Und er weiß und sagt: ein Reich der Gerechtigkeit wird kommen, ein Gerechter wird als der treue Statthalter des Königs regieren. Aber von der Struktur des Reiches weiß er nichts und sagt er nichts. Er hat keine Idee, er hat nur eine Botschaft. Er hat nichts zu gründen, er hat nur etwas auszurufen. Was er auszurufen hat, ist Kritik und Forderung. Seine Kritik und Forderung geht darauf, daß Volk und Fürst die unsichtbare Herrschaft real anerkennen. Es ist keine theologische Metapher, wenn Jesaja »hammelech« sagt, es ist ein politischer Verfassungsbegriff. Aber diese Gottesherrschaft ist auch das Gegenteil jener Priesterherrschaft, die man gewöhnlich Theokratie nennt und von der man mit Recht gesagt hat, sie sei »die absolut unfreie Form der Gesellschaft«, denn sie sei »unfrei durch den Mißbrauch des Höchsten, was der Mensch kennt«. Nur der Machtlose kann den Willen des wahren Königs für den Staat aussprechen und Volk und Regierung zur gemeinsamen Verantwortung diesem Willen gegenüber mahnen. Er kann dies aber tun, weil er die Illusionen der gegenwärtigen Geschichte durchbricht und die potentiellen Krisen erkennt. Die Kritik und Forderung geht eben deshalb auf die Gesellschaft, das Miteinanderleben der Menschen. Ein Volk, das Gott selbst im Ernst seinen König nennt, muß zum wahrhaften Volk, zur Gemeinschaft erwachsen, in der zwischen all ihren Gliedern Rechtlichkeit ohne Zwang, Wohlwollen ohne Schein, die Brüderlichkeit der begeistert einem Herrn folgenden Schar waltet. Wo die soziale Ungleichheit, die Scheidung in Freie und Unfreie die Gemeinschaft zersprengt und Abgründe aufreißt, da gibt es nicht wahres Volk, da ist das Volk »Gottes Volk« nicht mehr. Hier ergeht die Kritik und Forderung an jeden einzelnen Menschen, von dem andre Menschen abhängen, an jeden, der das Schicksal andrer mitzubestimmen hat, und das heißt, an jeden überhaupt. Wenn Jesaja Ge-

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rechtigkeit sagt, meint er nicht Institutionen, sondern dich und mich, denn ohne dich und mich wird die herrlichste Institution zur Lüge. Und schließlich geht die Kritik und Forderung auf das Verhältnis zu den anderen Völkern. Laßt euch auf keine Bündnisse ein, sagt sie, verlaßt euch nicht auf diese oder jene sogenannte Weltmacht, sondern »haltet euch still« (7,4; 30,15), baut euer eignes Volk zu einem wahren Volk, das seinem göttlichen König treu ist, und dann braucht ihr euch nicht zu fürchten. Das Haupt von Damaskus, sagt Jesaja zu Achas an der Straße zum Wäscherfeld, ist der Mann Rezin, und das Haupt von Samaria ist der Mann Pekach, aber wer das Haupt Jerusalems ist, weißt du, wenn du es wissen willst. Jedoch: vertraut ihr nicht, bleibt ihr nicht betreut. Man spricht hierzu gern von einer »utopischen« Politik und rückt damit Jesajas Scheitern in die Nähe des Scheiterns Platons, der die Utopie der Politeia geschrieben hat. Man sieht in dem Spruch Jesajas an Achas eine zwar »religiös« sublime, aber politisch wertlose Äußerung, eine von denen also, die sich nur zu feierlichem Zitieren, nicht zur Anwendung in der Wirklichkeit eignen. Aber die einzige politische Chance für ein zwischen die Weltreiche geklemmtes Völkchen ist die metapolitische, auf die Jesaja hinweist. Er verkündigt eine Wahrheit, die freilich in der bisherigen Geschichte noch nicht erprobt werden konnte, aber nur weil man sie nie zu erproben gesonnen war: einzig ein Volk, das in sich selbst, in seinem eignen Leben den Frieden verwirklicht, wird die Völker zum Völkerfrieden führen. Realisierung des Geistes wirkt magnetisch auf eine Menschheit, die am Geist verzweifelt; das bedeutet uns Jesajas Lehre. Wenn der Berg des Hauses Gottes auf der Wirklichkeit eines echten Gemeinschaftslebens »festgegründet« sein wird, erst dann, dann aber tatsächlich werden die Weltstämme zu ihm »strömen«, um hier Frieden statt Krieg zu lernen. Auch Jesaja scheitert, wie es ihm in der Berufung angesagt worden war. Volk und König widerstreben ihm, und sogar der nachfolgende König, der sich ihm anschließt, versagt im Entscheidenden, da er mit dem babylonischen Rebellen gegen Assyrien liebäugelt. Aber dieses Scheitern ist ein anderes als das Platons. Für dieses Anderssein legt unsere Existenz Zeugnis ab. Wir leben von dieser Begegnung an der Straße zum Wäscherfeld, leben davon, daß es Menschen gegeben hat, die mit diesem »hammelech« für die ganze soziale und politische Wirklichkeit Ernst machten. Das hat uns herübergetragen in diese neue Chance einer Realisierung des Geistes, die wir ahnen. Unser kann ein Tag der Geschichte werden, der die »Geschichte« widerlegt. Der Prophet scheiterte für die geschichtliche Stunde, aber nicht für die Zukunft seines Volkes. Es bewahrt seine Botschaft als etwas, das in einer andern Stunde, unter ande-

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ren Bedingungen und in andern Formen verwirklicht werden soll. Auch der prophetische Geist gelangt nicht dazu, der Wirklichkeit seiner Stunde das zu geben, was er ihr geben will. Aber er senkt es in das Volk ein für alle kommenden Zeiten; da lebt es seither als das Verlangen, die Wahrheit zu verwirklichen. Der prophetische Geist meint nicht, wie der platonische, eine allgemeine und zeitlose begriffliche Wahrheit zu besitzen, er empfängt immer nur eine Botschaft für eine Situation; aber gerade deshalb redet sein Wort noch nach Jahrtausenden zu den wechselnden Situationen der Volksgeschichte. Er stellt kein allgemeingültiges Bild der Vollkommenheit, keine Pantopie und Utopie vor die Menschen hin; er hat daher auch nicht die Wahl zwischen seinem Vaterland und einem andern Land, das eher »zu ihm paßt«; für die Verwirklichung ist er auf den Topos, ist er auf diesen Ort, auf dieses Volk angewiesen, als auf das Volk, das anfangen muß. Er hat aber auch nicht wie der platonische Geist die Möglichkeit, sich, wenn er sich wie einer fühlt, der unter wilde Tiere geraten ist, in die Haltung des ruhigen Zuschauens zurückzuziehen; er muß die Botschaft sagen. Und die Botschaft wird mißverstanden, mißkannt, mißbraucht, sie bestärkt und »verstockt« das Volk noch in seiner Untreue. Aber ihr Stachel bleibt in ihm für alle Zeiten. Der soziale Denker ist kein Prophet, sondern ein Philosoph. Er hat keine Botschaft, sondern eine Lehre. Aber für die Änderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die er meint, kann ihm nicht die platonische Aufgabe, die Aufrichtung des allgemeingültigen Bildes der Vollkommenheit, sondern die jesajanische der Kritik und Forderung in die gegenwärtige Situation hinein bestimmend sein. Er selbst kann, wo die dringende Frage herantritt, Kritik und Forderung nicht als Botschaft aussprechen, wohl aber auf dem Grunde seiner Erkenntnis. Muß jedoch nicht auch er, wie all die Größeren, scheitern? Ist denn auch nur der »geheime Artikel« Kants in Kraft getreten, daß die Könige und die Völker die Philosophen anhören sollen? Bisher hat die Krisis des Menschengeschlechts die Menschen für den Geist nur noch tauber gemacht. Aber das wird sich gewiß noch im Verlauf der Krisis, freilich wohl erst in einer späten Phase ändern: wenn der Mensch nämlich an der Macht und ihren autonomen Entscheidungen verzweifelt, wenn die Macht an sich selber irre wird und nach Weisung begehrt. Der Geist ist kaum, wie Saint-Simon meinte, zum Diktator der kommenden Dinge berufen. Aber er kann ihr Bereiter und ihr Berater sein. Er kann die Menschen für sie erziehen. Und wenn sich eine Änderung vollzieht, ist er es, der darüber zu wachen haben wird, daß nicht auch die veränderten Institutionen der Verderbnis verfallen und das aufstrebende

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Leben vergewaltigen. Das menschliche Wissen von der Gesellschaft muß heute, in der Verwirrung und Verwischung der sozialen Grundbegriffe, vielfach neu beginnen, mit einer neuen begrifflichen Klärung, mit einer Säuberung der Lettern. Vielleicht wird ihm aber eben diese stille schwere Arbeit zu einer neuen Gestalt verhelfen, wie Lorenz Stein sie vor hundert Jahren ankündigte. »Machtvoll«, sagte er, werde das Wissen werden; wir wollen lieber sagen: es wird wirkend werden. Für Jerusalem aber ist noch mehr als das auszusprechen. Es gibt Situationen des Volkslebens, in denen das Volk für eine Stunde gleichsam plastisch und das Unmögliche möglich wird. Diese Stunde ist die Chance des Geistes. Vielleicht ist solch eine Stunde nah. An dieses Vielleicht denken wir, wenn wir unsern Dienst tun. Wir würden ihn freilich auch tun, wenn es das nicht gäbe. Denn resigniert oder unresigniert, der Geist arbeitet.

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Die Macht der Zeitung Ein-, zweimal täglich dringt in dein Zimmer eine Größe ein, der du dich, obgleich sie dir unbekannt ist, nicht entziehen kannst. Kaum hast du sie bemerkt, hat sie dich schon überrumpelt und du nimmst alles, was wichtig ist oder als wichtig erscheint, alles, was gestern oder heute morgen auf der Welt geschehen ist, in dich auf. Widersetzt du dich ihr aber, da der Fluss an Information allzu groß ist, und nimmst dir vor, dich mit dem zu begnügen, was deinem Herzen nahe ist, ziehen dich die fettgedruckten Überschriften mit ihren Versprechungen in Bann; und bestehst du dennoch auf deinem Widerstand, drohen sie dir an, du verzichtest auf das Interessanteste und bliebest außen vor, hinter dem dahinfließenden Tag zurück. Und schon siehst du dich auf den Wellen getragen. Nun angenommen, du bist ein Mensch, der sich das, was er hört oder liest, sofort in Gedanken auszumalen und unmittelbar sinnlich vorzustellen pflegt, – wie wirst du dich dann verhalten? Werden all die Nachrichten, die dir in der Zeitung begegnen, in deinen Gefühlen zu lebendiger Wirklichkeit, wirst du sofort in Stücke zerrissen. Es gibt keine Rettung für dich, außer du stellst diesen Vorgang sinnlicher Vorstellung ein. Wer sich jedoch daran gewöhnt hat, alles, was sich soeben zugetragen hat, in sich aufzunehmen, ohne es sich in Gedanken auszumalen, wird alsbald ein verschlossenes Herz haben. Die Flut allstündlich sich zutragender furchtbarer menschlicher Leiden kommt über dich, während du sie aufnimmst und zugleich auch nicht aufnimmst; du weißt alles und weißt doch nichts, und dein Herz, ein ehemals junges und empfindsames Menschenherz, gerät zum Aufzeichnungsinstrument. Ist es also besser, wenn wir überhaupt erst gar keine Zeitungen lesen? Wir müssen, wir sind gezwungen, Zeitung zu lesen. Wir können nicht zu dem Zustand zurückkehren, in dem wir uns befanden, bevor wir vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen haben. Das können wir nicht wollen. Wir sind also gezwungen das, was täglich geschieht, täglich in uns aufzunehmen. Es gibt auf der Welt keine Träume vom ursprünglichen Paradies mehr, und gäbe es sie, so wäre uns verboten, solche Träume zu träumen. Die Zeitung verkörpert diese Wahrheit. Die Wahrheit, derzufolge wir mit allen in Verbindung stehen, mit den Leidenden wie mit den Tätern. Wäre es also besser, sähe die Zeitung davon ab, so viele Nachrichten zu bringen? Weder kann noch darf die Zeitung irgendetwas verschweigen. Doch kann sie dem ihr inhärenten, die Einbildungskraft überstrapazierenden

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Gift, auf das wir nicht zu verzichten vermögen, entgegenwirken. Sie kann von Zeit zu Zeit, einmal in der Woche zum Beispiel, eine der Begebenheiten der Woche oder der vorigen Woche, die ihrem Inhalt oder ihrem symbolischen Wert nach für die Leser der Zeitung als äußerst bedeutend gelten darf, herausstellen und zwar, indem man darauf zurückkommt, nicht jedoch im Telegrammstil, bei dem man vernimmt, was sich zugetragen hat, ohne es zu vernehmen, sondern indem man es als wirkliches Ereignis vorstellt, d. h. indem man die Begebenheit erzählt. Gelingt der Zeitung dies, so wird sie uns dabei helfen, die in uns starr gefrorene Kraft, die imaginäre Kraft des Herzens, sich Dinge so vorzustellen, wie sie sind, wieder ins Leben zu rufen. Worauf ich hier abziele, ist sehr schwer zu leisten. Die Erzählfertigkeit ist eine nicht weit verbreitete Kunst. Darüber hinaus ist es eine Kunst für sich, etwas aus der Wirklichkeit zu erzählen. Doch sollten die hervorragenden Schriftsteller es nicht als unter ihrer Würde ansehen, sich dieser großen und noblen Aufgabe zu stellen. Der Zeitung wird es obliegen, ihnen genug Material, das nicht in Telegrammen auszuschöpfen ist, bereitzustellen. Zudem ist es keine einfache Aufgabe der Redaktion, von einem zum anderen Mal die richtige Wahl zu treffen und zwischen Wichtigem und Unwichtigem, zwischen dem Allerwichtigsten und dem, was im allgemeinen zum Wichtigen zählt, zu unterscheiden. Diese Unterscheidung setzt zu allererst eine Weltanschauung im wahren Sinne des Wortes voraus. Diese Tugend aber ist im allgemeinen eine notwendige Voraussetzung, will man eine Zeitung recht eigentlich herausgeben.

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Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose Das stärkste Wesensmerkmal in der Geschichte der Galuth ist die vollkommene Labilität. Gewiss, in keiner Stunde in keines Volkes Geschichte gibt es eine völlige Sicherheit, das historische Gegeneinanderstehen der Völker und Staaten schliesst die Möglichkeit des Einsturzes in jedem Zeitpunkt ein, aber die Stabilität überwiegt, auf exponierte und steten Erschütterungen ausgesetzte Zeiten folgen solche des ruhigen Aufbaus, und was immer sonst in den schlimmen Tagen in Frage gestellt wird, der Zusammenhang des Grossteils des Volkes mit seinem Boden bleibt unberührt. In unserer Galuth-Geschichte hingegen trägt jede fest und dauerhaft scheinende Lage den Keim der Zerstörung und Zersetzung in sich. Es gibt keine noch so wichtige Funktion, die wir in der Wirtschaft und Kultur eines Volkes ausüben, die sich nicht von einem Tag zum andern als entbehrlich, ja überflüssig und lästig erwiese; jeder geschichtliche Bündnisvertrag, der unserer Überzeugung nach zwischen uns und einem »Wirtsvolke« besteht, ist in Wahrheit, wie man sich von den Verträgen Friedrich des Grossen erzählt, auf ein Papier geschrieben, das in unsichtbarer Schrift den Vermerk trägt: sic stantibus rebus, gültig nur solang alles ist wie es ist. Aber wir fallen immer wieder in die Illusion, diesmal sei es endgültig, eine Illusion, die man freilich nicht einfach mit der verächtlichen Bezeichnung »Assimilation« abtun darf, denn neben äusserer Anpassung gibt es doch immer wieder die Erscheinung einer echten, gewachsenen Verbundenheit mit Erde und Kultur, einer zwar in sich problematischen, aber doch existenziellen, in die Tiefe unserer Existenz reichenden Synthese, deren Ende den Charakter der Zerreissung eines organischen Zusammenhangs hat. Der merkwürdigste und bedeutsamste Fall dieser Art war jene Entwicklung der deutschen Judenheit seit ihrer Emanzipation, die jetzt durch einen Eingriff des Wirtsvolkes oder richtiger des Wirtsstaates ihren Abschluss gefunden hat, – einen Eingriff, der sich freilich in der automatischen Gründlichkeit seiner Vernichtungstat, in seiner ausgerechneten Raserei seltsam genug in der Geschichte der abendländischen Menschheit im 20. christlichen Jahrhundert ausnimmt. Ich sage: es war der merkwürdigste und bedeutsamste Fall. Denn die Symbiose von deutschem und jüdischem Wesen, wie ich sie in den vier Jahrzehnten, die ich in Deutschland verbrachte, erlebt habe, war seit der spanischen Zeit die erste und einzige, die die höchste Bestätigung empfangen hat, welche die Geschichte zu erteilen hat, die Bestätigung durch die Fruchtbarkeit. Es gibt zwei Arten von Begegnungen zweier einander

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fremden völkischen Elemente miteinander: entweder sind die beiden einander negativ-fremd, sie wirken nicht aufeinander, sie gehen keine Verbindung miteinander ein, sie bleiben hart nebeneinander, bis das physisch schwächere untergeht; oder sie sind einander positiv-fremd, in all ihrer Fremdheit sind sie ihrem Wesen aufeinander angelegt, aufeinander gerichtet, aufeinander gewiesen, gemeinsamer Bereich taucht auf, in dem fruchtbarer Kontakt zwischen ihnen erfolgt, ein kulturelles Werk erwächst, das ohne diese Begegnung ungeschaffen geblieben wäre. Die griechisch-jüdische Kultur hatte nur vereinzelte Gestalten und Werke hervorgebracht, und nur auf philosophischem Gebiet; die spanisch-jüdische Kultur war reich und vielfältig, aber sie war ihrem Ursprung und ihrer entscheidenden Entwicklung nach eine arabisch-jüdische, also aus der Begegnung zweier nicht fremder, sondern verwandter Völker entstanden. Die kurze Produktivität der deutsch-jüdischen Begegnung, die sich freilich schon voraus ankündigte, als Goethe von dem Geist Spinozas, ja schon als Luther vom Geist der hebräischen Bibel ergriffen wurde, aber deren Blüte kaum ein halbes Jahrhundert dauerte, war eine echte und naturhafte. Gewiss, es gab auch ein vorschnelles und unwahres Aufnehmen deutscher Werte und deutscher Form durch Juden, einen unrechtmässigen und auflösenden Einfluss von Juden auf deutsches Leben und deutsche Kultur, aber dies war nur eine lose, wenn auch auffällige Peripherie. Im Kern war der jüdische Anteil an deutscher Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst ein bauender und bildender. Es gibt kein Gebiet deutscher Existenz, in dem in diesem Zeitalter nicht jüdische Menschen führend mitgewirkt hätten, wertend, ordnend, deutend, lehrend, gestaltend. Das war kein parasitäres Dasein; ganzes Menschentum wurde eingesetzt und trug seine Frucht. Aber tiefer noch als durch individuelle Leistung wird die Symbiose durch ein eigentümliches Zusammenwirken deutschen und jüdischen Geistes beglaubigt. Ob sich ein deutsches Dichtertum, wie das Stefan Georges, in jüdischer Jüngerschaft in geschichts- und kulturwissenschaftliches Werk umsetzt, ob ein jüdisches Denkertum, wie das Edmund Husserls, durch deutsche Schüler sich in die methodischen Grundlagen verschiedener Erkenntniszweige ergiesst, immer sehen wir nicht bloss Ergänzung, sondern wahre Befruchtung erscheinen. Ich selbst habe es im geistigen Umgang mit bedeutenden Deutschen immer wieder erlebt, wie unvermutet Gemeinsames aus der Tiefe aufbrach und zu Wort und Zeichen zwischen uns wurde. Es ist bei solcher Wirklichkeit zu verstehen, dass sich manche vortreffliche jüdische Männer allzu rückhaltlos an das Deutschtum hergaben. Ich und meine Freunde haben in all diesen Jahren laut und unermüdlich

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davor gewarnt, aber jene Wirklichkeit war zumeist stärker als wir. Wer hier leichthin verurteilt, hat die tragische Tiefe des Galuth-Schicksals, die Entstehung und Vernichtung echter Synthesen nicht verstanden. Ich will hier nicht davon sprechen, welche Mächte und Unmächte die Katastrophe herbeigeführt haben, die wie keine andere vor ihr den Charakter der Zerreissung eines organischen Zusammenhangs hat. Sie bedeutet eine tiefere Zerreissung im Deutschtum selbst, als sich heute ahnen lässt. Ein Jahr vor dem »Umbruch« hat ein deutscher Denker in seiner Gedenkrede auf Hegel auf die drohende Gefahr hingedeutet. »Das jüdische Prinzip«, sagte er und verstand darunter das p r o p h e t i s c h e Prinzip des Geistes, »ist unser eigenes Schicksal geworden und eine ›secessio judaica‹ wäre eine Trennung von uns selbst.« Heute ist die Kontinuität des geistigen Werdens im Deutschtum abgebrochen. Wenn sie einst wieder erneut wird, wird sie mit Notwendigkeit an jene Werte, die die Symbiose trugen, und an jene Werke, die aus ihr hervorgingen, anknüpfen. Aber die Symbiose selbst ist zu Ende und kann wohl nicht wiederkehren. Die jüdischen Menschen aus deutschem Land, die sich hierher auf jüdische Erde gerettet haben und – das ist unsere Hoffnung und Erwartung – retten werden, bringen in dem, was sie an grossen Kräften und Werten in der Symbiose in sich aufgenommen und mit ihrem eigensten jüdischen Sein verwoben haben, einen wichtigen Beitrag zum Aufbau unseres Lebens und unserer Gemeinschaft mit. Auch der Jischuw ist ein Schmelztiegel, aber nicht einer, in den wie in den amerikanischen verschiedenartiges Erz unvermittelt zusammengeworfen wird, sondern in dem verschiedene Legierungen desselben Urerzes zusammengetragen sind. Jede von ihnen spendet der Heimat ein anderes kostbares Gut aus der Welt der Völker. All dies soll hier miteinander zu einer grossen Gestalt des Lebens verschmelzen. Der Beitrag der deutschen Juden aber muss uns besonders wertvoll und willkommen sein. Sie bringen uns, in jüdische Substanz eingegangen, von jenem edlen deutschen Seelenelement mit, das ihre Peiniger verleugnen und ersticken.

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Was kann dieser Tag, der Erste Mai, in dieser Zeit der grössten Schwäche des Sozialismus noch sein, einer Schwäche, wie sie in dem halben Jahrhundert, seit dieser Tag als regelmässige Kundgebung der Kraft des kämpfenden Sozialismus eingesetzt worden ist, nie zuvor bestanden hat? Der Tag ist nie ein echtes Fest gewesen. Feste werden nicht gefeiert, weil etwas geschehen soll, sondern weil etwas geschehen ist. Die Erstürmung der Bastille kann erst gefeiert werden, nachdem sie erstürmt worden ist. Man kann nicht eine Hoffnung an Stelle einer Erinnerung feiern. Der Tag ist auch nie eine Einübung des Generalstreiks gewesen. Revolutionäre Handlungen können, wie Gustav Landauer einmal gesagt hat, im Gegensatz zu kriegerischen Handlungen nicht eingeübt werden. Revolution kann nicht gelernt werden wie Krieg, sie kennt keine Manöver. Dieser Tag ist stets nur eine Demonstration gewesen, die Vorzeigung der Kraft des kämpfenden Sozialismus. Aber eben dies kann er jetzt nicht mehr sein. Die Vorzeigung hat sich als trügerisch erwiesen, und nun gibt es nichts mehr vorzuzeigen. Der Sozialismus ist fast überall, wo er stark war oder doch stark schien, in die Katakomben niedergestiegen, und es wäre lächerlich, sich in den paar Ländern, wo er noch über der Erde weilt, dessen rühmen zu wollen. Vielmehr müssen wir heute, wenn wir dem furchtbaren Ernst der Stunde gegenüber unsere Pflicht erfüllen wollen, uns im Geiste dorthin, in die Katakomben begeben, und das in Freiheit erkennen, was dort aus dem Zwang erkannt wird, und das laut aussprechen, was dort geflüstert wird. Und das ist: die Erkenntnis der Schuld der Sozialisten an der Katastrophe des Sozialismus. Unser Erster Mai muss vor allem ein Tag des Gerichtes über uns selbst sein. Von der Selbstanklage, die uns heute obliegt, will ich hier nur eines vorbringen, das mir als das Wichtigste erscheint. Die Sozialisten haben es versäumt, in der Welt eine sozialistische Wirklichkeit zu schaffen. Sie haben nicht erkannt, dass eine Umwandlung der Lebensgrundlagen und Lebensformen, wie sie vom Sozialismus angestrebt wird, nicht durch den politischen Kampf allein herbeigeführt werden kann, dass es vielmehr darauf ankommt, gleichzeitig mit ihm überall, wo Voraussetzungen dazu bestehen, so viel sozialistische Wirklichkeit wie möglich, eine so sozialistische Wirklichkeit wie möglich zu begründen. Der politische Kampf kann nur die Institutionen und die Machtverteilung ändern, aber ob diese Änderungen zu einem sozialistischen Leben führen, das hängt davon ab, inwieweit bereits Einheiten einer neuen Wirklichkeit entstanden sind,

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um die sich nunmehr ein Kristallisationsprozess vollziehen kann. Ohne solche Kristallisationskerne werden die veränderten Institutionen keine sozialistischen Lebensformen hervorbringen, und unter der veränderten Machtverteilung werden die alten hohlen Beziehungen zwischen den Menschen unter einer neuen Firma fortbestehen. Man stelle sich nur vor, wie ganz anders die Entwicklung nach der russischen Revolution verlaufen wäre, wenn ein Netz von in Selbstführung geübten und von frischem Gemeinschaftsblut durchkreisten Gemeinden und ein Zusammenhang ebensolcher Produktivgenossenschaften bestanden hätte, beide zusammen stark genug, um ein echtes »Rätesystem« aufzubauen. Vermutlich wäre Russland dann das Vorbild einer, so weit als von den Gesamtinteressen aus zulässig, dezentralisierten Gesellschaft geworden, statt einem neuen, den Machtbereich des Zarismus weitaus übersteigenden Zentralismus zu verfallen, der alles persönliche Leben unterjocht und alle selbständige Entfaltung freier Beziehungen zwischen Mensch und Mensch und echten menschlichen Gemeinschaften unterbindet. Mit dieser Versäumnis haben die Sozialisten aber nicht bloss die Realisierung des Sozialismus aufs schwerste gehemmt, sie haben auch den schlimmsten Widersachern zum Siege verholfen. Sie, die Sozialisten, haben eine ungeheure Tatsache des letzten Vierteljahrhunderts, dieser grossen Krise der Menschheit, nicht erkannt: der brennende Durst der Menschen nach einer neuen Wirklichkeit. Wenn nicht dieser Durst, wäre es den totalitären Tendenzen nicht gelungen, die Völker für sich zu gewinnen. Insbesondere die faschistische Suggestion hätte sich nie so auswirken können, wenn nicht die Menge bereits durch diesen Durst zubereitet gewesen wäre, den Giftkelch anzunehmen, als ob es ein Labetrank wäre. Ein besonders trostloses Beispiel dieser Verkennung des Standes der Dinge bietet die deutsche Sozialdemokratie der Epoche. Sie war in dem Wahn befangen, alles, was die Massen forderten, sei eine Besserung ihrer wirtschaftlichen Lebensbedingungen. Dass ein Bedürfnis danach, besonders nach dem Weltkrieg, bestand, ist ja selbstverständlich; aber unvergleichlich tiefer und elementarer, freilich auch dem Einzelnen unvergleichlich weniger bewusst war jene Sehnsucht nach einer neuen sinnvollen Wirklichkeit, in die man sich aus dem organisierten Chaos der Gegenwart hinüberretten könnte. Die grossen Wellen der Arbeitslosigkeit tragen, mit der Reihe der müssigen, unausfüllbaren Stunden mächtig dazu bei, diese Verzweiflung am Bestehendem zu nähren. Es war nicht bloss die Not, es war die Sinnlosigkeit des Lebens, das man zu leben hatte, die die Seelen so aufrührte und zur Aufnahme der Irrbotschaft so fähig machte. Die deutsche Sozialdemokratie begnügte sich

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mit Lohntarifen und Erwerbslosenunterstützungen und dachte nicht daran, rechtzeitig in der Form von genossenschaftlichen Siedlungen, in der Form von Sozialisierung von Unternehmungen in genossenschaftlichen Formen, in zweckmässiger assoziativer Verbindung industrieller Produktion mit intensivem Bodenbau, zunächst für einen Teil des Volkes, dann für mehr und mehr ein wirklich neues Leben aufzubauen; schon die ersten Versuche wären sichtbar und wirksam genug geworden, um Trost und Zuversicht zu erwecken. Freilich gehörte auch ein grosses Werk der Erziehung mit dazu, das die Menschen dahin geführt hätte, ihre eigentliche existentielle Not zu erkennen und nach der wahren Abhilfe, nach dem gemeinschaftlichen Leben zu streben; aber wer wird zu behaupten wagen, ein solches Werk der Erziehung wäre unmöglich gewesen? Man hat es Einzelnen, Machtlosen, Unautorisierten überlassen, und sie haben getan was sie konnten; aber so, ohne den starken Zusammenhang mit Versuchen der Realisierung konnte es naturgemäss nicht gelingen. Und so kam es, wie es kommen musste, es kam, wovon jene Einzelnen und Machtlosen Mal um Mal gewarnt hatten, um Verwirklichung zu fordern, weshalb man sie unter der Bezeichnung von »utopischen Sozialisten« dem Volk als harmlose Narren darstellte: die aller Künste der Verführung kundige, mit allem Raffinement durchorganisierte Lüge bemächtigte sich des Volkes, das die pflichtvergessenen Diener der Wahrheit hatten verwahrlosen lassen. Ihr gelang es, in der Menge ein Bewusstsein ihres Durstes zu erwecken, freilich ein falsches, irregeleitetes Bewusstsein, und sie versprach ihn zu stillen. Sie appellierte an elementare Kräfte und Triebe, die von den Sozialisten vernachlässigt worden waren, freilich so, dass sie sie zugleich verzerrte und verdarb, und sie versprach sie zu befriedigen. Alles weitere hat sich folgerichtig entwickelt. An diesem Beispiel ist wohl deutlich genug geworden, was ich darunter verstehe, dass wir heute im Geist in die Katakomben der durch den Zusammenbruch betroffenen Sozialistentruppen mit herabsteigen sollten. Doch ist von uns, gerade von uns, doch noch etwas anderes zu sagen. Wir jüdischen Sozialisten dieses Ländchens sind vielleicht die einzige territoriale Gruppe des Sozialismus, die es als solche unternommen hat, eine sozialistische Wirklichkeit zu schaffen. Diese Wirklichkeit ist die Arbeitersiedlung in allen ihren Formen! Wie mangelhaft sie auch noch ist, es ist doch ein grosses Werk, das in der Geschichte des Sozialismus mit unauslöschlichen Lettern verzeichnet bleiben wird. Kein Wunder, dass die vom Parteibetrieb Erfüllten davon nichts haben wissen wollen und nur die freieren, auf die Wahrheit des Lebens gerichteten Geister verstanden haben, was hier zu werden begonnen hat. Ich werde nie das

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Wort einer sehr aktiven Kommunistin vergessen, als ihr von unserem Siedlungswerk erzählt wurde. Sie fragte, ob unsere Siedler Agitation trieben. Man antwortete ihr: »Gewiss, durch ihr ganzes Leben!« »Ach«, rief sie, »das ist ja nichts! Das ist ja nur hemmend!« Diese Kritik kann uns lehren, wie wichtig in Wahrheit das ist, was hier geschaffen wurde, ob es auch nur ein Anfang ist. In dieser Stunde, da die dämonische Riesenwalze über die lebendigen Völker dahinrast, dürfen wir allein uns sagen, dass wir eine sozialistische Wirklichkeit zu verteidigen haben. Aber auch wir haben uns einen ernsten Vorwurf zu machen. Wir haben nicht, wie es unsere Aufgabe gewesen wäre, die hier geschaffene sozialistische Wirklichkeit in den Mittelpunkt des politischen Handelns unserer sozialistischen Bewegung in Palästina gestellt. Es lag uns ob, diese Politik in erster Reihe als den Kampf um die Stärkung, Erweiterung und Auswirkung dieser unserer realen sozialistischen Position zu führen; das ist nicht geschehen; man hat für sie viel getan, aber dies nicht. Weit schlimmer noch ist, dass wir der Idee eines aufrichtigen und gerechten Zusammenlebens der Menschen, die sich in dieser unserer sozialistischen Siedlung, wenn auch noch unzulänglich, verkörpert hat, nicht Eingang in unsere äussere Politik, ich meine: in unser Verhältnis zu unserem Nachbarsvolk, verschafft haben. In diesem Verhältnis haben wir bisher noch sehr wenig von unserem Sozialismus zu verwirklichen versucht. Ja, wir finden heute auch in unserem sozialistischen Lager eine Bestrebung eingenistet, die sich die Dampfwalze zum Vorbild zu nehmen scheint, selbstverständlich indem sie sie unseren bescheidenen Dimensionen gemäss umformt. Man kann die nationale Assimilation nicht weiter treiben. Aber man kann sich auch nicht schwerer am Sozialismus vergehen. Das Wichtigste, was wir heute zu tun haben, ist, die Menschen, die sich auf diesen Weg begeben haben, gewiss ohne zu erkennen wohin es führen kann, davor zu warnen. Davon, was sein wird, wenn sie Misserfolg haben, will ich nicht reden. Aber auch wenn sie Erfolg haben, wird es sich grausam rächen. Es ist widersinnig und aussichtslos, die linke Hand nach Gerechtigkeit auszustrecken und mit der Rechten gewisse Bewegungen auszuführen, die nicht nach Gerechtigkeit aussehen. Und gäbe es keine Gerechtigkeit mehr, würde es auch keinen Zionismus mehr geben.

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Zwei Beiträge zur Klärung des Pazifismus Botschaft an den Schulungskurs der Internationalen Friedens-Akademie, Schloß Greng, 1.-12. August 1939

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Außerstande, an Ihren Besprechungen teilzunehmen, werde ich doch im Geiste unter Ihnen sein, mit der Kraft des Wunsches, daß Sie gemeinsam ein Stück des Weges erkennen möchten, der zu gehen ist. Mit dem geschriebenen Wort kann ich, in die gewaltig beanspruchende Pflicht meines Ortes und dieser seiner Stunde genommen, nur einen allgemeinen Hinweis beitragen. Der Weg, nach dem wir fragen, ist der Weg, der – soweit menschlichem Tun hier ein Einfluß zusteht – einzuschlagen ist, damit die Wirrsal der Gegenwart, die uns zuweilen als ein Endchaos erscheint, sich in ihrem andern Wesen als das Chaos eines neuen Anfangs offenbare. Zwei Meinungen über den Weg stehen einander unversöhnlich gegenüber. Die eine fordert, daß man damit beginne, die »Verhältnisse« zu ändern, denn nur aus ihrem Anderswerden könnte das der Menschen und ihrer Beziehungen zueinander hervorgehen. Die andere erklärt, neue Ordnungen und Einrichtungen, an die Stelle der alten gesetzt, würden kein Quentlein des Lebens verwandeln, solange sie von unveränderten Personen getragen werden. Diese Alternative ist falsch. Man muß an beiden Enden zugleich ansetzen; sonst kann’s nicht geraten. Was neue Verhältnisse wirklich sind, auch in der Wirkung, hängt davon ab, welche Art menschlichen Daseins ihnen eingetan wird: aber wie soll neues Menschentum irdisch bestehen, wenn es nicht in neue Ordnungen tritt, die es halten und bestätigen? Die Welt des Menschen ohne die Seele dazu ist keine menschliche Welt; aber auch die Seele des Menschen ohne die Welt dazu ist keine menschliche Seele. An beiden Enden zugleich also – damit’s aber fromme, bedarf es der Gegenwart eines Dritten, das nicht ohne die Anwehung aus einer andern Sphäre mitten unter uns sein kann: des Geistes. Das wahrhaft Neue ist nie eine Aenderung, sondern ein Ewiges, das erscheint. Es ist mir, als ob zwei Chöre den Plan umschritten, der Chor, der nach den Ordnungen, und der Chor, der nach den Menschen ruft; sie errufen sie nicht, ehe sie ineins anstimmen: Veni creator spiritus. Am Beispiel des Krieges, das ja mehr als ein Beispiel ist, läßt sich’s verdeutlichen. Der Krieg wird nicht aufhören, bis eine echte Vertreterschaft die Territorien, die Rohstoffe und die Bevölkerungen des Planeten als ein Ganzes erfaßt und behandelt; aber das ist nicht genug: die Menschen müssen mitsammen solche werden, die den Krieg um keines Lebenszieles mehr auf sich nehmen. Beides zusammen mag zur »Abschaffung des

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Krieges«, d. h. zur Ersetzung des Krieges durch den Nichtkrieg führen. Aber ist es das, was wir meinen, wenn wir sagen, daß der Krieg überwunden werden soll? Ein Weltinventar und Weltprogramm ist noch kein wahres Einvernehmen der Völker; Menschen, die auf alle kriegerische Auseinandersetzung verzichten, sind noch nicht des andern, des elementaren Krieges, des gärenden zwischen Gruppe und Gruppe, des stillen zwischen Person und Person, des heimlichen im Innersten des Einzelnen selber, all des Tausendnamigen und Namenlosen ledig geworden. Der Friede des Nichtkrieges ist nicht der große Friede, die große Pax, wie sie auf dem Wandbild im Palazzo publico zu Siena inmitten der Tugenden thront, sie alle überragend, gebieterisch. Was sie spricht, ist kein Nicht, sondern das schöpferische Ja des Geistes. Das wird fehlen, wenn der Krieg nur abgeschafft wird; und dann wird alles fehlen. Der Geist redet, er redet ewiges Wort, Wort, das ewig neu werden kann, indem es erscheint. Ich will von den ewigen Worten des Geistes nur eins anführen, das in der Fassung »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« unheimlich vertraut geworden ist. In Wahrheit heißt es: Sei liebend zugetan (ein nur hier vorkommender Dativ: nicht ein bloßes Gefühl ist gemeint, sondern eine aktive Haltung des ganzen Wesens) deinem Genossen (d. h. dem Menschen, mit dem du jeweils, in irgendeinem Augenblick, unmittelbar zu tun hast), als der dir gleich ist (nicht »wie dich selbst« sollst du ihn lieben, sondern ihm liebend zugetan sein als einem, der so wie du ist, so liebebedürftig, so liebestatbedürftig wie du). Das angesprochene Du aber war, als das Wort zum erstenmal gesprochen wurde, nicht bloß der einzelne, sondern über ihn hinaus auch eine ganze Gemeinschaft (III Mose 19). Es sagt dem Menschen, wie er zu jedem ihm lebensmäßig begegnenden Mitmenschen sich verhalten solle, oder vielmehr sich verhalten werde (denn dieser Imperativ ist eigentlich ein Futurum, das Gebot birgt eine Verheißung), aber es sagt zugleich darüber hinaus dem Menschenvolk, wie es zu jedem geschichtsmäßig ihm begegnenden Mitmenschenvolk sich verhalten solle – oder vielmehr sich verhalten werde. Dieser zweite Sinn des Wortes ist noch nicht vernommen worden. Aber auch der erste, der in einer Antwort Jesu wieder laut geworden ist, ist noch kaum vernommen worden. Wir rufen dem Wort, daß es erscheine. Veni creator spiritus.

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Heute, zwanzig Jahre nach dem Tode des Freundes, frage ich mich: Was hat sich seither ereignet, was ihn widerlegt hat? und was hat sich seither ereignet, was ihn bestätigt hat? Und wie ich mich darauf besinne, verflüchtigt sich alles, was ihn zu widerlegen schien, aber was ihn bestätigt, steht in eherne Tafel gegraben. Man weigert sich zu sehen, was auf der Tafel steht, aber es wird euch in die Augen springen, dass ihr sie nicht mehr wegwenden könnt. Da steht: »Krisis des Sozialismus«. Und das heisst: Krisis des andern Sozialismus, der nicht der seine war, des herrschenden. Zwei Prozesse, die schon in den letzten Lebensjahren Landauers begonnen hatten, sind seither so weit gelangt, dass jeder Unbefangene erkennen muss, wohin sie führen. Der eine Prozess ist seinem Wesen nach eine Scheinrealisierung. Ein Riesenstaat, in dem sich, wie kaum je in einem andern, die rücksichtslose Macht des Abstraktums »Staat«, des »kältesten aller Ungeheurer«, über die menschliche Person, über dieses Stück Fleisch und Blut, dieses Stück Leben und Tod, über dieses Stück bebender Wirklichkeit, in allen Bereichen des Daseins auswirkt, gibt vor, die Erfüllung des Menschheitstraums nach einer Gemeinschaft zwischen den Menschen zu sein. Alles Sein wird durch die Macht, die akkumulierte Macht der »Beauftragten« dieses Staates verdrängt, nichts ist mehr da als die Macht und das zwischen die Illusion, an der Macht teilzuhaben, und die Furcht, von ihr vernichtet zu werden, geteilte Herz der Machtlosen. Wohl, sie sind frei geworden, das heisst, sie sind nicht mehr Arbeitsknechte von Unternehmern aus Fleisch und Blut, die immerhin nur über ihre Arbeitskraft verfügten, sie sind nun Knechte des grössten aller Unternehmen, des Unternehmens Staat geworden, und er verfügt auch noch über ihre Freizeit, er verfügt über ihre Kindheit, er verfügt über ihre Lebensform und über ihre Gesinnung; sie aber dürfen daran glauben, sie selber seien dieser Staat, da ja ihre »Beauftragten« ihn regieren – sie dürfen sich frei glauben, soweit ihre Furcht ihnen nicht den Gegenbeweis liefert. Leviathan gibt sich als Messias aus – und man glaubts ihm! Nein, man glaubts ihm nicht mehr. So wenig, wie man heute noch jene berühmte Verheissung eines »Absterbens« des Staatsapparats zu glauben vermag. Nichts, nicht eine einzige kleine Tatsache weist auf die allergeringste Bereitschaft zu solchem Absterben hin. Wie sollte auch Leviathan auf der Höhe seiner Macht ans Abdanken denken!

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Landauer hat immer wieder, mit vollkommener Klarheit und Folgerichtigkeit, darauf hingewiesen, dass durch Machtanhäufung und Gewaltausübung nicht Sozialismus werden kann. »Nicht im Staat wird der Sozialismus Wirklichkeit werden, sondern draussen, ausserhalb des Staates, zunächst, solange die überalterte Albernheit, dieser organisierte Übergriff, dieser Riesentölpel noch besteht, neben dem Staat.« (1907) »Sozialismus kann nur erwachsen aus dem Geiste der Freiheit und freiwilligen Einung, kann nur erstehen in den Individuen und ihren Gemeinden.« (1908) »Diese Leute haben ja doch keinen Instinkt für das, was Gesellschaft heißt. Sie ahnen nicht am entferntesten, daß Gesellschaft nur eine Gesellschaft von Gesellschaften, nur ein Bund, nur Freiheit sein kann. … Sie glauben, Sozialismus sei Staat, während die Kulturdurstigen den Sozialismus schaffen wollen, sie aus der Zerfallenheit und dem Elend, dem Kapitalismus und der dazu gehörigen Armut, aus der Geistlosigkeit und der Gewalt, die nur die Kehrseite des wirtschaftlichen Individualismus ist, also eben aus dem Staat heraus wollen zur Gesellschaft der Gesellschaften und der Freiwilligkeit. … Wie sie aber in diesem ihrem Sozialismus alle Formen des Kapitalismus und der Reglementierung wiederfinden, … so ist auch der Proletarier in ihren Sozialismus mit hinübergegangen: aus dem Proletarier des kapitalistischen Betriebs ist der Staatsproletarier geworden …« (1911) Wahrlich, erst jetzt, nach fast dreissig Jahren, können wir die Wahrheit dieser Worte ganz erkennen, erst jetzt, da sie als ungeheure Tatsache vor uns steht. Und diese Tatsache – das dürfen wir nicht verkennen – macht es uns viel, sehr viel schwerer, zur Verwirklichung des Sozialismus zu streben, für sie zu werben, um sie zu kämpfen. Für Unzählige bedeutet ja diese Scheinverwirklichung des Sozialismus das Grab ihrer Hoffnung. Wenn das Sozialismus ist, sagen sie, dann ist der Sozialismus ein Trug: er bringt der Not des Menschen keine Linderung, er schafft keine reineren, echteren Beziehungen zwischen Mensch und Mensch, er bereitet eine Gemeinschaft des Menschengeschlechts nicht vor, er heilt unser krankes Leben nicht, er stillt unsere wunde Sehnsucht nicht, es gibt keine Heilung, es gibt keine Stillung! Was ist dieser täglich wachsenden Verzweiflung gegenüber zu tun? Wir müssen dem Leviathan gegenüber das Bild des wahren Sozialismus zeigen, der nicht Zentralismus, sondern Föderation, nicht vom Staat konzentrierte alte Wirtschaft, sondern neue genossenschaftliche, nicht Zwang, sondern Verantwortung ist. Das ist der Sozialismus Landauers. Ihr wälzt den Stein vom Grab eurer Hoffnung, so müssen wir sagen, wenn ihr mitten in dieser Welt wie sie ist mit der Verwirklichung beginnt. Dazu hat Landauer den Weg gewiesen. Es ist der Weg der kleinen, gemeinsam lebenden, gemeinsam wirtschaftenden,

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gemeinsam an einem kleinen Stein des Baus der Zukunft arbeitenden Gemeinschaft. Dünkt euch der Weg zu langsam? Jeder schnellere ist ein Irrweg. Der zweite Prozess, der in diesen zwanzig Jahren so weit gediehen ist, dass wohl jeder Unbefangene erkennen muss, wohin er führt, ist seinem Wesen nach eine Irrealisierung, ein irrealer und immer irrealer Werden von etwas, was, wenn auch nicht seiner Theorie und seiner Taktik nach, so doch den lebendigen Kräften nach, die sich in ihm als einer Bewegung kundgaben, eine Realität war: die Realität der Arbeiterbewegung der Welt. Sie ist zum Teil in den Verfall des demokratischen Parteistaats, in das entartete, alle echte Entscheidung hemmende Parteigetriebe miteinbezogen worden, das nur immer neuen Varianten des Fascismus den Weg bahnt, zum anderen Teil ist sie zu einem Anhängsel jenes massiven Kollektivismus geworden, von dem ich sprach und der mit dem – freilich noch weit lügenhafteren und schamloseren – Fascismus wetterfest zu demonstrieren, wie die Herrschaft einer einzigen Partei aussieht. Unfruchtbare Kompromisse dort, unfruchtbares Gezänk hier, – und in einer Stunde, in der, wenn in irgendeiner, der Sozialismus als selbständiges Element in der Weltpolitik hätte dastehn, sein Wort sprechen und seine Tat tun müssen, gibt es ihn fast nur noch als negativen, die allgemeine Problematik noch steigernden Faktor. Und wieder ist es Landauer, der Mal um Mal, mit vollkommner Klarheit und Folgerichtigkeit, gezeigt hat, dass es keine politische Durchsetzung des Sozialismus ohne seine sich vollziehende Verwirklichung geben kann, d. h. dass man jeweils nur für eine konkrete sozialistische Wirklichkeit ihre politischen Rechte durchsetzen kann, und dass Parteigetriebe ohne Verwirklichung das Werden des Sozialismus nicht allein nicht fördert, sondern behindert. »Überall, wo sich solche, die ursprünglich zum Umwälzen und Neuschaffen ausgegangen sind, so eine heilige Organisation geschaffen, wo sie eine Partei gegründet haben, bekunden sie damit, dass sie am Ende ihres Lateins angelangt sind.« (1909) »Solange die Sozialisten nicht da sind, die den Sozialismus verwirklichen und leben, ist keinerlei Aussicht auf Umgestaltung der sozialen und Eigentumsverhältnisse.« (1911) »Der Sozialismus hat die Aufgabe, eine soziale und öffentlich-rechtliche Ordnung herzustellen, der alle politische Macht ablöst … Der Sinn der Parteiherrschaft und Parteiorganisation und ihr Tun und Treiben im ganzen ist ein einziger Schaden am Volksgefüge und den Seelen der Menschen.« (1913) Scheint euch das übermässig? Aber lehrt nicht die ganze Geschichte des Parteiwesens seit Landauers Tod, dass er recht hat? Bekommen nicht in jeder Partei die Nurpolitiker, die nur »durchsetzen« wollen, die Oberhand

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über die Menschen des Lebens, die verwirklichen wollen? Haben nicht auch in allen sozialistischen Parteien Europas die Redner die Oberhand über die Änderer, die Phrase die Oberhand über das Beispiel, die Taktiker die Oberhand über die »Utopisten«, d. h. über die wahren Realisten bekommen? Ist nicht über alles wirkliche Leben der Menschen, über die Wirklichkeit ihres Wirtschaftens, ihres Strebens, Planens, Versuchens eine Tünche der politischen Fiktionen ausgeschüttet worden, die all das Lockere, Bewegliche steif und starr macht? Wie schwer ist es geworden, durchzudringen zum Kern, zu den faktischen Beziehungen zwischen den lebendigen Menschen, die ja in Wahrheit das sind, was durch den Sozialismus geändert werden soll! Wo ist das sozialistische Beginnen, als dessen Verfechter und Vorkämpfer die Politik einzig ihr Daseinsrecht hätte! Wo ist zwischen den Sozialisten Sozialismus, sozialistische Gemeinschaft! Und wenn sie nicht ist, wo sie sind, wo soll sie werden! Die Politik, sagt ihr, gehe darauf aus, die Lebensbedingungen zu ändern; aber, was unter den geänderten Bedingungen des Lebens aus dem Leben selbst werden wird, hängt wesentlich davon ab, wieviel unter den ungeänderten Bedingungen, trotz ihnen an neuem Leben wächst. Bedingungen mögen in der Welt der Politik hergestellt werden; aber Leben entsteht nur durch Leben. Und wieder führt uns unsere kritische Erkenntnis auf den von Landauer gewiesenen Weg der beginnenden Gemeinschaft. Aber sie, die kaum irgendwo sonst in der Welt ist, hier im Land ist sie! Wozu anderswo erst die Umkehr vom geläufigen Treiben, der schwere Entschluss zum Abseitstreten und das Wagnis des Neubruchs gehört, das ist ja da, es lebt, es bringt Leben hervor und hat ein Leben zu verfechten. Die kleine, gemeinsam lebende, gemeinsam wirtschaftende Gemeinschaft ist da. Sie arbeitet an dem kleinen Stein am Bau der Zukunft, und es gibt keinen grösseren. Sie muss nur wieder, wie in der Frühzeit, den freien Glauben an sich selber und den freien Mut zu sich selber bekommen. Sie muss sich nur wieder zutrauen, der Pionier des Sozialismus zu sein. Sie muss nur wieder wissen, dass die Politik ohne sie kein Leben hat, sie aber ohne die Politik keine Durchsetzung, dass also die Politik ihr zu dienen hat und nicht sie der Politik. Sie muss nur fordern, dass man die Politik mit dem Maß des Lebens und nicht das Leben mit dem Maß der Politik messe. Um diese Forderung jedoch mit Fug und Recht stellen zu können, muss sie noch lebendiger werden als sie heute ist, sozialistisch leben und den Sozialismus mit Leben füllen, weit mehr als sie das heute tut. Sie muss der Ort werden, wo sich der Sozialismus zwischen Mensch und Mensch ereignet, unter stündlicher Überwindung neuer Hindernisse, durch tagtäglichen Sieg der Brüderlichkeit über die Trägheit des Her-

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zens, über Misstrauen und Ingrimm. Die Kibbuzim dieses Siedlungswerkes sind das, was Landauer gemeint hat: sie sind es, wenn sie nur das in Wahrheit werden, was sie im Grunde sind.

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Wenn Herzl noch lebte Man fragt mich, was Herzl, wenn er diese Zeit erlebt hätte, wohl zu ihr und ihren Problemen sagen würde. Damit kann natürlich nicht gemeint sein: was Herzl heute denken würde, wenn er mit achtzig der Mann geblieben wäre, der er mit vierundvierzig war; das wäre eine absurde und unfruchtbare Vorstellung. Sondern es kann sich nur um einen Herzl handeln, der alles, was sich zwischen 1904 und 1940 begeben hat, mit uns erfahren hätte und heute der Mann dieser Erfahrungen, von ihnen beeinflusst und umgeprägt wäre. Ja, die Frage bekommt für mich diesen Sinn: welche seiner Grundanschauungen hätte Herzl unter dem Einfluss dieser Erfahrungen geändert? Herzl war ein Liberaler, ein grossherziger und grosszügiger Liberaler. Er war aber zugleich ein Mensch, der einen durchaus nichtliberalen Gedanken zu denken vermochte. Ein solcher war der »Judenstaat«. Staaten können in liberalen Händen wachsen und gedeihen; gegründet ist, soviel ich weiss, noch nie einer aus liberaler Gesinnung worden. Dazu kommt aber, dass Herzl diesen Staat für ein »Volk« gründen wollte, das kein echter Liberaler als Volk anzusehen geneigt war, und dass er durch die Staatsgründung dieses Volk erst eigentlich konstituieren wollte, was einem echten Liberalen vollends zuwider sein musste. Herzl wusste nicht, dass er in der Stunde, da er »Zionist« wurde, seinen Geist einer Idee öffnete, die mit dem Liberalismus nicht zu verschmelzen war: Zionismus heisst die Bedingungen eines Volkslebens grundlegend ändern wollen, und zwar so, dass durch diese Änderung das Urwesen des Volkes die Kruste der Entartung durchbricht, wogegen liberal sein letztlich bedeutet, den vorhandenen Kräften die grösstmögliche Auswirkung unter den gegebenen Bedingungen des Lebens zu verschaffen. Ein englischer Zionist kann für England liberal sein, er kann es nicht für das Judentum, in dem Masse, in dem er seinen Liberalismus (worunter natürlich nur der politische, nicht der religiöse zu verstehen ist) auf das Judentum erstreckt, hört er auf Zionist zu sein. In dem Masse, in dem Herzl Zionist wurde, trat eine zweite Seele in seine Brust. Er gab ihr aber nicht den Raum, den sie beanspruchte. Er wollte auch als Zionist, auch in seinem Zionismus liberal bleiben. Er gab sich selber nicht zu, dass es um eine grundlegende Änderung der Bedingungen eines Volkslebens ging, ebenso, wie er sich selber nicht zugab, dass es hier ein Urwesen gab, anders als die gewohnte Oberfläche, dem man den Durchbruch zu ermöglichen hatte. Herzls innerer Widerspruch als Zionist bestand vor allem darin, dass er das zugleich revolutionäre und restaurative Prinzip des Zionis-

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mus nicht erkannte und sich weigerte, es zu erkennen. Der Zionismus ist ein Seil, zwischen dem Geheimnis einer fernen Vergangenheit und dem Geheimnis einer fernen oder nahen Zukunft gespannt; Herzl hielt ihn für eine asphaltierte Strasse zwischen einer schlechten Gegenwart und ihrer verbesserten Fortsetzung. Unsere Frage bedeutet: hätte Herzl, wenn er am Leben geblieben wäre, vernommen, was die zweite, hinzugetretene Seele, die in Wahrheit die Ursache war, von ihm forderte? Ändern hiess für Herzl: technisch ändern. Er dachte in technischen Begriffen. Als er seinen Plan darzulegen begann, bezeichnete er die Judennot als eine vorhandene »Treibkraft«, die zu verwenden war. Er begeisterte sich für die Technik. Von dem Jahrhundert der technischen Errungenschaften, das uns die »Arbeitssklaven von unerhörter Kraft«, die Maschinen gebracht hatte, sagte er, es habe uns damit »eine köstliche Renaissance« gebracht. Er, der doch sonst sich der richtigen Termini zu bedienen wusste, merkte gar nicht, wie verkehrt es war, in einem noch so gewaltigen technischen Fortschritt eine Renaissance, eine Wiedergeburt zu sehen. Aber er ging weiter: er glaubte an die Technik. Das schwerste Problem unseres Weltalters, das soziale, war für ihn ein technisches: »die Gestaltung der sozialen Frage hängt nur von der Entwicklung der technischen Mittel ab«. Und dieser Glaube an die Technik sollte auch im Zionismus walten. »Mit dem Dampf und der Elektrizität ist ein neuer Geist herrisch, herrlich in die Welt eingezogen. Dieser Geist soll über der zionistischen Bewegung schweben.« Das ist nicht eine Wertschätzung der Technik als eines neutralen Werkzeugs, mit dem der Menschengeist, wenn er rein und treu ist, allerhand zustandebringen kann, und wenn er es nicht ist – allerhand anderes, sondern die Technik selber bringt nach dieser Ansicht den »neuen Geist« mit sich, man kann sich zwar gegen ihn verfehlen; Bomber statt Sportflugzeuge fabrizieren und dergleichen, aber schliesslich entscheidet eben der neue Geist und führt die Epoche einer höheren Gesittung und Lebensordnung herbei. Seither ist die Technik von Erfolg zu Erfolg weitergezogen. Sie hat sich mancherorten von der Verbindung mit dem Liberalismus freigemacht und sich verschiedenartigen Zwangsregimes zur Verfügung gestellt, und wer sie sich dienstbar machte, hatte Erfolg. Der Glaube an sie ist weithin herrschend geworden, er liegt fast allem, was heute geglaubt wird, mehr oder weniger deutlich zugrunde, die Technik ist die Magie unseres Weltalters. Dieser Glaube »schwebt« auch über der zionistischen Bewegung und ihrem Werk; jeder technische Erfolg wird als ein weiterer Schritt zur Wiedergeburt gebucht. »Wer weiss, wie er das zu machen hat was er anstrebt, steht bereits auf einer höheren Stufe des Lebens« – das ist sein erstes Dogma. Aber der Zweifel an der Herrlichkeit des neuen Geistes

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nagt immer gründlicher an der Seele des Menschen. Die Gestaltung der sozialen Frage ist mit der Entwicklung der technischen Mittel nicht oder nur zum Schein weiter gekommen; man darf vermuten, dass jeder weitere technische Fortschritt die soziale Frage nur komplizieren und ihre Lösung noch erschweren wird, solange diejenige Instanz, welche der Technik ihre jeweiligen Aufgaben stellt – auch wenn dies nicht mehr »das Kapital«, sondern »der Staat« ist – sich dabei um den wirklichen arbeitenden Menschen, um dessen Verhältnis zu seiner Arbeit nicht kümmert, sondern ihn selber technisch, als ein Mittel, behandelt. Der Widerspruch zwischen der Steigerung der Mittel und der wachsenden inneren Unordnung des Lebens selbst, für das diese Mittel bestimmt sind, ist allen offenkundig, die sich nicht scheuen die Wahrheit einzusehen; sie erkennen, dass hier ein ungeheurer aufgeblähter Lebensapparat und eine entsprechend zusammengeschrumpfte Lebenssubstanz zueinander gehören. Auch bei uns beginnt man zu merken, dass man mit all dem »Machen« zu den wahren Quellen des Lebens noch gar nicht vordringt oder sie gar damit verschüttet. Ein menschliches Leben beginnt erst, wo die Sicherheit des Machens aufhört und man auf das achtet was sich nicht machen lässt. Auch Zion wird nur da gebaut wo man erkennt, dass es nicht genügt zu »bauen«. Ich bin überzeugt, dass Herzl, wenn er bis in unsere Tage lebte, sich dieser Erkenntnis nicht entzogen hätte. Es kam ihm schliesslich doch auf den Menschen an; er gehörte zu denen, denen das Herz heftiger schlägt, wenn sie dran denken, dass es das wunderliche Wesen »Mensch« wirklich auf der Welt gibt und dass man diese Tatsache nur verstehen kann, wenn man sie als eine Aufgabe versteht. Er hätte erkannt, dass es der modernen Technik an der Zielsetzung auf den Menschen, auf das Werden des Menschen hin fehlt. Und wenn er hier unter uns lebte, hätte er erkannt, dass die Kelle eitel werkt, wenn der Bauplan weder vom Wesen des Baugrunds noch von der Geschichte der einst auf ihm errichteten Bauten etwas weiss, und dass, wenn es sich so verhält, das berühmte Schwert in der anderen Hand nur dazu dienen kann, sich selber zu verwunden. Aber nicht das allein. Hätte Herzl dies erkannt, dann wäre ihm gewiss auch etwas anderes nicht verhohlen geblieben. »Wir sind«, sagt er, »eine historische Gruppe von Menschen, die erkennbar zusammengehört und einen gemeinsamen Feind hat, das scheint mir die ausreichende Definition für die Nation zu sein.« Wenn es um eine Definition, und noch dazu um eine für die Propaganda bestimmte und geeignete geht, mag das vielleicht zutreffen; nicht, wenn es um das Werk einer Erneuerung des Volkslebens geht. Wenn die toten Gebeine sich auch einander nähern und

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Adern und Fleisch sie überziehen, muss erst dem Geist gerufen werden, dass er sie belebe, und wenn er auch von den vier Weltrichtungen zusammenkommt, ist es doch ein Geist. Wer hier die Gemeinschaften und die Gruppen nebeneinander, nicht miteinander bestehen sieht, nicht wesentlich anders, als die ausserjüdischen Konfessionen in diesem Land nebeneinander bestanden haben und bestehen, weiss, dass die zionistische Parole noch nicht der Geist ist und dass die mit »Lärm« sich regenden Skelette noch nicht ein neues Leben darstellen. »Wir sind ein Volk – ein Volk«, sagt Herzl. Gewiss, wir sind ein »Volk« zu nennen; aber sind wir wirklich ein Volk? Ich bin überzeugt, dass Herzl, wenn er durch unsere Erfahrungen hindurchgegangen wäre, erkannt hätte, dass keine Planung aus uns ein Volk machen kann, sondern nur der Geist, der einer ist. In dem Augenblick aber, wo Herzl dies erkannt hätte, hätte seine zionistische Seele seine liberale überwunden. Geist nämlich ist, wie etwas was nicht gemacht werden kann, so auch etwas, was nicht einfach da ist: er muss gerufen werden, mehr noch, er muss wachgerufen werden. Er kann heute wohl von keinem Einzelnen wachgerufen werden, aber vielleicht von einer Schar, die bis ins innerste Herz von dem zugleich revolutionären und restaurativen Prinzip des Zionismus ergriffen ist. Wie ich Herzl den Greis vor mir sehe, weiss ich, dass er nicht bei denen wäre, die sich auf ihn zu berufen pflegen, sondern bei dieser werdenden Schar.

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Über das Wesen der Kultur I Der holländische Historiker Huizinga schreibt in seinem Vortrag über den Menschen und die Kultur, den er noch im Frühjahr 1938 in Wien hätte halten sollen, bevor sich dies aus den uns bekannten Gründen zerschlug: »Ja, wissen wir denn eigentlich recht gut, was wir meinen, wenn wir Kultur sagen?« Und weiter: »Wir müssen uns immer wieder damit zufriedengeben, dass wir leben und denken in einer Welt des unzulänglichen Ausdrucks.« Es ist unmöglich, sagt er, den Begriff Kultur von vornherein vermittels einer Definition festzulegen. Dieser Ausspruch erinnert uns auch an die Worte Herders, dass es nichts Unbestimmteres gibt als das Wort Kultur. Aus dieser, bereits in der Natur des Gegenstandes festliegenden Schwierigkeit, kommt die Soziologie zu ihrem Versuch, die Kultur über eine A n a l y s e zu definieren, also durch Separation der verschiedenen in ihr enthaltenen Grundprinzipien, durch das Erfassen jedes einzelnen von ihnen in seinem Wesen, ihrer Beziehungen untereinander, und der verschiedenen Kombinationen, in denen jedes mit dem anderen erscheint. Diese Forscher sind der Ansicht, dass die Kultur kein einheitlicher Akt ist, sondern sich aus Zweierlei zusammensetzt, nämlich dem Prozess der Zivilisation und der Bewegung der Kultur. Der Prozess der Zivilisation ist das Eindringen des Verstandes in alle Bereiche des Seins, der Verlust des ganzen Seins an den Verstand, die Rationalisierung des Seins. Dieser Prozess schließt in sich ein: 1) Eine stetige Entwicklung des Bewusstseins, und den immer größer werdenden Einfluss des Rationalismus auf unser Bild von der Welt und das Bild vom Ich. 2) Die verstandesmäßige Ausformung einer praktischen und zweckdienlichen wissenschaftlichen Ordnung. 3) Die Umsetzung und Verwirklichung dieser Ordnung durch die Schaffung eines Apparates von Methoden und Disziplinen. Im Vergleich dazu ist die Bewegung der Kultur eine Bewegung der Seele des Menschen um allein ihres Ausdrucks willen, deren Streben und Suchen, ihrem Wesen Form zu verleihen; und gegenüber dieser Bewegung ist doch alles Vorhandene nicht mehr als Material zur Gestaltung dieser Form. Das Wesentliche aller Bestandteile der zivilisatorischen Ordnung ist das Bewusstsein; das Wesentliche aber aller Akte der Kultur ist die seelische Wahrheit. Eine jede Kultur ist in ihrer Geschichte eine

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Welt von Symbolen für sich, von Symbolen der Seele. Die Zivilisation beschäftigt sich mit einer Welt, die bereits existiert und die sie nur enthüllt, ja selbst ihre Erfindungen sind nichts anderes als Entdeckungen dessen, was verborgen liegt. Ihre ganze Tätigkeit ist eine Repräsentation des für jeden Feststehenden und für jeden Notwendigen. Die Kultur hingegen ist Schöpfung, Schöpfung eines Neuen, neuer Dinge; ihr Wesen ist es, speziell und einmalig zu sein. Der Prozess der Zivilisation durchfließt alle großen historischen Epochen wie ein Strom, und wenngleich ihn mancherlei Hindernisse, Erstarrungen, Umwege und Rückstauungen berühren, so führt er dennoch stets in eine Richtung weiter; während der Akt der Kultur wie ein kreativer Ausbruch geschieht, heraustritt wie Erker und Spitzen aus einer Wand. Die großen geschichtlichen Epochen sind in ihrer zivilisatorischen Entwicklung aufeinander aufgebaut; doch in ihrer kulturellen Entwicklung sind sie in höchstem Maß verschieden, ohne dass zwischen ihnen ein wirklicher Austausch bestünde. Während die Kultur nicht akkumuliert und nicht besessen werden kann und vielmehr Generation um Generation von neuem erworben werden muss, da sie unmittelbarer Ausdruck des Menschengeistes ist, ist Zivilisation eine Art von Anhäufung und Erbschaft. Die Bedeutung der Güter der Zivilisation liegt darin, was durch sie zu erreichen ist, sie sind Mittel zu Zwekken; wogegen die Bedeutung der Kulturgüter in ihnen selbst liegt, und wir sie nicht ob ihrer Ergebnisse begehren, sondern einzig um ihrer selbst willen: und so ist die Kultur Erfüllung des Lebens. »Unsere Kultur,« sagt ein bekannter amerikanischer Soziologe, »ist das was wir sind; unsere Zivilisation das, was wir gebrauchen.« Bevor wir prüfen, wie sehr diese Darlegung des Gegensatzes zwischen den beiden Prinzipien wirklich zutrifft, müssen wir uns wohl bewusst sein, dass jene grundtiefe Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation sich doch rühmt, für alle Kulturen der Geschichte festzustehen. Allein, dieser fundamentale Unterschied zwischen den nämlichen beiden Weisen ist in beinahe keiner Hochkultur, beinahe keiner kulturellen Blütezeit, aufzufinden; nicht nur in den Gedankengängen dieser Völker und Zeitalter findet sich nichts dergleichen, sondern auch nicht in deren Wirklichkeit. Besonders in den großen Kulturen des Alten Orients, von China und Japan bis Babel und Ägypten, gibt es keine Basis für eine solche Trennung. Jede von ihnen ist ein L e b e n s s y s t e m ; und dies bedeutet im Gegensatz zum Denksystem: Ein von der Einheit getragenes Appellieren und Wachen, dass in der Welt die Idee nicht aus der Idee entsteht, sondern stets in der wirklichen Welt verhaftet bleibe. Das Lebenssystem eines jeden Volkes in der Zeit seiner Blüte ist die lebendige Einheit aller Facetten seines Lebens und dessen Sphären, der geistigen

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und der materiellen, eine Einheit, die auf einem Prinzip beruht, das selbst wiederum kein Prinzip des Denkens ist, sondern verborgen und erfühlt bleibt, das niemals ganz in Konzepte paßt, und worauf begrifflich höchstens nur h i n z u d e u t e n ist. Dieses lebendige Prinzip wirkt auf alle Phänomene des Lebens, auf alles Tun des volkstümlichen Lebens, auf das Schaffen der Küchengeräte und das Schaffen der Paläste, auf die tätige Weisheit des Bauern und die theoretische Weisheit des Denkers, auf die Bräuche der Familie und die Gesetze des Staates. Es wirkt auf alles ein, aber nicht über das Bewusstsein, sondern unmittelbar aus der Lebenskraft auf die Kräfte des Lebens, aus der Kraft des Zentrums auf die Kräfte des Umkreises. Und auf dem Fundament dieses Wirkens durch das vitale Prinzip, sind alle Teile des Lebens und seiner Bereiche, alle seine Erscheinungen und Handlungen miteinander verknüpft; ein Strom fließt durch alle und eine Form verfestigt sich in ihnen, trotz ihrer wechselnden Schattierungen. In ihrem ersten Stadium ist die Kultur in eine frühe, einfache Einheitlichkeit eingesenkt, die man eine ursprüngliche religiöse Einheit nennen könnte, woraus dasselbe vitale Prinzip seine authentischsten Symbole in den religiösen Bildern und Brauchtümern bezieht. Wenngleich während ihrer Entwicklung sich die Bereiche der Kultur voneinander trennen, Unabhängigkeit, Autonomie und Autarkie erwerben, so sind sie doch weiterhin mit dem zentralen Prinzip und untereinander verbunden. In dem Verhältnis, in dem sich diese Beziehungen lockern, zerfällt auch die Lebenskraft der Kultur. Dieser Art von geeinter Hochkultur am nächsten sind die bedeutendsten Kulturen des Westens, nämlich die Kultur der Griechen bis zum 5. Jahrhundert v. d. Z. und die Kultur des Mittelalters, vor allem zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert d. Z. Auch wenn diese Kulturen nicht die einfache Ursprünglichkeit besitzen, die den Kulturen des Orients zueigen ist, so besitzen sie doch wie jene ein einziges vitales Prinzip und eine einzige Lebensform. In all diesen Kulturen gibt es keinen Ort einer Trennung von Kultur und Zivilisation. Die griechischen Künstler, die ein Schiff nach der Gestalt eines Vogels bauen, ein Schiff, das später die Dichter für die Schönheit seines Antlitzes besingen, seiner Wangen, seiner Augen und seiner Ohren, diese Künstler sind ihren Absichten nach kaum verschieden von dem Bildhauer, der eine Statue des Apollo verfertigt; vielmehr unterscheiden sie sich nur in ihrem Rang. Ihnen gleich hat auch der Bildhauer nicht den »Ausdruck seiner Seele« vor Augen, sondern die Herstellung eines Werkes, das einen bestimmten Ort beansprucht und einen bestimmten Zweck erfüllt: Einen Ort im Tempel und einen Zweck im Kult. Und gleichwenig sahen die Betrachter des Bildwerks etwas Schönes ohne

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Zweck darin; vielmehr sahen sie einen Gott, eine Persönlichkeit ihres Landes und ihrer Gebete, und wenn er eine Schönheit zeigte (was in der Frühzeit nicht vorkam), so war auch diese seine Schönheit nichts als ein Hilfsmittel ihres Sehens. Die Mannschaft desselben Schiffes indessen ruderte nach dem Klang einer Flöte; die Melodie der Flöte stimmte die Gesellschaft eines Gastmahls fröhlich und erquickte sie; und durch die Melodie von Saiteninstrumenten pflegte man die Kinder zu erziehen, Einklang zu schaffen zwischen Körper und Seele: Der Musik eignet eine Rolle und ein Zweck im Gebäude des kulturellen Lebens, und ebenso wenig wie sie im Fall der Schiffsleute oder der Teilnehmenden am Gastmahl ein Aspekt der Zivilisation ist, ist sie im Fall der Pädagogen und Zöglinge ein Aspekt der Kultur: sondern in beiden ist sie ein und dieselbe, ist sie zweckvoll und kulturell zugleich. Das Bestreben des Erbauers einer gotischen Kathedrale war, etwas Großes bereitzustellen, das benötigt und erforderlich war und dieses im Namen der wirklichen Erfüllung des Notwendigen und Erforderlichen zu vervollkommnen; und deswegen gehen wir fehl, ihn besser verstehen zu wollen als er sich selbst verstand. Unser ästhetisches Verständnis seines Werks stellt nichts anderes als eine Art von Entleerung dar; wir können die Anlage des Podiums nicht wirklich begreifen, ohne zu fühlen, dass dies der Ort des Sacramentum ist, und wir können die Anlage des Kirchenschiffes nicht begreifen, ohne ein Gefühl von den dicht gedrängten und sich gemeinsam niederwerfenden Betern zu haben, die getrennt sind vom Allerheiligsten und doch mit ihm verbunden. Die ganze weitverbreitete und moderne Ansicht, dass der »Ausdruck« das Eigentliche am künstlerischen Akt sei, wird unbedeutend im Angesicht der mächtigen objektiven Wirklichkeit, die wir den Mauern des Bauwerks zu entnehmen vermögen, geradeso wie wir die Tiere der Vorzeit aus ihren Skeletten erschließen. In der Geschichte des Abendlandes ist uns aber eine Epoche der Hochkultur bekannt, in der, wenn auch keine begriffliche Trennung von Kultur und Zivilisation, so doch in jedem Fall gewissermaßen ein praktischer Unterschied zwischen diesen besteht, der selbst wiederum Beginn eines theoretischen ist: Dies ist das Zeitalter der Renaissance. Doch gerade sie ist es, die uns klar das Wesen jenes Unterschiedes zu lehren vermag, denn sie ist einerseits das Zeitalter der Geburt einer neuen Unabhängigkeit der Wissenschaften und Künste, und auf der anderen Seite das Zeitalter der Zerstörung einer einzigartigen Lebensweise unseres Abendlandes, nämlich der Lebensweise des Mittelalters. Indem sie sich um eine neue Einheit des spirituellen Lebens bemühten, waren die Menschen der Renaissance mit alldem die ersten, die Werke der Künstler etwa als autonome Gegenstände betrachteten, und nicht länger – wie man sie

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vormals verstanden hatte – als unter dem Gesetz eines verborgenen spirituellen Prinzips und einer objektiven Wirklichkeit stehend. Wenn wir den wohlbekannten Bericht eines Kunsthistorikers aus der Zeit der Spätrenaissance lesen, nämlich Vasari, worin er schildert, wie es sich 250 Jahre vor seiner Zeit zutrug, als die Massen der Stadt Florenz in einer festlichen Prozession ein überdimensionales Bild der Madonna transportierten, das der Maler Cimabue in seiner Werkstatt für einen Kirchenraum geschaffen hatte, dann bemerken wir, dass der Autor das Wesen dieses Ereignisses, die religiöse und gesellschaftliche Einheit, die damals bestand, nicht mehr wirklich kannte; er sieht nur die öffentliche Verehrung, dargebracht einem bedeutenden Künstler, aber er sieht nicht den historischen Enthusiasmus der Menge vor der demütigen Lebendigkeit eines Bildes, das ihre Göttin erstmals als wirkliche Frau darstelle, mit der man ins Gespräch kommen konnte. Das Zeitalter der italienischen Renaissance, das zugleich das Zeitalter des entstehenden Kapitalismus und des Beginns der Produktion für den Weltmarkt darstellte, entfremdete sich von der fundamentalen Einheit des Lebenssystems. Anstelle jener Einheit von tiefer religiöser und gesellschaftlicher Zweckmäßigkeit, aus der und um derer Willen der Baumeister seine Bauwerke errichtete und der Maler seine Bilder schuf, trat nun die Einheit der technischen Zweckmäßigkeit, einer Weltordnung durch wirtschaftliches, staatliches und kulturelles Unternehmertum, einer Weltordnung, die wie von der Hand eines Künstlers geschaffen schien, wie ein Werk, das nun Auftragswerk geworden war. Und dennoch, diese Epoche ist eine Zeit der Genies, die, wie Leonardo, Künstler und Ingenieure in einem sind, und deren Werke uns nicht gestatten, grundsätzlich zu unterscheiden zwischen den Akten der Kultur und den Akten der Zivilisation. Allein, der neue Charakter der Gesellschaft, der kapitalistische Charakter, führt mehr und mehr zu einer Trennung der Weltbilder der über Wirtschaft und Staat herrschenden Bourgeoisie und der der Intellektuellen. »Beiderseits«, schreibt der Historiker Alfred von Martin in seinem Buch über die Soziologie der Renaissance, »ist das Bewusstsein wach von der letztlichen Antinomie von Geist und Gesellschaft – und insbesondere von Geist und einer auf Geldwirtschaft gegründeten Gesellschaft –, von ›Kulturprozess‹ und ›Zivilisationsprozess‹, von Qualitas und Quantitas.« Im Zeitalter der italienischen Renaissance, in ihrem eigentlichen Schöpfergeist, woran mit ihren Akten diese zwei Seiten partizipierten, führte das Auseinandergehen der Weltbilder nicht zu einem endgültigen Bruch zwischen Kultur und Zivilisation. Aber je schwächer die Kräfte werden, die die kulturelle Einheit zusammenhalten, und je mehr der Geist sich entwurzelt und iso-

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liert in der Welt des sich herausbildenden Kapitalismus, umso mehr vertieft sich auch diese Kluft. Die fundamentale und vollkommene Trennung von Kultur und Zivilisation, über die wir sprechen, ist daher keine für ewig zu nehmende Wahrheit, sondern bloß ein Zeichen und Ausdruck für den Verfall der Kultur. Wir leben in einer Welt des Dualismus und des Nicht-Angleichens, in einer Welt der mannigfaltigen abgeschlossenen und erstarrten Formen einerseits, und der titanischen Taten ohne Form andererseits. Wahre Kultur in ihrem erhabensten Verstand, gleichsam natürliche Kultur, ist die Einheit eben jener Grundprinzipien, die im Zeitalter des kulturellen Verfalls sich in zwei Reviere spalten, in einen Bezirk der Gestalt ohne Leben und einen Bezirk des Lebens ohne Gestalt, in einen Bezirk der »Kultur« und einen Bezirk der »Zivilisation«. Die wirkliche Kultur ist die funktionierende Einheit des Geistes und aller Bereiche des Seins, sowohl in den Bereichen des alltäglichen Lebens als auch in den Bereichen des höheren Lebens, sowohl in den Bereichen der Erfüllung der schon gefühlten Bedürfnisse als auch in den Bereichen des Weckens der noch schlafenden Bedürfnisse, sowohl in den Bereichen der enthüllten Finalität, die Zivilisation heißt, als auch in den Bereichen der verhüllten Finalität, die Kultur heißt. Die feste Beziehung zwischen all dem und besonders den beiden Weisen der Finalität, ist das vorzügliche Zeugnis der inneren Authentizität einer Kultur. II

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Nach meiner Ansicht sind die Probleme einer Definition der Kultur nur mit dem Bewusstsein zu überwinden, dass es unmöglich ist, ihr Wesen zu begreifen, ohne ihre Widersprüche zu begreifen; dass die einzigartige Beschaffenheit aller Kultur nicht zu verstehen ist, ohne ein Verständnis der Zwiefältigkeit oder einiger Formen der Zwiefalt zu besitzen, die im Entstehen jedes kulturellen Prozesses um dessen Entstehung Willen wirken. Die Einheit der Kultur ist die Einheit, die aus diesem p o l a r e n Prozess entsteht. Es liegt nicht in meiner Absicht, alle Arten der Zwiefältigkeit, die im kulturellen Prozess wirken, zu analysieren. Einige Beispiele, die ich für die gewichtigsten halte, sollen hier daher genügen: 1) Zwei Gesichter hat die Kultur: Kreation und Tradition. Auf der einen Seite ruht alles Leben der Kultur auf dem individuellen kreativen Schaffen. Die Kultur schöpft ihre Vitalität aus der Fülle ihrer Kreativität, doch in dem Augenblick, da in einer Kultur der Strom des Schaffens er-

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starrt, ist auch ihre Kraft nichtig, denn der Kultur eignet keine Kraft, wenn sie nicht die Kraft der Erneuerung besitzt, die Kraft, die sie immer wieder neu belebt. Auf der anderen Seite jedoch gewinnt keine dieser Taten kulturellen Charakter, wird also nicht Teil der Kultur, wenn sie nicht in den Prozess von Übergabe und Annahme eintritt, wenn sie sich nicht in Material verwandelt, das unbeschwert tradiert werden und sich mit den Taten der Generationen zu einem Paradoxon zusammenschließen kann: zur a l l g e m e i n e n F o r m . Zwei Gesichter also hat die Kultur: Revolutionismus und Konservativismus, oder besser: Initiative und Bestand. Jedem einzelnen gebührt ein großer historischer Wert, doch nur vereint ist ihr Wert auch kulturell. 2) Die Tätigkeit der Kultur ist zwiefach: Sie verleiht erstens dem Leben selbst Gestalt und Dauer, Beschränkung und Schliff, sie formt das Verhalten der Menschen, hebt das Niveau ihrer Vergemeinschaftung und eröffnet die gesellschaftliche Authentizität durch Selektion und Konzentration. Und zweitens schafft sie über dem Leben, oder doch in jedem Fall jenseits davon, eine gegenständliche Welt, in derselben Weise wie auch die Natur eine gegenständliche Welt ist, eine Welt des Geschaffenen, das unter seinem eigenen Gesetz steht, so wie die Schöpfungen der Natur, die doch durch ein unsichtbares Band miteinander verknüpft sind: Dies ist die zweite Welt, die besondere Welt des Menschen. Diese beiden Tätigkeiten sind nicht gänzlich voneinander getrennt, sondern es bestehen Übergänge zwischen ihnen. Zur ersten beispielsweise gehört der Brauch und zum zweiten das geschriebene Gesetz, doch zwischen ihnen steht die mündliche Moral; zur einen gehört die Sprache und zur anderen die Dichtung der Literatur, und zwischen ihnen steht das improvisierte Lied des Augenblicks, das manchmal gehört und aufbewahrt und zum »Volkslied« wird, manchmal aber verloren geht. Diese Übergänge und die Beziehungen, die zwischen den beiden Tätigkeiten und durch sie entstehen, sind von großer Wichtigkeit. Denn das kulturelle Leben, das keinen Einblick in die Welt des Schaffens hat und nicht immerwährend neuen Sinn von ihr bezieht, ist in Gefahr, zu einer konventionellen Sittenhaftigkeit zu erstarren, und die Welt des Schaffens wiederum, die nicht in die Sphäre der Vergänglichkeit einzugehen braucht, ist in Gefahr einer Absonderung des Geistes. Zum Werkzeug einer Verbindung dieser beiden Tätigkeiten, einer in ihrer Beschaffenheit vortrefflichen Verbindung, kann die Erziehung gemacht werden. 3) Es gibt zwei Prinzipien des kulturellen Geschehens: Ein Wachstum der Form und ein Wachstum des Bewusstseins. Beide, Form und Bewusstsein, liegen als Potentiale im Sein des Menschen. Die Form blüht sozusagen aus sich selbst heraus. Ich betrachtete einmal eine Keramik-

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schale von der Hand eines japanischen Töpfers aus antiker Zeit, und mit Erstaunen stellte ich fest, dass sie beinahe wie von der Natur selbst gemacht schien. Zarte Spuren von Fingern waren sichtbar im Ton, und man mochte vermeinen, die Schaffenskraft der Natur war durch die Handfläche des Künstlers geflossen und hatte diese nur gebraucht für die Vollendung ihres Werkes. So werden aus dem Innersten unserer Seele, doch nicht aus unserem Ursprung, die künstlerischen, geistigen und sozialen Formen geboren. Vielleicht gab es nicht immer ein Bewusstsein von dieser Form, sondern nur eine vage Vorstellung, doch dann, da sie entstand, wurde sie so schlicht und rund, dass wir nur schwerlich glauben können, unsere Seele hätte sie hervorgebracht. Aber auch das Bewusstsein kann blühen in uns, gleichsam von selbst; allein, es bleibt in uns und möchte nicht von uns getrennt werden. Ich sage: Es kann blühen. Denn es gibt solches und solches Bewusstsein. Es gibt ein umgreifendes Bewusstsein, körperlich könnte man sagen, ein Bewusstsein unseres ganzen Daseins, das sich in allen unseren Körperteilen manifestiert, so dass sogar unsere Handfläche, wenn sie dem Formenspiel einer Statue folgt, nicht eine Botschaft an das Gehirn senden muss, um anzufragen, ob diese Form schön und es erlaubt sei, sie zu genießen, sondern in ihr selbst ein hinreichendes Bewusstsein ihrer Berührung und ihres Gefallens wohnt. Und es gibt ein Bewusstsein des abgesonderten Gehirns, jenes Gehirns, das nicht länger als Bestandteil des Lebewesens erscheint, sondern vielmehr wie ein Parasit, der es an Stärke überragt, der mit aller Kraft das ganze Dasein im Menschen zu erdrosseln sucht und ihn nur missbraucht für seine Zwecke. Das Bewusstsein der ersten Art kann sich in seiner Evolution mit der sich entwickelnden Form zusammentun und sie unterstützen, kann ihr beistehen, und diese zusammenwirkende Tätigkeit ist die große und antreibende Tätigkeit der Kultur. Das Bewusstsein der zweiten Art hingegen stemmt sich gemäß seiner Natur gegen die Natur der Form; wenn es sich mit der Form vermengt, so nimmt es ihr die Kraft des Gedeihens, ohne jede Ehrfurcht vor dem Geheimnis dieses Gedeihens zu kennen, geradeso wie ein kleines Kind, das Tag für Tag den Keim entwurzelt, den es gesät hat, nur um gleichsam nach seiner Entstehung zu sehen. Und auch uns, gleich dem Kind, ist es unmöglich, ein Entstehen zu beobachten, ohne es zugleich zu verletzen. Die Epochen der wahren Einheit der Kultur sind die Epochen des Bundes zwischen der Form und dem umgreifenden Bewusstsein. Und die Epochen der vollständigen Trennung von Kultur und Zivilisation sind die Epochen der Diktatur des parasitären Bewusstseins. So verhält es sich auch im Bereich der Bildung: Eine innere Form der Bildung ist nur durch das umfassende Bewusstsein des Erziehers zu gewinnen, weil dieses Bewusstsein die Ehr-

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furcht vor dem Geheimnis des Gedeihens kennt, und dies ist es, was wir synthetische Begegnung nennen dürfen. Dagegen liegt es bloß in der Macht jenes Bewusstseins, das dem isolierten Gehirn entstammt, mittels einer Schein-Analyse ein Geheimnis aufzudecken – nicht das w i r k l i c h e Geheimnis des Gedeihens jedoch, sondern das scheinbare Geheimnis. 4) Jede Kultur, die in der Fülle ihres Schaffens steht, neigt dazu, einige kulturelle Kategorien und Bereiche aufzustellen, die auf ihrer eigenen Bekundung beruhen, die eine jeweils eigene unabhängige Domäne besitzen und ein unabhängiges Gesetz, das heißt, sie tendiert zur Mannigfaltigkeit, zum Pluralismus der geistigen Sphären. Obwohl die Einheit des Lebenssystems oder jedenfalls des Lebensstils fortdauert, verhärten sich doch die Grenzen zwischen Domäne und Domäne mehr und mehr, bis die Kultur in jenes problematische Stadium gerät, in dem zwar noch eine Beziehung zwischen jedem Bereich und dem vitalen oder stilistischen Zentrum besteht, aber das Band zwischen den Bereichen selbst sich zu lösen beginnt. In einer jungen, aufsteigenden Kultur zum Beispiel herrscht oftmals eine starke Beziehung zwischen Ethik und Musik, eine starke Beziehung zwischen Kosmologie, der Lehre vom Universum, und Architektur, doch in einer fortgeschrittenen Kultur gründen das eine und das andere eine unabhängige Welt für sich selbst, und was geschaffen ist in der einen Welt, tritt nicht länger in das angrenzende Kraftfeld der anderen Welt. Dieses Stadium verkündet den Beginn des Verfalls der Kultur. Mit dem Fortschreiten dieses Verfalls aber erheben sich zugleich die Tendenzen zur Erneuerung der ursprünglichen Einheit. Die Schaffenden und Denker in jeder einzelnen Sphäre fühlen sich wie in ein Verlies gestoßen, sie versuchen, die Spaltung zu zerschmettern, alles zu vereinen, doch all ihre Hoffnung ist vergeblich, der Weg zurück ist versperrt, und nur wenn die Sehnsucht eine Form annimmt, die aus dem Gehege der kulturellen Wirklichkeit ausbricht, nur wenn sie die Sehnsucht nach einer neuen religiösen Wirklichkeit wird, nur dann kann Neues werden. Dann verschmilzt der Glanz der Kultur zu einer neuen Einheit, einer Einheit, die nicht mehr kulturell, sondern religiös ist, einer neuen, frischen religiösen Einheit, die nur nach all dem beginnen wird, sich auch in kultureller Form auszudrücken, vielleicht in einem anderen Land, in einem anderen Volk, in anderen Völkern.

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Wir haben die vier Arten des Dualismus, die in der Entwicklung der Kultur wirksam sind, nun untersucht. Jetzt müssen wir danach fragen, ob wir vielleicht auf dem Weg dieser Untersuchung zu jenem Punkt gelangt sind, von dem aus man sich an die Kritik des Wesens der Kultur und jene treffliche Definition anzunähern vermag, nach der wir hier suchen. In einem der ersten Jahre nach 1860 wurde im Berliner Kreis der Philosophischen Gesellschaft über den Beginn der menschlichen Spezies diskutiert, und jemand warf ein, dass überall, wo der Mensch erschien, das Einrichten und Auffinden einer Lebensweise, die ihm angepasst war, notwendig wurde, dass beim Menschen Wissenschaft und Kunst an die Stelle der Instinkte der Tiere trat, ja dass eben dadurch der Mensch ein Schöpfer werde, sogar zum Schöpfer seines verfeinerten Körperbaues. Lassalle, der anwesend war, stimmte zu und meinte: »Die absolute Selbstproduktion ist eben der tiefste Punkt des Menschen.« Dies freilich war eine kühne Übertreibung; doch enthielt sie auch einen Funken Wahrheit. Welche Bedeutung hat dieser Funke aber nun? Wenn es gestattet ist, das Verleihen von Form durch den Menschen an ein Äußeres oder Inneres, Natürliches oder Gesellschaftliches, Formgebung zu nennen, dann ist es möglich, die These vorzustellen, dass die Formgebung aus der Vereinigung von Geist und Leben hervorgeht (hier ist nicht der Ort, das Wesen der Grundlagen zu bestimmen; es genügt für uns, negativ und relativ zu wissen, dass das Leben eine Art materieller Wesenheit ist und dass es der Mensch bis heute noch nicht dazu gebracht hat, und es ihm vermutlich auch nie gelingen wird, seine Beschaffenheit aus dem Übrigen der Wesenheit zu folgern; und der Geist ist zwar das, was im materiellen gefunden wird, was wir aber nicht als eine der Arten dieser Wesenheit verstehen dürfen und aus deren Arten können wir keine Rückschlüsse ziehen, nicht ein Mal aus ihrer vitalen). Wenn ich also sage, die Formgebung geht aus der Vereinigung von Geist und Leben hervor, so meine ich erstens, dass die Formgebung ein Drittes ist, das zu Geist und Leben hinzukommt, jedoch ohne ein Grundprinzip zu sein wie diese, sondern als ein Resultat; und zweitens, dass sie kein Resultat einer bloßen Kombination oder chemischen Verbindung ist, sondern ein Resultat wirklicher Zeugung, dass sie also eine Art von Neuentstandenem ist, ein neues Drittes, das nicht vergleichbar ist mit dem Geist und nicht vergleichbar mit dem Leben, sondern Dasein für sich selbst ist. Doch damit verbunden, sind auch der Geist und das Leben in die Formgebung eingegeben und als solche in ihr erkennbar; und da das besondere Sein

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des Menschen sich völlig zwischen diesen beiden Fundamenten ausdehnt, dem spirituellen und dem vitalen, können wir auch sagen, dass der Mensch gleichsam die Formgebung in seiner Gestalt schafft. Es ist bekannt, dass die Kabbalisten behaupteten, es sei unmöglich anzunehmen, Gott hätte in seinem Ebenbild und nach seiner Gestalt einen e i n z e l n e n Menschen geschaffen, in all seinen Eigenschaften individuell umgrenzt; sie dachten vielmehr, dass Gott durch die Emanation den Adam Kadmon geschaffen haben musste, in dem alle mögliche menschliche Individualität enthalten war. Nach dieser Ansicht kann es nicht sein, dass irgendeine individuelle Formgebung Gestalt des Menschen wird, sondern es gibt eine besondere Kategorie der Formgebung, worin der Mensch – zwar nicht der Mensch im allgemeinen, sondern stets der Mensch eines bestimmten Volkes, der Volksgenosse in einem bestimmten Zeitalter – versucht, sich selbst zu schaffen, indem er jener Materie Form verleiht, die ihm durch das Sein seines Volkes und seines Zeitalters gegeben ist, bis in dieser Formgebung die möglichen individuellen Formgebungen für diesen Menschen mit seinen Generationen eingeschlossen und teilhabend sind. Diese Kategorie heißt Kultur. An diesem Punkt angelangt, können wir mit unserem Fragen fortfahren: Welche besondere Qualität hat die Kultur als Kategorie der Formgebung? Worin unterscheidet sich die Kultur von allen übrigen Arten der Formgebung? Wollen wir eine Antwort darauf finden, so müssen wir zurückblicken und weiterfragen: Wie sieht die besondere Qualität jenes Geistes und jenes Lebens aus, durch deren Vereinigung diese Formgebung, nämlich die Formgebung der Kultur geboren wird? Was ist die hinzukommende Eigenschaft, durch deren Hinzutreten allein wir genau d i e s e n Geist, genau d i e s e s Leben und genau d i e s e Formgebung finden? Die Antwort auf jene Fragen ist ziemlich einfach, doch ist es notwendig, weiter in die Tiefe zu dringen. Die Eigenschaft, wonach wir fragen, ist die Eigenschaft des Gemeinschaftlichen. Die gemeinsame Formgebung einer Gesellschaft, die aus der Paarung von gemeinschaftlichem Geist und gemeinschaftlichem Leben derselben Gesellschaft entsteht, dies ist die Kultur. Die einzelnen Formgebungen, die einzelnen intellektuellen und kreativen Akte, stellen keine Kultur dar. Weder die Existenz der großen Ingenieure und Erfinder, noch die Existenz der großen Poeten und Philosophen beweist die Existenz der Kultur. Selbst wenn in einem Bereich ein wichtiger Kreis von Schaffenden und auch ein Publikum von höchstem Niveau entsteht, musikalisch etwa, so ist dies kein Zeichen von Kultur. Und natürlich ist auch die menschliche Kulturhaftigkeit nicht als Phäno-

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men der Kultur zu betrachten; noch weniger steht eine Masse kulturfähiger Menschen, also solcher, die kulturelle Werte leicht annehmen und voller Sittlichkeit sind, für die Echtheit eines Kulturvolkes ein. Trifft es aber zu, dass nur die gemeinschaftliche Formgebung der Gesellschaft den Namen Kultur verdient, so liegt es uns ob, die Möglichkeit dieser gemeinschaftlichen Formgebung zu erkunden. Ist denn nicht jeder gedankliche oder künstlerische Akt eine Tat durch das I n d i v i d u u m , und gibt es nicht in Wahrheit überhaupt keinen Schaffenden außer dem Individuum? Wenn es auch ein gemeinschaftliches Handeln gibt im Umfeld der Wissenschaft, der Technik, der sozialen Organisation usw., das kulturelle Aktivität genannt werden kann, so trifft dies doch nicht auf die höchsten Sphären zu. In diesen Sphären, wozu wir unausweichlich die Kunst und die Metaphysik zählen, lässt sich eine gemeinschaftliche Tätigkeit nicht vorstellen. Im Gegenteil, bei einigen der großen Werke, die zu diesen Sphären gehören, befällt uns manchmal das Gefühl, dass sie das Resultat einer außerordentlichen Absonderung des Menschen sind. Um diesen Gegenstand jedoch zu erforschen, ist es von Vorteil, nicht mit dem Resultat, sondern mit den Grundlagen zu beginnen, nämlich mit der Frage nach dem Wesen des gemeinschaftlichen Lebens und des gemeinschaftlichen Geistes; eine Frage, die wohl erklärt sein will mit Beispielen. Nehmen wir also etwa die griechische Kultur der Klassik und die italienische Kultur des 12. und 13. Jahrhunderts. Der bekannte französische Historiker Fustel de Coulanges zeigte in seinem ausgezeichneten Buch »La cité antique«, im Anschluss an Aristoteles, wie der griechische Stadtstaat, die Polis, durch den Zusammenschluss von Sippen zu Bruderschaft und Bruderschaften, zu Stamm und Stämmen, sich aus einer Gemeinschaft von verschiedenen Siedlungen zum Staat entwickelte, und wie in dieser Gemeinschaft jede einzelne Siedlung ursprungshaft wie zur Zeit ihrer Absonderung blieb, das heißt, wie das gemeinschaftliche Leben des kleinen Wohnverbandes kraftvoll und impulsiv blieb, und wie ihre vielen individuellen Kulte sogar da bestehen blieben, wo von oberer Instanz ihnen ein allgemeiner Kult angeordnet wurde. Doch ist hinzuzufügen, dass selbst dieser allgemein verbindliche Kult nach dem Vorbild des sippenhaften Kultes geschaffen wurde, und wie die Familienangehörigen sich vor der Feuerstelle als Hausaltar versammelten, so verrichten nun auch die Bürger der Stadt ihren heiligen Dienst vor dem »gemeinschaftlichen Herd«. Die Tatkraft des gemeinschaftlichen Lebens geht so in die Allgemeinheit der Stadt über, und in der Agora, wo das Volk in seiner ganzen Staatshaftigkeit aufgeht, dort entsteht nun eine unmittelbare Beziehung zwischen den

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Menschen untereinander. Die Polis ist die größte staatliche Einheit. Hin und wieder gruppierte sie sich zwar um den gemeinschaftlichen Kult und um die gemeinschaftlichen Feste der verbündeten Städte herum zu einem religiösen Verband mit anderen Poleis, zu Amphiktyones, doch war diesen Verbänden weder ein staatlicher Charakter noch eine staatliche Aufgabe inne, und nicht selten bekämpften ihre Bündnispartner einander gnadenlos. Im Allgemeinen überschritt die Form des Staates an Größe nicht die Form des gemeinschaftlichen Lebens; die Gesellschaft war identisch mit der Kameradschaft bis zu dem Zeitpunkt der Vereinigung des griechischen Volkes unter der Herrschaft des Makädoniers, als die Gesellschaft schließlich ihre Vitalität verlor. Allein, wiewohl das gemeinschaftliche L e b e n diesen ausgeprägten Gruppencharakter besaß, so hatte der Geist ihn nicht. Der ursprüngliche Mythos des Volkes stattdessen, der Mythos seiner Götter und Titanen, dessen Gedankengut mit den Wanderungen der Stämme von Asien nach Europa reiste und in dessen Nachbarschaft sich all die Legenden auskristallisierten, die über das neue Land entstanden waren, – er war die große vereinigende Kraft, der gemeinschaftliche Geist der griechischen Gesellschaft. Das kollektive Leben und die regionalen Poleis bleiben in ihrer Beschaffenheit regional, doch der Geist Mythos ist seiner Natur nach national-universal, denn alle regionalen Ströme fließen in ihm. Es ist der gemeinschaftliche Geist, der aus dem Schoß des gemeinschaftlichen Lebens die gemeinschaftlichen Formgebung zutage bringt, die griechische Kultur, worin sich die Farbenfülle des Lebens und die Lichteinheit des Geistes zu einer Formwelt vermischen. Dasselbe Gesetz wirkt in der italienischen Kultur des 12. und 13. Jahrhunderts, der höchsten und kreativsten Kultur in der Geschichte des italienischen Volkes. Auch hier erfahren wir – etwa aus dem wichtigen Buche Robert Davidsons über die Geschichte der Stadt Florenz – einiges über den kollektiven Charakter des Lebens. Sowohl in den Dörfern als auch im Umkreis der Städte gab es Boden, besonders Weideboden, der Besitz von vielen war, und auf diesem Gemeinbesitz gründete sich eine Bodengenossenschaft. Sowohl das städtische als auch das dörfliche Volk setzte sich zusammen aus einigen regionalen Siedlungen, die hier wie dort »vicinantia« hießen, also wörtlich »Nachbarschaften«. Die Mitglieder einer Nachbarschaft halfen einander und bürgten füreinander, regelten ihre Streitfälle durch ein Schiedsgericht, setzten ihre Rechtssitten untereinander fest und versammelten sich regelmäßig unter einer Ulme vor der Kirche, oder in der Stadt im Kirchhof selbst. Auch im Italien dieses Zeitalters war wie in Griechenland der Stadtstaat die politische Einheit, über die hinaus es im Regelfall nichts gab, nur dass hier zwischen den Städten keine religiöse

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Vereinigung nach Art der griechischen Amphiktyones bestand. Aber auch hier steht der gemeinschaftliche Geist in seinem öffentlichen, nämlich allgemeinen und besonderen Charakter, dem gemeinschaftlichen Leben der Gesellschaft in seinem kollektiven, nämlich mannigfaltigen Charakter gegenüber. Trotzdem bedarf das Wesen jenes Geistes hier noch weiterer Erläuterungen. In keinem anderen Volk des Abendlandes geschah eine so tiefe und fruchtbringende, wenn auch nur vorübergehende Vermengung des ursprünglichen Christentums, d. h. des messianischen im prophetischem Sinne, und der Grundeigenschaft eines Volkes wie im italienischen Volk des Mittelalters. Ständig wachsen der Glaube und das Streben nach einer Erlösung d i e s e r Welt, der Glaube, dass die Erlösung nicht einzuschränken sei auf eine Erlösung der Seele und deren Reinigung für die kommende Welt, sondern den Menschen in seiner ganzen Wirklichkeit und das ganze Land erfassen könne, und dass auf diese vollständige Erlösung hinzuarbeiten sei. Dieser Glaube und dieses Streben erreichen den Höhepunkt ihres Ausdrucks am Ende des 11. Jahrhunderts bei jenen zwei großen Männern, die in der Welt des Mittelalters die Erfüllung des ursprünglichen, prophetischen und messianischen Christentums vollbrachten: Der eine, Joachim von Floris, der Verfasser des »Ewigen Evangeliums«, der Verkünder des »Dritten Königreichs«, des Königreichs des Geistes nämlich, das nach dem Königreich des Vaters und dem Königreich des Sohnes folgen sollte, war der einzige im Abendland, dem eine prophetische Seele innewohnte; und der andere, Franziskus von Assisi, ist der Christ, der die Gebote und die »Liebe« mit Vollständigkeit erfüllte und sich selbst als »Verkünder« des als kommend vorausgesehenen Königreichs fühlte. Dieser Geist, der seinen vollständigen personalen Ausdruck in jenen beiden Persönlichkeiten fand, ist der Geist, der aus der Mitte des gemeinschaftlichen Lebens derselben frühen Kultur Italiens geboren wurde, die sich vor allem in den 200 Jahren vor dem Beginn der Renaissance eine kulturelle Erneuerung schaffenden Menschen offenlegte, einem Nicola Pisano, dem Schöpfer der neuen Bildhauerkunst, einem Cimabue, dem Schöpfer der neuen Malerei und einem Dante, dem Schöpfer der neuen Dichtkunst, die alle sich nach einem sehnten: die kommende Welt in dieser Welt zu verwirklichen. Von hier können wir zu unserer Ausgangsfrage zurückkehren: Was ist die gemeinschaftliche Formgebung und wie ist sie möglich? Es gibt zwar auf den höchsten Stufen der Kultur kein gemeinschaftliches Schaffen, doch was der bedeutende Denker und der große Künstler, jeder in seiner eigenen Sprache ausdrücken, dies ist die Essenz eben jener Paarung von gemeinschaftlichem Geist der Gesellschaft und gemeinschaftlichem Le-

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ben derselben Gesellschaft, dies ist die rätselhafte Frucht ihrer Vereinigung. Und auch wenn die Gemeinschaft, die in der Generation jenes Mannes steht, sein Geschenk nicht wirklich erhält, so wird uns doch die tiefe Beziehung zwischen seinem Schaffen und dem Wesen des Volkes offenbar. »Mon oeuvre,« sagt Goethe, seinem Tode nah, »est celle d’un etre collectif et elle porte le nom de Goethe.« Mit diesen Worten wollte Goethe etwas Allgemeines ausdrücken, die Tatsache, dass jedes Schaffen ein Akt der Absorption ist; was ich dagegen meine, ist weit enger gefasst. Wenn wir nach dem Wesen jener neuen Form forschen, die in einem der prominenten Werke des Zeitalter der hohen Kultur, des aufsteigenden Zeitalters vor allem, zutage tritt, dem Wesen jener Form-Idee, jenes poetischen Rhythmus, jener architektonischen Linie, die davor nicht existierten und nun doch wie eine Selbstverständlichkeit erscheinen, wie etwas, das seit jeher bestand und sogar bis heute ein Teil unserer Welt ist, – wenn wir danach forschen, so finden wir, dass gerade dieses Fundament der Form keinen individuellen Charakter besitzt, dass es eine Art Verborgenheit Gottes ist, eine Art Objektivität, die nicht vom Willen bestimmt, sondern wie ein Teil der Natur ist: dies ist die Frucht des stummen Blühens in einem Volke, die Frucht der Vereinigung seines gemeinschaftlichen Geistes und seines gemeinschaftlichen Lebens, die gemeinschaftliche Formgebung. Das Wirken des Lebens auf den Geist und das Wirken des Geistes auf das Leben in diesem Zeitalter führen zwar nach und nach zu einer Änderung der Volksgewohnheiten, denn in ihm schlägt auch das Herz der Massen, deren Aufruhr manchmal in soziale oder religiöse Bewegungen übergeht, doch dieses Wirken gewinnt seinen hinreichenden Ausdruck allein in der Tat des Einzelnen, im bedeutenden Einzelnen, in dessen Sein sich das Sein des Volkes konzentriert. Sein Werk ist im reinen und entschiedenen Verständnis die »Tat des kollektiven Kosmos«, denn in den grundlegenden und fruchtvollen Schichten seiner Seele wird die gemeinschaftliche Formgebung geboren. Aber es ist augenscheinlich, dass die gemeinschaftliche Formgebung nicht nur bei den großen Schaffenden allein zu suchen ist, ich meine in gleichsam konzentrierterer Weise, sondern auch, gewissermaßen als Streuung, in der Form des Lebens des Volkes selbst, in den sozialen Einrichtungen, in den Beziehungen zwischen Mensch und Mensch, in den Handlungen des Einzelnen in seinem Heim und seiner Kammer. Es gibt kein kulturelles Leben ohne besondere Form, und es gibt keine besondere Form, ohne dass das Leben sie im Einwirken des Geistes annahm. Der Geist dringt bis in die Tiefen des natürlichen und historischen Lebens einer Gesellschaft vor und erneuert dessen äußere und innere Form. Der Geist taucht in das Leben, doch bleibt er nicht darin, sondern kehrt

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zurück in seine Sphäre, wo er selbst erneuert wird durch das Wirken von unten, wo die großen Schaffenden Vermittler sind. »Eine Stufe großer Kultur,« schreibt mein Freund Gustav Landauer in seinem Buch »Revolution«, »wird da erreicht, wo mannigfaltige Gesellschaftsgebilde, die ausschließlich sind und selbständig nebeneinander bestehen, allesamt von einem einheitlichen Geist sind, der nicht in diesen Gebilden wohnt, nicht aus ihnen hervorgegangen ist, sondern als eine Selbständigkeit und wie etwas Selbstverständliches über ihnen steht.« In diesem Satz findet sich bereits die ausgeformte Erkenntnis jener grundlegenden Wahrheit über das Wesen der Kultur, die ich hier darzulegen versuchte. Es ist nur nicht zu vergessen, dass in der Geschichte der Menschheit nicht allein der schwebende Geist sich in den aufnehmenden Wassern spiegelt, sondern auch diese im Geist, und dass ohne die Wasser der Geist sich zurückziehen und vertrocknen müsste. Wenn wir nun unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die Kultur eine gemeinschaftliche Formgebung ist, die der Vereinigung von gemeinschaftlichem Geist und gemeinschaftlichem Leben entspringt, so wird uns klar, dass die Kultur, oder genauer: die historische Kultur, von den folgenden vier Faktoren und deren Beziehungen untereinander abhängt: 1) Von der Situation des Lebens in einem bestimmten Zeitalter, des Lebens im biologischen Sinn, im wirtschaftlichen und sozialen Sinn, besonders aber von der Quantität und Qualität der Gemeinschaftlichkeit des Lebens, mit anderen Worten, von Quantität und Qualität der gesellschaftlichen Grundlage im Leben. 2) Vom Niveau des Geistes in diesem Zeitalter, des Geistes im Sinn einer schaffenden Initiative der Gedanken- und Vorstellungskraft, besonders aber von der Quantität und Qualität der Gemeinschaftlichkeit, das heißt von der gesellschaftlichen Grundlage im Geist. 3) Vom Ausmaß der Vitalität und Intensität der Beziehungen zwischen dem Geist und dem Leben desselben Zeitalters. 4) Vom Wesen der Beziehungen zwischen der Formgebung selbst und dem Geist einerseits, und zwischen ihr und dem Leben andererseits. Denn nicht nur beeinflusst das Leben den Geist und der Geist das Leben, sondern die aus ihnen hervorgehende Formgebung vermittelt auch zwischen ihnen und versöhnt das eine mit dem anderen. Zwischen dem Geist und der Form, zwischen dem Leben und der Form herrschen ein ständiger Kampf und eine ständige gegenseitige Ergänzung. Ich sprach oben von den Arten der Zwiefalt im Prozess der Kultur und nannte vier Beispiele: Die Zwiefalt der freien Schöpfung und der Tradition, der Formung des Lebens selbst und der Schöpfung einer zweiten, objektiven Welt, des Entstehens der Form und des Entstehens des Be-

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wusstseins, und endlich die Zwiefalt des Strebens nach Vielfalt in den Bereichen selbst und des Strebens nach Einheit. Es ist nun leicht zu fassen, dass all diese Arten in ihren historischen Erscheinungsformen nur im Verständnis jener fundamentalen Zwiefalt, die zwischen Geist und Leben besteht, analysiert werden können, und im Verständnis aller Beziehungen, die davon herrühren, der Beziehungen zwischen Geist und Leben, als auch jener zwischen jedem der beiden und der Frucht ihrer Verbindung: der kulturellen Formgebung.

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Vor hundert Jahren tat sich in der Stadt Rochdale in Lancashire eine kleine Gruppe von armen Webern zusammen, um, nachdem sie im Laufe eines Jahres ein Vermögen von ungefähr 30 Pfund angespart hatten, einen kleinen Gemeinschaftsladen einzurichten, in dem sie vorhatten, Mehl, Butter, Zucker, Seife, Soda und Kerzen zu verkaufen. Sofort versammelten sich ein paar Halbstarke, liefen durch die Straßen und schrien: »Die verrückten Weber haben aufgemacht!« So widersinnig schien es in den Augen der Volksmasse zu sein, dass Arbeiter sich zusammenschließen, um ihren Bedarf soweit als möglich, in jedem Falle aber hinsichtlich einiger Bedarfsartikel, gemeinschaftlich zu organisieren und so den Zwischenhandel zu umgehen. Es war damals zwar schon allgemein bekannt, dass es möglich ist, gemeinsam um höheren Lohn und günstigere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, wurde die Initiative dieser Weber doch durch eine ein Jahr zuvor erlittene Niederlage im Streik veranlasst; auch kannte man aus den Tagen der Anfänge der chartistischen Bewegung die Möglichkeit des politischen Zusammenschlusses von Arbeitern, um parlamentarischen Einfluss zugunsten ihrer Rechte und ihrer Angelegenheiten auszuüben. Was jedoch seltsam anmutete und überraschte, war, dass es Arbeitern in den Sinn kam, durch gemeinschaftliches ökonomisches Handeln ihren privaten Haushalt zu entlasten und dies dazu zum ersten Mal auf dem Wege des gemeinsamen Ankaufs einiger notwendiger Güter und deren organisierter Verteilung. Als der Laden eröffnet wurde, waren 75 Jahre seit der Begründung des ersten, in einem schottischen Dorf und auch von Webern initiierten Verbraucherverbandes vergangen, der allerdings nichts anderes als den Verkauf von Roggenmehl zum Gegenstand hatte. Gefolgt wurde dieser dann von der Begründung weiterer solcher Verbände in schottischen Städten. Dabei handelte es sich jedoch um nichts anderes als um vereinzelte Versuche, die keine Breitenwirkung hatten. Dies änderte sich auch später nicht, als eine umfassende Idee vorgestellt wurde, welche entscheidenden Einfluss auf kooperative Programme und Projekte hatte. Gemeint ist Robert Owens Idee, dörfliche Siedlungen zu begründen, die auf wechselseitiger Zusammenarbeit gegründet sind und eine mehrfache organische Verbindung von Produktion und Konsum aufweisen – der beiden Elemente also, die in der modernen Wirtschaft voneinander getrennt sind –, *

Ein Vortrag, den ich aus gesundheitlichen Gründen nicht halten konnte, im Rahmen der festlichen Zusammenkunft anlässlich 100 Jahre Kooperation. – M. B.

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so dass die zusammenlebende Gruppe nicht mehr Güter für den anonymen Markt, sondern für ihren eigenen Verbrauch produziert. Die Ansiedlungsversuche Owens missglückten später zwar, doch nahm die gesamte Kooperationsbewegung von da an die Tendenz auf, den gemeinsamen Haushalt synthetisch zu organisieren. Diese Tendenz zeigt sich sowohl im Verbraucherverband wie auch in dem etwas später einsetzenden Versuch, Erzeugerverbände zu begründen: von beiden Seiten aus setzte man sich letztendlich den ganzheitlichen, Produktion und Verbrauch miteinander vereinenden Verband zum Ziel. Hinsichtlich der Verbrauchsseite zeigt sich diese Tendenz schon in dem im Jahre 1821 entworfenen Plan, in London Wohnviertel für Gemeinschaften einzurichten, die auf »unbegrenzter Zusammenarbeit aller Mitglieder für jeden Zweck des gemeinschaftlichen Lebens« beruhen; auch hatte man vor, nicht nur den Kauf von Gütern, sondern auch die Herstellung von Nahrungsmitteln und soweit als möglich alles im Haushalt gemeinsam zu bewerkstelligen. Unendlich bedeutsamer aber war die etwas später einsetzende Entwicklung von Verbraucherverbänden, die auf gedanklicher und tätiger Ebene parallel vollzogen wurde: auf gedanklicher Ebene von William Thompson, einem der selbständigsten und klarsten Denker des Sozialismus, und auf tätiger Ebene von einem Mann, der wohl der erste religiöse Sozialist war und als der wahre Klassiker der gemeinschaftlichen Idee gelten muss, Dr. William King. Im Jahre 1827 formuliert Thompson die Ideen Owens fortführend in seinem grundlegenden Buch »Entlohnte Arbeit« (Labor Rewarded): »Jeder Mensch ist sich selbst die Grundlage für privaten Wettkampf. Jeder Mensch ist jedem anderen Menschen (sich selbst inbegriffen) die Grundlage für wechselseitige Kooperation (mutual co-operation).« Im selben Jahr führt King in der bekannten Hafenstadt Brighton (wo er als Arzt arbeitete) in seinen Unterricht Lektionen über die Idee der Gemeinschaft ein, die von der Lehre Thompsons anscheinend völlig unabhängig waren und in denen er den ersten Verbraucherverband im wahren Sinne des Wortes initiiert, der von seinen Hörern sofort umgesetzt wurde. Schon im Programm dieses Verbandes ist die Tendenz zur synthetischen Form deutlich zu erkennen; noch deutlicher beschreibt King die Absichten des Verbraucherbandes in dem am 1. Mai 1828 erschienenen, ersten Heft seiner Zeitschrift »The Co-operator«: »Hat sie genügend Kapital angesammelt,« sagt er, »wird die Gemeinschaft Boden erwerben können, um auf ihm zu leben, ihn eigenhändig zu bearbeiten, alle möglichen Produkte herzustellen und so alle ihre Bedürfnisse an Nahrung, Kleidung und Wohnraum zu erfüllen. Dann wird die Gemeinschaft den Namen Gemeinde (community) tragen.« Hier spielt King wohl auf die Formulierung Owens an, der in sei-

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nem Buch »Katechismus der neuen Anschauung von Gemeinschaft« (aus dem Jahre 1817) als Ziel angab: »auf der Basis der Verbindung zwischen Arbeit und Verbrauch begrenzt große Gemeinden von Menschen zu schaffen, die auf Landwirtschaft aufbauen und in denen alle wechselseitig bestimmte und gemeinsame Interessen haben.« Hier wird schon sehr deutlich, weshalb im englischen Sozialismus – im Gegensatz zu dem kurz darauf vom französischen Sozialismus eingeschlagenen Weg – nicht der Erzeugerverband, sondern der Verbraucherverband Ausgangspunkt war. Der Erzeugerverband als solcher stellt Güter nicht zum konkreten Verbrauch, sondern für den Markt bereit und fügt der individuellen Konkurrenz nichts weiter als die kollektive Konkurrenz hinzu; in ihrem Fundament bleibt die kapitalistische Wirtschaft ohne Programm, so wie sie war. Der Verbraucherverband dagegen stellt seiner Idee nach das Prinzip des konkreten Verbrauchs an erste Stelle. Geht er vom gemeinschaftlichen Erwerb dieser Verbrauchsgüter über zu deren Erzeugung auf dem Wege selbständiger gemeinschaftlicher Produktion, so wird im Rahmen der alten Profitwirtschaft eine neue Gemeinschaftsordnung errichtet. Schon King sah im Verbraucherverband nichts anderes als ein frühes Stadium hierzu; seine Programme, so gut sie auch konzipiert waren, wurden in vielen vereinzelten Projekten umgesetzt. Doch waren sie weder von Dauer, noch entwickelten sie eine kontinuierliche Linie; von den rund dreihundert Gemeinschaften, die aufgrund seiner Initiative im Jahre 1830 bestanden, war nach sieben Jahren beinahe nichts übriggeblieben. Die Weber von Rochdale fingen ganz von vorne an. Unter ihnen waren zwar einige Arbeiter, die mit den Ideen Kings vertraut waren, das neue Programm befürworteten und ihren Einfluss daraufhingehend geltend machen konnten, dass es übernommen wurde, indem sie ihre Genossen davon überzeugten, dass das Übel nicht nur mittels moralischer Reformen, wie z. B. der Alkoholabstinenz, oder mittels Aktivitäten im Bereich der politischen Propaganda zu überwinden ist, sondern allein aufgrund einer den gegenwärtigen Möglichkeiten entsprechenden wirtschaftlichen Gemeinschaft, die den konkreten Verbrauch zum Ausgangspunkt hat. Das in den Satzungen der Vorreiter von Rochdale formulierte letztendliche Ziel aber wurde auf dem Hintergrund derselben synthetischen Tendenz, die Kings Programm charakterisierte, bestimmt, wobei die Formulierungen in den Satzungen als genauere Definition dieses Programms betrachtet werden können: »Die Gemeinschaft muss bei erster Gelegenheit mit der Organisation von Produktionskräften, Verteilung, Erziehung und Regierung beginnen; mit anderen Worten, sie muss eine auf vereinigten Interessen aufbauende, sich

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selbst unterhaltende Siedlung begründen oder anderen Gemeinden bei der Begründung solcher Siedlungen helfen.« Dennoch sind wir dazu berechtigt, das Projekt dieser 28 Weber als den wahren Beginn der kooperativen Bewegung anzusehen, denn nur von hier an ist eine völlig kontinuierliche Entwicklung, eine ständige Verbindung zwischen dem schon Erreichten und dem Geplanten und in Vorbereitung Stehenden zu erkennen. Worin liegt dies begründet? Was kam hier hinzu, das in früheren Versuchen fehlte und deshalb zu deren Scheitern führte? Einer der begeistertsten Fahnenträger der gemeinschaftlichen Idee, der Wirtschaftswissenschaftler Charles Gide, der in diesem Projekt, wie er es formulierte, »vielleicht das bedeutendste Phänomen der Wirtschaftsgeschichte« sieht, weist darauf hin, dass es »aus den Gedärmen des Volkes selbst entstand«. Doch warum setzten die englischen Weber von 1844 eine Bewegung in Gang, die die schottischen Weber aus dem Jahre 1769 nicht in Gang setzten? Von prinzipieller Bedeutung ist die Veränderung der historischen Bedingungen: die moderne, in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entwickelte Methode des Kapitalismus, die darauf abzielt, die Massen anzuleiten, rief auf diesem wie auf anderen Gebieten die kollektive Antwort hervor. Doch schließt sich daran eine besondere Sache an, die der Beachtung wert ist. Im Programm von Rochdale macht sich eine außergewöhnliche, praxisbezogene Intuition bemerkbar, die eine neue Art der Gewinnverteilung nach sich zog, welche dem Anschein nach allein technische Bedeutung hat, in Wahrheit aber schnell die Wirkungskraft eines lebendigen Symbols erlangte. Die Gewinnverteilung unter den Mitgliedern der Gemeinschaft der relativen Menge ihrer Einkäufe gemäß unterscheidet sich wesentlich von diversen Dividenden, handelt es sich doch um Arbeiter einer bestimmten Branche, die ungefähr dasselbe Einkommen haben; ihre Bedeutung liegt darin, dass der Anteil des Einzelnen am Profit des gemeinschaftlichen Unternehmens in direktem Verhältnis zu seiner aktiven Anteilnahme an diesem Unternehmen stand: Je mehr der Einzelne seinen privaten als mit dem gemeinschaftlichen Gewinn identisch ansah, umso grösser war sein Anteil an diesem Gewinn. Dabei handelt es sich um sehr viel mehr als um eine Manipulation, um Leute anzuziehen: Hierin findet eine neue Art wirtschaftlichen Denkens ihren praktischsymbolischen Ausdruck, die des gemeinschaftlichen Denkens. Es war dies in der Tat eine neue Denkart, erschien sie zunächst auch nur auf äußerst bescheidene und kärgliche Weise. Der große italienische Patriot Mazzini wusste, was er sagte, als er sie »Hebel für alles« nannte. Hier konnte man Hand anlegen und sich darum bemühen, »die kapitalistische Welt aus den Angeln zu heben«, wobei es nicht allein darum ging, pri-

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vaten Kapitalismus durch staatlichen Kapitalismus zu ersetzen, sondern darum, anstelle aller Arten von Kapitalismus den Verband zu setzen, der allerdings nicht das sein kann, was er ist, wenn er nicht unter der Obhut des Staates steht. Um dies aber durchzuführen, muss die Bewegung in wachsendem Masse ihre synthetische Tendenz verwirklichen, d. h. sie muss ihre Produktion in wachsendem Masse auf die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse ausrichten, das Verbundsprinzip sowohl im Verbrauchsbereich als auch im Produktionsbereich verwirklichen und in ihren Aktivitäten die organische Verbindung von gemeinschaftlicher Produktion und gemeinschaftlichem Verbrauch anstreben. Während der seit der Eröffnung des Gemeinschaftsladens in Rochdale vergangenen hundert Jahre wurden die Konsumläden erweitert und entwickelten sich zu einem riesigen Netzwerk, das einen bedeutenden Anteil der fortgeschrittenen Menschheit umfasst. Hat die Bewegung ihr Projekt der Verwirklichung des Sozialismus noch nicht ausgeführt, so liegt dies vor allem an inneren, von außen in sie eindringenden Mängeln, die mit ihrem schnellen, massenhaften Anwachsen zu tun haben. Die bürokratische Verwaltung der großen kooperativen Institutionen wurde der der kapitalistischen Institutionen immer ähnlicher. Weitaus problematischer jedoch ist, dass die Menschen unserer Generation nicht an der Tendenz zum synthetischen Verband, zu der sich die Vorreiter von Rochdale so nachdrücklich bekannten, gearbeitet und sie nicht ausreichend weiterentwickelt haben. Zwar wandten sich Verbraucherverbände an vielen Orten und zum Teil in großem Ausmaß der Produktion für ihren eigenen Bedarf zu – besonders in Großbritannien, wo die riesige Großhandelsgesellschaft große Prozentsätze verarbeitet und wichtige Industriezweige unterhält; zwar besteht, wie P. Naphtali mit Recht hervorhob, die Tendenz, immer tiefer in die Produktion einzudringen, um in Richtung Erstproduktion vorzudringen. Doch näherten sie sich dabei kaum der organischen Verbindung von Produktion und Verbrauch in umfassender gemeinschaftlicher Form an. Gibt es auch interessante Beispiele davon, dass große Verbraucherverbände oder deren Vereinigungen Erzeugerverbände für einige Produktionszweige organisieren oder sich bestehenden Erzeugerverbänden anschließen, so zeugen diese doch allein von technischer Organisation und nicht von der praktischen Umsetzung einer wahren gemeinschaftlichen Idee. Um ihr Projekt der Implementierung eines freien Sozialismus durchzuführen, muss sie sich erneut der umfassenden Verbindung von gemeinschaftlicher Produktion und gemeinschaftlichem Verbrauch zuwenden. Greifen wir aber nicht zu hoch, wenn wir der gemeinschaftlichen Idee eine solch gewaltige Funktion zuschreiben? Ich glaube, dass uns aus dem

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scheinbar geordneten Durcheinander, in dem wir leben, nichts anderes wirklich erretten wird als ein Sozialismus, der Gemeinschaft auf Freiheit begründet. Wendet sie sich jener Synthese zu, so hat die gemeinschaftliche Idee das Zeug, den größten Beitrag zur Verwirklichung dieses Sozialismus zu leisten. Vielleicht ist es die Aufgabe unseres Jischuv, in dem doch mehr als in jedem anderen Land bedeutende und erfolgreiche Versuche in Richtung synthetischer Form und gemeinschaftlicher Ansiedlung auf organischer Basis unternommen worden sind – vielleicht ist es seine Aufgabe, einen neuen Schritt in diese Richtung zu machen.

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Die gemeinschaftliche Bewegung sah ihr Ziel schon zu Beginn ihres Weges, vor hundertundfünfzehn Jahren, im gemeinschaftlichen Dorf. Dies gilt für beide Seiten des wirtschaftlichen Lebens, Produktion und Konsum: Sogleich, als man begann, sich in verbandmäßiger Form zu organisieren, strebte man nach synthetischer Form, nach dem vollständigen Verband, d. h. recht eigentlich nach dem gemeinschaftlichen Dorf, in dem Produktion und Konsum so aufeinandertreffen, dass sie sich schließlich aufeinander beziehen und einander nötig haben, wenn nicht gänzlich, so jedenfalls im Wesentlichen. In diesem bewussten Bestreben offenbart sich eine tiefe und objektive Tendenz, die in den Wandlungen, die mit der neuen Gesellschaft einhergehen, begründet ist. Die Epoche des Kapitalismus auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung bewirkte die Destrukturierung der Gesellschaft: Sie löste deren Struktur auf. Die dieser Epoche vorausgehende Gesellschaft setzte sich strukturell aus verschiedenartigen Gesellschaften zusammen, sie war ein zusammengefügtes und pluralistisches Geschöpf, oder – der von dem großen Rechtsgelehrten Althusius um das Jahr 1600 geprägten Formulierung nach – consociatio consociationum, Verband von Verbänden. Dies verlieh ihr ihre eigentümliche soziale Lebendigkeit und befähigte sie, der totalitären Tendenz des vor der Französischen Revolution existierenden zentralistischen Staates auch dann noch zu widerstehen, als einige der Grundfesten ihrer autonomen Existenz schon sehr geschwächt waren. Die Politik der Französischen Revolution, die sich gegen die Rechte der Verbände richtete, reizte und erweckte ihren Widerstand. Seither ist dem neuen Zentralismus, dem des auf der Höhe seiner Entwicklung befindlichen Materialismus, das gelungen, was dem alten Zentralismus nicht beschieden war: die Gesellschaft aufzusplittern, die gesellschaftliche Atomisierung zu bewirken. Das Kapital, das die Maschinen und mit ihrer Hilfe die Gesellschaft beherrscht, will sich allein einzelnen Menschen gegenübersehen, und der neue Staat hilft ihm dabei, das Leben autonomer Gruppen in immer weitreichenderem Maße zu unterwandern. Die Kampforganisationen, die das Proletariat gegen das Kapital aufbaut, d. h. die wirtschaftliche Kampforganisation, der Berufsverband, und die politische Kampforganisation, die Partei, sind ihrer Eigenschaft nach nicht in der Lage, diese Entwicklung hin zur Aufsplitterung aufzuhalten, da sie *

Ein Vortag, der im Rahmen des Symposiums der Hebräischen Universität über »Die gesellschaftliche Gestalt des hebräischen Dorfes im Land Israel« gehalten wurde.

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keinen Zugang zum Gesellschaftsleben und seinen Fundamenten, der Produktion und dem Konsum, haben. Auch die Übertragung des Kapitals auf den Staat ist nicht dazu angetan, eine Restrukturierung, eine Wiedererrichtung der Struktur und deren Erneuerung, herbeizuführen, auch dann nicht, wenn der Staat ein Netz von Zwangsverbänden ohne wahres Eigenleben ausbreitete, da diese ihrem Wesen nach nicht zu Zellen einer neuen Gesellschaft, einer sozialistischen Gesellschaft, werden können. Auf diesem Hintergrund gibt sich der objektive Kern der gemeinschaftlichen Bewegung zu erkennen und zwar als gesellschaftliche Tendenz zur Restrukturierung, zum erneuten Erwerb des seelischen Bezugs in neuen Strukturformen, als Tendenz zu einer Neugestaltung des consociatio consociationum, der communitas communitatum, der Gemeinschaft der Gemeinschaften. Es ist von Grund auf verfehlt, diese Tendenz, da sie in ihren Anfängen manchmal mit romantischen Erinnerungen und utopischen Phantasiegebilden in Verbindung stand, für romantisch oder utopisch zu halten. Ihrem innersten Wesen nach ist sie absolut topisch, d. h. lokal und wirklichkeitsnah, und absolut konstruktiv, d. h. aufbauend und erneuernd; sie zielt auf Veränderungen ab, die unter den gegebenen Bedingungen und mit den gegebenen Mitteln herbeizuführen sind; in psychologischer Hinsicht beruht sie auf einem ewigen, wenngleich zumeist unterdrückten oder gelähmten menschlichen Bedürfnis: dem Bedürfnis, dass ein jeder sein Zuhause als ein Zimmer empfinde, das sich in einem großen und umfassenden Gebäude befindet, in dem er zur Familie gehört, wobei die Bewohner des Gebäudes ihm in der Begegnung, in der Zusammenarbeit mit ihm, sein Wesen und seine Existenzweise akzeptieren. Zusammenschluss auf der Basis gemeinsamer Ansichten und gemeinsamer Bestrebungen allein ist nicht dazu angetan, dieses Bedürfnis zu stillen: dies ist nur in einem Zusammenschluss möglich, der den Grund für ein gemeinsames Leben bildet. Doch auch die Verbandsorganisation der Produktion und jene des Konsums erweisen sich in diesem Zusammenhang, jede für sich genommen, als ungenügend, weil sie den Menschen nur an einem bestimmten Punkt fassen und nicht eigentlich in der Ausgestaltung seines Lebens; und so erweisen sie sich auch, gerade aufgrund ihres partiellen und funktionalen Charakters, als ungeeignet, Zellen einer neuen Gesellschaft zu bilden. Beide dieser partiellen Gebilde haben sich in hohem Maße entwickelt, die Verbraucherverbände allerdings nur in absolut bürokratischen Formen und die Produzentenverbände nur in Formen absoluter Spezialisierung; sie sind weniger denn je dazu in der Lage, das Leben gemeinsam zu umfassen. Es ist das Bewusstsein von ihrem Unvermögen, Zellen einer erneuerten Gesellschaft zu bilden, das einer synthetischen Gestalt, dem ganz-

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heitlichen Verband, Vorschub leistete. Der bei weitem kraftvollste Versuch hierzu stellt das gemeinschaftliche Dorf dar, in dem das gemeinschaftliche Leben auf der Verknüpfung von Produktion und Konsum aufbaut, – und wenn ich Produktion sage, meine ich hier nicht allein Landwirtschaft, sondern deren organische Verbindung zu Industrie und Handwerk. Die vielseitigen, in Europa und in Amerika im Laufe von hundertundfünfzig Jahren gemachten Versuche, dörfliche Siedlungen dieser Art, ob kommunistisch oder in begrenztem Sinne kooperativ, zu gründen, sind im Allgemeinen erfolglos geblieben. Als erfolglos sehe ich nicht nur jene Siedlungsunternehmen an, die nach einer mehr oder weniger kurzen Existenz gänzlich auseinandergefallen sind oder eine kapitalistische Ordnung angenommen haben und daher zum gegnerischen Lager übergewechselt sind; vielmehr sind ihnen auch jene zuzuzählen, die sich vereinzelt und isoliert erhalten haben. Denn die wesentliche Aufgabe der neuen dörflichen Gruppen, die Aufgabe der Wiederbelebung einer Struktur, nimmt ihren Anfang in der Bildung einer Föderation unter ihnen, d. h. in ihrer Zusammenfassung nach dem Prinzip, das in der inneren Struktur einer jeden von ihnen herrscht. Dazu ist es beinahe nirgends gekommen. Doch auch dann, wenn zwar ein föderaler Zusammenschluss besteht, wie bei den Duchoborzen in Kanada, die Föderation aber in der Isolation verbleibt und keine Anziehung auf die allgemeine Gesellschaft und keine erzieherische Funktion im Verhältnis zu dieser ausübt, ist nicht von einem Erfolg in sozialistischem Sinne zu sprechen, geht die Erfüllung der Aufgabe doch nicht über den anfänglichen Rahmen hinaus. (Übrigens ist bemerkenswert, dass Kropotkin in diesen beiden Momenten der Isolation, derjenigen der Siedlungen untereinander und derjenigen der Siedlungen im Verhältnis zur Gesellschaft, auch Gründe für ihr – in gewöhnlichem Sinne verstandenes – Scheitern sah). Die sozialistische Aufgabe wird nur in dem Maße erfüllt, in dem das neue Dorf, das die Formen der Produktion vereint und Produktion und Konsum miteinander verbindet, in Richtung Wiederbelebung der Struktur auch auf die städtische, gestaltlos gewordene Gesellschaft Einfluss nehmen wird. Solch ein Einfluss ist heute allerding nur in bescheidenem Maße möglich; er wird wachsen, insbesondere dann, wenn die technische Weiterentwicklung die Dezentralisierung der industriellen Produktion erlauben und darüber hinaus in wachsendem Maße fordern wird; doch auch jetzt kann im modernen gemeinschaftlichen Dorf eine Kraft, die selbst auf die städtische Gesellschaft ausstrahlt, obwalten. Wiederum gilt es zu betonen, dass hier von einer konstruktiven und topischen Tendenz die Rede ist: wenn einer Städte zu zerschlagen gewillt ist,

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wird dies etwas Romantisches oder Utopisches an sich haben, wie es romantisch und utopisch war, als man Maschinen zerstören wollte; dagegen aber ist es eine konstruktive und topische Angelegenheit, Städte organisch, im Sinne der Auftrennung von Gliedern, und in mutiger Verbindung mit der technischen Entwicklung zu gestalten und sie in Verbände kleinerer Einheiten zu verwandeln; es gibt heute schon in verschiedenen Ländern gewisse bedeutende Anfänge hierfür, die mich in ihrer Struktur in der Tat an einige unserer Kibbuzim und Moschawim erinnern. Insoweit als ich in der Lage bin, mir einen Überblick über Vergangenheit und Gegenwart zu verschaffen, gibt es nur einen Versuch, dem man in sozialistischem Sinne ein gewisses Maß an Erfolg beimessen kann: das hebräische gemeinschaftliche Dorf im Land Israel in seinen unterschiedlichen Ausformungen. Zwar haftet auch ihm auf allen drei Gebieten eine tiefe Problematik an, auf dem Gebiet des inneren Bezugs, auf dem Gebiet des föderativen Zusammenschlusses und auf dem Gebiet der Wirkung auf die allgemeine Gesellschaft; aber es hat auf allen drei Gebieten, und nur es allein auf allen drei Gebieten zugleich, seine lebendige Existenz bewiesen. Nirgendwo in der Geschichte der verbandmäßigen Siedlung ist solch ein unermüdliches Vortasten auf eine Gestalt des Zusammenlebens hin, die diesen spezifischen Personenkreisen gemäß ist, vorzufinden – diese Hingabe und diese aufrüttelnde Kritik und diese wiederholten Versuche, alle drei sich immer von neuem belebend, dieses von Zeit zu Zeit erneute Ausschlagen der Siedlungszweige aus demselben Stamm und aus demselben Trieb, dem Form zu geben. Nirgendwo sonst findet sich diese Wachsamkeit in Bezug auf die eigene Problematik, die ständige Beschäftigung mit ihr, dieser zähe Wille, sich mit ihr auseinanderzusetzen, und dieses unablässige Ringen darum, sie zu überwinden, ein Ringen, das nur selten in der nach außen gerichteten Rede zum Ausdruck kommt. Hier, und nur hier allein, sind der entstehenden Gesellschaft Organe der Selbsterkenntnis gewachsen, Organe, deren Wahrnehmungen immer wieder zur Verzweiflung treiben; allerdings zu einer Verzweiflung, die eine emotionale Hoffnung zunichtemacht, um einer höheren Hoffnung Raum zu geben, einer Hoffnung, die nur auf dem Boden der Verzweiflung wächst und die nicht mehr Gefühl, sondern ganz Werk ist. Demnach ist uns gestattet, mit überaus großer, auf Übersicht und Überlegung beruhender Besonnenheit zu sagen, dass an diesem einen Punkt der Welt, mit Tausenden Fehlleistungen und Enttäuschungen, dennoch ein Nicht-Scheitern zu erkennen ist, – und dass es sich, so wie die Dinge liegen, um ein beispielhaftes Nicht-Scheitern handelt. Was sind die Gründe für dieses Nicht-Scheitern? Den besonderen

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Charakter unserer geminschaftlichen Siedlung können wir nicht besser erkennen, als wenn wir diese Ursachen zu ergründen suchen. Auf eine Ursache hierfür ist schon mehrere Male hingewiesen worden: unser gemeinschaftliches Dorf ist nicht Frucht einer Lehre, sondern Frucht einer Sachlage, – Not, Notwendigkeit, Erfordernisse der Sachlage. Als die Kvutza gegründet wurde, so sagte man, war es nicht die Ideologie, die voraufging, sondern die Tat; damit hat es sicherlich seine Richtigkeit, allerdings mit gewisser Einschränkung. Zwar bestand die Tendenz, durch den Zusammenschluss gewisse Probleme bei der Arbeit und beim Aufbau zu lösen, die sich angesichts der Realität im Lande Israel stellten; was eine lose Ansammlung Einzelner ihrer Beschaffenheit nach unter den bestehenden Bedingungen nicht hätte leisten können und ihrer Beschaffenheit nach unter den bestehenden Bedingungen auch überhaupt nicht versuchen konnte, zu leisten, hat man im Kollektiv gewagt, versucht, verwirklicht. Was man hier aber mit dem Namen Ideologie bezeichnet – und was ich hier lieber bei dem alten Namen, der sich kaum überleben wird, zu nennen vorziehe: das Ideal – war nicht einfach nur etwas, das nach der Tat kam, etwas, das nach der Tat den Grund für die geschaffenen Tatsachen lieferte. Wir wissen, wie sich im Geist der Mitglieder unserer ersten »Kommunen« idealistische Argumente mit der Forderung der Stunde zusammenfügten, Begründungen, die manchmal auf wunderliche Weise die Erinnerung an den russischen Ertil, Leseeindrücke von den utopisch genannten Sozialisten und kaum bewusste Lektüren über soziale Gerechtigkeit miteinander vermengten. Entscheidend dabei ist, dass dieses idealistische Element seinen weichen, formflexiblen Charakter beinahe vollständig bewahrt hat. Dabei gab es viele und unterschiedliche Zukunftsträume; es gab solche, denen eine neue und umfassende Form der Familie vorschwebte, solche, die sich als Avantgarde der Arbeiterbewegung oder auch als direkte Umsetzung des Sozialismus, als Prototyp der neuen Gesellschaft verstanden. Es gab solche, die sich die Erschaffung eines neuen Menschen und einer neuen Welt zum Ziel setzten. Doch ist keiner von all diesen Träumen zu einem fertigen, feststehenden Programm erstarrt. Unsere Leute sind, anders als es in der Geschichte der gemeinschaftlichen Siedlungen bisher immer der Fall war, nicht mit einer Art Schema dahergekommen, in das sich die konkreten Gegebenheiten nur einpassen, es aber nicht verändern durften; das Ideal hat eine Dringlichkeit geschaffen, aber nicht Dogmen, es hat angestachelt, aber nicht vorgeschrieben. Treffend hat Shlomoh Lavi diese Tugend unseres gemeinschaftlichen Dorfes in Worte gefasst: »Wir beobachten«, sagt er, »dass in allen Epochen der Geschichte Versuche unterschiedlicher Form, ein Leben in der Kommune zu entwickeln, unternommen wurden, Ver-

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suche, die in hohem Flug weit reichten und tief in die Reinheit drangen, Versuche, die das ganze ethische und gesellschaftliche Leben umfassten und im wirtschaftlichen Leben großen Erfolg zeitigten, aber dennoch scheiterten – und zwar nur deshalb, weil sie sich ihrem Umfang, ihren Ideen und ihren ethischen und gesellschaftlichen Ansichten Schranken setzten.« Bedeutender aber als all dies ist, dass hinter der Lage im Lande Israel, die die Aufgaben von Arbeit und Aufbau bestimmte, eine historische Situation stand, d. h. die des Volkes, das von einer großen äußeren Krise heimgesucht wurde und ihr mit einer großen inneren Revolution begegnete; diese historische Situation hat eine Auswahl von Menschen gezeitigt, eine Elite, die Elite der Chalutzim, der Pioniere. 1 Sie setzte sich aus allen Klassen des Volkes zusammen und stellte sich über die Klassen. Die angemessene Lebensform für diese Auswahl von Menschen war das gemeinschaftliche Dorf, – womit ich nicht eine seiner Variationen meine, sondern die ganze Bandbreite, von der Organisation gegenseitiger Hilfe bis zur Organisation unbedingter Gemeinschaftlichkeit. Diese Form war diejenige, die sich am besten dazu eignete, den zentralen Aufgaben der Pionierarbeit gerecht zu werden. Zugleich stellte sie jene Form dar, mittels derer das soziale Lebensideal ganz konkret in das Innerste der nationalen Idee eindringen konnte. Aus den historischen Voraussetzungen ergab sich, dass man von der inneren Warte dieser Elite und ihrer Lebensform aus gesehen unmöglich zu Stillstand und Isolation kommen durfte: ihre Aufgaben, ihre Werke, ihre Pionierhaftigkeit machten sie zu Zentren der Anziehung, luden sie mit elektrischen, energieversprühenden Strömen auf. Die Pionierhaftigkeit bezieht sich in jedem Punkt auf das Entstehen einer neuen und umgewandelten Volksöffentlichkeit; wäre es dazu gekommen, dass sie sich selbst genügte, hätte sie in eben dem Augenblick auf sich selbst verzichtet. Als Keimzelle der werdenden Gesellschaft übte das gemeinschaftliche Dorf notwendigerweise eine starke Anziehung auf den sich an dieses Entstehen hingebenden Menschen aus; auch erzog es diejenigen, die sich ihm anschlossen, notwendigerweise zu wahrem Gemeinschaftsleben und hatte auch darüber hinaus konstruktiven, strukturbildenden Einfluss auf die umfassende Gesellschaft. Die historische Dynamik bestimmte den dynamischen Charakter der Beziehung zwischen gemeinschaftlichem Dorf und Gesellschaft. Dieser Charakter litt erkennbaren Schaden, als sich das Tempo der äußeren Krise so sehr erhöhte und sich in immer extremerer Weise Aus1.

Vgl. Meinen Aufsatz »Regeneration eines Volkstums« in der Anthologie »Achdut ha-avoda [Einheit der Arbeit]« (1943), Kapitel 4, »Der Chaluz«.

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druck verschaffte, dass die innere Revolution nicht Schritt halten konnte. In dem Maße, in dem das Land Israel sich vom Land der Alija in eines der Einwanderungsländer verwandelte, entstand neben der wahren Pionierhaftigkeit eine halbherzige Pionierhaftigkeit. Die Anziehungskraft des gemeinschaftlichen Dorfes ist nicht erlahmt, aber seine Erziehungskraft reichte für den Strom des in seiner Art verschiedenen Menschenmaterials nicht aus, so dass es jenem von Zeit zu Zeit gelang, das Gepräge der Öffentlichkeit mitzubestimmen. Zugleich verschob sich das Verhältnis zur allgemeinen Gesellschaft; indem sich diese in ihrer Struktur veränderte, entzog sie sich zum einen mehr und mehr dem revolutionären Einfluss der Keimzellen und begann zum anderen einen Einfluss auf jene auszuüben, der nicht immer sofort erkennbar war, heute aber ziemlich markant ist: die allgemeine Gesellschaft erfasste die wesentlichen Elemente aus den Keimzellen und passte sie sich an. Das Eindringen des kapitalistischen Geistes in seinen kollektiven Formen in das gemeinschaftliche Dorf, ein Eindringen, das sich in manchen von ihnen während diesen Krieges ereignete, kann nur als Höhepunkt dieser negativen Entwicklung verstanden werden, die allerdings auch durch innere Ursachen Unterstützung fand. Im Leben von Völkern, und insbesondere im Leben von Völkern, die eine historische Krise durchlaufen, ist es von entscheidender Bedeutung, ob sich in ihr echte Eliten herausbilden – d. h. Eliten, denen es nicht um Unterwerfung geht, sondern solche, die sich zu einer zentralen Aufgabe aufgerufen sehen – und im weiteren, ob diese Eliten ihrer gesellschaftlichen Aufgabe treu bleiben und nicht die Bindung an die Gesellschaft durch eine Bindung an sich selbst ersetzen, und schließlich, ob sie in der Lage sind, sich in einer Weise zu vervollkommnen und zu erneuern, die ihrer Aufgabe entspricht. Letzteres ist auf zweierlei Weise zu verstehen: erstens, ob die Eliten in der Lage sind, auf ihre Nachkommenschaft in einer Weise zu wirken, dass jene ihr Werk in angemessener Form fortsetzt, was immer ein schwieriges Problem darstellt, und zweitens, ob sich die Eliten durch richtige Auswahl und richtige Ausbildung Zöglinge heranziehen, eine Art von Nachkommenschaft in ihrem Geiste, die so weit als möglich alle fähigen Elemente aufnimmt und so weit als möglich alle anderen Elemente nicht aufnimmt, oder, falls dies nicht verhindert werden kann, durch den richtigen erzieherischen Einfluss ein Ausgleich geschaffen wird. Das historische Schicksal hat für uns die Elite der Pioniere, die ihre gesellschaftliche Kerngestalt im gemeinschaftlichen Dorf gefunden hat, ins Leben gerufen. Eine andere Schwingung dieses historischen Schicksals hat diese Elite mit halbherzigen Pionieren vermengt und dabei eine Problematik hinzugefügt, oder genauer, inmitten der Elite eine po-

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tenzielle Problematik entwickelt, die sie bis heute nicht zu bewältigen in der Lage war, wobei deren Bewältigung zur Erreichung der nächsten Stufe auf dem durch ihre Aufgabe vorgeschriebenen Weg notwendig ist. Es ist eine Pflicht, die innere Spannung zwischen jenen, die die ganze Verantwortung für die Öffentlichkeit auf sich nehmen, und jenen, die sich ihr an einem Punkt entziehen, von innen zu überwinden. Der Bereich, in dem diese Problematik auftritt, ist nicht der des Verhältnisses zur Idee, nicht der des Verhältnisses zur Öffentlichkeit und auch nicht der des Verhältnisses zur Arbeit; in all diesen Bereichen bemüht sich auch der halbherzige Pionier und tut mehr oder weniger, was man von ihm erwartet. Der Bereich, in dem die Problematik auftaucht, der Bereich, in dem er sich nachlässig verhält, ist der Bereich der inneren Gemeinschaftlichkeit, der Bereich der Beziehungen. Das Problem, an das ich rühre, hat nichts mit der oft diskutierten Frage der Intimität der »kleinen« Gruppe, die in der »großen« verloren geht, zu tun; ich beziehe mich auf eine Angelegenheit, die in keiner Weise den Umfang des Dorfes berührt. Nicht von Intimität ist die Rede – sie tritt dort auf, wo sie auftritt; vielmehr ist die Rede von der seelischen Aufgeschlossenheit. Zwar leben wir in einer Epoche der allgemeinen Verschlossenheit und dieses Land bildet mitnichten eine Ausnahme von dieser Regel, doch war es dem hebräischen gemeinschaftlichen Dorf eben auferlegt, auch in dieser Hinsicht Pionier einer neuen Epoche zu sein. Eine wahre Gemeinschaft muss sich nicht aus Menschen zusammensetzen, die ständig in Berührung miteinander stehen; doch muss sie sich aus Menschen zusammensetzen, die gerade als Freunde füreinander offen sind und füreinander einstehen. Eine wahre Gemeinschaft ist eine solche, bei der jedes Element ihres Seins potenziell den Charakter einer Gemeinschaft trägt. Die innergesellschaftlichen Fragen einer bestimmten Gemeinschaft sind also in Wahrheit Fragen hinsichtlich ihrer Wahrhaftigkeit und daher also Fragen hinsichtlich ihrer inneren Kraft und ihrer inneren Beständigkeit. Die Menschen, die unser gemeinschaftliches Dorf begründet haben, wussten dies aus tiefem Instinkt; es scheint, dieser Instinkt ist nicht mehr so verbreitet und so wach, wie vordem. Wovon die Rede ist, wird in diesen Worten von Lilia Basewitz überaus klar benannt: »Was ist zu tun, damit der Kibbuz beginnt, sich gesellschaftlichen Fragen zu widmen? Dafür ist eine Wende erforderlich. E r n e u e r t e P i o n i e r h a f t i g k e i t «. Darin ist sowohl das Bewusstsein von der bestehenden Wirklichkeit als auch die feste Hoffnung auf eine andere, zukünftig sich einstellende Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht. Das Nicht-Scheitern muss sich auch hier, im Bereich der inneren Problematik, bewahrheiten. Nichts kann dazu so sehr beitragen als die hellsichtige und unerschrockene kollektive

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Selbstbeobachtung und Selbstkritik, auf die ich schon hingewiesen habe und die wir in unserem gemeinschaftlichen Dorf in einer ihrer Art nach einzigartigen Vehemenz und Beständigkeit vorfinden, die auch gegen die Schwächung des gesellschaftlichen Instinkts wirken. Um sie aber zu verstehen und in angemessener Weise wertzuschätzen, muss man sie zusammen mit dem unmessbar positiven, recht eigentlich gläubigen Bezug dieser Menschen zur innersten Wesenhaftigkeit, zum Wesen der Wesenhaftigkeit ihres Dorfes, betrachten, zu dem also, was jene Gemeinschaft einmal »herrliches Ein-Harod« bezeichnet hat. Diese beiden Bezüge sind allerdings nur zwei Seiten derselben seelischen Welt; die eine ist nicht ohne die andere zu verstehen. Um uns die Gründe für das Nicht-Scheitern unserer gemeinschaftlichen Siedlungen vor Augen zu führen, habe ich als Ausgangspunkt die undoktrinäre Beschaffenheit ihrer Entstehung gewählt. Diese Beschaffenheit hat im Wesentlichen auch ihre Entwicklung bestimmt. Völlig frei haben sich neue Formen durch wiederholte Verzweigung gebildet und aus diesen wiederum neue Zwischenformen. Jede davon entstand aufgrund der Entwicklung besonderer sozialer und seelischer Bedürfnisse und entwickelte ihre Ideologie schon im ersten Lauf; jede davon gewann Nachfolger, expandierte, gründete für sich ein großes oder kleines Gebiet, alles in völliger Freiheit. Die Repräsentanten der verschiedenen Formen brachten jeweils Argumente für ihre Form vor. Offenherzig und eifrig setzten sie sich gegenseitig Vor- und Nachteile einer jeglichen Form auseinander, dies allerdings auf der Grundlage ihres gemeinsamen Interesses und ihrer gemeinsamen Aufgabe, einer Grundlage, die allen selbstverständlich zu sein schien und auf der eine jede Form die relative Existenzberechtigung der anderen und ihre besonderen Funktionen anerkannte. All dies ist einzigartig in der Geschichte der gemeinschaftlichen Siedlungen. Und mehr noch: soweit ich mir dessen bewusst bin, war man niemals in der Geschichte der sozialistischen Bewegung eifriger darauf bedacht, während des Prozesses der Ausdifferenzierung das Prinzip der Verbindung zu wahren. Die so zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Situationen entstandenen und voneinander verschiedenen Formen und Zwischenformen stellen voneinander verschiedene gesellschaftliche Gebäude dar; dessen waren sich die Menschen, die sie errichteten, zumeist bewusst, wie sie sich auch der spezifischen sozialen und seelischen Bedürfnisse bewusst waren, die sie antrieben. Der Tatsache allerdings, dass den unterschiedlichen Formen unterschiedliche Menschentypen entsprachen, dass sich also ähnlich wie sich aus der Urform der Kvutza neue Formen auch aus dem Urtyp des Pioniers neue Typen abzweigten, jeder

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seiner besonderen Existenzweise gemäß und seinem Wunsch entsprechend, diese in eine besondere Lebensweise umzusetzen – dieser Tatsache waren sich die Menschen nicht in demselben Maße bewusst. Zwar waren es zum großen Teil wirtschaftliche und andere äußerliche Gründe, die dazu führten, dass bestimmte Menschen eine Form verließen, um sich einer anderen anzuschließen; im Wesentlichen aber war es so, dass jeder Typus Mensch die gesellschaftliche Erfüllung seiner Beschaffenheit in einer bestimmten Siedlungsform suchte und dort auch mehr oder weniger fand. Eine jede Form gründete nicht nur in einem bestimmten Typus, sondern erzog und erzieht wiederum zu eben dem Typus, den zu entwickeln sie bestrebt war und ist; Satzung, Lebensgestaltung und Erziehungsmethode einer jeglichen Form sind eben darauf ausgerichtet, – in welchem Grad man sich dessen auch immer bewusst war und ist; aus dem konkreten, formtragenden Typus erwächst im Denken der ideale, in der Absicht verankerte Typus. So entstand etwas, das sich von allen sozialen Versuchen in der Welt wesentlich unterscheidet: nicht ein Labor, in dem jeder für sich arbeitet und mit seinen Problemen und Plänen für sich ist, sondern ein Versuchsfeld, auf dem auf gemeinsamem Boden nebeneinander verschiedene Obstgärten nach unterschiedlichen Methoden mit Blick auf ein gemeinsames Ziel geprüft werden. Doch ist auch dabei eine Problematik entstanden, allerdings nicht innerhalb der Gruppe, sondern in den Beziehungen unter den Gruppen; sie hatte ihren Ursprung nicht außen, sondern innen, und darüber hinaus im Prinzip der Freiheit selbst. Schon in ihrer ersten Gestalt war sich die Gruppe ihrer Tendenz zum Verband, zur Zusammenfassung mehrerer Gruppen zu einer gesellschaftlichen Einheit höherer Stufe bewusst; einer sehr wichtigen Tendenz, denn in ihr kam zum Ausdruck, dass sich die Kvutza selbst, wenn nicht ausdrücklich, so doch implizit, als Zelle einer Gesellschaft betrachtete, die dabei war, eine Struktur aufzubauen. Im Zuge der Aufteilung und Entwicklung der verschiedenen Formen wird anstelle des einen Verbandes eine Reihe von Verbänden gesetzt, wobei mit jedem dieser Verbände jeweils eine gewisse Siedlungsform – und mehr oder weniger parallel dazu auch ein gewisser Menschentyp – ihre Position innerhalb der Föderation bestimmte; die grundlegende Annahme dabei war, dass sich die Verbindung der Kvutzot untereinander aus dem in jeder einzelnen herrschenden Gesetz der Gemeinschaftlichkeit und der gegenseitigen Unterstützung ergibt. Darin jedoch erschöpfte sich die Tendenz zu umfassender Vereinigung nicht; sie machte sich, jedenfalls in der Kibbuzbewegung, von Mal zu Mal mit großer Macht und in aller Deutlichkeit bemerkbar. Sie kommt darin zum Ausdruck, dass die irdischen Kibbu-

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zim nur als vorläufige Strukturen oder, in der Formulierung von Kadish Luz, als Surrogate für die Kommune der Kommunen anerkannt werden. Abgesehen davon, dass sich einzelne Formen, wie die der Moschavim, schon so weit von der ursprünglichen Form entfernt haben, dass sie nicht in den Vereinigungsplan aufgenommen werden können, kommt es doch auch in der Kibbuzbewegung selbst vor, dass sich Teilorganisationen von der Tendenz zur Vereinigung, die darauf aus ist, sie zu überwölben oder einzuverleiben, abgrenzen. Jede dieser Teilorganisationen hat in ihrem Verband ihren spezifischen Charakter ausgebildet und gefestigt, und es ist nur natürlich, dass jede dazu neigt, sich in ihrer Phantasie auszumalen, die Vereinigung komme der Ausweitung ihrer selbst gleich. Dem gesellte sich noch ein anderes Element zu, das zur ungeheuren Stärkung dieser von den Verbänden vertretenen Position führte: die Politisierung. Vor 18 Jahren konnte der Vorsitzende eines großen Verbandes mit Nachdruck sagen: »Wir sind eine Gemeinschaft und keine Partei«. Seither hat sich die Situation von Grund auf verändert und demgemäß haben sich auch die Voraussetzungen für eine Vereinigung verschlechtert. Daraus wiederum ergab sich die traurig stimmende Tatsache, dass die Beziehungen zwischen benachbarten Gruppen, die für den Aufbau der gesellschaftlichen Struktur von grundlegender Bedeutung sind, sich nicht in ausreichendem Maße entwickelt haben, obgleich nicht wenige Fälle zu verzeichnen sind, in denen ein hinlänglich entwickeltes und wohlhabendes Dorf einem jungen und mittellosen benachbarten Dorf, das einem anderen Verband angehörte, weitreichende Hilfe leistete. Unter diesen Umständen ist es angebracht, der sich vor allem in den letzten Jahren zutragenden intensiven Auseinandersetzung um die Frage der Vereinigung Aufmerksamkeit zu schenken. Kein Mensch, in dessen Brust ein sozialistisches Herz schlägt, wird das große Zeugnis dieses Ringens, das Erscheinen der Anthologie »Der Kibbuz und die Kwutza«, die Berl Katznelson, sein Andenken sei gesegnet, herausgegeben hat, lesen können, ohne die erhabene Begeisterung zu bewundern, mit der hier zwei Lager miteinander um die wahre Einheit ringen. Es scheint, die Einheit wird nur dann zustandekommen, wenn sie durch neue Verhältnisse erzwungen werden wird; dieser Umstand jedoch, dass die Menschen des hebräischen Dorfes Kraft schöpften und sich zugleich gegen- und miteinander hinsichtlich des Zustandekommens der communitas communitatum, der Gruppe der Gruppen, so sehr abmühten, und das heißt: hinsichtlich des Zustandekommens einer Gesellschaft, deren Struktur eine Struktur der Erneuerung ist, dieser Umstand wird in der Geschichte um das Streben nach Erneuerung der Menschheit nicht in Vergessenheit geraten. Ich habe gesagt, dass ich den Entwicklungsverlauf des kühnen Unter-

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nehmens des Volkes Israel als beispielhaftes Nicht-Scheitern betrachte. Mir ist nicht gestattet, zu sagen: als beispielhaften Erfolg. Damit es dazu wird, muss man noch viel tun und muss noch viel getan werden. Und dennoch: so, gerade so, in diesem Rhythmus, mit solchen Rückschlägen, mit solchen Enttäuschungen, mit solchem erneutem Emporklimmen gehen die wahren Umwälzungen in der Welt des Menschen vonstatten. Ist es aber wirklich angemessen, zu sagen, dass es sich um ein beispielhaftes Scheitern handelt? Es mag argumentiert werden, dass es, wie ich erwähnt habe, besondere Voraussetzungen und Bedingungen waren, die dazu geführt haben. Josef Baraz’ Feststellung hinsichtlich der Kvutza, nämlich dass es sich um eine Schöpfung handle, die typisch für das Land Israel sei, gilt sicherlich für all diese Formen. Ist aber ein Versuch unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen in gewissem Grade gelungen, so können wir ihn auch unter weniger günstigen Voraussetzungen und Bedingungen wiederholen, wobei das Erlernte diesen Voraussetzungen und Bedingungen anzupassen wäre. Man kann kaum noch in Zweifel stellen, dass der gegenwärtige Krieg in keinster Weise eine Überwindung der Weltkrise bedeutet, sondern dass man ihn als Ende ihrer Anfangsphase anzusehen hat. Die Krise wird wohl wenige Jahre nach dem Ende des Krieges ausbrechen, vermutlich zunächst unter einigen kleinen Völkern West- und Mitteleuropas, die ihre ruinierte Wirtschaft nur dem Anschein nach wiederherstellen können werden und trotz aller Unterstützung von Seiten verschiedener Großmächte nicht in der Lage sein werden, den Kollaps aufzuhalten. Während andere und vor allem die großen angelsächsischen Staaten es mittels energischer Korrektiven gerade noch schaffen werden, die bestehende Regierungsform zu wahren, werden jene sich durchaus vor die Notwendigkeit gestellt sehen, grundlegende Maßnahmen zur Vergesellschaftung und allen voran Maßnahmen zur Landenteignung zu treffen. Von entscheidender Bedeutung wird dann die Frage nach dem wahren Subjekt der umgewandelten Wirtschaft und nach dem Eigentümer der Produktionsmittel im Zustand der Vergesellschaftung sein, d. h. die Frage, wer von jenen beiden diese Rolle erfüllen wird: die zentrale Regierungsmacht in einem höchst zentralistischen Staat oder aber, so weit als möglich, die gesellschaftlichen Einheiten der gemeinsam lebenden und gemeinsam produzierenden Dorf- und Stadtarbeiter und ihre Repräsentationsorgane, wobei den Organen des Staates, die eine neue Form angenommen haben, nur Aufgaben der Koordination und Verwaltung zukommen werden. Von diesen Entscheidungen, denen später im Wesentlichen ähnliche Entscheidungen unter den großen Völkern nach-

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folgen mögen, wird das Zustandekommen einer neuen Gesellschaft und einer neuen Kultur in hohem Maße abhängen. Der Kern der Sache bildet die Entscheidung hinsichtlich des F u n d a m e n t s : der Aufbau einer Gesellschaft mit der Struktur eines Verbandes von Verbänden und die Reduzierung des Staates auf Funktionen der Vereinigung oder aber die Einverleibung einer formlosen Gesellschaft durch einen allmächtigen Staat; sozialistischer Nuancenreichtum oder aber sozialistische Eintönigkeit; das richtige Verhältnis zwischen notwendiger Ordnung und möglicher Freiheit, ein Verhältnis, das es auf dem Hintergrund der sich wandelnden Voraussetzungen täglich neu zu prüfen gilt, oder aber eine absolute Ordnung, die man mit Blick auf eine ihr nachfolgenden Freiheitsepoche für unbestimmte Zeit aufzwingt. Solange jedoch innerhalb der Sowjetunion kein prinzipieller Wandel vorgeht – und gegenwärtig ist noch nicht abzuschätzen, wann solch ein Wandel vor sich gehen wird – müssen wir einen der zwei Pole des Sozialismus bilden, zwischen denen dann in Moskaus mächtigem Namen zu wählen sein wird: und es besteht ja kein Zweifel, dass die meisten slawischen Völker sich ähnlich wie jetzt schon in politischer Hinsicht bald auch in gesellschaftlicher Hinsicht Moskau anschließen werden. Den zweiten Pol wage ich heute, wie schon vor 26 Jahren, 2 trotz aller Fehlleistungen und Rückschläge durch unser winziges gemeinschaftliches Unternehmen vertreten zu sehen. In der westlichen Welt beginnt man, dies wahrzunehmen. Schon heute, mitten im grausamen Abschluss der Anfangsphase der Weltkrise, kommen Leute hierher, um sich den nicht-gescheiterten Versuch anzusehen und von ihm zu lernen. Nach jener Anfangsphase werden sie vermehrt kommen, um gründlicher sehen und lernen zu können. Dabei wird es zu einer Berührung mit der sich verwandelnden Welt kommen, eine Berührung, die sicherlich nicht ohne Einfluss auf unsere Existenz und auf unser Unternehmen bleiben wird. Von einem Mann von ausgesprochen englischer kultureller Prägung, der in letzter Zeit im Lande weilte, habe ich vor einer Woche, kurz nach seiner Heimkehr, einen Brief erhalten, in dem geschrieben stand: »Könnte ich in diesem Lande nur mehr von dem Geist sehen, der in euren Sied2.

Siehe meinen Vortrag »Warum muss der Aufbau des Landes Israel ein sozialistischer sein?«, den ich in Berlin im Dezember 1928 bei dem Gründungskongress der »Liga für das arbeitende Land Israel« gehalten habe, in dem Abschnitt über (das faschistische) Rom, Moskau und Jerusalem (in meinem deutschsprachigen Buch »Kampf um Israel« aus dem Jahr 1933, S. 292-296). Dort wird die Frage gestellt: »Gibt es ein Jerusalem, wird es eins geben, das gewiß nicht neben Moskau und Rom, aber ihnen gegenüber zu stellen sein wird?« und die Antwort ist: »Ich glaube an ›Jerusalem‹. Wir dürfen daran glauben.«

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lungen herrscht, hätte ich mich in Bezug auf unsere Chancen, eine Demokratie zu bilden, sicherer gefühlt, aber leider scheint sich unsere Gesellschaft noch immer auf eitle Werte zu stützen und wir erfahren nicht die Renaissance, ohne die wir nicht würdig sind, diesen Krieg zu gewinnen.« Wer Ohren hat, zu hören, soll kommen und zuhören.

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Schon über ein Viertel Jahrhundert lang fühlen wir, dass wir am Beginn einer großen Krise leben, die die größte Krise zu sein scheint, die das Menschengeschlecht bisher durchlebt hat. Es zeigt sich immer deutlicher, dass auch die gewaltigen Ereignisse der letzten Jahre nicht anders zu verstehen sind, denn als Zeichen dieser Krise. Es handelt sich nicht nur um die Krise eines wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Systems, das einem anderen, scheinbar bereiten System den Platz räumt; vielmehr befinden sich alle Systeme, die alten wie die neuen, gleichermaßen in der Krise. Was durch diese Krise in Frage gestellt wird, ist nicht weniger als das Sein des Menschen in der Welt überhaupt. Vor langer, von uns nicht zu berechnender Zeit machte sich der Mensch auf seinen Weg; er, der von der Perspektive der Natur aus betrachtet als kaum zu begreifender Fremdkörper, von der Perspektive des Geistes aus betrachtet als vielleicht in der ganzen Welt einmalige und nicht leicht zu erfassende Hypostase – und von beiden Perspektiven aus zugleich betrachtet als ein Sein erscheint, das seinem Wesen nach in jedem Augenblick – von innen und von außen – gewaltiger Gefahr und sich immer vertiefenderen Krisen ausgesetzt ist. Auf seinem Weg durch die Welt erweiterte der Mensch das, was man Kontrolle über die Natur nennt, erweiterte sie immer mehr und mit immer größerer Geschwindigkeit, und führte das, was man Geschöpf seines Geistes nennt, von einem prächtigen Sieg zum anderen. Doch gegen seinen Willen verspürte er zugleich und von Krise zu Krise mit steigender Intensität, wie spröde diese Pracht ist; und in klarsichtigen Momenten lernte er zu verstehen, dass er trotz all dem, was er kontinuierlichen Fortschritt des Menschengeschlechts nennt, in keinster Weise auf von ihm eingenommener Bahn geht, sondern von Zeit zu Zeit gezwungen ist, Schritt für Schritt auf engem Pfad zwischen Abgründen zu gehen. Je schlimmer die Krise, umso dringlicher richtet sich die Aufforderung zu ernsterer und verantwortlicherer Erkenntnis an uns; denn zwar ist es die Tat, die zur Überwindung der Krise beitragen wird, doch eben nur die Tat, die im Feuer der Erkenntnis geschmiedet wurde. In Tagen großer Krise reicht es nicht aus, die mehr oder weniger nahe Vergangenheit zu betrachten, um das Rätsel der Gegenwart seiner Lösung anzunähern: wir müssen die vom Menschen erlangte Wegesstufe dem Wegesanfang gegenüberstellen, soweit wir dazu in der Lage sind. *

Ein Radiovortrag im Rahmen der Reihe »Die Welt nach dem Krieg«. – Mit der generösen Erlaubnis des Sendedienstes.

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Es sind zunächst zwei Handlungen oder Einstellungen, mit deren Hilfe der Mensch einst sozusagen die Natur verliess, sich trotz seiner Schwäche gegen sie durchsetzte und sie sich sogar unterwarf. Die eine ist die Herstellung von jeweils eine bestimmte Aufgabe erfüllenden und als Werkzeuge bezeichneten Gegenständen, die der Mensch von Mal zu Mal zu gewissen Zwecken einsetzte; die andere besteht darin, dass er sich mit seinesgleichen zusammenschloss, um sich zu schützen und um auf die Jagd zu gehen, zum Kampf und zur Arbeit. Diesen Zusammenschluss vollzog er derart, dass er die ihm gegenüberstehenden Anderen anfangs in gewissem Masse, später dann mehr und mehr als eigenständige Geschöpfe und sich selbst den Anderen gegenüber als eigenständiges Geschöpf betrachtete, um dann so mit ihnen in Kontakt zu treten. In diesen beiden Handlungen oder Einstellungen, in der Anfertigung einer »technischen« Welt, die aus auf besondere Weise geformten Gegenständen besteht, und in der Errichtung einer »sozialen« Welt im Zusammenschluss von Menschen, die voneinander abhängig und unabhängig zugleich sind, unterscheidet sich der Mensch als Art von allen ähnlichen Beschäftigungen nachgehenden Tiere. Auch Affen benutzen z. B. einen herumliegenden Stock als Hebel, als Hacke oder als Waffe, doch geschieht dies nicht anders denn gelegentlich; sie sind nicht in der Lage, ein Werkzeug als andauernd benutzbares Objekt von bestimmter Eigenschaft zu konzipieren und herzustellen. Auch leben einige Insekten in auf Arbeitsteilung begründeten sozialen Zusammenhängen; doch ist ihr gegenseitiges Verhältnis dabei gerade völlig von dieser Arbeitsteilung bestimmt. Alle werden dabei sozusagen zu Werkzeugen. Die Gesellschaft benutzt sie für ihre »instinktiven« Ziele; der Handlung fehlt von vornherein ein auch nur geringfügigstes Maß an Eigenständigkeit im Verhältnis der Handelnden zueinander, die innere Möglichkeit, sich immer wieder gegenseitig und damit das Verhältnis der Geschöpfe untereinander »frei« zu betrachten. Auf dem Hintergrund dieser beiden, dem Menschen allein eigentümlichen Eigenschaften, die letztendlich als eine betrachtet werden dürfen, d. h. als das Vermögen, im Verhältnis zu Objekten und Mitmenschen diesen Eigenständigkeit zu verleihen – auf dem Hintergrund dieser Eigenschaften ist der Weg des Menschen in all seinen Höhen und Tiefen und damit auch unsere Stellung auf diesem Weg, unsere große Krise, zu verstehen. Doch dürfen wir dabei nicht die grundlegende Wahrheit aus den Augen verlieren, die besagt, dass solch eine Krise im Bestreben, an eine vorige Wegstelle zurückzukehren, nicht zu überwinden ist, sondern nur im Bemühen, die gegebene Problematik, ohne sie herabzumindern, unter Kontrolle zu bringen. Die dem Menschen von Seiten der technischen Welt drohende Gefahr

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liegt darin, dass diese aufgrund der ihr vom Menschen verliehenen Eigenständigkeit über ihn hinauswächst und sich ihn unterwirft. Der Natur der Dinge gemäß konnte diese Gefahr nicht aus der technischen Welt an sich, sondern nur unter dem Einfluss des Menschen hervortreten, der der technischen Welt eine über das ursprüngliche beabsichtigte Maß hinausgehende Macht verlieh, die immer mehr anwachsend schließlich den Menschen beherrschte. Dies bewirkte vor allem der Arbeitgeber, der in der Epoche, in der der Kapitalismus seinen Höhepunkt erlangte, Maschinen einsetzte, um das Verhältnis zwischen Nachfrage und Angebot auf dem Arbeitsmarkt neu zu regeln und auf dieser Grundlage Herrschaft über die Arbeiter auszuüben: da der Mensch nicht dazu angetan war, die Maschinen zu beherrschen, kam es schnell dazu, dass er von ihnen beherrscht wurde. Heutzutage wird der Arbeiter nicht nur mehr und mehr zu einer Art organischem Anhängsel der Maschine, die ihm mit zunehmender Aggressivität die Gestalt seines Lebens vorschreibt, wobei er mit seinem Zustand noch zufrieden ist, kann sein Hirn sich doch im extremen Fließbandsystem, während er tausende Male dieselbe winzige Hilfsbewegung macht, nebenher noch leicht Gedanken machen. Dies aber genügt ihm, wo doch seine bisher einheitliche Wesenheit in zwei voneinander unabhängige Sektionen unterteilt wurde – eine denkende und eine arbeitende Sektion! Weitaus schlimmer noch: die Macht der Maschine zeigt sich in all ihrer Gewalt in als anormal bezeichneten Zeiten, in Zeiten von Krieg und Bürgerkrieg, die bald drohen, als normal zu gelten, stellen die Friedenszeiten genannten Zeiten doch nur noch Unterbrechungen dar, in denen man nichts anderes tut, als sich auf den nächsten Krieg vorzubereiten. Die Welt der Maschinen, die einst von ihren Erfindern dafür vorgesehen war, treuer Sklave des gemeinschaftlichen Willens zu sein, weist heute, wo sie von anti-gemeinschaftlichem Willen angetrieben ist, wie jener Zauberbesen im Märchen, eine satanische Eigenständigkeit auf. Und jene, die in sich die Vorstellung hegten, sie zu beherrschen, können ihr in Wahrheit nicht mehr Einhalt gebieten. Nur durch noch stärkere Maschinen ist es möglich, ihren wilden Umtrieben ein Ende zu bereiten. Dieses Ende kann aber nichts anderes sein als eine so gewaltige Zerstörung, wie man sie sich in früheren Epochen der Geschichte nicht einmal hat vorstellen können. Fürchterlich abgestumpft nehmen wir zwischen dem einen und dem anderen Male, an dem die Zügel reißen, zwischen der einen und der anderen noch größeren Vernichtung wahr, mit welcher Vollkommenheit die Maschinen das ihrige geleistet haben – mehr als das, wofür sie vorgesehen waren; anders als das, wofür sie vorgesehen waren. Die dem Menschen aufgrund der Veränderung des Verhältnisses zwi-

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schen ihm und der technischen Welt drohende Gefahr kann auch aus psychologischer Perspektive bestimmt werden. Fragen wir also nach den diesbezüglich in der Seele des Menschen vorgegangenen und vorgehenden Veränderungen: es ist dies eine zweifache Veränderung. Die Tatsache, dass der Mensch immer mehr zu einem Glied der Maschine wurde, wirkt sich dahingehend aus, dass er immer mehr das Gefühl für die Ta t verliert, das heißt, die innere Beziehung zu dem, was er tut und ausführt; und die Tatsache, dass er von Zeit zu Zeit das, was er tut, der Zerstörung hingibt, dass er das ihnen Einhalt gebietende Zauberwort nicht mehr findet, hat damit zu tun, dass er, verführt von der gewaltigen Tatkraft der Maschinen, mehr und mehr das Gefühl für das M a ß verliert, das heißt, das Vermögen, das, was der Mensch von Zeit zu Zeit will, tut und geschehen lässt, von der Anschauung seines Wesens und seines richtigen Verhältnisses zur Umwelt abhängig zu machen. Wird ein Mensch dazu getrieben, auf diesem Weg zu gehen, wird ihm unweigerlich das Gute in seinem Menschsein abhanden kommen. Von anderer Art, doch nicht geringer als diese, ist die Gefahr, die dem Menschen aufgrund der Veränderungen droht, die sich in seinem Verhältnis zur sozialen Welt – auch mit immer größerer Geschwindigkeit und ohne dass er sich dessen ausreichend bewusst ist – ereignen. Die Gesellschaft der Menschen, die sich von allen Gesellschaften der Tiere grundlegend unterscheidet, entstand, wie schon erwähnt, weil der Mensch jeden seiner Artgenossen für sich genommen als besondere und eigenständige Geschöpfe wahrnahm und in diesem Sinne mit ihnen in Beziehung trat und sich mit ihnen zusammenschloss. Von da an gewann diese Eigenschaft in der Entwicklung des Menschengeschlechts an Stärke; die Gestaltung von Gruppengemeinschaften und deren Erneuerung aufgrund zunehmender persönlicher Eigenständigkeit; deren Wahrnehmung, deren gegenseitige Anerkennung und die darauf aufbauende Kooperation. Der beiden positivsten Schritte, mit denen der Urmensch auf diesem Weg auf die menschliche Gesellschaft hin zuging, können wir uns noch in gewissem Masse gewahr werden. Der eine Schritt liegt darin, dass die Familie, welche die primitivste Art der Arbeitsteilung darstellt, in ihrer Mitte Menschen ausmachte, um diese ihren besonderen Fähigkeiten entsprechend für sich zu nutzen. Dadurch erhielt sie zunehmend den Charakter einer sich immer wieder erneuernden Vereinigung verschiedener Aufgabenträger, welche als solche verschiedene Funktionen erfüllten. Der zweite Schritt bestand darin, dass sich diverse Familien unter bestimmten Bedingungen und aus verschiedenen Gründen zusammentaten, um nach Nahrungsmitteln zu suchen und um Kämpfe zu führen, wobei sie ihre gegenseitige Hilfe in sich zunehmend festigenden Ge-

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bräuchen und Gesetzen verankerten. Und nun erkannten sie – wie dort unter einzelnen Menschen, so hier in Gruppengemeinschaften – eine Verschiedenheit im Wesen und in der Aufgabe des Einzelnen. Überall, wo von da an eine wahrhafte menschliche Gemeinschaft entstand, geschah dies aufgrund derselben Elemente funktionaler Eigenständigkeit, gegenseitiger Anerkennung und gegenseitiger individueller wie auch kollektiver Verantwortung. Hieraus entwickelten sich dann wohl Herrschaftszentren anderer Art, die für Ordnung und Sicherheit sorgten und diese garantierten; doch stand der politischen Sphäre im engen Sinne, dem Staat mit seiner Polizeimacht und mit seiner Bürokratie, die Gesellschaft gegenüber, die sich durch funktionale Unterteilung ihrer Glieder auszeichnete; die Gesellschaft als Zusammenschluss verschiedener Gemeinschaften, in denen man sich gegenseitig bekämpfte und sich gegenseitig half. In jeder dieser kleineren und größeren Gemeinschaften, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzte, in jeder dieser Gemeinden und Verbände, empfand sich der Mensch trotz aller Schwierigkeiten, aller Reibungen und Zwistigkeiten wie in einer Familie als Angehöriger. Er fühlte, dass die Gemeinschaft ihn aufgrund seiner funktionalen Verantwortung verpflichtete und bestätigte. Dieser Zustand veränderte sich in dem Maße, in dem das politische zentralistische Prinzip sich das dezentrale gemeinschaftliche Prinzip unterwarf. Doch lag das Entscheidende nicht darin, dass der Staat, insbesondere in seinen mehr oder weniger totalitaristischen Ausformungen, die freien Verbände zunehmend schwächte und verdrängte, sondern darin, dass das politische P r i n z i p in seiner zentralistischen Ausprägung in die Verbände eindrang, ihren Aufbau und ihr inneres Leben zersetzte und so zunehmend zur Politisierung der Gesellschaft selbst führte. Der wesentliche Grund dafür aber, dass sich die Gesellschaft dem Staat anpasste, liegt im folgenden: aufgrund der modernen wirtschaftlichen Entwicklung mit ihrem geordneten Chaos, mit dem über den Zugang zu den Rohstoffen und über eine starke Stellung auf dem Weltmarkt geführten Krieg aller gegen alle, kamen zu den Interessenskonflikten unter den Staaten Interessenskonflikte in den Gesellschaft selbst hinzu. Jede Gesellschaft, die sich nicht allein mehr durch die Angriffslust ihrer Nachbarn, sondern durch die allgemeinen Bedingungen bedroht fand, wusste sich nur noch mittels der völligen Unterwerfung unter das Prinzip der zentrierten Herrschaft zu retten; sie machte es zu ihrem Prinzip. Dies geschah in demokratischen Gesellschaftsformen nicht viel weniger als in totalitären. Nirgendwo gab es mehr ein anderes Prinzip als pausenlose Organisation von Kräften, blinder Gehorsam gegenüber Slogans, das Bestreben, das wahrhafte oder vermeintliche Wohl des Staates mit Hilfe der ganzen Gesell-

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schaft durchzusetzen. Parallel hierzu fand eine innere Entwicklung statt. Im gegenwärtigen Lebenschaos, das nur mit Mühe von dem dem Gesetz gemäß wirkenden wirtschaftlichen und staatlichen System verdeckt wird, wünscht sich der Mensch Halt im Kollektiv. Die kleine Menschengruppe, der er angehörte, kann ihm nun keinen Beistand leisten, nur die großen Kollektive können dies – seiner Ansicht nach, – und so legt er seine persönliche Verantwortung bereitwillig in ihre Hände; er möchte nichts anderes mehr, als gehorchen. Dabei geht sein teuerstes Eigentum, das zwischenmenschliche Leben verloren. Die autonomen Zusammenschlüsse verlieren ihren Wert, das Mark menschlicher Beziehungen trocknet aus, der Geist selbst verdingt sich bei einem im Dienst des Staates oder der Partei stehenden Beamten, und dergleichen. Der Mensch wird vom lebenden Glied eines gemeinschaftlichen Körpers zum Zahnrad in der Maschine des Kollektivs. Der Mensch ist im Begriff, ähnlich wie das Gefühl für die Tat und das Maß, nun auch das Gemeinschaftsgefühl zu verlieren, und dies gerade da, wo ihn die illusionäre Vorstellung erfüllt, er lebe in völliger Hingabe an die Gemeinschaft. Es ist heute nicht meine Aufgabe über die Wege zu reden, auf denen wir die grosse Krise zu überwinden suchen. Doch eine Sache ist ein weiteres Mal hervorzuheben: Wir dürfen nicht zurückweichen. Wir müssen durch sie hindurchgehen. Doch werden wir nur dann durch sie hindurchgehen, wenn wir uns dessen bewusst sein werden, wohin wir uns wenden. Es kann nicht etwas schon Gewesenes sein und auch nicht eine in Gedanken hervorgebrachte Sache, sondern nur eine Lebensweise, die aus dem Vergangenen schöpft und das Neue aufbaut, eine Weise, mit der Welt und mit dem Menschen in Wahrheit zu leben. Ihren Anfang findet sie – dies liegt ziemlich klar auf der Hand – in der Errichtung wirklichen Friedens, der nicht mehr darin besteht, den Krieg zu tarnen, sondern darin, das große Angesicht einer in gemeinsamem Kampf entstehenden Menschheit zum Vorschein zu bringen. Dies ist unser allererstes Ziel, das nur sehr schwer und nicht über politische Organisationsmanöver zu erreichen ist, sondern nur auf der Basis des starken Willens der Menschenv ö l k e r , die Wirtschaft dieses Planeten g e m e i n s c h a f t l i c h zu verwalten und ihn zu wahrem M e n s c h e n land zu machen.

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The Crisis and the Truth A Message from Prof. Martin Buber, Hebrew University, Jerusalem.

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Humanity is faced by the advent of a great crisis. We see but its external symptoms, and they are so horrible that our looks remain spellbound by them, not daring to penetrate the interior. There in the interior is the lair of the most horrible, the man without truth. By this I do not mean the liar, but the one who refuses to believe that there is a truth. All his wickedness originates in his not seeing any longer over his head a truth by which his existence is being measured, tested and judged. What we call conscience and what Hitler, as they say, had called a Jewish invention is lost whenever the age-old question of what is truth is given the answer: »That of what I succeed persuading the others.« Yet he who thinks himself a believer in truth only because he fails to ask the question should not feel safe from this poison of the poisons. The crisis is spreading over humanity. The light is receding from us, and it is not an eclipse the course of which we could calculate. Those who decline to deceive themselves are feeling like sinful Adam and Eve, who, according to the Aggadah, wondered, after the first sunset, whether the light would come back. Is there anything left to the remnant of Israel, is there any salvation, any help it can offer, at this hour to the world? Or has it come to that we are only allowed to think of how to salvage our own community from utter destruction? The latter depends on the first. Helping, we shall be helped. It is the Israelite, the biblical conception of truth, that we can offer to oppose the chaos. The conception of truth prevalent in modern civilisation, developed as it is from Greek origins, means the real state of affairs, its perception and its acknowledgement. The biblical conception of »emeth« has quite another meaning. It means the steady, the durable, the solid, and that not as something you perceive and acknowledge, but as something you do and you are. Truth is a matter of being and of living. It happens within the world. It has to happen within the world. To return to the biblical conception of truth means to teach: Over your heads there is truth, and one truth for all, yet it enters your world only when you are doing the truth, each one his truth; when you are living with the beings steadily and solidly; then it happens, then you experience it as your own human truth. Still more clearly this is expressed by a post-biblical saying: »Truth is the seal of God.« This being so, where, then, is the multi-coloured wax to be stamped by His seal? To be good means to be willing and ready like wax.

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The Jewish invention of »conscience« is the living knowledge of when there is a concord between the seal and ourselves, and when it is not. Whenever man withdraws from the sealing hand the hand recedes, the light recedes from our world. But this is not a teaching satisfactorily told by words alone. It wants to be taught by life, and even so no individual can teach it. The biblical conception of truth will become known to the world, »to a great deliverance« (Gen.: 45,7), only when the shape of God’s seal is being accepted by the people of the Bible, by the remnant of Israel continuing to be the people of the Bible in spite of everything – accepted and shown in its whole living community, stretched out over all the Diaspora, collected and concentrated in Zion. Out of seeing the great crisis this is said as something that can and shall start this very moment. How can it start? When Israel came to the desert of Sinai they as a whole were asked by God to become a »holy people,« but afterwards, when they were given their national constitution, the Ten Commandments, every single one was being addressed by Him, who addresses the people by addressing every single one. There is no true beginning but with oneself.

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Was ich jetzt zum Anfang dieser Aussprache sagen will, hat keine andere Absicht, als eben diese Aussprache zu ermöglichen d. h. ich möchte Ihnen nicht etwas vortragen, sondern nur auf einige Punkte hinweisen, über die ein Gespräch mir wichtig erscheint. Hans Trüb hat mit Recht darauf hingewiesen in all diesen freundschaftlichen Erinnerungen, die er laut werden liess, dass ich eine Reihe von Jahren – es sind also ganz genau gerechnet auch schon über acht Jahre, weniger genau gerechnet, einen ganz kurzen Europa-Aufenthalt abgerechnet, neun Jahre – und zum grössten Teil nämlich von 1939-1945 recht eigentlich von Europa, sagen wir vom Abendland, abgeschnitten war, so dass mir vor allem jenes mir vertraute und immer wieder förderliche Gespräch, das ich hier führte und in dem sich mir gleichsam der Sinn meines abendländischen Aufenthaltes konzentrierte, dass dies aufgehört hatte und an seine Stelle, soviel ich auch Palästina und im besondern Vorderasien allgemein verdanke, so ist doch gerade anstelle dieses Gesprächs, so wie es war, nichts getreten, so dass ich geneigt bin, anzunehmen, dass es wirklich mein Gespräch mit dem abendländischen Menschen war, der hier seine Stätte hat, mit all der Grösse und all der Tragik, die zu einem Verweilen an dieser Stätte, in dieser Stätte gehört. Diese Reise, die ich nach Europa unternommen habe, bedeutet für mich etwas Wesentliches nach diesem Zeitunterbruch. Ich kann das, was ich mit Ihnen sprechen will, kaum deutlich machen, ohne das ganz Persönliche vorauszuschicken. Ich hatte die Absicht, das war das Offenkundige, worüber ich auch dort in Palästina reden konnte, denn das war eine Absicht, die auszuführen man sich vornehmen konnte – ich hatte die Absicht, Europa zu sehen, wie es ist, wie es jetzt ist, und Sie werden mir es nicht verargen, wenn ich sage, nicht in erster Reihe die Schweiz, und nicht in erster Reihe Schweden, beides Länder, die ich gesehen habe, und diese Begegnungen bedeuten mir viel, aber in erster Linie meine ich mit »Europa« das betroffene, durch das Betroffensein veränderte Europa. Da ist auch gewiss hier etwas da und in Schweden, aber das Eigentliche habe ich nun wirklich da, wo wirkliche Zermalmung an Dingen und Menschen geschehen ist gesehen. Dieses veränderte Europa wollte ich wahrnehmen, erfahren, und das habe ich. Und kaum je im Leben, viel-

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leicht nie im Leben, hat mir ein blosses Wahrnehmen von Phänomenen, von Dingen, von Menschen, von Zusammenhängen, so Ungeheures gegeben und in meinem Herzen selbst solche substanzielle Veränderungen vorgenommen wie dieses Wahrnehmen. Aber darüber hinaus, über diese Absicht, die in diesen drei Monaten in Erfüllung gegangen ist – ganz anders natürlich, als ich es mir vorgestellt hatte, denn ich konnte mir aus all den Büchern, Zeitungsberichten und mündlichen Erzählungen und Briefen dieses Bild nicht machen – hatte ich eine andere, von der zu reden ich mich dort scheute und von der ich eigentlich heute reden möchte, heute an dem Abend, wo diese ganze, die eigentliche offizielle Vortragsreihe, der Zweck dieser Reise, hinter mir liegt, nämlich ich wollte, oder nein, ich wollte es nicht, ich hoffte, dass es mir vielleicht gegeben sein wurde, das damals unterbrochene, ja recht eigentlich abgebrochene Gespräch mit dem abendländischen Menschen wieder aufzunehmen. Ich sage mit dem abendländischen Menschen, weil ich mich selbst, im Morgen- und Abendland zugleich, zu keinem von beiden rechnen mag, aber mit beiden intim zu tun habe und diese Intimität wahren möchte bis zuletzt, dass ich dieses abgebrochene Gespräch mit dem abendländischen Menschen wieder aufnehmen möchte, weil so etwas wirklich nicht am Willen hängt. Man kann sich vornehmen, etwas zu sehen, wahrzunehmen, zu erkennen, aber man kann sich nicht vornehmen, in ein Gespräch einzutreten oder wieder einzutreten. Europa konnte sich nicht gut mit einem Blick ver…, aber der europäische Mensch, dem das widerfahren, was ihm widerfahren war – ob er noch zu diesem Gespräch, zu dem wirklich unbefangenen, rückhaltlosen, direkten Gespräch fähig war, fähig ist, das habe ich nicht gewusst. Ich habe nun auf dieser Reise zu meiner grossen freudigen Ueberraschung gemerkt, dass diese Bereitschaft zum Gespräch nicht bloss, und zwar gerade in den betroffenen Ländern, am intensivsten habe ich diese Erfahrung gemacht, dass diese Bereitschaft nicht bloss da ist, sondern dass sich eine neue, früher gar nicht, ganz gewiss lange nicht in diesem Masse da gewesene Aufgeschlossenheit des Menschen herausgebildet hat, eine Aufgeschlossenheit zum Hören, zum Aufnehmen, aber auch eine Aufgeschlossenheit im Sinne des Sich-Hergebens, Sich-nicht-Zurückhaltens, in dem echten Gespräch das Zusagende, das heisst vom Gespräch angeforderte und auch wirklich Gesagte – das war eine grosse Erfahrung. Ich habe diese Erfahrung in einer wohl in allen Ländern, in denen ich war (die Schweiz ist das sechste) gemacht, aber an lebhaftesten zuerst in einer eigentümlich warmen, herzlichen und herzhaften Stimmung in Holland, und dann noch weiter und tiefergehend, so weit und tief, dass ich mich jeden Tag neu verwundern musste, über dieses Land, das ich so ganz anders in Erinnerung

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hatte, über diesen Menschen, den ich so anders in Erinnerung hatte und den ich mir in dieser Stunde so anders vorgestellt hatte – in E n g l a n d . Da ist nun dieses Gespräch eigentümlicherweise gar nicht von mir begonnen worden; denn es ist so zugegangen, dass immerhin in der Zeit, in der ich abgeschnitten war, jedenfalls in den letzten Jahren, Bücher von mir, Bücher, die es in Deutschland zum Teil noch gar nicht gibt, übersetzt wurden und besonders in England hatte ich dieses mich eigentümlich anrührende Erlebnis, dass die Menschen, mit denen ich zusammenkam, mich angingen, mit ihnen über dieses mein Anliegen, über diese Dinge, die mir von eben von jener Zeit an, die Hans Trüb in Erinnerung rief, zu vorderst stehen, die Menschen, die gerade über diese Dinge, auf Grund dessen, was sie von mir gelesen hatten und was, wie gesagt, damals Deutsch zum Teil gar nicht da war, mit mir sprechen wollten. Sie wollten, dass ich ihnen das, was gedruckt stand und vielleicht in manchen Punkten allzu kondensiert sich ausnahm, dass ich ihnen das erläutere, ergänze und, wie das ja im persönlichen Gespräch ist, dieser eigentümliche Prozess stattfindet, dass die Person sich gleichsam vor das Wort stellt und durch dieses blosse Sich-Davorstellen fast ohne etwas dazu zu tun schon das blosse als Sprecher dieses Wortes Präsentsein und für das Wort einzustehen, ich möchte beinahe sagen, schon dadurch selber etwas zu interpretieren, denn so scheint es zugegangen zu sein. Alle diese Erfahrungen, viel und viel zu erzählen, alle diese Erfahrungen trage ich nun, habe ich nun in mir getragen als ich in die Schweiz kam, dem Land, mit dem ich nun wirklich in einer besonders dialogischen Weise verbunden gewesen bin. Und da hat dieses Indie-Schweiz-Kommen für mich innerhalb dieser gesagten Erfahrung, doch wieder einen ganz besondern Charakter und Wert, nämlich, dass ich nun zum erstenmal wieder mit deutschsprachigen Menschen zu reden habe, und da muss ich Ihnen wieder etwas Persönliches erzählen. Ich habe in diesen neun Jahren meines Jerusalem-Lebens nichts mehr deutsch publiziert. Ich habe aus eigenem Wunsch und Antrieb, aus eigener Initiative nur in Hebräisch publiziert, das andere ist dann übersetzen [sic] so daher gekommen, in Hebräisch habe ich neun Bände publiziert, und Hebräisch zu schreiben ist mir schwerer angekommen als Deutsch zu schreiben, aber ich habe fast alles auch Deutsch geschrieben aus einem zuerst gar nicht erklärbaren Impuls, gar nicht eigentlich von der Vorstellung aus, als ob ich noch Deutsch publizieren könnte, das sah damals gar nicht so aus. Ich dachte gar nicht daran, dass ich, wie es jetzt geschehen ist (?) in der Schweiz publizieren würde. Ich glaubte, ich würde kaum je wieder in Deutsch publizieren. Dennoch hatte ich das Bedürfnis, fast alles auf Deutsch zu schreiben. Ein Buch habe ich sogar in Deutsch ge-

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schrieben ehe ich es hebräisch schrieb, wahrscheinlich doch wohl – soweit ich es mir selbst vergegenwärtigen kann, aus dem Wunsch heraus, mit der deutschen Sprache in jenem grossen Kontakt zu bleiben, in jener Liebschaft, in der ich gelebt hatte. Ich wollte, ich konnte sie nicht aufgeben, denn sie, die deutsche Sprache, gab mich ja nicht auf. Und nichts von dem, was in Deutschland und von Deutschland aus von vielen deutschen Menschen, nicht vom deutschen Volk aus – ich kenne diesen Begriff in diesem Zusammenhang nicht – aber von vielen deutschen Menschen aus in dieser Zeit geschehen ist, nichts von alledem konnte irgend etwas, ich wage es kaum zu sagen, an dieser grossen Liebschaft mit der deutschen Sprache ändern. Eine andere Sprache, die Sprache der Urväter trat zu ihr mit eigenem hohem Recht, ohne sie zu verdrängen. Und dieses nun eigentümliche Zusammentreffen damit, dass gerade in diesen Tagen zu meiner Ueberraschung – ich wusste es nicht, Hans Trüb hat es gewusst – ein Buch hier erschienen ist, von dem ich nicht wusste, wann es erscheinen würde, das eben diese Arbeiten umfasst dieser ganzen Zeit, über dieses Anliegen, das dialogische Anliegen … das gerade jetzt erschien, das bestärkt und ergänzt und das diesen besondern Charakter und Wert der Wiederbegegnung mit dem deutschsprachigen Menschen in der Schweiz … Und als mein Freund Hans Trüb mich ersuchte, hier ein Gespräch, oder wie man das sagt eine Aussprache zu führen, einzuleiten, so habe ich als Thema dieses gewählt, nur in einer besondern Ausprägung, die dieses Thema erst in Palästina für mich bekommen hatte, eigentümlich, erst in der allerletzten Zeit bekommen hatte, eben das, was ich jenseits von Individualismus und Kollektivismus nenne. Ich habe dieses Thema eigentlich nun in diesem Buche angeschlagen, und zwar in dem letzten Kapitel da ich diese Fassung um dieses Motiv erst eigentlich für eine englische Ausgabe, des grössten Teiles dieser Arbeiten, als ich für diese Ausgabe ein Schlusskapitel zu schreiben hatte oder vielmehr das Schlusskapitel der letzten Arbeit dieses Buches so zu bearbeiten suchte, dass es dem englischen Menschen, der der etwas unvorbereitet an all diese Welt herankommt, die ich meine und doch ein so grosses Verständnis für sie gezeigt hat, seitdem vor einer Reihe von Jahren ein Buch in Englisch erschien, ich sage, dass ich für diese englischen Menschen noch einen Ausblick geben wollte in ein eigenes häufiges Problem hinein, da habe ich dieses letzte Kapitel geschrieben, aber es ist eine Andeutung geblieben. Jeder, der das Buch lesen wird, wird es spüren. Ich wollte nur auf ein paar Punkte hindeuten, gleichsam um zu zeigen, hier und hier und hier wird nun anzusetzen sein, dies wird nun darzulegen sein, ich lege es noch nicht dar, ich kann es noch nicht ganz darlegen, aber ich kann schon hinweisen: dies und dies sind die Ausgangspunkte,

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da und da werde ich oder werden andere anzusetzen haben, und diese Punkte nun sind es, auf die ich heute hinweisen möchte, und zwar aus dem Bedürfnis, diese Andeutungen, die ich hier gebe, oder die Andeutungen, die ich geben kann, im Gespräch zu erproben und durch das Gespräch zu erfahren, was man nur durch das Gespräch, durch das echte Gespräch erfahren kann, nämlich: was bedarf der Erläuterung, was bedarf der Ergänzung, wo und an welchen Punkten anzusetzen ist, jetzt, den heute lebenden Menschen gegenüber, das Wichtigste, denn zu den heute lebenden Menschen spreche ich ja. Ich habe nicht ins Blaue gesprochen und kann es nicht. Ich spreche immer zu Menschen, die ich sehe oder zu sehen versuche, Menschen meiner Stunde und dieses Raums, dieser Sonne (?). Das also hoffe ich von Ihnen zu empfangen. Und jetzt will ich Ihnen nur in ein paar allgemeinen Sätzen andeuten, um was es geht. Es gibt, wie Sie ja wissen, in vielen Zeiten der Welt etwas ganz eigentümlich Irreführendes und Verhängnisvolles, was ich nennen möchte falsche Alternative. Eine solche falsche Alternative, das heisst eine antithetische Formulierung, eine zweiheitliche Formulierung, die so tut, als ob es kein Drittes gäbe, als ob nur zwischen diesen Zweien zu wählen wäre, die eben dadurch die Situation, sowohl die geistige als die faktische Lebenssituation des Menschen in dieser Zeit vernebelt. Eine solche Alternative, eine solche falsche, verfälschende und irreführende Alternative ist die zwischen Individualismus und Kollektivismus, die unsere Zeit beherrscht. Es ist nun aber nicht etwa so, als ob es sich darum handelte, nun zu den Zweien, zu diesen zwei Ismen ein drittes Ismus hinzuzufügen, so dass nun nicht mehr zwischen zweien, zwischen dreien zu wählen wäre, sondern es geht darum, vielmehr diese Ismen als Fiktionen zu erweisen und ihnen gegenüber eine Wirklichkeit zu zeigen, eine menschliche und gegenwärtige Wirklichkeit. Ich sage, Individualismus und Kollektivismus scheinen mir fiktive Gebilde zu sein, sowohl die Meinung, was man so Weltanschauung nennt … keine Welt und keine Anschauung, die Welt wird hier nicht angeschaut, diese sog. »Weltanschauung« des Individuums besagt – wie Sie wissen, ich glaube es nicht ausführen zu müssen – dass das Wesentliche, das, worauf es ankommt, das, um dessen Willen es den Menschen oder gar die Welt gibt, das Individuum und zwar das Individuum im menschlichen Sinne, das menschliche Individuum ist. Dies ist die Realität der Realitäten, um dessen Willen ist das Sein, und aus dieser angeblichen Grundwahrheit ergibt sich eben dann die Aufgabe des Menschen und der Welt, nachdrücklich, intensiv und mit aller Macht Individuum zu werden. Dies scheint mir eine Fiktion, dieses Individuum scheint mir eine Abstrakti-

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on zu sein, eine Fiktion, die man aufdecken und aus der man heraus gelangen muss und eine Abstraktion, die man eben als solche, das heisst als nur innerhalb einer gewissen theoretischen Betrachtung verwenden kann, die nur innerhalb einer solchen Betrachtung verwendbar ist, die aber über solche theoretische Betrachtung hinaus ihre Utilität und zwar sehr nachdrücklich verbirgt, aber nicht auf die Dauer verbergen kann. Mit Utilität meine ich nämlich die Utilität ihres Anspruchs die Konkretheit der Konkretheiten zu sein. Dieser Individualismus ist, wie Sie wissen, in unserer Zeit etwas fraglich geworden weil von verschiedenen Seiten bekämpft, aber seine eigentliche Bekämpfung geschieht vom Kollektiven aus, und er scheint ja nun vielfach das Feld zu behaupten, er scheint sich als stärker von beiden zu erweisen, und das hat viel verschlungene aktuelle Gründe, aber vor allem hat es – glaube ich – den Grund, dass der Mensch den Individualismus in der Tat nicht mehr ertragen kann, dass er nicht in der Luft des Individualismus, das heisst in der Luft, Privatsphäre, Atmosphäre des auf sich als einzelnen Angewiesenseins nicht mehr atmen kann. Er tut so, als ob er es noch könnte, macht alle … Gebärden, aber es ist nicht wahr. Dass es nicht wahr ist, was ja immer offenkundiger wird, das wird vom Kollektiven ausgenützt, der nun sagt, nicht das Individuum, sondern die Kollektivität, das grosse soziale Ganze, dem der Mensch angehört, das ist die Wirklichkeit. Du hast recht, das Individuum ist eine Abstraktion aus der Gesellschaft nämlich – Gesellschaft, das ist das Konkretum, man kann das Individuum gar nicht anders als in der Gesellschaft in ihrem Zusammenhang wirklich betrachten, und man kann auch gar nicht anders wirklich als in der Gesellschaft und durch sie leben, man habe also die Folgerung zu ziehen, dass man auch für sie lebt. Ich sehe auch in dieser Kollektivität, in dieser Gesellschaft, in diesem grossen Ganzen nichts anderes als eine Abstraktion, wie ich eben zu zeigen versuchen werde in diesem Gespräch an den Punkten, die Sie selbst zu bestimmen haben werden. Ich glaube, dass die Gesellschaft, grosser Zusammenhang einer Menschenvielheit, nur insofern, nur in dem Masse wirklich ist, als er aus wirklichen Beziehungen von Menschen zueinander zusammengefügt ist wie ich auf der andern Seite glaube, dass das Individuum nur insofern Wirklichkeit erlangt, als es Person wird, das heisst ein Mensch, der in die Beziehung mit anderen Menschen, eben anderen Personen eintritt, sie verantwortet und sich von ihnen verantworten lässt, sie bestätigt als daseiende Menschen und sich von ihnen als daseiender Mensch bestätigen lässt und immer wieder sich hergibt zum Pfeiler, dass auf ihm und seinem jeweiligen Partner die ewige, Augenblick um Augenblick zusammenstürzende, Augenblick um Augenblick unendlichfaltig sich neubau-

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ende Brücke errichtet werde. Ich – Du, nur insofern das Individuum, solche Person, dazu fähige und berufene Person … was heisst Person? Es gibt keine Person ausserhalb davon, und der einsame Mensch als Person ist Person kraft dessen, dass er so verbunden war und wieder verbunden werden kann, mag er jetzt in die tiefste Einsamkeit verstossen sein. Und eben dies macht die Gesellschaft zu einer Wirklichkeit, dass sie und insofern sie aus solchen echten, unmittelbaren Beziehungen dauernde und flüchtige, institutionelle (?) und nur gleichsam dynamische Existenzen zusammenfügt. Dieses, worauf ich hindeute: Mensch – Mitmensch, ist das Dritte, das kein Ismus, sondern die menschliche Wirklichkeit ist. Ich sehe das Heraufkommen von Individualismus und Kollektivismus hintereinander als das Produkt eines ganz besondern Schicksals des Menschen, das ich bezeichnen möchte als die schwerste und tiefste Vereinsamung, die bisher dem Menschengeschlecht widerfahren ist. Wir leben in der Zeit der tiefsten Einsamkeit des Menschen. Der Mensch fühlt sich zunächst einsamer als je, weit einsamer als je als Mensch, das heisst als ein vom Kosmos ausgesetztes Kind, nicht anerkannt vom Kosmos, verworfen auf eine Höhe, verworfen auf einen Gipfel, sich nicht mehr verbinden könnend, nicht mehr wiederverbinden könnend, den Weg zu der Mutter, von der Lao-tse spricht, nicht wiederfindend, einsam also als Mensch, als das Wesen Mensch und weiter nun innerhalb dieser Grundtatsache oder darüber hinaus einsam als Individuum in der Menschenwelt. Denn diese Gesellschaft, von der der Kollektivismus spricht, ist ja nicht jene heimatliche, den Menschen einhegende, bergende, hütende, schützende Gemeinschaft, in der der Mensch noch vor wenigen Jahrhunderten und noch vor wenigen Generationen irgendwie lebte. Die Gemeinde, die Werkgemeinschaft, die einzelne örtliche Glaubensgemeinschaft, die Kirche, gibt dies nicht her, die Gemeinde, die gläubige Gemeinde hat es gegeben, und wo es noch solche gibt freilich leisten (?) sie dem Menschen … noch ein wundersamer und nie genug zu bewundernder Rest einer früheren Epoche. Aber diese Grunderfahrung, getragen zu sein von einer Gemeinschaft, die einen von Anfang an schon als Geborenes bestätigt und dann in jeder Berührung innerhalb dieser Gemeinschaft, jeder Begegnung auf der Gasse von zwei Mitgliedern dieser selben Gemeinde, immer wieder sich neu in einem einander vertraut Anblicken, ohne mit dem flüchtigen und doch so erfüllten Gruss oder ohne Gruss, ein Nicken des Kopfes. Genug … darf keiner darüber hinausgehen. Nun Bestätigung des gemeinschaftlichen Lebens. All das besteht nicht mehr oder kaum noch. Anstelle davon ist diese Gesellschaft, die heutige Massengesellschaft getreten, wo jeder eingefügt ist, in Wirklichkeit nicht mehr einem Stand und einer ständischen

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Gemeinschaft, sondern einer Klasse, wie man es so nennt, nicht mehr einer Gemeinde, oder einer Werkvereinigung, sondern einem Verein oder einer Partei, oder anstelle jener Begegnungen, die heute nur noch als seltsame Anachronismen da fortleben, wo sich das eigentümliche Gewächs Freundschaft blühend erhalten hat. Ich sage, dass alle diese Dinge anstelle jener Lebensverbindung, Lebensverbundenheit getreten, und sie können natürlich nichts dafür leisten, was jene geleistet hat. Daraus ist Individualismus und Kollektivismus zu verstehen, Individualismus als … ein krampfhaft versuchter amor fati, als die krampfhafte Anstrengung des Menschen, sich als Individuum, als isoliertes Individuum vorzufinden, zu glorifizieren, zu verherrlichen und so auf dem Wege der Imagination scheinbar einen Bestand zu bekommen, den man auf diesem Wege nicht bekommen kann, oder zu fliehen. Sie, die Kollektivität, zu fliehen, die einem nun etwas ja wirklich zuverlässig leistet (?), sie nimmt einem die personhafte Verantwortung ab. Man wird die Verantwortung los. Man wird sich los. Das Problem »kann ich Person werden«, das bange Problem, das manche, ohne zu ahnen, was Person wirklich ist, mal um mal zum Ausdruck gebracht haben, das braucht gar nicht mehr klassiert zu werden. Es gibt eine grosse zuverlässig funktionierende Apparatur, die alles leistet, was der Mensch braucht, das heisst, er braucht weder sich noch das Sein, das Seiende mehr zu verantworten. Alles wird ihm abgenommen, er braucht nur sich herzugeben, aber nicht viel mehr, das Gegenteil, das genaue Gegenteil von personhaftem Sich-Hergeben in die echte Beziehung. Er gibt sich her nun wie ein Rad in einer Maschine sich in jedem Augenblick neu hergibt. Die Maschine braucht ja dieses Rad genau. Es muss sich hergeben, es gibt sich her, natürlich ohne alle Verantwortung. Einmal gab es, wenn überhaupt, einen Augenblick der Besinnung, der Entscheidung, als das Rad an dieser Stelle in die Maschine eintrat. Diese lebenden Räder werden nicht eingefügt, sondern treten ein, einmal gibt es den Augenblick, einmal gibt es die Freiheit und nicht mehr … Solche Produkte der Situation – das erste, der Individualismus, ein Produkt der Imagination, das zweite, der Kollektivismus, ein Produkt der Illusion – sind diese beiden Ismen von der Situation aus gesehen, ich sage Illusion, denn hier ist ja im Gegensatz zum Individualismus, ist ja hier etwas Wirkliches, etwas furchtbar Wirkliches. Das Individuum ist nicht wirklich, und das Individuum ist abgelöst aus dem Leben. Aber es gibt eine Erscheinung als Wirklichkeit, auf der die Kollektivität fusst, die die Kollektivität ausnützt, nämlich jene dynamische, furchtbar dynamische und zuweilen bis an die Grenzen des Realen, Erkennbaren gehende Erscheinung, die man im genauesten Sinn, nicht im gewöhnlichen soziologischen Sinn, sondern im ge-

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schichtlichen Sinn die »Masse« nennt. Die Kollektivität gibt es nicht, aber die Masse gibt es zuweilen, und sie ist die polarste aller historischen Tatsachen. Alles lässt sich von ihr sagen. Die Geschichte liefert Material für alles. Sage ich hier also nicht immer die Imagination, sondern Illusion, daraus dieses illusionäre Gebilde der Kollektivität als einer dauernden grossen, die einzelnen Menschen umhegenden, tragenden, grossen Wirklichkeit, die es nicht gibt. Die Masse trägt zuweilen in eine grosse historische Handlung bis ans Verderben, oder in beiden, die Kollektivität führt nirgends wohin ihrem Wesen nach. Und nun dieses Dritte – die Beziehung Mensch mit Mensch, wie lässt sie sich als Kategorie des Seins erfassen? Wenn der Individualismus die Kategorie, das Einzelne, absorbiert und der Kollektivismus die Kategorie, das Ganze, absorbiert, wie verhält es sich mit der Wirklichkeit, von der ich spreche, auf die ich hinzeige? Alles was ich an Gedanken je versucht habe, geht letztlich darauf hinaus, den Zeigefinger auszustrecken und auf diese Wirklichkeit hinzuweisen. Ich sage: welches ist die Kategorie, durch die sich ontologisch diese Grundtatsache unseres Lebens, Mensch – Mitmensch, erfassen lässt. Hier ist die Erfassung notwendigerweise erst im Werden, und nur in Umrissen kann ich darauf hindeuten. Was ich meine ist – ich nenne die Kategorie mit einem etwas verwegenen Ausdruck, aber ich weiss keine andere, das schicke ich diesem barbaristischen (?) Artikel voraus, dass zwischen – ich will darauf hindeuten auf den Kapitelcharakter, ich will ein paar Worte, die wohl unentbehrlich sind zur Erläuterung hinzufügen: Wir sind, wenn etwa ein Gespräch, sagen wir wie dieses jetzt in diesem Augenblick, obwohl ich in diesem Augenblick der einzige bin, der laut spricht, aber ich hoffe, dass Sie die ganze Zeit schon dialogisch daran teilnehmen, wenn es auch der Konvention nach nicht erlaubt ist anderen als mir laut zu sprechen, eine Konvention, auf die ich nicht eingeschworen bin, ich lasse mich gerne unterbrechen. Ein Gespräch, das, wenn jemand ein Gespräch analysiert und aufzeigen will, was das nun eigentlich ist, in welchen Bereichen das stattfindet, in welchen Bereichen das zuzuzählen ist, so werden sie im allgemeinen, sofern sich Menschen überhaupt darauf besinnen, was ja im allgemeinen nicht naheliegt, werden sie noch nicht antworten darauf. Im allgemeinen finden die einen … Antwort beschäftige sich mit den physischen Vorgängen des Gesprächs, also es wird gesprochen, ein akustisches Phänomen, ein physikalisches Phänomen und die zweite beschäftigt sich mit der Psychologie. Jeder der Partner eines Gesprächs empfindet etwas dabei, er versteht den andern, Vorgang in der Einzelseele, ein psychologischer Vorgang. Es gibt da phy-

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sische Vorgänge und es gibt psychologische Vorgänge – was soll es sonst noch geben? Ich möchte Sie bitten, sich doch gemeinsam mit mir zu besinnen. Wird denn damit irgend etwas vom Gespräch tatsächlich ausgesagt, wird der Bereich des Gesprächs irgendwie erfasst, wie durch das eine, durch das andere, durch die Summe von beiden geht das Gespräch zu uns und dieser Stunde geht … dass eine Summe von akustischen und verwandten Phänomenen plus einer Summe von psychologischen Phänomenen in jedem einzelnen von uns zusammengenommen ist, damit irgendwie das Wesen dieses Vorganges Gespräch erfasst, eine reale tatsächliche Frage, eine faktische Frage, die ich an Sie richte. Ich kann sie längst nicht mehr mit Ja beantworten. Und alles, was man etwa noch zur Ergänzung des physischen und psychologischen Tatbestandes hinzunimmt oder hinzuzunehmen meint an Erkenntnistheoretischem, an Logischem, Aesthetischem und dergleichen mehr, ändert nichts daran, dass, wenn, es auf Inventaraufnahme des Faktums Gespräch geht, man völlig unzulängliche, ganz sekundäre Teilbestände präsentiert, die zusammengenommen niemals, wenn man sie gegeben hätte, uns erlauben würden, ermöglichen würden, die Wesenheit Gespräch zu rekonstruieren. Das Gespräch geschieht in einem Bereich, der faktisch weder physisch noch psychologisch ist, sehr schwer zu bestimmen, ich weiss wohl, dass wir erst am Anfang der Denkepoche stehen, die sich mit dieser Kategorie zu befassen haben wird, aber unausweichlich sind wir hingedrängt auf diese Kategorie, auf diese bereichsmässige Erfassung aller Vorgänge, die zwischen den Wesen geschehen, eben diesen Bereich, den ich das »Zwischen« nenne, das heisst das Gespräch, etwa dieses Gespräch, geschieht nicht hier und nicht hier, in keines von unseren Sprechwerkzeugen, in keines von unseren Ohren, in keines von uns Psyche und in ihrer aller Summe, auch nicht, wie wohl freilich nicht ohne all dies, sondern das Gespräch als solches geschieht in dem besondern sich der raum-zeitlichen Gegebenheiten bedienenden, die raumzeitlichen Gegebenheiten einbeziehenden spezifischen Bereich des »Zwischen«. Lebensmässig ausgedrückt: Mensch: Mitmensch ist nicht auf etwas anderes zurückzuführen. Um diese Kategorie geht es mir jetzt. Ich möchte aber nicht weiter in diesem Augenblick über sie sprechen. Ich möchte da stehen bleiben. Nur bitte ich Sie, wenn es etwa nötig ist, dass ich den einen oder anderen, der mir noch nicht bis heute … noch nicht bekannt gewesene … wenn ich darum zu bitten habe, wenn ich auch hier stehen bleibe, so bitte ich Sie doch, nehmen Sie das Anliegen, das schliesslich Nötigung, übermächtige Nötigung geworden ist, eine Kategorie mit den nun einmal vorhandenen Kräften zunächst als einzelner einzusetzen, ich sage, nehmen Sie dieses

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Anliegen und diese Nötigung, soweit es von Ihnen abhängt, soweit es in Ihrer Macht steht, so schwer, so weit es möglich ist, so schwer wie sie eben sind und gewesen sind. Alles bisherige Denken eines Menschen auf diese letzte oder vielleicht vorletzte vielleicht … daraus ergibt sich ja dann etwas. Wenn dies bewältigt ist, auf diese letzte oder vorletzte Nötigung hinausgehend, dahinmündend oder vielleicht vorerst mündend – aber hier wird dann eben, wenn es möglich ist, eine Entriegelung vollzogen, die zu etwas Bestimmtem unerlässlich war. Dieses Letzte, was ich zu sagen hatte, ist wieder ja ganz persönlich, aber es lässt sich in diesem Stadium gar nicht anders als so über diese Dinge reden. Ich kann Sie von meinem Ringen darum nicht ablösen, zumal die und wohl alle, die unabhängig von mir mehr oder weniger um das Gleiche gerungen haben, nicht mehr am Leben sind, und ich nun zunächst mit denen, die mir helfen, allein das zu leisten habe, was zu leisten ist. (anschliessend Diskussion).

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Ich rufe sie … Ich rufe sie, die Tage der Frühzeit; ich rufe sie, diese meine Freunde, daß sie aufsteigen und sich um mich versammeln. Ich blicke sie an, als wären sie noch am Leben. Bis zum Halse in der Grube des Heute versunken, will ich sie um meine Grube sehen und sie anschauen, ihre helle Stirn und das unverdrossene Lächeln auf ihren Lippen. Was ist es, das die Welt des Heute von ihnen, den Tagen der Frühzeit, schied und scheidet? Daß wir es gewagt haben, wir selbst zu sein und unser eigenes Werk zu errichten inmitten einer Welt, deren Lebensgesetze andere sind als die unseres Erlebens und Schaffens. Wir haben uns die Freiheit und das Recht herausgenommen, unser Haus nach unseren eigenen Vorstellungen zu bauen, nach Vorstellungen von menschlicher Gemeinschaft, ohne zuvor den Plan mit dem Vorhandenen und Üblichen zu vergleichen. Wir haben uns das Recht und die Freiheit genommen, sie sind uns nicht gegeben worden. Wir haben nicht auf Lehren und Systeme, nicht in die Statuten internationaler Organisationen geschaut, um zu lernen, was wir tun sollen. Sondern von da, von innen, aus der Aufgabe ist es gekommen. Und alles übrige hat sich daraus ergeben. Alles übrige müßte sich daraus ergeben, wenn wir nur das Unsere tun. Wir hegten einen großen Wunsch, als wären wir mit der Zukunft im Bunde, und dabei wußten wir sehr wohl, daß es auf uns ankommt, auf uns, auf die Arbeit. Nein, die historische Notwendigkeit hat uns keinen Garantieschein ausgestellt, alles war ungewiß – und alles war gesegnet. Der Wunsch flog uns voraus, und wir hatten keine Lust, ihn einzufangen und in einen Käfig zu sperren; es war uns ganz recht so, daß er frei vor uns her schwebte. Dieser Wunsch war kein romantischer (das ganze Gerede von Romantik ist bloß ein Vorwand). Die Federn seiner Flügel waren nicht gefärbt, sie trugen die echte Farbe des Himmels, aber des Himmels an der Stelle, wo der Himmel die Erde küßt. Und wenn ihr sagt: Aber wie soll man denn dahin gelangen! – man kann dorthin gelangen, dann ist zwar die Farbe nicht mehr da, aber dann braucht man sie auch nicht mehr. Wir kannten die Wirklichkeit der Welt, und wir stellten unsere Wirklichkeit dagegen; wir wußten, die Welt ist wie sie ist, und wir fühlten, unsere Arbeit ist wie sie ist, und wenn wir die eine gegen die andere stellen, wird etwas dabei herauskommen. Und dieses Etwas wird vor den Augen der Welt sichtbar werden, dieser Welt wie sie ist, und die Welt wird es erkennen, anerkennen und verteidigen, obgleich und gerade weil sie so ist wie

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sie ist – denn die Welt leidet darunter, daß sie so ist wie sie ist, und wir wollten ja kein größeres Maß an Rechten, als was wir selbst geschaffen haben. Arbeit ist getan, Gemeinschaft ist gewachsen, die Dörfer der israelischen Bruderschaft sind da. Nur wir sind nicht mehr da. Nur der Geist, nur der Wunschvogel ist verschwunden. Warum? Als die große Not der Diaspora begann und die Massen einwanderten, haben wir unser Ideal verraten, weil die Macht unseres Glaubens der neuen Situation nicht gewachsen war. Wir ließen uns belehren, da die Welt sei wie sie sei, müßten wir werden wie sie, d. h. nicht ganz werden wie sie, aber doch die Gesetze ihres Lebens, die Gesetze der »Realität« übernehmen und sie zu Gesetzen unseres Lebens machen, denn wie anders, sagten wir uns, können wir der Situation standhalten? Ich erhebe keinen Vorwurf. Die Forderung der neuen Situation, ungleich schwerer als jede frühere, war übermächtig. Die verstörten Gemüter konnten der Versuchung nicht widerstehen, das Leben der Politik zu unterwerfen statt umgekehrt. Aber wir müssen sehen, was geschehen ist: wir haben unser Ideal verraten, unseren Wagemut Lügen gestraft, uns auf die Seite des Bösen ziehen lassen. Und die hat uns betrogen, wie gewöhnlich. Bis zum Hals in der Grube versunken, halte ich Ausschau nach Neubelebung, der zweiten Neubelebung. So lange wir nicht erkennen, daß wir uns selbst in die Grube gebracht haben, wird sie nicht kommen.

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Schriftstellergespräche in der vom Premierminister einberufenen Sitzung am 27. März 1949 (…) Prof. M. Buber: Sehr geehrte Herren, zunächst möchte ich die gute Absicht des Premierministers begrüßen, die Begegnung zwischen ihm und Intellektuellen zu einer ständigen Einrichtung zu machen. Dies sollten wir nicht geringschätzen, ist es doch üblich, sich der Intellektuellen zur Verzierung der Kulissen zu bedienen, während, wer ständigen Kontakt wünscht, sicherlich eine konkrete Zusammenarbeit im Auge hat. Dem Premierminister, der Platons Schriften im Original kennt, muss man die Worte dieses Weisen hinsichtlich der erstrebenswerten Herrschaft der Philosophen, welche in der heutigen Sprache als Intellektuelle bezeichnet werden, nicht in Erinnerung rufen – eine bis zum heutigen Tage nicht verwirklichte Idee (Zwi Woyslawski: Marcus Aurelius!) (D. Ben-Gurion: Der beschäftigte sich vor allem mit Kriegen!). Zwar gab es einige Herrscher, für die die Philosophie eine Art Begleitkunst war, doch nicht dies meinte Platon – ein Herrscher, der zugleich Philosoph ist, stellt eine Erscheinung dar, welche man im Rahmen der Geistesgeschichte, jedoch nicht innerhalb der geschichtlichen Entwicklung als solcher beobachten kann. Zweitausendeinhundert Jahre nach Platon tauchte ein anderer Denker auf, Kant, der in seinem Buch »Zum ewigen Frieden« nicht nochmals so weit ging, zu fordern, die Herrschaft in die Hände der Intellektuellen zu geben, sondern allein den Wunsch äußerte, man solle auf deren Worte hören – doch auch dieser Wunsch wurde bisher nicht erfüllt. Diesmal jedoch werde er hoffentlich erfüllt und die gute Absicht des Premierministers in die Tat umgesetzt werden. Die Regierung steht vor einer gewaltigen Aufgabe, welche sie ohne die Beihilfe der Intellektuellen nicht erfüllen können wird – gemeint ist das, was man Integration auf geistiger Ebene nennt. In der neueren Geschichte kann ich keine vergleichbar schwere Aufgabe finden: all die täglich nach Israel einwandernden Menschenmengen zu integrieren, sie wirklich aufzunehmen und ihre Gestalt dem Muster des Volkes gemäß zu formen. Über die Ausformung der Gestalt des Volkes wurde in der Einladung zu dieser Sitzung gesprochen und »Ausformung« bezieht sich doch nur auf Materie. Wir haben menschlicher Materie Form zu geben. Es scheint, in der Geschichte der letzten Generationen ist solch menschliches Mate-

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rial nicht aufzufinden, und es ist nicht so einfach formbar. Dies bedeutet, dass es sich hier um eine Aufgabe handelt, bei der man sich nicht auf ein Muster berufen kann. Viel, sehr viel, hängt vom Willen, vom Einsatz und von der Ausdauer jener Menschen ab, die in der Lage sind, Materie, auch menschliche Materie, zu formen und ihr Gestalt zu geben – d. h. von den Intellektuellen; sehr viel hängt davon ab, ob die Beziehung dieser zu den Massen eine Beziehung der Wahrheit, eine wirkliche Beziehung ist. Im Allgemeinen wird den Intellektuellen schließlich keine Exekutivgewalt zugesprochen. Es ist notwendig, dass die Menschen der Tat, d. h. die Regierung und ihre Hilfswerkzeuge, die Intellektuellen in ihr Tun mit einbeziehen. Zwar sind die meisten ›schwierige‹ Menschen und fast alles ist in ihren Kreisen umstritten. Möglicherweise ist es einfacher, Parteien und deren Vertreter zu vereinen als Intellektuelle. Doch gibt es einen Handlungsbereich, in welchem eine Chance besteht, die Intellektuellen zu vereinen – der Bereich der Erziehung. Die Intellektuellen können im Rahmen eines pädagogischen Projekts vereint werden, das als echte Stütze bei der uns auferlegten, gewaltigen Aufgabe dienen wird. Es gibt keinen anderen Weg, diese Aufgabe zu erfüllen, als eine große Institution für Volkserziehung zu schaffen. Um die Mitte des letzten Jahrhunderts, in den Jahren des »heißen und kalten« Krieges zwischen Deutschen und Dänen, machte sich ein Intellektueller, Svend Grundtvig, daran, ein großes Volkserziehungsprojekt ins Werk zu setzen. Auf diese Weise konnten er und seine Nachfolger die Krise überwinden, die das dänische Volk vor und nach dessen Niederlage überkam. Erstaunlicherweise ereigneten sich Entwicklung und entscheidender Erfolg dieses Projekts nach der Niederlage. Dies Projekt lehrt uns eine wichtige Regel, welche lautet – dass die Erziehung des Volkes vor allem von der engen Verbindung zwischen Lehrern und Schülern (in Dänemark waren die Lernenden Bauernsöhne und bei Bauern im Dienst stehende Arbeiter) und vom erzieherischen Einfluss der Lehrer abhängt, wobei der Schwerpunkt nicht auf dem Unterricht liegt, sondern auf der seelischen Haltung, auf der gesamtheitlichen Erfahrung. Und nicht nur dies: vielmehr werden die Lernenden zu Lehrenden. Dieser Prozess setzt sich ins Unendliche fort. Es entsteht eine dynamische Verbindungsleiter zwischen Intellektuellen und Volk. Nur auf diesem Weg werden wir gruppenweise Eliten aus den Massen heben können, nicht Eliten, die statisch und über das Volk erhaben sind, über dem Volk stehen, sondern eine dynamische Stufenleiter von Eliten, die in ununterbrochener Kette neue Eliten nach sich ziehen. Ohne diese Kontinuität der Entstehung einer Gruppe in der Gruppe ist es unmög-

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lich, in dieser Zeit der Zusammenführung der Juden aus der Diaspora die Gestalt des Volkes zu formen. Unsere geschichtliche Situation unterscheidet sich allerdings grundlegend von der der Dänen zu Grundtvigs Zeiten. Wir befinden uns in einer Phase des Sieges und nicht der Niederlage. Doch habe ich Bedenken, die Krise könnte bei uns gerade aus dem Sieg erwachsen. Die innere Krise rückt meines Erachtens immer näher und das Gebot der Stunde lautet, dass wir uns rüsten, um vor ihr zu bestehen. Ich schätze die gewaltigen Aufgaben auf dem Gebiet der Wirtschaft, des Staatswesens und der Sicherheit nicht gering, und dennoch ist die größte und auch schwierigste dieser Aufgaben die der wahren Integration. Was wir zu tun haben, wird dem Projekt Grundtvigs sicherlich nicht ähnlich sein; natürlich hat unser Tun unserer Not und unserem Bedürfnis zu entsprechen, hat dem menschlichen Material, das zu uns kommt und in Zukunft noch zu uns kommen wird, angemessen zu sein, menschlichem Material, das in Qualität und Zustand seinesgleichen sucht. Und noch eine wichtige Angelegenheit sprach der Premierminister heute Abend an. Er sagte: »Nicht ein Volk wie alle Völker«. Mag es wohl erlaubt sein, hinzuzufügen: »Nicht ein Staat wie alle Staaten«? Ein Staat verhält sich dem gemäß, was man raison d’état nennt; jedes Mal, wenn der Staat zu handeln, ein Problem zu lösen hat, sucht er den Weg, auf welchem er in seiner Sicht zum gegebenen Moment Nutzen für den Staat bringen kann, nicht weniger und nicht mehr. Uns jedoch genügt dies nicht. Die raison d’état genügt diesem Volk, diesem Staat, diesem Moment, in dem sich dieses Volk und dieser Staat befinden, nicht. Man wird fragen: Was ist über die raison d’état hinaus zu tun? (Premierminister D. Ben-Gurion: état de raison) Ein schöner Ausdruck, doch meine ich die Tat. Und es schickt sich an, dies an einem Beispiel zu verdeutlichen. Der Premierminister sprach noch eine dritte Angelegenheit an, die meines Erachtens auch von Bedeutung ist. Er benutzte den Ausdruck »Ethik« in Bezug auf die Handlungen der Regierung. Und hier habe ich mich daran erinnert, dass Sie, Herr Ben-Gurion, mich vor annähernd sieben Jahren, zu Zeiten des Biltmore-Programms, in einem privaten Gespräch fragten, warum ich über Politik und nicht über Ethik spreche, würde ich nämlich über Ethik sprechen, so könnten Sie mir beweisen, dass Sie mit Ihrer Position auf ethischem Grund stehen. (Premierminister D. Ben-Gurion: Richtig!) In dieser Situation habe ich nicht vor, zu diskutieren. So Gott will, werden wir noch Gelegenheit haben, darüber zu sprechen. Doch wie kann ein Mensch in dem Moment, in dem er an

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der Spitze der Staatsregierung steht, ethischen Einfluss ausüben? – Nur dadurch, dass er Beispiel, Vorbild für die Massen ist. Ich gebe zu, dass in dem Moment, in dem eine Regierung so etwas tut, dies den Anschein hat, es sei unter dem Gesichtspunkt der raison d’état eine überflüssige Handlung, nur dass diese »überflüssigen« Handlungen, deren »Motiv« nicht offen zutage liegt, das wahre Wohl des Staates, das wahre Wohl des Volkes und der Völker bedeuten. Zum Beispiel die Frage der arabischen Flüchtlinge. Es stand und steht vielleicht noch immer in der Möglichkeit der Regierung, eine große ethische Handlung auszuführen, welche zum Erwachen des ethischen Bewußtseins in der Öffentlichkeit führen kann, und deren Einfluss auf die Welt uns sicherlich nicht schaden wird. Sie könnte die Initiative ergreifen und eine internationale und interreligiöse Konferenz in Zusammenarbeit mit uns und unseren Nachbarn einberufen – eine Konferenz, wie es sie wohl noch nie gegeben hat. Ich meine hier nicht diese und jene Verzichte. Die Hauptsache ist, dass gerade aufgrund unserer Initiative etwas gemacht wird, waren wir doch Flüchtlinge in den Diasporaländern. Heute morgen, kurz bevor ich mich auf den Weg nach Tel Aviv machte, um an diesem Gespräch teilzunehmen, las ich in der Zeitung, daß die derzeit in Beirut tagende Vermittlungskommission dabei ist, eine internationale Konferenz zur Flüchtlingsfrage einzuberufen. Ich hoffe, diese Nachricht erweist sich als falsch. Diese Initiative steht ihr nicht zu. Sie steht uns zu. Wendet sich die raison d’état gegen solch eine Initiative, so leidet sie an Kurzsichtigkeit.

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Schriftstellergespräche in der zweiten vom Premierminister [Ben-Gurion] einberufenen Sitzung am 11. Oktober 1949 (…) Prof. M. Buber: Sehr geehrter Vorsitzender, sehr geehrte Damen und Herren! Als wir, die geladenen Gäste aus Jerusalem, den Vorschlag machten, hier über die Integration auf geistiger Ebene zu sprechen, einigten wir uns darauf, dass Prof. Dinaburg das Gespräch mit einer Darstellung der uns gemeinen Sicht der Dinge eröffnen wird, wogegen ich nur einige Einzelheiten zum praktischen Aspekt des Problems hinzufügen werde, welche die bevorstehende, mit Unterstützung der Regierung von der Universität betriebene Eröffnung der Ausbildungsstätte für Volkslehrer betreffen. Doch wollte der Zufall, dass Prof. Dinaburg nicht in Jerusalem war und wir uns erst gestern mit ihm beraten konnten. Er trug uns seine eben auch Ihnen dargelegten Ansichten vor, wobei es sich um ernstzunehmende Ansichten handelt, denen ich allesamt zustimme. Zunächst war ich der Meinung, ich hätte seinen Ausführungen nichts Wesentliches hinzuzufügen, doch als er nun diese vorzutragen endete, habe ich sie nochmals überdacht und befunden, dass sie der Ergänzung bedürfen, dass ich der Sache selbst noch etwas hinzuzufügen habe. Ich weiß nicht, ob Prof. Dinaburg dem, was ich nun sagen werde, zustimmen wird. Jedenfalls möchte ich darum bitten, Ihnen meine Gedanken vorzutragen. Auf diese Weise werde ich auch prüfen können, inwiefern ich und meine mir gleichgesinnten Freunde vom Kreis der Intellektuellen ausgeschlossen bzw. inwiefern wir von diesem nicht ausgeschlossen sind. Ich bitte hierfür um Ihre Genehmigung.

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(Premierminister D. Ben-Gurion: Bitte!) Alles, was ich sagen werde, bezieht sich auf die Angelegenheit der Integration auf geistiger Ebene. Meine Ausführungen mögen theoretisch scheinen, doch sind sie eng mit der besprochenen Angelegenheit verbunden. Meiner Ansicht nach beruht das ganze zionistische Besiedlungsprojekt auf einem Prinzip, welches von Prof. Ruppin, sein Andenken sei gesegnet, in einem im Jahre 1918 verfassten Aufsatz auf dezidierte Weise formuliert wurde, nämlich dem Prinzip der »Auswahl menschlichen Materials« – wobei Auswahl hier im Sinne von Selektion gebraucht ist. Ich will

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eine andere, konkretere Übersetzung vorschlagen: »Auslese«, wobei nicht willentlich vollzogene Auslese gemeint ist. (Premierminister D. BenGurion: Unsere Väter sagten: »Du hast uns erwählt!«) – Richtig. Nicht willentlich vollzogene Auslese also, nicht ein Plan der Auslese. Dies ist zu vermeiden. Ruppin meinte die sich von selbst ergebende Auslese. Wie aber geschieht diese Auslese? – Ganz einfach. Die damals nach Israel einwandernden Menschen wussten, dass hier kein Auskommen ist. In diesem Bewusstsein kamen sie in dieses Land und nahmen Arbeit, Schwerstarbeit auf sich, welche Menschen normalerweise nicht zu verrichten gewillt sind. Doch in diesem Bewusstsein kamen sie gerade in d i e s e s Land. Nicht als Einwanderer, die aus den Ländern der Erde in irgendein Land übersiedeln, kamen sie hierher, sondern sie kamen a u s g e r e c h n e t in dieses Land, in ein Land, für das so ein Mensch tut, was er für kein anderes Land tun würde. Sie kamen nicht in ein Einwanderungsland, sondern in ein Land der Alija. (Premierminister D. BenGurion: das erwählte Land!) Damit ist jene objektive Auslese bezeichnet. Die hingebungsvollsten Menschen – und nennen wir sie beim Namen: die Chalutzim – kamen hierher, und so geschah die Auslese. Daraus ist zu ersehen, dass wir nicht mit einer statischen »Elite« zu tun haben, sondern mit einer dynamischen Elite, mit dynamischen Eliten, d. h. nicht eine kalte und erkaltende Auslese, sondern eine siedend heiße und zum Sieden bringende Auslese, die wie ein Magnet anzieht, eine immer weitere Eliten heranziehende Elite, in welcher schließlich das ganze Volk aufgeht, so dass alle erstklassiges Niveau erreichen. (Zwischenruf: Das nennt man Chalutziut!) Das habe ich doch gesagt: Chalutziut. Doch besteht zwischen den Chalutzim anderer Völker, zwischen jenen Pionieren der anderen Völker, welche die großen Asylländer geschaffen haben, und unseren Chalutzim – ein grundlegender Unterschied. Dieser Unterschied zeigt sich in dem, was ich mit »Wofür« zu benennen wage. Seinem Wesen nach ist dies das »Wofür« der Väter. Doch hat sich eine gewaltige Veränderung eingestellt: die Chalutzim-Generationen hatten nicht mehr den Glauben, für den und für dessen Lehre die Väter gearbeitet und gelitten haben. Was – bewusst oder unbewusst – vorhanden war, war der G l a u b e a n d i e S c h e c h i n a . Ein weiser Jude in Deutschland hat mir einmal gesagt: Es gibt Christen, welche nicht an den Vater, aber doch an den Sohn glauben. So glaubten viele von uns zwar an die Schechina, doch nicht an Gott. Jene von den Chalutzim verrichtete, über den Rahmen des Menschlichen hinausgehende Tat gründete im unbewussten Glauben, in jener Verwandlung des »Wofür«. Sie beabsichtigten zwar nicht, die Tradition fortzuführen, haben sie in Wirklichkeit aber doch fortgeführt, haben de

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facto in ihrer Arbeit jenes »Wofür« wachgehalten. In ihren Leitsätzen fehlte etwas, und sie versagten sich, dem Ausdruck zu verleihen. Es ist das von mir angedeutete etwas: das »Wofür«. Es war einfach untersagt, über das »für wen oder für was« zu sprechen (J. Kopeliowitsch: für den Jichud!) Jede Rede, jeder Begriff kann zur Gewohnheit gemacht werden. In dem Moment, in dem ich sage, »für den Jichud« – wird dies zum rein nationalen Begriff gemacht werden: »Jichud des nationalen Geistes und der Unabhängigkeit« und so weiter. Es war da eine Verbindung zu den Vätern. Man wollte dies nicht zugeben, man wollte diese Verbindung nicht anerkennen, doch war diese Verbindung vorhanden und die Menschen taten »für etwas«, wie die Väter »für etwas« taten. Ohne dieses »für etwas« – hätten sie nicht tun können, was sie taten. Die Verbindung zu den Vätern bedeutet objektive Tradition, erlebte Tradition, nicht Tradition gewisser Inhalte und nicht Tradition gewisser Formen oder Gebräuche, sondern wesenhafte, sozusagen körperhafte Tradition. Haben wir heute noch ein »Wofür«? Wir sprachen von »Erlösung«, »Erlösung der Erde«, »Erlösung der Arbeit«. Manchmal sprachen wir gar von »Erlösung des Menschen in Israel«. Dies wurzelte in einem dem Glauben immanenten Begriff, doch haben wir ihm diese Basis entzogen. Wir sprachen davon, dass wir die Erde erlösen, meinten jedoch: dass wir sie zur Erde der Juden machen. Die Erde der Juden – doch wofür? Premierminister D. Ben-Gurion: Um sie zu bewirtschaften!

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Prof. M. Buber: Wofür? Premierminister D. Ben-Gurion: Um zu essen! Prof. M. Buber: Wofür? Premierminister D. Ben-Gurion: Genug!

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Prof. M. Buber: Ich frage: essen – wofür? Ich frage: leben – wofür? Leben ist nicht genug. Wir alle wissen doch, dass dies dem Einzelnen in seinem Leben nicht ausreicht. Der Einzelne weiß, dass man »für etwas« leben muss, nicht einfach nur leben. Doch ist die Rede von einer Gemeinschaft, von einem Volk, so ändert sich dies umgehend. Man sagt: Ein Volk lebt um seiner selbst willen. Ich widerspreche dem. Ich widerspreche dem auch hinsichtlich anderer Völker, doch über sie zu sprechen, bin ich nicht befugt. Hinsichtlich Israel jedenfalls widerspreche ich dem. Die Auslese, die Bildung von Gemeinschaften von Einwanderern, kam dadurch zustande, dass die nach Israel einwandernden Menschen in Wahrheit eng mit der Welt der Väter verbundene Menschen waren, wenngleich sie sich weigerten, dies einzugestehen. Sie waren verbunden, weil sie sich mit ihrem ganzen Herzen und mit all ihrer Kraft der Schechina hingaben, an die sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, glaubten. So kam die Auslese zustande, die siedende und zum Sieden bringende Auslese; eine magnetische Elite, die wie die Eliten des jüdischen Volkes über Generationen hinweg auf die Diaspora einwirkten. Diese Chalutzim, ob sie nun Briefe mit den in der Diaspora Verbliebenen austauschten oder nicht, ob sie nun Abhandlungen und Studien schrieben oder nicht – ihr Sein hatte magnetische Wirkung; sie hatten magnetischen Einfluss auf die Diaspora. Was war es, das diesen Einfluss ausübte? Das sich verwirklichende Leben übte diesen Einfluss aus. Es war dies eine Elite, die durch ihr Sein wirkte; und sie war verbunden mit allem, was an Israel von der Urzeit bis zur Gegenwart geschah, mit allem, was sich seither offenbarte. Es war dies eine erziehende Elite. Die jungen Leute in der Diaspora wurden durch die Tätigkeit im Lande Israel erzogen, und als sie hierher kamen – kamen sie ins Dorf, in den Kibbuz, in den Moschav und überall wurden sie von der Auslese erzogen. Es war dies also eine immer stärker werdende Auslese. Doch bestand ein innerer Widerspruch zwischen der tiefen Wirklichkeit und dem Bewusstsein von dieser, welcher darin zum Ausdruck kam, dass es nicht nur eine, sondern zwei zionistische Lehren gab: die eine Lehre, die dieser tiefen Wirklichkeit entsprach, die diese Wirklichkeit zum Ausdruck brachte; und die zweite, verbreitete Lehre, welche allgemein d i e z i o n i s t i s c h e L e h r e genannt wurde. Die erste Lehre besagte, dass dieses Volk in diesem Land zur Verwirklichung »für etwas« berufen ist; das heißt, es gibt ein Erbe, ob man dies sich nun eingesteht oder nicht; das heißt, zwischen Vätern und Söhnen besteht eine objektive Verbindung. Das ist eben doch die Bedeutung von

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Gesellschaft: Sie ist nicht nur eine Ansammlung von in einem gewissen Land, unter gewissen Umständen und zu einer gewissen Zeit zusammen lebenden Menschen. Wahre Gemeinschaft gibt es nur, wenn eine Verbindung zwischen den Generationen besteht. Eine wahre Gemeinschaft umfasst nicht nur die gegenwärtig lebenden Menschen, sondern auch die Toten und die zukünftigen Generationen. Die gegenwärtige Generation muss diese Verbindung zwischen sich und ihren Vätern und Söhnen nicht nur spüren, sondern in konkreter Erfahrung l e b e n . Solange wir nicht auch die Toten und die noch nicht zur Welt gekommenen Nachkommen in unserer Mitte wahrnehmen – sind wir keine wahre Gemeinschaft. Im Gegensatz zu dieser Lehre stand eine zweite Lehre, die besagte: Nation um der Nation willen. Wir begnügen uns mit der Nation! Land um des Landes willen. Wir begnügen uns mit dem Land! Sprache um der Sprache willen. Wir begnügen uns mit der Sprache! Das macht ein Volk aus. Sind diese Eigenschaften und Güter vorhanden – so können wir von einem Volk, von Kultur, von Renaissance sprechen. Ohne »Wofür«. Ein Volk braucht kein »Wofür«. »Für etwas« zu empfinden oder nicht zu empfinden, ist Sache des Individuums. Diese Einstellung bezeichnete man als »formalen Zionismus«: Güter. Güter sind genug! Ich schätze diese Güter wirklich nicht gering. Ohne sie – ist keine nationale Existenz möglich. Doch beinhaltet diese allein auf Gütern basierende Existenz keine geistige Existenz. Des weiteren wurde gesagt: »Wir müssen von vorne anfangen. Wir müssen die überflüssige Last von uns werfen.« Doch nein. Es gibt keine Erneuerung nationalen Lebens ohne Erneuerung der Tradition. Und wiederum: Gemeint ist nicht formale Tradition oder Tradition gewisser Inhalte, die so, wie sie sind, zu bewahren sind, sondern jene wesenhafte Tradition, die sich in ihrer Erneuerung neu belebt und so Bestand hat. Tradition erneuert sich in einer neuen Welt, unter neuen Bedingungen. Doch ohne existenzielle Verbindung zur tiefreichenden Folge der Geschlechter hat ein Volk kein wahres Leben. Nicht von neuem beginnen muss man, sondern erneuern, das uns Überlieferte immer wieder neu beleben. Tradition ist ihrem Wesen nach unablässige Erneuerung. Tradition bedeutet nicht, dass eine gewisse Sache von Hand zu Hand weitergereicht wird, wobei das von der zweiten Hand Erhaltene dem von der ersten Hand Gegebenen genau entspricht. Vielmehr erneuert sich die Sache selbst im Akt der Übergabe und des Entgegennehmens. Steht die Tradition still – ist sie keine lebendige Tradition mehr. Doch gibt es keine Renaissance ohne Renaissance der Tradition, Renaissance der Werte, Renaissance des Glaubens, Renaissance des »Wofür«. Der von mir angedeutete innere Widerspruch stellt sich als Wider-

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spruch zwischen tiefer Wirklichkeit und herrschender Lehre dar. Auf diesem Hintergrund entstand die potentielle Krise. Zum Vorschein kam diese Krise nur in bestimmten historischen Augenblicken. Die Geschichte hat ihren Beitrag geleistet. Wenn ich G e s c h i c h t e sage, meine ich jene Tage, in denen Grabski und Hitler an die Macht kamen; ich meine all jene Einwanderungen nach Israel, welche nicht auf objektiver Auslese beruhten, welche nicht mehr allein die hingebungsvollen Menschen, die hier und in keinem anderen Land leben wollten, hierher führten. Viele Menschen kamen hierher, weil sie g e z w u n g e n waren, ihr Land zu verlassen, zu fliehen, auszuwandern. Die Alija geriet so meist zur Migration. Der in unserer Mitte enstandene, neue Menschentyp, der meines Wissens heute in keinem anderen Volk seinesgleichen hat, konnte es nicht mehr leisten, all die neuen Einwanderer hinlänglich zu erziehen. So entstand ein disproportionales Verhältnis zwischen jener historischen, das Prinzip der Auslese überflutenden Welle von Einwanderern und der in Israel lebenden Auslese. Die neuen Einwanderungswellen konnten auf geistiger Ebene nicht voll und ganz integriert werden, obgleich in ihre Erziehung möglichst viel Energie investiert wurde. Wir haben das Land erlöst; wir haben die Arbeit erlöst; wir haben in dem von uns vorgezeichneten Sinne Erlösung gebracht. Den Menschen jedoch haben wir nicht wirklich erlöst; wir sind nicht so vorgegangen, dass wir den »erlösten« Mensch in die Lage versetzt hätten, andere anzuziehen und zu integrieren, andere angemessen zu erziehen und zu beeinflussen. Der Chalutz ist unser »erlöster« Mensch. Doch die zur Selbsterlösung ausreichende Kraft genügte nicht, um auch die Einwanderermassen in den vom Chalutz vorgebildeten Menschentyp zu verwandeln. Aus heutiger Sicht waren das zwar keine Massen, aus damaliger Sicht aber schon. (Premierminister D. Ben Gurion: Selbst heute sind es noch keine Massen!) Den heute von Dinaburg vorgetragenen Zahlen zufolge scheint mir, dass man von Massen sprechen darf, und mit Recht äußerte er, dass es sich hier um eine einzigartige, in der neueren Geschichte ihresgleichen suchende Leistung handelt, doch sprechen wir jetzt über Integration auf geistiger Ebene und diese ist immer mehr in Frage gestellt. Doch selbst zu jener Zeit war mit der »Selbsterlösung« des Menschen in Israel nicht genug getan. Relativ gesehen nahm der Einfluss des neuen Menschentyps, des »erlösten« Menschen, des wahren Chalutz immer mehr ab. Der Grund hierfür lag natürlich hauptsächlich darin, dass die quantitative Disproportionalität zwischen Auslese und Durchschnitt immer größer wurde. Eine weitere Ursache hierfür stellte der Umstand dar,

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dass die zentrale und zentralisierende Lehre der Chalutzim immer mehr von der formalen zionistischen Lehre verdrängt wurde. In ihrer reinen Form setzte sich die Lehre der Chalutzim die Erlösung des Menschen als Mensch zum Ziel, welche dadurch erlangt werden sollte, dass man sich erneut der Bearbeitung der Erde widmete, d. h. dadurch, dass man sich von neuem mit der konkreten Weltsubstanz, in Wahrheit also mit der Schöpfung Gottes, verband (gebrauchten diejenigen, welche diese Lehre verkündeten, auch eine verdeckte und zuweilen gar atheistische Sprache, konnten sie damit doch nicht über ihr eigentliches Tun hinwegtäuschen). Die Lehre des formalen Zionismus, welche die Lehre der Chalutzim immer mehr verdrängte, wies die Idee von der Erlösung des Menschen als Mensch zurück; ihr zufolge gilt allein das Prinzip der Befreiung der Nation; alles andere wird sich von selbst ergeben. Mit dieser Lehre war es wohl möglich, die Herzen der Massen zu gewinnen, so dass sie sich dem Plan anschlossen und sich an seiner Verwirklichung beteiligten; doch lag es nicht in ihrer Kraft, das Herz oder das Leben der Menschen von innen zu verändern. So nahm die erzieherische Kraft der ChalutzimAuslese immer mehr ab; im lebendigen Beispiel wirkte sie zwar noch fort, doch verschwand die geistige Ausstrahlung dieses Lebens zunehmend. Nun wurde die staatliche Verwirklichung erreicht. Damit wurde die historische Handlung fortgeführt. Die Geschichte tat das ihre mit der ihr im Allgemeinen eigenen Gewalt, doch brachte sie auch Gutes mit sich: staatliche Verwirklichung und mit der staatlichen Verwirklichung ging – wiederum notwendigerweise – die Einwanderung der Massen einher. Natürlich ist diese zu begrüßen. Nur scheint deren Qualität vom Standpunkt des Chalutz und von menschlichem Standpunkt aus – wiederum notwendigerweise – zumeist zweifelhaft. Meine Frage lautet: nähern wir uns nicht einer Krise? (Zwischenruf: Nein!). Sage nein, wer eben nein sagt. Auch ich sage in meinem Herzen jeden Morgen »Nein«, aber in der Nacht, wenn mich die verborgenen Gedanken aus dem Schlaf reißen, frage ich mich: »Vielleicht muß die Antwort doch ›Ja‹ lauten?« (J. Fichman: Das frage ich mich auch!) In diesem Forum ist uns aufgetragen, entweder zu schweigen oder aber die nackte Wahrheit zu sagen, unsere großen Ängste offen auszusprechen. (D. Shimoni: Ängste wovor?) Vor der näher rückenden, gerade aufgrund der Masseneinwanderung entstehenden Krise. (D. Shimoni: Welche Krise?) Die näher rückende Krise, welche aus der immensen und von Tag zu Tag größer werdenden Diskrepanz zwischen jener anführenden, am Ziel festhaltenden und Gestalt gebenden Auslese und der Masseneinwanderung erwächst. Schreckliche Gefahren warten auf uns aufgrund der mangelhaften Verbindung zwischen den verschiedenen

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Volksgruppen und mehr noch aufgrund der mangelhaften Verbindung zwischen den neu hinzugekommenen Volksgruppen und dem im Werden befindlichen Volk. Es gibt wohl vielerlei Traditionen und mit Recht wies Dinaburg darauf hin, dass die Marokkaner usw. über eine besondere Tradition verfügen, doch haben wir keine gemeinsame lebendige Tradition (Prof. B. Z. Dinaburg: eine begrenzte!) Die suche ich, doch sehe ich sie nicht. Ich sehe nichts außer die Scherben der Gesetzestafeln. Ich trage Ihnen vor, was in meinem Herzen ist, um zu prüfen, ob wir diese Sicht wohl teilen: ich spreche bewusst nicht von Meinung, auch nicht von Erkenntnis oder Ansicht, sondern tatsächlich von Sicht. Ich frage: Reicht die Energie der Chalutziut aus, diese Krise zu überwinden? Ich weiß es nicht. (Premierminister D. Ben-Gurion: Ergänzen sie dies mit der Notwendigkeit.) Ich will eine weitere Frage stellen: unter welchem Vorzeichen steht diese Alija? Solch eine gewaltige Alija muss, will sie wahre Alija und nicht Einwanderung in irgendeines von vielen Ländern sein, unter einem gewissen Zeichen und nicht allein unter dem Motto der Unabhängigkeit stehen. All diese Volksgruppen muss ein ihnen gemeines »Wofür« verbinden, doch ist dies nicht so. Ich frage: Ist das Ziel dieser Alija bloße Existenz oder Renaissance? Was ich hier vor mir sehe, ist ein Rettungsprojekt, gleichwohl ein in seiner Art unvergleichliches Projekt, aber eben doch ein Projekt um der Existenz willen, um der Existenz der Juden willen; Existenzsicherung sehe ich, Renaissance des Volkes aber sehe ich nicht. Verschiedene Gruppen von Juden, verschiedene ethnische Gruppen sehe ich, Bevölkerung und Staat sehe ich, das sich erneuernde Volk Israel aber sehe ich nicht. Ich sehe keinen lebendigen Bezug zwischen dem alteingesessenen Jischuv der Chalutzim und den Bevölkerungsgruppen der Masseneinwanderung. (Ministerpräsident D. Ben-Gurion: Hätten Sie im Militär gedient, hätten sie ihn gesehen.) Fast alle meiner Schüler dienen im Militär und sie haben mir von ihren Erfahrungen erzählt. Das Militär stellt nicht eine Art Mikrokosmos der Gesellschaft dar; im Gegenteil: seinem inneren und allgemeinen Aufbau nach ist das Leben des Militärs dem der Gesellschaft entgegengesetzt. Die Gesellschaft setzt sich aus Familien zusammen, das Militär aus Einzelpersonen, die aus der Familienwelt herausgenommen sind. Sein Gesetz ist das Gesetz des Ausnahmezustands. Deshalb darf man nicht vom Militär auf die Gesellschaft schließen. Es ist doch recht und billig, zu behaupten, dass das Militär nicht auf Dauer bestehen wird (Ministerpräsident D. Ben-Gurion: Bis der Messias kommt, wird es auf alle Fälle bestehen). Die Existenz der Nation ist gesichert. Doch ist zwischen verschiedenen

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Arten der Existenz zu unterscheiden. Unser Volk hat keine wirkliche Existenz ohne wirkliche Renaissance, d. h. ohne Renaissance des Geistes, ohne Wiederherstellung der Gesetzestafeln, ohne Renaissance der lebendigen Tradition. (J. Grünbaum: Was ist das: lebendige Tradition?) Sie besteht auch in Ihnen, ob Sie wollen oder nicht. Es finden sich in Ihnen Spuren lebendiger Tradition, eine in den Schlaf und den Zustand der Lähmung gefallene Tradition. Doch gibt es Dinge, denen es besser ansteht, beläßt man sie einfach, wie sie sind, ohne sie zu interpretieren, Dinge, die man besser nicht zu definieren sucht. Entweder man versteht sie oder eben nicht. Haben wir wirklich Erlösung gebracht? Erlösen wir wirklich den Menschen als Menschen? Schon einige Jahre lang denke ich über eine sehr einfache Frage nach, welche lautet: Wie können wir gute, rechtschaffene, junge Menschen, Chalutzim neuen Typs aus Nordamerika hierherbringen? Ich weiß, dass auch Sie, Herr Ben-Gurion, daran interessiert sind (Ministerpräsident D. Ben-Gurion: Sehr!). Doch kann man sie meines Erachtens nicht allein mit nationalen Werbesprüchen hierherbringen, weil sie – die Guten unter ihnen – sich nach einer neuen Lebensweise sehnen, nach wahrem Menschenleben, wie es dort nicht zu finden und nicht einmal einzuführen ist. Sie fragen und prüfen immer wieder, ob dies hier vorzufinden ist. Sie besuchten Kibbuzim und Moschavim und waren sehr beeindruckt. Ist es möglich, nicht beeindruckt zu sein? Doch etwas fehlt, und zwar das Wesentliche von dem, was sie suchen. Nun haben sie Zweifel. (D. Shimoni: Sprechen Sie von denen, die den Gasöfen entflohen sind?) Ich rede von unserem ausgewählten Menschentyp, dem der arbeitenden Siedler. Ich rede von dem, was in der Veränderung der Beziehungen zwischen dem Menschen und seinem Nächsten Ausdruck findet. Der Mangel liegt im zunehmenden Absterben jenes »Wofür« begründet. Ich bin weder optimistisch noch pessimistisch. Vielmehr spüre ich Furcht in meinem Herzen, und es scheint mir, besser zu sein, meiner Furcht so, wie sie ist, Ausdruck zu verleihen, als sie in schöne Worte zu kleiden. (A. Barasch: Vielleicht ist die Krise schon da?) Natürlich stehen Tatsachen anderen Tatsachen gegenüber. Ich weise absichtlich auf die größten Gefahren hin. Vielleicht ist es noch möglich, sie abzuwenden. Sagen wir: »Nun ja, so gefährlich ist das doch nicht, zumal dem eine ganze Reihe von Tatsachen entgegenstehen,« (Tatsachen, die auch ich Ihnen nennen kann) – so werden wir die brennende Frage, um derentwillen ich all dies zur Sprache bringe, niemals in ihrer Tiefe erfassen. In unserem Krieg haben wir vor der Welt die Einheit unseres Volkes nach außen hin unter Beweis gestellt. Doch sind wir auch ein innerlich

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geeintes Volk? Herzl sagte einmal: »Wir sind ein Volk. Der uns allen gemeine Feind macht uns dazu.« Heute besteht kein Zweifel hinsichtlich der Konkretheit dieser Einheit. Was ist konkreter, als gemeinsam zu töten und getötet zu werden! Doch können wir hinsichtlich dieser Einheit schon von Einheit des Volkes sprechen? Darf man wirklich von der Vereinigung der in der Diaspora lebenden Juden sprechen oder handelt es sich im Moment nicht doch nur darum, die in der Diaspora lebenden Juden zu b ü n d e l n ? Zwar hoffen wir, dass dies zur Vereinigung führen wird, doch kann keine wirkliche, innere Einheit, keine Einheit im Sein, erlangt werden, erfährt nicht auch jenes »Wofür« Erneuerung. Ohne solch eine Erneuerung – wird es kein vereintes Volk und keine Renaissance geben. Wir stehen hier vor einer entscheidenden Frage: Ist es möglich und wenn ja, wie ist es möglich, unsere Auslese, die siedende und zum Sieden bringende Auslese der Chalutzim, von innen zu erneuern? Mit dieser ist eine zweite Frage verbunden: Ist es möglich und wenn ja, wie ist es möglich, diesen Akt der Auslese neu zu beleben? Die erste Frage bezieht sich auf die Neubelebung der Chalutziut, die zweite auf deren Ausweitung. Die Beantwortung beider Fragen ist abhängig von der Erneuerung des »Wofür«. Wir beschäftigen uns hier mit der zweiten Frage, welche sich recht eigentlich als Frage nach geistiger Integration darstellt. Es handelt sich um die Frage nach der Verbindung zwischen Chalutziut und Masseneinwanderung. Eine wahre Verbindung wird nicht zustandekommen, wenn wir nicht in jeder Gruppe von Einwanderern eine Auswahl zu treffen vermögen, d. h. wenn wir in ihnen nicht das Bedürfnis nach menschlicherem Lebenswandel zu erregen vermögen – ein Bedürfnis, zu dem wir ihnen nur unter Anbindung an das verhelfen können, was der Chaluziut wesentlich ist; d. h. wir müssen in ihnen die Sehnsucht nach wahrer Erlösung des Menschen erregen und sie dazu heranbilden, in deren erste Phase einzutreten. Doch dies reicht nicht aus: es reicht nicht aus, eine statische »Elite« zu haben – sie muss dynamisch sein. Man muss das erzieherische Element inmitten der Masseneinwanderung entdecken und entwickeln; man muss die Entstehung erziehender Menschengruppen vorantreiben; man muss Erzieher heranziehen.

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[Vorwort zu Jacob Burckhardt, »Die Kultur der Renaissance in Italien«] Burckhardts »Kultur der Renaissance« gehört zu der kleinen Reihe der Geschichtswerke, die nicht veralten. Mögen noch so viele neue Tatsachen aus der in einem solchen Buche behandelten Epoche bekannt werden, noch so viele in einem veränderten Lichte erscheinen, mag sich diese oder jene Meinung des Verfassers als Irrtum erweisen, das von ihm gezeichnete Bild dauert in späte Geschlechter hinein, weil hier ein Mensch wesentliche Züge eines Geschichtsabschnitts geschaut und geschildert hat. Es ist Aufgabe der späteren Historiker zu zeigen, worin das Werk unvollständig, worin es einseitig war; sie werden dabei freilich nicht vergessen dürfen, dass seine Grösse von seiner Einseitigkeit nicht abzulösen ist. In diesem Sinne ist die Forschung der nahezu 90 Jahre, die seit dem ersten Erscheinen dieses Buches verstrichen sind, hauptsächlich in den folgenden Punkten zu Ergebnissen gelangt, die von den Ansichten des grossen Schweizers mehr oder weniger abweichen: 1. Die Epochen können nicht so scharf getrennt und nicht so gegensätzlich einander gegenübergestellt werden, wie es Burckhardts kühne Intuition wollte. Insbesondre hängt die Renaissance mit dem Mittelalter in mancher Hinsicht stärker zusammen, als es in diesem Buch erscheint. Burckhardt sah zwar im Mittelalter die der Renaissance verwandten Züge recht wohl, aber er erklärte sie als eine Art von Vorbereitung oder Vorläufertum. Dem gegenüber wird heute mit Recht betont, dass eine solche Auffassung den Eigenwert einer grossen Epoche wie das Mittelalter beeinträchtigt. Es gilt z. B. einerseits den schon in ihm ausgeprägten Individualismus, andererseits den noch in der Renaissance verbreiteten Autoritätsglauben – sei es, wie in der Reformation, die Autorität der Kirche in neuer Gestalt, sei es, wie im Humanismus, die Autorität des klassischen Altertums, seiner Formen und Normen – zu erkennen. 2. Daraus ergibt sich bereits, dass innerhalb der Ren. selbst weit grössere Gegensätze herrschen, als man gewöhnlich annimmt. Der Individualismus, den B. in so starken Farben malt, ist gewiss einer ihrer stärksten Züge, aber es stehen ihm andere kaum weniger starke gegenüber. Schon der Begriff des Individualismus ist irreführend: Stärke und Mannigfaltigkeit der persönlichen Entwicklung sind in d. Ren. eher eine Wirklichkeit als eine bewusste Tendenz. Das, wonach die wichtigsten Persönlichkeiten der Epoche Verlangen tragen und was sie sich als Ziel setzen, ist eher die absolute, alleingültige Wahrheit, die absolute Schön-

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heit zu finden, die sich über allen Unterschieden der Menschen erhebt. »Sie streben«, schreibt der holländische Historiker Huizinga, »nach unpersönlichen, fest umgrenzten, unzweideutigen und endgültig formulierten Systemen für Kunst u. Wissen.« Man sucht das Unbedingte und Normative in den grossen Werken und Lehren des Altertums, man sucht es aber auch im ursprünglichen Christentum. 3. Wieder geht daraus hervor, dass man das »schöne Heidentum«, die Antireligiosität oder Areligiosität nicht als den herrschenden Zug der Ren. ansehen darf; ihm stehen ganz andere gegenüber, und zwar nicht bloss als Reaktion auf jene, sondern in elementarer Spontaneität, die in B’s Darstellung zu kurz gekommen sind, wie er später selbst erkannt und bekannt hat. Er schreibt etwa 30 Jahre nach der Abfassung der K. d. R., »dass innerhalb der künstlerischen und literarischen Renaissance Italiens der eine grosse und starke Strom der Ehrfurcht vor der Religion u. der Verherrlichung des Heiligen gedient hat, mochte der andere Strom brausen, wohin er wollte. Ich entsinne mich noch genau, welchen Eindruck mir einst bei meinen Studien dies Phänomen machte, u. ich beklagte nur, der Sache nicht eifriger nachgegangen zu sein.« Die Forschung unserer Tage (insbesondere Burdach) hat überdies gezeigt, dass dem Streben nach einer »Renaissance« als nach einer Erneuerung des ganzen Menschen schon im Mittelalter eine religiöse Idee zugrundeliegt, die auf das Neue Testament und letztlich auf die Propheten Israels zurückgeht. Hat so das historische Denken nach B. einiges in seinem Buche berichtigt, so wird etwas anderes durch ihn selbst berichtigt, – aber nicht etwas, was in seinem Buch steht, sondern was moderne Leser gern herauslesen, und zwar nicht bloss schlechte, oberflächliche Leser, sondern auch solche wie der Philosoph Nietzsche, der eben bei B., von dem er viel gelernt hatte, auch das fand, was er bei ihm finden wollte: die Verehrung des über der Unterscheidung von Gut u. Böse stehenden »Übermenschen«. B. hat ihn nicht verehrt. Er bewunderte die Grösse, aber der Mensch ohne Ethos galt ihm bestenfalls als ein missglückter Entwurf der Grösse. Den leeren »Willen zur Macht«, den N. über alles stellt, sah er als an sich böse an. Die »ungebrochene Selbstsucht« des »heroischen Menschen« ist ihm »keineswegs ein Ideal der Menschheit«. Er lässt einmal griechische Götterstatuen so über sich selbst sprechen: »Wir haben nur uns selbst gelebt und allen anderen Schmerz bereitet, und darum mussten wir untergehen.«

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Vorwort Dieses Buch ist aus der Absicht entstanden, die Gedanken des, von Marx und den Marxisten so benannten »utopischen Sozialismus«, und insbesondere dessen Postulat einer Erneuerung der Gesellschaft durch Erneuerung ihres Zellengewebes, genetisch darzustellen. Es ist mir nicht darum gegangen, eine Übersicht der Entwicklung einer Idee zu geben, sondern das Bild einer Idee in ihrer Entwicklung zu zeichnen. Für die Herstellung eines solchen Bildes ist, wie für die von Bildern überhaupt, die Grundfrage: was man wegzulassen hat. Von dem gewaltigen Stoff schien mir nur das hergehörig, was zur Betrachtung der Idee wesentlich ist. Nicht die Zugänge sind wichtig, sondern der eine Weg allein, in den sie immer wieder münden. Aus dem geistesgeschichtlichen Ablauf taucht vor uns die Idee selber auf. Noch ein Ausblick, wiewohl nur ein enger, war zu eröffnen: zu den Versuchen, die Idee zu verwirklichen, kühnen, aber problematischen Versuchen. Danach erst war Raum gewährt, die theoretische und praktische Beziehung des Marxismus zur Idee der Strukturerneuerung kritisch darzulegen, eine Beziehung, die am Anfang des Buches, einleitend, nur angedeutet werden konnte. Sodann und von da aus hatte ich von dem einen Versuch zu reden, dessen unmittelbare Kenntnis den Anstoß zur Abfassung dieses Buches gegeben hat; ich habe ihn naturgemäß nicht beschrieben oder berichtet, sondern nur seinem inneren Zusammenhang mit der Idee nach beleuchtet: als einen Versuch, der nicht mißglückte. Ein abschließendes Kapitel faßt mein eigenes Verhältnis zur Idee zusammen, das sonst nur zwischen den Zeilen zum Ausdruck kommen konnte. Nunmehr mußte denn auch auf ihre Bedeutung für die gegenwärtige Weltstunde hingewiesen werden.

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* Das Buch ist im Frühjahr 1945 vollendet worden; die hebräische Ausgabe ist im darauffolgenden Jahr erschienen. Jerusalem, im Frühjahr 1950 Martin Buber

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Zu den Abschnitten des Kommunistischen Manifests, die auf die Generationen bis auf unsere Tage den stärksten Einfluß ausgeübt haben, gehört der »Der kritisch-utopistische Sozialismus und Kommunismus« betitelte. Bekanntlich waren Marx und Engels von dem »Bund der Gerechten« mit der »Formulierung eines kommunistischen Glaubensbekenntnisses« betraut worden (ein Entwurf von Moses Heß war auf Engels’ Widerspruch hin abgelehnt worden), einer wichtigen Vorarbeit zu der für 1848 geplanten Einberufung eines Allgemeinen Kommunistischen Kongresses und der »Vereinigung aller Unterdrückten«. Darin sollte nach Weisung der Bundesleitung auch die »Stellung in Beziehung auf die sozialen und kommunistischen Parteien«, d. h. die Abgrenzung gegen verwandte Richtungen ihren grundsätzlichen Ausdruck finden, wobei vor allem an die Fourieristen gedacht wurde, »diese seichten Menschen«, wie es in dem Entwurf des Bekenntnisses heißt, den die Zentralbehörde dem Londoner Bundeskongreß vorlegte. In dem Entwurf, den Engels nun zunächst ausarbeitete, ist von »utopistischen« Sozialisten oder Kommunisten noch nicht die Rede; wir hören nur von Leuten, die »großartige Reformsysteme« vorschlagen, »welche unter dem Vorwand, die Gesellschaft zu reorganisieren, die Grundlagen der jetzigen Gesellschaft und damit die jetzige Gesellschaft beibehalten wollen« und daher als zu bekämpfende »Bourgeois-Sozialisten« bezeichnet werden, eine Bezeichnung, die in der endgültigen Fassung besonders auf Proudhon angewandt wird. Der Abstand von dem Engelsschen Entwurf zu der im wesentlichen von Marx herrührenden Fassung ist ungeheuer. Die »Systeme«, von denen die St. Simons, Fouriers und Owens erwähnt werden (in Marxens Entwurf waren auch Cabet, Weitling und sogar Babeuf als Urheber solcher Systeme genannt), werden als die Frucht einer Epoche behandelt, in der die Industrie und damit das Proletariat noch unentwickelt war; die Erfassung und Bewältigung des Problems »Proletariat« war demgemäß noch unmöglich, statt ihrer erschienen eben jene Systeme, die nicht anders als erfunden, phantastisch, utopistisch sein konnten und im Grunde auf die Aufhebung eines Klassengegensatzes abzielten, der eben erst sich zu entwickeln begann und aus dem dereinst die »allgemeine Umgestaltung der Gesellschaft« hervorgehen soll. Marx formuliert hier nur neu, was er schon kurz vorher in der Streitschrift gegen Proudhon ausgesprochen hatte: »Diese Theoretiker sind Utopisten, sie müssen sich Wissenschaft in ihrem Geiste suchen, weil es noch nicht so

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weit ist, daß sie sich nur Rechenschaft abzulegen brauchen von dem, was sich vor ihren Augen ereignet, und sich zu dessen Organ zu machen.« Die Kritik der bestehenden Zustände, auf der die Systeme aufgebaut sind, wird als wertvolles Aufklärungsmaterial anerkannt; dagegen sei alles Positive in ihnen verurteilt, im Lauf der geschichtlichen Entwicklung allen praktischen Wert und alle theoretische Berechtigung zu verlieren. Den politischen Charakter dieser Deklaration innerhalb der damaligen sozialistisch-kommunistischen Bewegung können wir erst dann ermessen, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß sie gegen die Anschauungen gerichtet war, die vordem im »Bund der Gerechten« selbst herrschten und durch Marxens Ideen verdrängt wurden. Marx hat sie zwölf Jahre nach dem Erscheinen des Kommunistischen Manifests als eine »Geheimlehre« bezeichnet, die aus einem »Gemisch von französisch-englischem Sozialismus oder Kommunismus und von deutscher Philosophie« bestand, und ihr »die wissenschaftliche Einsicht in die ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft als einzige haltbare theoretische Grundlage« gegenüberstellt; es galt damals, wie er sagt, zu zeigen, daß es »sich nicht um Durchführung irgendeines utopistischen Systems handle, sondern um selbstbewußte Teilnahme an dem unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Umwälzungsprozeß der Gesellschaft«. Der gegen den »Utopismus« polemisierende Abschnitt des Manifests bedeutete also eine innenpolitische Handlung im genauesten Sinn: die siegreiche Vollendung des Kampfes, den Marx, mit Engels an seiner Seite, gegen die anderen sich kommunistisch nennenden oder so genannten Richtungen, zunächst im »Bund der Gerechten« selber (der nun »Bund der Kommunisten« hieß), geführt hatte. Der Begriff »utopistisch« war der letzte und spitzeste Pfeil, den er in diesem Kampfe verschoß. Ich sagte eben: »mit Engels an seiner Seite«. Immerhin darf hier ein Hinweis auf einige Sätze aus der Einleitung nicht unterbleiben, die Engels, etwa zwei Jahre vor der Niederschrift des Manifests, seiner Übersetzung eines Fragments aus dem Nachlaß von Fourier vorausgeschickt hatte. Auch hier wird von eben jenen Lehren gesprochen, die im Manifest als utopistisch verworfen werden; auch hier werden Fourier, St. Simon, Owen angeführt; auch hier wird innerhalb von ihnen zwischen der wertvollen Kritik der bestehenden Gesellschaft und der weit weniger belangvollen »Schematisierung« der zukünftigen geschieden; zuvor aber heißt es: »Was die Franzosen und Engländer schon vor zehn, zwanzig, ja vierzig Jahren gesagt – und sehr gut, sehr klar, in sehr schöner Sprache gesagt hatten, das haben die Deutschen jetzt endlich seit einem Jahre stückweise kennengelernt und verhegelt, oder im allerbesten Falle haben sie es nach-

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träglich noch einmal erfunden und in viel schlechterer, abstrakterer Form als ganz neue Erfindung drucken lassen.« Und Engels fügt wörtlich hinzu: »Ich nehme hiervon meine eigenen Arbeiten nicht aus.« Der Kampf galt also auch der eigenen Vergangenheit. Noch wichtiger aber ist das folgende Urteil: »Fourier konstruiert sich die Zukunft, nachdem er die Vergangenheit und Gegenwart richtig erkannt hat.« Das muß dem gegenübergestellt werden, was das Manifest gegen den Utopismus vorbringt. Und man darf dabei auch nicht vergessen, daß das Manifest nur zehn Jahre nach Fouriers Tode niedergeschrieben worden ist. Was Engels dreißig Jahre nach dem Manifest in seinem Buch gegen Dühring über eben dieselben »drei großen Utopisten« sagt und was bald danach mit einigen Ergänzungen in die wirkungsvolle Schrift »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« übergegangen ist, stellt lediglich eine Ausarbeitung dessen dar, was schon im Manifest steht. Es fällt sogleich auf, daß wieder nur dieselben drei Männer, »die Stifter des Sozialismus«, behandelt werden, eben jene, die »Utopisten« waren, »weil sie nichts anderes sein konnten zu einer Zeit, wo die kapitalistische Produktion noch so wenig entwickelt war«, jene, die genötigt waren, »sich die Elemente einer neuen Gesellschaft aus dem Kopfe zu konstruieren, weil diese Elemente in der alten Gesellschaft selbst noch nicht allgemein sichtbar hervortraten«. Waren in den dreißig Jahren zwischen Manifest und Anti-Dühring keine Sozialisten aufgetreten, die nach Engels’ Meinung zugleich die Bezeichnung »Utopisten« und Beachtung verdienten, denen aber jene mildernden Umstände nicht zuzubilligen waren, da zu ihrer Zeit die ökonomischen Verhältnisse bereits entwickelt waren und »die gesellschaftlichen Aufgaben« nicht mehr »verborgen lagen«? Um nur einen zu nennen, den größten freilich: von Proudhon, von dem Marx eins seiner frühen Bücher, »Die ökonomischen Widersprüche oder die Philosophie des Elends« noch vor dem Manifest in der berühmten Streitschrift bekämpft hatte, war inzwischen eine Reihe gewichtiger Werke erschienen, an denen eine wissenschaftliche Lehre von den gesellschaftlichen Verhältnissen und Aufgaben nicht vorübergehen durfte; gehörte auch er (dessen von Marx bekämpftem Buch übrigens das Kommunistische Manifest den Begriff der »sozialistischen Utopie« entnommen hatte) zu den Utopisten, aber eben zu denen, die nicht zu rechtfertigen waren? Wohl, im Manifest war er als Beispiel der »konservativen oder Bourgeois-Sozialisten« genannt worden, in der Streitschrift hatte Marx erklärt, Proudhon stehe tief unter den Sozialisten, »weil er weder genügend Mut, noch genügend Einsicht besitzt, sich, und wäre es nur spekulativ, über den Bourgeoishorizont zu erheben«, nach Proudhons Tod hatte er zuerst in einem öffentlichen Nekrolog ver-

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sichert, er müsse noch heute jedes Wort dieses Urteils unterschreiben, und ein Jahr danach in einem Brief ausgeführt, Proudhon habe »enormes Unheil angerichtet« und durch »seine Scheinkritik und seinen Scheingegensatz gegen die Utopisten« die Jugend und die Arbeiter bestochen. Aber wieder ein Jahr danach, neun Jahre vor der Niederschrift des AntiDühring, schreibt Engels in einer der sieben Rezensionen, die er über den ersten Band des »Kapitals« anonym veröffentlichte, daß Marx »den sozialistischen Bestrebungen die wissenschaftliche Unterlage geben wolle, die ihnen bisher weder Fourier noch Proudhon, noch auch Lassalle zu geben vermochte«, woraus klar hervorgeht, welchen Rang er Proudhon trotz allem zusprach. Wie nun aber gar einst, in der Zeit vor Marxens Streitschrift! 1844 hatten Marx und Engels (in der »Heiligen Familie«) in Proudhons Buch über das Eigentum einen wissenschaftlichen Fortschritt gefunden, »der die Nationalökonomie revolutioniert und eine wirkliche Wissenschaft der Nationalökonomie erst möglich macht«, sie hatten des weiteren erklärt, er schreibe nicht nur im Interesse der Proletarier, er selber sei Proletarier und sein Werk »ein wissenschaftliches Manifest des französischen Proletariats« von »historischer Bedeutung«. Und noch in einem anonymen Aufsatz vom Mai 1846 hatte Marx ihn als »Kommunisten« bezeichnet, und zwar in einem Zusammenhang, aus dem hervorgeht, daß Proudhon in seinen Augen damals, etwa ein halbes Jahr, ehe die Streitschrift begonnen wurde, noch ein repräsentativer Kommunist war. Was war inzwischen geschehen, was Marx zu einer so gründlichen Änderung seines Urteils bewegen konnte? Gewiß, Proudhons »Contradictions« war erschienen; aber dieses Buch stellt keineswegs eine entscheidende Änderung in seinen Anschauungen dar, – auch die heftige Polemik gegen die kommunistische (damit meint Proudhon, was wir mit »kollektivistisch« bezeichnen) »Utopie« ist nur eine Ausgestaltung der Kritik der »Communauté«, die in der ersten – von Marx so gepriesenen – Abhandlung über das Eigentum, von 1840, zu lesen ist. Den »Contradictions« war aber Proudhons Ablehnung von Marxens Aufforderung zur Zusammenarbeit vorausgegangen. Deutlicher wird uns die Situation, wenn wir lesen, was Marx an Engels im Juli 1870 nach Kriegsausbruch schreibt: »Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so ist die Zentralisation der state power nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Übergewicht würde ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen, und man hat bloß die Bewegung von 1866 bis jetzt in beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehen, daß die deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der französischen überlegen ist. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die

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französische wäre zugleich das Übergewicht unserer Theorie über die Proudhons etc.« Es handelt sich also im eminenten Sinne um eine politische Haltung. So ist es denn als folgerichtig anzusehen, daß Engels bald danach in einer Polemik gegen Proudhon (»Zur Wohnungsfrage«) diesen als reinen Dilettanten bezeichnet, der Ökonomie unwissend und hilflos gegenüberstehend, der predige und lamentiere, »wo wir beweisen«. Dabei wird Proudhon deutlich als Utopist gekennzeichnet: die »beste Welt«, die er konstruiere, sei »schon in der Knospe zertreten durch den Fuß der fortschreitenden industriellen Entwicklung«. Ich habe bei diesem Gegenstand länger verweilt, weil sich daran am besten etwas Wichtiges klarstellen ließ. Ursprünglich hießen im Munde von Marx und Engels diejenigen Utopisten, deren Gedanken der entscheidenden Entwicklung von Industrie, Proletariat und Klassenkampf vorangegangen waren und dieser daher nicht Rechnung tragen konnten; hernach wurde der Begriff unterschiedslos auf alle angewandt, die ihr nach Meinung von Marx und Engels nicht Rechnung trugen, worunter die Späteren dies entweder nicht zu tun verstanden oder es nicht tun wollten oder beides zugleich. Die Bezeichnung »Utopist« ist seither die stärkste Waffe im Kampf des Marxismus gegen den nichtmarxistischen Sozialismus geworden. Es geht nicht mehr darum, jeweils gegen die gegnerische Ansicht die Richtigkeit der eigenen zu beweisen; generell findet man im eigenen Lager, grundsätzlich und ausschließlich, die Wissenschaft und somit die Wahrheit, generell im fremden, grundsätzlich und ausschließlich, die Utopie und somit den Trug. In unserer Epoche »Utopist« sein heißt: der modernen ökonomischen Entwicklung nicht gewachsen sein, und was die moderne ökonomische Entwicklung ist, lehrt der Marxismus. Von jenen »prähistorischen« Utopisten, Saint-Simon, Fourier und Owen, hatte Engels 1850 im »Deutschen Bauernkrieg« erklärt, der deutsche theoretische Sozialismus werde nie vergessen, daß er auf den Schultern dieser Männer steht, »die bei aller Phantasterei und bei allem Utopismus zu den bedeutendsten Köpfen aller Zeiten gehören und zahllose Wahrheiten genial antizipierten, deren Richtigkeit wir jetzt wissenschaftlich nachweisen«. Nun aber wird – und das ist politisch folgerichtig – die Möglichkeit gar nicht mehr in Betracht gezogen, daß eben jetzt Männer leben könnten, Bekannte und Unbekannte, welche Wahrheiten antizipieren, deren Richtigkeit künftig wissenschaftlich nachgewiesen werden wird, wogegen gegenwärtig »die Wissenschaft« – d. h. eine wissenschaftliche Richtung, die sich wie nicht selten, mit der Wissenschaft überhaupt identifiziert – sie für unrichtig zu halten entschlossen ist, wie es ja auch jenen »Stiftern des Sozialismus« zu ihrer Zeit widerfuhr. Jene waren eben Utopisten als Vorläufer, diese sind Uto-

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pisten als Hinderer. Jene bahnten der Wissenschaft den Weg, diese verstellen ihn ihr. Aber es genügt ja glücklicherweise, sie als Utopisten zu bezeichnen, um sie unschädlich zu machen. Es sei mir erlaubt, ein kleines persönliches Erlebnis als Beispiel dieser Methode – Zerschmetterung durch Etikettierung – anzuführen. Pfingsten 1928 fand in meinem damaligen Wohnort Heppenheim eine hauptsächlich aus den Kreisen der religiösen Sozialisten beschickte Aussprache* über die Frage statt, wie man von neuem die inneren Kräfte des Menschen nähren könne, auf denen der Glaube an die sozialistische Erneuerung beruht. In meiner Rede, in der ich besonders die gewöhnlich vernachlässigten höchst konkreten Fragen der Dezentralisation und der Arbeitsform behandelte, sagte ich: »Es geht nicht an, das als utopistisch zu bezeichnen, woran wir unsere Kraft noch nicht erprobt haben«. Das rettete mich nicht vor einer kritischen Bemerkung des Vorsitzenden, der mich einfach zu den Utopisten warf und solchermaßen erledigte. Damit aber der Sozialismus aus der Sackgasse komme, in die er sich verlaufen hat, muß unter anderem das »Utopisten«-Schlagwort auf seinen wahren Gehalt geprüft werden.

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Das Protokoll erschien 1929 in Zürich unter dem Titel »Sozialismus aus dem Glauben«.

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Den Utopien, die in die Geistesgeschichte des Menschengeschlechts eingegangen sind, erscheint auf den ersten Überblick das gemeinsam, daß sie Bilder sind, und zwar Bilder von etwas, was nicht vorhanden ist, sondern nur vorgestellt wird. Solche Bilder pflegt man im allgemeinen als Phantasiebilder zu bezeichnen; aber damit ist noch wenig gesagt. Diese Phantasie schweift nicht, sie wird nicht von wechselnden Eingebungen hin und her getrieben, sie zentriert tektonisch-fest um ein Erstes und Ursprüngliches, das auszubauen ihr auferlegt ist, und dieses Erste ist ein Wunsch. Das utopische Bild ist ein Bild dessen, was »sein soll«, wovon der Bildende wünscht, daß es sei. Und wieder pflegt man von Wunschbildern zu reden; aber auch damit ist nicht genug gesagt. Bei »Wunschbild« denken wir an etwas, was aus Tiefen des Unbewußten aufsteigt und als Traum, als Wachtraum, als »Anwandlung« die ungerüstete Seele überfällt und später wohl auch gar von ihr selber gerufen, heraufgeholt, ausgesponnen wird. Der bildschaffende utopische Wunsch in der Geistesgeschichte hat, wiewohl auch er, wie alles Bildschaffende, in der Tiefe verwurzelt ist, nichts vom Drang und nichts von der Selbstbefriedigung. Er ist an ein Überpersönliches gebunden, das mit der Seele kommuniziert, aber von ihr nicht bedingt ist. Was hier waltet, ist die Sehnsucht nach dem Rechten, das in religiöser oder philosophischer Schau, als Offenbarung oder als Idee, erfahren wird, und das sich seinem Wesen nach nicht im Einzelnen, sondern nur in der menschlichen Gemeinschaft als solcher realisieren kann. Die Schau des Seinsollenden ist, so unabhängig vom persönlichen Willen sie auch zuweilen erscheint, doch von einem kritischen Grundverhältnis zu der gegenwärtigen Beschaffenheit der Menschenwelt nicht zu trennen. Das Leiden an einer sinnwidrigen Ordnung bereitet die Seele für die Schau, und was sie in dieser empfängt, verstärkt und vertieft die Einsicht in die Verkehrtheit des Verkehrten. Die Sehnsucht nach der Verwirklichung des Geschauten gestaltet das Bild. Die Schau des Rechten in der Offenbarung vollendet sich in dem Bild einer vollkommenen Zeit: als messianische Eschatologie; die Schau des Rechten in der Idee vollendet sich in dem Bild eines vollkommenen Raums: als Utopie. Die erste greift ihrem Wesen nach über das Soziale hinaus, sie rührt ans Kreatürliche, ja ans Kosmische, die zweite bleibt ihrem Wesen nach auf den Umkreis der Gesellschaft beschränkt, wenn sie auch zuweilen eine innere Umwandlung des Menschen in ihr Bild einbezieht. Eschatologie bedeutet Vollendung der Schöpfung, Utopie

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Entfaltung der im Zusammenleben der Menschen ruhenden Möglichkeiten einer »rechten« Ordnung. Ein anderer Unterschied ist noch wichtiger. Für die Eschatologie geschieht – wenn sie auch in ihrer elementaren, prophetischen Form dem Menschen einen bedeutenden aktiven Anteil an dem Kommen der Erlösung zuspricht – der entscheidende Akt von oben, für die Utopie ist alles dem bewußten Menschenwillen unterworfen, ja man kann sie geradezu als ein Gesellschaftsbild bezeichnen, das so entworfen ist, als ob es keine anderen Faktoren als den bewußten Menschenwillen gäbe. Beide aber schweben nicht in den Wolken: wie sie im Hörer oder Leser das kritische Verhältnis zu seiner Gegenwart erwecken oder steigern wollen, so wollen sie ihm die Vollkommenheit zwar in der Leuchtkraft des Unbedingten, doch aber als etwas zeigen, wozu von seiner Gegenwart aus ein aktiver Weg führt. Und was als Begriff unmöglich erschiene, das erregt als Bild die Macht des Glaubens, bestimmt Vorsatz und Plan. Das tut es, weil es mit Kräften in den Tiefen der Wirklichkeit im Bunde ist. Eschatologie, soweit sie prophetisch ist, Utopie, soweit sie philosophisch ist, haben realistischen Charakter. Das Zeitalter der Aufklärung und was darauf folgt, hat die religiöse Eschatologie in zunehmendem Maße ihrer Wirkungssphäre beraubt: in zehn Generationen ist es dem Menschen immer schwerer geworden, daran zu glauben, daß in einem künftigen Zeitpunkt ein Akt von oben her die Menschenwelt erlösen, d. h. von einer sinnwidrigen in eine sinngemäße, von einer disharmonischen in eine harmonische verwandeln wird; dieses Unvermögen ist vielfach zu einem geradezu physischen erwachsen, in den sich zur Religion bekennenden Menschen nicht weniger als in den areligiösen, nur daß es dort durch den fortdauernden Traditionszusammenhang dem Bewußtsein verdeckt wird. Andererseits hat das Zeitalter der maschinellen Technik und des aufbrechenden sozialen Widerspruchs die Utopie tief beeinflußt. Unter dem Einfluß der pantechnischen Geistesrichtung wird auch die Utopie vielfach zu einer ganz und gar technischen; der bewußte Menschenwille, auf dem sie von je begründet war, wird nun technisch verstanden; wie die Natur, soll auch die Gesellschaft durch technische Berechnung und technische Konstruktion bewältigt werden. Die Gesellschaft aber hat sich nun in ihren Widersprüchen dem Menschen als unabweisbare Frage gestellt; alles Zukunftsdenken und Zukunftsplanen muß dieser die Antwort suchen, auch in der Utopie treten notwendigerweise politische und kulturelle Gestaltung zurück vor der Aufgabe, eine »richtige« Ordnung der Gesellschaft zu entwerfen. Aber hier erweist das soziale Denken seinen überlegenen Rang dem technischen gegenüber: die Utopie, die in technischer Phantasie

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schwelgt, findet eine Stätte nur noch in einer zumeist recht dürftigen Romangattung, in der kaum noch etwas von der Bildkraft der großen alten Utopien zu entdecken ist; jene hingegen, die den Aufriß eines vollkommenen Gesellschaftsbaus zu liefern unternimmt, wandelt sich zum System. In dieses aber, in das »utopische« Sozialsystem geht nun die ganze Kraft des depossedierten Messianismus ein. Das Sozialsystem des modernen Sozialismus und Kommunismus hat wie die Eschatologie den Charakter der Verkündigung und des Aufrufs. Gewiß war schon Platon von dem Verlangen bewegt, eine der Idee gemäße Wirklichkeit zu stiften, gewiß suchte auch er schon bis an sein Ende mit nicht ermattender Leidenschaft nach menschlichen Werkzeugen der Verwirklichung; aber erst mit den modernen Sozialsystemen setzt diese intensive Verwebung von Lehre und Aktion, Entwurf und Experiment ein. Für Thomas Morus war es noch möglich, ernste Unterweisung mit unverbindlichem Spiel zu mischen und mit überlegener Ironie die Darstellung »sehr absurder« Einrichtungen mit der von solchen abwechseln zu lassen, die er »eher wünscht als hofft« nachgeahmt zu sehen; für Fourier ist das nicht mehr möglich, hier ist alles praktische Folgerung und logischer Entschluß, da es darum geht, »endlich aus einer Zivilisation zu treten«, die »weit entfernt, die soziale Bestimmung des Menschen zu sein, nur eine Kinderkrankheit des Menschengeschlechts ist«. Die wirkungsvolle Polemik von Marx und Engels hat dazu geführt, daß wie innerhalb so auch außerhalb des Marxismus die Bezeichnung »utopisch« für einen Sozialismus geläufig wurde, der an die Vernunft, an die Gerechtigkeit, an den Willen des Menschen zur Einrenkung seiner aus den Fugen gekommenen Gesellschaft appelliert, statt lediglich in das aktive Bewußtsein zu heben, was sich bereits im Schoße der Produktionsverhältnisse dialektisch bereitet hat. Als utopisch gilt aller voluntaristische Sozialismus. Es ist jedoch keineswegs so, daß der ihm gegenüberstehende Sozialismus, den man den nezessitaristischen nennen kann, weil er nichts weiter zu fordern erklärt, als das Entwicklungsnotwendige ins Werk zu setzen, utopiefrei wäre. Die utopischen Elemente in ihm sind freilich anderer Art und stehen in anderem Zusammenhang. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß die Kraft der depossedierten Eschatologie sich um die Zeit der französischen Revolution in Utopie umgesetzt hat. Es gibt aber, wie angedeutet, zwei Grundformen der Eschatologie: eine prophetische, die die Bereitung der Erlösung in jedem gegebenen Augenblick in einem nicht zu bestimmenden Maße in die Entscheidungsmacht jedes angeredeten Menschen stellt, und eine apokalyptische, für die der Erlösungsprozeß in all seinen Einzelheiten, nach Stunde und Verlauf, von urher festgesetzt ist und zu seinem Vollzug die

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Menschen nur als Werkzeug verwendet werden: ihnen darf immerhin vorweg das unwandelbar Feststehende »aufgedeckt«, enthüllt, ihre Funktion ihnen angewiesen werden. Die erste dieser Grundformen stammt aus Israel, die zweite aus dem alten Iran. Die Auseinandersetzungen, Ausgleiche, Mischungen und Entmischungen zwischen ihnen sind ein wichtiges Stück der inneren Geschichte des Christentums. In der sozialistischen Säkularisierung der Eschatologie wirken sie sich getrennt aus: die prophetische Grundform in einigen der Systeme der sogenannten Utopisten, die apokalyptische insbesondere im Marxismus (womit nicht gesagt sein soll, daß in diesen kein prophetisches Element eingegangen sei: es ist aber vom apokalyptischen überwältigt worden). Der Glaube an den Weg der Menschheit durch den Widerspruch zu dessen Überwindung nimmt bei Marx die Gestalt der Hegelschen Dialektik an, wie er sich einer wissenschaftlichen Erforschung der Wandlungen des Produktionsprozesses bedient; aber das Sehen der kommenden wie der geschehenen Umwälzungen »in der Kette der absoluten Notwendigkeit«, wie Hegel sagt, ist nicht von diesem übernommen. Marxens apokalyptische Grundhaltung ist reiner und stärker als die eines eigentlichen Zukunftsantriebs entbehrende Hegels; mit Recht hat Franz Rosenzweig darauf hingewiesen, daß Marx Hegels historischen Schicksalsglauben treuer als Hegel selbst bewahrt hat: »keiner als er hatte es mit Augen gesehen, wo und wie und in welcher Gestalt die Endzeit am Himmel der Geschichte heraufzog«. Der Punkt, an dem bei Marx die utopisierte Apokalyptik aufbricht und alle ökonomisch-wissenschaftliche Topik in reine Utopik umschlägt, ist die Wandlung aller Dinge nach der sozialen Revolution. Die Utopie der sogenannten Utopisten ist vorrevolutionär, die marxistische ist nachrevolutionär. Das »Absterben« des Staates, »der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit« ist zwar noch dialektisch begründet, aber wissenschaftlich nicht mehr. Es kann, wie ein marxistischer Denker, Paul Tillich, sagt, »in keiner Weise aus der gegebenen Wirklichkeit verständlich gemacht werden«, »zwischen Wirklichkeit und Erwartung liegt der Abgrund«; »aus diesem Grunde hat der Marxismus trotz seiner Utopiefeindlichkeit niemals den Verdacht eines verborgenen Utopieglaubens von sich abwehren können«. Oder mit den Worten eines anderen marxistischen Soziologen, Eduard Heimann: »Mit Menschen wie sie sind ist ein Absterben des Staates unvorstellbar. Beim Rechnen auf eine radikale und innerlichste Änderung der menschlichen Natur überschreiten wir die Grenzen der empirischen Forschung und betreten den Bereich der prophetischen Schau, wo die wahre Bedeutung und die providentielle Bestimmung des Menschen in stammelnden Metaphern umschrieben werden.« Was aber

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für uns von entscheidender Bedeutung ist, das ist der Unterschied zwischen diesem Utopismus und dem der nichtmarxistischen Sozialisten. Wir werden ihn noch genauer zu betrachten haben. Wenn wir das untersuchen, was die marxistische Kritik als das Utopische in den nichtmarxistischen Sozialsystemen bezeichnet, finden wir daß es keineswegs etwas Einfaches und Einheitliches ist. Es sind da deutlich zwei verschiedene Elemente zu unterscheiden. Das Wesen des einen ist schematische Fiktion, das Wesen des zweiten organische Planung. Das erste, wie es uns insbesondere bei Fourier entgegentritt, entstammt einer gleichsam abstrakten Einbildungskraft, die aus einer Theorie vom Wesen des Menschen, seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen eine Gesellschaftsordnung ableitet, welche alle Fähigkeiten beschäftigen und alle Bedürfnisse befriedigen soll; die Theorie wird bei Fourier zwar durch eine Unmenge von Beobachtungsstoff gestützt, aber jede Beobachtung bekommt, sowie sie in diese Sphäre eintritt, etwas Irreales und Unzuverlässiges; und in der Gesellschaftsordnung, die vorgibt, soziale Architektur zu sein, aber in Wahrheit gestaltloses Schema ist, haben, wie Fourier selber sagt, »alle Probleme dieselbe Lösung«, d. h. sie werden aus Problemen im Leben von Menschen zu den Scheinproblemen im Daseinsablauf von Trieb-Automaten, Scheinproblemen, die dieselbe Lösung vertragen, weil sie sich aus derselben mechanistischen Disposition ergeben. Ganz anderer, ja geradezu entgegengesetzter Natur ist das zweite Element. Hier waltet die Absicht, von einer unbefangenen, undogmatischen Erkenntnis des gegenwärtigen Menschen und der gegenwärtigen Verhältnisse aus eine Wandlung beider anzubahnen, um die Widersprüche, die das Wesen unserer Gesellschaftsordnung ausmachen, zu überwinden. Ihren Ausgangspunkt unbedingt in der Tatsächlichkeit der gegenwärtigen Gesellschaftssituation nehmend, achtet diese Geistesrichtung mit einer von keiner dogmatischen Anwandlung beirrten Klarheit des Blicks auf die in der Tiefe der Wirklichkeit noch verborgenen, von den offenkundigen und mächtigen noch verdunkelten Tendenzen, die auf eben jene Wandlung hinwirken. Mit Recht hat man gesagt, in einem positiven Sinn sei jeder planende Verstand utopisch. Hinzuzufügen ist, daß der planende Verstand jener sozialistischen »Utopisten«, von denen hier die Rede ist, seinen positiven Utopismus eben darin bewährt, daß er an jedem Punkt um die Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit der in jeder Zeit wahrnehmbaren Entwicklungstendenzen weiß oder sie zumindest ahnt, über der Einsicht in die herrschenden die Entdeckung der von ihnen verhüllten Tendenzen nicht vernachlässigt und diese danach befragt, ob und inwieweit sie und gerade sie auf eine Ordnung

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abzielen, in der die Widersprüche der gegenwärtigen Gesellschaft wahrhaft überwunden werden. In dem eben Dargelegten sind einige Momente enthalten, die sowohl an sich wie zur Abgrenzung gegen den Marxismus noch weiterer Klärung und Ergänzung bedürfen. Im Lauf der Entwicklung des sogenannten utopischen Sozialismus hat sich bei seinen führenden Vertretern immer stärker die Überzeugung herausgebildet, daß weder die soziale Problematik noch ihre Lösung auf einen Nenner zu bringen ist und daß jede, auch die geistig bedeutendste Vereinfachung beides, Erkenntnis und Handeln, ungünstig beeinflußt. Als Marx 1846, etwa ein halbes Jahr ehe er die Streitschrift gegen Proudhon begann, diesen zu Mitarbeit an einer »Korrespondenz« aufforderte, die »einem Ideenaustausch und einer unparteiischen Kritik« dienen sollte, und für die – so schreibt Marx – »hinsichtlich Frankreichs wir alle glauben, daß wir keinen besseren Korrespondenten als Sie finden können«, erhielt er zur Antwort: »Suchen wir gemeinsam, wenn Sie wollen, die Gesetze der Gesellschaft, die Art, wie sich die Gesetze verwirklichen, aber um Gottes willen, nachdem wir alle diese Dogmatismen a priori abgetragen haben, denken wir nicht daran, nun unsererseits das Volk in Doktrinen zu wickeln. Verfallen wir nicht in den Widerspruch Ihres Landsmanns Martin Luther, der, nachdem er die katholische Theologie umgestürzt hatte, unverzüglich daran ging, unter großem Aufgebot von Exkommunikationen und Anathemas eine protestantische Theologie zu gründen … Machen wir uns nicht, weil wir an der Spitze einer Bewegung stehen, zu Häuptern einer neuen Intoleranz, gebärden wir uns nicht als Apostel einer neuen Religion, und wäre diese Religion auch die Religion der Logik, die Religion der Vernunft.« Hier geht es im wesentlichen um die politische Methode, aber aus vielen Äußerungen Proudhons ist zu entnehmen, daß er auch das Ziel im selben Licht der Freiheit und Vielfältigkeit sah. Und fünfzig Jahre nach jenem Brief faßt Kropotkin die Grundanschauung des Ziels in einem Satz zusammen: die vollständigste Entwicklung der Individualität solle sich »mit der höchsten Entwicklung der freiwilligen Gesellung unter allen Aspekten, in allen möglichen Graden, zu allen möglichen Zwecken verknüpfen: einer immer wechselnden Gesellung, die in sich selbst die Elemente ihrer Dauer trägt, und die die Formen annimmt, welche in jedem Augenblick den vielfältigen Strebungen aller am besten entsprechen.« Das ist genau das, was schon Proudhon in der Reife seines Gedankens wollte. Man mag dagegen halten, daß auch das marxistische Endziel nicht wesentlich anders beschaffen sei; aber hier klafft eben ein nur durch jene besondere marxistische Utopik überbrückbarer Abgrund zwischen der künftigen, irgendwann, nie-

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mand weiß wie lange Zeit nach dem endgültigen Sieg der Revolution sich vollziehenden Wandlung einerseits und dem Weg zur Revolution und durch sie anderseits, welcher Weg durch den restlosen, keinen Sonderaspekt und keine Sonderinitiative duldenden Zentralismus gekennzeichnet ist. Uniformie als Weg schlägt geheimnisvoll in Mannigfaltigkeit als Ziel, Zwang als Weg geheimnisvoll in Freiheit als Ziel um. Demgegenüber will der »utopische« nichtmarxistische Sozialismus den mit seinem Ziel artgleichen Weg; er weigert sich daran zu glauben, daß man, sich auf den dereinstigen »Sprung« verlassend, das Gegenteil von dem zu bereiten habe, was man anstrebt; er glaubt vielmehr, daß man für das, was man anstrebt, im Jetzt den im Jetzt möglichen Raum schaffen muß, damit es im Dann sich erfülle; er glaubt nicht an den nachrevolutionären Sprung, aber er glaubt an die revolutionäre Kontinuität, genauer gesagt: an eine Kontinuität, innerhalb deren Revolution nur die Durchsetzung, Freimachung und Erweiterung einer bereits zum möglichen Maße erwachsenen Wirklichkeit bedeutet. Von einer anderen Seite betrachtet, kann dieser Unterschied eine fernere Klärung erfahren. Wenn wir die kapitalistische Gesellschaft, in der der Sozialismus entstanden ist, auf ihren Charakter als Gesellschaft hin erforschen, sehen wir, daß es eine in sich strukturarme, eine in sich immer strukturärmer werdende Gesellschaft ist. Unter Struktur einer Gesellschaft ist ihre Gesellschaftshaltigkeit, Gemeinschaftshaltigkeit zu verstehen: strukturreich ist eine Gesellschaft in dem Maße zu nennen, als sie sich aus echten Gesellschaften, d. h. aus Orts- und Werkgemeinschaften und aus deren stufenweisen Zusammenschlüssen aufbaut. Was Gierke von der genossenschaftlichen Einungsbewegung des Mittelalters sagt, gilt von jeder reichstrukturierten Gesellschaft: sie »kennzeichnet sich durch eine Neigung zur Erweiterung und Ausdehnung der Vereine, zur Herstellung von weiteren über der engeren Genossenschaft, von Bünden über den Einzelvereinen, von umfassenden Gesamtbünden, über den Sonderbünden«. An welchem Orte immer man den Bau einer solchen Gesellschaft untersucht, überall findet man das Zellengewebe »Gesellschaft«, d. h. ein lebensmäßiges Zusammengetansein, ein weitgehend autonomes, sich von innen her ausformendes und umformendes Miteinander von Menschen. Gesellschaft besteht eben ihrem Wesen nach nicht aus losen Individuen, sondern aus Gesellungseinheiten und ihren Gesellungen. Dieses ihr Wesen ist durch den Zwang der kapitalistischen Wirtschaft und ihres Staates fortschreitend ausgehöhlt worden, so daß der moderne Individualisierungsprozeß sich als Atomisierungsprozeß vollzog. Dabei blieben die alten organischen Formen großenteils in ihrem äußeren Bestande gewahrt, aber sie wurden hohl an Sinn und

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Seele: zerfallendes Gewebe. Nicht bloß, was man die Massen zu nennen pflegt, sondern die ganze Gesellschaft ist im wesentlichen amorph, ungegliedert, strukturarm. Darüber helfen auch die aus Zusammenschluß von wirtschaftlichen oder geistigen Interessen hervorgehenden Verbände nicht hinweg, deren stärkster die Partei ist: das Zueinanderkommen von Menschen in ihnen ist kein lebensmäßiges mehr, und die Kompensation für die verlorenen Gemeinschaftsformen, die man in ihnen sucht, kann in keinem gefunden werden. Diesem Zustand gegenüber, der die Gesellschaft zu einem Widerspruch in sich selbst macht, haben die »utopistischen« Sozialisten in zunehmendem Maße eine Restrukturierung der Gesellschaft angestrebt, – nicht, wie die marxistische Kritik meint, in einem romantischen Versuch, überwundene Entwicklungsstadien zu erneuern, sondern im Bunde mit den in den Tiefen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Werdens wahrnehmbaren dezentralistischen Gegentendenzen, aber auch im Bunde mit der langsam in der Tiefe der Menschenseele wachsenden innerlichsten aller Auflehnungen, der Auflehnung gegen die massierte oder kollektivierte Einsamkeit. Victor Hugo hat die Utopie »die Wahrheit von morgen« genannt. Die scheinbar zur Unzeitgemäßheit verurteilte Anstrengung des Geistes, die man utopischen Sozialismus nennt, bereitet wohl – einen in sich notwendigen, von der Macht der menschlichen Entscheidung unabhängigen Geschichtsablauf gibt es nicht – die künftige Struktur der Gesellschaft vor. Offenbar ist, daß es hier auch um Bewahrung noch erhaltener Gemeinschaftsformen und ihre Neuerfüllung mit Geist, ihre Erfüllung mit neuem Geiste gehen muß. Über dem Tor des marxistischen Zentralismus steht für unbestimmte Zeit die Inschrift, in die Engels einmal den tyrannischen Charakter des automatischen Mechanismus einer großen Fabrik zusammenfaßte: Lasciate ogni autonomia voi ch’entrate; der »utopische« Sozialismus kämpft für das innerhalb einer Restrukturierung der Gesellschaft jeweils mögliche Höchstmaß der Gemeinschaftsautonomie. »Es kann«, habe ich auf jener sozialistischen Tagung von 1928 gesagt, »Scheinrealisierungen des Sozialismus geben, unter denen sich das wirkliche Leben von Mensch zu Mensch nur wenig verändert. Wirkliches Miteinanderleben von Mensch zu Mensch kann nur da gedeihen, wo die Menschen die wirklichen Dinge ihres gemeinsamen Lebens miteinander erfahren, beraten, verwalten, wo wirkliche Nachbarschaften, wirkliche Werkgilden bestehen. Wir sehen etwa an dem russischen Realisierungsversuch, daß die Beziehungen der Menschen im wesentlichen unverändert bleiben, wenn sie in eine sozialistisch-zentralistische Machtordnung eingefügt sind, die das Leben der Personen und das Leben der natürlichen sozialen Gruppen determiniert. Natürlich können und wol-

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len wir nicht zum primitiven Agrarkommunismus und nicht zum Ständestaat des christlichen Mittelalters zurück. Wir müssen ganz unromantisch, ganz heute lebend, mit dem widerstrebenden Material unseres Geschichtstags echte Gemeinschaft aufbauen.«

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Die Ersten Ich habe darauf hingewiesen, daß es im »utopistischen« Sozialismus ein organisch-bauendes, organisch-planendes Element gibt, das auf eine Restrukturierung der Gesellschaft abzielt, und zwar nicht auf eine, die sich in einer unbestimmten Zukunft, nach dem »Absterben« des proletarischen Diktaturstaates vollzieht, sondern eine, die jetzt und hier, unter den jetzt und hier gegebenen Bedingungen beginnt. Wenn dies zutrifft, dann muß sich in der Geschichte des »utopistischen« Sozialismus eine Entwicklungslinie ebendieses Elements aufzeigen lassen. In der Geschichte des »utopistischen« Sozialismus treten drei Paare tätiger Denker hervor, von denen jedes in sich auf eigentümliche Weise generationsmäßig verbunden ist: Saint-Simon und Fourier, Owen und Proudhon, Kropotkin und Landauer. Mitten durchs mittlere dieser Paare geht der entscheidende Einschnitt, der die erste Phase dieses Sozialismus – die dem Übergang zum Hochkapitalismus entsprechende – von der zweiten, den Aufbruch des Hochkapitalismus begleitenden trennt; in der ersten trägt jeder der Denker einen einzigen konstruktiven Gedanken bei, und die Gedanken reihen sich, einander zunächst noch fremd und unzugänglich, aneinander, in der zweiten wird von Proudhon und seinen Nachfolgern die umfassende Synthese, die synthetische Idee der Restrukturierung ausgebildet. Jede Stufe steht an ihrer unauswechselbaren Stelle. Einige Ziffern sind zur Klärung des Generationsverhältnisses nicht unwichtig. Saint-Simon ist 12 Jahre vor Fourier geboren und 12 Jahre vor ihm gestorben, und doch gehören sie derselben Generation an, der vor der großen französischen Revolution geborenen und vor 1848 gestorbenen, – nur daß hier der jüngere, Fourier, seinem Wesensstil nach noch dem achtzehnten, der ältere, Saint-Simon, seinem Wesensstil nach schon dem neunzehnten Jahrhundert angehört. Owen ist vor der großen Revolution, Proudhon zur Zeit der Napoleonischen Triumphe geboren, sie gehören also ihrer Geburt nach verschiedenen Generationen an, aber der Tod, bei beiden sich zwischen 1848 und 1870 ereignend, vereinigt sie wieder in einer. Das gleiche wiederholt sich bei Kropotkin, der vor 1848, und Landauer, der 1870 geboren ist: beide sind bald nach dem ersten Weltkrieg gestorben. Saint-Simon – von dem der Begründer der Soziologie als Wissenschaft, Lorenz von Stein, mit Recht sagt, daß er die Gesellschaft (d. h. die Gesellschaft als solche, in ihrer Differenz gegen den Staat) »zum ersten Mal in ihrer Macht, in ihren Elementen und in ihren Widersprüchen halb verstanden, halb geahnt hat« – leistet den ersten und für seine Epo-

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che wichtigsten Beitrag. Die »Pubertätskrise«, in die das Menschengeschlecht eingetreten ist, bedeutet für ihn, daß »le régime industriel«, die Produzentenverfassung, an die Stelle der gegenwärtigen Verfassungen kommen soll. Wir können dies auch so formulieren: die Aufspaltung des sozialen Ganzen in zwei wesensverschiedene und einander widerstreitende Ordnungen, die Zwangsordnung des Staates und die spontane Ordnung der Gesellschaft, soll durch eine einheitliche Struktur ersetzt werden. Bisher stand die Gesellschaft unter einer »Regierung«, nun soll sie unter eine »Verwaltung« kommen, und die Verwaltung soll nicht wie jene einer der Gesellschaft gegenüberstehenden, aus »Legisten« und Militärs zusammengesetzten Schicht anvertraut sein, sondern den natürlichen Führern der Gesellschaft selber, den Führern ihrer Produktion. Es soll nicht mehr, wie es bei den geschichtlichen Umwälzungen geschah, eine Gruppe von Regierenden durch eine andere Gruppe von Regierenden verdrängt werden; was an Polizei nötig bleibt, bedingt keine Regierung im bisherigen Sinn. »Die Produzenten legen keinen Wert darauf, von irgendeiner Klasse von Parasiten statt irgendeiner andern geplündert zu werden … Es ist klar, daß der Kampf damit enden muß, daß er sich zwischen der gesamten Masse der Parasiten von einer Seite und der Masse der Produzenten abspielt, um darüber zu entscheiden, ob diese auch weiterhin die Beute jener sein oder die oberste Leitung einer Gesellschaft erlangen soll.« Die naive Aufforderung SaintSimons »an die Herren Arbeiter«, die Unternehmer zu ihren Führern zu machen, die den aktiven Teil der Kapitalisten mit den Proletariern in eine Klasse zusammenschmieden will, schließt trotz ihrer Wirklichkeitsfremdheit die Ahnung einer künftigen Ordnung ein, in der es keiner andern Führung mehr als der der gesellschaftlichen Funktionen selber bedarf und die Politik tatsächlich dazu geworden ist, was sie nach SaintSimons Definition ist: »die Wissenschaft von der Produktion«, d. h. von den für diese günstigsten Voraussetzungen. Regierungen können ihrem Wesen nach diese Politik nicht treiben; »die Regierung schadet stets der Industrie, wenn sie sich in ihre Angelegenheiten mengt, sie schadet ihr sogar in dem Fall wo sie Anstrengungen macht um sie zu ermutigen«. Nur eine Überwindung der »Regierung« als solcher kann die Gesellschaft aus der »äußersten Unordnung« führen, in der sie sich befindet, aus dem Zustand einer Nation, die »wesentlich industriell« und deren Regierung »wesentlich feudal« ist, aus der Teilung in zwei Klassen: »eine die befiehlt und eine die gehorcht« (der Saint-Simonist Bazard hat es bald nach dem Tod seines Meisters, 1829, noch schärfer formuliert: »zwei Klassen, die Ausbeuter und die Ausgebeuteten«). Die gegenwärtige Epoche ist eine des Übergangs nicht von einer Art der Verfassung zu

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einer andern, sondern von der Scheinordnung zu einer wahren Ordnung, in der »die Arbeit die Quelle aller Tugenden« und »der Staat die Genossenschaft der Arbeiter geworden ist« (Formel der Saint-Simonisten). Das kann nicht Sache eines einzelnen Volkes sein, die durch andre Völker bekämpft würde; in ganz Europa muß »das industrielle System« aufgerichtet und das feudale System, das in bürgerlicher Form fortbesteht, vernichtet werden. Das nennt Saint-Simon »européanisme«. Er versteht aber wohl, daß damit nicht Änderung des Verhältnisses zwischen Leitung und Geleiteten allein gemeint sein kann, daß die Änderung vielmehr die gesamte innere Struktur der Gesellschaft durchdringen muß. Der Augenblick, wo die industrielle Verfassung »reif« ist, d. h. wo die Gesellschaft für sie reif ist, kann »mit einer gewissen Genauigkeit durch diese grundlegende Bedingung festgesetzt werden: daß in der sehr großen Mehrheit des Volkes die Individuen in mehr oder weniger zahlreiche industrielle Assoziationen eingegangen sind, die untereinander je zwei, je drei usw. durch industrielle Beziehungen verknüpft sind, was ein allgemeines System zu bilden gestattet, indem man diese Assoziationen nach einem großen gemeinsamen industriellen Ziele lenkt, für das sie sich von selber gemäß ihren jeweiligen Funktionen koordinieren«. Hier kommt Saint-Simon dem Gedanken der Restrukturierung sehr nah. Was ihm fehlt, ist die Konzeption echter, organischer sozialer Einheiten, aus denen sich diese Restrukturierung aufbauen kann; der Begriff der »industriellen Assoziation« liefert nicht, was hier gefordert wird. Saint-Simon hat die Bedeutung der kleinen sozialen Einheit für den Umbau der Gesellschaft geahnt, aber nicht erkannt. Eben diese soziale Einheit ist für Fourier eins und alles. Er glaubte »das Geheimnis der Assoziation« gefunden zu haben, und in ihm sah er – diese Formel stammt aus derselben Zeit, um 1820, in der Saint-Simon seinem »industriellen System« die endgültige Formulierung gab – »das Geheimnis der Vereinigung der Interessen«. Charles Gide hat mit Recht darauf hingewiesen, daß Fourier sich damit gegen das Vermächtnis der französischen Revolution stellte, welche das Recht auf Assoziation bestritten und die Gewerkschaft verboten hat, und zwar sich deshalb dagegen stellte, weil aus der Zerbrechung der Cadres der alten Korporationen das »anarchische« Prinzip des freien Wettbewerbs hervorging, das, wie Fouriers bedeutendster Schüler, Considérant, 1843 in seinem Manifest über die Grundsätze des Sozialismus (von dem das Kommunistische Manifest anscheinend beeinflußt worden ist) vorhersagte, in den äußersten Gegensatz dessen, was mit seiner Einführung beabsichtigt war, nämlich in die »allgemeine Organisation der großen Monopole in allen Zweigen« münden mußte. Was Fourier diesem Prinzip gegenüberstellt, ist

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»l’association communale sur le terrain de la production et de la consommation« (wie wieder Considérant es 1848 formuliert), also die Bildung gemeindlicher sozialer Einheiten, die auf der Verbindung von Produktion und Konsum begründet sind. Das ist eine Neuformung der commune rurale, die als l’élément alvéolaire de la société angesehen wird, – ein Begriff, der freilich ebenfalls nicht bei Fourier selbst, sondern erst in seiner von Owen (den Fourier selbst nicht lesen wollte) mit beeinflußten Schule zu finden ist. Nur die freie und freiwillige Assoziation, so wird uns hier 1848 gesagt, könne das große organische Problem der Zukunft lösen, »das Problem der Organisation der neuen Ordnung, der Ordnung, in der der Individualismus sich spontan mit dem Kollektismus (so) verknüpfen wird«, nur auf diesem Wege könne »die dritte und letzte emanzipatorische Evolution der Geschichte« zustandekommen, die, nachdem die erste aus Sklaven Leibeigene und die zweite aus Leibeigenen Lohnarbeiter gemacht habe (diese Konzeption finden wir bei Bazard schon 1829), nun »die Aufhebung des Proletariats, die Verwandlung der Lohnarbeiter in Genossen, associés« bewirkt. Aber man wird in Fouriers eigenen Darstellungen seines Systems und Entwürfen seiner Projekte die konkrete Realisierung seines Gegenprinzips vergeblich suchen. Man hat sein Phalanstère mit einem großen Hotel verglichen, und in der Tat bietet es manche Ähnlichkeit mit jenen erst in unseren Tagen entstandenen, die einen möglichst großen Teil des Bedarfs durch eigene Produktion decken, – nur daß hier eben die Produktion durch die Hotelgäste selbst besorgt wird und daß statt der wenigen Minimalvorschriften, die wir aus Anschlägen in den Hotelzimmern kennen, ein mit mancherlei Reizungen ausgestattetes und grundsätzlich die freie Entscheidung unberührt lassendes, aber in sich lückenlos exaktes Gesetz alle Einzelheiten des Tageslaufs regelt; die oberste Instanz, der Areopag, befiehlt zwar nicht, sondern gibt nur Anweisungen, und jede Gruppe »handelt nach ihrem Willen«, aber dieser Wille »kann durchaus nicht von dem des Areopags abweichen, denn dieser ist puissance d’opinion«. So bizarr uns vieles in diesem Gesetz anmutet, so drücken sich darin doch auch wichtige und fruchtbare Einsichten aus, wie die der Abwechslung verschiedenartiger Tätigkeiten, eine Einsicht, in der Kropotkins Gedanke der »Arbeitsteilung in der Zeit« schon vorgebildet erscheint. Andererseits aber ist, gerade von hier aus betrachtet, das Phalanstère eine höchst unsozialistische Anstalt. Die Arbeitsteilung im sommerlichen Tageslauf des armen Lukas führt ihn vom Stall zu den Gärtnern, von da zu den Mähern, zu den Gemüsezüchtern, zu den Manufakturisten usw., die Arbeitsteilung im sommerlichen Tageslauf des reichen Mondor führt ihn von der »industriellen Parade« zur Jagd, von da zur Fischerei, zur Bi-

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bliothek, zu den Treibhäusern usw. Wenn man liest, die Armen müßten »einer abgestuften Wohlhabenheit genießen, damit die Reichen glücklich seien«, oder gar, nur durch »die äußerste Ungleichheit der Glücksgüter« komme man zu »diesem schönen Einvernehmen des Edelmutes«, nämlich zu dem Verzicht der Reichen auf den größten Teil ihrer Dividenden zugunsten von Arbeit und Begabung, dann merkt man, daß diese vom Prägstock einer mechanistischen Phantasie hergestellten Einheiten zu Unrecht den Anspruch erheben, Zellen einer neuen rechtmäßigen Ordnung zu sein. Für eine Restrukturierung der Gesellschaft wären sie aber schon ihrer Gleichförmigkeit halber – Stück für Stück, bei aller scheinbaren inneren Fülle, das gleiche Schema, die gleiche Maschinerie – durchaus ungeeignet. Die »allgemeine Harmonie« Fouriers, die Kosmos und Gesellschaft umfaßt, meint in der Gesellschaft nur eine zwischen den miteinander wohnenden Individuen, nicht eine zwischen den Einheiten (wiewohl manche sich freilich eine »Föderation der Phalangen« vorzustellen vermögen). Der Zusammenhang zwischen den Einheiten hat in dem System keinen Platz, jede ist eine Welt für sich, dieselbe Welt immer wieder, aber von der Attraktion, die das Weltall regiert, hören wir zwischen ihnen nichts, sie schließen sich nicht zu Verbänden, zu höheren Einheiten zusammen, ja, sie können es gar nicht, denn sie sind nicht, wie die Individuen, verschieden, sie ergänzen einander nicht und können daher auch nicht harmonieren. Der Gedanke Fouriers hat der kooperatistischen Bewegung und ihren Werken, insbesondere den Konsumvereinen, starke Antriebe gegeben, die konstruktive Idee des »utopistischen Sozialismus« hat ihn jedoch in sich nur aufnehmen können, indem sie ihn überwand. 1822 erschien Fouriers Hauptwerk, die »Abhandlung von der häuslich-landwirtschaftlichen Genossenschaft«, 1821 und 1822 Saint-Simons »Le système industriel«, von 1820 datiert Robert Owens 1821 erschienener »Bericht an die Grafschaft Lanark«, die ausgereifte Darstellung seines »Plans«. Aber Fouriers »La théorie des quatre mouvements et des destinées générales«, die sein System bereits in nuce enthält, erschien schon 1808, Saint-Simons »De la réorganisation de la société européenne« 1814, Owens theoretische Grundlegung seiner Pläne »A New View of Society« 1813 und 1814. Gehen wir weiter in der Zeit zurück, so stoßen wir alsbald nach Anfang des Jahrhunderts auf Saint-Simons Erstlingswerk, in dem die bevorstehende Krisis der Menschheit schon angesagt wird, und auf Fouriers Aufsatz über die allgemeine Harmonie, der als erste Skizze seiner Doktrin angesehen werden darf; zur gleichen Zeit aber finden wir Owen in rein praktischer Tätigkeit, als Leiter der Baumwollspinnerei von New Lanark, an der er vorbildliche soziale Einrichtungen

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schuf. Seine Lehre ist, ganz anders als bei Saint-Simon und Fourier, aus dieser Praxis, aus Versuchen und Erfahrungen hervorgegangen. Sie ist, gleichviel ob er etwas von Fouriers Theorien wußte oder nicht, geistesgeschichtlich seine Replik auf jene, die empirische Gegenlösung des Problems, die sich einer spekulativen gegenüberstellte. Die sozialen Einheiten, aus denen sich die Gesellschaft neu aufbauen soll, darf man hier als organische bezeichnen; es sind zahlenmäßig beschränkte, auf landwirtschaftlicher Grundlage errichtete Gemeinschaften, die von dem »Prinzip der Vereinigung von Arbeit, Verbrauch und Eigentum sowie gleicher Vorrechte« getragen sind und in denen alle Mitglieder »gegenseitige und gemeinsame Interessen« haben sollen. Schon hier sehen wir, wie Owen, zum Unterschied von Fourier, zu den einfachen Voraussetzungen echter Gemeinschaft vordringt, zu denen nicht notwendig ausschließliches Gemeineigentum, wohl aber eine Form der Verbindung und Vergenossenschaftung der Güter, und ebenso nicht notwendig eine Gleichheit des Verbrauchs, wohl aber die Gleichheit der Rechte und der Chancen gehört. »Gemeinschaftliches Leben«, sagt Tönnies von den geschichtlichen Formen der »Gemeinschaft«, d. h. des »dauernden und echten Zusammenlebens« der Menschen, »ist gegenseitiger Besitz und Genuß, und ist Besitz und Genuß gemeinsamer Güter«, mit anderen Worten: es ist gemeinsame Haushaltung, in der persönlicher neben gemeinsamem Besitz stehen kann, aber durch den Aufbau der gemeinsamen Wirtschaft (ganz anders als in dem Schema Fouriers) den persönlichen Besitzunterschieden enge Grenzen gezogen sind und infolge der Gegenseitigkeit, gegenseitigen Hilfe und Mitarbeit im umfassendsten Sinn, gegenseitigen Gebens und Nehmens, das besteht, was hier als »gegenseitiger Besitz und Genuß«, d. h. als angemessene Teilnahme der Mitglieder aneinander, bezeichnet ist. Eben diese Konzeption liegt Owens Plan zugrunde. (Später geht er weiter und zählt »Gemeinsamkeit des Eigentums und genossenschaftliche Vereinigung« unter die obersten Grundsätze der projektierten Siedlung.) Er verkennt nicht, daß es, um sie zu realisieren, einer großen erzieherischen Tätigkeit bedarf. »Man ist bisher noch nicht in Grundsätzen ausgebildet worden, die erlauben werden, vereint zu handeln, es sei denn um sie zu verteidigen und andere zu vernichten. Eine ebenso mächtige Notwendigkeit jedoch wird jetzt die Menschen nötigen ausgebildet zu werden, miteinander zu handeln, um zu schaffen und zu erhalten.« Owen weiß, daß es letztlich um eine Umwandlung der gesamten gesellschaftlichen Ordnung, insbesondere auch des Verhältnisses zwischen Regierenden und Regierten geht. »Das Interesse derer, die regieren, erschien stets, und wird unter den gegenwärtigen Systemen stets dem Interesse derer, über die sie regieren, ent-

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gegengesetzt erscheinen.« Dies muß so fortgehen, »solang der Mensch individualisiert bleibt«, d. h. solang die Gesellschaft sich nicht aus echten Zusammenhängen zwischen den Individuen aufbaut. Diese Wandlung wird sich in jedem einzelnen der geplanten Gemeinschaftsdörfer vollziehen, ehe sie von ihnen aus die Gesamtheit ergreift. Der Ausschuß, der das einzelne Dorf leitet, wird »eine permanente, erfahrene lokale Regierung bilden, die jeder regierten Person nicht entgegensteht, sondern ihr eng verbunden ist«. Gewiß bleiben zunächst die Probleme dessen, was Owen »die Beziehung der neuen Anstalten zur Regierung des Landes und zu der alten Gesellschaft« nennt, aber schon aus dieser Bezeichnung »die alte Gesellschaft« allein wird es deutlich, daß Owen an die neue Gesellschaft als an eine denkt, die mitten in der alten wächst und sie von innen her erneut. Dabei werden notwendigerweise verschiedene Entwicklungsstufen der neuen nebeneinander bestehen müssen. Ein charakteristisches Beispiel dafür liefert der von Owen inspirierte Satzungsentwurf der 1835 begründeten »Assoziation aller Klassen aller Nationen«, die sich bald danach mit einem in diesem Sinn eben erst aufgetauchten Namen »die Sozialisten« nennt. Von den drei Abteilungen dieser Assoziation haben die zwei untersten nur die Funktion von Konsumvereinen, wogegen die dritte und höchste eine Brüder- und Schwesternschaft aufbauen soll, die eine einzige, nur nach dem Alter unterschiedene Klasse der Produzenten und Konsumenten bildet, »ohne Priester, Advokaten, Militär, Käufer und Verkäufer«. Gewiß, das ist Utopie, aber eine von jener besonderen Art, ohne die keine »Wissenschaft« die Gesellschaft verwandeln kann. Die Entwicklungslinie, die von Saint-Simon zu Fourier und zu Owen führt, beruht nicht auf einer Abfolge in der Zeit; die drei Männer, die Engels die Stifter des Sozialismus nennt, haben etwa zur gleichen Zeit gewirkt; es ist, möchte man fast sagen, eine Entwicklung in der Gleichzeitigkeit. Saint-Simon setzt an: die Gesellschaft soll aus einer dualen eine einheitliche Ordnung werden, die Führung der Gesamtheit soll von den gesellschaftlichen Funktionen selber aus erfolgen, ohne daß sich die politische Ordnung als wesensverschiedene Sonderschicht darüberlegt. Darauf geben sowohl Fourier wie Owen die Antwort, dies sei nur von einer Gesellschaft aus möglich und zulässig, die auf der Zusammenlegung von Produktion und Konsum aufgebaut, d. h. aus Einheiten zusammengesetzt sei, in denen beide sich miteinander verbinden, somit aus kleineren Gemeinschaften, die in weitgehendem Maße für den Selbstverbrauch arbeiten. Die Antwort Fouriers besagt, jede dieser Einheiten solle hinsichtlich des Eigentums und des Anspruchs der Einzelnen wie die gegenwärtige Gesellschaft beschaffen sein, nur daß sie durch Ab-

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stimmung der Triebe und Tätigkeiten aus dem Widerspruch zur Harmonie gebracht wird. Die Antwort Owens hingegen besagt, die Wandlung der Gesellschaft müsse sich sowohl in ihrer Gesamtstruktur wie in jeder ihrer Zellen vollziehen: nur eine gerechte Ordnung der einzelnen Einheiten könne eine gerechte Gesamtordnung begründen. Dies ist die Stiftung des Sozialismus.

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Proudhon »Wenn die Widersprüche der Communauté und der Demokratie«, schrieb Proudhon 1844 in einem Brief, »einmal enthüllt, das Schicksal der Utopien Saint-Simons und Fouriers teilen werden, dann wird der Sozialismus, sich zur Höhe einer Wissenschaft erhebend, der Sozialismus, der nichts anderes ist als die politische Ökonomie, sich der Gesellschaft bemächtigen und sie mit unwiderstehlicher Gewalt ihrer ferneren Bestimmung zuschleudern … Der Sozialismus hat noch nicht das Bewußtsein seiner selbst; heute nennt er sich Kommunismus.« Der erste Satz erinnert in mancher Hinsicht an spätere Formulierungen Marxens. Drei Monate, ehe der Brief geschrieben wurde, war Marx in Paris dem fast zehn Jahre älteren Proudhon begegnet, um alsbald nächtelange Gespräche mit ihm zu führen. So wenig Proudhon auf die »utopistischen« Systeme zurückgreifen wollte, so sehr er zu wesentlichen Prinzipien dieser Systeme in Gegensatz stand, so setzte er doch die mit ihnen angehobene Entwicklungslinie fort. Er setzte die Linie fort, indem er sie neu begann, nur eben auf einer höheren Ebene, auf der alles bisherige schon vorausgesetzt wird. Dabei hatte er aber eine tiefe Scheu davor, selber ein neues System zu dem alten zu fügen. »System«, schrieb er 1849, »ich habe keins, ich will keins, ich lehne die Zumutung ausdrücklich ab. Das System der Menschheit wird erst am Ende der Menschheit bekannt sein …, was mich angeht, ist ihren Weg zu erkennen und, wenn ich vermag, ihn ihr zu bahnen.« Der wirkliche Proudhon ist sehr fern von dem, den Marx in der Streitschrift und früher schon in einem Brief an einen russischen Freund bekämpft, von dem Mann, wie es in dem Brief heißt, für den »Kategorien und Abstraktionen die primären Tatsachen sind«, »die treibenden Kräfte«, »welche Geschichte machen«, und die es genügt zu ändern, damit Änderungen im wirklichen Leben folgen. Diese Hegelisierung Proudhons trifft ins Leere. Kein Mensch hat redlicher und mächtiger als Proudhon die soziale Wirklichkeit seiner Zeit nach ihrem Geheimnis befragt. »Die ökonomischen Kategorien«, erklärt Marx in seiner Streitschrift, »sind nur die theoretischen Ausdrücke der sozialen Beziehungen der Produktion«, wogegen Proudhon, wie er sagt, in den Beziehungen nur die Verkörperungen dieser Prinzipien sehe; die bestimmten sozialen Beziehungen seien aber ebenso von den Menschen hervorgebracht wie das Tuch, die Leinwand usw. Mit Recht hat Proudhon an den Rand seines Exemplars der Streitschrift geschrieben: »Das ist genau das was ich sage. Die Gesellschaft bringt die Gesetze und die Stoffe ihrer Erfahrung hervor.« In einer späte-

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ren Schrift, einer seiner reifsten, »Le principe fédératif« (1863), spricht er die gleiche Erkenntnis von einer anderen Seite aus, wenn er von der Vernunft sagt, sie lenke die geschichtliche Bewegung zur Freiheit, aber unter der Bedingung, daß sie der Qualität der Kräfte Rechnung trägt und deren Gesetze respektiert. Proudhons Scheu vor den »Systemen« ist in seinem elementaren Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit begründet. Er sieht sie in ihren Gegensätzen und Widersprüchen und ruht nicht, bis er diese erkannt und ausgesprochen hat. Proudhon war ein Mann, der die Kraft und den Mut hatte, sich in den Widerspruch zu versenken und ihn auszuhalten. Er blieb zwar nicht darin, wie Unamuno meint, der ihn dieserhalb mit Pascal vergleicht; aber er blieb so lange darin, als nötig war, um ihn in seiner ganzen Grausamkeit zu erfassen, so lang als nötig war, um »den Kampf der Elemente, den Widerstreit der Gegensätze« im Gedanken voll auszutragen, und das war zuweilen zu lang, an der Kürze des Menschenlebens gemessen. Was Unamuno von Pascal sagt, daß seine Logik keine Dialektik, sondern eine Polemik war, gilt in einem gewissen Maße auch für Proudhon; was aber Unamuno weiter von Pascal sagt, daß er zwischen These und Antithese keine Synthese suchte, gilt für Proudhon in Wahrheit nicht. Er suchte keine Synthese im Hegelschen Sinn, keine Negation der Negation; er suchte, wie er 1844 in einem Brief sagt, »des résolutions synthétiques de toutes les contradictions«, und was damit eigentlich gemeint ist, ist, daß er den Weg suchte, den Ausweg aus dem ungemildert erkannten Widerspruch, aus den sozialen »Antinomien«, wie er sagte, indem er diesen Begriff aus der erkenntnistheoretischen Sphäre Kants in die soziologische versetzte. These und Antithese waren für ihn Kategorien, die sich nicht in verschiedenen historischen Epochen verkörpern, sondern koexistieren; er hatte von Hegel nur Formales, von dem Historiker Hegel aber fast nichts angenommen. Proudhon war (trotz aller historischen Exkurse) kein geschichtlicher, sondern ein sozialkritischer Denker; das war seine Stärke und seine Beschränkung. Die Erfassung des in der gegebenen sozialen Wirklichkeit erfaßbaren Widerspruches ist für ihn die erkenntnismäßige Voraussetzung für die Findung des Wegs. Darum stellt er die Tendenzen und die Gegentendenzen entwickelt nebeneinander und lehnt es ab, die eine der beiden Seiten zum Absoluten zu erheben. »Alle Ideen«, schreibt er in der »Philosophie des Fortschritts« (1851), »sind falsch, d. h. kontradiktorisch und unrationell, wenn man sie in einer ausschließlichen und absoluten Bedeutung faßt, oder wenn man sich von dieser Bedeutung hinreißen läßt«; jede Tendenz zur Ausschließlichkeit, zum Immobilismus ist eine Tendenz zum Untergang. Und wie keine geistigen, so dürfen auch keine materiellen Faktoren

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als mit absoluter Notwendigkeit waltend angesehen werden. Proudhon glaubt weder an die blinde Vorsehung von unten, die aus den technisch-materiellen Wandlungen das Heil der Menschheit braut, noch an den freischwebenden Menschengeist, der absolut gültige Systeme ersinnt und den Menschen auferlegt. Er sieht den eigentlichen Weg der Menschheit in der Befreiung vom falschen Absolutheitsglauben, von der Herrschaft der Fatalität. »Der Mensch will nicht mehr, daß man ihn mechanisiere. Sein Streben geht nach der Defatalisation.« Daher komme auch »der allgemeine Widerwille gegen alle Utopien politischer Organisation und sozialen Glaubens«, worunter Proudhon (1858) Owen, Fourier und den Saint-Simonisten Enfantin, aber auch Auguste Comte anführt. Kein geschichtliches Prinzip kann, so lehrt Proudhon, in einem gedanklichen System zureichend erfaßt werden, aber jedes bedarf der Deutung, jedes kann recht gedeutet und mißdeutet werden; und die Deutungen wirken auf den geschichtlichen Weg des Prinzips unmittelbar oder mittelbar ein. Dabei muß aber als erschwerend beachtet werden, daß in keiner Zeit ein einzelnes Prinzip alleinherrschend ist. »Alle Prinzipien«, schreibt Proudhon in seinem nachgelassenen Werk über Cäsarismus und Christentum, »sind in der Geschichte gleichzeitig wie in der Vernunft.« Sie haben nur zu verschiedenen Epochen verschiedene Stärke im Verhältnis zueinander. In der Zeit des Ringens eines Prinzips um die Hegemonie kommt es wesentlich darauf an, daß es in seinem echten Wesen und nicht in einer Verzerrung in das Bewußtsein der Menschen eingehe und auf ihren Willen einwirke. Das »soziale Zeitalter«, das sich mit der französischen Revolution angesagt hat – und dem freilich zunächst noch eine Übergangszeit, die »Ära der Verfassungen«, vorausgeht, wie die augusteische Epoche der christlichen vorausgeht: als eine Erneuerung, aber nicht eine in die Tiefe der Existenz reichende –, ist durch die Vormacht des ökonomischen Prinzips über die der Religion und der Regierung gekennzeichnet. Dieses Prinzip ist es, »das unter dem Namen des Sozialismus Europa mit einer neuen Revolution aufrührt, welche, nachdem sie die föderative Republik der zivilisierten Staaten erreicht haben wird, die Einheit und Solidarität der menschlichen Gattung auf der ganzen Fläche des Erdballs organisieren soll«. Es kommt heute wesentlich darauf an, das ökonomische Prinzip in seinem echten Wesen zu erfassen, um verhängnisvolle Kämpfe zwischen ihm und einer seinen Begriff usurpierenden Entstellung zu verhüten. Proudhon hat wie gesagt die Entwicklungslinie des »utopistischen« Sozialismus nicht einfach fortgesetzt, sondern er hat von vorn angefangen, so aber, daß das Bisherige verarbeitet und neugestaltet erschien. Er setzt insbesondere nicht an dem Punkt an, wo Saint-Simon aufhörte,

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sondern er stellt Saint-Simons Forderung nach einem auf der Wirtschaft aufgebauten und durch ihre Gliederungen bestimmten Regime von neuem, in einer neuen, weiter umfassenden und zu größerer Tiefe der sozialen Wirklichkeit vordringenden Weise. Saint-Simon ging von der Reform des Staates aus, Proudhon von der Wandlung der Gesellschaft. Eine echte Neugestaltung der Gesellschaft kann nur von einer grundlegenden Änderung des Verhältnisses zwischen sozialer und politischer Ordnung aus geschehen. Es kann nicht mehr um die Ersetzung einer politischen Verfassung durch eine andere gehen, sondern an die Stelle der der Gesellschaft aufgepfropften politischen Verfassung muß ihre eigene treten. »Die erste Ursache aller Unordnungen«, sagt Proudhon, »die die Gesellschaft heimsuchen, der Unterdrückung der Bürger und des Verfalls der Nationen, besteht in der einzigen und hierarchischen Zentralisation der öffentlichen Gewalten … es ist not so bald als möglich diesem ungeheuren Parasitismus ein Ende zu machen«. Es wird uns nicht erklärt, seit wann und warum dieses Anliegen so drängend geworden ist, aber wir können dies leicht ergänzen, wenn wir uns zwei Dinge vergegenwärtigen. Erstens: solange die Gesellschaft reich strukturiert war, solange sie sich aus mannigfachen Gemeinschaften und Gemeinschaftsverbänden, beide von starker Vitalität, aufbaute, war der Staat eine Mauer, die den Blick beengt und die Schritte hemmt, innerhalb deren aber das spontane gemeinschaftliche Leben sich tummeln und sich formen kann; in dem Maße, wie die Struktur verarmte, ist er zum Gefängnis geworden. Und zweitens: ebendiese strukturarme Gesellschaft ist in der französischen Revolution zum Selbstbewußtsein, zum Bewußtsein ihres Seins als Gesellschaft in der Abhebung vom Staate erwacht und kann nun ihre Restrukturierung nur von der Beschränkung der gesellschaftsfremden Ordnung auf die von der Gesellschaft selber nicht zu leistenden Funktionen erwarten, wogegen die eigentliche Führung der Geschäfte aus der arbeitenden Gesellschaft selber erwächst und sich ihre eigenen Organe schafft. »Die Begrenzung der Aufgabe des Staates ist eine Frage von Leben und Tod für die Freiheit, die kollektive und die individuelle.« Es wird hier schon deutlich, daß der Grundgedanke Proudhons kein individualistischer ist. Was er dem Staate entgegenhält, ist nicht das Individuum als solches, sondern das Individuum im organischen Zusammenhang seiner Gruppe, die Gruppe als freiwilliger Zusammenschluß der Individuen. »Seit der Reformation, insbesondre seit der französischen Revolution, ist ein neuer Geist über der Welt aufgegangen. Die Freiheit hat sich dem Staat gegenübergestellt, und da ihre Idee schnell allgemein wurde, hat man verstanden, daß sie nicht bloß die Sache des Individuums ist, daß sie vielmehr auch in der Gruppe existieren muß.« In den frühen Schrif-

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ten Proudhons überwiegt noch eine Art von Individualismus, doch weiß er schon: »Durch das Monopol hat das Menschengeschlecht den Erdball in Besitz genommen, durch die Assoziation wird sie völlig sein Herr werden.« Im Lauf von Proudhons Entwicklung aber tritt der Individualismus (bei aller Schonung des bäuerlichen Individualbesitzes) immer mehr zurück gegen eine Anschauung, in der das problematische Verhältnis zwischen Person und Gesamtheit durch die aus der Kraft der inneren Beziehungen lebendige und weitgehend autonome Gruppe – Gemeinde oder Genossenschaft – ausbalanciert wird. Ohne daß bei Proudhon der strukturalistische Gesichtspunkt als solcher zum Ausdruck gelangt, merken wir, daß er ihm immer näher kommt: sein Antizentralismus wird immer mehr zum Kommunalismus und Föderalismus (der freilich, wie er 1863 in einem Briefe schreibt, »dreißig Jahre in seinen Adern gekocht hat«), d. h. er wird immer strukturalistischer. Die hohe Zentralisation, schreibt er 1860, soll, »durch die föderalistischen Institutionen und die kommunalen Sitten ersetzt«, verschwinden. Beachtenswert ist hier die Verbindung der zu schaffenden neuen Einrichtungen, den »Institutionen«, und der zu erhaltenden Gemeinschaftsformen, der »Sitten«. Wie stark Proudhon den amorphen Charakter der heutigen Gesellschaftsordnung empfunden hat, erkennt man vielleicht am besten in seiner Stellungnahme zur Frage des allgemeinen Wahlrechts. »Das allgemeine Wahlrecht«, sagt er in der kleinen Schrift über »Die Lösung des sozialen Problems« (1848), »ist eine Art von Atomismus, durch den der Gesetzgeber, da er das Volk in der Einheit seiner Wesenheit nicht sprechen lassen kann, die Bürger auffordert, ihre Meinung pro Kopf, viritim, auszudrücken, ganz wie der epikureische Philosoph den Gedanken, den Willen, den Verstand durch Kombinationen von Atomen erklärt.« Das Wahlrecht bedarf, wie Proudhon in seiner Rede in der Nationalversammlung 1848 sagte, eines »Organisationsprinzips«. Dieses Prinzip kann nur auf der faktischen Gliederung der Gesellschaft begründet sein. »Die Erhaltung der natürlichen Gruppen«, schreibt Proudhon 1863, »ist von der größten Wichtigkeit für die Ausübung des Wahlvermögens: es ist dies eine wesentliche Vorbedingung des Votums. Ohne sie gibt es keine Ursprünglichkeit, keinen Freimut, keine klar hervortretende Bedeutung in den Stimmen … Die Zerstörung der natürlichen Gruppen in der Wahltätigkeit wäre die moralische Zerstörung der Nationalität selber, die Verneinung des Gedankens der Revolution.« Die amorphe Basierung der Wahlen »zielt auf nichts geringeres ab als darauf, das politische Leben in den Städten, Kommunen und Departements zu vernichten und durch diese Zerstörung aller munizipalen und regionalen Autonomie das allgemeine Wahlrecht in seiner Entwicklung aufzuhalten«. Der Körper der

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Nation bildet dann nur noch ein Agglomerat von Molekülen, einen »Haufen Staub, den von außen ein ihm überlegener Gedanke, der zentrale Gedanke bewegt. Über lauter Suchen der Einheit haben wir die Einheit selber geopfert«. Erst als Ausdruck der faktischen Gliederung wird das allgemeine Wahlrecht, das jetzt »die Erstickung des öffentlichen Gewissens, der Selbstmord der Souveränität des Volkes« ist, verständig, sittlich und revolutionär werden. Voraussetzung ist freilich, daß »das Gleichgewicht der Dienstzweige organisiert und die Privilegien aufgehoben« werden. Proudhon verkennt keineswegs, daß für den Föderalismus »das wahre zu lösende Problem nicht das politische, sondern das wirtschaftliche« ist. »Was zu tun ist, um die Konföderation unzerstörbar zu machen«, sagt er, ist, das Wirtschaftsrecht »als Grundlage des föderativen Rechts und aller politischen Ordnung« zu erklären. Die Umbildung des Wirtschaftsrechts muß durch die Antwort auf zwei Fragen erfolgen, die sich an die Genossenschaften der Arbeiter stellen: ob die Arbeit durch sich selber, wie jetzt das Kapital, die Unternehmungen kommanditieren und ob Besitz und Leitung der Unternehmungen kollektiv werden können. »Von der Antwort auf diese Fragen«, sagt Proudhon in dem merkwürdigen Buch »Handbuch des Börsenspekulanten« (1853), »hängt die ganze Zukunft der Arbeiter ab. Ist die Antwort bejahend, dann öffnet sich der Menschheit eine neue Welt; ist sie verneinend, dann kann der Proletarier es sich gesagt sein lassen. Empfehle er sich Gott und der Kirche; in diesem Erdental gibt es für ihn keine Hoffnung.« Proudhons Entwurf der bejahenden Antwort ist der »Mutualismus« in seiner reifen Gestalt. »Es gibt Mutualität, Gegenseitigkeit«, schreibt er, »wenn in einer Industrie alle Arbeiter, statt für einen Unternehmer zu arbeiten, der sie bezahlt und ihr Produkt behält, für einander arbeiten und so zu einem gemeinsamen Produkt zusammenwirken, dessen Gewinn sie untereinander teilen. Dehnt nun das Prinzip der Gegenseitigkeit, das die Arbeit jeder Gruppe vereint, auf die Arbeitsgenossenschaften, als Einheiten gefaßt, aus, und ihr habt eine Form der Zivilisation geschaffen, die unter allen Gesichtspunkten, dem politischen, dem wirtschaftlichen, dem ästhetischen, sich völlig von den früheren Zivilisationen unterscheiden wird.« Dies ist Proudhons Lösung des Problems, das er so formuliert: »Alle assoziiert und alle frei«. Damit dies aber sei, darf die Assoziation nicht zum auferlegten System werden; vielmehr sind die Menschen nur so weit in den »Arbeitergenossenschaften« als »Herden der Produktion« zu assoziieren, als (so schreibt Proudhon 1864) »die Ansprüche der Produktion, die Billigkeit der Produkte, die Bedürfnisse des Konsums, die Sicherheit der Produzenten selbst es erfordern«. Indem sie sich solcherweise assoziieren, folgen die Arbeiter nur der »raison des choses« selbst

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und deshalb »können sie, bis in den Schoß der Genossenschaft hinein, ihre Freiheit bewahren«. Weil er so dachte, mußte sich Proudhon 1848 gegen die von Louis Blanc (wie ähnlich später von Lassalle) geforderten, vom Staat zu finanzierenden »sozialen Werkstätten« wenden. Er sieht in ihnen nur eine neue Form der Zentralisation. Es würde dann, sagt er, eine Anzahl großer Assoziationen geben, »in denen die Arbeiterschaft einregimentiert und endgültig durch die Staatsräson der Brüderlichkeit verknechtet würde, wie sie es in diesem Augenblick durch die Staatsräson des Kapitals zu werden im Begriff ist. Was hätten die Freiheit, das allgemeine Glück, die Zivilisation gewonnen? Nichts. Wir hätten Ketten gewechselt, und die soziale Idee hätte keinen Schritt getan; wir wären immer noch unter der gleichen Willkürherrschaft, um nicht zu sagen unter dem gleichen ökonomischen Fatalismus.« Proudhon spricht hier die Erkenntnis aus, die wir zwanzig Jahre später in theoretischer Fassung in Gierkes großem Werk wiederfinden. »Nur die freie Assoziation«, sagt Gierke, »schafft Gemeinheiten, in welchen die wirtschaftliche Freiheit fortbesteht. Denn die aus der Initiative und Gestaltgebung ihrer Glieder hervorgehenden Organismen erhöhen zugleich mit dem neubegründeten Gemeinleben das Individualleben der Glieder.« Der kommunistische Zentralismus erscheint Proudhon demgemäß als eine Abart des absolutistischen, zu einer ungeheuren, maschenlosen Vollständigkeit gesteigert. Dieses »diktatoriale, autoritäre, doktrinäre System geht von dem Grundsatz aus, das Individuum sei wesenhaft der Kollektivität untergeordnet; von ihr allein komme ihm sein Recht und sein Leben zu; der Bürger gehöre zum Staat wie das Kind zur Familie, er sei in seiner Gewalt und seinem Besitz, in manu, und schulde ihm Unterwerfung und Gehorsam in allen Dingen«. Wie es von hier aus zu begreifen ist, daß Marx (in einem für die Streitschrift bestimmten Satz, der aber nicht in sie aufgenommen worden ist) von Proudhon sagt, er sei »unfähig, die revolutionäre Bewegung zu verstehen«, so ist es von hier aus auch zu begreifen, daß Proudhon (in einer Tagebuchnotiz) Marx den »Bandwurm des Sozialismus« genannt hat. Im kommunistischen System soll das Gemeingut das Ende alles Besitzes, wie des persönlichen so auch des gemeindlichen und genossenschaftlichen, herbeiführen, die universale Assoziation alle Sonderassoziationen aufsaugen, die kollektive Freiheit alle korporativen, lokalen und privaten Freiheiten verschlingen. Das politische System des zentralistischen Kommunismus definiert Proudhon 1864 in denkwürdigen Worten: »Eine kompakte Demokratie, dem Anschein nach auf die Diktatur der Massen begründet, wo die Massen aber an Macht nicht mehr haben als nötig ist um die allgemeine Knechtschaft zu sichern, nach den folgenden Formeln und Grundsätzen, die

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dem alten Absolutismus entliehen sind: Unteilbarkeit der öffentlichen Gewalt, absorbierende Zentralisation, systematische Zerstörung alles individuellen, korporativen und lokalen Gedankens, der als Spaltungserreger gilt, inquisitorische Polizei«. Proudhon meint, wir seien von dem reinen zentralistischen Kommunismus, dem politischen und dem ökonomischen, nicht weit entfernt; aber er ist überzeugt, daß »nach einer letzten Krisis, auf den Anruf neuer Grundsätze, eine Bewegung in umgekehrter Richtung beginnen wird«. Das (erst kurz vor Proudhons Tod vollendete) Buch, in dem diese Worte stehen und dem er als einer Darlegung der »Idee der neuen Demokratie« eine besondere Wichtigkeit beimaß, das Buch »Von der politischen Fähigkeit der arbeitenden Klassen«, hat er, wie er sagt, unter der Inspiration des »Manifests der Sechzig« abgefaßt, der Wahlkundgebung einer größtenteils Proudhons Ideen nahestehenden Gruppe von Arbeitern (1861), des vierten in der Reihe der vier sozialistischen »Manifeste« (das erste ist das »Manifest der Gleichen« von Babeuf, das zweite das des Fourieristen Considérant, das dritte das »Kommunistische Manifest«) und dem ersten, das aus der Mitte des Proletariats selber hervorgegangen ist. In dieser Kundgebung, in der Proudhon ein »Erwachen des Sozialismus« in Frankreich und eine »Offenbarung des korporativen Bewußtseins« in der Arbeiterklasse begrüßte, wird unter anderem die Errichtung einer chambre syndicale gefordert, aber nicht einer, die, wie in einer »seltsamen Verwirrung« manche vorgeschlagen hätten (hier kehrt die Konzeption Saint-Simons wieder), einer aus Arbeitgebern und Arbeitern zusammengesetzten: »was wir verlangen, ist eine ausschließlich aus durch das allgemeine Wahlrecht gewählten Arbeitern zusammengesetzte Kammer, eine Kammer der Arbeit«. Diese Forderung legt für die Entwicklung des neuen sozialen Denkens von Saint-Simon zu Proudhon ein deutliches Zeugnis ab. Auf dem Weg von der Konzeption der Reorganisation der Gesellschaft zur Konzeption ihrer Restrukturierung hat Proudhon den entscheidenden Schritt getan. »Industrielle Verfassung« bedeutet noch nicht Strukturierung, aber »Föderalismus« bedeutet sie. Proudhon unterscheidet naturgemäß zwei Strukturarten, die ineinandergreifen: die wirtschaftliche als Föderation der Werkgruppen, die er »agrar-industrielle Föderation« nennt, und die politische, die auf einer Dezentralisation der Macht, auf der Teilung der Gewalten, auf der Gewährung eines möglichst hohen Maßes der Souveränität an die Kommunen und die regionalen Verbände, auf der möglichst weitgehenden Ersetzung der Bürokratie durch eine lockerere, direktere, sich von der natürlichen Gruppe aus aufbauende Führung der Geschäfte beruht. Die

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»Verfassungswissenschaft« läßt sich nach Proudhon in drei Sätze zusammenfassen: es gilt »1. mäßige, verhältnismäßig souveräne Gruppen zu bilden und sie durch einen Akt der Föderation zu vereinen; 2. in jedem föderierten Staat die Regierung nach dem Gesetz der Trennung der Organe organisieren, das will sagen: innerhalb der öffentlichen Gewalt alles trennen, was getrennt werden kann, alles bestimmen, was bestimmt werden kann, unter verschiedene Organe oder Funktionäre alles verteilen, was getrennt und bestimmt worden ist, nichts in der Ungeteiltheit belassen, die öffentliche Verwaltung mit allen Bedingungen der Öffentlichkeit und der Kontrolle umgeben; 3. anstatt die föderierten Staaten oder provinzialen und munizipalen Behörden in einer Zentralbehörde aufgehen zu lassen, die Befugnisse dieser auf die einfache Aufgabe allgemeiner Initiative, gegenseitiger Garantie und Überwachung zu beschränken«. Das Leben der Gesellschaft vollzieht sich in dem Zusammenschluß von Personen zu Gruppen, von Gruppen zu Verbänden. »Ebenso wie mehrere Menschen, indem sie ihre Anstrengungen zusammentun, eine Kollektivkraft hervorbringen, die an Qualität und Intensität der Summe ihrer respektiven Kräfte überlegen ist, so erzeugen mehrere Werkgruppen, die in Tauschbeziehung untereinander gebracht werden, eine Mächtigkeit höherer Ordnung«, die speziell als »die soziale Macht« anzusehen ist. Mutualismus, Aufbau der Wirtschaft auf der Gegenseitigkeit der Dienste, und Föderalismus, Aufbau der politischen Ordnung auf der Verbrüderung der Gruppen, sind nur zwei Seiten derselben Struktur. »Durch die Gruppierung der individuellen Kräfte und die Wechselbeziehung der Gruppen gewinnt die ganze Nation körperliche Gestalt.« Und aus den Völkern konstituiert sich eine wirkliche Menschheit als eine Föderation von Föderationen. Das Problem der Realisierung des Dezentralisationsgedankens hat Proudhon besonders in seiner »Theorie des Steuerwesens« (1861) behandelt. Er verkenne nicht, sagt er hier, daß die politische Zentralisation Vorteile bietet, aber sie koste viel. Sie leuchtet dem Volke ein, nicht bloß weil sie der kollektiven Eitelkeit schmeichelt, sondern auch weil »die Vernunft bei den Kindern und im Volk in allem die Einheit, die Einfachheit, die Gleichförmigkeit, die Identität, die Hierarchie, ebenso wie die Größe und die Masse sucht«, und darum ist die Zentralisation, nach deren Typus alle alten Reiche entstanden sind, ein wirksames Mittel der Disziplin geworden. »Das Volk liebt die einfachen Ideen und es hat recht. Unglücklicherweise ist diese Einfachheit, die es sucht, nur in den elementaren Dingen zu finden, und die Welt, die Gesellschaft, der Mensch sind aus unauflösbaren Elementen, aus gegensätzlichen Prinzipien und widerstrebenden Kräften zusammengesetzt. Organismus bedeutet Verwicklung, Vielheit

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bedeutet Widerspruch, Entgegensetzung, Unabhängigkeit. Das zentralistische System ist sehr schön an Größe, an Einfachheit und an Entwicklung; es mangelt ihm nur an einem: der Mensch gehört in ihm nicht mehr sich selber, er fühlt sich darin nicht, er lebt nicht darin, er kommt darin nicht in Betracht.« Aber die Idee und Forderung eines öffentlichen Wesens, in dem der Mensch sich selber gehören, in dem er sich fühlen, in dem er leben könnte, eines öffentlichen Wesens, das ihn als Menschen in Betracht zieht, schwebt nicht in einer unverbindlichen Gedankensphäre, sie ist mit Tatsachen und Tendenzen der sozialen Wirklichkeit im Bunde. Im modernen Rechtsstaat »bedürfen die verschiedenen Gruppen für eine Menge von Dingen keiner Befehlserteilung, sie sind fähig sich selber zu regieren, ohne andere Inspiration als ihr Gewissen und ihre Vernunft«. In jedem, nach den Grundsätzen des modernen Rechts organisierten Staat vollzieht sich eine fortschreitende Minderung der Regierungsaktion, eine Dezentralisierung. Und eine entsprechende Entwicklung ist auf der Seite der Wirtschaft zu erkennen. Die Entwicklung der Technik in unserem Zeitalter (darauf weist Proudhon schon 1855 in seinem Buch über die Reform des Eisenbahnwesens hin, aber es ist erst lange nach seinem Tode, durch die Motorisierung des Verkehrs und die in Aussicht stehende Elektrifizierung der Produktion, ganz aktuell geworden), tendiert dahin, die Zusammendrängung der Bevölkerung in den Großstädten unnötig zu machen; »die Auseinanderstreuung der Massen, ebenso wie ihre Neueinteilung, beginnt«. Das politische Gewicht muß allmählich von den Städten auf »die neuen landwirtschaftlichen und industriellen Gruppen« übergehen. Proudhon ist aber keineswegs der Meinung, daß der Prozeß der Dezentralisation auf den verschiedenen Gebieten bereits zur Reife gediehen sei. Im Gegenteil: auf dem Gebiet der Politik sieht er in Bewußtsein und Willen der Menschen eine gegenteilige Bewegung, die von schwerwiegender Bedeutung ist. »Ein Fieber der Zentralisation«, schreibt er 1861, »durchzieht die Welt; man möchte sagen, die Menschen seien dessen müde, was ihnen an Freiheit bleibt, und begehrten bloß es zu verlieren … Ist es das Bedürfnis nach Autorität, das sich überall kundtut, der Überdruß an der Unabhängigkeit, oder nur die Unfähigkeit sich selbst zu regieren?« Gegen dieses »Fieber«, gegen diese schwere Erkrankung des Menschengeistes, können nur die aufbauenden, restrukturierenden Kräfte helfen, die in der Tiefe walten. Ihr Ausdruck ist »die Idee«, von der Proudhon am Schluß einer politischen Schrift von 1863 sagt: »Diese Idee besteht, schon geht sie um«, aber, damit sie die verwirklichende Mächtigkeit gewinne, muß sie »aus den Eingeweiden der Situation hervorgehen«.

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Damals, auf der Höhe seiner Erkenntnis, nahm Proudhon keineswegs mehr an, daß diese Situation nah bevorstehe. Wir wissen aus einigen seiner Briefe von 1860, wie er sich die nächste Zukunft vorstellte. »Man darf sich«, schreibt er, »nicht mehr täuschen. Europa ist der Ordnung und des Gedankens müde; es tritt in die Ära der brutalen Kraft, der Verachtung der Grundsätze.« Und im gleichen Brief: »Dann wird der Große Krieg der sechs großen Reiche gegeneinander beginnen.« Einige Monate danach: »Die Gemetzel werden kommen, und die Entkräftung, die auf diese Blutbäder folgen wird, wird entsetzlich sein. Wir werden das Werk des neuen Zeitalters nicht sehen, wir werden in der Nacht kämpfen; man muß sich darauf einrichten, dieses Leben ohne allzuviel Traurigkeit zu ertragen, indem wir unsere Pflicht tun. Helfen wir einander, rufen wir einander im Dunkel an, und jedesmal, wo sich die Gelegenheit dazu bietet, üben wir Gerechtigkeit.« Und schließlich: »Heute ist die Zivilisation wirklich in einer Krisis, für die man in der Geschichte nur eine einzige Analogie findet: das ist die Krisis, die das Kommen des Christentums bestimmte. Alle Überlieferungen sind verbraucht, alle Glaubenslehren abgeschafft; dagegen ist das neue Programm noch nicht fertig, ich will damit sagen, daß es nicht in das Bewußtsein der Massen eingegangen ist; daher, was ich die Auflösung nenne. Dies ist der grausamste Augenblick in der Existenz der Gesellschaften … Ich mache mir geringe Illusionen und erwarte nicht morgen in unserem Lande wie durch einen Zauberschlag die Freiheit wiedererstehen zu sehn … Nein, nein; der Verfall, und zwar für eine Zeitdauer, deren Ende ich nicht anzusetzen vermag und die nicht kürzer als eine oder zwei Generationen sein wird, das ist unser Los … Ich werde nur das Übel sehen, ich werde mitten in der Finsternis sterben.« Aber es kommt eben darauf an, »unsere Pflicht zu tun«. Im gleichen Jahr hatte er an den Historiker Michelet geschrieben: »Man kommt da nur heraus durch eine vollständige Revolution in den Ideen und in den Herzen. Wir arbeiten daran, Sie und ich, an der Revolution; das wird unsre Ehre vor der Nachwelt sein, wenn sie sich unser entsinnt.« Und acht Jahre vorher hatte er den Vorschlag eines Freundes, nach Amerika auszuwandern, so beantwortet: »Hier, sage ich Ihnen, unter dem Säbel Bonapartes, unter der Zuchtrute der Jesuiten und dem Kneifer der Polizei, ist es, wo wir an der Emanzipation des Menschengeschlechts zu arbeiten haben. Es gibt für uns keinen günstigeren Himmel, keine fruchtbarere Erde.« Wie Saint-Simon, so hat, nur mit weit größerer Fülle und Bestimmtheit zugleich, Proudhon das Problem einer Restrukturierung der Gesellschaft in den Vordergrund gerückt, ohne es als solches zu behandeln. Und wie Saint-Simon die Frage nach den sozialen Einheiten, die als Zel-

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len einer neuen Gesellschaft dienen könnten, nicht gestellt hat, so läßt auch Proudhon sie im wesentlichen offen, wiewohl er ihr viel näher kommt. Dort sind es Zeitgenossen, hier Nachfolger, die eben diese Frage zum Hauptgegenstand ihres Forschens und Planens machen. Daß Proudhon sich mit ihr nicht intensiver befaßt hat, hat seinen Grund unter anderem in seinem Bedenken gegen die »Association« als von Staats wegen verordnetes uniformes Allheilmittel für alle Schäden der Gesellschaft, wie etwa Louis Blanc sie vorschlug: »soziale Werkstätten« wie in der Industrie so auch in der Landwirtschaft, vom Staate errichtet, finanziert und kontrolliert. Dabei muß beachtet werden, daß Louis Blancs Vorschläge – wenn nicht der Absicht, so doch dem Charakter nach – sozial-strukturelle sind: von der »Solidarität aller Arbeiter in derselben Werkstatt« schreitet er zur »Solidarität der Werkstätten in derselben Industrie« und hiervon zur »Solidarität der verschiedenen Industrien« vor. Auch sieht er die landwirtschaftliche Genossenschaft auf der Grundlage einer Verbindung von Produktion und Konsum aufgebaut: »um für die Bedürfnisse aller zu sorgen«, sagt er in seiner »Organisation der Arbeit« (1839), »würde man die Produkte der Arbeit aller zusammenlegen«, eine Form, in der er die sofortige Möglichkeit einer »radikaleren und vollständigeren« Anwendung des »Systems der brüderlichen Assoziation« erblickt. Proudhons Bedenken richteten sich wie gesagt gegen eine neue »Staatsräson«, also gegen die Uniformität, gegen die Ausschließlichkeit, gegen den Zwang. Die Genossenschaftsform schien ihm für die Industrie eher in Betracht zu kommen als für die Landwirtschaft, wo es ihm um die Erhaltung des Bauerntums ging (bei allen Wandlungen seiner Gedanken und Vorschläge hielt er hier nur an dem einen Prinzip fest, daß den Boden rechtmäßig der besitzt, der ihn bebaut); und auch für die Industrie nur in den Zweigen, deren Art sie entsprach, und für bestimmte Funktionen. Er weigerte sich, eine Neuordnung der Gesellschaft mit ihrer Uniformierung gleichzusetzen; Ordnung hieß für ihn gerechte Ordnung der Mannigfaltigkeit. Eduard Bernstein hat recht, wenn er sagt, Proudhon habe der wesentlich monopolistischen Genossenschaft bestritten, was er der mutualistischen Genossenschaft zuerkannte; Proudhon hatte eine tiefe Scheu vor allem »von oben« Kommenden, dem Volk Auferlegten, mit Vorrechten Ausgestatteten. Im Zusammenhang damit aber fürchtete er das Wuchern neuer kollektiver Egoismen, denn diese schienen ihm gefährlicher als die individuellen. Er sah die Gefahr, die jeder Produktivgenossenschaft droht, die für den freien Markt produziert: daß sie vom Geist des Kapitalismus, der rücksichtslosen Ausnutzung der Chancen und Konjunkturen, ergriffen wird. Die Bedenken waren schwerwiegend. Sie wurzelten in Proudhons Grundanschauung, die die

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Gerechtigkeit, als welche die Freiheit und die Ordnung miteinander verbindet und sie ausgleicht (es gibt nach ihm zwei Ideen, die Freiheit und die Einheit oder Ordnung – »man muß sich damit bescheiden, mit allen beiden zu leben indem man sie ausgleicht«: das Prinzip, das dies vermag, heißt Gerechtigkeit), zum Kriterium eines echten Sozialismus macht. Aber die von Proudhon verkündete Strukturform der kommenden menschlichen Gesellschaft, die Strukturform, in der sich der Ausgleich von Freiheit und Ordnung darstellt und die er Föderalismus nannte, forderte von ihm, daß er sich nicht bloß (was er tat) mit den großen Einheiten befasse, die sich föderieren sollten, mit den Völkern, sondern auch mit den kleinen, deren föderativen Zusammenschluß erst in Wahrheit das Volk konstituieren würde. Diese Forderung hat Proudhon nicht erfüllt. Er hätte sie nur erfüllen können, wenn er von ihr aus die Erwiderung auf seine eigenen Bedenken gesucht hätte, das heißt, wenn er sein bestes Denken an das Problem gewandt hätte, wie Assoziation so zu fördern und zu ordnen sei, daß die in ihr ruhende Gefahr, wenn auch nicht gebannt, so stark gemindert werde. Da er das nicht zulänglich getan hat, so Wichtiges auch mit seinem Prinzip des Mutualismus in dieser Richtung getan ist, finden wir bei ihm auf unsere Frage »Welche Einheiten föderieren sich zu einer echten Volksordnung?« oder genauer »Wie müssen die Einheiten beschaffen sein, damit sie sich zu einer echten Volksordnung, zu einer neuen gerechten Gesellschaftsstruktur föderieren können?« keine zureichende Antwort. Und so mangelt es Proudhons Sozialismus an einem Wesentlichen. Denn wir müssen Zweifel daran hegen, ob die sozialen Einheiten, die bestehen, auch die, in denen alte Gemeinschaftsbildung fortdauert, sich noch so wie sie sind in Gerechtigkeit zusammenzuschließen vermögen, ob neuentstehende dazu fähig sein werden, wenn nicht schon in ihrer Entstehung ebendie Verbindung von Freiheit und Ordnung als Antrieb und Formgebung waltet.

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Hier setzt Kropotkin ein. Geboren zu der Zeit – vor hundert Jahren –, als Proudhon eben seinen Kampf gegen das ungerechte Element im Privateigentum, gegen das Eigentum als »Diebstahl«, begonnen hatte, übernimmt er bewußt Proudhons Vermächtnis, um es auszubauen. Dabei simplifiziert er es, aber zum Teil auf eine fruchtbare und der Sache förderliche Weise. Er simplifiziert Proudhon, indem er die Schau der Widersprüche mildert, und das ist ein Verlust, aber zugleich indem er ihn ins Geschichtliche überträgt, und das ist ein Gewinn. Kropotkin ist kein Historiker, er ist, auch wenn er geschichtlich denkt, Sozialgeograph, ein Beschreiber von Zuständen auf der Erde; aber er denkt geschichtlich. Kropotkin simplifiziert Proudhon zunächst, indem er an die Stelle der vielfältigen »sozialen Antinomien« den einfachen Gegensatz zwischen den Prinzipien des Kampfes ums Dasein und der gegenseitigen Hilfe setzt. Diesen Gegensatz der Prinzipien unternimmt er biologisch, ethnologisch und historisch zu begründen. Historisch sieht er (am stärksten wohl von Kirejewskis von 1852 stammender Darstellung der historischen Dualität beeinflußt) sie sich einerseits in der Zwangsordnung des Staats, anderseits in den mannigfaltigen Assoziationsformen, der Markgenossenschaft, der Gemeinde, der Gilde, der Innung bis zu den modernen Genossenschaftsbildungen verdichten. In einer noch überspitzten, historisch ungenügend fundierten Formulierung (von 1894) spricht Kropotkin diesen Gegensatz so aus: »Der Staat ist ein historisches Wachstum, das sich im Leben aller Völker in einer bestimmten Epoche langsam, nach und nach, an die Stelle der freien Konföderationen der Stämme, der Gemeinden, der Stammesverbände, der Dörfer und der Produzentengilden gesetzt und den Minderheiten eine furchtbare Unterstützung geliefert hat um die Masse zu verknechten – und dieses historische Wachstum und alles was sich daraus ableitet ist es wogegen wir kämpfen.« Später (in dem Buch »Die moderne Wissenschaft und die Anarchie«, dessen vollständige französische Ausgabe 1913 erschien) hat Kropotkin eine richtigere, den Tatsachen der Geschichte gerechter werdende Formulierung gefunden. »Die ganze Geschichte unserer Zivilisation hindurch«, sagt er, »haben zwei entgegengesetzte Traditionen, zwei Tendenzen einander gegenüber gestanden: die römische Tradition und die volkstümliche Tradition; die imperiale Tradition und die föderalistische Tradition; die autoritäre Tradition und die libertäre Tradition. Und wieder finden sich, am Vorabend der sozialen Revolution, diese beiden Traditionen von Angesicht zu Angesicht.« Hier ist (wohl unter dem Ein-

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fluß Gierkes, der die zwei gegensätzlichen Prinzipien Herrschaft und freie Assoziation nennt) zusammen mit einer historischen Einsicht auch die angedeutet, daß der weltgeschichtliche Konflikt der beiden geistigen Mächte sich auch innerhalb der sozialen Bewegung fortsetzt: zwischen dem zentralistischen und dem föderalistischen Sozialismus. Gewiß ist Kropotkins Staatsbegriff zu eng; es geht nicht an, den zentralistischen Staat mit dem Staat überhaupt zu identifizieren. Es gibt in der Geschichte nicht bloß den Staat als Klammer, die das Eigenwesen der kleinen Assoziationen erstickt, sondern auch den Staat als Rahmen, innerhalb dessen sie sich zusammenfügen, nicht bloß den »großen Leviathan«, dessen Autorität nach Hobbes auf dem »Schrecken« (terror) begründet ist, sondern auch die große Nährmutter, die die Kinder, die Gemeinden, fürsorgend am Busen hegt, nicht bloß die machina machinarum, die alles, was ihr angehört, zu mechanischen Bestandteilen eines Mechanismus macht, sondern auch die communitas communitatum, den Zusammenschluß der Gemeinschaften zur Gemeinschaft, innerhalb deren »ein eignes und selbständiges Gemeinleben der Gliedverbände« sich entfalten kann. Dagegen hat Kropotkin annähernd recht, wenn er die Entstehung des modernen zentralistischen Staates – den er irrtümlich als den Staat überhaupt bezeichnet – erst vom 16. Jahrhundert an datiert, als von der Zeit, in der »die Niederlage der freien Gemeinden« durch »die Vernichtung aller freien Verträge: der Dorfgemeinschaften, der Gesellenbünde, der Brüderschaften, der Eidgenossenschaften des Mittelalters« vollendet wurde. »Wir können mit einiger Sicherheit sagen«, schreibt der englische Rechtshistoriker Maitland, »daß am Ende des Mittelalters eine große Wandlung in den Gedanken der Menschen über die Gruppierungen der Menschen sich vollzog«. Nun »stand der absolute Staat dem absoluten Individuum gegenüber«. Nun »rangen«, wie Gierke sagt, »der souveräne Staat und das souveräne Individuum um die Grenzen ihrer naturrechtlichen Sphäre, alle Zwischenverbände dagegen wurden zu bloß positivrechtlichen und mehr oder minder willkürlichen Gebilden degradiert und endlich überhaupt zerrieben«. Zuletzt bleibt nichts als der souveräne Staat, der im Maße seiner Technisierung alles Lebendige aufzehrt. Dem »straff zentralisierten, mit dem höchsten Aufwand menschlicher Intelligenz gerüsteten, durch einen Griff am Schaltbrett zu leitenden Befehlsmechanismus« (so nennt Carl Schmitt, der geistreiche Interpret des Totalitarismus, den Leviathan) hält nichts Organisches stand. Wem nicht die Sicherung der Individuen – als zu welchem Zweck der Leviathan für unentbehrlich gehalten wird –, sondern die Erhaltung der Gemeinschaftssubstanz, die Erneuerung des Gemeinschaftslebens im Menschengeschlecht das Wichtigste ist, der muß

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jede Lehre bekämpfen, die den Zentralismus verficht. »Es gibt keinen gefährlicheren Aberglauben«, sagt der Kirchenhistoriker Figgis, »als jenen politischen Atomismus, der Gesellschaften als solchen alle Macht bestreitet, aber der grandiosen Einheit des Staates eine absolut unbeschränkte Zuständigkeit über Leib, Seele und Geist zuschreibt. Das ist in der Tat ›der große Leviathan‹, aus kleinen Menschlein zusammengesetzt, wie auf der Titelseite von Hobbes’ Buch, aber wir können keinen Grund erblicken das goldene Bild anzubeten.« Soweit Kropotkin nicht die Staatsordnung überhaupt, sondern den zentralistischen Staatsapparat bekämpft, hat er in der Wissenschaft starke Bundesgenossen. Wohl wird innerhalb der Wissenschaft gegen einen solchen »Pluralismus« geltend gemacht, daß der moderne Staat, insofern er nicht totalitär, sondern pluralistisch ist, als »ein Kompromißobjekt sozialer und wirtschaftlicher Machtgruppen, ein Agglomerat heterogener Faktoren, Parteien, Interessenverbände, Konzerne, Gewerkschaften, Kirchen usw.« erscheint (Carl Schmitt). Aber damit ist gegen einen sozialistischen Umbau des Staates zu einer Gemeinschaft von Gemeinschaften nichts ausgesagt, vorausgesetzt, daß die Gemeinschaften wirkliche Gemeinschaften sind; denn alle von Schmitt genannten Gruppenarten werden dann entweder nicht mehr sein oder etwas anderes sein als jetzt, und der Zusammenschluß der Gruppen wird kein Agglomerat, sondern, nach einem Wort Landauers, »ein Bund von Bünden« sein. Was an Zwangsordnung darin noch fortbestehen wird, wird nur noch Exponent des jeweiligen Entwicklungsstadiums des Menschen sein, nicht mehr Ausnutzung der menschlichen Unreife und der menschlichen Gegensätze. Gegensätze zwischen Individuen und zwischen Gruppen werden wohl nie aufhören und sollen es auch nicht; sie müssen ausgetragen werden; aber anstreben können und müssen wir einen Zustand, wo sich die Einzelkonflikte weder auf unbeteiligte große Gesamtheiten ausdehnen, noch zur Begründung zentralistisch-unbedingter Herrschaft verwenden lassen. Wie in der mangelhaften Unterscheidung zwischen jeweils übermäßigem und rechtmäßigem, jeweils überflüssigem und notwendigem Staat, so ist auch in einem anderen Belang Kropotkins Blick, wiewohl er manche von Proudhon unbeachtet gebliebenen historischen Zusammenhänge erfaßt, noch nicht realistisch genug. Er sagt einmal, man würde seinem Lob der mittelalterlichen Kommune vielleicht vorwerfen, daß er ihre inneren Kämpfe vergesse; das tue er keinesfalls. Aber die Geschichte zeige, daß »diese Kämpfe die Bürgschaft selber des freien Lebens in der freien Stadt waren«, daß die Gemeinschaften durch sie wuchsen und sich verjüngten. Im Gegensatz zu den Kriegen der Staaten sei es in der Kommune »um die Eroberung und Erhaltung der Freiheit des Einzelnen, um

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das föderative Prinzip, um das Recht sich zu vereinigen und zu handeln« gegangen, und daher seien »die Epochen der Konflikte, die in Freiheit ausgefochten wurden, ohne daß das Gewicht einer bestehenden Autorität in die eine Waagschale geworfen wurde, die Epochen der größten Entwicklung des Menschengeistes« gewesen. Das ist im wesentlichen richtig, und doch ist ein entscheidender Punkt nicht hinlänglich erfaßt. Die Gefahr der kollektiven Selbstsucht, sowie die der Aufspaltung und Unterdrückung, ist in der autonomen Gemeinschaft, insbesondere sofern sie als Genossenschaft an der Produktion teilnimmt, verhältnismäßig kaum geringer als in der Nation oder in der Partei. Ein beredtes Beispiel liefert die innere Entwicklung der »Berggemeinde«, d. h. der Produktionsgenossenschaft der Bergwerksarbeiter im deutschen Mittelalter. Max Weber hat in einer lehrreichen Darstellung gezeigt, daß in der ersten Epoche dieser Entwicklung eine zunehmende Appropriation des Bergwerks an die Arbeiter und eine zunehmende Expropriation der Besitzer stattfand, daß die Genossenschaft zur Betriebsinhaberin wurde und den Gewinn unter tunlichster Einhaltung des Prinzips der Gleichheit verteilte; daß sodann aber eine Differenzierung in der Arbeiterschaft selber einsetzte: die infolge der steigenden Nachfrage Zuziehenden wurden nicht mehr in die Gemeinschaft aufgenommen, sie waren »Ungenossen«, Lohnarbeiter; und der damit angehobene Zersetzungsprozeß schritt fort, bis rein kapitalistische Interessenten in den Personenkreis der Berggemeinde eindrangen und die Gewerkschaft schließlich zu einem Organ der kapitalistischen Ordnung wurde, das die Arbeiter anstellte. Wenn man heute (z. B. in Tawneys Buch »The Acquisitive Society«) Vorschläge liest, wie die Arbeiter von Industrieunternehmungen die Besitzer »herausfrieren« können, indem sie sie durch eigne Führung der Produktion überflüssig machen, oder wie sie das Interesse der Eigentümer in einem solchen Grade einschränken können, daß diese zu bloßen Rentnern ohne Gewinnanteil und ohne Verantwortung werden, also eben das, was im deutschen Bergbau vor sieben Jahrhunderten erreicht worden ist, dann tritt die historische Warnung uns an und gebietet uns, für die Einbauung von Hemmungen der kollektiven Selbstsucht im sozialen Neubau Sorge zu tragen. Kropotkin ist für diese Gefahr nicht blind; er weist z. B. einmal (»Mutual Aid«, 1902) darauf hin, daß die moderne kooperative Bewegung, die in ihrem Ursprung wesentlich den Charakter der gegenseitigen Hilfe hatte, vielfach in einen »Aktienkapitals-Individualismus« ausgeartet ist und eine »kooperative Selbstsucht« züchtet. Kropotkin hat mit völliger Klarheit erfaßt, worauf schon Proudhon hindeutete: daß ein sozialistisches Gemeinwesen nur auf der Grundlage einer doppelten interkommunalen Verbindung, nämlich der Föderation

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der Ortsgemeinden und der Föderation der Werkgemeinden, errichtet werden könne, die sich vielfältig miteinander verschränken und einander unterstützen, – wozu er zuweilen noch als drittes Prinzip die Gruppierung aus Wahlgemeinschaft hinzufügt. Das Bild der neuen Gesellschaft hat er am deutlichsten in seiner Autobiographie (1899) gezeichnet, an der Stelle, wo er von den Grundanschauungen der von Bakunin begründeten anarchistisch-kommunistischen »Jura-Föderation« erzählt, in der er 1877 und in den nächstfolgenden Jahren tätig war; aus den Akten der Jura-Föderation selbst ist uns freilich keine irgendwie damit vergleichbare Formulierung bekannt, und es ist anzunehmen, daß die von Bakunin nie anders als flüchtig entworfenen Gedanken sich erst im Lauf der Jahre, mit denen Proudhons verwachsend, in Kropotkins Geist zu dieser Reife ausgebildet haben. »Wir bemerkten«, schreibt er in der Autobiographie, »bei den zivilisierten Nationen den Keim einer neuen sozialen Form, welche die alte ersetzen soll … Diese Gesellschaft wird aus einer Menge von Genossenschaften zusammengesetzt sein, untereinander verbunden für alles was eine gemeinsame Bemühung erfordert: Föderation von Produzenten für alle Arten der Produktion, Gemeinden für den Konsum, Föderationen von Gemeinden miteinander und Föderationen der Gemeinden mit den Produktionsgruppen; schließlich noch ausgedehntere Gruppen, die ein ganzes Land oder sogar mehrere Länder umfangen, und aus Personen zusammengesetzt, die gemeinsam an der Befriedigung jener wirtschaftlichen, geistigen und künstlerischen Bedürfnisse arbeiten werden, welche nicht auf ein bestimmtes Territorium beschränkt sind. Alle diese Gruppen werden ihre Bemühungen durch ein gegenseitiges Einvernehmen vereinigen … Die persönliche Initiative wird ermutigt und jede Tendenz zur Uniformität und zur Zentralisation bekämpft werden. Überdies wird diese Gesellschaft nicht in bestimmten und unbeweglichen Formen erstarren, sondern wird sich unablässig wandeln, denn sie wird ein lebender Organismus sein, der stetig sich entwickelt.« Wie keine Gleichmachung, so auch keine endgültige Festlegung – das ist Kropotkins gesundes Grundgefühl. Anzustreben ist, wie er (1896) sagt, »die vollständigste Entwicklung der Individualität, verbunden mit der höchsten Entwicklung der freiwilligen Assoziation unter allen Aspekten, in allen möglichen Graden, für alle erdenkbaren Ziele: eine immer wechselnde Assoziation, die in sich die Elemente ihrer Dauer trägt und die Formen annimmt, welche in jedem Augenblick am besten dem vielfältigen Trachten aller entsprechen«. Und ergänzend betont Kropotkin noch 1913: »Wir stellen uns die Struktur der Gesellschaft als etwas vor, was niemals endgültig konstituiert ist.« Eine solche Struktur bedeutet: im jeweils möglichen Höchstmaß die

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soziale und politische Spontaneität des Volkes ins Werk zu ziehen. Diese Ordnung, die Kropotkin Kommunismus nennt (mit einem Namen, den die »Negation aller Freiheit«, die Proudhon bekämpfte, usurpiert) und die richtiger als föderalistischer Kommunalismus zu bezeichnen ist, »kann nicht auferlegt werden; sie könnte nicht leben, wenn nicht die stete, tägliche Mitwirkung aller sie erhielte. Sie würde in einer Atmosphäre von Amtsgewalt ersticken. Folgerichtigerweise kann sie nicht bestehen ohne einen ständigen Kontakt zwischen allen für die tausend und aber tausend gemeinsamen Angelegenheiten zu schaffen; sie kann nicht leben ohne das lokale, unabhängige Leben in den kleinsten Einheiten zu schaffen – der Gasse, dem Häuserblock, dem Bezirk, der Gemeinde«. Der Sozialismus »wird seine eigene Form von politischen Beziehungen finden müssen … Er wird in der einen oder anderen Weise volkstümlicher, dem Forum näher sein müssen als die parlamentarische Regierung. Er wird weniger von der Vertretung abhängen müssen, wird mehr self-government werden müssen«. Wir sehen hier besonders deutlich, daß Kropotkin letztlich nicht die Staatsordnung an sich, sondern nur die gegenwärtige in allen ihren Formen bekämpft, daß seine »Anarchie«, wie die Proudhons, in Wahrheit Akratie ist, nicht Regierungslosigkeit, sondern Herrschaftslosigkeit. »Die Anarchie«, hat Proudhon 1864 in einem Briefe geschrieben, »ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine Regierungsform oder Verfassung, in der das Prinzip der Autorität, die Polizeieinrichtungen, die Verhütungs- und Niederhaltungsmaßnahmen, die Bürokratie, das Steuerwesen usw. auf ihren einfachsten Ausdruck, zurückgeführt sind.« Das ist im Grunde auch Kropotkins Ansicht. Wie die wichtigen Wörter »weniger (Vertretung)« und »mehr (self-government)« uns zeigen, weiß auch er, daß es für den echten Willen zur Restrukturierung der Gesellschaft nicht um die Handhabung eines abstrakten Prinzips gehen kann, sondern nur um die Richtung der Realisierung, um die jeweils den gegebenen Verhältnissen gemäß in dieser Richtung zu erreichende Demarkationslinie der Verwirklichung, die das jetzt und hier Gebotene, weil Erreichbare, bezeichnet. Er weiß, wie Ungeheures gewollt wird und wie tief es ins Innerste reicht: »alle Beziehungen zwischen Individuen und zwischen den Menschenhaufen sind zurechtzumachen«; aber er weiß auch, daß dies nur gelingen kann, wenn zugleich die soziale Spontaneität aufgerührt und ihr die Richtung gewiesen wird, sich auszuwirken. Daß eine entscheidende Wandlung der Gesamtordnung nicht ohne Revolution erfolgen kann, ist für Kropotkin selbstverständlich. Das war es auch für Proudhon. Er wußte wohl, daß die gewaltige Aufgabe, die er – schon in dem von Marx als »kleinbürgerlich« bekämpften Buche – den

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arbeitenden Klassen stellte, nämlich »aus den Eingeweiden des Volkes, aus den Tiefen der Arbeit eine größere Autorität, eine mächtigere Tatsache hervortreten zu lassen, die das Kapital und den Staat einbezieht und die sie unterwirft«, nicht ohne Revolution zu erfüllen ist. Er sah in den Revolutionen, wie er 1848 in einem Trinkspruch auf die Revolution sagte, »die sukzessiven Kundgebungen der Gerechtigkeit in der Menschheit«, und der moderne Staat galt ihm als »dem Wesen seines Prinzips nach gegenrevolutionär«. Was er bestritt, war (in dem bekannten Brief an Marx), daß »keine Reform gegenwärtig ohne Handstreich möglich sei« und daß wir »die revolutionäre Aktion als Mittel der sozialen Reform zu setzen hätten«. Aber er ahnte die Tragödie der Revolutionen, er bekam sie im Lauf der enttäuschenden Erfahrungen immer tiefer zu ahnen. Die Tragödie der Revolutionen: daß sie, auf das positive Ziel hin betrachtet, das Gegenteil des gerade von den ehrlichsten und leidenschaftlichsten Revolutionären Herbeigesehnten zur Folge haben, wenn und weil das Angestrebte nicht schon vorrevolutionär so weit vorgebildet war, daß die revolutionäre Aktion ihm nur noch den vollen Entfaltungsraum zu erringen hat. Zwei Jahre vor seinem Tode spricht er es mit Bitterkeit aus: »Es ist der revolutionäre Kampf, der uns die Zentralisation gegeben hat«. Diese Erkenntnis ist auch Kropotkin nicht fremd. Aber im wesentlichen glaubt er, es genüge, auf die revolutionäre Kraft erzieherisch einzuwirken, um zu verhüten, daß die Revolution in einen neuen, »ebenso schlimmen oder schlimmeren« Zentralismus ausgehe, und um zu ermöglichen, daß in der Revolution »das Volk – die Bauern und die städtischen Arbeiter – selber die konstruktive, aufbauende Arbeit beginne«. »Es handelt sich für uns darum, die soziale Revolution durch den Kommunismus zu inaugurieren.« Kropotkin verkennt, wie Bakunin, die grundlegende Tatsache, daß im sozialen Bereich, im Gegensatz zum politischen, die Revolution keine schaffende, sondern eine lediglich auslösende, freimachende und machtverleihende Kraft hat, d. h. daß sie nur das vollenden, nur das frei, mächtig und vollständig machen kann, was sich bereits im Schoße der vorrevolutionären Gesellschaft vorgebildet hat, daß, auf das soziale Werden betrachtet, die Stunde der Revolution nicht eine Stunde der Zeugung, sondern eine der Geburt ist, – wenn eine Zeugung voranging. Freilich gibt es in Kropotkins Lehre auch wesentliche Elemente, die auf die Bedeutsamkeit der vorrevolutionären Strukturierung hinweisen. Wie er in seinem Buch über die gegenseitige Hilfe die Reste alter Gemeinschaftsformen in unserer Gesellschaft und neben ihnen Beispiele gegenwärtiger, mehr oder weniger formloser Solidarität gezeigt hat, so hat er in dem Buch »Fields, Factories and Workshops« (1898, erweiterte Ausgabe

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1912), rein von wirtschaftlichen und arbeitspsychologischen Voraussetzungen aus, einen gewichtigen Beitrag zum Bild einer neuen sozialen Einheit geliefert, die als eine Zelle für die Bereitung der neuen Gesellschaft mitten in der alten zu dienen geeignet ist. Er stellt hier der fortschreitenden Überspannung des Prinzips der Arbeitsteilung, der übermäßigen Spezialisierung das Prinzip einer Integration der Arbeit, der Verknüpfung einer intensiven Landwirtschaft mit einer dezentralisierten Industrie gegenüber; er entwirft das Bild eines auf Feld und Fabrik zugleich aufgebauten Dorfes, in dem dieselben Menschen abwechselnd dort und hier arbeiten, ohne daß dies irgendwie einen Rückschritt der Technik zu bedeuten brauchte, vielmehr im engen Zusammenhang mit der technischen Entwicklung, und doch so, daß der Mensch als Mensch zu seinem Recht kommt. Kropotkin weiß, daß in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung eine solche Änderung nicht »vollständig durchgeführt« werden kann, und dennoch plant er nicht bloß für morgen, sondern auch für heute. Er betont, daß »jeder sozialistische Versuch, die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit zu ändern, ein Fehlschlag sein wird, wenn er die Tendenz zu einer Integration nicht berücksichtigt«; aber er betont auch, daß die Zukunft, die er wünscht, »schon möglich, schon realisierbar« ist. Von da zur Forderung, mit der Restrukturierung der Gesellschaft unmittelbar zu beginnen, ist nur ein Schritt, freilich ein entscheidender.

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Landauers Schritt über Kropotkin hinaus besteht zunächst in einer schlichten Einsicht in das Wesen des Staates. Der Staat ist nicht, wie Kropotkin meint, eine Einrichtung, die man durch eine Revolution zerstört. »Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andre Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält.« Die Menschen stehen gegenwärtig zueinander in einem »staatlichen« Verhältnis, d. h. in einem, das die Zwangsordnung des Staates notwendig macht und sich in ihr darstellt; also kann diese Ordnung nur in dem Maße überwunden werden, als dieses Verhältnis zwischen den Menschen durch ein anderes ersetzt wird. Dieses andere Verhältnis nennt Landauer »Volk«. »Es ist eine Verbindung zwischen den Menschen, die tatsächlich da ist, die aber noch nicht Verband und Bund, noch nicht höherer Organismus geworden ist.« In dem Maße, als sich auf Grund des Produktions- und Zirkulationsprozesses die Menschen wieder zu Volk zusammenfinden, und »zu einem Organismus mit unzähligen Organen und Gliederungen« zusammenwachsen, wird der Sozialismus, der jetzt nur im Geist und im Wunsch einzelner, atomisierter Menschen lebt, Wirklichkeit werden, – nicht im Staat, »sondern draußen, außerhalb des Staates«, und das heißt zunächst: neben dem Staat. Dieses Zusammenfinden aber bedeutet wie gesagt nicht Stiftung eines Neuen, sondern Aktualisierung und Neukonstituierung eines von je Vorhandenen, der Gemeinschaft, die es neben dem Staat faktisch gibt, wiewohl verschüttet und verwüstet. »Eines Tages wird man wissen, daß der Sozialismus nicht eine Erfindung von Neuem, sondern eine Entdeckung von Vorhandenem und Gewachsenem ist.« Weil es so ist, ist Sozialismus als Verwirklichung zu allen Zeiten möglich, wenn eine genügende Zahl Menschen ihn will. Nicht vom Stande der Technik hängt die Verwirklichung ab, wiewohl der verwirklichte Sozialismus freilich je nach dem Stand der Technik anders aussehen, anders beginnen, anders weiter gehen wird; sie hängt von den Menschen, sie hängt von ihrem Geiste ab. »Der Sozialismus ist zu allen Zeiten möglich und zu allen Zeiten unmöglich; er ist möglich, wenn die rechten Menschen da sind, die ihn wollen, das heißt tun; und er ist unmöglich, wenn die Menschen ihn nicht wollen oder ihn nur sogenannt wollen, aber nicht zu tun vermögen.« Aus dieser Einsicht in die Beziehung zwischen Staat und Gemeinschaft ergibt sich einiges Wichtige. Wir sehen: es kann sich praktisch nicht um die abstrakte Alternative »Staat oder Nichtstaat« handeln. Das Prinzip

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des Entweder – Oder ist wesentlich für die Stunden der echten Entscheidungen, der Person und der Gruppe; da ist alles Dazwischen, alles Vermittelnde unrein und verunreinigend, es wirkt trübend, verwirrend, behindernd. Aber dieses Prinzip wird selber zum Hindernis, wenn es in jedem gegebenen Stadium innerhalb der Ausführung der getroffenen Entscheidung nicht weniger gelten lassen will als das Absolute und das jetzt mögliche Maß entwertet. Ist der Staat ein Verhältnis, das man nur dadurch in Wahrheit zerstört, daß man ein anderes eingeht, so zerstört man es eben jeweils in dem Maße, in dem man ein anderes eingeht. Wir müssen, um den Gegenstand voll zu erfassen, noch um einen Schritt weitergehen. »Staat« ist (worauf Landauer später einmal hingewiesen hat) ein status, ein Zustand. Die in einem gegebenen Zeitpunkt in einem gegebenen Raum zusammenlebenden Menschen sind nur bis zu einem gewissen Grade fähig, aus Freiwilligkeit rechtschaffen miteinander zu leben, aus Freiwilligkeit eine gerechte Ordnung zu wahren und von ihr aus die gemeinsamen Angelegenheiten zu verwalten. Die Linie, die jeweils diese Fähigkeit begrenzt, ist die jeweilige Grundlage des Staates; mit andern Worten: das Maß der jeweiligen Unfähigkeit zur freiwillig gerechten Ordnung bestimmt das Maß des rechtmäßigen Zwanges. Jedoch überschreitet jeweils der faktische Umfang des Staates mehr oder weniger, zumeist sehr stark, den, der in dieser Stunde aus dem Maß des rechtmäßigen Zwanges hervorgehen würde. Diese jeweilige Differenz zwischen dem »prinzipiellen« und dem faktischen Staat, die ich den Mehrstaat nenne, erklärt sich aus der geschichtlichen Tatsache, daß akkumulierte Macht nicht ohne Nötigung abdankt. Sie weigert sich, sich dem Steigen der Fähigkeit zur freiwilligen Ordnung anzupassen, solange sich die gesteigerte Fähigkeit nicht in einem hinreichend starken Druck auf die akkumulierte Macht äußert. Die prinzipielle Grundlage der Macht ist abgestorben, aber sie selbst stirbt nicht ab, wenn sie dazu nicht gezwungen wird. So kann das Tote über das Lebendige herrschen. »Sehen wir«, sagt Landauer einmal, »daß das, was unserm Geiste tot ist, über unseren Leib die lebendige Gewalt ausübt.« Die Aufgabe, die sich aus dieser Sachlage für den Sozialisten, d. h. für den auf Restrukturierung der Gesellschaft bedachten Menschen ergibt, ist, die faktische Grundlinie des Staates bis zur prinzipiellen zurückzudrängen. Dies aber ist es, was durch die Schaffung und Erneuerung echter organischer Struktur, durch Zusammenschluß der menschlichen Personen und Familien zu mannigfachen Gemeinden und der Gemeinden zu Bünden geschieht. Dieses Wachstum und nichts andres »zerstört« den Staat, indem es ihn verdrängt. Freilich immer nur den jeweils überflüssigen, unfundierten Teil des Staates; eine Aktion, die darüber hinausginge, wäre

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unrechtmäßig und müßte fehlschlagen, weil es ihr, sowie sie die Grenze überschritte, an dem für das weitere erforderlichen aufbauenden Geiste fehlte. Wir treffen hier auf dieselbe Problematik, die schon Proudhon von einer anderen Seite her entdeckt und erkannt hat: Assoziation ohne zulänglichen, zulänglich vitalen Gemeingeist setzt nicht Gesellschaft an die Stelle von Staat, sie trägt Staat in sich, und was sie wirkt, kann nicht viel andres als Staat sein, d. h. Machtbetätigung und Expansionsdrang, getragen von Bürokratie. Von Wichtigkeit ist aber auch, daß für Landauer wie gesagt die Aufrichtung von Gesellschaft »außen« und »neben« dem Staat im wesentlichen »eine Entdeckung von Vorhandenem und Gewachsenem ist«. Es gibt wirklich neben dem Staat eine Gemeinschaft, »nicht eine Summe isolierter Individualatome, sondern eine organische Zusammengehörigkeit, die sich aus vielfachen Gruppen wie zu einer Wölbung dehnen will«. Aber die Gemeinschaftswirklichkeit muß erweckt, muß aus der Tiefe heraufgeholt werden, wo sie unter der Kruste des Staates fortbesteht. Das kann nicht anders geschehen, als daß die Verkrustung der Menschen, die innere Verstaatung durchbrochen und das erweckt wird, was an Urwirklichkeit darunter schlummert. »Das ist die Aufgabe der Sozialisten und der durch sie herbeigerufenen, herbeigeführten Völkergeschehnisse: die Lockerung der Verhärtung in den Gemütern vorzubereiten, auf daß Verschüttetes wieder nach oben komme, auf daß wahrhaft Lebendiges, das jetzt völlig tot scheint, wieder hervorbreche oder emporwachse.« So erneute Menschen können die Gesellschaft erneuen; und da sie erfahren haben, daß es uralter Gemeinschaftsbestand ist, der sich in ihren Seelen als das Neue kundgetan hat, werden sie alles, was sich an echter Gemeinschaftsform erhalten hat, in den Neubau eingliedern. »Wahnsinn wäre es«, schrieb Landauer in einem Brief an eine Frau, die die Ehe abgeschafft sehen wollte, »die Formen des Bundes, die wenigen, die geblieben sind, auch noch ›abschaffen‹ zu wollen! Form brauchen wir, nicht Formlosigkeit. Tradition brauchen wir.« Wer nicht aus Willkür und vergeblich, sondern rechtmäßig und für die Zukunft baut, handelt aus innerem Zusammenhang mit uralter Überlieferung, die sich ihm anvertraut und ihn ermächtigt. Von hier wird deutlich, warum Landauer das »andre« Verhältnis, das der Mensch an Stelle des staatlichen eingehen kann, nicht mit einem neuen Namen bezeichnet, sondern »Volk« nennt. Zu diesem »Volk« gehört auch die innerste Wirklichkeit dessen, was Nation heißt, das also, was bleibt, wenn man die Verstaatung, die Politisierung ablöst: die Wesensgemeinschaft, Seinsgemeinsamkeit in der Vielheit. »Diese Ähnlichkeit, diese Gleichheit im Ungleichen, diese verbindende Eigenschaft zwischen den Volksgenos-

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sen, dieser Gemeingeist ist eine Tatsächlichkeit. Überseht sie nicht, ihr Freien und Sozialisten; der Sozialismus, Freiheit und Gerechtigkeit, ist nur zu schaffen zwischen den von alters Zusammengehörigen, und nicht abstrakt wird ein Sozialismus hergestellt werden, sondern in konkreter Mannigfaltigkeit je nach den Völkerharmonien.« Hier ist der wahre Zusammenhang zwischen Nation und Sozialismus aufgedeckt: die gegenseitige Nähe der Volksgenossen in Wesensart, Sprache, Überlieferungsgut, gemeinsamem Schicksalsgedächtnis ist fortdauernde Prädisposition zu gemeinschaftlicher Existenz, und erst im Aufbau dieser Existenz können sich die Völker von neuem konstituieren. »Rettung kann nur bringen die Wiedergeburt der Völker aus dem Geist der Gemeinde.« Und auch die Gemeinde faßt Landauer ganz konkret in der, wenn auch nur noch rudimentär, in die Erscheinung tretenden Überlieferung alter Gemeinschaftsformen und der Möglichkeit, sie zu bewahren, zu erneuern und auszugestalten. »Jetzt und jederzeit wird der radikale Umgestalter nichts anderes umzugestalten vorfinden, als was da ist. Und darum wird es jetzt und jederzeit gut sein, daß die Ortsgemeinden ihre Gemarkung besitzen: daß ein Teil das Gemeindeland, und andre Teile das Familiengut für Haus, Hof, Garten und Feld sind.« Dabei rechnet Landauer auch auf das Tiefengedächtnis gemeindlicher Einheiten. »Vieles ist da, woran wir anschließen können, was auch an äußeren Gestalten lebendigen Geistes noch Leben bringt. Dorfgemeinden mit Resten alten Gemeindebesitzes, mit den Erinnerungen der Bauern und Landarbeiter an die ursprüngliche Gemarkung, die seit Jahrhunderten in Privatbesitz gegangen ist; Einrichtungen der Gemeinschaft für Feldarbeit und Handwerk.« Sozialist sein heißt in vitalem Zusammenhang mit allem Gemeingeist und Gemeinschaftsleben der Zeiten stehen, wachen, unbefangnen Blicks erforschen, was sich an deren Resten auch noch in der Tiefe unsrer gemeinschaftsfernen Zeit birgt, und, wo immer man es vermag, das, was man an neuen Formen entwirft, mit starken Banden binden an das Dauernde. Es heißt aber auch: sich vor aller schematischen Weg-Tracierung hüten; zu wissen, daß im Leben des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft die gerade Linie zwischen zwei Punkten sich als die längste erweisen kann; zu verstehen, daß der wirkliche Weg zur sozialistischen Wirklichkeit sich nicht bloß aus dem, was ich erkenne und was ich plane, sondern auch aus Unerkanntem und nicht zu Erkennendem, aus Unerwartetem und nicht zu Erwartendem ergibt; und in jeder Stunde, soweit man vermag, tätig danach zu leben. »Im einzelnen«, sagt Landauer 1907, »wissen wir ja nichts über unseren nächsten Weg; er kann über Rußland, er kann auch über Indien führen. Nur das können wir wissen: daß unser Weg nicht über die Rich-

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tungen und Kämpfe des Tages führt, sondern über Unbekanntes, Tiefbegrabenes und Plötzliches.« Landauer hat einmal von Walt Whitman, dem Dichter der heroischen Demokratie, den er übersetzt hat, gesagt, er vereine gleich Proudhon, mit dem er in vielem geistig verbunden sei, konservativen und revolutionären Geist, Individualismus und Sozialismus. Das kann man auch von Landauer sagen. Was er im Sinne hat, ist letztlich revolutionäre Erhaltung: revolutionäre Auslese der erhaltungswerten, der zum Neubau taugenden Elemente sozialen Seins. Dies vorausgesetzt, kann man Landauer, den Mann aus südwestdeutscher bürgerlicher jüdischer Familie, der unvergleichlich mehr als Marx den Proletariern und dem proletarischen Leben nahegekommen ist, nur als Revolutionär verstehen. Man hat seinen Vorschlägen für sozialistische Siedlung immer wieder von marxistischer Seite vorgeworfen, das heiße sich aus der Welt der menschlichen Ausbeutung und des unerbittlichen Kampfes gegen sie auf eine selige Insel zurückziehen, von der aus man dem ungeheuren Geschehen tatenlos zusieht. Es kann keinen falscheren Vorwurf geben. Alles, was Landauer dachte und plante, sprach und schrieb, und wenn es Shakespeare zum Gegenstand hatte oder die deutsche Mystik, und vollends alles, was er an zu bauender sozialistischer Wirklichkeit entwarf, war für ihn eingetaucht in den großen Glauben an die Revolution und den großen Willen zu ihr. »Wollen wir uns denn ins Glück zurückziehen?« schrieb er in einem Brief (1911). »Wollen wir denn unser Leben für uns? Wollen wir nicht vielmehr um der Völker willen das Mögliche tun und das Unmögliche begehren? Wollen wir nicht das Ganze, die Revolution?« Aber der über die Zeiten hingedehnte Befreiungskampf, den er Revolution nennt, kann erst dann seine Frucht tragen, wenn »der Geist über uns kommt, der nicht Revolution, sondern Regeneration heißt«; und innerhalb der langen Revolution erscheinen Landauer die einzelnen Revolutionen als ein Feuerbad des Geistes, wie denn eben Revolution ihrem letzten Sinn nach selber Regeneration ist. »In dem Feuer, der Hingerissenheit, der Brüderlichkeit dieser aggressiven Bewegungen«, schreibt Landauer in dem Buch »Die Revolution«, das er 1907 auf meine Aufforderung hin geschrieben hat, »erwacht immer wieder das Bild und das Gefühl der positiven Einung durch verbindende Eigenschaft, durch Liebe, die Kraft ist; und ohne diese vorübergehende Regeneration könnten wir nicht weiter leben und müßten versinken.« Aber es gilt unbeirrt zu erkennen: »Obzwar die Utopie ausschweifend schön ist, mehr freilich als in dem, was sie sagt, wie sie es sagt, ist doch, was die Revolution erreicht, eben ihr Ende, das sich von dem, was vorher war, nicht allzu sehr unterscheidet.« Die Kraft der Re-

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volution liegt in der Rebellion und Negation, sie vermag die sozialen Probleme mit ihren politischen Mitteln nicht zu lösen. »Wenn eine Revolution aber gar«, so fährt Landauer, von der französischen sprechend fort, »in die fürchterliche Lage kommt wie diese, daß ringsum Feinde sind, innen und außen, dann müssen die noch lebendigen Kräfte der Negation und Destruktion sich nach innen, gegen sich selbst schlagen; der Fanatismus und die Leidenschaft wird zum Mißtrauen und bald zur Blutgier oder wenigstens zur Gleichgültigkeit gegen die zugefügten Schrecken des Tötens; und bald wird der Schrecken durchs Töten die einzige Möglichkeit der Machthaber des Tages, ihr Provisorium zu halten.« So geschah es (das schrieb Landauer zehn Jahre später über die gleiche Revolution aus der gleichen Erkenntnis), »daß die innigsten Vertreter der Revolution in ihren reinsten Stunden, gleichviel in welches Lager sie schließlich von den tobenden Wogen geworfen wurden, glaubten und wollten, sie solle die Menschheit zu einer Wiedergeburt führen; daß es aber nicht dazu kam und sie zugleich sich gegenseitig daran hemmten und einander die Schuld beimaßen, weil die Revolution sich mit dem Krieg, mit der Gewalttat, mit der Befehlsorganisation und autoritären Unterdrückung, mit der Politik verband«. Zwischen beiden Äußerungen, an der Schwelle des ersten Weltkriegs, im Juli 1914, drückt Landauer dieselbe kritische Einsicht in einer besonders aktuellen Form aus. »Geben wir uns keinem Zweifel hin«, schreibt er, »es steht heutigentags in allen Ländern so, daß die revolutionären Erregungen schließlich, wenn’s zu den Ergebnissen kommt, nur der nationalkapitalistischen Machterweiterung gedient haben, die Imperialismus heißt: daß die revolutionären Erregungen, auch wenn sie ursprünglich sozialistisch gefärbt waren, doch mit Leichtigkeit von irgendeinem Napoleon, Cavour oder Bismarck in den Strom der Politik geleitet werden, weil alle diese Insurrektionen tatsächlich nur Mittel politischer Revolution oder nationalen Krieges, aber gar nicht Mittel des sozialistischen Umschwungs sein können, weil die Sozialisten sich in Wahrheit als Romantiker der Mittel ihrer Feinde bedienen und Mittel zur Verwirklichung des neuen Volks und der neuen Menschheit nicht üben und nicht kennen.« Schon 1907 aber hatte Landauer, auf Proudhon fußend, die Folgerung aus dieser Erkenntnis gezogen. »Es wird die Zeit kommen«, schreibt er, »wo man klarer sieht als heute, was der größte aller Sozialisten, Proudhon, in unvergleichlichen, wiewohl heute vergessenen Worten erklärt hat: daß die soziale Revolution mit der politischen gar keine Ähnlichkeit hat, daß sie allerdings ohne vielerlei politische Revolution nicht lebendig werden und bleiben kann, daß sie aber ein friedlicher Aufbau, ein Organisieren aus neuem Geiste und zu neuem Geiste und nichts weiter ist.«

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Und ferner: »Doch ist es so, wie Gottfried Keller gesagt hat: Der Freiheit letzter Sieg wird trocken sein. Politische Revolutionen werden den Boden frei machen, im wörtlichen und in jedem Betracht; aber zugleich werden die Institutionen bereitet sein, in denen der Bund der wirtschaftenden Gesellschaften leben kann, der dazu bestimmt ist, den Geist auszulösen, der hinter dem Staate gefangen sitzt.« Diese Bereitung aber, die wirkliche »Umwandlung der Gesellschaft kann nur in Liebe, in Arbeit, in Stille kommen«. Es ist also offenbar, daß der Geist, der »ausgelöst« werden soll, in einem für die Bereitung zureichenden Maße schon in den Menschen lebendig sein muß, damit sie die Institutionen bereiten und die Revolution als Freimachung des Bodens für sie vollziehen. Wieder beruft sich Landauer auf Proudhon. In der revolutionären Epoche von 1848 hat er den Revolutionären gesagt: »Ihr Revolutionäre, wenn ihr das tut, vollbringt ihr großen Umschwung.« Enttäuscht, hat er hernach anderes zu tun gehabt, als die Worte der Revolution zu wiederholen. »Alles hat seine Zeit; und jede Zeit nach der Revolution ist eine Zeit vor der Revolution für alle, deren Leben nicht in dem großen Moment der Vergangenheit geblieben ist. Proudhon hat weiter gelebt, obwohl er an mehr als einer Wunde blutete; er hat sich jetzt gefragt: wenn ihr das tut, habe ich gesagt, aber warum haben sie es nicht getan? Er hat die Antwort gefunden und hat sie in all seinen späteren Werken niedergelegt, die Antwort, die in unserer Sprache heißt: weil der Geist gefehlt hat.« Wieder haben wir Landauer eine wesentliche Klärung im Verhältnis zu Kropotkin zu verdanken. Damit die politische Revolution der sozialen dienen kann, tut dreierlei not. Erstens: die Revolutionäre müssen festen Willens sein, für das vorhandene Gemeinschaftsgut den Boden freizumachen und es darauf zu einem Bund der Gesellschaften auszubauen. Zweitens: Gemeinschaftsgut muß in Institutionen so bereitet sein, daß es nach Freimachung des Bodens so ausgebaut werden kann. Und drittens: die Bereitung muß im echten Gemeinschaftsgeist geschehen. Dieses Dritte, den »Geist«, hat keiner der früheren Sozialisten in seiner Bedeutung für das neue soziale Werden so tief erkannt wie Landauer. Man muß sich nur vergegenwärtigen, was er damit meint, – unter der Voraussetzung freilich, daß man die geistige Wirklichkeit nicht als Produkt und Spiegelung der materiellen verstehen zu können glaubt, als bloßes »Bewußtsein«, das von einem in den wirtschaftlich-technischen Verhältnissen erfaßbaren »Sein« bestimmt wird, sondern in ihr ein Sein eigner Art erkennt, das mit dem sozialen Sein in enger Wechselwirkung steht, ohne deshalb in irgend einem Punkte von diesem aus zureichend erklärt werden zu können.

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»Eine Stufe großer Kultur«, sagt Landauer, »wird da erreicht, wo mannigfaltige Gesellschaftsgebilde, die ausschließlich sind und selbständig nebeneinander bestehen, allesamt von einem einheitlichen Geist erfüllt sind, der nicht in diesen Gebilden wohnt, nicht aus ihnen hervorgegangen ist, sondern als eine Selbständigkeit und wie etwas Selbstverständliches über ihnen waltet. Anders gesagt: eine Stufe großer Kultur kommt da zustande, wo die Einheit in der Mannigfaltigkeit der Organisationsformen und überindividuellen Gebilde nicht ein äußeres Band der Gewalt ist, sondern ein in den Individuen wohnender, über die irdisch-materiellen Interessen hinaus weisender Geist.« Als Beispiel führt Landauer das christliche Mittelalter an (in der Tat in der Geschichte des Abendlands die einzige Epoche, die sich in dieser Hinsicht mit den großen Kulturen des Orients vergleichen läßt). Er sieht es nicht als repräsentiert durch diese oder jene Formen des Gemeinschaftslebens, wie die Markgenossenschaft des Dorfs, die Gilden, Zünfte und Brüderschaften der Stände, die Städtebünde, ebensowenig wie durch das Feudalsystem, durch Kirchen und Klöster, durch Ritterbünde, sondern gekennzeichnet ist es erst durch diese »Gesamtheit von Selbständigkeiten, die sich gegenseitig durchdrangen« zu einer »Gesellschaft von Gesellschaften«. Was all die mannigfach differenzierten Gestaltungen vereinbarte und »nach einer höheren Einheit zu wie in die Höhe band, zu einer Pyramide, deren Spitze nicht Herrschaft und unsichtbar in den Lüften war, das war der Geist, der aus den Charakteren und Seelen der Individuen her in all diese Gebilde einströmte und von ihnen verstärkt wieder in die Menschen zurückströmte«. Kann man diesem Gemeingeist rufen in einer Zeit wie die unsere, »einer Zeit der Geistlosigkeit und damit der Gewalt, einer Zeit der Geistlosigkeit und darum des mächtig gespannten Geistes einzelner Individuen, einer Zeit des Individualismus und darum der Atomisierung und der entwurzelten und zu Staub gewordenen Massen, einer Zeit ohne Geist und darum ohne Wahrheit?« Es ist »eine Zeit des Verfalls und darum des Übergangs«. Weil sie es ist, wird in ihr und gerade in ihr der Geist beschworen, daß er erscheine; solche Beschwörungen sind die Revolutionen. Was ihm aber die Stätte bereitet, ist die Verwirklichung. »Wie die Markgenossenschaften und so viele Institutionen der Schichtung und Einung schon vor dem Geiste da waren, der sie dann erfüllte und erst zu dem machte, was sie der christlichen Zeit bedeuteten, und wie eine Art Gehen schon da ist, ehe die Beine werden, und wie dieses Gehen die Beine erst baut und bildet, so wird es nicht der Geist sein, der uns auf den Weg schickt, sondern unser Weg ist es, der ihn in uns zum Erstehen bringt.« Dieser Weg aber geht dahin, »daß solche Menschen, die zur Einsicht und zur inneren Unmöglichkeit, so weiter zu leben, ge-

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kommen sind, sich in Bünden zusammenschließen und die Arbeit in den Dienst ihres Verbrauchs stellen. In Siedlungen, in Genossenschaften, unter Entbehrungen«. Der Geist, der sich in diesen Personen regt, treibt sie auf ihren gemeinsamen Weg, auf diesem Weg und auf ihm allein kann er sich zu neuem Gemeingeist wandeln. »Wir Sozialisten wollen dem Geiste die Natur und die Wirklichkeit geben, auf daß er als verbindender Geist die Menschen zu ihrer Gemeinsamkeit führe. Wir Sozialisten wollen den Geist sinnlich und leibhaft machen, wir wollen ihn ans Werk lassen, und wir werden gerade dadurch die Sinne und das Erdenleben vergeistigen.« Damit das aber geschehe, muß das Feuer des Geistes in den Siedlungen sorgsam gehütet werden, daß es nicht verlösche. Nur durch den lebendigen Geist sind sie Verwirklichung, ohne ihn ein Trugbild. Lebt aber der Geist in ihnen, dann kann er von ihnen aus in die Welt wehen und in all die Anstalten der Kooperation und Assoziation einziehen, die ohne ihn leere Gehäuse, Zweckeinrichtungen ohne Ziel sind. »Wir wollen die Genossenschaften, welche sozialistische Form ohne Geist sind, wir wollen die Gewerkschaften, welche Tapferkeit ohne Ziel sind, zum Sozialismus, zu großen Versuchen bringen.« Sozialismus, sagt Landauer (1915), ist »der Versuch, das Mitleben der Menschen zur Bindung in Freiheit aus gemeinsamem Geiste, das heißt zur Religion bringen«. Das ist wohl die einzige Stelle, wo dieser Mann, der stets alle religiöse Symbolik unserer Zeit und all ihr religiöses Bekenntnis ablehnte, das Wort »Religion« in diesem positiven und verbindlichen Sinne ausspricht – es ausspricht als den Ausdruck für das, was er ersehnt: Bindung in Freiheit aus gemeinsamem Geiste. Darauf soll nicht gewartet, das soll »versucht«, es soll damit begonnen werden. Landauer, der nach dem Gemeingeist trachtet, weiß, daß es für diesen keine Stätte gibt ohne Erde, d. h. daß es für ihn eine nur in dem Maße gibt, als der Boden wieder zum Träger gemeinschaftlichen Lebens und gemeinschaftlichen Werkes von Menschen wird. »Der Kampf des Sozialismus ist ein Kampf um den Boden.« Damit aber die große Umwälzung in den Bodenbesitzverhältnissen komme – so heißt es in den zwölf Artikeln des von Landauer begründeten Sozialistischen Bundes –, »müssen die arbeitenden Menschen erst auf Grund der Einrichtungen des Gemeingeistes, der das sozialistische Kapital ist, so viel von sozialistischer Wirklichkeit schaffen und vorbildlich zeigen, wie ihnen jeweils nach Maßgabe ihrer Zahl und Energie möglich ist«. Damit kann begonnen werden. »Nichts kann die vereinigten Konsumenten hindern, für sich selber mit Hilfe ihres gegenseitigen Kredits zu arbeiten, sich Fabriken, Werkstätten, Häuser zu bauen und Boden zu erwerben; nichts, wenn sie nur wollen und beginnen.« Das ist das Bild der Gemeinde als

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»Grundform« der neuen Gesellschaft, das Landauer vorschwebt, das Bild des sozialistischen Dorfes. »Das sozialistische Dorf, mit Werkstätten und Dorffabriken«, sagt Landauer (1909) in Fortführung des Gedankens Kropotkins, »mit Wiesen und Äckern und Gärten, mit Großvieh und Kleinvieh und Federvieh – ihr Großstadtproletarier, gewöhnt euch an den Gedanken, so fremd und seltsam er euch im Anfang auch anmuten mag, daß das der einzige Anfang eines Wirklichkeitssozialismus ist, der übriggeblieben ist.« Von diesem scheinbar so Geringen, davon, ob es ersteht oder nicht, hängt es in wesentlichem Maße ab, ob die Revolution etwas vorfinden wird, dem sie Raum und Macht zu erkämpfen hat – und das zu schaffen die revolutionäre Stunde selber unfähig wäre. Davon aber, ob sie so etwas vorfindet und ihm das volle Wachstum sichert, hängt es in wesentlichem Maße ab, ob außer dem politischen Ertrag auch sozialistische Frucht auf ihren Feldern reifen wird. Wenn es also keinen anderen Anfang und Kern des Zukünftigen gibt, als was Menschen jetzt und hier, unter der Herrschaft des Kapitalismus, mit ihrem Leben miteinander, mit Gemeinschaft des Lebens, aufgerichtet auf der Grundlage einer Gemeinschaft von Produktion und Konsum, trotz Mühen, Nöten und Enttäuschungen zustandebringen, so ist Landauer doch fern davon, das so Entstehende für die endgültige Form der Verwirklichung zu halten. Wie Proudhon und Kropotkin, so glaubt auch er an keine Festlegung des sozialistischen Verlangens auf ein von heutigen Menschen Erträumtes und Erschautes, Ersonnenes und Geplantes. Landauer erkennt wohl »das Seltsame, daß dieser notgedrungene Beginn des Sozialismus der Wenigen, die Siedlung, mehrere Ähnlichkeit mit dem harten und mühsamen Kommunismus primitiver Wirtschaft hat«. Aber »die Hauptsache« ist für ihn, »daß wir diesen kommunismusähnlichen Zustand nicht als Ideal wollen, sondern um des Sozialismus willen als eine Notwendigkeit, als ein Anfangsstadium akzeptieren, weil wir die Beginnenden sind.« Von da aus soll der Weg »so schnell wie möglich« zu einer Gesellschaft führen, in deren nur in allgemeinen Umrissen entworfenem Bild Landauer die Ideen Proudhons und Kropotkins verschmilzt: einer »Gesellschaft des gleichheitlichen Tausches«, die »auf dem Grunde der Gemeinde, der Landgemeinde, welche Landwirtschaft und Industrie vereinigt«, ruht. Aber auch darin erblickt Landauer keineswegs das absolute Ziel, nur was zunächst erstrebt werden kann: »so weit sehen wir in die Zukunft«. Aller echte Sozialismus ist relativ. »Der Kommunismus geht aufs Absolute aus und kann zu ihm freilich keinen anderen Beginn finden als den des Worts. Denn absolut, losgelöst auch von aller Wirklichkeit, sind nur die Worte.« Sozialismus kann nie etwas Absolutes sein. Sozialismus ist das jeweili-

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ge Werden von Menschengemeinschaft im Menschengeschlecht, im Maße und in der Gestalt dessen, was jeweils, in jeweils gegebenen Bedingungen, gewollt und getan werden kann. Allem Verwirklichten droht die Erstarrung; das heute glühend Lebendige kann morgen verkrusten und übermächtig geworden das morgen aufwärts Drängende niederhalten. »Überall, wo Kultur und Freiheit vereint wohnen sollen, müssen die verschiedenen Bindungen der Ordnung sich gegenseitig ergänzen, und muß die bestimmte Gebundenheit das Prinzip der Auflösung in sich tragen … In einer Zeit echter Kultur trägt zum Beispiel die Ordnung des Privatbesitzes als revolutionäres, auflösendes und neu ordnendes Prinzip die Einrichtung der Seisachtheia oder des Jobeljahres in sich.« Echter Sozialismus wacht über der Kraft zur Erneuerung. »Keinerlei endgültige Sicherheitsvorkehrungen fürs tausendjährige Reich oder die Ewigkeit sollen hergestellt werden, sondern eine große und umfassende Ausgleichung und die Schaffung des Willens, diesen Ausgleich periodisch zu wiederholen … ›Da sollst du die Posaune blasen lassen durch all euer Land!‹ Die Stimme des Geistes ist die Posaune … Der Aufruhr als Verfassung, die Umgestaltung und Umwälzung als ein für allemal vorgesehene Regel, die Ordnung durch den Geist als Vorsatz; das war das Große und Heilige an dieser mosaischen Gesellschaftsordnung. Das brauchen wir wieder: eine Neuregelung und Umwälzung durch den Geist, der nicht Dinge und Einrichtungen endgültig festsetzen, sondern der sich selbst als permanent erklären wird. Die Revolution muß ein Zubehör unsrer Gesellschaftsordnung, muß die Grundlegung unsrer Verfassung werden.«

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Versuche Mit der gleichen einfachen Methode wie die frühen Sozialisten als »utopisch«, hat man die zwei großen Wellen der genossenschaftlichen Bewegung, die um 1830 und um 1848 den besten Teil des arbeitenden Volkes in England und Frankreich aufrührten, als »romantisch« abgestempelt, und mit nicht größerer Berechtigung, sofern unter diesem Begriff die Traumhaftigkeit und Wirklichkeitsferne einer Lebensanschauung zu verstehen ist. Ausdruck der tiefgreifenden Krisen, die die Mechanisierung der modernen Wirtschaft begleiteten, waren sie nicht minder als die politischen Bewegungen: der Chartismus in England, die zwei Revolutionen in Frankreich. Aber zum Unterschied von diesen, die eine Änderung der Verfassung und der Machtordnung anstrebten, wollten sie mit der Schaffung einer sozialen Wirklichkeit beginnen, ohne die keine Änderung der Rechtsverhältnisse zur Verwirklichung des Sozialismus führen kann. Man hat ihnen vorgeworfen, daß sie den Anteil des Menschen an der Umgestaltung zu hoch, den der Verhältnisse zu gering bemaßen; aber es gibt keinen anderen Weg, das Maß der Möglichkeiten des Menschen in einer gegebenen Situation zu erfahren, als ihm, um diese zu ändern, das Außergewöhnliche abzufordern. Gewiß, die »heroischen« Formen des Genossenschaftswesens haben ihren Mitgliedern eine Treue und Opferbereitschaft zugetraut, die sie, jedenfalls auf die Dauer, nicht zu leisten vermochten; aber damit ist keinesfalls entschieden worden, daß Treue und Opferbereitschaft zwar in den Ausnahmezeiten politischer Umwälzungen, nicht aber im Alltag des wirtschaftlichen Lebens in zureichendem Maße zu finden sein können. Es ist unschwer darüber zu spotten, daß die Initiatoren der heroischen Genossenschaftsbewegung »den idealen Menschen an die Stelle des realen gesetzt« hätten; aber der »reale« Mensch nähert sich dem »idealen« gerade dann, wenn man ihm die Erfüllung von Aufgaben zumutet, denen er bisher nicht gewachsen war oder sich nicht gewachsen glaubte – nicht für das Individuum allein ist es wahr, daß es »mit seinen höheren Zwecken wächst« oder vielmehr zu wachsen befähigt ist. Und letztlich kommt es auf das Ziel an, Zielbewußtsein und Zielwillen. Die heroische Epoche der modernen Genossenschaft hat die Wandlung der Gesellschaft vor sich gesehen, die apparatmäßige sieht im wesentlichen nur noch den wirtschaftlichen Erfolg der einzelnen genossenschaftlichen Unternehmung vor sich; die erste ist gescheitert, aber damit ist über Ziel und Weg noch nicht das Urteil gesprochen, die zweite hat große Erfolge zu verzeichnen, aber wie Etappen auf dem Weg zum Ziel nehmen sie sich wahrhaftig nicht aus. Ein Vorkämpfer des

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bürokratisierten Genossenschaftswesens drückt sich so über das ursprüngliche aus: »Geben wir unsre ganze Achtung und Bewunderung diesen Demütigen und diesen Gläubigen, die die lodernde Flamme der sozialen Überzeugung geleitet hat … Aber erkennen wir an, daß der Heroismus nicht ein Seelenzustand ist, der für sich geeignet wäre, zu den wirtschaftlichen Erfolgen zu führen.« Wohl, aber erkennen wir auch an, daß die wirtschaftlichen Erfolge nicht eine Errungenschaft sind, die für sich geeignet wäre, zur Restrukturierung der menschlichen Gesellschaft zu führen. Setzen wir für die drei Hauptarten der Kooperation (wenn wir von den Kreditgenossenschaften absehen) – Konsumgenossenschaft, Produktivgenossenschaft, Vollgenossenschaft auf dem Grunde der Vereinigung von Produktion und Konsum – einige Daten aus beiden Bewegungsepochen nebeneinander. Epoche um 1830: 1827 die erste englische Konsumgenossenschaft im modernen Sinn, unter dem Einfluß der Ideen Dr. William Kings begründet, 1832 die erste französische Produktivgenossenschaft, nach den Plänen von Buchez errichtet, zwischen beiden die Siedlungsexperimente Owens und seiner Anhänger, das amerikanische und die englischen. Epoche um 1848: erst die Konsumgenossenschaft der Weber von Rochdale, dann Louis Blancs »nationale Werkstätten« und Verwandtes, endlich als Satyrspiel das tragikomische »Icaria«-Unternehmen Cabets (der ein wirklicher Utopiker im negativen Sinn, ein sozialer Konstrukteur ohne eigentliches Verständnis der menschlichen Fundamente war) über dem Ufer des Mississippi. Es soll hier über sie, als über Versuche zur Verwirklichung des »utopischen« Sozialismus, nur so weit geredet werden, als es von der Absicht dieses Buches aus erforderlich erscheint. King und Buchez waren beide Ärzte und beide, im Gegensatz zu Owen, der den Kampf gegen die Religion als eine Hauptaufgabe seines Lebens betrieb, gläubige Christen, jener Protestant, dieser Katholik. Das ist nicht ohne Bedeutung. Für Owen war der Sozialismus eine Frucht der Vernunft, für King und Buchez die Realisierung der Lehren des Christentums im Bereich des öffentlichen Lebens. Beide hielten, wie Buchez sagt, den Augenblick für gekommen, die Lehren des Christentums »in soziale Institutionen zu verwandeln«. Dieses religiöse Grundgefühl wirkte bei beiden tief auf die Gesamthaltung ein, bei King, der den Quäkern nahestand und mit ihnen zusammenarbeitete, auch auf den Ton seiner Worte: überall spüren wir hier die konkrete, unmittelbare, aus dem Innersten kommende Sorge um den Mitmenschen, dessen Seele und Leben. Mit Recht hat man King in unserer Zeit, als man ihn aus der Vergessenheit hervorholte, den ersten und größten englischen Genossen-

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schaftstheoretiker genannt. Er hatte aber überdies die Gabe des sachlichen, das Wesen dessen wovon er sprach für alle aufschließenden Wortes. Ich kenne in der gesamten Literatur über Kooperation nichts, was so den Eindruck des Volkstümlichen und Klassischen zugleich erweckt wie die 28 kleinen Hefte der Zeitschrift »The Cooperator«, die King von 1828 bis 1830 zur Belehrung der für seine Ideen tätigen Menschen schrieb und herausgab. Dabei hat er eine Tiefe und Klarheit zugleich der sozialistischen Erkenntnis wie – mit Ausnahme des wissenschaftlicher, aber auch abstrakter denkenden William Thompson – keiner seiner Zeitgenossen. Er geht von der Arbeit aus als »der Wurzel des Baums, zu welchem Umfang auch er erwachsen möge«. Die Arbeit ist »in diesem Sinne alles«. Die arbeitenden Klassen »haben das Monopol dieses Artikels«. Keine Kraft kann sie seiner berauben, denn alle Macht ist »nichts weiter als die Macht, die Arbeit der arbeitenden Klassen zu lenken«. Was ihnen fehlt, ist Kapital, d. h. Verfügung über die Maschinen und die Möglichkeit, sich selber zu erhalten, während sie daran arbeiten. Aber »alles Kapital ist aus Arbeit gemacht«, und es ist »nichts in sich selbst«, es muß sich wieder mit Arbeit vereinigen, um produktiv zu sein. Diese Vereinigung vollzieht es jetzt dadurch, daß es den Arbeiter »kauft und verkauft wie ein Tier«. Die wahre Vereinigung, den »natürlichen Bund«, können die arbeitenden Klassen selber herbeiführen, sie wissen es nur nicht. Sie können es aber nur, wenn sie sich zusammentun, kooperieren, gemeinsames Kapital bilden, unabhängig werden. King nimmt den schon vor ihm von Thompson geäußerten Gedanken der Kooperation als die Produktionsform der Arbeit mit Leidenschaft auf. »Sobald die Arbeiter sich auf dem Grunde der Arbeit statt auf dem Grund des Kapitals vereinigen, werden sie den Staub in manchen Richtungen aufwirbeln; und es ist zu wetten, daß der Staub manche von den Unternehmern blind machen wird.« Wenn die Arbeiter sich zusammentun, können sie die Werkzeuge, die sie brauchen, die Maschinen, erwerben und selber in ihren Genossenschaften das Subjekt der Produktion werden. Sie können aber auch den Boden erwerben. King spricht es deutlich aus, daß er in der Konsumgenossenschaft nur einen Anfang sieht, daß sein Ziel wie das Thompsons die Vollgenossenschaft ist. Sobald sie über hinreichendes Kapital verfügt, kann die »Gesellschaft«, d. h. die Konsumgenossenschaft, »Land erwerben, darauf leben, es selber bebauen, beliebige Erzeugnisse herstellen, und so all ihre Bedürfnisse an Nahrung, Kleidung und Häusern befriedigen. Die Gesellschaft wird dann eine Gemeinschaft (community) genannt werden.« King ruft auch die Gewerkschaften auf, aus ihren Ersparnissen Land zu kaufen und darauf ihre erwerbslosen Mitglieder in vor allem für den eigenen Bedarf produzierenden Gemein-

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schaften anzusiedeln. Diese Gemeinschaften werden nicht mehr bloß bestimmte Interessen und Funktionen der Genossen umfassen, sondern ihr Leben, soweit sie es gemeinsam leben wollen und können. Aber die Lebensgemeinschaft soll, wenn sie sich auch erst in der Vollgenossenschaft zu vollständiger Wirklichkeit entfalten kann, doch ihrer seelischen Disposition nach schon in der Beziehung der Mitglieder der Konsumgenossenschaft zueinander existieren. King denkt dabei nicht bloß an eine unpersönliche Solidarität, sondern an einen, zwar im allgemeinen latent bleibenden, aber sich jeweils zu aktualisieren bereiten persönlichen Zusammenhang, eine »Sympathie«, die »mit neuen Energien wirkt und sich gelegentlich sogar zur Begeisterung steigern kann«. Daher dürfen nur Mitglieder zugelassen werden, die solchen Zusammenhangs fähig sind. Das Grundgesetz der Kooperation ist für King die Herstellung echter Beziehungen zwischen Mensch und Mensch. »Wenn jemand in eine kooperative Gesellschaft eintritt, tritt er in eine neue Beziehung zu seinen Mitmenschen ein; und diese Beziehung wird sogleich der Gegenstand jeglicher Sanktion, sowohl der sittlichen als der religiösen.« Daß diese ideale, diese »heroische« Forderung in der Folgezeit, mit zunehmender Mitgliederzahl der Konsumgenossenschaft, mit ihrer zunehmenden Technisierung und Bürokratisierung, nicht aufrechtzuerhalten war, ist selbstverständlich; aber die Unzulänglichkeit dieser Teilgenossenschaft, vom Gesichtspunkt einer Restrukturierung der Gesellschaft aus betrachtet, hängt damit zusammen. Als William King 1830 die Herausgabe des »Cooperator« einstellte, waren unter dem Einfluß seiner Lehren 300 Gesellschaften entstanden, die sich aber zumeist nicht lange am Leben erhielten, »aus Mangel an Einheit und tätigem Zusammenwirken unter den Mitgliedern«, und dem unter ihnen herrschenden »Geist der Selbstsucht«, wie einer der Führer schon auf dem Kongreß von 1832 sagte. Die entscheidende Entwicklung der auf dem Konsum begründeten Kooperativen begann erst 1844, als in der Stadt Rochdale eine kleine Schar von Flanellwebern und Vertretern anderer Gewerbe zusammenkam, um in der schweren Industriekrise, die wieder über England hereingebrochen war, kurz nach dem Scheitern eines Streiks, einander zu fragen: »Was können wir tun, um uns aus dem Elend zu retten?« Es gab etliche unter ihnen, die meinten, jeder müsse bei sich selber beginnen, und das ist stets und unter allen Umständen richtig, denn ohne dies kann nichts geraten, man muß nur eben wissen, daß es lediglich ein Teil von dem ist, was man zu tun hat, wiewohl ein bedeutender Teil; und weil sie das nicht wußten, schlugen sie vor, man solle dem Alkoholgenuß entsagen, und damit vermochten sie freilich die Genossen nicht zu überzeugen (wie wichtig diesen dennoch

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der Vorschlag erschien, ist daraus zu ersehen, daß hernach in den Satzungen der »Redlichen Pioniere von Rochdale« unter den Aufgaben der Genossenschaft die Errichtung eines Abstinentenhotels angeführt wird). Und wieder waren da welche, der auf Verfassungsänderung und Machteroberung ausgehenden chartistischen Bewegung Angehörende, die beantragten, man solle sich der politischen Aktion anschließen, um der Arbeiterschaft den ihr zukommenden Anteil an der Gesetzgebung zu erkämpfen; aber die Bewegung hatte ihren Höhepunkt überschritten, und man hatte gelernt, daß auch der politische Kampf zwar notwendig ist, aber nicht genügt. Von den Anhängern Owens, die unter den Versammelten waren, erklärten einige, in England gebe es für sie keine Hoffnung mehr, sie müßten auswandern und sich in der Fremde ein neues Leben bauen (wobei sie vielleicht an die Möglichkeit neuer Siedlungsversuche in Amerika dachten); aber auch das wurde abgelehnt, denn die Empfindung herrschte vor: »tun« heißt hier tun, heißt vor der Krise nicht flüchten, sondern sie mit den eigenen Kräften bestehen. Diese Kräfte waren freilich gering, aber einige der Weber, die in einem gewissen Maße mit den Lehren William Kings vertraut waren, wiesen darauf hin, daß man die Kräfte zusammenlegen konnte und dann war vielleicht doch eine Kraft da, mit der sich etwas ausrichten ließ. So beschlossen sie denn zu »kooperieren«. Die Aufgaben, die die Genossenschaft sich setzte, waren zum Teil sehr weit gesteckt, ohne daß man deshalb die Verfasser der Satzungen einer überkühnen Phantasie zeihen dürfte. Diese Aufgaben bauen sich in drei Stufen auf. Die erste, die Konsumgenossenschaft, wird als etwas sofort zu Organisierendes behandelt. Die zweite, der Bereich der Produktivgenossenschaft, der das gemeinsame Bauen von Häusern für die Mitglieder, das gemeinsame Erzeugen von Waren und das gemeinsame Bebauen von Ländereien durch erwerbslose Genossen umfaßt, wird zwar ebenfalls für eine unferne Zeit in Aussicht genommen, aber offenbar noch nicht für die nächste Zukunft. Die dritte Stufe, die Siedlungsgenossenschaft, wird durch den Vermerk »so bald als tunlich« noch weiter abgerückt: »so bald als tunlich soll die Gesellschaft daran gehen, die Kräfte der Produktion, der Verteilung, der Erziehung und der Regierung zu ordnen, oder mit anderen Worten, eine sich selbst erhaltende Siedlung vereinigter Interessen zu begründen oder anderen Gesellschaften in der Begründung solcher Siedlungen beizustehn.« Es ist erstaunlich, wie hier die praktische Intuition der Flanellweber von Rochdale die wesentlichen drei Bereiche der Kooperation erfaßt hat. In dem ersten, der Konsumgenossenschaft, haben sie durch ihre einfachen und wirksamen Methoden (unter denen besonders die Gewinnverteilung unter den Mitgliedern nach

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der verhältnismäßigen Höhe der Einkäufe sich als werbekräftig erwies) Bahnbrechendes geleistet. In das Gebiet der Produktion haben sie mit wachsendem Erfolg einige Vorstöße unternommen, besonders im Getreidemahlen, sodann aber auch in dem zunächst liegenden Bezirk der Spinnerei und Weberei; doch ist es für die (noch zu besprechende) Problematik der genossenschaftlichen Tätigkeit im Teilgebiet der Produktion charakteristisch, daß in der von den Redlichen Pionieren erbauten Dampfspinnerei nur etwa die Hälfte der Arbeiter Mitglieder der Genossenschaft, also »Aktionäre« waren, und daß diese alsbald das Prinzip durchsetzten, die Arbeit mit ihrem Lohn abzufinden, den Gewinn aber ausschließlich auf die Aktionäre zu verteilen, »als Unternehmer und Eigentümer des Geschäfts«, wie der bedeutende Kooperationist Viktor Aimé Huber, der Rochdale in dessen Frühzeit wiederholt besuchte, in seiner Monographie über die Pioniere bemerkt. An eine Verwirklichung der dritten, der größten und entscheidenden Aufgabe, der Produktion und Konsum verschmelzenden Siedlungsgenossenschaft, sind die Pioniere nicht herangetreten. Ein Moment in der Institution von Rochdale verdient noch besondere Beachtung. Das ist die Kooperation von Kooperativen, die Zusammenarbeit mehrerer kooperativer Gruppen und Anstalten, die von den Pionieren und später im Anschluß an sie unternommen worden ist. »Das Prinzip des Föderalismus«, sagt hierzu der rumänische Forscher Mladenatz in seiner »Geschichte der kooperativen Lehren«, in offenbarer Anlehnung an Proudhon, »geht auf natürliche Weise aus der Idee selber hervor, die die Grundlage des kooperativen Systems ist. Wie die kooperative Gesellschaft Personen verbindet, um gewisse Bedürfnisse gemeinsam zu befriedigen, so verbinden sich verschiedene kooperative Zellen, indem sie das Prinzip der Solidarität anwenden, miteinander, um gemeinsam gewisse Funktionen auszuüben, insbesondere die der Versorgung und der Produktion.« Wir finden hier das Urprinzip der Restrukturierung der Gesellschaft wieder, obzwar freilich die Konsumvereine als solche, als Genossenschaften, die nur bestimmte Interessen von Menschen, nicht aber die Lebenseinheiten dieser Menschen selber vereinigen, nicht geeignet erscheinen, Zellen einer neuen Struktur abzugeben. Die moderne Konsumgenossenschaft, die eine so große Realität in dem wirtschaftlichen Leben unserer Zeit geworden ist, ist aus den Ideen des »utopischen« Sozialismus hervorgegangen. In William Kings Plänen ist die Tendenz deutlich erkennbar, zu der großen sozialistischen Wirklichkeit durch die Schaffung kleiner sozialistischer Wirklichkeiten zu gelangen, die sich stetig erweitern und zusammenschließen. Aber King erkannte zugleich, bereits mit großer Klarheit die technisch-wirtschaftliche

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Umwälzung, die in seiner Zeit angehoben hatte. Er erkannte die zentrale Bedeutung der Maschine und bejahte sie; er verwarf alle Maschinenstürmerei als »Tollheit und Verbrechen«. Aber er erkannte auch dies, daß die Erfinder, die Arbeiter sind, sich selber und ihre Genossen durch ihre »wunderbaren Erfindungen« zugrunde richten, weil sie sie »an ihre Herren verkaufen, damit sie gegen sie selber arbeiten, statt sie in ihren eigenen Händen zu behalten, damit sie mit ihnen arbeiten«. Dazu ist es freilich not, daß das arbeitende Volk sich kooperativ in seinen Genossenschaften konstituiere. »Die Arbeiter haben Scharfsinn genug, um alle Maschinerei der Welt zu machen, aber sie haben noch nicht genug Scharfsinn gehabt, um sie für sie selber arbeiten zu lassen. Dieser Scharfsinn wird nicht viel länger schlummernd bleiben.« Die genossenschaftliche Organisation des Konsums ist somit für King nur eine Etappe zur genossenschaftlichen Organisation der Produktion, aber auch diese ist nur eine Etappe zum genossenschaftlichen Aufbau des Gesamtlebens. In dem Jahrhundert seit ihren Anfängen hat die Konsumgenossenschaft sich einen erheblichen Teil der zivilisierten Menschheit erobert, aber die Hoffnungen, die King auf ihre innere Entwicklung setzte, haben sich bisher nicht erfüllt. Wohl haben sich Konsumvereine vielerorten, zum Teil in sehr großem Umfange, der Produktion für den Eigenbedarf zugewendet, insbesondere in Großbritannien, wo die zwei vereinigten riesenhaften Großverkaufsgesellschaften, von denen die englische »Europas größtes Handelsunternehmen« genannt worden ist, einen großen Bodenbesitz bewirtschaften und bedeutende Industrien kommanditieren (ohne übrigens ihre Arbeiter am Gewinn zu beteiligen); wohl besteht, wie Fritz Naphtali mit Recht hervorhebt, die Tendenz, immer tiefer in die Produktion in der Richtung zur Urproduktion einzudringen. Aber einer organischen Verknüpfung von Produktion und Konsum in einer umfassenden Gemeinschaftsform ist man damit kaum näher gekommen, obgleich wir schon beachtenswerte Beispiele dafür haben, daß große Konsumvereine oder ihre Verbände für einzelne Produktionszweige Produktivgenossenschaften organisieren oder bestehende sich angliedern; das ist nur technische Organisation, nicht Durchführung eines echten kooperativen Gedankens. Und ebensowenig hat der Zusammenschluß der lokalen Vereine, wo er einen großen Umfang angenommen hat, einen echten föderativen Charakter gewahrt; die kleinen Genossenschaften haben sich in diesen Fällen zumeist, wie schon vor einigen Jahrzehnten berichtet worden ist, aus selbständigen Herden der sozialen Solidarität in bloße Mitgliederschaften, und ihre Läden in bloße Filialen der Gesamtorganisation verwandelt. Die technisch-wirtschaftlichen Vorzüge dieser

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Zentralisation sind selbstverständlich; das Bedenkliche ist, daß hier keine Kraft da war, die jeweils so viel Autonomie der Einzelgenossenschaften zu retten suchte, als sich mit den technisch-wirtschaftlichen Erfordernissen vereinbaren ließ, wiewohl man freilich bereits hier und da, z. B. in der Schweiz, der fortschreitenden »Entseelung«, ja Entsubstantialisierung der Genossenschaft durch eine planmäßige Dezentralisation entgegenzuwirken sucht. Zumeist ist der Betrieb der großen kooperativen Institutionen dem der kapitalistischen immer ähnlicher geworden, und das Prinzip der Bürokratie hat in sehr vielen Fällen das der Freiwilligkeit, einst als das kostbarste und unentbehrlichste Gut der kooperativen Bewegung gepriesen, völlig verdrängt. Dies ist besonders deutlich in Ländern, wo die Konsumentenverbände in zunehmendem Maße mit Staat und Gemeinden zusammengewirkt haben, und Charles Gide hatte gewiß nicht unrecht, als er an die Fabel von dem als Hirt verkleideten Wolf erinnerte und die Befürchtung äußerte, anstatt den Staat zu kooperatisieren würde man dazu gelangen, die Kooperative zu etatisieren. Der Geist der Solidarität aber kann nur in dem Maße wahrhaft lebendig bleiben, als sich lebendiger Zusammenhang zwischen den menschlichen Personen erhält. Ferdinand Tönnies meinte einmal, durch den Übergang der Konsumvereine zu gemeinschaftlichem Einkauf und sodann zur Produktion ihres eigenen Bedarfs seien »die Grundlagen einer wirtschaftlichen Organisation hergestellt, die in offenbarem Gegensatz zur bestehenden Gesellschaftsordnung steht«, der Idee nach sei damit »die kapitalistische Welt aus den Angeln gehoben«. Aber aus diesem Zustand »der Idee nach« kann ein Zustand der Wirklichkeit nach nicht werden, solang die Seinsformen des Kapitalismus die kooperative Tätigkeit durchdringen. Buchez, der bald nach King in Frankreich die Begründung von Kooperativen der Produktion plant und anregt, ist im Grunde ebenfalls ein »utopischer« Sozialist. »Die kommunistische Reform, die sich aufdrängt«, schreibt er 1831 in seiner Zeitschrift »L’Européen«, »soll sich durch die Assoziation der Arbeiter vollziehen.« Für Buchez, der, wiewohl gläubiger Katholik, durch die Schule des Saint-Simonismus gegangen ist, wo er dem radikalen Sozialisten Bazard nahestand, ist die Produktion alles, die Organisation des Konsums kann für ihn nicht einmal eine Etappe bedeuten. Seiner Überzeugung nach führt die Produktivgenossenschaft – bei der er, weniger verständnisvoll für die technische Entwicklung als King, mehr an Handwerker als an moderne Industriearbeiter dachte – unmittelbar zur sozialistischen Ordnung. »Die Arbeiter eines Fachs vereinigen sich, legen ihre Ersparnisse zusammen, nehmen eine Anleihe auf, produzieren auf eigene Rechnung, zahlen das entliehene Kapital unter vielen Entbehrungen zurück, sichern sich ge-

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genseitig einen gleichen Lohn zu und lassen den Gewinn in gemeinsamen Fonds, so daß die kooperative Werkstatt eine kleine industrielle Gemeinschaft wird.« Une petite communauté industrielle – hier kommt Buchez der Konzeption Kings nahe, wie aus einer Society eine Community wird, nur daß er schon der bloßen Produktivgenossenschaft diesen Charakter zuschreibt, wogegen Kings tiefere Einsicht eine solche Möglichkeit nur für die Vollgenossenschaft erblickt. Und Buchez schließt mit der einfachen, allzu einfachen Formel: »Mögen es alle Arbeiter so machen und das soziale Problem wird gelöst sein.« Er wußte freilich selber, daß das große Problem des Bodenbesitzes damit noch keineswegs gelöst war; er behalf sich mit der Formel: »Der Boden dem Bauern, die Werkstatt dem Arbeiter«, ohne die Frage der sozialen Umgestaltung der Landwirtschaft in ihrem Ernst zu erfassen; das Problem der Entwicklung zur Vollgenossenschaft, das entscheidende Problem der Restrukturierung, war ihm zum Unterschied von King noch verhohlen. Dagegen hat Buchez mit erstaunlichem Scharfblick einen großen Teil der Gefahren erkannt, die dem sozialistischen Charakter und der sozialistischen Aufgabe der Produktivgenossenschaft von innen her drohen, vor allem eine: die zunehmende Differenzierung innerhalb der wachsenden genossenschaftlichen Unternehmung zwischen den Genossen, die sie begründet haben, und den hinzugekommenen Arbeitern, eine Differenzierung, die der Genossenschaft, mag sie sich noch so nachdrücklich zum Sozialismus bekennen, unausweichlich das Gepräge eines Anhängsels der kapitalistischen Ordnung verleiht. Um diese Gefahr zu bannen, hat Buchez in das modifizierte Programm, das er nach den ersten praktischen Erfahrungen (Ende 1831) veröffentlichte, zwei Gegenmaßnahmen eingebaut: das aus der jeweiligen Zurücklegung eines Fünftels des Gewinns entstehende »soziale Kapital« sollte unveräußerliches, unteilbares Eigentum der Genossenschaft verbleiben, die als unauflösbar erklärt werden und sich stetig durch Aufnahme neuer Mitglieder erneuern sollte; und die Genossenschaft dürfe fremde Arbeiter als Lohnarbeiter nie länger als ein Jahr beschäftigen, nach dieser Zeit müsse sie jeweils neue Genossen nach Maßgabe ihres Bedarfs aufnehmen (in einem 1840 in der Zeitschrift der Buchezianer, L’Atelier, veröffentlichten Mustervertrag ist die Frist auf eine Probezeit von drei Monaten reduziert worden). Zu dem ersten der zwei Punkte sagte Buchez, ohne dieses Kapital würde die Genossenschaft »jeder andern Handelsgesellschaft ähnlich werden; sie würde den Gründern allein nützlich sein, schädlich allen, die nicht zu Anfang an ihr teilgenommen hätten; denn sie würde schließlich in den Händen der ersten ein Mittel der Ausbeutung sein«. Dieser Programmpunkt zielte, wie mit Recht gesagt worden ist, auf die Schaffung eines

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Kapitals ab, das am Ende »das ganze industrielle Kapital des Landes aufsaugen und so die Aneignung aller Produktionsmittel durch die Arbeitergenossenschaften verwirklichen sollte«. Auch hier finden wir jenes »utopische« Element wieder; aber was ist letzthin praktischer, soziale Wirklichkeit durch soziale Wirklichkeit schaffen wollen, deren Rechte auf politischem Wege zu verteidigen und zu erweitern wären, oder soziale Wirklichkeit durch den Zauberstab der Politik allein schaffen wollen? Freilich sind jene Grundsätze von den unter dem Einfluß Buchez’ begründeten Genossenschaften nur ungleichmäßig befolgt worden, und nach zwanzig Jahren war das Prinzip des unteilbaren Kapitals so in Frage gestellt, daß die Treugebliebenen einen schweren und im wesentlichen erfolglosen Kampf darum ausfechten mußten, als um das Prinzip, durch das »Eigentum sich umwandeln und das Kapital unter die Herrschaft der Arbeit« geraten solle, und das erhalten werden müsse, damit die Institution der Genossenschaft der ganzen Arbeiterklasse fromme »und nicht bloß einigen glücklichen Gründern, die dank ihr aus Lohnarbeitern Rentner werden«. Und um eben dieselbe Zeit, 1852, lesen wir in England in einem Bericht der Society for Promoting Working Men Associations von ganz ähnlichen Erfahrungen. Aber aus ihnen allen ist, wie aus den analogen schon aus der Zeit des Mittelalters, wie anderseits aus den verwandten in der Geschichte der Konsumvereine, nichts anderes zu folgern als daß eine, wenn auch nur allmähliche Überwindung der inneren Problematik der Genossenschaften und der sich in ihnen geltend machenden Macht des kapitalistischen Prinzips sich nur in der Vollgenossenschaft und durch sie wird vollziehen können. Es ist wahrscheinlich, daß Louis Blanc von dem Gedanken Buchez’ beeinflußt worden ist; aber er trennt sich von ihm an entscheidenden Punkten. Dabei ist nicht dies das wichtigste, daß er (1841) für die zu begründenden »sozialen Werkstätten«, wie später Lassalle für seine Arbeiter-Produktivgenossenschaften, Staatshilfe verlangte, weil, »was den Proletariern fehle, um sich zu befreien, die Arbeitswerkzeuge sind, und es die Aufgabe der Regierung sei, sie ihnen zu liefern«. Das war nur ein gründlicher Irrtum, ja bei Blanc geradezu ein logischer Widerspruch, da doch eine Regierung, die eine bestimmte Staatsordnung vertritt, nicht wohl zu veranlassen ist, Institutionen ins Leben zu rufen, die dazu bestimmt sind (das war Blancs deutlich ausgesprochene Meinung), diese Ordnung aufzuheben, und es war folgerichtig, daß 1848 die antisozialistische Mehrheit der provisorischen Regierung den Plan Blancs zuerst durch ein Zerrbild ersetzte und dann auch dies zuschanden machte; aber für die Frage nach dem Wesen der geplanten sozialen Reform ist diese Forderung nicht wesentlich. Weit wichtiger ist, daß Blancs soziales Pro-

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gramm selber zentralistisch gedacht war: er wollte, daß jede große Industrie sich als eine einzige Assoziation konstituiere, indem sie sich um eine zentrale Werkstatt gruppiere. Er gab diesem im Grunde Saint-Simonischen Gedanken zwar einen föderalistischen Anstrich, indem er verlangte, die Solidarität aller Arbeiter in einer Werkstatt solle sich in einer Solidarität der Werkstätten innerhalb eines Industriezweigs fortsetzen und schließlich in der Solidarität aller Industriezweige sich vollenden; aber was er Solidarisation nannte, war in Wahrheit Verschmelzung zu jeweils einem zentralisierten Gesamtbetrieb mit Monopolstellung. Wohl war es Blanc darum zu tun, die unbeschränkte Konkurrenz, »dieses feige und brutale Prinzip«, wie er einmal in der Nationalversammlung sagte, an ihren Wurzeln zu bekämpfen, d. h. zu verhüten, daß an die Stelle der individuellen die kollektive Konkurrenz trete; und dies ist ja in der Tat neben der inneren Differenzierung die Hauptgefahr, die der Produktivgenossenschaft droht – ein gutes Beispiel für das allgemeine Auftreten dieser Gefahr liefert der Brief eines Führers der christlich-sozialistischen englischen Genossenschaftsbewegung eben jener Zeit, in dem von den von dieser Bewegung geschaffenen Produktivgenossenschaften gesagt wird, sie seien »von einem durchaus gewinnsüchtigen Konkurrenzgeist bewegt worden« und hätten »lediglich einen erfolgreicheren Wettbewerb angestrebt, als er im gegenwärtigen System möglich ist«. Diese Gefahr wurde von Buchez und seinen Anhängern erkannt; sie lehnten es aber ab, sie durch den Monopolismus zu bekämpfen, der ihnen noch gefährlicher erschien, weil er für sie die Erstarrung, das Ende aller lebendigen Entwicklung bedeutete; vielmehr sollte nach ihren Vorschlägen die Konkurrenz zwischen den Genossenschaften durch den Bund der Genossenschaften selber geordnet und geregelt werden. Hier steht freie Föderation gegen geplante Verschmelzung. Man muß aber anerkennen, daß die föderalistische Idee bei Blanc immer wieder hervorbricht und die zentralistische Hülle sprengt, insbesondere freilich, nachdem der Staatsplan mißglückt ist. Er arbeitet Buchez’ Plan des Reservefonds dahin aus, daß er bestimmt sein soll, »das Prinzip der gegenseitigen Hilfe und der Solidarität zwischen den verschiedenen sozialen Werkstätten zu verwirklichen«. Sowie er aber erst von dem Plan der staatlichen Initiative zu dem der freien Genossenschaften übergeht, sieht er keinen anderen Weg zur Erreichung dieses Ziels mehr als den der Föderierung, zunächst der bereits vorhandenen Genossenschaften: diese sollen sich miteinander verständigen und ein Zentralkomitee ernennen, das im ganzen Land »die wichtigste aller Subskriptionen organisiert: die Subskription zur Abschaffung des Proletariats«. Solche Worte sind freilich an der Grenze zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen beheimatet; aber der Anruf

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an das Proletariat zur Selbstabschaffung durch Kooperation entbehrt eines praktischen Ernstes nicht, der nicht ohne Bedeutung für die Folgezeit ist. Und Ende 1849 sehen wir Blanc der aus der Föderation von mehr als 100 Genossenschaften entstandenen und seines Gegners Proudhon Idee der »mutualité du travail« realisierenden Union des associations fraternelles seine Billigung aussprechen; wobei er sich freilich darauf stützen konnte, daß auch unter ihren Aufgaben von einer »Zentralisierung der Geschäfte von allgemeinem Interesse« die Rede war. Überhaupt finden wir bei Blanc manchen Gedanken, der in den lebendigen Traditionszusammenhang des »utopischen« Sozialismus gehört. Er sieht in der Zukunft die Produktivgenossenschaft in die Vollgenossenschaft übergehen, wie King die Konsumgenossenschaft in sie übergehen sah; im Hinblick darauf ist er schon jetzt – ebenso wie die von ihm gelobte Union des associations fraternelles, die als Föderation »ackerbauende und industrielle Kolonien« in großem Maßstabe gründen wollte – auf die Schaffung von Gemeinschaftssiedlungen bedacht, wobei er von der wirtschaftstechnischen Notwendigkeit des Großbetriebs ausgeht: »man muß das System des landwirtschaftlichen Großbetriebs aufwecken, indem man es mit der Association und dem Gemeinbesitz verknüpft«; und er will die Industrien nach Möglichkeit aufs Land verpflanzen und »die industrielle Arbeit mit der agrikulturellen vermählen« – auch hier wird der Kropotkinsche Gedanke der Arbeitsteilung in der Zeit, der Verbindung von Landwirtschaft, Industrie und Handwerk in der modernen Dorfgemeinschaft, vorweggenommen. Trotz der bald einsetzenden Unterdrückung der Genossenschaftsföderationen durch die Reaktion sind auch in den folgenden Jahren in Frankreich zahlreiche neue Produktivgenossenschaften entstanden; sogar Ärzte und Apotheker schließen sich genossenschaftlich zusammen (selbstverständlich handelt es sich hierbei nicht um echte Produktivgenossenschaft, da von einer gemeinschaftlichen Arbeit hier nicht die Rede sein kann). Die Kraft der Genossenschaftsbegeisterung hat die Revolution überdauert. Auch die Verfolgungen und Auflösungen vieler Genossenschaften nach dem Staatsstreich vermochten die Bewegung nicht zu ersticken. Die eigentliche Gefahr drohte ihnen hier wie in England von innen: die Kapitalisierung, die allmähliche Verwandlung in kapitalistische oder halbkapitalistische Gesellschaften. Vierzig Jahre nach der um 1850 einsetzenden enthusiastischen Anstrengung der englischen »christlichen Sozialisten«, ein großes Netz von Produktionsgenossenschaften zu schaffen, um »nach und nach alle Gütererzeugung in Genossenschaftsform zu bringen und unter Ausschluß gegenseitiger Konkurrenz die Preise durch Übereinkunft zwischen sämtlichen Genossenschaften fest-

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setzen zu lassen«, stellte Beatrice Webb fest, daß mit Ausnahme von acht Genossenschaften, die mehr oder weniger dem Ideal einer »Bruderschaft der Arbeiter« treu geblieben waren, von denen aber die meisten auch in dem einen oder andern Punkt fragwürdig waren, alle »eine erstaunliche Mannigfaltigkeit von aristokratischen, plutokratischen und monarchischen Verfassungen aufwiesen«. Fünfzig Jahre nach Louis Blanc gab es in Frankreich eine in dieser Hinsicht durchaus typische Produktivgenossenschaft, die der Brillenmacher, die neben einer kleinen Zahl von associés und ungefähr ebensoviel adhérents das mehr als zehnfache an Lohnarbeitern beschäftigte. Wir kennen jedoch auch überall schöne Beispiele des inneren Kampfes um den Sozialismus. Sie haben zuweilen einen tragischen Zug, zugleich aber etwas Vorläuferisches. Man hat mit Recht die Produktivgenossenschaft »das Schmerzenskind und den Liebling« all derjenigen genannt, »die von der Genossenschaftsbewegung Wesentliches für die Erlösung der Menschheit erwarten«; es ist aber auch von den Tatsachen aus zu verstehen, wenn ein Vorkämpfer der Konsumvereine die für den Warenmarkt arbeitenden Produktivgenossenschaften »im Kern und Wesen durchaus unsozialistisch« nennt, weil »Produzenten, für sich allein gestellt, immer und unter allen Umständen separatistische, individuelle oder gruppenhafte Interessen haben«. Aber, von der Übertreibung abgesehen, die in dieser Formulierung liegt: es sollen eben die Produktivgenossenschaften nicht »für sich allein gestellt« sein. Zwei große Prinzipien mitsammen sollen sie davor behüten: die Zusammenlegung von Produktion und Konsum in der Vollgenossenschaft und der Föderalismus. Die Entwicklung der Konsumvereine vollzieht sich in einer geraden Linie des numerischen Aufstiegs; ein erheblicher Teil der zivilisierten Menschheit (charakteristischerweise außerhalb Amerikas) ist heute der Konsumseite nach kooperativ organisiert. Dagegen läßt sich die Entwicklung der Produktivgenossenschaften (ich spreche hier nur von den industriellen Produktivgenossenschaften im engeren Sinn und nicht von all jenen partiellen, vornehmlich landwirtschaftlichen, Assoziationen, die lediglich auf eine Erleichterung und Intensivierung der individuellen Produktion abzielen) in einer Zickzacklinie darstellen, die in ihrer Gesamtheit kaum eine aufsteigende Tendenz aufzuweisen hat: immer neue entstehen, immer wieder gehen die meisten der lebenskräftigen von ihnen in die Sphäre des Kapitalismus über, es besteht fast keine Kontinuität. Mit der Vollgenossenschaft aber verhält es sich noch anders: ihre Entwicklung, sofern von einer solchen zu reden ist, sieht wie eine Menge von kleinen Kreisen aus, zwischen denen im allgemeinen eine eigentliche Verbindung nicht besteht. Die Begründung von Konsumvereinen und

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Produktivgenossenschaften ist von umfassenden Bewegungen ausgegangen, die von Ort auf Ort übergriffen; die Begründung von Siedlungen im Sinne der Vollgenossenschaft hat zumeist etwas Sporadisches, Improvisiertes, Folgenloses gehabt. Ihnen hat es im Gegensatz zu jenen daran gemangelt, was Franz Oppenheimer die »Kräfte der Fernwirkung« genannt hat. Nicht, als ob nicht manche von ihnen von sich reden gemacht hätten; aber ihre Attraktion war eine individuelle, sie riefen nicht neue Gemeinschaftszellen ins Leben. In der Geschichte der genossenschaftlichen Siedlungen ist weder in Europa (mit Ausnahme von Sowjetrußland, wo aber die entscheidende Grundlage echter Freiwilligkeit und Autonomie fehlt) noch in Amerika eine föderative Tendenz aufzuzeigen. Konsumvereine haben sich kontinuierlich und stetig wachsend föderiert, ebenso im allgemeinen landwirtschaftliche Produktivgenossenschaften, industrielle Produktivgenossenschaften diskontinuierlich, zunehmend und abnehmend, Gemeinschaftssiedlungen im allgemeinen überhaupt nicht. Ihr Schicksal ist ihrem Willen entgegen: sie wollten sich zunächst nicht isolieren, aber sie haben sich isoliert, sie wollten wirkende Vorbilder werden, aber sie wurden nur interessante Experimente, sie wollten mit Dynamit geladene Anfänge der gesellschaftlichen Umwandlung sein, aber jede hatte ihr Ende in sich selber. Die Ursache dieser Verschiedenheit zwischen Konsum- und Produktivgenossenschaften einerseits und Vollgenossenschaften anderseits scheint mir letztlich in einem wesentlichen Unterschied in den Ausgangspunkten zu liegen. Die Konsum- und Produktionsgenossenschaften sind aus gegebenen Situationen herausgewachsen, die in einer ganzen Reihe von Orten und Betrieben ungefähr die gleichen waren, so daß von vornherein der Keim zu gegenseitiger Beeinflussung der Versuche gelegt war, die zur Bewältigung der Situation unternommen wurden, und damit auch der Keim zu ihrer Föderierung; damit hängt zusammen, daß die Pläne, durch die die Begründung dieser Genossenschaften angeregt worden ist, nicht aus einem allgemeinen Gedanken stammten, sondern aus einer gewissermaßen von den Situationen selber an den Planenden gerichteten Frage. Man kann dies sowohl bei King wie bei Buchez genau verfolgen, wozu noch kommt, daß beide von vornherein Föderalisten waren; Buchez hatte sogar für die von ihm vorgeschlagenen Gewerkschaften bereits einen föderativen Zusammenschluß ins Auge gefaßt. Hier wie dort sind die Pläne auf die Behebung eines gegebenen Notstands gerichtet und tragen einen lokalen Charakter insofern, als sie die Probleme dieses Notstands eben da zu lösen streben, wo sie sich geltend machen. Man darf diese Pläne in einem genauen Sinne topisch, d. h. orthaft nennen, insofern sie ihrem Wesen nach auf bestimmte Orte bezogen sind, eben die, wo sich die Probleme erheben; aus

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der Gleichheit der Probleme an verschiedenen Orten ergeben sich sodann die Möglichkeiten des föderativen Zusammenschlusses, bis zu so riesenhaften Gebilden, wie es heute manche Verbände von Konsumvereinen sind. Grundlegend anders verhält es sich im allgemeinen mit der Geschichte der siedlungsartigen Vollgenossenschaften. Hier sehen wir Mal um Mal den Gedanken, mit größerer oder geringerer Unabhängigkeit von den Situationen, jedenfalls aber ohne eigentliche Gebundenheit an gegebene Orte und ihre Forderungen, sein Wort diktieren, seinen Entwurf gleichsam in den Lüften vorbereiten und ihn sodann auf die Erde niederlassen. Mag dieser Entwurf ganz spekulativ entstehen und demgemäß eine durchaus schematische Form annehmen wie bei Fourier, mag er sich aus bestimmten Erfahrungen herausbilden und den empirischen Voraussetzungen Rechnung tragen, wie bei Owen, er antwortet nicht auf die Fragen einer gegebenen Situation, sondern geht darauf aus, ungebunden an Orte und örtliche Probleme, neue Situationen zu schaffen. Am deutlichsten wird dies, wo es sich um Siedlung in fremden Ländern handelt: da wird nicht etwa eine sich vollziehende Auswanderung sozialistisch geregelt und geordnet, sondern den Antrieben zur Auswanderung wird ein neuer, der Wille zur Teilnahme an der Realisierung eines sozialen Aufrisses, zugesellt, und dieser Wille wird oft in die Dogmatik einer als die einzig richtige, einzig gerechte und einzig wahre empfundenen und geglaubten Organisation eingezwängt, deren bindender Anspruch zuweilen der Lockerheit des inneren Zusammenhangs zwischen den Mitgliedern gegenübersteht. (Gesinnungsgemeinschaft reicht ja kaum je zu, Lebensgemeinschaft zu begründen; dazu tut tiefere, aus dem Sein der Menschen stammende Verbindung not.) Der Siedlung, die der Dogmatik treu bleibt, droht die Erstarrung, derjenigen, in der die Auflehnung gegen sie wächst, die Zersprengung, in beiden fehlt die korrigierende, modifizierende Kraft der Einsicht in die Bedingungen, in die Bedingtheit. Wo die Dogmatik herrscht, ergibt sich schon daraus allein die Isolierung der Siedlung; die Ausschließlichkeit der »einzig richtigen« Form hindert den Anschluß, und zwar sogar an ähnlich gesinnte Gründungen, in jeder einzelnen sind die Gläubigen ganz von ihr, von dieser einmaligen Realisierung als der einzigen und unbedingten besessen. Aber auch wo die Dogmatik zurücktritt, verfällt die wirtschaftlich und geistig abgeschlossene Siedlung, zumal im fremden Land, dem Schicksal der Isolierung, der Verbindungs- und Wirkungslosigkeit. All dies wäre noch nicht entscheidend, wenn eine große erzieherische Kraft, von einer starken Lebens- und Schicksalswelle getragen, dem Gemeinschaftsgefühl und Gemeinschaftswillen den dauernden Sieg über die mitgebrachte Selbstsucht

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sichern oder vielmehr diese durch jene zu einer höheren Form erheben könnte. Gewöhnlich ist es aber so, daß nur die kollektive Selbstsucht, die Selbstsucht mit gutem Gewissen, in einem gewissen Maße an die Stelle der individuellen tritt; wenn diese jeweils den inneren Zusammenhang der Genossenschaft zu sprengen droht, so hindert jene, die oft mit der Dogmatik verschmilzt, daß sich eine echte Gemeinschaftserziehung zwischen der Genossenschaft und anderen Genossenschaften, zwischen der Genossenschaft und der Welt bilde. Die uns bekannten Siedlungsversuche sind zumeist gescheitert oder versandet, und zwar keineswegs, wie manche meinen, die kommunistischen allein. Hierbei müssen wir freilich von einzelnen Unternehmungen religiöser Sekten absehen, Unternehmungen, deren Vitalität nur im Rahmen der Glaubenskraft der Gruppe, nur als Teilerscheinung dieser Kraft zu verstehen ist; charakteristischerweise tritt hier, und nur hier, wie bei der russischen Sekte der Duchoboren in Kanada oder bei den »Hutterischen Brüdern«, die föderative Form auf. Sehr zu Unrecht führt daher Kropotkin das Scheitern der kommunistischen Siedlungsversuche darauf zurück, daß sie »auf einem Auftrieb religiöser Natur begründet waren, statt in der Kommune einfach eine Art von Konsum und Produktion in der Wirtschaftsordnung zu sehen«: gerade wo die Siedlung als Äußerung einer echten religiösen Erhebung, nicht eines aufflackernden Religionsersatzes, entstanden ist und ihre Existenz als den Anfang des Reiches Gottes ansah, hat sie gewöhnlich ihre Beharrungskraft erwiesen. Unter den Ursachen, die Kropotkin für das Scheitern der meisten Siedlungsversuche angibt, sind zwei besonders bemerkenswert, die im Grunde eine einzige sind: die Isolierung von der Gesellschaft und die Isolierung untereinander. Er irrt sich, wenn er eine solche Ursache in der Kleinheit der Kommune erblickt, weil, wie er meint, in einer kleinen Kommune, die Mitglieder nach wenigen Jahren so engen Zusammenlebens eine Abneigung gegeneinander bekämen: unter den Siedlungen, die sich länger erhalten haben, sehen wir kleine neben größeren. Aber er hat recht, wenn er als Ausgleich für die Kleinheit der Gruppen die Föderierung fordert. Daß sie den Übergang von Mitgliedern aus einer Siedlung in andere ermöglicht, was für Kropotkin das Entscheidende dabei ist, ist in Wahrheit nur ein einzelnes unter mehreren günstigen Ergebnissen der Föderierung; was grundwichtig ist, das ist diese selbst, das Einander-ergänzen, Einander-helfen der Gruppen, der Strom des Gemeinschaftslebens zwischen ihnen, in dem sich der in jeder von ihnen fließende potenziert fortsetzt. Nicht minder wichtig ist aber, daß die Siedlungen in einem, wenn auch andersartigen Zusammenhang mit der Gesellschaft überhaupt stehen, – nicht bloß, weil sie für ihren Produk-

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tionsüberschuß einen Markt brauchen, nicht bloß, weil die Jugend, worauf Kropotkin hinweist, die Abschließung nicht verträgt, sondern weil die Siedlungen, sofern sie nicht jenen besonderen messianistischen Glauben haben, auf die Umwelt einwirken müssen, um wahrhaft leben zu können; wer eine Botschaft trägt, muß sie äußern können, nicht notwendig mit dem Wort, aber notwendig mit dem Dasein. Auf eine Anfrage aus Siedlerkreisen antwortete Kropotkin einmal mit einem offenen Brief an alle siedlungslustigen Gruppen, in dem er betonte, daß ein Gemeinwesen, das dieses Namens würdig sein soll, sich auf das Prinzip der Assoziation zwischen von einander unabhängigen Familien gründen muß, die ihre Kräfte kombinieren. Damit wollte er sagen, daß schon die einzelne Gruppe föderativ, aus dem Zusammenschluß kleinster Gemeinschaftseinheiten entstehen muß. Damit die föderative Bewegung über die Gruppe hinauswachse, bedarf es des Raums: »Der Versuch sollte«, sagt er in dem Buch »Die moderne Wissenschaft und die Anarchie«, »auf einem Territorium gemacht werden.« Er fügt hinzu, dieses Territorium müsse Stadt und Land umfassen. Wieder sind die wirtschaftlichen Motive in das große soziale Motiv einzuordnen. Echtes Gemeinschaftsleben bedeutet Fülle der Funktionen und Wechselwirkung zwischen ihnen, nicht Reduktion und Abschnürung. Aber es genügt dabei nicht, wie Kropotkin anzunehmen scheint, daß eine Stadt »sich zur Kommune macht«: wenn sie ungegliedert, sozial amorph, der vielgliedrigen Föderation der Dörfer gegenüberstünde, müßte sie letztlich eher negativ wirken. Sie muß sich selber aufgliedern, sich als eine Föderation in Genossenschaften umbauen, um in einen wahrhaft fruchtbaren Verkehr mit dem Dorf treten zu können. Im planwirtschaftlichen Denken unserer Zeit sind bereits – zumeist aus technisch-organisatorischen Erwägungen entstanden – beachtenswerte Anregungen in dieser Richtung zu finden. Für den problematischen Verlauf vieler bisheriger Siedlungsversuche sei aus ihrer langen und lehrreichen Geschichte hier nur ein charakteristisches Beispiel angeführt, Owens erste Gründung dieser Art, die einzige, die sein eigenes Werk war: New Harmony in Indiana. Er kaufte den Besitz von der aus Deutschland eingewanderten Sekte der »Separatisten«, die ihn in zwanzigjähriger Arbeit bereits zu einiger Blüte gebracht hatten. Die Aufnahme der Mitglieder geschah wahllos; der große deutsche Nationalökonom Friedrich List notierte damals in sein amerikanisches Tagebuch: »Elemente scheinen nicht die besten«. Zunächst wurde die Verfassung der neuen Gemeinschaft auf völliger Gleichheit der Mitglieder errichtet, weshalb sie auch »Gemeinschaft der Gleichheit« genannt wurde. Nach zwei Jahren mußte, nachdem sich einzelne Sondergruppen abgezweigt hatten, der Ver-

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such gemacht werden, die Gemeinschaft in einen Verband kleiner Gesellschaften umzuwandeln. Aber auch dieser und ähnliche Umbildungspläne versagen. Als nach dreijährigem Bestehen Owen, von einer Reise nach England zurückkehrend, die Siedlung wiedersieht, muß er sich eingestehen, daß »der Versuch vorzeitig war, eine Anzahl von Fremden, die nicht vorher für die Aufgabe erzogen worden sind, zu vereinigen, die wie eine Familiengemeinschaft zusammenleben sollten«, und daß »die Gewohnheiten des Individualsystems« sich als zu mächtig erwiesen haben. Er ersetzt, indem er einen Teil des Bodens parzelliert verkauft, einen andern parzelliert verpachtet (das Experiment hat ihn ein Fünftel seines Gesamtvermögens gekostet), die Genossenschaft durch einen Komplex von Siedlungen auf privatkapitalistischer Grundlage und gibt diesen nur die Empfehlung auf den Weg mit, »ihre allgemeine Arbeit zu vereinigen oder Arbeit gegen Arbeit zu tauschen, unter den günstigsten Bedingungen für alle, oder beides zu tun oder keins von beiden, je nachdem ihre Gefühle und anscheinenden Interessen sie beeinflussen mögen«. Dies ist das Beispiel einer Siedlung, die nicht an der Dogmatik – Owen legt sich trotz seiner bestimmten Pläne nicht fest –, wohl aber am Mangel eines tieferen organischen Zusammenhangs zwischen den Mitgliedern scheitert. Als Gegenbeispiel mag die Entwicklung von Cabets Icaria angeführt werden. Unternommen als Versuch der Verwirklichung eines ebenso dilettantischen wie erfolgreichen utopischen Romans, entstanden nach ungeheuren Enttäuschungen und Entbehrungen, übrigens wie die Owensche durch Übernahme des Besitzes einer Sekte, diesmal eines der Mormonen, hat die Siedlung innerhalb des halben Jahrhunderts von ihren Anfängen bis zum Ende ihres letzten Ausläufers, Spaltung um Spaltung erfahren. Zuerst ging es um Cabets, eines temperamentvollen und ehrlich begeisterten, aber mittelmäßigen Menschen, Anspruch auf Diktatur der Plandogmatik in der Gestalt einer Diktatur des Planurhebers, einen Anspruch, um den sich ein aus Wortgefechten und Handgemengen zusammengesetzter Bürgerkrieg entfachte. Von den beiden aus der Spaltung hervorgegangenen Gruppen ist nach Cabets Tod die eine allmählich zerbröckelt, in der anderen ist eine neue Szission, die zwischen den »Alten« und den »Jungen«, entstanden, wobei die jungen die Plandogmatik z. B. gegen die Gärtchen verfochten, die die Wohnhäuser umgaben, und in denen die Mitglieder nicht bloß Blumen, sondern auch einige Früchte pflücken konnten: hier war ein beklagenswerter »Rest von Individualismus«. Die Sache ging – nachdem sie gerichtlich ausgetragen wurde – darin aus, daß die Siedlung geteilt wurde, wobei der Teil, der die von den Alten mit ihren Händen errichteten Bauten

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enthielt, den Jungen zufiel. Die Teilsiedlung der Alten bestand noch 20 Jahre und starb dann »an Altersschwäche«. Die wirtschaftlichen Kräfte reichten zum Fortleben aus, aber die Glaubenskraft war erloschen. »Wir waren so wenige und denen draußen so ähnlich«, schrieb ein weibliches Mitglied, »daß es nicht mehr der Mühe lohnte, in Gemeinschaft zu leben.« Viel kurzlebiger war die Siedlung der Jungen. Nach allerhand Schwierigkeiten ziehen sie nach Kalifornien; in der Organisation der neuen Siedlung nimmt aber merkwürdigerweise das Prinzip des Privateigentums einen bedeutenden Platz ein, so daß sie nicht mit Unrecht mit einer Aktiengesellschaft verglichen worden ist; sie löst sich bald auf, wobei die Wertsteigerung des Bodens bestimmend gewesen sein mag. So verläuft die Geschichte von Ikarien in einer seltsamen Folge von Dogmatik und Opportunismus. »Wir hatten einen rasenden Willen zum Erfolg«, schrieb mehrere Jahre nach dem Ende eins der Mitglieder, »aber der Rock, den wir trugen, war für uns zu schwer und zu lang, er schleppte zuweilen im Kot; ich will damit sagen, daß die unzulänglich unterdrückte Naturanlage, das Tier, jäh in die Erscheinung trat.« Es war aber gar nicht »das Tier«, sondern eine spezifisch menschliche Art der Selbstsucht. Betrachten wir abschließend die drei Hauptarten der Genossenschaft vom Gesichtspunkt einer Restrukturierung der Gesellschaft aus. Die historisch weitaus mächtigste von ihnen, die Konsumgenossenschaft, ist an sich am wenigsten geeignet, die Zelle eines Umbaus abzugeben. Sie bringt die Menschen nur mit einem kleinen und stark versachlichten Bezirk ihres Daseins in Verbindung miteinander. Dieser Bezirk ist keineswegs etwa der Konsum, wie man vielleicht auf den ersten Blick annehmen möchte. Der gemeinsame Konsum selber hat eine große Fähigkeit, die Menschen zu verbinden, und es gibt von je kaum ein besseres Bild und Symbol gemeinschaftlichen Lebens als das gemeinsame Mahl. Die Konsumgenossenschaft aber hat es nicht mit dem Konsum selber, sondern mit dem Einkauf für den Konsum zu tun. Gemeinsamer Einkauf beansprucht seinem Wesen nach den Menschen, der sich daran beteiligt, nicht in wesentlichem Maße, es sei denn in den außerordentlichen Zeiten, wo es um gemeinsame Sorge und gemeinsame Verantwortung für gemeinsames Werk geht, wie im »heroischen« Zeitalter der kooperativen Bewegung oder auch seither in Krisenstunden, in denen Personen, die sonst im Dunkel der privaten Sphäre verharrten, aufopferungsbereit auf den öffentlichen Plan treten und mit der Not der vielen ringen; sowie der gemeinsame Einkauf zum Betrieb geworden ist, für den die Verantwortung den »Angestellten« übertragen ist, hört er auf, die Menschen wesentlich zu verbinden. Die Verbindung wird eine so lose und unpersönliche, daß von Gemeinschaftszellen und ihrem Zusammenschluß zu

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einer komplexen organischen Struktur nicht die Rede sein kann, auch nicht, wenn mit dem kooperativen Warenlager auch die kooperative Organisation dieses oder jenes Teilgebiets der Produktion verknüpft wird. Ich finde diese Einsicht besonders klar ausgedrückt in dem Buch »The National Being« des irischen Dichters George William Russell (der unter dem Pseudonym »A. E.« schrieb), einem Buch, das, mit der echten Vaterlandsliebe geschrieben, von dem sozialen Umbau Irlands handelt. Da heißt es: »Es genügt nicht, Bauern in einem Bezirk für einen einzigen Zweck zu organisieren – in einem Kreditverein, einer Molkereigenossenschaft, einer Speckfabrik oder in einem kooperativen Warenlager« (hier muß man hinzufügen: oder in alledem nebeneinander). »Alle diese Dinge mögen und müssen Anfänge sein; wenn sie aber nicht alle Dorfgeschäfte in ihrer Organisation entwickeln und aufsaugen, wird kein echter sozialer Organismus geschaffen worden sein. Wenn Leute sich als Konsumenten vereinigen, um zusammen einzukaufen, kommen sie nur an diesem einen Punkte miteinander in Kontakt; eine allgemeine Identität der Interessen ist da nicht vorhanden … Der spezialisierte Verein entwickelt nur wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Die Evolution der Menschheit über ihr gegenwärtiges Niveau hinaus hängt unbedingt von ihrem Vermögen ab, echte soziale Organismen zu schaffen und zu vereinigen.« Eben das ist es, was ich unter einer organischen Restrukturierung der Gesellschaft verstehe. Die Produktivgenossenschaft ist an sich in weit höherem Maße als der Konsumverein geeignet, an einer solchen Restrukturierung teilzunehmen, d. h. als Zelle einer neuen Struktur zu fungieren. Gemeinsame Gütererzeugung fordert den Menschen tiefer an als gemeinsamer Güterbezug zu individuellem Verbrauch, sie umfaßt weit mehr von seinen Lebenskräften wie auch von seiner Lebenszeit. Der Mensch als Produzent ist naturgemäß bereiter, sich in eminent aktiver Weise mit seinesgleichen zusammenzutun, als der Mensch als Konsument; er ist befähigter, lebendige soziale Einheiten mit ihnen zu bilden. Für den Menschen, der arbeiten läßt, gilt das, wenn und insoweit er durch den Zusammenschluß stärker wird für die Entfaltung und Durchsetzung seiner produktiven Tätigkeit, als er als einzelner war und sein konnte. Ganz besonders aber gilt das für den Menschen, der selber arbeitet; weil er durch den Zusammenschluß überhaupt erst stark wird dafür; es kommt nur darauf an, daß er sich dieser Chance vital bewußt wird und an ihre praktischen Aussichten zu glauben vermag. Er verfällt jedoch auf diesem Wege, wie wir gesehen haben, sehr leicht, ja fast mit einer Art von Fatalität, der Neigung, andere für sich arbeiten zu lassen. Wenn der Konsumverein äußerlich, technisch-organisativ der kapitalistischen Form erliegt, so die Produktiv-

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genossenschaft innerlich: strukturell und psychologisch. Dabei ist sie zwar an sich einer echten, nicht bloß technischen, Föderierung zugänglicher; aber wie wenig man auch in den am meisten für eine Umbildung der Gesellschaft durch Produktivgenossenschaften begeisterten Kreisen die entscheidende Bedeutung der kleinen organischen Einheiten und ihres organisch-föderativen Wachstums für die Restrukturierung erkennt, haben wir vor zwei Jahrzehnten am englischen Gildensozialismus gesehen: einerseits wurde hier der kühne Vorstoß konzipiert, den Staat in ein duales System, eine vielfältige, gegliederte Produzentenvertretung und eine einheitliche, der Gesamtheit als solcher entsprechende Konsumentenvertretung umzubilden, anderseits aber erwies sich bald die für »nationale«, d. h. einen ganzen Industriezweig umfassende Gilden, für the regimentation into a single fellowship of all those who are employed in any given industry eintretende Richtung, die also noch völlig saint-simonistisch dachte, als weit stärker als die andere, die »lokale« Gilden, d. h. kleine organische Einheiten und deren Föderierung anstrebte. Damit das Prinzip der organischen Restrukturierung bestimmend werde, bedarf es des Einflusses der Vollgenossenschaft, in der sich Produktion und Konsum verbinden und in der Produktion Industrie durch Landwirtschaft ergänzt wird. Wie lange es auch dauern mag, bis sie die Zelle schlechthin der neuen Gesellschaft wird, es ist grundwichtig, daß sie sich bald als ein weitgespannter Komplex von untereinander verbündeten magnetischen Wirkungszentren aufbaue. Eine echte und zu dauern bestimmte Neuordnung der Gesellschaft von innen her wird nur durch die Vereinigung der Produzenten mit den Konsumenten, jeder von beiden Partnern in selbständigen und wesenseigenen kooperativen Einheiten konstituiert, geraten können, – eine Vereinigung, deren sozialistische Kraft und Lebendigkeit nur durch eine Fülle zusammenwirkender Vollgenossenschaften verbürgt werden kann, die in ihrer synthetischen Funktion ausstrahlend, vermittelnden und verbindenden Einfluß üben. Dazu aber tut not, daß an die Stelle der isolierten und durch ihr ganzes Wesen zur Isolierung verurteilten Versuche, die bisher in mehr als hundertjährigem Ringen in die Erscheinung getreten sind, umfassende Siedlungszusammenhänge treten, territorial entworfen und föderativ aufgebaut, ohne dogmatische Festlegung, mannigfache soziale Gestaltungen nebeneinander zulassend, aber immer auf das Ganze, auf die neue organische Ganzheit ausgerichtet.

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Wir haben gesehen, daß es das Ziel des sogenannten utopischen Sozialismus ist, den Staat in einem so weitgehenden Maße als möglich durch die Gesellschaft zu ersetzen, und zwar durch eine »echte« Gesellschaft, die also nicht ein verkappter Staat ist. Die Voraussetzungen einer echten Gesellschaft lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Sie kann nicht ein Aggregat von innerlich zusammenhanglosen Individuen sein, denn ein solches würde doch wieder nur durch ein »politisches«, ein Herrschafts- und Zwangsprinzip zusammengehalten werden können, sondern sie muß sich in kleinen Gesellschaften auf der Grundlage gemeinschaftlichen Lebens und in den Verbänden dieser Gesellschaften aufbauen, und die Beziehungen sowohl der Mitglieder jeder dieser Gesellschaften zueinander als die der Gesellschaften und der Verbände zueinander müssen in einem so weitgehenden Maße als möglich von dem gesellschaftlichen Prinzip, dem des inneren Zusammenhangs, des Zusammenwirkens und der gegenseitigen Förderung, bestimmt sein. Mit anderen Worten: nur eine vollstrukturierte Gesellschaft wird das Erbe des Staates antreten können. Erreichen läßt sich dieses Ziel seinem Wesen gemäß weder durch eine Änderung der Herrschaftsordnung, d. h. der Träger der Verfügungsgewalt über die Machtmittel, allein, noch auch durch eine Änderung der Eigentumsordnung, d. h. der Träger der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, allein, noch durch irgendwelche die Formen des Gesellschaftslebens von außen regelnde Gesetze und Institutionen allein, noch durch all dies zusammen. All dies ist in bestimmten Stadien der Umwandlung erforderlich, mit der Beschränkung freilich, daß sich daraus keine das Ganze einheitlich normierende Zwangsordnung ergeben darf, die das für das Werden einer echten Gesellschaft fundamentale unentbehrliche Element der Spontaneität, der Gestaltung von innen her, also auch der Vielfältigkeit, nicht aufkommen lassen würde. Was aber wesentlich notwendig ist, so wesentlich, daß alle jene Momente nur zu seiner Ergänzung und vollen Durchsetzung dienen sollen, ist eben der Aufbau der echten Gesellschaft selber, teils aus schon vorhandenen und nach Form und Sinn zu erneuernden, teils aus neu zu bildenden Gesellschaften. Je mehr von einer solchen Gesellschaft in der Stunde, da die äußeren Änderungen einsetzen, bereits existent oder doch angelegt ist, um so eher wird es möglich sein, in der veränderten Ordnung den Sozialismus tatsächlich zu verwirklichen, d. h. der Gefahr vorzubeugen, daß das Machtprinzip, sei es in seiner politischen oder in seiner ökonomischen Form oder in beiden, wieder Eingang finde und unter einer ver-

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änderten Oberfläche von Gesetzen und Institutionen die menschlichen Beziehungen, also das reale Leben, im Grunde so verrenkt und verkehrt bleiben, wie sie unter dem kapitalistischen Regime gewesen sind. Jene Veränderungen der ökonomischen und politischen Ordnung bedeuten für die Verwirklichung des Sozialismus die unerläßliche Beseitigung der Hindernisse, nicht weniger und nicht mehr. Ohne die Änderung der ökonomischen und politischen Ordnung bleibt die Verwirklichung des Sozialismus Idee, Antrieb und isolierter Versuch; aber ohne eine faktische Restrukturierung der Gesellschaft kann die Änderung der Ordnung nur eine Fassade ohne Haus sein. Keinesfalls aber ist diese als das zeitlich erste, jene als das Darauffolgende anzusehen; wohl vermag sich eine sich wandelnde Gesellschaft die Organe zu schaffen, die sie zu ihrer Durchsetzung, ihrer Verteidigung, zur Beseitigung der Hindernisse benötigt, aber veränderte Machtverhältnisse schaffen nicht eine neue Gesellschaft, die das Machtprinzip zu überwinden vermag. Als die für die Restrukturierung wichtigsten Zellen betrachtet der »utopische« Sozialismus die Genossenschaften in ihren verschiedenen Gestalten; je weiter er in der Klärung seiner Idee fortschreitet, um so deutlicher erscheint ihm dabei die führende Funktion der vollständigen, Produktion und Konsum verbindenden Genossenschaft zuzukommen. Die Genossenschaft ist für diese Idee nicht Selbstzweck, auch nicht, wenn in ihr als solcher eine weitgehende Realisierung des Sozialismus gelingt; vielmehr gilt es hier die Substanz aufzurichten, die durch die Neuordnung freigemacht, in ihr Recht eingesetzt und zur Einheit des Mannigfaltigen verbunden werden soll. Der »utopische« Sozialismus kann in einem besonderen Sinn als der topische bezeichnet werden: er ist nicht »ortlos«, sondern will sich jeweils am gegebenen Orte und unter den gegebenen Bedingungen, also gerade »hier und jetzt« in dem hier und jetzt möglichen Maße verwirklichen; aber die lokale Verwirklichung ist für ihn – auch dies ist in der Entwicklung der Idee immer klarer geworden – nie etwas anderes als ein Ausgangspunkt, ein »Beginnen«, etwas, was da sein muß, damit die Verwirklichung sich zusammenschließe, was da sein muß, damit sie sich die Freiheit und Geltung erkämpfe, was da sein muß, damit sich aus ihm, aus all den Zellen und denen, die in ihrem Bilde entstehen, die neue Gesellschaft baue. Stellen wir von hier aus an Marx und den Marxismus die entscheidenden Fragen nach Ziel und Weg. Das Ziel faßt Marx von seiner ersten sozialistischen Formulierung und bis zur vollen Reife seiner Gedanken in einer dem »utopischen« Sozialismus sehr nahen Weise auf. Schon im August 1844 schreibt er (in dem Aufsatz »Kritische Randglossen«): »Die Revolution überhaupt – der Um-

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sturz der bestehenden Gewalt und die Auflösung der alten Verhältnisse – ist ein politischer Akt. Ohne Revolution kann sich aber der Sozialismus nicht ausführen. Er bedarf dieses politischen Aktes, soweit er der Zerstörung und der Auflösung bedarf. Wo aber seine organisierende Tätigkeit beginnt, wo sein Selbstzweck, seine Seele hervortritt, da schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg.« Man muß dies mit dem folgenden Satz aus dem Anfang desselben Jahres (»Zur Judenfrage«) zusammen lesen: »Erst wenn der Mensch seine ›forces propres‹ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat [es ist also nicht nötig, wie Rousseau meint, die Natur des Menschen zu ändern, ihm seine forces propres zu nehmen und ihm andere, ihrem Charakter nach soziale zu geben] und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt [d. h. nicht mehr den Staat als den Bereich des organisierten Herrschaftsprinzips etabliert], erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.« Da das politische Verhältnis für Marx bekanntlich schon in dieser seiner Frühzeit mit aller Deutlichkeit nichts anderes ist als Ausdruck und Auswirkung der Klassenherrschaft, muß es naturgemäß mit deren Aufhebung aufgehoben werden: der nicht mehr »vom Menschen und vom Gemeindewesen getrennte« Mensch ist eben damit nicht mehr der politische Mensch. Dies aber wird nicht erst als die Folge einer nachrevolutionären Entwicklung angesehen. Vielmehr ist, wie in jenen beiden Sätzen ausgesprochen wird, die Revolution als solche, d. h. die Revolution in ihrer rein negativen, »auflösenden« Funktion, der letzte politische Akt. Sowie auf dem durch den Umsturz bereiteten Terrain die organisierende Tätigkeit beginnt, d. h. sowie die positive Funktion des Sozialismus anhebt, wird das politische Prinzip durch das soziale abgelöst; der Raum, in dem diese Funktion ausgeübt wird, ist nicht mehr der Raum der politischen Macht des Menschen über den Menschen. Die dialektische Formulierung läßt doch keinen Zweifel übrig, was nach Marxens Ansicht die Abfolge der tatsächlichen Vorgänge ist: einerseits vernichtet der politische Akt der sozialen Revolution nicht bloß den Klassenstaat, sondern den Staat als Machtgebilde überhaupt, wogegen die politische Revolution ihn gerade erst »als allgemeine Angelegenheit, d. h. als wirklichen Staat konstituierte«; anderseits beginnt »die organisierende Tätigkeit«, d. h. der Neubau der Gesellschaft, erst nach dem vollzogenen Umsturz der bestehenden Gewalt – was an organisierender Tätigkeit der Revolution vorausging, war nur Organisation des Kampfes. Wir sehen schon hier mit aller Klarheit, was Marx mit dem »utopischen« Sozialismus verbindet: der Wille zur Ablösung des politischen durch das soziale Prinzip, und was ihn davon trennt: seine Meinung, daß diese Ablösung mit ausschließlich poli-

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tischen Mitteln, also sozusagen auf dem Wege eines reinen Selbstmords des politischen Prinzips zu bewerkstelligen sei. Diese Meinung ist in Marxens dialektischer Geschichtsanschauung tief verwurzelt, wie sie 15 Jahre später, im Vorwort der Schrift »Zur Kritik der politischen Ökonomie«, ihre klassische Formulierung gefunden hat. Doch tritt uns im Schlußabschnitt der Streitschrift gegen Proudhon anscheinend eine nicht unerhebliche Einschränkung entgegen. »Die arbeitende Klasse«, heißt es da, »wird im Laufe ihrer Entwicklung (dans le cours de son dévelopement) an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft eine Assoziation setzen, die die Klassen und ihren Antagonismus ausschließen wird, und es wird keine politische Gewalt im eigentlichen Sinn mehr geben (il n’y aura plus de pouvoir politique, proprement dit), da die politische Gewalt eben die offizielle Zusammenfassung (le résumé officiel) des Antagonismus innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist.« »Keine politische Gewalt im eigentlichen Sinn« – das bedeutet: keine politische Gewalt im Sinn von Ausdruck und Auswirkung der Klassenherrschaft, was sich ja, wenn deren Aufhebung wirklich vollzogen worden ist, von selbst versteht. Sehen wir hier von der Frage ab, die für Marx offenbar nie ins Blickfeld gerückt ist: ob denn das Proletariat wirklich die »letzte« Klasse ist, mit deren Herrschaftsergreifung die Klassenherrschaft überhaupt zusammenbricht, d. h. ob innerhalb eines siegreichen Proletariats sich nicht eine neue soziale Differenzierung ausbilden kann, die, auch wenn die Klassenbezeichnung nicht auf sie angewendet wird, recht wohl zu einem neuen Herrschaftsverhältnis zu führen vermag. Dann bleibt aber noch die nicht minder schwerwiegende Frage nach Wesen und Ausmaß der politischen Gewalt »im uneigentlichen Sinn«, d. h. der politischen Gewalt, die nicht mehr auf Klassenherrschaft beruht, und nach ihrer Aufhebung fortbesteht. Wäre es nicht möglich, daß diese sich nicht minder fühlbar, ja sogar noch fühlbarer machte als die auf Klassenherrschaft beruhende, zumal solang es gilt »die Revolution zu verteidigen«, d. h. de facto solange noch die gesamte Erdmenschheit die Klassenherrschaft nicht aufgehoben hat, oder vielleicht gar, solange sie sich die in demjenigen Staatswesen, in dem der Sieg des Proletariats erfochten worden ist, herrschende Auffassung des Sozialismus und seine Verwirklichung nicht zu eigen gemacht hat? Was uns aber hier am meisten angeht: solange in diesem Staatswesen oder in diesen Staatswesen diese bestimmte Auffassung herrscht, tatsächlich mit allen technischen Machtmitteln unserer Zeit herrscht, wie soll da jene Spontaneität, jene freie soziale Formsuche und Formgebung, jenes freie soziale Versuchen und Entscheiden ins Werk treten, das für die Verwirklichung des Sozialismus, für die Entstehung der sozialistischen Ge-

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stalt der Gesellschaft unerläßlich ist? Damit, daß Marx unterläßt, zwischen der Gewalt im eigentlichen und der im uneigentlichen Sinn eine deutliche Demarkationslinie zu ziehen, öffnet er einer Abart des politischen Prinzips das Tor, die es nach seiner Ansicht gar nicht gibt und gar nicht geben kann: einer, die nicht Ausdruck und Auswirkung der Klassenherrschaft ist, sondern Ausdruck und Auswirkung von nicht klassenhaft charakterisierten Machttendenzen und Machtkämpfen, von Gruppen und von Einzelnen. Die politische Gewalt im uneigentlichen Sinn wäre hier demnach die offizielle Zusammenfassung des Antagonismus entweder innerhalb der proletarischen Klasse oder, genauer, innerhalb der Bevölkerung, in der »die Klassenherrschaft aufgehoben worden ist«. Die Eindrücke der problematischen Revolution von 1848 haben Marxens kritische Haltung zu den Versuchen einer Restrukturierung verschärft. Waren schon im Manifest die »kleinen, natürlich fehlschlagenden Experimente« gerügt worden, so wird nun (im Bericht über »Die Klassenkämpfe in Frankreich« von 1850) »der doktrinäre Sozialismus« angeklagt, der »den revolutionären Kampf der Klassen mit seinen Notwendigkeiten durch kleine Kunststücke oder große Sentimentalitäten wegphantasiert«, und sodann (im »Achtzehnten Brumaire« von 1852) dem französischen Proletariat vorgeworfen, es habe sich zum Teil auf »doktrinäre Experimente, Tauschbanken und Arbeiterassoziationen« geworfen, »also in eine Bewegung, worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren eigenen großen Gesamtmitteln umzuwälzen, vielmehr hinter dem Rücken der Gesellschaft, auf Privatweise, innerhalb seiner beschränkten Existenzbedingungen, seine Erlösung zu vollbringen sucht, also notwendig scheitert«. Marxens Glaube an die nah bevorstehende Revolution war damals noch unerschüttert; aber seine Zuversicht auf eine baldige Weltrevolution im vollen Sinn des Wortes begann zu wanken. 1858 schreibt er an Engels: »Die schwierige question für uns ist die: auf dem Kontinent ist die Revolution imminent und wird auch sofort einen sozialistischen Charakter annehmen. Wird sie in diesem kleinen Winkel [d. h. auf dem europäischen Kontinent!] nicht notwendig gecrusht werden, da auf viel größerem Terrain das movement der bürgerlichen Gesellschaft noch ascendent ist?« Die Bedenken scheinen sich in den nächsten Jahren noch gesteigert zu haben. Anderseits gewann er in jenen Jahren den zunehmenden Eindruck von der Bedeutung des außerrevolutionären politischen Kampfes. Das wirkt sich unter anderem nach weiteren sechs Jahren in der »Inauguraladresse der internationalen Arbeiter-Assoziation« aus. Nachdem er das Zehnstundengesetz als den »Sieg eines Prinzips« pries, nennt er den Aufstieg der Kooperativbewegung einen »noch grö-

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ßeren Sieg der politischen Ökonomie der Arbeit über die politische Ökonomie des Kapitals«; der Wert dieser großen sozialen Experimente könne nicht überschätzt werden, denn die Arbeiter, die ohne jede Beihilfe genossenschaftliche Fabriken errichteten, hätten durch die Tat bewiesen, daß die Lohnarbeit »bestimmt ist, zu verschwinden vor der assoziierten Arbeit«. Aber das Kooperativsystem bedürfe, um die Masse zu befreien, »der Entwicklung auf nationaler Stufenleiter und folglich der Förderung durch nationale Mittel«, also eben dessen, was Louis Blanc und Lassalle erhofft und erstrebt hatten. Dies aber werde vom Großgrundbesitz und vom Kapital nicht freiwillig zugestanden werden. »Daher« sei es jetzt »die große Pflicht der Arbeiterklasse«, die politische Macht zu erobern. Man muß diesem Wort »daher« volle Beachtung schenken. Die Arbeiterschaft soll in den Parlamenten die politische Macht gewinnen, um der Genossenschaftsbewegung die Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Marx schreibt hier der Kooperation, und insbesondere den Produktivgenossenschaften, eine zentrale Bedeutung zu. Zwar wird, auch in den von Marx abgefaßten Resolutionen des Genfer Kongresses von 1866, betont, die Genossenschaftsbewegung sei »nicht imstande, durch sich selbst die kapitalistische Gesellschaft umzugestalten«; aber damit wird sie doch als der eigentliche Weg zu dieser Umgestaltung anerkannt, nur daß zu deren Durchsetzung die Erringung der Staatsmacht durch die Arbeiterschaft unentbehrlich sei. Marx kommt hier dem Gedanken der Restrukturierung praktisch bemerkenswert nah, ohne ihn grundsätzlich aufzunehmen. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang, daß er die Gefahr der Kooperativen, in gewöhnliche bürgerliche Aktiengesellschaften zu entarten, klar erkennt und auch die richtige Abhilfe empfiehlt: daß alle dabei beschäftigten Arbeiter den gleichen Anteil erhalten sollten. Aber weniger als drei Monate vor dem Genfer Kongreß, für den er diese Resolution abfaßte, schreibt Marx an Engels über die auf einer Debatte des Generalrats der Internationale geäußerten Tendenzen der Franzosen: »Proudhonisierter Stirnerianismus. Alles aufzulösen in kleine ›groupes‹ oder ›communes‹, die wieder einen ›Verein‹ bilden, aber keinen Staat«. Hier kommt die staatszentralistische Unterströmung in Marxens Idee, wenn auch nur andeutungsweise, so doch unverkennbar zum Ausdruck. Proudhons Föderalismus, den er angreift, will keineswegs alles in Kommunen auflösen, sondern den vorhandenen Kommunen eine relativ weitgehende Autonomie zugestehen und sie sich zu Verbänden zusammenschließen lassen, deren Zusammenschluß eine organischere Form des Gemeinwesens darstellen würde als der gegenwärtige Staat. Ihm gegenüber hält Marx hier doch wieder am Staat als solchem fest. Nun aber, wieder fünf Jahre danach, wirkt von neuem ein revolutionä-

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res Ereignis auf Marxens Anschauung ein, stärker als irgendein vorhergehendes und in anderer Richtung: die Pariser Kommune. In einer seiner bedeutendsten Schriften, der von ihm verfaßten Adresse des Generalrats der Internationale über den Bürgerkrieg in Frankreich, hat er ein Bild von Aufbau, Tätigkeit und Absichten der Kommune entworfen. Die historische Zuverlässigkeit des Bildes ist diskutiert worden, aber nicht darauf kommt es uns hier an: das Bild ist ein Bekenntnis, und ein für unser Thema, das der wechselnden Stellungnahme Marxens zum Werden einer neuen Gesellschaft, höchst wichtiges. Das, was die Kommune in Marxens Augen toto genere von allen früheren Unternehmungen abhob, »ihr wahres Geheimnis«, ist, daß sie »wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse« war. Das ist buchstäblich zu verstehen: Marx meint eine nicht bloß von der Arbeiterklasse eingesetzte, sondern auch faktisch von ihr ausgeübte. Die Kommune ist »die Selbstregierung der Produzenten«. Die durch allgemeines Stimmrecht aus den Wahlen des Pariser Volkes hervorgegangene Vertreterschaft, die aus an die bestimmten Instruktionen ihrer Wähler gebundenen und jederzeit absetzbaren Mitgliedern besteht, sollte »nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit«. Dieselbe Organisationsform war für jede Gemeinde in Frankreich bis zum kleinsten Dorf vorgesehen. Die Landgemeinden sollten ihre gemeinsamen Angelegenheiten im Bezirksparlament verwalten und die Bezirksversammlungen wieder Abgeordnete zur Nationaldelegation entsenden. An die Stelle der aus den Zeiten der absoluten Monarchie stammenden zentralisierten Staatsmacht »mit ihren allgegenwärtigen Organen« sollte somit ein weitgehend dezentralisiertes Gemeinwesen treten. »Die wenigen, aber wichtigen Funktionen, welche dann noch für eine Zentralregierung übrig blieben, sollten an kommunale, d. h. streng verantwortliche Beamte übertragen werden«. Die Dezentralisierung würde aber keine Aufsplitterung, sondern eine Neukonstituierung der Volkseinheit auf organischer Grundlage, eine Reaktivierung der sozialen Volkskräfte und damit des gesamten Volksorganismus bedeuten. »Die Kommunalverfassung würde dem gesellschaftlichen Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, die bisher der Schmarotzerauswuchs ›Staat‹, der von der Gesellschaft sich nährt und ihre freie Bewegung hemmt, aufgezehrt hat. Durch diese Tat allein würde sie die Wiedergeburt Frankreichs in Gang gesetzt haben.« Es ist offenkundig, daß Marx hier nicht von bestimmten historischen Staatsformen, sondern vom Staat überhaupt redet. Dadurch, daß die lokale Selbstregierung »etwas Selbstverständliches« wird, ist die Staatsmacht »überflüssig

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gemacht«. Nie hat sich einer der »utopistischen« Sozialisten radikaler über diesen Gegenstand geäußert. Aber die politische Struktur der Kommune ist für Marx nur erst der Vorhof zum Eigentlichen und Entscheidenden, zu der großen sozialen Wandlung, zu der sie ihrer Anlage und ihren Plänen nach hätte führen müssen, wenn sie nicht vernichtet worden wäre. Er sieht in ihr die »endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte«. Die Kommune wollte »das individuelle Eigentum zu einer Wahrheit machen, indem sie die Produktionsmittel, den Erdboden und das Kapital, in bloße Werkzeuge der freien und assoziierten Arbeit verwandelt«, und zwar der in Produktivgenossenschaften assoziierten Arbeit. »Wenn die genossenschaftliche Produktion«, ruft Marx, »nicht eitel Schein und Schwindel bleiben, wenn sie das kapitalistische System verdrängen, wenn die Gesamtheit der Genossenschaften die nationale Produktion nach einem gemeinsamen Plan regeln, sie damit unter ihre eigene Leitung nehmen soll – was wäre das anders, meine Herren, als der Kommunismus, der ›mögliche‹ Kommunismus?« Nämlich: der sich im Gegensatz zu der verbreiteten Auffassung seiner »Unmöglichkeit« als möglich erweisende. Ein Föderalismus der Kommunen und Genossenschaften – denn dieser eben ist es, dessen Bild er entwirft – wird also von Marx als echter Kommunismus anerkannt. Gewiß, er wendet sich auch jetzt gegen allen »Utopismus«. Die Arbeiterklasse »hat keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen«. Das Kommunal- und Genossenschaftswesen, das sie zum neuen Gemeinwesen und zur neuen Gesellschaft ausbauen will, ist nicht erdacht und gemacht worden: aus der Wirklichkeit der Assoziation alter und neuer Geschlechter, aus der allmählich in der Volksgemeinschaft selber entstandenen, und nur aus ihr kann sie ihr Werk, ihr Haus errichten. »Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben.« Hier haben wir jenen Begriff der »Entwicklung« von 1847 wieder, aber diesmal völlig eindeutig und unanzweifelbar im Sinn eines vorrevolutionären Prozesses, und zwar eines, dessen Wesen die Bildung von kleinen und föderationsfähigen Einheiten menschlichen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens, von Kommunen und Genossenschaften ist, denen gegenüber die Revolution nur die Aufgabe hat, sie frei zu machen, zu verbinden und zu ermächtigen. Gewiß, dies verträgt sich durchaus mit der, zwölf Jahre älteren, berühmten Formel der »Kritik der politischen Ökonomie« von den neuen höheren Produktionsverhältnissen, die nie an die Stelle der alten treten, »bevor die materiellen Existenzbedingun-

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gen derselben im Schoße der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind«; aber in dem Bericht des Generalrats wird keineswegs etwa angedeutet, die Pariser Kommune sei gescheitert, weil die Ausbrütung noch nicht vollendet gewesen sei. Und die »Elemente der neuen Gesellschaft«, die sich im Schoß der alten, zusammenbrechenden entwickelt hatten, das waren doch zu einem wesentlichen Teil eben jene Genossenschaften, die sich in Frankreich unter dem Einfluß des »utopischen« Sozialismus gebildet hatten, – wie der von Marx geschilderte politische Föderalismus der Kommune unter dem Einfluß Proudhons. Diese Genossenschaften waren es, die im Kommunistischen Manifest als »kleine, natürlich fehlschlagende Experimente« bezeichnet wurden; aber hätte die Kommune gesiegt – und alles im Bericht des Generalrats deutet darauf hin, daß sie ohne diese und jene besonderen Umstände hätte siegen können –, dann wären sie die Zellensubstanz der neuen Gesellschaft geworden. Von hier aus, d. h. von der Marxischen Revolutionspolitik aus sind Äußerungen wie diese von Engels (1873) zu verstehen: »Hätten sich die Autonomisten begnügt zu sagen, daß die soziale Organisation der Zukunft die Autorität nur in den Grenzen zulassen wird, die durch die Produktionsverhältnisse unvermeidlich gezogen werden, dann hätte man sich mit ihnen verständigen können.« Als ob Proudhon nicht immer wieder die jeweilige Ziehung von Grenzlinien zwischen schon möglicher Dezentralisation und noch notwendiger Zentralisation als notwendig erklärt hätte! Ein andermal (1874) sagt Engels (der sich hier eng an die von Marx stammende Formulierung im Bericht der vom Haager Kongreß von 1872 zur Untersuchung der Tätigkeit des Bakuninismus eingesetzten Kommission anschließt), alle Sozialisten seien darin einig, daß der Staat und mit ihm die politische Autorität infolge der künftigen sozialen Revolution verschwinden werden, aber die »Antiautoritären« forderten zu Unrecht, »daß der politische Staat mit einem Schlage abgeschafft werde, noch früher, als die sozialen Verhältnisse abgeschafft sind, die ihn erzeugt haben«. »Sie fordern«, fährt Engels fort, »daß der erste Akt der sozialen Revolution die Abschaffung der Autorität sein soll.« In Wahrheit hat kein besonnener antiautoritärer Sozialist etwas anderes gefordert, als daß die Revolution damit beginne, die Hypertrophie der Autorität, ihr Übermaß zu beseitigen und von da an darauf bedacht sei, sie auf das jeweils den gegebenen Verhältnissen entsprechende Maß zu reduzieren. Engels erwidert auf die angebliche Forderung: »Haben Sie einmal eine Revolution gesehen, meine Herren? Eine Revolution ist gewiß die autoritärste Sache, die es gibt.« Wenn das bedeutet, daß der revolutionäre Kampf als solcher unter zielbewußter Führung und mit

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strenger Disziplin vor sich gehen müsse, so ist das freilich nicht anzuzweifeln; soll es aber bedeuten, daß in der revolutionären Epoche, von der nicht zu sagen ist, wann sie enden wird, die gesamte Bevölkerung in allen Bereichen des Denkens und Lebens von einem zentralen autoritären Willen uneingeschränkt bestimmt werden soll, so ist es unerfindlich, wie von einem solchen Stadium zum Sozialismus ein evolutionärer Weg führen soll. Vier Jahre nach der Schrift über die Kommune hat Marx in dem Brief, in dem er an dem Programmentwurf für den Gothaer Einigungskongreß eine scharfe Kritik übte, erneut seine Bedenken gegen die Genossenschaften vorgebracht, mit der offenkundigen politischen Tendenz, einen Hauptpunkt im Programm der Lassalleaner fragwürdig zu machen und dadurch dem Kompromiß mit ihnen die Grundlage zu entziehen. Freilich wendet sich Marx hier nur gegen die »Stiftung von Kooperativgesellschaften mit Staatshilfe« und läßt die genossenschaftliche Produktion als sozialistisches Ziel bestehen, aber Ausdrücke wie »spezifische Wunderkur«, »Sektenbewegung«, ja »reaktionäre Arbeiter« in bezug auf Buchez’ Programm sind deutlich genug. Trotzdem wurde der die Produktivassoziationen mit Staatskredit behandelnde Paragraph vom Kongreß angenommen. Nichts aber gewährt uns einen so tiefen Einblick in Marxens ambivalente Haltung zur Frage des inneren Gesellschaftsumbaus und seiner Voraussetzungen als sein Briefwechsel mit Vera Zasulitsch von 1881. Die Veröffentlichung dieser Schriftstücke durch Rjazanov ist deshalb besonders wertvoll, weil wir hier zum Teil sehr ausführliche Konzepte Marxens in seinem Antwortbrief kennenlernen; die Konzepte umfassen in der Publikation mehr als 900 Zeilen, mit unzähligen Streichungen, Verbesserungen, Ergänzungen, der Brief etwa 40. Vera Zasulitsch, »eine Frau der großen Aufgaben und der großen Augenblicke«, wie Stepniak sie nennt, hatte aus Genf an Marx geschrieben, um ihn, als den Verfasser des »Kapitals«, dessen erster Band in Rußland »eine große Popularität genieße« und insbesondere auch in den Diskussionen über die Agrarfrage und die russische Dorfgemeinschaft eine bedeutende Rolle spiele, zu fragen, wie er über die Zukunftsaussichten der Dorfgemeinschaft denke. Es handle sich, sagt sie, um »eine Frage von Leben und Tod« für die russische sozialistische Partei, von der auch das persönliche Schicksal der revolutionären Sozialisten abhänge. Denn entweder sei die Dorfgemeinde, wenn sie nur von den übermäßigen Steuern und Abgaben sowie den Willkürhandlungen der Verwaltung befreit werde, fähig, sich in der sozialistischen Richtung zu entwickeln, d. h. Erzeugung und Verteilung der Güter allmählich auf kollektivistischer Grund-

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lage zu organisieren. In diesem Falle müsse der revolutionäre Sozialist »alle seine Kräfte der Befreiung der Gemeinde und ihrer Entwicklung widmen«. Oder aber sie sei – wie mehrere auf Marx sich berufende Leute, die sich Marxisten nennen, behaupten – als eine »archaische Form« von der Geschichte und dem wissenschaftlichen Sozialismus zum Untergang verdammt. Dann müßten die Sozialisten, die vergebens versuchen würden, zu berechnen, in wievielen Jahrzehnten der Boden aus den Händen des russischen Bauern in die der Bourgeoisie übergehen und in wievielen Jahrhunderten vielleicht der Kapitalismus in Rußland einen ähnlichen Entwicklungsgrad wie der in Westeuropa erreichen werde, sich auf die Propaganda unter den städtischen Arbeitern beschränken, die sich fortwährend aus der Masse der Bauern vermehren würden, »welche infolge der Auflösung der Dorfgemeinde auf der Suche nach Lohn auf das Pflaster der Großstädte geworfen werden wird.« Man sieht: es geht in der Tat um nichts Geringeres als um die Entscheidung, ob es eine Zuversicht der sozialistischen Arbeit in Rußland für die nächsten Generationen geben kann. Muß Rußland den Weg Westeuropas gehen, wo im Aufstieg des Hochkapitalismus die »archaischen« Gemeinschaftsformen sich mit Notwendigkeit auflösen, und bleibt nichts übrig, als für die noch ferne Zeit der Industrialisierung einen klassenbewußten Kern des städtischen Proletariats vorzubereiten? Gibt es dagegen für Rußland auf Grund seiner besonderen agraren Institutionen einen Sonderweg, gleichsam abseits von der allgemeinen geschichtlichen Dialektik, einen Weg der Durchdringung überkommener Ordnungen des Gemeineigentums und der gemeinschaftlichen Produktion mit sozialistischem Geist, kann man, indem man diese Ordnungen innerlich ausgestaltet und ihnen eine äußere Besserstellung erkämpft, eine organische soziale Wirklichkeit schaffen, die in die Revolution hineinwüchse, gleichsam zu ihr ausreifte und von ihr nur freigemacht und in die volle Freiheit und das volle Recht eingesetzt würde, sich als Rückgrat der neuen Gesellschaft zu konstituieren, dann gibt es eine große und unmittelbare konstruktiv-revolutionäre Aufgabe, die vielleicht schon bald zur Verwirklichung des Sozialismus führen kann. Die Entscheidung, welches von beiden die geschichtliche Wahrheit sei, wird in Marxens Hände gelegt. Seine Anstrengungen, die rechte Antwort zu geben, sind von bewundernswürdiger Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit. Er hatte sich schon vorher mit dem schwierigen Gegenstand befaßt und nun vertieft er sich von neuem und mit besonderer Intensität in dessen Problem. Immer wieder sehen wir ihn eine Formulierung von großer Feinheit und Präzision streichen, um nach einer noch zulänglicheren zu suchen. Wiewohl nur eine Reihe fragmentarischer Entwürfe, scheinen mir diese

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Aufzeichnungen doch der bedeutendste Versuch zu sein, das Thema der russischen Dorfgemeinschaft synthetisch zu erfassen. Die Dorfgemeinschaft ist einer der infolge der Kargheit des historischen Materials noch immer nicht hinreichend geklärten Abschnitte der ethnologischen Soziologie und innerhalb ihrer stellt die russische, deren Entwicklung äußerst mangelhaft dokumentiert ist, ein besonders dorniges Kapitel dar. Marx neigte, der zu seiner Zeit vorherrschenden Meinung der Wissenschaft gemäß dazu, ihr einen sehr frühen Ursprung zuzuschreiben. Heute pflegt man eher sie als spät und aus der Politik des Staatsfiskus hervorgegangen anzusehen. Das letzte Wort ist gewiß noch nicht gesprochen. Die Forschung wird, meine ich (worauf wichtige Arbeiten unserer Zeit hinweisen) noch feststellen, daß Marx nicht so unrecht hatte, wie man zumeist in unseren Tagen annimmt, und daß der Fiskus keine neuen sozialen Formen geschaffen, sondern alte ausgenutzt hat. Hier aber haben wir uns nicht mit der historischen Fragestellung, sondern nur mit der nach den sozialistischen Aussichten der Dorfgemeinschaft zu befassen, wie Marx sie sah. Marx erklärt, im Anschluß an ein Wort des Ethnologen Morgan, die gegenwärtige Krisis des Kapitalismus werde mit einer Rückkehr der modernen Gesellschaft zu einer höheren Form eines archaischen Typus des Gemeinschaftseigentums und der gemeinschaftlichen Produktion, d. h. mit ihrem Übergang zur kommunistischen Form enden. Daher dürfe man sich durch das Wort »archaisch« nicht erschrecken lassen. In dieser zu erwartenden Richtung der Entwicklung liege eine große Chance der russischen Dorfgemeinschaft. Sie habe einen großen Vorzug den eigentlich archaischen Gemeinschaften desselben Typus gegenüber: sie allein in Europa habe sich auf einer weiten nationalen Skala erhalten. Sie müsse daher nicht, wie es das Schicksal des Gemeineigentums in Westeuropa war, mit dem sozialen Fortschritt verschwinden. Sie könne sich vielmehr »allmählich von ihren primitiven Kennzeichen ablösen und sich unmittelbar als Element der kollektiven Produktion auf nationaler Skala entwickeln«. Marx weist darauf hin, daß er im »Kapital« die »geschichtliche Fatalität« der Kapitalsakkumulation, die den auf persönlicher Arbeit begründeten Besitz enteignet, ausdrücklich auf Westeuropa beschränkt habe. Da der in den Händen der russischen Bauern befindliche Boden nie ihr Privatbesitz gewesen sei, ist diese Entwicklungslinie auf sie unanwendbar. Vielmehr brauchte man einfach die Regierungsinstitution der Wolost, die eine größere Anzahl von Dörfern vereinigt, »durch eine von der Kommune selbst gewählte Bauernversammlung zu ersetzen, die als ökonomisches und administratives Organ ihren Interessen dient«. Mit Leichtigkeit würde sich der Übergang von der parzellaren Arbeit

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zur völligen kooperativen Arbeit vollziehen, wobei Marx besonders die Vertrautheit des Bauern mit dem genossenschaftlichen Werkvertrag des Artel* als förderndes Moment betont. Das notwendige wirtschaftliche Bedürfnis nach einem solchen Prozeß würde sich fühlbar machen, sowie die Dorfgemeinschaft durch Befreiung von ihren Lasten und Erweiterung ihres Bodengebiets in normale Verhältnisse versetzt würde, und was die notwendigen materiellen Bedingungen betreffe, so schulde die russische Gesellschaft, die so lange auf Kosten des Bauern gelebt habe, ihm die für einen solchen Übergang nötigen Vorschüsse. Es ist offenbar, daß hier an eine Wandlung gedacht wird, die sich unter den gegebenen Verhältnissen vollziehen kann. Auf der andern Seite aber weist Marx nachdrücklich auf eine Eigentümlichkeit der russischen Dorfgemeinschaft hin, die sie mit Ohnmacht schlage und ihr alle historische Initiative unmöglich mache. Es ist dies ihre Isolierung: sie ist ein »lokalisierter Mikrokosmos«, und es besteht keine Verbindung zwischen dem Leben einer Kommune und dem aller andern. Mit andern Worten: was Marx hier vermißt, ohne daß er den Begriff gebrauchte, ist die Neigung zur Föderierung. Diese Eigentümlichkeit, sagt er, finde man nicht überall als Kennzeichen dieses Typus, aber »überall, wo sie sich findet, hat sie über den Kommunen einen mehr oder weniger zentralen Despotismus aufkommen lassen«. Nur inmitten einer allgemeinen Erhebung kann die Isolierung der russischen Dorfgemeinschaft gebrochen werden. Ihr gegenwärtiger Zustand sei (aus Gründen, die Marx nicht ausführt) wirtschaftlich unhaltbar; »um die russischen Kommunen zu retten, bedarf es einer russischen Revolution«. Aber sie muß rechtzeitig kommen und sie muß »alle ihre Kräfte konzentrieren, um den freien Aufschwung der Dorfgemeinschaft zu sichern«. Dann werde diese sich bald entwickeln »comme élément régénérateur de la société russe et comme élément de supériorité sur les pays asservis par le régime capitaliste«. In dem kurzen Brieflein, daß Marx tatsächlich an Vera Zasulitsch sandte, folgt auf den Hinweis auf die die Sache angehenden Stellen im »Kapital« ein einziger Satz. Er lautet: »Die im ›Kapital‹ gegebene Analyse bietet somit keine Gründe weder für noch gegen die Lebensfähigkeit der Dorfgemeinschaft, aber das besondere Studium, das ich ihr gewidmet und dessen Material ich in den Originalquellen gesucht habe, hat mich überzeugt, daß diese Kommune der Stützpunkt der sozialen Regeneration in Rußland ist, aber damit er als solcher funktionieren könne, müßte man zunächst die schädlichen Einflüsse, die von allen Seiten auf sie ein*

Über diesen s. das nächste Kapitel, S. 545 f.

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dringen, ausschalten und ihr sodann die normalen Bedingungen einer spontanen Entwicklung sichern.« Die Basis der Argumentation ist hier ungeheuer zusammengeschrumpft, so daß das allein mitgeteilte Fazit in seiner eigentlichen Bedeutung kaum erfaßt werden kann. Aber dieser Vorgang hatte sich anscheinend als unvermeidlich erwiesen, da in den Konzepten das Für und Wider einander zwar nicht offenkundig, aber faktisch unversöhnlich gegenüberstand. Marx bejahte »theoretisch« die Möglichkeit einer vorrevolutionären Entwicklung der Kommune in der erwünschten Richtung, aber praktisch machte er ihre »Rettung« vom rechtzeitigen Kommen der Revolution abhängig. Bestimmend ist offenbar hier wie anderswo das politische Moment: die Befürchtung, daß durch die konstruktive Arbeit dem revolutionären Impetus Kraft entzogen werden könnte. Da diesem politischen Moment bei Marx die Einsicht in die Bedeutung einer Restrukturierung der Gesellschaft nicht gegenübersteht, müssen schließlich Für und Wider durch einen Satz ersetzt werden, der Vera Zasulitsch kaum als Antwort auf ihre Schicksalsfrage erschienen sein dürfe. Schon bei Lebzeiten war Marx, wie Tönnies von ihm sagt, ein Orakel, das wegen der Mehrdeutigkeit seiner Antworten oft vergebens befragt wird. Vera Zasulitsch hat jedenfalls auf die Frage, ob der revolutionäre Sozialist alle seine Kräfte der Befreiung der Kommune und ihrer Entwicklung widmen solle, aus dem Brief Marxens, der für sie die höchste Autorität war, kein Ja herausgehört. Nicht lange danach schrieb sie (im Vorwort zu der 1884 veröffentlichten russischen Übersetzung von Engels’ »Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«) einige Sätze über die Dorfgemeinschaft, die aus Marxens Orakel die Konsequenz ziehen: die schrittweise Auflösung des Gemeindeeigentums sei unvermeidlich, die nächste Zukunft Rußlands gehöre dem Kapitalismus, aber die sozialistische Revolution im Westen werde ihm auch im Osten ein Ende setzen, »und dann können die Überbleibsel der Einrichtungen des Gemeindeeigentums Rußland einen großen Dienst erweisen«. Engels hatte 1882 in seiner Vorrede zu der, ebenfalls von Vera Zasulitsch stammenden, russischen Übersetzung des kommunistischen Manifests auf die – offenbar unter dem Einfluß Marxens von ihm formulierte – Frage, ob die russische Dorfgemeinschaft, »die allerdings schon sehr zersetzte Form des urwüchsigen Gemeineigentums am Boden«, unmittelbar in eine höhere, kommunistische Form des Grundeigentums übergehen könne oder vorher den aus der historischen Entwicklung des Westens bekannten Auflösungsprozeß durchmachen müsse, eine etwas andere Antwort erteilt (wie gewöhnlich, so auch hier eine eindeutigere, massivere, aber auch der Tiefe des Problems weniger Rechnung tragende als Marx): »Wenn

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die russische Revolution das Signal zu einer Arbeiterrevolution im Westen wird, so daß beide einander ergänzen, dann kann das heutige russische Gemeineigentum zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.« Später scheint er noch skeptischer geworden zu sein, aber er vermied es (wie Gustav Mayer berichtet), »sich in die internen Kämpfe zwischen den mehr auf die Bauern und den mehr auf die Entstehung eines Industrieproletariats vertrauenden russischen Sozialisten hineinziehen zu lassen«. Lenin hat gegenüber Eduard Bernstein, der mit Recht auf die Ähnlichkeit zwischen dem von Marx dargelegten Programm der Pariser Kommune mit Proudhons Föderalismus hinwies, mit dem stärksten Nachdruck erklärt, Marx sei Zentralist und in seinen Ausführungen im »Bürgerkrieg in Frankreich« sei »keinerlei Abweichung vom Zentralismus vorhanden«. Diese Auffassung ist in dieser allgemeinen Form unhaltbar. Wenn Marx sagt, die wenigen Funktionen, »welche dann noch für eine Zentralisierung übrig bleiben«, sollten an kommunale Beamte übertragen werden, so heißt das unzweideutig: so viel Staatsfunktionen als möglich dezentralisieren und diejenigen, die zentralisiert bleiben müssen, in administrative verwandeln, und zwar nicht erst nach einer unbestimmte Zeit währenden Entwicklung nach der Revolution, sondern innerhalb der revolutionären Aktion, also das realisieren, was nach Engels’ bekannter Kritik des Entwurfes zum Erfurter Programm »von 1792 bis 1798 jedes französische Departement, jede Gemeinde besaß«: »vollständige Selbstverwaltung«. Dennoch hat Lenin nicht unrecht: im Grunde ist Marx stets Zentralist geblieben. Die Kommunen sind für ihn im wesentlichen politische Einheiten, Kampforgane der Revolution. Lenin fragt: Wenn das Proletariat »sich völlig frei zu Kommunen organisiert und die Tätigkeit dieser Kommunen zu gemeinsamen Schlägen gegen das Kapital … vereinigt, … wäre das nicht … ein vom Proletariat durchgeführter Zentralismus?« Sicherlich, und insofern ist Lenin und nicht Bernstein Marxens getreuer Interpret. Aber das gilt lediglich für die revolutionäre Aktion als solche, und das heißt im Sinne von Marxens Darstellung der Kommune nicht eine über Generationen verteilte »Entwicklung«, sondern eine kohärente geschichtliche Handlung, jene nämlich, die den Kapitalismus zerschlägt und dem Proletariat die Verfügung über die Produktionsmittel verschafft. Aber im französischen Kommunenprogramm ist die einzelne Kommune mit ihrer »lokalen Selbstregierung« keineswegs bloß ein einzelnes Rad in dem großen Apparat der Revolution, oder, weniger mechanisch ausgedrückt, nicht bloß ein einzelner Muskel innerhalb der revolutionären Gesamtanstrengung des Volkskörpers, sondern sie ist dazu bestimmt, die Umwälzung als selb-

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ständige, mit dem möglichen Maximum an Autonomie ausgestattete Einheit zu überdauern. Ist während der Aktion ihr Sonderwille aus freien Stücken in dem großen Antrieb des Ganzen aufgegangen, so soll er nun seine eigne Entscheidungs- und Wirkungssphäre erhalten, und zwar so, daß die eigentlich vitalen Funktionen sich »unten«, die allgemeinen Verwaltungsfunktionen »oben« vollziehen. Der einzelnen Kommune ist grundsätzlich schon innerhalb der Revolution ihr Eigenrecht und ihre Eigenmacht gegeben, aber erst nach Vollzug der gemeinsamen Aktionen treten sie in die aktuelle Erscheinung. Diese unabtrennbaren Bestandteile der Kommunenidee hat Marx hingenommen, ohne sie mit seinem eigenen Zentralismus zu konfrontieren und zwischen beiden zu entscheiden. Daß er die tiefe Problematik, die sich hier auftut, anscheinend nicht sah, liegt an der Hegemonie des politischen Gesichtspunkts, die für ihn überall bestand, wo es um die Revolution, ihre Vorbereitung und ihr Werk ging. Von den drei Modi des Denkens in Dingen des öffentlichen Lebens, dem ökonomischen, dem sozialen und dem politischen, hat Marx den ersten mit methodischer Meisterschaft beherrscht, dem dritten war er mit Leidenschaft ergeben, mit dem sozialen ist er – so absurd das auch in den Ohren eines bedingungslosen Marxisten klingen mag – nur selten in näheren Umgang getreten, und nie ist er für ihn bestimmend geworden. Marx und Engels hatten auf die Frage nach dem Verhältnis zu den Elementen der Restrukturierung, die in der Tat eine Schicksalsfrage war, keine positive Antwort, weil sie keinen inneren Zusammenhang mit der Idee der Restrukturierung hatten. Wohl konnte Marx zuweilen auf »die Elemente der neuen Gesellschaft hindeuten, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben« und die die Revolution nur »in Freiheit zu setzen« hatte; aber er konnte nicht den Entschluß fassen, die Elemente zu pflegen, zu fördern und sich für sie einzusetzen. Der politische Akt der Revolution blieb das im wesentlichen allein Anzustrebende, die politische Vorbereitung dazu – erst die direkte, sodann die parlamentarische und gewerkschaftliche – die allein wesentliche Aufgabe, und damit wurde das politische Prinzip das zu oberst bestimmende, jede konkrete Entscheidung über die praktische Haltung zu solchen vorhandenen, in Bildung begriffenen oder neu zu konstituierenden »Elementen« wurde von der jeweiligen politischen Zweckmäßigkeit allein aus getroffen. Naturgemäß war die Ausführung der Entscheidungen zugunsten einer positiven Haltung lau, uneinheitlich und unwirksam, bis sie jeweils durch negative wieder aufgehoben wurden. Ein charakteristisches Beispiel für die rein politische Art, in der die geistige Führung der Bewegung die für die Neugestaltung der Gesell-

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schaft wichtigsten sozialen Gebilde behandelte, bietet Engels’ Stellungnahme zu den Genossenschaften. 1869 hatte er (in der Vorbemerkung zu dem von Wilhelm Liebknecht besorgten Neuabdruck der Schrift über den deutschen Bauernkrieg) erklärt, »die Ackerbautagelöhner könnten aus ihrem Elend nur erlöst werden, wenn vor allem ihr Hauptarbeitsgegenstand, das Land selber, in gesellschaftliches Eigentum verwandelt und von Genossenschaften der Landarbeiter für ihre gemeinsame Rechnung bebaut würde«. Aus diesem grundsätzlichen Postulat scheint er eine praktische Folgerung zu ziehen, wenn er 1885 an Liebknecht schreibt, die sozialdemokratische Fraktion des deutschen Reichstags müsse zur Regierung sagen: »Gebt ihr uns Garantien, daß in Preußen die Domänen statt an Großpächter oder an Bauern, die ohne Taglöhnerarbeit existenzunfähig sind, an Arbeitergenossenschaften ausgepachtet werden sollen, daß öffentliche Arbeiten an Arbeitsgenossenschaften statt an Kapitalisten verdungen werden, gut, wir wollen ein übriges tun. Wenn nicht, nicht.« Dies alles, fügt Engels hinzu, seien Dinge, die von heute auf morgen eingeleitet und in einem Jahr in Gang gebracht werden könnten, und denen nur die Bourgeoisie und die Regierung im Wege stünden. Das klingt nach echten Forderungen, um die gekämpft werden soll. Aber 1886 verlangt Engels von Bebel, die Fraktion solle sozialistische, zum Sturz der kapitalistischen Produktion führende Maßregeln, wie eben jene, vorschlagen, die praktisch für diese Regierung, wie für jede Bourgeoisregierung überhaupt, unmöglich sind. Hier enthüllt sich der taktischpropagandistische Charakter der Forderungen: das Genossenschaftsprinzip wird nur benützt, nicht in letztem Ernst als das Anzustrebende und zu Erkämpfende verkündigt. Die taktische Verwendung wäre nicht so schlimm, wenn das Grundsätzliche nur groß und deutlich genug zum Ausdruck käme; aber das ist eben nicht der Fall. Ich kann nicht umhin, Lassalles Glauben an die Realisierbarkeit der Genossenschaften mit Hilfe der Regierung, so kurzsichtig er war, als die sozialistischere Haltung anzusehn. Als Beispiele dafür, wie die Grundsatzlosigkeit der geistigen Führer gegenüber den Elementen der Restrukturierung sich in der Unfruchtbarkeit der Bewegung ihnen gegenüber ausgedrückt hat, führe ich eine charakteristische Folge von Resolutionen der als die marxistisch ausgebildetste geltenden Partei, der deutschen Sozialdemokratie, über das Verhältnis zu den Genossenschaften an. Im Gothaer Einigungsprogramm von 1875 (gegen dessen Entwurf Marx jene Bedenken gemeldet hatte) war gefordert worden, Produktivgenossenschaften für Industrie und Ackerbau in solchem Umfang ins Leben zu rufen, daß aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesamtarbeit entsteht; das war ein deutliches Bekennt-

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nis zur Restrukturierung, wie es für die Vereinigung mit den Lassalleanern unerläßlich erschien. Im Erfurter Programm von 1891 war nichts mehr davon zu hören, was nicht aus den Mißerfolgen der inzwischen begründeten Arbeiter- und Produktivgenossenschaften allein zu erklären ist, sondern vor allem eben aus dem Mangel an grundsätzlichen Richtungslinien, und auf dem Berliner Parteitag von 1892 wurde beschlossen, die Partei könne »die Gründung von Genossenschaften nur da gutheißen, wo sie die soziale Existenzermöglichung von im politischen oder im gewerkschaftlichen Kampfe gemaßregelten Genossen bezwecken oder wo sie dazu dienen sollten, die Agitation zu erleichtern«; im übrigen hatten »die Parteigenossen der Gründung von Genossenschaften entgegenzutreten«. Das ist von erfrischender Deutlichkeit. Aber in der Resolution des Hannoverer Parteitags von 1899 wird gesagt, die Partei stehe der Gründung von Wirtschafts-Genossenschaften neutral gegenüber, sie sehe in der Gründung solcher Genossenschaften ein geeignetes Mittel zur Erziehung der Arbeiterklasse zur selbständigen Leitung ihrer Angelegenheiten, aber sie messe ihnen »keine entscheidende Bedeutung bei für die Befreiung aus den Fesseln der Lohnsklaverei«. Und in Magdeburg 1910 wurden nicht bloß die Konsumvereine als ein wirksames Mittel zur Unterstützung im Klassenkampfe anerkannt, sondern erklärt wurde, die genossenschaftliche Tätigkeit überhaupt sei »eine wirksame Ergänzung des politischen und gewerkschaftlichen Kampfes für die Hebung der Lage der Arbeiterklasse«. Diese Zickzacklinie auf einem gegenständlich und geographisch begrenzten, aber wichtigen Gebiete darf als Symbol der tragischen Mißentwicklung der sozialistischen Bewegung gelten. Mit großer werbender und ordnender Kraft sammelte sie das Proletariat um sich, mit großen kämpferischen Kräften handelte sie, angreifend und verteidigend, im politischen und im wirtschaftlichen Bereich; aber das, um dessentwillen letztlich geworben und geordnet und gekämpft wurde, das Werden der neuen sozialen Gestalt, war weder echter Gegenstand ihres Bewußtseins noch echtes Ziel ihres Handelns. Was Marx der Pariser Kommune nachrühmte, hat die marxistische Bewegung weder gewollt noch getan. Sie hat nicht nach vorhandenen Vorformen neuer Gesellschaft ausgeschaut; sie hat sich nicht ernstlich um Förderung, Beeinflussung, Leitung, Koordinierung, Föderierung der neuentstandenen oder in der Bildung begriffenen Versuche bemüht, sie hat nicht selber in folgerichtiger Arbeit Zellen um Zellen und Zellenverbände um Zellenverbände lebendiger Gemeinschaft ins Leben gerufen. Sie hat nicht mit ihrer großen Kraft Hand angelegt, um die neue gesellschaftliche Existenz des Menschen, die von der Revolution freigesetzt werden sollte, zu gestalten.

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Wie das Prinzip einer Erneuerung der Gesellschaft von innen her, durch Erneuerung ihres Zellengewebes, in der Lehre Marxens keinen festen, aus der Idee selber sich ergebenden Platz gefunden hat, so auch nicht in dem großen Versuch unserer Zeit, diese Lehre zu realisieren, einer bewundernswürdigen und tief problematischen Anstrengung des bewußten Menschenwillens. Diese negative Tatsache wird hier wie dort für die vorrevolutionäre Zeit, wie wir gesehen haben, damit gerechtfertigt, daß unter der Herrschaft des Kapitalismus keinerlei, wenn auch nur fragmentarische, soziale Regeneration sich vollziehen könne; für die nachrevolutionäre Zeit aber wird hier wie dort erklärt, es sei utopisch, die ihr entsprechende Gestalt entwerfen zu wollen. »Die Utopie«, schreibt Engels (1872), »entsteht dann, wenn man sich unterfängt, ›aus den bestehenden Verhältnissen heraus‹ die Form vorzuschreiben, worin dieser oder irgendein anderer Gegensatz der bestehenden Gesellschaft gelöst werden soll.« »Bei Marx«, sagt Lenin, »findet man auch nicht die Spur von Utopismus in dem Sinne, daß er die ›neue‹ Gesellschaft erfinde, sie sich zusammenphantasiere.« Aber so unnütz in der Tat solche Phantasiebilder sind, so grundwichtig ist es, sich von der Idee, der man anhängt, die Richtung gebieten zu lassen, in der man handelnd strebe. Die sozialistische Idee weist mit Notwendigkeit, auch bei Marx, auch bei Lenin, auf den organischen Aufbau einer neuen Gesellschaft aus kleinen, durch gemeinsames Leben und gemeinsame Arbeit innerlich verbundenen Gesellschaften und aus ihren Verbänden hin. Aber weder bei Marx noch bei Lenin wird daraus eine klare und einheitliche Richtlinie für die Tätigkeit. Hier wie dort wird das dezentralisierte Element des Neubaus durch das zentralistische der Revolutionspolitik verdrängt. Das Gesetz des Handelns ist hier wie dort, daß zum Gelingen der Revolution eine streng zentralisierte Aktion gehöre, und wie gesagt liegt darin ein nicht geringer Wahrheitsgehalt; woran es fehlt, ist das jeweilige Ziehen der Demarkationslinien zwischen den Erfordernissen dieser Aktion und den, ohne sie zu beeinträchtigen, möglichen Werken dezentralisierter Gesellschaftsbildung, zwischen dem, was die Durchsetzung der Idee fordert, und dem, was die Idee selber fordert, zwischen den Ansprüchen der Revolutionspolitik und den Rechten eines werdenden sozialistischen Lebens. Die Entscheidung findet jeweils, in der Theorie und den Direktiven für die Bewegung bei Marx, in der Praxis der Revolution und der Neuordnung von Staat und Wirtschaft bei Lenin, im wesentlichen zugunsten der Politik statt, d. h. zugunsten des Zentralismus. Das ist gewiß zu einem

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guten Teil auf die Situation zurückzuführen, auf die Schwierigkeiten, die die sozialistische Bewegung, und auf die besonderen Schwierigkeiten, die das Sowjet-Regime zu bestehen hatte; aber vor allem hat sich darin eine Konzeption und Tendenz kundgegeben, die wir bei Marx und Engels finden und die sich auf Lenin und Stalin vererbt hat: die Konzeption eines absoluten Zentrums der Doktrin und der Aktion, von dem die allein gültigen Thesen und die allein maßgebenden Befehle ausgehen, einer durch die »Diktatur des Proletariats« gedeckten Diktatur dieses Zentrums, mit anderen Worten: die Tendenz zur Perpetuierung der zentralistischen Revolutionspolitik auf Kosten der dezentralistischen Bedürfnisse eines werdenden sozialistischen Gemeinwesens. Dieser Tendenz nachzufolgen wurde Lenin durch eben jene Situation erleichtert, die offenkundig darauf hinwies, daß die Revolution noch nicht zu ihrem Abschluß gelangt sei. Der Widerspruch, der zwischen Marxens Forderung der Ablösung des politischen Prinzips durch das soziale einerseits und der faktischen fortdauernden Herrschaft des politischen Prinzips andererseits besteht, wird dadurch verdeckt, daß man sich berechtigt fühlt, die Revolution als noch nicht vollendet anzusehen; wobei freilich unberücksichtigt bleibt, daß für Marx der Sozialismus seine politische Hülle schon da wegschleudert, »wo seine organisierende Tätigkeit beginnt«. Hier birgt sich eine Problematik, die wieder durch nichts Geringeres als die materialistische Geschichtsauffassung überhaupt verdeckt wird: für diese ist Politik lediglich Auswertung und Ausdruck des Klassenkampfes, und mit der Aufhebung des Klassenstaates wird somit dem politischen Prinzip der Boden entzogen. Der tödliche Kampf der allein gültigen Doktrin und Aktion gegen jede andere Auffassung des Sozialismus kann sich zwar nicht als unpolitisch ausgeben, aber er muß z. B. jeden anderen Sozialismus als unecht, als Reste bürgerlicher Ideologien brandmarken; solange sich noch eine andere Auffassung des Sozialismus regt, ist die Revolution eben noch nicht zu Ende, und das politische Prinzip kann noch nicht vom sozialen abgelöst werden, obgleich die organisierende Tätigkeit schon begonnen hat. Die politische Gewalt »im uneigentlichen Sinn« kann in ihrem zentralistischen Anspruch umfassender, rücksichtsloser, »totalitärer« werden als die politische Gewalt »im eigentlichen Sinn« je gewesen ist. Damit soll, wie gesagt, nicht behauptet werden, daß Lenin einfach Zentralist gewesen sei: er war es in einer gewissen Hinsicht weniger als Marx und stand darin Engels näher als diesem; aber in seinem Gedanken und seinem Willen dominierte wie bei Marx und Engels das revolutionspolitische Motiv und hielt das vitalsoziale, nach dezentralisiertem Gemeinschaftsleben verlangende nieder, so daß es sich nur episodisch geltend machen konnte. Das Ergebnis von

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alledem war, daß in die neue Staatsordnung keine auf einen Abbau des Staatszentralismus und der Machtakkumulation gerichtete Kraft eingefügt worden ist. Wie ohne eine solche wirkende Kraft ein solcher Abbau gradweise stattfinden soll, ist unerfindlich. Lenin hat einmal (1918) erklärt: »Was Sozialismus sein wird, wissen wir nicht. Wann hat schon irgendein Staat abzusterben begonnen?« Es gibt in der Geschichte in der Tat kein Beispiel, in noch so geringen Ausmaßen, auf das man sich berufen könnte. Um es zum erstenmal in der Weltgeschichte zu bewirken, hätte man eine gewaltige ideell-vitale dezentralisierende Energie einsetzen müssen. Das ist nicht geschehen. Daß sich unter diesen Umständen ein Selbstverzicht der akkumulierten Macht, ein Selbstabbau des Zentralismus vollziehen würde, ist nicht mit Unrecht (von sozialistischer Seite) als Wunderglaube bezeichnet worden. Die Lehre vom »Absterben« des Staates nach der sozialen Revolution ist aus Marxens zumeist zurückhaltenden Andeutungen von Engels ausgebaut worden. Es ist nicht unnützlich, seine hauptsächlichen Äußerungen über den Gegenstand in chronologischer Folge zusammenzustellen. 1874 erklärt er, der Staat werde »infolge der künftigen sozialen Revolution verschwinden«, weil die öffentlichen Funktionen sich aus politischen in einfache administrative verwandeln werden, 1877 präzisiert er, das Proletariat werde damit, daß es die Produktionsmittel in Staatseigentum verwandelt, den Staat als Staat aufheben, und zwar werde eben jene Besitzergreifung der Produktionsmittel »zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat« sein, er würde dann »von selber« »einschlafen« oder »absterben«. 1882 folgt die eschatologische Deutung dieses »zugleich«: es werde dies »der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit« sein; damit ist das Äußerste gesagt. Nun aber erfolgt ein merkwürdiger Rückzug. Nach Marxens Tode hören wir aus Engels’ Munde jenes »zugleich« nicht mehr. Wenn er 1884 verkündigt, die ganze Staatsmaschine werde ins Museum der Altertümer versetzt werden, so ist der Zeitpunkt dieses bedeutsamen Vorgangs nicht mehr die Stunde, in der die Produktionsmittel verstaatlicht werden, sondern offenbar ein späterer, und offenbar handelt es sich um einen längeren Prozeß, denn die Macht, die jene Versetzung ins Museum vornimmt, ist nun »die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert«, – ein Werk, das durch den einmaligen Akt der Verstaatlichung naturgemäß nur eingeleitet wird. Das entspricht der Formel des Kommunistischen Manifests vom »Lauf der Entwicklung«, auf die Engels hier zurückgeht; nur daß dort schon die Konzentrierung der Produktion »in die Hände der assoziierten Individuen« als das Ergebnis einer Entwicklung angesehen wird, in deren

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Folge die öffentliche Gewalt den politischen Charakter verlieren würde. Noch weiter zurück, so weit, daß kein zusätzlicher Rückzug mehr nötig und möglich ist, geht Engels 1891: das im Kampf um die Klassenherrschaft siegreiche Proletariat, sagt er, werde nicht umhinkönnen, die »schlimmsten Seiten« des Staates »sofort möglichst zu beschneiden«, »bis ein in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun«. Engels sagt das in seiner Vorrede zur Neuausgabe von Marxens Schrift »Der Bürgerkrieg in Frankreich«, in der Marx 20 Jahre früher geschrieben hatte, die Arbeiterklasse habe »lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden«. Diese Konzeption überträgt Engels in seiner Vorrede auf die nachrevolutionäre Zeit. Aber damit wird die Wucht jenes »zugleich« ungeheuer abgeschwächt. Es ist nun nicht mehr so, daß das Proletariat mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel den Staat als Staat aufheben würde, sondern es würde zunächst und bis zum Heranwachsen jenes »neuen Geschlechts« nur die schlimmsten Seiten des Staates beschneiden. Und doch hatte Marx in eben jener Schrift von der Pariser Kommunalverfassung gesagt, sie würde, wenn die Kommune gesiegt hätte, dem gesellschaftlichen Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, die bisher der Schmarotzerauswuchs ›Staat‹ aufgezehrt hatte; und damit hatte er den Hauptton auf die eben durch die Kommunalisierung sich vollziehende Wandlung gelegt, also auf das »zugleich«; Engels ging nun in seiner Vorrede weit dahinter zurück. Sicherlich sind es historische Erfahrungen, die daran schuld waren; daß Engels aber sich von ihnen so tief beeinflussen ließ, lag eben daran, daß weder bei ihm noch bei Marx eine einheitliche und folgerichtige, auf die Restrukturierung der Gesellschaft, auf die Vorbereitung der Aufhebung des Staates ausgerichtete ideelle Linie, ein starker und steter Wille zur dezentralisierenden Aktion gegeben war. Es war ein zwiespältiges geistiges Erbe, das Lenin antrat: sozialistische Revolutionspolitik ohne sozialistische Vitalität. Lenin hat bekanntlich jene Problematik der Engelsschen Lehre dadurch zu überwinden gesucht, daß er auf das nachdrücklichste darauf hingewiesen hat, daß die »Aufhebung« sich auf den bürgerlichen Staat, das »Absterben« aber auf »die Überreste des proletarischen Staatswesens nach der sozialistischen Revolution« bezieht: der Staat als »besondere Repressionsgewalt« nach Engels’ Definition sei zunächst zur Unterdrückung der Bourgeoisie, also als Diktatur des Proletariats, als zentralisierte Organisation seiner Macht unerläßlich. Daß Lenin damit die Intention Marxens (und Engels’) trifft, ist unbestreitbar; er führt mit Recht den Satz

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an, in dem Marx (1852) diese Diktatur als den Übergang zu einer klassenlosen Gesellschaft bezeichnet. Aber für den Marx von 1871, den von der Kommune Begeisterten, war es gewiß, daß mitten in dem für die Revolutionshandlung notwendigen Zentralismus sich die Dezentralisation bereitete, und wenn Engels die Verstaatlichung der Produktionsmittel eine Aufhebung des Staates »als Staat« nannte, so meinte er damit den entscheidenden Vorgang, dessen unmittelbare Auswirkung sogleich nach der Vollendung der Revolutionshandlung beginnen würde. Lenin rühmt Marx nach, »daß er 1852 noch nicht konkret die Frage stellt, was an Stelle der zu vernichtenden Staatsmaschinerie gesetzt werden soll«. Dies habe ihn, wie Lenin weiter ausführt, erst die Pariser Kommune gelehrt. Aber die Pariser Kommune war die Verwirklichung der Gedanken von Menschen, die sich diese Frage recht wohl konkret gestellt hatten. Lenin rühmt Marx nach, »daß er sich streng an die tatsächliche Basis der geschichtlichen Erfahrung hält«. Aber die geschichtliche Erfahrung der Kommune ist eben dadurch möglich geworden, daß in den Gemütern leidenschaftlicher Revolutionäre das Bild einer dezentralisierten, weitgehend entstaatlichten Gesellschaft lebte, das sie in die Wirklichkeit umzusetzen unternahmen. Die geistigen Väter der Kommune hatten eben jene auf Dezentralisation gerichtete ideelle Linie, die Marx und Engels nicht hatten, und die Führer der Revolution von 1871 versuchten, wiewohl mit unzulänglichen Machtmitteln, mitten in der Revolution mit ihrer Realisierung zu beginnen. Über das eigentliche Problem der Aktion setzt sich Lenin mit einer dialektischen Formel hinweg: »Solange es einen Staat gibt, gibt es keine Freiheit. Wenn es Freiheit geben wird, wird es keinen Staat mehr geben«. Die Dialektik verdunkelt hier die wesentliche Aufgabe: Tag um Tag zu prüfen, welches das Maximum von Freiheit ist, das heute verwirklicht werden kann und darf, wieviel »Staat« heute noch notwendig ist, und immer wieder die praktischen Konsequenzen zu ziehen. Vermutlich wird es nie, solange der Mensch ist wie er ist, »Freiheit« schlechthin und wird es ebenso lange »Staat« d. h. Zwang geben; worauf es ankommt, ist, Tag um Tag: nicht mehr Staat als unentbehrlich, nicht weniger Freiheit als zulässig. Und Freiheit heißt, sozial betrachtet, vor allem Freiheit zur Gemeinschaft, freie, vom staatlichen Zwang unabhängige Gemeinschaft. »Es ist klar«, sagt Lenin, »daß von einer Bestimmung des Zeitpunktes, zu dem das Absterben einsetzen wird, keine Rede sein kann.« Das ist keineswegs klar. Wenn Engels erklärt, mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel werde der Staat tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft und damit mache er sich selbst überflüssig, so folgt daraus, daß eben dies der Zeitpunkt ist, zu dem das Absterben des Staates beginnen

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müßte. Wenn es da nicht beginnt, so erweist sich, daß die Tendenz auf das Absterben des Staates nicht faktisch als bestimmender Faktor in die Revolutionshandlung eingebaut ist. Dann aber ist von dieser Revolution und ihren Folgen ein Absterben oder auch nur ein Zusammenschrumpfen des Staats überhaupt nicht zu erwarten. Macht abdiziert nicht, wenn eine Gegenmacht sie nicht dazu treibt. Als »die dringende und aktuelle Frage der heutigen Politik« erklärt Lenin im September 1917 »die Umwandlung aller Bürger in Arbeiter und Angestellte eines großen ›Syndikats‹, nämlich des ganzen Staates«. »Die ganze Gesellschaft«, fährt er fort, »wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn.« Aber muß man dabei nicht an jene schon angeführten Worte Engels’ über den tyrannischen Charakter des automatischen Mechanismus einer großen Fabrik denken, über deren Eingang stehe geschrieben: Lasciate ogni autonomia, voi ch’entrate? Gewiß, Lenin sieht diese Fabrikdisziplin nur als »eine notwendige Stufe zur radikalen Reinigung der Gesellschaft« an; sie werde, meint er, überschritten werden, sobald »alle gelernt haben werden, selbständig die gesellschaftliche Produktion zu leiten«, denn von diesem Augenblick an werde die Notwendigkeit irgendeines Regierens überhaupt zu schwinden beginnen. Die Eventualität, daß die Fähigkeit zur Produktionsleitung ungleich verteilt sei und die gleiche Ausbildung diesen natürlichen Mangel nicht zu ersetzen vermöge, wird von Lenin gar nicht in Betracht gezogen. Die den menschlichen Tatsachen entsprechende Aufgabe wäre aber vielmehr, alle Funktionen des Leitens in so weitgehendem Maße als jeweils tunlich zu entpolitisieren, d. h. ihnen die Möglichkeit zu nehmen, zur Machtakkumulation auszuarten. Nicht darauf kommt es an, daß es nur Leiter und keine Geleiteten mehr gebe – das ist utopischer als irgendeine Utopie –, sondern darauf, daß Leitung Leitung bleibe und nicht Herrschaft werde, genauer: nicht mehr Herrschaftselement in sich aufnehme als die Verhältnisse jeweils unbedingt erfordern (worüber zu entscheiden natürlich nicht Sache der Herrschenden selber sein kann). Freilich, eine tiefgreifende Umwandlung wollte Lenin »sofort« sich vollziehen lassen: sofort nach Erringung der politischen Macht sollten die Arbeiter »den alten bürokratischen Apparat zerschlagen, ihn bis auf den Grund zerstören, nicht einen Stein auf dem andern lassen« und ihn durch einen neuen, aus ebendiesen Arbeitern gebildeten Apparat ersetzen. Mal um mal wiederholt Lenin dabei das Wort »sofort«. Wie es die Pariser Kommune getan hat, sollen »sofort« die Maßnahmen getroffen werden, die nötig sind um zu verhüten, daß der neue Apparat zu einer neuen Bürokratie ausarte, wobei die Wählbarkeit und Absetzbar-

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keit, in Marxens Sprache die »strenge Verantwortlichkeit« der Beamten, in erster Reihe steht. Diese grundlegende Wandlung soll zum Unterschied von anderen nicht der Entwicklung überlassen werden, sie wird in die revolutionäre Aktion selbst einbezogen, und zwar als eine ihrer entscheidend wichtigen Handlungen. Es soll sofort ein »neuer, unermeßlich höherer, unvergleichlich demokratischerer Typus des Staatsapparats« geschaffen werden. An diesem Punkte hielt Lenin also eine unmittelbare Änderung der Gesellschaftsstruktur für notwendig. Er verstand, daß ohne sie trotz den gewichtigen Eingriffen, trotz neuen Institutionen, neuen Gesetzen und neuen Machtverhältnissen doch im Kern des öffentlichen Lebens alles beim alten bleiben würde. Darum vertrat er, ohne einer dezentralistischen Gesamttendenz anzuhangen, mit solchem Nachdruck diese Forderung, die für die Pariser Kommune ein organischer Bestandteil eines dezentralistischen Gesellschaftsbildes gewesen war und nur im Zusammenhang eines solchen, das nach Verwirklichung drängt, in Erfüllung gehen wird. Als eine isolierte Forderung ist sie in Sowjetrußland nicht in Erfüllung gegangen. Von Lenin selbst wird aus einer späteren Phase der bittere Ausspruch berichtet: »Wir sind ein bürokratisches Utopia geworden«. Und doch war der Ansatz zur Strukturwandlung gegeben gewesen, zwar nicht aus Lenins Initiative, aber von ihm in seiner Wichtigkeit, wenn auch nicht in seiner vollen potentiellen Strukturqualität erkannt, ein den Entwürfen der Pariser Kommune verwandter und doch autochthoner Ansatz, der ungeheure Möglichkeiten in sich trug; es waren die Sowjets. Die bisherige Geschichte des Sowjet-Regimes ist, was immer sie sonst ist, auch die Geschichte der Vernichtung dieser Möglichkeiten. Die ersten Sowjets waren in der Revolution von 1905 zunächst als »Kampforganisationen zur Errichtung bestimmter Ziele« entstanden, wie Lenin damals sagte: zuerst als Streikorgane, dann als Vertretungskörper zur Führung der revolutionären Aktion überhaupt. Sie waren spontaner entstanden als die Institutionen der Kommune, nicht aus Prinzipien, sondern als die unvorbereitete Frucht einer Situation. Lenin betonte damals den Anarchisten gegenüber, ein Arbeiterrat sei kein Arbeiterparlament und kein Organ der Selbstverwaltung. Noch zehn Jahre danach erklärt er, Arbeiterräte und ähnliche Institutionen müßten »als Organe des Aufstands« betrachtet werden, die »nur im Zusammenhang mit dem Aufstand« von dauerhaftem Nutzen sein könnten. Erst im März 1917, nachdem die Sowjetform in Rußland, nach Trotzkis Worten, »fast automatisch wiedergeboren worden war« und die ersten Berichte über den Sieg der Revolution Lenin in der Schweiz erreicht hatten, erkennt er

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im Petersburger Sowjet »die Keimzelle einer Arbeiterregierung« und in den Räten überhaupt die Frucht der Erfahrungen der Pariser Kommune. Damit meint er freilich zunächst auch jetzt noch »die Organisation der Revolution«, nämlich der »zweiten wirklichen Revolution«, oder »die organisierte Gewalt gegen die Konterrevolution«, wie Marx in den Einrichtungen der Kommune vor allem Organe der revolutionären Aktion sah; immerhin bezeichnet Lenin die Räte, die der Kommune wesensgleich seien, auch bereits als »den Staat, den wir brauchen«, d. h. den Staat, der »das Proletariat braucht«, oder doch »das Fundament, auf dem wir weiterbauen müssen«. Was er sogleich nach seiner Ankunft in Rußland, entgegen der im Arbeiterrat selber vorherrschenden Meinung, fordert, ist »eine Republik von Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauern-Deputiertenräten im ganzen Lande, von unten bis oben«. In diesem Sinne ist der gegenwärtige Sowjet für ihn »ein Schritt zum Sozialismus«, wie die Pariser Kommune es für Marx gewesen war, freilich eben nur ein politischer, revolutionspolitischer Schritt, wie jene es für Marx gewesen war: eben die Einrichtung, in der sich der revolutionäre Gedanke kristallisiert, die »revolutionäre Diktatur, d. h. eine Macht, die sich unmittelbar auf die direkte Initiative der Volksmassen von unten stützt und nicht auf das Gesetz, das von einer zentralisierten Staatsmacht erlassen wurde«, die »direkte ›Usurpation‹«. Auch jetzt noch bedeutet die Machtverteilung auf die Sowjets für Lenin nicht bloß keine echte Dezentralisation, sondern auch nicht den Ansatz zur Bildung einer solchen, da ja die politische Funktion jener nicht in die Planung eines umfassenden, Wirtschaft und Gesellschaft einschließenden Lebenszusammenhangs eingebaut wird. Lenin nimmt die Räte in ein Aktionsprogramm, nicht in eine Strukturidee auf. Charakteristisch ist eine Äußerung Lenins, die er damals, am Tag nach seiner Ankunft, in einer Versammlung der bolschewistischen Mitglieder der allrussischen Räte-Konferenz gemacht hat: »Wir haben uns alle an die Räte geklammert, aber wir haben sie nicht begriffen«. Die Räte hatten für ihn also bereits eine objektive historische Bedeutung, unabhängig davon wie sie von sich selbst, von ihren eigenen Mitgliedern aufgefaßt wurden. Für die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre waren die Räte, was sie für die ersteren schon 1905 gewesen waren und was sie bei Lenins Ankunft in Rußland de facto mehr oder weniger gewesen sind: Organe zur Kontrolle der Regierung, Bürgschaft der Demokratie. Für Lenin und den ihm anhangenden Teil der Bolschewiki waren sie sehr viel mehr, nämlich die wahre Regierung selber, die »einzig mögliche Form der Revolutionsregierung«, ja der werdende neue Staat, – aber auch nicht mehr als das. Und daß die dezentralistische Form dieses Staates in statu nas-

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cendi Lenin nicht störte, lag daran, daß was in dieser rein dynamischen Revolutionsphase an der Rätebewegung demonstrierend in Erscheinung trat, der einige revolutionäre Wille war. Das Beispiel der Pariser Kommune war für Lenin grundwichtig, sowohl weil Marx daran – und einzig daran – die Wesenszüge einer neuen Staatsordnung dargelegt hatte, als auch weil Lenins Geist, wie der der führenden russischen Revolutionäre überhaupt, von der revolutionären Tradition Frankreichs, als der »klassischen« Revolutionstradition, dauernd beeinflußt war; der Einfluß der großen französischen Revolution, das immer wiederkehrende Messen der eigenen an ihr, das jeweilige Vergleichen der entsprechenden Stadien usw., hat sich oft, und insbesondere im Hinblick auf die zentralistische Tendenz, negativ genug ausgewirkt. Aber Lenin hat das Vorbild der Kommune nicht in ein allgemeingeschichtliches Verständnis eingefügt. Daß es (wie Arthur Rosenberg mit Recht im Anschluß an Kropotkin und Landauer hervorhebt) immer, wenn in der Geschichte die Volksmassen einen feudalen oder zentralistischen Gewaltapparat überwinden wollten, zu ähnlichen Versuchen kam, ist ihm nicht bewußt geworden oder hat ihn nicht interessiert; noch weniger hat ihn – obgleich er einmal davon redet, die Sowjets seien »ihrem sozialen und politischen Charakter nach« mit dem Staat der Kommune identisch – die Tatsache befaßt, daß in allen jenen Versuchen die soziale Dezentralisierung, wenn auch in verschiedenem Maße, mit der politischen verknüpft war. Entscheidend von der Geschichte aus war für ihn allein die Überzeugung, die Menschheit habe bisher einen höheren, besseren Regierungstypus als die Räte nicht hervorgebracht. Darum müßten die Räte »das ganze Leben selbst in die Hand nehmen«. Natürlich verkannte Lenin nicht, daß die Räte ihrem Wesen nach eine dezentralistische Organisation waren. »Ganz Rußland«, sagt er im April 1917, »ist bereits von einem Netz von örtlichen Selbstverwaltungsorganen überzogen«. Die spezifisch revolutionären Maßnahmen, Abschaffung der Polizei, Abschaffung des stehenden Heeres, Bewaffnung der gesamten Bevölkerung, könnten eben auch durch die örtliche Selbstverwaltung verwirklicht werden; dies ist es, worauf es ankommt. Daß diese Organe sich nach der Erfüllung dieser Aufgabe zu einem dauernden Organismus auf der Grundlage einer örtlichen und funktionalen Dezentralisation zusammenschließen könnten und sollten, wird nicht mit einem Wort, anscheinend auch nicht mit einem Gedanken gestreift. Für die Einsetzung und Stärkung der Selbstverwaltung gibt es keine andere Zielsetzung als die revolutionspolitische: eigenmächtig die Selbstverwaltung verwirklichen heißt »die Revolution vorwärtstreiben«. In diesem Zusammenhang wird freilich auch ein soziales Motiv, wenn auch nur flüchtig,

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berührt: die Dorfkommune; sie, die »die völlige Selbstverwaltung«, »das Fehlen jeder Bevormundung von oben« bedeute, eigne sich sehr gut für die Bauernschaft (daß »neun Zehntel der Bauernschaft damit einverstanden sein dürften«, war, nebenbei gesagt, ein gründlicher Irrtum). Aber sogleich folgt die Begründung: »Wir müssen Zentralisten sein, es gibt jedoch Momente, wo die Aufgabe auf die Provinz verschoben wird; wir müssen den einzelnen Orten das Maximum an Initiative lassen … Nur unsere Partei stellt Losungen auf, die die Revolution wirklich vorwärtstreiben.« Auf den ersten Blick bleibt es unklar, wie sich dieser »gemußte« Zentralismus mit dieser völligen Selbstverwaltung verträgt; bei etwas genauerem Zusehen merken wir, diese Verträglichkeit beruht darauf, daß der schlechthin leitende Gesichtspunkt der revolutionspolitische oder revolutionsstrategische ist: auch diese Selbstverwaltung ist Bestandteil eines Aktionsprogramms und nicht die praktische Folgerung aus einer Strukturidee. Daraus vor allem andern ist es zu verstehen, daß die programmatische Forderung des »Fehlens jeder Bevormundung von oben« – eine Forderung nicht etwa für eine nachrevolutionäre Entwicklung, sondern als etwas mitten in der Revolution Auszuführendes, das die Revolution vorwärtszutreiben bestimmt ist – so bald in das äußerste Gegenteil umgeschlagen ist. Eine wahrhaft sozialistische Haltung hätte statt der Losung »Wir müssen Zentralisten sein, es gibt jedoch Momente …« die umgekehrte eingegeben: »Wir müssen Dezentralisten, Föderalisten, Autonomisten sein; es gibt jedoch Momente, wo die Hauptaufgabe auf das Zentrum verschoben wird, weil die revolutionäre Aktion es erfordert; wir müssen nur darauf bedacht sein, ihre Ansprüche nicht über ihre sachlichen und zeitlichen Grenzen sich ausbreiten zu lassen«. Um die Gegeneinanderstellung von Zentralismus und den erwähnten Momenten genauer zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß es in der Provinz, wie Lenin selbst betont hat, »sehr häufig, besonders aber in den proletarischen Zentren, zur Bildung von Kommunen gekommen ist«, daß also »die örtliche kommunale Revolution fortschritt«. Die Parolen entsprachen diesen Tatsachen; eine Parole wie die sich an jene Schilderung der Lage anschließende »Lokale Kommunen, d. h. völlige lokale Autonomie, eigenmächtig, ohne Polizei, ohne Beamte, Alleinherrschaft der bewaffneten Arbeiter- und Bauernmassen« war und blieb, so sehr sie sich auf die Pariser Erfahrung berief, eine revolutionspolitische, d. h. nicht ihrem Wesen nach über die Revolution hinaus in eine dezentralisierte Gesellschaftsstruktur weisende, – das entscheidende Fundament bleibt der Zentralismus. Wir können uns eines tieferen Eindrucks nicht erwehren, wenn wir in demselben Thesenentwurf Lenins (vom Mai 1917) die Forderung lesen, sich die Provinz zum Vorbild zu

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nehmen und aus den Vorstädten und Stadtvierteln der Großstädte Kommunen zu bilden; aber wieder wird ihnen kein anderer Daseinsgrund zugebilligt als: die Revolution vorwärtszutreiben und für den »Übergang der gesamten Staatsgewalt an die Räte« eine breitere Grundlage zu errichten (»Wir sind jetzt in der Minderheit, die Massen glauben uns vorläufig nicht«, sagt Lenin ungefähr zur gleichen Zeit). Lenin ist zweifellos einer der größten Revolutionsstrategen aller Zeiten; was hauptsächlich seine Problematik ausmacht, ist, daß die Revolutionsstrategie für ihn, wie die Revolutionspolitik für Marx, das oberste Gesetz nicht des Handelns allein, sondern auch des Denkens geworden war. Man mag sagen, daß eben dies seinen Erfolg begründet habe; sicherlich ist es – neben einem bei ihm wie bei Marx in einer noch tieferen Schicht wurzelnden Zentralismus der Doktrin – daran schuld, daß dieser Erfolg letztlich nicht zu einem Erfolg des Sozialismus geworden ist. Man darf das Gesagte jedoch nicht etwa dahin verstehen, ich schriebe dem Lenin von 1917 die Absicht zu, die zu stiftende Sowjetmacht nicht über die Revolution hinaus bestehen zu lassen. Das wäre unsinnig; hat er doch damals in dem bedeutenden »Referat zur politischen Lage« von dem Staat, der entstehen würde, wenn die Räte die Macht in die Hände nehmen – einem Staat, der »kein Staat im gewöhnlichen Sinne des Wortes mehr sein« würde – ausdrücklich erklärt, es habe sich zwar eine solche Staatsmacht noch nie in der Welt längere Zeit gehalten, »aber die ganze Arbeiterbewegung der Welt liefe darauf hinaus«. Was ich von Lenin behaupte, ist vielmehr die mangelnde Einsicht dafür, daß sich mit dem Bestand einer solchen Staatsmacht über die unmittelbare revolutionäre Aktion hinaus kein grundsätzlicher Zentralismus verträgt. Bemerkenswerterweise sagt Lenin in demselben Referat, das sei eine Staatsform, »die die ersten Schritte zum Sozialismus darstellt und am Beginn der sozialistischen Gesellschaft unvermeidlich ist«. Das scheint darauf hinzuweisen, daß sie nur als Übergang zu einem höheren, »sozialistischen« Zentralismus gedacht war; daß Lenin auf dem gerade für die endgültige Neugestaltung entscheidend wichtigen Gebiet der Wirtschaft einen strengen Zentralismus als Ziel sah, steht ja fest. Auf eben jener Tagung hat er hervorgehoben, »daß die französische Revolution eine Periode der munizipalen Revolution durchgemacht, daß sie sich in den örtlichen Selbstverwaltungen festgesetzt hatte« und daß die russische eine ähnliche Phase durchlaufe; es fällt schwer, dabei nicht an den auf jene Periode folgenden extremen Zentralismus der französischen Revolution zu denken. Noch von einer anderen Seite aus betrachtet führt uns Lenins Lehre von 1917 auf das gleiche Ergebnis hin. »Das Privateigentum am Grund

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und Boden muß abgeschafft werden«, sagt er. »Das ist jene Aufgabe, die vor uns steht, weil die Mehrheit des Volkes dafür eintritt. Dazu brauchen wir die Räte. Diese Maßnahme läßt sich mit den alten Staatsbeamten unmöglich durchführen.« Das ist die Hauptantwort, die Lenin in dem politischen Referat auf die Frage gibt: »Wozu wollen wir, daß die Macht in die Hände der Arbeiter- und Soldaten-Deputiertenräte übergehe?« Hier ist der marxistische Respekt vor den »Verhältnissen« bedenklich auf die Spitze getrieben: das Privateigentum am Grund und Boden soll nicht deshalb abgeschafft werden, um den Sozialismus aufzubauen, sondern einzig weil die Mehrheit des Volkes es fordert; und die Räte sind notwendig, nicht um die Zellen der neuen Gesellschaft abzugeben, sondern um die von der Mehrheit des Volkes geforderte Maßnahme durchzuführen. Ich möchte annehmen dürfen, daß wir gut tun, diese Argumentation Lenins nicht allzu wörtlich zu nehmen. Nun aber erst tritt Lenins Theorie der Räte in ihre entscheidende Phase. Die Monate, wo er von Finnland aus die bolschewistische Sonderaktion, die »zweite Revolution«, vorbereitet, sind zugleich die Zeit, in der er seine Gedanken von der Funktion der Räte zuerst grundsätzlich im Anschluß an Marxens Darstellung der Kommune unterbaut (in der bekannten Schrift »Staat und Revolution«) und dann praktisch, im Zusammenhang mit der vorbereiteten Aktion, ausbaut (in seinem bedeutendsten politischen Aufsatz, »Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?«). Der Hauptteil der ersten ist im September zur Zeit der versuchten Konterrevolution und ihrer Niederschlagung geschrieben, jenes Versuchs, dessen Wirkung es war, die Massen zum Kampf zu erregen und damit der radikalen Partei nahezubringen, der zweite Mitte Oktober, als den Sowjets von Petersburg und Moskau die Mehrheit dieser Partei zufiel und in unmittelbarer Folge dieser Wandlung der Ruf »Alle Macht den Räten!« aus einer revolutionspolitischen Forderung zur Parole des bevorstehenden Losschlagens wurde. In dem Aufsatz verherrlicht Lenin, von den Ereignissen befeuert, die Bedeutung der Räte für die Entwicklung der Revolution wie nie zuvor. Im Anschluß an die Äußerung des Menschewiki-Führers Martow, die Räte seien »in den ersten Tagen der Revolution von dem mächtigen Ausbruch echter schöpferischer Volkskraft ins Leben gerufen worden«, sagt er: »Hätte nicht die schöpferische Volkskraft der revolutionären Klassen (dieser zu Martows Spruch hinzugefügte Terminus bringt hier die bolschewistische Nuance hinein) die Räte hervorgebracht, so wäre die proletarische Revolution in Rußland eine hoffnungslose Sache«. Hier hat die Auffassung der Räte als Organ des »Vorwärtstreibens der Revolution« ihren stärksten historischen Ton gewonnen.

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Lenin reiht in diesem Aufsatz zum erstenmal die vielfältigen Motive aneinander, die für ihn den Räten ihre grundlegende Wichtigkeit verleihen. Die Reihenfolge, in der er diese Motive anführt, ist für seine Anschauung besonders charakteristisch. Erstens gibt der »neue Staatsapparat«, indem er die rote Garde an Stelle des stehenden Heeres setzt, dem Volke selber die bewaffnete Macht; zweitens stiftet er eine unlöslich enge und »leicht zu kontrollierende« Verbindung zwischen der Führung und den Massen; drittens macht er, durch das Prinzip der Wählbarkeit und Absetzbarkeit, der Bürokratie ein Ende; viertens erleichtert er, durch den Kontakt mit den verschiedenen Berufen (später formuliert Lenin genauer: Berufen und Produktionseinheiten), den er herstellt, die bedeutsamsten Reformen; fünftens organisiert er die Avantgarde, die die Massen heben und erziehen soll; und sechstens vereinigte er durch die Verknüpfung der gesetzgebenden mit der ausführenden Funktion die Vorteile des Parlamentarismus mit denen der direkten Demokratie. In erster Reihe steht hier die revolutionäre Machtpolitik, in zweiter die Organisierung der Reformen, in dritter die Staatsform; die Frage nach dem möglichen Belang der Räte für eine Umbildung der gesellschaftlichen Struktur wird nicht gestellt. Die ihnen gestellten Aufgaben zu bewältigen ist den Räten aber nach Lenins Auffassung erst dadurch ermöglicht worden, daß die Bolschewiki die Führung in ihnen ergriffen und die neue Form mit konkretem Aktionsinhalt füllten, wogegen sie vorher von den Sozialrevolutionären und Menschewiki »zu Schwatzbuden degradiert« worden waren, ja »faulten und verwesten lebendigen Leibes«. »Sich wirklich entwickeln«, fährt Lenin fort, »ihre Anlagen und Fähigkeiten voll entfalten können die Räte erst nach der Ergreifung der ganzen Staatsgewalt, denn sonst haben sie nichts zu tun, sonst sind sie entweder einfache Keimzellen (und allzu lange kann man nicht Keimzelle sein) oder Spielzeug«. Dieser Satz ist aus mehr als einem Grunde merkwürdig. Bei dem Bilde von den Keimzellen legt sich einem mit Notwendigkeit die Frage auf, ob denn nach Lenins Meinung die Räte durch Wachstum und Gliederung nicht dazu heranreifen könnten, die Zellen eines erneuten Gesellschaftsorganismus zu werden; aber das ist offenbar Lenins Meinung nicht. Und sodann kehrt die Wendung vom »Spielzeug«, einige Tage danach, in einem eigentümlichen Zusammenhang in Lenins Thesen für eine Petersburger Konferenz wieder; da heißt es: »Die ganze Erfahrung der beiden Revolutionen von 1905 und 1917 besagt, daß der Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat nur als Organ des Aufstands, nur als Organ der revolutionären Macht etwas Reales ist. Außerhalb dieser Aufgaben sind die Räte ein bloßes Spielzeug«. Hier wird unverkennbar deutlich, worauf es Lenin im

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Grunde einzig ankommt. Gewiß, er hatte in dieser Stunde das Aktuelle zu betonen; aber die Exklusivität, mit der er es tut, und die den Gedanken an eine etwaige selbständige und dauernde Aufgabe der Räte gar nicht aufkommen läßt, spricht eine unmißverständliche Sprache. Dazu kommt, daß hier jene Wortgefüge von 1915: »Organe des Aufstands« und »nur im Zusammenhang mit dem Aufstand« fast buchstäblich wiederkehren; was immer Lenin in den zwei Jahren, in denen er erst eigentlich der geschichtliche Lenin geworden ist, über das Faktum der Räte nachgeforscht und nachgedacht hat, sie sind ihm Mittel zum revolutionären Zweck geblieben. Daß nicht bloß die Räte um der Revolution willen, sondern auch – und in einem tieferen, elementareren Sinne – die Revolution um der Räte willen da sein könnte, ist ihm nicht in den Sinn gekommen. Von da aus – ich meine damit nicht Lenin als Person, sondern die Geistesart und Geistesrichtung, die sich in ihm exemplarisch dargestellt hat – ist es zu verstehen, daß die Räte wie in der Wirklichkeit, so auch in der Idee versandet sind. Daß Lenins Parole »Alle Macht den Räten« revolutionspolitisch und nur revolutionspolitisch gedacht war, drängt sich uns noch schlagender auf, wenn wir in jenem Aufsatz den Ausruf lesen: »Und da sollen die 240 000 Mitglieder der Partei der Bolschewiki nicht imstande sein, Rußland im Interesse der Armen und gegen die Reichen zu regieren!« »Alle Macht den Räten« bedeutet also im Grunde nichts anderes als »Alle Macht der Partei durch die Räte«, – und nichts weist von diesem revolutionspolitischen, ja parteipolitischen Aspekt zu einem anderen, sozialistisch-strukturellen hinüber. Bald danach versichert Lenin, die Bolschewiki seien »der Überzeugung, dem Programm und der ganzen Taktik ihrer Partei nach Zentralisten«; der Zentralismus wird also ausdrücklich als ein nicht lediglich taktischer, sondern grundsätzlicher gekennzeichnet. Der proletarische Staat, so wird uns gesagt, soll zentralistisch sein. Die Räte haben sich also der »starken Regierung« unterzuordnen; was bleibt da von ihrer autonomen Wirklichkeit? Wohl, auch ihnen wird ein spezieller »Zentralismus« zugebilligt: gegen ihre »Zusammenfassung nach Produktionszweigen«, gegen ihre »Zentralisierung« habe kein Bolschewist etwas einzuwenden. Aber Lenin ahnt offenbar nicht, daß solche »Zusammenfassungen« nur dann einen sozialistischen, gesellschaftsbauenden Charakter tragen, wenn sie spontan, von unten herauf erfolgen, wenn sie eigentlich nicht Zusammenfassungen, sondern Zusammenschlüsse, nicht ein zentralistischer, sondern ein föderalistischer Prozeß sind. In Lenins Aufruf »An die Bevölkerung«, zehn Tage nach der Machtergreifung, heißt es: »Eure Räte sind von nun an Organe der Staatsgewalt,

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bevollmächtigte, beschließende Organe«. Die Aufgaben, die bald danach den Räten zugewiesen worden sind, bezogen sich im wesentlichen auf Kontrolle. Das war an sich in der Situation begründet, aber es war viel zu wenig; das positive Gegengewicht fehlte. Solche Wegvorschriften konnten nicht genügen, um die Räte »ihre Anlagen und Fähigkeiten voll entfalten« zu lassen. Wohl hören wir Lenin im März 1918 auf dem Parteitag seine Gedanken über den neuen Staatstypus »ohne Bürokratie, ohne Polizei, ohne stehendes Heer« wiederholen, aber er fügt hinzu: »In Rußland ist das kaum erst begonnen worden und schlecht begonnen worden«. Es wäre ein schwerer Irrtum zu meinen, daran habe nur die unzulängliche Ausführung eines zulänglichen Entwurfes die Schuld getragen: dem Entwurf selber fehlte die Lebenssubstanz. »In unseren Sowjets«, sagt Lenin zur Erklärung, »gibt es noch viel Rohes, Unvollendetes«; aber das eigentlich Bedenkliche und Verhängnisvolle war, daß die Führung, die ja nicht bloß eine politische, sondern auch die geistige Führung gewesen ist, den Sowjets nicht die Richtung auf die Entfaltung und Vollendung hin gab. »Diejenigen, die die Kommune geschaffen haben«, fährt Lenin fort, »haben sie nicht verstanden.« Das erinnert an jene Äußerung am Tag nach seiner Ankunft in Rußland: »Wir haben die Räte nicht verstanden«. Aber in Wahrheit »verstand« er sie auch jetzt im Eigentlichsten nicht, – nur daß er sie darin nicht verstehen wollte. In eben der Rede erklärt Lenin, als Antwort an Bucharin, der die Aufnahme einer Charakteristik der sozialistischen Ordnung in das Programm verlangte: »Wir können keine Charakteristik des Sozialismus geben. Wie der Sozialismus aussehen wird, wenn er seine endgültigen Formen annimmt – das wissen wir nicht, das können wir nicht sagen«. Das ist zweifellos marxistisch gedacht; aber hier zeigt sich eben in geschichtlicher Klarheit die Begrenztheit der marxistischen Weltanschauung in ihrem Verhältnis zu einer werdenden oder werden wollenden Wirklichkeit: das Potentielle, das zu seiner Entfaltung der Förderung von der sozialen Formidee aus bedarf, bleibt unerkannt. Man kann freilich nicht »wissen«, wie der Sozialismus aussehen wird, aber man kann wissen, wie man will, daß er aussehe, und dieses Wissen wie dieser Wille, dieser bewußte Wille wirkt als solcher auf das Werden mit ein, – und wenn man Zentralist ist, wirkt eben dieser Zentralismus auf das Werden mit ein. Immer in der Geschichte bestehen, wenn auch in wechselndem Stärkeverhältnis, zentralistische und dezentralistische Entwicklungstendenzen nebeneinander; von wesentlicher Bedeutung für das Ergebnis ist, für welche von ihnen sich der bewußte Wille mit der jeweils von ihm erworbenen Macht erklärt, – und es gibt kaum etwas Schwereres und Selteneres, als daß ein machtbegabter Wille sich vom Zentralismus frei-

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macht. Was ist natürlicher und folgerichtiger, als daß ein zentralistischer Wille das dezentralistische potentielle Element in den Gebilden, deren er sich bedient, mißkennt? »Die Ziegelsteine sind noch nicht hergestellt«, sagt Lenin, »aus denen der Sozialismus errichtet werden wird.« Er konnte seinem Zentralismus nach die Räte nicht als solche Ziegelsteine erkennen und anerkennen, er konnte ihnen nicht helfen es zu werden, und sie sind es nicht geworden. Bald nach dem Parteitag äußert Lenin in dem ersten Entwurf zu den »Thesen über die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht«, in einem Abschnitt, der dann in die endgültige Fassung nicht aufgenommen worden ist: »Wir sind für den demokratischen Zentralismus … Die Gegner des Zentralismus weisen stets auf die Autonomie und die Föderation hin, als Mittel zum Kampf gegen die Zufälligkeiten des Zentralismus. In Wirklichkeit schließt der demokratische Zentralismus keineswegs die Autonomie aus, sondern setzt vielmehr ihre Notwendigkeit voraus. In Wirklichkeit widerspricht sogar die Föderation (Lenin hat hier nur die nationalpolitische Föderation im Auge) … keineswegs dem demokratischen Zentralismus. Die Föderation ist durchweg bei einer wirklich demokratischen Ordnung, und um so mehr bei einem Staatsaufbau nach dem Räteprinzip, nur ein Übergangsschritt zu einem wirklich demokratischen Zentralismus.« Man sieht, Lenin denkt keineswegs daran, das zentralistische Prinzip durch das föderalistische zu beschränken; er will nur, von seinem revolutionären Gesichtspunkt aus, eine föderale Realität so lange tolerieren, bis sie sich im Zentralismus auflöst. Die Richtung, die Richtlinie ist somit eindeutig zentralistisch. Und nicht wesentlich anders verhält es sich mit der lokalen Autonomie: es empfiehlt sich, sie in einem gewissen Maße zuzulassen und ihr ihre Agenden zuzuweisen, nur daß die Grenze da gezogen sein muß, wo die eigentlichen Entscheidungen und somit die zentralen Instruktionen beginnen. Alle diese Volks- und Gesellschaftsgebilde haben nur politische, strategische, taktische, provisorische Geltung, keinem von ihnen kommt ein echtes Existenzrecht, ein selbständiger Strukturwert zu, keines soll als lebendes Glied eines werdenden Gemeinwesens, keines für die angestrebte Zukunft bewahrt und gefördert werden. Einen Monat, nachdem Lenin jenen Entwurf diktiert hatte, haben die »linken Kommunisten« darauf hingewiesen, welchen Schaden für die Keime des Sozialismus es bedeute, daß die Form der Staatsverwaltung sich in der Richtung der bürokratischen Zentralisation, der Beseitigung der Selbständigkeit der lokalen Sowjets und des faktischen Verzichts auf den Typus des von unten sich verwaltenden »Kommunestaats« entwickelt, – jenen Typus also, von dem Lenin in seiner Rede sagt, die Sowjet-

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macht sei eben dieser Typus. Es kann heute kein Zweifel mehr bestehen, wer damals in der Beurteilung der Sachlage und der Entwicklungstendenz recht hatte, Lenin oder die Kritiker. Aber auch Lenin selbst hat es am Ende seines Lebens gewußt. Der Hinweis auf die Pariser Kommune tritt nach jener Rede immer mehr zurück, bis er völlig aufhört. Ein Jahr nach der Oktoberrevolution hatte Lenin erklärt: »In Rußland wurde der Beamtenapparat vollständig zertrümmert«, aber Ende 1920 bezeichnet er die Sowjetrepublik als einen »Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen«, und das sei »die Realität des Übergangs«. Daß in den darauf folgenden Jahren die Proportion zwischen den Auswüchsen und dem Stamm, aus dem sie hervorgingen, noch ungünstiger, die Ansätze zu dem Zustand, zu dem der Übergang sich vollziehen sollte, noch geringer wurden, konnte Lenin nicht verhohlen bleiben. Ende 1922, in dem auf dem 4. Kongreß der Kommunistischen Internationale gehaltenen Referat »Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution«, sagt Lenin einfach: »Wir haben den alten Staatsapparat übernommen«. Er tröstet sich mit der Zuversicht, es werde in einigen Jahren gelingen, den Apparat von Grund auf zu verändern. Diese Hoffnung Lenins ist nicht in Erfüllung gegangen und konnte es von seinen Voraussetzungen aus auch nicht: er dachte im wesentlichen an die Ausbildung und Heranziehung neuer Kräfte, aber das Problem war ein strukturelles und nicht ein personales, – eine Bürokratie ändert sich nicht, wenn die Namen der Bürokratie sich ändern, und die bestausgebildeten Absolventen der Sowjetschulen und Arbeiterfakultäten erliegen ihrer Atmosphäre. Lenins eigentliche Enttäuschung war der unveränderte Fortbestand der Bürokratie, die zwar gewiß nicht in ihren Personen, aber in ihrer zähen objektiven Wirkungskraft sich wieder einmal stärker erwies als das revolutionäre Prinzip. An die tiefere Ursache der Erscheinung scheint er nicht gerührt zu haben, und das ist verständlich genug. Die Oktoberrevolution war eine soziale Revolution nur in dem Sinn, daß sie an der sozialen Ordnung und Schichtung, an den sozialen Formen und Einrichtungen bestimmte Änderungen vollzog; aber eine wahrhaft soziale Revolution müßte darüber hinaus die Gesellschaft in ihre Rechte gegenüber dem Staat einsetzen. In bezug auf diese Aufgabe hat Lenin zwar darauf hingewiesen, daß das Absterben des Staates sich in einer zeitlich noch gar nicht abzumessenden und in ihrem Prozeß noch gar nicht vorzustellenden Entwicklung vollziehen würde; aber in dem schon jetzt zu realisierenden Maße erkannte er die Aufgabe als für das unmittelbare Aktionsprogramm der Führung bestimmend an, indem er als die neue Staatsform, deren Verwirklichung sogleich in Angriff zu nehmen sei, den

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»Kommunestaat« bezeichnete. Dieser aber war von Marx deutlich genug als eine möglichst weitgehende Befreiung der wirtschaftenden Gesellschaft von den Fesseln des politischen Prinzips charakterisiert worden. »Sobald die kommunale Ordnung der Dinge«, schrieb er, »einmal in Paris und den Mittelpunkten zweiten Ranges eingeführt war, hätte die alte zentralisierte Regierung auch in den Provinzen der Selbstregierung der Produzenten weichen müssen.« Dieser Übergang der Entscheidungsmacht vom politischen auf das gesellschaftliche Prinzip, der von dem sozialen Gedanken in Frankreich von Saint-Simon bis zu Proudhon ideell basiert und ausgearbeitet worden ist, wurde von Lenin als die wesentliche Richtlinie für die organisierende Tätigkeit der Führung proklamiert, aber er ist nicht zu dieser Richtlinie geworden. Das politische Prinzip etablierte sich neu, in gewandelter Gestalt, allmächtig, und die faktische Gefährdung der Revolution lieferte ihm eine breite Rechtfertigung. Daß in der gegebenen Situation nicht an einen radikalen Abbau des politischen Prinzips herangegangen werden konnte, mag unbestritten bleiben; was aber jedenfalls möglich gewesen wäre, ist eben die wirkliche Einsetzung einer Richtlinie, der folgend in den wechselnden Situationen immer wieder, in dem jeweils zulässigen Maße, die Machtgrenzen des gesellschaftlichen Prinzips erweitert werden konnten. Das Gegenteil ist geschehen. Die Vertreter des politischen Prinzips, d. h. im wesentlichen die zur Herrschaft gelangten »Berufsrevolutionäre«, wachten eifersüchtig über die Uneingeschränktheit ihres Entscheidungsbereichs. Gewiß, sie vergrößerten ihre Reihen durch befähigte Leute aus dem Volk, sie ergänzten die jeweils entstehenden Lücken, aber die in die Führung Aufgenommenen wurden eben bis in die innerste Seele hinein mit dem Zeichen des politischen Prinzips abgestempelt, sie wurden Elemente der Staatssubstanz und hörten auf, Elemente der Gesellschaftssubstanz zu sein; wer dieser Wandlung widerstrebte, konnte sich eben nicht behaupten oder hörte auf es zu wollen. Die Macht des gesellschaftlichen Prinzips durfte nicht wachsen. Die vor der Revolution und in ihr spontan entstandenen Ansätze zu einer »Selbstregierung der Produzenten«, vor allem die lokalen Sowjets, wurden, bei aller scheinbaren Freiheit zu Äußerung und Beschluß, durch die alles durchsetzende Parteiherrschaft mit ihren mannigfaltigen Methoden, sichtbar oder unsichtbar zur Konformität mit Doktrin und Willen der Zentrale zu zwingen, entmächtigt, bis von dem Saft jener »schöpferischen Volkskraft«, der sie erzeugt hatte, nicht viel mehr übrig blieb. Die »Diktatur des Proletariats« ist de facto eine Diktatur des Staates über die Gesellschaft, freilich eine, die von der überwiegenden Mehrheit des Volkes um der noch immer auf diesem Wege erhofften Vollendung der sozialen Revolution willen bejaht oder doch

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ertragen wird. Der Bürokratismus, an dem Lenin litt, weil es ihm gerade um seine Abschaffung zu tun gewesen war – der »Kommunestaat« war für ihn im Grunde einfach der entbürokratisierte Staat –, ist nur eine notwendige Begleiterscheinung der Alleinherrschaft des politischen Prinzips. Bemerkenswerterweise sind innerhalb der Partei selbst immer wieder Versuche unternommen worden, diese Alleinherrschaft zu brechen. Am interessantesten, weil aus der Industriearbeiterschaft stammend, scheint mir jene »Arbeiteropposition« vom März 1921, die die These aufstellte, die Zentralorgane für die Verwaltung der gesamten Volkswirtschaft der Republik sollten durch die zu Berufsverbänden vereinigten Produzenten gewählt werden. Das bedeutet noch keinesfalls eine Selbstregierung der Produzenten, aber doch einen wichtigen Schritt darauf zu, wiewohl ohne eigentlichen dezentralistischen Charakter. Lenin hat diese »anarcho-syndikalistische Abweichung« mit der Begründung abgelehnt, eine Vereinigung der Produzenten komme für einen Marxisten erst in einer klassenlosen Gesellschaft in Betracht, die ausschließlich aus Arbeitern als Produzenten bestehen werde, gegenwärtig seien aber in Rußland, abgesehen von Resten der kapitalistischen Epoche, noch zwei Klassen übriggeblieben, die der Bauern und die der Arbeiter. Solange also der zur Vollendung gediehene Kommunismus nicht alle Bauern zu Arbeitern gemacht hat, kommt nach Lenins Ansicht eine Selbstverwaltung der Wirtschaft nicht in Betracht. Mit anderen Worten (da die Vollendung des Kommunismus mit dem vollzogenen Absterben des Staates zusammenfällt): an eine grundsätzliche Reduktion des inneren Machtbereichs des Staats ist nicht zu denken, ehe der Staat ausgeatmet hat. Dieses Paradox ist die tatsächliche Maxime des Handelns für die Führung des Sowjetregimes geworden. Von hier aus erst läßt sich Lenins wechselndes Verhältnis zum Genossenschaftswesen als ein Ganzes erfassen. Dabei kann es sich nicht darum handeln, auf die Widersprüche kritisch hinzuzeigen. Lenin selber hat nicht mit Unrecht schon 1918 betont, immer, wenn eine neue Klasse als Führer der Gesellschaft die historische Arena betrete, verlaufe es nicht ohne eine Periode von Experimenten und Schwankungen bei der Wahl von neuen Methoden, die der neuen objektiven Situation entsprechen; drei Jahre danach berichtete er sogar, es habe sich herausgestellt, »wie stets in der Geschichte der Revolutionen, daß die Bewegung im Zickzack vor sich geht«. Er hat nicht beachtet, daß all dies wohl auf die politischen Revolutionen zutrifft, daß aber, wenn, zum erstenmal in der Weltgeschichte in so umfassendem Maße, das Element der sozialen Umwandlung hinzutritt, das Menschengeschlecht, so das Volk dem es geschieht wie die Völker die Zeugen der Ereignisse sind,

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danach bangt, in all den Experimenten und Schwankungen doch der einen deutlichen Ansage der Zukunft, der Richtung auf sozialistisches Dasein, und das heißt: auf Gemeinschaft aus Freiheit, gewahr zu werden. Hier ist ihnen, was sonst ihnen an Unerhörtem erschien, derartiges nicht sichtbar geworden, und Lenins wechselndes Verhältnis zum Genossenschaftswesen ist ein Beweis mehr, daß eine solche Richtung nicht besteht. In der vorrevolutionären Periode waren für Lenin die Genossenschaften innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nur »erbärmliche Palliativmittel« und Träger des kleinbürgerlichen Geistes. Einen Monat vor der Oktoberrevolution, im Angesicht der großen Wirtschaftskrise, von der Rußland heimgesucht war, schlug er unter den zunächst zu treffenden »revolutionär-demokratischen« Maßnahmen die Zwangsvereinigung der Bevölkerung zu Konsumgenossenschaften vor. Im Januar danach schrieb er in dem Entwurf eines Dekrets: »Alle Staatsbürger müssen einer lokalen Konsumgenossenschaft angehören« und »die bestehenden Konsumgenossenschaften werden nationalisiert«. In manchen Kreisen der Partei wurde diese Forderung als eine auf Eliminierung der Genossenschaften abzielende verstanden und gebilligt, denn man sah, wie ein bolschewistischer Theoretiker es, zweifellos mit Recht, ausdrückte, in dem Element der freiwilligen Mitgliedschaft das notwendige Merkmal einer Genossenschaft. Lenin wollte es nicht so verstanden haben. Gewiß, die Genossenschaft als kleine Insel in der kapitalistischen Gesellschaft war, so sagte er, nur »ein Laden«, aber die Genossenschaft, die nach der Aufhebung des Privatkapitals die gesamte Gesellschaft umfaßt, »ist Sozialismus«, und es ist daher die Aufgabe der Sowjetmacht, alle Bürger ausnahmslos in Mitglieder einer allgemein-staatlichen Genossenschaft, einer »einzigen großen gemeinsamen Kooperative« zu verwandeln. Ungesagt war, daß damit das Genossenschaftsprinzip jeden selbständigen Inhalt, ja seine Existenz als Prinzip verlor und nichts als eine mit Notwendigkeit zentralistisch-bürokratische Staatseinrichtung unter einem sinnlos gewordenen Namen übrigblieb. Die Verwirklichung dieses Programms wurde in den nächstfolgenden Jahren unternommen: alle Genossenschaften wurden unter der Führung der Konsumvereine verschmolzen, die im Grunde zu Warenausgabe-Stellen des Staats gemacht wurden. Zur sofortigen Verstaatlichung schlechthin wollte Lenin auch noch zwei Jahre nach einer Formulierung der »Aufgabe der Sowjetmacht« nicht fortschreiten. Er widersprach denen, die ausgesprochenerweise ein einziges Netz von staatlichen Organisationen an Stelle der Genossenschaften setzen wollten. »Das wäre ganz gut, ist aber unmöglich«, äußerte er und meinte damit: »zur Zeit noch unmöglich«. Zugleich aber hielt er grundsätzlich an dem Begriff der Genossenschaft als solcher

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fest, die, wie er unter Berufung auf Marx und auf seine eigene Haltung auf dem Kopenhagener Kongreß der Internationale (1910) – wo er die nach der Expropriierung der Kapitalisten möglich werdende sozialisierende Wirkung der Genossenschaft betonte – erklärte, ein Mittel zum Aufbau der neuen Wirtschaftsordnung sein könne: es handle sich darum, neue genossenschaftliche Formen zu finden, »die den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen der proletarischen Diktatur entsprechen« und den »Übergang zum wirklichen sozialistischen Zentralismus« erleichtern. Eine Institution, die ihrem ganzen Wesen nach Keim und Kern gesellschaftlicher Dezentralisation ist, sollte somit zum Bauelement eines neuen und lückenlosen staatlichen Zentralismus »sozialistischer« Prägung gemacht werden. Selbstverständlich geht Lenin dabei letztlich nicht von theoretischen Voraussetzungen, sondern von den praktischen Anforderungen der Stunde aus, die bekanntlich eine äußerst schwere und zu äußersten Anstrengungen nötigende war. Wenn Lenin in einer an die Postulate der »Utopisten« und »Anarchisten« gemahnenden und freilich auch deren Sinn in sein Gegenteil verkehrenden Formulierung verlangt, man solle »die Produktionsgenossenschaft mit der Konsumgenossenschaft verknüpfen«, so begründet er das mit der Notwendigkeit, die Produktenmenge zu erhöhen: aus der zweijährigen Erfahrung ergebe sich die Zweckmäßigkeit dieses Mittels. Wieder nach einem Jahr hören wir Lenin heftig gegen die Genossenschaften polemisieren, die in ihrer alten, noch immer nicht überwundenen Form ein »Hort der konterrevolutionären Gesinnung« seien. In der berühmten Schrift über die Naturalsteuer vom Frühjahr 1921 weist er nachdrücklich auf die Gefahr hin, die eine Kooperation kleiner Produzenten in sich berge: sie stärke unvermeidlich den kleinbürgerlichen Kapitalismus. »Freiheit und Rechte der Genossenschaften«, fährt er fort, »bedeuten unter den gegenwärtigen Verhältnissen in Rußland Freiheit und Rechte für den Kapitalismus. Es wäre eine Dummheit oder ein Verbrechen, unsere Augen vor dieser offenkundigen Wahrheit zu verschließen.« Und weiter: »Der genossenschaftliche Kapitalismus bildet unter der Sowjetmacht, zum Unterschied vom privatwirtschaftlichen Kapitalismus, eine Spielart des Staatskapitalismus und ist als solche für uns zur Zeit vorteilhaft und nützlich … Wir müssen danach streben, die Entwicklung des Kapitalismus in das Bett des genossenschaftlichen Kapitalismus zu leiten«. Diese Warnung und Weisung sprach nur aus, was in jenen Jahren des fälschlich sogenannten Kriegskommunismus (Lenin selbst sprach im Oktober 1921 zurückblickend von dem Fehler, der dadurch begangen war, »daß wir uns entschlossen, den unmittelbaren Übergang zur kommunistischen Produktion und Distribution vorzunehmen«) die Richtlinie der Praxis gewesen war.

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Schon aber begann sich im Gefolge der ungünstigen Auswirkungen der extremen Zentralisierung und im Zusammenhang mit der einsetzenden »Neuen Wirtschaftspolitik« auch hier eine rückläufige Tendenz geltend zu machen. Zwei Tage vor jener warnenden Rede Lenins war ein Dekret über die Wiederherstellung der Genossenschaft als Wirtschaftsorganisation mit ihren verschiedenen Arten, der Konsum-, der landwirtschaftlichen und der gewerblichen Genossenschaft, erlassen worden. Zwei Monate später folgte ein Dekret, mit dem der Anfang zur völligen Aufhebung der angeordneten Verschmelzung aller Genossenschaftsarten im Verband der Konsumvereine, dem Zentrosojus, gemacht wurde. Zu Ende desselben Jahres äußerte der Präsident dieses Verbandes in einer Rede über Lage und Aufgabe der Genossenschaften, es sei nur natürlich, daß der nach einem festen Plan funktionierende staatliche Genossenschaftsapparat »bürokratisch, unelastisch und unbeweglich« geworden ist, und erwähnte die Stimmen, »die davon sprachen, daß man die Genossenschaft aus der Knechtschaft des Staates befreien muß«, ja, er gab zu, daß es Momente gab, »wo man von einer solchen Befreiung sprechen mußte«. In der Tat hatte die Bevölkerung vielfach die Zwangsorganisation mit der Leibeigenschaft verglichen. Nunmehr verzichtete man, wie damals von zuständiger Seite in bezug auf die landwirtschaftlichen Genossenschaften erklärt wurde, »vollkommen und rückhaltlos« auf behördliche Einmischungen in ihre Angelegenheiten, und begnügte sich mit den sich im System des Staatskapitalismus eröffnenden »weiteren Möglichkeiten, die Genossenschaften durch ökonomische Einwirkung zu beeinflussen und zu regulieren«, bis diejenigen, die sich nicht anpassen können oder wollen, »zerrieben und vernichtet« worden sind. Immerhin sorgte man dafür, daß zuverlässige Parteimitglieder in die Leitung sowohl der Zentralen als auch der einzelnen Vereine kamen und unter den Vertretern der Kooperative die nötigen »Säuberungen« durchgeführt wurden. Zwei Jahre nach seiner Rede über die Naturalsteuer, im Mai 1923, lieferte Lenin auf dem Höhepunkt der neuen Entwicklung ihr in dem großen Aufsatz über das Genossenschaftswesen die theoretische Grundlage. »Wir haben uns«, sagte er, »als wir zur neuen Wirtschaftspolitik übergingen, in der Hinsicht überstürzt, daß wir vergessen haben, an das Genossenschaftswesen zu denken.« Aber er begnügt sich nun keineswegs mehr damit, die Genossenschaft als ein in die Staatswirtschaft der Übergangszeit einzubauendes Element zu bejahen. Die Genossenschaft rückt mit einem Mal in den Mittelpunkt der sozialistischen Neuordnung. Die genossenschaftliche Erfassung der Bevölkerung bezeichnet Lenin jetzt als »die einzige Aufgabe, die uns übrig geblieben ist«. Die Vergenossenschaf-

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tung Rußlands hat in seinen Augen eine »kolossale«, »gigantische«, »grenzenlose« Bedeutung bekommen. »Das ist«, sagt er, »noch nicht der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, aber das ist alles Notwendige und Ausreichende zum Aufbau dieser Gesellschaft.« Ja, er geht noch weiter: nicht bloß Voraussetzung des sozialen Aufbaus, sondern geradezu dessen Kern ist ihm die Genossenschaft geworden. »Eine Gesellschaftsordnung von aufgeklärten Genossenschaften«, erklärt er, »bei Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, auf Grund des Klassensiegs des Proletariats über die Bourgeoisie, – das ist eine sozialistische Gesellschaftsordnung«, und er folgert daraus: »Das einfache Wachsen der Genossenschaft ist für uns gleichbedeutend mit dem Wachsen des Sozialismus«, ja, »Unter der Bedingung der völligen Vergenossenschaftlichung würden wir schon mit beiden Füßen auf sozialistischem Boden stehen«. In der geplanten allesumfassenden Staatsgenossenschaft sieht er die Erfüllung der »Träume« der alten Genossenschaften, »angefangen mit Robert Owen«. Hier erreicht der Widerspruch zwischen Idee und Verwirklichung seinen Gipfel. Um was es jenen »Utopisten«, angefangen mit Robert Owen, bei ihren Assoziationsgedanken und Plänen ging, war der freiwillige Zusammenschluß von Menschen zu kleinen, selbständigen Einheiten des gemeinschaftlichen Lebens und Arbeitens und deren freiwilliger Zusammenschluß zu einer Gemeinschaft von Gemeinschaften. Was von Lenin als die Erfüllung dieser Gedanken und Pläne bezeichnet wird, ist das äußerste Gegenteil davon, ist ein ungeheurer, unerbittlich zentralisierter Komplex von staatlichen Erzeugungsstellen und staatlichen Verteilungsstellen, ein Mechanismus von büromäßig geleiteten Anstalten für Produktion und Konsum, eine in die andre zahnradmäßig gefügt: für Freiwilligkeit, für freien Zusammenschluß ist nirgends mehr ein Platz, nirgends mehr auch nur die Möglichkeit davon zu träumen, – mit der »Erfüllung« des Traums ist er zu Ende geträumt. So jedenfalls war Lenins Vorstellung von der Einschaltung des Genossenschaftswesens in den Staat gewesen, und er hat sie auch in diesem, sonst so weitgehenden Aufsatz, acht Monate vor seinem Tode, nicht verleugnet. Er wollte der auf ihren Höhepunkt gelangten Bewegung, die auf allen Gebieten einen Abbau des Zentralismus mit sich brachte, die entscheidend theoretische Grundlage geben; aber er versagte ihr – und von seinen Gedankengängen aus mit Notwendigkeit – die Grundlage der Grundlage, das Prinzip der Freiheit. Manche haben in dieser so stark betonten Hinwendung Lenins zum Genossenschaftswesen eine Annäherung an die Theorien der russischen Volkstümler sehen wollen, für die die im Volk fortlebenden oder in ihm sich neu bildenden Formen des genossenschaftlichen Zusammenschlusses Ansatzpunkt und Kern einer künftigen Ordnung der Gesellschaft

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waren und die Lenin so lange bekämpft hatte. Die Verwandtschaft ist aber nur eine scheinbare. Lenin dachte auch jetzt nicht einen Augenblick an die Genossenschaft als spontanes, selbständiges, aus innerem Antrieb und in eignem Gesetz wachsendes Gebilde. Was er jetzt, nach all den schweren Mühen um die Bindung des Volkes zu einem einheitlichen, aus hingegebenem Willen ihm folgenden Ganzen, nach all den Enttäuschungen an den »bürokratischen Auswüchsen«, von der Krankheit gezeichnet und dem Tode nah, sich erhoffte, war, zwei Dinge zu vereinen, die nicht zu vereinen sind, den allbeschattenden Staat und die in vollem Saft stehende Genossenschaft, das heißt: den Zwang und die Freiheit. In all den Zeiten der menschlichen Geschichte haben die Genossenschaft und ihre Vorformen sich stets nur in den Lücken wahrhaft entfalten können, die die Wirkungsmacht des Staates und seiner Vorformen übrigließ. Ein lückenloser Staat schließt eine wirkliche Entfaltung der Genossenschaft seinem Wesen nach aus. Lenins letzte Idee war: die Genossenschaft so in ihrem Umfang zu erweitern und in ihrem Bau zu vereinheitlichen, daß sie sich nur noch funktionell vom Staat unterschiede, materiell aber mit ihm deckte. Das ist die Quadratur des Zirkels. Stalin hat die Wandlung in Lenins Auffassung der Genossenschaften von 1921 zu 1923 damit erklärt, daß der Staatskapitalismus eben nicht im wünschenswerten Maße Fuß gefaßt hatte und die 10 Millionen Mitglieder umfassenden Genossenschaften begonnen hatten, sich mit der neu sich entwickelnden sozialistischen Industrie eng zu verbinden. Das weist gewiß im wesentlichen auf die wirklichen Motive Lenins hin, reicht aber nicht zu, um seinen unversehens erwachten Genossenschafts-Enthusiasmus zu erklären. Vielmehr ist es offenbar, daß Lenin jetzt in dem Genossenschaftsprinzip ein Gegengewicht zu der ihm so beschwerlichen Bürokratie erblickte. Aber zu einem solchen Gegengewicht hätte die Genossenschaft nur in ihrer ursprünglichen freien Form werden können, nicht in der Leninschen Zwangsform, die auf eine wahrhaft »gigantische« Bürokratie angewiesen war. Freilich ist Lenins Zwangsidee wie gesagt nicht zur völligen Ausführung gelangt. Die rückläufige Bewegung führte schließlich, im Mai 1924, zur Wiederherstellung der freiwilligen Mitgliedschaft, zunächst nur für Vollbürger, d. h. Wahlberechtigte, Anfang 1928 in den ländlichen Konsumgenossenschaften auch für andere, wiewohl unter Beschränkung ihrer Rechte. Ende 1923 erklärte jener Vorstand des Zentrosojus: »Wir müssen bekennen, daß dieser Übergang zur freien Mitgliedschaft schon früher hätte gemacht werden müssen. Wir wären imstande gewesen, dieser Krisis auf gesicherterer Grundlage zu begegnen«. Ein indirekter Zwang ist freilich auch fernerhin durch die vorzugsweise Belieferung

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der Genossenschaften ausgeübt worden. 1925 hören wir aus dem Munde des damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Gewerkschaften, daß man bei der Ausgabe von Unterstützungen und Darlehen auf die Zugehörigkeit zu Genossenschaften in einer Weise Rücksicht nehme, die einem Zwange nahekomme. Und zehn Jahre danach werden die städtischen Kooperativen, die schon lange unter staatlichen Eingriffen schwer zu leiden hatten, mit einem Schlage, in 654 Städten, beseitigt. Das Gesagte genügt wohl, um zu zeigen, wie das Sowjetregime immer wieder praktisch zwischen sofortiger radikaler Zentralisation und vorläufiger Duldung relativ dezentralisierter Bereiche gependelt ist, nie aber auch nur im geringsten die Richtung auf jenes von Marx formulierte Ziel des Sozialismus, die »Wegschleuderung der politischen Hülle«, zur Maxime seines Handelns gemacht hat. Man mag zur Ergänzung etwa das wechselnde Verhalten während des Fünfjahresplans 1926-1931 zur Kollektivierung der Bauernschaft heranziehen. Ich begnüge mich hier damit, einige charakteristische Kundgebungen und Vorgänge in chronologischer Folge aneinanderzureihen. Ende 1927 wies Molotow auf die Rückständigkeit des Ackerbaus hin und forderte zu seiner Überwindung eine Entfaltung der trotz ihrer Mängel wertvollen Dorf-Kollektive im Zusammenhang mit dem allgemeinen Industrialisierungsplan. Im Juni 1928 erklärt Stalin es für notwendig, mit größter Intensität die bestehenden Kollektive zu erweitern und neue zu begründen. Im April 1929 wurde auf dem Parteitag die Parole ausgegeben, noch während des Fünfjahresplans ein sozialisiertes Produktionsgebiet als Gegengewicht für die Individualwirtschaft zu schaffen. Die Kollektivierungsaktion nahm bald mehr oder weniger offenkundige Zwangsformen an und erschien zunächst so erfolgreich, daß Stalin zu Ende desselben Jahres erklärte: »Sollte die Kollektivbewegung in solchem Maße fortschreiten, so würde der Gegensatz zwischen Stadt und Dorf in einem beschleunigten Tempo hinweggespült werden«. Anfang 1930 konstatierte das Zentralkomitee der Partei, das im Plan vorgesehene Tempo sei überschritten worden, und verkündigte mit dem stärksten Nachdruck die Notwendigkeit eines entschlossenen Kampfes gegen alle Versuche die Bewegung zu verlangsamen. Innerhalb von drei Jahren sollte die vollständige Kollektivierung durchgeführt werden, mit den Mitteln der Überredung, »unterstützt durch gewisse Hebel«. Die Exekutivkomitees der Distrikte wetteiferten miteinander in der Gründlichkeit ihrer rein administrativen Maßnahmen; der Distrikt wurde nicht selten als »Bezirk der vollständigen Kollektivierung« erklärt, und wo die Überredung nicht half, ging man zur Drohung über. Aber bald erwies es sich, daß der aus der starken Zunahme der Zahl der Kollektivwirtschaften gewonnene Eindruck

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eines durchschlagenden Erfolgs trügerisch war. Die Bauernschaft reagierte auf ihre eigene Weise, von Viehschlachtungen bis zu Aufständen, und die zur Ausschaltung der Großbauern unternommene Aktion behob das Übel nicht, die Mittelbauern machten vielfach mit, ja, die Rote Armee mit ihren Bauernsöhnen wurde von der Unzufriedenheit ergriffen. Da vollzog Stalin in seinem berühmten Aufsatz »Schwindligkeit vor Erfolg« die notwendig erscheinende Wendung. Die Politik der Kollektivierung, erklärte er, beruht der Lehre Lenins gemäß auf der Freiwilligkeit. »Man kann nicht mit Gewalt Kollektivwirtschaften schaffen. Das wäre dumm und reaktionär.« Lenin habe auch gelehrt, »daß es größter Unsinn wäre zu versuchen, die gemeinwirtschaftliche Bodenbearbeitung durch Dekrete einzuführen«. Der Grundsatz der Freiwilligkeit sei verletzt worden, das Tempo der Aktion habe dem der Entwicklung nicht entsprochen, notwendige Zwischenstadien auf dem Weg zur vollständigen Dorfkommune seien übersprungen worden. Das Zentralkomitee ordnete an, den Zwangsmethoden ein Ende zu machen. Im Juli proklamierte der Parteitag, Kollektivwirtschaften könnten nur auf dem Grundsatz des freiwilligen Eintritts aufgebaut werden, jeder Versuch, Gewalt oder administrativen Zwang anzuwenden, sei »ein Verstoß gegen die Richtlinie der Partei und ein Mißbrauch der Macht«. Im Herbst kritisierte noch einmal der Kommissar für Landwirtschaft die »rohen und ultraadministrativen Methoden, die in bezug auf die Kollektivwirtschaften und ihre Mitglieder angewendet worden waren«. Aber weniger als fünf Monate danach, nachdem als Folgeerscheinung der größeren Freiheit eine erhebliche Zahl von Bauern, trotz der den Kollektiven neu gebotenen Vergünstigungen, sie verlassen hatte, sagte derselbe Kommissar in seinem Bericht an den Kongreß der Sowjets von den Klein- und Mittelbauern, die sich der Kollektivbewegung nicht angeschlossen hatten: »Mit wem sind sie, mit den Kulaken oder mit den Kollektiven? … Ist es möglich, jetzt neutral zu bleiben?« Mit anderen Worten: wer nicht für die Kollektivierung ist, ist gegen das Sowjetregime. Der Kongreß bestätigte die Haltung. In den nächsten Jahren folgten auf durch Ernährungskrisen veranlaßte Milderungen erneute strenge Maßnahmen, bis 1936 annähernd 90 % der Bauern kollektiviert waren, wovon jedoch die Vollkommunen nur einen verschwindenden Bruchteil ausmachten. Das alte dörfliche Rußland hat, wie Maynard richtig formuliert, bis 1929 fortgelebt. Daß es mit seinem traditionellen System der Bodenbebauung aus der Welt geschafft wurde, kann vom Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Leistung aus selbstverständlich nur bejaht werden. Vom Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Struktur aus hingegen ist die Frage überhaupt anders zu stellen. Von ihm aus betrachtet durfte es hier

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nicht um ein Entweder-Oder gehen: die Aufgabe war, die vorgefundenen Struktureinheiten so zu wandeln, daß sie den neuen Bedingungen und Anforderungen gewachsen seien, und sie dabei doch in ihrem strukturellen Charakter, in ihrem Wesen als selbsttätige Zellen zu erhalten. Diese Aufgabe ist nicht erfüllt worden. Man hat zwar mit Recht gesagt, der an die rationell großbetriebliche Form des Ackerbaus, der Industrialisierung und Technisierung der Landwirtschaft gebundene marxistische Gedanke sei auf die alte russische Dorfgemeinde gepfropft worden, die den Bauern an die gemeinsame Bewirtschaftung des Bodens gewöhnt hatte. Aber die politisch motivierte Tendenz, aus dem Bodenbau eine Abteilung der Industrie, aus den Bauern Lohnarbeiter dieser Industrie zu machen, die Tendenz auf eine allumfassende und alles regelnde Staatswirtschaft hin, eine Tendenz, für die die landwirtschaftliche Genossenschaft nur ein Durchgangsstadium zur Vollkommune und diese nur ein Durchgangsstadium zur lokalen Zweigstelle der Agrarabteilung der universalen Staatsfabrik war, hat den Eigenwert, den Strukturwert der Dorfgemeinde erstickt und mußte ihn ersticken. Man kann, wie einen individuellen, so einen sozialen Organismus nicht restlos und allmächtig als Mittel zum Zweck behandeln, ohne ihn seiner Lebensessenz zu berauben. »Vom Standpunkt des Leninismus«, sagte Stalin 1933, »sind die Kollektivwirtschaften, wie auch die Sowjets, als Organisationsform genommen, eine Waffe und nur eine Waffe.« Man kann von einem Bäumchen, aus dem man einen Stecken gemacht hat, naturgemäß nicht mehr erwarten, daß es Blätter treibe. Weit länger als in irgend einem anderen hat sich im russischen Volk die »mittelalterliche« Neigung erhalten, sich zu gemeinsamem Werk in kleinen Scharen zusammenzuschließen. Von dem eigentümlichsten sozialen Gebild, das aus dieser Neigung hervorging, dem Artel, konnte Kropotkin vor vierzig Jahren sagen, es mache die eigentliche Substanz des russischen Bauernlebens aus, dieser teils dauernde, teils vorübergehende Zusammenschluß von Fischern und Jägern, von Handwerkern und Händlern, von Lastträgern und von nach Sibirien Verschickten, von Bauern, die in die Stadt ziehen um als Weber oder Zimmerleute zu arbeiten, und von Bauern, die im Dorf Getreidebau oder Viehzucht gemeinsam betreiben wollen, unter genauer Scheidung zwischen gemeinschaftlichem und individuellem Eigentum. Für eine große Idee der Restrukturierung lag hier ein unvergleichlich wertvolles Bauelement vor. Die bolschewistische Revolution hat es als solches nicht verwendet. Sie hatte für selbständige kleine Gemeinschaften keine Verwendung. Unter den Typen des Kolchos bevorzugte sie »im gegenwärtigen Augenblick«, wie Stalin sagte, aus wirtschaftstechnischen Gründen den landwirt-

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schaftlichen Artel, aber sie sah in ihm selbstverständlich nichts als einen Durchgang. Einer ihrer besten Wirtschaftstheoretiker hat das Ziel gekennzeichnet. Der Bodenbau, sagte er, würde erst dann als sozialisiert gelten dürfen, wenn alle landwirtschaftlichen Artels durch Staatswirtschaften ersetzt werden, Land, Produktionsmittel und lebendes Inventar also dem zentralisierten Staate gehören. Dann würden die Bauern als Lohnarbeiter des Staates in Gemeinschaftshäusern wohnen, in großen Agrarstädten, den Zentren weiter elektrifizierter Bezirke. Das Wunschbild, zu dem diese Vorstellung gehört, ist in Wahrheit das Bild einer endgültig und residuenlos destrukturierten Gesellschaft. Mehr noch: es ist das Bild eines Staates, der die Gesellschaft verschlungen hat. Das Sowjetregime hat wirtschaftstechnisch Großes, kriegstechnisch noch Größeres geleistet. Seine Bürger scheinen es im wesentlichen, aus mancherlei Gründen, negativen und positiven, fiktiven und realen, zu bejahen. In ihrer Haltung sind anscheinend eine vage Resignation und eine praktische Zuversicht gemischt. Im allgemeinen kann man wohl sagen, daß das Individuum sich diesem Regime anheimgibt, das ihm so wenig Freiheit des Denkens und Handelns gewährt: es gibt kein Zurück, und zumindest auf die technische Leistung hin gibt es ein Vorwärts. Anders sieht es, wer es unbefangen daraufhin betrachtet, was an Sozialismus es verwirklicht hat. Von sozialistischen Postulaten viel, von sozialistischer Gestalt nichts. »Wie soll«, fragte der große Soziolog Max Weber 1918, »jene ›Assoziation‹ aussehen, von der das Kommunistische Manifest spricht? Was hat insbesondere der Sozialismus an Keimzellen solcher Organisationen aufzuweisen, für den Fall, daß ihm tatsächlich die Chance in die Hand fiele, einmal die Macht an sich zu reißen und nun nach seinem Belieben zu schalten?« In dem Land, in dem dem Sozialismus diese Chance in die Hand fiel, hat es solche Keimzellen, wie in keinem anderen mehr in unserer Epoche, gegeben, aber sie sind nicht zur Entfaltung gebracht worden. Dennoch, noch ist Frist zu Wendung und Wandlung gegeben, – womit nicht eine taktische gemeint ist, wie Lenin und seine Mitarbeiter sie mehrfach vollzogen haben, sondern eine fundamentale. Rückwärts kann sie nicht gehen, nur vorwärts, – aber in einer neuen Richtung. Ob in der Tiefe noch unbenannte Kräfte sich regen, die heraufschießen und diese Wendung vollbringen werden, davon hängt alles ab. Pierre Leroux, der Mann, der anscheinend zum erstenmal das Wort Sozialismus gebraucht hat, wußte, was er sagte, als er 1848 die französische Nationalversammlung mit den Worten ansprach: »Wenn ihr keine menschliche Genossenschaft wollt, dann sage ich euch, daß ihr die Kultur dem Lose aussetzt, in furchtbarer Agonie zu sterben«.

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Die Ära des Hochkapitalismus hat, wie wir gesehen haben, die Gesellschaft destrukturiert. Die Gesellschaft, die ihr vorausging, war aus Gesellschaften verschiedener Art aufgebaut, sie war ein komplexes und pluralistisches Gebilde. Das gab ihr die spezifische soziale Vitalität und befähigte sie, der totalitären Tendenz des vorrevolutionären zentralistischen Staates Widerstand zu leisten, auch dann noch, als manche ihrer Elemente in ihrem autonomen Leben schon sehr geschwächt waren. Die gegen die Sonderrechte der Assoziationen gerichtete Politik der französischen Revolution brach diesen Widerstand. Von da an gelingt dem neuen, dem hochkapitalistischen Zentralismus, was dem alten nicht gelungen war: die Gesellschaft zu atomisieren. Das die Maschinen und mit ihrer Hilfe die Gesellschaft beherrschende Kapital will sich gegenüber nur Individuen haben, und der moderne Staat verhilft ihm dazu, indem er das autonome Gruppenleben fortschreitend depossediert. Die Kampforganisationen, die das Proletariat gegen das Kapital aufrichtet, die wirtschaftliche, die Gewerkschaft, und die politische, die Partei, vermögen ihrem Wesen nach diesem Zersetzungsprozeß nicht entgegenzuwirken, da sie zu dem Leben der Gesellschaft selber und zu seinen Grundlagen, zu Produktion und Konsum, keinen Zugang haben. Auch der Übergang des Kapitals in den Besitz des Staates kann keine Restrukturierung herbeiführen, auch nicht, wenn er ein Netz von Zwangsgenossenschaften ohne echtes autonomes Leben etabliert, die als solche untauglich sind, zu Zellen einer neuen, sozialistischen Gesellschaft zu werden. Von hier aus ist der objektive Urgehalt der kooperativen Bewegung als die Tendenz der Gesellschaft zur Restrukturierung, zur Wiedergewinnung des innern Zusammenhangs in neuen tektonischen Formen, zu einer neuen consociatio consociationum zu erkennen. Es ist, wie ich gezeigt habe, grundfalsch, diese Tendenz deswegen als romantisch oder utopisch anzusehen, weil sie sich in ihrer Frühzeit zuweilen mit romantischen Reminiszenzen und utopischen Phantasien verknüpft hat. In ihrem Grundwesen ist sie durchaus topisch und konstruktiv, d. h. sie meint Änderungen, die unter den gegebenen Bedingungen und mit den gegebenen Mitteln durchführbar sind. Und psychologisch ist sie auf einem ewigen, wenn auch sehr oft niedergehaltenen, ja betäubten Bedürfnis des Menschen begründet: dem, sein Haus als eine Kammer in einem größeren umfassenden Bau empfinden zu dürfen, in dem er daheim ist und dessen Insassen ihm in ihren Begegnungen mit ihm, in ihrem Zusammenwirken mit ihm sein eignes Wesen und Leben bestäti-

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gen. Ein Zusammenschluß auf Grund gemeinsamer Ansichten und Bestrebungen allein kann dieses Bedürfnis nicht befriedigen; das kann nur ein Zusammenschluß, der gemeinschaftliches Leben konstituiert. Aber auch die genossenschaftliche Organisation der Produktion und die des Konsums erweisen sich, jede für sich, als unzulänglich, weil sie den Menschen nur in einem bestimmten Punkte und nicht in der Gestaltung seines Lebens selbst erfassen; und ebenso erweisen sie sich, eben ihres bloß partiellen und funktionellen Charakters wegen, als untauglich, Zellen einer neuen Gesellschaft zu werden. Beide Teilformen haben sich stark entwickelt, aber die Konsumvereine nur in ganz bürokratisierten, die Produktivgenossenschaften in ganz spezialisierten Formen; das Gemeinschaftsleben können sie heute weniger umfassen als je. Das Bewußtsein darum ist es, das zur synthetischen Form, zur Vollgenossenschaft hindrängt. Deren weitaus stärkster Versuch ist das Gemeinschaftsdorf, in dem ein gemeinsames Leben auf der Verbindung von Produktion und Konsum errichtet ist, wobei wir unter Produktion nicht den Bodenbau allein, sondern seine organische Verknüpfung mit Industrie und Handwerk zu verstehen haben. Die im Lauf von anderthalb Jahrhunderten in Europa und Amerika unternommenen mannigfaltigen Versuche, dörfliche Siedlungen dieser Art, sei es kommunistische, sei es kooperative im engeren Sinne zu begründen, sind im allgemeinen gescheitert. Gescheitert nenne ich nicht bloß jene Siedlungsunternehmungen, die nach mehr oder weniger kurzem Bestehen entweder völlig zerfielen oder kapitalistische Ordnung annahmen und damit ins gegnerische Lager übergingen; vielmehr sind auch jene dazu zu zählen, die sich isoliert erhalten haben. Denn die eigentliche, die restrukturierende Aufgabe der neuen Dorfgemeinschaften beginnt mit ihrer Föderierung, d. h. mit ihrem Zusammenschluß unter dem gleichen Prinzip, das in ihrem inneren Aufbau waltet. Dazu ist es fast nirgends gekommen. Auch da jedoch wo, wie bei den Duchoboren in Kanada, zwar ein föderativer Zusammenschluß besteht, nun aber die Föderation selbst in der Isolierung verharrt und keine anziehende und erziehende Wirkung auf die allgemeine Gesellschaft ausübt und die Erfüllung der Aufgabe somit nicht über ihren Beginn hinausgelangt, kann von einem Gelingen im sozialistischen Sinne nicht geredet werden. Bemerkenswert ist dabei, daß Kropotkin in diesen beiden Momenten, der Isolierung der Siedlungen untereinander und ihrer Isolierung von der Gesellschaft, Ursachen ihres Scheiterns auch im gewöhnlichen Sinne sieht. Die sozialistische Aufgabe wird erst in dem Maße erfüllt werden, als das neue Dorf, das die Produktionsformen vereinigende und Produktion

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mit Konsum verbindende Dorf auf die amorph gewordene städtische Gesellschaft im Sinn der Restrukturierung einwirkt. Im vollen Maße wird die Wirkung sich erst geltend machen können, wenn und insofern die weitere technische Entwicklung die Dezentralisation der industriellen Produktion ermöglichen und sogar fordern wird; aber auch jetzt schon kann dem modernen genossenschaftlichen Dorfe eine ausstrahlende Kraft auch in die städtische Gesellschaft hinein innewohnen. Wieder muß betont werden, daß es sich um eine konstruktive und topische Tendenz handelt: es wäre romantisch und utopisch, die Städte zerschlagen zu wollen, wie es einst romantisch und utopisch war, die Maschinen zerschlagen zu wollen, aber es ist konstruktiv und topisch, die Städte im engen Zusammenhang mit der technischen Entwicklung organisch aufzugliedern und in Aggregate kleinerer Einheiten zu verwandeln; es gibt heute schon in manchen Ländern bedeutsame Ansätze dazu. Soweit ich Geschichte und Gegenwart übersehe, darf man nur einem einzigen umfassenden Versuch, eine Vollgenossenschaft zu schaffen, ein gewisses Maß des Gelingens im sozialistischen Sinn zusprechen; das ist das hebräische Genossenschaftsdorf in Palästina in seinen verschiedenen Formen. Wohl haftet auch ihm in allen drei Bereichen, im Bereich der inneren Beziehungen, in dem der Föderierung und in dem der Einwirkung auf die allgemeine Gesellschaft eine tiefgreifende Problematik an; aber in allen drei Bereichen hat es, und es allein in allen, seine lebendige Existenz bekundet. Nirgends in der Geschichte der genossenschaftlichen Siedlung gibt es dieses unermüdliche Tasten nach der diesen bestimmten Menschenkreisen entsprechenden Form des Zusammenlebens, dieses immer erneute Versuchen, Sichdrangeben, Kritischwerden und Neuversuchen, dieses Abspringen immer neuer Zweige vom gleichen Stamm und aus dem gleichen Formtrieb. Und nirgends gibt es diese Wachheit gegenüber der eignen Problematik, dieses Sich-immer-wieder-konfrontieren mit ihr, diesen zähen Willen, sich mit ihr auseinanderzusetzen und dieses unablässige, nur selten sich im Wort nach außen manifestierende Ringen um ihre Überwindung. Hier, und nur hier, sind der werdenden Gemeinschaft Organe der Selbsterkenntnis gewachsen, Organe, deren Wahrnehmungen sie immer wieder zu Verzweiflung reizen; aber das ist eine Verzweiflung, die eine gefühlsmäßige Hoffnung vernichtet, um eine höhere Hoffnung hervorzutreiben, eine nämlich, die nur auf dem Boden der Verzweiflung wächst, und die nicht mehr Gefühl ist, sondern nur noch Werk. Darum darf man bei äußerster Nüchternheit der Übersicht und Überlegung sagen, daß an diesem einen Punkt der Welt bei allem partiellen Mißlingen doch ein Nicht-scheitern zu erkennen ist, – und so wie es ist, ist es ein vorbildliches Nicht-scheitern.

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Was sind seine Ursachen? Man kann nicht besser den eigentümlichen Charakter dieses kooperativen Kolonisationswerkes erkennen, als indem man diesen Ursachen nachgeht, aber auch umgekehrt. Auf ein Moment ist wiederholt hingewiesen worden: daß das jüdische Gemeinschaftsdorf Palästinas seine Entstehung nicht einer Doktrin, sondern einer Situation verdanke, der Not, dem Zwang, den Forderungen der Situation. In der Errichtung der »Kwuza«, der Dorfkommune, so wurde gesagt, ging nicht die Ideologie voran, sondern das Werk. Das ist gewiß richtig, aber nur mit einer Einschränkung. Gewiß ist es darum gegangen, bestimmte Arbeitsprobleme und Aufbauprobleme, die die palästinensische Wirklichkeit den Siedlern gestellt hatte, dadurch zu lösen, daß man sich zusammentat; was ein loses Konglomerat von Einzelnen seinem Wesen nach unter den gegebenen Bedingungen nicht zu bewältigen vermochte, ja dessen Bewältigung es seinem Wesen nach unter solchen Bedingungen gar nicht versuchen konnte, das wagte, versuchte, vollbrachte das Kollektiv. Aber was man die Ideologie nennt – ich nenne es lieber mit einem alten, aber unveralteten Wort: das Ideal – war nicht einfach etwas nachträglich Hinzukommendes, etwas, was die geschaffenen Tatsachen nachträglich begründete. Im Geiste der Mitglieder der ersten palästinensischen Kommunen verbanden sich ideelle Motive mit dem, was die Stunde gebot, Motive, in denen sich zuweilen die Erinnerung an den russischen Artel, Eindrücke der Lektüre von sogenannten utopischen Sozialisten und die kaum bewußte Nachwirkung biblischer Lehren der sozialen Gerechtigkeit seltsam vermischten. Das Entscheidende ist, daß dieses ideelle Motiv fast durchweg einen lockeren, plastischen Charakter bewahrte. Es gab viele und verschiedenartige Zukunftsträume: man sah vor sich eine neue, umfassendere Form der Familie, man sah sich als die Avantgarde der Arbeiterbewegung, ja als die unmittelbare Realisierung des Sozialismus, als den Prototyp der neuen Gesellschaft, man setzte sich die Schaffung eines neuen Menschen und einer neuen Welt zum Ziel. Aber nichts von alledem war zu einem festen fertigen Programm erstarrt. Man brachte nicht, wie überall in der Geschichte der kooperativen Siedlungen, ein Schema mit, das die konkreten Gegebenheiten nur ausfüllen, nicht modifizieren durften; das Ideal brachte Antriebe, aber keine Dogmen hervor, es regte an, aber es diktierte nicht. Wichtiger jedoch als all dies ist, daß hinter jener palästinensischen Situation, die die Arbeitsaufgaben und Aufbauaufgaben stellte, eine historische Situation stand, die Situation eines von einer großen äußeren Krisis heimgesuchten und darauf mit einer großen inneren Wandlung antwortenden Volkes, und daß diese historische Situation eine Elite, die

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der »Chaluzim«, der Pioniere, hervortrieb, die sie aus allen Klassen des Volkes zusammenholte und jenseits der Klassen setzte. Die dieser Elite adäquate Lebensform war die des Gemeinschaftsdorfes – worunter ich nicht eine einzelne Nuance, sondern die ganze Skala, von der Sozialstruktur der gegenseitigen Hilfe bis zu der der Kommune, verstehe. Diese Form war die für die Erfüllung der zentralen »chaluzischen« Aufgaben tauglichste, und sie war zugleich die, in der das soziale Lebensideal die nationale Idee faktisch durchdringen konnte. Aus den historischen Voraussetzungen ergab sich, daß es dieser Elite und dieser ihrer Lebensform innerlich unmöglich war, in Statik und Isolierung zu geraten; ihre Aufgaben, ihre Werke, ihr Pioniertum machten sie zu Zentren der Anziehung und Wirkung. Die »Chaluziut« ist in jedem Punkte auf das Werden einer neuen, gewandelten Volksgemeinschaft bezogen; in dem Augenblick, wo sie sich selber genügte, hätte sie sich aufgegeben. Das Gemeinschaftsdorf mußte, als Kernzelle der werdenden Gesellschaft, auf die diesem Werdenden hingegebenen Menschen eine intensive Anziehung ausüben; und es mußte nicht bloß die sich ihm Anschließenden zu echtem Gemeinschaftsleben erziehen, sondern auch darüber hinaus auf die Peripherie der Gesellschaft aufbauend, strukturierend einwirken. Die historische Dynamik bestimmte den dynamischen Charakter der Beziehung zwischen Gemeinschaftsdorf und Gesellschaft. Dieser Charakter erlitt eine erhebliche Beeinträchtigung, als das Tempo der äußeren Krisis ein so schnelles, ihre Äußerungsformen so radikale wurden, daß die innere Wandlung nicht damit Schritt zu halten vermochte. In dem Maße als Palästina aus dem einen Lande der »Alija«, des »Aufstiegs«, zu einem der Einwanderungsländer wurde, kam neben der echten Chaluziut eine Halb-Chaluziut auf. Die Anziehungskraft des Gemeinschaftsdorfes ließ nicht nach, aber seine Erziehungskraft war dem Zustrom des andersartigen Menschenmaterials nicht gewachsen, und es gelang diesem zuweilen, die Farbe der Gemeinschaft mitzubestimmen. Und zugleich verschob sich das Verhältnis zur allgemeinen Gesellschaft. Wie diese sich in ihrer Struktur änderte, entzog sie sich auch immer mehr dem verwandelnden Einfluß der Kernzellen, ja sie begann einen nicht immer sogleich merklichen, aber schon heute deutlich erkennbaren Einfluß auf sie auszuüben, indem sie wesentliche Elemente in ihnen ergriff und sie sich assimilierte. Im Leben der Völker, und ganz besonders im Leben von Völkern, die in einer historischen Krisis stehen, ist es von entscheidender Bedeutung, ob in ihnen echte, d. h. nicht usurpatorische, sondern zu zentraler Funktion berufene Eliten entstehen, sodann, ob diese Eliten ihrer Aufgabe an der Gesellschaft treu bleiben und nicht an Stelle des Verhältnisses zu ihr

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ein Verhältnis zu sich selber setzen, und schließlich, ob sie sich in der ihrer Aufgabe entsprechenden Weise zu ergänzen und zu erneuern vermögen. Das letztere bedeutet zweierlei: ob die Eliten auf ihren natürlichen Nachwuchs so einzuwirken vermögen, daß er ihr Werk angemessen fortsetzt, was immer ein schweres Problem darstellt, und ob sie sich durch rechte Wahl und rechte Ausbildung einen geistigen Nachwuchs aufrichten, in den nach Möglichkeit alle geeigneten Elemente, aber nach Möglichkeit auch keine andern eingehen oder, wo dies nicht zu vermeiden war, durch den rechten erzieherischen Einfluß Ausgleich geschaffen wird. Das historische Schicksal der jüdischen Besiedlung Palästinas hat die chaluzische Elite erweckt, die im Gemeinschaftsdorf ihre gesellschaftliche Kernform fand. Und eine andere Welle desselben historischen Schicksals hat in diese Elite mit den herangespülten Halbchaluzim eine Problematik hineingetragen oder richtiger eine latente Problematik in ihr zur Entfaltung gebracht, die zu bewältigen ihr bisher nicht gelungen ist und die sie wird bewältigen müssen, ehe sie die nächsthöhere Stufe auf dem Weg ihrer Aufgabe erreichen kann. Die innere Spannung zwischen denen, die die ganze Gemeinschaftsverantwortung auf sich nehmen, und denen, die ihr irgendwo ausweichen, kann nur aus dem Innersten her überwunden werden. Der Punkt, an dem die Problematik aufbricht, ist weder das Verhältnis zur Idee noch auch das zur Gemeinschaft noch auch das zur Arbeit; überall da nehmen sich auch die Halbchaluzim zusammen, sie strengen sich an, sie leisten schlecht und recht, was man von ihnen erwartet. Der Punkt, an dem die Problematik aufbricht, der Punkt, an dem man sich »gehen läßt«, ist das Verhältnis zum Genossen. Ich meine damit keineswegs die seinerzeit viel erörterte Frage der Intimität der »kleinen« Kwuza und des Verlustes dieser Intimität in der »großen«; ich meine etwas, was mit dem Umfang des Gemeinschaftsdorfes gar nichts zu tun hat. Nicht um Intimität geht es – diese stellt sich ein, wo sie sich einstellt, und fehlt, wo sie fehlt; es geht um Aufgeschlossenheit. Eine echte Gemeinschaft braucht nicht aus Menschen zu bestehen, die dauernd miteinander umgehen; sie muß aus Menschen bestehen, die, eben als Genossen, für einander aufgeschlossen und bereit sind. Eine echte Gemeinschaft ist die, die an jedem Punkt ihrer Existenz potentiell den Charakter der Gemeinschaft hat. Die innergesellschaftlichen Fragen einer Gemeinschaft sind somit in Wahrheit Fragen ihrer Echtheit und damit ihrer inneren Kraft und ihres Bestandes. Das haben die Menschen, die das jüdische Gemeinschaftsdorf in Palästina geschaffen haben, in einem tiefen Instinkt gewußt; der Instinkt scheint nicht mehr in demselben Maße wach zu sein wie er war. Doch finden wir auch auf diesem so wichtigen Gebiet jene

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unerbittlich hellsichtige kollektive Selbstbetrachtung und Selbstkritik, auf die ich schon hingewiesen habe. Um sie aber recht zu verstehen und zu würdigen, muß man sie in einem sehen mit dem unvergleichlich positiven, geradezu glaubensmäßigen Verhältnis dieser Menschen zu dem innersten, dem eigentlichen Wesen ihres Dorfes. Beides sind zwei Seiten derselben seelischen Welt und keine ist ohne die andere zu erfassen. Um die Ursache des Nicht-Scheiterns der jüdischen Gemeinschaftssiedlungen in Palästina zu vergegenwärtigen, war ich vom undoktrinären Charakter ihrer Entstehung ausgegangen. Dieser Charakter hat auch ihre Entwicklung im wesentlichen bestimmt. In voller Freiheit haben sich mehrfach neue Formen und wieder neue Zwischenformen abgezweigt, jede ist aus der Entfaltung sozialer und seelischer Sonderbedürfnisse in voller Freiheit erwachsen und hat sich schon im ersten Werden ihre eigene Ideologie in voller Freiheit gewonnen; jede hat geworben, hat sich fortgepflanzt und ausgebreitet, hat sich ihren größeren oder kleineren Bereich gegründet, alles in voller Freiheit. Die Vertreter der verschiedenen Formen sind jeder für die seine mit dem Wort eingetreten, Vorzüge und Mängel jeder einzelnen sind gegenseitig freimütig und intensiv erörtert worden, aber auf dem von allen als selbstverständlich empfundenen Boden der gemeinsamen Sache und der gemeinsamen Aufgabe, auf dem jede Form die relative Berechtigung der andern Formen in ihren besonderen Funktionen anerkannte. All dies ist einzigartig in der Geschichte der kooperativen Siedlungen. Mehr noch: nirgends, soweit ich sehe, in der Geschichte der sozialistischen Bewegung war man so wie hier mitten im Prozeß der Differenzierung darauf bedacht, das Prinzip der Integrierung zu wahren. Die verschiedenen Formen und Zwischenformen, die solchermaßen in verschiedenen Zeiten und Situationen entstanden sind, stellen verschiedene gesellschaftliche Strukturen dar, und dessen waren sich die Menschen, die sie aufbauten, zumeist ebenso bewußt wie der sozialen und seelischen Sonderbedürfnisse, die sie antrieben. Nicht im gleichen Grade bewußt waren sie sich der Tatsache, daß den verschiedenen Formen verschiedene Menschentypen entsprachen, daß also wie von der Urform der Kwuza neue Formen so von dem Urtypus des Chaluz neue Typen abgezweigt waren, jeder mit seiner besonderen Seinsweise und seinem Verlangen, sich in einer besonderen Lebensweise zu verwirklichen. Gewiß, vielfach waren es wirtschaftliche und sonstige äußere Faktoren, die dazu führten, daß sich bestimmte Menschen von einer Form absonderten und einer anderen anschlossen; aber im wesentlichen war es so, daß jeder Typus die soziale Erfüllung seiner Eigenart in dieser bestimmten Form suchte und mehr oder weniger auch fand. Und nicht bloß basiert war

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jede Form in einem bestimmten Typus, sie erzog und erzieht auch wieder zu diesem Typus, sie war und ist bestrebt ihn zu entwickeln; Verfassung, Lebensgestaltung und Erziehungssystem jeder Form sind – gleichviel, mit welchem Grad der Bewußtheit – darauf gerichtet. So ist etwas entstanden, was von all den sozialen Experimenten in der weiten Welt wesensverschieden ist: nicht ein Laboratorium, wo jeder für sich arbeitet, allein mit seinen Problemen und Plänen, sondern ein Versuchsfeld, wo auf gemeinsamem Boden verschiedene Pflanzungen nach verschiedenen Methoden nebeneinander zu einem gemeinsamen Ziel erprobt werden. Doch auch hier bildete sich eine Problematik aus, und zwar nicht mehr im Innern der einzelnen Gruppe, sondern in der Relation der Gruppen zueinander; sie ist nicht von außen gekommen, sondern von innen, ja mitten aus dem Prinzip der Freiheit selber. Schon in ihrer ersten undifferenzierten Gestalt hat der Kwuza ein Zug zur Föderierung, zu einem Zusammenschluß der Kwuzot in einer höheren sozialen Einheit innegewohnt; ein höchst wichtiger Zug, da sich darin kundgab, daß die Kwuza sich, wenn auch nicht explicite, so doch implicite als Zelle einer restrukturierten Gesellschaft verstand. Mit der Abspaltung und Entfaltung der verschiedenen Formen, von der halbindividualistischen, die in Hauswirtschaft, Lebensordnung, Kindererziehung die persönliche Selbständigkeit wahrt, bis zur reinkommunistischen, ist an die Stelle des einen Verbandes eine Reihe von Verbänden getreten, in jedem von denen eine bestimmte Siedlungsform und damit mehr oder weniger ein bestimmter Menschentypus sich föderativ konstituiert hat, wobei die Grundvoraussetzung war, daß die örtlichen Gruppen sich miteinander unter demselben Gesetz der Gemeinschaftlichkeit und der gegenseitigen Hilfe verbinden, das in der einzelnen Gruppe waltet. Dabei erstirbt aber die Tendenz zur umfassenden Einigung keineswegs; sie macht sich, jedenfalls in der »kibbuzischen«, kollektivistisch bestimmten Bewegung mit großer Stärke und Deutlichkeit geltend, sie will die Landes-Kibbuzim, die Verbände, in denen die örtlichen Gruppen je nach Art und Bestrebungen vereinigt sind, nur als vorläufige Strukturen, nur, wie ein namhafter Vertreter dieser Bewegung es ausdrückte, als Surrogate einer Kommune der Kommunen anerkennen. Aber abgesehen davon, daß einzelne Formen, wie insbesondere die der »Moschawim«, der halbindividualistischen Arbeitersiedlungen (die aber an solidarischer Wirtschaftsführung und gegenseitiger Hilfe keiner anderen Form nachstehen), sich schon weit von der Grundform entfernt haben, als daß man sie in den Einungsplan einschließen könnte: auch in der kibbuzischen Bewegung selber stehen die Teilorganisationen der Einungstendenz, die sie überwölben oder umschließen will, im Wege. Jede hat in ihrem Ver-

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band ihren besonderen Charakter ausgebildet und verfestigt, und es ist nur natürlich, daß jede dazu neigt, sich die Einung als eine Erweiterung ihrer selbst vorzustellen. Dazu ist aber etwas getreten, was zu einer ungeheuren Steigerung dieser Haltung der Sonderverbände geführt hat: die Politisierung. Vor zwanzig Jahren konnte noch ein Führer eines großen Verbandes mit Emphase sagen: »Wir sind eine Gemeinde und keine Partei«. Das hat sich seither von Grund aus geändert, und in demselben Maße sind die Bedingungen für eine Einung wesentlich schwieriger geworden. Daraus wieder hat sich die bedauerliche Tatsache ergeben, daß die für die soziale Restrukturierung grundwichtigen nachbarschaftlichen Beziehungen sich unzulänglich ausgebaut haben, wiewohl nicht wenige Fälle zu verzeichnen sind, wo ein vollentwickeltes und reiches Dorf einem benachbarten jungen und armen, das einem andern Verband angehörte, ausgiebige Hilfe geleistet hat. Unter diesen Umständen ist das große Ringen, das insbesondere im vergangenen Jahrzehnt um die Einungsfrage entbrannt ist, um so bemerkenswerter. Kein Mensch mit sozialistischem Herzen kann das große Dokument dieses Ringens, das hebräische Sammelbuch »Der Kibbuz und die Kwuza«, das der verstorbene Arbeiterführer Berl Kaznelson herausgegeben, richtiger: redigiert hat (es ist in der Öffentlichkeit nicht erschienen), lesen ohne von Bewunderung erfaßt zu werden für die hohe Leidenschaft, mit der hier zwei Lager miteinander um die wahre Einheit ringen. Die Einung wird voraussichtlich nicht anders als durch eine neue Situation geschaffen werden, die sie unerläßlich macht; aber daß Menschen des hebräischen Dorfes so gegen- und miteinander sich um das Werden einer communitas communitatum, und das heißt: um das Werden einer restrukturierten Gesellschaft gemüht haben, wird in der Geschichte des Strebens nach einer Erneuerung der Menschheit nicht vergessen werden. Ich sagte, daß ich im Verlauf dieses verwegenen Unternehmens des jüdischen Volkes ein vorbildliches Nicht-scheitern sehe. Ich darf nicht sagen: ein vorbildliches Gelingen. Damit es das werde, wird noch viel zu tun sein. So jedoch, eben so, in solchem Tempo, mit solchen Rückschlägen, Enttäuschungen, neuen Wagnissen, vollziehen sich die wirklichen Wandlungen in der Welt des Menschen. Aber darf man denn sagen, daß dieses Nicht-scheitern vorbildlich sei? Habe ich doch selbst darauf hingewiesen, daß es ganz besondere Voraussetzungen und Bedingungen waren, die dazu geführt haben! Und was ein Repräsentant der Kwuza von ihr sagte, daß sie eine typisch palästinensische Schöpfung ist, gilt von allen diesen Formen. Wenn einmal jedoch ein Versuch unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen in einem gewissen Maße gelungen ist, dann kann man

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daran gehen, ihn unter anderen, weniger günstigen Voraussetzungen und Bedingungen zu variieren. Es kann kaum mehr einem Zweifel unterliegen, daß der letzte Krieg als das Ende des Vorspiels zur Weltkrisis anzusehen ist. Ihr Ausbruch wird – nach der trüben »Pause«, die nicht sehr lang dauern kann – vermutlich zunächst bei einigen kleineren Völkern des Westens beginnen, die ihre zerrüttete Wirtschaft nur zum Schein werden wiederherstellen können. Sie werden sich unmittelbar vor die Notwendigkeit radikaler Sozialisierungen gestellt sehen, vor allem anderen vor die der Enteignung des Bodens. Von einer schlechthin entscheidenden Bedeutung wird es dann sein, wer das reale Subjekt der umgewandelten Wirtschaft und Inhaber der sozialen Produktionsmittel sein wird, die zentrale Staatsgewalt in einem höchstzentralisierten Staat oder die sozialen Einheiten der zusammen lebenden und zusammen produzierenden Land- und Stadtarbeiter und ihre Vertretungskörper, wobei die umgebildeten Staatsorgane nun die Funktionen des Ausgleichs und der Verwaltung zu erfüllen haben werden. Von diesen Entscheidungen, denen später ähnliche bei den größeren Völkern folgen werden, wird das Werden einer neuen Gesellschaft und einer neuen Kultur weitgehend abhängig sein. Es geht um die Entscheidung über die Grundlage: Restrukturierung der Gesellschaft als Bund der Bünde und Reduktion des Staates auf die Einheitsfunktion, oder Resorption der amorphen Gesellschaft durch den allmächtigen Staat; sozialistischer Pluralismus oder »sozialistischer« Unitarismus; die rechte, täglich neu von den wechselnden Bedingungen aus überprüfte Proportion zwischen Gruppenfreiheit und Gesamtheitsordnung oder die absolute Ordnung, auferlegt auf unbestimmte Zeit um einer angeblich danach »von selber« kommenden Ära der Freiheit willen. Solange Rußland nicht selber eine wesenhafte innere Umgestaltung erfahren hat – und wir können heute noch nicht ahnen, wann und wie das geschehen wird –, haben wir den einen der beiden Pole des Sozialismus, zwischen denen dann die Wahl zu treffen ist, mit dem gewaltigen Namen Moskaus zu bezeichnen. Den andern Pol wage ich trotz allem »Jerusalem« zu nennen.

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Seit drei Jahrzehnten empfinden wir, daß wir am Anfang der bisher größten Krisis des Menschengeschlechtes leben. Es wird uns immer deutlicher, daß auch die gewaltigen Ereignisse der letzten Jahre nur als Zeichen dieser Krisis zu verstehen sind. Sie ist keineswegs bloß die Krisis eines wirtschaftlichen und sozialen Systems, das durch ein anderes, gewissermaßen schon bereitstehendes abgelöst wird, sondern alle Systeme, die alten und die neuen, stehen gleicherweise in der Krisis. Was durch sie in Frage gestellt wird, ist nicht weniger als das Sein des Menschen in der Welt überhaupt. Vor Zeiten, die wir nicht zu ermessen vermögen, hat sich diese Kreatur, »der Mensch«, auf den Weg gemacht, – von der Natur aus betrachtet eine im Grunde kaum begreifliche Anomalie, vom Geist aus betrachtet eine nicht leichter zu begreifende, vielleicht nur einmalige Verleiblichung, von beiden Seiten aus gesehen eine Existenz, die ihrem Wesen nach in jedem Augenblick von außen und innen aufs schwerste bedroht, ja immer tiefer reichenden Krisen ausgesetzt ist. In den Zeiten seines Erdenwegs hat der Mensch das, was man seine Macht über die Natur zu nennen pflegt, immer mehr und in einem immer zunehmenden Tempo gesteigert, und er hat das, was man die Schöpfung seines Geistes zu nennen pflegt, von Triumph zu Triumph geführt. Zugleich aber hat er von einer Krisis zur andern immer tiefer zu spüren bekommen, wie brüchig all die Herrlichkeit ist, und in hellsichtigen Stunden hat er verstehen gelernt, daß er trotz allem, was er den Fortschritt des Menschengeschlechts zu nennen pflegt, durchaus nicht auf gebahnter Straße wandelt, sondern immer wieder auf einem schmalen Grat zwischen den Abgründen Fuß um Fuß setzen muß. Je schwerer die Krisis wird, um so ernstere und verantwortungsbewußtere Erkenntnis wird von uns gefordert; denn wohl kommt es auf die Tat an, aber nur diejenige Tat, die in der Erkenntnis geläutert worden ist, wird zur Überwindung der Krisis beitragen. In der Zeit einer großen Krisis genügt es nicht, in die nahe Vergangenheit zurückzublicken, um das Rätsel der Gegenwart einer Lösung näher zu bringen: man muß das Stadium des Wegs, an das der Mensch gelangt ist, mit seinen Anfängen konfrontieren, soweit man sie sich zu vergegenwärtigen vermag. Das Wesentliche unter allem, wodurch der Mensch einst gleichsam aus der Natur hervortrat und, trotz seiner Schwäche als Naturwesen, sich ihr gegenüber behauptete, wesentlicher noch als das Machen einer »technischen« Welt aus spezifisch geformten Dingen, war, daß er sich mit seinesgleichen zu Schutz und Jagd, zu Sammeln und Arbeit zusammentat, und zwar so, daß er dabei, in einem ge-

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wissen Maße schon von Anbeginn und sodann immer mehr, die andern, jeden Einzelnen, sich gegenüber als selbständige Wesen sah und so sich mit ihnen verständigte, sie anredete und sich von ihnen anreden ließ. Dieses Bilden einer »sozialen« Welt aus von einander zugleich abhängigen und unabhängigen Personen unterschied sich der Art nach von allen ähnlichen Unternehmungen der Tiere, ebenso wie die technische Arbeit des Menschen der Art nach von allen ähnlichen Werken der Tiere sich unterschied. Auch Affen bedienen sich etwa eines vorgefundenen Steckens als Hebel, Grabstock oder Waffe; aber das geschieht nur von der Gelegenheit aus, sie vermögen nicht ein Gerät als so und nicht anders beschaffenen und für sich dauernden Gegenstand zu konzipieren und herzustellen. Und ebenso leben manche Insekten in streng arbeitsteilig aufgebauten Gesellschaften; aber eben diese Arbeitsteilung ist es, die ihr Verhältnis zueinander gänzlich bestimmt, sie sind alle gewissermaßen Werkzeuge, nur daß ihre eigene Gesellschaft es ist, die sich ihrer zu ihren »instinktiven« Zwecken bedient; es fehlt die Improvisation, das wenn auch noch so bescheidene Maß gegenseitiger Unabhängigkeit, die Möglichkeit, immer wieder einander »frei« zu betrachten, und damit das Verhältnis von Person zu Person. Wie die spezifische technische Schöpfung des Menschen die Verleihung von Selbständigkeit an Dinge bedeutet, so bedeutet seine spezifische soziale Schöpfung die Verleihung von Selbständigkeit an Wesen seiner Gattung. Von diesem dem Menschen allein Eigenen aus ist sein Weg mit all seinem Auf und Nieder zu erfassen, und damit auch unser eigener Punkt auf diesem Weg, unsre besondere große Krisis. In der seitherigen Entwicklung des Menschengeschlechts als solchem herrscht diese Linie vor, die Linie der Bildung und Umbildung von Gemeinschaften aus wachsender persönlicher Selbständigkeit, ihrer gegenseitigen Anerkennung und dem Zusammenwirken auf dieser Grundlage. Die zwei wichtigsten Schritte, die der Mensch der Frühzeit auf seinem Weg zur menschlichen Gesellschaft gemacht hat, sind noch einigermaßen festzustellen. Der eine ist, daß innerhalb der einzelnen Sippe in einer primitivsten Art von Arbeitsteilung die Personen in der besonderen Eignung einer jeden erkannt und verwendet wurden, wodurch die Sippe immer mehr den Charakter eines immer erneuerten Zusammenschlusses von Trägern verschiedener Funktionen bekam; und der zweite, daß verschiedene Sippen sich unter gewissen Bedingungen und Voraussetzungen miteinander zu Nahrungssuche und Kampfzügen zusammentaten und ihre gegenseitige Hilfe in immer festeren Bräuchen und Gesetzen verdichteten, und daß nun, wie dort zwischen Personen, so nun zwischen Gemeinschaften Verschiedenheit des Wesens und der Funktion

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erkannt und anerkannt wurde. Wo seither sich echte menschliche Gesellschaft entwickelte, geschah es auf denselben Grundlagen der funktionalen Selbständigkeit, der gegenseitigen Anerkennung und der gegenseitigen Verantwortung, – der individuellen und der kollektiven. Wohl zweigten sich Machtzentren verschiedener Art ab, die die gemeinsame Ordnung und Sicherheit organisierten und verbürgten; aber der politischen Sphäre im engeren Sinn, dem Staat mit seiner Polizeigewalt und seiner Bürokratie stand die organisch-funktional gegliederte Gesellschaft gegenüber, eine aus mannigfachen Gesellschaften aufgebaute Gesellschaft, in der gelebt und geschaffen wurde, in der man miteinander rang und einander half, und in jeder der kleinen und großen Gesellschaften, aus denen sie zusammengesetzt war, in jeder dieser Gemeinden und Genossenschaften fühlte sich die menschliche Person trotz aller Schwierigkeiten und Konflikte zu Haus wie in der Sippe, sie fühlte sich in ihrer eigenen funktionellen Selbständigkeit und Verantwortung bejaht und bestätigt. Das hat sich in dem Maße geändert, als das zentralistische politische Prinzip das dezentralistische gesellschaftliche sich unterwarf. Dabei war nicht dies das Entscheidende, daß der Staat, besonders in seinen mehr oder weniger totalitären Formen, die freien Verbände zunehmend schwächte und verdrängte, sondern, daß das politische Prinzip in seiner zentralistischen Ausprägung in die Verbände eindrang, ihre Struktur und ihr inneres Leben umwandelte und so die Gesellschaft selbst immer mehr politisierte. Daß die Gesellschaft sich solchermaßen dem Staate anpaßte, ist durch den Umstand gefördert worden, daß, infolge der modernen Wirtschaftsentwicklung mit ihrem geordneten Chaos, des Kampfs aller gegen alle um den Zugang zu den Rohstoffen und um einen breiteren Platz am Weltmarkt, an Stelle der alten Gegensätze zwischen den Staaten Gegensätze zwischen den Gesellschaften selber getreten waren. Die einzelne Gesellschaft, die sich nicht mehr bloß durch die Angriffslust der Nachbarn, sondern auch durch den allgemeinen Stand der Dinge bedroht fühlte, wußte sich keine Rettung mehr als in der vollkommenen Unterwerfung unter das Prinzip der zentralisierten Macht; sie machte es, in demokratischen Formen nicht viel weniger als in totalitären, zu ihrem eigenen Prinzip. Überall kam es nur noch auf lückenlose Organisation der Kräfte, auf fraglose Befolgung der Parolen, auf Durchsetzung des wirklichen oder vermeintlichen Staatsinteresses durch die gesamte Gesellschaft an. Und damit geht eine innere Entwicklung zusammen. In dem ungeheuren Wirrwarr des modernen Lebens, der durch den zuverlässig funktionierenden Wirtschafts- und Staatsapparat nur notdürftig verdeckt wird, klammert sich der Einzelne an

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das Kollektiv. Die kleine Gemeinschaft, in die er eingebettet war, kann ihm da nicht helfen, nur die großen Kollektive können es, wie er meint, und er läßt sich übergern die persönliche Verantwortung abnehmen; nur noch gehorchen will er. Und darüber geht das kostbarste Gut, das Leben zwischen Mensch und Mensch, verloren; die autonomen Zusammenhänge werden bedeutungslos, die persönlichen Beziehungen verdorren, der Geist selber verdingt sich als Funktionär. Die menschliche Person wird aus dem lebenden Glied eines Gemeinschaftskörpers zum Zahnrad der »Kollektiv«-Maschine. Wie der Mensch in der entarteten Technik im Begriff ist, das Gefühl des Werkes und das des Maßes einzubüßen, so in der entarteten Sozialität das Gefühl der Gemeinschaft, und zwar gerade während er von der Illusion erfüllt ist, in der vollkommenen Hingabe an seine Gemeinschaft zu leben. Eine Krisis solcher Art kann nicht überwunden werden, indem man an einen früheren Punkt des Weges zurückstrebt, sondern nur indem man die gegebene Problematik ohne Abstrich zu bewältigen sucht. Ein Zurück gibt es für uns nicht, nur ein Hindurch. Hindurch aber werden wir nur dringen, wenn wir wissen, wohin wir wollen. Beginnen müssen wir, das ist offenbar, mit der Aufrichtung eines vitalen Friedens, der dem politischen Prinzip die Souveränität über das gesellschaftliche entzieht. Und hinwieder ist dieses erste Ziel durch keine politischen Organisationskünste zu erreichen, sondern nur durch den starken Willen der Menschenvölker, den Planet Erde, nach Territorien, Rohstofflagern und Bevölkerungen, mitsammen zu bewirtschaften und zu verwalten. Gerade hiervon aber droht eine größere Gefahr als alle bisherigen: die eines schrankenlosen planetarischen Machtzentralismus, der alle freie Gemeinschaft verschlingt. Alles kommt darauf an, das Werk der Erdbewirtschaftung nicht dem politischen Prinzip auszuliefern. Gemeinsames Wirtschaften ist nur möglich als ein sozialistisches. Aber wenn es die Schicksalsfrage der gegenwärtigen Menschheit ist, ob sie sich zu einem gemeinsamen sozialistischen Wirtschaften wird entschließen und erziehen können, so besteht die Eigentlichkeit dieser Frage in der nach dem Sozialismus selber: was für einer es sei, in dessen Zeichen das gemeinsame Wirtschaften der Menschheit zustande kommen wird, wenn es zustande kommt. Die Zweideutigkeit der verwendeten Begriffe ist hier größer als irgendwo. Man sagt etwa, Sozialismus sei der Übergang der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel aus den Händen der Unternehmer in die der Kollektivität; aber alles kommt darauf an, was man unter Kollektivität versteht. Ist sie das, was wir Staat zu nennen gewohnt sind, d. h. eine

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Einrichtung, in der eine wesentlich ungegliederte Menge ihre Geschäfte von einer sogenannten Vertretung führen läßt, dann wird sich in einer sozialistischen Gesellschaft vornehmlich dies geändert haben, daß die Arbeiter sich als von den Inhabern der Verfügungsgewalt vertreten empfinden werden. Aber was ist Vertretung? Liegt nicht am Ende gerade in dem allzu weitgehenden Sichvertretenlassen die schlimmste Fehlhaftigkeit der modernen Gesellschaft? Und wird nicht in einer »sozialistischen« zum politischen eben das wirtschaftliche Sichvertretenlassen hinzukommen, so daß erst dann das fast unbegrenzte Vertretenwerden, und damit schließlich die fast unbegrenzte zentrale Machthäufung waltet? Je mehr aber eine Menschenschar in der Bestimmung ihrer gemeinsamen Sachen sich vertreten läßt und je mehr von außen her, um so weniger Gemeinschaftsleben gibt es in ihr, um so gemeinschaftsärmer wird sie. Denn Gemeinschaft – nicht die primitive, aber die uns heutigen Menschen mögliche und angemessene – bekundet sich zunächst in der gemeinsamen aktiven Behandlung des Gemeinsamen und kann ohne sie nicht bestehen. Die Urhoffnung aller Geschichte geht auf eine echte, somit durchaus gemeinschaftshaltige Gemeinschaft des Menschengeschlechts. Fiktiv, vorgetäuscht, eine planetengroße Lüge wäre eine, die nicht aus wirklichem Gemeinschaftsleben zusammenwohnender oder zusammenwerkender kleiner und größerer Gruppen und aus ihren wechselseitigen Beziehungen sich errichtete. Es kommt also alles darauf an, daß die Kollektivität, in deren Hände die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel übergeht, ihrer Struktur und ihren Anstalten nach wirkliches Gemeinschaftsleben der mannigfaltigen Gruppen ermögliche und fördere, ja daß diese selber zu den eigentlichen Subjekten des Produktionsprozesses werden; daß also die Menge so gegliedert und in ihren Gliedern (den verschiedenartigen »Gemeinden«) so mächtig sei, als das gemeinsame Wirtschaften der Menschheit gestattet; daß also das zentralistische Sichvertretenlassen nur so weit reiche, als die neue Ordnung gebieterisch fordert. Die innere Schicksalsfrage hat nicht die Form des grundsätzlichen Entweder-Oder: sie ist die Frage nach der rechtmäßigen, immer neu zu ziehenden Abgrenzungslinie, dem tausendfachen Abgrenzungslinien-System zwischen den notwendig zu zentralisierenden und den freigebbaren Bereichen, zwischen dem Maß der Regierung und dem Maß der Autonomien, zwischen dem Gesetz der Einigkeit und dem Anspruch der Gemeinschaft. Die unablässige Prüfung des jeweiligen Standes der Dinge von dem Anspruch der Gemeinschaft aus als dem stets der Vergewaltigung durch die Zentralgewalt ausgesetzten, die Wacht über der je nach den sich wandelnden geschichtlichen Vorausset-

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zungen wandelbaren Wahrheit der Grenze wäre die Aufgabe des geistigen Menschheitsgewissens, einer Instanz von unerhörter Art, der zuverlässigen Vertretung der lebenden Idee. Der platonischen »Wächter« harrt hier eine neue Erscheinungsform. Vertretung der Idee, sage ich: nicht eines starren Prinzips, sondern der lebendigen Gestalt, die nun im Stoff eben dieses Erdentages bildsam werden will. Auch Gemeinschaft darf nicht zum Dogma werden; auch sie soll, wenn sie auftritt, nicht einem Begriff, sondern einer Situation Genüge tun. Verwirklichung der Gemeinschaftsidee, wie Verwirklichung irgendeiner Idee, gibt es nicht ein für allemal und allgemein gültig, sondern immer nur als die Augenblicksantwort auf eine Augenblicksfrage. Um dieses seines Lebenssinns willen muß dem Gemeinschaftsgedanken alle Sentimentalität, alle Übersteigerung und Schwärmerei ferngehalten werden. Gemeinschaft ist nie Stimmung, und auch wo sie Gefühl ist, ist sie stets das Gefühl einer Verfassung. Gemeinschaft ist die innere Verfassung eines gemeinsamen Lebens, das die karge »Rechnung«, den widerstrebenden »Zufall«, die überfallende »Sorge« kennt und umschließt. Sie ist Gemeinsamkeit der Not und von da her erst Gemeinsamkeit des Geistes; Gemeinsamkeit der Mühe und von da her erst Gemeinsamkeit des Heils. Auch diejenige Gemeinschaft, die den Geist ihren Herrn und das Heil ihre Verheißung nennt, die »religiöse«, ist Gemeinschaft nur, wenn sie ihrem Herrn in der unerlesenen, unerhobenen, schlichten Wirklichkeit dient, die sie sich nicht gewählt hat, die ihr vielmehr, eben so, geschickt worden ist; nur, wenn sie ihrer Verheißung durch das Gestrüpp dieser unwegsamen Stunde den Weg bahnt. Gewiß, es gilt nicht die »Werke«, aber es gilt das Werk des Glaubens. Glaubensgemeinschaft ist es wahrhaft nur dann, wenn sie Werkgemeinschaft ist. Wohl ist das eigentliche Wesen der Gemeinschaft in dem – offenkundigen oder verborgenen – Faktum zu finden, daß sie eine Mitte hat. Wohl ist die eigentliche Entstehung der Gemeinschaft nur daraus zu begreifen, daß ihre Glieder eine gemeinsame und allen anderen Relationen überlegene Beziehung zur Mitte haben: der Kreis wird von den Radien gezeichnet, nicht von den Punkten der Peripherie. Und wohl ist die Ursprünglichkeit der Mitte nicht zu erkennen, wenn sie nicht als durchsichtig in das Göttliche erkannt wird. Aber je irdischer, kreatürlicher, verhafteter sich die Mitte darstellt, um so wahrer, um so durchsichtiger ist sie. Das »Soziale« gehört dazu. Nicht als Abteilung, sondern als die Welt der Bewährung: an der die Wahrheit der Mitte sich bezeigt. Den frühen Christen genügte die Gemeinde nicht, die neben oder über der Welt war, und sie gingen in die Wüste, um keine Gemeinschaft mehr als mit Gott und keine störende Welt mehr zu haben. Aber es wies sich ihnen, Gott

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wolle nicht, daß der Mensch mit ihm allein sei; und über dem heiligen Unvermögen der Einsamkeit erwuchs der brüderliche Orden. Endlich schloß, Benedikts Bereich überschreitend, Franz den Bund mit den Geschöpfen. Doch braucht eine Gemeinschaft keineswegs »gestiftet« zu werden. Wo das geschichtliche Schicksal eine Menschenschar in einen gemeinsamen Natur- und Lebensraum getan hatte, war Raum für das Werden einer echten Gemeinde; und es bedurfte keines Altars eines Stadtgotts inmitten, wenn die Bürger sich um das Unnennbare und durch es vereinigt wußten. Ein lebendiges und stetig erneuertes Miteinander war gegeben und wollte nur noch in der Unmittelbarkeit aller Beziehungen ausgebildet werden. Die gemeinsamen Angelegenheiten wurden gemeinsam – in den glücklichsten Fällen nicht durch Vertreter, sondern in der Versammlung auf dem Marktplatz – beraten und entschieden; und die in der Öffentlichkeit erfahrene Verbundenheit strahlte in jede persönliche Berührung aus. Die Gefahr der Absperrung mochte drohen: der Geist bannte sie, der hier wie nirgendwo anders gedieh und zur Sicht auf Volk, Menschtum, Kosmos seine großen Fenster in die engen Wände brach. Das ist ja aber nun eben, so wird mir entgegnet, unwiederbringlich dahin. Die moderne Stadt hat keine Agora und der moderne Mensch hat keine Zeit für Verhandlungen, die ihm seine gewählten Vertreter abnehmen können. Ein konkretes Miteinander ist schon durch den Zwang der Quantität und der Organisationsform zerstört. Die Arbeit verknüpft einen mit andern Personen als die Muße, der Sport mit andern als die Politik, Tag und Seele sind sauber aufgeteilt. Die Verknüpfungen aber sind eben sachlich, man betreibt mitsammen die gemeinsamen Interessen und Tendenzen und hat keine Verwendung für »Unmittelbarkeit«. Kollektivität ist kein trautes Beisammenhocken, sondern ein großer wirtschaftlicher oder politischer Kräfteverband, für romantisches Vorstellungsspiel unergiebig, aber ziffernmäßig erfaßbar, in Aktionen und Wirkungen sich äußernd, dem der einzelne ohne Intimitäten, aber im Bewußtsein seines energetischen Beitrags angehören darf. Was an »Bünden« sich gegen die unvermeidliche Entwicklung wehrt, muß zerrinnen. Es gibt zwar noch die Familie, die als Hausgemeinschaft ein Maß von Zusammenleben zu erfordern und zu verbürgen scheint, aber auch sie wird aus der Krisis, in die sie eingetreten ist, als Zweckverband hervorgehen oder verschwinden. Diesem Gemisch von richtigen Feststellungen und verkehrten Folgerungen gegenüber bekenne ich mich zur Wiedergeburt der Gemeinde. Wiedergeburt, nicht Wiederbringung. Wiederzubringen ist sie in der Tat nicht, obgleich mich dünkt, daß jeder Anhauch hilfreicher Nachbar-

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schaft in der Mietskaserne, jede Welle einer wärmeren Pausen-Kameradschaft in der höchstrationalisierten Fabrik ein Wachstum der Gemeinschaftshaltigkeit der Welt bedeutet, und obgleich mich zuweilen eine rechtschaffene Dorfgemeinde wirklicher anmutet als ein Parlament; wiederzubringen ist die Gemeinde nicht. Aber ob eine Wiedergeburt der Gemeinde aus den Wassern und dem Geist der nahenden Gesellschaftswandlung geschieht, davon scheint mir das Los der menschlichen Gattung bestimmt werden zu sollen. Ein organisches Gemeinwesen – und nur solche können zu einer gestalteten und gegliederten Menschheit sich fügen – wird nie aus Individuen, nur aus kleinen und kleinsten Gemeinschaften sich aufbauen: ein Volk ist in dem Maße Gemeinschaft, in dem es gemeinschaftshaltig ist. Wenn die Familie aus der Krisis, die heute wie Zerfall aussieht, nicht gereinigt und erneuert hervortaucht, wird die Staatlichkeit vollends nur noch ein Apparat sein, der mit den Leibern der Generationen geheizt wird. Die Gemeinde, die sich solchermaßen erneuern könnte, gibt es nur als Residuum. Wenn ich von ihrer Wiedergeburt spreche, denke ich nicht an eine fortdauernde, sondern an eine geänderte Weltlage. Mit den neuen Gemeinden – man mag sie auch die neuen Genossenschaften nennen – meine ich die Subjekte des gewandelten Wirtschaftens, die Kollektive, in deren Hände die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel übergehen soll. Noch einmal: alles kommt darauf an, ob sie bereit, bereitet sein werden. Wieviel an wirtschaftlicher und politischer Autonomie – denn sie werden notwendigerweise wirtschaftliche und politische Einheiten zugleich sein – ihnen zuzugestehen sein wird, ist eine technische Frage, die man immer neu zu stellen und zu beantworten haben wird, aber zu stellen und zu beantworten von der übertechnischen Erkenntnis aus, daß die innere Mächtigkeit einer Gemeinschaft von ihrer äußeren mit abhängig ist. Das Verhältnis von Zentralismus und Dezentralisation ist ein Problem, das wie gesagt nicht grundsätzlich, sondern wie alles, was den Verkehr der Idee mit der Wirklichkeit betrifft, mit dem großen Takt des Geistes, mit dem nimmer ermüdenden Wägen des rechtmäßigen Wieviel zu behandeln ist. Zentralisierung, ja, aber immer nur so viel, als nach den Bedingungen der Zeit und des Orts zentralisiert werden muß; wenn die zur Ziehung und Neuziehung der Abgrenzungslinien berufene Instanz in ihrem Gewissen wach bleibt, wird die Verteilung zwischen Basis und Spitze der Machtpyramide eine ganz andere sein als heute auch in Staaten, die sich kommunistisch, das heißt doch wohl: gemeinschaftsstrebig, nennen. Ein Vertretungssystem wird es auch in der Gesellschaftsgestaltung, die ich meine, geben müssen; aber es wird sich nicht, wie die heutigen, in Scheinvertretern amorpher Wählermassen, sondern in den ar-

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beitserprobten Vertetern der wirtschaftenden Gemeinschaften darstellen. Die Vertretenen werden mit ihren Vertretern nicht wie heute in leerer Abstraktion, durch die Phraseologie eines Parteiprogramms, sondern konkret, durch gemeinsame Tätigkeit und gemeinsame Erfahrung verbunden sein. Das Wesentlichste aber muß sein, daß der Prozeß der Gemeinschaftsbildung sich ins Verhältnis der Gemeinschaften zueinander hinein fortsetze. Nur eine Gemeinschaft von Gemeinschaften wird Gemeinwesen heißen dürfen. Die Bildskizze, die ich hier flüchtig entworfen habe, will zu den Akten des »utopischen Sozialismus« gelegt werden, bis der Sturm sie aufblättert. Wie ich nicht an Marxens »Ausbrütung« der neuen Gestalt glaube, so glaube ich nicht an Bakunins Jungfernzeugung aus dem Schoß der Revolution. Aber ich glaube an die Begegnung von Bild und Geschick in der plastischen Stunde.

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Zum Problem der »Gesinnungsgemeinschaft« Für Robert Weltsch In einer wahrhaft lebendigen Gesinnungsgemeinschaft müßte die gemeinsame Gesinnung sich immer wieder an echten Begegnungen erproben und erneuern; die »Gesinnungsgenossen« müssten einander immer wieder die zu verkrusten drohenden Gesinnungen auflockern, müssten einander immer wieder helfen, sie in neu unbefangener Anschauung mit der sich wandelnden Wirklichkeit zu konfrontieren. Ja, das gegenseitige Hinzeigen, das gegenseitige Zu-sehen-geben, das gegenseitige Prüfen und Berichtigen in der gemeinsamen Anschauung müsste der Prozess sein, durch den die Gesinnung Mal um Mal wiedergeboren wird. Statt dessen ist man im allgemeinen auf nichts anderes aus als sich selber und die anderen am Festgesetzten festzuhalten; die Kraft sich aus der Tiefe zu besinnen, das heisst, die Wahrheitssubstanz der Gesinnung neu zu schöpfen, weiss man in sich und in den anderen niederzudrücken; die Tatsachen werden durch die obligate Brille korrigiert; echten, also notwendigerweise aufrührenden Begegnungen weicht man erfolgreich aus; und schließlich ist der sture Klüngel, immer noch Gesinnungsgemeinschaft zubenannt, für seine Mitglieder keine freie Flur mehr, nur noch ein Pferch. Aus dem Stande der Selbständigkeit aller, der die lebendige Beziehung aller zu allen ermöglicht, ist der Menschenverband in die vormenschliche Situation zurückgesunken, die nur zwei wesentliche Elemente kennt: im Vordergrund die zusammenklebende »Diesheit«, innerhalb deren es keine Sonderexistenz gibt, und aus dem Hintergrund jeweils vorbrechend die bedrohende »Jenheit«, auch sie ohne alles personhafte Dasein, gestaltlos, nur noch ein Schemen aus Flecken, die Angriff und Abwehr anzeigen, nur noch der »Feind«.

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Zwischen Gesellschaft und Staat Vorwort

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Die hier folgenden Ausführungen, ursprünglich ein Vortrag für die Gäste der 25jährigen Gründungsfeier der Hebräischen Universität Jerusalem (1950), werden hier weiteren Kreisen deshalb mitgeteilt, weil sie, wiewohl nur in großen Zügen, sowohl geistesgeschichtlich wie sinnhaft eine Tendenz darlegen, deren stufenweise Verwirklichung ich für allgemein erwünscht und für allgemein tunlich halte. Diese Tendenz ist durchaus topisch, das heißt nach Ort und Umständen in verschiedener Weise zu realisieren, unter gewaltigen Widerständen freilich, denn was ihr entgegensteht ist nichts Geringeres als die kompakte Machtsucht und das obstinate Machtbeharren, aber sie ist zu realisieren. Ich wollte eine Richtung auf ein Ziel zeigen, nicht mehr, aber auch dies mag in einer so richtungslosen Stunde des Geistes wie dieser von Wert sein. Den Lesern meines Buches »Pfade in Utopia« bietet die kleine Abhandlung eine konkrete Ergänzung des dort in dem von der Krisis handelnden Kapitel Gesagten.

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In der »neuen sozialen Analyse«, die Bertrand Russell Ende 1938 unter dem Titel »Macht« veröffentlicht hat, wird die Macht als »der Grundbegriff der Sozialwissenschaft« bezeichnet, »in demselben Sinn, in dem Energie der Grundbegriff der Physik ist«. Diese kühne These eines bedeutenden Logikers, die an die Lehre des von ihm bekämpften Nietzsche erinnert, ist ein charakteristisches Beispiel dafür, wie noch in unseren Tagen, nach einem Jahrhundert wissenschaftlicher Soziologie, das soziale Prinzip mit dem politischen verwechselt wird. Daß in allen sozialen Gebilden ein gewisses Maß von Macht, Autorität, Überordnung als ein zu ihrer Erhaltung unerläßliches Mittel auffindbar ist, ist von je bekannt; aber in keinem der unpolitischen Sozialgebilde ist dieses Element das grundlegende. Wohl aber ist für sie alle grundlegend, daß Menschen sich entweder in einem Zustand des Miteinanderverbundenseins finden oder sich miteinander verbinden, somit einen schon vorhandenen oder jetzt eben gestifteten Verband, eine Gesellschaft miteinander bilden. Es geht nicht an, das primäre Element durch ein sekundäres, die Gesellung durch die Unterwerfung, die Gemeinschaftlichkeit durch die Herrschaft, schematisch gesprochen: die Struktur der Horizontalen durch die der Vertikalen zu ersetzen. Mit Recht sagt der amerikanische Soziolog MacIver, »Das Soziale mit dem Politischen gleichsetzen heißt, sich der gröbsten aller Verwechslungen schuldig machen, die jegliches Verständnis sowohl der Gesellschaft wie des Staates gänzlich verstellt«. Die mangelhafte Unterscheidung zwischen den beiden Prinzipien, auf deren mehr oder weniger problematischem Zusammenwirken alles menschliche Zusammenleben steht, ist eine uralte. Ein klassisches Beispiel ihrer Verwechslung, freilich eins von entgegengesetzter Art, ist jener berühmte Abschnitt der Politeia, wo Platon die Entstehung der Polis zunächst von dem gesellschaftlichen Urfaktum der Arbeitsteilung ableitet und dann, fast unmerklich, zu den anderen notwendig gewordenen Berufen den der »Wächter«, der Herrscher fügt, womit mit einem Mal die eminent politische Zweiteilung der Bevölkerung in Befehlende und Gehorchende, Herrschende und Beherrschte, über die Zwangsmittel Verfügende und ihnen Unterworfene, den harmlosen Charakter der bloßen Arbeitsteilung angenommen hat. Wir müssen genau darauf achten, was Platon hier tut. Er läßt seinen Sokrates im Gespräch die Aufgabe stellen, »eine werdende Polis im Geiste zu schauen«. Die Leser des Dialogs dachten dabei naturgemäß an ein Staatswesen in der Art des zeitgenössischen Athen, wie es aus der Reform des Kleisthenes hervorgegangen war, d. h. an eine Gemeinschaft, in der die Differenz zwischen Regierenden und Regierten dem freien Bürger kaum spürbar war, weil innerhalb der Bürgerschaft in ständigem Wechsel diese zu jenen, die Vertretenen zu Ver-

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tretern wurden und die Wählbarkeit und Absetzbarkeit der Beamten auch die Empfindung einer drückenden Bürokratie nicht aufkommen ließ. Diese Gemeinschaft, in der die starke Basis des Sklaventums jedem Bürger grundsätzlich ermöglichte, sich neben seiner privatwirtschaftlichen Tätigkeit an der des Rates zu beteiligen, konnte freilich aus einer Evolution der Arbeitsteilung abgeleitet werden, einer Evolution, bei der das politische Gewerbe aus der Spezialisierung herausgenommen blieb. Aber die Klasse oder vielmehr Kaste der Wächter, die Platon im Gange dieser Ableitung einführt, gehört nicht mehr der historischen Polis, sondern seiner Utopie an, und hier steht sie, die uns als ein Gewerbe unter den anderen präsentiert wird, in Wahrheit zum Rest der Gemeinschaft in dem schlechthin politischen Verhältnis einer herrschenden Gesellschaft zu einer beherrschten; einer Gesellschaft, sage ich, und nicht bloß einer Gruppe, da sie ja durch die Freimachung ihrer Mitglieder von Sondereigentum und Sonderehe aus der allgemeinen Gesellschaftsordnung herausgehoben und in einer eigenen verfaßt ist. Dieses Durcheinander des sozialen und des politischen Prinzips ist für den weitaus größten Teil des Denkens des Altertums kennzeichnend. In fast allen Imperien des alten Orients finden wir gar keinen Ansatz zu einer begrifflichen Scheidung zwischen staatlichen und außerstaatlichen Gemeinschaftsgebilden, offenbar weil in der Wirklichkeit den letzteren keinerlei selbständige Existenz und Entwicklung gegönnt war. Die einzige Ausnahme bildet das alte China, wo eben zwei Kulturen nebeneinander bestanden, die staatlich-städtische, um den Hof zentrierte, auf Heer, Beamtenschaft und dem offiziellen Literatentum aufgebaut, und die ländliche, ganz auf der Dorfgemeinde gegründete, – eine wesentlich politisch-geschichtliche und eine wesentlich geschichtslose, lediglich vom gleichbleibenden Naturrhythmus der Jahreszeiten und der werdenden und vergehenden Menschengeschlechter bestimmte, wesentlich soziale im engsten Sinn. Diese zweite, relativ selbständige und in sich geschlossene Kultur ist es, die das Lehrsystem des Laotse unterbaut hat, wo zwischen dem Individuum und dem Staat (den Einzelstaaten, aus denen sich das Reich zusammensetzte) zwei rein soziale Gebilde, das Haus und die Gemeinde, stehen, wogegen in dem in der städtischen Kultur wurzelnden konfuzianischen System von diesen beiden nur noch das Haus, die Familie verblieben ist, als welche sie sich, zum Unterschied von der Dorfgemeinde, in ihrer städtischen Form dem Staat völlig einfügte. Eine ähnliche Ideenentwicklung finden wir, wiewohl aus sehr verschiedenen Ursachen, in der klassischen Antike. Hier ist, jedenfalls in jener Polis, in der sich das diskursive Denken im wesentlichen entfaltet hat, der athenischen, das stark ausgebildete soziale Prinzip so tief in das politische

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Leben eingegangen und so gründlich mit ihm verschmolzen, daß einerseits die Versammlung des Demos manche Züge mit einer gesellschaftlichen Veranstaltung gemein hatte, andererseits die Familie im Leben der Gemeinschaft zurücktrat und das Vereinswesen, wiewohl stark ausgebildet, nirgends zu einer echten Autonomie gedieh. Im Zusammenhang damit hat sich, wie wir sahen, noch bei Platon keine strenge begriffliche Scheidung zwischen dem Staat und nichtstaatlichen Verbänden vollzogen: der Staat, die Polis, deckt sich so völlig mit der Gesellschaft oder Gemeinschaft, der Koinonia, daß den Asozialen, den Dyskoinonetoi, die Staatsfreunde, die Philopolides, gegenübergestellt werden, als ob es keinen geben könnte, der zwar sozial, aber nicht politisch empfände. Erst mit dem Niedergang der Polis, da zugleich mit der fortschreitenden inneren Zerrüttung die Überwältigung von außen sich geschichtlich ankündigt, vollzieht der Gedanke die begriffliche Scheidung. Zwei Jahrhunderte nach Laotse stellte Aristoteles die Familie und die Gemeinde – womit wie bei Laotse vor allem die Dorfgemeinde gemeint ist – zwischen den Staat und den einzelnen, und zur Gemeinde treten verschiedene Arten der Genossenschaft; aber die Kategorie des Sozialen, die Koinonia, kennt er nur im allgemeinsten Sinn, so daß er den Staat als eine bestimmte Art davon bezeichnen kann, und zwar als die höchste von allen und die alle anderen umfassende, der gegenüber die anderen nur einerseits als bloße Vorstufen, andererseits als bloße Mittel für den Staatszweck anzusehen sind. So kann uns denn auch hier eine echte kategoriale Scheidung zwischen dem sozialen und dem politischen Prinzip nicht gegeben werden, und wenn der Mensch einmal ein zoon koinonikon und ein andermal ein zoon politikon genannt wird, so ist die Grundabsicht in beiden Fällen dieselbe. Denn zwar wird uns ausdrücklich gesagt, der Mensch sei nicht bloß für die politische Gemeinschaft, sondern auch für die häusliche geschaffen, aber die Polis ist eben die Vollendung der Koinonia, und das Zusammenleben der Menschen findet erst in ihr seinen Sinn und Zweck, ja sie wird auch geradezu die Koinonia aller partikulären Koinonien genannt, zu der sie alle, Familien und Gemeinden und Genossenschaften und Vereine aller Art, sich zusammenschließen. Der Begriff des Staates wird hier identisch mit unserem Begriff der Gesellschaft, die die Einheit aller verschiedenartigen Gesellschaften innerhalb eines gegebenen Volksganzen ist, und damit wird der Zugang zu einer strengen und folgerichtigen Unterscheidung und Scheidung zwischen dem sozialen und dem politischen Prinzip verbaut. Es ist übrigens von Wichtigkeit, daß Aristoteles von all den Verbänden, die er als Sonderformen der Koinonia anerkennt, einzig die Familie als wesentlich behandelt, die er ja auch, zum Unterschied von Platon, als die Urzelle des

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Arbeitsteilungsprozesses erkannt hat; nur die Familie gehört für ihn in die Grundlagen des Staates, wogegen der Dorfgemeinde, die bestimmt ist, in der Polis aufzugehen, keinerlei dauernde Bedeutung zukommt und die Genossenschaften die ihre nur von ihrer Stelle innerhalb des Staates beziehen. Der restriktive Gedankenprozeß, wie er sich von Laotse zu Kungfutse vollzog und in dem alle Sozialgebilde, die der Absorption durch den zentralistischen Staat widerstehen könnten, ausgeschaltet werden, vollzieht sich hier innerhalb des Denkens eines einzelnen Philosophen. Das nacharistotelische Denken der Antike ist über diesen Mangel der begrifflichen Erfassung der Prinzipien nicht hinausgelangt. Auch der scheinbar genauere lateinische Begriff, der an die Stelle der »Gemeinsamkeit«, der Koinonia tritt, die »Gesellschaft«, societas, schafft hierin keine Abhilfe. Nicht bloß ist für Cicero der Staat eine societas, sondern die societas civium schlechthin. Gewiß, die bürgerliche Gesellschaft im Sinn unserer Epoche, als eine neben dem Staat und ihm gegenüber bestehende Gesamtheit, hat es damals noch nicht gegeben, aber es gab die Sozialität in allen ihren Formen, die sich in all den kleinen und größeren Verbänden darstellte, und in ihnen allen waltete dasselbe Prinzip des Zusammenwirkens, das zwar mit dem politischen allerhand Verbindungen eingeht, aber eine eigentümliche Realität besitzt, die als solche erkannt werden will. Auch die Stoa, die am weitesten in dieser Richtung gegangen ist, hat die Aufgabe einer spezifischen Erkenntnis des sozialen Prinzips nicht erfüllt. Zwar hat an ihrem Ende Mark Aurel mit seinem Spruch »Wir sind zum Zusammenwirken geboren« die aristotelische Definition ins spezifisch Soziale umgeprägt; aber was nicht geleistet wurde, war eben das, was von jeder begrifflichen Spezifikation zu fordern ist, damit sie den Charakter einer echten Erkenntnis gewinne: die Auffindung, Beschreibung und Erklärung jener Elemente der Wirklichkeit, die dem neugewonnenen spezifischen Begriff entsprechen. Dem neuen Begriff der Gesellschaft wird die Konkretheit entzogen, indem ihm die Begrenzung entzogen wird, und dies geschieht auf die sublimste Weise: indem das Ideal des universalen Humanismus formuliert wird, ohne daß ihm die Methode der Realisierung geliefert würde. Wenn der Stoiker in der neuen Sprache von einer societas generis humani oder wenn er in der alten Sprache von einer Megalopolis spricht, es gilt gleich: ein beseelter Gedanke tritt der Wirklichkeit gegenüber, aber er vermag in ihr den Schoß nicht zu finden, aus dem er die neue lebende Gestalt zu zeugen vermöchte; denn er hat die Leiblichkeit abgestreift. Der Staat Platons, der zwar gegen die Polis, aber doch von ihr aus konzipiert worden war, war immerhin eine Struktur, wenn auch eine gedachte; die »nur Eine

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Lebensform und nur Eine Staatsordnung« Zenons war, ein Jahrhundert danach, nur noch ein edles Gefühl, und zuletzt blieb auch davon so wenig wirklich übrig, daß Cicero die Erfüllung des Kosmopolitismus im römischen Reich finden konnte. Es gibt, darauf sei nebenbei hingewiesen, keinen anderen praktischen, d. h. mit den dem Menschen gegebenen Kräften, wenn auch freilich nur mit deren äußerster Anstrengung, realisierbaren Universalismus als den der Propheten Israels, den nämlich, der nicht eine Aufhebung der nationalen Gesellschaft samt ihren Organisationsformen, sondern deren Heilung und Zurechtschaffung und damit die Voraussetzung für ihren Zusammenschluß erstrebt. Das christliche Mittelalter nahm einerseits den Grundbegriff des stoischen Universalismus in einer christianisierten Form auf, indem es die angestrebte einheitliche Menschheit einmal als res publica generis humani, als Weltstaat, ein andermal als ecclesia universalis, als Weltkirche, bezeichnete; doch ist das soziale Prinzip als solches hier zuweilen in einer Reinheit ausgesprochen, die die Stoa nicht kannte; so wenn es bei William von Occam, dem großen »intuitiven« Denker des 14. Jahrhunderts, heißt: »Das ganze Menschengeschlecht ist Ein Volk; die Gesamtheit der Sterblichen ist Eine Gemeinschaft derer, die miteinander Gemeinschaft haben wollen« (totum genus humanum est unus populus; universitas mortalium est una communitas volentium habere communionem an invicem), und jeder Einzelverband, quodlibet particulare collegium, als Teil dieser communitas erkannt wird. Im allgemeinen aber gelangt das mittelalterliche Denken nicht über die aristotelische Verquickung des Sozialen mit dem Politischen hinaus. Dem blühenden Korporationswesen der Epoche wird zwar in der juristischen Begriffsbildung Rechnung getragen, aber eine soziologische Erfassung der nichtpolitischen Verbände als solcher bildet sich nicht aus. Im Gegenteil, die Tendenz geht in wachsendem Maße auf eine restlose theoretische Subsumierung und praktische Unterordnung ihrer aller unter den Staat oder, wie Gierke es ausdrückt, in der Richtung auf eine »ausschließliche Darstellung alles Gemeinlebens durch den Staat«. Erst in der Spätrenaissance unternimmt der Gedanke einen Vorstoß für das selbständige Recht der nichtpolitischen Verbände dem Staate gegenüber. Seinen stärksten Ausdruck findet dieser Vorstoß in der »Politica« des deutschen Rechtslehrers Althusius (um 1603). Zwar werden auch hier alle diese Gliederungen nicht zwischen das Individuum und eine umfassende Gesellschaft – dieser Sonderbegriff fehlt immer noch –, sondern wie bei Aristoteles zwischen das Individuum und den Staat gestellt. Es wird also zwischen ihnen und ihm kein Artunterschied erkannt, nur daß jede von ihnen eine relative Autonomie, der Staat hingegen eine ausschließliche Souveränität

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besitzt; diese jedoch findet an jener »eine unübersteigliche Schranke« (Gierke), d. h. der Staat darf das jedem dieser sozialen Sonderverbände zustehende Sonderrecht nicht verletzen. Die Gesellschaft ist hier zwar noch nicht als solche erfaßt, aber sie ist ihrer Idee nach konstituiert; zwar bildet nicht die Gesellschaft, sondern der Staat unter ihrem Namen, als die societas immortalis et perpetua, wie es Grotius formuliert hat, oder unter seinem eigenen, als die civitas composita in der Sprache von Althusius, die consociatio consociationum, aber daß sie alle solchermaßen als miteinander verbunden, miteinander assoziiert erscheinen, das bedeutet ein entscheidend Neues in der soziologischen Erkenntnis. Dieses Neue wird freilich zunächst für zwei Jahrhunderte von der Idee der unbeschränkten Staatsmacht überwunden, die nun in einer bis dahin unerhörten Folgerichtigkeit auftritt*. In Hobbes’ Gedankensystem sind die Zwischengebilde prinzipiell aufgehoben, denn es gibt für ihn keine Stufen zur Entstehung des Staates, zu dem sich vielmehr die zusammenhanglosen Individuen vereinigen, aus Furcht, sie würden sonst einander vernichten. Diese Vereinigung, die in der Unterwerfung aller Willen unter den eines einzigen oder einer einzigen Versammlung besteht, bezeichnet Hobbes in seinem Buch »De cive« als civitas sive societas civilis. Hier erscheint meines Wissens zum erstenmal im modernen Denken jener zu Ende des 17. Jahrhunderts bei Locke wiederkehrende, im 18. durch Adam Smith’s »Lectures on Justice« und Ferguson’s »Essay on the History of Civil Society« verbreitete Begriff der »bürgerlichen Gesellschaft«, den wir im 19. in der Philosophie bei Hegel und in der Soziologie bei Lorenz von Stein als den Gegensatz zum Staat wiederfinden werden, und hier, bei Hobbes, ist sie noch durchaus mit dem Staat identisch. Wohl kennt Hobbes auch das soziale Prinzip, in der Form freier Verträge zwischen Individuen zur Anerkennung und Sicherung des gegebenen Besitzstandes, er kennt es als vorhanden und duldet es in diesem Sinn, weil er sich den Staats-Leviathan doch noch nicht völlig realisiert denkt. Aber Tönnies trifft gewiß Hobbes’ innerste Ansicht, wenn er ihn so interpretiert: »Der Staat würde seinen Begriff in vollkommener Weise erfüllen, wenn er alle Tätigkeiten der Bürger regulierte, wenn nach dem einen obersten Willen alle Willen gerichtet würden. So lange als dies nicht verwirklicht ist, ist noch Gesellschaft im Staate.« Mit anderen Worten: der zu seiner Vollkommenheit gelangte Staat wird auch den letzten Rest von Gesellschaft austilgen. Die-

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Denkerische Ausnahmen, unter denen Leibnizens Aufzeichnungen über die Einteilung der Gesellschaften hervorragen, müssen hier unberücksichtigt bleiben.

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sem vollkommenen Staat ist der in unseren Tagen als der totalitäre bezeichnete um ein beträchtliches Stück nahe gekommen. Der im Zeitalter von Hobbes beginnende Aufstieg des dritten Standes, der die Doppelgesellschaft des Mittelalters durch eine einheitliche, freilich nur bis zu ihm einschließlich reichende zu ersetzen sich anschickte, hat zu einem Liberalismus des Staates den Gesellschaften gegenüber geführt, der nur eine atomisierte, strukturlose Gesellschaft zu dulden bereit war, wie der moderne industrielle Kapitalismus zunächst darauf aus war, nur Individuen ohne Koalitionsrecht sich gegenüber zu finden. Etwas mehr als ein Jahrhundert nach dem Erscheinen des »Leviathan« schreibt der Physiokrat Turgot in der »Enzyklopädie«, im Artikel »Fondations«: »Les citoyens ont des droits, et des droits sacrés pour le corps même de la société (worunter Turgot noch nichts anderes als den Staat versteht); ils existent indépendamment d’elle; ils en sont les éléments nécessaires … Mais les corps particuliers n’existent point par eux-mêmes, ni pour eux; ils ont été formés pour la société et ils doivent cesser d’exister au moment qu’ils cessent d’être utiles.« Turgot zählt immerhin zu diesen corps particuliers nicht alle associations libres, von denen er manche im gleichen Artikel zu rühmen weiß. Aber schon fünf Jahre danach schreibt Rousseau in seinem »Contrat Social«, in dessen Grundbegriff, der volonté générale, das soziale und das politische Prinzip wieder auf eine höchst fragwürdige Weise miteinander vermischt sind, obgleich Rousseau sonst zwischen dem Gesellschaftsvertrag und der gesetzartigen Regierungseinsetzung wohl zu unterscheiden weiß: »Il importe, pour avoir bien l’énoncé de la volonté générale, qu’il n’y ait pas de sociètè parielle dans l’état.« Mit anderen Worten: es darf dem Staat gegenüber keine Gesellschaft geben, die sich aus verschiedenartigen kleinen und größeren Gesellschaften aufbaut, somit keine Gesellschaft von echter sozialer Struktur, in der sich das vielfältige spontane Zusammentreten der Individuen zu gemeinsamen Zwecken des Zusammenwirkens und Zusammenlebens, also die vitale Essenz der Gemeinschaft darstellt. Wenn es aber doch schon sociétés partielles gibt, fährt Rousseau fort, »il en faut multiplier le nombre et en prévenir l’inégalité«. Mit anderen Worten: Wenn man die freie Bildung von Gesellschaften nicht unterdrücken kann, soll man ihren Wirkungskreis durch Schaffung solcher beschränken, die völlig von den Absichten und Planungen des Staates bestimmt sind, und dafür Sorge tragen, daß die freien nie stärker werden als die unfreien. Die französische Revolution konnte sich im allgemeinen mit der Ausführung der ersten dieser zwei Weisungen begnügen, insbesondere indem sie, wie es schon unter Ludwig XVI. versucht worden war, das Koalitionsrecht abschaffte, weil »ein absolut freier Staat keine Korporation

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in seinem Innern dulden darf« (Beschluß der gesetzgebenden Versammlung vom August 1791). Dagegen wird man das Zusammenwirken beider Methoden in größerem Maßstabe in der Geschichte der russischen Revolution wiederfinden. Erst durch das Hervorgehen der voll ausgebildeten bürgerlichen Gesellschaft aus dem Schoße der Revolution sind die Versuche ermöglicht worden, Staat und Gesellschaft als solche einander gegenüberzustellen. Die ersten beiden Versuche sind in jeder Hinsicht so verschieden wie möglich. Der eine stammt von Saint-Simon. Die mehr oder minder chimärischen Reformprojekte dieses genialen Dilettanten sind im wesentlichen auf der richtigen und wichtigen Unterscheidung zwischen zwei Arten von Führung begründet, der gesellschaftlichen oder Verwaltung und der politischen oder Regierung. Er definiert sie nicht zulänglich, aber wir werden seiner Auffassung wohl gerecht, wenn wir sagen, daß die Administrativgewalt durch die in den spezifischen Bedingungen und Aufgaben der Führung gegebenen technischen Voraussetzungen begrenzt ist, wogegen die Regierungsgewalt jeweils lediglich durch das quantitative Machtverhältnis zu anderen Faktoren eine Begrenzung erfährt. Die Gesellschaft, worunter Saint-Simon den Träger der wirtschaftlichen und kulturellen Produktion versteht, wird, soweit sie organisiert ist, verwaltet, der Staat wird regiert. Der Vorschlag Saint-Simons, die Führung des Staates zu teilen, nämlich die Leitung der nationalen Interessen einer Auslese der Fähigsten und Geübtesten auf dem Gebiete der gesellschaftlichen Produktion zu übergeben und ihr damit administrativen Charakter zu verleihen, den politischen Instanzen hingegen die Wahrung von Schutz und Sicherheit allein zu belassen, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Wohl aber mögen wir das im Zusammenhang damit stehende Wort Saint-Simons verzeichnen: »Um weniger regiert zu werden, ist die Nation in die Revolution gegangen; sie hat nichts erlangt als mehr denn zuvor regiert zu werden.« Die andere grundsätzliche Scheidung zwischen dem Sozialen und dem Politischen, die Hegels, ist der Saint-Simons in ihrer Wertung der beiden entgegengesetzt. Aber schon die Absicht ist verschieden. Hegel vergleicht nicht wie Saint-Simon lediglich zwei Arten der Führung miteinander, sondern die bürgerliche Gesellschaft überhaupt und den Staat überhaupt. Sie stehen aber hier einander nicht polar gegenüber, sondern die Gesellschaft steht zwischen der Familie und dem Staat, zwischen einer relativen Ganzheit und Einheit und einer absoluten Ganzheit und Einheit, als die unganze und uneinige Vielheit, zwischen Form und Form als das Formlose, eine Ausgeburt der modernen Welt, ein Gefüge von ein-

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zelnen, wo jeder sich Zweck und alles andere ihm nichts ist und sie alle nur deshalb zusammenwirken, weil jeder sich der anderen als Mittel zu seinem Zweck bedient; und die Gruppen und Klassen, in denen sich die so von ihren Zwecken besessenen Individuen zusammenfinden, geraten in eine Gegensätzlichkeit, die zu überwinden die Gesellschaft diesem ihrem Wesen nach unfähig ist: nur der Staat vermag es, indem er »die Wellen aller Leidenschaften« durch die »hineinscheinende Vernunft« regiert. Er ist der »Moderator des gesellschaftlichen Notstands«, weil seine Substanz nicht wie die der Gesellschaft das Sonderinteresse, sondern das Allgemeine und die Vereinigung ist, sein Grund »die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft«. So mündet die bis dahin stärkste begriffliche Unterscheidung zwischen den Prinzipien doch wieder in einer an Hobbes gemahnenden Verherrlichung des Staates. In Hegels kritischem Bilde der modernen Gesellschaft fehlt alles, was auch noch in unserem Zeitalter an echtem Genossenschaftssinn, an Solidarität, an gegenseitiger Hilfe, an treuer Kameraderie, an tätiger Begeisterung für ein gemeinschaftliches Werk zu finden ist, – die schaffende soziale Spontaneität fehlt ganz und gar, sie, die freilich nicht zusammengeschlossen wie die Macht des Staates, sondern nur in einer Fülle von kollektiven Einzelerscheinungen existiert, aber innerhalb des Gesellschaftsgebiets, in aller Stille, der Gegensätzlichkeit wohl die Waage hält. Andererseits erscheint hier ein Staat, den wir nicht aus der Weltgeschichte, sondern aus Hegels System allein kennen. Wohl sagt er, bei der Idee des Staates müsse man nicht besondere Staaten vor Augen haben, man müsse vielmehr »die Idee, diesen wirklichen Gott, für sich betrachten«. Der einzelne historische Staat stehe eben »in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums«, und auch ein Krüppel sei ja immer noch ein lebender Mensch, »das Affirmative, das Leben, besteht trotz des Mangels, und um dieses Affirmative ist es hier zu tun«. Aber man wende das alles nur auch auf die Gesellschaft an, und das Bild verändert sich von Grund aus. Mit Saint-Simon und Hegel stehen wir an der Schwelle der modernen soziologischen Erkenntnis. Aber die Gesellschaft, die von dieser erkannt wird, ist eine andere geworden: es ist die Gesellschaft des modernen Klassenkampfs. Die beiden Männer, die in dieser Stunde, jeder in seiner Weise, eine Synthese Hegels und des Saint-Simonismus zu schaffen unternahmen, Lorenz von Stein, der Begründer der wissenschaftlichen Soziologie, und Marx, der Urheber des wissenschaftlichen Sozialismus, dachten so gründlich von der neuen Situation aus, daß sie im entscheidenden Punkte der Beziehung zwischen dem sozialen und dem politischen Prinzip weder das Erbe Saint-Simons noch das Hegels anzutreten

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vermochten. Stein, der von Saint-Simon herkommt, kann dessen Glauben an die Übernahme der Staatsleitung durch die Führer der gesellschaftlichen Produktion nicht teilen, weil er die Gesellschaft nur noch als den eigentlichen Schauplatz der menschlichen Konflikte sieht; an Hegels überwindender und einigender Funktion des vollendeten Staates versucht er festzuhalten, aber es gelingt ihm nicht wirklich. Marx, der das Denken von Hegel gelernt hat, bestreitet eine solche Funktion des Staates, weil dieser, in seinem Charakter als »Überbau«, mit Notwendigkeit ein Werkzeug der herrschenden Gesellschaftsklasse sei, und strebt ihn durch einen zu ersetzen, der auf dem Weg der Diktatur des letzten Standes die klassenlose Gesellschaft vorbereitet, um sich sodann in ihr aufzulösen. Stein, für den »die Bewegung des Gegensatzes zwischen Staat und Gesellschaft der Inhalt der ganzen inneren Geschichte aller Völker« ist, spricht in der philosophischen Abstraktion dem Staate die Suprematie zu, aber in der Erfassung der konkreten Wirklichkeit bejaht er die ganz von Konflikten durchzitterte Gesellschaft, um sie ist es ihm zu tun; daher beginnt mit ihm (und nicht mit Comte, wie manche meinen, der in der Unterscheidung zwischen dem sozialen und politischen Prinzip hinter seinen Lehrer Saint-Simon zurückgeht) die Wissenschaft der sozialen Realität. Marx, der sich in den theoretischen Gedankengängen seiner Reifezeit für den Staat nicht primär interessiert hat, kennt in seinen Planungen nur den höchst-zentralisierten, allumfassenden und alles bestimmenden Revolutionsstaat, der für das soziale Prinzip keinen Raum übrig läßt und die freie Gesellschaft so völlig absorbiert, daß er wahrlich nur in der eschatologischen Vision das Aufgehen in ihr vollziehen kann; daher beginnt mit Marx die Bewegung eines Sozialismus, in dem das soziale Prinzip nur noch als letzte Zielsetzung, nicht im real-praktischen Entwurf existiert.

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Heute, mitten in einer weitgespannten und in sich bis ins kleinste differenzierten Arbeit der sozialen Erkenntnis und Planung, steht die Soziologie noch immer und von neuem vor dem Problem des Verhältnisses zwischen dem sozialen und dem politischen Prinzip. Man darf dieses Verhältnis nicht mit dem zwischen Gesellschaft und Staat verwechseln, denn, wie Tarde mit Recht sagt, es gibt keine Form der gesellschaftlichen Tätigkeit, die nicht irgendeiner Seite nach, in irgendeinem Augenblick, politisch würde; aber man muß die Gesellschaftsformen hier, die Staatsinstitutionen dort als die Kristallisation der beiden Prinzipien verstehen. Es ist dabei jedoch von grundlegender Wichtigkeit, den Strukturunterschied zu erkennen, der zwischen den beiden Gebieten hinsichtlich der Beziehung von Einheit und Vielheit besteht. Die Gesellschaft einer Volksgemeinschaft ist nicht aus einzelnen, sondern aus Gesellschaften zusammengesetzt, und zwar nicht, wie Comte meinte, lediglich aus Familien, sondern aus an Art, Gestalt, Umfang und Dynamik sehr verschiedenen Gesellschaften und Gruppen, aus Kreisen, aus Vereinen, aus Genossenschaften, aus Gemeinden. Die Gesellschaft ist nicht bloß deren Gesamtheit und Umfassung, sondern auch deren Substanz und Essenz; sie sind in ihr, aber sie ist auch in ihnen allen, und keine von ihnen kann sich zuinnerst ihr entziehen. Insbesondre soweit sich das bloße Nebeneinander der Gesellschaften in ein Miteinander zu verwandeln strebt, soweit sich zwischen ihnen Verbindungen und Bünde aller Art entwickeln, also im sozial-föderativen Bereich wirkt die Gesellschaft sich aus. Wie sie durch Sitte und Brauch die einzelnen in ihrer Lebensform, durch die öffentliche Meinung im Sinn der Kontinuität die einzelnen in ihrer Gesinnung einander nahe hält und nahe bringt, so wirkt sie auf Kontakte und Wechselbeziehungen zwischen den Gesellschaften hin. Aber sie vermag die Konflikte zwischen den verschiedenartigen Gruppen nicht zu meistern, sie hat nicht die Macht, die auseinander und gegeneinander strebenden zueinander zu fügen, sie kann das Gemeinsame entfalten, aber sie kann es nicht auferlegen. Das kann der Staat allein. Die Mittel, mit denen er es tut, sind ihrem Wesen nach keine sozialen mehr, sondern spezifisch politische. Aber all die ihm zur Verfügung stehenden Mittel, sowohl Strafgewalt wie Propaganda, würden auch bei dem Staat, der nicht von einer Gesellschaftsgruppe beherrscht, also von den sozialen Spaltungen relativ unabhängig ist, nicht zureichen, um die Konfliktsphären zu bewältigen, wenn nicht die politische Grundtatsache der allgemeinen Labilität wäre. Daß jedes Volk sich durch die anderen Völker bedroht fühlt, gibt dem Staat die entscheidende einende Kraft; er stützt sich auf den Selbsterhaltungstrieb der Gesellschaft selber; die latente äußere Krisensituation ermöglicht ihm, jeweils die innere zu über-

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winden. Denken wir uns einen dauernden Zustand des echten, positiven, schaffenden Friedens zwischen den Völkern, und die Suprematie des politischen über das soziale Prinzip würde wesentlich abnehmen. Das bedeutet aber keineswegs, daß dann auch die Kraft zur Überwindung der inneren Konfliktsituation überhaupt abnehmen müßte. Man darf vielmehr annehmen, daß, wenn an die Stelle der zwischen den Völkern bestehenden Anarchie ihr Zusammenwirken in der Verwaltung der Rohstoffe, in der Bestimmung der Verarbeitungsweisen und in der Regelung des Weltmarkts träte, die Gesellschaft zum erstenmal befähigt würde, sich als solche zu konstituieren. Verwaltung bedeutet im Bereich des sozialen Prinzips dasselbe wie Regierung im Bereich des politischen. Auch im Bereich des ersteren ist es unerläßlich, daß Sachverständige anordnen, wie das von der Vereinigung oder Genossenschaft Gewollte und Beschlossene auszuführen ist, und es ist unerläßlich, daß die zur Ausführung Berufenen die Anordnungen vollziehen, jeder an seinem Teil. Verwaltung nennen wir somit eine von den gegebenen technischen Voraussetzungen aus begrenzte und innerhalb dieser Grenzen theoretisch und praktisch anerkannte Dispositionsfähigkeit, die bei einem Überschreiten ihrer Grenzen sich selber aufhebt, Regierung nennen wir eine nicht technisch, sondern nur etwa »verfassungsmäßig« begrenzte, was bedeutet, daß bei gewissen Änderungen der Situation die Grenzen sich verschieben, ja zuweilen gänzlich verwischen. Allen Formen von Herrschaft ist dies gemeinsam: jede besitzt mehr Macht als die gegebenen Bedingungen erfordern, ja dieses Plus an Dispositionsfähigkeit ist es recht eigentlich, was wir unter politischer Macht verstehen. Dieses Plus, dessen Höhe sich natürlich nicht errechnen läßt, stellt die genaue Differenz zwischen Verwaltung und Regierung dar. Ich nenne es den politischen Überschuß. Seine Rechtfertigung wird von der äußeren und inneren Labilität, von dem latenten Krisenzustand zwischen den Völkern und in jedem Volk geliefert, der sich in jedem Augenblick in einen aktuellen verwandeln kann, welcher sofortige umfassende Anordnungen und deren strikte Befolgung erfordert. Obgleich in parlamentarisch regierten Staaten in der Stunde der ausbrechenden Krise besondere Vollmachten erteilt werden müssen, ist doch auch in ihnen naturgemäß der politische Überschuß jeweils nicht determiniert. Mit anderen Worten: das politische Prinzip ist im Verhältnis zum sozialen stets stärker als die gegebenen Bedingungen erfordern. Daraus ergibt sich eine dauernde Reduktion der gesellschaftlichen Spontaneität. Es verhält sich aber so, daß sowohl die soziale Vitalität eines Volkes als auch seine kulturelle Einheit und Selbständigkeit in hohem Maße von dem Grade dieser Spontaneität abhängen. Daher ist häufig gefragt wor-

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den, wie diese durch eine größtmögliche Befreiung vom Druck des politischen Prinzips zu stärken sei. Man hat insbesondere auf die Erwünschtheit einer Dezentralisierung der politischen Macht hingewiesen. In der Tat, je mehr relative Autonomie sowohl den lokalen und regionalen als auch den funktionalen Gemeinschaften gewährt wird, um so größer wird der Raum für eine freie Entfaltung der gesellschaftlichen Kräfte. Selbstverständlich kann die Frage nicht lauten »Zentralisation der Dezentralisation?«, sondern nur: »Auf welchen Gebieten ist ein größeres Maß an Dezentralisierung der Dispositionsfähigkeit als das bestehende zulässig?« Diese Demarkation muß natürlich immer wieder den wechselnden Bedingungen gemäß revidiert und erneut werden. Außer dieser Änderung der Verteilung der Macht ist aber im Interesse einer sich konstituierenden Gesellschaft auch eine fortschreitende Wandlung des Wesens der Macht in dem Sinne anzustreben, daß so viel Regierung wie möglich in Verwaltung übergehe. Das heißt: es ist immer neu zu prüfen, auf welchen Gebieten das Verhältnis zwischen regierungsmäßiger und verwaltungsmäßiger Leitung sich zugunsten der letzteren ändern läßt. Saint-Simons Forderung nach einem größeren Anteil der wirtschaftlich und kulturell produktiven Gesellschaft an der Gestaltung des öffentlichen Lebens kann nicht dadurch erfüllt werden, daß, wie es in unseren Tagen formuliert worden ist, die Administratoren die Herrschaft ergreifen (das würde gewiß keine Besserung bedeuten), wohl aber dadurch, daß die Herrschaft jeweils in dem Maße zu Administration wird, als es die allgemeinen und besonderen Bedingungen gestatten.

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Wir fragen nach Hoffnung für diese Stunde. Damit ist gesagt, daß wir Fragenden diese Stunde nicht bloß als eine der schwersten Bedrängnis empfinden, sondern auch als eine, für die es keinen Ausblick in künftige wesensverschiedene Stunden, in eine Zeit der Helle und der Höhe zu geben scheint. Solch ein Ausblick ist es ja, den wir im spezifischen Sinne als Hoffnung bezeichnen. Unsere gemeinsame Frage hat aber nur dann einen großen gemeinsamen Sinn und darf nur dann eine wegweisende Antwort erwarten, wenn es wirklich die große Not des Menschen in dieser Stunde ist, die wir gemeinsam empfinden. Kämen hundert oder tausend Menschen zusammen, und jeder brächte die heutige Not seines eigenen Lebens, seine ganz persönliche Welt- und Lebensangst von heute, mit sich, und sie legten ihre Nöte zusammen, nie würde eine gemeinsame Not daraus, der ein echtes gemeinsames Fragen entsteigen könnte. Nur wenn allen Fragenden ihre persönliche Not die große Not des Menschen in dieser Stunde erschließt, können die Wasseradern der Not, zum Strom vereinigt, die stürmende Frage emportreiben. Es kommt aber wesentlich darauf an, daß wir die gemeinsame Not, die uns fühlbar wird, nicht in ihren äußeren Manifestationen allein, sondern in ihrem Ursprung und ihrer Tiefe erkennen. So wichtig es ist, daß wir das heutige Menschenleid gemeinsam leiden, wichtiger noch ist es, gemeinsam zu erspüren, woher es kommt, denn nur von dort, von dem Grunde her kann uns die wahre Hoffnung auf Heilung beschert werden. Die Menschenwelt ist heute, wie nie zuvor, in zwei Lager aufgespalten, von denen jedes das andere als die leibhafte Falschheit und sich selber als die leibhafte Wahrheit versteht. Zwar haben oft in der Geschichte Völkergruppen und Religionsverbände einander so radikal gegenübergestanden, daß die eine Seite die andere in deren innerster Existenz verneinte und verdammte. Jetzt aber ist es die menschliche Bevölkerung des Planeten Erde überhaupt, die sich so aufgeteilt hat, und mit seltenen Ausnahmen wird allerorten diese Aufteilung als die Notwendigkeit des Daseins in dieser Weltstunde angesehen. Wer sich ausnimmt, wird von beiden Seiten verdächtigt oder verlacht. Jede Seite hat das Sonnenlicht in Besitz genommen und hat die Gegenseite in Nacht getaucht, und jede Seite fordert von dir, dich zwischen Tag und Nacht zu entscheiden. Wir erfassen die Entstehung dieses grausamen und grotesken Zustands in den einfachsten Linien, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie

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die drei Prinzipien der Französischen Revolution auseinandergebrochen sind. Dort waren die Abstrakta Freiheit und Gleichheit durch die konkretere Brüderlichkeit zusammengehalten, denn nur wenn Menschen sich als Brüder fühlen, können sie einer echten Freiheit voneinander und einer echten Gleichheit miteinander teilhaftig werden. Als dem Losungswort der Brüderlichkeit sein Wirklichkeitsgehalt entzogen wurde, konnte jedes der beiden übrigen sich gegen das andere etablieren, um dabei immer weiter von seiner Wahrheit abzukommen und sich immer gründlicher mit fremden Elementen, Elementen der Machtsucht und Besitzgier zu vermischen, gebläht und usurpatorisch. In solchem Stand der Dinge ist der Mensch mehr als je geneigt, sein eignes Prinzip in dessen ursprünglicher Reinheit, das gegnerische hingegen in dessen gegenwärtiger Deteriorierung zu sehen, zumal wenn die Gewalten der Propaganda seine Instinkte bekräftigen, um ihn besser verwenden zu können. Der Mensch begnügt sich nicht mehr, wie in früheren Epochen, das eigne Prinzip für das allein wahre und das ihm gegenüberstehende für durchaus falsch zu halten, er ist überzeugt, daß es auf seiner Seite mit rechten Dingen zugehe, auf der Gegenseite mit unrechten, daß es ihm um die Erkenntnis und Verwirklichung des Richtigen zu tun sei, dem Gegner um die Maskierung seiner selbstsüchtigen Interessen; in der modernen Terminologie ausgedrückt: daß bei ihm die Ideen, bei dem andern nur Ideologien seien. Von dieser Quelle wird das Mißtrauen gespeist, das zwischen den beiden Lagern herrscht. Während des ersten Weltkriegs ist mir offenbar geworden, daß sich ein Prozeß vollzieht, den ich bisher nur geahnt hatte: die zunehmende Erschwerung des echten Gesprächs, und ganz besonders des echten Gesprächs zwischen Menschen verschiedener Art und Gesinnung. Der unmittelbare, rückhaltlose Dialog wird immer schwerer und seltener, immer unbarmherziger drohen die Abgründe zwischen Mensch und Mensch unüberbrückbar zu werden. Dies, so ging mir damals, vor 35 Jahren, auf, ist die eigentliche Schicksalsfrage der Menschheit. Seither habe ich unablässig darauf hingewiesen, daß die Zukunft des Menschen als Mensch von einer Wiedergeburt des Dialogs abhängt. Ich habe daher eine starke Genugtuung empfunden, als ich vor kurzem die Worte las, in denen einer der nicht eben häufigen zuständigen Männer, Robert Hutchins, die Wichtigkeit und Möglichkeit einer Civilization of the Dialogue formulierte. »The essence of the Civilization of the Dialogue«, sagt Hutchins, »is communication. The Civilization of the Dialogue presupposes mutual respect and understanding, it does not presuppose agreement.« Und weiter: »It is no good saying that the Civilization of the Dialogue cannot arise when the other party will not talk. We have to find the way

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to induce him to talk.« Hutchins empfiehlt als Mittel dazu, Interesse und Verständnis für das zu zeigen, was der andere zu sagen hat. Aber für all dies besteht jedoch eine wesentliche Voraussetzung: es gilt, das massive Mißtrauen im andern zu überwinden, aber auch das in uns selbst. Ich meine damit nicht das angestammte Urmißtrauen, etwa das gegen den Artfremden, den Unsteten, den Traditionslosen, das Mißtrauen des Bauern im abgelegenen Gehöft gegen den plötzlich vor ihm auftauchenden Landgänger. Ich meine das universale Mißtrauen unseres Zeitalters. Nichts steht dem Aufstieg einer Kultur des Dialogs so sehr im Wege wie die dämonische Macht, die unsere Welt regiert, die Dämonie des grundsätzlichen Mißtrauens. Was hilft es, den andern zum Reden zu bewegen, wenn man grundsätzlich im Sinne hat, dem was er sagen wird keinen Glauben zu schenken? Schon die Begegnung mit ihm vollzieht sich unter der Perspektive seiner Unzuverlässigkeit. Und diese Perspektive ist nicht unberechtigt; denn unter der entsprechenden Perspektive vollzieht sich ja seine Begegnung mit mir. Das grundsätzliche Mißtrauen, in die Erscheinung tretend, erzeugt Grund zum Mißtrauen, und so fort und fort. Es ist wichtig, deutlich wahrzunehmen, worin sich das spezifische moderne Mißtrauen von dem uralten, ja dem Menschenwesen anscheinend inhärenten unterscheidet, das in allen Kulturen seine Zeichen hinterlassen hat. Immer hat es zahllose Situationen gegeben, wo ein Mensch im Umgang mit einem Mitmenschen vom Zweifel ergriffen wurde, ob er ihm vertrauen dürfe, d. h. ob der andere auch wirklich meine, was er sagt, und ob er handeln würde, wie er spricht; wo ein Mensch glaubte, sein Lebensinteresse fordere von ihm, den Verdacht zu hegen, der andere lege es darauf an, ihm anders zu erscheinen als er ist, und er müsse auf der Hut sein, das andrängende Scheinbild abzuwehren. In unserer Zeit ist etwas wesentlich anderes hinzugekommen, das mit weit größerer Mächtigkeit die Grundlagen des zwischenmenschlichen Daseins zu untergraben geeignet ist. Es wird nun nicht mehr einfach befürchtet, der andere verstelle sich willentlich, sondern es wird schlechthin vorausgesetzt, er könne gar nicht anders; die bei ihm angenommene Differenz zwischen Meinung und Äußerung, zwischen Äußerung und Handlung wird hier nicht mehr als Absicht, sondern als Wesensnotwendigkeit verstanden. Der andere teilt mir den Aspekt mit, den er von einem bestimmten Gegenstand gewonnen habe, aber ich nehme seine Mitteilung gar nicht wirklich zur Kenntnis, sie ist mir nicht ein ernstzunehmender Beitrag zur Information über diesen Gegenstand; ich höre vielmehr vor allem etwas heraus, was den andern antreibe, das zu sagen was er sagt, ein unbewußtes Motiv, einen »Komplex« etwa. Er äußert einen Gedanken über

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ein Lebensproblem, das mich beschäftigt, aber ich frage mich gar nicht nach dem Wahrheitsgehalt des Geäußerten, ich achte nur darauf, welches Interesse der Gruppe, der der andere angehört, sich in dieses dem Schein nach so sachliche Urteil verkleidet habe; die Idee ist mir, eben als die Idee des andern, nur noch eine »Ideologie«. Die Hauptaufgabe im Umgang mit meinem Mitmenschen wird mehr und mehr, ihn, sei es individualpsychologisch oder soziologisch, zu durchschauen und zu entlarven – wobei im klassischen Fall gar nicht mehr eine Larve gemeint ist, die er sich aufgesetzt habe um mich zu täuschen, sondern eine, die sich ihm ohne sein Wissen aufgesetzt, ja geradezu aufgeprägt habe, so daß der eigentlich Getäuschte sein eigenes Bewußtsein ist; dazwischen gibt es natürlich unzählige Übergangsformen. Mit dieser veränderten Grundhaltung, die in den Lehren von Marx und Freud wissenschaftliche Rationalisierungen gefunden hat, ist das Mißtrauen zwischen Mensch und Mensch existentiell geworden. Und zwar im doppelten Sinn: es stellt nicht mehr bloß die Aufrichtigkeit, die Redlichkeit des andern in Frage, sondern die innere Übereinstimmung seines Daseins selber, und es hebt nicht mehr bloß das zuverlässige Gespräch zwischen offenen oder geheimen Gegnern auf, sondern die Unmittelbarkeit des Miteinanderseins von Mensch zu Mensch überhaupt. Die Durchschauung und Entlarvung wird jetzt der große zwischenmenschliche Sport, von dem die ihn treiben freilich nicht ahnen, wohin er sie verlockt. Nietzsche wußte was er tat, als er die »Kunst des Mißtrauens« pries, und wußte es doch nicht – denn das Spiel wird naturgemäß in dem Maße vollständig, als es gegenseitig wird, d. h. in dem Maße, in dem der Entlarvende selber zum Gegenstand des Entlarvens wird. Es ist somit zukünftig ein Grad der vollständigen und vollkommenen Gegenseitigkeit im existentiellen Mißtrauen abzusehen, wo die Rede in Stummheit und der Sinn in Wahnsinn umschlägt. Noch neigt der Mensch dazu, den andern zu schonen, um selber geschont zu werden, denn wenn er auch zuweilen sich anschickt, sich selber in Frage zu stellen, er wird im allgemeinen noch rechtzeitig innehalten mögen; aber die Dämonie läßt nicht mit sich spaßen. Im Grunde ist ja das existentielle Mißtrauen nicht mehr, wie das alte, ein Mißtrauen zu meinem Mitmenschen, sondern es ist die Vernichtung des Vertrauens zum Dasein überhaupt. Daß wir von einem Lager zum andern kein echtes Gespräch mehr führen können, ist das stärkste Symptom der Krankheit des Menschen von heute; das existentielle Mißtrauen ist diese Krankheit selber; aber die Zerstörung des Vertrauens zum menschlichen Dasein ist die innere Vergiftung des gesamtmenschlichen Organismus, der diese Krankheit entstammt. Alle große Kultur ist in einem gewissen Maße eine Civilization of the

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Dialogue gewesen. Die Lebenssubstanz ihrer aller war nicht, wie man gewöhnlich meint, das Vorhandensein bedeutender Individuen, sondern ihr echter Umgang miteinander; die Individuation war nur die Voraussetzung für die Entfaltung des dialogischen Lebens. Was man den schöpferischen Geist des Menschen nennt, ist nie etwas anderes gewesen als die Ansprache, die denkerische oder künstlerische Ansprache des zum Sagen Berufenen an die zum wirklichen Vernehmen Befähigten und Bereiten; und was sich hier konzentriert hat, war die allgemeine Dynamik des Dialogs. Natürlich gab es zu allen Zeiten schwere innere Hemmungen und Störungen, es gab Verschlossenheit und Unzugänglichkeit, es gab Maskentrug und Verführung; aber wo das menschliche Wunder je und je erblühte, geschah es immer so, daß diese Hemmungen und Störungen überwunden wurden durch die elementare Potenz der gegenseitigen Bestätigung der Menschen. Der eine wandte sich an den andern als an das einmalige Personwesen, das durch alle Irrungen und Trübungen nicht versehrt wird, und empfing des andern Sich-anihn-Wenden, der eine verspürte den andern in dessen alle Scheinbilder überdauerndem Sein, und auch wenn sie einander bekämpften, bestätigten sie einander als das was sie waren. Der Mensch will vom Menschen bestätigt werden als der der er ist, und echte Bestätigung gibt es nur in der Gegenseitigkeit. Trotz dem fortschreitenden Niedergang des Dialogs, der unsere Zeit kennzeichnet, und dem damit verbundenen Wachstum des universalen Mißtrauens dauert das Bedürfnis des Menschen, bestätigt zu werden, fort, aber es findet zumeist keine natürliche Befriedigung mehr. So begibt sich der Mensch auf einen von zwei Schweinwegen: er sucht entweder von sich selber oder von dem Kollektiv, dem er angehört, bestätigt zu werden. Beide Unternehmungen müssen fehlschlagen. Wen kein anderes Wesen bestätigt, dessen Selbstbestätigung hält nicht stand; er muß sich mit immer krampfhafteren Anstrengungen sie wiederherzustellen bemühen, und zuletzt erfährt er sich als unabwendbar preisgegeben. Die Bestätigung durch das Kollektiv aber ist pure Fiktion, denn es gehört zum Wesen des Kollektivs, daß es zwar jedes seiner Mitglieder als diesen bestimmten, so beschaffenen und begabten einzelnen annimmt und verwendet, keinen aber in dessen eigenem Sein, also unabhängig von seiner Brauchbarkeit fürs Kollektiv, anzuerkennen vermag. Der moderne Mensch, sofern er die unmittelbare personhafte Gegenseitigkeit zu seinem Genossen aufgegeben hat, kann für das verlorene Bestätigtsein nur noch ein illusionäres eintauschen. Hier gibt es keine andere Rettung als durch die Erneuerung des dialogischen Verhältnisses, und das heißt vor allem durch die Überwindung des existentiellen Mißtrauens.

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Wo hat der Wille zu dieser Überwindung anzusetzen? Genauer: von welcher geistigen Position aus ist der Mensch, für den das existentielle Mißtrauen schon zur selbstverständlichen Eingangssituation im Umgang mit seinen Mitmenschen geworden ist, zur Selbstkritik in diesem wesentlichen Belange zu veranlassen? Es ist eine Position, die als Kritik der Kritik bezeichnet werden kann. Es handelt sich darum, einen fundamentalen und ungeheuerlich einflußreichen Irrtum aller Durchschauungsund Entlarvungstheorien aufzuzeigen. Das Wesen dieses Irrtums ist, daß man ein vordem nicht oder zu wenig beachtetes, nun entdecktes oder erhelltes Element im seelischen und geistigen Bestand des Menschen mit seiner Gesamtstruktur identifiziert, statt es in diese einzugliedern. Es müßte ein führendes methodologisches Postulat für alle anthropologische Erkenntnis im weitesten Sinne sein, daß jedes neuentdeckte und neuerhellte Element auf sein relatives Gewicht hin im Verhältnis zu den anderen, bereits einigermaßen bekannten und erklärten Elementen und in seiner Wechselwirkung mit ihnen zu erfassen ist. Die einleitenden Fragen müßten sein: welche Proportion besteht zwischen ihm und den anderen; in welchem Maße und in welcher Weise schränkt es jene ein und wird von ihnen eingeschränkt; in welche Dynamik ist es in den verschiedenen historischen und individualgenetischen Momenten der menschlichen Existenz einbezogen? Die wissenschaftliche Anfangsaufgabe müßte daher jeweils sein: die Demarkationslinien der Geltung für die über das neuentdeckte oder neuerhellte Element aufstellbaren Thesen zu ziehen, d. h. zu bestimmen, innerhalb welches Bereiches sie Geltung beanspruchen dürfen. Die Durchschauungs- und Entlarvungstheorien, sowohl die psychologischen wie die soziologischen, haben es unterlassen diese Linien zu ziehen. Sie haben den Menschen jeweils auf das aufgezeigte Element zurückgeführt. Betrachten wir als Beispiel die Ideologientheorie, wonach Ansichten und Urteile eines, einer bestimmten Gesellschaftsklasse angehörigen Menschen im wesentlichen als Produkt dieser seiner Klassenlage, das heißt im Zusammenhang der Aktion seiner Klasse zur Durchsetzung ihrer Interessen zu untersuchen sind. War das Problem der Klassenlage und ihres Einflusses mit aller Deutlichkeit gestellt, so hätte die wissenschaftliche Eingangsfrage lauten müssen: Da der Mensch in seine Welt als in einen vielfältigen Zusammenhang von beeinflussenden Sphären, von der kosmischen zur erotischen, gefügt ist, als eine von denen sie soziale Schichtung erscheint, in welchem Gewichtsverhältnis und in welcher Wechselwirkung steht der Klasseneinfluß in der Gestalt der Ideologie zu dem nichtideologischen Bestand der Person? Natürlich könnte die Beantwortung solcher Fragen dem wissenschaftlichen Denken vorerst nur als Ziel gesetzt werden, diese Zielsetzung aber

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wäre eine wesentliche Vorbedingung für die Richtigkeit dieses Denkens. Statt dessen haben die Ideologientheorien den Ansichten hegenden und Urteile formulierenden Menschen auf das Ideologische reduziert. Diese schrankenlose Simplifikation hat an der Ausbildung des existentiellen Mißtrauens entscheidend mitgewirkt. Wollen wir dieses Mißtrauen überwinden, so müssen wir nicht etwa hinter sie zurück, in eine unkritische Akzeptation der menschlichen Kundgebungen, sondern über sie hinaus gehen, indem wir der Ideologienkritik immer exakter Maß und Grenze setzen. Was ich meine, ist kein vager Idealismus, sondern ein umfassenderer, ein eindringenderer Realismus, ein größerer Realismus, der Realismus einer größeren Realität. Der Mensch soll nicht durchschaut, sondern in seinem Offenbaren und seinem Heimlichen, in dem Verhältnis beider zu einander immer vollständiger angeschaut werden. Wir wollen ihm nicht blind, wohl aber sehend vertrauen, d. h. wir wollen seiner Vielfältigkeit und seiner Ganzheit, seiner eigentlichen Beschaffenheit inne werden, ohne alle vorgefaßte Meinung über diese oder jene Hintergründe, mit der Absicht, ihn so sehr anzunehmen, zu beglaubigen, zu bestätigen, als uns dieses Innewerden erlauben wird. Erst wenn dies geschieht und soweit es geschieht, wird ein echtes Gespräch zwischen den beiden Lagern beginnen können, in die die Menschheit heute aufgespalten ist. Die es beginnen werden, müssen das apriorische Mißtrauen in sich überwunden haben und fähig sein, ihre Gesprächspartner in der Wirklichkeit ihres Wesens zu erkennen. Und selbstverständlich werden es nicht Menschen sein, die lediglich im eigenen Namen sprechen; hinter ihnen wird die nichtorganisierte Schar jener zu ahnen sein, die sich durch sie vertreten fühlen. Das ist eine ganz andere Art von Vertretung und Vertreterschaft als die politische: nicht in den Zwecken der Stunde gefangen, sondern mit der freien Weitsicht dessen begabt, dem die Ungeborenen entgegenrufen; unabhängige Personen ohne andere Vollmacht als die des Geistes, der bekanntlich heute weniger offenbare Macht hat als je; aber es gibt Weltstunden, in dem trotz allem die Vollmacht des Geistes hinreicht, um die Rettung des Menschen zu unternehmen, und eine solche Stunde scheint mir zu nahen. Die Vertreter, von denen ich rede, werden die wahren Bedürfnisse ihres eigenen Volkes kennen und sich für sie einzusetzen willig sein, aber den wahren Bedürfnissen des fremden sich verstehend zuzuwenden und das wahre Bedürfnis hier und dort aus dem aufgebauschten herauszulösen wissen. Eben deshalb werden sie innerhalb dessen, was man den Gegensatz der Interessen nennt, zwischen Wahrheit und Propaganda unerbittlich scheiden. Erst wenn von der vermeintlichen Masse der Gegensätze nur noch der wirkliche Konflikt zwischen echten Bedürfnissen üb-

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rig sein wird, kann die Erwägung des notwendigen und möglichen Ausgleichs zwischen ihnen anheben. Die Frage, von der auszugehen ist, wird diese scheinbar allereinfachste und doch manche Schwierigkeiten bietende sein: Was braucht der Mensch, jeder Mensch, um als Mensch zu leben? Denn soll nicht der Erdball gesprengt werden, so muß der Mensch, jeder Mensch, bekommen was er braucht um als Mensch zu leben. Aus den Lagern zueinander tretend, werden die in der Vollmacht des Geistes Stehenden miteinander planetarisch zu denken wagen. Was wird sich in letzter Instanz als das Stärkere erweisen, das gemeinsame Vertrauen zum Dasein des Menschen oder das gegenseitige Mißtrauen? Auch wenn die Vertreter, auf die ich hoffe, sich finden, ihr Erfolg wird von den Vertretenen, von ihrer rückhaltlosen Ehrlichkeit, ihrem phrasenfeindlichen guten Willen, dem mutigen Einsatz ihrer Person abhängen; von da allein kann auf Erden den Vertretern die Kraft zukommen, deren sie bedürfen. Die Hoffnung für diese Stunde ist auf die Hoffenden selber, auf uns selber gestellt. Ich meine damit: auf die unter uns, die die Krankheit des heutigen Menschen am tiefsten empfinden und in seinem Namen das Wort sprechen, ohne das es keine Heilung gibt: Ich will leben. Die Hoffnung für diese Stunde geht auf eine Erneuerung der dialogischen Unmittelbarkeit zwischen den Menschen. Aber laßt uns über die drängende Not, die Angst und Sorge dieser Stunde hinausgehen, laßt uns diese Not in dem Zusammenhang des großen Menschenweges sehen und wir werden erkennen: nicht zwischen Mensch und Mensch allein, sondern zwischen dem Wesen Mensch und dem Urgrunde des Seins ist die Unmittelbarkeit verletzt worden. Im Innersten des Widerstreits von Mißtrauen und Vertrauen zum Menschen birgt sich der Widerstreit zwischen Mißtrauen und Vertrauen zur Ewigkeit. Gerät es unserem Munde, wahrhaft Du zu sagen, dann haben wir, nach langem Schweigen und Stammeln, unser ewiges Du von neuem angesprochen. Versöhnung wirkt Versöhnung.

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Unter den mir zu Ohren oder zu Augen gekommenen Aeußerungen über meine – hier veröffentlichte* – New-Yorker Ansprache waren etliche kritische, die mir zu denken gegeben haben. Fast alle besagten sie das gleiche: ich behandelte den Kalten Weltkrieg als eine »abstrakt philosophische« statt als eine »konkret politische« Frage, welch letztere Behandlung ersichtlich darauf hinausläuft, die in beiden Lagern sich häufende Invektivenliteratur noch vermehren zu helfen. Ich habe schließlich eingesehen, daß eine Klärung versucht werden muß. Das intimste Ziel des in meinem Anruf involvierten Angriffs war eben diese Scheidung zwischen primären »politischen« und sekundären »philosophischen« Gesichtspunkten. Ich habe eben von der Politik, von ihrer Perspektive, ihrer Sprache und ihren Gepflogenheiten appelliert, aber nicht an irgendeine Philosophie, sondern gerade an das wahrhaft Konkrete, an das faktische Leben der faktischen Menschen, das von der politischen Fiktionstünche überschmiert und überkrustet worden ist. Vertreter des einen und des andern Lagers bestehen darauf, die Vorwürfe, die sie gegen das gegnerische erheben, machten die einzig beachtenswerte Wirklichkeit der Situation aus. Manches an diesen Vorwürfen ist ja, hüben und drüben, wirklichkeitshaltig genug; aber auch diese Wirklichkeit muß, um in concreto betrachtet werden zu können, erst von der Schlagwortkruste befreit sein. Innerhalb der politischen Maschinerie ist es unmöglich, zum Faktischen vorzudringen. Im geschlossenen Bereiche der exklusiven Politik gibt es kein Mittel, den gegenwärtigen Zustand aufzuheben; sein »natürliches Ende« ist der technisch perfekte Selbstmord des Menschengeschlechts. Diese Ohnmacht des Politizismus, die zu verhehlen es der wirkungskundigen Rhetorik der berufenen Rhetoren beider Lager bald nicht mehr gelingen wird, sie eben gilt es schon heute, eben ehe es zu spät ist, zu erkennen. Es geht jetzt darum, daß die noch nicht (hüben und drüben) totaler Politisierung Verfallenen sich auf sich selber und damit – ganz unphilosophisch konkret – auf das Dasein besinnen. Trotz der gewaltigen Erscheinung der ineinander verbissenen Staatengruppen gibt es doch noch jene, die Menschen. Wenn sie, von hüben und von drüben, ungeachtet der auch ihnen zusetzenden gewichtigen Bedenken gegen das gegnerische System, miteinander zu reden beginnen, nicht mehr als Bauern im Schachfeld agierend, sondern als sie selber im Raum der mensch*

Neue Schweizer Rundschau, September 1952.

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lichen Realität, wird eine jener winzigen Kernänderungen angehoben haben, die eine Wandlung des ganzen Wesens herbeiführen können. Ich meine ja besonders gerade solche, die von der Gerechtigkeit der Idee, von der ihr Regime letztlich herstammt, ursprungsnah überzeugt sind und eben deshalb wissen, daß eine in den Sieg des Regimes mündende Katastrophe den Zusammenbruch der Idee bedeuten würde. Ihnen ist es zuzutrauen und zuzumuten, daß sie zwischen dem phraseologisch aufgebauschten Interessenkonflikt der Völkerverbände und ihren tatsächlichen Interessendifferenzen zu unterscheiden und diese auszugleichen verstehen. Es gibt heute freilich kaum etwas Schwereres, in jedem Belang Schwereres, als im Ringen um das künftige Menschenschicksal sich anderswo als figurenmäßig auf dem großen Spielbrett und anders als nach dessen Regeln von einer Konstellation auf die gegenüber gelagerte zu zu bewegen. Aber soll deshalb auch diesmal noch die sogenannte Geschichte allein zu bestimmen bekommen, was geschieht?

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»Unsere Zeit«, sagte ich 1927**, »will auf allen Gebieten den Lehrer loswerden. Sie glaubt, mit dem Führer allein auskommen zu können. Und das ist zu verstehen. Jene ›geistigen‹ Menschen, die in einer Stunde, in der Ungeheures von der Selbständigkeit und Überlegenheit des Geistes abhing, den Geist, ohne zu wissen, was sie taten, zu einem geschickten und gehorsamen Hündlein machten, das den bestehenden Gewalten, die ihm Parolen hinwarfen, Ideologien apportierte, haben dazu beigetragen, den Geist, die weisende Funktion des Geistes am Leben zu diskreditieren. Anderes, Tieferes wirkte mit. Das Ergebnis ist, daß nicht bloß, was ja auch früher zuweilen geschah, die offizielle Politik der Staaten, sondern auch die inneren Bewegungen und Gruppierungen des Völkerlebens sich vielfach vom Geiste lossagen, ja in ihrer Unabhängigkeit von ihm die Bürgschaft des Erfolgs erblicken. Und sie haben nicht ganz unrecht. Führung ohne Lehre hat Erfolg: man erreicht etwas. Nur daß dieses Etwas, das man so erreicht, etwas ganz anderes und zuweilen geradezu eine Karikatur dessen ist, was man eigentlich erreichen wollte. Und was dann? Solange das Ziel noch reines Ziel war, herrscht Sehnsucht und Hoffnung; aber wenn im ›Erreichen‹ das Ziel sich verkehrt hat – was dann? Gewiß ist das Volk unglücklich, das keinen Führer hat; aber dreifach unglücklich ist das Volk, dessen Führer keinen Lehrer hat.« Was seither in der Welt geschehen ist, hat die Wahrheit meiner Worte in einem Maße bestätigt, das ich damals kaum ahnen konnte. Die erfolgreiche Führung ohne Lehre ist nahe daran, alles, um dessen willen das Leben als Menschen uns lebenswert erschien, zu zerstören. Betrachten wir, was das Wesen dieser erfolgreichen Führung und insbesondere das Wesen ihres Verhältnisses zu dem so geführten Volke nach dem Selbstbekenntnis der Führer ist.

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Von dem damals hebräisch veröffentlichten Aufsatz ist hier Unwesentliches weggelassen, sonst aber nichts daran geändert. In einer in meinem Buch »Kampf um Israel« (1933) S. 150 ff. veröffentlichten Rede.

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2 Mussolini, der einmal den Fascismus als einen »socialismo alla Sorel« bezeichnet hat (noch 1934 hat mir einer seiner engsten Mitarbeiter versichert, sein »Chef« sei noch immer Syndikalist, und der Tag werde kommen, wo er als solcher ans Werk gehen werde), tut einen Schritt über Sorels Theorie des »sozialen Mythus« hinaus, wie ihn die Führung ohne Lehre folgerichtig tun mußte. »Wir haben«, sagt er, »unsern Mythus geschaffen.« Es sei nicht notwendig, daß dieser einen Wirklichkeitsgehalt habe; er sei eben selber Wirklichkeit, weil er »ein Stachel, eine Hoffnung, Glaube, Mut ist«. Und er fügt hinzu: »Unser Mythus ist die Nation.« Hier ist der Mythus nur noch eine brauchbare Fiktion, die »geschaffen« worden ist – brauchbar, weil sie auf die Massen in der erwünschten Richtung einwirkt, nämlich der Proklamation nach, die mythische Größe der Nation zu verwirklichen, tatsächlich aber, den fascistischen Machtkomplex dauerhaft zu verfestigen (Mussolini hat ja selber in einer Kammerrede die Revolution als »den festen Willen, die Macht zu behalten«, definiert). Freilich sollte man meinen, die Fiktion bleibe nur so lange brauchbar, als sie von den Massen nicht durchschaut worden ist, denen es doch nicht darauf ankommen kann, einen »Glauben« zu haben, sondern eine glaubwürdige Wahrheit; und man wundert sich darüber, daß Mussolini diese Enthüllung öffentlich vollzieht. Aber er kennt offenbar seine Massen. Es sind Massen, die an einer glaubwürdigen Wahrheit verzweifelt haben, weil ihnen der vorige Krieg und was darauf folgte nicht bloß die geltenden Wahrheiten zerschlagen, sondern auch den Glauben an Wahrheit überhaupt, das sachliche Vertrauen ausgetrieben haben. Die Norm, die – im Gegensatz zu Mussolinis berühmtem Kernsatz, der das Gegenteil behauptet – in der früheren Welt der Handlung, auch der revolutionären, vorausging, hat versagt, sie ist von der Handlung verleugnet worden und hat sich zum Protest nicht ermannt; eine neue glaubwürdige Norm ist nicht aufgetaucht; so nimmt man aus Verzweiflung die Handlung an, die der Norm vorausgeht und sie bestimmt – nicht als könnte man wirklich an diese Norm glauben, aber da man keinen andern Weg vor sich sieht, als die Handlung mitzumachen, läßt man sie sich eben von der vom Fascismus dargebotenen Norm durch den neugeschaffenen Mythus der »Nation« verklären (noch 1910 hatte Mussolini die nationale Fahne »eine auf einem Misthaufen aufgepflanzte Fahne« genannt). Obgleich das, was er Nation nennt, nur eine Fiktion ist, es ist weiter nichts vonnöten, als die wirkliche Nation und die fiktive in eins zusammenzuwerfen. Ermöglicht wird das dadurch, daß es den »Führer«, die »Führer« gibt. Wenn es den Führer nicht gäbe, würde man keinen Weg vor sich

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sehen; aber er geht ja voran, und da man ihn gehen sieht, nimmt man eben an, daß es ein Weg sei, auf dem er geht, und man geht ihm nach. »Ein Stachel, eine Hoffnung, Glaube und Mut«, sagt Mussolini. Glauben die Massen wirklich? Nun, man meint zu glauben oder lebt auf jeden Fall, als ob man glaubte. »Wir wollen dran glauben«, hat Mussolini, als er noch für die sozialistische Bewegung tätig war, in der Sprache des Pragmatismus gesagt, »wir müssen dran glauben. Der Glaube versetzt Berge, weil er die Illusion verleiht, Berge ließen sich versetzen. Illusion ist vielleicht die einzige Realität des Lebens.« Hoffen die Massen wirklich? Man maskiert seine Verzweiflung als Hoffnung und läßt sich am Ende selber von der Maske täuschen, bis um Mitternacht. Ist man wirklich mutig? Es bleibt einem nichts anderes übrig, als Mut zu zeigen. Ein »Stachel« ist dieser sogenannte Mythus auf jeden Fall. 3

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Ein entscheidender Unterschied zwischen dem fascistischen und dem bolschewistischen Totalitarismus besteht darin, daß dieser von der Überlieferung einer wirklichen Idee ausgeht und auf dem vitalen Verhältnis zu ihr, also auf dem Glauben an eine Wahrheit begründet ist, wogegen der Fascismus im Grunde nichts anderes kennt, als »den festen Willen, die Macht zu behalten«. Mag der Bolschewismus sich in seiner Tendenz zur Machtakkumulation noch so weit von der allem echten sozialistischen Denken gemeinsamen Lebensanschauung entfernt haben, in seinen Zielen bleibt er ideegebunden, und der Blick auf diese Ziele ist es, was seine Massen letztlich zusammenhält. Man braucht nur eine Rede von Lenin mit einer von Mussolini zu vergleichen, um die Gegensätzlichkeit zweier Menschenarten, zweier Daseinsarten zu merken. Wohl scheidet keine historische Persönlichkeit zwischen ihrer Sache und ihrem Selbst. Aber das hebt den großen geschichtlichen Menschen von dem Größe markierenden ab, daß er an die Sache glaubt und seine Person als von ihr ermächtigt versteht. Mussolini hat 1921 von Lenin gesagt, er sei ein artista formidabile, der den an Sprödheit Erz und Marmor überlegenen Menschenstoff bilde – ein den ästhetisierenden Sprecher mehr als seinen Gegenstand kennzeichnendes Bild –, und bald danach hat sich Mussolini selber in dieser »Kunst« versucht. Aber er ist Dilettant geblieben, freilich ein skrupelloser und zunächst erfolgreicher. Lenin hat gebildet, weil er geschaut hat; Mussolini machte sich jeweils daran, das zu bilden, was er jeweils ersann. Lenin will herrschen, weil er seiner Sache dienen will, wie es kein anderer vermag, und ihr diesen Dienst nur zu leisten ver-

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mag, wenn er herrscht. Mussolini will herrschen, weil er nicht dienen will. Mit 27 Jahren schreibt er über Stirners Buch »Der Einzige und sein Eigentum«, es sei »das Evangelium des Individualismus und die größte Dichtung, die je zur Verherrlichung des gottgewordenen Menschen gesungen worden ist«. Als Diktator bekommt er die Möglichkeit, die Rolle eines gottgewordenen Menschen zu spielen, und das erfolgreiche Spiel befriedigt ihn. »Die Idee«, schreibt er nach zehn Jahren Diktatur, »verkörpert sich in wenigen, vielmehr in einem.« Aber glaubt er wirklich daran, was sich angeblich in ihm verkörpert? Auf die Frage, ob er sich, als er in der Stunde der Entscheidung nach Rom fuhr, in der Stimmung eines Künstlers befunden habe, der sein Werk beginnt, oder eines Propheten, der berufen wird, antwortete er: »Eines Künstlers.« Die Frage war eine Literatenfrage, aber die Antwort war eine Histrionenantwort. Ich glaube nicht, daß er, wie man von einem authentischeren Römer, Nero, erzählt, auch noch in der Stunde des Untergangs es fertigbringen wird, sich als »Künstler« zu fühlen.

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4 Tiefer in das Problem der fascistischen Führung lassen uns einige Äußerungen Hitlers* gelangen. Sie unterscheiden sich atmosphärisch von den angeführten Mussolinis dadurch, daß sie nur für einzelne Vertraute, für einen innersten Kreis bestimmt sind. Mussolini macht, wie wir gesehen haben, aus seiner wirklichen Gesinnung zuweilen kein Hehl. Nach der Eroberung von Addis Abeba, auf dem Gipfel seiner Macht also, sagt er zu einer Gruppe von Bauern: »Ich bin mit euch, weil ich weiß, daß ihr mit mir seid.« Hitler sagt wohl zu Bauern oder Arbeitern: »Ich bin mit euch wie ihr mit mir«; aber er würde nie »weil« sagen. Sein faktisches Verhältnis zum Volk äußert er, wie sein faktisches Verhältnis zur Sache, nur jenseits der Öffentlichkeit. Mussolini fand in den Jahren des Aufstiegs ein Vergnügen daran, die Unerschütterlichkeit seiner Macht zu bekunden, indem er seine Gesinnung öffentlich enthüllte; Hitler duldet nicht, daß sich die Linie zwischen der Haltung fürs Volk und der Haltung für die Eingeweihten je verwische. Er ist kein pathetischer Zyniker wie Mussolini; er ist ehrlich vor dem Mikrophon und ehrlich im vertrauten Dialog, nur daß eben die Inhalte der beiden Ehrlichkeiten einander widersprechen. Er ist auch kein Schauspieler wie Mussolini; er ist, sowie er *

Ich habe Rauschnings Mitteilungen benützt, weil dieser offenbar nur den Stil, nicht den Inhalt des Gehörten geändert hat.

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sich der Magie der eigenen öffentlichen oder halböffentlichen Rede überläßt, ein Besessener; wenn er einem Vertrauten sich selber expliziert, hat er die erforderliche Distanz zu seiner Besessenheit und kann Motive bloßlegen, von denen er in den Stunden, da ihn die hysterische Muse seiner tobenden Rhetorik begeistert, nichts spürt. Aber mit diesen Bloßlegungen hat Hitler zur Kenntnis des fascistischen Führertums in seiner erweiterten und umgearbeiteten deutschen Ausgabe erheblich beigetragen – einer Ausgabe, die sich zur italienischen verhält wie die Verwandlung in einen Dämon zur meisterlichen Darstellung dieser Wesensgattung. Wenn man Mussolini betrachtet, kann man von neuem darüber erstaunen und erschrecken, was der Mensch ist; aber wenn man Hitler sieht, wird man vom Schwindel erfaßt. 5

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Der Gegenstand, von dem aus das Verhältnis zwischen der Führung ohne Lehre und den Geführten am unmittelbarsten zu erfassen ist, ist das Gewissen. Vom Gesichtspunkt des Geführten spricht hier Hitlers bekanntester Unterführer, Göring, das Eigentliche aus. »Ich habe kein Gewissen«, sagt er; »mein Gewissen heißt Adolf Hitler«. Damit will er wohl sagen, daß er, seit er Hitler »hat«, das losgeworden ist, was er bis dahin sein Gewissen nannte; er braucht es nicht mehr; Hitler steht an dessen Stelle, sein Befehl regelt das Handeln. Was den Menschen als Menschen auszeichnet: daß er selber richten darf über sein Tun und Lassen, ist nun abgeschafft. Man hört aus Görings Worten das Gefühl der Befreiung. Wie lästig war sie doch, diese fordernde und anklagende Stimme, vor der man die Ohren nicht schließen konnte! Wie einfach und bequem ist es, sich dem Führer zu überantworten, der alles Nötige besorgt! So der Geführte. Man darf aber nicht etwa meinen, Hitler habe nun das Gewissen für alle. Das lehnt er nachdrücklich ab. »Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung«, sagt er. Auch er ist offenbar das Gewissen losgeworden; wir können nur nicht wissen, wann und wie; denn er hat ja nicht, wie die Geführten, in einer bestimmten Stunde seines Lebens statt eines Gewissens einen Hitler bekommen. Er ist das Gewissen der andern, aber er selber hat keins. »Das Gewissen«, sagt er, »ist wie die Beschneidung eine Verstümmelung des menschlichen Wesens.« Er scheint das verstümmelte Glied wiederhergestellt zu haben, indem er der Mensch ohne Gewissen wurde, und damit hat er anscheinend die magische Macht gewonnen, es bei allen von ihm Geführten wiederherzustellen, indem er ihrer aller Gewissen wurde. Das ist ein Vorgang von einem sozusagen religiö-

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sen Pathos, nur eben mit negativem Vorzeichen. Das religiöse Pathos daran scheint Hitler selbst, der einmal vom Nationalsozialismus sagt, er sei »mehr noch als Religion«, kräftig zu empfinden, und zwar als Vernichtung des »jüdischen« Christentums durch ein Antichristentum. »An die Stelle des stellvertretenden Leidens und Sterbens eines göttlichen Erlösers«, sagt er, »tritt das stellvertretende Leben und Handeln des neuen Gesetzgebers, das die Masse der Gläubigen von der Last der freien Entscheidung entbindet.« In Wahrheit ist zwar das Gewissen keine jüdische Erfindung, sondern seit es den Menschen gibt, gibt es diese immer erneute Selbstkonfrontation der Person mit dem Bilde dessen, was zu werden ihr zugedacht und aufgegeben war, und auch die alten Germanen haben es, wie wir aus den isländischen Sagas wissen, verstanden, mit sich selber zu rechten, wenn sie ihre Wesensanlage unerfüllt gelassen hatten. Aber es ist bedeutsam, daß in unserer Zeit der Mensch erstanden ist, in dem die Spannung zwischen dem, was einer ist, und dem, was er sein sollte, aufgehoben ist, der Mensch ohne Gewissen, der hemmungslose Mensch. In dieser seiner völligen und grundsätzlichen Hemmungslosigkeit liegt denn auch in der Tat das Geheimnis von Hitlers Wirkung. »Der Ausdruck ›Verbrecher‹«, sagt er, »stammt noch aus einer überwundenen Welt. Die Vorsehung hat mich zu dem größten Befreier der Menschheit vorbestimmt. Ich befreie den Menschen von der schmutzigen und erniedrigenden Selbstpeinigung einer Gewissen und Moral genannten Chimäre und von den Ansprüchen einer Freiheit und persönlichen Selbständigkeit, denen immer nur ganz wenige gewachsen sein können« (genau genommen, wie wir aus der Äußerung Görings erfuhren, nur ein einziger). »Ich muß die Welt von ihrer historischen Vergangenheit befreien.« Wo haben wir solche lapidaren Sprüche schon gehört? Soweit mir gegenwärtig ist, nirgends in der indogermanischen Welt. Wohl aber findet sich genau Analoges bei einem eigentümlich jüdischen Zersetzungsprodukt des 18. Jahrhunderts, dem Pseudomessias Jakob Frank. »Ich bin gekommen«, sagte er, »um alle Gesetze und alle Glaubenslehren zu vernichten, und mein Verlangen ist, das Leben in die Welt zu bringen … Ihr sollt euch aller Gesetze und Glaubenslehren entledigen und hinter mir hergehen, Schritt um Schritt.« 6 In der von Hitler erstrebten Welt sind nur noch die Führer Personen; das »Volk« steht ihnen als eine Masse von Geisteskastraten gegenüber. »Was

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haben wir das nötig«, sagt er, »Sozialisierung der Banken und Fabriken? Wir sozialisieren die Menschen.« Aber nicht bloß was an personaler Substanz im Volke besteht, auch was noch an volkhafter Struktur in ihm besteht, muß ausgetilgt werden: aller selbständige Zusammenhang, alle selbständige Gliederung im Volk. »Ich mische das Volk«, sagt Hitler. »Ich spreche zu ihm als Masse!« Er mischt das Volk zur Masse. Und in der Tat, wo für die Person kein Platz mehr ist, ist auch für das Volk kein Platz mehr. Ich darf mich noch einmal zitieren. In einem 1936 veröffentlichten Aufsatz schrieb ich von dem Einzelnen, der zugleich im Geist und mit dem Volke lebt: »An dem Ort, wo er steht, erhöht oder unscheinbar, mit den Kräften, die er besitzt, verdichtete Obmacht oder verhallendes Wort, tut er das Seine, um die Menge zu entmengen … Auch wenn er zur Menge zu reden hat, sucht er die Person; denn nur durch Personen, durch Bewährung von Personen kann Volk zu seiner Wahrheit finden und wiederfinden.« Es ist nötig, noch einen Schritt weiter zu gehn und deutlich auszusprechen: Volk im eigentlichen Sinn gibt es nur, wenn es überall in ihm, unten wie oben, bei den Geführten wie bei den Führenden, Element der Person, Sphäre der Person, Freiheit und Verantwortung der Person gibt. Volkssubstanz und latente Personsubstanz sind eins; wo diese niedergehalten wird, wird jene niedergehalten. Die totale Masse ist nicht bloß das Ende des persönlichen Lebens, sie ist auch das Ende des volkhaften Lebens. Um »die bisher auf geschichtlichen Zusammenhängen beruhende Ordnung aufzulösen«, erklärt Hitler, müsse er die Nationen als »die manifesten Formen unserer Geschichte« »in eine höhere Ordnung umschmelzen«. Diese höhere Ordnung wird »Rasse«, genauer »Herrenrasse« genannt. Dieser Rassenbegriff ist keineswegs auf einem gemeinsamen biologischen Typus begründet; man versteht es wohl, daß Hitler von einem Begriff loskommen will, der einen Menschen mit denen zusammenschließt, die ähnlich wie er aussehn. Der neue Rassenbegriff legt sich quer durch das, was man Rassen zu nennen pflegt; er bedeutet gar nichts weiter als »die neue Auslese«. »Ich werde«, sagt Hitler, »durch ganz Europa und durch die ganze Welt diese neue Auslese in Gang bringen, wie sie in Deutschland der Nationalsozialismus darstellt«, womit, wie sich bei genauem Zusehen ergibt, nicht etwa die Partei, sondern die Führerschaft gemeint ist. In Hitlers Zukunftsbild zerfällt die Welt des Menschen in zwei: die Rasse und die Masse, jene der »aktive«, diese der »passive« Teil der Nationen, der sich der »Aktivität« der »Rasse« widerstandslos zur Verfügung stellt oder von ihr gezwungen wird, ihrer Aktivität zu dienen. Wir haben das Wesen dieser Aktivität kennengelernt; es ist die Hemmungslosigkeit. Die werdende Elite der Menschheit, die die

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neue Herrenrasse dann auch biologisch herstellen soll, ist auf der gemeinsamen Hemmungslosigkeit begründet. Was aber ist das Ziel dieser Aktivität? »Es gibt kein fest fixiertes Ziel«, antwortet Hitler. Es gibt keins; denn es gibt keine Wahrheit, die zu verwirklichen man anstreben könnte, keine, der gegenüber der Handelnde verantwortlich wäre. »Es gibt«, sagt Hitler, »keine Wahrheit, weder im moralischen noch im wissenschaftlichen Sinn.« Das bedeutet, es gibt Wahrheit nur im politischen Sinn: wahr heißt, wovon man jeweils will, daß die Masse es für wahr halte, damit die neue Auslese durchsetzen könne, was sie jeweils durchsetzen will. Hitler sagt freilich von ihr, sie sei »der Geschichte verantwortlich«; aber eine faktische Verantwortung vor der Geschichte gibt es nur, wenn es ein Ziel gibt, nicht wenn die Ziele jeweils von den Handelnden abgesteckt werden. »Die vor der Geschichte Verantwortlichen«, sagt Hitler, »wachsen immer sichtbarer in die Rolle des Schicksals und einer die irdischen Grenzen fast schon überschreitende Allmacht hinein … Die Aufrechterhaltung ihrer Macht muß für sie das oberste und einzige Gesetz des Handelns sein.« Für eine faktische Verantwortung vor der Geschichte ist hier jedoch kein Raum gelassen; dieser Begriff ist bei Hitler offenbar ein letztes Residuum der abgeschafften Vergangenheit. An nichts, außer der eigenen Macht glauben, das ist für ihn das notwendige Prinzip des Führers. Auch dies ist – nicht etwa, wie manche meinen, bei Machiavelli, der an den Staat glaubt und an die Macht nur um des Staates willen, wohl aber wieder bei Jakob Frank zu finden. »Ich sage euch«, erklärt Frank seinen Jüngern, »alle Führer müssen ohne Glauben sein.« Mit anderen Worten: der Führer darf an nichts anderes als an sich selber glauben. Damit ist freilich auch schon die Problematik dieses »Glaubens« gekennzeichnet. Denn wahrhaft an sich glauben, nicht krampfhaft sich immer wieder darein versetzen, sondern in großer Gewißheit und Gelassenheit an sich glauben kann nur, wer sich im äußersten Ernst als vom Unbedingten beauftragt und ermächtigt sieht. Das aber kann naturgemäß nur, wer an das Unbedingte glaubt. Für wen das Sein des Unbedingten leer ist, für den ist es mit Notwendigkeit auch das eigene Wesen, und das erfährt er immer, wenn er sich auf sich selber besinnt. Aber Hemmungslosigkeit schließt eben die natürliche Fähigkeit und die ausgebildete Fertigkeit ein, der Besinnung auf sich selber aus dem Wege zu gehen. Jakob Frank und Adolf Hitler sind große Exempel des Menschen ohne Hemmung und gleichsam ohne Besinnung. Ich sage: »gleichsam«; denn wahrscheinlich haben beide erfahren, wie das tut, wenn einem um Mitternacht das eigene Angesicht nackt entgegenstarrt. Aber das ist ein Geheimnis, in das kein anderer eindringt.

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Es ist an der Zeit, uns zu fragen, was geschichtlich den Namen der Führung verdient. Damit kann und darf nur die verantwortliche Führung auf ein geschautes Ziel hin gemeint sein. Der allein darf Führer heißen, der seine Schar, sei es ein Volk, sei es ein Bund aus wenigen Getreuen, verantwortlich auf ein Ziel hinführt, das er schaut. Gläubige Schau auf das Ziel ist das erste, verantwortliche Führung auf es hin das zweite. Beim ersten kommt es nicht darauf an, wie der Führer in seinem Bekenntnis das nennt, woran er glaubt; wenn nur das Ziel ihm das Unbedingte, an das er glaubt, vertritt, Sinn und Bestand vom Unbedingten empfängt. Beim zweiten kommt es nicht darauf an, wie dieser Mensch die Instanz nennt, vor der er seine Führung zu verantworten bereit ist; wenn es nur eine lebendige Instanz und die Verantwortung, die er meint, eine reale Verantwortung ist. Was aber der Führer wesentlich zu verantworten hat, ist nicht, ob er und mit ihm das Volk die jeweils von ihm, dem Führer, gesetzten Zwecke erreicht oder nicht, sondern was unterdessen aus dem von ihm geführten Volke geworden ist. Wer die Macht seines Volkes auf Wegen steigert, auf denen das Volk die Fähigkeit verliert, mit seiner Macht etwas Rechtes anzufangen, wer das Volk mächtig und schlecht werden läßt, steht vor der lebendigen Instanz, vor der er sich, mit oder ohne Vorwissen, zu verantworten hat, als Verderber der von ihm Geführten. Ranke sagt von Machiavelli, er sei in dem verzweifelten Zustande seines Vaterlandes kühn genug gewesen, ihm Gift zu verschreiben. Aber es gibt Gifte, die, um eine Scheinheilung herbeizuführen, den Organismus einer allmählichen Zersetzung ausliefern. Wer sie verschreibt, ist nicht kühn zu nennen, sondern frevelhaft. Macht um der Macht willen erstreben heißt das Nichts erstreben. Wer die leere Macht ergreift, greift zuletzt ins Leere. Wille zur Macht, weil man Macht braucht, um die Wahrheit, an die man glaubt, zu verwirklichen, hat eine bauende Kraft; Wille zur Macht als Macht führt aus der Selbstüberhebung der Einzelnen zur Selbstzerstörung der Völker. 1921, ein Jahr nachdem die nationalsozialistische Partei ihren Namen erhielt, schrieb ein deutscher Staatsmann, ein Jude, der das deutsche Volk und das deutsche Reich unglücklich liebte, Walter Rathenau: »Es war ein frivoles Wort, an das wir lange glaubten: Der Herrgott ist mit den stärkeren Bataillonen. Es ist ein wahres Wort, daß das Schicksal mit der tieferen Verantwortung ist.« Heute, nach zwanzig Jahren, neigen nicht in fascistischen Staaten allein sehr viele zu der Meinung, die stärkeren Bataillone bedürften keines Herrgotts. Sie irren sich. Macht ohne echte Verantwor-

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tung ist eine grell verkleidete Ohnmacht. Die stärkeren Bataillone, die an nichts anderes als an den Führer glauben, sind die schwächeren Bataillone. Ihre Schwäche wird in der Stunde offenbar werden, da es auf die Kräfte aus dem Glauben ankommen wird. Und die anderswo der leeren Macht anhangen, werden in ihren Sturz mitgerissen werden.

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8 In den großen Geschichtsepochen ist wichtiges Werk von wichtigen Personen getan worden. In unserem Zeitalter vollziehen sich gewaltige Veränderungen durch Individuen, die dem, was sie bewirken, nicht gewachsen sind, nicht das zulängliche Subjekt ihrer Taten sind, aber es durch ihre Haltung zustande bringen, als die Personen zu gelten, die zu diesen Taten gehören. In Wahrheit sind sie nur die Nutznießer von Situationen. Es sind dies die Situationen der Verzweiflung, in denen der Hemmungslose, der aufsteht und schreit: »Ich will euch einen Weg führen«, Gefolgschaft findet und den Erfolg erringt. Er wußte keinen Weg, er zeigte keinen; aber er ging drauflos, und die Massen folgten ihm. Es ist leicht zu verstehen, daß die Menge in dem Mann, der sich in solcher Stunde die Führung anzumaßen wagt, das Werkzeug der Geschichte, den zur Schicksalswende Ermächtigten sieht; es ist auch zu verstehen, daß dem Menschen, an den so geglaubt wird, Kräfte zuwachsen; aber im Kern der Wirklichkeit bleibt er eben doch der er ist, und je größere Veränderungen die Welt durch ihn erleidet, um so größer wird der Widerspruch zwischen Sein und Schein. Ein anderer Zug im Gesicht des Zeitalters kommt hinzu: es schielt. Es gab Epochen, in denen Barbarenvölker die Kulturländer überströmten; aber sie sagten nicht wie Hitler: »Ja, wir sind Barbaren! Wir wollen Barbaren sein!« Es gab Epochen, in denen Menschen von rücksichtsfreier Brutalität herrschten; aber sie liebäugelten nicht mit ihrer Brutalität. Wo solches geschieht, ist stets Entartung im Spiel. Eine Zeit, die vor dem Spiegel steht und ihre Größe bewundert, entbehrt der Größe. Max Weber hat das Geheimnis der Wirkung eines Führers auf die Geführten als Charisma, Gnadengabe, bezeichnet; aber es gibt etwas, was ich negatives Charisma nennen möchte. Es ist physiognomisch schwer von dem positiven zu unterscheiden. Man muß genau prüfen, wie dieser Mensch »führt«; dann merkt man, daß er auf kein Ziel schaut. Das Streben nach Macht um der Macht willen ist das Kennzeichen des negativen Charismas. Es verfügt über alle Künste der Verstellung. Mussolini, der noch zwei Jahre vor der Machtergreifung schrieb (der Artikel ist natür-

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lich in die Gesamtausgabe seiner Schriften nicht aufgenommen): »Ich gehe vom Individuum aus und ziele gegen den Staat. Nieder mit dem Staat in allen seinen Formen, dem Staat von gestern und von morgen!« ruft unmittelbar vor der Machtergreifung aus: »Auf welchen Wegen wird der Fascismus Staat werden? Wir wollen Staat werden!« Und später erkennt er das Individuum nur noch so weit an, »als es mit dem Staat übereinstimmt«. Hitler, in dessen öffentlichen Äußerungen die Nation eins und alles ist, geht es in Wahrheit um einen weltumspannenden Bund der Machtgewaltigen, die einander in der Erhaltung der Macht über das Menschenvolk unterstützen sollen, um die »Auswahl der neuen Herrenschicht«, die, wie er einmal sagt, »auf Grund ihrer besseren Rasse das Recht hat, zu herrschen«. »Bei uns«, sagt Hitler einmal, »sind Führer und Idee eins, und jeder Parteigenosse hat das zu tun, was der Führer befiehlt, der die Idee verkörpert und allein das letzte Ziel kennt«. Der Führer allein kennt das Ziel; aber es gibt kein Ziel. Der Führer verkörpert die Idee; aber es gibt keine Idee. Die »bessere Rasse« entscheidet, und darüber, wer ihr angehört, entscheiden eben die, die sich zu ihr zählen – vorausgesetzt, daß sie in der Macht sind. Was aber bedeutet dies in concreto? »Es gibt«, sagt Hitler, »immer nur den Kampf der minderrassischen Unterschicht gegen die herrschende höhere Rasse.« Die siegreiche minderrassische Unterschicht proklamiert sich als die höhere Rasse. Übermensch ist, wen keine innere Hemmung abhält zu verkünden: »Ich bin der Übermensch.« 9

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Wir sind dem »gottgewordenen Menschen« schon bei Mussolini begegnet; bei Hitler finden wir ihn wieder. »Der Mensch wird Gott«, sagt er, »das ist der einfache Sinn« – der des Übermenschen Nietzsches nämlich. »Der Mensch ist der werdende Gott.« Der Trivialpathetik dieses Motivs, das einst im Alten Orient und im kaiserlichen Rom zum Hofstil gehörte, ist Napoleon mit einem Witz ausgewichen. »Den Platz Gottvaters?« äußerte er, »ach, ich möchte ihn nicht – das ist eine Sackgasse!« »Im Theages Platos«, sagt Nietzsche, »steht es geschrieben: ›Jeder von uns möchte Herr womöglich aller Menschen sein, am liebsten Gott.‹ Diese Gesinnung muß wieder da sein.« In dem zweifellos nicht von Plato stammenden Dialog spricht die (ungenau zitierten) Worte ein Jüngling, der von seinem Vater als Schüler zu Sokrates gebracht wird; dieser widerspricht seiner hochfahrenden Äußerung nicht; aber er belehrt ihn, indem er ihn auf große Vorbilder, Beispiele des Edlen und Vornehmen, Themi-

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stokles und Perikles, verweist, von denen beiden man sich nicht recht vorstellen kann, daß sie Herr aller Menschen, geschweige denn Gott zu werden wünschten. Nietzsche hat nicht geahnt, daß sich seines Gedankens des »werdenden Gottes« nicht der Typus, den er den »vornehmen Menschen« nannte, sondern gerade der Untermensch bemächtigen würde, der zwar hemmungslos ist, aber im Innersten doch wohl mitunter von Zweifeln angefochten wird und schon deshalb danach streben muß, angebetet zu werden, um gründlich an sich selber glauben zu können. Wir finden bei Nietzsche schon wörtlich die »Absicht, eine regierende Kaste zu züchten – die zukünftigen Herren der Erde«; er hat nicht geahnt, daß es den Hemmungslosen, die in einer künftigen Stunde die Massen mit sich reißen, am leichtesten möglich sein wird, sich diese Absicht anzueignen. Er will dem, den er als den bösen Menschen preist, dem Menschen der großen Leidenschaft, dem Starken, »das gute Gewissen zurückgeben« und ahnt nicht, daß er die Gewissenlosigkeit des Typus stärkt, den er den schlechten Menschen nennt, des Mißgeborenen, Mißbeschaffenen, der, wie wir aus dem Leben primitiver Stämme wissen, leicht in den Ruf des großen Zauberers kommt.

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Es ist den großen unverlierbaren Sprüchen religiöser Botschaft eigentümlich, daß sie mit Situationen verbunden sind. Ihr Ort ist nicht jenseits des menschlichen Getriebes; sie entstehen, wenn sie gesprochen werden. Eine Schar ist gegenwärtig, sei es eine, die von ehedem um den Sprecher zusammengeschlossen war, oder eine, die sich im Augenblick um ihn gebildet hat; an sie wendet sich das Wort, etwa um sie in einer gegebenen Situation anzurufen oder um eine Frage zu beantworten, die eben jetzt, im Zusammenhang einer Situation, laut geworden ist. Anfordernd oder angefordert, redet die Botschaft diese bestimmten Menschen in ihrer besonderen Lage an; mit diesem Gegenwärtigen befaßt sie sich, und auf es will sie wirken. Aber nachdem sie erscholl und damit in das Gedächtnis und die Überlieferung menschlicher Geschlechter eintrat, schöpft jedes von ihnen aus ihr den Rat und die Ermutigung, die Aufrüttelung und den Trost, deren gerade es unter den neuen Bedingungen seines Daseins bedarf. Es erweist sich, daß jener Spruch, weit hinaus über die Erfüllung seiner Ursprungsabsicht, sehr mannigfache Gaben für die sehr mannigfaltigen Situationen historischen und persönlichen Lebens bereit hat, ja wir dürfen wohl sagen, daß er diese Gaben enthält. Die Botschaft wendet sich an eine Schar, und sie wendet sich an die Menschenwelt, – nicht an eine vage und allgemeine, sondern an die konkrete, die jeweilige, geschichtlich beladene und geschichtlich aufgerührte. Die Interpretation wird dem Spruch erst gerecht, wenn sie zu seiner Absicht in der Stunde, da er gesprochen wurde, seine Entfaltung in all den Stunden seiner Wirkung fügt, und in besonderer Weise gerade die in dieser Stunde, in der sie, die Interpretation, sich vollzieht. Die Geschichte erweitert aber nicht allein, sie vertieft auch die Deutung; denn das Schöpfen nähert sich dem Grunde. Jesu Spruch vom Zinsgroschen, von dem ich ausgehen will und muß, um Geltung und Grenze des politischen Prinzips dem Anliegen unserer Geschichtsstunde gemäß zu erörtern, ist eine Botschaft dieser Art. Man hat mit Recht verschiedentlich darauf hingewiesen, daß der Sprecher aus dem Bild des Kaisers auf der vorgezeigten Münze die Pflicht ableitet, dem irdischen Herrscher die Steuer nicht zu verweigern; es scheint mir *

Dieser Vortrag ist im Juni 1953 anläßlich der Verleihung des hansischen Goethepreises an den Verfasser durch die Universität Hamburg und im gleichen sowie im nächstfolgenden Monat an anderen deutschen Universitäten gehalten worden.

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freilich unrichtig, die Bejahung der Pflicht – wie es geschehen ist – dahin zu verstehen, daß diese als eine Rückerstattung bezeichnet werde; denn weder für das zuständige Wissen noch für den gesunden Menschenverstand ist das Geld, das der Staatsbürger erbt oder erwirbt, eine Gabe des Staates aus dessen Eigentum – das Verhältnis des münzenausgebenden Staates zur geldverwendenden wirtschaftenden Gesellschaft, der er das symbolische Tauschmittel zur Verfügung stellt, ist ja ein völlig anderes; und was für uns weit wichtiger ist: das im zweiten Teil des Spruchs anbefohlene Geben an Gott kann nur gezwungenerweise als ein Zurückgeben erklärt werden, ja diese Vorstellung würde den Sinn des Spruchs verbiegen. Vielmehr kann zu Recht nur eine Interpretation bestehen, die ihn unter jene einreiht, an denen, wie zu unserer Stelle gesagt worden ist*, das griechische Verb bedeutet: »leisten, was man in Erfüllung einer Verpflichtung bzw. Erwartung zu geben hat«. Schon aber setzt notwendigerweise jenes Streben ein, von dem ich gesprochen habe: sich dem nicht mehr einer Stunde, sondern allen Stunden zugehörigen Urgrund der Botschaft zu nähern. Wir werden zur Frage genötigt, was das heiße, daß der Mensch Gott etwas geben könne und solle, Mal um Mal, wie er Mal um Mal der über ihn herrschenden irdischen Gewalt etwas geben kann und soll; und weiter, was das heiße, daß als der Gegenstand jener Gabe »das, was Gottes ist« bezeichnet wird, oder in sinngemäßer Wiedergabe des als der aramäische Wortlaut der Rede Anzunehmenden »das, was dem Gotte zugehört« oder »zukommt«, – auf einer und derselben Ebene mit dem, was dem Kaiser zugehört oder zukommt. Daß der Mensch dem Kaiser, der Obrigkeit, dem Staate das zu »geben«, zu leisten gehalten ist, was gerechterweise der Staat von seinem Bürger fordert, was nämlich dem Staate auf Grund des gegenseitigen Verhältnisses als eines Verhältnisses gegenseitigen begrenzten Anspruchs zukommt, ist deutlich genug; aber wie kann das, was er Gott zu geben gehalten ist, damit gleichgestellt werden? Ist denn auch das gegenseitige Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen, in das jede menschliche Kreatur mit ihrem Dasein eintritt, das eines gegenseitigen begrenzten Anspruchs? Hat denn der Mensch überhaupt einen Anspruch an Gott? Wenn er sich an Gott faktisch wendet, das heißt, wenn er in Wahrheit und Wirklichkeit betet, kann er doch kaum einen Augenblick lang in einem Anspruch verharren. Wenn aber Gott einen Anspruch an den Menschen hat, wie könnte der begrenzt werden? Beginnt man das Bemessen dessen, was ein Mensch zu »geben« hat, beim Kaiser, soll dann der Rest, oder der aktuelle Teil des Restes, Gott zufallen? So haben es *

Büchsel im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament II 170.

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offenbar die verstanden, die den Spruch dahin auslegten, man habe der weltlichen Gewalt zu willfahren, solange sie nichts fordert, was im Widerspruch zu der Gott gezollten Verehrung: zu Bekenntnis und Dienst steht, also etwa, daß man dem römischen Kaiser als einem gottartigen Wesen opfere. Aber damit wird doch wohl der göttliche, göttlich anheischende Bereich im Leben des Menschen auf Kult und Konfession reduziert, mit anderen Worten: Gott wird aus dem Herrn des Daseins zum Herrn der Religion gemacht. Beginnen wir hingegen das Bemessen bei Gott, versuchen wir also zunächst ohne Rücksicht auf andere Ansprüche, vorbehaltlos, zu ermitteln, was Gott zukommt, dann treffen wir in der Tiefe der menschlichen Selbsterfahrung auf ein dunkles, aber elementares Wissen des Menschen darum, daß er sich, eben sich selber in der Gesamtheit seiner Existenz Gott schuldet, ein Urwissen, in dem anscheinend die zentrale Kulthandlung, das Opfer, ihren wichtigsten Ursprung hat: der Mensch versteht das von ihm Dargebrachte als den ihm erlaubten sinnbildlichen Ersatz für ihn selber; der Leib des Opfertiers stellt also, wie wir es immer wieder finden, von einer phönizischen Formel bis zu einer des indischen Islam, seinen eigenen Leib dar. Sodann aber treffen wir in der Sprache jener Offenbarung, in deren Tradition Jesus aufgewachsen war und auf die er sich grundlegend berief, das ungeheure Gebot, das er selber als das erste von allen anführt: der Mensch solle Gott »mit seiner ganzen Macht« lieben. Nimmt man den Primat dieses Gebots so ernst, wie Jesus ihn nahm, dann ist primär die Anerkennung eines Sonderbereichs ausgeschlossen, dem der Mensch in konstitutiver Unabhängigkeit von seiner Verbindung mit Gott was immer zu »geben« hätte. Wollen wir die Unruhe, die das Wort vom Zinsgroschen in uns erregt, nicht dadurch beschwichtigen, daß wir es kurzerhand, wie einzelne Theologen getan haben, unter die »Rätselsprüche« versetzen, dann ist es doch wohl an uns, die geläufige Meinung aufzugeben, wonach hier von einer Teilung zwischen verschiedenen Bezirken der gleichen Sphäre die Rede sei. Fußend auf den Erfahrungen all der Geschlechter, die in ihren geschichtlichen Entscheidungen dem Spruche Jesu begegnet sind, aber auch auf dem teuer erkauften Selbstverständnis unserer eigenen Generation, müssen wir uns einer anderen Auslegung zuwenden. Ich kann sie nur in der heutigen Begrifflichkeit anzudeuten versuchen, da, soviel mir bekannt ist, keine frühere sich mit ihr abgegeben hat; aber ihr nichtbegrifflicher Grundgehalt ist unter die unausgesprochenen und der Aussprache unbedürftigen Voraussetzungen zu zählen, wie sie jeder zentrale Mensch mit dem Innenkreis seiner Hörer gemein hat. Die menschliche Person, ontologisch betrachtet, ist nicht eine einzige

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Sphäre, sondern eine Verbindung von zweien. Damit meine ich aber keineswegs etwa die Zweiheit von Körper und Seele, von denen den einen dem Reich des Kaisers, die andere dem Gottes zuzuteilen der Lehre Jesu widerstritte. Ich meine vielmehr, von jenem deuteronomischen Wort »mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Macht« ausgehend, die Sphäre der Ganzheit und die der Sonderung oder Aufteilung. Wenn und insofern der Mensch ganz wird, wird er Gottes und gibt Gott, – er gibt Gott eben seine Ganzheit; alle ihm gewährte Verwirklichung der Ganzheit in irgendeiner Erdensache hängt letztlich und über alle Namengebung hinaus damit zusammen. Sein sterbliches, von der Sterblichkeit geprägtes Leben kann nicht in der Ganzheit verlaufen, es ist an die Sonderung, die Aufteilung gebunden. Er darf und soll aber jener die Weisungen für diese entnehmen. Was er in der Sphäre der Sonderung rechtmäßig tut, empfängt seine Rechtmäßigkeit aus der Sphäre der Ganzheit. In der Predigt des Deuteronomiums folgt bald auf das Gebot der Gottesliebe ein merkwürdiger Doppelsatz. Zuerst wird gesagt, Gott liebe den fremdbürtigen Gastsassen, und dann heißt es: Ihr sollt den Gastsassen lieben. Unsere Liebespflicht zu ihm ergibt sich, in der Sphäre der Sonderung, aus Gottes Liebe zu ihm, dem preisgegebenen Mann, wenn wir in der Sphäre der Ganzheit Gott lieben. So wird je und je auch das Geben an den Staat, das Geben dessen, was ihm in der Sphäre der Sonderung zukommt, von der Sphäre der Ganzheit aus ermächtigt, in der wir Gott das geben, was ihm zukommt, uns selber. Man kann die gleiche Einsicht auch unter anderen Kategorien gewinnen: denen der unmittelbaren und der mittelbaren Beziehung. Denn das in seiner Ganzheit auf Gott gerichtete Wesen steht in der unmittelbaren Beziehung zu ihm, alle unmittelbare Beziehung hat ihren Seinsgrund darin, und alle mittelbare Beziehung kann nur von da her die Wahrheit des Maßes und der Richtung empfangen. Gebt Gott eure Unmittelbarkeit – sagt uns der Zinsgroschenspruch –, und ihr werdet je und je erfahren, was von eurer Mittelbarkeit ihr dem Kaiser geben sollt.

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* Seitdem etliche Gegner Jesu, von den Evangelisten stark simplifizierend »die Pharisäer« genannt, ihn darüber befragten, ob der judäische Mensch von Gott aus gehalten sei, die Steuer zu entrichten oder den passiven Widerstand üben dürfe, sind die Situationen, in denen die Geschlechter der Weltgeschichte mit ihren Situationsfragen dem Spruch Jesu begegneten, immer schwieriger und widerspruchsvoller geworden. Es ging nun nicht mehr um die Fremdherrschaft, sondern um die eigene, und nicht

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um eine Zwangsobrigkeit, sondern um eine, zu deren Legitimität man sich willig bekannte; es ging nicht mehr um gesetzlich geregelte Leistungen, ja überhaupt nicht mehr bloß um die Ausführung von Verordnetem; es ging in zunehmendem Maße um den Menschen selber. Nicht der Staat in seiner empirischen Erscheinung aber erhob zuerst diesen Anspruch, sondern die Staatsdenker, die ihn über die Vielheit seiner empirischen Erscheinungsformen empor ins Absolute erhoben. Das entscheidende Stück des Wegs dahin führt von Hobbes, dem feindlichen Sohn der englischen Revolution, zu Hegel, dem feindlichen Sohn der französischen. Hobbes unterwirft zwar die Auslegung des Wortes Gottes der zivilen Gewalt, hält aber an der unbedingten Überlegenheit des ihr transzendenten Gottes fest, und so kann es hier immer noch, wenn auch de facto nur sekundär und abhängig, das geben, was des Gottes ist. Für Hegel, der darin, »daß der Staat ist«, den »Gang Gottes in der Welt« sieht, in dem die Idee, als der »wirkliche Gott«, sich »mit Bewußtsein realisiert«, für Hegel, der den Volksgeist als »das sich wissende und wollende Göttliche« versteht, gibt es jene als von dem, was des Kaisers ist, unterschieden nicht mehr. Hat der Mensch »nur daran sein Wesen«, was er dem Staat verdankt, hat er »allen Wert«, den er hat, »allein durch den Staat«, dann ist folgerichtig er selber der Zinsgroschen, den er dem »Kaiser« schuldet. An Stelle des empirischen Staats, der diesen Anspruch nicht oder noch nicht zu erheben vermochte – in seiner totalitären Form ist er ihm freilich seither schon recht nah gekommen –, tat und tut es im Zeitalter Hegels, das noch andauert, das politische Prinzip. Es tritt nicht mehr, wie jener, dem Einzelnen gegenüber und fordert ihn an, es durchdringt seine Seele und erobert seinen Willen. Mit dem Namen des politischen Prinzips bezeichne ich das sozusagen praktische Axiom, das in Gesinnung und Haltung eines sehr großen Teils der heutigen Generationen vorherrscht. Als Satz gefaßt, mag es etwa besagen, die öffentlichen Ordnungen seien rechtmäßig die Determinante des menschlichen Daseins. Der Hauptton liegt natürlich auf dem Adverb »rechtmäßig«; das Prinzip will nicht etwa einfach feststellen, daß in der Ära der sogenannten Weltkriege das Schicksal der in ihr Lebenden elementar und immer mehr davon abhängt, was zwischen den Staaten, konkreter ausgedrückt: zwischen ihren Vertretern vorgeht, es will vielmehr festsetzen, daß es sich zu Recht so verhalte, weil die Staatlichkeit eben den Wesensstand des Menschen ausmache, und nicht sie um seinetwillen, sondern er um ihretwillen bestehe. Demnach ist der Mensch wesentlich des Kaisers. Soweit das praktische Axiom waltet, ist der Spruch vom Zinsgroschen faktisch zunichte gemacht. Ob der nach Abzug des Wesentlichen verbleibende Rest noch auf die Rechnung »Gottes« gebucht

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wird, kann, wo man dieses Nomen so weitgehend entweder aus dem Wortschatz gestrichen hat oder es nur noch metaphorisch oder konventionell verwendet, kaum noch von Belang sein. In einer so beschaffenen Menschenwelt Geltung und Grenze des politischen Prinzips im Zeichen des Zinsgroschenspruchs erörtern, heißt an den vorgeblichen Absoluta, den Archonten der Stunde, am entscheidenden Punkte Kritik üben. Es verhält sich ja nicht etwa so, daß in unserem Zeitalter der Absolutheitscharakter irgendeines Seins schlechthin bestritten wäre. Die Relativierung der höchsten Werte, die dieses Zeitalter kennzeichnet, hat vor dem politischen Prinzip haltgemacht. Mehr als das: innerhalb des praktischen Pragmatismus, der die Grundform der Relativierung ist, ist die erste, individualistische Phase, in der die ethischen, noetischen, religiösen Werte auf ihren Nutzen für das Leben des Einzelnen hin geprüft und nur nach dem Maße dieses Nutzens, in der Beziehung auf ihn anerkannt wurden, durch die zweite, kollektivistische abgelöst worden. Hier wird etwa die Wahrheit nicht mehr als das mir, sondern als das »uns« Zuträgliche verstanden und behandelt. Dieses »Wir« ist vorgeblich das der Kollektivität, etwa des »Volkes«, faktisch jedoch das der jeweils Herrschenden. Diese suchen freilich vielfach, im Interesse ihrer Machtbewahrung und Machterweiterung, im Volk den Glauben an die seiende Wahrheit, an die sie selber nicht mehr glauben, zu erhalten. Die individualistischen Relativierungslehren, wie wir sie am grandiosesten von Stirner und Nietzsche vernahmen, werden – in umgekehrter Reihenfolge als in der Geschichte der Sophistik – teils durch die kollektivistischen des Marxismus verdrängt, teils durch die ihnen in manchen Punkten eigentümlich nahestehenden einiger Abarten des Existentialismus, unter denen mir die deutsche Abart, eine ontologische Geschichtsbejahung, besonders wichtig erscheint. Ich kann hier nur auf das unser Problem unmittelbar Angehende hinweisen, wobei zu beachten ist, daß nicht bloß Marx, sondern auch Heidegger wesentlich von Hegel herkommt. Marxens sogenannte »Umkehrung« des Hegelschen Weltbildes ist zugleich eine Reduktion, da er, in den Spuren des großen Vico, von allem Seienden, in Natur und Geist, nur das unserer Erkenntnis zuteilt, an dessen Zustandekommen wir Menschen geschichtlich teilgenommen haben; damit verbindet sich eine noch intensivere Historisierung des Seins als bei Hegel. Scheinbar nun wird hier einzig dem geschichtlichen Wirtschaftsprozeß eine – wiewohl selbstverständlich nur eben historisch existente – Absolutheit zugesprochen, und der Staat gehört nur dem, als solchem relativierten »Überbau« an. Da aber die politischen Ordnungen hier als der Träger der künftigen Wende aller Dinge erscheinen und die

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höchstzentralisierte politische Machtballung als zu deren Bereitung unerläßlich, ist der uneingeschränkte Staat als das unbedingt Bestimmende postuliert, bis jenem eschatologischen Mythus zufolge mit dem Absterben des Staates der Wundersprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit getan werden kann. Auch der Existentialismus Heideggers wurzelt in Hegels Denken, aber in einer tieferen, ja der tiefsten Schicht. Wie für Hegel die Weltgeschichte der absolute Prozeß ist, in dem der Geist zum Selbstbewußtsein gelangt, so sieht Heidegger im geschichtlichen Dasein die Auferhellung des Seins selber geschehen; weder dort noch hier ist Raum für ein Übergeschichtliches, das die Geschichte betrachtet und über sie richtet. Hier wie dort läßt sich das Geschichtliche von seinem eigenen Geschichtsdenken in letzter Instanz bestätigen; hier wie dort ist demgemäß die Besinnung auf den kühnsten Begriff des Menschengeschlechts nicht zugelassen, den Begriff der Ewigkeit, die dem gesamten Geschichtsablauf und damit jeder Geschichtszeit richterlich überlegen ist. Hier wie dort ist die Zeit nicht vom Zeitlosen umgriffen, und die Zeiten erschauern nicht vor einem, der nicht in der Zeit haust, der in ihr nur erscheint. Hier wie dort ist das Wissen des Menschen geschwunden, daß die Zeit gar nicht als ein Letztseiendes, in sich Selbständiges und sich Zulängliches gedacht werden kann und daß jedem Versuch, sie als solches – gleichviel ob als endlich oder als unendlich – zu durchdenken, die Absurdität auflauert. Wird die Geschichtszeit und die Geschichte verabsolutiert, so kann es sich leicht ereignen, daß in der geschehenden Geschichte der zeitbefangene Denker dem aktuellen staatlichen Machtgetriebe den Charakter des Absoluten und in diesem Sinn Zukunftsbestimmenden zuspricht. Danach mag für ein Weilchen der Gnom Erfolg krampfhaft grinsend den Gottessitz der Vollmacht einnehmen. *

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Wie geht es aber zu, daß der Staat überhaupt verabsolutiert werden konnte, da es ihn ja doch lediglich in der Pluralität, als »die Staaten«, gibt, und jeder von ihnen durch den Bestand aller übrigen an seine Relativität gemahnt wird? Hegel konnte den Staat absolut fassen, weil für ihn eben die Historie absolut war und der jeweils in einer geschichtlichen Epoche repräsentativ gewesene Staat ihm die jeweilige Aktualität des Staatseins bedeutete. Man mag dergleichen auch noch bei Heidegger zwischen den Zeilen lesen. Aber in der Konkretheit des gelebten Lebens wird hier eine seltsame Singularisierung vollzogen; sie würde an die Mythen primitiver Stämme erinnern, in denen die Erschaffung der Welt als Erschaffung des

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schmalen Stammes-Territoriums erzählt wird, – wenn es in diesen Mythen nicht um etwas vom Staat Wesensverschiedenes, um etwas zum Unterschied von ihm Leibhaftes und Geheimnisträchtiges, um das Vaterland ginge. Hegel hat die gewaltige Differenz nicht beachtet; er kann etwa schreiben: »Indem der Staat, das Vaterland, eine Gemeinsamkeit des Daseins ausmacht …« Ein Mann wie Jakob Grimm hat da natürlicher empfunden. Es beruht ja aber hinwiederum alle relative Geltung des Staates zum größten Teil gerade auf der Tatsache der Pluralität, da der Schutz nach außen sich zumeist weit nachdrücklicher geltend macht als der nach innen; die feindlichen Gemeinschaften werden zumeist weit stärker spürbar als die gemeinschaftsfeindlichen Elemente in der eigenen. Freilich beläßt der Staat ungern das Maß dieser seiner Geltung in den durch die wirklichen Interessenunterschiede bestimmten Grenzen; er pflegt nicht selten eine Perspektive, die jene Unterschiede der Interessen als radikale Gegensätze erscheinen läßt. Die akkumulierte Herrschaftsmacht liebt es, von einem sozusagen latenten Ausnahmezustand Gewinn zu ziehen; große Sektoren der Wirtschaft neigen begreiflicherweise oft dazu, ihr hierin Hilfe zu leisten; und so tendiert in Zeiten wie der unsern der kalte Krieg dahin, der historische Normalzustand zu werden. Schon im Anbeginn unserer Geschichtsstunde sahen wir Rechtslehrer auftreten, die, diesem Zug der Zeit botmäßig, den Begriff des Politischen dahin definierten, daß hier alles sich nach dem Kriterium »Freund – Feind« ordne, wobei der Begriff des Feindes »die Möglichkeit der physischen Tötung« einschließe. Die Praxis der Staaten hat sich das füglich sagen lassen. Mancher Staat dekretiert die Zweiteilung der Menschheit in lebenswerte Freunde und todeswerte Feinde, und das politische Prinzip sorgt dafür, daß das Dekretierte dem Menschen in Herz und Nieren dringe. Wohlgemerkt, ich spreche nicht von der Kriegshandlung selber, wo die persönlichen Entscheidungen gewissermaßen vorweggenommen sind und im Abgrund des Geschehens Töten sich mit Getötetwerden verschwistert. Ich rede nur von dem Lebensbereich, in dem die freie Entscheidung unversehens unfrei wird. Das anschaulichste Beispiel liefert hier jenes wohl merkwürdigste Gebilde innerhalb der öffentlichen Ordnungen, das wir Partei nennen. Leute, die in ihrem Privatbezirk von der skrupulösesten Rechtlichkeit waren, sahen wir Tag um Tag in der Sphäre ihrer Partei, nachdem diese ihnen angegeben hatte, wer der (in diesem Fall innere) »Feind« sei, mit unanzweifelbar ruhigem Gewissen lügen, verleumden, betrügen, rauben, peinigen, foltern, morden. In den Fabriken des Guten Gewissens wird zuverlässig gearbeitet.

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Ich habe keinerlei Befugnis, zu erklären, das Gruppeninteresse sei unter allen Umständen der sittlichen Forderung zu opfern, zumal mir die grausamen Konflikte der Pflichten und ihre rückhaltlose situationsgemäße Austragung zum Kernbestand eines echten personalen Ethos zu gehören scheinen. Aber das evidente Fehlen eines Seelenkampfes, das Fehlen seiner Wunden und Narben ist mir unheimlich. Ich gehe ja nicht darauf aus, die Geltung des politischen Prinzips materiell zu begrenzen; das ist vielmehr eben das, was sich Mal um Mal, Seele um Seele, Situation um Situation realiter zu begeben hätte; ich meine nur sagen zu dürfen, daß diese Begebenheit offenbar zur Ausnahme geworden ist. Daß man nicht Gott und dem Mammon dienen könne, ist ein restlos wahrer Spruch, denn der Mammon umklammert die Seele und gibt nichts von ihr frei; hingegen meine ich, es sei möglich, Gott und der Gruppe, der einer angehört, zu dienen, wenn man nur herzhaft darauf bedacht ist, Gott auch im Bereich der Gruppe zu dienen, so sehr man kann. So sehr man jeweils kann; »quantum satis« bedeutet in der Sprache der gelebten Wahrheit nicht Entweder-oder, sondern: So-sehr-mankann. Wenn die politische Seinsordnung meine Ganzheit und Unmittelbarkeit nicht antastet, darf sie von mir verlangen, daß ich ihr jeweils so gerecht werde, als ich im gegebenen inneren Konflikt glaube verantworten zu können. Jeweils; denn hier gibt es kein Ein-für-allemal: in jeder Situation, die Entscheidung heischt, ist die Demarkationslinie zwischen Dienst und Dienst neu zu ziehen, nicht notwendig mit Furcht, aber notwendig mit jenem innersten Zittern der Seele, das jeder echten Entscheidung vorausgeht. Ein anderes kommt noch dazu. Wenn rechtschaffene Menschen einer Partei beitreten, tun sie es, weil sie überzeugt sind, diese strebe dem Ziel allgemeinen Charakters zu, dem sie zustreben, und dieses Ziel sei nur unter tatkräftigem Zusammenschluß der Gleichgesinnten zu erreichen. Aber eine Partei besteht aus Realgesinnten eben solcher Art und aus Fiktivgesinnten, die aus irgendwelchen Motiven, zumeist wohl aus einem unentwirrbaren Rattenkönig von Motiven in die Partei eingetreten sind; es mag naturgemäß leicht geschehen, daß die Fiktivgesinnten überwiegen. Wie immer dem sei, dem Realgesinnten kommt es zu, in der Partei die Macht des Fiktiven zu bekämpfen, ohne die Tatkraft der Partei zu lähmen. Ein dorniges Geschäft; aber nicht ohne dieses kann man Gott in der Partei dienen, kann ihm im Bereich der politischen Ordnung das geben, was sein, was Gottes ist. Am deutlichsten zeigt sich, um was es geht, wenn Mittel vorgeschlagen werden, deren Wesen dem Wesen des Ziels widerspricht. Auch hier kann es einem nicht obliegen, prinzipiell vorzugehen, sondern nur, je und je in der Verantwortung die Demarka-

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tionslinie zu ziehen und für sie einzustehen; nicht etwa um seine Seele blütensauber zu halten – das wäre ein eitles und segenloses Beginnen –, sondern um zu verhüten, daß Mittel gewählt werden, die geeignet sind, von dem Weg zum Ziel auf einen Weg zu einem andern, diesen Mitteln wesensgleichen Ziel abzulenken; denn niemals heiligt der Zweck die Mittel, wohl aber können die Mittel den Zweck zuschanden machen. Es dünkt mich, es gebe eine Front, die, nur selten einem von den sie Bildenden bewußt werdend, quer durch alle Fronten dieser Stunde, die äußeren und die inneren, geht. Da stehen sie aneinandergereiht, die Realgesinnten aller Gruppen, aller Parteien, aller Völker, und wissen von Gruppe zu Gruppe, von Partei zu Partei, von Volk zu Volk wenig oder nichts voneinander, und so verschieden die Ziele hier und hier sind, es ist doch eine Front; denn es ist der eine Kampf um die menschliche Wahrheit, der da überall gekämpft wird. Die menschliche Wahrheit aber ist ja nichts anderes als die Treue des Menschen zu der Einen Wahrheit, ihr, die er nicht besitzen, der er nur eben dienen kann, seine Treue zu der Wahrheit Gottes. Der Wahrheit treu bleibend, so sehr er kann, strebt er seinem Ziele zu, und die Ziele sind verschieden, sehr verschieden, aber die Linien, die zu ihnen führen, schneiden sich, über die Ziele hinaus verlängert, in der Wahrheit Gottes, wenn der Weg in Wahrheit gegangen worden ist. Die an der Querfront Stehenden, die voneinander nicht wissen, haben miteinander zu tun. Wir leben in einer Weltstunde, in der das Problem des gemeinsamen Menschengeschicks so widerborstig geworden ist, daß die routinierten Verweser des politischen Prinzips zumeist sich nur noch zu gebärden vermögen, als ob sie ihm gewachsen wären. Sie reden Rat und wissen keinen; sie streiten gegeneinander, und eines jeden Seele streitet gegen ihn selber. Sie brauchten eine Sprache, in der man einander versteht, und haben keine als die geläufige politische, die nur noch zu Deklarationen taugt. Vor lauter Macht sind sie ohnmächtig und vor lauter Künsten unfähig, das Entscheidende zu können. Vielleicht werden in der Stunde, da die Katastrophe ihre letzte Drohung vorausschicken wird, die an der Querfront Stehenden einspringen müssen. Sie, denen die Sprache der menschlichen Wahrheit gemeinsam ist, müssen dann zusammentreten, um mitsammen zu versuchen, endlich Gott zu geben, was Gottes ist, oder, was hier, da eine sich verlierende Menschheit vor Gott steht, das gleiche bedeutet, dem Menschen zu geben, was des Menschen ist, um ihn davor zu retten, daß er durch das politische Prinzip verschlungen wird.

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Staat und Kultur (Rede bei der Zeremonie der Verleihung der Israel-Preise)

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Die Haltung des Staates gegenüber der Kultur nimmt in der Geschichte (sehen wir von Nuancen und kleinsten Differenzierungen ab) zwei prinzipielle Formen an. Der einen Form nach betrachtet der Staat die Kultur als eine Art seinen Zielen nutzbar zu machendes Instrument. Demgemäß nötigt er der Kultur bestimmte Aufgaben auf und bestimmt selbst deren innerste Gestalt. Kunst und Wissenschaft obliegt, der Sache des Staates zu dienen, genauer gesagt: der Sache der jeweiligen Staatsgewalt. Hieraus folgt: der Staat setzt den Maßstab des Schönen und Wahren, und auf diesen Festsetzungen wiederum gründet die Erziehung der heranwachsenden Generationen. Die Vertreter der Kultur gehorchen dem Befehl des Staates und bemühen sich selbst in ihrem Geiste, diesen zu bestätigen und ideel zu untermauern. Der Staat seinerseits hegt und pflegt die gehorchende Kultur und kann sie so zuweilen zur Blüte führen; doch birgt diese Blüte nicht die Kraft zu neuen Formen; Stil entsteht und kommt zum Stillstand; kein Weg führt über die vom Staat gesetzten Grenzen hinaus, ist doch der Geist der Spontaneität in der Gesellschaft gebrochen. Dieser jedoch bildet den Grund jeglicher Neuerung und Selbsterneuerung in der Kultur. So war es beispielsweise im antiken Ägypten. Dort erlegte der Staat der Kunst in erster Linie die Pflicht auf, den Seelen der toten Könige außergewöhnlichen Dienst zu tun; zu deren Bestattung wurden die Pyramiden errichtet, zur Konservierung ihrer Gesichter (in welchen sich dem ägyptischen Glauben zufolge eine weitere Seele befand) wurden Denkmäler errichtet und als Hüterinnen der dem Andenken jener toten Könige gewidmeten Heiligtümer wurden die Sphinxen geschaffen. Auf diese Weise erstand ein wunderbarer Monumentalismus, doch in sich trug dieses schon »langsames inneres Verwelken und Unvermögen zur Neubelebung seiner Jugend«, wie der große Geschichtswissenschaftler Jacob Burckhardt in seinem berühmten Vortrag hierzu bemerkte. Demgemäß übte diese Kultur keinerlei Einfluß auf andere Kulturen aus – außer jemand wollte behaupten, der zweifelhafte, von Napoleon aus Ägypten mitgebrachte Empire-Stil sei von ihr beeinflußt. Der zweiten Form nach erkennt der Staat die Kultur als Ausdruck j e n e r inneren, auch ihn selbst, den Staat, tragenden Kräfte an. Er braucht die Kultur, jedoch nicht als Instrument, sondern als eigenständigen Partner, der gerade kraft seiner Unabhängigkeit in der Lage ist,

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seinen Teil zum Gesamtwerk beizutragen. Hier bemüht sich der Staat darum, die Freiheit der Kultur zu wahren, kann diese dem Staat doch nur in Freiheit das zubringen, was dem Staat zur Erlangung des gemeinsamen Zieles erforderlich ist. Er fordert von der Kultur nicht, daß sie sich in ihrem Werk und in ihrem Bewußtsein seinen, des Staates, Wünschen anpasse; er verläßt sich auf sie, auch wenn die Kultur in gewissen Angelegenheiten andere Meinungen vertritt; er verlangt von ihr nichts anderes, als daß sie originell und mutig sei. Er fördert das Element der Spontaneität, welche die wahre Basis der Kultur ist; e r v e r t r a u t a u f d i e s e s E l e m e n t . Die Förderung, die er der Kultur zuteilwerden läßt, ebnet den Weg für Entwicklung, und da keinerlei Druck auf kommende Generationen ausgeübt wird, vollziehen sich in den Werken der Kultur in rascher Folge Wandlungen, und gerade kraft dieser Wandlungen gelangt das Volk zur Verwirklichung seiner tiefen, auch vom Staat angestrebten Einheit. Als schönes Beispiel hierfür steht das antike Griechenland. Peisistratos wollte die städtische und die ländliche Bevölkerung zu einem Volk vereinen und richtete zu diesem Zweck ein großes städtisches Fest für Dionysos, den Gott der Bauern, ein. Damit legte er den Grund für das griechische Theater; doch wurde den Schauspielveranstaltern weder mittels Befehlen noch mittels Hinweisen von oben bedeutet, welchen Inhalts oder welcher Form das Kunstwerk zu sein habe. Den Dichtern wurde in keiner Weise befohlen, Institutionen des Staates und die Staatsreligion zu schonen. Diese Freiheit nutzten die Dichter je nach dem, wie es ihnen in Sinn kam. Hieraus erwuchs in kurzem Zeitraum das größte Entwicklungssystem der Weltliteratur, dasjenige, welches zweitausend Jahre lang das Drama befruchtete. Wir dürfen uns glücklich schätzen, daß wir die Bürger eines Staates sind, dem Erbe und althergebrachte Tradition den zweiten Weg weisen. Mir scheint, daß unsere Anwesenheit hier, d. h. bei der Verteilung von Preisen die an keine Bedingung außer des objektiven Wertes geknüpft sind, als eine Art Symbol gelten darf für den in den tätigen Personen pochenden Willen, eben auf diesem Weg zu gehen. Das dem Erziehungsminister hierfür zustehende Lob ist das dem Staat von Seiten der Kultur gezeihte Lob.

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Es ist häufig erörtert worden, worauf der führende Anteil von Juden, von deutschen Juden, an der Entstehung der modernen sozialistischen Theorie, aber auch an der modernen sozialistischen Bewegung, soweit sie von dieser Theorie bestimmt war, zurückzuführen ist. Man hat die Tatsache aus der teils bewussten, teils unbewussten Auswicklung des prophetischen Geisteserbes der sozialen Gerechtigkeit abgeleitet, mit Recht, aber man hat, soweit ich sehe, das Eigentliche noch nicht mit zureichender Klarheit erfasst. Das prophetische Element in dem jüdischen Anteil an der sozialistischen Idee hat man im wesentlichen mit der messianischen Hoffnung auf ein Reich der Gerechtigkeit identifiziert, in dem sich die göttliche Absicht der Menschenschöpfung verwirklicht. Gewiss hat der Sozialismus gerade in seinen geistig stärksten und historisch wirksamsten Erscheinungsformen einen eschatologischen Kern. Aber dieser genügt nicht, um den Einfluss des jüdischen Geisteserbes auf die Entstehung des Sozialismus zu verstehen. Die Prophetie hat eine Eschatologie hervorgebracht, wie die ganz anders geartete Lehre Zarathustras eine hervorgebracht hat, aber das Wesentliche ist nicht dies, sondern die Israel allein unter allen Völkern der alten Welt eigentümliche Verknüpfung zwischen der Erfahrung der geschichtlichen Stunde und der Perspektivik der Zukunft, einer fordernden und verheissenden Perspektivik. Der Prophet erkennt klar die zwei gegensätzlichen Möglichkeiten der Entwicklung, die in der historischen Stunde verborgen sind, in der er steht, die eine zeigt in Richtung auf das göttliche Ziel und die andere in die gegensätzliche Richtung. Er übergibt dem Mensch die Entscheidung, ob er in dieser gegenwärtigen Stunde die Errichtung des göttlichen Ziels fördert oder hindert. Dieses Verständnis ist auch zentral für den Sozialismus, der in säkularisierter Form den göttlichen Willen durch die der Geschichte immanenten Gerichtetheit oder Gesetzlichkeit ersetzte. In der Stunde der größten Umwälzung unserer Epoche, nämlich die »industrielle Revolution«, stellt der Sozialismus den Menschen vor die Wahl, ob er das, was die neue Lage gebietet, erfüllen und die Geschichte bei der Erreichung ihres Ziel fördern will oder sich dem verweigert und dann das historische Ziel durch einen furchtbaren Kampf erreicht wird, der alles, was wir Kultur nennen, zerstören wird. In diesem Grundgefühl und dieser Grundhaltung der frühen Soziali-

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sten wirkt das prophetische Geisteserbe fort. Von hier aus scheiden sich ihre Wege. 2. Unter den frühen Sozialisten ist kein anderer so unmittelbar aus eschatologischem Grundgefühl zu seiner sozialistischen Konzeption gelangt wie Moses Hess. In den Tagebüchern, die der Dreiundzwanzigjährige Anfang 1835 beginnt und 1836 fortführt, finden wir nur fragmentarische und unklare Andeutungen seiner Auffassung der gesellschaftlichen Zukunft. Aber in dem Buch, das er 1836 schreibt, der »Heiligen Geschichte der Menschheit« bringt er, trotz des verworrenen schwärmerischen Charakters dieses Buches, doch schon mit hinreichender Klarheit zum Ausdruck, wie er sich damals den Weg zur Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit dachte. Das Buch ist ein kindischer, aber aus echtem Seelenantrieb entstandener Versuch, der eine Interpretation der Geschichte des Menschengeschlechts von seinem Anbeginn mit der Verkündigung einer künftigen Erfüllung der grossen Hoffnung des Menschen verknüpft, der Hoffnung, die auf die Aktualisierung der Einheit gerichtet ist. Diese Sicht der kommenden Einheit hatte Hess schon in dem Tagebuch auf die biblische Weissagung von der Zeit gegründet, da Gott Einer und sein Name Einer sein wird; die Einheit seines Namens ist die Einheit der Menschheit. Nun aber unternimmt er es, mit der prophetischen Zukunftsvision die Einheitslehre des Denkens zu verbinden, in dessen Bann er steht, Spinozas, indem er den Theismus der Propheten durch einen »idealen Pantheismus« ersetzt und die übergeschichtliche Philosophie Spinozas historisiert. Auf der Suche nach einer gerichteten Synthese jüdischen Glaubens und jüdischen Denkens hat er beiden, der Prophetie und Spinoza, den Kern ihres Geistes entzogen, der einen den Glauben an den persönlichen Willen Gottes zur Vollendung und Vollkommenwerdung seiner Schöpfung, dem zweiten die Idee der allumfangenden Gottheit, der gegenüber das, was wir das All nennen, die Gesamtheit von Natur und Geist, nur zwei von ihren unendlich vielen Attributen bedeutet. Diese Scheinsynthese versucht Hess in dem Begriff einer »Einheit des Lebens«, in der sich Natur und Geist verbinden und die nach Selbstverwirklichung auf Erden durch das Einswerden des Menschengeschlechts strebt, zu vollziehen. Man merkt schon hier die Bestrebung des jungen Hegel-Lesers den neuen Lehrer mit Spinoza zu versöhnen, und zwar im Lichte einer biblischen

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Grundanschauung: wie unzureichend seine Kräfte auch sind, versucht er doch offenbar Hegels Rationalisierung des christlichen Prinzips eine Rationalisierung des jüdischen gegenüberzustellen. Trotz der geistigen Unreife und der dilettantischen Schreibweise der »Heiligen Geschichte der Menschheit« ist es unverkennbar, dass der Schlussteil des Buches einen organisch gewachsenen Beginn echten sozialistischen Denkens darstellt. Und es ist gerade die biblische Grundanschauung, die Hess befähigt, Ideen, deren Echo ihm zugeflogen ist, wie etwa die Saint-Simons, in ihren allgemeinen Zügen so zu übernehmen, dass sie, in einen selbständigen Zusammenhang eingefügt, einen neuen selbständigen Charakter gewinnen. Die Menschenwelt ist nach Hess darauf angelegt, auf dem Weg ihrer Geschichte zu Einheit und Gleichheit zu gelangen, darin sich jene »Einheit des Lebens« erfüllt. Diese Zielrichtung ihres Wegs zeigt sich zuerst, noch in durchaus partikularer Form, in einem gesetzgeberischen Werk, das (Hess sagt das nicht ausdrücklich, aber es dient seinem Verständnis, ihn hier zu ergänzen), um ein Volk zu einem »heiligen Stamm« zu machen, in ihm das mögliche Maximum von Einheit und Gleichheit zu verwirklichen strebt. »Im alten Bunde«, sagt Hess, »läuft alles darauf hinaus, Einheit und Gleichheit im Volke zu schaffen und zu erhalten – einen Verband zu bilden, dessen inneres Wesen Einheit, oder Gott, kein Götze, dessen äussere Form Gleichheit … sei. Darum verteilte das Gesetz die Güter ursprünglich gleich unter das Volk und sorgte dafür, dass die Gleichheit, sofern es die Zeitumstände erlaubten, sich erhalte; ohne der vielen anderen Gebote zu gedenken, die alle nur dieses Ziel, Einheit und Gleichheit, im Auge hatten.« Israel war berufen, so dürfen wir wohl Hessens Gedanken ergänzen, der Menschheit die Wirklichkeit von Einheit und Gleichheit vorzuleben. Aber es versagte dem ihm offenbarten Gesetze gegenüber. Der Weg zur Erfüllung wurde in seiner partikularen Gestalt abgebrochen, und es bedurfte einer langen Entwicklung des Menschengeschlechts, ehe er in einer neuen, universalen Gestalt, der des Sozialismus, wieder aufgenommen wurde. In diesem Prozess herrscht jedoch eine mächtige, gleichsam objektive Tendenz, die der Richtung auf das Ziel der Einheit und Gleichheit entgegengesetzt ist. Sie ist in der Institution des vererblichen Privateigentums und in dem diese schützenden historischen Recht verkörpert. Dagegen hat bisher die Richtung auf das Ziel nicht anderswo als in Gefühl und Gedanke gewaltet, die aus den jüdischen Lehren, die Lehre Moses von der Einheit des Volkes, die Jesu von der Einheit des persönlichen Daseins und die Spinozas von der Einheit des Seins gespeist worden sind. Nun jedoch, in unserem Zeitalter hat »die Ungleichheit ihren Höhe-

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punkt erreicht«, und gegen sie erhebt sich die aus all jenen Elementen erwachsene neue Bewegung auf das Ziel der Einheit und Gleichheit zu. Sie ist der Anfang der Vorstellung in ihrer universalen, die Gesellschaft der Menschheit umfassenden Gestalt. Sie meint Hess mit der Überschrift des Schlussteils seines Buches: »Die Zukunft als Folge dessen, was geschehen ist.« Innerhalb dieser Zukunft unterscheidet Hess zwei Stadien: Das erste vorbereitende ist die Aufhebung des Erbrechts, die die Gleichheit der Voraussetzungen einleitet, das zweite, endgültige die Einführung der Gütergemeinschaft, die die Gleichheit radikal verwirklicht. Aber Hess rückt diese Aufgabe noch in eine unbestimmte Zeit ab, und es ist offensichtlich, dass sein Denken und seine Aktivität an ihr nicht unmittelbar interessiert sind; er bezeichnet sie als »das letzte Ziel der alt gewordenen Menschheit«, wobei bemerkenswert ist, dass ein Altwerden der Menschheit keine prophetische, sondern eine apokalyptische Vorstellung ist, die wir besonders aus der »Offenbarung an Esra« (IV. Buch Esra) kennen. Dagegen sieht Hess die eigentliche Obliegenheit unseres Zeitalters darin, das historische Recht aufzugeben. Damit die Menschheit das entscheidende Wegstück zur universalen Gleichheit beschreite, muss erst ein allgemeiner Zustand geschaffen werden, in dem alle Menschen mit gleichen Chancen die persönliche Lebensbahn betreten. Mehr als 3 Jahrzehnte danach, 1869, stand auf dem 4. Kongress der Internationale in Basel, neben der Frage des Gemeinbesitzes am Boden, die Frage der Abschaffung des Erbrechts im Mittelpunkt der Debatte. Der Anarchist Bakunin, den Hess zum Sozialismus gebracht hatte und damals Marxens mächtigster Rivale, forderte sie, seine Gegner sprachen ihr den zentralen Charakter ab. Hess, der gegen Bakunin stimmte, hatte vorher in einem Redeentwurf, in dem er die »soziale Metaphysik«, der er in seiner Jugend gehuldigt hatte, von Grund aus ablehnte, darauf hingewiesen, er sei 1836 »in einer Schrift, die wenigen bekannt sein wird und es auch nicht zu sein verdient«, für die Abschaffung des Erbrechts eingetreten. Aber der alte Hess verkannte, dass der junge in seinem dilettantischen Erstlingswerk, seine Forderung nach einer Gleichheit der wirtschaftlichen Voraussetzungen für alle Menschen nicht von einem metaphysischen Prinzip ausgegangen war, sondern sich auf den geschichtlichen Grundtrieb des Menschengeschlechts stützte, seines inneren Widerstreits, der es zu zersprengen droht, Herr zu werden, und auf den ersten und alles überragenden Versuch, dies exemplarisch an einem Volk zu verwirklichen, durch die Gesetze für das 7. und das 50. Jahr. In dieser Zeit, sieben Jahre nach der Veröffentlichung von »Rom und Jerusalem«, wusste und erklärte Hess zulänglich, wie wichtig der Wert der

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sozialen Gesetzgebung für die Geschichte der sozialistischen Idee und wie groß ihre Bedeutung für die Verwirklichung dieser Idee ist. Bloß hatte sich in Hess bereits ein Widerspruch eingeschlichen, den er nicht aufzulösen vermochte, und anscheinend hatte er keinen starken Willen, ihn aufzulösen. Der Widerspruch entstand anscheinend durch Marx’ Einfluss und aus den ihn überwältigenden Erfordernissen der Stunde. Es ist ein uralter innerlicher Widerspruch zwischen dem Verlangen nach sofortigen Erfolg und dem Glauben, der seinem Charakter nach nur langsam wirkt. Dennoch gibt es keinen Zweifel, dass Hess in seinem tiefsten Innern an seinem Glauben festhielt, und dass ein Kern dessen ihn geistig befruchtete. Er war, sagt ein führender deutscher Soziologe, Ferdinand Tönnies, von Hess, »von den älteren Sozialisten der entschiedenste«. Diese seine Entschiedenheit, die gerade in seinen frühen Schriften sehr stark zu Tage tritt, hängt mit seinem Verwurzeltsein in der biblischen Entschiedenheit zusammen. Ein fortwährender Kampf war in seiner Seele zwischen der Forderung der Stunde und der Forderung der Ewigkeit, und die Forderung der Stunde war die leitende und die Forderung der Ewigkeit war die schöpferische. 3. Die Jahre, die unmittelbar auf das Erscheinen der »Heiligen Geschichte der Menschheit« folgten, bedeuten in Hessens Leben eine Zeit gründlicher Arbeit an sich selbst: Selbstbesinnung, Selbstkritik, Lernen. Er prüft, was er gemacht hat, und findet es unzulänglich: Das Gefühl der Inspiration war trügerisch, denn was ihn wie ein Strom der Eingebung durchblitzte, hat kein echtes Gedankenwerk hervorgebracht. Er prüft seine Art zu denken nach und erkennt sie als inkohärent. Er erkennt, dass man keine Philosophie bauen kann, ohne methodisch philosophiert zu haben, und zugleich, dass er die Philosophen, auf die er sich stützte, nicht gründlich genug erfasst hat. Er geht nun daran, die mangelhafte philosophische Schulung nachzutragen; erst jetzt lernt er Hegel und neben ihm Fichte wirklich kennen und zugleich Spinoza tiefer verstehen. Vor allem aber stellt er erst jetzt an sich selbst die strenge Forderung: nicht dem Gefühl der Inspiration vertrauen, das, wie er an dem unzulänglichen Werk gemerkt hat, trügen kann, sondern der Idee durch methodische Erarbeitung eines klaren Begriffszusammenhangs dienen. Von dieser ernsten Arbeit an sich selbst aus ist es zu verstehen, dass Hessens zweites Buch, das 1839 abgeschlossene »Die europäische Tri-

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archie« von unvergleichlich höherem Wert ist als das erste. Auch es ist nicht einheitlich komponiert, sondern aus verschiedenen Entwürfen zusammengefügt; aber man darf es doch, zum Unterschied von jenen, ein philosophisches Werk nennen. Was uns hier angeht ist, dass es zwar unsystematisch und ohne dass die einzelnen Postulate dargelegt würden, zum erstenmal eine Philosophie des sozialistischen Willens bietet. Es ist Moses Hess gewesen, der als erster den sozialistischen Willen, den Willen zur Aufrichtung einer gerechten Gesellschaft, in das moderne philosophische Denken eingebaut hat: nicht ein umfassendes sozialistisches Programm, das er noch nicht besass, das damals noch niemand, sogar Proudhon noch nicht, formuliert hatte, wohl aber den sozialistischen Willen schlechthin, als den Willen, durch die soziale Tat eine Zukunft des Menschengeschlechts zu bereiten, in der sich die menschliche Einheit verwirklicht. Ich habe vor etwa 45 Jahren in der dritten meiner »Reden über das Judentum«, als ich die Frühschriften Hessens noch nicht kannte, diese drei Prinzipien, das der Einheit, das der Tat und das der Zukunft als die Grundideen des Judentums bezeichnet und halte sie auch heute dafür: kein andres Volk hat mit solcher Geistesmacht die für das tägliche Leben des Menschen verbindliche Einheit Gottes, den unermesslichen Wert der persönlichen Menschentat und die Zukunft als den Raum, in dem sich die Vollendung und Erlösung der Schöpfung unter wesentlicher Mitwirkung des Menschen vollzieht. Für Hess hiess die erste »die absolute Einheit des Lebens«, die zweite und dritte verschmolzen ihm in der Geistestat, die die Verwirklichung dieser Einheit in einer sozialistischen Gesellschaft der Zukunft bereitet. In seinem neuen philosophischen Forschen nahm er alles auf, das ihm diesen seinen Glauben an die drei Prinzipien philosophisch bestätigte. Spinozas Einheitsidee gewinnt für ihn nunmehr einen neuen, für unser Zeitalter entscheidend fruchtbaren Charakter. »Die Idee der absoluten Einheit alles Lebens«, schreibt er in der »Europäischen Triarchie«, »wurde im Anfange unserer Zeit von Spinoza gedacht, und er hat sie so naiv ausgesprochen, ohne weiter auf die hochwichtigen Folgen aufmerksam zu machen, welche aus ihr der Zukunft des sozialen Lebens erwachsen, dass man annehmen muss, er habe jene Folgen, zu welchen er den Grund gelegt hat, selbst noch nicht gekannt.« Die Verknüpfung der Ideen der Tat und der Zukunft in der Gestalt philosophischer Grundbegriffe hatte Hess in dem 1838 erschienenen Buch, »Prolegomena zur Historiographie« des polnischen Hegelschülers Cieszkowski gefunden, das er in »Die europäische Triarchie« zitiert. Cieszkowski, zwei Jahre jünger als Hess, hatte bei Hegel studiert und warf

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nun, in dessen Geiste weiterdenkend, die Frage auf, wie es möglich wäre, die Auffassung der Zukunft als eines integrierenden Gliedes der »Totalität« in die philosophische Betrachtung der Geschichte einzuführen. Dies könne allein dadurch geschehen, dass auf die prophetische und ihre theoretische, historiosophische Determination der Zukunft die dritte, »praktische, angewandte, vollführte, spontane, gewollte, freie« folge, die »die ganze Sphäre der Tat« umfasst und »die Vollführer der Geschichte erzeugt«; »die Philosophie der Praxis: deren konkreteste Einwirkung auf das Leben und die sozialen Verhältnisse, die Entwicklung der Wahrheit in der konkreten Tätigkeit – dieses ist das künftige Los der Philosophie überhaupt.« Diese kühne Anschauung kann man nur dann in ihrer ganzen Intentionsfülle erfassen, wenn man sie im Zusammenhang mit dem polnischen Messianismus jener Zeit sieht, diesen aber (worauf bald danach der größte polnische Dichter Mickiewicz, nachdrücklich hingewiesen hat) in seinem Zusammenhang mit der Prophetie Israels, in der, wie in keiner anderen religiösen Manifestation der Weltgeschichte, die Verkündigung der absoluten Zukunft an die Forderung der freien Tat gebunden war. Es ist aber unumgänglich, die besondere Art des Einflusses von Cieszkowski auf Hess zu beachten. Hess fand hier nicht einen neuen Gedanken, sondern die philosophisch gültige Formulierung der Anschauung, die – wiewohl ohne alle begriffliche Klarstellung – seiner Erstlingsschrift zugrunde gelegen hatte. Die Einsicht in den Abstand zwischen der verworrenen Äusserung von Ahnungen und der genauen Abzeichnung eines geistigen Horizonts hat auf ihn anscheinend tief gewirkt; vermutlich ist sie es, die ihm den entscheidenden Anstoss zu Selbstkritik und zur Selbstschulung gegeben hat. Dennoch nennt er sich jetzt in der Nachfolge Cieszkowski als einer der Menschen, die einen »positiven Übergang« zur Philosophie der Tat vollzogen haben. Der Marxist Georg Lukács, sonst zu dem von Hess vertretenen Sozialismus, den er im Gegensatz zu Marxens materialistischer Dialektik »idealistische Dialektik« nennt, recht kritisch eingestellt, erkennt doch den Ernst des von Cieszkowski und Hess unternommenen Versuchs an, »die Zukunft auf dem Wege der (Hegelschen) Dialektik konkret zu erfassen«; »die Zukunft«, sagt er, »wird hier als konkreter intentionaler Gegenstand der Geschichtsphilosophie methodologisch entdeckt«. In diesem Punkte geht Hess nicht wesentlich über Cieszkowski hinaus. Dagegen hat er in drei anderen die Grundgedanken in bemerkenswerter Weise fortentwickelt oder neue Folgerungen daraus gezogen. Erstens: Die Bedeutung der Perspektivik der Tat für die philosophische Erkenntnis vertieft und erweitert sich zugleich bei Hess. Es geht ihm

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nicht wie Cieszkowski um Geschichtsphilosophie allein. »Natur und Geschichte«, sagt er, »können nicht vom bloss begreifenden, sondern vom tätigen Geist allein erfasst wie manifestiert werden.« Der Geist, der sich zum Sein lediglich rezeptiv verhält, um es in seine Begriffe einzufangen, kann es somit nicht ganz erkennen; erst wenn er sich zum Sein auch tätig verhält, das heisst, wenn und insofern er mit seiner Aktivität an ihm teilnimmt und es so verändert, gewinnt er jene Vollständigkeit der Beziehung zu ihm, aus der die zulängliche Erkenntnis hervorgeht. Zweitens: Cieszkowski deutet die Sphäre, für die und um deren willen die Philosophie die Ideen der Tat und der Zukunft verknüpfen muss, nur an: es ist »das soziale Wirken«. Hess, seinem historisierten Spinozismus getreu, gibt sie exakt an: es ist die in der sozialistischen Gesellschaft verwirklichte Einheit des Lebens. Drittens: Während Cieszkowski die neue Einsicht in der Abstraktion belässt, wendet Hess sie konkret-unmittelbar an, indem er die kommende Revolution (die er nun im Gegensatz zu seiner früheren Auffassung für im höchsten Sinn notwendig hält) als die soziale, also in der Ganzheit des Lebens realisierte, von den bisherigen abhebt, die mit der Reformation als der Revolutionierung des Geistes begannen und mit der französischen als der Revolutionierung der Sitten endeten. (Hess hatte schon zwischen den Eintragungen seiner Tagebücher von 1835 den Entwurf einer Geschichte der französischen Revolution eingeschaltet und hatte seither nicht aufgehört, sich mit ihrer Grösse, aber auch mit ihrer Problematik zu befassen.) Die kommende Revolution, von der Hess, wie später Marx und Engels, meint, sie werde von England ausgehen, wo der soziale Gegensatz zuerst »die Revolutionshöhe erreichen wird – wird vom modernen Geist nicht mehr erlitten«, sondern, im Vordringen seiner Tat in die Zukunft, »geschaffen« werden; »sie wird die praktische κατ εξοχην, diejenige sein, welche nicht nur, wie die früheren, einen relativen, sondern einen absoluten Einfluss auf das soziale Leben ausüben wird.« In diesen drei Punkten hat unverkennbar das Erbgut des jüdischen Geistes in Hess nachgewirkt. Die Bedeutung der Tätigkeit für die Erkenntnis führt auf den biblischen Urbegriff der ‫ דעת‬als aktiven Kontakt zurück; die Aufgabe von der Verwirklichung der Einheit des wirkenden Menschen um der Einheit des Seins willen auf die Überlieferung, dass der zur Einung der Menschen Wirkende Gottes Genosse ist; und der Ganzheits- und Absolutheitscharakter der kommenden Revolution auf den Kern des messianischen Erlösungsglaubens.

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In dem Jahr 1841, zu dessen Anfang »Die europäische Triarchie« erschien, traten in Hessens Leben zwei Ereignisse, die in ihm, in seiner Weltanschauung, in seinem Sozialismus tiefgehende Änderungen hervorriefen, zugleich aber einen inneren Konflikt entfesselten, der in verschiedenen Formen und Graden sein ganzes seitheriges Leben kennzeichnet. Das eine dieser Ereignisse war die Begegnung mit einem Buch, dem im Frühsommer jenes Jahres erschienenen »Wesen des Christentums« von Ludwig Feuerbach, das zweite die Begegnung mit einem Menschen, Karl Marx. Wir haben hier zunächst von dem ersten zu handeln. Feuerbachs Buch und einige bald darauf folgenden kleine Arbeiten von ihm, hat all jene Kreise Deutschlands, die zugleich an der Philosophie und an der kommenden Umwälzung interessiert waren, umdenken gelehrt. Um dies zu verstehen, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass das philosophische Denken das Leben jener deutschen Intellektuellengeneration in einem Maße bestimmte, wie das wohl keiner anderen Generation der neueren Zeit widerfahren ist, sodann aber, dass der radikal gesinnte Grossteil dieser Generation das Verlangen des jungen Europa nach einer grundlegenden Wandlung der gesellschaftlichen und politischen Situation teilte. Das Losungswort für die zu vollbringende Tat erwarteten sie von der Philosophie, aber die das Zeitalter beherrschende Philosophie Hegels bot es ihnen nicht. Wir haben gesehen, wie der junge Hess mit unzulänglichen Mitteln dieser Situation gerecht zu werden suchte, indem er die Zukunft und die Tat zu philosophischen Kategorien erhob. Aber für das Subjekt des Tatvollzugs, der die Zukunftsbereitung sein sollte, fehlte die philosophische Klärung. Das menschliche Wir als der Träger dessen, was Hess in einer Kapitelüberschrift »Unsere Gegenwart oder die freie Tat« genannt hatte, das zu seiner Tat freie menschliche Wir war philosophisch noch unentdeckt, auf diese Entdeckung war Feuerbachs Denken gerichtet. Darum, um dieses Wir als Subjekts der kommenden Tat willen, hat Feuerbach es unternommen, den Menschen philosophisch zu emanzipieren. Er forderte von der Philosophie nicht bloss, dass sie dem »wahren Bedürfnis« der Menschheit, dass sie der »antizipierten Zukunft« entspreche, nicht bloss, dass sie »die empirische Tätigkeit auch als eine philosophische Tätigkeit« anerkenne, sondern auch, dass sie den Menschen zu sich selbst, zur Erkenntnis seiner Souveränität freimache. Bisher, so lehrte er, hat der Mensch sein eigenes Wesen, die Vollkommenheit seines Wesens auf dem Weg der Theologie oder der Metaphysik von sich abgelöst, es objektiviert, es in der Gestalt von Göttern oder von Ideen ins

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Absolute erhoben, und sich selber diesem ihm entfremdeten Wesen unterworfen, sich von ihm aus zu verstehen gesucht, sich von ihm bestimmen lassen. Nunmehr sollte er sich von diesem »Gespensterglauben« freimachen, und zwar durch die neue, alle Theologie und Metaphysik aufhebende Philosophie, die nichts anderes als »der denkende Mensch selbst – der Mensch, der Mensch der ist und sich weiss.« Die Philosophie soll zu Anthropologie werden. Der deutsche Sozialismus, der in einer philosophierenden Menschengruppe seinen Ursprung hatte und an die Philosophie gebunden war, hatte bei Hegel die Methode gefunden, die Geschichte als eine Ordnung zu verstehen; aber die Hinweise, deren es bedurfte, um die gegenwärtige geschichtliche Stunde in ihrem revolutionären Bedürfnis zu erfassen, waren dort nicht zu finden. Nun gab sie Feuerbach her, indem er die geschichtliche Initiative aus den Händen der »Weltvernunft« nahm und in die des Menschen selber legte. Nun brauchte man nicht mehr eine »Spekulation«, wie es bei Feuerbach heisst, zu befragen, für die die Stunde die der Abenddämmerung war, in der der Vogel der Minerva seinen Flug beginnt; Feuerbach stiess die Fenster auf, und man stand in der Morgensonne. Aber für Moses Hess bedeutete die Begegnung mit dem philosophischen Umsturz noch etwas ganz anderes, eine grosse Problematik. Er war ja nicht, wie die anderen, einfach ein Hegelschüler gewesen. Zuerst hatte er auf seinen angestammten Messianismus die Einheitsidee Spinozas gepfropft, der Bürge der Welterlösung war nicht mehr der biblische Gott, sondern die allem Widerspruch überlegene Substanz; aber so wenig hatte Hess das innere Erbgut aufgegeben, dass er auch diesem verwandelten Gott immer wieder eine »Vorsehung« zuschrieb – und in der Tat, wie hätte er ohne Vorsehung Bürge sein können? Dennoch konnte die Bürgschaft anderseits eine immanente, ins Innere der Geschichte selbst gelegte sein; dies wurde Hess durch Hegels Dialektik ermöglicht, die die Prozesse der Weltgeschichte in ihrer gesetzmäßigen Abfolge bestimmte. Nun aber hiess es, dem Erlösungsverlangen in seiner modernen, sozialen Gestalt seinen dialektischen Platz zu verschaffen. Das wurde dadurch erstrebt, dass dem Messianismus die Kategorien der Tat und der Zukunft abgewonnen wurden. Hier aber erhob sich die Frage nach dem Urheber der Tat, dem Bringer der Zukunft, dem souveränen Menschen. An diesem Punkt bot sich Feuerbachs Empörung gegen den Zwang der »Gespenster« als Antwort auf die Frage an. Zum Verständnis dessen, was sich damit vollzog, muss man darauf achten, dass Feuerbach die Gottgestalten und höchsten Ideen nicht als die Versuche des Menschengeschlechts verstand, den Urgrund des Seins

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zu einem Gegenstand des Denkens oder gar des Vorstellens zu machen, sondern als eine Projektion des menschlichen Selbst, in seiner Vollständigkeit und Vollkommenheit in eine aussermenschliche Wirklichkeit. Die Gründlichkeit, mit der das geschah, bewirkte, dass sich hier die Wendung zu einem Atheismus vollzog, der in seiner ursprünglichen Gestalt (Feuerbachs späterer Materialismus war ein Abfall davon) kühner und eindringlicher als irgendein früherer war; Atheismen unseres Zeitalters wie etwa der Nietzsches sind nur Ableger davon. Unter allen, die Feuerbachs Einflussen erlagen, hat wohl kein anderer dadurch eine solche Erschütterung seiner geistigen Grundlage erlitten wie Moses Hess. War doch all sein aktives Zukunftsdenken darauf gestellt, dass Gott – ob er nun, wie zuerst, mehr theistisch oder, wie danach, mehr pantheistisch gedacht war – seine eigene Einheit in der Welt durch das Einswerden der Menschheit verwirklichen wolle. Nun aber trat ihm mit bestürzender Wucht die These entgegen, dass solch ein »exzentrisches« Denken den Menschen behindere, seiner selbständigen Kraft inne zu werden und sie auf die grosse soziale Umwandlung zu sammeln. Hess wurde von dem Gedanken überwältigt, nur der zum vollen Bewusstsein seiner Souveränität und zum vollen Willen zu ihr gelangte Mensch könne in ihr handeln und das Werk des Sozialismus vollbringen; darum nahm er den Atheismus auf sich. Aber er vermochte die entscheidende Voraussetzung dafür nicht zu erfüllen: er vermochte die Lösung des Geheimnisses alles Seins nicht im Menschen zu finden. Wohl, der Mensch ist souverän; aber er steht ja nicht in sich selbst, er steht ja im Sein des Alls – wie ist er vom Sein des Alls aus zu verstehen? Diese, die eigentliche anthropologische Frage hat Feuerbach sich nicht gestellt. Hess hat sie zumindest geahnt. Darum hat er nie aufgehört, sich mit dem Geheimnis des Seins zu befassen, von dem der Mensch abhängig bleibt, wie souverän auch er sich fühle. Und so ist in Hessens Denken ein unauflöslicher Widerspruch geblieben, zwischen dem Atheismus, den er um des Sozialismus willen auf sich genommen hatte, und der Frage auf dem Grund seines Herzens, die dem Atheismus widerstand. Die sozialistische Konsequenz der Souveränitätsidee – dass, wie Hess 1844 es formulierte, »der wahre Humanismus Sozialismus« sei – hat Feuerbach selbst nicht gezogen, wiewohl hier und da leise angedeutet. Es ist Hess, der sie gezogen hat. In einem kurzen, aber prägnanten Aufsatz über »Die Krise der deutschen Philosophie«, der im Herbst des gleichen Jahres 1841 erschien, forderte er, dass das Leben nunmehr »dem errungenen Selbstbewusstsein gemäss« gestaltet werden sollte, wobei er offensichtlich nicht mehr Hegels Begriff des im Menschen aufgebrochenen Selbstbewusstseins des absoluten Geistes, sondern Feuerbachs radikale Umbil-

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dung dieses Begriffs, das erwachte Selbstbewusstsein der Menschheit, das Selbstbewusstsein des »absoluten Menschen« meinte. Er setzt an Hegel unmissverständlich aus, es habe ihm die positive Schöpferkraft gefehlt, »die Masse mit seinen Ideen zu befruchten«. Hier und in Hessens anderen sozialistischen Schriften dieser Lebensperiode ist von jener Vorstellung eines Wegs des Gotteswesens durch die Welt zu ihrer Vollkommenheit, die seine Zukunft bestimmte, nichts mehr zu finden; aber wer nicht bloss den Inhalt des Gesagten, sondern auch den Tonfall des Sprechers vernimmt, ja auch merkt, wann er pausiert und einen Aufruhr seines Herzens bezwingt, erkennt, dass hier in der Tiefe ein Widerspruch unterdrückt wird, der nicht zum Ausdruck, geschweige denn zur Austragung gelangen darf.

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5. Um die gleiche Zeit, als Hessens Aufsatz über die Krisis der deutschen Philosophie erschien, fand seine Begegnung mit Karl Marx statt, der auf Hess einen so faszinierenden Eindruck gemacht hat. Hess sah sich hier ebender Menschenart gegenüber, der er angehören wollte und nicht konnte: was ihm hier entgegentrat, war der klare, konzentrierte, unerbittlich strenge Geist, der der Wirklichkeit, die Phänomene zusammenschauend, zugewandt war und sie folgerichtig durchdachte; Hessens Bewunderung, der er treu geblieben ist, hing mit der im tiefsten Herzen an ihm zehrenden Frage zusammen, ob ihm der Weg dahin nicht verschlossen war, aber auch mit dem dennoch nicht ablassenden Streben danach. Andererseits hatte Marx für die Persönlichkeit von Hess gewiss nie das geringste Interesse. Er liess sich auf seinem Weg zum »Kommunismus« von ihm in manchem anregen, sodann in der Ausarbeitung seiner Idee in wichtigen Punkten, worauf Marx selbst in seiner bedeutenden Schrift »Nationalökonomie und Philosophie« von 1844 hingewiesen hat – von ihm beeinflussen; insbesondere in der Erklärung des Begriffs des Eigentums, den Hess in seinem Artikel »Philosophie der Tat« (1843) vorgebracht hatte, und noch im Jahre 1845 von Hess’ Anschauungen – in seinem glänzenden Aufsatz »Über das Geldwesen« – über den Menschen, der zur Ware wird. Hess, der ein hinreissender Werber war, ist es gewesen, der so entgegengesetzte Denker wie Engels und Bakunin für die sozialistische Idee gewann. Marx und Engels machten von Hess’ Ideen vielfachen Gebrauch in ihrem philosophischen Werk, und ließen ihn auch an ihren Plänen zu Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen teilnehmen; aber sie pflegten über ihn, wie wir aus ihrem Briefwechsel wissen, mit Spott und Verachtung zu spre-

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chen, und später stellten sie ihn, besonders im Kommunistischen Manifest, an die Seite jener Ideologen, von denen sich Hess schon seit geraumer Zeit entfernt hatte; nur dass Hess von Zeit zu Zeit Äusserungen wagte, wie z. B. über die Liebe, deren Kraft grösser wäre als der Egoismus. Einen gedanklichen Einfluss von Marx auf Hess können wir erst einige Jahre später als den umgekehrten feststellen. Aber er ist für unseren Gegenstand von solcher Bedeutung, dass wir das grundsätzlich Wichtige an ihm hier zusammenfassend hier behandeln müssen, und zwar wieder von der deutschen Philosophie jener Zeit, also von Marxens Verhältnis zu ihr aus. Es sind da zwei wesentliche Tendenzen im Denken des jungen Marx, die trotz allen späteren Wandlungen für sein Denken grundlegend geblieben sind. Um beide untereinander zu verstehen, müssen wir davon ausgehen, dass es für Marx darauf ankommt, die menschliche Geschichte und die vom Menschen geschichtlich bearbeitete Wirklichkeit zu erkennen. Er folgt hier des grossen Geschichtsphilosophen Giambattista Vico (16681744) Prinzips, wir könnten nichts erkennen, als was wir selber gemacht haben, d. h. die Prozesse und Produkte der Geschichte. In die philosophische Erkenntnis bezieht Marx nichts schlechthin Aussermenschliches ein. Die erste Tendenz ist: Marx hat im entscheidenden Punkte den antimetaphysischen Aufstand Feuerbachs gegen Hegel mitgemacht. Hegel hatte die Geschichte des Menschengeschlechts als letzte Stufe in den Weg des Weltgeistes zu seiner Selbstverwirklichung, in den Weg der Idee zu sich selbst, von der er einmal sagt, sie sei die Natur des Willens Gottes, in den Weg der Weltvernunft zu ihrer offenbaren Vollkommenheit eingefügt. Feuerbach entthront diese grossen Wesenheiten, diese metaphysischen Gottheiten, zugunsten des realen menschlichen Selbstbewusstseins, eben jenes, das sie aus sich entlassen und verselbständigt hat; er will sie in das Dasein des Menschen zurückziehen. Ein halbes Jahr, ehe Marx Hess kennen lernte, hat er das souveräne menschliche Selbstbewusstsein in der Vorrede zu seiner Dissertation gepriesen, wo er den Gottheiten des aischyleischen Prometheus als den »Spruch der Philosophie gegen alle himmlischen und irdischen Götter« deutet, »die das menschliche Selbstbewusstsein nicht als oberste Gottheit anerkennen«, denn »es soll Keiner neben ihm sein.« – Aber in den nächstfolgenden Jahren bildet sich bei Marx, mit der beginnenden Entwicklung seines sozialistischen Systems, eine kritische Haltung zu Feuerbachs Grundbegriff heraus. Für ein auf exklusiv historischer Erkenntnis aufgebautes System ist dieser Begriff des »allgemeinen Menschen«, des »absoluten Menschen« keine tragfähige Grundlage, denn alle bisherige Geschichte ist gerade aus den menschlichen Differen-

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zen und Dissensen, aus den vielfältigen Fakten und Prozessen, der menschlichen Besonderheiten, des nicht-allgemeinen, sondern unendlich vielfältigen Daseins einander entgegengesetzter Arten, Interessen und Tendenzen des Menschengeschlechts hervorgegangen. Das philosophische Verständnis der Entwicklung aus Gegensätzen, konkret-praktisch gesprochen: das Verständnis des kommenden Sozialismus im Zusammenhang der historischen Klassenkämpfe war von Feuerbach aus nicht zu erlangen. Hier wurde Marx auf Hegels Dialektik zurückverwiesen, in der die gegensätzlichen Selbstbehauptungen ihren Platz im geschichtlichen Werden bekommen. Aber diese neuerliche Rückwendung zu Hegel konnte für Marx ganz und gar nicht eine Rückwendung zu Hegels Grundanschauung des Weltprozesses als einer Bewegung der »Idee« bedeuten. Feuerbachs Anthropologismus blieb das unerschütterliche Ausgangsprinzip, das nur eben einer radikalen Konkretisierung, Historisierung bedurfte. Die historische Dialektik konnte nicht mehr vom Bewusstsein des Menschen aus erfasst werden, als in dem sich das Selbstbewusstsein des Weltgeistes entfalte, sondern nur vom Sein des Menschen als solchem aus, und das heisst, von den geschichtlichen Wandlungen der »wirklichen Lebensproduktion« aus, aus denen sich die Klassenbildungen und Klassenkämpfe ergeben. Auch diese Wendung war bei Hegel vorbereitet, der die Bedeutung der ökonomischen Verhältnisse für die geschichtlichen Zusammenhänge sehen gelehrt hatte; nun machte Marx aus ihnen die Substruktur aller Geschichte. Ein dialektischer Objektivismus erschien Marx nunmehr nur als »Materialismus«, d. h. nur als auf den objektiv gegebenen »materiellen« Bedürfnissen des Menschen begründbar möglich. Die historische Notwendigkeit der kommenden sozialen Wandlungen ergab sich aus der dialektischen Notwendigkeit der in entscheidender Wandlung begriffenen Produktionsverhältnisse; diese Wandlung war unausweichlich berufen, den Sozialismus und den Sieg der proletarischen Klasse zu verwirklichen. Worauf die Verbindlichkeit dieser materiellen dialektischen Notwendigkeit im Gegensatz zu der von Hegel behaupteten ideellen beruht, hat Marx letztlich unerörtert gelassen; die Überzeugung, dass sie verbürgt sei, hat sich das damals begonnene Zeitalter lang erhalten, dessen Ende wir erlebt haben. Marxens gedanklicher Einfluss auf Hess, der offenbar alsbald begann, sowie seine Idee des Sozialismus ausgebildet war und ausgesprochen wurde, steigerte und vertiefte jenen inneren Widerspruch, der in Hess schon durch Feuerbachs Einfluss erregt war. Von den drei Ideen jüdischen Erbguts, denen Hess von Jugend auf anhing, denen der Einheit, der Tat und der Zukunft, hatte er den beiden

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letzteren eine moderne philosophische Gestalt zu verleihen gewusst, in der sie in das Denken seiner Generation und insbesondere in das beginnende sozialistische Denken aufgenommen worden sind. Für die Idee der Einheit hat er nicht das Gleiche zu leisten vermocht; er ist in dieser Hinsicht nicht über einen vagen Spinozismus hinausgekommen, dem er in der Spätzeit seines Lebens eine dynamistische naturphilosophische Grundlage zu geben versucht hat. Aber sein Sozialismus war auf dieser Idee erbaut: Hess sah es als die grosse Aufgabe des Geistes an, durch die Liebe die Einheit zu verwirklichen. Mit diesen Prinzipien, Einheit, Geist, Liebe, meinte er nicht Absoluta, sondern Wirklichkeiten des Menschenlebens, aber eben durch ihr Wirken sollte der Sinn des Seins zur Erfüllung gelangen. »Wir stehen«, schrieb er noch 1844, »an der Pforte dieser neuen Welt der Liebe und fordern Einlass«. Damals lehnte er es noch mit Verachtung ab, den Sozialismus auf die materiellen Bedürfnisse der Menschen, auf die »Not des Magens« zu gründen. Auch so konkret-aktuelle Erscheinungen wie die Neigung proletarischer Kreise in Frankreich zu sozialistischen Ideen lehnte er ab von einem kollektiven Egoismus aus zu verstehen: im Kern jener Bewegung sah er ein »Mitgefühl mit dem Leiden der Menschheit«; und die Entwicklung eines philosophischen Sozialismus in Deutschland verstand er als das Werden eines neuen Humanismus, der lehre, »dass es nicht genug sei, menschlich zu denken, dass man auch menschlich leben müsse.« Aus dieser seiner Grundanschauung von der Aufgabe des liebenden Geistes an einer einigen Menschengesellschaft zog er die praktischen Konsequenzen. Noch 1845, ein Jahr vor seiner »Kapitulation« vor Marx, hat er mit äusserstem Nachdruck betont, dass an die Stelle des Erwerbsprinzips der kapitalistischen Gesellschaft eine »Organisation der Erziehung und der Arbeit« treten müsse, wobei er zwar die Vorstellung, man könne mit der sozialen Erziehung allein, ohne Wandlung der sozialen Verhältnisse, die gesellschaftliche Not beheben, als eine »echt deutsche Illusion« bezeichnete, dennoch aber – wir dürfen hier wohl sagen: als der jüdische Denker, der er war – das geistige Prinzip voranstellte. Man muss daran gehen, die Menschen selber zu ändern, wenn aus geänderten Verhältnissen eine veränderte Menschenwelt erstehen soll. Diese Grundanschauung von Hess gehörte zu denen, die von Marx als mit Sentimentalität ausgestattete Ideologien verworfen wurden. Mit seinem wachsenden Einfluss auf Hess traten an diesen zwei miteinander verbundene Postulate heran. Das erste: In der Geschichte kann keine echte Einheitstendenz wirken, da es den »allgemeinen Menschen« nicht gibt und historisch keine andere Menschheit als die der Klassenkämpfe. Das zweite: Da der Geist ein Überbau der materiellen Lebensverhältnisse

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ist, kann aus deren Wandlung allein keine Wandlung des Menschen und seiner Welt hervorgehen. Vor diese Postulate gestellt, musste Hess anerkennen, dass nicht er, sondern Marx die Zeichen der Zeit richtig gedeutet habe, aber er konnte dessen Grundsätze sich nicht gänzlich zu eigen machen. Den Widerspruch, der sich nunmehr zum Zwiespalt gesteigert hatte, unternahm er dadurch zu überwinden, dass er sich praktisch unter Marxens Führung stellte. Das war nur dadurch möglich, dass er Marx gegenüber die Wahrheitsfrage, die Frage also, der er von Jugend auf mit all seiner geistigen Leidenschaft angefangen hatte, ausschaltete und eine rein taktische Betrachtung an Stelle der prinzipiellen setzte. Das geht unmissverständlich aus dem Wortlaut des Briefs vom Juli 1846 hervor, mit dem, wie Marxens Biograph Mehring sagt, der hervorragendste Vertreter des sog. »wahren Sozialismus« vor Marx und Engels kapitulierte. Es heisst darin: »So notwendig im Anfang eine Anknüpfung der kommunistischen Bestrebungen an die deutsche Ideologie war, so notwendig ist jetzt die Begründung auf geschichtliche und ökonomische Voraussetzungen, sonst wird man weder mit den ›Sozialisten‹ noch mit den Gegnern aller Farben fertig.« Nur dass zum Unterschied von allen anderen »wahren Sozialisten« der Sozialismus von Moses Hess, tief innen, unter all den Anknüpfungen an die deutsche Ideologie, mit den Lehren der Schrift und Spinozas verknüpft war. Auch nachdem Marx ihn bald danach im Kommunistischen Manifest als einen, der »statt der Interessen des Proletariats die Interessen des menschlichen Wesens« vertrat, geächtet hatte, hat sich Hess zum Klassenantagonismus als dem tragenden Geschichtsprinzip bekannt; aber nach den Erfahrungen von 1848 vermag er die Taktik Marxens nicht mehr anzuerkennen. »Sie sind zu materialistisch«, sagt er 1851, »um den Schwung zu haben, der das Volk hinreisst.« Und nun erhebt sich auch die lange niedergehaltene alte Grundanschauung in neuer Gestalt wieder. »Wir sind am Ende einer Welt angelangt«, schreibt Hess, »wir wohnen dem Geburtsakt einer neuen Welt bei.« In dieser Geschichtsstunde werde das Prinzip des allgemeinen Antagonismus, das den Existenzbedingungen der modernen Gesellschaft nicht mehr entspreche, durch das der allgemeinen Assoziation abgelöst werden. Das Prinzip, das Hess schon in der letzten Phase vor seiner »Kapitulation« in den ersten Abschnitten seines Aufsatzes »Über das Geldwesen« in grosser Kraft und Klarheit dargelegt hatte. Hess besass nicht das Ingenium, diese seine Anschauung mit einer breiten selbständigen Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu unterbauen (wie es gleichzeitig Proudhon für eine der seinen verwandten Anschauung tat); aber es gelang ihm, jenen inneren Widerspruch zwar

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zunächst noch nicht zu überwinden, aber doch zu mildern. Die Überwindung hat sich erst in den Tagen vollzogen, in denen Hess »Rom und Jerusalem« konzipierte und die Ideen seiner Jugend im Entwurf der zugleich nationalen und sozialen Wiedergeburt eines Volkes erneuerte, das »im Lichte Gottes« den Völkern auf dem Weg zur Einheit vorauszugehen bestimmt ist.

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Haltet ein! Es ist höchste Zeit, daß wir Menschen den Politikern unseren Standpunkt klarmachen. Wir wollen nicht, daß die Menschheit sich selbst zu vernichten beginnt. Hört auf mit diesem Spiel, bei dem unser aller Leben zum Einsatz kommt und bei dem beide Partner verlieren müssen! Wir gaben euch die Macht, über die ihr heute verfügt, weil wir dachten, ihr seiet Persönlichkeiten, die immer und unter allen Umständen wissen, was sie tun. Wir sehen nun ein, daß wir uns getäuscht haben. Die Spielleidenschaft hat euch der Fähigkeit beraubt, die wahre Natur des Spieles, das ihr treibt, zu erkennen und zu sehen, wohin es führen kann. Ihr kennt euch aus in allen Tricks des Spieles und wandelt sie methodisch ab, aber ihr seid nicht gewahr, daß das Spiel selbst in euren Händen zu etwas anderem geworden ist. Nun wird das Spiel mit euch gespielt. Ihr seht nicht ein, daß, wenn ihr jetzt nicht haltmacht, der Moment kommen muß, und dies vielleicht schon sehr bald, wo der weitere Ablauf der Ereignisse nicht mehr von euch abhängen wird, und wo es auch nicht mehr möglich sein wird, innezuhalten. Wir kennen diesen Ablauf aus früheren Erfahrungen – aber selbst die schlimmste jener Erfahrungen wird ein Kinderspiel sein gegenüber dem, was diesmal kommen wird – wenn es kommt. Diesmal bedeutet das Kriegsspiel Zerstörung aller Länder und Völker – bis es nichts mehr zu zerstören gibt und niemanden, der zerstören kann. Das Grundgesetz alles Spieles heißt: die Erfolgschance darf nicht kleiner sein als das Risiko. Diesmal wird das Risiko unendlich groß, die Chance eines Erfolges gleich Null sein. Haltet ein, solange ihr noch könnt! Und wenn man uns fragt, was dieses »Einhalten« im vorliegenden Fall bedeuten soll, so muß die Antwort lauten: Es hat zu allen Zeiten und überall Interessenkonflikte gegeben, es gibt sie jetzt, und sie werden ausgefochten. Doch ist solchen Streitigkeiten eine Grenze gesetzt – es kommt der Moment, wo ein Kompromiß der einzig vernünftige Ausweg ist. Darunter verstehen wir keine sogenannte Versöhnung oder Befriedigung, sondern ein wohlabgewogenes Abkommen, das vor kommenden Generationen vertreten werden kann, einen Ausgleich der Interessen, der den lebenswichtigen Bedürfnissen der Völker beider Seiten – nachdem die nichtlebenswichtigen zuvor ausgeschieden worden sind – gerecht wird. Der kritische Moment ist gekommen. Was zieht ihr Wissenschafter selbst vor: Gegenseitige Zugeständnisse auf Grund sorgfältiger und fairer Überlegung – oder den ungewollten Selbstmord der Menschheit?

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Ich will nicht von der politischen Situation des Judentums reden, sondern vom jüdischen Glauben und dem, was er hinsichtlich des öffentlichen Lebens dem Menschen zu sagen hat. Der jüdische Glaube braucht dieses Volk, daß es seinen Glauben lebt. Das Volk soll durch seinen Glauben konstituiert werden. Erst vom Glauben, von der Offenbarung her gibt es dieses Volkstum. Erst durch den Empfang des Wortes ist es zu einem Volk geworden. Seine rechtmäßige Existenz hing an der Bedingung, ob es diesen Glauben mit seinem ganzen Leben zu erfüllen bereit war. Diesem Volk war aber nicht ein Glaube gegeben, der nur einen Teil des Menschen beanspruchte, nicht ein Glaube, der nur so über den Wassern schwebt. Sondern gerade das ist das Wesentliche, daß der Glaube sich nicht nur mit einer Abteilung des Lebens begnügen darf, sondern er will, schon seit seinem Anfang am Sinai, das ganze Leben beanspruchen und muß es. Dieser Totalitätsanspruch wird damals erhoben und anerkannt, wo die am Fuße des Berges versammelte Schar gemeinschaftlich das Wort Gottes spricht. Dieser Glaube gibt sich darin kund, daß diese eben Volk gewordene Schar früher schon, ehe sie an den Fuß des Berges gekommen war, den Herrn des Wortes zu ihrem einzigen König ausgerufen hatte. König bleibt er in Zeit und Ewigkeit. Aber dies war nicht nur die Situation für einen geschichtlichen Augenblick. Als nun dieses Volk das Land der Verheißung bekommen hat, versuchen seine Führer, diese Ausrufung des einen Königs zu verwirklichen. Sie nehmen diese Königsverfassung so ernst, als man sie nur nehmen kann, – politisch ernst. Sie wollen eine Gemeinschaft errichten, deren realer Herrscher der Herr ist. Sie wollen Gott die Ehre geben. Gideon lehnt für sich und seine Nachkommen das erbliche Königtum ab mit den Worten: »Ich will nicht über euch herrschen, und auch mein Sohn soll nicht über euch herrschen; der Herr soll über euch herrschen.« (Buch der Richter, 8, 23.) Gott hat auch den Titel des Königs. Unter allen Völkern gab es nur unter diesem Volk die Konzeption des Gottesherrschertums. Eine Staatsverfassung, in der Gott allein Königsrecht hat, dieses reale Ernstmachen mit der Unterwerfung unter Gott – das ist die Geschichte Israels. Daß es das gewagt hat, ist die Lebensberechtigung dieses Volkes. Seither ist dieses Volk Irr- und Abwege gegangen, aber der unbeugsame Wille zu jenem Ernstmachen ist in ihm nicht erloschen. Keine andern Werte sollen für so groß geachtet werden, daß man um ihrerwillen

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Gott verrät. Diesem Gott, der auch heute noch in dem übriggebliebenen Teil dieses Volkes lebt, will es auch dienen, aber in voller Freiwilligkeit. Und dabei kommt es nicht darauf an, daß man Gottes Namen nennt, wenn man nur wahrhaft das Rechte meint. Der Glaube ist die siegende und triumphierende Botschaft. Daß wir diesen Glauben haben, trotz aller unserer Irr- und Abwege, das läßt uns hoffen. Erlösung bedeutet die Vollendung der Schöpfung Gottes zum Reiche Gottes. Ueber alle Hindernisse hinweg glauben wir, daß es diesen Weg Gottes gibt, weil es sein Wille ist. Es ist die Erlösung, die die ganze Welt erfassen wird. Der Erlösungsgedanke kann nicht ruhen, bis daß die ganze Welt, ohne Abstriche, eingeht in das Gottesreich. Das Unreduzierbare an diesem Glauben hat auch den Sinn, daß der Mensch, trotz all seiner Fehler, seinen Anteil am Werk der Vollendung der Schöpfung haben soll. Gott braucht den Menschen, weil er ihn brauchen will. Gott hat ihn zu diesem Genossentum erwählt. Dieser ungeheure und notwendige Gedanke ergibt den Zusammenhang unseres Glaubens mit unserem persönlichen Leben. Menschenreich und Gottgemeinschaft decken sich. Von Menschen gewollte Menschengemeinschaft kann noch nicht Reich Gottes sein. Denn es gehört dazu, daß wir unser Wollen der Menschengemeinschaft mit der Gemeinschaft mit Gott verbinden. Das, was wir bereiten können, kann eingehen in diese von uns nur zu ahnende Welt der Gottesgemeinschaft. Weil es so ist, ist für unsern Glauben die Geschichte der Welt und des Menschengeschlechtes in der Tat glaubenswirklich, und zwar die ganze Geschichte ohne jeden Abstrich. Die Menschen machen es wohl oft so, daß ein Teil der Geschichte herausgenommen und dann heilige Geschichte genannt wird. Aber das heißt, diesen Teil als privilegiert ansehen und ihn von der Geschichte lösen. Jeder solche Partikularismus ist aber der Irrweg. Durch den Mund des Amos spricht Gott so zu seinem Volk: »Seid ihr mir nicht wie das Volk der Mohren, ihr Kinder Israels? Habe ich nicht Israel heraufgeführt aus dem Lande Aegypten, und die Philister aus Kaphtor und die Syrer aus Kir?« (Amos, 9, 7.) Alle diese Völker sind von dem einen Gott befreit worden, wie sie ihn auch nennen. Und bei Jesaja, 19, 23-25, heißt es: »An jenem Tage wird eine gebahnte Straße von Aegypten nach Assyrien führen; der Assyrer wird nach Aegypten kommen und der Aegypter nach Assyrien, und die Aegypter werden mit den Assyrern den Herrn verehren. An jenem Tage wird Israel der Dritte im Bunde sein neben Aegypten und Assyrien, ein Segen inmitten der Erde, die der Herr der Heerscharen segnet, indem er spricht: Gesegnet ist Aegypten, mein Volk, und Assyrien, das Werk meiner Hände, und Israel, mein Erbbesitz!« Diese zwei großen feindlichen Weltreiche

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also, Assyrien und Aegypten, zwischen denen Kanaan lag und die dieses Land immer als Spielball ansahen, sie werden am Ende der Tage von Gott angenommen und Israel gleichgestellt werden. Für alle Zeiten und für alle Völker ist damit gesagt, daß es keinen »sacro egoismo« geben kann und geben darf. Die ganze Geschichte, ohne Abstriche, ist glaubenswirklich. Deshalb kann es in ihr nichts geben, das die Heiligkeit nur für sich in Anspruch nehmen kann. In Dostojewskijs »Dämonen« sagt Schattoff ungefähr folgendes: Jedes Volk hat seinen Gott, den es anspricht und ausspricht. Die Götter dieser Völker kämpfen miteinander – das ist die Weltgeschichte. Das ist der äußerste Gegensatz zu dem, was die Propheten Israels gesagt haben. Volkstum dort wie hier, aber es ist die Frage, welchen Grad von Souveränität man der einzelnen Nation zuspricht, ob die Nation sich selbst vergöttern darf, oder ob sich alle Völker unter die eine Herrschaft stellen wollen. Israel ist nur insofern zu seinem Leben berufen, als es sich nicht unter jenen, gegenüber Gott unabhängigen Völkergeist stellt. Ihnen, den Israeliten, ist gesagt: Glaubt nicht, daß ihr gesichert seid in euren Verheißungen; es kommt darauf an, wie ihr mit euren Taten Gott antwortet. Die Erwählung ist an die Erfüllung des Willens Gottes gebunden. Diese Verantwortung vertreibt jedes falsche Souveränitätsbewußtsein. Die Erwählung ist nicht ein Vorrecht gegenüber den andern Völkern, denn auch sie sind Gottes Geschöpfe. Im Midrasch wird die bedeutsame Legende erzählt: Als beim Durchgang durch das Rote Meer die ägyptischen Truppen von den Fluten verschlungen wurden, da wollten die Engel, die Gottes Thron umstanden, ein Loblied anstimmen. Aber der Herr sprach zu ihnen: Meine Geschöpfe versinken im Meer, und ihr wollt jubeln? Jede Stunde, in die wir hineingestellt sind, ist glaubenswirklich. Denn der menschliche Anteil ist in die Geschichte einbezogen. All diese unendlich zerstreuten Stunden des Menschen werden eingeschmolzen in das, was wir die geschichtliche Entscheidung nennen. Kein Mensch ist ausgenommen aus der Anrede Gottes. Gott redet jeden von uns an, und jeder ist aufgerufen, zu antworten mit seinem Tun und Lassen. Dieser Dialog zwischen Gott und Mensch, Gott und Welt, ist die Geschichtsstunde. Es gibt kein Sondergesetz Gottes für die Gruppen und kein Sondergesetz für die Einzelnen. Der Mensch ist in Pflicht genommen als Einzelner und als Angehöriger einer Gruppe. Der Glaube Israels an die Erlösung der Welt bedeutet nicht, daß diese Welt durch eine andere abgelöst werde, sondern es ist der Glaube an eine neue Welt auf dieser Erde. Jenseits und Diesseits gibt es nicht im Hebräischen. Diese die ganze Welt einschließende Hoffnung bedeutet, daß wir

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nicht mit Gott reden können, wenn wir die Welt sich selber überlassen. Wir können nur mit Gott reden, wenn wir unsere Arme, so gut wir können, um die Welt legen, das heißt, wenn wir Gottes Wahrheit und Gerechtigkeit in alles hineintragen. Es gilt nicht, eine besondere »messianische« Politik zu treiben. Aber es gibt eine bestimmte Art der Teilnahme am öffentlichen Leben, bei der wir mitten in der Auseinandersetzung mit Welt und Politik den Blick auf das Gottesreich hin gerichtet halten. Es gibt keine religiöse Sanktion der politischen Zwecksetzung. Es gibt keine politische Partei, die behaupten könnte, daß nur sie von Gott gewollt sei; aber es ist auch nicht so, daß man sagen könnte, vor Gott sei es gleichgültig, ob dies oder jenes getan werde. Vom Willen Gottes aus ist es nicht gleichgültig; ob dies oder jenes geschieht; es gibt Gebote und Verbote Gottes nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gemeinschaft. Gott gibt jeder Geschichtsstunde seine Zeichen, und es kommt darauf an, daß wir Menschen diese Zeichen sehen und richtig beantworten. So ist es zum Beispiel heute deutlich, daß Gemeinschaft etwas Reales und Wahrhaftiges sein soll. Der Besitz des Einzelnen darf sich nicht so steigern, daß das echte Gemeinschaftsdasein gestört wird. Deshalb gebietet das Recht Gottes, daß solcher Besitz aufgehoben werde. Es muß wieder ein Ausgleich stattfinden zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Oder ein anderes Beispiel: Wenn einer verknechtet worden ist, muß der Ausgleich geschaffen werden, daß er wieder frei wird, weil es Gottes Gesetz ist, daß der Mensch frei sei. Im Gesetz Israels ist immer wieder die Rede vom Recht des ungesicherten Menschen. Es darf nicht Menschen geben, die nicht in der Sicherheit des Lebens stehen. Die Bedeutung der Gemeinschaft im israelitischen Gesetz ist eine dynamische und nicht eine statische, aber das gilt für alle Völker, denn Gott ist nicht nur der Gott Israels. Es gibt nicht ein religiöses und soziales Programm, aber es gibt diesen nicht mißzuverstehenden Hinweis auf das, was recht und unrecht ist in der Gesellschaft. Es gibt kein festgelegtes, ein für allemal formuliertes Gesetz, sondern nur das Wort Gottes und unsere jeweilige Situation, die wir abzulauschen haben. Wir haben nicht paragraphierte Prinzipien, die wir nachschlagen können. Aber wir haben die Situation und den Augenblick zu verstehen. Wir haben mit der Verwirklichung Gottes da zu beginnen, wo wir hingestellt sind. Es gibt keine Verwirklichung, ohne daß wir vom Glauben aus leben. Vom Glauben aus darf ich nicht heilige Zwecke mit unheiligen Mitteln verwirklichen wollen. Wenn ich nicht heilige Mittel gebrauche, so kann es keinen heiligen Weg geben. Religion und Politik dürfen wir nicht voneinander trennen. Der wirkliche Glaube muß alles ergreifen.

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Das ist oft furchtbar schwer und manchmal ein gefährliches Unternehmen. Aber der Glaube muß es als seine eigentliche Pflicht anerkennen, die Politik so zu durchdringen, soviel er vermag. Man macht auf diesem Weg oft furchtbare Erfahrungen, aber es kann einem nicht erspart werden. Jeder muß in seiner Verantwortung in seinem Leben an die Verwirklichung gehen, indem er sich vor Gott beugt und dessen gewiß ist, daß vor diesem König alle Gewalt der Welt nichtig ist.

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Der Mensch im Zeitalter der Weltraumfahrten Welche Wirkung die Erwerbung einer kosmischen Beweglichkeit auf den Menschen haben wird, dürfte wesentlich davon abhängen, wie er in Wahrheit heute beschaffen ist; welche, bisher etwa verborgenen oder mißkannten Kräfte und Bereitschaften sich in den neuen Begegnungen kundtun werden, was für Lebenssubstanz sie aus diesen werden holen können; genauer, ob das ungeheure Abenteuer eine neue Hybris oder eine Demut erwecken wird. Darüber ist heute noch gar nichts auszumachen, weil wir eben das am gegenwärtigen Menschen, um was es geht, noch nicht zu kennen bekommen haben. Ich halte es für wahrscheinlich, daß die im Universum wohl bevorstehenden Begebenheiten ihn gründlicher aufschließen werden, als es im technischen Zeitalter bisher geschehen ist. Die geläufige Einebnung aller Überraschungen wird kaum noch praktikabel sein. Der Mensch wird vermutlich genötigt werden, sich zu zeigen. Wir werden dann nicht bloß die Welt, sondern auch uns selber neu kennenlernen. Was wir dabei von uns erfahren werden, das sollte man heute lieber nicht vorwegnehmen. Bei alledem ist vorausgesetzt, daß das Menschengeschlecht als solches einig die Satelliten und was dazu gehört entsenden wird. Aber vorerst ist es nicht an dem, auch sie sind heute Waffen im allgemeinen Widereinander. Ob wir dieses überkommen, das ist zur Stunde unsere Sache, von deren Weitergang es abhängt, ob »kosmische« Fragen überhaupt noch einen Sinngehalt haben.

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Gruß und Willkomm Lieber und verehrter Herr Professor Heuss!

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Wir entbieten Ihnen den Willkommgruß unserer Herzen, nicht als dem Altbundespräsidenten, sondern als Theodor Heuss, dem Geschichtsschreiber und Staatenforscher, dem Mann des lebendigen Gedankens und des lebendigen Wortes. Und dennoch – das darf hier nicht unerwähnt bleiben –: wenn hierzulande Ihr Name genannt wird, so meint man damit zunächst den Mann, »der nach Hitler kam«. Das bedeutet natürlich nicht die Vorstellung, daß Sie an Stelle Hitler-Deutschlands, das für uns den Martertod von Millionen unseres Volkes bedeutet, ein ›anderes‹ Deutschland etabliert hätten; dergleichen ereignet sich ja auch in leichteren Fällen nicht, und das war doch wohl der schwerste seiner Art in der Weltgeschichte. Nicht etabliert haben Sie damals das andere Deutschland, sondern Sie haben es nunmehr in der erneuten Freiheit der Völker vor der Völkerwelt repräsentiert, wie Sie es vordem in der Zeit der Selbsterniedrigung des deutschen Volkes und der Völkerverknechtung in der beharrenden und widerstehenden Stetigkeit des persönlichen Daseins repräsentiert hatten. Als ich Sie eben ansprach, hätte ich fast gesagt: lieber Herr Kollege; denn ich denke daran, daß wir miteinander dem Kollegium des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels angehören, welchen Preis ich 1953, Sie aber im vorigen Jahr erhielten, sowie Sie nämlich nicht mehr der Präsident der deutschen Bundesrepublik, sondern wieder der Mann Heuss waren. Meine Augen wissen es noch, wie ich damals, als ich auf der Tribüne stand, um meinen Dank an das andere Deutschland zu sagen, das ihn mir verliehen hatte, Sie vor mir in der ersten Reihe sitzen sah, neben meiner seligen Frau, und mein Herz weiß es noch, wie ich damals, ehe ich zu sprechen anhob, erst meine Frau anblickte, sie, die mir die dauernde Gegenwart eines echten und freien Deutschlands in mein Leben eingegeben hatte, dann aber blickte ich Sie an, in dem sich mir unverkennbar die deutsche Selbsttreue darstellte, die den Selbstverrat überwunden hatte. Es leuchtete mir als sinnbildlich und sinnvoll ein, daß, nachdem das Pathos solchermaßen geschändet und verfälscht worden war, die Deutschen sich einen Mann von so zuverlässiger Schlichtheit und einem so wurzeltiefen Humor an ihre Spitze gestellt hatten. Ich hatte schon vordem wohl verstanden, daß nach dem Ende jenes untermenschlichen und widermenschlichen Wesens, das sich den Führer nannte, ein Humanist die oberste Stelle einnehmen mußte; nun aber wurde mir an-

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Gruß und Willkomm

schaulich klar, daß das nicht ein Humanist des Programms sein durfte, sondern nur einer des selbstverständlichen Daseins. Die antihumane Woge, die mit Hitler historisch aufgebrandet ist, hat ihren Ursprung in dem in unserer Zeit erstarkten Mißtrauen der Menschen gegeneinander; aus diesem ist das wechselseitige Mißtrauen der Völker entstanden, das diese Weltstunde beherrscht. Was kann dawider aufkommen? Als Sie, verehrter Herr Heuss, vor einigen Monaten dem deutschen Buchhandel für die Verleihung des Friedenspreises dankten, sagten Sie: »Ich habe mein Leben lang das Wort ›Toleranz‹ nicht leiden können.« Das haben Sie mir aus der Seele gesprochen. Damit, daß die Menschen einander zu dulden versuchen, ist nichts getan, schon weil nicht etwas bloß Gewolltes, wie dieses Einander-bestehen-lassen, sondern nur etwas Gewachsenes helfen kann. Welches Gewachsene dieser Art gibt es denn aber? Am Schluß einer anderen Rede, in der Sie ebenfalls im vorigen Jahr für die Verleihung eines Preises dankten – es war der Hansische Goethepreis –, sprachen Sie, lieber Professor Heuss, von dem ›menschlichen Vertrauen‹, das in der Tiefe wachse; Sie nannten es die Voraussetzung einer demokratischen Lebensform. Aber es ist auch die Voraussetzung eines echten Gesprächs, das sich zwischen zwei Demokraten anbahnt. Wir Söhne einer jungen Demokratie, die sich aber als die Erbin uralter Verheißungen und Geheiße weiß, wollen Ihren Worten über die Selbstgestaltung der Demokratie als dem Anbeginn eines solchen Gespräches lauschen.

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[Dankesrede für den Münchner Kulturpreis]

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Ich danke Ihnen, Herr Oberbürgermeister, und der Stadt München für die hohe Ehrung, die Sie mir gespendet haben. Sie ist für mich ein Besonderes, weil sie von dieser Stadt kommt, mit der ich auf eine ganz persönliche Art verbunden war und bin. Meine selige Frau war eine Münchnerin, die starke Luft Münchens hatte ihren Atem erstarken lassen, das starke Licht Münchens ihren Blick, das starke Leben Münchens ihr Herz. So war es, als ich, sie kennend, im Jahre 1901 zum ersten Mal nach München kam, gleichsam ein Wiedererkennen. Die Stadt war mir vertraut und ich durfte ihr vertrauen. Darum habe ich in jener Zeit, die Sie, Herr Oberbürgermeister, erwähnten, der Zeit, als München sich selbst untreu wurde, nicht glauben können, daß es sich verlieren würde. Ich wußte, wir wußten, München werde sich und seinen Weg wiedergewinnen. Solch Wiedergewinnen eines Weges ist etwas wesentlich anderes, als was man im Leben von Personen und auch von Gemeinschaften als innere Wiederherstellung bezeichnet. Es hat vielmehr damit zu schaffen, was die Propheten Israels, der Täufer, Jesus und die Apostel gleicherweise Umkehr genannt haben. Umkehr aber bedeutet nicht, daß man an einen früheren Wegpunkt zurückgelangt, sondern daß man irgendwo zu stehen kommt, wo man noch nie gestanden hat, und daß einem von daher ein neuer Bestand, als die echte Überwindung jenes Verfalls, zu Teil wird. Zeichen solch eines Neuen habe ich jedesmal verspürt, da ich als Gast der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München war, und ich verspüre es in wachsendem Maße. Wie Bau um Bau aus Trümmern neu, wirklich neu, erstanden ist, so baut sich die Seele dieser Stadt aus der Selbstzerstörung neu auf. Darum darf ich in einem mit meinem Dank Ihnen, Herr Oberbürgermeister, den Wunsch aussprechen, daß Ihrer Stadt die Zukunft werde, die ihr zukommt.

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Zu zwei Burckhardt-Worten Auf den von Jacob Burckhardt wiederaufgenommenen und ergänzten Historikerspruch, die Macht sei an sich böse, hat Carl Burckhardt in seiner Münchner Rede von 1960 geantwortet, Macht könne alles sein, gut und böse. Diese schlichte Aussage ist genau zutreffend. Macht bedeutet ja zunächst das bloße Vermögen, zu bewirken, was man bewirken will, Böses und Gutes. Aber das Gemeinte geht offenbar darüber hinaus. Der große Geschichtsschreiber hatte ja gewiß mit Bedacht, Platons so nachdrückliche Unterscheidung zwischen Dionysios-Menschen und DionMenschen beiseiteschiebend, hinzugefügt: »gleichviel wer sie ausübe«, und hat damit zu verstehen gegeben, der Machthaber werde unter dem Einfluß seines Machthabens böse, d. h. natürlich nicht etwa »ein böser Mensch«, sondern böse Macht ausübend. Carl Burckhardt bestreitet implizite die Allgültigkeit dieser inneren Wirkung der Macht. Und wieder muß man, um der Sache auf den Grund zu kommen, den Text der »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« vergleichen. »Sie ist kein Beharren«, heißt es dort, »sondern eine Gier«. Diese Verkoppelung der Macht mit dem Willen zu ihr ist es, die unser zugleich staatsmännisch und historisch denkender Zeitgenosse bestreitet. Wenn der Machtwille über die jeweilige Potenz des Machthabers, die ihn geschichtlich anfordernde Situation zu bewältigen, hinauslangt, verfällt er dem Bösen. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse besteht zu Recht fort, über die große Auflehnung Nietzsches gegen den 1870 von ihm vernommenen Spruch Jacob Burckhardts hinweg. Aber das seit damals Geschehene hat uns gelehrt, schärfer, exakter, der geschehenden Geschichte gemäßer die Unterscheidung zu vollziehen.

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[Greetings to Bertrand Russell]

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In a memorable sentence Bertrand Russell tells us: »The question is a simple one: Is it possible for a scientific society to continue to exist or must such a society inevitably bring itself to destruction?« The answer, so it seems to me, can be given only in a conditional form. ›A scientific society‹ can, I think, continue to exist only if science is humanized, i. e. if in its very action it asserts the existence of man as such. The theory of modern physics has made the first step by including the observer, man as observer, in its object of research. It is now for the practice of modern physics to make the second and decisive step: to include man as a whole, human life and death, in its reckonings. This would mean, of course, that at the sight of the nearing catastrophe the mind of man will disobey.

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Nachbemerkung [Nach dem Eichmann-Prozeß] Den gewichtigen Ausführungen, die in diesem Buch enthalten sind, wünsche ich ein paar Worte hinzuzufügen. Hannah Arendt übt herbe Kritik an der Haltung der deutschen Juden, insbesondere ihrer Führung, die sie in der Stunde einer vergleichslos schweren Probe einnahm. Die Mitwirkung einer inneren Tätigkeit, die als Realphantasie bezeichnet werden mag, ist in dieser Kritik nicht erkenntlich. Ein Autor, der es auf sich nimmt, eine geschichtliche Situation des eigenen Zeitalters darzustellen – und gar eine der eigenen Gemeinschaft –, ist in die Pflicht genommen, sich diese Situation auch in ihrem inneren Zusammenhange zu vergegenwärtigen. Hätte Hannah Arendt ein Bild dessen zu gewinnen gesucht, was in der Seele der Vertreter der deutschen Judenheit in jener Situation vor sich gehen mochte, etwa in der Stunde, wo sie Entscheidungen zu treffen hatten, dann hätte sie, meine ich, ein anderes Buch geschrieben als das vorliegende. Dass ich selber auf jene inneren Vorgänge hindeuten kann, liegt auch daran, dass ich – freilich in einem früheren Zeitabschnitt, in den »gelinden Jahren« 1933-1937 – im freundschaftlichen Umgang mit dem später im Konzentrationslager umgebrachten Vorsitzenden der »Reichsvertretung der deutschen Juden«, Otto Hirsch, etwas davon zu ahnen, zu spüren bekommen habe. Ich will noch mit einem Wort auf die Kritik eingehen, die Hannah Arendt an meiner Stellungnahme zu dem Urteil des Jerusalemer Gerichts über Eichmann übt. Da sie sich dabei lediglich auf eine Äusserung in einem Interview stützt, ohne mein Verhalten vor dem Prozess und während seines Verlaufs zu berücksichtigen, scheint es geboten, hier einiges zu ergänzen. Als Eichmann nach Israel gebracht wurde, also noch vor der von Hannah Arendt erwähnten Äusserung von Karl Jaspers, wurde von Nahum Goldmann und einigen anderen Juden, zu denen auch ich zählte, der Standpunkt vertreten, die Sache gehöre nicht vor ein israelisches Gericht, sondern vor ein internationales, das wohl in Israel und selbstverständlich vor der Öffentlichkeit der Welt zu verhandeln habe. Als bald danach ein israelischer Pressevertreter mich über den bevorstehenden Prozess befragte – der Vorschlag der Internationalität war inzwischen abgelehnt worden –, liess ich als meine Antwort publizieren, es sei noch nicht an der Zeit, sich darüber zu äussern, eines jedoch hätte ich schon jetzt nach-

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drücklich zu sagen: Ich sei seit langem ein Gegner der Todesstrafe (vgl. z. B. meine Antwort auf eine Rundfrage in dem Buch von E. M. Mungenast, Der Mörder und der Staat, Stuttgart, 1928). Als aber das Todesurteil gefällt war, schob sich vor dieses mächtige Motiv allgemeiner Art ein anderes, ganz spezifisches. Es fragte mich, es fragte aus mir hervor: Dürfen wir durch die Hinrichtung eines passionierten »Ausführers« teilnehmen an einer Scheinbereinigung des an uns begangenen Verbrechens der deutschen Führung, des grössten Massenmordes der Weltgeschichte? Soll die Hinrichtung als der von uns, von uns gesetzte Schlusspunkt betrachtet werden dürfen? Diese Frage (neben anderen) war es, die ich in einem Gespräch dem israelischen Ministerpräsidenten, David Ben Gurion, gestellt habe. Er ist darauf nicht eingegangen. Eine andere Frage habe ich, begreiflicherweise, damals nicht ausgesprochen: Ist es an uns, an Israel, die Kette der Tode weiter zu schlingen? Von dieser Frage, die damals mein Herz überwältigte, konnte Hannah Arendt freilich nichts wissen. Alles andere hätte sie wissen können. Sie hätte es, wenn sie das in der hebräischen Presse publizierte Material nicht sammeln wollte, auf dem simplen Weg einer Anfrage an mich erfahren können, ehe sie schrieb, was sie geschrieben hat, – und dann hätte sie sogar auch jenes tiefste Motiv erfahren.

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Sie und wir Zum Jahrestag der Kristallnacht (November 1939) Was vor einem Jahr in Deutschland geschah, wird im Gedächtnis der Geschichte als eins der grauenhaftesten Beispiele für den Verrat eines Staates bewahrt werden. Den Begriff »Verrat« gebraucht man im Bereich der Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern nur im Sinne des Verrats von unten nach oben: man spricht von verräterischen Bürgern, von ihrem Verrat am Staat. Aber der schlimmste Verrat dieser Art kann nicht so unheilsschwanger sein wie der, den der Staat an einem Teil seiner Bürger begeht. Wenn irgendein Staat, wie es jetzt Deutschland mit seinen Juden tat, eine seiner Minderheiten, diejenige, die am meisten auffällt, aus dem Bereich seines Schutzes und seiner Verantwortung stößt und sie langsam oder schnell vernichtet, ohne daß sie sich an ihm vergangen hätte, so erschüttert er damit die Fundamente seines eigenen Bestands. Denn ein Staat kann nicht bestehen, wenn ihm seine Bürger nicht vertrauen, daß er ihnen ebenso die Treue wahrt wie sie ihm. Wenn die Deutschen sich auch gestern oder heute beruhigt haben: das alles sind ja nur Juden, die man gequält und getötet hat, deren Heiligtümer geschändet und zerstört wurden, die Juden, die erst vor wenigen Generationen die Gleichberechtigung erhielten, – so nagt doch der Wurm am Herzen aller, die nicht zur Sippe der Gewalttäter und ihrer Brotgeber gehören, und sie müssen darauf gefaßt sein, daß nach dieser nationalen Minderheit eine andere Minderheit an die Reihe kommen wird – eine religiöse oder soziale; und wenn es so weit kommt, dann nagt der Wurm am Herzen des Staates selbst. Dieses Regime muß zerfallen, und zerfällt es nicht bald, kann man das Ungeheuer nicht schnellstens bewältigen, breitet sich das Mißtrauen aus, so wird der Bevölkerung die Lust vergehen, dem Staat zu dienen. Ich sprach absichtlich vom deutschen Staat, das heißt von der Organisation, die sich das deutsche Volk errichtet hat oder der es beistimmt, oder von den Machthabern, die es erstellt hat oder duldet, und nicht vom deutschen Volk selber. Was vor einem Jahr in Deutschland geschah, war nicht ein Ausbruch der Volksleidenschaft, eines volkstümlichen Judenhasses, ebensowenig wie in irgendeiner Handlung, die in jenen sieben Jahren an uns begangen wurde. Es war ein Befehl von oben und wurde genau, mit der Genauigkeit einer zuverlässigen Maschine ausgeführt. Während der Vorbereitung der Nürnberger Gesetze zogen zwei Wochen lang jeden Morgen um sechs Uhr an den Fenstern meines Hauses in Heppenheim Schulkinder vorbei und sangen das schöne Lied:

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»Wenn erst das Judenblut vom Messer spritzt«; damit war der gegebene Befehl erfüllt. Am Morgen darauf erwarteten wir vergeblich den Aufzug. Was elementarer Judenhaß ist, ein Ausbruch aus den Tiefen der Triebe, – das sah ich in Polen, in Deutschland habe ich es nicht gesehen. Daß der Apparat programmgemäß gegen die Juden arbeitet, das ist kein besonderes Problem; so war es bereits in den anderen Fällen. Vielleicht ist es eine alte Gewohnheit des deutschen Volkes, den Machthabern zu gehorchen, denn da sie das Staatsruder halten, ist ja der Beweis dafür erbracht, daß sie von der Geschichte bestätigt sind, daß sie von Gott gesandt sind; es fällt anscheinend dem deutschen Menschen schwer, zwischen Gott und dem Erfolg zu unterscheiden und sich einen Gott vorzustellen, der nicht mit den starken Bataillonen geht, sondern »bei dem Zermalmten und Geisterniederten« (Jes 57,15) wohnt. Sogar bei einigen wahrhaften Geistesmenschen in Deutschland hatte ich den Eindruck, daß sie durch die ihnen natürliche Vereinsamung und ihre Unfähigkeit zum öffentlichen Handeln an jeden zu glauben geneigt sind, der das politische Geschäft mit Gewalt ergreift und mit hemmungsloser Härte betreibt. Aber in der jüdischen Sache ist dem noch etwas beigetan, das ein besonderes Problem darstellt und für uns ungemein lehrreich ist: es ist dies die innere Haltung auch vieler von denen, die ihren Beziehungen zu Juden treu geblieben sind und verfolgten und leidenden Juden halfen. Wenn man mit ihnen ins Gespräch kommt, sieht man, daß sie zwar in vielen Fällen ein gutes menschliches Gefühl des Mitleids mit denen haben, die als vogelfrei erklärt wurden, aber es mangelt ihnen auch nicht an Verständnis für die Motive der Verfolger. Gewiß bedauern sie die grobe Form des Ausstoßens, die sie gern mildern würden, aber in ihrem Innern sind sie mit der Grundtendenz einverstanden. Diese wichtige Tatsache dürfen wir nicht mit der Erklärung abtun, das deutsche Volk sei von einer Krankheit befallen, und mit seiner Gesundung werde alles wieder ins Geleise kommen. Dies ist eine einfältige Illusion und die Art eines unreifen Verstandes, eine historische Wirklichkeit zu beurteilen. Freilich leidet das deutsche Volk an einer schweren Krankheit; seine jetzigen Feinde sind mit an dieser Krankheit schuld, aber mit seiner Gesundung wird durchaus nicht alles wieder ins Geleise kommen; und eine Ursache unter andern ist auch die, daß schon früher, ehe das Volk erkrankte, die Dinge nicht im Geleise liefen. Hier müssen wir die ernste Problematik erkennen, auf die auch heute hinzuweisen ich mich verpflichtet fühle, eben weil ich weiß und von Mal zu Mal sage, daß ein großer und echter Bund zwischen dem deutschen und dem jüdischen Geist bestanden hat, ein Bund, der seine Bestätigung durch echte Fruchtbarkeit erhielt; nur wenn wir die Problematik betrachten, die die-

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sem Bund eigen war, wenn wir sie betrachten, ohne uns zu schonen, werden wir aus diesem Kapitel jüdischer Geschichte, das nun abgeschlossen ist, lernen, was es aus ihm zu lernen gibt. Aus Unverstand pflegt man bei uns den Antisemitismus nach der Emanzipation als einfache Fortsetzung zu sehen, als Rückkehr zum Antisemitismus vor der Emanzipation, der hauptsächlich auf religiösen Gefühlen beruhte. Aber der frühere war das Ergebnis der Fremdheit und der spätere das Ergebnis des Kontakts; dort haßte man, wie Pinsker sagt, gleichsam ein Gespenst, das erschreckend und unverständlich war, hier aber haßte man einen lebendigen Menschen, den man bereits einigermaßen kannte. Zwar überwand man noch nicht das Empfinden eines Gespensts in der verhaßten Erscheinung, aber das Gespenst hatte ja einen Körper erhalten. Ich sage: »haßte«; aber in Wirklichkeit traf ich in Deutschland nur selten Menschen, die Juden haßten. Dagegen traf ich oft solche, denen die Juden verdächtig erschienen. Was war es, das auf sie in solcher Weise wirkte? Ich möchte meine Worte darüber nur auf ein Gebiet beschränken, das das Gerippe im Leben des Volkes ist, das Gebiet der Wirtschaft. Aber was in bezug auf dieses wahr ist, ist mit gewissen Änderungen auch für die anderen, höheren Lebensgebiete wahr. Bekanntlich rührt die Problematik des jüdischen Verhältnisses zur Wirtschaft der herrschenden Völker daher, daß ihre Beteiligung meist nicht beim Fundament des Hauses beginnt, sondern im zweiten Stockwerk. Dagegen haben sie keinen Anteil oder nur einen sehr geringen an der Urproduktion, an der mühevollen Erlangung der Rohstoffe, der Schwerarbeit am Boden, sowohl Landwirtschaft wie Bergwerk. In der handwerklichen Bearbeitung der Rohstoffe bevorzugen sie zumeist die leichten Berufe, die im Sitzen ausgeübt werden, und in der industriellen Bearbeitung stellen sie Techniker, Ingenieure und Direktoren und halten sich von der schweren Arbeit an der Maschine fern. Wie ich mit großer Sorge hörte, hat sich daran auch in der sowjetrussischen Wirtschaft nicht viel geändert. Nun ist es aber ein Grundzug im Leben aller modernen Völker, ein unausgesprochener und rechtmäßiger Grundzug, daß das Wachstum und die Fruchtbarkeit des Lebens nur durch ein ständiges großes Volksopfer, durch die unermüdliche Hingabe der Volkskräfte an die Gewinnung und Bearbeitung der Rohstoffe erreicht werden kann. Die Söhne dieser Arbeiterschichten, die in die geistigen Berufe aufsteigen, sind in gewissem Maß ein sich stets erneuerndes Sinnbild dieses Vorgangs. Wenn nun ein Teil der Bevölkerung, der fast überall durch seinen körperlichen Typus und seine eigentümlichen Bewegungen auffällt, an diesem Volksopfer nicht teilnimmt – mögen die Ursachen dafür

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auch in der Vorgeschichte wurzeln –, aber an den Früchten dieses Opfers, am geistigen Leben und am geistigen Werk des Volks einen vollen und sogar ihren Prozentsatz an der Allgemeinbevölkerung übersteigenden Anteil fordern; wenn sie sich scharenmäßig den Söhnen der Opferträger anschließen und sie sogar von ihrem Platz verdrängen, dann ist der Boden für den neuen Antisemitismus bereitet. Er bricht aus, wenn eine Wirtschaftskrise dazu Anlaß gibt, wenn der Lohn des Volksopfers sich sehr vermindert, wenn der Aufstieg der Söhne behindert wird, und besonders, wenn durch Arbeitslosigkeit breiten Teilen des Volkes etwas viel Schwereres auferlegt wird, als jenes Opfer – nämlich ein zweckloses, hoffnungsloses Leben. Die Juden, die sich in den oberen Geschossen hervortun, tatsächlich oder augenscheinlich von all dem nicht betroffen wurden, fallen dann noch mehr auf als bisher, und im Herzen der Betroffenen wandelt sich der Eindruck in tiefe Verbitterung, die mit Sprengstoff zu vergleichen ist; nun fällt in ihn als Zündfunke die politische Losung. Diejenigen, die den Funken in das Pulverfaß warfen, werden dem Gericht nicht entgehen. Aber wir erfüllen unsere Pflicht nicht, indem wir trauern und klagen: Wir müssen aus dem Geschehenen lernen und das Gelernte in die Tat umsetzen. Die gewaltige Sache, keiner andern in der Geschichte zu vergleichen, an die wir in Palästina gegangen sind, hat ja keinen anderen Sinn und wird keinen andern Bestand haben als den, daß wir uns nun endlich ein wirkliches eigenes Haus bauen, und so, wie man ein Haus baut, das lange dauern soll, das heißt: auf festen und starken Grundmauern. Und das Haus des Volks hat keine andere Grundmauer als die des Dienstes seiner breiten Schichten, die die Gesellschaft tragen, an der Erzeugung und Bearbeitung der Rohstoffe. Das geistige Leben müssen wir uns durch Opfer schwerer Arbeit am Boden und seinen Erzeugnissen erkaufen. Wir werden keine echte Kultur erreichen, wenn wir den Unterbau nur flüchtig erstellen, um schnell in die prächtigen Obergeschosse einzuziehen; täten wir es, so würde alles zusammenfallen. Jedes geistige Werk wird rechtmäßig nur aus der Fülle des Lebens geboren, die dem großen körperlichen Werk des Volks entspringt; alles andere ist künstlich und vergänglich. Wer von uns nicht am Arbeitsopfer teilnehmen kann, muß sich zu jeder Stunde und in jeder Lage unmittelbar als Genosse der Arbeitenden fühlen. Er muß wissen: diese Arbeit ist meine Angelegenheit, nur durch sie erhält mein Leben Grundlage und Sicherheit, ohne sie würde ich in der Luft hängen; ich habe keinen anderen wirklichen Boden unter den Füßen außer dem, den mein arbeitender Bruder mit seiner Mühe für mich erwirbt. Es ist sehr traurig zu sehen, daß sogar hier, in diesem Land, das wir unser Land nennen, sich die Verehrung der oberen Geschosse verbreitet, die nur einen flüchtigen Blick

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nach unten wirft, um dann mit Begeisterung ihr Auge nach oben zu lenken. Dies ist Galuth auf dem Boden Zions. Das, was man Volk nennen darf, wahres Volk, einheitliches Volk, kann nicht anders erreicht werden als dadurch, daß der Geist die Arbeit mit einem Kreis der Liebe umringt. Gelingt uns diese Änderung der Perspektive, diese Umwertung der Werte, dieser einheitliche Aufbau des öffentlichen Lebens von unten nach oben, dann wird von hier auch auf die Diaspora und ihre Beziehung zu den herrschenden Völkern ein Einfluß ausgehen, dessen Stärke und Tiefe vorerst nicht abzusehen sind. Noch wichtiger aber als diese ist eine andere Lehre, wiewohl sie im Grunde beide eins sind. Sie richtet sich gegen eine Irrlehre, die unter uns verbreitet ist und die man etwa so formulieren kann: der äußerste und totale nationale Egoismus, der in Deutschland herrscht, ist an und für sich richtig, es ist die richtige Politik einer Nation, und besonders in Zeiten der Krise; uns erscheint sie nur deshalb negativ, weil sie gegen uns gerichtet ist; der wichtigste Maßstab für uns ist der unseres nationalen Egoismus. Unter allen Greueln der Assimilation kenne ich keine Anschauung, in der sich Juden dermaßen erniedrigen wie in dieser, die sich anmaßt, ein Ergebnis des Zionismus zu sein. Jahrtausende lang bekannten wir uns zu der Lehre, daß die Welt auf Gerechtigkeit gegründet ist, auf Gerechtigkeit zwischen Mensch und Mensch, zwischen Volk und Volk; wir sagten uns und der Welt: das Geschichtsbild, das dem Frevler Sieg und Macht zuteilt, führt irre, denn innen ist sein Sieg Niederlage und seine Macht Schwäche. Und nun tritt uns in dieser Stunde das Zerrbild des Unrechts entgegen, die Fratze eiskalter Gemeinheit, der Grausamkeit, die wie eine Maschine funktioniert, ein Golem, auf dessen Stirn Satans Name geschrieben ist, er bemächtigt sich einer unserer Gemeinschaften nach der andern, schändet und zerstört eine unserer Gemeinschaften nach der andern. Und nach alledem wimmeln unter uns die Leute, die sagen: dieser Satansbote fügt uns zwar Unheil zu, aber Satan selbst hat recht, Satan ist der wahre Gott, es gibt keinen Gott außer ihm! Nach alledem wimmeln unter uns die Leute, die lehren: solange wir schwach waren, haben wir erklärt, was wir erklärt haben, weil wir schwach waren, aber jetzt müssen wir erstarken und die Werke des Satan tun, wie die Starken, damit es uns auf dem Boden wohl ergehe. Wenn wir diese Lehre annehmen, dann unterschreiben wir mit eigener Hand die Anklageschrift gegen uns. Und dieses Land – daß es nicht mit Unrecht gebaut werden kann, seine ganze Geschichte bezeugt es. Wer das nicht wahrhaben will, wer meint, daß dies ein Land sei wie alle Länder, ebenso wie wir seiner Meinung ein Volk wie alle Völker sind; wem das Wort vom Heiligen Land ebenso wie das vom Gottesvolk eine veraltete Redensart

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ist, der handelt im Land Israel wie Hitler, denn er will, daß wir Hitlers Gott dienen, nachdem sie ihm einen hebräischen Namen beigelegt haben. Und wer wie Hitler handelt, wird mit ihm zusammen untergehen. Wir müssen ihn bekämpfen, indem wir seinen Götzen vernichten. Wir müssen das Reich des Frevels bekämpfen, indem wir den Frevel bekämpfen. Können wir ihn bekämpfen? Wir können es, indem wir in diesem Land das Reich des Gottes der Gerechtigkeit errichten. Wie können wir dies tun? Dadurch, daß wir ein gerechtes Leben führen. Kann man das in dieser Stunde beginnen? Es gibt keine Stunde, die dafür geeigneter wäre als diese. »Gott führt Krieg gegen Amalek« – siegen können wir nur, wenn wir unsern Krieg als Gottes Krieg führen. An der jetzigen Kriegsfront, an der die, die gegen Hitler kämpfen, nur wissen, wogegen sie kämpfen, nicht aber wofür, ist Gottes Wahrheit nicht zu finden. Aber hier ist sie zu finden, – wenn wir nur wagen, ihr zu dienen.

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Schweigen und Schreien (Frühjahr 1944) Noch nie habe ich so sehr verspürt, wie zweifelhaft all unser inneres Dasein trotz aller Werke der Erneuerung ist, wie in diesen Tagen, da die Massen unseres Volkes in die Gewalt ihrer Todfeinde gegeben sind. Wir kennen zwar noch nicht die tatsächlichen Ausmaße der Katastrophe: doch besteht kein Zweifel daran, daß sie unermeßlich größer ist als jede andere in unserer Geschichte. Die jüdische Gemeinschaft im Lande, die sich in diesen Tagen als nach außen gesichert betrachten darf, verhält sich gewiß nicht gleichgültig dagegen, aber doch ohne echte Identifizierung. Jeder, der dort Verwandte oder Freunde hat oder hatte, empfindet unmittelbar irgendwas von dem, was dort geschieht; wir alle zusammen empfinden es nicht in seiner Ganzheit. Es fehlt uns die kollektive Einbildungskraft: die Fähigkeit, uns gemeinsam die Wirklichkeit »dort« zu vergegenwärtigen. Man sagt, es sei gut so, denn wer sich vorstellte, was sich ereignet, könnte nicht einfach sein Leben fortführen. Das trifft zu, aber es bedeutet nicht, daß uns nicht obliege, ein zulängliches Quantum von Vorstellungsgabe zu entfalten. Es ist eben doch nicht angemessen, daß wir einfach unser Leben weiterführen. Angemessen ist, daß wir, was sich ereignet, in unser Leben einflechten. Nicht um das übliche Rachegebrüll auszustoßen, in dem die Erregung sich entlädt, sondern um dort zu wirken, dort mitzuarbeiten, wo es möglich ist etwas zu tun. Aber wenn wir uns die Frage stellen, was zu tun sei, die Frage nach der Rettung dessen, was zu retten ist, verdichten sich noch die Zweifel. Die Geschichte der Einstellung der jüdischen Siedlung zur Katastrophe der Diaspora beginnt mit etwas, was nicht zu erklären und nicht zu verstehen ist: mit dem Schweigen. Tage und Monate – so hörten wir, und es ist nicht bestritten worden – wußten die Eingeweihten, was sich ereignet hat und was sich angesponnen hat, und verheimlichten der Gemeinschaft im Lande, was sie wußten. Ich verstehe das nicht, und es ist nicht zu verstehen. Es wird behauptet, daß die Seele der Gemeinschaft damals infolge der zeitweiligen Unsicherheit ihrer eigenen Situation zu empfindlich war, um sich mit den Tatsachen der Diaspora abzugeben. So verhält man sich zu Kindern und Kranken. Und wer weiß, ob damals nicht Dinge versäumt wurden, die gerade damals und nur damals getan werden konnten, wenn die Gemeinschaft ihre gesamte Energie an die Sache gesetzt hätte? Darüber werden wir gewiß in der nächsten Zeit nichts Genaues feststellen können. Was aber in meinen Augen am allerunver-

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ständlichsten ist: als die Gemeinschaft hörte, was vorgeht, und hörte, daß man es ihr Tage und Monate verheimlicht hatte, schwieg sie. Nach dem Schweigen kam das Geschrei. Teils war dies ein spontanes Aufschreien und teils ein organisiertes Schreien. Gegen letzteres ist in einer Periode der Propaganda nichts einzuwenden, denn es ist ja unmöglich, ein breitangelegtes Rettungswerk ohne die Hilfe der in Frage kommenden Großmächte zu versuchen, und daher muß es ihnen also zu Gehör kommen; dies ist zu unserm Leidwesen in manchen Fällen nur dann möglich, wenn man das Spontane organisiert, und unter diesen Umständen treibt man naturgemäß die Spontaneität noch etwas an. Die Problematik beginnt erst, wenn sich die politische Note in den Aufschrei mengt. »Politische Note« bedeutet, daß man durch das Schreien einen »Druck« ausüben will, um etwas zu erreichen, das jetzt anscheinend anders nicht erreichbar ist, etwas, das zwar unter den gegebenen Umständen aufs engste mit der Absicht der Rettung verbunden, aber keineswegs mit ihr identisch ist. Vom Moralischen her ist dagegen einzuwenden, daß man die Katastrophe und die Rettung als Mittel zu einem Zweck benützt, sei es auch ein noch so wichtiger Zweck; was das vom moralischen Standpunkt bedeutet, können wir uns unmittelbar klarmachen, indem wir uns einen Parallelfall aus dem Leben des Einzelnen denken, zum Beispiel ein brennendes Haus oder einen Ertrinkenden. Wer keinen erhabeneren Imperativ als den politischen kennt, wird diesen Einwand damit beantworten, es gäbe keinen erhabeneren Imperativ. Nur daß im Augenblick, in dem wir den ausschließlichen politischen Raum betreten, uns unabweisbar die Frage nach der Nützlichkeit, die Frage nach Nutzen und Schaden antritt. Und hier ist es erforderlich, die erste Bedingung alles politischen Wirkens zu erfüllen: alle angenehmen Illusionen abzuschütteln, denn das Wirken der Illusion ist ein falsches und zerstörendes Wirken. In diesem Zusammenhang bedeutet das: erstens liegt es uns ob, ohne Beschränkung durch irgendeine Illusion zu erkennen, daß es politische Noten gibt, deren Hörbarkeit den zuständigen Instanzen unliebsam ist, und sollten sie hörbar werden, so sollen sie wenigstens nicht ins Bewußtsein dringen. Aber das wäre noch nicht so schlimm, denn, so pflegt man anzunehmen, in der Sphäre der Demokratie ist die Möglichkeit gegeben, bei der öffentlichen Meinung gegen die zuständigen Instanzen zu appellieren. Aber auch dies ist eine Illusion, denn bekanntlich ist die Aufgabe der öffentlichen Meinung in Kriegszeiten in mancher Hinsicht eingeschränkt, und in Fällen dieser Art hat sie so gut wie kein Gewicht. Das wissen wir zwar wohl. Aber wir wollen es nicht anerkennen, wenn es uns selbst betrifft. Und aus all diesem geht hervor, daß wer die politische Note nicht hören will, sich auch gegen das Schreien selbst taub stellt, dem sie beigemengt

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ist; und fragt man ihn, so wird er sagen, der Schrei sei ja nichts anderes als ein Mittel zum politischen Zweck. Mit anderen Worten: die befugten Instanzen, die wir um die Rettung angehen wollen, sehen diese nicht unabhängig von dem politischen Beweggrund, den sie mißbilligen. Und daraus wiederum ergibt sich, daß das, was der Rettung nützen soll, ihr schadet. Die Problematik wird noch stärker, wenn diese Sache nicht nur zu dem uns allen gemeinsamen politischen Zweck benützt wird, sondern zu einem Parteizweck. Es gibt Parteien, die eine kochende Volksseele brauchen, um ihren Sud daran zu sieden. Ihre beste Chance, und manchmal ihre einzige, ist die Radikalisierung der Situation. Sie sind bereit, dieser Chance auch die Rettung zu opfern. Denn sie sind ja klug genug, um zu wissen, daß die von ihnen vorgeschlagenen »Druck-Methoden« nicht geeignet sind, die Rettung, sondern die Radikalisierung zu fördern. Und erst hier geschieht wirklich das Entsetzliche: die Ausnützung unserer Katastrophe. Was hierbei bestimmt, ist nicht mehr der Wille zur Rettung, sondern der Wille zur Ausnützung. Auch uns Parteilose, denen es um die Rettung der noch zu Rettenden bange ist, wollen sie mit der Losung der Rettung dem Parteizweck dienstbar machen. Ich habe mich manchmal gefragt, ob sich nicht in einer außergewöhnlichen Stunde eine Front bilden kann, die quer durch alle Parteien verläuft. Die Front derjenigen, die mit der ganzen Wahrheit ihres Herzens das Heil ihres Volkes wollen und die an der entscheidenden Sache mitarbeiten wollen, ohne auf die Sonderungen der Programme in allen anderen Fragen Rücksicht zu nehmen. Die Spaltung der Parteien ist eine schwerwiegende Tatsache, die man gegenwärtig nicht aus dem öffentlichen Leben wegdenken kann, aber es ist erwünscht, daß ihr eine Grenze gesetzt werde. Die Bestimmung dieser Grenze jedoch in einer außergewöhnlichen Stunde, eine Bestimmung, die durch Einzelne aus allen Parteien geschehen muß, erfordert eine Reinheit von Empfindung und Dienst, die anscheinend noch seltener ist, als ich beim Nachdenken über die Möglichkeit einer Zusammenarbeit annahm. Und sollte sie sich dennoch verwirklichen, so wird sie anders aussehen als diejenigen Gespräche über die Rettung, an denen ich teilgenommen habe. Und also? Fragt ihr mich zu dieser späten Stunde, was wir also tun sollen, habe ich keine andere Antwort als diese grausam-nüchterne: so viele Juden wie nur möglich zu retten, sie hierher oder an andere Orte zu bringen, sie zu retten durch völlig realistische Behandlung der verschiedenen praktischen Fragen, mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, wo immer noch etwas zu retten ist, wann immer noch zu retten ist. Nichts vom Geist des Parteitums, der Politisierung, darf am Gesichts-

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kreis dieser Aktion stehen, nichts außer dem Leben der Namenlosen, die es zu retten gilt. Die Situation, in der es selbst die Möglichkeit dieser Aktion nicht mehr geben wird, ist vorauszusehen, wenn auch nicht ihrem Zeitpunkt nach, so doch jedenfalls nach der Entwicklung der Dinge. Es ist die Zeit zu schweigen und zu arbeiten.

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[Aus: Philosophical Interrogations] IV. Social Philosophy Arthur A. Cohen: In your discussions of Hasidism it is clear that the directness and immediacy of meeting are founded upon the fact of community. It would appear that you do not consider Hasidism a merely dead fact in man’s spiritual history. Can this fact be re-created, that is to say, is the order of Hasidic existence a real possibility or only an ideal, but implausible, possibility for modern man? Buber: It is not correct to say that in my presentation of Hasidism the immediacy of meeting is »founded upon the fact of community.« Rather, in my view, it is the other way round: the community is founded upon the immediacy of relation. The Hasidic communal group, like all genuine community, consists of men who have a common, immediate relation to a living center, and just by virtue of this common center have an immediate relation to one another. In the midst of the Hasidic community stands the zaddik, whose function it is to help the Hasidim, as persons and as a totality, to authenticate their relation to God in the hallowing of life and just from this starting point to live as brothers with one another. That is a great historical example of a communal reality which can arise to this or that extent, in this or that form, at different times and at different places. Why should that be implausible for modern man? He need only become radically wearied with the meaninglessness of his existence and acquire an intractable, bold desire to win again a life that has meaning. The beginning in this direction I have recently discussed in the essay »Hasidism and Modern Man« (1957). 1 Kurt H. Wolff: 1. What is the relation between I-Thou and I-It if Thou is a civilization and It is that civilization transformed into an object of assessment? How can »every civilization … be hallowed«? 2 Assuming that the answer is: By relating It back to Thou, what is the sociological cogency of doing this? What, in other words, is the relation between spirit and world? 2. Another instance of the relevance of the last question is that of the significance of the I-Thou philosophy at this time. What are the safe1. 2.

Cf. Hasidism and Modern Man, Vol. I of Hasidism and the Way of Man, ed. and trans. by Maurice S. Friedman (New York: Horizon Press, 1958). Buber, At the Turning (New York: Farrar, Straus and Company, 1952), pp. 21 f.

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guards, if any, against the use of this philosophy as an instrument of political reaction; against its being seized upon as an injunction to withdraw into one’s private garden? How does this philosophy escape such a danger of »ideologization« – the twin danger, perhaps, of the »politicization« of our time (cf. »Abstract and Concrete,« Pointing the Way)? Buber: 1. The first question is not wholly clear to me: I cannot imagine that I address civilization as »Thou«; I cannot conceive anything at all real thereby. On the other hand, my own statement that every civilization »can be hallowed« may not be formulated clearly enough. I do not mean thereby that one can hallow any civilization as a whole; rather, I mean thereby that it is possible for man in every civilization, whatever it is, to hallow life, lived life. What the »sociological cogency« of that is I do not know; indeed, I doubt very much that anything of the sort exists. But I do certainly believe that when men who hallow their lives live with one another, this can also have, among others, the most real and significant »sociological« consequences. But if the question is now posed in a metaphysical instead of a sociological framework, as the question of the relation between spirit and world, then by way of an answer I know only to refer to the fact that there are many different kinds of relation. What concerns me in an especial, and for me decisive, way is the spirit that enters into the human world, that wills to »realize itself« in it. It is clearly the case that the world resists this will far more than yields to it; but it also seems to be true that the longing of the world to become the body of the spirit is secretly becoming ever greater. It appears, too, that the world masks its resistance as yielding, with the intention, of course, of overcoming its longing through seeming satisfaction of it. 2. Against the danger that the I-Thou philosophy will be used as »an instrument of political reaction« there is, so far as I know, no safeguard other than that all its true friends fight this misuse; the weapons for this fight they will find within themselves. As a small example of this I cite what is said against »withdrawal into one’s private garden« in my essay of 1919, »What Is to Be Done,« in Pointing the Way. 3 »Ideologization« is, indeed, the worst thing that can befall the I-Thou philosophy. My friend, the Benedictine Father Caesarius Lauer, pointed out in 1951 4 that the easiest manner of evading the demand of the dialo3. 4.

Pointing the Way: Collected Essays, ed. and trans. by Maurice S. Friedman (New York: Harper Torchbooks, 1963), pp. 108 ff. Cf. Maurice S. Friedman, Martin Buber: The Life of Dialogue, pp. 271 ff.

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gic is to accept it as discussable but unbinding theory. I can only repeat in opposition to this what I wrote in 1923 and Father Caesarius quotes: »The way is there in order that one may walk on it.« Heinz-Joachim Heydorn: 1. In the last analysis, does not all hope for the future depend upon a renewed »community« (koinonia), arising as an earnest of what is to come, as the harbinger, so to speak, of a new power through which history is anticipated? How is such a power possible without hope for the meaning of history? E x p l a n a t i o n : In the address entitled »Hope for This Hour« given in Carnegie Hall, New York City, in 1952, it was said: The Hope for this hour depends upon the renewal of dialogical immediacy between men. But let us look beyond the pressing need, the anxiety and care of this hour. Let us see this need in connection with the great human way. Then we shall recognize that immediacy is injured not only between man and man, but also between the being called man and the source of his existence. At its core the conflict between mistrust and trust of man conceals the conflict between mistrust and trust of eternity. If our mouths succeed in genuinely saying »thou,« then, after long silence and stammering, we shall have addressed our eternal »Thou« anew. Reconciliation leads towards reconciliation. 5 Complete reconciliation of man with creation is an idea which we are apt to associate with the end of human history, in which our destiny is expected truly to fulfill itself. But is not hope for a relative reconciliation with history necessary if the meeting between man and man is to grow into community? Surely in every genuine meeting the deeper reality of our existence is present. »Community,« however, if it desires to be real community in this world and for the sake of this world, requires faith in a new revelation in human history in which the Eternal becomes more visible. I would not here exclude those communities which rely exclusively upon their trust in the activity of God alone. Only this faith lends strength to a community to start on its way and develop the power of its activity, while dialogue can become a conversation in the desert, a kind of final confirmation that the True and the Eternal continue to exist without manifest revelation – like a stream which for ages seeks its way below the surface. Active community with others is community under the image of

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the future. For the present, we live on the mass graves of visions of the past. 2. The question as to whether man will have a place in the society of the future, in the sense of a spiritual understanding of his own nature, undoubtedly depends to a large extent on the question of whether this society will succeed in developing a rich inner diversity. What are the existing objective prerequisites for this? E x p l a n a t i o n : In Paths in Utopia we read: »An organic commonwealth – and only such commonwealths can join together to form a shapely and articulated race of men – will never build itself up out of individuals but only out of small and ever smaller communities: a nation is a community to the degree that it is a community of communities.« 6 The faith of our fathers during the past century was to a great extent a faith in history, in the fulfilling principle which history discloses through its own activity. Today on the European continent, except in the Communist lands, this faith has broken down completely and has been replaced by its exact opposite. However, enough of this awareness of history remains so that we cannot pose any problem without immediately connecting it with the question concerning the meaning of history, that is, concerning the objective possibilities which are held in store by history. The idea of progressing beyond a capitalistic society to dwell in the new community and to live for the day when this present society will be overthrown has led to the formation of the modern communes. These communal associations have, however, all too often and to a large extent adapted themselves to the economic structure of their surroundings and thus have lost their original character. They do not now represent an historically potential power. At the same time that traditional forms that belong to the past are dying – a process that has been going on uninterruptedly since the beginning of modern times – man has hardly ever succeeded for long periods of time in preserving new forms in their original meaning. The reality of industrial society, its unifying and rationalizing power which results in the isolation of the individual, has proved to be stronger. In spite of occasional and noteworthy exceptions, the general drift in the development of society is toward a weakening of the interior diversity of our forms and ways of life. In his Das Problem des Menschen, 7 Martin Buber rightly calls the spirit an »event,« but this event depends at the same time upon the ex6. 7.

Paths in Utopia, trans. by R. F. C. Hull (London: Routledge & Kegan Paul, 1949), p. 136. »What is Man?« trans. by Ronald Gregor Smith, Between Man and Man (Boston: Beacon Press paperback, 1958), pp. 118-205.

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istence of objective conditions which must be evident in the reality of society itself and which the spirit helps to make visible. 3. To what extent is the agreement of way and goal conceivable within the possibilities of historical existence? E x p l a n a t i o n : In the address »Education and World-View,« delivered in 1935 at the Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main, it is stated: How far the future community will correspond to the desired image depends essentially upon the life-attitude of present-day persons – not only of those who lead but of each individual in the ranks. The goal does not stand fast and wait. He who takes a road that in its nature does not already represent the nature of the goal will miss the goal, no matter how fixedly he holds it in sight. The goal that he reaches will resemble the road by which he has reached it. 8

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Certainly these sentences contain a decisive insight. However, the will to realize the future in the present is limited by the deep opposition between image and reality, which opposition we may well diminish but which we can never totally remove. In our decisions, wherever we carry responsibility, we cannot avoid the painful realization that there is no action which is without guilt, without failure toward the goal and thereby also toward our neighbors. Does not the greatness of the human potentiality lie rather in the constant striving toward this agreement of way and goal, in the midst of and in spite of contradictions which we inevitably meet whenever we assume responsibility?

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Buber: 1. I too hope in history (as I have clearly stated in the concluding section of »Prophecy, Apocalyptic, and the Historical Hour,« Pointing the Way 9 ). And that means: I too hope in the growth of »community« in society, in the growing capacity of society to contain community. But this growth is naturally not at all conceivable otherwise than in intimate union with a transformation of men and their relations to one another, and this union not otherwise than as a reciprocal influencing. One must not lose sight of the fact that »society« very easily insinuates itself into the attempt at a realization of »community.« I have observed that here in the land of Israel, in the not unproblematic development of the kibbutzim, and, in fact, in two manifestations: as a result of the economic

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principle, the growing subjection to the market, which had as its consequence the fact that in times of crisis the kibbutzim could not arouse the courage and energy needed for taking the initiative in the reduction in price of the products; and, as a result of the political principle, the cleavage of unified fellowships into party groups fighting one another, which has repeatedly led to the selfdestruction of communities. What can be hoped for in the face of such dangers? Just for those men in whose hearts genuine relation and the striving for its taking effect are so strong that they dare to take their stand against the alleged necessity, the economic or the political. Here as everywhere – in this direction goes my bold hope – will the inner battle, the battle of the spirit, ultimately be the decisive one. That this hope is deeply connected with trust in God – however one may call him – is clear. But I by no means identify this trust with a »trust in the exclusive activity of God«; I do not believe in such an activity, I contest it, I number it among those »visions of the past« to whose »mass graves« Heydorn points. I believe that man is created as a partner of God; which means that I believe in a co-working of the deed of mortal man and the grace of eternity incomprehensible to the human mind. 2. The argument is incontestable on the plane of argumentation; how could it be contested that the spirit has no starting-point for its working outside the currently given reality! Nonetheless, I dare to believe in the implausible. Where the spirit begins may be foreseen; what it attains to from that point cannot be foreseen. Whatever may be inferred from history until now, it cannot be inferred how mighty the spirit can become, perhaps at the time of an elevation of man in his uttermost crisis to the great will to remain man. 3. I said that from the soul. But I have not talked of all that whereby the man who is underway, on the right road taken by him, time after time loses his way; rather I have said and can only repeat it: »He who takes a road …« Walter Goldstein: Since our first exchange of letters in 1942, Professor Buber has known that for a long time this present train of thought has been disturbing me greatly. There are many kinds and conceptions of socialism. But in actuality only one; for effective socialism on earth has until now been unable to do without Marxism, that is, without historical materialism. The various types differ from one another only in degree, which to be sure does not amount, as in Russia, to 100 per cent. I know of only one statement in a letter from Martin Buber to me which is completely unequivocal and clear. Everything else of his about socialism

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which I have read leaves the door open to historical materialism. I therefore ask Professor Buber once more: Can there be in any form at all a rival material kingdom beside the not-to-be-doubted Kingdom of God? Buber: I can hardly imagine a rejection of Marxism still clearer than I have expressed in my books Between Man and Man (»What Is Man?«) and Paths in Utopia. Of course, I reject Marxism just because it is unsocialistic. And what is powerful in a given historical time I can in no case acknowledge as »valid.« Paul E. Pfuetze: Professor Buber, many of your friends as well as your critics have said that they find a strain of romanticism in your social philosophy. I too have thought that there is a certain perfectionism, even utopianism, in your understanding of man and society, which expresses itself, for example, in your optimistic faith in the Israeli kibbutzim and in a failure to deal realistically with the dynamics of large-scale social and political movements. This criticism strikes home to me personally because your position here is so close to my own; and in the past I too have been charged with the same perfectionism. So I raise this issue with you, seeking some reassurance and answer to my own problem. My most serious reservations arise at the point of asking whether and how the intensity of I-Thou attitudes and »we-feeling« can be maintained in any but primary groups whose size permits face-to-face relations? How adapt the I-Thou theory to the practice of great industrial aggregates, of cities like Detroit, New York, or Essen, of highly industrialized nations like England or Germany? How can the small decentralized organic groups, based upon an ethic of primary group attitudes and loyalties, maintain the I-Thou relation without becoming sectarian and separatist? I believe that the small sectarian group is always an answer for the few. I would encourage the wider spread of small, functional, autonomous groups of all sorts as both desirable and possible. But does the spread of such communities, even the larger confederacy of such small organic communities, constitute an adequate total social strategy for the renewal of community? Have recent historical events or your own experiences in Israel done anything to change either your general social philosophy or your faith in the decentralized co-operative settlements as the solution for the social problem?

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Buber: I by no means see in »decentralized co-operative settlements« »the solution for the social problem.« I explicitly call them »experiments,« and even the federative unification of »the most diverse social forms existing side by side« I see only as »aiming at the new organic whole.« 10 Even the kibbutzim I discuss merely as »an experiment that did not fail,« 11 and I have not concealed my critical attitude toward its development (cf. also my answer to Professor Wolff, in this same section, pp. 69, 70). I am of the opinion that the co-operative experiment, developed, can make a fundamental contribution to a restructuring of society; nothing more, but also nothing less. My socialism is not a perfectionist but a meliorist one; what is decisive is what shall be and remain the direction of the always renewed melioration, ever adapting itself to the new historical conditions. The direction is determined for me by a single goal, but by a double motive in its attainment: a negative motive, the reduction of the political in favor of the social principle, of »government« in favor of »administration« so far as it is admissible under the current historical conditions; 12 a positive one, the increasing unfolding of the forces of community within society. Many kinds of things can contribute to this unfolding outside of the communal experiments, things of such different nature as, for example, a more organic ordering of the choice of political representatives, the fostering of neighborliness, even in the streets of New York, the fostering of comradeship, even in the factories of Detroit, etc. Utopian? Thus the road to a new topicality is always regarded, before this road has been seriously taken. Romantic? I am used to this reproach; to the answer that I made to it more than a quarter of a century ago in the third part of »Dialogue« (Between Man and Man), I have today hardly more to add than this: that by the »community,« the unfolding of whose forces I desire, I understand nothing that has already found its form in some past time; and that, when I talk about realization, I think of certain conditions that will presumably be given for it. Jacob B. Agus: What is your view at present of the nature of romantic nationalism? E x p l a n a t i o n : In your early writings and addresses, you expounded a profound conception of Jewish romantic nationalism. Specifically, in your series of lectures published under the heading Reden über 10. Paths in Utopia, pp. 58 ff.; p. 79. 11. Ibid., pp. 139 ff. 12. Cf. »Society and the State« in Pointing the Way, pp. 161 ff., and also »The Validity and Limitation of the Political Principle,« ibid., pp. 208 ff.

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das Judentum (»Talks on Judaism«), you speak of a person’s true self as being contained in the history and aspirations of his people. »The past of his folk is his own personal memory, the future of his folk is his personal task. The way of his folk teaches him to understand his own self and to will his own self.« 13 Your philosophy of Zionism was at that time a reflection of your conception of the organic unity of a people. You discovered in the »national soul« of the Jew »unique« tendencies – such as are calculated to save the world. In general, you asserted the primacy of the people as against the individual, maintaining that »only the one truly bound to his people can answer with his whole being.« 14 Three great events of our generation may have led you to modify your views on this subject: 1. The development of demonic Nazism out of the seeds of romantic nationalism in Germany. Evidently, the »voice of the blood« cannot be trusted. 2. The emergence of the State of Israel, proving in its brief career its similarity to all other nations, its unwillingness and incapacity to rise above immediate, narrow, national gains. 3. The demonstration in recent decades that the soul of democracy is respect for the sanctity of the individual and the universality of the divine law. These ideas are the basic foundations of Anglo-Saxon democracy, where the individual is viewed as primary. Democracy in Germany was wiped away by the very idealization of the concepts of »folk« and »state,« which loom so large in the thought of German political philosophers. In view of our recent experience with both these systems of political thought, do you still assert the primacy of the »folk«? Buber: This question surprises me, for it is formulated as if I had not long since answered it in print. My all too simple treatment of the national problem in my »Talks on Judaism« of 1909-1914 I have already corrected with all requisite clarity in my talk on »Nationalism« 15 in 1921, thus quite a long while before the historical evolution of Nazism, on the one side, and of the State of Israel, on the other, to which Agus points. At that time, during the Zionist Congress of 1921, I pointed out that »the spirit of nationalism is fruitful just so long as it does not make the nation an end in itself.« 13. Reden über das Judentum (Frankfurt am Main: Rütten & Loening, 1911), Lecture 1. 14. Cheruth (Vienna: R. Löwit Verlag, 1919), p 8. 15. Israel and the World: Essays in a Time of Crisis (New York: Schocken Books, 1963), pp. 214 ff.

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But already in those early »Talks on Judaism« the core was not romantic. Essentially, it only modernized the fundamental biblical concepts of »seed« and »land« (Gen. 12:7). It was important at that time to state that in order to be able to develop fully what was intended in it, a community needs biological and territorial continuity. This development is by no means produced by this continuity; and it is just not possible without it. To the monstrous abuse of these two fundamental concepts by National Socialism, I have again, with all requisite clarity, made a reply, in the midst of Hitler’s Germany, in a public speech of 1936 on »The Power of the Spirit.« 16 Again, it is sufficient here to quote a sentence from it: »Blood and soil are hallowed in the promise made to Abraham, because they are bound up with the command to be a blessing« (Gen. 12:2). But as for the State of Israel, the hour for a verdict on it has by no means arrived. He who lives here senses how in the hearts of a growing segment of the young is ever more strongly fought out the battle between the two kinds of nationalism, the opposition between which I pointed out in that speech of 1921. Reinhold Niebuhr: 17 I am afraid that I must completely disagree with Buber on his attitude toward political problems. In every respect he seems to think that there can be an ideal dialogic relationship if one could only »restructure society.« As a matter of fact, all these personal relations exist in transcendence over the basic structure of society, which is partly organic and partly an artifact. It is an artifact insofar as the justice, particularly in modern technical society, depends upon artfully constructed equilibria of power. If one leaves out the structure of the nation or other group and considers the relation of groups to each other, the East-West conflict, for instance, one realizes that there is a tremendous chance of influencing the relation by moral and religious factors. For instance, the mitigation of fanaticism and self-righteousness, the recognition of the humanity of the other side, and so forth. And yet all these relations are not personal but collective. This is a dialogue, as it were, between America and Russia. With all my appreciation of, and devotion to, Professor Buber, I think it is slightly ironic that he should have such a rigorous personal, not to 16. Israel and the World, pp. 173 ff. 17. This statement is taken with Professor Niebuhr’s permission from a letter he wrote June 22, 1956, in reply to a letter of mine concerning his criticism of Buber’s social philosophy. Professor Buber’s reply also comes from letters to me in July and November, 1956 (Friedman).

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say individualistic, interpretation of human relations, when I have always regarded Hebrew thought superior to Christian thought because it had the norm of justice rather than the norm of love, or rather it had the two norms of justice and love, while Christian thought always tended to be perfectionist in terms of the love doctrine. Buber: I am very far from thinking that »there can be an ideal dialogic relationship if one could only ›restructure society.‹« I never thought an ideal dialogic relationship possible in our world as it is. I am a meliorist and not an idealist, and so I want only as much dialogic element as can be realized in human life here and now. The real strength of »collective relations« depends on the strength of the personal relations involved in them. A »dialogue between America and Russia« cannot lead to a real understanding (which goes beyond the »understanding« expressed in pacts and manifestos), except through persons here learning to see in their mind’s eye persons there, and vice versa; that is, really meeting the others. I have no doubt whatever concerning the influence of »moral and religious factors.« But what seems to me of most importance is that their decisive action is done by them not in the form of »principles,« but of elements of interpersonal relations. There is no »norm of love« at all. The commandment of love cannot command other than to be ready to love and willing to act lovingly »with all thy soul.« But there is indeed a norm of justice. I have spoken of it at length in At the Turning, in the Amos chapter of The Prophetic Faith, and in several chapters of Moses. But man tends to accept and to realize this norm only in general and abstract laws (nota bene: Torah does not mean law, but instruction!) and without justice in personal relations, justice becomes poisonous. As to Niebuhr’s statement on the »transcendence« of personal relations, it is obviously a part of the truth. But what he calls the basic structure of society is historically and even prehistorically (as I think in opposition to the prevailing opinion of ethnologists) based on personal relations, and where it subdues them it becomes wrong. As to modern technical society, of course it depends upon »artfully constructed equilibria of power,« but what depends on them is its order and not its justice. If Niebuhr cannot concede this, then obviously we shall have to distinguish carefully between two very different kinds of »justice,« and I for myself am harassed by the thought that the concept of justice must be split in two, bearing even different names. I cannot see the God-willed reality of justice anywhere other than in »being just,« and this means of

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course: being just as far as it is possible here and now, under the »artful« conditions of actual society. So in my opinion it is not the justice that depends upon them, but ever again the realizable »how much« of it. Sometimes, striving to be just, I go on in the dark, till my head meets the wall and aches, and then I know: Here is (now) the wall, and I cannot go further. But I could not know it beforehand or otherwise.

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Dank »Je älter man wird, um so mehr wächst in einem die Neigung, zu danken. Vor allem nach oben. Das Leben wird ja nun, so stark wie es nie zuvor möglich gewesen wäre, als eine unentgeltliche Gabe empfunden, und gar jede restlos gute Stunde nimmt man, wie ein überraschendes Geschenk, mit ausgestreckten dankbaren Händen entgegen. Sodann aber verlangt es einen Mal um Mal, seinem Mitmenschen zu danken, selbst wenn er nichts Besonderes für einen getan hat. Wofür denn? Dafür, daß er mir, wenn er mir begegnete, wirklich begegnet ist; daß er die Augen auftat und mich mit keinem andern verwechselte; daß er die Ohren auftat und zuverlässig vernahm, was ich ihm zu sagen hatte; ja, daß er das auftat, was ich recht eigentlich anredete, das wohlverschlossene Herz. Eine Stunde großen Dankes ist diese, in der ich das schreibe, vor mir in einer schönen, von meiner Enkelin hergestellten Riesenschachtel all die Bekundungen, empfangen an diesem Meilenstein-Tag meines Lebenswegs von Menschen, die mir unterwegs leiblich oder geistig begegnet sind, und in meinem Gedächtnis all die unmittelbaren Bekundungen. Der Dank, den ich allen hier sage, ist nicht an eine Gesamtheit, sondern an jeden einzelnen gerichtet.«

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In Heidelberg (1964) Ansprache nach der Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Heidelberg 5

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Daß mir das Ehrendoktorat der Universität Heidelberg verliehen worden ist, hat für mich eine besondere, in mein Lebensgedächtnis, meinen Lebenszusammenhang eingreifende Bedeutung. Ich habe zwar nicht in Heidelberg studiert, aber in der Vorstellungswelt des jungen Menschen war hier die hohe Schule kat exochen, die exemplarische Stätte großen Lehrens. Als mir, bald nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs – den ich schon damals als den Beginn der Menschheitskrisis empfand –, der Aufenthalt in Berlin allzu beschwerlich wurde und ich mich nach einem stilleren Wohnort umsah, ist die Nähe Heidelbergs bestimmend für meine Wahl geworden. Die atmosphärische Nähe dieses organisch-geistigen Zentrums hat sich dann mehr als zwei Jahrzehnte lang hilfreich in meinem Leben und meiner Arbeit ausgewirkt. In den Jahren bis zum Umbruch von 1918/1919 war es vor allem der persönliche Umgang mit Max Weber, worin sich diese Wirkung manifestierte; noch heute sind mir die Stunden, die ich in dem Haus am Neckar verbringen durfte, bildhaft gegenwärtig. Aus der Zeit der Weimarer Republik leben in meiner Erinnerung die Spaziergänge über den »Philosophenweg« fort, zu denen ich immer wieder die Philosophen und Gelehrten aufforderte, die mich in jenen Jahren besuchten. Aber auch noch aus den letzten Jahren, die ich in Deutschland verbracht habe, bis zum Frühling 1938, Jahren, wo ich nur noch selten nach Heidelberg fuhr, habe ich eine gute Erinnerung bewahrt: die an die Besuche einiger jungen Menschen aus Heidelberg, die – scheinbar der herrschenden Richtung nahestehend – zu mir kamen, um mir ihr Leid zu klagen. All dies hat sich mir nun, stärker als je zuvor, miteinander verflochten, als ich daran ging, diese Niederschrift abzufassen, die mein Heidelberger Freund und Verleger Lambert Schneider dort verlesen soll. Ich empfinde die hohe Ehrung, die die Universität Heidelberg mir hat zuteil werden lassen, als die Krönung all dieser Lebenszusammenhänge.

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Erinnerung an Hammarskjöld 1962 Rede für den Schwedischen Rundfunk Ich bin ersucht worden, den Hörern des Schwedischen Rundfunks etwas über mich selbst zu sagen. Da ist es wohl das beste, ich erzähle Ihnen von meinen Beziehungen zu einem großen Sohn des schwedischen Volkes, Dag Hammarskjöld. Als ich im Frühjahr 1958 Gastvorlesungen an der Universität Princeton hielt, schrieb mir Hammarskjöld, er habe in meinem Buch »Pointing the Way« meine Reden und Aufsätze über die politischen Grundprobleme dieser Stunde gelesen. »I want to tell you«, schrieb er, »how strongly I have responded to what you write about our age of distrust and to the background of your observations which I find in your philosophy of unity created ›out of the manifold‹.« Als wir dann in New York in dem Haus der merkwürdigerweise so genannten United Nations zusammenkamen, zeigte es sich, daß es uns beiden in der Tat um das gleiche ging: ihm, der an dem vorgeschobensten Posten internationaler Verantwortung stand, und mir in der Einsamkeit eines Geistesturms, der in Wahrheit ein Wachtposten ist, von dem aus man alle Fernen und Tiefen der planetarischen Krisis zu erspähen hat. Daß es uns, sage ich, um das gleiche ging. Uns beide peinigte gleicherweise die von einem fundamentalen gegenseitigen Mißtrauen durchsetzte Scheinsprache der Vertreter von Staaten und Staatengruppen, die in der unveränderlichen Routine aneinander vorbei zu den Fenstern hinausreden. Wir beiden hofften, wir beiden glaubten daran, daß doch noch zur rechten Zeit vor der Katastrophe treue, ihrer wahren Sendung treue Vertreter der Völker miteinander in ein echtes Gespräch, in eine echte Verhandlung treten würden, in der es sich in aller Klarheit ergeben müßte, daß die gemeinsamen Interessen der Völker noch stärker sind als die einander entgegengesetzten. Eine echte Verhandlung, in der es sich ergeben müßte, daß ein Zusammenwirken – ich sage nicht: »eine Koexistenz«, das ist nicht genug, ich sage und meine trotz all der ungeheuren Schwierigkeiten: eine Kooperation dem gemeinsamen Untergang vorzuziehen ist. Denn es gibt kein Drittes, nur eins von beiden: gemeinsame Realisierung der großen gemeinsamen Interessen oder das Ende all dessen, was man auf der einen und auf der anderen Seite die menschliche Zivilisation zu nennen pflegt. Damals, im Hause der »Vereinigten Nationen« einander gegenübersitzend, erkannten wir beide, Dag Hammarskjöld und ich, was es im Grunde war, das uns miteinander verband. Aber ich spürte, ihn anschauend

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und anhörend, noch etwas, das ich mir nicht zu erklären vermochte, etwas Schicksalhaftes, das irgendwie mit dieser Weltstunde, mit seiner Funktion in dieser Weltstunde zusammenhing. Bald darauf, im Juni 1958, legte er in einer Dankrede an der Universität Cambridge, die ihm das Ehrendoktorat verliehen hatte, Zeugnis für unsere Gemeinsamkeit ab, indem er mit besonderer Betonung einen großen Teil der Ansprache vorlas, die ich 1952 in New York gehalten hatte, und zwar den Teil, dessen Gegenstand die Bekämpfung des allgemeinen existentiellen Mißtrauens war. Im Januar 1959 besuchte mich Hammarskjöld in Jerusalem. Im Mittelpunkt unseres Gesprächs stand das Problem, das mich im Lauf meines Lebens immer wieder beansprucht hat: das Scheitern des geistigen Menschen in seinen geschichtlichen Unternehmungen. Ich exemplifizierte es an einem der höchsten uns bekannt gewordenen Beispiele: an dem Mißlingen von Platons Versuch, in Sizilien seinen Staat der Gerechtigkeit zu begründen. Ich empfand, und Hammarskjöld, das war mir gewiß, empfand es wie ich: auch wir waren Empfänger jenes Briefs, in dem Platon von seinem Scheitern und von seiner Überwindung dieses Scheiterns erzählt. Im August 1961 schrieb mir Hammarskjöld über seine Eindrücke vom Lesen einiger meiner philosophischen Werke. Er wolle, schrieb er, eins dieser Bücher ins Schwedische übersetzen: »so as to bring you closer to my countrymen«, fügte er hinzu und fragte noch an, welches Buch ich dafür für das geeignetste halte. In meiner Antwort empfahl ich ihm, das Buch »Ich und Du« zu übersetzen. Er ging sogleich an die Arbeit. In dem Brief, in dem er mir darüber berichtete, bezeichnete er das Buch als »keywork«, decisive in its message. Ich erhielt jenen Brief eine Stunde, nachdem ich am Radio die Nachricht von seinem Tode gehört hatte. Wie mir hernach berichtet worden ist, hat er noch auf seinem letzten Flug an der Übertragung von »Ich und Du« gearbeitet.

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Ein Gespräch mit Tagore Es sind etwa 25 Jahre her, daß Rabindranath Tagore mich aufforderte, mit ihm zusammenzutreffen, um das Problem des Zionismus und der jüdischen Besiedlung Palästinas zu besprechen. Die Begegnung fand in Prag, im Hause des Sanskritisten Prof. Winternitz, statt. Ich habe den Gang des Gesprächs nicht aufgezeichnet, aber seinen wesentlichen Inhalt kann ich aus dem Gedächtnis skizzieren. Tagore äußerte seine Befürchtung, eine Rückkehr des jüdischen Volkes zur nationalen Selbständigkeit würde auf dessen Charakter ungünstig einwirken. Es würde dessen höchste und für die Menschheit wertvollste Eigenschaften schwächen, als welche er die Verehrung des Geistes und den Universalismus bezeichnete. Während es in der Zerstreuung unter den Völkern, wie sehr es auch ihren Einflüssen ausgesetzt war, diese seine von seiner Frühzeit ererbte Eigenart bewahrte, würde es sich nun, zur Selbstbestimmung erwachsen, als Volk dem engherzigen Nationalismus und dem seelenlosen Pantechnizismus der abendländischen Völker assimilieren, um sich an diesem schwierigsten geopolitischen Punkt, Palästina, behaupten zu können. Ich antwortete, die von ihm gekennzeichnete Gefahr bestehe in der Tat, aber es gehe nicht an, ihr auszuweichen. Wie im Leben der Einzelnen, so in dem der Völker, gebe es in einem bestimmten Stadium ihres Weges sozusagen lebensnotwendig drohende Gefahren, auf die man losgehen müsse, um sie nötigenfalls zu bestehen, denn wenn man sich ihnen in der drängenden Geschichtsstunde entziehe, verliere man die Fähigkeit zum Weiterschreiten, erstarre und ersterbe. Worauf es ankommt, sei, die besten Kräfte auf die Begegnung mit der Gefahr zu richten: dann würde sie sich entweder verflüchtigen, oder wir müßten dann mit unseren konzentrierten Kräften sie bekämpfen und bezwingen. Im Falle des jüdischen Volkes in dieser Stunde bedeute das zweierlei: nach innen, den Zionismus selber mit jenem ererbten Gut, der Geistesverehrung und dem Universalismus, zu erfüllen und so in ihm selber das Gegengift herzustellen; nach außen aber, die Siedlungsarbeit in Palästina im Einvernehmen mit den Völkern des Orients, ja im Bunde mit ihnen durchzuführen, um zusammen mit ihnen eine große föderative Struktur zu errichten, die vom Abendland lernen und empfangen könnte, was an positiven Zwecken und Mitteln von ihm zu lernen und zu empfangen ist, ohne aber den Einflüssen seiner inneren Zerrüttung und Ziellosigkeit zu erliegen. Tagore stimmte mir zu, wandte dann aber ein, die abendländische Zi-

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vilisation sei trotz der Entartungserscheinungen in ihr zu mächtig, als daß man sie so zugleich annehmen und abwehren könnte. Man müßte ihren Maschinen und Kanonen das Seinsprinzip des Morgenlandes, die echte Meditation, entgegenstellen, man müßte dem Okzident die Leere und Sinnlosigkeit seines Getriebes demonstrieren und ihn lehren, zusammen mit dem Orient sich in die Schau der ewigen Wahrheit zu versenken. Dem widersprach ich. Er möge sich, sagte ich, einen Mann vorstellen, der auf seinem Rücken ein schweres Wahrzeichen bergaufwärts trägt, um es auf dem Gipfel einzupflanzen. Einer kommt ihm halbwegs entgegen, schüttelt den Kopf über sein wahnwitziges Vorhaben und rät ihm, die schwere Last doch abzuwerfen, dann würde ihm der Aufstieg leicht werden. »Nicht so«, antwortete der Mann, »ich steige ja auf, um oben dieses Wahrzeichen aufzustellen. Ich halte es und es hält mich.« In dieser Lage sei heut, trotz allem, der Menschengeist. Er dürfe die Last seiner Zivilisation nicht abwerfen, denn in ihr berge sich ein hoher Wert, der erst aufstrahlen würde, wenn sie aus der Sphäre des innern Widerstreits in die reine Gipfelluft der Gerechtigkeit und des Friedens gelange. »Und die Juden?« fragte Tagore. »Die Juden«, erwiderte ich, »sind der exponierteste Punkt der modernen Menschheit. Wagnis und Chance der Zivilisation verdichten sich in ihrer Existenz, ihre Existenz selber ist ein Experiment. Das wird sich in Palästina nur noch steigern. Wir müssen auf die Gefahr losgehen, um sie zu bestehen. Dazu brauchen wir eure brüderliche Hilfe.« Tagore reichte mir die Hand, und wie ich empfand gewiß auch er, daß mitten in all den Fährnissen der Völkergeschichte unverletzlich die Tatsache der Tatsachen, die menschliche Brüderlichkeit, dauert.

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Gemeinschaft und Umwelt 1953 Aufzeichnung für das Vorwort zu: E. A. Gutkind, Community and Environment Wenn man die große »soziale Frage« aus ihrer sublimen »dialektischen« Abstraktheit in die konkrete Sprache der Wirklichkeit, in der wir leben, zu übertragen sucht, erweist es sich, daß die verschiedenen Formulierungen dieser Frage allesamt einen im wesentlichen quantitativen Charakter tragen, zum Beispiel: »Welches ist, bei größtmöglicher Leistung der Gesamtwirtschaft, das Maximum des Anteils des arbeitenden Menschen am Ertrag seiner Arbeit, und welche Vorkehrungen müssen getroffen werden, um ihm dieses Maximum zukommen zu lassen?« Durch die intellektuale und materiale Gewalt, die diese Art des Fragens und dessen Konsequenzen in unserem Zeitalter angenommen haben, sind eine Reihe von völlig konkreten »kleinen« Fragen verdrängt oder niedergehalten worden, die eminent qualitativen Charakters sind, zum Beispiel: »Wie arbeitet gegenwärtig der Arbeiter in einer arbeitstechnisch höchstentwickelten Fabrik? Als Mensch oder als Außenglied einer Maschine? Und wie kann künftig der Technik aufgegeben werden, den Menschen als Menschen in ihre Rechnung einzustellen?« Wem es darum zu tun ist, daß der Mensch, im ganzen Zusammenhang seiner Existenz, als Mensch lebe, für den sind diese »kleinen« Fragen – die bestehen bleiben, wie immer jene anderen »gelöst« werden mögen – groß, und er geht daran, jeder in seinem eigenen Gebiet, die Richtung zu zeigen und zu hüten. Eine solche Frage lautet: »Wie sind die Menschen der modernen Zivilisation behaust und wie müßten sie behaust sein, um als Menschen zu leben?« Es gibt keine konkretere und keine aktuellere Frage. Ich erinnere mich, vor mehr als 40 Jahren in einem Buche von Chesterton (nicht wörtlich, aber ungefähr) gelesen zu haben, die Lösung der sozialen Frage sei darin zu finden, daß jeder sein eigenes Haus habe. Dieser Tage las ich in der Zeitung, der Ministerpräsident von Burma habe seinem Volke einen »Wohlfahrtsstaat« versprochen, in dem jeder Bürger sein eigenes Haus haben sollte. Dergleichen klingt unseren Ohren wie eine romantische Utopie, also wie eine Utopie, der die schätzbarste Eigenschaft einer Utopie fehlt: unromantisch zu sein. Aber es ist nicht so romantisch und auch nicht so utopisch, wie es klingt; denn es hängt mit einer jener Urforderungen des Menschenherzens zusammen, die irgend einmal, über Nacht, in die Praxis einbrechen und hier selbstver-

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ständlich werden. Der Mensch muß nicht nur wohnen, er will es auch. Und er will in einem Hause wohnen. »Haus« aber bedeutet in der unvergänglichen Ursprache des Menschenherzens: mein Haus, dein Haus, eines Menschen eigenes Haus. Das Haus ist der feste Würfel, den der Mensch der Unheimlichkeit des Weltraums abgetrotzt hat; es ist seine Wehr gegen das Chaos, das zu ihm einzudringen droht. Darum geht sein tiefer Wunsch darauf, daß es sein eigenes Haus sei, das er mit keinem andern als mit den Seinen zu teilen brauche. All dies jedoch ist nur noch Voraussetzung für das Eigentliche, wenn wir erst dahin gelangt sind, die essentielle menschliche Wirklichkeit nicht mehr als eine des individuellen Lebens (ebensowenig wie als eine des kollektiven) zu sehen, sondern als etwas, das sich zwischen Mensch und Mensch, zwischen Ich und Du vollzieht. Denn das Haus des Menschen, um das es ihm geht, steht dann nicht mehr irgendwo, gleichviel wo, meinetwegen in einer reizvollen Isolierung, wenn er nur von da mühelos zu seiner Arbeitsstätte kommen kann, wo er vielleicht soundso viele Stunden einen Raum mit »fremden« Menschen teilen muß, um sie alsdann schnell und gründlich zu verlassen und »nach Hause« zu fahren. Sondern das Haus des Menschen, um das es ihm geht, steht jetzt zwischen Häusern, zwischen Nachbarhäusern, zwischen den Häusern seiner Nachbarn. Das uneingestandene Geheimnis des Menschen ist, daß er in seinem Wesen und seiner Existenz von seinen Mitmenschen bestätigt werden will und daß er wünscht, sie möchten ihm ermöglichen, sie zu bestätigen, und zwar jenes und dieses nicht bloß in der Familie und dazu noch in der Parteiversammlung oder im Wirtshaus, sondern auch im Verlauf der nachbarlichen Begegnungen, etwa wenn er und der andere aus der Tür seines Hauses oder an das Fenster seines Hauses tritt und der Gruß, mit dem sie einander begrüßen, von einem wohlwollenden Blick begleitet wird, einem Blick, in dem die Neugier, das Mißtrauen und die Routine durch eine gegenseitige Teilnahme überwunden worden sind: der eine gibt dem anderen zu verstehen, daß er sein Vorhandensein billigt. Dies ist das unentbehrliche Minimum der Humanität. Soll die Menschenwelt eine menschliche Welt sein, so muß Unmittelbarkeit zwischen den Menschen walten, und so auch zwischen Menschenhaus und Menschenhaus. Und wie in allem, so müssen auch hier die institutionelle und die erzieherische Einwirkung einander ergänzen. Das heimliche Verlangen des Menschen nach einem Leben in gegenseitiger Bestätigung muß durch Erziehung entfaltet werden, aber es müssen auch die äußeren Bedingungen geschaffen werden, deren es bedarf, um seine Erfüllung zu finden. Den Baumeistern muß die Aufgabe gestellt werden, auch für den

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menschlichen Kontakt zu bauen, Umgebungen, die zur Begegnung einladen, und Zentren, die die Begegnung gestalten. Dieses Buch hier will von der Architektur aus der Wiedergeburt der menschlichen Dialogik dienen. Darin liegt seine Wichtigkeit.

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»In zwanzig Jahren« 1961 Antwort auf eine Rundfrage der Presseagentur Novosti in Moskau 5

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Sie richten an mich die Frage: What I think the world will be like in 20 years. Diese Frage kann ich nicht einmal vermutungsweise beantworten. Ich setze zwar ebenso wie Sie voraus, that by the joint efforts of the nations war will be averted and mankind will be able to develop in peace conditions. Aber alles hängt davon ab, was hier das Wort »Friede« bedeutet: bloßes Aufhören des kalten Kriegs oder wirkliche Koexistenz. Wenn der Weg aber nicht zu einem neuen, der zu erwartenden weiteren technischen Entwicklung wegen noch gefährlicheren kalten Krieg führen soll, kann und darf mit »wirklicher Koexistenz« nichts Geringeres gemeint sein als: wirkliche Kooperation zur Bewältigung der immer kritischer werdenden gemeinsamen Probleme des Menschengeschlechts. Trotz der fundamentalen Verschiedenheit der Anschauungen über soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit halte ich eine solche Kooperation, gerade im Sinne eines echten Sozialismus, für möglich, wenn es in direkten, unbefangenen und umfassenden Aussprachen berufener, unabhängig und realistisch denkender Menschen aus beiden Lagern gelingen wird, die Dringlichkeit der vitalen gemeinsamen Interessen gemeinsam zu erkennen und die sich daraus für eine Kooperation ergebenden praktischen Folgerungen zu ziehen. Was in diesen Aussprachen erreicht wird und in welchem Maße die Führer der großen Lager gemeinsam das Erreichte in Wirklichkeit umzusetzen verstehen werden, davon hängt unter anderem auch »the man’s motto in 1981« ab, nach dem Sie fragen.

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Über den »bürgerlichen Ungehorsam« 1962 Zum 100. Todestag von Henry Thoreau Es sind nun nahezu sechzig Jahre her, daß ich Thoreaus Traktat über den »bürgerlichen Ungehorsam« kennenlernte. Ich las ihn mit dem starken Gefühl: Das ist etwas, was mich unmittelbar angeht. Erst sehr viel später aber habe ich verstanden, woher jenes Gefühl kam. Es war das Konkrete, Persönliche, das »Jetzt und Hier« an der Schrift, was ihr mein Herz gewann. Thoreau formulierte nicht einen allgemeinen Grundsatz als solchen; er beschrieb und begründete seine Haltung in einer bestimmten historisch-biographischen Situation. Er sprach seinen Leser im Bereiche dieser ihnen gemeinsamen Situation so an, daß der Leser nicht bloß erfuhr, warum Thoreau damals so handelte, wie er handelte, sondern – wofern dieser Leser nur redlich und unbefangen war – auch, daß er selber, der Leser, gegebenenfalls eben solcherweise handeln mußte, wenn es ihm ernstlich darum zu tun war, seine menschliche Existenz zu verwirklichen. Es geht hier nicht einfach um einen der vielen Einzelfälle in dem Kampf einer machtlosen Wahrheit gegen eine wahrheitsfeindlich gewordene Macht. Es geht um die ganz konkrete Aufzeigung des Punktes, an dem je und je dieser Kampf zur Pflicht des Menschen als Mensch wird. Indem Thoreau von seiner geschichtlichen Situation so konkret spricht, wie er es tut, sagt er das für alle Menschengeschichte Gültige auf die richtige Weise aus.

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Ich werde immer wieder gefragt, woran – nicht in einer bestimmten geschichtlichen Situation, sondern ganz allgemein – die civil disobedience ihre Legitimität erweisen kann. Darauf weiß ich zunächst nichts anderes zu antworten: Ungehorsam solcher Art ist dann rechtmäßig, wenn er in Wahrheit Gehorsam ist, Gehorsam einer höheren Instanz gegenüber als der man jetzt und hier nicht gehorcht, genauer: Gehorsam der höchsten Instanz gegenüber. Nun aber wird mir mit einer neuen Frage entgegnet: Woher ich denn das Gebot der höchsten Instanz für diese Situation jetzt und hier kenne. Man kann diese Frage in die Sprache des evangelischen Gleichnisses etwa so übersetzen: »Wo ist die Grenze dessen, was ich je und je Cäsar zu geben habe?« Jeder Versuch, diese Frage auf der Ebene einer allgemeingültigen Begrifflichkeit unangreifbar zu beantworten, muß fehlschlagen. Das Absolute kann sich in unserer Welt nicht als allem Relativen unbedingt überlegen erweisen, weil die stimmmächtigen Affen des Absoluten ihre Ansprüche, jeder den seinen, mit den erforderlichen dialektischen Mitteln wirksam darzutun verstehen, um den Ungehorsam zu brandmarken. Jeder Cäsar, jede Cäsarität, gleichviel, in welcher Form sie erscheint, jede geschichtliche konsistente Macht, figuriert den ihr Untergebnen gegenüber als von Gottes Gnaden bestehend, gleichviel, welchen Namen dieser Gott führen mag. Wir werden somit schließlich doch wieder genötigt, dem Fragen und Antworten in allgemeinen Begriffen ein Ende zu machen und unmißverständlich deutlich zu machen, daß man fragend und antwortend die Situation unablässig im Auge behalten muß. Nicht wo zu allen Zeiten und in allen Räumen legitimerweise mein gehorchender Ungehorsam beginnt, habe ich zu sagen, sondern wo er jetzt und hier beginnt. Das aber ist in der Situation, in der wir leben, leichter zu sagen geworden als in irgendeiner früheren des Menschengeschlechts. Denn der Mensch ist drauf und dran, sich durch seine eigenen Handlungen seinen Anteil an der Bestimmung seines Schicksals entgleiten zu lassen. Die heute allumfassende Vorbereitungen treffen, verweigern sich der Vorstellung, welche Möglichkeit sich durch eben diese Vorbereitungen eröffnet. Es ist die Möglichkeit, daß im Gang der einander überbietenden wechselseitigen kriegerischen Überraschungen von seiten der beiden Partner sozusagen – bei scheinbarer Fortdauer der menschlichen Anordnungen – das gefährlichste unsrer Gemächte das Spiel autonom

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Nochmals über den »bürgerlichen Ungehorsam«

fortsetzt, bis es ihm gelingt, den menschlichen Kosmos in ein Chaos zu verwandeln, über das hinaus wir nicht mehr zu denken vermögen. Können die Gebieter der Stunde dem Getriebe, das sie nur zum Schein beherrschen, Halt gebieten? Werden sie noch rechtzeitig den pantechnischen Krieg verhüten können? Mit anderen Worten: Werden sie statt des üblichen »politischen« Aneinandervorbeiredens über mächtige Fiktionen zueinander über die Wirklichkeit reden lernen, das heißt miteinander die wirklichen beiderseitigen Interessen klären, die gegensätzlichen und die gemeinsamen vergleichen und aus diesem Vergleich die Folgerungen ziehen, die heute schon jeder unabhängig Denkende zu ziehen vermag? Können aber, wie ich meine, die Gebieter der Stunde das nicht, wer soll hier noch rechtzeitig einspringen, wenn nicht die »Ungehorsamen«, die der irregehenden Macht als solcher personhaft entgegentreten? Muß nicht eine planetarische Front solcher civil disobedients bereitstehn, bereit nicht wie sonst Fronten zum Kampf, sondern zum rettenden Gespräch? Wer aber sind diese, wenn nicht diejenigen, welche die Stimme hören, die sie aus der Situation, der Situation der menschlichen Krisis, anspricht und ihr gehorchen?

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Über die Todesstrafe 1928 Antwort auf eine Rundfrage

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Meine Antwort auf die mir vorgelegten Fragen kann ich in die nachstehenden Sätze zusammenfassen: 1. Die Todesstrafe ist partieller Selbstmord ohne legitimiertes Subjekt. 2. Sie wirkt nicht abschreckend, nur durch ihre Schrecken die Menschen noch tiefer in die Wirrnis hinein verstörend. 3. Dem Selbstschutz der Gesellschaft müssen durch seinen Zweck die Grenzen gezogen sein, und sie müssen immer neu nachgeprüft werden.

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Danksagung 1963 Wieder ist für mich eine Stunde gekommen, in der ich auf eine besondere Weise zu danken, weithin zu danken habe. Das ist mir Anlaß gewesen, wieder einmal dem Wort danken nachzusinnen. Es ist ja gemeinverständlich genug, aber eindeutig umschreiben läßt es sich nicht leicht. Man merkt bald: es gehört zu den Wörtern, die keinen einheitlichen Ursprungssinn haben. Demgemäß erweckt es in verschiedenen Sprachen verschiedene Assoziationen. Ich will in diesem Zusammenhang nur ein paar Beispiele dafür anführen. Im Deutschen und im Englischen hängt danken mit denken, thank mit think im Sinn von gedenken, sich jemands erinnern zusammen: wer ich danke dir sagt, erklärt dem Angesprochenen, er werde ihn im Gedächtnis bewahren, und zwar – das versteht sich hier charakteristischerweise von selbst – in einem freudigen und freundlichen Gedächtnis; daß man jemand auch in einem andersartigen bewahren kann, wird hier einfach ausgeschaltet. Anders im Hebräischen. Da bedeutet die Verbalform hodoth zunächst sich (zu jemand) bekennen, sodann danken. Wer dankt, bekennt sich zum Bedankten, er will sich jetzt und fortan zu ihm bekennen. Das schließt natürlich das Gedenken ein, aber es ist mehr als das. Es ereignet sich nicht bloß drin in der Seele, es geht aus der Seele in die Welt und wird zur Handlung, zum Ereignis in ihr. Sich so zu jemand bekennen heißt aber: ihn in seiner Existenz bestätigen. Es ist meine Absicht, jeden, dessen gute Wünsche zu meinem 85. Geburtstag mir zugekommen sind, in dankbarem Gedächtnis und Bekenntnis zu bewahren.

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Den drei Veröffentlichungen, in denen ich das mir (aus verschiedenen Gründen) bewahrenswert Scheinende aus meinen Schriften eingesammelt habe – dem Buch »Hinweise 1 « von 1953, den drei gewichtigen Bänden der »Werke« (I. Schriften zur Philosophie, 2. Schriften zur Bibel, 3. Schriften zum Chassidismus) 2 von 1962 bis 1964 und dem sie zu ergänzen bestimmten, wenn auch von ganz anderen Gesichtspunkten aus zusammengestellten Band »Der Jude und sein Judentum 3 « von 1963 –, lasse ich hier eine vierte und letzte folgen. Es ist dies eine Nachlese im genauen Sinn des Wortes. Demgemäß läßt sich der Gesichtspunkt, der hier die Auswahl (eine solche hat auch diesmal stattgefunden) bestimmt hat, nicht wie dort in eine sachliche Formel fassen. Bei der Auswahl dessen, was dem literarischen Ertrag all dieser Jahre – das älteste Stück stammt von 1902, das jüngste von 1964 – entnommen worden ist, hat kein anderes Prinzip gewaltet als dieses: das, und nur das, gehört hierher, was mir heute nach als gültiger, als des Überdauerns würdiger Ausdruck einer Erfahrung, eines Gefühls, eines Entschlusses, ja sogar eines Traums erscheint. Demgemäß habe ich auch einige meiner Gedichte, unveröffentlichte und ein paar bereits veröffentlichte (Gedichte habe ich nur selten drucken lassen), hier aufgenommen. Das Ganze hätte ich, dieser Zusammensetzung gemäß, auch wohl »Zeugnis« benennen können. Dem Charakter des Buches gemäß tragen die zehn Abteilungen, in denen es sich aufbaut, keine Überschriften; aber man wird wohl unschwer erkennen, was in jeder einzelnen von ihnen das tragende Motiv ist. Die Sichtung und Siebung des vielfaltigen Materials ist mir durch die gründliche und unermüdliche Hilfe meiner Sekretärin, Frau Margot Cohn, ermöglicht worden, der an dieser Stelle ein besonderer Dank gebührt. Jerusalem, 9. Februar 1965

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Gesammelte Essays. Zürich, Manesse Verlag. Kösel Verlag, München, und Verlag Lambert Schneider, Heidelberg. Gesammelte Reden und Aufsätze. Köln, Joseph Melzer Verlag.

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Einzelkommentare Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit Am 25. April 1938, einen Monat nach seiner Ankunft in Palästina, hielt Buber seine Antrittsvorlesung an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Die Lehrveranstaltung, die in den Zeitungen als ein großes Ereignis angekündigt wurde, behandelte das platonische und jesajanische Staatsideal, sowie die Unterschiede zwischen dem althebräisch-biblischen und dem griechischen Geistesbegriff. Sie wurde auf Hebräisch gehalten. Bei der Abfassung des Manuskripts bediente sich Buber der sprachlichen Unterstützung von Moshe Eliyahu Jernensky (1887-1949), eines hebräischen Schriftstellers und Übersetzers aus dem Russischen, Französischen und Deutschen ins Hebräische, der in Berlin gelebt hatte und 1934 nach Palästina emigriert war. Bei den Zuhörern fand Bubers Antrittsrede großen Beifall. Eine deutsche Übersetzung erschien noch im selben Jahr als kleine bibliophile Broschüre in Deutschland im Schocken Verlag sowie in einer gekürzten Fassung im Juli in der Zeitschrift Der Morgen: Monatsschrift der Juden in Deutschland 4 (1938), S. 136-144. Die thematische Vorbereitung der Vorlesung hatte Buber schon in den vorhergehenden Monaten beschäftigt. Aus Heppenheim schrieb er am 12. November 1937 einen Brief an den 1935 zum Rektor der Hebräischen Universität gewählten Hugo Bergmann, in dem er die inhaltlichen Schwerpunkte seiner Lehrveranstaltung in großen Zügen skizzierte. Während er auf die Einwanderungsgenehmigung wartete, entwarf er den Gedankengang der Vorlesung, die vor dem Hintergrund der europäischen und palästinensischen Geschichte jener Jahre zu lesen ist: »Da das ursprünglich vorgesehene Thema in einer akademischen Stunde nicht bewältigt werden kann, habe ich ein knapperes gewählt: Gemeinschaftsideen und geschichtliche Wirklichkeit. Was das Thema an tragischem Gehalt birgt, möchte ich einerseits an Platons Syrakus-Unternehmen, andererseits an der jesajanischen Politik exemplifizieren.« (B II, Brief Nr. 581, S. 648.) Buber weist dann auf einen damit verbundenen thematischen Ausblick über den Untergang der Helden in der griechischen Tragödie und die darauffolgende Theophanie hin. Diese Weiterentwicklung des Stoffes ist aber im Vorlesungstext nicht zu finden. Wie aus einem Brief an Ernst Simon hervorgeht, hat Buber Anfang März 1938 schon viele Aufzeichnungen für die Antrittsvorlesung (und auch für die ersten Vorlesungen seines Universitätskurses) gemacht (vgl. Brief an Ernst Simon vom 2. März 1938, B II, S. 658 f.). Die Frage der Sprache

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steht bei der Vorbereitung der Antrittsrede und der Universitätsvorlesungen im Mittelpunkt seiner Überlegungen. Im Hinblick auf seine Übersiedlung nach Palästina hatte Buber seit mehreren Jahren intensiv Hebräisch studiert, aber das gesprochene Hebräisch bereitete ihm anfangs viel Mühe. In einem an Ernst Simon gerichteten Brief (5. November 1937, in: B II, S. 646-648) behandelt Buber die Frage nach der »Hebraizität« (ebd., S. 647) seiner Vorlesungen und berichtet über die künftige Mitarbeit von Zwi Woyslawski (1889-1957), eines hebräischen Essayisten, der Bubers dialogische Schriften ins Hebräische übersetzte und seine auf Hebräisch entworfenen Vorlesungstexte sprachlich und stilistisch revidieren sollte. Da der sprachliche Duktus Woislawskis Buber jedoch zuletzt nicht als angemessen erschien, war es schließlich vor allem Moshe Jernensky, der Buber bei der sprachlichen Gestaltung seiner Texte und vor allem bei der Vorbereitung seiner Vorlesungen in der ersten Jerusalemer Zeit als Assistent zur Seite stand. (Vgl. Briefe an Ernst Simon vom 5. November 1937 und vom. 2. März 1938, in: B II, S. 647, 658.) Im März 1936 hatte Hugo Bergmann Buber geraten, nach seiner Ankunft in Palästina nicht zu lange mit dem Beginn der Vorlesungen zu warten. Deshalb bittet Buber Jernensky schon Anfang März 1938 darum, spätestens am 1. April mit der sprachlichen Ausarbeitung der Antrittsvorlesung zu beginnen. (Vgl. Brief an Ernst Simon vom 2. März 1938, B II, S. 658.) Auf die Sprache Bubers wirkt der Gebrauch des Hebräischen ernüchternd, wie ihm Bergmann Anfang 1938 vorausschauend schreibt: »Mir scheint, daß Ihr eigentliches Werk noch vor Ihnen liegt. Es müßte damit beginnen, daß Sie der deutschen Sprache endgültig absagen (Sie wissen, daß ich dies nicht etwa aus irgendeiner Absicht gegen das Deutsche sage, Gott behüte) und daß Sie das, was Sie dem jüdischen Volke zu sagen haben, in der schlichten Form eines einfachen Hebräisch sagen; ohnehin hat der Reichtum Ihres Deutschen Sie oft verführt […] und Ihrer Wirkung, zumal in dieser harten Zeit, ungeheuer geschadet.« (Brief vom 4. Februar 1938, in B II, S. 653-654.) Von einem Wendepunkt in der Existenz Bubers in Bezug auf den Gebrauch der hebräischen Sprache hatte auch Scholem zwei Jahre zuvor in einem an Walter Benjamin gerichteten Brief berichtet: »Ich erwarte mir davon eine wichtige Krise in Bubers Existenz, in die ihn zu stürzen eine gottgefällige Tat wäre.« (Brief vom 29. Dezember 1936, in: Walter Benjamin u. Gershom Scholem, Briefwechsel 1933-1940, hrsg. von Gershom Scholem, Frankfurt a. M. 1980, S. 230-232, hier S. 231.) In einem im Frühjahr 1938 an Scholem gerichteten Brief beschreibt Buber die Mühe, die ihm die hebräische Sprache bei dem skizzenhaften, stichwortartigen Entwurf der bevorstehenden Vorlesungen bereitet: »Die Sache verhält sich so, daß

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ich hier diese Wochen über fast gar nicht zum Briefschreiben kam und jetzt erst daran gehen kann, das Wichtigste zur Beantwortung herauszuholen. Es gab, wie Sie sich ja denken können, unheimlich viel Arbeit, geistige und technische und geistig-technische […] Mit den Vorlesungen geht es einigermaßen, nur muß ich noch immer alles Wesentliche aufschreiben; ich ›tummle mich‹ zwar nicht, wie Sie meinen, im Ozean, aber ich schwimme immerhin darin: mit Rettungsgürtel. Hoffentlich bringe ich es bis zum Herbst so weit, daß ich mit Notizen (also ohne geschriebene Sätze) auskomme.« (Brief vom 13. Mai 1938, in: B III, S. 9-10). Bubers Lehrtätigkeit an der Hebräischen Universität beginnt im Sommersemester 1938. Seine Berufung zum Hochschullehrer an der Hebräischen Universität war erst nach vielen Verhandlungen erfolgt. Zur Gründung der Hebräischen Universität hatte Buber schon seit seinen zionistischen Anfängen aktiv beigetragen. (Vgl. den von Chaim Weizmann, Berthold Feiwel und Buber gemeinsam verfassten, 1902 erschienenen Prospekt Eine jüdische Hochschule, in: MBW 3, S. 363-391 und das 1924 geschriebene, an die Exekutive der Zionistischen Weltorganisation gerichtete Memorandum Universität und Volkshochschule, in: MBW 8, S. 132-135.) Anfang Februar 1934 schreibt Gershom Scholem, er habe »als fachlich Nahbeteiligter« (Brief an Martin Buber vom 2. Februar 1934, in: B II, S. 520) einen formellen Antrag in der Moatsa, einem an der Hebräischen Universität angeschlossenen internationaljüdischen Gremium, eingebracht, um eine Professur für allgemeine Religionswissenschaft (maddaʿ ha-daʿ at ha-kelali) zu errichten und Buber auf diesen Lehrstuhl zu berufen. Im Oktober 1933 war Buber inzwischen die venia legendi an der Frankfurter Universität gemäß dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« entzogen worden und er hatte demzufolge die Honorarprofessur für allgemeine Religionswissenschaft – von 1924 bis 1930 besaß er einen Lehrauftrag für jüdische Religionswissenschaft und Ethik – verloren. (Im Vorlesungsverzeichnis des Sommersemester 1933 erscheint noch ein Kurs Bubers mit dem Titel »Probleme der Religionssoziologie« [vgl. Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Verzeichnis der Vorlesungen – Sommer Halbjahr 1933/34 und Personalverzeichnis, Frankfurt a. M. 1933, S. 44], während er im Vorlesungsverzeichnis des Wintersemesters 1933-1934 als »z. Z. beurlaubt« vorkommt, in Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt am Main, Verzeichnis der Vorlesungen – Winter Halbjahr 1933/34 und Personalverzeichnis, Frankfurt a. M. 1933, S. 12.) Ein anderer, kurz darauf geschriebener Brief Scholems berichtet Buber darüber, das Professorenkollegium habe seine Berufung als Ordinarius

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beschlossen (Brief vom 15. Februar 1934, in: B II, S. 522). Im August desselben Jahres bestätigt aber das Kuratorium der Hebräischen Universität die Berufung Bubers unter dem Druck der orthodoxen Mitglieder letztlich nicht: das gewählte Fach »sei […] nicht passend oder notwendig und für das Fach sei ein genialer Schriftsteller nicht wissenschaftlich genug« (Brief Bubers an Scholem vom 20. August 1934, in B II, S. 551). Nach einem Jahr wird die Frage nochmals aufgeworfen. Im Anschluss an den in Luzern stattfindenden XIX. Zionistenkongress (20. August – 28. August 1935) tagt das Kuratorium der Hebräischen Universität am 8. und 9. September. Buber nimmt an den Luzerner Sitzungen teil, auf denen u. a. auch Ernennungen zu Dozenten bzw. Berufungen vorgenommen werden. (Vgl. Die Universitäts-Sitzungen, Jüdische Rundschau, 40. Jg., Nr. 73, 10. September 1935, S. 2.) Was die Frage der Berufung betrifft, können sich Bubers Freunde, darunter vor allem Judah L. Magnes und Salman Schocken innerhalb des Kuratoriums durchsetzen. Die Berufung wird akzeptiert und in Bezug auf einen Lehrstuhl für Gesellschaftsphilosophie (philosophia schel ha-chevra) bzw. allgemeine Soziologie (torat ha-chevra) in Aussicht gestellt, was Buber zuerst mit Unbehagen aufnimmt. Von seinem Bedenken spricht er in einem Brief an Hugo Bergmann: »Gerade in den letzten Wochen […] ist es mir erst richtig zur Empfindung geworden, welches Opfer ich mit dem Hinüberwechseln zu einer mir von je sehr wichtigen, aber doch nicht im letzten ›meinen‹ Disziplin bringe. Ein wirkliches Opfer, weil ich mit der Erarbeitung der selbständigen Gesichtspunkte und Methoden (ohne solche könnte ich es nicht unternehmen) und mit der Erarbeitung der sprachlichen Behandlung lange Zeit so zu tun haben werde, daß ich daneben wissenschaftliche Arbeit auf andern Gebieten nicht werde leisten können, – und weil ich nicht mehr jung bin.« (Brief vom 13. November 1935, in B II, S. 577-578.) Trotzdem trägt er in einem an Scholem gerichteten Brief zur inhaltlichen Fachbestimmung und zur Bezeichnung des Lehrstuhls bei. Der Brief enthält den prinzipiellen und methodischen Rahmen so wie die begrifflichen Leitlinien und Schwerpunkte des Fachs (vgl. Brief vom 10. Oktober 1935, in B II, S. 574-575). In dieser Hinsicht bietet ihm die Antrittsvorlesung eine erste Möglichkeit, diesen thematischen Ansatz und diese spezifische Methodik auf die Probe zu stellen. Am 9. Januar 1936 schreibt Hugo Bergmann, dass die Exekutive (Executive Council) der Universität den Luzerner-Beschluss ratifiziert habe (vgl. B II, S. 580). So wird Buber Ordinarius für Sozialphilosophie und allgemeine Soziologie, später auch Leiter des von ihm selbst gegründeten Instituts für Soziologie an der Hebräischen Univer-

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sität und hält den Lehrstuhl bis zu seiner Pensionierung am Ende des Sommersemesters 1951. Danach wird er emeritiert. Sechs Jahre nach Bubers Antrittsrede ist deren Echo noch nicht verhallt: In einem aus Melbourne geschriebenen, an Buber gerichteten Brief vom 8. Juli 1944 weist der Philosoph, Wirtschaftswissenschaftler und George-Anhänger Kurt Singer (1886-1962), der schon 1927 ein Buch über Platon verfasst hatte (Platon der Gründer, München 1927), auf Bubers Vortrag hin: »Ich hatte gedacht auf Ihre schöne Antritts-Vorlesung – in der märchenhaften Druckform auf einem bald sagenhaften Papier – ausführlich in einer Apologie Platons zu antworten. Mannigfache Geschäfte haben das bis heute verhindert […] Selbst die scheinbar äußere Ähnlichkeit ist mir lieb, daß diese Antrittsvorlesung wie die meine aus dem Jahre 1920 [Die Krisis der Soziologie, in: Weltwirtschaftliches Archiv 16, 1920-21, S. 246-261] mit dem gleichen Problem und an der selben historischen Stellen einsetzt, freilich in einer Tiefe die meine Jugendarbeit weit überstrahlt.« (B III, S. 85-87, hier S. 85.) Textzeugen: h1: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 13); 1 loses Blatt, einseitig beschrieben; enthält lediglich einen Entwurf des ersten Abschnitts, der in die spätere Fassung nicht eingegangen ist. Dieses Textstück wird im Folgenden separat reproduziert. H2: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 13 u. 13a); 20 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit vielen Korrekturen versehen. Zwei gesonderte Blätter, die den Abschnitt »Der soziale Denker […] mehr als das auszusprechen.« (22,21-23,8) enthalten, wurden in die Mappe 13a einsortiert. H3: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 13); 15 lose paginierte Blätter; einseitig beschrieben mit blauer Tinte; Reinschrift von H2; mit wenigen Korrekturen versehen. 1 D : Berlin: Schocken 1938, [23] S. (MBB 571). D2: Der Morgen, XIV/4, Juli 1938, S. 136-155 (MBB 578). D3: Synthese, III/9, Oktober 1938, S. 356-368 (MBB 580). D4: Neue Wege, XXXIII/2, Februar 1939, S. 65-76 (MBB 603). D5: Frankfurter Hefte, III/3, März 1948, S. 209-216 (gekürzt) (MBB 793). D6: Hinweise – Gesammelte Essays, Zürich: Manesse 1953, S. 121-141 (MBB 919). Druckvorlage: D1

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Übersetzungen: Englisch: Plato and Isaiah [Ausschnitt], in: Buber, Israel and the World. Essays in a Time of Crisis, übers. von Olga Marx, New York: Schokken Verlag, S. 173-182 (MBB 786); 2. Aufl. 1963 (MBB 1215); Plato and Isaiah, in: Means and Ways towards a Realm of Justice, hrsg. von I. Bilski, Tel Aviv: Mesharim 1958, S. 12-21 (MBB 1106). Hebräisch: Tevi’at ha-ruach we-ha-metziʾ ut ha-historit, Jerusalem: Hauniversita ha-ivrit 1938, 19 S. (MBB 585); in: Buber, Ha-ruach weha-metziʾ ut. Tischʿ a scheʿ arim le-berur ha-jachas sche-bejnejhem, S. 3-21(MBB 652); in: in: Teʿ uda we-jiʿ ud, 2. Bd.: Maʾ amarim al injane ha-schaʿ a, Jerusalem: Ha-sifrija ha-zionit 1961, S. 49-61 (MBB 1182). Japanisch: in: Buber, Reden über Erziehung und andere Essays (19101961), übers. von S. Yamamoto u. a., Tokio: Misuzu-shobo 1970 (MBB 1347). Niederländisch: in: Martin Buber. Zijn Leven en zijn Werk, gesammelt und hrsg. von Juliette Binger, Einleitung von W. Bannings, Graveland: De Driehoek 1947 (MBB 763). Abdruck des separaten Texts von h1: Die fordernde Idee und die geschichtliche Wirklichkeit Die Sozialphilosophie ist, als Philosophie, eine richtende Wissenschaft. Die Grenzdisziplin der Psychologie, eigentlich ein Dreiländerbereich, da gelegen, wo die Gebiete der Naturwissenschaften, der Geisteswissenschaften und der Philosophie [sich einander] ! aneinander rücken, [und demgemäss auch in seinem Methoden aufgeteilt] ! hat in ihrem fortschreitenden Wachstum vielfach den Blick für die Tatsache getrübt, dass Philosophie das Gerichthalten des Geistes bedeutet, eine Tatsache, die der Menschheit bekannt war, seit sie zu philosophieren begonnen hat. Der Psychologie des Denkens z. B. liegt ob, alle Prozesse und Phänomene des menschlichen Denkens zu beschreiben und zu erklären, angefangen von einer pathologischen Erscheinung wie die sogenannte Ideenflucht, somit in diesem Vorgang Brocken und Fetzen wirklicher Gedanken zu finden sind, bis zur reinsten und strengsten Konzeption eines mathematischen Paradoxons; die Logik [aber [scheidet] ! formuliert die Kriterien, nach denen das richtige, d. h. eben logische Denken vom falschen zu unterscheiden ist, sie prüft und befragt, urteilt und richtet. Ähnlich verhält sich die Ethik zur Psychologie des Handelns, die Ästhetik zur Psychologie der Betrachtung] ! und die Erkenntnistheorie aber be-

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fragen die Phänomene nach ihrem Gehalt an Erkenntnis, sie prüfen die Begriffe und die Urteile darauf, ob sie in echter erkennender Haltung gewonnen sind, sie scheiden, sie richten. So bringen die hGeisteswissenschaften,i Soziologie und ihre Schwester[wissenschaft], die psychologische Wissenschaft Sozialpsychologie, [Abbruch des Textes] Variantenapparat: In H2 und H3 wird Jesaja mehrfach, aber uneinheitlich als Jeschajahu geschrieben. Diese Stellen werden nicht gesondert im Apparat aufgeführt. 9,Titel Die Forderung […] Wirklichkeit] fehlt H2 9,Titel Forderung des Geistes] Gemeinschaftsforderung H3 geistige Forderung D3 9,Untertitel Antrittsvorlesung an der Universität Jerusalem] fehlt H2, H3 9,3 Saint-Simon] Saint-Simon, der kein Soziolog und überhaupt kein Mann der Wissenschaft war und den man dennoch als Vater der modernen Soziologie verzeichnen darf D3, D6 9,4 den inneren Widerspruch] [als eine Erkrankung] ! den inneren Widerspruch H2 9,5-6 Überwindung] Überwindung und Neuordnung H2 9,9-12,9 Die beiden Männer, […] Gestalt anzunehmen.«] fehlt D2 9,13-14 Absicht festgehalten […] Comte hat] Absicht der Überwindung einer grossen Krisis des Menschengeschlechts festgehalten [. Sie setzten, ebenso wie Saint-Simon selbst, damit nur die geistige Arbeit fort, die zwischen der englischen und der französischen Revolution zuerst die englischen Gegner der Lehre von der Absolutheit des Staates, sodann hin ihrer Gefolgschafti die Geschichtsphilosophen der französischen Aufklärung geleistet haben; aber das Neue, das sie brachten, war die in sich geschlossene Form der wissenschaftlichen Systematik] ! aber auch die [klare Einsicht in die] ! Überzeugung von der Bedeutung der [geistigen] Erneuerung des Lebens, die sie in dieser Herrschaft erwarteten. Comte hat H2 9,16 In seiner Jugend schon] [Schon in seiner Jugend, 1822, unter der unmittelbaren Leitung Saint-Simons stehend] ! In seiner Jugend schon H2 9,17 mit der Auflösung] »mit einer nahen und unvermeidlichen Auflösung« H2 9,18-19 geistige Grundlegung […] neue Einrichtungen] »soziale Physik« als Grundlage [einer sozialen Reorganisation] ! eines sozialen Neubaus [; in den Band seines Hauptwerks, in dem er 20 Jahre später dieser Wissenschaft den Namen Soziologie gab, wiederholte er, dass

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die Krise der gegenwärtigen Gesellschaften sein in letzter Analyse aus der intellektuellen Anarchie abzuleiten.] Neue Einrichtungen H2 9,18-20 Er ahnte […] vermögen] Neue Einrichtungen können die Rettung nicht bringen D3, D6 9,21-22 der Entartung […] vorbeugt] die Einrichtungen mit dem ihnen entsprechenden Geist erfüllt und ihrer Entartung und Verkehrung vorbeugt H2 9,23-24 geistige] hervorgehoben D3, D4, D6 9,27 Gedanken] Betrachtungen H2 9,29 Erst Stein hat] Erst [die Gesellschaftslehre von Lorenz von Stein, von der nur der erste Teil, 1856, also 20 Jahren vor dem I. Band von Spencers Soziologie, das Verhältnis der Klassen zueinander, systematisch behandelt ist. Stein treibt nicht wie Comte Geschichtsphilosophie; sondern was er versuchte] ! Stein hat H2 9,36 bezeichnen können«] bezeichnen können« hwo infolge der völligen Trennung der Arbeit vom Besitz [»für die Arbeitenden alle Tugend, Weisheit und Bildung, für die Besitzenden alle Kraft und aller Mut] ! »aus dem äusseren Zustand der Knechtschaft und Sklaverei ein innerer Prozess der Auflösung« wird und die Gesamtheit untergeht. H2 10,1 Entstehung] geschichtliche Entstehung H2 10,3 wenn] hervorgehoben D3, D4, D6 10,12-13 zu überwinden unternahm] [durch eine Selbstheilung des Geistes] zu überwinden unternimmt [; die hierfür erforderliche Selbstdiagnose des Geistes soll eben die Soziologie als Wissenschaft geben] H2 10,15 die Soziologie] die Soziologie [als Wissenschaft] H2 10,19 Aber es handelt sich darum, eine Welt] Aber auch damit werden wir der Wirklichkeit nur dann gerecht, wenn wir bedenken, dass dieses Erkennen bedeutet, eine Welt H2 10,19-20 in der Krisis] hervorgehoben D3, D6 10,20-21 Geist weiß, daß er selbst […] ob er bloß] Geist vom Wissen ausgeht, dass er selber nicht ausserhalb der Krisis, sondern mit in ihr steht. Er steht in ihr, aber nicht als ob er bloss H2 10,28 Relation] Distanz H2, H3 10,28 läutert] läutert [und stärkt] H2, H3 10,29-41 Unvergleichlich tiefer […] »zu Wort kommt«.] fehlt D2 10,36-37 Ordnungen und Institutionen] hervorgehoben D3, D6 10,37 Partner] [Gesprächspartner] ! Partner H2 10,40 Sprecher] blossen Sprecher, ihrem Aussprecher H2 11,2 Ordnungen und Institutionen] hOrdnungen undi Institutionen H2

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11,9 sondern dessen konzentrierte Totalität] hdie intellektuelle Potenz oder Funktioni sondern die wirkende To t a l i t ä t des Menschen H2 11,9 Totalität] hervorgehoben D3, D4, D6 11,9-10 Der Mensch selbst muß sich] Der Mensch selbst muss in seiner Verfassung und Haltung H2 11,11 sie die ihnen zugedachte Wirkung tun] der Geist in sie einziehen könne H2 11,18 erziehen] hervorgehoben D3, D4, D6 11,21-12,11 Man wird […] darauf ankommt.] fehlt D2 11,23 Dieser Einwand hat eine historische Begründung] Das ist historisch in einem gewissen Masse wahr [, für diejenige Soziologie nämlich, die sich auf die Beschreibung und Analyse der einzelnen gesellschaftlichen Phänomene beschränkt und auf die philosophische Aufgabe verzichtet, die Zusammenhänge dieser Phänomene zu erfassen, die Kategorien zu erkennen, die in den Zusammenhängen walten, und] H2 11,29 »objektive«] empirische, objektiv betrachtende H2 11,31 Max Weber und andere deutsche Soziologen] führende deutsche Soziologen H2 11,33 eine Einschätzung] durch Ja und Nein, durch höhere und niedrigere Einschätzung des Einzelnen eine Stellungnahme H2 11,39 Bestimmung] Erkenntnis H2 11,40 Erkenntnis seiner] Einsicht in seine H2 12,10 etwas Gewohntes, aber] etwas hGewohntesi, das man immerzu übt H2 12,15 rein] hervorgehoben H2, H3, D3, D6 12,21 asketischer] hervorgehoben H2, H3, D3, D4, D6 12,22 etwas Paradoxes] etwas sehr Schweres, geradezu Paradoxes H2 12,23 seinem ganzen Sein] all seinem Sein [und mit all seinem Wissen] H2 12,31 erkennende, dem Gegenstand] erkennende Person, d. h. mit aller Substanz dem erkannten Gegenstand H2 12,32 Ist das geschehen] Hat er das vollzogen H2 12,33-34 in der Erkenntnis] erkennend D6 12,38 zu wollen] zu wollen, und wir h a b e n ein Vermögen des Geistes H2 13,8 sein Wort] sein Wort [der Tatsächlichkeit gegenüber] H2 13,13 irreführend] fehlt H2, H3 13,13-16 Gemeint ist […] Machtausübung.] fehlt H2, H3 13,19 unter das Diktat mächtiger] [in den Dienst] ! unter das Diktat H3

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13,20 wollen wir] laßt und D 13,21 nur] hervorgehoben D3, D4, D6 13,23 Seither] davor Absatzwechsel D3, D6 13,27 sei böse.] sei böse; [von der anderen Seite her hat in unseren Tagen der Philosoph Max Scheler die These aufgestellt, der Geist an sich sei machtlos. In beidem steckt eine Wahrheit] H2 13,30-41 Seit Hegel […] unermächtigte.] fehlt D2 13,35 diene] diene, sie bestätige und beglaubige H2 13,36 frechen] dreisten D6 13,37-38 Diese Begründung verwendet die Macht] Die Macht verwendet diese Begründung D6 13,38-39 ihrer eigenen Wiege] ihrem eigenen Ursprung H2 13,41 sei der falsche, der unermächtigte] wird als der falsche, der unermächtigte gebrandmarkt D6 14,10 seine Versuche] [das Werk seines Lebens] ! seine Unternehmungen H2 seine [Unternehmungen] ! Versuche H3 14,12 Versuchen] Unternehmungen H2 14,12-13 als er merkte] als sich ihm die [Erkenntnis] ! Einsicht aufdrängte H2 14,13 verkündigt] das Bekenntnis ausgesprochen H2 14,16 wirklich philosophisch] durch eine göttliche Fügung wirklich philosophisch H2 14,19 Hauptsatz] Kernsatz D6 14,19 niedergeschrieben] niedergeschrieben, »in dem Idee wie Verwirklichung des Staates wurzeln« [Anm.: Kurt Hildebrandt, Platon S. 247.] H2 14,20-21 – die Einrichtungen, von denen das Buch handelt –] fehlt H2, H3 14,26-15,5 In seinem denkwürdigen Traktat […] gebracht hat.] fehlt D2 14,39-40 Resignation] Stimme der Resignation H2 [Stimme der] Resignation H3 14,40 Enttäuschung] Stimme der Enttäuschung H2 [Stimme der] Enttäuschung H3 15,6 Platon] Platon [, der vorkirchliche Mensch,] H2 15,6-8 er glaubt an den Beruf […] regenerieren] [denn er glaubt an die gerechten Gesetze, die in der Urzeit Männer des Geistes gegeben haben, die an der Macht waren. Wie zu ihnen, hat die göttliche Stimme auch zu seinem Lehrer, zu Sokrates geredet. [Als der athenische Staat Sokrates verurteilt und hinrichtet, weil er nicht den Machthabern, sondern der Stimme gehorchte] ! Die Gesetze selber wollen erneuert werden, denn die Verfassung ist nur ihre Gestalt, nicht sie selbst, 6

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und die Gestalt ist entartet. Als der athenische Staat Sokrates verurteilt und hinrichtet, weil er nicht den Machthabern, sondern der Stimme gehorchte, lässt Platon unter dem Einfluss dieser seiner schwersten Erfahrung am Staat die Gesetze selber] ! er glaubt an den Beruf des Geistes zur Macht. Jetzt ist die Macht entartet, aber der Geist kann sie regenerieren H2 15,11 Stimme] seinem Gott D6 15,15 heilige Gesetz] heilige Gesetz, dessen Erscheinung entartet ist H2 15,18-19 zu nehmen] zu nehmen h, denn er ist der Stimme gewärtigi H2 15,27 der Gerechtigkeit zu Hilfe zu kommen] für die Sache der Gerechtigkeit zu kämpfen H2, H3 15,33 Das ist Platons] davor kein Absatzwechsel D3, D4, D6 15,41-16,2 Offenbar sollen […] wollen wir werden.] hOffenbar sollen […] wollen wir werden.i H2 15,41 Offenbar] hervorgehoben D3, D4, D6 16,8-19 Damit die Menschheit […] verwirklicht worden.] fehlt D2 16,9-10 – »die, die man jetzt Unnütze nennt« –] fehlt H2 16,10-12 Er selber […] gehofft] Platon selber hat wohl zuerst auf das eine, dann auf das andre gehofft H2 16,13-14 das sizilianische Chaos] [das spröde sizilianische Gemeinwesen] ! die sizilianische Bemühung H2 16,14 Wohl mag die Befriedung] [Das Werk der Befriedung, das nach dem Tode Dions Timoleon an Sizilien vollbrachte, stand nicht mehr. Sizilien ist danach befriedet worden, aber nicht mehr unter Platons Einfluss, Griechenland ist unter der Herrschaft eines Mannes vereinigt worden, der zwar die Philosophie bei Platon] ! Wohl mag die Befriedung H2 16,24 Platon ist] davor kein Absatzwechsel D2 16,24 Platon ist das erhabenste Bild jenes Geistes] In der Geschichte des Menschen ist Platon das grösste Bild H2 16,25-32 Nach der platonischen […] gerechten Staat.] fehlt D2 16,28 der Gerechtigkeit] [des gerechten Staates] ! der Gerechtigkeit H2 16,36 Liegt das an ihr] [Solcher Art ist das Scheitern Platons] ! Liegt das an ihr H2 16,36-37 an ihm? Und liegt es […] zur Wahrheit] [an ihm, liegt es an beider schicksalhaftem Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit zueinander? Aber liegt es nicht auch an dem Verhältnis von Geist und Wahrheit?] ! an ihm? Und liegt es […] zur Wahrheit H2 16,37-38 Das sind Fragen, vor die Platons Scheitern uns stellt.] Ist es so wie Platon meint oder ist ein anderes? H2 16,39-40 anderes, ganz andersartiges] anderes H2

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17,1-2 Der ganze Vorgang […] Leben ist] »Im Todesjahr« – man darf vermuten: vor dem Tode des Königs, denn es ist berichtet, dass Jesaja in dessen Tagen »schaute« H2 17,4-5 einer Verstörung des Verhältnisses] eines Missverhältnisses H2 [eines Missverhältnisses] ! einer Verstörung des Verhältnisses H3 17,6 Leibe. Man hat] Leibe, als ein Schlag. Wenn die Erzählung der Chronik auf eine echte Tradition zurückgeht, hat man H2 17,13 ziehe und sie verunreinige] gehe und sie mitergreife H2 17,14 König] König, d e m König H3 hervorgehoben D3, D4, D6 17,15 Glorie] Schechina H2 17,20-21 mißkannte, mißdeutete] mißverstandene, mißkannte D3, D6 17,24-25 Er wird nicht […] das Scheitern] Das Scheitern H2 17,29 bekleidet] bekleidet, um wieder von dannen zu gehen H2 17,35 verzehrt] verzehrt und vergiftet H2, H3 17,40 geistigen Menschen] Geistes H2 Geistes als solchem H3 18,3 Wäscherfeld.] ergänzt Es gehört zum Schicksal des Künders, machtlos [zwischen der wahren und der angemassten] vor der Macht zu stehen h, die er zur Verantwortung ziehti, H2, H3 ergänzt Anmerkung Es gehört zum Schicksal des Künders, machtlos vor der Macht zu stehen, die er zur Verantwortung zieht. D3, D6 18,4 gewinnen] gewinnen und kann keine gewinnen H2 gewinnen [und kann keine gewinnen] H3 18,7-8 Er spürt […] durchsetzte] Er erfährt […] ihm entquillt H2 18,9 Jesaja schaut] davor Absatzwechsel D3, D4, D6 18,10 Majestät] Herrlichkeit H2 18,11 Platon] Platon in der Erinnerung D3, D4, D6 18,14 Gerechtigkeit] Gerechtigkeit hund also des Friedensi H2 18,15 Struktur] [Verfassung] ! Struktur H2 18,19-20 geht darauf, […] anerkennen] geht [auf drei Dinge: das erste betrifft] ! zunächst auf die Verfassung. Das Volk ist seinem König untreu. Es soll seine Herrschaft anerkennen und im Leben vollziehen, und ebenso soll der Mensch, der es regiert, die unsichtbare Herrschaft anerkennen und im Leben vollziehen. H2 18,21-22 es ist ein […] Verfassungsbegriff] sondern um politische Realität, aus der man keine unverbrüchliche Realität machen darf H2 18,27 gemeinsamen] hervorgehoben D3, D6 18,28-30 Er kann dies […] erkennt] [Diese gemeinsame Verantwortung ist das, was soziologisch diese politische Struktur von allen anderen abhebt: Hier ist etwas, was jene »geheimen Artikel« Kants erfüllt und X. [Dass der Künder aber zu ihr mahnen kann, ist] ! Sie legitimiert sich dadurch, dass dieser Machtlose] ! Er kann dies […] erkennt H2

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18,36-37 die Scheidung in Freie und Unfreie] [zwischen Mensch und Mensch die Gemeinschaft zersetzt] ! die Scheidung in Freie und Unfreie H2 18,37 Abgründe] Abgründe zwischen [Mensch und Mensch] ! Volksgenosse und Volksgenosse H2 Abgründe zwischen Volksgenosse und Volksgenosse H3 soziale Abgründe D2 Abgründe zwischen Volksgenosse und Volksgenosse D3, D4, D6 19,1-2 , denn ohne dich […] zur Lüge] h, denn ohne dich […] zur Lügei H2 19,8 fürchten] fürchten, denn dann dürft ihr euch auf euren König [vertrauen] ! verlassen H2 19,15 sublime] erhabene H2 19,15 wertlose] [unbrauchbare] ! wertlose H2 19,21 gesonnen war] [begonnen hat] ! gesonnen war H2 19,22 eignen Leben] inneren Leben H2 19,30-32 Volk und König […] liebäugelt.] fehlt D2 19,32 liebäugelt] konspiriert H2 19,33 unsere Existenz] Israels Existenz D4 die Fortdauer Israels D6 19,34-35 leben von dieser […] zum Wäscherfeld,] fehlt H2 19,37-39 Das hat uns […] widerlegt.] fehlt D2 19,39 Der Prophet scheiterte] [Platon scheitert an dem Verhältnis des Geistes [zur Wirklichkeit] ! zum Volk. Jeschajahu scheitert an dem Verhältnis [der Wirklichkeit] ! des Volkes zum Geist. / Ein Soziolog ist kein Prophet. Doch er darf sich vom Propheten sagen lassen, wie der Geist auf die Änderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit einwirken kann. / Ist aber nicht auch ihm, wie dem unsäglich Stärkeren, ein Scheitern vorbestimmt?] ! Der Prophet scheiterte H2 20,3-4 Aber er senkt […] da lebt es] [Aber das gilt nur dann, wenn wir unter Wirklichkeit die die das Volksleben einer bestimmten Geschichte] ! Aber er senkt es in [die Wirklichkeit] ! das Volk ein für alle kommenden Stunden [als ein Verlangen des Volkes] ! da lebt es H2 20,11 Pantopie und Utopie] Utopie H2, H3 20,14 anfangen] hervorgehoben D3, D6 20,16-17 in die Haltung […] zurückzuziehen] auf die vita contemplativa, auf die stille Betrachtung zurückzuziehen; hat er X »sende mich« gesagt, so muss er zeitlebens die Sendung tun; aber auch, wenn er wie Jirmejahu »sende mich nicht« sagt, hilft es ihm nicht H2 20,29 Größeren] [[unvergleichlich] ! unsäglich Stärkeren] ! Größeren H2 20,29-31 Ist denn […] anhören sollen?] fehlt D2 hervorgehoben D3, D4, D6

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20,31 anhören] hervorgehoben D , D , D 20,38-39 Er kann die Menschen für sie erziehen.] fehlt H2, H3 21,1 Das menschliche Wissen] davor Absatzwechsel D3, D4, D6 21,3-4 Klärung, mit einer Säuberung der Lettern] Klärung und Festigung H2 21,5 zu einer neuen Gestalt verhelfen] jene neue machtvolle Gestalt verleihen H2 21,8-14 Für Jerusalem aber […] Geist arbeitet.] fehlt D3 21,9 des Volkslebens] [des Menschenlebens, Situationen] des Volkslebens H2 21,11-12 An dieses Vielleicht […] Dienst tun] Auf dieses Vielleicht hin tun wir unseren Dienst H2, H3 21,12-14 Wir würden ihn […] Geist arbeitet.] fehlt H2, H3 3

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Wort- und Sacherläuterungen: 9,3 Claude Henri de Saint-Simon] Claude-Henri de Rouvroy, Comte de Saint-Simon (1760-1825) wird als Begründer des utopischen Frühsozialismus und einer der Vorläufer der modernen Soziologie betrachtet. Auf ihn beruft sich der frühsozialistische Saint-Simonismus, die viele Anhänger auch in Deutschland hatte, darunter Heinrich Heine (1797-1856). 9,8 Ideokratie] Eine Bezeichnung, die auf den deutschen konservativen Historiker und Politiker Heinrich Leo (1799-1878) zurückgeht. In seinen Studien und Skizzen zu einer Naturlehre des Staates (Halle 1833, S. 172) führte er diesen Begriff für solche Staaten ein, die durch einen Fanatismus gekennzeichnet sind. Bei der Darstellung dieser Staatsform berief er sich auf den französischen Begriff von idée und sah als deren Vorbilder den Machtbegriff Girolamo Savonarolas, Thomas Müntzers und Robespierres, dann die Lehre Saint-Simons. 9,11 Auguste Comte] Isidore Marie Auguste François Xavier Comte (1798-1857), französischer Soziologe und Philosoph. Er war Jünger Saint-Simons und gilt als Begründer des Positivismus. Die Benennung »Soziologie« geht auf ihn zurück. 9,12 Lorenz von Stein] (1815-1890), Wirtschaftswissenschaftler, Staatsrechtslehrer, Soziologe und Politiker. Was die Theorie der Regierungssysteme betrifft, übte er einen gewissen Einfluss im Japan der Meiji-Restauration aus. 9,14-15 une régénération sociale fondée sur une rénovation mentale] In seinem Cours de philosophie positive behauptet Auguste Comte, Saint-Simon habe »déjà senti, à sa manière, le besoin d’une régénéra-

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tion sociale fondée sur une rénovation mentale«, Bd. 6, Paris 1842, Préface personnelle, S. viii. 9,16-17 »tiefe sittliche und politische Anarchie«] »une profonde anarchie morale et politique«, Auguste Comte, Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société, in: Henri Saint-Simon, Suite des travaux ayant pour objet de fonder le système industriel. Du Contrat social, Paris 1822, neue Ausgabe Paris 1970, S. 50. 9,21 Verkehrung] Dieses Substantiv, das die Verwandlung einer Lage ins Gegenteil oder die Bewegung in die entgegengesetzte Richtung impliziert, lässt den Wortschatz erkennen, den Buber in den frühen Schriften zur Jüdischen Renaissance und zur Erneuerung des Judentums im frühen 20. Jahrhundert verwendet. »Verkehrung« ist mit »Umkehr« eng verbunden. Durch diesen eindeutig messianisch beladenen Begriff, der die Palingenese, das absolute Neuwerden von der Wurzel, das Moment des elementaren Umschwungs bezeichnet, beschreibt Buber in den Reden über das Judentum – vor allem in der dritten Rede – die erneuerte Schöpfungskraft des jüdischen Volkes. Vgl. Drei Reden über das Judentum, jetzt in: MBW 3, S. 239. 9,22-25 »Ich betrachte […] sehr gefördert ist«] »Je regarde toutes les discussions sur les institutions comme de pures niaiseries fort oiseuses et qui ne sont fondées sur rien, jusqu’à ce que la réorganisation spirituelle de la société soit effectuée, ou du moins très—avancée.« Auguste Comte, Brief an M. Valat vom 25. Dezember 1824, in: Lettres d’Auguste Comte à M. Valat, professeur de mathématiques, ancien recteur de l’académie de Rhodez, 1815-1844, Paris 1870, S. 156. 9,33 »das Dasein einer selbständigen Gesellschaft«] Nicht nachgewiesen. 9,35-36 »den wir als den der Auflösung […] bezeichnen können«] Das Zitat ist dem zweiten Band von Lorenz von Steins Systems der Staatswissenschaft (Gesellschaftslehre), (Stuttgart u. Augsburg 1856) entnommen. Vgl. Lorenz von Stein, Begriff und Wesen der Gesellschaft, ausgewählt und eingeleitet von Karl Gustav Specht, Wiesbaden 1956, S. 29. Der ersten Abteilung dieses Buches ist kein weiterer Teil gefolgt. Tatsächlich widmete sich von Stein mehr und mehr der Finanzund Verwaltungswissenschaft. Steins Lehre der Gesellschaft nimmt das begriffliche Spannungsverhältnis zwischen »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« vorweg, das einige Jahrzehnte später in Ferdinand Tönnies berühmter soziologischer Studie Gemeinschaft und Gesellschaft (Leipzig 1887) ausführlich behandelt wird. Vgl. Jürgen Zander, Die gesellschaftliche Bestimmung des Menschen. Lorenz von Stein und Ferdinand Tönnies, Kiel: Lorenz-von-Stein Institut für Verwaltungswissenschaften 2003.

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9,36-37 »die kräftige Tat der Wissenschaft«] Laut Stein sei es das Wesen des Fortschritts, »überlieferte Übelstände durch die kräftige That der Wissenschaft aufzuheben«. Lorenz von Stein, Zur Charakteristik der heutigen Rechtswissenschaft, Rezension zu Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 4 Bde., Berlin: Veit & Comp 1840-1841, in: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst, 96, 1841, S. 381-384, hier S. 383. 10,1-4 »an die Zukunft denken wir, […] davon geredet«] Lorenz von Stein, Blicke auf den Sozialismus und Kommunismus in Deutschland, und ihre Zukunft, Deutsche Vierteljahrsschrift 26, 1844, S. 1-61, hier S. 4. 10,5-9 »Auf allen Punkten […] machtvolle Gestalt anzunehmen«] Nicht nachgewiesen. 10,6-7 »Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich«] Lorenz von Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, Leipzig 1842. 10,7-8 gleichzeitig also mit dem Schlußband von Comtes Hauptwerk] Es handelt sich um den letzten Band des Cours de philosophie positive in sechs Bänden, Le Complément de la philosophie sociale, et les conclusions générales, Paris 1842. 10,12 Wendung und Wandlung] In diesem Hendiadyoin klingt nochmals das lexikalische Repertoire der jüdischen Regenerationsbewegung an. In seiner dritten Rede über das Judentum hatte Buber das Wortpaar »Umkehr und Umwandlung« verwendet, vgl. MBW 3, S. 239. 10,16 Edward Roß] Edward Alsworth Ross (1866-1951), amerikanischer Soziologe und Eugeniker, Professor für Soziologie an verschiedenen amerikanischen Universitäten. 1888-1889 studierte er auch an der Universität Berlin. 10,17 »ein Mensch, der etwas ändern will«] Nicht nachgewiesen. 10,29-30 Siegfried Landshut] Siegfried Landshut (1897-1968), Politikund Sozialwissenschaftler. Überdies gilt er als Entdecker und erster Herausgeber des Frühwerks von Karl Marx (Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848, Stuttgart 1953). 10,30 »Kritik der Soziologie«] Siegfried Landshut, Kritik der Soziologie. Freiheit und Gleichheit als Ursprungsproblem der Soziologie, München 1929. Der ursprüngliche Titel der Habilitationsschrift, die Landshut wegen des Vetos des Soziologen und späteren Nationalsozialisten Andreas Walther zurückziehen musste und die dann unter

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dem neuen Titel erschien, war Untersuchungen über die ursprüngliche Fragestellung zur sozialen und politischen Problematik. 10,31-37 »Sie versteht sich […] des Miteinanderlebens richteten«] Siegfried Landshut, ebd., S. 154. 11,12 mit den Ordnungen des Miteinanderlebens] Als Schlüsselwort des dialogischen Denkens und eines gemeinschaftlichen Denkhorizonts, sowie der Schriften zum arabisch-jüdischen Konflikt kommt der Begriff des »Miteinanderlebens« in vielen Schriften Bubers vor, vgl. z. B. Zion und die Jugend (MBW 8, S. 89), »Wie kann Gemeinschaft werden?« CMBW 8, S. 192), Aufgaben jüdischer Volkserziehung (MBW 8, S. 255), Bildung und Weltanschauung (MBW 8, S. 283), Dem Gemeinschaftlichen folgen (MBW 10, S. 125), Nachwort zu Ich und Du (MBW 4, S. 247), Mein Weg zum Chassidismus (MBW 17, S. 41). Ebenso Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage, hrsg. und eingeleitet von Paul Mendes-Flohr (Frankfurt/M. 1993). 11,25 Hobbes] Thomas Hobbes (1588-1679), Philosoph und Mathematiker, berühmt durch sein Hauptwerk Leviathan (1651), wird als einer der Begründer der modernen politischen Philosophie betrachtet. Buber bezieht sich mehrmals auf Hobbes’ Denken, z. B. in Pfade in Utopia (in diesem Band, S. 117-259, hier S. 156 f.) und im Aufsatz »Zwischen Gesellschaft und Staat« (in diesem Band, S. 261-274; hier S. 267 u. 270). 11,25 Condorcet] Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat, Marquis de Condorcet (1743-1794), Mathematiker, Wirtschaftswissenschaftler, Philosoph und Politiker der französischen Aufklärung. 11,30 »wertfrei«] Buber bezieht sich auf Max Webers Aufsatz Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, Logos 7, 1917, S. 40-88. Der Aufsatz ist eine Umarbeitung eines für eine interne Diskussion im Ausschuss des Vereins für Sozialpolitik 1913 erstatteten Gutachtens (als Manuskript gedruckt in der Broschüre: Äußerungen zur Werturteildiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik, [ohne Ort] 1913, S. 83-120) und wird dann in den Gesammelten Aufsätzen zur Wissenschaftslehre (Tübingen 1922, S. 451-502) wiederabgedruckt. Der Begriff der Wertfreiheit taucht auch in anderen Schriften Webers auf, wie z. B. in der Lehre von der Wertfreiheit der Wissenschaft, Logos 10, 1921, S. 195-226. 11,34 den ersten deutschen Soziologentag] Buber nimmt an den Arbeiten des ersten deutschen Soziologentages in Frankfurt a. M. (19.-22. Oktober 1910) teil. Organisiert wurde die Tagung von der 1909 gegründeten Gesellschaft für Soziologie, deren Vorsitzender Werner Sombart war. Mitglieder des Vorstands der Gesellschaft waren Ferdi-

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nand Tönnies, Georg Simmel, Hermann Beck, Alfred Ploetz, Philipp Stein, Alfred Vierkandt. Die Einladung zur Gründung der Gesellschaft unterzeichneten außer den erwähnten Vorstandsmitgliedern renommierte Philosophen und Wissenschaftler, darunter Paul Barth, Eduard Bernstein, Kurt Breysig, Hermann Cohen, Edgar Jaffé, Hermann Kantorowicz, Paul Natorp, Franz Oppenheimer, Ernst Troeltsch und Max Weber. Am ersten deutschen Soziologentag hielten Reden und Vorträge Georg Simmel, Ferdinand Tönnies, Max Weber, Werner Sombart, Alfred Ploetz, Ernst Troeltsch, Eberhard Gothein, Andreas Voigt, Hermann Kantorowicz. Buber nahm an der Debatte teil und warf die Frage auf, ob und inwiefern Mystik eine soziologische Kategorie sei. Er behauptete, sie sei lediglich eine psychologische Kategorie ohne realen oder logischen Zusammenhang mit dem Naturrecht. Als religiöser Solipsismus negiere die Mystik laut Buber jede Form von Gemeinschaft. Vgl. [Mystik als religiöser Solipsismus], in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.-22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M., Tübingen: J. C. Mohr 1911, S. 206-207 (jetzt in: MBW 2.1, S. 150-151). 11,35-38 »Die Soziologie ist […] Sozialphilosophie nennen.] Als Vorsitzender der ersten Donnerstagssitzung des Soziologentages hielt Tönnies eine Rede mit dem Titel Wege und Ziele der Soziologie, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages, Tübingen 1911, S. 17-38, hier S. 17: »Die Soziologie ist in erster Linie eine philosophische Disziplin. Sie ist als solche viel älter als ihr Name […] Die Philosophen sollten ja Wegweiser des Lebens sein, sie wollten die richtigen Wege finden und führen. So ist denn die Entwicklung der reinen theoretischen Soziologie, die man auch Sozialphilosophie nennen mag, unablösbar von der Geschichte der Rechtsphilosophie.« 13,1 bewährt sich] Der Begriff der Bewährung gehört zum Wortschatz der Existentialphilosophie. In Rosenzweigs Philosophie z. B. ist die Bewährung der Wahrheit im Leben eine Leitlinie. Mit diesem Begriff verweist Rosenzweig darauf, dass das existentielle »neue Denken« kein bloßes Philosophieren ist, sondern dass es im alltäglichen Leben verwirklicht (bewährt) sein muss. Vgl. Franz Rosenzweig, Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum »Stern der Erlösung«, in: ders., Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hrsg. von Reinhold u. Annemarie Mayer, Dordrecht – Boston – Lancaster 1984, S. 139-161, hier S. 158. Vgl. auch. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung, Freiburg u. München 1991.

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13,27 die Macht an sich sei böse] Burckhardts Diktum ist den Weltgeschichtlichen Betrachtungen entnommen. »Und nun zeigt es sich – man denke dabei an Louis XIV., an Napoleon und an die revolutionären Volksregierungen –, daß die Macht an sich böse ist (Schlosser), daß ohne Rücksicht auf irgendeine Religion das Recht des Egoismus, das man dem Einzelnen abspricht, dem Staate zugesprochen wird«, in: Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hrsg. v. Jakob Oeri, Berlin u. Stuttgart 1905, S. 33). In seiner Ausgabe fügte Oeri den Namen Schlosser ein, weil der Satz von Friedrich Christoph Schlosser (1771-1861), einem Professor für Geschichte an der Universität Heidelberg, stammt. Auch Friedrich Nietzsche nahm an Burckhardts Kolleg teil. Er zitiert denselben Satz in seinen Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern (1872). Jacob Burckhardts Renaissance-Interpretation beeinflusste – zusammen mit den Lehren Nietzsches – die Renaissancebegeisterung in Deutschland während des späten 19. Jahrhunderts. Ihr Einfluss ist noch in Bubers Schriften zur ästhetischen Wiedererweckung des Judentums und zur jüdischen Renaissance spürbar. Vgl. Barbara Schäfer, Einleitung, in: MBW 3, S. 25 f. 13,32-34 der wahre Geist sei der, der sich […] kundgebe] Buber bezieht sich hier auf den Hegelschen Begriff des absoluten Geistes. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817) (Hauptabschnitt C: Die Philosophie des Geistes – dritter Theil: Der absolute Geist), hrsg. von Wolfgang Bonsiepen u. a., in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 13, Hamburg 2000, S. 240-245. 14,6 Dion] Dion von Syrakus (409-354 v. Chr.): Politiker, Schwager des Tyrannen Dionysios I. und Freund Platons. Kurze Zeit hatte er die Führung der Stadt Syrakus inne und versuchte, eine neue nach den Prinzipien der platonischen Staatslehre gerichtete Verfassung einzuführen. Er wurde aber der Tyrannenherrschaft verdächtigt und ermordet. 14,8 den Brief an die sizilianischen Freunde] Der Siebte Brief ist ein Platon zugeschriebenes Werk, das nach dem Tode Dions verfasst und an eine Gruppe von sizilischen Griechen, die seine Anhänger waren, gerichtet ist. Er ist der längste und wichtigste unter den platonischen Briefen, in dem der Autor die Gründe für das Scheitern der Versuche vorbringt, den Stadtstaat Syrakus nach philosophischen Prinzipien politisch zu reformieren. 14,13-17 Von den Übeln […] wirklich philosophisch leben] Der Spruch, der als Ausgangspunkt der Platonischen Staatsphilosophie betrachtet

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werden kann, stammt aus dem Siebten Brief Platons (326b). Die Ausgabe der platonischen Briefe, die Buber verwendet, ist höchstwahrscheinlich die des Sozialökonomen und Platonübersetzer Wilhelm Andreae (1888-1962), der einen großen Einfluss auf die Sozialwissenschaftler in den Weimarer Jahren und in den ersten Hitler-Jahren ausübte. »Vom Übel werden die menschlichen Geschlechter gewiß nicht loskommen, bis das Geschlecht der rechten und wahren Philosophen zur staatlichen Herrschaft gelangt, oder das der staatlichen Gewalthaber durch göttliche Fügung wirklich philosophisch lebt.« In: Platons Staatschriften, Griechisch und deutsch, Text durchgesehen und neu übersetzt von Wilhelm Andreae, erster Teil, Briefe, Jena 1923, S. 51. 14,18-19 in der Herzmitte […] niedergeschrieben] Buber bezieht sich auf das sechste Buch der Politeia Platons (487e). In dieser Interpretation der Politeia als Vorlage für den Siebten Brief Platon stützt sich Buber wiederum auf die Interpretation von Wilhelm Andreae. Andreae entdeckte, dass die Stelle über die Philosophenherrschaft, die im Siebten Brief ganz am Anfang steht, genau in der Mitte der Politeia wiederholt wird, vielleicht aus Neigung zu einer pythagoräischen, sakralen Symmetrie. Was Andreae von Dion in seiner Einleitung zur Übersetzung der Briefe Platons sagt, ist den Aussagen Bubers sehr ähnlich: »Alle seine Tadler überragt er um Hauptesgröße durch dieses Sein und Wissen, daß der Staat vor allem eine geistige Gemeinschaft und berufen ist, eine Idee zu verleiblichen.« Wilhelm Andreae, Einleitung, in: Platons Staatsschriften, S. XXVIII. 14,30-36 »Daß Könige philosophieren […] unentbehrlich.«] Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Zweiter Zusatz. Geheimer Artikel zum ewigen Frieden, in: Kant’s gesammelte Schriften, ediert von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 8, Abhandlungen nach 1781, Berlin u. Leipzig 1923, S. 369. Vgl. Peter Baumanns, Die Seele-Staat-Analogie im Blick auf Platon, Kant und Schiller, Würzburg 2007. 14,37-39 daß der Staat den Grundsätzen des Philosophen […] daß man ihn höre] »Es ist aber hiemit nicht gemeint: daß der Staat den Grundsätzen des Philosophen vor den Aussprüchen des Juristen (des Stellvertreters der Staatsmacht) den Vorzug einräumen müsse, sondern nur, daß man ihn höre.« Kant, Zum ewigen Frieden, S. 369. 15,11 der Stimme gehorchte] Buber beruft sich hier auf das gegen Sokrates verhängte Todesurteil wegen verderblichen Einflusses auf die Jugend und Gottlosigkeit. Die Anklagen wegen Gottesleugnung wies

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Sokrates zurück, indem er sagte, er gehorche stets seiner inneren Stimme, seinem Daimonion, dem er göttlichen Ursprung zumaß. 15,13-14 Teiresias […] unter flatternden Schatten] Hinweis auf die Odyssee, 10. Gesang, Vers 495 (»Und er allein ist weise; die andern sind flatternde Schatten«), wobei auf den blinden Seher Teiresias angespielt wird. Indirekt bezieht sich Buber somit auch auf das dritte Buch der Politeia, in dem Sokrates denselben Vers erwähnt, um die homerischen Verse wegen ihrer düsteren Darstellung des Totenreiches zu kritisieren (386d). 15,19-25 In der Politeia wird Sokrates gefragt […] Fügung geschieht«] Es handelt sich um eine Frage Glaukons, eines Gesprächspartners des Sokrates. Buber zitiert hier aus dem neunten Buch der Politeia (592b). 15,25-32 Aber vorher schon […] zu ihm paßt.«] Die impliziten und expliziten Zitate Platons stammen aus dem sechsten Buch der Politeia (496 d-e). 15,33 Nach Syrakus gerufen] Um 388 v. Chr. begibt sich Platon nach Syrakus, wo er den jungen Dion kennen lernt. 15,37-39 wenn je […] in Erfüllung gehen] Buber paraphrasiert den Siebten Brief (328b): »wenn je so jetzt sich alle Hoffnung auf glückliche Verbindung von Philosophie und Herrschaft in den großen Staaten verwirklichen müsse«. (In: Platons Staatsschriften, S. 55). 15,39 »versuchen«] Zitat aus dem Siebten Brief (328e): »Daher, wie ich erwog und schwankte, ob ich reisen oder was sonst tun sollte, neigte ich doch zum Gehen: wenn man je das Gedachte über Gesetze und Staat verwirklichen wollte, müsste man es jetzt auch versuchen, denn wenn ich nur erst einen genügend überzeugte, würde ich alles Gute erreicht haben«, (In: Platons Staatsschriften, S. 57). 15,39-41 er habe sich geschämt […] als sei er nur Wort] Buber gibt den Inhalt des Siebten Briefs (328e) sinngemäß wieder: »Mit solchem Entschluß und Wagemut brach ich von Hause auf, nicht so, wie manche glauben, sondern aus größter Scham vor mir selbst, daß ich […] überhaupt nur noch Wort zu sein schiene.« (In: Platons Staatsschriften, S. 57). 15,41-16,1 Offenbar sollen wir werden […] wie wir reden] Fast wörtliche Übernahme aus dem Vierten Brief (320e): »Es muß also offenbar werden, daß wir sind, was wir sagen.« (In: Platons Staatschriften, S. 35). 16,3 geht noch und noch einmal] Buber weist auf Platons zweite und dritte Sizilienreise im Jahr 366 und 361 v. Chr. hin. 16,3-4 nach dem dritten Scheitern heimkehrt] Platon, der den Sturz des Tyrannen Dionysios II. nicht zu bewirken vermag, reist 360 v. Chr. endgültig von Syrakus ab.

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16,4-5 Danach erst […] zur Macht] 357 v. Chr. kommt Dion in Syrakus zur Macht, indem er Dionysios II. besiegt. 16,6 von einem ermordet] Kallippos war ein athenischer Offizier und Mitglied der platonischen Akademie. 354 v. Chr. ermordete er Dion in Syrakus. 16,9 »die, die man jetzt Unnütze nennt«] Buber bezieht sich auf die Gegenrede des Adeimantos in der Politeia, wonach die Philosophen unbrauchbar für bürgerlich-staatliches Dasein seien. Der Staat könne mit den Philosophen nichts anfangen denn diese seien »unnütz«, ein Wort, das einen thematischen Wert im Sechsten Buch der Politeia hat (489b – 490e). 16,12 Basileus] Der Titel, der für viele griechische Herrscher und vor allem für Kaiser und Könige des Byzantinischen Reiches verwendet wurde. 16,15 Timoleon] (411-337 v. Chr) war ein Heerführer. Er besiegte die Karthager und wurde Herr von Syrakus. 16,16-18 Alexander […] Philosophie gelernt] Hinweis auf Alexander den Großen, der von Aristoteles (384-322 v. Chr.) in Philosophie, Mathematik und Kunst unterrichtet wurde. 16,26-27 die vollkommene Seele […] erinnert] Hinweis auf das platonische Konzept der Anamnesis, wobei sich die unsterbliche Seele auf der höchsten Erkenntnisstufe daran erinnert, die Vollkommenheit der Ideen vor ihrer Geburt betrachtet zu haben. Diesen Begriff erläutert Platon vor allem in den Dialogen Menon, Phaidon und Phaidros. 16,41 »Im Todesjahr des Königs Usijahu«] Jes 6,1 hier in der Schriftverdeutschung Bubers. Beim Zitieren aus dem Buch Jesaja bedient sich Buber oft seiner eigenen Verdeutschung der Schrift, manchmal greift er aber auch auf die Luther-Übersetzung zurück. Das Buch Jesaja ist das letzte gemeinsam mit Franz Rosenzweig übersetzte biblische Buch. Es wurde aber erst ein Jahr nach dem Tod Rosenzweigs veröffentlicht. Vgl. Das Buch Jeshajahu. (Die Schrift X: Künder: Bücher der Kündung) Berlin: Verlag Lambert Schneider [1930]. 17,1 zum Künder berufen] Die Vision Jesajas vom Thron Gottes im Tempel von Jerusalem, wodurch er im Todesjahr des Königs Asarjas (740-739 v. Chr.) seine Berufung zum Prophetenamt erhält, umfasst das ganze Kapitel 6 des Buches Jesaja. »Künder« ist das von Buber und Rosenzweig meist verwendete Wort, um das hebräische navi (»Prophet«) zu übersetzen. Den Gebrauch des Wortes »Künder« kritisiert Siegfried Kracauer 1926 in seiner in der Frankfurter Zeitung erschienenen Besprechung von Das Buch Im Anfang »Die Bibel auf Deutsch. Zur Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosen-

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zweig«, jetzt in: Das Ornament der Masse, Frankfurt a. M. 1963, S. 173-186. Bubers Erwiderung in: Die Bibel auf Deutsch (1926), jetzt in: MBW 14, S. 119-127. 17,2 Usijahu] Vom König Usija bzw. Asarja berichten das 2. Buch der Könige und das 2. Buch der Chronik. Er herrschte über das Königreich Juda mit der Hauptstadt Jerusalem in den Jahren 783-742 v. Chr. (oder anderen Datierungen zufolge zwischen 767 und 740 v. Chr.). 17,3-6 Der Aussatz […] am menschlichen Leibe] Vom Aussatz, auch als göttlichem Zeichen oder als abstoßendem Bild von der Sünde und ihrer Wirkung, ist oft in der Bibel die Rede. Das mosaische Gesetz vermittelt Kenntnisse, die es den Priestern ermöglichten, den Aussatz zu identifizieren. Vgl. besonders Lev 13-14. 17,7-8 im Heiligtum zu Jerusalem sakrale Funktionen anmaße] König Asarja bringt im Jerusalemer Tempel Räucherwerk dar und übernimmt damit priesterliche Funktionen, die ihm nicht zustehen. Vgl. II Chr, 26,16-23. 17,11 »unreiner Lippen«] Die Bibelstelle (Jes 6,5) wird hier in der Luther-Übersetzung zitiert (»Weh mir, ich vergehe! denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen«). 17,12 »den Lippenbart verhüllen«] Lev 13,45. 17,15 Hammelech] Hebräisch »Der König«, in Bezug auf Jes 6,5 (»denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen«). 17,19 mit einer Botschaft an das ganze Volk] Buber paraphrasiert die Verse Jes 6,9-13: »Und er sprach: Gehe hin und sprich zu diesem Volk: Höret, und verstehet’s nicht; sehet, und merket’s nicht!« / »Verstocke das Herz dieses Volkes und laß ihre Ohren hart sein und blende ihre Augen, daß sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich bekehren und genesen / Ich aber sprach: HERR, wie lange? Er sprach: Bis daß die Städte wüst werden ohne Einwohner und die Häuser ohne Leute und das Feld ganz wüst liege / Denn der HERR wird die Menschen weit wegtun, so daß das Land sehr verlassen sein wird.« 17,22 eines kleinen »Restes«] Im Buch Jesaja wird vorausgesagt, dass nur ein kleiner Rest Israels übrig bleibt (Jes 1,9; 10,22; 30,17), der dem erwählten Volk eine neue Lebensmöglichkeit eröffnet. 17,22-23 »verstocken«] Die von Gott durch den Propheten vollbrachte Verstockung des Herzens ist ein wichtiges Motiv im Buch Jesaja (6,910). 17,37 »ein böses Geisten«] In seiner Schriftverdeutschung verwendet Buber dieses Syntagma zweimal (Ri 9,23; I Sam 16,14). Denselben

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Ausdruck verwendet die mit Buber eng befreundete Essayistin und von seiner Bibelübersetzung begeisterte Margarete Susman in ihrem Aufsatz Saul und David. Zwei ewige Gestalten, Der Morgen, 2, 1930, S. 171-195, hier S. 184. 18,3 Achas an der Straße zum Wäscherfeld] Ahas war König des Reiches Juda (735-715 v. Chr.). Nach biblischer Überlieferung (Jes 7,3) treffen ihn Jesaia und sein Sohn auf der Landstraße des Wäscherfeldes (Vgl. auch Jes 36,2-3 und II Kön 18,17-18). Die Wörter, die vorkommen (»an der Straße zum Wäscherfeld«), gehören zu Bubers Verdeutschung des Buches Jesaja. 18,8 an den Lippen ausgebrannt] Umschrieben wird hier die Bibelstelle Jes 6, 6-7: »Da flog der Seraphim einer zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm / und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen gerührt, daß deine Missetat von dir genommen werde und deine Sünde versöhnt sei.« 18,9-10 schaut Thron und Majestät] Buber weist nochmals auf den Visionsbericht Jesajas (Jes 6) hin. 18,13 die Ungerechten gehen an ihrer Ungerechtigkeit zugrunde] Nicht nachgewiesen. 18,14-15 ein Gerechter wird als der treue Statthalter des Königs regieren] Buber nimmt hier auf die Beschreibung des eschatologischen Wendepunkts in Jes 32 (»ein König wird kommen, der gerecht regiert« …) Bezug. 18,22-23 jener Priesterherrschaft, die man gewöhnlich Theokratie nennt] Buber greift das Thema der falschen Theokratie, der konkreten irdischen Herrschaft der Priester (Hierokratie) im Gegensatz zu der alleinigen Führerschaft Gottes wieder auf. Das Thema der wahren Theokratie und der theokratisch begründeten Anarchie als frei geordnetes Gemeinschaftsleben hat er vor allem in Königtum Gottes ausführlich behandelt. Vgl. MBW 15, S. 93-266 (besonders das achte Kapitel »Um die Theokratie«, S. 174-199). 18,24 »die absolut unfreie Form der Gesellschaft«] Nicht nachgewiesen. 18,25-26 »unfrei […] Mensch kennt«] Nicht nachgewiesen. 18,32-36 Ein Volk […] waltet.] Vgl. z. B. die »Arbeitsgemeinschaft zu ausgewählten Abschnitten aus dem Buche Schmuel«: »Was von religiöser Seite aus Theokratie heisst, ist von soziologischer Seite her Volkwerdung durch freiwillige Gemeinschaft.« Jetzt in: MBW 15, S. 46-92, hier S. 74. 18,36 waltet] In seiner Schriftverdeutschung und in seinen Schriften zur Bibelexegese verwendet Buber ständig das Verb »walten« als Über-

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setzung der hebräischen Wurzel maschal (»herrschen«). Das Verb hat daher eine ausgeprägte theopolitische Valenz. Vgl. Bubers ausführliche Darstellung der Wortbedeutung in Königtum Gottes (MBW 15, S. 102-105). Zur Übersetzung »walten« vgl. Martin Buber u. Franz Rosenzweig, Die Bibel auf Deutsch, jetzt in: MBW 14, S. 119-127, hier S. 120. 18,41-19,1 Gerechtigkeit sagt] Vor allem im Kapitel 32, in dem Jesaja das künftige Reich von Frieden und Gerechtigkeit voraussagt. 19,1-2 dich und mich […] Institution zur Lüge] Was die dialogische Deutung vom Spannungsverhältnis zwischen Wahrheit und Lüge betrifft, vgl. Martin Buber, Bilder von Gut und Böse, Köln: Jakob Hegner 1952, S. 83-112 (jetzt in: MBW 12, S. 347-358). 19,5-6 »haltet euch still«] Vgl. Jes 7,4: »hüte dich, halte dich still«, in der Buber-Rosenzweig-Übersetzung. 19,8-10 Das Haupt von Damaskus […] der Mann Pekach] Anspielung auf Jes 7,8-9: »Sondern wie Damaskus das Haupt ist in Syrien, so soll Rezin das Haupt zu Damaskus sein […] Und wie Samaria das Haupt ist in Ephraim, so soll der Sohn Remaljas das Haupt zu Samaria sein.« 19,11 vertraut ihr nicht, bleibt ihr nicht betreut] Jes 7,9 in Bubers Schriftübersetzung. 19,14 Spruch Jesajas an Achas] Jes 7, 4-9. 19,22-23 die Völker zum Völkerfrieden führen] Buber weist auf Jes 2 – das eschatologische Friedensreich Gottes mit der Völkerwallfahrt zum Zion – hin. Vgl. Jes 2,4: »Und er wird richten unter den Heiden und strafen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk gegen das andere ein Schwert aufheben, und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen.« 19,25-27 Wenn der Berg des Hauses Gottes […] »strömen«] Die biblische Vorlage ist Jes 2,2. »Festgegründet« und »strömen« gehören zur Verdeutschung Bubers desselben Verses: »Geschehn wirds in der Späte der Tage: / festgegründet ist der Berg SEINES Hauses / zuhäupten der Berge, / über die Hügel erhaben, / strömen werden zu ihm die Weltstämme all.« 19,29 Berufung] Vgl. Jes 6. 19,30-32 der nachfolgende König […] liebäugelt] Es wird hier auf König Hiskija (ca. 750-696 v. Chr.), den Nachfolger Ahas’, hingewiesen. Er versuchte die Unabhängigkeit Judas vom Assyrischen Reich zurückzugewinnen. 20,11 Pantopie] eine alle Örtlichkeiten umfassende Vision.

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20,13 »zu ihm paßt«] Zitat aus dem Sechsten Buch der Politeia (496e), vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 14,18-19. 20,16-17 unter wilde Tiere […] des ruhigen Zuschauens zurückzuziehen] Verstecktes Zitat aus dem Sechsten Buch der Politeia (496e), vgl. Wort- und Sacherläuterung zu 14,18-19. 20,19 »verstockt«] Vgl. Jes 6,10. 20,37-38 Diktator der kommenden Dinge] Vgl. oben, S. 9 und die Wortund Sacherläuterung zu 9,8. 21,6 »Machtvoll«] Nicht nachgewiesen. Die Macht der Zeitung Der hebräische Text erschien unter dem Titel Kocho schel iton (»Kraft der Zeitung«) in der israelischen Tageszeitung Ha-aretz am Dienstag, den 28. Juni 1938 in einer Sondernummer anlässlich des 20jährigen Bestehens der Zeitung. 1935 hatte Salman Schocken (1877-1959), der ein Jahr zuvor nach Palästina eingewandert war und sich im Brit Schalom für die jüdisch-arabische Verständigung politisch engagierte, die Tageszeitung gekauft und den Grundstein für die Mediengruppe Ha-aretz gelegt. Schon in Deutschland hatten Buber und der Großkaufmann, Bücherliebhaber und Mäzen Schocken zwischen 1916 und 1920 für die Aufwertung und die Verbreitung des jüdischen Gedanken- und Kulturguts innerhalb und außerhalb des jüdischen Kulturzionismus zusammengearbeitet. Es genügt, einige Beispiele zu erwähnen: Die Mitarbeit an der Gründung und Herausgabe der Monatsschrift Der Jude, die gemeinsame Arbeit im 1916 gegründeten von Schocken geleiteten Kulturausschuss (Hauptausschuss für jüdische Kulturarbeit) der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) und die letztlich nicht durchgeführte Errichtung eines Schocken-Instituts für Religionswissenschaft in Berlin unter Bubers Leitung (vgl. Brief an Salman Schocken vom 11. November 1930, B II, S. 384-385). Buber spielte des Weiteren eine überaus wichtige Rolle in der Gründung des am 1. Juli 1931 in Berlin eröffneten Schocken Verlags, dessen persönlich haftender Gesellschafter Salman Schocken war, während Lambert Schneider das Amt des Geschäftsführers bekleidete. (Vgl. Volker Dahm, Das jüdische Buch im Dritten Reich, zweite überarbeitete Auflage, München 1993; Saskia Schreuder u. Claude Weber, Der Schocken Verlag Berlin: Jüdische Selbstbehauptung in Deutschland 1931-1938. Essayband zur Ausstellung »Dem suchenden Leser unserer Tage« der Nationalbibliothek Luxemburg, Berlin 1994.) In den Jahren, die dem Anfang der verlegerischen Tätigkeit vo-

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rausgingen, besprach Schocken mit Buber seine Verlagspläne und ersuchte ihn um Vorschläge zum Verlagsprogramm. 1930 gingen die Judaica Lambert Schneiders, der bisher der Verleger der Buber-Rosenzweigschen Bibelübersetzung gewesen war, in den Schocken Verlag über. Durch die Verbindung Schneiders mit Schocken wurde somit die Fortführung der Bibelübersetzung gesichert. Von 1931 bis 1938 betreute der Verlag das Gesamtwerk Martin Bubers. Wichtige Werke von Franz Rosenzweig, Leo Baeck und Hermann Cohen gehörten ebenfalls zu seinem Bestand. Ein Kernstück des Verlagskatalogs war Bubers Verdeutschung der Schrift, aber unter den Verlagswerken war auch die Gesamtausgabe der Schriften Franz Kafkas von besonderer Bedeutung. In seiner hebräischen Abteilung pflegte der Verlag die klassische hebräische Dichtung, während die zeitgenössische hebräische Dichtung durch das Gesamtwerk Schmuel Joseph Agnons vertreten war. In den Jahren nach Hitlers Machtübernahme verstärkte Schocken die Bemühungen um die Vermittlung und die Popularisierung jüdischen Wissens und jüdischer Kultur, indem er die editorische Tätigkeit und die Expansion der Produktion unter den neuen politischen Umständen auch als Widerstandsakt verstand. In diese Richtung bewegte sich die Reihe »Bücherei des Schocken Verlags« (Schocken-Bücherei), die zwischen 1933 und 1938 erschien und die sich dem Werk jüdischer Autoren oder jüdischen Themen widmete. Die Buchreihe, die bis 1938 dreiundachtzig in rascher Folge erschienene Bändchen umfasste und darauf abzielte, ein »Gebäude jüdischer Bildung« (Werbung in Jüdische Rundschau, Nr. 31-32 vom 17. April 1935, S. 9) zu errichten, schloss Autoren wie Heinrich Heine, Franz Kafka, Micha Josef bin Gorion, Leo Baeck, Gershom Scholem, und Scholem Alejchem ein. Auch Publikationen nichtjüdischer Autoren, die sich mit jüdischen Themen befassten – wie z. B. Adalbert Stifters Abdias, Johann Gottfried Herders Blätter der Vorzeit, Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche und Theodor Mommsen Judaea und die Juden – kamen in der Schocken-Bücherei zu Wort. Durch die Veröffentlichungen des Schocken Verlags und besonders durch die Bändchen der Schocken-Bücherei sollten den deutschen Juden, die vielfach kaum noch Zugang zu ihrer jüdischen Herkunft und Identität hatten, der Weg zu ihrem Judentum gewiesen werden. Im Dezember 1938 verfügten die nationalsozialistischen Machthaber die Schließung des bereits zum Teil arisierten Verlags; die Warenhäuser wurden veräußert, der Verlag wurde liquidiert und die Reihe der Schocken-Bücherei zwangsweise eingestellt. Zum Jahreswechsel 1933-1934 war Schocken inzwischen nach Palästina emigriert, wo er seit 1935 auch Schatzmeister und Präsident des Executive Council der Hebräischen

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Universität war. Es folgte dann 1936 die Gründung eines eigenen Verlags in Tel Aviv mit dem Namen Schocken Publishing House Ltd., dem sich 1945 ein neu gegründeter gleichnamiger Verlag in New York anschließen sollte. Buber teilt Hermann Hesse in einem Brief vom 18. Juni 1938 Schockens Absicht mit, eine hebräische Reihe kleiner Bücher nach Art der Insel-Bücherei, des schon in Deutschland etablierten Vorbilds für die Bücherei des Schocken Verlags, herauszugeben. Schocken möchte, so Buber, Hesse als einzigen modernen deutschen Schriftsteller mit seinem Knulp. Drei Geschichten aus dem Leben Knulps (Berlin 1915) in diese Reihe aufnehmen. (Vgl. Brief an Hermann Hesse, B III, S. 10 f.) In Palästina wurde allerdings die Schocken-Buchreihe nicht wieder aufgenommen und das hebräische Pendant zur Schocken-Bücherei kam nicht zustande. In seinem Artikel knüpft Buber an die am Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in Deutschland geführte soziologische Debatte über das Wesen der Zeitung an. Schon auf dem Ersten Deutschen Soziologentag (19.-22. Oktober 1910), an dem Buber teilgenommen hatte, war von der Wichtigkeit einer Soziologie des Zeitungswesens die Rede gewesen. Auf der ersten Donnerstagssitzung hatte Max Weber das Thema der sozialen Effekte der Zeitung behandelt und eine »Enquete über das Zeitungswesen« vorgeschlagen. (Max Weber, Geschäftsbericht für die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages, Tübingen 1911, S. 39-62, hier S. 40; vgl. ferner Wilhelm Hennis, Die Zeitung als Kulturproblem. Zu Max Webers Vorschlag für eine Erhebung über das Zeitungswesen, in: Ansgar Fürst zum Ausscheiden aus der Redaktion der Badischen Zeitung, hrsg. von Leopold Glaser, Freiburg i. B. 1995, S. 59-68.) Für Max Weber, wie für Buber, ist die Zeitung untrennbarer Bestandteil eines charakteristischen kulturellen Wandels, der zur Moderne geführt hat. (Vgl. Andreas Hepp, Netzwerke der Medien. Medienkulturen und Globalisierung, Wiesbaden 2004, S. 31-32.) Auch die Radiosendungen und die Radio-Vorträge, die Buber 1939 im Auftrag der hebräischen Zeitung Ha-aretz hält, zeugen von seinem Interesse an der Mediennutzung und an der zeitungswissenschaftlichen Forschung. Vgl. hierzu den Eintrag Hugo Bergmanns vom 18. Februar 1939, in: Bergmann, Tagebücher & Briefe, Bd. I, S. 496. Textzeuge: D: Kocho schel iton, Ha-aretz, 28. Juni 1938, S. 17 [Hebräisch] (MBB 587). Druckvorlage: Übersetzung von Karin Neuburger.

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Wort- und Sacherläuterungen: 22,19-25 Wer sich jedoch […] Aufzeichnungsinstrument] Dieser Abschnitt ist von der zeitgenössischen Diskussion über Wirkung und soziale Effekte der Zeitung beeinflusst. Der epochale Paradigmenwechsel zwischen langsamer Lebenserfahrung, die auch die Lektürezeit bestimmt, hin zu einer Überflutung mit Nachrichten im journalistischen Telegrammstil ist Teil einer in der Öffentlichkeit stattfindenden soziologischen Erörterung, an der auch Max Weber teilnimmt. In der von ihm am 3. Januar 1909 mitgegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) regt er eine theoriegeleitete, empirischanalytisch ausgerichtete Enquête über das Zeitungswesen, insbesondere über die journalistischen Produktions- und Arbeitsbedingungen, an. In Vorbereitung auf den ersten Soziologentag verfasst Max Weber einen siebenseitigen »Vorbericht über eine vorgeschlagene Erhebung über die Soziologie des Zeitungswesens«. In seinem 1910 auf dem Ersten Deutschen Soziologentag vorgestellten Geschäftsbericht formuliert er das Vorhaben der Enquête und skizziert deren Rahmen anhand von vier Punkten, darunter die Analyse der »Wirkung des Zeitungswesens« (Max Weber, Geschäftsbericht für die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, S. 50). Die Begriffe, mit denen Weber diese Wirkung darstellt und die bahnbrechende empirische Medienforschung skizziert, ähneln der Gedankenabfolge Bubers, auch was die notwendige Hemmung der Empathie vonseiten des Lesers betrifft: »Man hat ja bekanntlich direkt versucht, die Wirkung des Zeitungswesens auf das Gehirn zu untersuchen, die Frage, was die Konsequenzen des Umstandes sind, daß der moderne Mensch sich daran gewöhnt hat [Hervorhebung des Hrsg.], ehe er an seine Tagesarbeit geht, ein Ragout zu sich zu nehmen, welches ihm eine Art von Chassieren durch alle Gebiete des Kulturlebens, von der Politik angefangen bis zum Theater, und allen möglichen anderen Dingen, aufzwingt […]. Man wird ja wohl von der Frage auszugehen haben: welche Art von Lesen gewöhnt die Zeitung dem modernen Menschen an? […] Es sind unzweifelhaft gewaltige Verschiebungen, die die Presse […] in den Lesegewohnheiten vornimmt […]. Der fortwährende Wandel und die Kenntnisnahme von den massenhaften Wandlungen der öffentlichen Meinung, von all den universellen und unerschöpflichen Möglichkeiten der Standpunkte und Interessen lastet mit ungeheurem Gewicht auf der Eigenart des modernen Menschen. […] Wir haben die Presse letztlich zu untersuchen einmal dahin: was trägt sie zur Prägung des modernen Menschen bei? Zweitens: Wie werden die objektiven überindividuellen Kulturgüter

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beeinflußt, was wird an ihnen verschoben, was wird an Massenglauben, an Massenhoffnungen vernichtet und neu geschaffen, an ›Lebensgefühlen‹ – wie man heute sagt –, an möglicher Stellungnahme für immer vernichtet und neu geschaffen? […] Wir werden die Art der Stilisierung der Zeitung, die Art, wie die gleichen Probleme innerhalb und außerhalb der Zeitungen erörtert werden, die scheinbare Zurückdrängung des Emotionalen [Hervorhebung des Hrsg.] in der Zeitung, welches doch immer wieder die Grundlage ihrer eigenen Existenzfähigkeit bildet, und ähnliche Dinge zu verfolgen haben.« Max Weber, Geschäftsbericht für die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, S. 51-52. 22,29 Baum der Erkenntnis von Gut und Böse] Buber bezieht sich auf den in der Paradieserzählung geschilderten Baum, der zusammen mit dem Baum des Lebens in der Mitte des Gartens Eden steht. Vgl. Gen 2,9; 2,17. 23,7-8 indem man es als wirkliches Ereignis vorstellt, d. h. indem man die Begebenheit erzählt] Um diese als »Erzählfertigkeit«, als ausführliche Beschreibung eines Faktums gemeinte alternative Form des journalistischen Berichts zu bezeichnen, greift Buber auf Grundbegriffe der Epik (»Ereignis«, »Begebenheit«) zurück, wie sie z. B. in Walter Benjamins berühmtem Essay »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows« (in: Orient und Occident. Staat – Gesellschaft – Kirche. Blätter für Theologie, Ethik und Soziologie 3, 36, S. 16-30, dann in: Ders.: Gesammelte Schriften. Aufsätze, Essays, Vorträge, II/2, hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1977, S. 438-465) auftauchen. Bubers Rezeption der zeitgenössischen Debatte um den durch die technische Beschleunigung der Moderne verursachten Untergang der epischen Erzählkunst ist damit offensichtlich. Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose Den unmittelbaren historischen Hintergrund dieses Artikels stellen die Konferenz von Évian und der Rublee-Wohlthat-Plan dar. Auf der in Évian-les-Bains gehaltenen internationalen Konferenz (6.-15. Juli 1938) wird das Problem der immer größer werdenden jüdischen Flüchtlingswelle aus Deutschland und Österreich erörtert. Außer Costa Rica und der Dominikanischen Republik weigerten sich die Teilnehmerstaaten, mehr jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Das Scheitern der Konferenz wird schon von den Zeitgenossen als Versagen der westlichen Demokra-

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tien gedeutet. Auf der Konferenz von Évian wird die Gründung des Intergovernmental Committee on Refugees (ICR, auch Comité d’Évian genannt) unter der Leitung des amerikanischen Rechtsanwalts George Rublee (1868-1957) und des amerikanischen Botschafters Robert Pell beschlossen. Darauf folgen inoffizielle bilaterale Gespräche zwischen Rublee, dem deutschen Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht (18771970) und später dem deutschen Ministerialdirektor Helmuth Wohlthat (1893-1982), die zur Verfassung eines geheimen Memorandums, des sogenannten Rublee-Wohlthat-Plans, führen. Das mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Judenermordung obsolet gewordene Abkommen zielte auf die schrittweise und binnen fünf Jahren durchzuführende, planmäßige Ausreise aller deutschen Juden. Der zehn Monate nach Bubers Abreise aus Deutschland verfasste Artikel erschien auf Hebräisch am 13. Januar 1939 in der israelischen Tageszeitung Ha-aretz unter dem Titel Le-qitza schel ha-simbjosia ha-germanit-jehudit (»Zum Ende der deutsch-jüdischen Symbiose«) als Aufzeichnung einer nicht ausgestrahlten Radiosendung. Die deutsche Fassung desselben Textes wurde im ersten Heft der Jerusalemer Jüdischen Welt-Rundschau am 10. März 1939 veröffentlicht. Nachdem die Berliner Jüdische Rundschau im November 1938 verboten worden war, bemühten sich die nach der Reichs-Kristallnacht nach Palästina emigrierten Redakteure darum, ein international orientiertes Blatt für die in alle Welt zerstreuten Juden zu schaffen. Zu diesem Zweck wurde der »Freundeskreis der Jüdischen Welt-Rundschau« gegründet, der auch aus führenden Mitgliedern der »Hitachdut Olej Germania we-Olej Austria« (Vereinigung der Einwanderer aus Deutschland und Österreich, seit 1942 Irgun Olej Merkas Europa, Verband der mitteleuropäischen Einwanderer) und Mitarbeitern des Mitteilungsblatts, des Organs der Hitachdut, bestand. Hierauf etablierte der ehemalige Chefredakteur der Jüdischen Rundschau Robert Weltsch Anfang 1939 die neue Jüdische Welt-Rundschau, eine zionistische Wochenzeitung, die sich als Forum für verstreute jüdische Emigranten verstand. Die Zeitschrift, deren Chefredakteur und Verleger Robert Weltsch bzw. Siegmund Kaznelson waren, wurde in Jerusalem produziert, in Paris gedruckt und von dort in sechzig Länder verschickt. Demzufolge war die Jüdische Welt-Rundschau einerseits eine Exilzeitung, andererseits eine palästinensische Lokalzeitung. Im ersten Leitartikel schreiben Redaktion und Verlag: »Die Jüdische-Welt Rundschau tritt auf den Plan in einer Zeit der präzedenzlosen Krise der Judenheit, besonders des deutschsprechenden Teiles des jüdischen Volkes, einer Krise, die man in dieser Form und Zuspitzung

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selbst während der letzten fünf Jahre noch für unmöglich gehalten hat. Sie will zu den deutschsprechenden Juden in der ganzen Welt reden, die heute kein verbindendes Organ mehr haben, in einer Zeit, wo sie eines inneren und äusseren Rückhaltes und einer umfassenden Information mehr bedürfen als je zuvor. Die Jüdische Welt-Rundschau will zu ihnen sprechen, aber auch für sie sprechen. Sie wird die Interessen dieser Hunderttausende entrechteter Menschen und ihren Anspruch auf den Wiederaufbau eines menschenwürdigen Daseins vor der Welt vertreten.« (An unsere Leser, Jüdische Welt-Rundschau, 1 [1939], S. 1). Artikel über die von George Rublee im Namen des Évian-Komitees mit der deutschen Regierung geführten Verhandlungen, über die fluchtartige jüdische Auswanderung aus Deutschland, über die in London abgehaltene Palästina-Konferenz (vom 7. Februar bis 17. März 1939), über die Veröffentlichung der Hussein-Macmahon-Korrespondenz als Weißbuch, über die für den 12. März 1939 angesetzte Vertreibung aller in Italien wohnenden Juden und über die jüdische Auswanderung nach Südafrika umrahmen Bubers Essay. Parallel erschien der Text im seit 1932 herausgegebenen, zunächst als Vereinszirkular für Mitglieder der Hitachdut erschienenen Mitteilungsblatt der Hitachdut Olej Germania we Olej Austria, einer Zeitschrift, die seit 1939 inhaltlich stark der Jüdischen WeltRundschau ähnelte, gleichzeitig aber ein größeres Gewicht auf die palästinensische Innenpolitik legte. Über diese Zeitschriften der »jeckischen« Gemeinschaft in Palästina vgl. ferner Klaus Hillenbrand, Fremde im neuen Land. Deutsche Juden in Palästina und ihr Blick auf Deutschland nach 1945, Frankfurt a. M. 2015, besonders S. 17-88; Victoria Kumar, Land der Verheißung – Ort der Zuflucht: Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945, Schriften des Centrums für Jüdische Studien, 26, Innsbruck 2016; Katharina Hoba, Generation im Übergang: Beheimatungsprozesse deutscher Juden in Israel, Köln u. a. 2017, besonders S. 105-141. Von Lucy Schildkret Dawidowicz wird Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose zugleich als Eulogie und Elegie definiert (»both eulogy and elegy for that era«, in: The War Against the Jews 1933-1945, New York 1975, S. 246). Textzeugen: D1: Jüdische Welt-Rundschau, I, 1 vom 10. März 1939, S. 5 (MBB 602). D2: Mitteilungsblatt, III/11 vom 10. März 1939, S. 5 (MBB 602). D3: JuJ, S. 644-647 (MBB 1216). Druckvorlage: D1

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Übersetzungen: Hebräisch: Le-qitza schel ha-simbjosia ha-germanit-jehudit, Ha-aretz vom 13. Januar 1939 (MBB 618); in: Buber, Teʿ uda we-jiʿ ud, 2. Bd.: Am weʾ olam. Maʾ amarim al injane ha-schaʿ a, Jerusalem: Ha-sifrija ha-zionit, S. 293-295 (MBB 1182). Variantenapparat: 24,24-25 Tiefe] Tiefen D3 26,2 die tragische Tiefe] den tragischen Charakter D3 26,23 Jischuw] Siedlung D3 Wort- und Sacherläuterungen: 24,2 Wesensmerkmal] Buber gebraucht hier ein essentialistisches Vokabular, das an den Wortschatz der ersten Prager und Berliner Reden über das Judentum anknüpft, in denen der Grundcharakter, die eigentümliche Wesensart, die ererbte Wesensbesonderheit der Juden ans Licht gebracht wird. Vgl. Drei Reden über das Judentum, jetzt in: MBW 3, S. 219-227 und »Der Geist des Orients und das Judentum«, jetzt in: MBW 2.1, S. 187-203. 24,2 Galuth] hebräischer Name für die jüdische Diaspora. Im engeren Sinne bezeichnet der Begriff die Zeit der Zerstreuung zwischen der Vertreibung der Juden aus Palästina nach dem Bar-Kochba-Aufstand (132-135 n. Chr.) und der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948. 24,3 Labilität] Der Begriff »Labilität« im Zusammenhang mit der Konstituierung der Gemeinde und der (religiösen) Gemeinschaft taucht auch andernorts in Bubers Reden bzw. Schriften auf. Vgl. z. B. Martin Buber-Abende, in: MBW 11.1, S. 115 u. 120. Auch zur Bestimmung der Struktur des jüdischen Bildungswesens und zur Beschreibung der jüdischen Eigenart in der Exilzeit greift Buber in seinen Schriften zur jüdischen Erziehung auf den Labilitätsbegriff zurück, vgl. »Die Bildungsnot des Volkes und die Volksnot der Gebildeten«, jetzt in: MBW 8, S. 173-174; »Bildungsziel und Bildungsmethoden der jüdischen Schule«, ebd., S. 230; »Die Kinder«, ebd., S. 235; »Unser Bildungsziel«, ebd., S. 248. Wiederum taucht der Begriff in der Darstellung der jüdischen messianischen Dynamik und des damit verbundenen Geschichtsbegriffs auf in Zwei Glaubensweisen, S. 108 (jetzt in: MBW 9, S. 268). 24,9 Zusammenhang des Grossteils des Volkes mit seinem Boden] Indem Buber anhand des organischen Bandes zwischen Volk und Boden den geschichtlich-konstitutiven Unterschied zwischen nachexilischem Israel und den anderen Völkern betont, rekurriert er auf

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denselben neuromantischen, völkisch gefärbten Wortschatz, von dem er bereits in anderen, einige Jahre vorher verfassten Schriften Gebrauch gemacht hatte. Auf der Tagung des Köngener Bundes (Januar 1933, Arbeitswoche mit Hauptthema »Die geistigen und religiösen Grundlagen einer völkischen Bewegung«) hatte Buber in seinem Referat »Israel und die Völker« die wesenhafte Verbindung zwischen Volk und Erde im monarchischen Zeitalter Israels thematisiert: »Und nun weiter die Biblische Verfassung, das Gesetz, das in der Bibel diesem Volk von seinem König gegeben wird, diese soziale Verfassung, wesentlich agrarisch, denn es war ein Bauernvolk, ein landhungriges, erdehungriges, nach Erde, nach Leben auf der Erde und Vermählung mit der Erde sehnsüchtiges Volk, das nach Kanaan wanderte.« (»Israel und die Völker«, jetzt in: MBW 11.1, S. 392.) Gleich danach hatte er auch die in den Sabbatjahren und im Erlassjahr regelmäßig wiederkehrende, die bodenständige Volksgemeinschaft befestigende Bodenreform behandelt. (»So wird festgesetzt: alle 7 Jahre Ausgleich des Besitzes, und alle 50 Jahre vollkommener Ausgleich, sodaß jeder zu seinem Sippenboden zurückkehrt. Es darf das nicht geben, daß es heimlose, erdlose Menschen gibt im Volk, das wäre ein Unterschied, der die Volksgemeinschaft zersprengte, das Jobeljahr bringt den Ausgleich wieder zurück; der Mensch muß Erde haben, die Sippe muß Erde haben, und deswegen muß die Volksgemeinschaft den Ausgleich satzungsmäßig festlegen.« Ebd.) Vgl. ferner Manuel Duarte de Oliveira, Passion for »Land« and »Volk«. Martin Buber and NeoRomanticism, Leo Baeck Institute Year Book XLI (1996), S. 239-60; Stefano Franchini, Imbarazzi teologico-politici alle soglie della dittatura, in: Martin Buber, Israele e i popoli. Per una teologia politica ebraica, Brescia 2015, S. 11-59. Die Erwähnung des Wechselverhältnisses zwischen Volk und Boden ist auch in den früheren Schriften zum gemeinschaftlichen, neuromantischer Akzente nicht entbehrenden Sozialismus zu finden, die einen neuromantisch geprägten Begriff der »Gemeinschaft« entwerfen. Vgl. z. B. den in Der Jude veröffentlichten, dem Verhältnis zwischen Judentum und Revolution gewidmeten Artikel »Die Revolution und wir«: »Er [der Jude] wird erst dann nicht mehr fehlgreifen, wenn er seine Wahrheit auf eignem Boden und mit dem eignen Volkstum verwirklicht. Dann erst werden der tiefe Zusammenhang seines Wesens mit der Aufgabe des Zeitalters und seine Berufung zur neuen Menschheit den Augen der Welt aufleuchten.« (jetzt in: MBW 11.1, S. 108-110, hier S. 109.) 24,11 Keim] Seit Bubers frühen Schriften zum Judentum ist der Keim das sowohl messianisch als auch biologistisch gefärbte Sinnbild für

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das Anzeichen und die darauffolgende Entfaltung des Neuen, des Künftigen und des Heilbringenden. Besonders in den Schriften zum Kulturzionismus und zur Jüdischen Renaissance tritt das Aufsprießen der »Kulturkeime« in den Vordergrund. Vgl. »Herzl und die Historie«, jetzt in: MBW 3, S. 119; »Juedische Renaissance«, ebd., S. 143; »Ein geistiges Centrum«, ebd., S. 159; »Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung«, ebd., S. 167; »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus«, ebd., S. 200; »Das Gestaltende«, ebd., S. 263; »Kulturarbeit«, ebd., S. 278; »Völker, Staaten und Zion«, ebd., S. 315. Hier wird das Wort mit zwei negativen Begriffen (»Zerstörung« und »Zersetzung«) deterministisch in Verbindung gesetzt. 24,11-12 Zersetzung] Im naturkundlichen, sozialdarwinistischen Sinne gilt der Begriff »Zersetzung« seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als Synonym für Zerfall der Gesellschaftsstrukturen, Auflösung staatlicher, sozialer oder geistiger Ordnungen, Abschwächung der »Volksgemeinschaft«. Sehr früh weist der Begriff einen klar markierten kulturpolitisch-ideologischen Widerhall auf, verknüpft sich mit dem Organischen, wird vergröbert und biologisiert. Gerade im Gegensatz zur Verwurzelung in der Erde, zum Bodenbesitz und zur völkischen Zugehörigkeit bezeichnet er im Zusammenhang mit dem Berliner Antisemitismusstreit, dann im antisemitischen und rechtsradikalen Diskurs den jüdischen Charakter schlechthin. Als Inbegriff einer künstlichen, mechanischen Moderne wird »der Jude« zur Metapher und Verkörperung der nationalen Zersetzung. Vgl. Renate Schäfer, Zur Geschichte des Wortes »zersetzen«, in: Zeitschrift für deutsche Wortforschung, 18, 1962, S. 40-80. 24,16 »Wirtsvolke«] Es handelt sich um einen spezifischen Terminus, der bezüglich der Nationen verwendet wird, in denen Juden leben. Im oppositionellen Spannungsverhältnis zum Parallelbegriff »Gastvolk« kursiert der Begriff im soziologischen Diskurs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, z. B. in Max Webers Studien zum antiken Judentum (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 3: Das antike Judentum, Tübingen 1921, S. 358). In der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Vokabel auch im Rahmen des Biologismus und des Sozialdarwinismus mit einem essentialistischen Ansatz verwendet. Davon ausgehend wird der Begriff vom konservativen, nationalpädagogischen Historismus Heinrich von Treitschkes und von der antisemitischen Propaganda als politisches Schlagwort schon früh in die Öffentlichkeit lanciert, wonach die Juden als parasitärer Fremdkörper im Gegensatz zu dem jeweiligen Wirtsvolk stünden.

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24,16-17 von den Verträgen Friedrichs des Grossen] Die Frage, ob es einem Fürsten erlaubt ist, sich von vertragsmäßigen Verpflichtungen zu entbinden, wird von Friedrich II. in seinen historischen, philosophischen und politischen Werken (besonders in L’Antimachiavel, ou examen du prince de Machiavel [1740]) mehrmals behandelt. Laut seiner Lehre ist der Bruch von Verträgen und Bündnissen unter gewissen Umständen erlaubt. 24,18 sic stantibus rebus] Die clausula rebus sic stantibus ist die Klausel, wonach »die Dinge so stehen bleiben« und der Vertrag gültig ist, bis sich die Verhältnisse ändern. 24,20 Illusion] Der Begriff »Illusion« wird oft im Kontext einer negativen Beurteilung des deutsch-jüdischen Gesprächs verwendet. Im bekannten Aufsatz »Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen ›Gespräch‹« benutzt Gershom Scholem 1964 dieselbe Vokabel, um scharfe Einwände gegen die Vorstellung, es habe jemals eine deutschjüdische Symbiose gegeben, zu erheben. Vgl. Gershom Scholem, Judaica 2, Frankfurt a. M. 1970, S. 7-11, hier S. 7-8. 24,21 »Assimilation«] Der soziokulturelle Prozess der bürgerlichen Assimilation der Juden im Westen Europas war Ende des 19. bis zu den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts eine in jüdischen Debatten stark präsente Frage. In den Spalten der von Buber gegründeten Zeitschrift Der Jude waren die Abkehr von der westlichen Assimilation, ihre verderblichen Auswirkungen auf die jüdische Jugend, die Hinwendung zu produktiver Arbeit in Osteuropa und in Palästina und die Erschaffung einer neuen jüdischen Kultur unter den meist debattierten, meist analysierten und einflussreichsten Themen. 24,25 Synthese] Denselben Begriff verwendet die eng mit Buber befreundete Essayistin und Lyrikerin Margarete Susman im Essay »Vom geistigen Anteil der Juden in der deutschen Geschichte« (1935) indem sie den Anfang der deutsch-jüdischen Kultursymbiose mit der Bibelübersetzung Moses Mendelssohns und deren Ende mit der Schriftverdeutschung Rosenzweigs und Bubers identifiziert: »Und abermals entspringt hier am Ende der Synthese wie an ihrem Anfang eine Übersetzung der Schrift«, in: Margarete Susman, Vom Geheimnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze 1914-1964, Darmstadt u. Zürich 1965, S. 171-180, hier S. 179. 24,26 Zerreissung eines organischen Zusammenhangs] Ein ähnliches Bild wird von Margarete Susman evoziert: »Etwas Unfaßbares kam über das deutsche Judentum: die erneute und vertiefte Erfahrung des Ausgerissenseins aus der Schöpfungsordnung – und diesmal in einem Augenblick, wo es unmöglich geworden schien, die Identität

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mit der deutschen Kultur zu zerstören, ohne das ganze Gewebe zu zerreißen.« Ebd., S. 180 (Hervorhebung v. Hrsg.). 24,29 Wirtsstaates] Der Idee von »Wirtsstaat« und von den Juden als im Gegensatz dazu stehende, nicht einzuverleibende Instanz wird von der nationalsozialistischen Propaganda eingesetzt und in vielen Schriften unter dem Nazi-Regime popularisiert, darunter Juden richten sich selbst von Franz Rose (Berlin 1938; der »Wirtsstaat« wird auf Seite 262 erwähnt). Das Buch bringt »wissenschaftliche« Belege für die Heimat- und Vaterlandslosigkeit der Juden, indem es manipulativ Zitate jüdischer Autoren sammelt, unter denen sich auch Martin Buber befindet: »Oder haben die Juden selbst Recht? Alle Juden nämlich, die der weltbekannte jüdische Religionsphilosoph und jetzige Professor an der hebräischen Universität zu Jerusalem, Dr. Martin Buber, von der unantastbaren rassisch-religiös-soziologisch-politischen Plattform der Zeitschrift ›Der Jude‹ herab erklären ließ: ›Es gibt keine staatsfernere Gemeinschaft als die jüdische‹ … !«, (Franz Rose, Juden richten sich selbst, S. 5). Das leicht variierte Zitat stammt aus dem vom Literaturhistoriker Rudolf Kayser verfassten Artikel »Der neue Bund«, in: Der Jude, 3. Jg., (1918-1919), H. 11, S. 523-529, hier S. 524: »Es ist keine staatsfernere Gemeinschaft denkbar als die religiös-ethische der Juden; denn sie verbietet entschieden das Machtverhältnis.« 24,34-36 die Symbiose […] erlebt habe] Die Jahre 1890-1933 bilden den Höhepunkt der sogenannten »deutsch-jüdischen Symbiose«. 24,36-37 seit der spanischen Zeit] Die mittelalterliche spanisch-jüdische (auch arabische) Symbiose (convivencia) entfaltet sich unter islamischer und später christlicher Herrschaft auf der iberischen Halbinsel und ist durch eine kulturelle, literarische und wissenschaftliche Blüte gekennzeichnet. Die verschiedenen ethnischen Gruppen lebten nach der etwas vereinfachenden Darstellung der Historiker des 19. Jh. in friedlicher Koexistenz. Tatsächlich aber waren die jüdischen Gemeinden immer wieder Verfolgungswellen sowohl von islamischer als auch von christlicher Seite ausgesetzt, was schließlich 1492 in der Vertreibung der Juden aus Spanien in einer bis dahin noch nicht erlebten ethnischen Säuberung kulminierte. 24,39 Fruchtbarkeit] Die Fruchtbarkeit der deutsch-jüdischen Verbindung betont Buber auch in der zur Wiedereröffnung des Frankfurter Lehrhauses 1933 gehaltenen Rede »Aufgaben jüdischer Volkserziehung«: »Unter allen Verbindungen mit den Völkern, die das Judentum in dieser Problematik eingegangen ist, hat trotz allem keine eine so tiefe Fruchtbarkeit gehabt wie die deutsch-jüdische. Das Zusam-

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menleben von Deutschtum und Judentum hat in unseren Tagen seine Krise erfahren. Von ihr aus ist in Deutschland die gegenwärtige Aufgabe jüdischer Volkserziehung zu fassen.« (Hervorhebung v. Hrsg., jetzt in: MBW 8, S. 252-255, hier S. 254.) Der Fruchtbarkeitsbegriff taucht schon in den biologistisch nuancierten frühen Schriften zur Wiederbelebung und Wiedergeburt der jüdischen Kultur auf (vgl. »Was ist zu tun?«, jetzt in: MBW 3, S. 179, »Das Gestaltende«, jetzt in: MBW 3, S. 263). Die Jüdische Renaissance, so Buber, setzt die östliche Eigenart des Juden mit der westlichen Umwelt fruchtbar in Verbindung: »Die Renaissance des Judentums will sich erfüllen; sie weckt das Verlangen nach dem neuen, freien, selbständigen Leben, in dem allein sie sich erfüllen kann. Sie verbindet den Westen mit dem Osten. Indem Westen und Osten einander durchdringen, entsteht neue Fruchtbarkeit – spezifisch jüdische Fruchtbarkeit, die jüdische Art, jüdische Anschauung, jüdische Werte zur Gestalt werden läßt.« »Renaissance und Bewegung«, jetzt in: MBW 3, S. 274. 25,9 griechisch-jüdische Kultur] Buber weist hier auf den jüdischen Hellenismus in der griechischsprachigen jüdischen Diaspora hin. 25,10 auf philosophischem Gebiet] Buber bezieht sich hier höchstwahrscheinlich auf die Schriften des Philo von Alexandrien (um 15-10 v. Chr.-40 n. Chr.), vielleicht des bekanntesten jüdisch-hellenistischen Denkers. 25,15-17 als Goethe von dem Geist Spinozas […] ergriffen wurde] Goethe rezipierte Spinoza (1632-1677) bereits sehr früh. So rühmt er in seiner Lebensbeschreibung Dichtung und Wahrheit Spinoza mit den Worten: »Dieser Geist, der so entschieden auf mich wirkte und der auf meine ganze Denkweise so großen Einfluß haben sollte, war Spinoza.« Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit, in: WA, Bd. 28, S. 288. 25,16-17 Luther vom Geist der hebräischen Bibel] Gemeint ist hier Luthers Übersetzung des Alten Testaments aus dem Althebräischen und dem Aramäischen in die frühneuhochdeutsche Sprache. Nachdem Luther das Neue Testament aus dem griechischen Urtext 1522 übersetzt hatte (Septembertestament), machte er sich umgehend an die Übersetzung des Alten Testaments. Seiner Bibelübersetzung, die als Gemeinschaftsarbeit durchgeführt wurde, legte er neben der ihm vertrauten Vulgata den hebräischen Urtext zugrunde. In seinen Tischreden äußert Luther, der gute aber nicht gründliche Hebräischkenntnisse besaß, mehrmals seine Hochschätzung der hebräischen Sprache. Vgl. z. B. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe,

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Tischreden 1531-1546, 1. Tischreden aus der ersten Hälfte der dreißiger Jahre, Weimar 1912, S. 524-525. 25,31 jüdischer Jüngerschaft] Der George Kreis wies einen hohen Anteil an Juden auf, darunter den Wirtschaftswissenschaftler Edgar Salin (1892-1974), den Historiker Ernst Kantorowicz (1895-1963), den Kulturphilosophen und Kultursoziologen Erich von Kahler (18851970), den Juristen und Schriftsteller Ernst Morwitz (1887-1971), den Kunsthistoriker Botho Graef (1857-1917), den Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf (1880-1931) und den mit Buber befreundeten Schriftsteller und Übersetzer Karl Wolfskehl (1869-1948). Martin Buber kannte Stefan George nicht persönlich und, abgesehen von einigen mit ihm befreundeten George-Anhängern wie Karl Wolfskehl und Kurt Singer, schwankt Bubers Haltung dem Dichter und seinem Kreis gegenüber zwischen einer jugendlichen Hochschätzung und einer späteren Distanzierung. In einer anlässlich Georges sechzigstem Geburtstags veröffentlichten und ihm gewidmeten Ausgabe der Literarischen Welt erscheint trotzdem ein kurzer Text Bubers zu ihm, vgl. Über Stefan George, in: Die Literarische Welt, 13. Juli 1928, S. 34, jetzt in: MBW 7, S. 223. 25,32 Edmund Husserls] Edmund Husserl (1859-1938): dt. Philosoph. Der Begründer der philosophischen Schule der Phänomenologie, die die Philosophie des 20. Jahrhunderts stark prägte. Auf einem Treffen des »Bergzaberner Kreises«, einer Gruppe von Husserl-Schülern der frühen phänomenologischen Bewegung, lernte Buber 1928 Husserl auch persönlich kennen. Darauf bezieht sich eine von Buber selbst erzählte, vom schwäbischen Dichter Albrecht Goes mitgeteilte Anekdote: »Es war ein Vortrag von Husserl angekündigt, den ich hören wollte. Ich kam in den Saal; irgend jemand von der Philosophischen Gesellschaft erkannte mich, und sogleich wurde ich an eine Art von Vorstandstisch beordert. Als Husserl erschien, begrüßte er uns rasch noch, ehe er aufs Pult ging. Ich sagte ›Buber‹. Er stutzte einen Augenblick und fragte zurück: ›Der wirkliche Buber?‹. Ich zögerte mit einer weiteren Erklärung. Darauf Husserl: ›Aber das gibt es doch gar nicht! Aber Buber – das ist doch eine Legende!‹« Zitiert nach Albrecht Goes, Die guten Gefährten, München u. Hamburg 1968, S. 157. Vgl. auch Dominique Bourel, Martin Buber, S. 401. 26,9-12 »Das jüdische Prinzip […] wäre eine Trennung von uns selbst«] Buber zitiert aus Paul Tillichs am 18. Januar 1932 anlässlich der Reichsgründungsfeier gehaltenem akademischem Vortrag »Der junge Hegel und das Schicksal Deutschlands«. (Vgl. Paul Tillich, Der junge Hegel und das Schicksal Deutschlands (1932), in: Ders. Gesammelte

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Werke, 12, Begegnungen: Paul Tillich über sich selbst und andere, hrsg. von Renate Albrecht, Stuttgart u. Frankfurt a. M. 1980, S. 125150, hier S. 149). In seiner Frankfurter Gedenkrede untersucht Tillich die Jugendschriften des Philosophen, indem er nach Antworten auf den heraufkommenden Nationalsozialismus und den Antisemitismus sucht. Dieser Text weist einen kategorialen, fast völkerpsychologischen Ansatz auf, mit dem Buber schon seit seinen frühen jüdischen Schriften vertraut war und der ihn stark beeinflusste. Tillich legt Hegels sogenannte Abrahams-Fragmente aus, indem er sein Augenmerk auf Abrahams Befreiung aus seiner Bodengebundenheit richtet, die er als Verkörperung des jüdischen Prinzips deutet. Anschließend formuliert Tillich seine Überlegungen über die Rolle des Judentums in der Weltgeschichte und im Verhältnis zum Christentum. Die »Raumgebundenheit« (ebd., S. 149) habe das Judentum durch das von Hegel als Entgegensetzung bezeichnete Prinzip gebrochen, das sich dann auf das Christentum als Weiterentwicklung des jüdischen prophetischen und gemeinschaftlichen Geistes übertragen habe. Parallel zu diesem jüdischen Wesensmerkmal sieht Tillich auch im deutschen Volk eine Wiederverkörperung und eine Spiegelung desselben Prinzips. Aus dieser Wesensähnlichkeit zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk erklärt sich Tillich auch die ihm zeitgenössische Feindschaft »gegen das Jüdische, weil wir es als eigenes ahnen und fürchten.« (Ebd., S. 148.) Statt sich mit aller Kraft um Einheit, Unmittelbarkeit und Totalität zu bemühen und sich durch das nationalistische Prinzip nach einer neuen Bindung zum Boden zu sehnen, sollten die Deutschen laut Tillich ihres raumentbundenen, durch das Prinzip der Entgegensetzung und durch die Affinität zum jüdischen Volk gekennzeichneten Schicksals eingedenk bleiben. Die Entgegensetzung, die innere Entzweiung und die Zerrissenheit hatte Buber als auf dem Weg nach einer wiedererlangten Einheit aufzuhebende Merkmale des Diasporajudentums schon in seinen zweiten und dritten Reden über das Judentum identifiziert. (Vgl. Drei Reden über das Judentum, jetzt in: MBW 3, S. 234, 242. Vgl. auch Paul Tillich, Vorlesung über Hegel (Frankfurt 1931/1932), hrsg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Erdmann Sturm, Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken 8, Berlin u. New York 1995, besonders S. 1-12; Christian Wiese, Spuren des Dialogs mit Martin Buber in Paul Tillichs Reflexionen über Judentum und »Judenfrage«, in: Kritische Theologie. Tillich in Frankfurt (19291933), hrsg. von Heiko Schulz u. Gerhard Schreiber, Berlin u. Boston 2015, S. 361-410.) Seit den frühen Zwanziger Jahren steht Tillich im

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Rahmen des religiösen Sozialismus Buber nahe, auch wenn Buber schon seit dem vom Frankfurter Kreis am 12. März 1923 organisierten Gießener Treffen eine engere Verwandtschaft mit der Schweizer Gruppe der religiösen Sozialisten um Leonhard Ragaz und deren Zeitschrift Neue Wege erkennen lässt. Buber und Tillich nehmen an der in der Pfingstwoche 1928 (25.-28. Mai) in Heppenheim stattfindenden sozialistischen Tagung zum Thema »Sozialismus aus dem Glauben« teil. (Vgl. hierzu den Kommentar in MBW 11.1, S. 599603.) 1929-1933 kreuzen sich die Wege Bubers und Tillichs an der Universität Frankfurt a. M. Seit 1929 ist Tillich Professor für Philosophie, Soziologie und Sozialpädagogik, 1933 wird er aufgrund des Berufsbeamtengesetzes aus dem Staatsdienst entlassen, worauf er Deutschland verlässt und in die USA emigriert. Auf seiner ersten amerikanischen Reise 1951 trifft Buber Paul Tillich nochmals an der Universität Brandeis. Die beiden führen einen intensiven Dialog (vgl. Maurice Friedman, Martin Buber’s Life and Work, Bd. III, London 1983, S. 160). Zusammen sind sie wiederum am Sonntag, den 6. April 1952, anlässlich der vom Jewish Theological Seminary kurz vor Bubers Abreise in der Carnegie Hall organisierten Abschiedsfeier, wobei Buber die Ansprache »Hoffnung für diese Stunde« hält. Vorgestellt wird er bei dieser Gelegenheit von Paul Tillich, der seinerseits einen kurzen Vortrag hält. Im Oktober 1963 war Tillich in Bubers Haus in Jerusalem-Talbiyeh ein letztes Mal zu Besuch. 26,11-12 ›secessio judaica‹] Der Ausdruck stammt aus einem Buch des deutschen Schriftstellers und Publizisten Hans Blüher (1888-1955). In seiner für die deutsche Jugendbewegung verfassten programmatischen Schrift Secessio Judaica. Philosophische Grundlegung der historischen Situation des Judentums und der antisemitischen Bewegung (Berlin 1922) hatte Hans Blüher – Mitglied und erster Historiker der Wandervogelbewegung, der er eine männerbündische-homoerotische Wende zu geben versuchte, zuerst Sozialist und in der Weimarer Zeit Antisemit, Antifeminist und Monarchist – viele judenfeindliche Stereotype aneinandergereiht. 26,23 Jischuw] Das Wort (hebräisch »Siedlung«) bezeichnet die Gesamtheit der jüdischen Bevölkerung in Palästina vor der Gründung des Staates Israel. Unterteilt wird der Jischuw in einen alten vorzionistischen Jischuw, der aus den jüdischen Zuwanderern ins Gelobte Land seit dem frühen Mittelalter besteht, und einen neuen Jischuw, der mit der ersten zionistischen Einwanderungswelle nach Palästina entsteht. 26,24 Schmelztiegel] Der Begriff von Schmelztiegel und der Unterschied gegenüber der amerikanischen Gesellschaftsstruktur wird von Buber

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[Rede anlässlich des 1. Mai]

schon in der vierteiligen, nur auf Hebräisch vollständig veröffentlichten, pädagogischen Schrift »Erwachsenenbildung« behandelt: »[…] wir können nicht, wie es die USA gekonnt haben, warten, bis wir zu einem Schmelztiegel werden, der im Lauf von ein paar Generationen die bedenklichen Unterschiede ausgleicht; wir sind nunmehr, nachdem alles so gekommen ist wie es gekommen ist, darauf angewiesen, in kürzester Zeit eine wirkliche Volkseinheit zu werden, mit einer einheitlichen Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.« Jetzt in: MBW 8, S. 345-358, hier S. 352. [Rede anlässlich des 1. Mai] Dieser bisher unveröffentlichte Text ist im Martin Buber Archiv in der israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem aufbewahrt. Im oberen Bereich auf der ersten Vorderseite trägt das von Buber selbst in einer leicht zu lesenden, sauberen Schrift mit wenigen Durchstreichungen verfasste Manuskript das Datum 1939. Der Text ist die vollständige Ausarbeitung einer aus Anlass des ersten Mai gehaltenen Rede oder eines demselben Gedenktag gewidmeten Vortrags. Ab 1933 wurde der erste Mai in Nazi-Deutschland zum gesetzlichen Feiertag erhoben. Der 1. Mai 1933 wurde mit einem Massenaufmarsch auf dem Paradeplatz des Tempelhofer Feldes in Berlin und mit einer von Hitler daselbst gehaltenen Ansprache mit großem Aufwand gefeiert. Das Ereignis fand ein Echo auch in der Ausgabe der Jüdischen Rundschau vom 3. Mai 1933, die einen von der Redaktion verfassten Leitartikel dem Tag der Arbeit widmete. Indem der Autor des Editorials feststellt, diesmal sei die antijüdische Propaganda mit dem nationalen Festtag nicht verknüpft worden, hebt er zugleich die Unversöhnlichkeit dieses Festtages mit dem erst einen Monat zuvor in ganz Deutschland durchgeführten Judenboykott polemisch hervor: »Wir Juden dürfen uns auch an diesem Festtag keiner Täuschung darüber hingeben, dass wenn man von ›deutscher Arbeit‹ spricht, damit auch gesagt sein soll, daß Juden ausgeschaltet sind. Denn das Wort ›deutsche Arbeit‹ und ›deutsche Waren‹ erklang uns nicht nur am 1. Mai, sondern auch am 1. April, und man muß uns zugute halten, daß wir in unseren Gedanken den einen Tag nicht ganz von dem anderen trennen können.« (Der Tag der Arbeit, Die Jüdische Rundschau, 38. Jg., Nummer 35, 3. Mai 1933, S. 1.) In seinem Artikel fordert der Autor des Weiteren dazu auf, Juden den Weg zur Arbeit freizumachen (»denn es ist ungerecht, ihnen diesen Weg zu versperren und sie dann als ›arbeitsscheu‹ zu bezeichnen«, ebd.). Der

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Schluss des Artikels versucht, einen konjunkturbewussten, aber zugleich utopisch-apologetische Akzente aufweisenden Ausblick über künftige Entwicklungen zu formulieren: »In diesem Sinne und nur in diesem, nicht unter Selbsttäuschung und Verleugnung geschichtlicher Gegebenheiten, wünschen wir unsere Eingliederung in einen neuen mächtigen Staat der deutschen Arbeit. Dies sei uns erlaubt, als unsere Betrachtung zum 1. Mai auszusprechen.« (Ebd.) Die Rede Bubers wird vor einem höchst brisanten politischen Hintergrund gehalten: Der von der britischen Peel-Kommission (11. November 1936 bis 7. Juli 1937) vorgeschlagene Teilungsplan für das Mandatsgebiet wurde von Juden und Arabern einstimmig abgelehnt. Nochmals versuchte die britische Regierung zu einer Lösung des Konflikts zu kommen: Auf der am 7. Februar 1939 in London begonnenen, vom britischen Kolonialminister Malcolm MacDonald (1901-1981) einberufenen, nach dem Tagungsort benannten St. James-Konferenz (auch als RoundTable-Conference bekannt) wurden die Forderungen der jüdischen und der arabischen Delegationen separat diskutiert. Am 17. März endete das Treffen ergebnislos wegen der von beiden Delegationen erhobenen zu hohen Ansprüche (höhere Einwanderungsquoten und zusätzliche jüdische Siedlungen vonseiten der Juden, Anerkennung der völligen Unabhängigkeit Palästinas und Abschaffung der Balfour-Deklaration vonseiten der Araber). Das wird am 17. Mai 1939 zur Abfassung des britischen Weißbuchs führen, das die Idee einer gemeinsamen jüdischarabischen Regierung, der Gründung eines vereinigten jüdisch-arabischen Staates binnen zehn Jahren entwickelt und das von Juden und Arabern heftig bekämpft wird. Diese diplomatischen Ereignisse umrahmen Bubers Text, während die mit dem 1936 ausgelösten arabischen Aufstand verbundenen Kämpfe und Gewaltakte gegen die britische Mandatsmacht und die jüdischen Siedlungen ununterbrochen weitergehen. Die Tagebücher Hugo Bergmanns liefern in diesem Sinn bedeutungsvolle Zeitzeugnisse, die dazu beitragen, die geschichtliche Kontur auch der Texte Bubers umso schärfer hervortreten zu lassen. Am 27. Februar 1939 vermerkt Bergmann, indem er den Lauf der Konferenz und deren Auswirkungen in Palästina kommentiert: »Gestern früh die erste schlimme Nachricht über London […] aber heute waren die Nachrichten noch schlimmer. Dabei Friedensdemonstrationen der Araber im ganzen Land. Heute aus allen Teilen Palästinas Meldungen über jüdische Attentate gegen Araber, darunter eine Bombenexplosion in Haifa mit 24 Toten.« (Schmuel Hugo Bergmann, Tagebücher & Briefe, Bd. 1, S. 497.) Am 15. März 1939 marschierten die Truppen der Wehrmacht ins restliche Staatsgebiet der tschechoslowa-

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kischen Republik ein: »Hitler gestern abend in Prag. Ich war früh bei Robert [Weltsch] und fand ihn ganz gebrochen. Er könne es sich nicht vorstellen, die Hakenkreuzfahne auf dem Hradschin.« (Eintrag vom 16. März 1939, in: Ebd., S. 499.) Auf Grund dieser Ereignisse schwoll die Zahl der Juden, die aus Europa nach Palästina flohen, ständig an. In diesem historischen Zusammenhang entstand Bubers Mai-Rede, in der er die für ihn überaus wichtige jüdisch-sozialistische Idee zu retten versucht, indem er deren inneren Wertgehalt unter den veränderten historischen Bedingungen für die jüdisch-arabische Annäherung und Verständigung betont. Ein am 24. Februar 1939 verfasster Tagebucheintrag Hugo Bergmanns gibt den Inhalt dieser Rede einleuchtend und bestmöglich wieder: »Sitzung bei Buber am Nachmittag […] Ich diskutierte mit ihm darüber, daß er den Sozialismus so sehr in den Mittelpunkt des Judentums stellt und so als sicher hinstellt, daß wir das uns Aufgetragene nicht vollbracht haben und neu beginnen müssen und von da unser Recht auf Zion ableitet.« (Ebd., S. 496.) Textzeuge: H: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 138); 8 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte, mir Korrekturen versehen. Druckvorlage: H Variantenapparat: 27,33 herbeigeführt] [ermöglicht] ! herbeigeführt H 27,39 entstanden] [geschaffen worden] ! entstanden H 29,30 Sozialistentruppen] [Sozialisten] ! Sozialistentruppen H 30,2 Agitation] [Propaganda] ! Agitation H 30,6-7 Riesenwalze] [Dampfwalze] ! Riesenwalze H 30,28 sich auf diesen Weg] sich [, wohl ohne genau zu erkennen was sie tun,] auf diesen Weg H 30,31 Es ist widersinnig und aussichtslos] [Man kann nicht] ! Es ist widersinnig und aussichtslos H 30,34-35 Zionismus mehr geben] Zionismus mehr geben. [Wir stehen und fallen mit der Gerechtigkeit. Verraten wir sie, so verraten wir uns selber. [Ich weiss, dass sie siegen wird.] ! Wohl, sie wird nicht fallen, sie wird doch siegen. Aber wir werden an ihrem Sieg nur teilhaben, wenn wir ihr treu geblieben sind.] H

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Wort- und Sacherläuterungen: 27,3-5 in dem halben Jahrhundert, […] eingesetzt worden ist] Auf dem in Paris abgehaltenen internationalen Arbeiterkongress (14.-21. Juli 1889), auf dem auch die Zweite Sozialistische Internationale gegründet wurde, wird zum Gedenken an die Opfer des Chicagoer Haymarket Riot vom 1. Mai 1886 der 1. Mai zum Kampftag der Arbeiterklasse erklärt. 27,6 Der Tag ist nie ein echtes Fest gewesen] Nachdem die Weimarer Nationalversammlung am 15. April 1919 versucht hatte, den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag zu erklären – der Versuch wurde aber auf das Jahr 1919 beschränkt – erklärten die Nationalsozialisten den Tag der Arbeit zum Feiertag. Kraft des Reichsgesetzes vom 10. April 1933 wurde der erste Mai als Tag der nationalen Arbeit bezeichnet und volle Lohnfortzahlung gewährt. Am Tag darauf wurden alle deutschen freien Gewerkschaften zerschlagen. 1934 wurde die Arbeitermaifeier in »Nationalfeiertag des deutschen Volkes« umbenannt. 27,7-8 Erstürmung der Bastille] Die Gedenkfeier zur Erstürmung der Bastille als jährliche Erinnerungsfeier wird auch von Gustav Landauer in seiner 1907 in der von Martin Buber betreuten Reihe Die Gesellschaft veröffentlichten geschichtsphilosophischen Abhandlung Die Revolution erwähnt: »Das Jubelfest, das die Pariser mit ausgelassenen Straßentänzen noch heute am Tag des Bastillesturmes feiern, ist mehr als Erinnerung, ist unmittelbar Erbe der Revolution.« (Gustav Landauer, Die Revolution, S. 202.) In seiner Monographie hebt Landauer die Kontinuität, die immerwährende Aktualität, und das weit über das historische Ereignis hinausreichende revolutionäre Potential des wiederkehrenden festlichen Ereignisses stärker hervor. 27,10-13 Revolutionäre Handlungen […] keine Manöver] Diese Paraphrase Landauers stammt aus einem dem Ersten Mai gewidmeten, in der Zeitschrift Der Sozialist – dem von Landauer von 1909 bis 1915 in Berlin herausgegebenen Organ des Sozialistischen Bundes – veröffentlichten Artikel: »Eine viel gefährlichere Sinnlosigkeit aber war es noch, mit diesem ein für alle Mal festgelegten Demonstrationsmanöver alljährlich einen allgemeinen Generalstreik verbinden zu wollen! Gerade dadurch unterscheidet sich die Revolution – keinen anderen Sinn aber als den der Revolution kann diese Art Generalstreik haben – vom Krieg, dass der Krieg eine Einrichtung des Staates ist und vorbereitet, eingeübt, ausprobiert und durch Kriegsspiele bis zu gewissem Grade gelernt werden kann, dass aber die Revolution eine plötzliche Unterbrechung des geregelten Staatslebens, eine Epoche der Unordnung ist, die nie im Leben der Völker hat eingeübt

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oder öffentlich und gar jährlich manövriert werden können […] Kriegsspiele gibt es für die Armeen; für die Proletarier gibt es nur Revolutionsspielerei.« (Gustav Landauer, »Der erste Mai«, in: Der Sozialist, 1. Mai 1909, wiederabgedruckt in: Gustav Landauer, Ausgewählte Schriften, 3.1., Antipolitik, hrsg. von Siegbert Wolf, Lich/Hessen 2010, S. 78-83, hier S. 83.) Auf den Unterschied zwischen Revolution und Krieg, auf die Erstarrung einer Revolution, die in kriegerische Handlungen ausartet, hatte Buber – auf Landauers Briefe aus der französischen Revolution Bezug nehmend – schon in der Schrift »Landauer und die Revolution« hingewiesen, vgl. MBW 11.1, S. 89-90. 27,15 kämpfenden Sozialismus] Der Begriff des kämpfenden Sozialismus, auf den sich Buber hier bezieht, wurde durch den Wiener Juristen und Journalisten Sigmund Rubinstein (1864-1934) in dessen 1921 veröffentlichtem Buch Romantischer Sozialismus. Ein Versuch über die Idee der deutschen Revolution (München 1921, hier S. 82) geprägt. Der Leitgedanke dieser Schrift ist die Rückführung aller Ideale der deutschen Revolution auf die Romantik als Grundidee. Auf dieser Basis kritisiert Rubinstein die zentralistische staatliche Machtausübung und fordert eine demokratische Gesellschaftsgliederung durch die Einführung bzw. Wiederbelebung genossenschaftlicher Institutionen, die mittelalterliche Sozialstrukturen in der modernen Welt wieder aktualisieren sollen. 27,18 in die Katakomben] Das Bild der Katakomben wird von Buber auch andernorts benutzt. Im Rahmen des Religionsgesprächs und des religiösen Existenzialismus greift er nochmals auf dasselbe Bild zurück, indem er von einer religiösen Gemeinschaft ohne totalitären Wahrheitsanspruch spricht: »Vielmehr, weil wir einer Theophanie harren, von der wir nichts wissen als den Ort, und der Ort heißt Gemeinschaft. In den öffentlichen Katakomben dieses Harrens gibt es ein eindeutig kennbares und vertretbares Gotteswort nicht, sondern die überlieferten Worte deuten sich uns in unserem menschlichen Einanderzugewandtsein aus.« (Martin Buber, Zwiesprache, S. 24; jetzt in MBW 4, S. 120.) Ein Jahr nach der Etablierung des Dritten Reiches trafen sich eines Abends Martin Buber, dessen Frau Paula und der Philosoph Ewald Wasmuth bei Lambert Schneider, der schon seit drei Jahren kaufmännischer Geschäftsführer des Schocken-Verlags war. Die damalige politische Lage kommentierte Buber mit Worten, die Lambert Schneider in seinen seiner verlegerischen Tätigkeit gewidmeten 1965 veröffentlichten Memoiren wiedergibt: »Wir müssen lernen, in den Katakomben zu leben. Für uns Schriftsteller kommt es darauf an, so klug zu schreiben, daß die derzeit Mächtigen nicht

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gleich unseren Widerstand sehen und uns beim Wickel nehmen können, so klug zu schreiben, daß uns viele Menschen gelesen haben, ehe man uns zur Verantwortung ziehen kann.« (Lambert Schneider, Rechenschaft über vierzig Jahre Verlagsarbeit 1925-1965, S. 38.) In Schneiders autobiographischen Aufzeichnungen lautet die Überschrift des Kapitels, das die Jahre zwischen 1933 und 1945 umfasst, »In den Katakomben« (ebd., S. 37-51). Unter verschiedenen Deckmänteln ausgeübte Tarntätigkeiten und verhüllte Kritik am Naziregime wurden in diesen Jahren durch den Gebrauch desselben Begriffs bezeichnet. Vgl. Stefanie Mahrer, Schreiben aus den Katakomben, in: Jüdischer Widerstand in Europa (1933-1945): Formen und Facetten, hrsg. von Julius H. Schoeps, Dieter Bingen, Gideon Bosch, Berlin u. Boston 2016, S. 222-239. 27,30-39 Sie haben nicht erkannt, […] entstanden sind] Die Unzulänglichkeit der pragmatischen politischen Aktion und des revolutionären Kampfes, die immer vom sozialistisch-gemeinschaftlichen, die ganze Person umfassenden Ideal einer neuen Wirklichkeit begleitet werden soll, ist eine Leitidee, die Buber der Theorie der sozialen Erneuerung Landauers entnimmt. 27,31 Umwandlung] Zusammen mit seiner Parallelbildung »Umkehr« ist das Wort Teil des messianisch gefärbten Wortschatzes des religiösen Sozialismus. Schon in Bubers ersten zionistischen Schriften taucht die Gedankenfigur der Umwandlung als Symbol der aus der Gegenwartsarbeit resultierenden schöpferischen Erneuerung aus der Wurzel auf. In seinem Aufruf zum Sozialismus, vielleicht seinem bekanntesten politischen Essay, macht auch Gustav Landauer vom Begriff »Umwandlung« mehrmals Gebrauch (z. B.: »Die Umwandlung der Gesellschaft kann nur in Liebe, in Arbeit, in Stille kommen«, Aufruf zum Sozialismus, Vorwort zur zweiten Auflage, Frankfurt 1967, S. 50.). 28,2 Kristallisationskerne] Der Hinweis auf den physikalischen Vorgang der Verhärtung beim Wachstum von Kristallen taucht auch in Bubers frühen Schriften zum Kulturzionismus und zur Jüdischen Renaissance auf. In diesen Schriften tritt der Rekurs auf einen organischbiologischen Wortschatz oft in den Vordergrund. Es wird durch den Gebrauch dieses Bildes auf die ersten Phasen eines sich abhebenden, in seinen Umrissen schon deutlich erkennbaren Bildungsprozesses angespielt, der die Konkretion bzw. Vergegenständlichung einer Idee impliziert. Parallel dazu zeugt dieses Bild auch von einem entelechialen, substanzontologischen Vollendungspotential eines Sachverhalts und nimmt in nuce eine ganze Entwicklung bzw. Totalität vorweg,

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wobei der Kern nur Teil eines Ganzen ist, der sich bald völlig herauskristallisieren wird. Von Kristallisationskernen spricht Buber in Kalewala, das finnische Epos, dem Nachwort zu der von Elias Lönnrot 1835 bis 1849 edierten Ausgabe des finnischen Nationalepos Kalewala: »Darum vermeinte er nicht, einen ursprünglichen Text wiederherstellen zu können, sondern er wollte eine Einheit bilden, die der Einheit des alten Epos, an das er glaubte, nicht gliche, sondern entspräche; die das alte Epos gleichsam als Kristallisationskern, von dem vielfältigen Lied der Jahrhunderte umschlossen, in sich trüge; und die solchermaßen das ganze Leben des finnischen Volkes darstellte.« (Kalewala, das finnische Epos, jetzt in: MBW 2.1, S. 152-164, hier S. 161, Hervorhebung v. Hrsg.) Zudem erscheint der Ausdruck – in Verbindung mit dem dazugehörigen organisch gefärbten Bild der »Kulturkeime« – in dem 1902 als Entgegnung auf Achad Haams (1856-1927) Theorie eines jüdischen merkaz ruchani (»geistigen Zentrums«) in Palästina in Ost und West erstveröffentlichten Artikel »Ein geistiges Centrum«: »Man muss vielmehr daran gehen, die jüdische Geistigkeit umzuwerten, nicht durch Theorien, sondern durch Arbeit: durch die Heranbildung immer neuer Schichten eines kolonisationsfähigen Menschenmaterials, und zugleich einen Plan zu entwerfen, auf Grund dessen es sich […] bewerkstelligen liesse, dass gerade diese entwickeltesten Schichten zum Kristallisationskern der Ansiedlung werden.« Martin Buber, Ein geistiges Centrum, Sp. 667; jetzt in: MBW 3, S. 160. 28,8 von frischem Gemeinschaftsblut] Vgl. die in der ersten Prager Rede über das Judentum in vielen sprachlichen Varianten beschworene »Gemeinschaft des Blutes« (vgl. MBW 3, S. 222-223). Auch in den aus der Zeit des Ersten Weltkriegs stammenden Schriften Bubers tritt das Bild mehrmals in Erscheinung, vgl. »Die Tempelweihe«, in: MBW 3, S. 279-285, hier S. 284-285 und »Die Losung«, S. 286-289, hier S. 287. Auch im antinationalistischen und antizionistischen Werk Franz Rosenzweigs ist dieselbe Vorstellung nachzuweisen: »Eine Gemeinschaft des Bluts muss es sein, denn nur das Blut gibt der Hoffnung auf die Zukunft eine Gewähr in der Gegenwart. […] Die Blutgemeinschaft allein spürt die Gewähr ihrer Ewigkeit schon heute warm durch die Adern rollen.« (Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, in: ders., Der Mensch und sein Werk – Gesammelte Schriften II, Der Stern der Erlösung, Den Haag 1976 [4. Auflage], S. 331.) 28,11 »Rätesystem«] Dieser für das sozialistische revolutionäre Vokabular typische Begriff mag ein Zitat bzw. eine offene Anspielung auf Landauers vor den bayerischen Arbeiterräten am 10. Dezember 1918

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gehaltene Rede »Gegen den alten Parlamentarismus, für das Rätesystem« sein. In dieser Rede wendet sich Landauer an die Genossen und Genossinnen vom Arbeiterrat und plädiert für eine neue parlamentarische Form, wobei das Delegationsprinzip eine ständige Einbeziehung des Volkes in die Entscheidungen der Delegierten und eine Verbindung zwischen Volk und Beauftragten impliziert. Bubers Hinweis auf die Selbstführung der vernetzten Gemeinden und auf die Produktionsgenossenschaften im Gegensatz zum Zentralismus des sowjetischen Systems und zur Prävalenz des Machtprinzips, das die freie Entfaltung der Individuen unterdrückt, erinnert stark daran. Landauer führt aus: »Ich bin dafür, dass Geistige und Volk miteinander in einer Körperschaft arbeiten. Ich bin dafür, dass nicht die Wähler einen Vertreter wählen und sich dann zurückziehen, sondern dass die Versammlungen derer, die Aufträge erteilen, dauernd beisammen sind und die Geschicke des Volkes beraten. Ich bin für das korporative System, ich bin, auf Deutsch gesagt und kurz in unserer Sprache gesagt, für das System der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte.« Gustav Landauer, »Gegen den alten Parlamentarismus, für das Rätesystem«, in: Verhandlungen des provisorischen Nationalrats des Volkstaates Bayern im Jahre 1918/19, Stenographische Berichte und Beilagen-Band, München 1919, dann in Gustav Landauer, Ausgewählte Schriften, 4, Nation, Krieg und Revolution, S. 271-272, Hervorhebungen v. Hrsg. 28,25-37 die faschistische Suggestion […] Wellen der Arbeitslosigkeit] Ein Eintrag in den Tagebüchern von Schmuel Hugo Bergmann berichtet von einem Ereignis, das als Auslöser für diesen Gedankenübergang gelten kann. Am 2. März 1939 weist Bergmann auf ein im Haus von David Werner Senator (1896-1953) geführtes Gespräch, an dem auch Bergmanns Frau Escha, der Wissenschaftshistoriker und Professor für Physik an der Hebräischen Universität Shmuel Sambursky (1900-1990), der erst einen Monat vorher nach Palästina emigrierte Mathematiker Otto Toeplitz (1881-1940), der Historiker und Professor für neue Geschichte an der Hebräischen Universität Richard Koebner (1885-1958) und Buber teilnahmen. Bei dieser Diskussion warf Koebner die Frage auf, »ob nicht die faschistischen Staaten es fertig gebracht haben, Probleme zu lösen, mit denen die demokratischen nicht fertig wurden (Arbeitslosigkeit). Aber es wurde erwidert, es ist keine Kunst, Probleme zu lösen, wenn man den Menschen aufopfert.« Bergmann, Tagebücher & Briefe, Bd. 1, S. 497. 29,1-4 Erwerbslosenunterstützungen […] genossenschaftlichen Formen] Die Genossenschaftsidee, die auf Gemeineigentum und egalitären

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Nutzungsrechten beruht, ist wesentliches Element der sozialistischen Theorie und wird von Buber in seinen Schriften zur Gemeinschaftslehre wiederholt diskutiert und politisch, utopisch bzw. religiös nuanciert. Vgl. z. B. »Die Revolution und wir«, jetzt in: MBW 11.1, S. 110; Der heilige Weg, jetzt in: MBW 11.1, S. 139 u. 155; »Worte an die Zeit: Grundsätze«, jetzt in: MBW 11.1, S. 159; »Worte an die Zeit: Gemeinschaft«, jetzt in: MBW 11.1, S. 167; »Drei Sätze eines religiösen Sozialismus«, jetzt in: MBW 11.1, S. 230 f.; »Warum muß der Aufbau Palästinas ein sozialistischer sein?«, jetzt in: MBW 11.1, S. 327; »[Drei Diskussionsbeiträge in ›Sozialismus aus dem Glauben‹]«, jetzt in: MBW 11.1, S. 336; »Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee«, jetzt in: MBW 11.1, S. 382. 29,18-19 »utopischen Sozialisten«] Diese Bezeichnung ist nicht als technischer Hinweis auf den vor 1848 entstandenen Frühsozialismus (oder utopischen Sozialismus) mit dessen frühen Vorstellungen zum Gemeineigentum zu verstehen. Es handelt sich hier eher und allgemeiner um einen von den orthodox marxistischen Gegnern für andere Spielarten des Sozialismus verwendeten pejorativen und herabwürdigenden Ausdruck. 29,33-35 Wir jüdischen Sozialisten […] sozialistische Wirklichkeit zu schaffen] Die Aufbauarbeit in Palästina, die auf der jüdischen Arbeiter- und Siedlungsbewegung basierte, bildete seit den Anfängen der zionistischen Bewegung, aber mehr noch nach der Balfour-Deklaration den Mittelpunkt der zionistischen Agenda und ihres sozialistischen Flügels. Ideologisch stand ihr die palästinozentrische Mehrheit der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) nahe. Diese Verbindung verstärkte sich, nachdem Chaim Arlosoroff (1899-1933) 1917 die deutsche Landesgruppe der Partei Ha-Poʿ el ha-Tzaʿ ir gründete, die einen nichtmarxistischen, humanitär-ethischen Sozialismus vertrat und der sich auch Martin Buber und andere einflussreiche Mitglieder der ZVfD und des Prager Kreises anschlossen. Fundamental war in diesem Sinne auch die Gründung der ersten kooperativen Siedlungen und Kibbuzim in Palästina und die Tätigkeit der Jugendbünde, der Pionierbewegung und des Hechaluz, des Dachverbands der zionistischen Jugendorganisationen mit den damit verbundenen Ausbildungsstätten für die hachschara (landwirtschaftliche Vorbereitung) der Einwanderer. Die Besonderheiten des jüdischen Sozialismus werden in der Zeitschrift Der Jude häufig diskutiert. Vgl. z. B. Arjeh Tartakower, Die palästinensische Genossenschaft und ihre gesetzliche Regelung, Der Jude, 7. Jg., 1923, Heft 2, S. 111-116; Ders.,

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Zur Geschichte des jüdischen Sozialismus, Der Jude, 7. Jg., 1923, Heft 9, S. 503-516. 30,1-30,4 Wort einer sehr aktiven Kommunistin […] hemmend!«] Dem Zionismus gegenüber waren jüdische Kommunisten wegen ihrer antinationalistischen Haltung oft kritisch gesinnt. In Palästina wurden jüdische Kommunisten, die gegen die Gründung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina waren und auch demonstrativ auf der Seite der arabischen Bevölkerung standen, oft angefeindet. Die zionistischsozialistische Gewerkschaft (Histadrut) führte schwarze Listen von linken Dissidenten oder Gegnern des Zionismus. Im britischen Mandatsgebiet war die kommunistische Partei verboten. Unter den jüdischen Kommunisten, die in den dreißiger oder vierziger Jahren eine kurze oder längere Zeit in Palästina verbrachten, sind zu erwähnen u. a. Arnold Zweig, Kurt Goldstein (1878-1965), Heinz Kamnitzer (1917-2001), Louis Fürnberg (1909-1957), und Stephan Hermlin (1915-1997). Vgl. auch Karin Hartewig, Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR, Köln u. a. 2000, besonders das Kapitel Herkunft, Verfolgung, Zuflucht und Rückkehr, S. 23-101. 30,9-20 Wir haben nicht […] Verhältnis zu unserem Nachbarsvolk] Sechzig Jahre lang hat Buber darauf beharrt, eine auf ideale Postulate verzichtende Realpolitik nicht zur Triebkraft und zum bestimmenden Grundsatz sozialistisch-zionistischer Politik zu machen. Diese Haltung zur Politik ist auf die Jahre der Demokratischen Fraktion und der Polemik gegen die Mehrheitszionisten und gegen Herzls um das pragmatisch Machbare kreisende politische Linie zurückzuführen. Eine andere Wurzel dieses humanistisch-solidarischen, geistigen, auf dem Konzept der menschlichen Koexistenz beruhenden Sozialismus ist die nach dem ersten Weltkrieg um Paul Tillich, Leonhard Ragaz, Eugen Rosenstock-Huessy und Buber entstandene Bewegung des religiösen Sozialismus. Eine der wesentlichen Aspekte dieser sowohl idealistischen als auch engagierten, im Zeichen einer praktizierbaren Dialogik zu realisierenden Gesinnung ist Bubers Forderung nach einem Ausgleich mit den palästinensischen Arabern und nach einer Rücksichtnahme auf ihre Rechte im Sinne einer jüdisch-arabischen Verständigung und Annäherung. 30,31-33 Es ist widersinnig […] nicht nach Gerechtigkeit aussehen] Nach dem im April 1936 im britischen Palästinamandat ausgelösten großen arabischen Aufstand setzten sich individuelle Terror- und Gewaltakte bis ins Jahr 1939 fort. Sehr scharf war das Urteil Bubers über den von einzelnen Banden ausgeübten jüdischen Terrorismus und über die von Wladimir Zeev Jabotinsky (1880-1940) inspirierte poli-

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tische und militärische Aktion, der die offizielle zionistische Politik für zurückhaltend und zaghaft hielt. 1937 hatte Jabotinsky das Oberkommando der paramilitärischen Untergrundorganisation Irgun Tzvaʾ i Leʾ ummi übernommen, die den Rückgriff auf terroristische Gewaltakte verlangte und während der arabischen Aufstände Attentate auf Araber und Briten verübte. Buber, der schon seit 1929 der 1925 in Jerusalem gegründeten Vereinigung Brit Schalom nahe stand und an den Versuchen einer jüdisch-arabischen Verständigung aktiv teilgenommen hatte, kämpfte entschieden gegen die von der Kampfgruppe Irgun durchgeführten terroristischen Vergeltungsmaßnahmen. Er war auch Mitbegründer der Liga für jüdisch-arabische Verständigung und Zusammenarbeit, die aus der Zusammenarbeit des Brit Schalom, der internationalen sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation Ha-Schomer ha-Tzaʿ ir und der Arbeiterpartei Mapai hervorging. Das programmatische Manifest dieser Liga, ein kleiner Band mit dem Titel Al paraschat darkhenu [Am Scheideweg. Texte zu Problemen der zionistischen Politik und zur jüdisch-arabischen Zusammenarbeit], enthält in Ausschnitten viele bereits veröffentlichte Texte Bubers und erschien im März 1939 (jetzt in: MBW 21). Vgl. dazu Dominique Bourel, Martin Buber, S. 409-425, 520-528; Gerhard Wehr, Martin Buber. Leben Werk Wirkung, Zürich 1996, S. 261-274, 317-328. Zwei Beiträge zur Klärung des Pazifismus Die Internationale Friedens-Akademie, an die sich dieses Grußwort Bubers richtete, wurde 1938 in Genf als Forschungsstätte für Friedenswissenschaft gegründet. Mitbegründer und Mitglieder des internationalen Exekutiv-Komitees der Akademie waren der indische Revolutionär und Anarchist Lala Har Dayal (1884-1939), der das Amt des Präsidenten übernahm, die holländische Friedensaktivistin Catherina Lydia de Ligtvan Rossem, die als General-Sekretärin amtierte und der persisch-amerikanische, dem Bahaitum nahe Schriftsteller Mirza Ahmad Sohrab (1890-1958). Durch die geistige und sittliche Erziehung zum Frieden, die geplante Veranstaltung von Versammlungen, Vorträgen und Schulungskursen, die Einrichtung von Studiengruppen, die Schaffung von Bibliotheken, die Veröffentlichung von Büchern, Flugschriften und Zeitschriften zielte die Akademie darauf ab, die Friedenswissenschaft zu fördern. (Vgl. auch Durchkreuzter Hass: vom Abenteuer des Friedens.

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Berichte und Selbstdarstellungen, hrsg. von Rudolf Weckerling, Berlin 1961, S. 82-83.) Der erste Sommer-Schulungskurs zum Thema »Die Wissenschaft vom Frieden« fand vom 16. bis 29. August 1938 im Château du Montcel in der französischen Gemeinde von Jouy-en-Josas statt. Neben den Mitbegründern der Akademie nahmen weltweit bekannte Referenten daran teil, darunter der holländische Pazifist und Anarchist Barthélémy de Ligt (18831938) (Einführung in die Friedenswissenschaft), Simone Weil (19091943) (Der Krieg im heutigen politischen und sozialen Leben) und Maria Montessori (1870-1952) (Die Erziehung der Jugend für den Frieden). Im darauffolgenden Jahr widmet sich der vom 1. zum 12. August einen Monat vor dem deutschen Überfall auf Polen und der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs stattfindende Sommerkurs dem Thema »Wege zu einer neuen sozialen Weltgestaltung«. Nach dem Tod des Präsidenten Har Dayal am 4. März 1939 trat Elisabeth Rotten – schweizerische Pädagogin und Herausgeberin der Zeitschrift Das Werdende Zeitalter, zu deren Mitarbeitern auch Buber zählte – ins internationale ExekutivKomitee der Akademie ein. (Vgl. Elisabeth Rotten an Buber, Brief vom 9. April 1931, B II, S. 404 und Brief vom 31. Dezember 1933, ebd., S. 513-515.) »Die Richtlinien des Kurses«, liest man im Kursprogramm, »gründen sich auf die Erkenntnis, dass die Kultur jedes Zeitalters ein bestimmtes Leitmotiv aufweist« (Einladung zum Sommerkurs Wege zu einer neuen sozialen Weltgestaltung, 1.-12. August 1939). Zweck des zweiten Kurses der Internationalen Friedens-Akademie war die Untersuchung der Triebkräfte, die zu einer neuen Weltgestaltung führen könnten. Schwerpunkt der Untersuchungen war die Analyse der zur Entfaltung dieser neuen Gestaltung notwendigen Vorbedingungen, der politisch-ökonomischen Möglichkeiten und der sozialen Auswirkungen dieser Triebkräfte im sozialen Leben. Das methodologische Konzept des Kurses wird in der Broschüre folgendermaßen dargestellt: »Das Hauptaugenmerk wird darauf gerichtet sein, dass Zweck und Mittel mit einander in Einklang stehen müssen.« (Ebd.) »Der diesjährige Kurs«, wird in der vom schweizerischen Lehrerinnenverein herausgegebenen Schweizerischen Lehrerinnen-Zeitung angekündigt, »ist aufgebaut auf einem der Grundgedanken der Friedensakademie, dass die Probleme der Herbeiführung von Frieden, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit nicht äusserlich allein durch Institutionen gelöst werden können, dass vielmehr ein durchgreifender Umschwung der psychologischen und von da aus der sozialen Einstellung Platz greifen muss, damit auch die ökonomischen, politischen usw. Fragen ganz anders angepackt werden als bisher. Die Vorbereitung der Neugestaltung wird so zur erzieherischen

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Aufgabe im umfassendsten Sinn des Worts. So gesehen bedarf die Friedensarbeit der Selbstprüfung und der Schulung zur Erkenntnis des Ineinandergreifens der Probleme, die unsrer Zeit praktisch aufgegeben sind.« (Sommer-Schulungskurs der Internationalen Friedensakademie Schloss Greng bei Murten, in: Schweizerische Lehrerinnen-Zeitung 43, 1938-1939, S. 291-292, hier S. 291.) Schauplatz des Kurses war das im 18. Jahrhundert als Besitzerresidenz gebaute Schloss Greng am Murtensee im schweizerischen Kanton Freiburg. Das Programm des Kurses schloss Vorträge des Psychoanalytikers und Begründers der Psychohygiene Heinrich Meng (1887-1972) (Psychologische Voraussetzungen), des niederländischen quäkerisch inspirierten Reformpädagogen Kees Boeke (1884-1966) (Erziehungsfragen), des sozialistischen amerikanischen Aktivisten und Journalisten Devere Allen (1891-1955) (Politisch-ökonomische Möglichkeiten) sowie des holländischen Pazifisten Han Kuysten (Soziale Auswirkungen) ein. Nach den am Vormittag stattfindenden Aussprachen wählten die Arbeitsgruppen einige Delegierte für den Meinungsaustausch mit den Referenten am Nachmittag. Buber hätte am 6. und 7. August über »Ethisch-religiöse Grundlagen des Pazifismus« referieren sollen. Obwohl sein Name und der Vortragstitel im Kursprogramm auftauchen, war Buber angesichts der brennenden politischen Situation in Palästina – der 1936 begonnene arabische Aufstand war mit vielen bis ins Jahr 1939 fortgesetzten individuellen Terror- und Gewaltakten noch nicht zum Erliegen gekommen – nicht imstande, am Schulungskurs persönlich teilzunehmen. Er sandte trotzdem eine kürzere utopisch gefärbte Botschaft, die wahrscheinlich während des Kurses verlesen wurde. Am 15. September 1939 wurde das Grußwort in der deutsch-jüdischen-amerikanischen, und in den folgenden Jahren als Forum für deutsch-österreichische Flüchtlinge geltende Zeitung Der Aufbau veröffentlicht: Zwei Beiträge zur Klärung des Pazifismus, in: Der Aufbau, XX, 37, S. 292-294. Über die Botschaft Bubers an den Schulungskurs, vgl. auch Dominique Bourel, Martin Buber, S. 518-519. Textzeugen: D1: Der Aufbau, XX/37, 15. September 1939, S. 292-294 (MBB 607). D2: »Zur Klärung des Pazifismus«, in: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 242-245 (MBB 1270). Druckvorlage: D1

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Übersetzungen: Englisch: To the Clarification of Pacifism, in: Martin Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967, S. 212-214 (MBB 1293). Niederländisch: in: Martin Buber. Zijn Leven en zijn Werk, gesammelt und hrsg. von Juliette Binger, Einleitung von W. Bannings Graveland: De Driehoek 1947 (MBB 763); in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Variantenapparat: 31,1-3 Zwei Beiträge […] August 1939] fehlt H 31,1 Zwei Beiträge zur Klärung des Pazifismus] Zur Klärung des Pazifismus D2 31,3 , Schloß Greng, 1.-12. August 1939] fehlt D2 31,4 Außerstande] Zu meinem herzlichen Bedauern ausserstande H 31,4-5 werde ich doch […] Ihnen sein] möchte ich Ihnen sagen, dass ich im Geist unter ihnen sein werde H 31,6-7 geschriebenen Wort] Wort H 31,7 gewaltig] überstark H 31,8 allgemeinen] allgemeinsten D2 31,10 Der Weg] [Wie sie wissen, gehört es zur Signatur unseres Zeitalter, dass zwei Meinungen über den Weg, der einzuschlagen ist] ! Der Weg H 31,11-12 die Wirrsal […] erscheint] das Endchaos, in dem wir uns zu befinden scheinen H 31,19 kein Quentlein des Lebens verwandeln] [keine Wandlung bewirken] ! kein Quentlein des Lebens verwandeln H 31,27-28 damit’s aber fromme, bedarf es der] [aber so Ungeheures kann nicht anders geschehen als durch die] ! damits aber fromme, bedarf es der H 31,28-29 nicht ohne […] uns sein kann] [schon an eine andere Sphäre als unsere rührt] ! nicht ohne […] uns sein kann H 31,35-36 eine echte Vertreterschaft die Territorien] man gemeinsam die [Ländereien] ! Territorien H 31,36-37 als ein Ganzes erfaßt und behandelt] ! [in ein gerechtes Verhältnis zueinander bringt] ! als ein Ganzes erfasst und behandelt H 31,38 mitsammen solche werden] [schlechthin kein Lebensziel mehr dadurch erreichen wollen] ! solche werden H 32,3 Weltprogramm] [distributives] Weltprogramm H

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32,5-6 elementaren] [wurzelhaften] ! elementaren H 32,6 des gärenden […] Gruppe] hdes gärenden […] Gruppeni H 32,7-8 des Einzelnen] der Person H 32,11 gebieterisch] [gross, mächtig,] gebieterisch H 32,16 das in der Fassung] das allbekannte [, fürchterlich vertraute] ! das in der Fassung H 32,17 vertraut] [familiär] ! vertraut H 32,18 ein nur hier vorkommender Dativ] fehlt H 32,21-23 (nicht »wie dich selbst« [….] wie du)] fehlt H 32,27 dem Menschen] [nicht bloss dem einzelnen der menschlichen Person] ! dem Menschen H 32,31 geschichtsmäßig] [lebensmässig] ! geschichtsmässig H 32,35-36 Veni creator] Wir rufen dem Geist: Veni creator H Wort- und Sacherläuterungen: 31,11-12 Wirrsal] Dieses äußerst seltene und sogar im Grimmschen Wörterbuch außer im Althochdeutschen kaum belegte Wort (werresal), kehrt Ende der Zwanziger Jahre in der Dichtung Stefan Georges wieder (»Da alles volk noch eitle hoffnung nährt, / Seh ich in solches wirrsal, solches graun / Schon drohend nah – dass ich nichts teilen mag.« Stefan George, Victor * Adalbert, in: ders., Das neue Reich, jetzt in: Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 9, Stuttgart 2001, S. 94). Das Wort wird von Buber in Verbindung mit dem verwandten Wort »Irrsal« in der seit 1930 erschienenen zweiten Ausgabe des Pentateuch als Hendiadyoin für die Übersetzung des biblischen Wortpaars tohu wabohu verwendet. Vgl. Die fünf Bücher der Weisung [Logenausgabe], verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, neubearbeitete Ausgabe, Berlin: Verlag Lambert Schneider 1930. 31,25-30 Die Welt des Menschen ohne die Seele […] des Geistes] In dieser auf konstitutiven Prinzipien basierenden Dreiteilung (Welt, Geist, Materie) rekurriert Buber auf eine neuplatonisch-gnostische Denküberlieferung, wobei die von Gott geschaffene Welt auf den Prinzipien Seele, Geist und Materie beruht. Diese philosophischen Spekulationen der Spätantike wurden in den Zwanziger und Dreißiger Jahren aktualisiert und weit verbreitet. Man denke nur an das Vorspiel zu Thomas Manns 1933 veröffentlichtem erstem Roman seiner biblischen Tetralogie Joseph und seine Brüder, in dem der sogenannte »Roman der Seele« dargestellt wird, wonach der Geist als Korrekturinstanz gilt und die sündige Leidenschaft der Seele für die Materie stillt. Vgl. Thomas Mann, Vorspiel: Höllenfahrt, in: ders., Die Geschichten Jaakobs, Frankfurt a. M. 2003, S. 50-55.

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31,33 Veni creator spiritus] Der aus dem 9. Jahrhundert stammende, Rabanus Maurus zugeschriebene lateinische Pfingsthymnus wird in der deutschen Kultur, von Goethe, der eine deutsche Nachdichtung desselben verfasste, vom Rekurs auf die Idee des Geistes, der den deutschen Idealismus charakterisiert, bis hin zur 8. Sinfonie Gustav Mahlers (1860-1911) in ständiger Korrelation zur Kreativität, zur mystischen Begeisterung, zur göttlichen Eingebung, zu einer Wissen und Bewusstsein einbegreifenden und zugleich transzendierenden geistigen Sphäre gebracht. 32,9 die große Pax] Es wird hier auf den Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti (ca. 1290-ca. 1348) über die gute und die schlechte Regierung (1338-1339) im Palazzo Pubblico von Siena hingewiesen. Kernstück der politischen Allegorie der guten Regierung ist ein Regent, der um sich die Tugenden versammelt, darunter die Pax, die ihre Rüstung ausgezogen hat und sich lässig auf ein Kissen zurücklehnt. 32,19-20 deinem Genossen] Das Wort »Genosse« wird in Bubers und Rosenzweigs Schriftverdeutschung in der Wiedergabe von Lev 19,18 (»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«) verwendet: »Heimzahle nicht und grolle nicht den Söhnen deines Volkes: / liebe deinen Genossen / dir gleich. / Ich.« (Das Buch Er rief. (Die Schrift III), Berlin: Verlag Lambert Schneider, [1926], S. 82.) 32,25-26 über ihn hinaus auch eine ganze Gemeinschaft] In den frühen, durch Kriegsschwärmerei charakterisierten Schriften Bubers leitete er den Begriff der Gemeinschaft noch aus einem kriegerischen, kollektiven Enthusiasmus und aus der Teilnahme am wichtigen schicksalhaften Auftrag einer Nation ab. (»Im Sturm der Begebenheit hat der Jude mit elementarer Gewalt erfahren, was Gemeinschaft ist.« Martin Buber, Die Tempelweihe, S. 3; jetzt in: MBW 3, S. 284.) Hier jedoch wird der Begriff im biblischen Sinne aus der Perspektive der friedlichen Nächstenliebe gedeutet. 32,34 in einer Antwort Jesu wieder laut geworden ist] Das Gebot der Nächstenliebe wird von Jesus mehrmals wiederholt und ausgelegt (vgl. Mt 22,37-40; Mk 12,29-31, Lk 10,25-28). Landauer heute Der Artikel »Landauer heute« erschien in hebräischer Sprache unter dem Titel Landauer be-schaʿ ah zo am 27. Juni 1939 in der Zeitung des HaPoʿ el ha-tzaʾ ir anlässlich des zwanzigsten Todestages Landauers. Seit 1904 hatte Buber über die Jahre eine Vielzahl von Essays, knappen Ab-

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handlungen und Zeitungsartikeln verfasst, die dem Denken und dem Andenken an das Schicksal Gustav Landauers gewidmet waren. Die 1905 von den Pionieren der zweiten Alijah (1904-1914) ins Leben gerufene Partei Ha-Poʿ el ha-Tza’ir, zu deren wichtigsten Aktivitäten die Gründung der ersten kooperativen Siedlungen (moschavim) und Kibbuzim gehörte, gab seit 1907 eine gleichnamige Zeitung in hebräischer Sprache heraus, deren erster Redakteur Josef Aharonovich (1877-1937) war. In der Zeitung kommt die offizielle Linie der Arbeiterpartei und des sozialistischen Arbeiterzionismus zum Ausdruck. Der Untertitel der Zeitung lautete folgerichtig avoda ivrit (hebräische Arbeit), wobei das Syntagma, das als zionistischer Wert schlechthin betrachtet wird, zugleich als Leitspruch der zionistischen Bewegung und als programmatisches Wort der Partei galt. (Vgl. auch Judentum und Arbeiterbewegung. Das Ringen der Emanzipation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Markus Börner, Anja Jungfer u. Jakob Stürmann, Berlin-Boston 2018.) Gemäß der Sozialtheorie Landauers stellt Buber in diesem Essay die Gestalt des wahren Sozialismus in großen Zügen und in ihren wesentlichen Punkten dar. Diese sozial-politische Konfiguration impliziert eine föderative, nicht zentralistische, manchmal auch staatsfeindliche Gemeinschaft Gleichberechtigter, deren wirtschaftliche und ideologische Keimzelle Buber zu diesem Zeitpunkt in den durch gemeinsames Eigentum und basisdemokratische Strukturen gekennzeichneten, genossenschaftlichen Kollektivsiedlungen in Palästina sieht. Der Kibbuz stellt auch das Paradebeispiel dafür dar, in welchem Maße das Wesen des Sozialismus in der Wohn- und Produktionskommune verwirklicht werden kann, die die bürgerlichen Vorstellungen hinsichtlich Eigentum, Leistung und Konkurrenz ablehnt. In dessen immer wieder von neuem auszubalancierenden Gleichgewicht von Individualität und Gemeinschaft sieht Buber das Ideal des Sozialismus ohne parteipolitische Erstarrungen in die Praxis umgesetzt. In demselben Jahr werden Bubers Artikel zu Landauer (»Landauer und die Revolution«, »Der heimliche Führer« und »Landauer heute«) unter der Überschrift »’Al Gustav Landauer« (»Über Gustav Landauer«) zusammengefasst und in einer hebräischsprachigen Broschüre publiziert, die von der Tel Aviver Zeitschrift des Kulturzentrums (merkaz la-tarbut) der Histadrut ha-ʿ ovdim ha-ʿ ivrim ha-kelalit be-Eretz Jsraʾ el (Allgemeiner Verband der Arbeiter Israels) herausgegeben wurde (S. 22-37).

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Textzeugen: h: unvollständige Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 135); 4 lose Blätter, doppelseitig beschrieben mit blauer Tinte, paginiert, mit Korrekturen versehen. Das letzte Blatt mit den letzten Sätzen (»dass man die Politik […] im Grunde sind.«) fehlt. Der in der Handschrift nicht zu entziffernde Abschnitt »Diese Leute haben […] Staatsproletarier geworden …« (34,9-21) sowie die fehlenden letzten Sätze wurden durch die Übersetzung des hebräischen Druckes von Dafna Mach ergänzt. D1: Landauer be-scha’a zo, Ha-po’el ha-tza’ir, 32. Jg., H. 29 vom 27. Juni 1939, S. 8-9 (MBB 617). D2: Al Gustav Landauer, Gustav Landauer, Tel Aviv: Merkaz la-tarbut 1939, S. 22-37 (MBB 619). 3 D : in: Buber, Netivot be-utopija, Sifrijat daʿ at, Tel Aviv: Am oved 1947, S. 160-163 (MBB 777). Druckvorlage: h unter Ergänzungen durch die Übersetzung von Dafna Mach, die für die erweiterte Ausgabe von »Pfade in Utopia« (1985) erstellt worden ist. Variantenapparat: 33,6 eherne Tafel] [Steintafel] ! eherne Tafel h 33,14-15 Ein Riesenstaat] [Ein Leviathan] ! Ein Riesenstaat h 33,29 Kindheit] [Kinderzeit] ! Kindheit [und Jugend] h 34,34 Wir müssen dem Leviathan] [Wir müssen dem Leviathan den sozialistischen Aufputz abreissen, wir müssen ihn zeigen als das was er ist. Und ihm gegenüber müssen wir] ! Wir müssen dem Leviathan h 34,36 konzentrierte alte] [übernommene kapitalistische] ! konzentrierte alte h 34,38 Laundauers] [Proudhons] ! Landauers h 35,7 Theorie und seiner Taktik] [Ideologie und seinem Programm] ! Theorie und seiner Taktik h 35,11 alle echte Entscheidung hemmende] [geistverlassene] ! alle echte Entscheidung hemmende h 35,13-14 massiven Kollektivismus] massiven [östlichen] Kollektivismus h 35,26-27 und dass Parteigetriebe] [dass letzthin aber diese neue Wirklichkeit bestimmt ist, an Stelle der all das politische Getriebe] ! und dass Parteigetriebe h 36,26-27 hat ein Leben zu verfechten] [kämpft für das Leben] ! hat ein Leben [durchzusetzen] ! zu verfechten h

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36,28 am Bau der Zukunft] ham Bau der Zukunfti h 36,30 den freien Glauben zu sich selber und] hden freien Glauben zu sich selber undi h 36,34-37,3 dass man die Politik […] Grunde sind.] fehlt aufgrund verlorener Seite h Wort- und Sacherläuterungen: 33,16 des »kältesten aller Ungeheurer«] Das Zitat stammt aus Also sprach Zarathustra, in dem Nietzsche im Kapitel »Vom neuen Götzen« seine Staats- und Institutionenkritik auf die berühmte Formel bringt: »Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer [Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde]«, Also sprach Zarathustra, in: ders., Werke, Kritische Gesamtausgabe, Sechste Abteilung, 1. Bd., hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin u. New York 1967 ff., S. 57-58. 33,32 Leviathan] Leviathan (buchstäblich »der sich Windende«) ist ein biblisch-mythologisches Meeresungeheuer bzw. kosmisches Drachentier. Die Gestalt dieses Fabeltiers ist der Mythologie des alten Nahen Ostens und der Bibel gemeinsam, wo es im Buch Hiob und im Buch der Psalmen auftaucht (Hi 40,25-41,26 und Ps 74,14; 104,26). 34,40 Dazu hat Landauer den Weg gewiesen.] Einige Texte Landauers übten einen gewissen Einfluss auf die jüdische arbeitsgenossenschaftliche Siedlungsbewegung in Palästina aus. Zu erwähnen sind vor allem die in der von Martin Buber herausgegebenen Reihe Die Gesellschaft 1907 veröffentlichte Abhandlung Die Revolution sowie der Briefwechsel zwischen Landauer und dem zukünftigen Gründer des Jüdischen Weltkongresses Nahum Goldmann (1895-1982) über die jüdischen Siedlungen in Palästina und über jüdischen Kommunalismus (Briefwechsel Gustav Landauer/Nahum Goldmann, in: Gustav Landauer, Ausgewählte Schriften, Bd. 3: Internationalismus, hrsg. von Siegbert Wolf, mit Illustrationen von Uwe Rausch, Lich 2008, S. 158162). In den Siedlungsgründungen verfolgte Landauer das Programm einer neuen handwerklich, intellektuell und künstlerisch orientierten Freiheitsordnung ohne Zentralinstanz. In den jüdischen Jugendorganisationen (wie z. B. dem 1916 in Galizien gegründeten Ha-Schomer ha-Tzaʾ ir) und Arbeiterbewegungen, besonders in der Partei Ha-Poʿ el ha-Tzaʾ ir und deren Presseorganen (Die Arbeit, die von Josef Chaim Brenner gegründete Zeitschrift Ha-Adamah), sind Spuren und Einflüsse von Landauers Schriften zu finden. Obwohl die Kibbuzim in den ersten Jahrzehnten ihrer Entwicklung vom anarchistischen So-

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zialismus Landauers beeinflusst wurden und auf den Aufbau neuer, herrschaftsfreier Beziehungen zielten, ist Landauers Einfluss auf die im Laufe der 1930er Jahre mehr marxistisch orientierten (wenn auch staatskritischen) Kibbuz-Verbände eher gering geblieben. Eine gewisse Landauer-Renaissance und eine Rückkehr zu einem humanistischen Sozialismus und zu einer libertären Gesellschaftsidee samt einer Distanz zum marxistisch beeinflussten sozialistischen Zionismus ist aber in den folgenden Jahren innerhalb der Kibbuzbewegung zu beobachten. Vgl. auch Maria Fölling Albers u. Werner Fölling, Kibbuz und Kollektiverziehung. Entstehung – Entwicklung – Veränderung, Wiesbaden 2000. Wenn Herzl noch lebte 1935 hatte Salman Schocken die Ha-aretz, die angesehenste hebräische Tageszeitung, erworben und 1936 in Tel Aviv die Schocken Publishing Ltd. gegründet. Beide Unternehmen wurden kurz darauf von seinem ältesten Sohn Gustav Gershom Schocken (1902-1990) übernommen. Gershom Schocken war 1933 gleich nach Hitlers Machtübernahme und ein Jahr vor seiner Familie nach Palästina gekommen. Von 1939 bis zu seinem Tod im Jahr 1990 wirkte er gleichzeitig als Chefredakteur und Herausgeber der Tageszeitung Ha-aretz und als Leiter des hebräischen Schocken Verlags. Außerdem war er auch politisch engagiert und zwischen 1955 und 1959 Knesset-Abgeordneter der liberal orientierten Miflaga Progresivit (Progressiven Partei), die vor allem jüdische Immigranten aus Mitteleuropa repräsentierte. Am 28. Februar 1940 schrieb der schon als Chefredakteur amtierende Gershom Schocken einen an Martin Buber gerichteten Brief aus Tel Aviv. Das Schreiben beginnt mit einer merkwürdigen und schwer klarzustellenden chronologischen Verschiebung: Der 18. Mai 1940 sei Theodor Herzls achtzigster Geburtstag (vgl. Gustav Schocken an Martin Buber, 28. Februar 1940, in: B III, S. 34). Diese Angabe entspricht Herzls wahrem Geburtsdatum (Pest, 2. Mai 1860) nicht. Aus diesem Anlass sollte eine Sondernummer der Ha-aretz dem Vordenker der zionistischen Bewegung gewidmet werden. Einige Intellektuelle, Denker und Politiker, die Herzl gekannt und in ihrer Jugend mit ihm zusammengearbeitet hatten, wurden ersucht, darüber Essays bzw. kulturpolitische Abrisse zu verfassen. Die Fragen, die ihnen vorgelegt wurden, bestanden aus Hypothesen, die das Denken und die Aktion Herzls in die Gegenwart projizierten: Welche Rolle hätte Herzl in der

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zionistischen Bewegung gespielt, hätte er bis zu seinem 80. Lebensjahr gelebt? Was für eine Stellung würde er zu den Problemen und den heiklen Fragen einnehmen, die den Zionismus der Nachkriegszeit und der Gegenwart betreffen? Seit Herzls Tod hatten sich zwei Faktoren als entscheidend für die Entwicklung der zionistischen Bewegung erwiesen: einerseits die Verbreitung der aus Russland stammenden jüdischen Arbeiterbewegung (besonders des 1920 von David Ben Gurion in Haifa gegründeten Dachverbands Ha-Histadrut ha-kelalit schel ha-ovdim be-Eretz Israel [Allgemeiner Verband der Arbeiter Israels]), deren Stärke immer mehr zunahm und die einen maßgeblichen Anteil an der Gründung des Staates Israel haben sollte, und andererseits und parallel dazu die Entwicklung des Hebräischen zum wichtigsten sprachlichen Instrument des Jischuw und der zionistischen Kultur. Entsprechend wurde die Frage gestellt: Welche Haltung würde Herzl zu diesen zwei Phänomenen einnehmen? (Vgl. Gustav Schocken an Martin Buber, 28. Februar 1940, ebd.) Innerhalb dieser von Ha-aretz initiierten Rundfrage war Martin Buber eine Schlüsselfigur, weil er »aus dem gleichen Wienerdeutschen Kulturkreis« (B III, S. 34) stammte wie Herzl und trotzdem »mitten im hebräischen Kulturleben Palästinas« (ebd.) stand und die dortigen gegenwärtigen Probleme vor Augen hatte. Von Buber erwartete die Redaktion einen Beitrag, der von den Zeugnissen der anderen Autoren, besonders von denen des Odessaer zionistischen Kreises ganz verschieden sein sollte (ebd.). Die Stadt Odessa war zwischen 1860 und 1940 vielleicht das Nervenzentrum der gesamten russischen Judenheit. Knotenpunkt für die Verbreitung der Haskala, Sitz der Chovevei Zion-Bewegung und Zentrum der um Achad Haam versammelten kulturalistischen, später als Kulturzionismus bekannten Regenerationsbewegung, war die Stadt für ihre bahnbrechende und einflussreiche literarische Produktion und ein umfangreiches jüdisches Zeitschriftenwesen (vertreten u. a. von der hebräischsprachigen Zeitschrift Ha-Melitz, der kulturzionistischen hebräischen Monatsschrift Ha-Schiloach, der russischen zionistischen Wochenzeitung Kadima, der jiddischen Zeitschrift Kol-Mevaser) berühmt. Hier hatte die Renaissance einer neuhebräischen Literatur schon um 1900 Gestalt angenommen. Protagonisten dieser kulturellen Blüte waren neben Achad Haam, Mendele Moicher Sforim (1836-1917), Moshe Leib Lilienblum (1843-1910), Simon Dubnow, Chajim Nachman Bialik (1873-1934) Joseph L. Klausner (1874-1958) und andere. Auch der von Bubers politischer Linie weit entfernte Begründer des revisionistischen Zionismus Wladimir Zeʾ ev Jabotinsky stammte aus Odessa. (Vgl. auch

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Alexis Hofmeister, Zwischen Berlin und Tel Aviv – Jüdische Geschichte im Odessaer Gebietsarchiv, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur, hrsg. von Dan Diner, Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, I, München 2003, S. 349-362; Patricia Herlihy, Odessa, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, hrsg. von Dan Diner im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, 4 (Ly – Po), Stuttgart-Weimar 2013, S. 392-396.) Gemeint ist auch die um Odessa kreisende breitere Gruppierung der russischen politischen Aktivisten, die u. a. auch Menachem Mendel Ussishkin (1863-1941) zu ihren Mitgliedern zählte. 1919 in Palästina angesiedelt, war Ussishkin ein »praktischer Zionist« und förderte bereits seit den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts das landwirtschaftliche Siedlungswesen und den systematischen und planmäßigen jüdischen Landerwerb in Palästina – er hatte auch an der »Gesellschaft zur Unterstützung jüdischer Bauern und Handwerker in Syrien und Palästina«, deren Komitee seinen Sitz in Odessa hatte (»Odessa-Komitee«), teilgenommen. 1940 wurde er Vorsitzender der Zionistischen Weltorganisation. Indem sie eine Einladung an Buber aussprach, wollte die liberal orientierte Zeitung Ha-aretz einer Gegenstimme zum offiziellen zionistischen Establishment Raum geben, zumal die politische Lage gerade in diesen Monaten besonders angespannt war. Infolge des britischen, 1939 veröffentlichten McDonald-Weißbuchs wurde das Gesetz über den Bodenkauf, das praktisch den Verkauf arabischen Bodens an Juden verbot, am 28. Februar 1940 – an demselben Tag, als Gustav Schocken seinen Brief an Buber schrieb – von der britischen Mandatsregierung erlassen. Es folgten, wie Hugo Bergmann im Tagebuch vermerkt, »zwei Wochen schlimmster jüdischer Demagogie« (Bergmann, Tagebücher & Briefe, Bd. 1, S. 516) mit stürmischen Demonstrationen von Seiten der Juden. Die Protestaktionen waren von der Hagana, der jüdischen paramilitärischen Selbstschutzorganisation des Jischuw, dirigiert und fanden mit dem stillschweigenden Einverständnis der Jewish Agency und deren Vorsitzendem David Ben Gurion statt. Es kam in den Städten zu Zusammenstößen mit der Polizei, wobei zwei Personen in Jerusalem und Haifa getötet und vierhundert verletzt wurden. Judah Magnes, Hugo Bergmann und die anderen Mitglieder der »Kommission für die Frage der jüdisch-arabischen Beziehungen«, die auf dem 21. Zionistenkongress in Genf (August 1939) ernannt worden war, sowie die Vertreter der Liga für jüdisch-arabische Annäherung und Zusammenarbeit als Förderer der binationalen Lösung der jüdisch-arabischen Frage versuchten, die Demonstrationen zu verhindern, indem sie mit den Institutionen der zionistischen Bewegung, besonders mit Ussishkin, die politischen Probleme

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der Stunde besprachen. Am 3. März 1940 schrieb Buber einen besorgten Brief an den Jüdischen Nationalrat (Vaʿ ad Leʾ umi), um die Gefährlichkeit der Demonstrationen für die jüdisch-arabische Vereinbarung zu zeigen (»Werden nicht nach Ansicht der Institutionen durch solche Demonstrationen die seit Kriegsausbruch verstärkten Möglichkeiten, doch noch zu einer Verständigung mit den Arabern zu gelangen, aufs äußerste gefährdet?«, Martin Buber an den Vaʿ ad Leʾ umi, in: B III, S. 35-37, hier S. 36). Darüber hinaus hatte der am 10. Mai ernannte Premierminister Winston Churchill (1874-1965) das Weißbuch abgelehnt, ohne es aber offiziell zurückzunehmen, was die Situation noch akuter machte. Die Ha-aretz erschien täglich außer am Schabbat und da der als Geburtstag Herzls angegebene 18. Mai 1940 auf einen Samstag fiel, wurde Bubers Beitrag in der Tageszeitung am 17. Mai 1940, unter dem Titel Ilu haya Herzl ʿ od ba-chayyim (Wenn Herzl noch lebte) veröffentlicht. Ein deutschsprachiger Entwurf des Textes hat sich im Martin Buber Archiv der Nationalbibliothek in Jerusalem erhalten und dient als Druckvorlage. Auf die von Schocken gestellten Fragen antwortete Buber nicht. Er legte hingegen dar, wie sich Herzls Liberalismus, Fortschrittsglauben und Technik-Vertrauen mit dem nach seinem Tode ans Licht gekommenen zugleich restaurativen und revolutionären Charakter des Zionismus vertragen hätten, wäre er noch am Leben. Zu Bubers Verhältnis zu Theodor Herzl, vgl. die Einleitung, in: MBW 3, S. 20-23; Martin Buber, Theodor Herzl, jetzt in: MBW 3, S. 107-114; Ders., Herzl und die Historie, jetzt in: MBW 3, S. 115-125. Textzeuge: H: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 06 18b); 3 lose Blätter, doppelseitig beschrieben mit blauer Tinte; paginiert; mit Korrekturen versehen. Druckvorlage: H Übersetzungen: Hebräisch: Ilu Herzl haja od ba-chajim, Ha-aretz vom 17. Mai 1940 (MBB 629). Variantenapparat: 38,3 Problemen] Problemen [im Herzen] H 38,21 Idee, die mit dem Liberalismus nicht] [Prinzip, das weder seiner Herkunft noch seinem Gehalt nach] ! Idee, die mit dem Liberalismus nicht H

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38,38 innerer Widerspruch] [Tragik] ! [Problematik] ! innerer Widerspruch H 38,39 zugleich revolutionäre und restaurative] [revolutionäre Wesen des Zionismus nicht erkannte und auch nicht erkennen wollte, sich auch weigerte es zu erkennen. Sein Plan war Neubeginn; er aber wollte ihn als Fortsetzung verstehen] ! zugleich revolutionäre und [regenative] ! restaurative H 39,3 gespannt] gespannt [; vielleicht darf man sagen: zwischen Offenbarung und Offenbarung] H 39,6 vernommen] [im Fach der neuen Erfahrungen umgelernt? hätte er erkannt] ! vernommen H 39,7 von ihm forderte?] von ihm forderte? [In ihrem Zentrum sind solche Fragen unbeantwortbar; an der Peripherie lassen sich Vermutungen wagen.] H 39,26 und wenn er es nicht] [sondern die Technik, der Technizismus selber erscheint] ! [das aber in unkundigen oder verantwortungslosen Händen auch sehr viel Übel anzurichten vermag, so dass also alles auf den Geist ankommt] ! und wenn er es nicht H 39,27-28 man kann sich zwar] [und damit ist bereits die Bürgschaft für die Erlangung einer höheren menschlichen Gesittung gegeben und alles weitere ergibt sich von selbst] ! man kann sich zwar H 39,38-39 jeder technische Erfolg […] gebucht] hjeder technische Erfolg […] gebuchti H 40,10-11 wachsenden inneren Unordnung] hwachsenden innereni Unordnung H 40,12-14 sie erkennen […] zueinander gehören] hsie erkennen […] zueinander gehöreni H 40,29 der Bauplan weder] [niemand weiss, wie das Haus aussehen soll, und dass dann kein anderer Bauplan als ein technisch] ! der Bauplan weder H 41,15 gemacht werden kann,] gemacht werden kann, [sondern gerufen werden muss] H Wort- und Sacherläuterungen: 38,14 »Judenstaat«] Theodor Herzl, Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, Leipzig u. Wien 1896. 38,21-22 In der Stunde […] zu verschmelzen war] Das Verhältnis zwischen Zionismus und Liberalismus wurde auch in früheren Jahren besonders in Bezug auf Herzls Denken und Wirken oft diskutiert. Die in diesem Sinne problematische Gestalt Herzls wurde in der Zeitschrift Der Jude mehrmals erörtert. Ernst Simon hatte sich z. B. mit

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den komplizierten Aspekten seiner Persönlichkeit befasst. Obwohl Simon Herzls historische Bedeutung würdigte und seine große politische Leistung anerkannte, unterzog er ihn einer strengen Kritik, indem er Herzls ideologische und persönliche Widersprüche in den Vordergrund stellte: Der zutiefst und fast vollständig assimilierte Herzl sei als Jude kein Vorbild, weil seine Ideologie vom Liberalismus des 18. Jahrhunderts ganz und gar geprägt sei. Vgl. Ernst Simon, Theodor Herzls Tagebücher, in: Der Jude, 11, 1921-1922, S. 649-659. 39,10 »Treibkraft«] Vgl. Herzl, Der Judenstaat, S. 4. 39,12 »Arbeitssklaven von unerhörter Kraft«] »Wir haben Arbeitssklaven von unerhörter Kraft, deren Erscheinen in der Kulturwelt eine tödliche Konkurrenz für die Handarbeit war: das sind die Maschinen.« (Ebd., S. 10.) Was die Möglichkeiten der Technik betrifft, scheinen aber Herzls Akzentsetzungen im Gegensatz zu Bubers Aussagen nicht so enthusiastisch zu sein. 39,13-14 »eine köstliche Renaissance«] Ebd. 39,19-20 »die Gestaltung […] Mittel ab«] Ebd., S. 79. Bei der Darstellung der vom technischen Fortschritt bewirkten Effekte im darauffolgenden Satz scheint Herzl wiederum nicht von Technikbegeisterung durchdrungen zu sein: »Der Dampf hat die Menschen um die Maschinen herum in den Fabriken versammelt, wo sie aneinandergedrückt sind und durcheinander unglücklich werden. Die Produktion ist eine ungeheure, wahllose, planlose, führt jeden Augenblick zu schweren Krisen, durch die mit den Unternehmern auch die Arbeiter zugrunde gehen«. 39,21-23 »Mit dem Dampf […] Bewegung schweben.«] Theodor Herzl, Rede in London, in: Theodor Herzls zionistische Schriften, hrsg. von Leon Kellner, Berlin 1920, S. 240-248, hier S. 247. 39,36 Die Technik ist die Magie unseres Weltalters] In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist die Magie der Technik ein verbreitetes Thema, von dem Buber beeinflusst wird. Diesen Reflexionen zufolge hat die Technik eine magische Seite und eine magische Wirkung. Vgl. z. B. Walter Benjamins Texte zur Medientheorie der Moderne, wie den 1936 erstmals erschienenen Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (L’œuvre d’art à l’époque de sa reproduction mécanisée, Zeitschrift für Sozialforschung 5/1 [1936], S. 40-68) oder den 1931 erschienenen Essay »Kleine Geschichte der Photographie« (in: Die Literarische Welt 7/38-39-40 (1931), S. 3-4; 3-4; 7-8), in dem die Kategorie der Magie als zentral eingeführt wird, um das Wesen der Photographie zu bestimmen.

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39,39-40 »Wer weiss, […] Stufe des Lebens«] Nicht nachgewiesen. 40,19 Auch Zion zu »bauen«] Der Begriff des Bauens wurde oft mit der zionistischen Bewegung in Verbindung gebracht. Unter die zionistischen Jugendorganisationen zählte z. B. Ha-Bonim, Noʿ ar Chaluzi (»Die Bauleute. Pionier-Jugend«), eine zionistisch-sozialistische Vereinigung, die im Februar 1933 in Berlin als Folge des Zusammenschlusses der zionistischen Studentenverbindung Kadima, des JungJüdischen-Wanderbundes und der zionistischen Bewegung für die Auswanderung nach Palästina, der Brit Olim, gegründet wurde. 40,35-38 »Wir sind […] Nation zu sein.«] Herzl, Rede in der österreichischen israelitischen Union. Wien, in: Theodor Herzls zionistische Schriften, hrsg. von Leon Kellner, Berlin 1920, S. 97-109, hier S. 103. 41,8-9 »Wir sind ein Volk – ein Volk«] »Wir sind ein, Ein Volk.« Herzl, Der Judenstaat, S. 11. Über das Wesen der Kultur Der an der Grenze zwischen Soziologie und philosophischer Anthropologie zu verortende Aufsatz Al mahuta schel ha-tarbut (Über das Wesen der Kultur) wurde im November 1943 in der Zeitschrift Machbarot le-sifrut (2, 11, 1943) veröffentlicht. In den Zwanziger Jahren wurde in Tel Aviv eine literarische Gruppe gegründet, die aus jungen Schriftstellern und Dichtern bestand, deren Muttersprache Hebräisch war. Diese Gruppe, bekannt unter dem Namen Jachdaw (»Zusammen«), war zwischen 1926 und 1939 in Tel Aviv tätig und hatte prominente Mitglieder wie Avraham Shlonsky (1900-1973), Nathan Alterman (1910-1970), Leah Goldberg (1911-1970), Avraham Halfi (1904-1980), Alexander Penn (1906-1972), Eliezer Steinman (1892-1970), Moshe Lifshitz (1894-1940) und den Kritiker und Bibliophilen Israel Zmora (1899-1983). Die von Avraham Shlonsky herausgegebene Zeitschrift der Gruppe trug den Titel Turim (Spalten). Uneinigkeiten und Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppe führten aber zur Entlassung von Shlonsky als Herausgeber. Infolge dieser Divergenzen verließen einige Mitglieder die Gruppe und gründeten ihre eigene Zeitschrift, die von Israel Zmora herausgegeben wurde und unter dem Namen Machbarot le-sifrut (Hefte zur Literatur) erschien. Frei von jeder politischen Färbung und rein literarischen und kulturellen Themen gewidmet, sollte die Zeitschrift nach der Absicht des Herausgebers die zu veröffentlichenden Autoren nicht nach ihrem Ruhm, sondern nach Einzigartigkeit und Originalität ihres künstlerischen Schaffens wählen, so dass sie die alten Kategorien (Alte

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vs. Junge, Konservative vs. Innovatoren) in Frage stellte. Unter den vom Stab der Zeitschrift ausgewählten Autoren tauchen Isaak Dov Berkowitz (1885-1967), Yehudah Karni (1884-1949), Dov Sadan (1902-1989), Martin Buber und Hugo Bergmann auf. Daneben gründete Zmora 1939 einen gleichnamigen Verlag in Tel Aviv, der als Schwesterunternehmen des renommierten Dvir-Verlags galt. Den Anlass zur Gründung eines neuen Verlags gab die Tatsache, dass sich die bestehenden Verlage – vor allem der 1919 in Odessa von Chaim Nachman Bialik gegründete, infolge der Russischen Revolution nach Berlin und 1924 endgültig nach Tel Aviv übersiedelte Dvir Verlag – darauf konzentrierten, die Schriften von jüdischen bzw. hebräischen schon verstorbenen Schriftstellern zu veröffentlichen, und der jungen hebräischen literarischen Szene keine Bedeutung beimaßen. Der Verlag Machbarot lesifrut veröffentlichte u. a. eine beträchtliche Anzahl von Werken des literarischen Zusammenschlusses der »Kanaaniter«, einer 1939 in Palästina gegründeten kleinen Gruppe von Intellektuellen und Künstlern um den Dichter Yonatan Ratosh (1908-1981), zu denen unter anderen Benjamin Tammuz (19191989), Amos Kenan (1927-2009), Pinchas Sadeh (1929-1994), Benjamin Galai (1921-1995) und Aharon Amir (1923-2008) gehörten. Nebst hebräischen Übersetzungen der Weltliteratur erschienen in den 1940er und 1950er Jahren auch einige philosophische Abhandlungen und Essays von Martin Buber, Nathan Rotenstreich (1914-1993) und Hugo Bergmann. Schon 1942 und 1943 hatte Buber einige Aufsätze und Bücher in derselben Zeitschrift und in demselben Verlag veröffentlicht. (Ha-ruach wehametziʾ ut [Der Geist und die Wirklichkeit; Sammelband von 9 Aufsätzen Bubers]); Darkhe schel ha-dat be-arzenu [Religion in unserem Land; jetzt in: MBW 20, S. 159-166] und Baʿ ayat ha-adam. Dieser Band, der aus Bubers erstem Vorlesungsjahr 1938 an der Hebräischen Universität hervorging, erschien 1943 auf Hebräisch und 1948 in deutscher Übersetzung als Das Problem des Menschen, Heidelberg: Lambert Schneider 1948; jetzt in: MBW 12, S. 221-312.) Ausgehend vom Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation und den damit verbundenen Gesellschaftsformationen, mit denen sich Buber schon früh beschäftigt hatte (vgl. Ders., »Kultur und Zivilisation. Einige Gedanken zu diesem Thema«, in: Der Kunstwart, hrsg. v. Ferdinand Avenarius, 14, 1901, S. 81-83, jetzt in: MBW 1, S. 157-159), versucht Buber im vorliegenden Text, eine umfassende Definition der Kultur zu geben, indem er einen dezidiert anthropologisch-philosophischen Ansatz wählt, der nach einem universalhistorischen Deutungsschema und nach einem allgemeingültigen Interpretationsschlüssel des Objekts sucht. Der

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eindeutige und allumfassende Charakter des Gedankengangs Bubers ist auch seinen ersten Universitätsvorlesungen, den daraus resultierenden Büchern (wie z. B. dem kurz zuvor auf Hebräisch erschienenen Buch Baʿ ajat ha-adam [Das Problem des Menschen]) und den Diskussionen an der Jerusalemer Philosophischen Gesellschaft, bei der er am 17. Mai 1943 den Vortrag »Soziologie und Soziologismus« hielt, gemeinsam (vgl. Bergmann, Tagebücher & Briefe, Bd. 1, S. 610). Dieser Modus Procedendi wurde zu Bubers Lebzeiten im Jerusalemer Umfeld tadelnd besprochen. Am 19. Juni 1943 notiert Hugo Bergmann in seinem Tagebuch, es sei ihm vom Pädagogen und Erzieher Joseph Bentwich (1902-1982) das Programm eines Kurses für religiöse Erziehung zusammen mit der Einladung, daran teilzunehmen, vorgelegt worden. Diesem Eintrag fügt Bergmann hinzu: »Ich empfand es als undankbar, daß Buber nicht auf der Liste ist.« (Ebd., S. 611.) Am Tag darauf berichtet Bergman von einem Gespräch im Autobus mit dem Rabbiner und Religionsphilosophen Julius Guttmann (1880-1950), wobei er sich nach dem Ausschluss Bubers erkundigt und die Erklärung bekommt, das Programm sei von Joseph Bentwich, vom Philosophen und Pädagogen Arthur Biram (1878-1967) und von anderen »mitnagdim [Gegnern] Bubers« (ebd.) entworfen worden. Laut Guttmann verstände Buber es nicht, »sich in einen Rahmen einzufügen, er gehe immer von sich aus – so auch wieder in seinem eben erschienenen Buch ›Das Problem des Menschen‹, und so habe er es wiederholt in den Diskussionen der Philosophischen Gesellschaft […] gemacht. Guttmann meinte, es sei tragisch, daß Buber, der so viel von Zwiegespräch schreibe, nur in Monologen lebe […] Für Buber wäre es am besten, eine Gesellschaft zu haben, wo wirklich er der Tonangebende ist.« (Ebd.) Teils zustimmend, teils bestreitend kommentiert Bergmann: »Aber wir, die wir Buber besser kennen, dürften nicht die Hand geben zu seiner Vereinsamung.« (Ebd.) Darüber vgl. auch Dominique Bourel, Martin Buber, S. 534. Textzeugen: D1: [Hebräisch] Al mahuta schel ha-tarbut, Machberot la-sifrut, 2. Jg., 4. Heft, November 1943, S. 3-16 (MBB 681). D2: in, Buber, Penej Adam. Bechinot be-anthropologia filosofi, Jerusalem: Mossad Bialik, S. 377-396 (MBB 1209). Druckvorlage: Übersetzung von D1 aus dem Hebräischen von Asher Biemann und Dalia Rosenfeld.

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Wort- und Sacherläuterungen: 42,3 Huizinga] Johan Huizinga (1871-1945): niederl. Kulturhistoriker. 42,6-9 »Ja, wissen wir denn […] unzulänglichen Ausdrucks«] Johan Huizinga, Der Mensch und die Kultur, Stockholm 1938, S. 11, 13. 1937 erhält Johan Huizinga vom Vorstand des Österreichischen Kulturbundes in Wien die Einladung, die für den Winter 1937-1938 geplante Vortragsreihe mit einem Vortrag über das Thema »Der Mensch und die Kultur« zu beschließen. Infolge des »Anschlusses« Österreichs im März 1938 wird der Vortrag jedoch nicht gehalten und erscheint in der Schriftenreihe »Ausblicke« des inzwischen nach Stockholm übersiedelten Bermann-Fischer Verlags. Schon kurz nach Hitlers Machtübernahme hatte Huizinga als Rektor der Universität Leiden gegen den Nationalsozialismus und die Verfolgung der Juden offen Stellung bezogen. Man denke dabei an den von ihm betriebenen Ausschluss des deutschen Nationalsozialisten Johann von Leer aus der 1933 in Leiden stattfindenden internationalen Tagung des International Student Service. 42,11-12 »die Worte Herders, […] das Wort Kultur«] Nicht nachgewiesen. 43,5-21 Die Kultur hingegen […] Kulturgüter in ihnen selbst liegt] Auch was die Denkbilder betrifft, bedient sich Buber hier desselben Wortschatzes, von dem er schon im frühen Aufsatz »Kultur und Zivilisation« über das Verhältnis zwischen Kultur und Zivilisation Gebrauch gemacht hatte, wobei er den schöpferischen Charakter der Kultur, ihren plötzlichen Ausbruch und ihre Einmaligkeit im Gegensatz zum unaufhaltsamen Tempo des zivilisatorischen Fortschritts betonte. Vgl. Martin Buber, »Kultur und Zivilisation. Einige Gedanken zu diesem Thema«, Der Kunstwart 15/1 (1901), S. 81-83; jetzt in: MBW 1, S. 157-159. 43,23-25 »Unsere Kultur […] was wir gebrauchen«] Die Aussage (»Our culture is what we are and our civilization is what we use«) geht auf den amerik.-schottischen Soziologen Robert Morrison MacIver (1882-1970) zurück, der durch sein 1947 veröffentlichtes Buch The Web of Government weltweit bekannt wurde. 44,4-12 Dieses lebendige Prinzip […] aus der Lebenskraft […] das vitale Prinzip] Indem Buber auf die frühen, komplexen Gesellschaftsordnungen (die Kulturen des Alten Orients, die Kultur der Griechen bis zum 5. Jahrhundert v. Chr., die mittelalterliche Kultur zwischen dem 12. und dem 13. Jahrhundert) hinweist, rekurriert er auf das Begriffsgerüst der Lebensphilosophie, ausgehend von seiner universitären Beschäftigung mit dem Denken von Wilhelm Dilthey und Georg

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Simmel zwischen 1898 und 1904 sowie auf den wissenschaftlich-naturphilosophischen Ansatz des Biologen und Philosophen Hans Driesch (1867-1941), dessen neovitalistische Theorien in den 1920er Jahren weite Verbreitung gefunden hatten. 45,12-13 sondern in beiden ist sie […] zweckvoll und kulturell zugleich] Die Betonung des zweckdienlichen Charakters eines Kunst- bzw. eines Bauwerks und der Koexistenz des Schönen und des Nützlichen in den Hochkulturen der griechischen Antike und des Mittelalters impliziert Bubers Entfernung von den Vorstellungen der Autonomie und Zweckfreiheit des Kunstwerks, die im ästhetischen Denken von Immanuel Kant, Karl Philipp Moritz (1756-1793) und Friedrich Schiller (1759-1805) eine beträchtliche Rolle gespielt hatten und zum Grundgedanken des Weimarer Formideals erhoben wurden. 45,29-33 In der Geschichte des Abendlandes […] Zeitalter der Renaissance] In diesem Gedankengang zeichnet sich eine Werteinversion gegenüber Bubers frühen Schriften unmissverständlich ab. Indem er im Hochmittelalter eine ungeteilte, vom vitalen Prinzip durchtränkte kulturelle Fülle und in der Renaissance den Anbeginn einer Trennung zwischen Kultur und Zivilisation sieht, distanziert sich Buber von der frühen Renaissanceschwärmerei, die bereits im jugendlichen Aufsatz »Kultur und Zivilisation« die Möglichkeit einer neuen kulturellen Renaissance des Judentums vor der Folie der historischen Renaissance entworfen hatte. Im Gegensatz dazu galt das Mittelalter dem frühen Buber als Inbegriff einer erstarrten, verzerrten Scholastik ohne Lebensgefühl. Vgl. dazu Martin Buber, Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus, S. 205 (jetzt in: MBW 3, S. 185). 46,4-8 worin er schildert, […] Kirchenraum geschaffen hatte] Es handelt sich um Duccio di Buoninsegnas Madonna Rucellai, die jahrhundertelang dem Maler Cimabue zugeschrieben wurde. Von der festlichen Prozession, wobei das Bild der Madonna durch die Straßen von Florenz getragen wird, erzählt der Architekt und Biograf italienischer Künstler Giorgio Vasari in seinen 1550 veröffentlichten Lebensbeschreibungen (Le Vite de’ più eccellenti pittori scultori ed architettori): »La qual opera fu di maggior grandezza, che figura che fosse stata fatta in sin a quel tempo […] Onde fu quest’opera di tanta maraviglia ne’ popoli di quell’età, per non si esser veduto insino allora meglio, che di essa casa di Cimabue fu con molta festa e con le trombe alla chiesa portata con solennissima processione, ed egli perciò molto premiato ed onorato.« Giorgio Vasari, Le vite, Milano 1808, S. 158. 46,30-35 »Beiderseits […] von Qualitas und Quantitas«] Alfred von Martin, Soziologie der Renaissance. Physiognomik und Rhythmik einer

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Kultur des Bürgertums, Frankfurt am Main 1949, unveränderter Nachdruck der ersten Auflage 1932, S. 75. 51,8-9 Berliner Kreis der Philosophischen Gesellschaft] Anfang 1843 wurde von einigen Junghegelianern, darunter August Cieszkowski (1814-1894) und Carl Ludwig Michelet (1801-1893), die Berliner Philosophische Gesellschaft gegründet. 51,15-16 »Die absolute Selbstproduktion ist eben der tiefste Punkt des Menschen.«] In seinen 1877 veröffentlichten Grundlinien einer Philosophie der Technik, die als Begründung der modernen Technikphilosophie gelten, vergegenwärtigt der Pädagoge, Geograph und Philosoph Ernst Kapp (1808-1896) das Ereignis mit folgenden Worten: »Als im Beginn der sechziger Jahre in einer Sitzung der philosophischen Gesellschaft zu Berlin über das Alter des Menschengeschlechts diskutiert wurde, machte Schultzenstein [gemeint ist vielleicht der Botaniker und Mediziner Carl Heinrich Schultz-Schultzenstein, 1798-1871] die Bemerkung, daß der Mensch überall, wo er auftritt, sich eine passende Lebensart erst erfinden und durch Kunst verschaffen muß, so daß Wissenschaft und Kunst beim Menschen an die Stelle des Instinkts der Tiere tritt, wodurch er Schöpfer seiner selbst, ja sogar seiner Körperbildung und Veredlung wird. Dem zustimmend erwiderte Lassalle: ›Diese absolute Selbstproduktion ist eben der tiefste Punkt im Menschen‹.« (Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877, S. 29.) Ferdinand Lassalle wurde in die »Berliner Philosophische Gesellschaft« aufgenommen und von den Hegelianern anerkannt, nachdem sein 1858 erschienenes Werk über Heraklit (Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos, Berlin 1858) einen großen Erfolg gehabt hatte. 52,8 Adam Kadmon] (Hebräisch, »ursprünglicher Mensch«). Es handelt sich dabei um die bekannte haggadische und kabbalistische Vorstellung des Urmenschen, nach dessen Ebenbild die Menschen zur Existenz gekommen seien. 53,24-34 Der bekannte französische Historiker […] angeordnet wurde] Buber zitiert hier den französischen Historiker Numa Denis Fustel de Coulanges (1830-1889) und sein bekanntestes Werk La cité antique (Strasbourg 1864), das bereits zu Lebzeiten des Autors ein Bestseller wurde. Darin analysiert Fustel de Coulanges die politischen Institutionen und die Wirtschaftsordnungen Roms und Griechenlands, indem er versucht, diese öffentlichen Strukturen aus den jeweiligen religiösen Vorstellungen heraus zu verstehen.

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54,28-29 aus dem wichtigen Buche Robert Davidsons über die Geschichte der Stadt Florenz] Erwähnt wird hier der in Danzig geborene jüdische Mediävist Robert Davidsohn (1853-1937), dessen Geschichte von Florenz aus einer jahrelangen, ausführlichen, in Florenz und in anderen Städten Europas durchgeführten Archivarbeit resultiert. Das aus sieben Bänden bestehende Werk wurde zwischen 1896 und 1927 in Berlin veröffentlicht. 55,20 »Ewigen Evangeliums«] aus dem Lateinischen Evangelium aeternum. Unter diesem Titel wurden die Schriften des Abtes Joachim von Fiore (ca. 1130-1202) bekannt, die größtenteils aus Auslegungen der biblischen Weissagungen und anderen Prophezeiungen bestehen. Der Titel geht auf die Offenbarung 14,6 zurück: »Und ich sah einen Engel fliegen mitten durch den Himmel, der hatte ein ewig Evangelium, zu verkündigen denen, die auf Erden sitzen und wohnen, und allen Heiden und Geschlechtern und Sprachen und Völkern.« 55,20-21 der Verkünder des »Dritten Königreichs«] Joachim von Fiore verkündete ein bevorstehendes Friedensreich des Geistes, ein glückliches Zeitalter, das dem Zeitalter des Vaters und dem des Sohnes folgen und in dem das himmlische Jerusalem verwirklicht werden wird. Dieses dritte Reich bildet den Mittelpunkt des joachimitischen Geschichtsbildes. 55,31-32 Nicola Pisano] ital. Bildhauer und Architekt des 13. Jh. Zusammen mit seinem Sohn Giovanni Pisano brachte er die italienische mittelalterliche Plastik zur Reife und Blüte. 56,5-6 »Mon œuvre […] nom de Goethe«] So erläuterte Goethe kurz vor seinem Tod sein Werk dem Schweizer Privatgelehrten und Numismatiker Frédéric-Jacob Soret (1795-1865). 57,2-8 »Eine Stufe […] Selbstverständliches über ihnen steht«] Gustav Landauer, Die Revolution, S. 40. Die Idee der Gemeinschaft Der Aufsatz, der laut Bubers Aussage (vgl. seine Anmerkung zum Text) ursprünglich als Vortragstext intendiert war – ein Vortrag, der aber aus gesundheitlichen Gründen nicht gehalten wurde – erschien auf Hebräisch mit dem Titel Ha-raʿ jon ha-shitufi (»Die Idee der Gemeinschaft«) am Freitag, den 5. Januar 1945 in der sozialistisch-zionistischen Zeitung Davar (»Wort«). Die Zeitung, deren Namensgebung Chaim Nachman Bialik zugeschrieben wird, wurde von dem russischen Zionisten und Führer der jüdischen Arbeiterbewegung Berl Katznelson (1887-1944)

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und von dem Journalisten und Publizisten Moshe Beilinson (18891936) gegründet. Die erste Ausgabe erschien am 1. Juni 1925 mit dem Titel Davar – Iton Poʿ alei Eretz Jisraʾ el (Davar – Zeitung der Arbeiter des Landes Israel). Laut Katznelson sollte die Zeitung als Instrument der Arbeiterbewegung dienen und ein sozialistisches gesellschaftliches Projekt für das jüdische Gemeinwesen in Palästina fördern. Unter den regelmäßigen Beiträgern der Zeitung in den ersten Jahren seit ihrer Gründung findet sich auch Salman Schasar (1889-1974), der bereits an der von Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude mitgearbeitet hatte und später der dritte Präsident des Staates Israels werden sollte. Nach dem Tod Kaznelsons wurde Schasar 1944 zum Chefredakteur von Davar ernannt. Während der Zeit des britischen Mandats in Palästina, als die Mapai (Mifleget Poʿ alei Eretz Israel, Partei der Arbeiter des Eretz Israel) an der Spitze der Arbeiterbewegung stand und zur herrschenden Kraft in zionistischen Kreisen geworden war und die Histadrut (allgemeine Gewerkschaft) die hebräische Siedlungswirtschaft dominierte, hatte die Zeitung eine nachhaltige, breite Kreise erfassende Wirkung, diente als Sprachrohr der Jischuwführung und nahm für die Mapai-Politik einseitig Partei. Die Mapai orientierte sich entschieden an sozialdemokratischen Ideen, erteilte aber als gemäßigte Splittergruppe der marxistischzionistischen russischen Partei Poalei Tzion einer Regierung der Arbeiterklasse eine Absage. Die Zeitung gab außerdem viele Sonderbeilagen heraus, darunter Davar ha-Poelet (»Wort der Arbeiterin«), ein Blatt für die Frauen der Arbeiterbewegung, Ha-Mescheq ha-shitufi (»Die kooperative Wirtschaft«), Davar ha-schavuaʿ (Davar »Wort der Woche«). Der Akzent dieser besonderen Themen gewidmeten Beilagen sowie des Hauptblattes Davar lag auf der Arbeiterfrage, der Gestaltung neuer kollektiv-genossenschaftlicher Lebens- und Siedlungsformen und auf der Verwirklichung einer neuen, auf den Prinzipien des Sozialismus beruhenden jüdischen Gemeinschaft in Palästina. 1996 stellte die Zeitung ihr Erscheinen ein. Die Zeitspanne zwischen November 1944 und März 1945 wurde im Jischuw unter dem Namen The Hunting Season (»Die Jagdsaison«) bekannt. Darunter verstand man die militärische Aktion, die auf britischen Druck hin von der Hagana, der offiziellen jüdischen Selbstschutzorganisation des Jischuw, gegen die extrem zionistisch orientierte, paramilitärische Untergrundorganisation Irgun Zwaʿ i Leumi, deren Führer seit 1944 Menachem Begin (1913-1992) war, und gegen die als Abspaltung von der Irgun gegründete, ebenso radikal-zionistische, konspirative Bewegung Lechi (Lochamei Cherut Jisraʾ el, »Kämpfer für die Freiheit Israels«, nach ihrem Gründer Avraham Stern [1907-1942] auch

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»Stern-Bande« genannt) durchgeführt wurde. Beide Organisationen verübten terroristische Gewaltakte gegen die englischen Mandatsträger: etwa ein auf den britischen Hochkommissar Harold MacMichael (18821969) verübtes Attentat und die Ermordung des britischen NahostStaatsministers Walter Edward Guinness (Erster Baron Moyne; 18801944). Viele Mitglieder beider Organisationen – besonders der Irgun – wurden gefangen genommen und streng verhört, ihre Waffen wurden konfisziert. Bisweilen wurden sie auch der britischen Polizei übergeben. Da aber die Irgun auf einen breiteren Rückhalt in der jüdischen Bevölkerung zählen konnte als die extremistische Lechi, wurde diese Untergrundgruppe nicht völlig zerschlagen. Vor diesem politisch angespannten Hintergrund lässt sich Bubers nachdrückliches Beharren auf der Idee einer Gemeinschaft von Gleichberechtigten besser einordnen. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsidee, die anhand historischer europäischer Vorbilder thematisiert wird, indem das Augenmerk auf die Verwirklichung eines freien, auf der Verbindung von gemeinschaftlicher Produktion und gemeinschaftlichem Verbrauch basierenden Sozialismus gerichtet wird. In der Verwirklichung dieser gemeinschaftlichen Idee sieht Buber die Aufgabe des Jischuw. Textzeuge: D: Ha-rajon ha-schitufi, Davar vom 5. Januar 1945 (MBB 737). Druckvorlage: Übersetzung aus dem Hebräischen von Karin Neuburger. Wort- und Sacherläuterungen: 59,2-3 tat sich […] eine kleine Gruppe von armen Webern zusammen] Unter dem Einfluss des Frühsozialisten Robert Owen (1771-1858), des Initiators des Genossenschaftswesens, gründeten die Weber in Rochdale 1832 die Rochdale Friendly Co-operative Society. Ein Jahr darauf eröffneten sie einen Genossenschaftsladen, der zwei Jahre später geschlossen und am 21. Dezember 1844 von 28 Webern, die die Rochdale Society of Equitable Pioneers ins Leben riefen, wiedereröffnet wurde. Buber bezieht sich hier auf dieses Folgeereignis. Durch diesen Konsumverein und diese Ladengenossenschaft reagierten die »Redlichen Pioniere von Rochdale« auf die Industrialisierung und auf die damit verbundenen Versorgungsschwierigkeiten. 59,8 »Die verrückten Weber haben aufgemacht!«] Auf den Versuch der Weber reagierten die Mitbürger anfänglich mit Skepsis und Spott. 1849 zählte die Konsumgesellschaft jedoch 500 Mitglieder und bis 1864 war die Mitgliederzahl auf 5000 gestiegen.

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59,16 aus den Tagen der Anfänge der chartistischen Bewegung] Der Chartismus war eine 1838 in Großbritannien entstandene politische Reform- und Protestbewegung, die für eine Legalisierung der Gewerkschaften, bessere Arbeitsbedingungen (darunter eine Arbeitszeitverkürzung), Erweiterung des Wahlrechts und die Beschränkung der weiblichen Fabrikarbeit kämpfte. Die Bewegung war bis 1857 aktiv, erreichte aber nur einen Teil ihrer Ziele. 59,24-26 75 Jahre seit der Begründung des […] Verbraucherverbandes] Am 9. November 1769 gründete eine Gruppe von schottischen Webern in Fenwick, East Ayrshire, die erste Verbrauchergenossenschaft auf britischem Boden. 59,28 Begründung weiterer solcher Verbände in schottischen Städten] Das Gemeinschaftsprojekt der »redlichen Pioniere« verbreitete sich auch außerhalb Rochdales. Bis 1864 existierten in England und Schottland schon sechshundert Verbrauchergenossenschaften. 59,32-60,5 Robert Owens Idee […] synthetisch zu organisieren] Owens Vorschlag einer utopischen Gemeinschaft besteht in den von ihm entworfenen Villages of Unity and Mutual Cooperation, deren erste Pläne nach dem Vorbild von Charles Fouriers Phalansterium entwikkelt wurden. Diese Dörfer waren autarke landwirtschaftliche Genossenschaften, in denen die Arbeitslosen eine Beschäftigung finden konnten. Die Vorstufe dieser genossenschaftlichen Siedlungen war Owens Baumwollspinnerei in New Lanark (Schottland), in der er ein Experiment für menschenwürdigere Arbeitsbedingungen durchführte. Owen war überzeugt, dass diese kleineren Siedlungen dank der gemeinschaftlichen Arbeit eine rapide Verbreitung erleben würden. Der Erfolg blieb aber aus: Owen konnte kaum Kapital von der britischen Regierung erhalten, noch war er imstande, Unterstützung aus dem privaten Sektor zu finden. Ein Versuch in diesem Sinne, der aber bald scheiterte, war auch die Gründung seiner utopischen, genossenschaftlich konzipierten Kolonie New Harmony in den Vereinigten Staaten. Vgl. u. a. Franziska Bechtel, New Harmony: Das Experiment und sein Vermächtnis, Baden Baden 2018. 60,12-13 »unbegrenzter Zusammenarbeit […] gemeinschaftlichen Lebens«] Nicht nachgewiesen. 60,19 William Thompson] William Thompson (1775-1833): irischer Philosoph, Schriftsteller und Sozialreformer. Er ging zunächst vom Utilitarismus Jeremy Benthams aus und gelangte schließlich zu einer Kritik am Kapitalismus, die einen gewissen Einfluss auf die Genossenschafts-, die Gewerkschaftsbewegung und andere reformatorische Bewegungen – wie diejenige der Chartisten – sowie auf das Denken

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von Karl Marx ausübte. Er war der erste, der den Begriff »Sozialwissenschaft« (social science) in seinen Schriften benutzte. 60,22 Dr. William King] William King (1786-1865): britischer Arzt und Philanthrop. Er wird als einer der ersten Unterstützer der Genossenschaftsbewegung betrachtet. Ihm wird eine Erweiterung und eine praktische Ausführung von Owens genossenschaftlicher Idee zugeschrieben, indem er einen Genossenschaftsladen in Brighton eröffnete. Um seine genossenschaftlichen Ansichten weiter zu verbreiten, gründete King 1828 eine Zeitung, The Co-operator, die eine ziemlich große Bekanntheit erwarb und dazu beitrug, einen beträchtlichen Einfluss auf die entstehende Genossenschaftsbewegung auszuüben. 60,24 »Entlohnte Arbeit« (Labor Rewarded)] William Thompson, Labor Rewarded. The Claims of Labor and Capital Conciliated: or, How to Secure to Labor the Whole Products of Its Exertions, London 1827. 60,24-27 »Jeder Mensch ist […] wechselseitige Kooperation (mutual cooperation)«] »Every man for himself, is the basis of Individual Competition. Every man for every man (himself included) is the basis of Mutual Co-operation.« Ebd., S. 18. 60,36-41 »Hat sie genügend Kapital […] Gemeinde (community) tragen.«] »When the capital has accumulated sufficiently, the Society may purchase land, live upon it, cultivate it themselves, and produce any manufactures they please, and so provide for all their wants of food, clothing, and houses. The Society will then be called a Community.« Dr William King and the Co-operator 1828-1830, hrsg. von T. W. Mercer, Manchester 1922, S. 3. 61,2-6 »auf der Basis […] gemeinsame Interessen haben.«] Auf die Frage »How can they [the unocuppied of the working classes] be put into action?« erfolgt die Antwort: »By bringing them all into useful and profitable combinations, so as to create limited communities of individuals, on the principle of united labour and expenditure, having their basis in agriculture, and in which all should have mutual and common interests.« Robert Owen, A Catechism of the New View of Society and Three Addresses, in: ders., A New View of Society and Other Writings, London 1927, S. 170-223, hier S. 175. 61,38-62,2 »Die Gemeinschaft […] Siedlungen helfen.«] »That, as soon as practicable, this society shall proceed to arrange the powers of production, distribution, education, and government; or, in other words, to establish a self-supporting home-colony of united interests, or assist other societies in establishing such colonies.« Zitiert nach George

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Jacob Holyoake, The History of the Rochdale Pioneers, London 1882, S. 12. 62,10 Charles Gide] Charles Gide (1847-1932): franz. Nationalökonom und Vertreter der Genossenschaftsidee sowohl im Bereich der Agrarproduktion als auch in den im Einzelhandel tätigen Verbrauchergenossenschaften bzw. Konsumgenossenschaften. 62,11-12 »vielleicht das bedeutendste Phänomen […] Volkes selbst entstand«] Charles Gide, Les Sociétés Coopératives de consommation, Paris 1917, S. 24: »[On]n’hesitera pas à voir là un des phénomènes les plus remarquables de l’histoire économique. Cependant il passa tout à fait inaperçu des économistes d’alors, même de Stuart Mill. Le système coopératif n’est pas sorti du cerveau d’un savant ou d’un réformateur, mais des entrailles même du peuple.« 62,38-39 Der große italienische Patriot Mazzini] Giuseppe Mazzini (1805-1872); Patriot und Politiker des italienischen Risorgimento; engagiert in der Genossenschaftsbewegung. 62,40-41 »die kapitalistische Welt aus den Angeln zu heben«] Nicht nachgewiesen. 63,27 P. Naphtali] Peretz (Fritz) Naphtali (1888-1961): ein in Berlin geborener Kaufmann. Er war Mitglied der SPD und der Gewerkschaft. Als zionistischer Aktivist emigrierte er 1933 nach Palästina. In Israel hatte er für die sozialistische Mapai-Partei verschiedene Ministerämter inne. In der Weimarer Republik und in Palästina vertrat er die Idee der Wirtschaftsdemokratie, die zur Entstehung einer als Endziel konzipierten sozialistischen Gesellschaft beitragen sollte. Der Weg des gemeinschaftlichen Dorfes Vom Sonntag, den 8. April bis Dienstag, den 10. April 1945 veranstaltete Buber ein Symposium über das Dorf an der Hebräischen Universität. Darüber berichtet Schmuel Hugo Bergmann am 8. März 1945 in seinem Tagebuch, indem er sich auf die Einladung Bubers, an der Tagung teilzunehmen, bezieht: »Jetzt bin ich in einer Arbeit drin, die mir Buber aufgehalst hat. Er veranstaltet von der Universität aus, zusammen mit der Landwirtschaftszentrale, vom 8.-10. 4. ein Symposium über das Dorf. Und er bestand darauf, daß ich ein Referat übernehmen muß. Ich habe mich geweigert, aber als er sagte, dann werde er die ganze Sache fallen lassen, mußte ich doch zustimmen, und so werde ich über ein Thema sprechen, das ich ungefähr nennen werde ›Das Dorf und unsere nationale Renaissance‹.« (Bergmann, Tagebücher & Briefe, Bd. 1, S. 648.)

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Der Titel der Konferenz lautete Simposjon ʿ al demuto ha-chevratit schel ha-kefar ha-ʿ ivri be-erets jsraʾ el (Symposium über die soziale Gestalt des hebräischen Dorfes im Lande Israel). Im Mittelpunkt der Tagung standen die ländlichen kommunitären hebräischen Kollektivsiedlungen in Palästina und die genossenschaftlich organisierten Siedlungsformen, die ein breites Spektrum von gemeinschaftlichen Organisationsmodellen umfassten. Bezugspunkte der Diskussion waren die ältere Kewutza, sowie der daraus entstandene Kibbuz – dessen ideologische Forderungen auf Allgemeinbesitz fast aller Gebrauchsgüter und rigoroses Gemeinschaftsleben zielten – zudem der Moschaw, in dem Individuum, Familie und Privatbesitz eine größere Rolle spielten. Bubers Vortrag trägt den Titel Darkho shel ha-kefar ha-schitufi (»Der Weg des kooperativen Dorfes«), dessen ziemlich umfangreicher Text am Sonntag, den 20. Mai 1945 in der Zeitung Davar vollständig veröffentlicht wurde, wobei der Untertitel Hartsaʾ ah ba-sjmposjon ha-unjversjtah haʿ ivrit ʿ al demuto ha-chevratit schel ha-kefar ha-ʿ ivri be-erets jsraʾ el [Vortrag gehalten beim Symposium an der Hebräischen Universität über die soziale Gestalt des hebräischen Dorfes im Lande Israel] lautete. Im Rückgriff auf die Gemeinschaftsidee, die er schon vor dem Hintergrund der ersten kommunitären Experimente in Europa thematisiert hatte (vgl. oben »Die Idee der Gemeinschaft«, S. 61-66), entwickelt Buber seinen Gedankengang in Bezug auf die Pionierbewegung in ihren ersten Stadien. In dem landwirtschaftlichen Pionierideal (chalutziut) der zionistischen Gründungsväter und der zweiten Einwanderungswelle sieht er das leuchtende Vorbild für die Verflechtung des sozialistisch-genossenschaftlichen und des national-zionistischen Ideals, mittels derer das soziale Gemeinschaftsideal in die hebräische Nationalidee eindringen könne. Aus dieser Verschmelzung resultiere die soziale Konfiguration des gemeinschaftlichen Dorfes, das sich der Ansicht Bubers nach von den anderen sozialen Versuchen in der abendländischen Welt wesentlich unterscheidet und dem er die Aufgabe zuschreibt, den Menschen zum wahren Gemeinschaftsleben zu führen und konstruktiv bzw. strukturbildend auf die umgebende, auch städtische Gesellschaft zu wirken. In denjenigen landwirtschaftlichen Pionieren, die die ersten Moschawim (Genossenschaftssiedlungen) gründeten, indem sie Gemeinschaft und Gleichheit nicht so hartnäckig anstrebten und Privateigentum nicht völlig ablehnten, sieht Buber bloß halbindividualistische Genossenschaftsversuche und eine Strukturschwäche der Siedlungsbewegung, während er die Kibbuzbewegung als einzigartige Verbindung von gemeinschaftlichem Sozialismus, kollektiver Organisierung des täglichen Lebens und Freiheit betrachtet, die am besten dazu geeignet sei, den ur-

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sprünglichen Pioniergeist zu verkörpern. Diese Kollektivsiedlungen kennen aber laut Buber auch Rückschritte: Das Eindringen des kollektiven Materialismus und die zunehmend marxistische Positionierung der Kibbuzbewegung versteht Buber als Verknöcherung des anfänglichen Pionierideals, das sich auf den Aufbau neuer, herrschaftsfreier sozialer Beziehungen fokussierte, und als Höhepunkt dieser negativen Entwicklung. Deswegen bezeichnet Buber das Experiment der jüdischen Gemeinschaftssiedlungen in Palästina als »beispielhaftes Nicht-Scheitern« (in diesem Band, S. 68). In einer Renaissance des dynamischen, solidarischen Pioniergeistes der Anfangszeit sieht er die nicht utopische, sondern reale Möglichkeit für das hebräische Dorf, »in einer Epoche der allgemeinen Verschlossenheit […] Pionier einer neuen Epoche zu sein.« (In diesem Band, S. 72.) Textzeugen: D1: Darko schel ha-kfar ha-schitufi, Davar vom 17. u. 20. Mai 1945 (MBB 729). D2: in: Li-dmuto ha-chevratit schel ha-kfar ha-ivri be-eretz-Israel, Jerusalem: Ha-universita ha-ivrit durch Massada 1946, S. 48-57 (MBB 754). D3: in: Buber, Teʿ uda we-jiʿ ud, 2. Bd.: Am weʾ olam. Maʾ amarim al injane ha-schaʿ a, Jerusalem: Ha-sifrija ha-zionit, S. 82-91 (MBB 1182). Druckvorlage: Übersetzung von D1 aus dem Hebräischen von Karin Neuburger. Wort- und Sacherläuterungen: 65,18-19 Althusius […] consociatio consociationum] Johannes Althusius (1563-1638): in Emden tätiger, calvinistischer Rechtsgelehrter und Staatstheoretiker. In seinem bekanntesten Werk, der Politica Methodice Digesta (1603), entwickelt er eine frühe föderative Staatstheorie, die von einem dialektischen Verhältnis zwischen Einheit und Mehrheit (consociatio consociationum) gekennzeichnet ist. Daraus resultiert eine gemeinschaftszentrierte Lehre, nach der die allgemeine Vergemeinschaftung (consociatio) von der Familie bis zum Staat graduell abgestuft wird. 66,12 communitas communitatum] Dieser Begriff mittelalterlicher Herkunft wird in Bezug auf das Gemeinschaftsleben verwendet und wirkt noch im Denken Althusius’ – dem Begriff der consociatio consociationum nah verwandt – und Edmund Burkes (1729-1797) nach. Buber macht von dieser Wendung in der Abhandlung Pfade in Uto-

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pia Gebrauch, indem er Israel als communitas communitatum, d. h. als föderativen Zusammenschluss sozialer Erfahrungen utopisch konzipiert, vgl. in diesem Band, S. 156. 67,21 bei den Duchoborzen in Kanada] Die Duchoborzen sind eine wahrscheinlich im 18. Jahrhundert entstandene christliche Gemeinschaft, die aus Russland stammt und sich von der russisch-orthodoxen Kirche abgespalten hat. Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Duchoborzen von der russischen Regierung diskriminiert und sogar vertrieben. Viele von ihnen wanderten nach Kanada oder in die USA aus. Die Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft lehnen die göttliche Inspiration der Bibel, die göttliche Natur Jesu und die Ikonenverehrung der orthodoxen Kirche ab. 69,22 die Erinnerung an den russischen Ertil] Die Stadt Ertil im südwestlichen Russland wurde 1897 als Kommunensiedlung um eine Zuckerfabrik gegründet. Erst 1963 wurde ihr das Stadtrecht verliehen. 69,38 Shlomo Lavi] Shlomo Lavi (1882-1963): zionistischer Politiker und Aktivist, der im Rahmen der zweiten jüdischen Einwanderungswelle (1904-1914) 1905 nach Palästina emigrierte. Er war ein enger Freund David Ben Gurions und ein Veteran der Kibbuzbewegung. Er wird sogar als Initiator der Kibbuzidee, der statt der kleineren Kewuza konzipierten erweiterten gemeinschaftlichen Siedlung, betrachtet. Er gilt auch als einer der prominentesten Ideologen der zionistischen Bewegung, als Mitbegründer der Histadrut und der Mapai-Partei. 69,39-70,6 »Wir beobachten […] Schranken setzten«] Nicht nachgewiesen. 72,34 Lilia Basewitz] Lilia Basewitz-Cohen (1900-1990): sozialistischzionistisch orientierte Führerin der Arbeiterbewegung im Jischuw und im Staat Israel. Sie setzte sich mit der Erziehung und der Stellung der Frau im jüdischen Jischuw, insbesondere in der Kibbuzbewegung, intensiv auseinander. 72,34-36 »Was ist zu tun […] P i o n i e r h a f t i g k e i t « ] Nicht nachgewiesen. 73,6 »herrliches Ein-Harod«] Ein Harod (»Quelle Harod«) ist der Name eines der ersten Kibbuzim. Die Siedlung wurde 1921 von russischen sozialistischen Pionieren des sozialistisch-zionistischen Gdud ha-avoda we ha-hagana ʿ al schem Josef Trumpeldor (»Arbeits- und Verteidigungsbataillon Josef Trumpeldor«) während der dritten Einwanderungswelle gegründet. 75,1-2 Kadish Luz] (1895-1972): aus Russland stammender, 1920 nach

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Über die große Krise

Palästina eingewanderter Agronom, der sich im Kibbuz Degania B niederließ; zionistischer Politiker des sozialdemokratischen Flügels; 1955-1959 Landwirtschaftsminister, 1959-1969 Sprecher der Knesset. 75,29 der Anthologie »Der Kibbuz und die Kwutza«] Es handelt sich um die 1939 von Berl Katznelson herausgegebene Anthologie Ha-Kibbutz we ha-Kewutza. Jalqut la-berur scheʾ elat ha-jichud (»Der Kibbuz und die Kewuza. Eine Anthologie zur Klärung der Vereinigungsfrage«), wobei die zwei Siedlungsformen thematisiert und verglichen werden. Das Buch wurde vom Exekutivkomitee (Waʿ ad ha-Poʿ el) der Histadrut ha-kelalit schel ha-ʿ ovdim ha-ivrim be-eretz Jisraʾ el (»Allgemeine Gewerkschaft der jüdischen Arbeiter im Lande Israel«) veröffentlicht. 75,30 sein Andenken sei gesegnet] Berl Katznelson starb an einem Aneurysma am 12. August 1944 in Jerusalem. 76,10 Josef Baratz’ Feststellung] Josef Baratz (1890-1968) schloss sich früh der osteuropäischen sozialistisch-zionistischen Organisation Tseire-Tsjion (»Die Jungen von Zion«) an und wanderte im Alter von 16 Jahren allein nach Palästina ein. Er war ein eifriger Zionist, trat der Ha-Poʾ el ha-Tsaʾ ir-Bewegung bei, war in der Selbstschutzorganisation Hagana aktiv und trug zur Gründung der Agudah lemaʾ an hechajjal (Vereinigung für das Wohlergehen des Soldaten) und der Histadrut bei. 77,Anm 2 »Warum muss der Aufbau des Landes Israel ein sozialistischer sein«] Es handelt sich um einen bei der Gründungskonferenz der »Liga für das arbeitende Palästina in Deutschland« (Berlin, 29.-30. Dezember 1928) von Buber gehaltenen Vortrag (vgl. MBW 11.1, S. 324-332), worin »das Problem der Kwuzah« (ebd., S. 326) bereits behandelt wird. 77,Anm 2 in meinem deutschsprachigen Buch »Kampf um Israel« aus dem Jahr 1933] Es handelt sich um den Sammelband Kampf um Israel. Reden und Schriften (1921-1932), Berlin: Schocken Verlag 1933; Bubers Stellenhinweis jetzt in MBW 11.1, S. 328-330. 77,32-80,5 »Könnte ich in diesem Lande […] zu gewinnen.«] Nicht nachgewiesen. Über die große Krise Wie Buber selbst bemerkt (vgl. die Anmerkung zum Text, S. 81), entstand dieser Text aus einem Radiovortrag, der innerhalb einer »Die Welt nach dem Krieg« betitelten Reihe von Radiosendungen gehalten wurde.

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Der Vortragstext wurde mit der Genehmigung der Sendestation unter dem Titel Al ha-maschber ha-gadol (»Über die große Krise«) am 28. Juni 1945 in der Zeitung Davar veröffentlicht. Mit Radio-Vorträgen war Buber schon seit einigen Jahren vertraut. Bereits 1939 hatte er Vorträge im hebräischen Rundfunk gehalten, die dann in der Tageszeitung Ha-aretz erschienen waren. In diesen Jahren gewann die Gattung bzw. das Medium Radiovortrag im jüdischen Jischuw besonders unter den deutschsprachigen jüdischen Einwanderern an Stärke und Bedeutung. Davon zeugt auch die am 9. Juni 1945 erfolgte Ernennung Schmuel Hugo Bergmanns, der seinerseits im selben Jahr zwei Radio-Reden gehalten hatte, zum Mitglied einer Kommission der Hebräischen Universität fürs Radio, woran er die Hoffnung knüpft »auch außerhalb des Rahmens der Universität das Radioprogramm in Bezug auf die Erwachsenen-Bildung zu begutachten.« (Vgl. Bergmann, Tagebücher & Briefe, Bd. 1, S. 657). In Zusammenhang mit dem Thema der Radiosendungen ist der Text Bubers im Hinblick auf die Weltlage der Nachkriegszeit zu kontextualisieren. Am 22. Juni 1945, d. h. sechs Tage vor der Veröffentlichung des Artikels Bubers, hatten die Amerikaner die Schlacht um Okinawa gewonnen, was das Ende des organisierten japanischen Widerstands markierte, während die deutschen Truppen vor den Alliierten und der Sowjetunion bereits am 7. und am 8. Mai desselben Jahres bedingungslos kapituliert hatten. Überdies war 1945 auch das Jahr, in dem die Vernichtung der Juden Europas in ihrem ganzen Ausmaß der Öffentlichkeit bewusst wurde. Gleichzeitig erhielt auch das Nahostproblem eine noch ausgeprägtere Brisanz: Im Jischuw griffen die national-militärischen Untergrundorganisationen mit gegen die Briten und die Araber gerichteten Aktionen wieder zu den Waffen, um die Einwanderungsbeschränkungen für die Juden aufzuheben und das 1939 erlassene britische MacDonald-Weißbuch zu annullieren. All das sollte zum Anglo-Amerikanischen Untersuchungskomitee (Anglo-American Committee of Inquiry) führen. Die Kommission wurde am 13. November 1945 vom britischen Außenminister Ernest Bevin (1881-1951) und vom US-Präsidenten Harry Truman (1884-1972) einberufen, um den Konflikt zwischen Juden und Arabern im Mandatsgebiet zu lösen, das Ende der Mandatsregierung festzusetzen und das Problem der Einwanderung der jüdischen Überlebenden aus Europa in Angriff zu nehmen. Buber erschien vor der Kommission am 14. März 1946 als Sprecher des am 11. August 1942 von Judah Magnes, Robert Weltsch und Buber gegründeten Ichud (»Einheit«)-Verbands: Er befürwortet eine binationale Lösung des Konflikts auf dem Wege der Vereinigung des jüdischen und des arabischen Volkes. Ausgehend von dieser internationalen Lage ist

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der kulturpessimistische und zivilisationskritische Ton dieses Textes zu verstehen, der u. a. an die frühe Beschäftigung Bubers mit Nietzsches Zivilisationskritik und mit dessen Naturbegriff erinnert und in dem die Auflösung der Gemeinschaft als Folge des ständigen Überhandnehmens der Technik, der positivistischen Entzauberung der Wirklichkeit und des Eindringens eines politischen, zentralistischen Staatsprinzips in totalitären bzw. demokratischen Ausformungen im Mittelpunkt steht. Diese Krise kann der Mensch – so Buber mit utopischem Akzent – nur durch das Wiedererlangen der zwischenmenschlichen Dimension (vgl. oben, S. 86) bewältigen, »auf der Basis des starken Willens der Menschenvölker, die Wirtschaft dieses Planeten gemeinschaftlich zu verwalten und ihn zu wahrem Menschenland zu machen.« (Ebd.) Textzeugen: D1: Al ha-maschber ha-gadol, Davar vom 20. Juli 1945 (MBB 736). D2: in: Buber, Teʿ uda we-jiʿ ud, 2. Bd.: Am weʾ olam. Maʾ amarim al injane ha-schaʿ a, Jerusalem: Ha-sifrija ha-zionit, S. 80-81 (MBB 1182). Druckvorlage: Übersetzung aus dem Hebräischen von Karin Neuburger. The Crisis and the Truth Der kurze Artikel erschien im September 1945 in der Zeitschrift The Australian Jewish Review. Wahrscheinlich wurde er verfasst, nachdem am 2. September mit der Kapitulation Japans der Zweite Weltkrieg offiziell beendet wurde. Die Monatsschrift, in der der Artikel Bubers erschien, wurde von 1940 bis 1950 als Zeitschrift der Temple Beth Israel Liberal Congregation von Rabbi Dr. Hermann Sanger und Rabbi Max Schenk herausgegeben. Seit 1930 förderte die Temple Beth Israel Liberal Congregation eine progressiv gesinnte, zeitgemäße Anschauung des jüdischen Lebens in Melbourne. The Australian Jewish Review verlieh vor allem der jüdischen Diaspora Ausdruck und besaß keine palästinazentrische Ausrichtung, indem sie eine alljüdische Politik über Palästina hinaus befürwortete. Auch Stimmen, die für ein jüdisches, nationales Heimatland außerhalb Palästinas plädierten, fanden in dieser Zeitschrift eine Plattform. Hierzu ist z. B. die in Wien geborene und nach Australien übersiedelte Journalistin Caroline Isaacson (1900-1962) zu zählen, die mit der Australian Jewish Review eng verbunden war und für das Alternativprogramm des jüdischen Territorialismus eintrat. Insbesondere war sie eine eifrige Anhängerin der Freeland League for Jewish

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Territorial Colonization und verteidigte deren Suche nach einem alternativen jüdisch-nationalen Heimatland in der Region Kimberley und in Tasmanien. Aus diesem Kontext lässt sich der alljüdische, »internationale« und allgemein politisch-philosophische Ton dieses kurzen Aufsatzes Bubers verstehen. Er spricht hier das ganze Judentum an, für das die zionistische Siedlung in Palästina und die international gesinnten Diasporagemeinden eine große, universale Einheit bilden. Zu diesem Zweck weist er oft auf das gemeinsame biblisch-hebräische Erbe hin. Buber fasst dabei eindringlich die Widersprüche zusammen, derentwegen das Judentum als historisch-religiöses Sozialsystem in eine Krise geraten ist. Gleichzeitig zeigt er den Ausgang aus dem Stillstand, indem er auf einige seiner in diesen Jahren oft rekurrierenden Begriffe, wie z. B. den Unterschied zwischen dem abendländisch-griechischen (aletheia) und dem hebräischen Wahrheitsbegriff (emet), hinweist. Es handelt sich um eine epistemische Diskrepanz, mit der sich Buber auch später beschäftigen wird, z. B. in der fünf Jahre darauf veröffentlichten, um die unterschiedlichen Begriffe von christlicher pistis und jüdischer emuna kreisende Schrift Zwei Glaubensweisen (1950, jetzt in: MBW 9, S. 202-312). Diesen jüdisch gemeinten und zugleich innerweltlichen Wahrheitsbegriff hatte Buber schon in seinen Schriften zur Bibelverdeutschung behandelt. (Vgl. u. a. »Über die Wortwahl in einer Verdeutschung der Schrift«, in: Martin Buber u. Franz Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin: Schocken Verlag 1936, S. 135-167, jetzt in: MBW 14, S. 68-85 und »Zur Verdeutschung der Preisungen«, in: Martin Buber u. Franz Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, S. 168-183, jetzt in: MBW 14, S. 86-94.) Zu demselben Wahrheitsbegriff im Spannungsverhältnis zum entgegengesetzten Begriff der Lüge kehrt Buber in den 1952 veröffentlichten Bildern von Gut und Böse (Köln: Jakob Hegner 1952, jetzt in: MBW 12, S. 315-358) zurück. Textzeugen: H1: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var 350 05 54); 1 Blatt; doppelseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit mehreren Korrekturen versehen. Es handelt sich um einen Entwurf in deutscher Sprache, der im Anschluss wiedergegeben wird. H2: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var 350 05 54); 2 lose paginierter Blätter; einseitig beschrieben mit blauer Tinte. Enthält den Text der englischen Übersetzung. D: The Australian Jewish Review, VI/7, September 1945, S. 3 (MBB 715). Druckvorlage: D

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Reproduktion des deutschsprachigen Entwurfs von H : 1

Die Menschenwelt steht im Anbruch einer grossen Krisis. Wir sehen nur ihre äusseren Zeichen, und sie sind so [furchterregend] ! [grausam] ! grässlich, dass unsere Blicke zumeist an ihnen haften bleiben und sich nicht ins Innre vorwagen. Dort, im Innern, haust das Grässlichste: der Mensch ohne Wahrheit. Ich meine damit nicht den [Menschen, der sich der Lüge ergeben hat] ! Lügner, sondern den Menschen, der [nicht mehr zu glauben vermag] ! dem Glauben abgesagt hat, dass es eine Wahrheit gibt. All seine Ruchlosigkeit kommt daher, dass er über seinem Haupte keine Wahrheit mehr stehen sieht, an der [sein Denken und] seine Existenz gemessen, geprüft und gesichtet wird. [Die »jüdische Erfindung«, die] ! Was wir Gewissen nennen und was Hitler als eine jüdische Erfindung bezeichnet haben soll, verliert seinen Bestand, wo auf die uralte Frage, was Wahrheit sei, die Antwort gegeben [und angenommen] wird: »Was mir anderen einzureden gelingt.« Aber nicht sicher vor diesem Gift der Gifte darf sich der fühlen, der nur deshalb meinen kann, an die Wahrheit zu glauben, weil er die Frage nicht fragt. Die Krisis breitet sich über die Welt des Menschen. Das Licht weicht von uns, und es ist keine Verfinsterung, deren Ablauf wir berechnen können, sondern denen, die sich nichts vortäuschen, ist zu Mut, wie es nach der Erzählung der Aggada Adam und Eva nach dem Fall zu Mute war, als [nach ihrer Sünde] die Sonne zum erstenmal unterging und sie nicht wussten, ob sie wiederkehren würde. Hat in dieser Stunde der Rest Israels, der in der Katastrophe der Judenheit bewahrt gebliebene Rest etwas einzusetzen, etwas Helfendes, Rettendes? Oder steht es so, dass wir nur noch daran denken dürfen, unsre eigne Gemeinschaft vor dem Untergang zu retten? Dieses hängt an jenem. Als Helfern wird uns geholfen werden. Was wir einzusetzen, was wir dem Wirrsal der Stunde entgegenzusetzen haben, ist der israelitische, der biblische Wahrheitsbegriff. Der in der modernen Zivilisation herrschende Wahrheitsbegriff, der aus dem griechischen hervorgegangen ist, bedeutet [die Feststellung und Kundgebung des wirklichen Sachverhalts. Der biblische Begriff hat einen ganz anderen Sinn: er bedeutet das] ! den wirklichen Sachverhalt, seine Erkenntnis und Anerkennung. Der biblische Begriff »emeth« hat einen ganz anderen Sinn: er bedeutet das Beständige, das Festbleibende, das Zuverlässige, und zwar nicht als etwas, was man erkennt und anerkennt, sondern als etwas, was man tut und was man ist. Wahrheit ist eine Sache des Seins und des Lebens. Sie vollzieht sich zwischen den Wesen. Sie geschieht in der Welt. Sie soll in der Welt geschehn. Auf den

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biblischen Begriff der Wahrheit zurückzugehn heisst lehren: Über euren Häuptern ist Wahrheit und Eine für alle – aber [ihr könnt sie nicht erfahren, indem ihr zu ihr aufschaut, sondern nur, indem] ! sie tritt in eure Welt erst ein, wenn ihr sie tut, jeder die seine, wenn ihr beständig und zuverlässig mit den Wesen lebt; dann geschieht sie, dann erfahrt ihr sie als eure eigne, menschliche Wahrheit. Ein nachbiblischer Spruch sagt es noch deutlicher: »Die Wahrheit ist [Gott] ! das Siegel Gottes«, sagt er. Wenn sie das ist, [dann sind wir das Wachs, in das er sein Siegel presst] wo ist das vielfarbige Wachs, in das er sein Siegel presst? Gut sein heisst willig und bereit sein wie Wachs. Die jüdische Erfindung »Gewissen« ist das [lebendige] Wissen, wann Eintracht zwischen dem Siegel und uns ist und wann nicht. Wenn der Mensch sich der siegelnden Hand entzieht, weicht sie, weicht das Licht von unsrer Welt. Aber das ist nicht eine Lehre, der das Wort genug tut. Mit dem Leben will sie gelehrt werden. Und auch mit ihm kann sie kein Einzelner lehren. Erst wenn das Volk der Bibel – erst wenn der Rest Israels, in dem trotz allem das Volk der Bibel fortlebt, in seinem ganzen Gemeinschaftsleben, ausgestreckt über alle Diaspora, eingesammelt und verdichtet auf Zion, die Form des Gottessiegels aufnimmt und aufzeigt, wird der biblische Wahrheitsbegriff der Welt kundgetan werden, »zu einer grossen Errettung« (Genesis 45,7). Das ist von der Wahrnehmung der grossen Krisis ausgesagt, also als etwas, womit eben jetzt begonnen werden soll und kann. Wie kann damit begonnen werden? Als Israel in die Wüste Sinai kommt, fordert Gott es als ein Ganzes auf, zu einem »heiligen Volk« zu werden; als er ihm aber dann die Volksverfassung, die zehn Gebote gibt, spricht er auch jeden Einzelnen an; er spricht das Volk an, indem er jeden Einzelnen anspricht. Man kann nirgendwo wahrhaft beginnen als bei sich selbst. Variantenapparat: 85,27 the real state] [the actual facts,] the real state H2 85,11 living community] communal life H2 Wort- und Sacherläuterungen: 85,10 what Hitler, as they say, had called a Jewish invention] Buber bezieht sich auf das vom Politiker und Faschismustheoretiker Hermann Rauschning verfasste, 1939 ursprünglich auf Französisch erschienene Buch Gespräche mit Hitler, das vermeintliche Gespräche des Autors mit Hitler in den Jahren 1932-1934 wiedergeben soll. Darin kommt die bekannte Aussage Hitlers vor, wonach »das Gewissen eine jüdische Erfindung« sei. Vgl. Hermann Rauschning, Gespräche mit

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Hitler, Zürich u. a. 1940, S. 210. Später stellten sich die Hitler zugeschriebenen Aussagen größtenteils als erfunden heraus. Vgl. auch den einleitenden Kommentar zu »Volk und Führer«, in diesem Band, S. 590 u. Wort- und Sacherläuterungen zu 288,Anm. 85,15-16 it is not an eclipse the course of which we could calculate] Um den Begriff der Eklipse bzw. Finsternis mit philosophischen, soziologischen und theologischen Implikationen kreist die Reflexion Bubers in den Nachkriegsjahren immer wieder. Die begriffliche Vertiefung dieses Gedankengangs führt einige Jahre danach zur Veröffentlichung des Buches Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie (Zürich: Manesse Verlag 1953, jetzt in: MBW 12, S. 359-444), in dem Buber die Gottesfinsternis in der Trennung der Objekte theologischer und philosophischer Reflexion sieht und darauf reagiert, indem er versucht, ein angemessenes Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie wiederherzustellen. 85,17-18 sinful Adam and Eve […] light would come back] Buber bezieht sich auf jene nachbiblische, haggadische Talmud- und Midraschauslegung der Schrift, die das Wechselverhältnis zwischen Sonnenuntergang, Finsternis und neuem, heraufkommendem Licht behandelt. Die Quellen sind hier insbesondere der babylonische Talmud (bAS 8a) und der große Midrasch zu Genesis, der das ganze Buch gründlich durchgeht, besonders was die Schöpfungsgeschichte betrifft (Midrasch Bereschit Rabba BerR XII,6). 85,19 the remnant of Israel] Buber bezieht sich hier auf das biblische Bild des »Rests Israels«, der Entronnenen des Hauses Jakobs, dessen Großteil wegen seines Unglaubens verworfen wird. Aus diesem Rest Israels, von dem in vielen Weissagungen der Propheten gesprochen wird (vgl. Jes 10,20-22; Jer 6,9; 31,7; Ez 11,13), werden ein neuer Glaube und ein neuer erlösender Bund kommen. 85,28-29 »emeth« […] means the steady, the durable, the solid] Statt eine Übereinstimmung mit dem traditionellen Begriff des Wahren auszudrücken, nähert sich das herkömmlich mit dem Wahrheitsbegriff verbundene hebräische Wort emet vielmehr dem Wortfeld von »Festigkeit«, »Beständigkeit«, »Standhaftigkeit« und »Treue«. In seinen Schriften zur Verdeutschung der Bibel hatte Buber die semantische Nähe von emet zu emuna (wiederum »Treue«, »Standhaftigkeit«, »Beständigkeit«, gewöhnlich durch das Wort »Glauben« übersetzt) betont: »Emet mehr objektiv, emuna mehr subjektiv betrachtet, wie denn auch das Verb aman fast durchweg durch ›vertrauen‹ eher als durch ›glauben‹ (ein herrliches, aber theologiebeladenes Wort) zu

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erfassen ist.« (Martin Buber, Über die Wortwahl in einer Verdeutschung der Schrift, jetzt in: MBW 14, S. 68-85, hier S. 79.) Das Wort emet bezeichne daher keine absolute, weltfremde, transzendente Wahrheit, sondern vielmehr eine Wahrheit des »Sich Verlassens«, eine im Spannungsfeld zwischen »Treue « und »Vertrauen« oszillierende Zuverlässigkeit oder, anders gesagt, eine zwischenmenschliche Wahrheit, die auf einer »Gewißheit zwischen Wesen und Wesen« (ebd.) beruhe. Die Einleitungsschrift zur Verdeutschung der Psalmen erläutert die Idee Bubers näher: »Emet […] bezeichnet die Zuverlässigkeit schlechthin, auch die ganz innere, und kann, wie das stammeszugehörige emuna, nur vom Wortstamm ›trau‹ aus einheitlich erfaßt werden; emet ist wesentlich die Treue, und emuna kommt ihm oft so nah, daß es da nicht wie sonst durch ›Vertrauen‹, sondern ausnahmsweise (ich habe hier lange aber vergeblich zu widerstreben versucht) durch das gleiche Wort ›Treue‹ wiedergegeben werden muß.« Martin Buber, Zur Verdeutschung der Preisungen, S. 175. (Jetzt in: MBW 14, S. 89 f.) 85,37-38 »Truth is the seal of God.«] Dieser Spruch kommt in verschiedenen talmudischen Traktaten und in anderen nachbiblischen Schriften vor (bShab 55a; bSan 24a, 92a; Tosefta Baba Kamma 7,8; bChul 94a, bPes 113b, bAv 1,18). 86,7-8 »to a great deliverance«] »Aber Gott hat mich vor euch hergesandt, daß er euch übrig behalte auf Erden und euer Leben errette durch eine große Errettung.« (Gen 45,7.) In der Buber-Rosenzweigschen Schriftübertragung lautet der Vers wie folgt: »Gott hat mich vor euch ausgesandt, euch ein Überbleiben auf Erden zu bereiten, euch am Leben zu halten, zu großer Errettung.« 86,15-16 a »holy people«] Buber bezieht sich hier auf Ex 19,6: »Und ihr sollt mir ein priesterlich Königreich und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Kindern Israel sagen sollst.« Denselben Vers übersetzen Buber und Rosenzweig wie folgt: »Ihr aber, ihr sollt mir werden ein Königsbereich von Priestern, ein heiliger Stamm. Dies ist die Rede, die du zu den Söhnen Jissraels reden sollst.« 86,16-17 »when they were given their national constitution, the Ten Commandments«] Es wird hier auf Ex 20 (besonders die Verse 7-17) bzw. auf Dtn 5 (besonders die Verse 6-21) – d. h. auf Moses’ Empfang der zehn Gebote auf dem Berg Sinai – Bezug genommen.

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Individualismus und Kollektivismus Dieser Vortrag wurde laut der dem Typoskript vorangestellten Notiz im Haus des Psychotherapeuthen Hans Trüb in Zürich (Schmelzbergstr. 28) am 7. Juli 1947 gehalten. Es handelt sich hierbei um den ersten öffentlichen Auftritt Bubers im deutschsprachigen Raum nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. 1947 befand sich Buber am Ende einer sehr ausgedehnten Europareise, bei der er mehr als sechzig Vorträge hielt und sechs Länder außer der Schweiz bereiste (Frankreich, England, Niederlande, Schweden, Belgien, Dänemark. Vgl. Bourel, Martin Buber, S. 552554). Von der Universität Paris Sorbonne war er zu Jahresbeginn 1947 eingeladen worden und hielt dort ab dem 20. Mai 1947 mehrere Vorträge. Mit Hans Trüb war Buber seit 1923 befreundet. Im Rahmen seiner Vorträge in Zürich Ende 1923 (vgl. den Kommentar zu »Martin BuberAbende« in MBW 11.1., S. 507) war er von diesem eingeladen worden, einen Vortrag zu halten, der erst in Nachlese 1965 (»Von der Verseelung der Welt«; jetzt in: MBW 10, S. 29-36) publiziert wurde. Unter dem Einfluss Bubers wandte sich Hans Trüb von der tiefenpsychologischen Methode C. G. Jungs ab und entwickelte eine eigene Heilmethode, die von Bubers dialogischem Denken inspiriert war. (Vgl. Judith Buber Agassi, Einleitung, in: MBW 10, S. 13-18.) Zu Trübs postum erschienenem Werk Heilung aus der Begegnung. Eine Auseinandersetzung mit der Psychologie C. G. Jungs (1952) verfasste Buber ein »Geleitwort«, das auch unabhängig davon als »Heilung aus der Begegnung« veröffentlicht wurde (jetzt in: MBW 10, S. 54-58). Anscheinend hatte Hans Trüb an eine andere Thematik für den Vortrag gedacht. Buber schreibt ihm nämlich am 13. Mai 1947, dass er dessen Vorschlag, »für die ›Arbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung des Antisemitismus‹ einen Vortrag zu halten, […] leider nicht annehmen [könne], da ich von je gegen die Beteiligung von Juden an Organisationen zur Bekämpfung des Antisemitismus bin, nie für eine von ihnen […] etwas getan habe und diese Haltung auch jetzt zu ändern nicht imstande bin.« (B III, S. 137 f.) Stattdessen reflektiert Buber in diesem Vortrag seine Eindrücke von Europa und wie und mit welchem Anliegen er wieder seine Stimme in der Öffentlichkeit hörbar machen kann. Textzeuge: TS: Typoskript MBA (Arc. Ms. Var 350 47 c1); 19 lose Blätter; einseitig beschrieben; mit wenigen handschriftlichen Korrekturen Bubers versehen, die vereinzelte Tippfehler betreffen.

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Druckvorlage: TS Wort- und Sacherläuterungen: 87,7 Hans Trüb] schweiz. Arzt und Psychotherapeut, leitete ab 1920 den Psychologischen Club in Zürich, der C. G. Jungs Version der Psychoanalyse propagierte. Vgl. auch die Einleitung zu diesem Text. 87,30-31 nicht […] die Schweiz, und nicht […] Schweden] da beide Länder im Zweiten Weltkrieg neutral bleiben konnten, waren sie weniger von Kriegsschäden betroffen. 88,10-11 eigentliche offizielle Vortragsreihe] Vermutlich bezieht sich Buber hier auf die Einladung durch die Universität Sorbonne. Er sollte dabei die Unterstützung der französischen Juden für die Hebräische Universität einwerben und Kontakte zwischen der Hebräischen Universität und der Sorbonne knüpfen helfen. Vgl. Bourel, Martin Buber, S. 552 f. 88,39 in Holland] In Holland hielt Buber bei den Woodbrookers, einer holländischen ökumenischen Vereinigung in Bentveld, Vorträge, die die Grundlage für Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre bilden. (Den Haag: Pulvis Viarum 1948; jetzt in: MBW 17, S. 233-250). Vgl. den Kommentar in MBW 17, S. 493, der auch den Hinweis enthält, dass Buber diese Vorträge auf dieser Reise in der Schweiz hielt. 89,2 in E n g l a n d ] Hier hielt Buber unter anderem die Rede »Der Geist Israels und die Welt von heute« (deutsch: in: An der Wende. Reden über das Judentum, Köln u. Olten: Jakob Hegner 1952, S. 13-33; jetzt in: MBW 20, S. 321-328) bei einer Zusammenkunft, die von dem Council for Christians and Jews unter dem Vorsitz des Deans der St. Paul’s Cathedral veranstaltet wurde. Daneben war er an einer politischen Diskussion beteiligt, die am 12. Juli 1947 in Picture Post, Bd. 36, Heft 2, S. 22-25, unter dem Titel »Palestine: Can deadlock be broken?« erschien (jetzt in: MBW 21). 89,5-6 Bücher von mir, Bücher, die es in Deutschland zum Teil noch gar nicht gibt] Es erschienen in England 1946 Moses (dt. 1948) und 1947 Between Man and Man, in dem neben früheren dialogischen Schriften Das Problem des Menschen enthalten ist, offenkundig vor dem deutschen Druck im Sammelband Dialogisches Leben. Buber denkt vielleicht auch an amerikanische Ausgaben: For the Sake of Heaven erschien 1946 (dt. Gog und Magog 1949). Bei Schocken in New York erschien 1947 der erste Teil der Tales of the Hasidim, 1948 folgte der zweite, die deutsche Ausgabe Erzählungen der Chassidim wurde erst 1949 publiziert.

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89,24-25 dem Land, […] verbunden gewesen bin] Buber mag hier z. B. an die Vortragsreihe der Martin Buber-Abende gedacht haben, vgl. MBW 11.1, S. 506. 90,15 ein Buch hier erschienen ist] Das ist Dialogisches Leben. Gesammelte philosophische und pädagogische Schriften, Zürich: Georg Müller 1947. Der Sammelband enthält Ich und Du, Zwiesprache, Die Frage an den Einzelnen, (alle drei jetzt in: in MBW 4) Über das Erzieherische (jetzt in: MBW 8, S. 136-154), Über Charaktererziehung (jetzt in: MBW 8, S. 327-340) und Das Problem des Menschen (jetzt in: MBW 12, S. 221-312). 90,30 das Schlusskapitel der letzten Arbeit dieses Buches] Das ist das Kapitel »Ausblick« in Das Problem des Menschen, jetzt in: MBW 12, S. 306-312, das gegenüber der hebr. Fassung von 1943 deutlich länger ist. 93,20 Weg zu der Mutter, von der Lao-tse spricht] Nicht nachgewiesen. 94,9 amor fati] lat. für »Schicksalsliebe«. Friedrich Nietzsche bezeichnet mit dieser Wendung eine Lebenseinstellung, die er für vital und nicht dekadent hielt, vgl.: Friedrich Nietzsche, Ecce homo, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Sechste Abteilung, 3. Bd., hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin u. New York 1967 ff., S. 295. Ich rufe sie … Dieser kleine Text wurde in einem Sammelband anlässlich des 40jährigen Bestehens der Zeitschrift Ha-poʿ el ha-tzaʾ ir veröffentlicht, des Organs der gleichnamigen gemäßigt sozialistischen Partei, das von April 1907 bis 1970 erschien. In dieser Zeitschrift bzw. ihrer deutschen Ausgabe sind verschiedene Texte Bubers insbesondere zu sozialistischen Themen erschienen, wie die in den hier vorliegenden Bänden veröffentlichten »Der heimliche Führer«, »Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee« oder »Landauer heute«, aber auch z. B. »Hebräischer Humanismus« (jetzt in: MBW 20, S. 147-158). In der hebr. Veröffentlichung ist als Datum für den Text »Jerusalem, der 9. Av 706« (6. August 1946) angegeben, d. h. laut Buber wurde er im Jahr 1946 am traditionellen Fastentag zur Erinnerung an die Tempelzerstörung verfasst. Damit wird der elegische Ton des Textes unterstrichen.

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Textzeuge: D: [Hebräisch] Ani qore la-hem, in: Arba’im schana, Tel Aviv: Merkaz mifleget poʿ ale Eretz- Israel 1947, S. 149-150 (MBB 780). Druckvorlage: Übersetzung von Dafna Mach. Schriftstellergespräche am 27. März 1949 Zweimal lud David Ben Gurion in der Anfangsphase der Staatsgründung eine große Zahl israelischer Intellektueller – Schriftsteller und Akademiker – in sein Privathaus nach Tel Aviv ein, um mit ihnen Fragen, die die geistige und moralische Ausrichtung des neuen Staates betrafen, zu erörtern. Die Publikation der Diskussionen erfolgte in einem regierungsamtlichen Nachrichtenblatt. Bei dem ersten Treffen am 27. März 1949 waren 35 Schriftsteller anwesend, darunter Buber, Shmuel Bergmann, Avraham Shlonsky und Leah Goldberg. Michael Keren (Ben Gurion and the Intellectuals: Power, Knowledge, and Charisma, Dekalb, IL 1983, S. 118-126) stellt als das Ziel des Unternehmens dar, die Schriftsteller und Intellektuellen in die Bildung des nationalen Charakters des Staats Israel einzubinden. Ben Gurion eröffnete die Sitzung mit der Einschätzung, dass die Regierung nicht den kulturellen und moralischen Charakter des Staates formen könne, da ihre Ressourcen von pragmatischen Aufgaben wie Sicherheit, Wohnraum, Dienstleistungen usw. in Anspruch genommen seien, langfristig jedoch die kulturelle Sphäre ausschlaggebend sei. Deshalb erhoffe er sich von einem Dialog mit den Schriftstellern, die frei von den Einschränkungen der politischen Macht sich engagieren könnten, einen wesentlichen Beitrag. Gleichzeitig versicherte er den Schriftstellern, dass der Staat die wissenschaftliche und künstlerische Freiheit immer respektieren werde. Laut Michael Keren konnte das Treffen die Erwartungen nicht erfüllen: »Despite the extraordinary nature of this meeting, there was little inspiration«. (Ebd., S. 119.) Zum Zeitpunkt der ersten »Schriftstellergespräche«, die am 27. März 1949, also 19 Tage nach der Wahl Ben Gurions zum Ministerpräsidenten stattfanden, war ein Ende des Unabhängigkeitskrieges zwischen Israel und den arabischen Staaten absehbar. Mit Ägypten war bereits am 24. Februar 1949 ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet worden. Es folgten Libanon am 23. März, Jordanien am 3. April und Syrien am 20. Juli. Dieser Krieg hatte zur Flucht von ca. 700 000 Arabern geführt. Buber fordert Ben Gurion auf, die Initiative zur Lösung des Problems zu

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ergreifen. Breiteren Raum nahmen aber Bubers Überlegungen zur Erwachsenenbildung ein. Hier zeigt sich erneut Bubers volksbildnerisches Interesse, so dass er dann von 1949 bis 1952 leitend am Aufbau einer Hochschule für die »Lehrer des Volkes« an der Hebräischen Universität in Jerusalem beteiligt war. (Vgl. die Einleitung zu MBW 8, S. 47-67.) Textzeuge: D: [Hartzaʾ a], in: Divre-sofrim ba-pegischa sche-zimen rosch ha-memschala [David Ben-Gurion] be-jom 27 be-Mars 1949, Ha-kriʾ a: Hamadpis ha-memschalati 1949 (MBB 820), S. 5-6. Druckvorlage: Übersetzung aus dem Hebräischen von Karin Neuburger. Wort- und Sacherläuterungen: 100,16 Zwi Woyslawski] (1889-1957): aus Osteuropa stammender Schriftsteller, Übersetzer und Literaturkritiker; er wanderte 1934 nach Israel ein, wo er führende Rollen in Schriftstellervereinigungen innehatte; übersetzte unter anderem Buber ins Hebräische. 100,16 Marcus Aurelius] (121-180): von 161 bis zu seinem Tod römischer Kaiser; er gilt als Beispiel eines »Philosophenkönigs« im Sinne Platos. 100,23-26 »Zum ewigen Frieden« […] auf deren Worte hören] Vgl. die Wort- und Sacherläuterung zu 14,37-39. 101,21-22 Krieges zwischen Deutschen und Dänen] Anspielung auf den deutsch-dänischen Krieg, der vom 1. Februar bis zum 30. Oktober 1864 zwischen Preußen und Österreich auf der einen und Dänemark auf der anderen Seite um die Herzogtümer Schleswig und Holstein ausgefochten wurde und mit dem Sieg der deutschen Seite endete. 101,22 Svend Grundtvig] (1824-1883): dän. Literaturwissenschaftler und Volkskundler. Grundtvig veranstaltete umfassende Sammlungen dänischer Volkslieder und Märchen und versuchte damit auf die Bildung eines dänischen Nationalbewusstseins einzuwirken. 102,34 Biltmore-Programms] Vom 6. bis zum 11. May 1942 fand im Biltmore-Hotel in New York eine Konferenz mit 600 Delegierten unterschiedlicher zionistischer Bewegungen aus 18 Ländern statt, die mit einer Resolution, dem sogenannten »Biltmore-Programm« beendet wurde. In dieser Resolution kam – nicht zuletzt aufgrund der sich ausweitenden Verfolgungen im inzwischen von den Nationalsozialisten okkupierten Europa – die zunehmende Distanzierung eines Großteils der Delegierten von einer binationalen Staatenlösung zum Ausdruck. Die Konferenz bildete damit einen entscheidenden Beitrag zur späteren Staatsgründung Israels.

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103,20-21 die derzeit […] Vermittlungskommission] Die UNO gründete im Dezember 1948 eine Vermittlungskommission (bestehend aus Vertretern der USA, Frankreichs und der Türkei), die die beteiligten Länder bei einer friedlichen Lösung des Konflikts unterstützen sollte, einschließlich des Problems der arabischen Flüchtlinge. Schriftstellergespräche am 11. Oktober 1949 Das zweite Schriftstellergespräch war von der Problematik der Masseneinwanderung bestimmt, die in den Jahren 1948-1951 mit knapp 700 000 Einwanderern, darunter auch viele aus arabischen Ländern, zu einer Verdoppelung des jüdischen Bevölkerungsanteils führte. In dem Gespräch war die Frage der kulturellen Integration die entscheidende, wobei ein elitäres Verständnis vorherrschend war. Von einer eigenständigen Kultur der Eingewanderten war nicht die Rede, sie sollten die im Jischuw entwickelten Ideale übernehmen. (Vgl. Keren, Ben Gurion and the Intellectuals, S. 127.) In diesem zweiten Treffen bringt Buber seine Vorstellung von einer »Renaissance« des Judentums ein, wie er sie schon sehr früh, z. B. in seinen Prager Drei Reden über das Judentum formuliert hat, und stellt sie der Realität der jüdischen Einwanderung nach der Staatsgründung gegenüber, die seiner Meinung nach allein auf pragmatischen Gründen beruhe. Eine distanzierte Sicht auf dieses Schriftstellergespräch findet sich in Hugo Bergmann Tagebuch vom 11. Oktober 1949: »Nachmittag Sitzung bei Ben Gurion über die geistige Absorption der Alija. Ben Gurion setzt alle Hoffnungen auf drei Dinge: Buch, Schule, Heer.« (Bergmann, Tagebücher & Briefe, Bd. 2, S. 28.) Textzeuge: D: [Hartzaʾ a], in: Divre-sofrim ba-pegischa ha-schnija sche-zimen rosch ha-memschala [David Ben-Gurion] be-jom 11 be-Oktober 1949, Hakriʾ a: Ha-madpis ha-memschalati 1950, S. 6-9 (MBB 848). Druckvorlage: Übersetzung aus dem Hebräischen von Karin Neuburger. Wort- und Sacherläuterungen: 104,8 Prof. Dinaburg] d. i. Ben-Zion Dinur (1884-1973): israel. Historiker und Politiker für die Arbeiterpartei, aus Russland stammend, Einwanderung nach Palästina 1921, seit 1936 Lehrstuhl an der Hebräischen Universität, 1949 Mitglied der Knesset, 1951-1955 Bil-

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dungsminister; Initiator der Gedenkstätte Yad VaShem. In dem Schriftstellergespräch sprach er sich dafür aus, dass die nun hereinströmenden Einwanderer die ihnen fehlende spirituelle Entwicklung der Pioniere nachholen und damit ihnen immer ähnlicher werden sollen. 104,34 Prof. Ruppin] Arthur Ruppin (1876-1943): Der dt.-jüd. Soziologe wanderte 1908 nach Palästina ein und war dort in führenden Positionen maßgeblich am zionistischen Siedlungswerk beteiligt und gilt als einer der Gründer der Stadt Tel Aviv. Seit 1926 war er zudem Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem. 1925 war er Gründungsmitglied des Brit Schalom. 104,35 im Jahre 1918 verfassten Aufsatz] Arthur Ruppin, Die Auslese des Menschenmaterials für Palästina, Der Jude, 3. Jg., H. 8-9, S. 373-383. 105,34 S c h e c h i n a ] Das Konzept der Schechina ist sowohl für das rabbinische Judentum wie auch für die Kabbala von großer Bedeutung. Es bedeutet eigentlich die »Einwohnung Gottes« und ist der Aspekt der weltimmanenten Präsenz Gottes, insbesondere innerhalb des jüdischen Volkes. 105,35-36 Ein weiser Jude in Deutschland […] doch an den Sohn glauben.] Vgl. Zwei Glaubensweisen, S. 135 (jetzt in: MBW 9, S. 285); dort werden aber nur christliche Gewährsleute wie Florens Christian Rang angeführt. 106,4 J. Kopeliowitsch] Jehuda Kopeliowitsch Almog (1896-1972): aus Litauen stammender, 1920 eingewanderter israel. Politiker, Journalist und Unternehmer. 106,4 Jichud] Hebr.: »Einigung«; in der Kabbala besonders als die Vereinigung zweier verschiedener Aspekte Gottes verstanden, der oftmals eine erlösende Bedeutung zugesprochen wird. 106,9-12 Es war da eine Verbindung […] was sie taten.] Das Thema wird bereits in der ersten der Drei Reden über das Judentum, »Das Judentum und die Juden« behandelt. Jetzt in: MBW 3, S. 219-227. 109,1 Grabski] Władysław Grabski (1874-1938): polnischer Politiker und 1920 sowie 1923-1925 Ministerpräsident. Er war verantwortlich für eine antijüdische Gesetzgebung, mit der er Juden den Zugang zu Staatsfunktionen erschwerte. 110,28 J. Fichman] Jakov Fichman (1881-1958): aus Bessarabien stammender, hebräischer Dichter im romantischen Stil, Übersetzer und Literaturkritiker; wanderte 1912 nach Palästina ein. 110,31 D. Schimoni] David Schimoni (1891-1956): aus Weißrussland stammender, hebr. Dichter und Übersetzer; erste Einwanderung nach Palästina 1909 und wieder 1921.

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111,41 J. Grünbaum] Jizchak Grünbaum (1879-1970): zionistischer Politiker. Führer der zionistischen Bewegung in Polen zwischen den Weltkriegen und erster Innenminister Israels. 112,29 A. Barasch] Ascher Barasch (1889-1952): aus Polen stammender hebr. Schriftsteller. Einwanderung nach Palästina 1913. 112,38-39 »Wir sind ein Volk. Der uns allen gemeine Feind macht uns dazu.«] Vgl. Theodor Herzl, Der Judenstaat, S. 26: »Wir sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte so war.« [Vorwort zu Jacob Burckhardt, »Die Kultur der Renaissance in Italien«] Die hebräische Übersetzung von Jacob Burckhardts Die Kultur der Renaissance in Italien, zu dem hier das Vorwort Bubers abgedruckt wird, erschien im Jahr 1949 in der Reihe Sifre Mofet mi-sifrut ha-olam [Klassiker der Weltliteratur], bei der Buber als Hauptherausgeber fungierte. In dieser Reihe erschien z. B. auch Mimesis von Erich Auerbach oder Freedom, Power and Democratic Planning von Karl Mannheim. Burckhardts Werk hatte auf den jungen Buber großen Einfluss ausgeübt, was sich schon im programmatischen Titel eines seiner frühesten zionistischen Aufsätze »Jüdische Renaissance« von 1901 zeigt. Buber fertigte damals umfangreiche Exzerpte des Werks an. (Vgl. Einzelkommentar zu »Über Jakob Böhme«, in: MBW 2.1, S. 266.) Textzeuge: H: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 96); 3 lose unpaginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit Korrekturen versehen. Deutscher Entwurf des Vorworts der hebräischen Veröffentlichung. Druckvorlage: H Übersetzungen: Hebräisch: Divre peticha [Vorwort], in: Jacob Burckhardt, Tarbut ha-renaissance be-Italja, übers. von Jaaqov Steinberg, wissenschaftlich ediert von Hiram Peri [Pflaum], Jerusalem: Mossad Bialik 1949, S. 56 (MBB 819).

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Variantenapparat: 114,6 veränderten] [neuen] ! veränderten H 114,8 ein Mensch] [der Blick eines Menschen] ! ein Mensch H 114,18-19 gegensätzlich] [als typologisch] ! gegensätzlich H 114,34 Züge] [Tendenzen] ! Züge H 115,2-4 »Sie streben« […] und Wissen.«] h»Sie streben« […] und Wissen.«i H 115,4-5 das Unbedingte und Normative] [sie] ! das Unbedingte und Normative H 115,20 Erneuerung] [Wiedergeburt] ! Erneuerung H Wort- und Sacherläuterungen: 115,2-4 »Sie streben«, […] Systemen für Kunst u. Wissen.«] Nicht nachgewiesen. 115,13-18 »dass innerhalb der künstlerischen […] nachgegangen zu sein.«] Brief an Ludwig Pastor vom 12. Mai 1889, in: Jacob Burckhardt, Briefe, Bd. IX, Basel u. Stuttgart 1980, S. 184. 115,19 Burdach] Konrad Burdach (1859-1936): dt. Germanist mit den Schwerpunkten Minnesang und Goethe; Autor einer siebenbändigen Abhandlung Vom Mittelalter zur Reformation, die seit 1893 erschien und der Monographie Reformation, Renaissance, Humanismus (1918). 115,27 Nietzsche, der eben bei B., von dem er viel gelernt] Vgl. Wortund Sacherläuterungen zu 13,27. 115,35-37 »Wir haben nur uns selbst gelebt […] wir untergehen.«] Ausspruch Burckhardts, der von Heinrich Gelzer im Aufsatz »Jakob Burckhardt« angeführt wird (in: ders., Ausgewählte kleine Schriften, Leipzig 1907, S. 289-366, hier S. 326). Er lautet dort vollständig: »Wir haben nur uns selbst gelebt und allen anderen Schmerz bereitet. Wir waren nicht gut und darum mußten w ir untergehen.« Pfade in Utopia In einem Brief, den er an den mit ihm eng befreundeten Schweizer Arzt und Psychotherapeuten Hans Trüb richtet, schreibt Buber am 9. Oktober 1945: »Diese Jahre [sind] für mich die Zeit einer ungeahnten Konzentration und einer mich immer wieder überraschenden Produktivität […] Einige der Pläne, die sich über Jahrzehnte erstreckten, sind zur Ausführung gelangt, andere in ihr begriffen; es ist die eigentliche Epoche des

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Werks in meinem Leben.« (B III, S. 93.) Zu diesem intensiven Schaffensdrang gehört auch die Niederschrift der philosophisch-soziologischen Abhandlung Pfade in Utopia, die im Frühjahr 1945 kurz vor der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs als Manuskript vollendet wird. Am 13. September 1946 berichtet Buber dem katholischen Kulturphilosophen und Psychotherapeuten Ernst Michel über seine Produktion in hebräischer Sprache: sieben Bücher sind in rascher Folge erschienen, zwei sind im Druck. (vgl. B III, S. 121). Unter den sich im Druck befindenden Büchern sind wohl auch Pfade in Utopia zu zählen. Am 30. November desselben Jahres stellt Buber dem Historiker und Soziologen Frank Loewenberg die Veröffentlichung des Buches und dessen bevorstehende englische Übersetzung in Aussicht, indem er auch Einiges über den Inhalt vorwegnimmt: »In einem Buch von mir, das hebräisch in den nächsten Wochen, englisch im Herbst 1947 erscheint, ›Paths in Utopia‹, werden Sie einiges über Landauer finden, aber darunter nur weniges eigentlich Biographische.« (B III, S. 124.) Tatsächlich sollte sich aber die Veröffentlichung gegenüber der Ankündigung verzögern: während die hebräische Erstausgabe 1947 beim Tel Aviver gewerkschaftlichenVerlag Am Owed (»Das arbeitende Volk«) in der Reihe Sifrijat daʿ at (»Bibliothek des Wissens«) mit dem Titel Netivot be-utopia (»Pfade in Utopia«) erschien, wurde die erste englische, von Richard Francis Carrington Hull angefertigte Übersetzung mit einer Einleitung des Soziologen Ephraim Fischoff erst 1949 vom Londoner Verlag Routledge & Kegan Paul veröffentlicht. Als Erklärung für die leicht verspätete hebräische Veröffentlichung kann man die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Verlags Am Owed in Tel Aviv, anführen. Das geht aus dem ein paar Monate später geschriebenen Brief Bubers an seinen Schwiegersohn Ludwig Strauß hervor, dem ein für die Veröffentlichung bestimmtes Gedichtbuch vom Verlag zurückgegeben worden ist: »Am Owed ist schon seit mehreren Monaten in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage; sie hatten sich übernommen und wollen bis auf weiteres nur ›leichte Sachen‹ bringen.« (Brief vom 28. Januar 1948, BBS, S. 245). Als Mitglied des am 11. August 1942 gegründeten zionistischen Verbands Ichud (»Einheit«), dessen Verhandlungen und Beratungen hin und wieder in seinem Jerusalemer Haus stattfanden, bemühte sich Buber zu dieser Zeit um eine binationale Lösung (auch als Einstaatenlösung bekannt) des Nahostkonflikts. Für ihn sind aber die Jahre, die zwischen dem Verfassen und der Veröffentlichung von Pfade in Utopia liegen, eine Zeit der inneren und äußeren Unruhe. Von dieser auch politischen Enttäuschung Bubers zeugt eine am 7. Oktober 1945 im Ta-

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gebuch Schmuel Hugo Bergmanns eingetragene Anmerkung: »Ich sprach mit Buber telephonisch. Nebenbei sprach er sehr verbittert über das fehlende Echo im Lande. Ein Vortrag wird nur danach beurteilt, wie er rednerisch war, nicht was er zu sagen hatte. Wäre er, Buber, heute in England, hätte er mehr Einfluß auf das politische Geschehen als er jetzt hier hat.« (Bergmann, Tagebücher & Briefe, Bd. 1, S. 673.) Diese Zeit der Wirren, die den Hintergrund der Entstehungs-, Veröffentlichungs- und Zirkulationsgeschichte von Pfade in Utopia bildet, ist relativ kurz aber ereignisreich und äußerst turbulent. Nach einem durch die britischen Gegenmaßnahmen der sogenannten Hunting Season (vgl. den Kommentar zu »Die Idee der Gemeinschaft«, in diesem Band, S. 453) verursachten zeitweiligen Stillstand der jüdischen terroristischen Aktionen, verübten die aus dem Untergrund heraus agierende Kampfgruppe Irgun und die Stern-Gruppe Lechi im Mai 1945 Bombenanschläge gegen mehrere Ziele. Der amerikanische Präsident Harry Truman drängte die englischen Mandatsträger dazu, die Einwanderung von 100.000 Juden nach Palästina trotz der Einschränkungen des 1939 veröffentlichten britischen Weißbuchs zu genehmigen. Gleichzeitig standen die Briten und deren neuer Außenminister Ernest Bevin (1881-1951) unter arabischem Druck. Am 2. November 1945, dem Jahrestag der Balfour-Deklaration, fanden antizionistische Demonstrationen in Syrien, Ägypten, im Libanon und im Irak statt. Demzufolge wurde das angloamerikanische Untersuchungskomitee (Anglo-American Committee of Inquiry) auf Betreiben des britischen Außenministers am 12. November 1945 eingesetzt, um den jüdisch-arabischen Konflikt diplomatisch zu lösen. Als Mitglied des Ichud wurde Buber zusammen mit Judah Leon Magnes von der Untersuchungskommission angehört. Der Abschlussbericht des Komitees lehnt eine Teilung des Staatsgebiets ab. Darauf folgten die Untersuchungen des am 15. Mai 1947 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen eingesetzten Sonderausschusses UNSCOP (United Nations Special Committee on Palestine), das Ende der britischen Mandatsherrschaft, die am 29. November 1947 übernommene UNO-Resolution für den Teilungsplan Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat. Parallel dazu erhöhte sich die Zahl der von jüdischen Revisionisten und Terroristen ausgeübten Ermordungen und Entführungen britischer Soldaten bis der palästinensische Bürgerkrieg ausbrach, der dann in den israelischen Unabhängigkeitskrieg überging. Von Bubers seelischer Unruhe und Beklemmung in diesen Jahren zeugt ein gewagter Satz, der in einem an Ernst Simon gerichteten Brief vom 27. Januar 1948 aus Jerusalem enthalten ist: »Sie [ahnen] nicht, wie wir hier in dieser Stadt (ganz besonders in dieser Stadt) leben. Gegen diese

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Preisgegebenheit der Seele an den unversöhnlichen Widerspruch war alles z. B. von mir je früher, z. B. in Hitlerdeutschland Erlebte eine fromme Idylle.« (B III, S. 160.) Als Antwort auf diese brennenden Fragen ist Pfade in Utopia zu verstehen, wobei Buber eine umfassende gesellschaftliche Neugestaltung am Beispiel der Frühsozialisten entwirft, indem er die Gedanken des utopischen Sozialismus genetisch darzustellen versucht. Die Vorstufe dieses Werks ist in der 1928 in Heppenheim gehaltenen sozialistischen Tagung zu suchen, wo sich die religiösen Sozialisten des Berliner Kairos-Kreises (Paul Tillich, Eduard Heimann, Carl Mennicke) mit anderen religiösen Sozialisten – wie z. B. dem Schweizer Leonhard Ragaz (dessen religiösem Sozialismus Buber sehr nahe stand) und der Holländerin Henriette Roland Holst – getroffen hatten. Die Protokolle der Tagung, an der Buber mit drei Reden teilgenommen hatte (vgl. MBW 11.1, »Drei Diskussionsbeiträge«, S. 333-339) wurden unter dem Titel Sozialismus aus dem Glauben. Verhandlungen der sozialistischen Tagung in Heppenheim a. d. B. 1928 veröffentlicht. 1929 hatte Buber außerdem die beiden Bände des Briefwechsels Gustav Landauers unter Mitwirkung von Ina Britschgi-Schimmer herausgegeben (Sein Lebensgang in Briefen, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1929; vgl. das Vorwort Bubers dazu in MBW 11.1, S. 265-267) und anlässlich der Gründungskonferenz der Liga für das arbeitende Palästina in Deutschland einen Vortrag mit dem vielsagenden Titel »Warum muss der Aufbau Palästinas ein sozialistischer sein?« (jetzt in: MBW 11.1, S. 324-332) gehalten. Ausgehend von diesen Prämissen bringt Buber in Pfade in Utopia sein theoretisch-politisches Denken zur Reife. Anhand der zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten sozial-anarchistischen Theorien, die mit den Namen von Saint-Simon, Fourier, Robert Owen, Proudhon, Wilhelm Weitling, Pjotr Kropotkin und Gustav Landauer verbunden sind, kreist Bubers Denken um zwei Angelpunkte, Utopie und Gemeinschaft, wobei sein utopischer, gemeinschaftlicher, dialogischer Sozialismus auf eine eschatologisch-messianische Perspektive hinweist und gegenüber dem bürokratisch-zentralisierten, sowjetischen Staatsozialismus deutlich unterscheidbar hervortritt. Bubers gesellschaftliche Utopie ist natürlich auch in Beziehung zum werdenden Staat Israel und zum Nachkriegsdeutschland als Modell für ein neues, alternatives und inklusives Zusammenleben zu verstehen. In der englischen Übersetzung hatte Pfade in Utopia unmittelbar einen starken Erfolg, und in der Sunday Times wird es als das wichtigste Buch des Jahres bezeichnet (vgl. Brief von Martin Buber vom 12. Januar 1950 an Lambert Schneider, B III, S. 233). Sehr früh beginnt sich Buber

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darum zu bemühen, seine Abhandlung über den utopischen Sozialismus auf Deutsch erscheinen zu lassen. Die ersten Briefe, die Buber in der Nachkriegszeit nach Deutschland schickt, richten sich an seinen ehemaligen Verleger Lambert Schneider. In ihnen erkundigt er sich nach dem Auslandsvertrieb seiner Bücher. Im Juli 1948 wird die Postverbindung mit Deutschland nach einer langen Pause wiederhergestellt und am 26. Juli fragt Buber den Verleger nach dem Grund für die Verzögerung hinsichtlich der Drucklegung von Werken, die er und seine Frau ihm anvertraut hatten; dabei erwähnt er beiläufig einen jungen Münchener Verleger, Willi Weismann (1909-1983), der daran interessiert sei, seine Werke zu veröffentlichen, was darauf schließen lasse, dass der Papiermangel, mit dem Schneider die Verzögerung erklärte, in Deutschland nicht so gravierend sein könne. Wegen seiner Verbindung mit Schneider habe Buber dieses Angebot vorerst unbeantwortet gelassen, er weist aber auf diese mögliche verlegerische Alternative unverhüllt hin. »Bitte schreiben Sie mir über all dies mit rückhaltloser Offenheit. Sie verstehen ja gewiß, daß es mir ein wohlbegründetes Bedürfnis ist, in einem andern Tempo als bisher disponieren zu können.« (Buber an Lambert Schneider am 26. Juli 1948, B III, S. 176.) In einem sechs Monate später an Schneider gerichteten Brief fordert Buber nachdrücklich dazu auf, den Druck seiner Werke zu beschleunigen. Bei dieser Gelegenheit deutet er ein weiteres Angebot von Seiten eines deutschen, nicht näher festzustellenden Verlags aus der britischen Besatzungszone an und gibt Schneider die Möglichkeit eines Verlagswechsels zu verstehen. »Vor allem bitte ich Sie zu vergegenwärtigen, daß man in meinem Alter […] seine Ernte ohne allzugroßen Verzug in die Scheuer bringen will […] Dabei kommt schon wieder von einem deutschen Verlag – diesmal aus der englischen Zone – die Aufforderung, ihm Manuskripte zu überlassen. Es scheint also doch Möglichkeiten zu geben, die technischen Schwierigkeiten zu überwinden. Weißmann [sic!] war, wie Sie sich erinnern werden, seinerzeit bereit sofort zu drucken; ich bin nur mit Rücksicht auf Sie nicht darauf eingegangen. Ist es Ihnen recht, daß ich für andere Bücher auf solche Anerbieten eingehe?« (Buber an Lambert Schneider am 15. Januar 1949, B III, S. 187-188). Buber äußert dabei zum ersten Mal auch seinen Wunsch, das hebräisch seit zwei Jahren vorliegende Buch Pfade in Utopia ohne Verzögerung in deutscher Fassung erscheinen zu lassen. Er ist der Meinung, dieses Buch über den utopischen Sozialismus sei zu diesem Zeitpunkt im Rahmen eines geteilten deutschen Staates »noch aktueller geworden« (ebd., S. 188). Nach einem Jahr greift Buber nochmals das Projekt auf, Lambert Schneider die deutsche Ausgabe des Buches anzuvertrauen: Im Hinblick auf die

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realsozialistische Gesellschaftsordnung in der soeben gegründeten DDR und im sowjetischen Einflussbereich betont er ein weiteres Mal die Aktualität einer weitreichenden Reflexion über den utopischen Sozialismus: »Ich glaube, daß es [das Buch Pfade in Utopia] in Deutschland – als eine geistesgeschichtliche Darstellung des ›utopischen Sozialismus‹ und Kritik der Lehren von Marx und Lenin – eine besondere Aufgabe zu erfüllen hätte.« (Buber an Lambert Schneider, am 12. Januar 1950, ebd., S. 233). Noch im selben Jahr wird die deutsche Ausgabe des Werkes von Buber selbst herausgegeben und erscheint im Heidelberger Verlag Lambert Schneider. Wiederabgedruckt wird das Werk siebzehn Jahre später unter dem Titel Der utopische Sozialismus (Köln: Hegner 1967), dann 1985 mit dem ursprünglichen Titel und einem Untertitel Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung (hrsg. von Abraham Schapira, Heidelberg: Schneider 1985.) Als eines der weltweit verbreitetsten Bücher Bubers erlebt Pfade in Utopia 1950 auch eine amerikanische Ausgabe (New York: Macmillan 1950, wiederabgedruckt in Boston: Beacon 1958). In den spanischsprachigen Ländern hat das Buch mit dem Titel Caminos de Utopía einen überaus großen Erfolg, ausgehend von der ersten von Jose Rovina Armengol herausgegebenen mexikanischen Ausgabe (Ciudad de Méxiko: Fondo de Cultura Económica 1955) mit mehr als zehn Neuausgaben bis 2006 in der ganzen lateinamerikanischen Welt. In französischer Übersetzung erscheint das Werk mit dem Titel Utopie et Socialisme und einem inhaltsreichen Vorwort von Emmanuel Lévinas (hrsg. von Paul Corset und François Girard, Paris: Aubier 1977). Das Resumé von Bubers Wirkung ist laut Andreas Heyer (Sozialutopien der Neuzeit. Bibliographisches Handbuch, Bd. 2: Bibliographie der Quellen utopischen Diskurses von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin u. a. 2009, S. 350-354, hier S. 353) dennoch eher bescheiden: »Bubers Werk fand weite Verbreitung und erlebte verschiedene Auflagen sowie Übersetzungen […]. In der Forschungsliteratur zur Utopiethematik wird es leider nur selten wahrgenommen.« Da Buber in seinen Kapiteln bei der Darstellung der Lehre Proudhons und der französischen Frühsozialisten deren Zitate frei aus französischen Originalquellen übersetzt, konnte nicht immer in den Wort- und Sacherläuterungen ein Nachweis dieser Stellen erbracht werden, da die erforderliche Rückübersetzung notgedrungen noch weiter vom Original abweichen muss. Gleiches gilt für die Zitate Robert Owens und Pjotr Kropotkins, dessen Texte Buber meist in ihrer französischen bzw. englischen Erstfassung studiert haben dürfte – Kropotkin wurde in Frankreich breiter als in Deutschland rezipiert – und in freier Übersetzung daraus zitierte.

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Textzeugen: h1: unvollständige Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 20b); 1 Blatt, doppelseitig beschrieben mit blauer Tinte; weitere Blätter sind verloren; mit Korrekturen versehen. Der Text weicht von der Druckfassung des Vorworts erheblich ab und wird deshalb im Folgenden abgedruckt. h2: unvollständige Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 20 Mappe 2c); 60 paginierte Blätter, doppelseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit Korrekturen teils mit Tinte teils mit Bleistift versehen. Die Handschrift umfasst die ersten 9 Kapitel (»Der Begriff« bis »Lenin und die Erneuerung der Gesellschaft«, in diesem Band, S. 121-242). Die Kapitel »Marx und die Erneuerung der Gesellschaft« sowie »Lenin und die Erneuerung der Gesellschaft« werden im MBA in gesonderten Mappen aufbewahrt (Arc. Ms. Var. 350 02 20 Mappe 3a und Mappe 3b). Die beiden letzten Kapitel fehlen. Ein Teil der Handschrift, der mit handschriftlichen Korrekturen mit Bleistift an der Stelle »Von Wichtigkeit aber […]« (S. 167,9) einsetzt, wurde von Buber offenkundig für eine Veröffentlichung bearbeitet, die einem Vermerk auf dem gleichen Blatt zufolge den Titel tragen sollte: »Revolutionäre Erhaltung / Zu Gustav Landauers 30. Todestag«. Ob es zu diesem Abdruck kam, konnte nicht ermittelt werden. 1 D : Heidelberg: Lambert Schneider 1950, 248 S. (MBB 828). d2: »Gibt es in der Sowjetunion echte Genossenschaften?«, Der Verbraucher. Konsumgenossenschaftliche Rundschau, 11. Jg. Nr. 7, 16 Februar 1957, S. 101-104 (MBB 1056). Enthält den Abschnitt »In der vorrevolutionären Periode […] angewiesen war.« (S. 234,7-238,31.) D3: Werke I, S. 833-1002 (MBB 1193). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: Paths in Utopia, übers. von R. F. C. Hull, London: Routledge and K. Paul 1949, 152 S. (MBB 808); Paths in Utopia, New York: Macmillan 1950, 152 S. (MBB 827); Paths in Utopia, übers. von R. F. C. Hull mit einer Einleitung von Ephraim Fishoff, Beacon’s Paperbacks 64, Beacon Press 1958, XXV, 152 S. (MBB 1090). Französisch: Utopie et socialisme, übers. von Paul Corset u. François Girard, Vorwort von Emmanuel Levinas, Paris: Aubier 1977, 261 S. (MBB 1398). Hebräisch: Netivot be-utopija, Sifrijat da’at, Tel Aviv: Am oved 1947, S. 8-129 (MBB 777).

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Italienisch: Sentieri in utopia, übers. von Ameriga Guadagnin, Mailand: Edizioni di Comunità 1967, 172 S. (MBB 1299). Japanisch: Pfade in Utopia, übers. ins Japanische von Susuma Hasegava Tokio: Riosha 1959, 266 S. (MBB 1120). Jiddisch: Shtegn in utopije, übers. aus dem Deutschen von J. Birnbojm, Buenos Aires: Bukhgemejnshaft bei der jiddisher ratzionalistisher gezelshaft 1959, 207 S. (MBB 1134). Niederländisch: Pade in Utopia, übers. von F. de Miranda und Jan Hardenberg, Utrecht: J Bijleveld 1974, 184 S. (MBB 1378). Portugiesisch: O socialismo utópico, collection debates, Sao Paulo: etitora perspectiva 1971, 202 S. (MBB 1354). Spanisch: Caminos de Utopía, übers. von J. Rovira Armengol, Breviaros del Fondo de Cultura Económica 104, Mexio: Fondo de Cultura Económica 1955, 203 S. (MBB 982); 3. Aufl. 1978 (MBB 982). Abdruck des Vorworts in h1: Das Motiv, aus dem dieses Buch entstanden ist, kommt erst in seinem letzten Kapitel zum Ausdruck. Es war der Wunsch, den inneren Zusammenhang aufzuzeigen, der zwischen unserer Gemeinschaftssiedlung in Palästina und dem besteht, was von marxistischer Seite als »utopischer« oder »utopistischer« Sozialismus bezeichnet wird. Daraus ergab sich die Aufgabe, die [Ideen] ! Gedanken dieses Sozialismus und insbesondere [sein Verhältnis zu] ! seine Forderung einer Restrukturierung der Gesellschaft durch Erneuerung ihres Zellengewebes – d. h. durch eben das, was unsere sozialistische Siedlungsarbeit in Palästina getan hat und tut – geschichtlich darzustellen. Naturgemäss galt es dabei nicht [ein Bild] ! so sehr einen Abriss der Entwicklung einer Idee zu geben, als vielmehr das Bild einer Idee in ihrer Entwicklung. Bei einem solchen Bild kommt es, wie bei einem Bild überhaupt, vor allem darauf an was man [weglässt] ! X. Von all dem ungeheuren Stoff gehörte nur das hierher, was für die Anschauung der Idee wesentlich ist [Anmerkung: Ich habe aber reichlich zitiert, darunter vieles, was bisher zu wenig bekannt geworden ist. [Für die Zitate habe ich]] Und nicht ihre Irrwege dürften wichtig sein, sondern der eine durch sie alle hindurch führende Weg. In ihrem geschichtlichen Werdegange soll sich uns die Idee selber kundtun. Des weiteren musste ein wenn auch nur knapper Ausblick auf die Versuche gewährt werden, die Idee zu realisieren, auf ihre Kühnheit und ihre Kühnheit und ihre Problematik. Erst danach war der Ort gegeben, die Beziehung des Marxismus zur Idee der Restrukturierung, auf die am Anfang des Buches nur präliminarisch hingewiesen war, umfassend-kritisch

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zu [behandeln] ! betrachten, in ihrer Theorie und in ihrer Praxis. [(Ich greife damit einer hsozialistischeni Kritik des Marxismus vor, von der ich hoffe, dass es mir noch vergönnt sein wird, sie zu schreiben; das meiste Grundsätzliche musste ihr ihr vorbehalten bleiben.)] Und nun, zuletzt, war davon zu reden, um dessen willen das Buch zustandegekommen ist: von unserem Siedlungswerk. Ich hatte es hselbstverständlichi weder zu beschreiben noch zu erzählen, nur es in seinem inneren Zusammenhang mit der Idee zu beleuchten: als den Versuch, der nicht gescheitert ist. Heute, da [ich diese Arbeit, die mich drei Jahre lang immer wieder beschäftigte] ! das Buch, daran ich im Laufe von drei Jahren immer wieder gearbeitet habe, abgeschlossen vor mir liegt, weiss ich [Textverlust] Variantenapparat: 118,1-32 Vorwort […] Martin Buber] alternative Fassung in h1 fehlt h2 119,8-9 (ein Entwurf […] abgelehnt worden)] h(ein Entwurf […] abgelehnt worden)i h2 119,11 und der »Vereinigung aller Unterdrückten«] hund der »Vereinigung aller Unterdrückten«i h2 119,16 Bekenntnisses] [Glaubensbekenntnisses] ! Bekenntnisses h2 119,19 wir hören nur von Leuten] [am nächsten kommt diesem Begriff, was hier von jenen gesagt wird] ! wir hören nur von solchen Leuten h2 119,23-25 , eine Bezeichnung […] angewandt wird] h, eine Bezeichnung […] angewandt wirdi h2 119,25-26 von dem Engelsschen […] Fassung] [von dieser Fassung zu der unter Marxens entscheidender Mitwirkung zustande gekommenen endgültigen Fassung] ! von dem Engelsschen […] Fassung h2 119,27-29 (in Marxens […] Systeme genannt)] h(in Marxens […] Systeme genannt)i h2 119,30 das Proletariat] das Proletariat [und damit der Klassengegensatz zwischen ihm und der Bourgeoisie] h2 119,33 nicht anders als] [notwendigerweise] ! nicht anders als h2 119,36-120,2 Marx formuliert […] zu machen.«] hMarx formuliert […] zu machen.«i h2 120,7 Den politischen Charakter dieser Deklaration] [Die politische Bedeutung dieser Abgrenzung] ! Den politischen Charakter dieser Deklaration h2 120,11 und durch Marxens Ideen verdrängt wurden] hund durch Marxens Ideen verdrängt wurdeni h2 120,22 innenpolitische] [politische] ! innenpolitische h2

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121,6-7 dem gegenübergestellt] [zur Ergänzung dessen verwandt] ! dem gegenübergestellt h2 121,9 niedergeschrieben worden ist] niedergeschrieben worden ist [, wiewohl dessen Theorie um die Jahrhundertwende entstand] h2 122,11-12 Wie nun aber […] Streitschrift!] fehlt h2 122,12-18 1844 hatten Marx […] »historischer Bedeutung«] h1844 hatten Marx […] »historischer Bedeutung«i h2 122,20 und zwar in einem Zusammenhang] [in dem er einen von ihm Kritisierten] ! und zwar in einem Zusammenhang h2 122,27-28 (damit meint […] bezeichnen)] h(damit meint […] bezeichnen)i h2 122,28-32 »Utopie« ist nur […] vorausgegangen] »Utopie« ist neu. Vorausgegangen aber war Proudhons Ablehnung von Marxens Aufforderung zur Zusammenarbeit h2 123,9 Entwicklung«.] Entwicklung«. [Weil er Utopist war, hätte er im Anti-Dühring behandelt werden müssen; weil er aber reiner Dilettant war, gebot es sich, ihn mit Schweigen zu übergehen.] h2 123,18 Die Bezeichnung »Utopist«] In diesem Begriff vereinigten sich die »grossbürgerliche« und die »kleinbürgerliche« Utopie [, beide letztlich, auf ihren ideologischen Charakter angesehen, von der Klasse aus zu verstehen, aus der sie aufgestiegen]. Die Bezeichnung »Utopist« h2 123,24 somit den Trug.] somit den Trug. [Die altpersische Scheidung der Welt in zwei Sphären, die der unbedingten Wahrheit und die der] ! [Utopist sein heisst: der ökonomischen Entwicklung gedanklich nicht gewachsen] h2 123,33-34 politisch folgerichtig] hselbstverständlichi politisch folgerichtig h2 123,39-40 entschlossen] [geneigt] ! entschlossen h2 124,15 Utopisten] utopischen Sozialisten h2 124,16-18 Damit aber […] geprüft werden] [Aber der Sozialismus kommt nicht aus der Sackgasse, in die er sich verrannt hat, solange wir das »Utopisten«-Schlagwort nicht aufgebrochen und auf seinen wahren Gehalt geprüft und X] ! Damit aber […] geprüft werden h2 125,2 Den Utopisten] Den Utopisten him engeren Sinnei h2 125,9 auszubauen] [zu umbauen] ! auszubauen h2 125,25 persönlichen] [menschlichen] ! persönlichen h2 125,27 sinnwidrigen] [verkehrten] ! sinnwidrigen h2 125,35 Die erste] [Beide schweben nicht in den Wolken, die erste] ! Die erste h2 126,1 Entfaltung] [Ausbildung] ! Entfaltung h2

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126,4 bedeutenden] [wichtigen] ! bedeutenden h 126,19 Aufklärung und was darauf folgt] Aufklärung hund was darauf folgti h2 126,23 sinnwidrigen] [vom Widerspruch durchsetzten] ! sinnwidrigen h2 126,24 disharmonischen] [zerklüfteten] ! [zerrissenen] ! disharmonischen h2 126,25-26 erwachsen] [geworden] ! erwachsen h2 126,29-30 Widerspruchs] [Frage] ! Widerspruchs h2 126,30 Unter dem Einfluß] [Es ist mit Recht gesagt worden, dass auf allen Gebieten die Probleme zu technisch wurden; die technische Sicht bemächtigte sich des sein eignes Fortschreiten von Erfindung zu Erfindung anstaunenden Menschen; wichtiger als die gedankliche wurde die technische Bewältigung der Fragen, die uns aus dem Dunkeln antreten und die gedankliche wurde ihr untertan. Unter dem Einfluss dieses Geistes] ! Unter dem Einfluss h2 127,2 kaum noch etwas] [nichts mehr] ! kaum noch etwas h2 127,3 den Aufriß] [Ziel und Weg] ! den Aufriss h2 127,6 des depossedierten Messianismus] [der depossedierten Eschatologie] ! des depossedierten Messianismus h2 127,14 ernste Unterweisung] [der strenge Hinweis] ! ernste Unterweisung h2 127,22 wirkungsvolle Polemik] hwirkungsvollei Polemik h2 127,34-35 der depossedierten Eschatologie] [des depossedierten Messianismus] ! der depossedierten Eschatologie h2 127,41-128,1 zu seinem Vollzug […] verwendet werden] [dem Menschengeschlecht, das an ihm nur als Empfänger, immerhin auch als Werkzeug] ! zu seinem Vollzug […] verwendet werden h2 128,2-3 , ihre Funktion ihnen angewiesen werden] h, ihre Funktion ihnen angewiesen werdeni h2 128,5 Mischungen und Entmischungen] Mischungen hund Entmischungeni h2 128,11 überwältigt] [unterdrückt] ! überwältigt h2 128,35-41 Oder mit den Worten […] umschrieben werden.«] hOder mit den Worten […] umschrieben werden.«i h2 129,4 untersuchen] [analysieren] ! untersuchen h2 129,8 Planung] [Konstruktion] ! [Konzeption] ! [Entwurf] ! Planung h2 129,9 bei Fourier] bei Fourier [und bei weniger bedeutenden, aber ebenfalls wirksamen Phantasten] h2 129,10 Theorie] [willkürlichen] Theorie h2 2

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129,20 Trieb-Automaten] [Homunkuli] ! Trieb-Automaten h2 129,23 Absicht] [Tendenz] ! Absicht h2 129,28 Geistesrichtung] [Tendenz] ! Geistesrichtung h2 129,29 von keiner dogmatischen Anwandlung] [durch keine vorgefasste Meinung] ! von keiner dogmatischen Anwandlung h2 129,30 in der Tiefe der Wirklichkeit noch verborgenen] [wenn auch noch hverborgenen, wenn auch nochi kaum wahrnehmbaren Tendenzen] in der Tiefe der Wirklichkeit [, die auf eben jene Wandlung hinwirken] ! noch verborgenen h2 129,32 Mit Recht hat man gesagt] [»In diesem positiven Sinn«, sagt Karl Mannheim mit Recht, »ist jeder planende Verstand utopisch.«] ! Mit Recht hat [Karl Mannheim] ! man gesagt h2 129,36 Verschiedenheit] [Doppelheit] ! Verschiedenheit h2 129,39 verhüllten] verdeckten h2 130,4-5 Klärung und Ergänzung] Klärung hund Ergänzungi h2 130,12 »Korrespondenz«] [Zeitschrift] ! »Korrespondenz« h2 130,35 Gesellung] [Assoziation] ! Gesellung h2 131,8 weigert sich] [glaubt nicht] ! [vermag nicht] ! weigert sich h2 131,12 den nachrevolutionären Sprung] [die nachrevolutionäre Verwandlung] ! den nachrevolutionären Sprung h2 131,14 nur die Durchsetzung] nur [die Freimachung und definitive Ermächtigung einer bereits erwachsenen, aber eben noch nicht zur vollen Unabhängigkeit gediehenen Wirklichkeit bedeutet] ! die Durchsetzung h2 131,20 strukturarme] [strukturlose, eine strukturlos gewordene] ! strukturarme h2 131,22 Gemeinschaftshaltigkeit] hGemeinschaftshaltigkeiti h2 131,24 Orts- und Werkgemeinschaften] [Genossenschaften, aus freier Einung hervorgegangenen Genossenschaften zusammen] ! [Genossenschaften: genossenschaftlichen Verbindungen] ! Orts- und Werkgemeinschaften h2 131,27 reichstrukturierten] reichsstrukturierten D3 132,12 romantischen] [romantisch-reaktionären] ! romantischen h2 132,16 innerlichsten aller Auflehnungen] [grössten aller Empörungen] ! innerlichsten aller Auflehnungen h2 132,19 verurteilte Anstrengung] verurteilte [, in Wahrheit aber die Wirklichkeit] ! Anstrengung h2 134,2 Ich habe darauf hingewiesen] [Wenn meine Auffassung zutrifft] ! Ich habe darauf hingewiesen h2 134,3 organisch-bauendes] [organisch-konstruktives] ! organisch-bauendes h2

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134,9 aufzeigen lassen] aufzeigen lassen [und dieser Linie muss eine in der Entwicklung der technisch-wirtschaftlichen Tendenzen entsprechen. Ich habe zunächst von dem ersten dieser beiden Gegenstände zu handeln.] h2 134,19-20 und seinen Nachfolgern] [dann unter seinem Einfluss] ! und seinen Nachfolgern h2 134,35-39 – von dem der Begründer […] geahnt hat« –] h– von dem der Begründer […] geahnt hat« –i h2 135,6 Ordnungen] [Strukturen] ! Ordnungen h2 135,6 Zwangsordnung] [Zwangsstruktur] ! Zwangsordnung h2 135,7 Ordnung] [Struktur] ! Ordnung h2 135,22 erlangen soll] erlangen soll, die sich heute im wesentlichen nur noch aus ihnen allein zusammensetzt h2 135,24-25 , die den aktiven Teil […] schließt] h, die den aktiven Teil […] schließti h2 136,37-38 (von dem das […] beeinflußt worden ist)] h(von dem das […] beeinflußt worden ist)i h2 138,6-8 daß diese vom Prägstock […] Einheiten] [wie künstlich, wie erdacht und wie unsozial das ganze System] dass [hier diese sozialen Einheiten] ! diese vom Prägstock […] Einheiten h2 138,11-12 die gleiche Maschinerie] [der gleiche Mechanismus] ! die gleiche Maschinerie h2 138,15 Einheiten] [Gruppen] ! Einheiten h2 138,16-17 Einheiten] [Gruppen] ! Einheiten h2 138,18 das Weltall] [die Sterne] ! das Weltall h2 138,24-25 die konstruktive Idee des »utopistischen Sozialismus«] [für die sozialistische Idee] ! die konstruktive Idee des »utopistischen Sozialismus« h2 139,5 spekulativen] [irrigen Lösung] ! spekulativen h2 139,25 Hilfe und Mitarbeit] Hilfe hund Mitarbeiti h2 139,29-31 (Später geht er […] Siedlung.)] h(Später geht er […] Siedlung.)i h2 139,37 Owen weiß] Owen weiss, [kaum weniger als Saint-Simon, wiewohl auf andere Weise,] h2 139,40 erschien stets] [scheint immer] ! [war anscheinend von je, und wird] ! erschien stets h2 140,2 die Gesellschaft sich nicht] die Gesellschaft [ein Gegeneinander und nicht ein Miteinander] ! sich nicht h2 140,24-25 keine »Wissenschaft« die Gesellschaft verwandeln kann] [alle »Wissenschaft« der Gesellschaft unfruchtbar bleibt] ! keine »Wissenschaft« die Gesellschaft verwandeln kann h2

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140,33 wesensverschiedene] [zweite] ! wesensverschiedene h2 140,41-141,1 durch Abstimmung der Triebe und Tätigkeiten] hdurch Abstimmung der Triebe und Tätigkeiteni h2 142,10 Formulierungen Marxens] Formulierungen Marxens [, insbesondere im Kommunistischen Manifest] h2 142,14-16 So wenig Proudhon […] Entwicklungslinie fort] [Proudhon glaubte daran, dass [die Wissenschaft] der Sozialismus als Wissenschaft jene »Utopien« auf ihr richtiges Mass zurückführen könne. Aber soweit er selber diese Aufgabe auf sich nahm, erfüllte er sie nicht durch Zurückgreifen auf die älteren Systeme] ! So wenig Proudhon […] Entwicklungslinie fort h2 142,30 redlicher und mächtiger] [ernster] ! redlicher und mächtiger h2 142,39-143,5 In einer späteren […] respektiert.] hIn einer späteren […] respektiert.i h2 143,12-13 ihn in seiner ganzen Grausamkeit] [die volle Gegensätzlichkeit] ! ihn in seiner ganzen Grausamkeit h2 143,13-15 , so lang als nötig […] auszutragen,] h, so lang als nötig […] auszutragen,i h2 143,17 Polemik] Polemik [(oder richtiger eine Kritik)] h2 143,19-20 in Wahrheit] [im Grunde] ! in Wahrheit h2 143,20 im Hegelschen Sinn] im Hegelschen Sinn [(er hatte von Hegel nur Äusserliches übernommen)] h2 143,22-23 und was damit eigentlich gemeint ist] [nicht im historischen, sondern im sozialen Sinn] ! und was damit eigentlich gemeint ist h2 143,24-26 , aus den sozialen […] versetzte] h, aus den sozialen […] versetztei h2 143,30 (trotz aller historischen Exkurse)] h(trotz aller historischen Exkurse)i h2 143,35-36 zum Absoluten] zum Absoluten [, zur absoluten Notwendigkeit] h2 143,36-144,1 »Alle Ideen«, schreibt […] angesehen werden.] h»Alle Ideen«, schreibt […] angesehen werden.i h2 144,1-5 Proudhon glaubt weder […] den eigentlichen] [»Alle Prinzipien sind gleichzeitig in der Geschichte wie in der Vernunft; schreibt er in seinem nachgelassenen Werk, »sie haben nur zu verschiedenen Zeiten verschiedene Stärke] h2 144,25-28 – und dem freilich […] reichende –] h– und dem freilich […] reichende –i h2 144,35-36 verhängnisvolle Kämpfe] [eben diesem zur Hegemonie zu verhelfen und] verhängnisvolle Kämpfe h2

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145,4-5 Saint-Simon […] der Gesellschaft] hSaint-Simon […] der Gesellschafti h2 145,7 sozialer und politischer Ordnung] [Gesellschaft und Staat] ! sozialer und politischer Ordnung h2 145,14 öffentlichen Gewalten] öffentlichen Gewalten [, genannt die Regierung oder der Staat] h2 145,23 zum Gefängnis] zur Fessel h2 145,27 von der Beschränkung] [von der Befreiung vom Staate] ! von der Beschränkung h2 145,28 die von der Gesellschaft […] Funktionen] die [unerlässlichen Anstalten der Verwaltung und des Schutzes] ! von dieser nicht zu leistenden Funktionen h2 145,41-146,2 In den frühen Schriften […] weiß er schon] [Wohl hat Proudhon in seinen Anfängen über ] ! [Der Individualismus, der in den frühen Schriften Proudhons noch überwiegt] ! In den frühen Schriften […] weiss er schon h2 145,12-14 (der freilich, wie er […] gekocht hat«)] h(der freilich, wie er […] gekocht hat«)i h2 146,21 Wahlrechts] [Stimmrechts] in seiner gegenwärtigen Gestalt h2 147,18 »Von der Antwort auf diese Fragen«] [Beides zusammengenommen bedeutet (in einer Formulierung, die sich bei Proudhon noch nicht befindet, aber die logische Folgerung aus seiner Lehre ist): die Werkgruppen und die Verbände als Subjekt der Produktion und des Tausches. Das ist es, was Proudhons »Mutualismus«] ! »Von der Antwort auf diese Fragen« h2 147,37 in den »Arbeitergenossenschaften« als »Herden der Produktion«] hin den »Arbeitergenossenschaften« als »Herden der Produktion«i h2 148,3 (wie ähnlich später von Lassalle)] h(wie ähnlich später Lassalle)i h2 148,5 Es würde dann] [An Stelle der hundert oder zweihunderttausend Gewerbetreibenden] ! Es würde dann h2 148,7 einregimentiert und ungültig] heinregimentiert und ungültigi h2 148,22 Vollständigkeit] [Folgerichtigkeit] ! Vollständigkeit h2 148,22-31 Dieses »diktatoriale […] genannt hat.] hDieses »diktatoriale […] genannt hat.i h2 149,12-13 wie er sagt, unter der Inspiration des] [als eine Art von Kommentar zu dem] ! wie er sagt, unter der Inspiration des h2 149,21 unter anderem die Errichtung] unter anderem [eine Forderung aufgestellt, die für die Entwicklung des neuen sozialen Denkens von Saint-Simon zu Proudhon ein deutliches Zeugnis ablegt. Gefordert wird die Errichtung] ! die Errichtung h2

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149,41 Führung] [Verwaltungsweise] ! Führung h 149,41-150,1 Die »Verfassungswissenschaft«] [Die Werkgruppen verbinden sich miteinander ebenso wie die territorialen] ! Die »Verfassungswissenschaft« h2 150,21-23 Mutualismus […] derselben Struktur.] hMutualismus […] derselben Struktur.i h2 150,25-27 Und aus den Völkern […] Föderationen.] hUnd aus den Völkern […] Föderationen.i h2 150,31 leuchtet] [ist wirksam und] leuchtet h2 151,5-6 eines öffentlichen Wesens] [einer Gesellschaft] ! eines öffentlichen Wesens h2 151,10 Rechtsstaat] [Staat] ! Rechtsstaat h2 151,26-27 Dezentralisation] [technisch-wirtschaftlichen und der] ! Dezentralisation h2 151,36 Menschengeistes] [Menschengeschlechts] ! Menschengeistes h2 152,37 fruchtbarere Erde.«] fruchtbarere Erde.« [Die neue Gesellschaft bereitet sich in der alten, sie muss sich in ihr bereiten, mitten drin im Leibe des Widerspruchs, der heute Gesellschaft heisst.] h2 153,1 dienen könnten] berichtigt aus dienen könnte nach D3 153,11-12 – wenn nicht […] Charakter nach –] h– wenn nicht […] Charakter nach –i h2 153,25-27 (bei allen Wandlungen […] ihn bebaut)] h(bei allen Wandlungen […] ihn bebaut)i h2 153,28-29 , und für bestimmte Funktionen] h, und für bestimmte Funktioneni h2 153,36 Wuchern] [Aufkommen] ! Wuchern h2 153,37-40 Er sah die Gefahr […] ergriffen wird.] hEr sah die Gefahr […] ergriffen wird.i h2 153,41 Sie wurzelten] [Kropotkin, zu der Zeit geboren, als Proudhon mit seinem Kampf gegen die Missbräuche des Eigentums, gegen als Eigentum als »Diebstahl«, begann, ] ! Sie wurzelten h2 154,1-2 Gerechtigkeit […] ausgleicht] [Freiheit und Gerechtigkeit in einem] ! Gerechtigkeit, die Freiheit und Ordnung miteinander verbindet und sie ausgleicht h2 154,2-5 (es gibt nach ihm […] Gerechtigkeit)] h(es gibt nach ihm […] Gerechtigkeit)i h2 154,7 der Ausgleich] [die Einheit] ! der Ausgleich h2 154,8 Ordnung] [Gerechtigkeit] ! Ordnung h2 154,18-19 so Wichtiges […] getan ist,] hso Wichtiges […] getan ist,i h2 154,26 Gerechtigkeit] [Freiheit und] Gerechtigkeit h2 2

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154,28-29 Verbindung von Freiheit und Ordnung] [Einheit von Freiheit und Gerechtigkeit] ! Verbindung von Freiheit und Ordnung h2 155,3-4 ungerechte Element im Privateigentum] [die Ausartungen des Privateigentums] ! ungerechte Element im Privateigentum h2 155,15 biologisch] [naturwissenschaftlich] ! biologisch h2 155,16-18 (am stärksten […] beeinflußt)] h(am stärksten […] beeinflußt)i h2 155,18-19 in der Zwangsordnung des Staats] [im Staate] ! in der Zwangsordnung des Staats h2 155,30 Später] [Oder in einer reiferen Formulierung] ! Später h2 155,39-156,2 wohl unter […] Assoziation nennt] hwohl unter […] Assoziation nennti h2 156,3 angedeutet] [ausgesprochen] ! angedeutet h2 156,4 der sozialen Bewegung] [des Sozialismus] ! der sozialen Bewegung h2 156,10 zusammenfügen] [entfalten und] zusammenfügen h2 156,18 annähernd] [zweifellos] ! annähernd h2 156,20 bezeichnet] bezeichnet [im Gegensatz zu den X, in denen sich im Mittelalter die Völker] h2 156,27 sich vollzog] sich vollzog [und dass der Hauptfaktor in der Umwandlung das römische Recht war] h2 156,32-33 Zuletzt bleibt] [Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass dies durch die Technisierung des Staates, durch die X ermöglicht worden ist der Endsieg] ! Zuletzt bleibt h2 156,41 das Wichtigste] gelegen h2 157,25 Unreife] Unreife [und Schwächen] h2 157,25-26 Gegensätze. Gegensätze zwischen] Gegensätze. [ / Noch in einem anderen [Punkt] Belang ist Kropotkins Blick, wiewohl er manche von Proudhon unbedacht gebliebenen historischen Zusammenhänge erfasst, noch nicht praktisch genug. Von den mittelalterlichen Gemeinden sprechend] ! Gegensätze zwischen h2 157,31 mangelhaften] [Identifizierung und mangelnden] ! mangelhaften h2 157,39 daß die Gemeinschaften] [dass sie Erneuerungen bewirkten] ! dass die Gemeinschaften h2 158,2-5 , und daher […] gewesen] h, und daher […] geweseni h2 158,7-8 sowie die der Aufspaltung und Unterdrückung,] hsowie die der Aufspaltung und Unterdrückung,i h2 158,16-17 den Gewinn] die Gewinnste h2 158,18 Differenzierung] [fortschreitende] Differenzierung [und damit Zersetzung] h2

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158,34-38 Kropotkin ist […] züchtet.] hKropotkin ist […] züchtet.i h2 159,11 entworfenen] [skizzierten] ! entworfenen h2 160,2-3 (mit einem Namen, […] usurpiert)] h(mit einem Namen, […] usurpiert)i h2 160,7 Amtsgewalt] [autoritärer Machtvollkommenheit] ! Amtsgewalt h2 160,18-25 daß seine »Anarchie« […] Kropotkins Ansicht.] hdaß seine »Anarchie« […] Kropotkins Ansicht.i h2 160,30 Verhältnissen] [Möglichkeiten] ! Verhältnissen h2 160,33 und wie tief es ins Innerste reicht] hund wie tief es ins Innerste reichti h2 160,35 gelingen kann] [durch die Aufrührung der menschlichen Spontaneität und durch die Weisung] gelingen kann h2 160,36 soziale] [menschliche] ! soziale h2 160,40 gewaltige] [ungeheure] ! gewaltige h2 161,1 nämlich] nämlich [dass die öffentliche Gewalt und das Monopol] h2 161,2 aus den Tiefen] berichtigt aus auf den Tiefen nach D3 161,11 ahnte die Tragödie] [erfährt im Laufe der enttäuschenden Erfahrung immer tiefer um die Tragödie] ! ahnte die Tragödie h2 161,28 grundlegende Tatsache] grundlegende [geschichtliche] Tatsache h2 161,37 Bedeutsamkeit] [Wichtigkeit] ! Bedeutsamkeit h2 161,40 mehr oder weniger formloser] [neuer] ! mehr oder weniger formloser h2 162,1-2 rein von wirtschaftlichen […] Voraussetzungen aus,] h rein von wirtschaftlichen […] Voraussetzungen aus,i h2 162,3-4 die Bereitung der neuen Gesellschaft] [den Neubau der Gesellschaft] ! die Bereitung der neuen Gesellschaft h2 163,13 »Volk«. »Es ist] [»Volk«, passiv. »Das Volk, von dem wir sprechen, hat mit Staatsgrenzen womit natürlich etwas ganz anderes als Naturwüchsigkeit gemeint ist] ! »Volk«. »Es ist h2 163,15 In dem Maße] [Dieser Volksbegriff muss zugleich ganz unromantisch und unpolitisch verstanden werden; Volk ist] ! In dem Masse h2 163,38 Wichtige. Wir sehen] Wichtige [, was bei Landauer deutlicher wird als bei einem der Frühere. Zunächst:] ! Wir sehen h2 164,19 Zwanges] [Staates] ! Zwanges h2 164,24 geschichtlichen] geschichtlichen [und psychologischen] h2 165,9-11 Von Wichtigkeit […] im wesentlichen] Martin Buber / Revolutionäre Erhaltung / Zu Gustav Landauers 30. Todestag [Anmerkung] Aus der in Zürich in Vorbereitung befindlichen deutschen Ausgabe

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des Buches »Pfade in Utopia«, das hebräisch im Verlag des Am Owed, Tel-Aviv, erschienen ist. Eine englische Ausgabe ist im Druck. / [Von Wichtigkeit […] im wesentlichen] ! Der von Landauer angestrebte Aufbau von Gemeinschaftsleben »aussen« und »neben« dem Staat bedeutet für ihn im wesentlichen besondere Korrekturen mit Bleistift h2 165,11 »eine Entdeckung] [nicht eine Neustiftung, sondern eine Herausholung, Aktivierung, Erneuerung von Uraltem, Verschüttetem, unter der Staatskruste Fortbestehenden ist, »nicht eine Erfindung von Neuem, sondern] »eine Entdeckung h2 166,34 längste] [langsamste] ! längste h2 166,34 zu verstehen] [in jeder Stunde gewärtig zu sein] ! zu verstehen h2 167,30-31 , wie denn eben […] Regeneration ist] h, wie denn eben […] Regeneration isti h2 169,10 Menschen] [umwandelnden] Menschen h2 169,36 verstehen] [erklären] ! verstehen h2 170,14 Gemeinschaftslebens] [Zusammanschlusses] ! Gemeinschaftslebens h2 170,31 Weil sie es ist] [In ihr und eben in ihr muss man dem Geist rufen, muss ihn beschwören. Solche Beschwörungen sind die Revolution.] ! Weil sie es ist h2 171,3 Personen] [Menschen] ! Personen h2 171,29 zum Träger] [zur Sache] ! zum Träger h2 172,3-4 Gedankens] berichtigt aus Gedanken nach h2, D3 172,11-12 selber unfähig wäre] [die ungünstigste von allen ist] ! selber unfähig wäre h2 1742,12-13 das volle Wachstum] [die Umgestaltung] ! das volle Wachstum h2 172,14 sozialistische Frucht] [Sozialismus] ! sozialistische Frucht h2 173,3 Allem Verwirklichten] [Setzung des jetzt zu wollenden tut not; absolute Setzung lähmt. Mehr als das:] Allem Verwirklichten h2 173,3 Verwirklichten] berichtigt aus Verwirklichtem nach h2, D3 173,4 verkrusten] [als Lavakruste] ! verkrusten h2 173,12 endgültige] berichtigt aus Endgültige nach h2, D3 174,7 Wirklichkeitsferne] [Irrealität] ! Wirklichkeitsferne h2 174,19 Außergewöhnliche] Ungewöhnliche h2 174,19 Formen] [Zeitalter] ! Formen h2 174,32 Die heroische Epoche] [Das heroische Zeitalter] ! Die heroische Epoche h2 174,34 apparatmäßige] [technische] ! apparatmäßige h2

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Einzelkommentare

175,1 bürokratisierten] [technisierten] ! bürokratisierten h2 175,10 Kooperation] [Genossenschaft] ! Kooperation h2 175,33-35 Beide hielten, […] zu verwandeln«.] hBeide hielten, […] zu verwandeln«.i h2 175,38 konkrete, unmittelbare] hkonkrete,i unmittelbare h2 176,1 genannt.] genannt. [Er ist aber überdies einer der bedeutendsten volkstümlichen Schriftsteller unserer Zeit.] h2 176,6 für seine Ideen] [unter seinen Auspizien] ! für seine Ideen h2 176,8-9 – mit Ausnahme […] Thompson –] h– mit Ausnahme […] Thompson –i h2 176,22 zusammentun] [miteinander vereinigen] ! zusammentun h2 176,23-29 King nimmt […] machen wird.«] hKing nimmt […] machen wird.«i h2 176,30-31 und selber […] Produktion werden] hund selber […] Produktion werdeni h2 176,39-177,1 King ruft auch […] Gemeinschaften anzusiedeln.] hKing ruft auch […] Gemeinschaften anzusiedeln.i h2 177,7-8 unpersönliche] [allgemeine,] unpersönliche h2 177,25-29 , die sich aber […] 1832 sagte] h, die sich aber […] 1832 sagtei h2 177,39 bedeutender] [grundwichtiger] ! bedeutender h2 178,21 »kooperieren«.] »kooperieren«. Es dauerte ein Jahr, bis 28 Genossen 28 Pfund für den ersten Anfang zusammengespart hatten. h2 178,37 beizustehn] berichtigt aus beistehn nach h2, D3 179,1 werbekräftig] [erfolgreich] ! werbekräftig h2 179,3-4 Getreidemahlen, sodann aber] Getreidemahlen [, im Brotbacken, auch im Baugewerbe, besonders aber] ! sodann auch h2 179,16 Siedlungsgenossenschaft] ergänzt (»ein Plan«, sagt der Chronist von Rochdale, X, mit starker Übertreibung, »von dem noch nie ein Volk geträumt, den sich noch nie ein Enthusiast ausgemalt hat«) h2 179,31 Gesellschaft wieder] Gesellschaft [gleichsam auf niederer Stufe: die Konsumvereine sind als solche nicht geeignet Zellen einer Restrukturierung abzugeben, aber die Tendenz zur Föderierung bekundet sich auch an ihnen – die Konsumvereine sind zwar ihrem] ! wieder h2 179,31-32 als Genossenschaften] [solange sie sich nicht zu Vollgenossenschaften] ! als Genossenschaften h2 180,8-9 kooperativ in seinen Genossenschaften] [als das kooperative Subjekt der Produktion] ! kooperativ in seinen Genossenschaften h2 180,31-35 obgleich wir schon […] Gedankens] hobgleich wir schon […] Gedankensi h2

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180,39 aus selbständigen Herden der sozialen Solidarität] haus selbständigen Herden der sozialen Solidaritäti h2 181,4-7 , wiewohl man freilich […] sucht] h, wiewohl man freilich […] suchti h2 181,32 gläubiger] [leidenschaftlich] gläubiger h2 181,33 , wo er dem […] nahestand,] h, wo er dem […] nahestand,i h2 182,5-6 schon der bloßen Produktivgenossenschaft diesen Charakter zuschreibt] [diese Wandlungsfähigkeit der blossen Produktivgenossenschaft zuschreibt] ! schon der bloßen Produktivgenossenschaft diesen Charakter zuschreibt h2 182,33-35 (in einem 1840 […] reduziert worden)] h(in einem 1840 […] reduziert worden)i h2 183,7 den Zauberstab der Politik] hden Zauberstab deri Politik h2 183,17 Rentner werden«. Und um eben] Rentner werden« [, als um »den vollständigsten Audruck der Brüderlichkeit«. Aber aus solchen Erfahrungen ist, ebenso wie aus den verwandten in der Geschichte der Konsumvereine, nichts anderes zu folgern als dass eine allmähliche Überwindung der inneren Problematik der Genossenschaften und der Macht des kapitalistischen Prinzips in ihnen nur in der Vollgenossenschaft und durch sie sich wird vollziehen können]. Und um eben h2 183,19 Associations von ganz ähnlichen Erfahrungen] [Associations: »Wo die Genossenschaften erfolgreich sind, ist die Gefahr, der sie und alle die daran interessiert sind zu begegnen haben, die Ausschliesslichkeit] ! Associations von ganz ähnlichen Erfahrungen h2 183,30-32 , weil, »was den […] zu liefern«] h, weil, »was den […] zu liefern«i h2 184,1-2 jede große Industrie] [jeder Industriezweig] ! jede große Industrie h2 184,29-30 zentralistische] [unitarische] ! zentralistische h2 185,3-8 Und Ende 1849 […] Rede war.] hUnd Ende 1849 […] Rede war.i h2 185,3 der aus der] berichtigt aus die aus der nach h2, D3 185,9 manchen Gedanken] [neben wirksamen Formeln wie die berühmt gewordene kommunistische, jeder solle »nach seinen Fähigkeiten produzieren und nach seinen Bedürfnissen konsumieren« auch] ! manchen Gedanken h2 185,13-15 – ebenso wie […] gründen wollte –] h– ebenso wie […] gründen wollte –i h2 185,16 von Gemeinschaftssiedlungen] [landwirtschaftlicher Genossenschaften] ! von Gemeinschaftssiedlungen h2

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185,29-31 (selbstverständlich […] Rede sein kann)] h(selbstverständlich […] Rede sein kann)i h2 185,31-32 Genossenschaftsbegeisterung hat die Revolution überdauert] Genossenschaftsbegeisterung, die sich 1848 mit unüberbietbarer Intensität in den Worten des Sozialisten Pierre Leroux an die Nationalversammlung ausgesprochen hat: »Wenn ihr die menschliche Assoziation nicht wollt, so sage ich euch, dass ihr die Zivilisation einem Tode in einer furchtbaren Agonie aussetzt«, hat die Revolution überdauert h2 185,39-186,1 , um »nach und nach […] zu lassen«] h, um »nach und nach […] zu lassen«i h2 186,3-4 , von denen aber […] fragwürdig waren,] h, von denen aber […] fragwürdig waren,i h2 186,6-10 Fünfzig Jahre […] beschäftigte.] hFünfzig Jahre […] beschäftigte.i h2 186,28 (charakteristischerweise außerhalb Amerikas)] h(charakteristischerweise ausserhalb Amerikas)i h2 186,30-34 (ich spreche hier […] abzielen)] fehlt h2 186,34-35 , die in ihrer Gesamtheit […] aufzuweisen hat] h, die in ihrer Gesamtheit […] aufzuweisen hati h2 187,5-6 genannt hat] genannt hat. [Jede hat ihren Anfang und ihr Ende gleichsam in sich selbst.] h2 187,9-11 (mit Ausnahme […] fehlt)] h(mit Ausnahme […] fehlt)i h2 187,15 Gemeinschaftssiedlungen] Siedlungen h2 187,22 letztlich in einem] letztlich [darin zu liegen, dass jene aus gegebenen Situationen herauswuchsen, die an eine Reihe von Punkten ungefähr die gleichen waren, so dass von vornherein den zu Keim zu gegenseitigen] ! in einem h2 187,34 Buchez hatte] [also die Bewältigung lokaler Situationen, die an mehreren Orten im wesentlichen die gleichen] ! Buchez hatte h2 188,19 den Antrieben zur Auswanderung] [die Auswanderung, die naturgemäss von wirtschaftlichen und anderen Motiven persönlichen Schicksals getragen wird ist dem Antrieb] ! den Antrieben zur Auswanderung h2 188,20-21 Aufrisses, zugesellt] [Ideals oder sozial-ethischen oder sozialreligiösen Ideals] ! Aufrisses, zugesellt h2 188,21 in die Dogmatik einer] [zum beherrschenden Motiv. Die geforderte Organisationsform, die] ! in die Dogmatik einer h2 188,22-25 geglaubten Organisation […] gegenübersteht] [geglaubt wird, vermag den Menschen stärker anzufordern als allen Anschauung der

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Wirklichkeit. Gleichviel wer ihr treu bleibt] ! geglaubten Organisation […] gegenübersteht h2 188,25-27 (Gesinnungsgemeinschaft […] Verbindung not.)] fehlt h2 188,31 Wo die Dogmatik […] Isolierung] [Dieser merkwürdige Unterschied der Siedlungen gegen die anderen Formen der Genossenschaft] ! [Und mit dem dogmatischen Charakter der einzelnen Siedlungen hängt ihre Isolierung] ! Wo die Dogmatik […] Isolierung h2 188,35 einzigen und unbedingten] eigentlichen und [entscheidenden] ! unbedingten h2 188,35-38 Aber auch […] Wirkungslosigkeit] [Dazu kommt noch – aber letztlich nicht ohne inneren Zusammenhang damit – das Moment der territorialen Zerstreuung.] ! Aber auch […] Wirkungslosigkeit h2 188,38-189,8 All dies wäre […] Welt bilde.] hAll dies wäre […] Welt bilde.i h2 189,9 Die uns bekannten Siedlungsversuche sind] [Es ist hier nicht der Ort, die – in vieler Hinsicht lehrreich – Geschichte der kommunistischen und anderen sozialistischen Siedlungen zu erzählen. Sie sind hwenn wir von einzelnen Unternehmungen religiöser Sektierer absehen,i zumeist gescheitert oder versandet, und zwar keineswegs, wie wir meinen, die kommunistischen allein. Sie sind – wenn wir von einzelnen Unternehmungen religiöser Sektierer absehen, hUnternehmungeni, deren Vitalität nun im Rahmen der Glaubenskraft der Gruppe zu verstehen ist] ! Die uns bekannten Siedlungsversuche sind h2 189,15-16 oder bei den »Hutterischen Brüdern«] fehlt h2 189,20 die Siedlung als Äußerung] [die Entstehung der Siedlung der Ausfluss] ! die Siedlung als Äußerung h2 189,40 einem, wenn auch andersartigen] lebendigen, hwenn auch andersartigeni h2 190,19-20 und Wechselwirkung zwischen ihnen,] hund Wechselwirkung zwischen ihnen,i h2 190,26-29 Im planwirtschaftlichen […] zu finden.] hIm planwirtschaftlichen […] zu finden.i h2 190,35-38 Die Aufnahme […] die besten«.] Die Aufnahme […] die besten«. h2 191,18 nicht fest] nicht [auf ein Schema] fest h2 191,19 organischen] [tieferen inneren] ! organischen h2 191,24-26 übrigens wie […] Mormonen,] hübrigens wie […] Mormonen,i h2

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192,2-6 Die wirtschaftlichen […] zu leben.«] hDie wirtschaftlichen […] zu leben.«i h2 192,10-11 , wobei die Wertsteigerung […] gewesen sein mag] h, wobei die Wertsteigerung […] gewesen sein magi h2 192,23-24 stark versachlichten] [unpersönlichen] ! stark versachlichten h2 192,30 Gemeinsamer Einkauf] [Der Einkauf beansprucht den Menschen im allgemeinen, auch wenn er] ! [Gemeinsamer Einkauf beansprucht den Menschen, der sich mit allen anderen daran beteiligt, im wesentlichen Maße, es sei denn dass es sich um eine besondere Verantwortung des Einkaufenden selber; es bedeutet ihm im allgemeinen nur eine gewisse] ! Gemeinsamer Einkauf h2 193,1-3 , auch nicht, wenn […] verknüpft wird] h, auch nicht, wenn […] verknüpft wirdi h2 193,26 fordert den Menschen tiefer an] [nimmt den Menschen tiefer in Anspruch] ! fordert den Menschen tiefer an h2 193,30 zusammenzutun] [zu gemeinsamen Wirken] zusammenzutun h2 193,33 Entfaltung] [Realisierung] ! Entfaltung h2 193,37-38 Aussichten] [Bedeutung] ! Aussichten h2 194,19-20 Industrie durch Landwirtschaft ergänzt wird] [Industrie und Landwirtschaft verbinden] ! Industrie durch Landwirtschaft ergänzt wird h2 194,23 aufbaue] [konstituiere] ! aufbaue h2 194,23-30 Eine echte […] Einfluß üben.] hEine echte […] Einfluss üben.i h2 194,35-36 soziale Gestaltungen] [Experimente] ! soziale Gestaltungen h2 194,36-37 auf das Ganze […] ausgerichtet] [nach dem Ganzen […] ausschauend] ! auf das Ganze […] ausgerichtet h2 195,5 Voraussetzungen] [Prinzipien] ! Voraussetzungen h2 195,27-28 fundamentale unentbehrliche] hfundamentalei unentbehrliche h2 195,29 also auch der Vielfältigkeit,] halso auch der Vielfältigkeit,i h2 195,33 nach Form und Sinn zu erneuernden] [umzuformenden] ! nach Form und Sinn zu erneuernden h2 195,38 das Machtprinzip] [unter einer veränderten Oberfläche das politische Prinzip, in seiner Nacktheit, sei es] ! das Machtprinzip h2 196,11 jene als das Darauffolgende] [jener den Boden Bereitende] ! jene als das Darauffolgende h2 196,11 wohl vermag sich] [als ob man – um ein anderes Gleichnis zu gebrauchen – zuerst für den Rahmen und dann] ! wohl vermag sich h2

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196,21 diese Idee] [dieser Sozialismus] ! diese Idee h 196,38 sozialistischen Formulierung] [klaren Formulierung eines Sozialismus] ! sozialistischen Formulierung h2 197,9-11 [es ist also nicht […] soziale zu geben]] h[es ist also nicht […] soziale zu geben]i h2 197,13-14 [d. h. nicht […] etabliert]] h[d. h. nicht […] etabliert]i h2 197,15 Verhältnis] [Prinzip] ! Verhältnis h2 197,18 naturgemäß] [folgerichtig] ! naturgemäss h2 197,24 »auflösenden«] [»umstürzenden« und] auflösenden h2 198,7 Einschränkung] Einschränkung [doppelter Art] h2 199,2-3 eine deutliche] [die prinzipielle] ! eine deutliche h2 199,11 aufgehoben worden ist«.] ergänzt / In jenem Satz [der Streitschrift] von »La philosophie de la misére« scheint sich aber noch eine zweite Einschränkung zu bergen, die Marx danach hwie wir noch sehen werdeni keineswegs folgerichtig festgehalten hat, die uns aber zeigt, dass das Problem der Restrukturierung zuweilen recht nah an ihn herangetreten ist, besonders nah damals, als ihm in Paris im Proletariat und seinen [berufenen] Führern, die starke Forderung nach einer Erneuerung der Gesellschaft durch die Genossenschaft begegnete. »Die arbeitende Klasse«, sagt er, »wird i m L a u f e i h r e r E n t w i c k l u n g an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft eine A s s o z i a t i o n setzen, die die Klassen und ihren Antagonismus ausschliessen wird.« Den Begriff der Assoziation hat Marx [vom französischen Sozialismus übernommen, der von dem] ! von dem vom Gedanken der Restrukturierung bestimmten französischen Sozialismus jener Zeit übernommen, für den diesem Begriff hdemgemässi eine zentrale Bedeutung zukam [; nur Proudhon warnte vor den Übergriffen der Assoziation]. Es entspricht denn auch den Ideen des französischen Sozialismus, dass diese Assoziation »im Laufe der Entwicklung« des Proletariats an die Stelle der bürgerlichen Gesellschaft treten sollte. Darunter kann nicht wohl ein nachrevolutionäres bloss (wie im Kommunistischen Manifest) ein nachrevolutionäres Entwicklungsstadium verstanden werden, dieses kann vielmehr nur miteingeschlossen sein in den Gang der Entwicklung und zwar offenbar so – Marx spricht sich darüber nicht deutlich aus, aber es ist kaum eine andere Interpretation zulässig –, dass das im Lauf der Entwicklung Entstandene in diesem letzten Stadium zur vollen Entfaltung, zur Macht und zur Deklaration gelangt. Die Gesellschaft wird vorrevolutionär durch die Genossenschaft innerlich erneuert, aber erst durch die Revolution wird sie selbst zur Genossenschaft. / Ich sagte eben, es sei kaum eine andere Interpretation zulässig. Dem kann ent2

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gegengehalten werden, Marx habe noch im gleichen Jahr, in dem die Streitschrift erschienen ist, selber eine andere gegeben. In der Tat lesen wir im Kommunistischen Manifest Sätze in denen jene Terminologie, »im Laufe der Entwicklung«, »politische Gewalt im eigentlichen Sinne« und »an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft tritt eine Assoziation« wiederkehren, und die nur jenen Satz der Streitschrift weiter auszuführen scheinen, und hier heisst es: »Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter.« Hier ist mit »im Laufe der Entwicklung« offenbar gemeint: im Lauf der [nachrevolutionären] ! auf die politische Revolution folgenden Entwicklung der Verhältnisse. Aber das ist keine Interpretation, sondern eine Veränderung des Gedankens. In der Streitschrift war nicht von einer allgemeinen Entwicklung, sondern von der Entwicklung d e s P r o l e t a r i a t s die Rede (das ist in der deutschen Übersetzung von Bernstein und Kautsky dadurch – natürlich unabsichtlich, aber auch aus unzureichendem Verständnis – verdunkelt worden, dass sie Marx statt »seiner Entwicklung« sagen lassen: der Entwicklung, anscheinend unter dem Einfluss der Formulierung im Kommunistischen Manifest). Mit »im Lauf der Entwicklung des Proletariats« kann aber nicht wohl gemeint sein: im Lauf der nachrevolutionären Entwicklung. Es ist wohl verständlich, dass das 1847 den Inhalt, den diese Worte für Marx hatten, verändert hat. h2 199,27 Marxens Glaube] [Wir werden später sehen, wie die Erfahrungen einer späteren Revolution, die der Kommune] ! Marxens Glaube h2 199,37-38 der Bedeutung […] Kampfes] [einer wachsenden Nachgiebigkeit des Kapitalismus gegen soziale Reformen und Neuerungen] ! der Bedeutung […] Kampfes h2 199,41 Kooperativbewegung] [Genossenschaftsbewegung] ! Kooperativbewegung h2 200,6 das Kooperativsystem bedürfe] [die genossenschaftliche Bewegung sei unfähig] ! das Kooperativsystem bedürfe h2 200,14-15 Marx schreibt hier] [Ohne dem Gedanken der Restrukturierung näher zu treten] ! Marx schreibt hier h2 200,33-34 die staatszentralistische Unterströmung in Marxens Idee] [der intransigente Marxsche Staatszentralismus deutlich] ! die staatszentralistische Unterströmung in Marxens Idee h2 201,14 Kommune ist] Kommune ist [nicht eine parlamentarische,] h2 201,15 durch allgemeines Stimmrecht] hdurch allgemeines Stimmrechti h2

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201,17 an die bestimmten […] gebundenen] [aus direkt verantwortlichen] ! an die bestimmten […] gebundenen h2 201,30 Die Dezentralisierung] [Die Einheit der Nation sollte nicht] ! Die Dezentralisierung h2 201,31 organischer] [vitaler] ! organischer h2 201,39-202,1 Dadurch, daß die […] gemacht«.] hDadurch, daß die […] gemacht«.i h2 203,22 die jeweilige] [diese (und andere, nicht minder wichtige)] ! die jeweilige h2 203,23-24 als notwendig erklärt] [gefordert] ! als notwendig erklärt h2 204,23 sein Briefwechsel] [seine durch eine wertvolle Publikation Rjasanows bekanntgeworden] ! sein Briefwechsel h2 204,25 zum Teil sehr ausführliche] hzum Teil sehr ausführlichei h2 204,27-28 , mit unzähligen […] Ergänzungen,] h, mit unzähligen […] Ergänzungen,i h2 205,22-26 gleichsam abseits […] diese Ordnungen] [kann man durch deren innere Ausgestaltung und äussere Vorstellung] ! gleichsam abseits […] diese Ordnungen h2 205,35 Seine Anstrengungen] [Sein Versuch] ! Seine Anstrengungen h2 206,5 Entwicklung] [Frühzeit] ! Entwicklung h2 206,8 Ursprung zuzuschreiben] Ursprung [und einen »archaischen« Charakter] zuzuschreiben h2 206,11-12 , meine ich […] noch feststellen,] h, meine ich […] noch feststellen,i h2 206,13-14 , und daß der Fiskus […] ausgenutzt hat] h, und daß der Fiskus […] ausgenutzt hati h2 206,21-22 , d. h. mit ihrem […] Form] h, d. h. mit ihrem […] Formi h2 206,25-26 eigentlich] fehlt h2 206,27-29 Sie müsse daher […] verschwinden.] hSie müsse daher […] verschwinden.i h2 206,41 Mit Leichtigkeit würde sich] [Auf der anderen Seite aber weist Marx nachdrücklich auf eine Eigentümlichkeit der russischen Dorfgemeinschaft hin, die sie mit Ohnmacht schlägt. Es ist dies ihre Isolierung und es würde sich mit Leichtigkeit] ! Mit Leichtigkeit würde sich h2 207,1-7 , wobei Marx […] so schulde] h, wobei Marx […] so schuldei h2 207,11 vollziehen k a n n ] vollziehen k a n n [h, wiewohl hervorgehoben wird, dass zwei Voraussetzungen notwendig sind: das wirtschaftliche Bedürfnis nach einer solchen Wandlung und die materiellen Bedingungen um sie durchzuführeni] h2

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207,23-24 (aus Gründen, die Marx nicht ausführt)] h(aus Gründen, die Marx nicht ausführt)i h2 208,12-13 durch die konstruktive Arbeit] hdurch die konstruktive Arbeiti h2 208,15 Restrukturierung] berichtigt aus Restrukturierung, nach h2, D3 209,21-24 Aktion, also das […] Selbstverwaltung«] [Aktion. Wenn Marx sagt das allgemeine Stimmrecht solle »dem in Kommunen konstituierten Volke dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem anderen Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter in seinem Geschäft auszusuchen«, so sollte kein Zweifel daran möglich sein] ! Aktion, also das […] Selbstverwaltung« h2 210,2-3 aus freien Stücken] haus freien Stückeni h2 210,10-11 mit seinem eigenen Zentralismus] [mit der unerbittlichen kritisch-analytischen Schärfe, deren er wie wenige andere Denker des Zeitalters fähig waren] ! mit seinem eigenen Zentralismus h2 210,17 mit methodischer Meisterschaft] [methodisch] ! mit methodischer Meisterschaft h2 211,25-26 das Anzustrebende und zu Erkämpfende] etwas schlechthin Anzustrebendes und zu Erkämpfendes h2 212,3-6 , was nicht […] Richtungslinien] h, was nicht […] Richtungslinieni h2 212,26 Bewegung] Bewegung [in Westeuropa] h2 212,32-33 nachrühmte] [zuschrieb] ! nachrühmte h2 212,40 Menschen] [abendländischen] Menschen h2 213,1 Erneuerung der Gesellschaft] [neue Gesellschaft] ! Erneuerung der Gesellschaft h2 213,5 großen] ungeheuren h2 213,9-10 fragmentarische] [partielle] ! fragmentarische h2 213,25 Tätigkeit] Tätigkeit [der sozialistischen Bewegung] h2 214,1 Schwierigkeiten] [Kämpfe] ! Schwierigkeiten h2 215,1 die neue Staatsordnung] [das Sowjet-Regime die neue Ordnung] ! die neue Staatsordnung h2 215,10 Daß sich unter] [Dem Machteinsatz steht keine andersartige Kraft entgegen. »In der Gegenwart wird Macht mit Macht bekämpft] ! Daß sich unter h2 215,15 ist aus Marxens zumeist] [nach Marxens Tode aus seinen vorsichtigen] ! ist aus Marxens zumeist h2 215,16 Es ist nicht unnützlich] [Zu den wichtigsten Eigentümlichkeiten Marxens gehört sein Schweigen. Wie er es sich verbot, eine materialistische Weltanschauung darzulegen [und zu begründen] und sich mit einer Geschichtsanschauung begüngte (er folgte darin Vicos An-

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sicht, wir könnten nur erkennen, was wir selber machen), so vermied er es, allzu deutlich auf die nachrevolutionäre [Entwicklung] ! Wendung [einzugehen. Engels hatte in beiden Punkten solche Hemmungen nicht] ! einzugehen: jenes war für ihn Metaphysik, dieses Eschatologie, beides problematisch. Engels hatte in beiden Punkten solche Hemmungen nicht. Wie er sich dem Vulgärmaterialismus Haeckels verschrieb, so trug er auch keine Bedenken, das Ende des Staates anzusagen. In beiden Punkten ist Lenin ihm und nicht Marx gefolgt. / ] Es ist nicht unnützlich h2 215,25 eschatologische] [metaphysische] ! eschatologische h2 216,19 von der Pariser Kommunalverfassung] [über den Bürgerkrieg] ! [über die Verfassung der Pariser Kommune] ! von der Pariser Kommunalverfassung h2 216,25 Sicherlich sind es historische Erfahrungen] [Es sind die historischen Erfahrungen zwischen 1871 und 1890] ! Sicherlich sind es negative historische Erfahrungen h2 216,34-35 , daß er auf das […] hingewiesen hat,] h, daß er auf das […] hingewiesen hat,i h2 218,17 sobald »alle gelernt haben] sobald [»alle Mitglieder der Gesellschaft oder wenigstens ihre übergrosse Mehrzahl selbst gelernt haben, den Staat zu regieren«, d. h »alle gelernt haben h2 218,20 Eventualität] [Möglichkeit] ! Eventualität h2 218,39 die Pariser Kommune] [nach Marxens Darstellung] die Pariser Kommune h2 218,41 wobei die Wählbarkeit] wobei [, wie in Marxens Darstellung der Kommune,] die Wählbarkeit h2 219,5-7 Es soll sofort […] geschaffen werden.] hEs soll sofort […] geschaffen werden.i h2 219,13-14 Forderung] [isolierte] Forderung h2 219,19-20 Utopia geworden«.] Utopia geworden«. [Ein noch bittererer, den er kurz vor seinem Tode bei einer privaten Zusammenkunft gemacht haben soll, »Wir sind tot, aber niemand ist da um uns zu begraben«, deutet, wenn authentisch, wohl auf dieselbe Enttäuschung hin.] h2 220,3 freilich zunächst auch jetzt noch] [damit kaum etwas anderes als] ! freilich zunächst auch jetzt noch h2 220,4-5 , oder »die organisierte Gewalt gegen die Konterrevolution«] h, oder »die organisierte Gewalt gegen die Konterrevolution«i h2 220,8-9 , d. h. den Staat, der »das Proletariat braucht«,] h, d. h. den Staat, der »das Proletariat braucht«,i h2

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220,16-21 : eben die Einrichtung, […] »›direkte Usurpation‹«] h: eben die Einrichtung, […] »›direkte Usurpation‹«i h2 220,35-36 und was sie […] gewesen sind:] h und was sie […] gewesen sind:i h2 220,37 Regierung] [demokratischen] Regierung h2 220,39-40 die wahre Regierung […] Revolutionsregierung«, ja] hdie wahre Regierung […] Revolutionsregierung«, jai h2 221,2 demonstrierend in Erscheinung] hdemonstrierendi in Erscheinung h2 221,5 Wesenszüge] [Grundlinien] ! Wesenszüge h2 221,19-21 – obgleich er einmal […] identisch –] h– obgleich er einmal […] identisch –i h2 221,41 Motiv] [Moment] ! Motiv h2 222,1-2 »das Fehlen jeder Bevormundung von oben«] h»das Fehlen jeder Bevormundung von oben«i h2 222,23 Hauptaufgabe] [Aufgabe] ! Hauptaufgabe h2 222,24 weil die revolutionäre Aktion] [und der wichtigste dieser Momente ist] weil die revolutionäre Aktion h2 222,32 Parolen entsprachen diesen Tatsachen] Losungen [mussten sich dem anpassen] ! entsprachen diesen Tatsachen h2 222,37-38 dezentralisierte] [künftig] dezentralisierte h2 222,41 die Provinz] [in der Hauptstadt] ! die Provinz h2 223,3-6 und für den »Übergang […] gleichen Zeit)] hund für den »Übergang […] gleichen Zeit)i h2 223,18 in dem bedeutenden […] Lage«] [eindeutig ausgesprochen, dass er] ! in dem bedeutenden […] Lage« h2 223,33-39 Auf eben jener […] zu denken.] hAuf eben jener […] zu denken.i h2 224,7 Respekt vor den »Verhältnissen«] [Tatsachenrespekt] ! Respekt vor den »Verhältnissen« h2 224,10-11 notwendig] [erforderlich] ! notwendig h2 224,14 wörtlich zu nehmen.] wörtlich zu nehmen. [Aber er macht es einem schwer. Nachdem er noch zwei sekundäre Maßnahmen angeführt hat, fährt er fort: »Wenn die Räte die Macht ergreifen wollen, so nur zu diesen Zwecken. Sonst hat es keinen Sinn, die Macht zu ergreifen.« Dieses »nur« ist zumindest sehr missverständlich.] h2 224,28 in unmittelbarer Folge dieser Wandlung] [damit] ! in unmittelbarer Folge dieser Wandlung h2 224,31 verherrlicht Lenin] [reiht Lenin zum erstenmal alle Motive für die grundlegende Wichtigkeit der Räte nebeneinander. Die Reihen-

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folge, in der er sie anführt, ist besonders charakteristisch] ! verherrlicht Lenin h2 224,33 die Äußerung] [ein Wort] ! die Äusserung h2 225,10-11 (später formuliert […] Produktionseinheiten)] h(später formuliert […] Produktionseinheiten)i h2 226,19 Ausruf] [fast naiv anmutenden] Ausruf h2 226,40 Aufruf] [Erlass] ! Aufruf h2 227,2 zugewiesen] [im wesentlichen] ! zugewiesen h2 227,12 Lebenssubstanz] Lebenssubstanz [, es fehlte ihm die Erkenntnis der neuen Gesellschaft] h2 227,20-21 in Wahrheit […] verstehen wollte] [trotz allem, was Lenin zwischen jenem Tag und diesem über die Räte gedacht hat, kann nicht gesagt werden, dass er sie »verstanden« hätte] ! in Wahrheit […] verstehen wollte h2 227,22-24 , als Antwort […] verlangte] h, als Antwort […] verlangtei h2 227,27-28 in geschichtlicher Klarheit die Begrenztheit] hin geschichtlicher Klarheiti die [Grenze] ! Begrenztheit h2 227,35 auf das Werden] [als Wille] auf das Werden h2 228,31 Geltung] [Charakter] ! Geltung h2 228,36 hingewiesen, welchen Schaden] hingewiesen, [»die bürokratische Zentralisation der Sowjetrepublik« könne nur zu einem Sinken der Klassenaktivität und des Klassenbewusstseins] ! welchen Schaden h2 228,37 Keime] [Entwicklung] ! Keime h2 229,3 Aber auch Lenin] [Lenin ist damals so weit gegangen, in seine Antwort an diese Kritiker zu schreiben: »Wenn bei uns in einem halben Jahre der Staatskapitalismus eingeführt werden könnte, so wäre das ein gewaltiger Erfolg und die sichere Garantie dafür, dass der Sozialismus bei uns in einem Jahr sich endgültig festigen und unbesiegbar werden wird«.] ! Aber auch Lenin h2 229,17 Zuversicht] [(seither nicht in Erfüllung gegangenen) Hoffnung, es werden] ! Zuversicht h2 229,26 Lenins eigentliche Enttäuschung] [Aus »Keimzellen«, wie Lenin sie nannte, sind die Sowjets schon in [den ersten Jahren] ! der ersten Zeit des neuen Regimes hmehr oder wenigeri zu sozialen Mechanismen geworden. Ausschliesslich [vom Gesichtspunkt] ! als Werkzeuge einer starr zentralistischen Parteiherrschaft aus betrachtet und behandelt, völlig den direkten oder indirekten Anweisungen der Parteizentralen anheimgegeben, von einer Kontrolle durchsetzt, die jede Handlung oder Äusserung auf ihre »Zuverlässigkeit« hin prüft, sind die hdes Saftesi jener »schöpferischen Volkskraft«, die sie gezeugt hatte, verlustig gegangen und zu [formal organisierten Einhei-

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ten verkümmert] ! Scheinorganen eines Volkswillens [geworden] ! verkümmert, die an keiner wirklichen Entscheidung wirklich teilnehmen können. »Schwatzbuden« hatte Lenin sie geschimpft, als die Scheinrevolution] ! Lenins eigentliche Enttäuschung h2 229,29 tiefere] [eigentliche] ! tiefere h2 229,41 Verwirklichung] [Begründung] ! Verwirklichung h2 230,7 weichen müssen.« Dieser Übergang] weichen müssen.« Und weiter: »Die Kommunalverfassung würde dem gesellschaftlichen Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, die bisher der Schmarotzerauswuchs ›Staat‹, der von der Gesellschaft sich nährt und ihre freie Bewegung hemmt, aufgezehrt hat«. Dieser allmähliche Übergang h2 230,18 Richtlinie] Richtlinie [, einer Richtung] h2 230,24 vergrößerten] [erweiterten] ! vergrösserten h2 230,27-28 Elemente der Staatssubstanz] [sozusagen »Staat« und hörten] ! Elemente [des Staats und hörten aus] ! der Staatssubstanz h2 230,39-40 von der überwiegenden Mehrheit] [von der Gesellschaft um der erhofften [Verwirklichung] ! Vollendung der sozialen Revolution willen [völlig ertragen] ! willig ertragen] ! von der überwiegenden Mehrheit h2 231,4 Alleinherrschaft] [Herrschaft] ! Alleinherrschaft h2 231,7 Alleinherrschaft] [Herrschaft] ! Alleinherrschaft h2 231,20-21 zur Vollendung gediehene Kommunismus] hzur Vollendung gediehenei Kommunismus h2 231,22 gemacht hat] gemacht hat [(was ich für eine eschatologische Vorstellung] h2 231,25-26 des inneren Machtbereichs des Staats] [der Staatsherrschaft] ! des inneren Machtbereichs des Staats h2 231,26 ausgeatmet hat] [abgestorben ist] ! ausgeatmet hat h2 231,34-35 bei der Wahl […] entsprechen] hbei der Wahl […] entsprecheni h2 231,39 in so umfassendem Maße] hin so umfassendem Maßei h2 232,7 In der vorrevolutionären Periode] Beginn des Teildrucks in d2 unter dem Titel Gibt es in der Sowjetunion echte Genossenschaften? / Martin Buber über Lenins Genossenschaftsidee redaktionelle Vorbemerkung: Es gibt in der Sowjetunion Konsumgenossenschaften, jedenfalls organisatorische Gebilde, die diesen Namen tragen. Wenn man nach dem Wesen dieser Gebilde fragt, so fragt man damit zugleich auch nach ihrem genossenschaftlichen Charakter. Handelt es sich hier um echte Genossenschaften? Um diese Frage beantworten zu können, muß man sich auch mit der theoretischen Grundlage, also der »Genossenschaftstheorie« der Kommunisten, auseinander-

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setzen. Diese Theorie geht nun nicht etwa auf Karl Marx, sondern auf Lenin zurück. / Wie sieht nun diese Theorie aus? Was macht ihr Wesen aus? Hat sie irgendeine Beziehung zu den genossenschaftlichen Grundsätzen und Ideen, auf denen die freie Genossenschaftsbewegung des Westens fußt? Mit diesen Fragen befaßt sich der bekannte Philosoph und Soziologe Martin Buber, der zu den größten und feinsten Denkern unserer Zeit gehört, in seinem Buch »Pfade in Utopia«, das übrigens gerade dem Genossenschafter sehr viel Stoff zum Nachdenken gibt. Er untersucht kritisch, aber auch sehr objektiv Lenins Vorstellungen über die Genossenschaft und Lenins Einfluß auf die genossenschaftliche Entwicklung in der Sowjetunion. Was Martin Buber darüber sagt, ist ebenso interessant wie aktuell, gerade im Hinblick auf die Auseinandersetzungen im Internationalen Genossenschaftsbund. Wir geben deshalb das Kapitel über Lenin und die Genossenschaften hier im Wortlaut wieder (Zwischentitel und Hervorhebungen in Schrägschrift von uns). Die Red. d2 232,9 und Träger des kleinbürgerlichen Geistes] hund Träger des kleinbürgerlichen Geistesi h2 232,14 Entwurf eines Dekrets] Entwurf eines Dekrets [hder später nach Verhandlungen gerade dieser entscheidenden Punkte entkleidet wurdei] h2 232,16 In manchen Kreisen] davor Absatzwechsel d2 232,17 Eliminierung] [Aufhebung] ! Eliminierung h2 232,27 einer »einzigen großen gemeinsamen Kooperative«] heiner »einzigen großen gemeinsamen Kooperative«i h2 232,29 , ja seine Existenz als Prinzip] h, ja seine Existenz als Prinzipi h2 232,31 Die Verwirklichung] davor Absatzwechsel d2 232,32 unternommen] [realisiert] ! unternommen h2 233,1-4 und auf seine […] betonte –] hund auf seine […] betonte –i h2 233,9 Eine Institution] davor Absatzwechsel d2 233,16 »Anarchisten«] »Anarchisten« [insbesondere Kropotkins und Landauers] h2 233,19 der Notwendigkeit] [dem Zweck] ! der Notwendigkeit h2 233,21 Wieder nach einem Jahr] davor Absatzwechsel mit Zwischentitel Eine Spielart des Staatskapitalismus d2 233,25 Frühjahr 1921 weist er] Frühjahr 1921 [, die man nicht in der verbreiteten gekürzten Fassung lesen darf,] weist er h2 233,31-36 Und weiter: »Der […] zu leiten«.] hUnd weiter: »Der […] zu leiten«.i h2

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233,36-37 Diese Warnung und Weisung sprach] [Dieser Warnung und Weisung gemäss wurde damals in Russland gehandelt] ! Diese Warnung und Weisung sprach h2 233,38-41 (Lenin selbst […] vorzunehmen«)] fehlt d2 234,19-30 Nunmehr verzichtete man, […] durchgeführt wurden.] hNunmehr verzichtete man, […] durchgeführt wurden.i h2 234,19 Nunmehr verzichtete] davor Absatzwechsel d2 235,4 Ja, er geht] davor Absatzwechsel d2 235,13 In der geplanten] davor Absatzwechsel d2 235,23 unerbittlich] [einen maschinenhaft] ! unerbittlich h2 235,29 So jedenfalls war] davor Absatzwechsel d2 235,32-36 Er wollte […] Prinzip der Freiheit.] hEr wollte […] Prinzip der Freiheit.i h2 235,37 Manche haben] davor Zwischenüberschrift Die Quadratur des Zirkels d2 235,37 so stark betonten Hinwendung] hso stark betonteni Hinwendung h2 236,5 Mühen] Mühen [und Kämpfen] h2 236,8 erhoffte] [erträumte] ! erhoffte h2 236,9 allbeschattenden] [allmächtigen] ! allbeschattenden h2 236,15 Wesen] [Begriffe] ! Wesen h2 236,26 Vielmehr ist es offenbar] [Ich möchte vermuten] ! Vielmehr ist es offenbar h2 236,31 angewiesen war.] Ende von d2 237,5 nahekomme] [gleichkomme] ! nahekomme h2 237,21 mit größter Intensität] [einerseits die Staatswirtschaften, die »Sowchosen«, zu erweitern und neue] ! mit größter Intensität h2 237,25 Individualwirtschaft] [Individualbewirtschaftung des Bodens] ! Individualwirtschaft h2 237,25 Die Kollektivierungsaktion] [Von da an nimmt die Kollektivierungsaktion stark zu und] ! [Es ist mit Recht gesagt worden, dass es sich dabei um eine »Verbindung des alten russischen agrarkommunistischen Gedankens, der den Bauern an die gemeinsame Bewirtschaftung des Bodens gewöhnt hatte, mit dem modernden kommunistischen Gedanken des Marxismus, seiner Industrialisierung und Technisierung der Landwirtschaft« handelte.] ! Die Kollektivierungsaktion h2 237,34-36 Innerhalb von drei […] gewisse Hebel«.] hInnerhalb von drei […] gewisse Hebel«.i h2 238,14-15 auf dem Weg zur vollständigen Dorfkommune] hauf dem Weg zur vollständigen Dorfkommunei h2

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238,32-35 In den nächsten Jahren […] ausmachten.] hIn den nächsten Jahren […] ausmachten.i h2 238,37-38 System der Bodenbebauung] System der Bodenbebauung [, das den neuen Methoden zum Opfer fiel] h2 239,1 die Aufgabe] die Aufgabe [, die nicht erfüllt worden ist] h2 239,10 politisch motivierte Tendenz] hpolitisch motiviertei Tendenz h2 239,15-16 universalen Staatsfabrik] [Staatsindustrie] ! universalen Staatsfabrik h2 239,19 Lebensessenz] Lebenssubstanz h2 239,25 im russischen Volk] [in Russland] ! im russischen Volk h2 239,26 Werk] [Arbeit] ! Werk h2 240,12 Großes] [Ungeheures] ! Großes h2 240,17 sich diesem Regime anheimgibt] [sich von diesem Regime tragen lässt, obgleich seit dem alten Ägypten kein Staat so gründlich das individuelle] ! sich diesem Regime anheimgibt h2 240,22-27 »Wie soll«, […] zu schalten?«] h»Wie soll«, […] gebracht worden.i] h2 240,30-31 gegeben, – womit nicht] [gewährt. Man ahnte Kräfte, noch unbenannt, die sich in der Tiefe regen. Rückwärts kann sie nicht gehen, nur vorwärts – aber in einer neuen Richtung] ! gegeben – womit nicht h2 240,35-36 hängt alles ab] hängt Ungeheures ab, Ungeheures muss sich entscheiden h2 Wort- und Sacherläuterungen: 119,4 »Der kritisch-utopistische Sozialismus und Kommunismus«] Vgl. Karl Marx u. Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, Kap. 5. Sozialistische und kommunistische Literatur. »Der kritischutopistische Sozialismus und Kommunismus«, MEW, Bd. 4, Berlin 1959, S. 489. 119,6 »Bund der Gerechten«] Der Bund der Gerechten (auch »Bund der Gerechtigkeit« genannt) bildet ein Anfangsstadium der europäischen kommunistischen und sozialistischen Parteien. 1836 wurde der Bund in Paris von dem Schneidergesellen und Theoretiker des Kommunismus Wilhelm Weitling aus dem schon seit zwei Jahren bestehenden geheimen »Bund der Geächteten« gegründet. 1840 wurde der Sitz des Bundes nach London verlegt. Im Januar 1847 lädt die Leitung des Bundes Friedrich Engels und Karl Marx ein, dem Bund beizutreten. 1847 wurde letzterer unter dem entscheidenden Einfluss von Marx, Engels und Wilhelm Wolff (1809-1864) in Bund der Kommunisten umbenannt. Der Bund der Kommunisten bestand bis 1852.

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Über den Bund der Kommunisten, vgl. Friedrich Engels, Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, erstmals erschienen in: Der Sozialdemokrat, November 1885, 46-48, dann als Einführung zur zweiten Ausgabe der Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln, Zürich 1885. 119,7 »Formulierung eines kommunistischen Glaubensbekenntnisses«] Friedrich Engels, Grundsätze des Kommunismus, MEW, Bd. 4, S. 363-380. Im September 1847 sandte die Londoner Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten den Entwurf eines »Kommunistischen Glaubensbekenntnisses« an die Kreise und Gemeinden des Bundes. Engels kritisierte den Entwurf scharf und erhielt den Auftrag, einen neuen zu verfassen. Dieser neue Entwurf waren die »Grundsätze des Kommunismus«. 119,8 ein Entwurf von Moses Heß] Der in Paris von Moses Hess angefertigte Entwurf eines kommunistischen Glaubensbekenntnisses hatte Engels nicht zufriedengestellt. Auf der Sitzung der Pariser Sektion des Bundes der Kommunisten am 22. Oktober 1847 kritisierte Engels den Entwurf von Moses Hess in allen Einzelheiten. 119,10 Einberufung eines Allgemeinen Kommunistischen Kongresses] Der zweite kommunistische Kongress fand Anfang Dezember 1848 in London statt. 119,12-13 »Stellung in Beziehung […] kommunistischen Parteien«] Nicht nachgewiesen. 119,15 Fourieristen] Es handelt sich um die Anhänger der frühsozialistischen Lehren des französischen Gesellschaftstheoretikers Charles Fourier (1772-1837). Fourier und seine Schüler, die für die Propaganda der Lehren Fouriers äußerst tätig waren, standen der egalitären, republikanisch-jakobinischen Tradition fern und wollten das Geld nicht abschaffen. Deshalb fand die Lehre Fouriers mehr Anhänger unter den Wohlhabenden und den Leuten von Bildung. 119,15 »diese seichten Menschen«] Nicht nachgewiesen. 119,16-17 die Zentralbehörde dem Londoner Bundeskongreß vorlegte] Im September 1847 schickte die Londoner Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten den vom utopischen Sozialismus geprägten Entwurf eines »Kommunistischen Glaubensbekenntnisses« an die Gemeinden des Bundes. Dieser Entwurf wurde von Marx und Engels angeprangert. 119,19-23 »großartige Reformsysteme […] Bourgeois-Sozialisten«] »Zu diesem Zweck schlagen die einen bloße Wohltätigkeitsmaßregeln vor, die anderen großartige Reformsysteme, welche unter dem Vorwand, die Gesellschaft zu reorganisieren, die Grundlagen der jetzigen Ge-

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sellschaft und damit die jetzige Gesellschaft beibehalten wollen. Diese Bourgeoissozialisten werden ebenfalls von den Kommunisten fortwährend bekämpft werden müssen, denn sie arbeiten für die Feinde der Kommunisten und verteidigen die Gesellschaft, welche die Kommunisten gerade stürzen wollen.« Engels, MEW 4, S. 378. 119,28 Cabet] Étienne Cabet (1788-1856) war ein Jurist, Publizist und Revolutionär. Zuerst war er Anhänger der Französischen Julirevolution von 1830, dann – enttäuscht von der politischen Milde des Bürgerkönigs Louis Philippe – wird er zum Sozialisten. Während seines Londoner Exils lernt er Robert Owen kennen und begeisterte sich für dessen Ideen. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich bemühte er sich um die soziale Erneuerung. Er verfasste den 1839 anonym veröffentlichten Roman Voyage en Icarie (»Die Reise nach Ikarien«), worin er die Utopie eines Gemeinwesens entwirft. Die dieser Skizze gemäße Kolonie »Ikarien« wurde von Cabet am Mississippi River in den USA gegründet, scheiterte aber. 119,28 Weitling] Wilhelm Christian Weitling (1808-1871): demokratisch-revolutionär gesinnter Schneidergeselle, der gegen die reaktionären Verhältnisse des Deutschen Bundes agitierte, was ihn ins Pariser Exil brachte. Später war er Frühsozialist mit christlicher Anschauung und Initiator des 1836 in Paris gegründeten Bundes der Gerechtigkeit. 119,28 Babeuf] François Noël Babeuf (Gracchus Babeuf, 1760-1797): franz. Journalist und linksrevolutionärer Agitator. Er nahm an der französischen Revolution teil, übte dann radikale Kritik an der Herrschaft des Direktoriums. 1795 gründete er den frühsozialistischen Geheimbund »Verschwörung der Gleichen« (Conjuration des Égaux). Als Frühsozialist übte er einen überaus großen Einfluss auf die späteren sozialrevolutionären Bewegungen aus. 119,37-38 Streitschrift gegen Proudhon] Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons Philosophie des Elends wurde von Karl Marx 1847 in französischer Sprache verfasst (Misère de la philosophie. Réponse a la philosophie de la misère de M. Proudhon) und war gegen die sozialistische Lehre Proudhons gerichtet. Die Streitschrift erschien erstmals 1847 in Paris und Brüssel, in deutscher Sprache erst nach dem Tod von Marx 1884/1885 in Stuttgart mit einem Vorwort von Friedrich Engels. 119,38-120,2 »Diese Theoretiker sind Utopisten […] Organ zu machen.«] Karl Marx, Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons Philosophie des Elends, MEW, Bd. 4, S. 63-182, hier S. 143. 120,13-21 »›Geheimlehre‹ […] der Gesellschaft.«] »Wir veröffentlichten gleichzeitig eine Reihe teils gedruckter, teils lithographierter Pam-

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phlets, worin das Gemisch von französisch-englischem Sozialismus oder Kommunismus und von deutscher Philosophie, das damals die Geheimlehre des ›Bundes‹ bildete, einer unbarmherzigen Kritik unterworfen, statt dessen die wissenschaftliche Einsicht in die ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft als einzig haltbare theoretische Grundlage aufgestellt und endlich in populärer Form auseinandergesetzt ward, wie es sich nicht um Durchführung irgendeines utopistischen Systems handle, sondern um selbstbewußte Teilnahme an dem unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Umwälzungsprozeß der Gesellschaft.« Karl Marx, Herr Vogt, MEW, Bd. 14, S. 381-686, hier S. 439. 120,21 Der gegen den »Utopismus« polemisierende Abschnitt des Manifests] Es handelt sich hier um das dritte Kapitel des Manifests der kommunistischen Partei (»Sozialistische und kommunistische Literatur«), in dessen drittem Abschnitt sich die Autoren mit dem von ihnen so genannten »kritisch-utopistischen Sozialismus und Kommunismus« auseinandersetzen. Diese ersten von Saint Simon, Fourier und Owen vorgenommenen Versuche, einen gesellschaftskritischen Ansatz zu entwickeln, seien laut Marx und Engels von deren Jüngern und Schülern reaktionär ausgelegt worden, indem diese den inzwischen eingetretenen, entscheidenden Wechsel der Produktionsverhältnisse nicht verstanden hätten. 120,31-32 seiner Übersetzung eines Fragments aus dem Nachlaß von Fourier] Es handelt sich um den 1846 von Engels veröffentlichten Artikel »Ein Fragment Fouriers über den Handel«. Der Artikel erschien im Jahrbuch Das deutsche Bürgerbuch, das 1845 in Darmstadt und 1846 in Mannheim herausgegeben wurde. Dieses demokratische Organ, in dem revolutionäre und sozialistische Beiträge erschienen, wurde nach der Veröffentlichung zweier Bände beschlagnahmt und von der Regierung verboten. 120,38-121,2 »Was die Franzosen und Engländer […] neue Erfindung drucken lassen.«] Friedrich Engels, Ein Fragment Fouriers aus dem Handel, MEW, Bd. 2, S. 604-610, hier S. 607. 121,3 »Ich nehme […] nicht aus.«] Ebd., S. 605. 121,5-6 »Fourier konstruiert sich […] richtig erkannt hat.«] Ebd., S. 607. 121,10-11 in seinem Buch gegen Dühring] Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft (kurz als Anti-Dühring bekannt) ist eine Streitschrift, die aus einer 1877-1878 im Vorwärts fortsetzungsweise erschienenen Artikelserie besteht und die gegen den einflussreichen, rassenantisemitischen Denker Eugen Dühring (1833-1921) und des-

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sen Werke gerichtet ist. Der in polemischem Stil verfasste Aufsatz, den Engels unter Mitarbeit von Marx verfasste, galt als einer der bekanntesten und einflussreichsten Texte des Marxismus. 121,12-13 »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«] Dieser Aufsatz ist eine auf drei Kapiteln basierende Kurzfassung des Anti-Dühring. Die Schrift erschien erstmals 1880 in französischer Sprache in der Zeitschrift La Revue socialiste. Die erste deutschsprachige Ausgabe wurde 1883 in Zürich veröffentlicht. Die Schrift hatte einen enormen Erfolg und wurde bis 1895 in vierzehn Sprachen übersetzt. 121,16-21 »die Stifter […] sichtbar hervortraten«.] »Die Utopisten, sahen wir, waren Utopisten, weil sie nichts andres sein konnten zu einer Zeit, wo die kapitalistische Produktion noch so wenig entwikkelt war. Sie waren genötigt, sich die Elemente einer neuen Gesellschaft aus dem Kopfe zu konstruieren, weil diese Elemente in der alten Gesellschaft selbst noch nicht allgemein sichtbar hervortraten; sie waren beschränkt für die Grundzüge ihres Neubaus auf den Appell an die Vernunft, weil sie eben noch nicht an die gleichzeitige Geschichte appellieren konnten.« Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührung’s Umwälzung der Wissenschaft, MEW, Bd. 20, S. 1-303, hier S. 247. 121,26-27 »die gesellschaftlichen Aufgaben […] verborgen lagen«] »Die Lösung der gesellschaftlichen Aufgaben, die in den unentwickelten ökonomischen Verhältnissen noch verborgen lag, sollte aus dem Kopfe erzeugt werden. Die Gesellschaft bot nur Mißstände; sie zu beseitigen war Aufgabe der denkenden Vernunft.« Ebd. S. 241. 121,28-29 Die ökonomischen Widersprüche oder die Philosophie des Elends] Es geht um Proudhons im Oktober 1846 erschienenes, in Frankreich sehr verbreitetes Werk Système des contradictions économiques ou Philosophie de la misère, worauf Marx mit dem Elend der Philosophie 1847 antwortete. Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 119,37-38. 121,30-31 eine Reihe gewichtiger Werke] Darunter zu erwähnen sind Solution du problème social (1848), Les Confessions d’un révolutionnaire pour servir à l’histoire de la Révolution de Février (1849), Idée générale de la révolution au XIXe siècle (1851), Le manuel du spéculateur à la bourse (1854), De la justice dans la révolution et dans l’Église. Nouveaux Principes de philosophie pratique (1858), La Guerre et la Paix (1861), Du principe Fédératif (1863), De la capacité politique des classes ouvrières (posthum erschienen 1865), Du principe de l’art et de sa destination sociale (posthum erschienen 1865), Théorie

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de la propriété (posthum erschienen 1866), Théorie du mouvement constitutionnel (posthum erschienen 1870). 121,34-35 den Begriff der »sozialistischen Utopie« entnommen hatte] »Ainsi, deux puissances se disputent le gouvernement du monde, et s’anathématisent avec la ferveur de deux cultes hostiles: l’économie politique, ou la tradition; et le socialisme, ou l’utopie«, Pierre-Joseph Proudhon, Système des contradictions économiques, ou philosophie de la misère, Œuvres Complètes, Bd. I, hrsg. von Céléstin Bouglé, Henri Moysset, Genève u. Paris 1982, S. 66-67). 121,37 »konservativen oder Bourgeois-Sozialisten«] Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 119,19-23. 121,39-40 »weil er weder […] zu erheben«] »Demgemäß schmeichelt sich Herr Proudhon, die Kritik sowohl der politischen Ökonomie als des Kommunismus gegeben zu haben – er steht tief unter beiden. Unter den Ökonomen, weil er als Philosoph, der eine magische Formel bei der Hand hat, sich erlassen zu können glaubt, in die rein ökonomischen Details einzugehen; unter den Sozialisten, weil er weder genügend Mut noch genügend Einsicht besitzt, sich, und sei es auch nur spekulativ, über den Bourgeoishorizont zu erheben.« Karl Marx, Das Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, S. 143 f. 122,2-4 »enormes Unheil […] die Utopisten«] »P r o u d h o n hat enormes Unheil angerichtet. Erst ergriff und bestach seine Scheinkritik und sein Scheingegensatz gegen die Utopisten (er selbst ist nur ein spießbürgerlicher Utopist, während in den Utopien eines F o u r i e r, O w e n u. s. w. die Ahnung und der phantastische Ausdruck einer neuen Welt) die ›jeunesse brillante‹, die Studenten, dann die Arbeiter, besonders die Pariser, die als Luxusarbeiter, ohne es zu wissen, ›sehre‹ dem alten Dreck angehören. Unwissend, eitel, anmaßend, schwatzsüchtig, emphatisch aufgeblasen, waren sie auf dem Punkt, alles zu verderben, da sie in Zahlen zum Congreß eilten, die in gar keinem Verhältniß zur Zahl ihrer Mitglieder steht.« Brief von Marx an Ludwig Kugelmann, 9. Oktober 1866, in: Briefe. Oktober 1864 bis Dezember 1867, MEW, Bd. 31, S. 530. 122,6-7 sieben Rezensionen […] veröffentlichte] Unter dem Deckmantel der Kritik veröffentlichte Engels in der bürgerlichen Presse viele Rezensionen zum Werk von Marx. Den ersten Band des Kapitals rezensierte Engels 1867 u. a. für die Elberfelder Zeitung, für die Rheinische Zeitung und für Die Zukunft. 122,7-10 »den sozialistischen Bestrebungen […] zu geben vermochte«] »Es ist schon häufig davon in der Presse die Rede gewesen, daß Marx die Resultate seiner langjährigen Studien in einer Kritik der gesamten

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bisherigen Nationalökonomie zusammenfassen und damit den sozialistischen Bestrebungen die wissenschaftliche Unterlage geben wolle, die ihnen bisher weder Fourier noch Proudhon, noch auch Lassalle zu geben vermochte.« Friedrich Engels, Rezension des Ersten Bandes »Das Kapital« für die Elberfelder Zeitung. Nr. 302. 2. Nov. 1867, MEW, Bd. 16, S. 215. 122,12 »Heiligen Familie«] Buber weist hier auf die Schrift Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer & Consorten hin. Es handelt sich um das erste von Marx und Engels gemeinsam verfasste Buch. Buber gibt hier aber ein falsches Datum an: Zu diesem gemeinsamen Schreiben entschlossen sich Marx und Engels 1844, aber die Schrift erschien 1845 bei Joseph Rütten in Frankfurt a. M. In diesem polemischen, zum überwiegenden Teil von Marx stammenden Buch nehmen die Autoren von den Theorien Bruno Bauers und der anderen Junghegelianer Abstand. 122,13 Proudhons Buch über das Eigentum] Es handelt sich hier nicht um die posthum erschienene Théorie de la propriété (1866), sondern um den früheren Aufsatz Qu’est-ce que la propriété ? ou Recherche sur le principe du Droit et du Gouvernement (Paris 1840). 122,14-15 »der die Nationalökonomie […] möglich macht«] »Proudhon nun unterwirft die Basis der Nationalökonomie, das Privateigentum, einer kritischen Prüfung, und zwar der ersten entschiednen, rücksichtslosen und zugleich wissenschaftlichen Prüfung. Dies ist der große wissenschaftliche Fortschritt, den er gemacht hat, ein Fortschritt, der die Nationalökonomie revolutioniert und eine wirkliche Wissenschaft der Nationalökonomie erst möglich macht.« Karl Marx u. Friedrich Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Consorten, MEW, Bd. 2, S. 3-223, hier S. 32 f. 122,17-18 »ein wissenschaftliches Manifest […] historischer Bedeutung«] »Proudhon schreibt nicht nur im Interesse der Proletarier; er selbst ist Proletarier, Ouvrier. Sein Werk ist ein wissenschaftliches Manifest des französischen Proletariats und hat daher eine ganz andre historische Bedeutung als das literarische Machwerk irgendeines kritischen Kritikers.« Ebd. S. 43. 122,29 Kritik der »Communauté« […] zu lesen ist] Im zweiten Teil des fünften Kapitels seiner 1840 verfassten Abhandlung über das Eigentum (Qu’est-ce que la propriété ?, vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 122,13) führt Proudhon die Ähnlichkeiten zwischen Eigentum und Gemeinschaft in negativem Sinne aus (zweiter Abschnitt – Caractère de la communauté et de la propriété). Er kritisiert die Ge-

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meinschaft im Sinne eines Sozialgefüges (wie z. B. Klöster, prähistorische Gesellschaften, die von Plato beschriebene Republik, die sozialistischen Systeme), das die Kollektivität über das Individuum stellt. Im Vergleich zum Eigentum ist die Gemeinschaft eine entgegengesetzte Ungleichheit: während das Eigentum die Ausbeutung der Schwachen durch die Starken verursacht, stellt die Gemeinschaft umgekehrt die Ausbeutung der Starken durch die Schwachen dar. 122,31-32 Proudhons Ablehnung von Marxens Aufforderung zur Zusammenarbeit] In einem an Proudhon gerichteten Brief vom 5. Mai 1846 informiert Marx, der nach seiner Ausweisung aus Frankreich in Brüssel wohnte, den französischen Sozialisten darüber, dass er zusammen mit Friedrich Engels und dem Belgier Philippe Gigot eine fortlaufende Korrespondenz mit den deutschen Kommunisten und Sozialisten organisiert hat. Die Korrespondenz wird sich mit der Erörterung wissenschaftlicher Fragen und mit der Herstellung einer Verbindung zwischen deutschen, französischen und englischen Sozialisten beschäftigen. Was Frankreich betrifft, glaubt Marx, könnte man keinen besseren Korrespondenten finden als Proudhon, der sich zu dieser Zeit in Lyon befindet. Diese vage angedeutete »fortlaufende Korrespondenz« bezieht sich auf das von Marx und Engels Anfang 1846 in Brüssel geschaffene kommunistische Korrespondenz-Komitee, einen Zusammenschluss der Sozialisten und fortschrittlichen Arbeiter verschiedener europäischer Länder, der den wissenschaftlichen Kommunismus und die Arbeiterbewegung verschmelzen und eine internationale proletarische Partei vorbereiten sollte. Der Versuch, Proudhon für die Mitarbeit zu gewinnen, scheiterte: In seiner Antwort vom 17. Mai 1846 lehnte er de facto das Angebot wegen dessen Verschwommenheit ab. 122,33-34 im Juli 1870 nach Kriegsausbruch] Gemeint ist hier der deutsch-französische Krieg zwischen Frankreich und dem Norddeutschen Bund unter der Führung Preußens sowie den mit dem Norddeutschen Bund alliierten Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt (19. Juli 1870 bis 10. Mai 1871). 122,34-123,2 »Die Franzosen brauchen […] Theorie über die Proudhons etc.«] Brief von Marx an Engels, 20. Juli 1870. MEW, Bd. 33, S. 5. 123,4 »Zur Wohnungsfrage«] Die Schrift wurde zwischen Juni 1872 und Februar 1873 verfasst und erschien fortsetzungsweise in der von 1869 bis 1876 veröffentlichten Leipziger Zeitschrift Der Volksstaat, dem Zentralorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, zu dessen Redakteuren u. a. Wilhelm Liebknecht (1826-1900) gehörte.

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123,6-9 »wo wir […] industriellen Entwicklung«] »Der Kleinbürger Proudhon verlangt eine Welt, in der jeder ein apartes, selbständiges Produkt verfertigt, das sofort verbrauchbar und auf dem Markt austauschbar ist; wenn dann nur jeder den vollen Wert seiner Arbeit in einem andern Produkt wiedererhält, so ist der ›ewigen Gerechtigkeit‹ Genüge geleistet und die beste Welt hergestellt. Aber diese Proudhonsche beste Welt ist schon in der Knospe zertreten worden durch den Fuß der fortschreitenden industriellen Entwicklung.« Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage, MEW, Bd. 18, S. 209-287, hier S. 220. 123,28 1850 im »Deutschen Bauernkrieg«] Mit der deutschen Geschichte beschäftigte sich Engels eingehend und ausführlich. In den ab 1524 ausgebrochenen Bauernaufständen sah er »den Angelpunkt der ganzen deutschen Geschichte«, wie er in einem an Friedrich Adolph Sorgen gerichteten Brief vom 31. Dezember 1884 behauptet, MEW, Bd. 36, S. 264. Der deutsche Bauernkrieg wurde im Sommer 1850 verfasst und erschien erstmals im fünften und sechsten Heft der Hamburger, von Karl Marx redigierten Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue. Wiederabgedruckt wurde das Werk 1870. 123,30-33 »die bei aller […] nachweisen«] »Wie der deutsche theoretische Sozialismus nie vergessen wird, daß er auf den Schultern SaintSimons, Fouriers und Owens steht, dreier Männer, die bei aller Phantasterei und bei allem Utopismus zu den bedeutendsten Köpfen aller Zeiten gehören und zahllose Dinge genial antizipierten, deren Richtigkeit wir jetzt wissenschaftlich nachweisen – so darf die deutsche praktische Arbeiterbewegung nie vergessen, daß sie auf den Schultern der englischen und französischen Bewegung sich entwickelt hat, ihre teuer erkauften Erfahrungen sich einfach zunutze machen, ihre damals meist unvermeidlichen Fehler jetzt vermeiden konnte.« Friedrich Engels, Ergänzung der Vorbemerkung von 1870 zu Der deutsche Bauernkrieg, MEW, Bd. 18, S. 512-517, hier S. 516. 124,5-8 Pfingsten 1928 […] Aussprache] Vom 31. Mai bis zum 2. Juni 1928 fand in Bubers Wohnort Heppenheim eine Tagung religiöser Sozialisten statt. Vgl. Martin Buber, [Drei Diskussionsbeiträge in »Sozialismus aus dem Glauben«], jetzt in: MBW 11.1, S. 333-339, sowie den Kommentar zu diesem Text, ebd., S. 599-603. 124,12-13 »Es geht […] haben«] Ebd., S. 335. 124,13-15 Das rettete mich nicht […] erledigte ] Die kritische Bemerkung ist dem Soziologen und sozialdemokratischen Nationalökonomen Adolf Löwe (1893-1995), einem Schüler Franz Oppenheimers

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und Kollegen Paul Tillichs und Max Horkheimers am Institut für Sozialforschung, zuzuschreiben. Er ist Vorsitzender bei Bubers Aussprache und macht diesem den Vorwurf des Utopismus. Vgl. den Kommentar zu [Drei Diskussionsbeiträge in »Sozialismus aus dem Glauben«], in: MBW 11.1, S. 607. 125,33 messianische Eschatologie […] prophetische Form] Ein Großteil von Bubers vieljährigen Bibelstudien und von seinem Forscherleben ist dem Thema der messianischen Heilserwartung gewidmet. In diesen Rahmen gehört das Projekt des dreibändigen Werkes unter dem Titel Das Kommende: Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte des messianischen Glaubens, dessen erster Teil Königtum Gottes (Berlin: Schocken Verlag 1932, jetzt in: MBW 15, S. 93-266) ist eine als Habilitationsschrift gedachte Analyse des Wesens und der Entstehungsbedingungen des jüdischen Messianismus. Die beiden Folgebände der Trilogie erschienen nicht mehr in der vorgesehenen Form. Der zweite mit dem Titel Der Gesalbte blieb Fragment (jetzt in: MBW 15, S. 281-352). In eine thematische Kontinuitätslinie können jedoch die zwei 1942 und 1945 in hebräischer Sprache erschienenen Werke Der Glaube der Propheten (deutsche Ausgabe Zürich: Manesse Verlag 1950) und Moses (deutsche Ausgabe Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1952) eingeordnet werden. 127,13-16 Für Thomas Morus […] Einrichtungen] Buber weist hier auf den berühmten, 1516 in lateinischer Sprache von dem engl. Philosophen und Staatsmann Thomas Morus (1478-1535) veröffentlichten philosophischen Dialog Utopia hin, dessen voller Titel De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia (»Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia«) lautet. In diesem äußerst einflussreichen Werk, das den Auftakt zum Genre der Sozialutopie und des utopischen Romans bildet, macht Morus von satirischen Darstellungen und ironischen Brechungen des Utopiegedanken oft Gebrauch. 128,3-4 Die erste […] aus dem alten Iran] Sehr früh zeigte Buber Interesse für die altiranische religiöse und literarische Tradition. Hinweise auf das Buch Avesta tauchen schon in der 1915 in Berlin gehaltenen Rede »Der Geist des Orients und das Judentum« auf (jetzt in: MBW 2.1, S. 187-203, hier S. 190). Mit den Unterschieden zwischen den biblischen und den iranischen Traditionen setzte sich Buber 1936 in den vom Philosophen Paul Desjardins (1859-1940) veranstalteten, dem Thema des Bösen gewidmeten Entretiens de Pontigny erneut auseinander, wobei er sich mit den zwei verschiedenen kulturellen Grundauffassungen spezifisch beschäftigt. Diese Reflexionen

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münden dann in die etwas spätere Abhandlung Bilder von Gut und Böse (jetzt in: MBW 12, S. 315-358), die die biblische und avestische Überlieferungslinie erneut miteinander vergleicht. 128,13 nimmt bei Marx die Gestalt der Hegelschen Dialektik an] An der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität, die er seit 1835 besuchte, näherte sich Marx dem Kreis der Jung- oder Linkshegelianer, dem sogenannten »Doctorclub« an, deren bedeutendste Vertreter die Brüder Bruno und Edgar Bauer waren und die soziale Änderungen in der preußischen Gesellschaft zugunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten befürworteten. Insbesondere war er mit den Junghegelianern Karl Friedrich Köppen und Adolf Friedrich Rutenberg befreundet. Wegen seiner junghegelianischen Sympathien wurde ihm eine akademische Laufbahn verwehrt. 128,21-23 »keiner als er […] heraufzog.«] Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat, Bd. 2: Weltepochen, München u. Berlin 1920, S. 203. 128,27-28 »der Sprung der Menschheit […] Freiheit«] »Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maß auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.« Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW, Bd. 19, S. 210-228, hier S. 226. 128,30 Paul Tillich] Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Erwähnung Tillichs. In der Pfingstwoche 1928 hatten Buber und Tillich an der sozialistischen Tagung zum Thema »Sozialismus aus dem Glauben« in Heppenheim teilgenommen. Vgl. hierzu die Wort- und Sacherläuterung zu 124,5-8. 128,30-31 »in keiner Weise […] verständlich gemacht werden«] »Der Sozialismus muß, wenn er auf eine kommende harmonische Welt wartet, mit einem Sprung rechnen, der in keiner Weise aus der gegebenen Wirklichkeit verständlich gemacht werden kann.« Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung, Berlin 1980, S. 64. 128,32-35 »zwischen Wirklichkeit […] von sich abwehren können«] Ebd., S. 67. 128,36 Eduard Heimann] Eduard Magnus Mortier Heimann (18891967) war ein Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe jüdischer Herkunft. Er war religiöser Sozialist und sein Kontakt zu Tillich bestand seit den Anfangsjahren der Weimarer Republik. Neben Tillich und Carl Mennicke war Heimann einer der Hauptvertreter des sogenannten »Tillich-Kreises« (auch als »Kairos-Kreis« bekannt). Nach

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1933 musste er seinen Lehrstuhl für Theoretische und praktische Sozialökonomie an der Universität Hamburg aufgeben und ging in die USA ins Exil. 1928 nahm er an der Heppenheimer soziologischen Tagung teil und referierte über die Begründung des Sozialismus. 128,36-41 »Mit Menschen wie sie sind […] Metaphern umschrieben werden.«] Nicht nachgewiesen. 129,33 der planende Verstand] Wie die Handschrift des Textes bezeugt (vgl. den Variantenapparat zu 129,32), entnimmt Buber diesen Begriff dem Gedankensystem des Soziologen Karl Mannheim (18931947). Das planende Denken und der planende Verstand im Gegensatz zum erfindenden Verstand kommen zum Beispiel in der 1935 veröffentlichten Abhandlung Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus an vielen Stellen vor, z. B.: »Eine andere Frage ist, ob wir gleichzeitig annehmen müssen, daß die menschliche Existenz nur in der Form des kapitalistischen Menschen vorstellbar ist, und ob wir nicht Ursache haben, den Spielraum der Umformbarkeit des Menschen genauer zu studieren. Auch dann, wenn man der Überzeugung ist, daß der Mensch ein veränderbares Wesen ist, hat der planende Verstand die Verpflichtung, als Ausgangspunkt unbedingt jene Form der seelischen Verhaltungsweisen zu wählen, die wir in unserer Gesellschaft vorfinden.« (Karl Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Leiden 1935, S. 155.) »Dennoch ist es bereits auf dem Wege zum planenden Verstand, insofern als es die Totalität eines abstrakten Querschnittes im Gesamtgeschehen, den des organisierten Sichverhaltens aller Glieder der Gesellschaft, berechenbar und lenkbar machen will.« Ebd., S. 181. 130,14-16 »hinsichtlich Frankreichs […] können«] »Unsere Verbindungen mit England sind bereits hergestellt; was Frankreich anbetrifft, so glauben wir alle, daß wir dort keinen besseren Korrespondenten finden können als Sie: Sie wissen, daß die Engländer und die Deutschen Sie bisher mehr zu würdigen gewußt haben als Ihre eigenen Landsleute.« Brief von Marx an Pierre-Joseph Proudhon, 5. Mai 1846, in: Briefe. Januar 1842 bis Dezember 1851, MEW, Bd. 27, S. 442 f. Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 122,31-32. 130,16-27 »Suchen wir gemeinsam […] Religion der Vernunft.«] »Cherchons ensemble, si vous voulez, les lois de la société, le mode dont ces lois se réalisent, le progrès suivant lequel nous parvenons à les découvrir; mais, pour Dieu! après avoir démoli tous les dogmatismes à priori, ne songeons point à notre tour, à endoctriner le peuple; ne tombons pas dans la contradiction de votre compatriote Martin Luther, qui, après avoir renversé la théologie catholique, se mit aussitôt,

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à grand renfort d’excommunications et d’anathèmes, à fonder une théologie protestante […] ne nous faisons pas les chefs d’une nouvelle intolérance, ne nous posons pas en apôtres d’une nouvelle religion; cette religion fût-elle la religion de la logique, la religion de la raison.« Pierre-Joseph Proudhon an Karl Marx, Lyon, den. 17. Mai 1846, in Correspondance de P.-J. Proudhon, Paris 1875, 14 Bde., Bd. 2, S. 198-202, hier S. 202. 131,3-4 keinen Sonderaspekt und keine Sonderinitiative duldenden Zentralismus] Schon seit den früheren Schriften über den Sozialismus hat sich Buber das sozialistische Gemeinwesen stets als einen »Bund von Bünden« (vgl. S. 157) und als eine »Gemeinschaft von Gemeinschaften« (ebd.) vorgestellt. Demzufolge ist er gegenüber Gesellschaftsordnungen und insbesondere gegenüber dem staatlichen Zentralismus misstrauisch. Zum Problem vom Zentralismus und Dezentralisation vgl. auch »Drei Diskussionsbeiträge in ›Sozialismus aus dem Glauben‹«, jetzt in: MBW 11.1, S. 382. 131,25 Gierke] Die Erwähnung des Rechtshistorikers Otto von Gierke (1841-1921) ist nicht zufällig. Zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert war er der größte deutsche Experte für das Genossenschaftsrecht im germanischen Mittelalter und in der Neuzeit. Ausgehend von seinen Studien über das Genossenschaftsgesetz war Gierke ein früher Kritiker des Individualismus und des Individualisierungsprozesses. Daneben hatte er die Tochter des Verlegers Karl Friedrich Loening (1810-1884) geheiratet, der zusammen mit dem Frankfurter Kaufmann Joseph Rütten (1805-1878) 1844 die Literarische Anstalt Rütten & Loening gegründet hatte, die eine große Anzahl von Bubers chassidischen und mythisch-mystischen Werken zwischen 1906 und 1924 veröffentlichte. Außerdem erschien 1845 bei demselben Verlag Die heilige Familie, das erste gemeinsame Buch von Marx und Engels, das Buber kurz zuvor erwähnt hat. 131,27-31 »kennzeichnet sich durch […] über den Sonderbünden.«] Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Graz 1954, S. 299. 131,32 Zellengewebe] Buber rekurriert mit Begriffen wie Zellen, Geweben, Organen und Organsystemen wiederum auf einen ihm vertrauten, biologistisch-organizistischen Wortschatz, dem gemäß jede Gesellschaft als natürliches, durch organische Gesetze geregeltes Lebewesen verstanden wird. In diesem Sinn ist Buber vom soziologischen Organizismus französischer Herkunft des späten 19. Jahrhunderts beeinflusst, wobei jeder Teil des Organismus »Gesellschaft« eine wichtige Teilfunktion ausführt. Gleichzeitig werden die Abhän-

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gigkeit und das Wechselverhältnis der einzelnen Zellen von einander betont. Vgl. hierzu auch Worte an die Zeit: Gemeinschaft: »Ein großer Menschenverband ist nur dann so zu nennen, wenn er aus kleinen lebendigen Gemeinschaften, aus kräftigen Zellenorganismen unmittelbaren Miteinanderseins besteht, die zueinander in gleich direkte und vitale Beziehungen treten wie die ihrer Mitglieder sind und die sich in gleich direkter und vitaler Weise zu diesem Verband zusammenschließen, wie ihre Mitglieder sich zu ihnen zusammengeschlossen haben.« (Jetzt in: MBW 11.1, S. 167.) Dieses organizistische Realitätsmodell französischer Prägung wird von Buber durch die theoretische, von der deutschen Soziologie begründete Gegenüberstellung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft nuanciert. Dieser Unterschied ist aber zur Zeit der Niederschrift von Pfade in Utopia – zumal das Werk zuerst auf Hebräisch erscheint – mindestens terminologisch nicht so scharf markiert. Tatsächlich spricht hier Buber im Allgemeinen von »Gesellschaft« im Sinne von Miteinandersein und menschlichem Zusammenleben. 132,18 »die Wahrheit von morgen«] »L’utopie est la vérité de demain« ist eine von Victor Hugo (1802-1885) häufig wiederholte Definition. 132,28 Lasciate ogni autonomia voi ch’entrate] ital.: »Lasst, die ihr eintretet, die Autonomie fahren.« In seiner gegen die anarchistische Bewegung gerichteten Schrift »Von der Autorität« wandelt Engels die bekannte Losung aus Dantes Göttlicher Komödie ab, wo den Verdammten vor dem Eintritt in die Hölle ein Spruch begegnet, der sie aufruft, alle Hoffnung aufzugeben (»Lasciate ogne speranza, voi ch’intrate«, Inferno, dritter Gesang, Zeile 9). Engels wendet sich mit diesem Spruch gegen die antiautoritären Anarchisten, indem er verdeutlicht, dass die technische Anwendung der Naturkräfte für die Produzenten selbst auch tyrannische Konsequenzen beinhaltet. Buber übersetzt den Spruch, der bei Engels auf Deutsch formuliert ist (»Laßt alle Autonomie fahren, die Ihr eintretet!«), wieder ins Italienische, vielleicht um die Anspielung auf Dante hervorzuheben. Vgl. Friedrich Engels, Von der Autorität, MEW, Bd. 18, S. 305-308, hier S. 306. 132,31-133,4 »Es kann […] Gemeinschaft aufbauen.«] Buber, [Drei Diskussionsbeiträge in »Sozialismus aus dem Glauben«], jetzt in: MBW 11.1, S. 335. 134,31 zwischen 1848 und 1870] Buber bezieht sich hier auf die Zeitspanne zwischen den bürgerlichen Revolutionsbewegungen von 1848, insbesondere die mit der Ausrufung der Zweiten Französischen Republik endende französische Februarrevolution und die Märzrevo-

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lution im Deutschen Bund, und dem deutsch-französischen Krieg (1870-1871) zwischen Frankreich und dem Norddeutschen Bund unter der Führung Preußens. 134,36 die Gesellschaft] Dem Soziologen und Nationalökonomen Lorenz von Stein (1815-1890), einem der ersten deutschen Ausleger des französischen Sozialismus und Kommunismus, war die Bedeutung von Saint-Simon für das heraufkommende industrielle Zeitalter bewußt. Saint-Simon habe noch keinen klar umrissenen Begriff von Sozialismus und Kommunismus, aber er habe die Relevanz der entstehenden Klassengesellschaft und der Industrie geahnt: »Der Begriff aber, der Besitzer und Nichtbesitzer, Arme und Reiche in ihrem individuellen Leben erfasst, ist der Begriff der Gesellschaft; Saint-Simon ist der erste, der nach dem inneren Gesetze gesucht hat, das durch ihre verschiedenen Gestaltungen hindurchgeht, und sich zu verwirklichen strebt; und so müssen wir ihn trotz seiner Mängel als den ersten Sozialisten anerkennen.« Lorenz von Stein, Der Sozialismus und Communismus des heutigen Frankreichs. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, Leipzig 1842, S. 169. 135,2 »le régime industriel«] Saint-Simons Idee des Gemeinwesens wird von einem primär ökonomischen und weniger politischen Prinzip bestimmt. Der Produktion kommt in der neuen Gesellschaft das größte Gewicht zu. Für Saint-Simon ist es deshalb folgerichtig, dass den Güterproduzenten auch die politische Macht übertragen werden muss. Die neue Gesellschaft, die daraus entsteht, ist demzufolge keine demokratische, sondern eine hierarchisch geordnete, die auf der Herrschaft der produktiven Klasse über alle anderen basiert: »En France, une simple ordonnance du Roi qui chargerait les industriels les plus importants du soin de faire le projet de budget suffirait pur établir le régime industriel, et cette ordonnance serait certainement obtenue, si la classe industrielle, qui se compose en France de plus de vingt-cinq millions d’hommes, suppliait le Roi de considérer que cette mesure assurerait la tranquillité du trône et la prospérité de la nation […] Quand le régime industriel sera établi en Angleterre et en France, tous le malheurs que l’espèce humaine était destinée à éprouver […] seront terminés«. Claude-Henri de Saint-Simon, Œuvres choisies, précédées d’un essai sur sa doctrine, Bd. III, Bruxelles 1839, S. 170-171. 135,29 »die Wissenschaft von der Produktion«] Saint-Simons Reflexion basiert auf der Unterscheidung zwischen den Wohlstand schaffenden Produzenten und den Machthabern, die keine echten Gewinne erzielen und dennoch den Großteil des Einkommens einer Nation ein-

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nehmen. Um diese Ungerechtigkeit abzuschaffen, soll die Politik zur Wissenschaft der Produktion werden. Die Industrie soll daher in den Vordergrund treten und die alte feudale Schicht ersetzen. Demzufolge fordert Saint-Simon die Produzenten dazu auf, die Macht auszuüben. Dieser Gedankengang beruht auf der wohlbekannten Aussage Saint-Simons »La politique est donc, pur me résumer en deux mots, la science de la production«, Claude-Henri de Saint Simon, Œuvres complètes, 6 Bde., Bd. 1, Paris 1966, S. 188. 135,38 der Saint-Simonist Bazard] Das Grundprinzip der neuen Gesellschaft, d. h. die Befriedigung der Bedürfnisse durch die Produktion nützlicher Güter, wird von Saint-Simons Schülern weiter formuliert. Nach dem Tode Saint-Simons versuchte die Denkschule des SaintSimonismus, dessen Lehre auch im Sinne einer Radikalisierung zu systematisieren und zu verbreiten. Buber weist hier auf den französischen Sozialisten Saint-Amand Bazard (1791-1832) hin, der zum offiziellen Organ der Schule Saint-Simons Le Producteur wesentlich beitrug. Andere prominente Mitglieder des Saint-Simonismus, der einen maßgeblichen Einfluss auf andere sozialistische deutsche Schulen hatte, waren Barthélemy Prosper Enfantin (1796-1864) und Benjamin Olinde Rodrigues (1795-1851). 136,7 »européanisme«] Der Begriff kommt in den vier Heften des Catéchisme des industriels (1823-1824) vor. 136,23 »industriellen Assoziation«] Das von Saint-Simon formulierte Industrieprinzip zielt auf die Entwicklung gesellschaftlicher Einrichtungen ab, die imstande sind, die Mindestbedingungen von Gleichheit und Freiheit zu garantieren. Laut Saint-Simon soll die industrielle Assoziation diese Aufgabe erfüllen, indem sie die Vorrechte des feudalen Sozialsystems abschafft und sozialen Zusammenhalt gewährleistet. 136,28-29 um 1820 […] gab] Diese Zeitangabe koinzidiert mit der Verfassung von L’Organisateur, das zwischen November 1819 und Februar 1820 geschrieben wurde. In diesem Werk findet Saint-Simons »théorie sociale« ihre volle Entfaltung und die Entwicklung eines »système industriel et scientifique« wird dargestellt. 136,30 Charles Gide] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 62,10. 136,26-27 »das Geheimnis der Assoziation«] Buber bezieht sich auf eine Anekdote, wonach Fourier am Karfreitag des Jahres 1819 geschrieben habe: »Aujourd’hui, jour du Vendredi-Saint, j’ai trouvé le secret de l’Association universelle« (»Heute, am Karfreitag, habe ich das Geheimnis der Universalassoziation gefunden«). Diese Zuschreibung

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war immer Objekt heftiger Dispute im französischen Sozialismus. Auch Proudhon nahm diese Entdeckung für sich in Anspruch. 136,32-33 das Recht auf Assoziation […] verboten hat] Das nach dem Abgeordneten Isaac René Guy Le Chapelier (1754-1794) benannte »Gesetz Le Chapelier« wurde am 14. Juni 1791 von der Konstituante erlassen. Dieses Gesetz richtete sich gegen die Koalitionsfreiheit und schaffte Zünfte, genossenschaftliche Handwerksverbände, Bünde, Kartelle und die ersten Gewerkschaftsformen in Frankreich ab. 136,36-38 Considérant […] beeinflußt worden ist] Victor Considerant (1808-1893): franz. Philosoph, Ökonom und Schüler von Fourier. Er gehört zu den Gründern der Zeitschrift Le Phalanstère, des Organs des Fourierismus. Zu seinen zahlreichen philosophischen und sozioökonomischen Schriften gehören die 1843 veröffentlichen Principes du socialisme. Manifeste de la démocratie au XIXe siècle. Schon 1905 erhob der aus Georgien stammende Politiker und Journalist Prinz Varlam Cherkezishvili (auch als Warlaam Tscherkesoff bekannt, 1846-1925) in seinem Werk Pages of Socialist History einen Plagiatsvorwurf gegen Marx: für sein Manifest der Kommunistischen Partei habe er weite Teile aus Considerants Principes du socialisme verwendet. 137,1-2 »l’association communale sur le terrain de la production et de la consommation«] Diese Wörter Considerants sind eine Begriffsbestimmung des Phalansteriums (phalanstère), der von Fourier konzipierten landwirtschaftlichen oder industriellen Produktions- und Wohngenossenschaft. Gemeinsames Leben, gemeinsame Arbeit und freie Liebe waren die Grundprinzipien dieser Einrichtung. 137,4-5 commune rurale […] l’élément alvéolaire] Diese zwei Ausdrükke kommen in Considerants 1845 veröffentlichter Exposition abrégée du système phalanstérien de Fourier vor, die als Popularisierung und Verbreitung von Fouriers Lehre gedacht ist. 137,28-31 der Areopag, befiehlt zwar nicht […] puissance d’opinion«.] »L’Aréopage ou Conseil suprême de direction du phalanstère est puissance d’opinion. Il indique les travaux à exécuter mais ne les ordonne pas«: So liest man in dem Dictionnaire de sociologie phalanstérienne: Guide des Œuvres complètes de Charles Fourier (hrsg. von Edouard Silberling, Paris 1911, S. 31). Dieser Grundriss beruht auf Fouriers Œuvres complètes und der Areopag wird im dritten Band derselben behandelt. 138,2-4 »einer abgestuften […] des Edelmutes«] Charles Fourier, Über das weltweite soziale Chaos. Ausgewählte Schriften zur Philosophie

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und Gesellschaftstheorie, hrsg. v. Hans-Christoph Schmitt am Busch, Berlin 2012, S. 92. 138,12 »allgemeine Harmonie«] 1803-1804 veröffentlicht Fourier eine Artikelserie, in der der Begriff einer »universalen Harmonie« erstmals auftaucht. Fourier sucht nach einer »universalen Harmonie«, einem Begriff, der seines Erachtens aus einer wissenschaftlichen Entdeckung innerhalb der Domäne der Leidenschaften, der sogenannten Theorie der attraction passionnée, resultiert. Nach Fourier ist diese Theorie, wobei das Universum zu den die kosmischen Anziehungskräfte widerspiegelnden menschlichen Leidenschaften in engem Verhältnis stehe, das emotionale Pendant zur Gravitationstheorie Newtons. Der Begriff der »Harmonie« gilt demnach für Fourier natürlich auch als maßgeblich für die zusammengesetzte Ordnung des sozial und emotional revolutionären Modells des Phalansteriums. Diese genossenschaftliche Ordnung wurde demgemäß von Fourier häufig als »Harmonie« bezeichnet. 138,27-28 »Abhandlung von der häuslich-landwirtschaftlichen Genossenschaft«] Charles Fourier, Traité de l’association domestique-agricole, 2 Bde., Paris 1822. Das Werk war auf sechs Bände angelegt, aber Fourier beschränkte sich letztendlich auf das Verfassen und die Veröffentlichung der zwei ersten. 138,28-29 »Le système industriel«] Claude-Henri de Ruvroy de SaintSimon, Du système industriel, Paris 1822. 138,29-30 »Bericht an die Grafschaft Lanark«] Robert Owen, Report to the County of Lanark of a Plan for relieving Public Distress and Removing Discontent by giving Permanent, Productive Employment to the Poor and Working Classes, Glasgow 1821. 138,30-31 seines »Plans«] Zu Beginn des Jahres 1820 bat die Grafschaft Lanark Robert Owen um einen Bericht über die Art und Weise, wie man die soziale Notlage im Verwaltungsbezirk lindern könne. Owen erwiderte mit seinem Report to the County of Lanark, den er am 1. Mai 1820 einer Generalversammlung der Grafschaft vorlegte. Darin führte er seine wirtschaftlichen Prinzipien detaillierter als je zuvor aus. Diese Ausführung hat ihren Angelpunkt im Arbeitswerttheorem, wonach Arbeit als Quelle und Maßstab des volkwirtschaftlichen Reichtums anerkannt werden muss. 138,31-32 »La théorie […] générales«] Charles Fourier, Théorie des quatre mouvements et des destinées générales: prospectus et annonce de la découverte, Leipzig 1808. 138,33 »De la réorganisation […] européenne«] De la réorganisation de la société européenne ou de la nécessité et des moyens de rassembler les

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peuples de l’Europe en un seul corps politique, en conservant a chacun son indépendance nationale, par M. le comte de Saint-Simon et par M. A. Thierry, son élève, Paris 1814. 138,34-35 »A New View of Society«] Robert Owen, A New View of Society, or Essays on the Principle of the Formation of the Human Character, and the Application of the Principle to Practice, London 1813. Das von Buber angegebene Jahr 1814 ist unzutreffend. Die vier Aufsätze, woraus das Buch besteht, wurden 1813 verfasst und veröffentlicht. 138,36-37 Saint-Simons Erstlingswerk] Buber weist hier auf die 1803 veröffentlichten Lettres d’un habitant de Genève à ses contemporains hin. Dieses Werk, das wahrscheinlich schon 1802 in Druck gegeben wurde, wurde lange Zeit als Saint-Simons erstes literarisches Produkt betrachtet. Heute ist aber unbestritten, dass es sich nicht um sein Erstlingswerk handelt. 1802 hatte Saint-Simon ein Manuskript mit dem Titel Lettres aux Européens verfasst, das eine frühere Fassung der Lettres d’un habitant de Genève à ses contemporains enthielt. 138,38 Fouriers Aufsatz über die allgemeine Harmonie] 1803 veröffentlichte Fourier im Bulletin de Lyon einen Artikel mit dem Titel Harmonie universelle. 138,40-41 Leiter der Baumwollspinnerei von New Lanark] In seiner schottischen Baumwollspinnerei in New Lanark führte Owen 1799 menschenwürdigere Arbeitsbedingungen ein, indem er die Arbeitszeit verkürzte, Kranken- und Altersrentenversicherungen förderte, Kinderarbeit stark reglementierte, den Handel von Alkohol einschränkte, was zu einer höheren Produktivität der Fabrik führte. 139,8-11 »Prinzip […] gemeinsame Interessen«] Nicht nachgewiesen. 139,17-20 »Gemeinschaftliches Leben […] gemeinsamer Güter«] Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Berlin 1887, S. 27. 139,31 der projektierten Siedlung] Buber bezieht sich hier auf Owens utopischen Plan: 1825 verkaufte Owen die Baumwollspinnerei und zog in die USA um. Dort gründete er seine utopische, genossenschaftlich strukturierte Kolonie »New Harmony«. Dieses gemeinschaftliche Experiment war aber nicht erfolgreich und vier Jahre später kehrte Owen nach England zurück. 139,32-37 »Man ist bisher […] und zu erhalten.«] Nicht nachgewiesen. 140,4 Gemeinschaftsdörfer] In zwei von ihm herausgegebenen Zeitschriften (The Crisis und The New Moral World) arbeitet Owen die Idee einer phantastischen kommunistischen Utopie aus. Voraussetzung dieser Idealgesellschaft war die Beseitigung aller Großstädte und die Gliederung der Bevölkerung innerhalb vieler gemeinschaftlicher Siedlungen. Keine dieser Siedlungen sollte mehr als dreihun-

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dert Einwohner haben und jedes Mitglied sollte vom 12. bis zum 15. Lebensjahr eine allgemeine Arbeitspflicht erfüllen und erst später sich der Staatsverwaltung, der Wissenschaft und der Kunst widmen. Diese Kommunen würden nach Owens Überzeugung weder Gefängnisse noch eine Polizeikraft brauchen. Des utopischen Charakters dieses Projekts zum Trotz wird Owen ideengeschichtlich als Initiator der Kooperativbewegung und der Konsumgenossenschaften betrachtet. 140,15-16 der von Owen inspirierte Satzungsentwurf] Nach seiner Rückkehr aus den USA hatte Owen maßgeblichen Einfluss auf die Gründung der Grand National Consolidated Trades Union, des ersten übergreifenden, landesweiten Gewerkschaftszusammenschlusses, der aber bald scheiterte. Nach dem Zusammenbruch dieses Verbands gründete Owen die Association of All Classes of All Nations, bei deren Gründungskongress am 1. Mai 1835 er die Rolle des »Preliminary Father« spielte. Obwohl sie die Absicht hatte, die Tradition des Gewerkschaftsbundes fortzuführen, war diese Vereinigung keine Massen- sondern eine Propagandaorganisation und ein Zusammenschluss einer ausgewählten Elite, die darauf zielte, ein vernünftigeres Gesellschaftsbild zu entwickeln. 1839 ging die Assoziation in die Universal Community Society of Rational Religionists über, die gleichfalls von Robert Owen geleitet wurde. Bei den Tagungen der Association of All Classes of All Nations wurde der Begriff »Sozialismus« zum ersten Mal in Umlauf gebracht. 140,41-141,2 Abstimmung der Triebe […] zur Harmonie gebracht wird] Buber verweist hier auf ein wichtiges Merkmal des Phalansteriums Fouriers: die Bildung von großen Kommunen (»Phalangen«), in denen die Menschen zusammenleben und in Produktionsgenossenschaften die Arbeit organisieren, macht die Arbeit zum Vergnügen. Das Phalansterium ist demnach auch eine Liebesgemeinschaft, wofür freie Liebe die Grundlage liefert. Nach Fouriers Motto »in der Harmonie ist alles frei« wird die Zukunft durch die Freiwilligkeit und die Kultivierung der Leidenschaften bestimmt. 142,2-9 »Wenn die Widersprüche […] er sich Kommunismus.«] »Les contradictions de la communauté et de la démocratie, une fois dévoilées, seront allées rejoindre les utopies de Saint-Simon et Fourier, le socialisme, élevé à la hauteur d’une science, le socialisme, qui n’est autre que l’économie politique, s’emparera de la société et la lancera vers ses destinées ultérieures avec une force irrésistible […] le socialisme n’a pas encore conscience de lui-même et aujourd’hui encore s’appelle communisme«. Das Zitat Proudhons wird dem achten Band

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der von zwischen 1901 und 1908 unter der Leitung von Jean Jaurés veröffentlichten Histoire socialiste de la France contemporaine entnommen: Bd. 8: Le Règne de Louis-Philippe (1830-1848), Paris 1908, S. 457. 142,11-13 Drei Monate, […] zu führen.] In einem am 24. Januar 1865 datierten Brief aus London an den sozialdemokratischen Agitator und Dramatiker Johann Baptist von Schweitzer (1833-1875) weist Marx auf seine Pariser Begegnung mit Proudhon hin. Obwohl er Proudhons ökonomische Annäherung an die sozialistische Frage erwähnt, wirft er ihm eine vom Hegelianismus beeinflusste dialektische Vorgehensweise bei der Behandlung der ökonomischen Probleme vor. Dieser Brief wird als Artikel mit dem Titel Über P. J. Proudhon im Social-Demokrat (Nr. 16, 17 und 18 vom 1., 3. und 5. Februar 1865), dem Organ des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), veröffentlicht: »Während meines Aufenthalts in Paris, 1844, trat ich zu Proudhon in persönliche Beziehung. Ich erwähne das hier, weil ich zu einem gewissen Grad mit schuld bin an seiner ›Sophistication‹, wie die Engländer die Fälschung eines Handelsartikels nennen. Während langer, oft übernächtiger Debatten infizierte ich ihn zu seinem großen Schaden mit Hegelianismus, den er doch bei seiner Unkenntnis der deutschen Sprache nicht ordentlich studieren konnte. Was ich begann, setzte nach meiner Ausweisung aus Paris Herr Karl Grün [Karl Theodor Ferdinand Grün (1817-1887), dt. Journalist und Linkshegelianer] fort. Der hatte als Lehrer der deutschen Philosophie noch den Vorzug vor mir, daß er selbst nichts davon verstand. Kurz vor Erscheinen seines zweiten bedeutenden Werkes ›Philosophie de la misère etc.‹ kündigte mir Proudhon dieses selbst in einem sehr ausführlichen Brief an, worin u. a. die Worte unterlaufen: ›J’attends votre férule critique‹ – ›Ich erwarte Ihre strenge Kritik.‹. Indes fiel diese bald in einer Weise auf ihn (in meiner Schrift ›Misère de la philosophie etc.‹, Paris 1847), die unserer Freundschaft für immer ein Ende machte. Aus dem hier Gesagten ersehen Sie, daß Proudhons ›Philosophie de la misère ou Système des contradictions économiques‹ eigentlich erst die Antwort enthielt auf die Frage: ›Qu’est-ce que la propriété?‹. Er hatte in der Tat erst nach dem Erscheinen dieser Schrift seine ökonomischen Studien begonnen; er hatte entdeckt, daß die von ihm aufgeworfene Frage nicht beantwortet werden konnte mit einer Invektive, sondern nur durch Analyse der modernen ›politischen Ökonomie‹. Er versuchte zugleich, das System der ökonomischen Kategorien dialektisch darzustellen. An die Stelle der unlösbaren ›Antinomien‹ Kants sollte der Hegelsche ›Wi-

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derspruch‹ [vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 142,2-9] als Entwicklungsmittel treten. Zur Beurteilung seines zweibändigen, dickleibigen Werkes muß ich Sie auf meine Gegenschrift verweisen.« Karl Marx, Über P. J. Proudhon [Brief an J. B. v. Schweitzer], MEW, Bd. 16, S. 25-32, hier S. 27 f. Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 119,37-38 und 121,28-29. 142,20-23 »System« […] ihn ihr zu bahnen] In dem am 21. März 1849 veröffentlichten Heft der von ihm 1847 gegründeten Zeitung Le Représentant du peuple. Journal quotidien des travailleurs. Réforme économique. Banque d’échange schrieb Proudhon: »De système, je n’en ai pas, j’en repousse formellement la supposition. Le système de l’humanité ne sera connu qu’à la fin de l’humanité … Ce qui m’intéresse, c’est de reconnaître sa route, et si je puis, de la lui frayer«. 142,25 in einem Brief an einen russischen Freund] Es handelt sich wahrscheinlich um den russischen Publizisten und Herausgeber der Werke Pushkins Pawel Wassiljewitsch Annenkow (1813-1887). Auf einer seiner Auslandsreisen lernte Annenkow auch Karl Marx in Paris kennen. Als Antwort auf eine Anfrage von Annenkow schrieb ihm Marx am 28. Dezember 1846 einen Brief, in dem er das soeben erschienene Buch Proudhons Philosophie de la misère scharf besprach. Der Brief wurde dann zur Streitschrift Misère de la philosophie (1847) erweitert. Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 119,37-38. Der Brief an Annenkow wurde zuerst 1912 veröffentlicht, dann in MEW, Bd. 4, S. 547-557. 142,26-28 »Kategorien und Abstraktionen […] Geschichte machen«] Brief von Marx an P. W. Annenkow, 28. Dezember 1846, MEW, Bd. 27, S. 457. 142,29 Hegelisierung Proudhons] Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 142,11-13. 142,31-33 »Die ökonomischen Kategorien […] Produktion«] Marx, Das Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, S. 130. 143,1 »Le principe fédératif«] Pierre-Joseph Proudhon, Du principe fédératif et de la nécessité de reconstituer le parti de la révolution, Paris 1863. 143,16-19 Was Unamuno […] suchte] 1925 veröffentlichte der spanische Philosoph und Schriftsteller Miguel de Unamuno (1864-1936) zuerst in französischer Sprache seine philosophische Abhandlung Agonie des Christentums, deren spanische Übersetzung 1930 veröffentlicht wurde, während die deutsche Ausgabe noch 1928 in der Übersetzung des Philosophen Otto Buek (1873-1966) (München, Meyer & Jessen) erschien. In diesem Werk argumentiert Unamuno, die Logik des

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französischen Denkers Blaise Pascal sei nicht dialektisch, sondern polemisch. Er suche keine Synthese zwischen These und Antithese, bleibe aber wie Proudhon im Widerspruch: »Y su lógica no era dialéctica sino una polémica. No buscaba una síntesis entre la tesis y la antítesis, se quedaba, como Proudhon, otro pascalino a su manera, en la contradicción.« Miguel de Unamuno, La agonía del cristianismo, Buenos Aires 1938, S. 102. 143,22-26 wie er 1844 in einem Brief sagte […] in die soziologische versetzte] Seinem Freund Bergmann schreibt Proudhon am 24. Oktober 1844 aus Paris folgendermaßen: »Je n’ai pas besoin d’ajouter que je donnerai en même temps la théorie et l’exemple des résolutions synthétiques de toutes les contradictions. Si le philosophes allemands, trop pressés d’arriver à une conclusion théologique ou transcendentale, s’étaient attachés à bien étudier les antinomies qui tombaient sous leurs yeux, et à en donner de bonnes solutions, ils auraient rendu peut-être des plus éminents services que par l’échafaudage prématuré des leurs systèmes.« Correspondance de P.-J. Proudhon, Bd. 2, Paris 1875, S. 167. 143,24 »Antinomien«] In der Philosophie Kants sind die Antinomien logisch widerstreitende Antworten auf sich notwendig ergebende Fragen der Vernunft. Diese logischen Widersprüche diskutiert Kant in der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft. Die einzelnen Antinomien werden bei Kant in Form von These und Antithese zunächst gegenübergestellt, dann wird der Widerspruch aufgelöst. 143,36-39 »Alle Ideen […] hinreißen läßt«] »Toutes les idées sont fausses, c’est-à-dire contradictoires et irrationnelles, si on les prend dans une signification exclusive et absolue, ou si on se laisse emporter à cette signification.« Pierre-Joseph Proudhon, Philosophie du progrès. Programme, Bruxelles 1853, S. 27. 144,7-11 »Der Mensch will nicht mehr […] anführt] »C’est ce sentiment profond, antiorganique, anarchique, de la liberté, sentiment plus vif de nos jours qu’il ne se montra jamais parmi les hommes, qui a soulevé, dans ces dernières années, la répugnance universelle contre toutes les utopies d’organisation politique et sociale proposées en remplacement des anciennes, et qui a fait siffler les auteurs de ces plans de fatalisme, Owen, Fourier, Cabet, Enfantin, Aug. Comte. L’homme ne vont plus qu’on l’organise, qu’on le mécanise. Sa tendance est à la désorganisation, à la défatalisation, si j’ose ainsi dire, partout où il sent le poids d’un fatalisme ou d’un machinisme.« Pierre-Joseph Proudhon, De la justice dans la Révolution et dans l’Église, Bd. 2, Paris 1858, S. 525-526.

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144,17-19 »Alle Prinzipien […] in der Vernunft«] »Car tous les principes sont contemporains dans l’histoire comme dans la raison et absolument indestructibles.« Pierre-Joseph Proudhon, Césarisme et christianisme (de l’an 45 avant J.-C. à l’an 476 après), mit einem Vorwort von J.-A. Langlois, Bd. 1, Paris 1883, S. 5. 145,11-15 »Die erste Ursache aller Unordnungen […] ein Ende zu machen«] Nicht nachgewiesen. 145,31-32 »Die Begrenzung […] und die individuelle«] Nicht nachgewiesen. 145,37-41 »Seit der Reformation […] existieren muß«] Nicht nachgewiesen. 146,2-4 »Durch das Monopol […] sein Herr werden«] »C’est par le monopole que l’espèce humaine a pris possession du globe, comme ce sera par l’association qu’elle en deviendra tout à fait la souveraine«, in: Pierre-Joseph Proudhon, Système des contradictions économiques, ou philosophie de la misère, deuxième édition, B. I, Paris: Garnier frères 1850, S. 14. 146,9-10 der strukturalistische Gesichtspunkt] Die auch von Max Weber und Émile Durkheim (1858-1917) geteilte strukturalistische Gesellschaftstheorie äußert eine interpersonale Ansicht, wonach die Mitglieder verschiedener sozialer Gruppen viele gemeinsame Interaktionsfelder und soziale Beziehungen entwickeln, die von den verschiedenen sozialen Rollen, Statuspositionen, vom Geschlecht, von ethnischer und geographischer Zugehörigkeit, von der Bildung unabhängig sind. Dadurch wird der traditionelle Klassenbegriff durch die zwischenmenschliche Vernetzung erweitert. 146,12-13 wie er 1863 in einem Briefe schreibt] Es handelt sich um den Brief an J. Buzon vom 31. Januar 1863, der mit der Verfassung von Du principe fédératif et de la nécessité de reconstituer le parti de la révolution koinzidiert. Der föderalistische Entwurf Proudhons stellt einen Kontrapunkt sowohl zur Staatstheorie als auch zur klassischen politischen Ökonomie dar, wobei »föderalistisch« als Synonym für »antiautoritär« ebenso wie »autoritär« als gleichbedeutend mit »zentralistisch« betrachtet werden. Das föderalistische Projekt Proudhons zielt auf eine soziale Organisation ab, die auf der freien Vereinbarung der Gemeinschaften basiert. Die Gemeinschaften assoziieren sich frei, um auf lokaler, regionaler oder sogar nationaler Ebene Föderationen zu bilden. Seit Proudhons Zeiten war der Föderalismus ein beliebtes Thema der anarchistischen Bewegungen besonders in den Kreisen um Michail Bakunin (1814-1876).

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146,21-27 »Das allgemeine […] von Atomen erklärt.«] »Le suffrage universelle et une sorte d’atomisme par lequel le législateur, ne pouvant faire parler le Peuple dans l’unité de essence, invite les citoyens à exprimer leur opinion par têtes, viritim, absolument comme le philosoph épicurien explique la pensée, la volonté, l’intelligence par des combinaisons d’atòmes.« Proudhon, Solution du Problème Social, in: Œuvres Complètes de J.-P. Proudhon, Bd. 6, Paris 1871, S. 62. 146,22-23 »Die Lösung des sozialen Problems« […] Problems] PierreJoseph Proudhon, Solution du problème social paraissant chaque semaine par livraison de trois a cinq feuilles. Ensemble vingt à vingtdeux livraison, Paris 1848. 146,28-29 in seiner Rede in der Nationalversammlung 1848] Proudhon war gewähltes Mitglied der nach der Februarrevolution eingesetzten verfassungsgebenden Nationalversammlung. Um seinen »la réorganisation de l’impôt et du crédit« (Reorganisation von Steuern und Krediten) betreffenden Gesetzentwurf vorzulegen, hält Proudhon in der Sitzung der Nationalversammlung vom 31. Juli 1848 eine erläuternde Rede. Was Proudhon vorschlägt, ist schlicht die Abschaffung des Eigentums, um mit der sozialen Frage ein Ende zu machen. Der Vortrag ist aber so radikal, dass er in der Kammer Skandal erregt und Sarkasmus, sogar Hohngelächter, bei den Abgeordneten, besonders bei dem liberal-konservativen Politiker Adolphe Thiers (1797-1877), hervorruft. (Vgl. hierzu Karl Marx, Proudhons Rede gegen Thiers, in: Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Artikel, Entwürfe Februar bis Oktober 1848, Text bearbeitet von Jürgen Herres u. François Melis, Berlin u. Boston 2016, S. 492-495.) Am 4. November 1848 war Proudhon einer der dreißig Abgeordneten der Nationalversammlung, die bei den Parlamentswahlen gegen die Verfassung stimmten. 146,30-41 »Die Erhaltung der natürlichen Gruppen […] aufzuhalten«] »La conservation des groupes naturels […] est donc, pour l’exercice de la puissance électorale, de la plus haute importance: c’est une condition essentielle du vote. Sans elle, point d’originalité, point de franchise, point de signification nettement accusée dans le suffrages […] La destruction des groupes naturels dans les opérations électorales serait la destruction morale de la nationalité même, la ruine de suffrage universel, la négation de la pensée de la Révolution […] Les conséquences de cette innovation sont graves; elle ne tendent à rien de moins qu’à anéantir la vie politique dans les villes, communes et départements; et, par cette destruction de toute autonomie municipale et régionale, à arréter dans son développement le suffrage uni-

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versel.« Pierre-Joseph Proudhon, Les démocrates assermentés et les réfractaires, Paris 1863, S. 21 f. u. 40 f. 147,1-4 ein Agglomerat von Molekülen […] geopfert«] »Au lieu de former un organisme vivant […] le corps de la nation ne forme plus qu’une agglomération de molécules élémentaires, un amas de poussière, qu’agite une pensée extérieure et supérieure à lui, la pensée centrale. A force de chercher l’unité, nous avons sacrifié l’unité même.« Ebd., S. 40 f. 147,5-6 »die Erstickung […] des Volkes«] »L’étranglement de la conscience publique, le suicide de la souveraineté du peuple.« Proudhon, De la justice dans la Révolution et dans l’Église, Bd. 1, S. 382. 147,18-23 »Von der Antwort […] keine Hoffnung«] »De la réponse qui sera faite à ces questions dépend tout l’avenir des travailleurs. Si cette réponse est affirmative, un monde nouveau s’ouvre à l’humanité; si elle est négative, le prolétaire peut se le tenir pour dit. Qu’il se recommande à Dieu et à l’Église; il n’y a pour lui, dans ce bas monde, point d’espérance.« Pierre-Joseph Proudhon, Manuel du Spéculateur à la Bourse, Paris 1857, S. 474-475. 147,25-34 »Es gibt […] unterscheiden wird«] »Il y a mutualité, en effet, quand, dans une industrie, tous les travailleurs, au lieu de travailler pour un entrepreneur qui les paye et garde leur produit, sont censés travailler les uns pour les autres, et concourent ainsi à un produit commun dont ils partagent le bénéfice. Or, étendez aux Associations travailleuses prises pour unités, le principe de mutualité qui unit les ouvriers de chaque groupe, et vous aurez créé une forme de civilisation qui, à tous les points de vue, politique, économique, esthétique, différera totalement des civilisations antérieures.« Ebd., S. 482. 147,35 »Alle assoziiert und alle frei«] »Tous associés et tous libres: tel est le problème.« Ebd., S. 204. 147,38-40 »Die Ansprüche […] es erfordern«] »Il suit de là que le principe de la mutualité en ce qui concerne l’association, est de n’associer les hommes qu’autant que les exigences de la production, le bon marché des produits, les besoins de la consommation, la sécurité des producteurs eux-mêmes, le requièrent.« Pierre-Joseph Proudhon, De la capacité politique des classes ouvrières, Paris 1865, S. 172. Das Manuskript wird von Proudhon 1864 vervollständigt und erst nach dessen Tod veröffentlicht. Das Werk gilt als politisches Testament und als praktisches Handbuch der föderalistischen Politik. 147,41 »raison des choses«] Ebd., S. 172. 148,1-2 »können sie […] bewahren«] »ils peuvent conserver, jusqu’au sein de l’association, leur liberté«, ebd.

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148,3-4 Louis Blanc […] Werkstätten] Louis Blanc (1811-1882): franz. Journalist, utopischer Sozialist und Begründer der Sozialdemokratie. Nach der Februarrevolution des Jahres 1848 wurde er Regierungsmitglied und Parlamentarier. Sein 1839 erschienenes Hauptwerk L’organisation du travail erklärt erstmals das Recht auf Arbeit zu einem Bürger- und Menschenrecht. Um die krisen- und revolutionsbedingte Arbeitslosigkeit zu mildern, entwickelte er die Idee der ateliers sociaux, Arbeiter-Produktivgenossenschaften, die die Kernvorstellung seines Konzepts der »Organisation der Arbeit« bildeten. Den ateliers sociaux bei Louis Blanc entsprechen bei dem sozialistischen Politiker Ferdinand Lassalle die Produktivassoziationen, die aber nicht vom Staat, sondern von den Arbeitern selbst, gegründet werden sollen. Der Staat müsse seinerseits das notwendige Kapital zur Verfügung stellen. 148,6-13 »in denen die Arbeiterschaft […] ökonomischen Fatalismus.«] »Au lieu de cent ou deux cent mille patentés qu’il existe dans Paris, il n’y aurait plus eu qu’une centaine de grandes associations, représentant les diverses branches d’industrie et de commerce, où la population ouvrière eût été enrégimentée et définitivement asservie par la raison d’État de la fraternité, comme elle tend en ce moment à l’être par la raison d’État du capital. Qu’y auraient gagné la liberté, la félicité publique, la civilisation? Rien. Nous eussions changé de chaînes, et, ce qu’il y a de plus triste et qui montre la stérilité des législateurs, entrepreneurs et réformateurs, l’idée sociale n’aurait pas fait un pas; nous serions toujours sous le même arbitraire, pour ne pas dire sous le même fatalisme économique.« Proudhon, De la capacité politique des classes ouvrières, S. 169. 148,15-19 »Nur die freie Assoziation […] Glieder.«] Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1, Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, Berlin 1868, S. 1040. 148,22-27 »diktatoriale […] in allen Dingen«] »système communiste, gouvernemental, dictatorial, autoritaire, doctrinaire, part du principe que l’individu est essentiellement subordonné à la collectivité; que d’elle seule il tient son droit et sa vie; que le citoyen appartient à l’État comme l’enfant à la famille; qu’il est en sa puissance et possession, in manu, et qu’il lui doit soumission et obéissance en toute chose.« Proudhon, De la capacité politique des classes ouvrières, S. 77. 148,29-30 »unfähig, die revolutionäre Bewegung zu verstehen«] »Er entlehnt den Sozialisten die Illusion, in dem Elend nur das Elend zu erblicken (statt darin die revolutionäre, zerstörende Seite zu erblicken, welche die alte Gesellschaft umstürzen wird)«, Karl Marx, Über P. J.

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Proudhon [Brief an J. B. v. Schweitzer], in: MEW, Bd. 16, S. 28. Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 142,11-13. In der in französischer Sprache als Anhang der Misère de la philosophie gedruckten Fassung des Briefes wird der in Klammer gesetzte Satz ausgestrichen (»Il emprunte aux socialistes l’illusion de ne voir dans la misère que la misère. Il est d’accord avec les uns et les autres en voulant s’en référer à l’autorité de la science«), »Proudhon jugé par Karl Marx«, in: Marx, Misère de la philosophie, appendice I, S. 252. 148,32 »Bandwurm des Sozialismus«] An dieser Stelle wird auf die berühmte, lapidare Aussage Proudhons Bezug genommen: »Marx dit la même chose que moi; ce qu’il me reproche c’est de l’avoir dit avant lui. Marx est le ténia du socialisme« (»Marx sagt dasselbe wie ich; er beschuldigt mich, es vor ihm gesagt zu haben. Marx ist der Bandwurm des Sozialismus«). 148,38-149,4 »Eine kompakte […] inqisitorische Polizei«] »Une démocratie compact, fondeé en apparance sur la dictature des masses, mais où les masses n’ont de pouvoir que ce qu’il en faut pour assurer la servitude universelle, d’apres les formules et maximes suivantes, empruntées à l’ancien absolutisme: Indivision du pouvoir; Centralisation absorbande; Destruction systématique de toute pensée individuelle, corporative et local, réputée scissionaire; police inquisitorial.« Proudhon, De la capacité politique des classes ouvrières, Paris 1865, S. 80 f. 149,6-8 »nach einer letzten […] beginnen wird«] Ebd. 149,9 Das (erst kurz vor Proudhons Tod vollendete) Buch […] der arbeitenden Klassen] Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 147,3840. 149,13 »Manifests der Sechzig«] Mit dem 1848 in Frankreich eingeführten allgemeinen Wahlrecht wächst das soziale Bewusstsein in den unterdrückten Klassen. Es folgen ab 1860 bei den Wahlen zunehmend Arbeiterkandidaturen (candidatures ouvrières). Infolge der im Februar 1864 in Paris stattfindenden Regionalwahlen entsteht das vom Ziseleur und Gründer der französischen Sektion der Internationalen Arbeiterassoziation Henri Tolain (1828-1897) verfasste und von sechzig Proletariern unterschriebene »Manifest der Sechzig« (Manifeste des soixante). Die Signatare verlangen eine unmittelbare Repräsentation der arbeitenden Bevölkerung bei den Wahlen. Das von Buber angegebene Datum für die Verfassung des Manifests (1861) ist offensichtlich falsch. 149,16 »Manifest der Gleichen«] Die von François Noël Babeuf initiierte Sozialbewegung – die sogenannte »Babeuf-Bewegung«, die als letzter

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Abschnitt der Französischen Revolution betrachtet werden kann – beabsichtigte, ein Zeitalter wirklicher Gleichheit einzuführen. Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 119,28. Die Prinzipien dieser Umwandlung werden in dem vom Dichter, Atheisten und Kommunisten Sylvain Maréchal (1750-1803) verfassten »Manifest der Gleichen« (Manifest des Egaux) festgesetzt. 149,16-17 das des Fourieristen Considérant] Es handelt sich um Victor Considerants Principes du socialisme. Manifeste de la démocratie au XIXe siècle. Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 136,36-38. 149,19-20 »Erwachen des Sozialismus«] »réveil du socialisme«. Vgl. Proudhon, De la capacité politique des classes ouvrières, S. 5. 149,20-21 »Offenbarung des korporativen Bewußtseins«] »Je dis que ce fait […] atteste chez les classes ouvrières une révélation jusque-là sans exemple de leur conscience corporative.« Ebd., S. 65. 149,22 chambre syndicale] genossenschaftliche Kammer, Arbeitgeberverband mit einem hohen Organisationsgrad. Während sich die Arbeiter in berufsspezifischen Fachvereinen organisierten, schlossen sich die Arbeitgeber zu einem berufsübergreifenden Verband zusammen. Die 1862 gegründete Chambre syndicale des entrepreneurs de travaux de bâtiment de la ville de Lyon umfasste zum Beispiel die corporations der Maurer, Schreiner, Zimmerer, Schlosser, Maler, Gipser, Spengler und Dachdecker. Die Politik der chambre syndicale war durch ein Streben nach Geschlossenheit und Solidarität gekennzeichnet. Vgl. hierzu Sabine Rudischhauser, Geregelte Verhältnisse. Eine Geschichte des Tarifvertragsrechts in Deutschland und in Frankreich (1890-1918/19), Köln u. a. 2017. 149,22-27 aber nicht einer […] Kammer der Arbeit«] »Non, nous ne sommes pas représentés, car dans la question des chambres syndicales, une étrange confusion s’est établie dans l’esprit de ceux qui les recommandaient: suivant eux, la chambre syndicale serait composée de patrons et d’ouvriers, sorte de prud’hommes professionnels, arbitres chargés de décider au jour le jour, sur les questions qui surgissent. Or ce que nous demandons c’est une Chambre composée exclusivement d’ouvriers, élus par le suffrage universel, une Chambre du Travail, pourrions-nous dire par analogie avec la Chambre de commerce, et on nous répond par un tribunal.« Henri-Louis Tolain, Manifeste des soixante, 17 février 1864. 149,36 »agrar-industrielle Föderation«] »fédération agricole-industrielle«, Proudhon, Du principe fédératif et de la nécessité de reconstituer le parti de la révolution, S. 111.

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150,2-13 »1. mäßige […] beschränken«] »1 Former des groupes médiocres, respectivement souverains, et les unir par un pacte de fédération; 2o Organiser en chaque État fédéré le gouvernement d’après la loi de séparation des organes; – je veux dire: séparer dans le pouvoir tout ce qui peut être séparé, définir tout ce qui peut être défini, distribuer entre organes ou fonctionnaires différents tout ce qui aura été séparé et défini; ne rien laisser dans l’indivision; entourer l’administration publique de toutes les conditions de publicité et de contrôle; 3o Au lieu d’absorber les États fédérés ou autorités provinciales et municipales dans une autorité centrale, réduire les attributions de celle-ci à un simple rôle d’initiative générale, de garantie mutuelle et de surveillance.« Ebd., S. 82. 150,15-20 »Ebenso wie […] soziale Macht«] »De même que plusieurs hommes, en groupant leurs efforts, produisent une force de collectivité supérieure, en qualité et intensité, à la somme de leurs forces respectives; de même plusieurs groupes travailleurs, mis en rapport d’échange, engendrent une puissance d’un ordre plus élevé, que nous avons considérée comme étant spécialement le pouvoir social.« Proudhon, De la justice dans la Révolution et dans l’Église, Bd. 1, S. 503. 150,23-25 »Durch die Gruppierung […] körperliche Gestalt.«] »Par le groupement des forces individuelles, et par le rapport des groupes, la nation entière forme corps.« Ebd., S. 491. 150,29 »Theorie des Steuerwesens«] Pierre-Joseph Proudhon, Théorie de l’impôt. Question mise au concours par le Conseil d’État de Vaud en 1860, Paris 1861. In diesem Werk stellt Proudhon eine Reihe von systematisch organisierten Regeln, Gesetzen und Grundsätzen im Hinblick auf seine Idee der sozialen und politischen Organisation auf. Ausgehend von der 1848 in Frankreich eingeführten Einkommenssteuer beteiligt sich Proudhon durch diese Schrift an der öffentlichen Debatte über das Steuerwesen. Er analysiert das Wesen der Steuerabgabe und deren Kennzeichen. 150,32-151,5 »die Vernunft […] in Betracht«] »La raison chez les enfants et dans le peuple recherchant en tout l’unité, la simplicité, l’uniformité, l’identité, la hièrarchie, autant que la grandeur et la masse. Par toutes ces causes la centralisation est devenue un instrument énergique de discipline […] Le peuple aime les idées simples et il a raison: malheureusement cette simplicité qu’il recherche ne se rencontre que dans le choses élémentaires, et le monde, la société, l’homme, sont composés d’éléments irréductibles, de principes antithétiques et de forces antagoniques. Qui dit organisme, dit complica-

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tion; qui dit pluralité, dit contrariété, opposition, indépendance. Le système centralisateur est très-beau de grandeur, de simplicité et de développement; il n’y manque qu’une chose, c’est que l’homme ne s’y appartient plus, ne s’y sent pas, n’y vit pas, n’y est de rien.« Proudhon, Théorie de l’impôt, S. 278-279. 151,10-12 »bedürfen […] ihre Vernunft«] »que pour une foule de choses les différents groupes n’ont pas besoin du commandement, ils sont aptes à se gouverner eux-mêmes, sans autre inspiration que leur conscience et leur raison«. Ebd., S. 277 f. 151,17-18 Buch über die Reform des Eisenbahnwesens] Pierre-Joseph Proudhon, Des réformes à opérer dans l’exploitation des chemins de fer et des conséquences qui peuvent en résulter, soit pour l’augmentation du revenu des compagnies, soit pour l’abaissement des prix de transport, l’organisation de l’industrie voiturière, et la constitution économique de la société, Paris 1855. 151,22-25 »die Auseinanderstreuung […] Gruppen«] »La dissémination des masses, en même temps que leur reclassement, commence […] l’importance politique que les villes avaient acquise et passant aux nouveaux groupes agricoles et industriels.« Ebd., S. 336 f. 151,30-35 »Ein Fieber […] zu regieren?«] »Une fièvre de centralisation court le monde; on dirait que les hommes sont las de ce qui leur reste de liberté et ne demandent qu’à la perdre […] Est-ce le besoin d’autorité qui partout se révèle, le dégoût de l’indépendance, ou seulement l’inhabilité à se gouverner soi-même?« Proudhon, Théorie de l’impôt, S. 288. 151,38-41 »Diese Idee besteht […] hervorgehen«] »Cette idée existe, déjà elle circule mais il n’appartient pas à un simple écrivain de s’en faire le prophète. Elle doit sortir des entrailles de la situation.« Pierre-Joseph Proudhon, Si les traités de 1815 ont cessé d’exister? Actes du futur congrès, Paris 1864, S. 108. 152,3-7 »Man darf […] gegeneinander beginnen«] »Il ne faut pas se faire d’illusion, l’Europe est lasse d’ordre et de pensée; elle entre dans l’ère de la force brutale, du mépris des principes.« Brief vom 3. Mai 1860 an M. Gouvernet, in: Pierre-Joseph Proudhon, Correspondance, Paris 1875 (wiederabgedruckt Genève 1971), Bd. 10, S. 47. 152,6-7 »Dann wird […] beginnen.«] »Alors aussi commencera la grand guerre des six grands Empires les uns contre les autres.« Ebd., S. 39. Im Gegensatz zu Bubers Aussage handelt es sich hier nicht um denselben Brief an M. Gouvernet (Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 152,3-7), sondern um einen anderen, an demselben Tag geschriebenen Brief.

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152,8-14 »Die Gemetzel […] wir Gerechtigkeit.«] »Les tueries viendront, et la prostration qui suivra ces bains de sang sera effroyable. Nous ne verrons pas l’aurore du nouvel âge; nous combattrons dans la nuit; il faut, si nous somme sages, nous arranger pour supporter cette vie sans trop de tristesse, en faisant notre devoir. Aidons-nous les un les autres; appelons-nous dans l’ombre, et chaque fois que l’occasion s’en présente, faisons justice.« Brief vom 27. Oktober 1860 an M. Gustave Chaudey, in: Proudhon, Correspondance, Bd. 10, S. 188. 152,14-27 »Heute ist die Zivilisation […] sterben.«] »La civilisation est bien réellement dans une crise, dont on ne trouve qu’un seul analogue dans l’histoire, c’est la crise qui détermina l’avènement du christianisme. Toutes les traditions sont usées, toutes les croyances abolies; en revanche, le nouveau programme n’est pas fait, je veux dire qu’il n’est pas encore entré dans la conscience des masses; de là ce que j’appelle la dissolution. C’est le moment le plus atroce de l’existence des sociétés […] C’est vous dire que je me fais peu d’illusions, et que je ne m’attends pas, pur demain, à voir renaitre dans notre pays, comme par un coup de baguette, la liberté […] Non, non; la décadence, et cela pour un temps dont je ne puis assigner le terme, qui ne sera pas moindre d’une o deux générations, voilà notre lot […] Je ne verrai que le mal, je mourrai en pleines ténèbres.« Brief vom 29. Oktober 1860 an M. Mathey, in: Ebd., S. 205 f. 152,27-28 »unsere Pflicht zu tun«] »En faisant notre devoir«, Brief vom 27. Oktober 1860 an M. Gustave Chaudey, in: Ebd., S. 188. 152,29-32 »Man kommt da nur heraus […] entsinnt.«] »On ne sort de là que par une révolution intégrale dans les idées et dans les cœurs. Nous y travaillons, vous et moi, à la révolution; ce sera notre honneur devant la posterité, si elle se souvient de nous.« Brief vom 22. Januar 1860 an Jules Michelet, in: Proudhon, Correspondance, Bd. 14, S. 192. Zwischen 1851 und 1865, dem Jahr des Todes Proudhons, standen Proudhon und der französische Historiker Jules Michelet (1798-1874) in enger, freundlicher Beziehung, die von einem regen Briefwechsel bezeugt ist. Vgl. hierzu Georges GuyGrand, Proudhon et Michelet, in: Revue philosophique de la France et de l’Étranger 138 (1948), S. 385-408; Pierre Palix, Michelet et Proudhon: lettres inédites, in: Revue d’Histoire littéraire de la France 2 (1977), S. 246-261. 152,33-37 »Hier, sage ich […] fruchtbarere Erde«] »C’est ici, vous dis-je, sous le sabre de Bonaparte, sous la férule des jésuites et le lorgnon de la police, que nous devons travailler à l’émancipation du genre humain. Il n’y a pas pour nous de ciel plus propice, de terre plus fertile.«

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Brief vom 6. März 1852 an den polnischen Schriftsteller und Journalisten Charles-Edmond Chojecki (1822-1899), in: P.-J. Proudhon. Sa vie et sa correspondance, éd. par Charles Augustine de Saint Beuve, Paris 1872, S. 338. 153,6 »Association«] Buber bezieht sich hier auf die vom Staat organisierte und kontrollierte Genossenschaft (association) als die von Louis Blanc vorgeschlagene Antwort auf die soziale Frage. 153,8-9 »soziale Werkstätten«] Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 148,3-4. 153,12-15 »Solidarität aller Arbeiter […] der verschiedenen Industrien«] »De la solidarité de tous travailleurs dans un même atelier, nous avons conclu à la solidarité des ateliers dans une même industrie. Pour compléter le système, il faudrait consacrer la solidarité des industries diverses.« Louis Blanc, Organisation du travail, cinquième édition, revue, corrigée et augmentée par l’auteur, Paris 1847 [18401], S. 109-110. 153,15-21 Auch sieht er die landwirtschaftliche Genossenschaft […] Assoziation«] »l’association agricole aurait à pourvoir aux besoins de tous ses membres […] pour subvenir aux besoins de tous, on mettrait en commun les produits du travail de tous […] du système d’association fraternelle«, ebd. S. 113. 153,31-33 Eduard Bernstein […] zuerkannte] »Wenn Proudhon bald als entschiedener Gegner und bald als Befürworter der Assoziation auftrat, so erklärt sich dieser Widerspruch dadurch, daß er das eine Mal eine ganz andere Form der Assoziation im Auge hatte wie das andere. Er bestritt der wesentlich monopolistischen Genossenschaft, was er der mutualistischen Genossenschaft, das heißt der Assoziation im Gegenseitigkeitssystem, zuerkannte.« Eduard Bernstein, Die Voraussetzung des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1889 (Neudruck: Berlin 1991), S. 166. 154,3-4 »man muß […] ausgleicht«] »On ne peut ni les séparer, ni les absorber l’une dans l’autre; il faut se résigner à vivre avec toutes deux, en les équilibrant.« Proudhon, De la capacité politique des classes ouvrièresS. 186. 155,10 Sozialgeograph] 1867 wurde Pjotr Alexejewitch Kropotkin Sekretär der Sektion für physische Geographie in der Russischen Geographischen Gesellschaft. Hier trieb er seine geographischen Forschungen über die Orografie des nordöstlichen Asiens und über die Gletschertheorien voran. 1872 stellte er seine geographische Forschung ein und widmete sich der anarchistischen Bewegung.

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155,17 wohl von Kirejewskis […] beeinflußt] Buber bezieht sich auf die Theorien des Schriftstellers und Publizisten Iwan Wassiljewitsch Kirejewski (1806-1856). In seinem 1852 verfassten offenen Brief an Graf Komarowski Über den Charakter der Bildung Europas und ihr Verhältnis zur Bildung Rußlands führte Kirejewski die weltgeschichtliche Differenz zwischen Europa und Slawentum aus. 155,23-30 »Der Staat […] kämpfen.«] Nicht nachgewiesen. 155,33-39 »Die ganze Geschichte […] zu Angesicht.«] »A travers toute l’histoire de notre civilisation, deux traditions, deux tendances opposées, se sont trouvées en présence: la tradition romaine et la tradition populaire; la tradition impériale et la tradition fédéraliste; la tradition autoritaire et la tradition libertaire. Et de nouveau, à la veille de la révolution sociale, ces deux traditions se trouvent face à face.« Pjotr Kropotkin, L’État, son rôle historique, in: ders., La Science moderne et L’Anarchie, Paris, 1913, heute in: Pierre Kropotkine, L’État, son rôle historique et autres textes, Marseille 2009, S. 95. Der Text war für eine 1896 geplante, jedoch nicht durchgeführte Konferenz vorgesehen und wurde erstmals von Dezember 1896 bis Juli 1897 in der anarchistischen Zeitschrift Les Temps nouveaux veröffentlicht. 1906 wurde er als Flugschrift wiederabgedruckt, bevor er als Kapitel in das 1913 veröffentlichte Werk La Science moderne et L’Anarchie aufgenommen wurde. 156,1-2 Gierke […] freie Assoziation] Otto von Gierke strukturiert seine Geschichte der deutschen Genossenschaft nach einer fünffachen Epochengliederung, wobei die Abfolge der Epochen um eine antithetische Dialektik zwischen Herrschaft und freier Assoziation kreist. Mit der Moderne habe wieder eine Epoche der freien Vereinigungen und Assoziationen begonnen: »Wir stehen erst am Beginn der fünften Periode, von welcher wir in den Gedanken des allgemeinen Staatsbürgertums und des repräsentativen Staats die Versöhnung uralter Gegensätze erwarten. So kurz dieser Zeitraum bisher ist, schon vermögen wir zu sagen, daß in ihm das eigentlich bildnerische Princip die freie Association in ihrer modernen Gestaltung ist und wird.« Otto von Gierke, Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, Berlin 1868, S. 11. Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 131,25 und 131,27-31. 156,10-11 den »großen Leviathan« […] ist] Buber weist hier auf die staatstheoretische, 1651 veröffentlichte Schrift Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civil von Thomas Hobbes hin, wobei die Allmacht des biblischmythologischen Seeungeheuers den absolutistischen Staat symboli-

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siert. Die Gestalt des absoluten Herrschers repräsentiert demgemäß »the generation of the great Leviathan […], of that mortal god, to which we owe under the immortal God, our peace and defence«. Thomas Hobbes, Leviathan – Revised edition, ed. by A. P. Martinich u. Brian Battiste, Peterborough u. Ontario 2011, S. 161. 156,13-14 machinas machinarum] Eine mechanistische Staatsauffassung liegt Hobbes Staatsbegriff zugrunde, wofür die frühneuzeitliche und barocke Metapher der machina machinarum steht. In seinem Werk Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines Symbols (Hamburg 1938) hatte Carl Schmitt schon auf dieses Bild in der Darstellung von Hobbes’ Staatstheorie rekurriert: Der Staat ist bei Hobbes »die Maschine der Maschinen, die machina machinarum, ein aus Menschen zusammengesetzter Übermensch, der durch menschlichen Konsens zustande kommt und doch in dem Augenblick, in dem er da ist, jeden menschlichen Konsens übersteigt.« Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Berlin 1982, S. 103. Zu der Kritik an Schmitts Dezisionismus in Bubers Werk Die Frage an den Einzelnen (Berlin 1936), vgl. Maurice Friedman, Begegnung auf dem schmalen Grat. Martin Buber – ein Leben, Münster 1999, S. 275; Bourel, Martin Buber, S. 494-495. 156,15 communitas communitatum] Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 66,12. 156,17 »ein eignes […] der Gliedverbände«] Nicht nachgewiesen. 156,22-23 »die Vernichtung […] des Mittealters«] »Ce fut par l’anéantissement de tous les contrats libres: des communautés de village, des guildes, des compagnonnages, des fraternités, des conjurations médiévales.« Pierre Kropotkine, L’Anarchie. Sa philosophie, son idéal, Paris 1896, S. 35. Der Text geht auf einen Vortrag zurück, der am 6. März 1896 im Versammlungssaal von Tivoli-Vauxhall in Paris gehalten wurde. 156,24-28 »Wir können mit einiger Sicherheit […] gegenüber«] »Still, with some security we may say that at the end of the Middle Ages a great change in men’s thought about groups of men was taking place […] That was one of the mottoes of modern absolutism: the absolute State faced the absolute individual.« Frederic William Maitland, Moral Personality and Legal Personality, in: The Collected Works of Frederic William Maitland, Downing Professor of the Laws of England, ed. by H. A. L. Fisher, vol. 3, Cambridge 1911, S. 309-311. Frederic William Maitland (1850-1906) war ein englischer Rechtswissenschaftler und Historiker. Er wird als Gründer der britischen Rechtsgeschichte betrachtet. Auch in seinen Schriften taucht der von Buber

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angewandte Begriff der communitas communitatum auf (»The federalistic structure of medieval society is threatened. No longer can we see the body politic as communitas communitatum, a system of groups, each of which in its turn is a system of groups. All that stands between the State and the individual has but a derivative and precarious existence.« ebd., S. 309). 156,29-32 »der souveräne Staat […] zerrieben«] »jene[r] die folgenden Jahrhunderte erfüllende […] Kampf […], in welchem der souveräne Staat und das souveräne Individuum um die Grenzen ihrer naturrechtlichen Sphäre rangen, alle Zwischenverbände dagegen wurden zu blos positivrechtlichen und mehr oder minder willkürlichen Gebilden degradiert und endlich überhaupt zerrieben.« Otto Friedrich von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, Breslau 1880, S. 234. 156,34-36 »straff zentralisierten […] Befehlsmechanismus«] Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre Thomas Hobbes, Stuttgart 1982, S. 77. 157,1-8 »Es gibt keinen […] anzubeten«] »There is no more dangerous superstition than that political atomism which denies all power to societies as such, but ascribes absolutely unlimited competence over body, soul and spirit to the imposing unity of the State. It is indeed ›the great Leviathan‹ made up of little men, as in Hobbes’ title page, but we can see no reason to worship the golden image.« John Neville Figgis, Churches in the Modern State, London 1913, S. 252-253. John Neville Figgis (1866-1919) war ein Historiker, politischer Philosoph und anglikanischer Priester. Er wird mit der Idee des pluralistischen Staates in Verbindung gebracht. Diesen Begriff hat er den Schriften Otto von Gierkes in gewisser Hinsicht entnommen. 157,13-15 »ein Kompromißobjekt […] Kirchen usw.«] In seinem im Sommersemester 1929 auf der Tagung der Kant-Gesellschaft in Halle gehaltenen Referat über den Pluralismus Staatsethik und pluralistischer Staat behauptete Schmitt, dass der Staat »als ein Kompromißobjekt sozialer und wirtschaftlicher Machtgruppen, ein Agglomerat heterogener Faktoren, Parteien, Interessenverbände, Konzerne, Gewerkschaften, Kirchen usw.« erscheint. Carl Schmitt, Staatsethik und pluralistischer Staat, Kant-Studien, 35-28 (1930), S. 28-42, hier S 31. 157,22 »ein Bund von Bünden«] »Gesellschaft ist eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften; ein Bund von Bünden von Bünden; ein Gemeinwesen von Gemeinschaften von Gemeinden; eine Republik von Republiken von Republiken. Da nur ist Freiheit und

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Ordnung, da nur ist Geist; ein Geist, welcher Selbständigkeit und Gemeinschaft, Verbindung und Unabhängigkeit ist.« Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, Berlin 1919, S. 131. 157,38-39 »diese Kämpfe […] waren«] »Je vois que ces luttes furent la garantie même de la vie libre dans la cité libre.« Pierre Kropotkin, L’État, son rôle historique et autres textes, S. 54. 157,41-158,1 »um die Eroberung […] zu handeln«] »Dans la commune, la lutte étaiet pour la conquête et le maintien de la liberté de l’individu, pour le principe fédératif, pour le droit de s’unir e s’agir.« Ebd., S. 56. 158,2-5 »die Epochen der Konflikte […] des Menschengeistes«] »Le conflit, librement débattu, sans qu’un pouvoir extérieur, l’État, vienne jeter son immense poids dans la balance, en faveur d’une des forces qui sont en lutte.« Ebd., S. 55. Bubers Zitat weicht vom Original ab und ist frei übersetzt. Vom »Menschengeist« spricht Kropotkin einige Zeilen vorher (»Une commune, disaient-ils, ne présente l’image d’un tout moral, ne se montre universelle dans sa manière d’être, comme l’esprit humaine lui-même, que lorsqu’elle a admis en elle le conflit, l’opposition«). Ebd. 158,10-24 Ein beredtes Beispiel […] die Arbeiter anstellte] Auch was die Wortwahl betrifft, paraphrasiert Buber das Kapitel »Das Bergwesen bis zur Ausbildung des modernen Kapitalismus« in Webers Wirtschaftsgeschichte: »In Deutschland stammt die Bergbaufreiheit, d. h. die Freiheit des Schürfens, nicht aus der Markgenossenschaft, sondern aus den ›gefreiten Bergen‹ […] Diese Entwicklung […] ist durch die außerordentliche Machtstellung begründet, welche die gelernten freien Arbeiter vom 11. bis 14. Jahrhundert einnahmen […] Die erste und wichtigste Epoche ist die einer starken Machtstellung der Bergwerksarbeiter. Sie hatte zunehmende Appropriation des Bergwerks an die Arbeiter zur Folge und zunehmende Expropriation des Herrn, der zum bloßen Zinsherrn wird und seine Bergschätze nur noch als Rentenquelle nutzt. Betriebsinhaberin ist jetzt die genossenschaftliche Einung der Arbeiter. Diese verteilen die Gewinne […] unter tunlichster Einhaltung des Prinzips der Gleichheit. Es entsteht die Berggemeinde als Gesamtheit der Berginteressenten, d. h. derjenigen, die auf dem Bergwerk arbeiten […], jedoch unter Ausschluß des Bergherrn […] Im einzelnen verläuft die Entwicklung der Betriebsformen bis zur Ausbildung des modernen Kapitalismus folgendermaßen. Durch die Einung der Bergarbeiter wird der Herr gezwungen, Eingriffe in den Betrieb zu unterlassen; die Gewerken verbieten seinen Beamten, in die Schächte einzufahren; nur noch die

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Genossen haben das Recht, einander zu kontrollieren […] Zur Berggemeinde gehören alle Lohnarbeiter, zu den Gewerken dagegen nur die Inhaber von Anteilen […] Nachdem die Bergarbeiter in den Besitz nicht nur der Produktionsmittel, sondern auch der Rohstoffe gekommen waren, begann der Differenzierungsprozeß innerhalb der Bergarbeiterschaft und die Zersetzung, die zuletzt den Kapitalismus heraufbeschwor. Die steigende Nachfrage nach Bergarbeitern hatte wachsenden Zuzug zur Folge. Die älteren Arbeiter lehnten es aber ab, die Zuziehenden in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Sie wurden zu ›Ungenossen‹, Lohnarbeitern, die als Gesellen im Dienste eines einzelnen Meisters standen, der sie für seine Rechnung bezahlte.« Max Weber, Das Bergwesen bis zur Ausbildung des modernen Kapitalismus, in: Wirtschaftsgeschichte. Abriss der universalen Sozial- und Wirtschafts-Geschichte, aus den nachgelassenen Vorlesungen hrsg. von Siegmund Hellmann und Melchior Palyi, München u. Leipzig 1923, S. 161-173, hier S. 167-169. 158,25 Tawneys Buch »The Acquisitive Society«] Richard Henry Tawney (1880-1962) war ein englischer Wirtschaftshistoriker, Sozialkritiker, christlicher Sozialist und ein bedeutender Befürworter der Erwachsenenbildung. The Acquisitive Society (New York 1920) war eines seiner meistgelesenen Bücher, in dem er den egoistischen Individualismus der modernen Gesellschaft kritisierte. Darin behauptete Tawney, der Kapitalismus fördere die Gier nach Besitz und verderbe somit die Menschen. 158,35 »Mutual Aid«, 1902] Buber bezieht sich auf Kropotkins 1902 in englischer Sprache verfasste Aufsatzsammlung Mutual Aid: A Factor of Evolution. Die Aufsätze wurden zuerst zwischen 1890 und 1896 in der literarischen Monatsschrift The Nineteenth Century veröffenticht. Hier wird auf folgenden Abschnitt hingewiesen: »Co-operation, especially in Britain, is often described ›joint-stock individualism‹ ; and such as it is now, it undoubtedly tends to breed a co-operative egotism, not only towards the community at large, but also among the co-operators themselves.« Heute in: Peter Kropotkin, Mutual Aid. A Factor of Evolution, New York 2009, S. 271. 159,5 Autobiographie] Peter Kropotkin, Memoirs of a Revolutionist, London 1899. Kropotkins in englischer Sprache verfasste Autobiographie wurde zwischen 1898 und 1899 zuerst in der Zeitschrift The Atlantic Monthly mit dem Titel The Autobiography of a Revolutionist in Folgen veröffentlicht. Sie erschien dann 1899 in London als Buch in zwei Bänden.

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159,7 »Jura-Föderation«] In Neuchâtel näherte sich Kropotkin 1872 der libertären Jura-Föderation (oder Jura-Bund), einer aus den Ideen von Michail Bakunin entwickelten, 1871 gegründeten, revolutionären und antiautoritären Bewegung, die vor allem aus Uhrmachern bestand. In den Siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde der Bund zum Zentrum der internationalen anarchistischen Bewegung. »I went first to Neuchâtel, an then spent a week or so among the watchmakers in the Jura Mountains. I thus made my first acquaintance with that famous Jura Federation which for the next few years played an important part in the development of socialism, introducing into it the no-government, or anarchist, tendency. In 1872 the Jura Federation was becoming a rebel against the authority or the general council of the International Workingmen’s Association. The association was essentially a workingmen’s movement, the workers understanding it as such and not as a political party.« Peter Kropotkin, Memoirs of a Revolutionist, London 1899, S. 65-66. 159,13-31 »Wir bemerkten […] sich entwickelt.«] »We saw that a new form of society is germinating in the civilized nations, and must take the place of the old one […] This society will be composed of a multitude of associations, federated for all the purposes which require federation: trade federations for production of all sorts […] communes for consumption […] federations of communes among themselves, and federations of communes with trade organizations; and finally, wider groups covering all the country, or several countries, composed of men who collaborate for the satisfaction of such economic, intellectual, artistic, and moral needs as are not limited to a given territory. All these will combine directly, by means of free agreements between them […] individual initiative will be encouraged, and the tendency toward uniformity and centralization will be discouraged. Moreover, this society will not be crystallized into certain unchangeable forms, but will continually modify its aspect, because it will be a living, evolving organism.« Ebd., S. 205-206. 159,33-38 »die vollständigste […] entsprechen«] »Le plus complet développement de l’individualité, combiné avec le plus haut développement de l’association volontaire sous tous les aspects, à tous les degrés possibles, pour tous les buts imaginables: association toujours changeante, portant en elle-même les éléments de sa durée, et revêtant les formes qui, à chaque moment, répondent le mieux aux aspirations multiples de tous.« Pierre Kropotkine, L’Anarchie. Sa philosophie, son idéal, S. 18. 159,39-40 »Wir stellen uns […] konstituiert ist.«] Nicht nachgewiesen.

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160,5-11 »kann nicht auferlegt […] der Gemeinde«] Nicht nachgewiesen. 160,12-16 »wird seine eigene […] werden müssen«] Nicht nachgewiesen. 160,19 Akratie] Es geht dabei um einen von Franz Oppenheimer eingeführten Begriff, der die politische Aufhebung der Klassengesellschaft bezeichnet. Nach Oppenheimer ist eine Akratie »das Ideal einer von jeder wirtschaftlichen Ausbeutung erlösten Gesellschaft«, in: Franz Oppenheimer, Soziologische Streifzüge, gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 2, München 1927, S. 159-187, hier S. 159 [Erstveröffentlichung in: Der Staatsbürger, Bd. 5, München u. a. 1914, S. 18-35 und 57-68]. 160,20-25 »Die Anarchie […] zurückgeführt sind.«] »une forme de gouvernement, ou constitution, dans laquelle la conscience publique et privée, formée par le développement de la science et du droit, suffit seule au maintien de l’ordre et à la garantie de toutes les libertés, où par conséquent le principe d’autorité, les institutions de police, les moyens de prévention et de répression, le fonctionnarisme, l’impôt, etc., se trouvent réduits à leur expression la plus simple.« PierreJoseph Proudhon, Contradictions politiques, in: ders., Œuvres complètes, Paris 1952, p. 132. Es handelt sich um einen am 20. August 1864, d. h. kurz vor Proudhons Tod verfassten Brief an Pierre Athanase Larousse (1817-1875), den Verleger des Grand dictionnaire universel du XIX. siècle. 160,33-35 »alle Beziehungen […] zurechtzumachen«] »Tous les rapports entre individus et entre les agglomérations humaines sont à refaire«, Pierre Kropotkine, L’État, son rôle historique et autres textes, S. 94. 161,1-4 »aus den Eingeweiden […] unterwirft«] »à faire surgir des entrailles du peuple, des profondeurs du travail, une activité plus grande, une fait plus puissante qui enveloppe le capital et l’État et qui les subjugue«, Pierre-Joseph Proudhon, Système des contradictions économiques, ou philosophie de la misère, Bd. 1, S. 340. 161,6-7 »die sukzessiven […] Menschheit«] Am 17. Oktober 1848 schrieb Proudhon in einem in der Zeitung Le Peuple mit dem Titel »Toast à la révolution« veröffentlichten Artikel: »Les révolutions sont les manifestations successives de la justice dans l’humanité«, in: Œuvres complètes de Pierre-Joseph Proudhon, tome XVII, Mélanges. Articles de journaux 1848-1852, Paris 1868, S. 143. 161,7-8 »dem Wesen seines Prinzips […] gegenrevolutionär«] »Je savais à marveille que le gouvernement est de sa nature contre-révolutionnaire«, Pierre-Joseph Proudhon, Les Confessions d’une révolution-

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naire pour servir à l’histoire de la Révolution de Février, Paris 1849, S. 83. 161,9-11 »keine Reform […] hätten«] »J’ai aussi à vous faire quelque observation sur ce mot de votre lettre: Au moment de l’action. Peut-être conservez-vous encore l’opinion qu’aucune réforme n’est actuellement possible sans un coup de main […] nous ne devons pas poser l’action révolutionnaire comme moyen de réforme sociale«, PierreJoseph Proudhon an Karl Marx, Lyon, den. 17. Mai 1846, in Correspondance de P.-J. Proudhon, Bd. 2, S. 200. 161,19-20 »Es ist […] gegeben hat«] »C’est la lutte révolutionnaire qui nous a donné la centralisation«, Pierre-Joseph Proudhon, Du principe fédératif et de la nécessité de reconstituer le parti de la révolution, S. 321. 161,22-23 »ebenso schlimmen oder schlimmeren«] Nicht nachgewiesen. 161,24-25 »das Volk […] beginne«] Nicht nachgewiesen. 161,26-27 »Es handelt […] inaugurieren.«] Nicht nachgewiesen. 161,38-40 in seinem Buch […] gezeigt hat] Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 158,35-38. 161,41-162,1 »Fields […] 1912] Peter Kropotkin, Fields, Factories and Workshops: or Industry Combined with Agriculture and Brain Work with Manual Work, New York u. London 1898. Dieses Werk wird als eine der einflussreichsten Dokumente der anarchistischen politischen Philosophie betrachtet und von vielen als zentrales Werk der philosophischen Karriere Kropotkins angesehen. Hierin erläutert Kropotkin seine Vision einer harmonischeren Lebensweise, in der Kooperation statt Konkurrenz herrscht. Kropotkins Schwerpunkt liegt auf lokaler Organisation und lokaler Produktion, wobei er eine Zentralregierung für nicht notwendig hält. Kropotkins Lehre ist oft auf die Landwirtschaft und das Leben auf dem Lande ausgerichtet, was eine kontrastierende Perspektive zum weitgehend industriellen Denken von Kommunisten und Sozialisten darstellt. 162,14-15 »vollständig durchgeführt«] Nicht nachgewiesen. 162,16-19 »jeder sozialistische […] berücksichtigt«] »Any Socialist attempt at remodelling the present relations between Capital and Labour will be a failure, if it does not take into account the above tendencies towards integration.« Peter Kropotkin, Fields, Factories and Workshops, second edition, New York-London 1901, S. 5-6. 162,20 »schon möglich, schon realisierbar«] »Such is the future – already possible, already realisable«, ebd., S. 218. 163,5-8 »Staat ist ein Verhältnis […] zueinander verhält.«] Gustav Landauer, Schwache Staatsmänner, schwächeres Volk!, in: Der Sozialist,

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15. Juni 1910, heute in: Ders. Ausgewählte Schriften, Bd. 3.1, Antipolitik, hrsg. von Siegbert Wolf und illustriert von Uwe Rausch, Lich u. Hessen 2010, S. 232-234. Die Zeitschrift Der Sozialist erschien zweimonatlich von 1909 bis 1915 in Berlin und war das Organ des 1908 von Gustav Landauer, Erich Mühsam, Martin Buber, Margarethe Faas-Hardegger (1882-1963) u. a. gegründeten Sozialistischen Bundes. 163,13-15 »Es ist eine Verbindung […] geworden ist.«] Gustav Landauer, Volk und Land: Dreißig sozialistische Thesen, ebd., S. 109-121. 163,17-18 »zu einem Organismus […] Gliederungen«] Ebd. 163,20-21 »sondern draußen, außerhalb des Staates«] Ebd. 163,25-27 »Eines Tages […] Gewachsenem ist.«] Gustav Landauer, Die Revolution, Berlin 1974, S. 105. 163,33-36 »Der Sozialismus […] tun vermögen.«] Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, Berlin 1919, S. 106. 164,11-12 »Staat« […] Zustand] Der Begriff »Staat« ist vom lateinischen status abgeleitet und bedeutet »Zustand«, »Verfassung«. Im Gegensatz dazu steht die Anarchie diesem Zustand konträr gegenüber. 164,31-32 »Sehen wir […] ausübt.«] Nicht nachgewiesen. 165,12-14 »nicht eine Summe […] dehnen will«] »Man hatte angefangen zu finden, daß es neben dem Staat eine Gemeinschaft gibt, nicht eine Summe isolierter Individualatome, sondern eine organische Zusammengehörigkeit, die sich aus vielfachen Gruppen wie zu einer Wölbung dehnen will.« Landauer, Die Revolution, S. 105. 165,19-24 »Das ist die Aufgabe […] emporwachse.«] Gustav Landauer, Der werdende Mensch, hrsg. von Martin Buber, Potsdam 1921, S. 32. Dass das Innerste verschüttet werden soll, zeugt von Landauers Interesse an der Mystik und an deren Wortschatz, in der Hoffnung, dass »der nächste Moment das Tiefste, Begrabenste und Ungeahnteste heraufbringt«. Gustav Landauer, Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Köln 1923 (2. Aufl), S. 60. Das war für Landauer eine zentrale Aufgabe des Sozialismus. 165,28-31 »Wahnsinn […] brauchen wir.«] »Ich will neue Mitlebensformen schaffen, weil die wirklichen die da sind, zu kümmerlich, zu eng sind; es sind karge Reste aus grosser Zeit. Wahnsinn aber wäre es, die Formen des Bundes, die wenigen, die geblieben sind, auch noch ›abschaffen‹ zu wollen! Form brauchen wir, nicht Formlosigkeit. Tradition brauchen wir, nicht Zuchtlosigkeit.« Das Zitat entnimmt Buber einem am 2. April 1909 verfassten Brief Landauers an seine Verlobte, die Frauenrechtlerin und Gewerkschaftlerin Margarethe Faas-Hardegger, die 1908 mit ihm den Sozialistischen Bund und dessen Zeit-

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schrift Der Sozialist gegründet hatte und die im Gegensatz zu Landauer eine Verfechterin der freien Liebe war. 165,40-166,5 »Diese Ähnlichkeit […] Völkerharmonien.«] Gustav Landauer, Rechenschaft, S. 89. 166,10-12 »Rettung […] der Gemeinde.«] Landauer, Aufruf zum Sozialismus, S. 130. 166,15-19 »Jetzt und jederzeit […] Feld sind.«] Ebd., S. 135. 166,21-26 »Vieles ist da […] Handwerk.«] Ebd., S. 145. 166,39-167,2 »Im einzelnen […] und Plötzliches.«] Landauer, Die Revolution, S. 119. Mit diesen Worten beschließt Landauer die Revolutionsschrift. 167,3-4 Walt Whitman […] übersetzt hat] Walt Whitman, Der Wundarzt. Briefe, Aufzeichnungen und Gedichte aus dem amerikanischen Sezessionskrieg, übers. von Gustav Landauer, Zürich 1919. 167,4-6 »er vereine gleich Proudhon […] Sozialismus] »Whitman vereint gleich Proudhon, mit dem er in vielem geistig verbunden ist, konservativen und revolutionären Geist, Individualismus und Sozialismus.« Gustav Landauer, Walt Whitman, in: Walt Whitman, Gesänge und Inschriften, übertragen von Gustav Landauer, München 1921, S. 7. Der einleitende Aufsatz, der aus einem Vortrag hervorgegangen ist, erschien zuerst im Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes, 5-23 (1913), S. 177-183, und wurde dann in der Halbmonatsschrift des Düsseldorfer Schauspielhauses Masken, 12-14 (1916-1917), S. 209-216 wieder veröffentlicht. 167,10-11 den Mann […] Familie] Landauer wurde in Karlsruhe als zweites Kind eines jüdischen Schuhwarenhändlers geboren. 167,19 Shakespeare] Landauer war Übersetzer von Shakespeares Texten, darunter der 1917 veröffentlichte Hamlet. Vgl. hierzu auch Gustav Landauer, Shakespeare. Dargestellt in Vorträgen, 2 Bde., Frankfurt a. M.: Literarische Anstalt Rütten & Loening 1922. Diese Bände wurden im letztwilligen Auftrag des Verfassers von Martin Buber herausgegeben. 167,19-20 die deutsche Mystik] Landauer war der erste, der die Schriften Meister Eckharts ins Neuhochdeutsche übersetzte, vgl. Meister Eckharts mystische Schriften. In unsere Sprache übertragen von Gustav Landauer, Berlin 1903. Von diesem Interesse an der Mystik zeugt auch das Werk Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik (Berlin 1903), das zu Landauers philosophischen Hauptwerken zählt und eine Wende seines Denkens hin zur Mystik markiert.

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167,22-26 »Wollen wir […] die Revolution?«] Gustav Landauer, Sein Lebensgang in Briefen, Bd. 1, Nr. 217, S. 377. 167,28-29 »der Geist […] Regeneration heißt«] Ebd., S. 108. 167,32-38 »In dem Feuer […] müßten versinken.«] Ebd., S. 108 f. 167,33 Buch »Die Revolution«] Landauers Die Revolution erschien 1907 als dreizehnter Band der von Buber betreuten und herausgegebenen, von der Frankfurter Literarischen Anstalt Rütten & Loening veröffentlichten Reihe Die Gesellschaft. Sammlung sozial-psychologischer Monographien. Von dieser erfolgreichen Reihe erschienen zwischen 1906 und 1912 vierzig Hefte. Vgl. hierzu Martin Treml, Einleitung in: MBW 1, S. 51-53; Francesco Ferrari, Einleitung in: MBW 11.111.2, S. 21; Geleitwort zur Sammlung, in: MBW 11.1, S. 101-107. 167,38-41 »Obzwar […] sehr unterscheidet.«] Ebd., S. 112 f. 168,2-11 »Wenn eine […] zu halten.«] Ebd., S. 113. 168,11-12 das schrieb Landauer […] Erkenntnis] Die erste Ausgabe der Briefe aus der Französischen Revolution erschien 1919 bei der Literarischen Anstalt Rütten & Loening. Ausgehend von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs stellte Landauer eine Quellensammlung zusammen, die Briefe der wichtigsten Gestalten der Französischen Revolution (Honoré Gabriel Riqueti de Mirabeau, Ludwig XVI., Camille Desmoulins, Maximilien de Robespierre) und anderer weniger bekannter Persönlichkeiten (Mme Marie-Jeanne Roland de la Platière, François Buzot, Georg Forster) enthielt. 168,12-19 »daß die innigste […] Politik verband«] Gustav Landauer, Vorwort, in: ders., Briefe aus der französischen Revolution, Erster Band, Frankfurt a. M. 1922, S. XIIf. 168,22-33 »Geben wir uns […] nicht kennen.«] Landauer, Rechenschaft, S. 164. 168,35-41 »Es wird […] nichts weiter ist.«] Landauer, Die Revolution, S. 115. 169,1-6 »Doch ist […] gefangen sitzt.«] Ebd., S. 116. 169,7-8 »Umwandlung […] kommen«] Landauer, Aufruf zum Sozialismus, Vorbemerkung zur ersten Auflage, S. X. 169,13-14 »Ihr Revolutionäre […] Umschwung.«] Ebd., S. 108. 169,16-23 »Alles hat […] gefehlt hat.«] Ebd., S. 108. 170,1-10 »Eine Stufe […] weisender Geist.«] Landauer, Die Revolution, S. 40. 170,14-17 jene Formen des Gemeinschaftslebens […] Ritterbünde] Buber paraphrasiert hier fast wortwörtlich Landauers Zeilen über die Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft in seinem Aufsatz Die Revolution: »Die christliche Zeit wird repräsentiert nicht durch das

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Feudalsystem; nicht durch die Dorf- und Markgenossenschaft mit ihrem Gemeinbesitz an Grund und Boden und gemeinsamer Wirtschaft; nicht durch die Reichsversammlung; nicht durch Kirche und Klöster; nicht durch Gilden, Zünfte und Bruderschaften der Städte mit ihrer eigenen Gerichtsbarkeit; nicht durch die selbständigen Städte, Sprengel und Kirchspiele dieser Städte; nicht durch die Städtebünde und Ritterbünde – und wieviel könnte noch an solchen ausschließlichen und selbständigen Gebilden aufgezählt werden.« Landauer, Die Revolution, S. 43. Landauer rekapituliert alle Institutionen des sozialen, ökonomischen und religiösen Systems des Mittelalters von den ständischen, handwerklichen Körperschaften (Gilden und Zünften) bis zu den kultisch-religiösen Zusammenschlüssen und zu den freien Reichsstädten. 170,18-19 »Gesamtheit […] Gesellschaften«] Ebd., S. 43 f. 170,20-25 »nach einer […] zurückströmte«] Ebd., S. 44. 170,26-30 »einer Zeit […] ohne Wahrheit?«] Ebd., S. 52. 170,30-31 »eine Zeit […] Übergangs«] Ebd. 170,34-40 »Wie die […] Erstehen bringt.«] Ebd., S. 116. 170,40-171,3 »daß solche […] Entbehrungen«] »Unser Weg geht dahin, daß solche Menschen, die zur Einsicht und zur inneren Unmöglichkeit, so weiter zu leben, gekommen sind, sich in Bünden zusammenschließen und die Arbeit in den Dienst ihres Verbrauchs stellen. In Siedlungen, in Genossenschaften, unter Entbehrungen.« Landauer, Aufruf zum Sozialismus, Vorbemerkung zur ersten Auflage XIX. 171,5-9 »Wir Sozialisten […] vergeistigen.«] Landauer, Gott und der Sozialismus, heute in: Ders. Ausgewählte Schriften, Bd. 5, Philosophie und Judentum, Lich/Hessen 2012, S. 287-305. Der Aufsatz »Gott und der Sozialismus« wurde zuerst in der Zeitschrift Der Sozialist vom 15. Juni, 1. Juli und 15. Juli in Auszügen veröffentlicht, dann in der von Buber herausgegebenen Sammlung Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum (Potsdam 1921, S. 14-39, hier S. 37) wieder publiziert. 171,15-18 »Wir wollen […] Versuchen bringen.«] Landauer, Aufruf zum Sozialismus, S. 149. 171,19-20 »der Versuch […] Religion bringen«] »War dies die Sehnsucht der christlichen Seele […] so ist der Sozialismus der Versuch, das Mitleben der Menschen zur Bindung in Freiheit aus gemeinsamem Geiste, das heißt zur Religion zu bringen, ohne daß dieser Geist das Bild der Bindung anders gestalten könnte, als in den Formen der Erforschung der Natur, die Wissenschaft heißt, und des heiligen Spieles, das Kunst heißt.« Gustav Landauer, Beginnen. Aufsätze über

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Sozialismus, hrsg. von Martin Buber, Köln: Marcan-Block-Verlag 1924, S. 30. 171,30-31 »Der Kampf […] Boden.«] »Der Kampf des Sozialismus ist ein Kampf um den Boden; die soziale Frage ist eine agrarische Frage.« Landauer, Aufruf zum Sozialismus, Berlin 1911, S. 142. 171,34-37 »müssen die arbeitenden […] möglich ist«] »7. Damit die große Umwälzung in den Bodenverhältnissen komme, müssen die arbeitenden Menschen erst auf Grund der Einrichtungen des Gemeingeistes, der das sozialistische Kapital ist, so viel von sozialistischer Wirklichkeit schaffen und vorbildlich zeigen, wie ihnen jeweils nach Maßgabe ihrer Zahl und Energie möglich ist.« Landauer, Die zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes (1912), in: Der Sozialist, Organ des Sozialistischen Bundes, 1. Januar 1912. 171,38-41 »Nichts kann […] und beginnen.«] Der Sozialist, 2. Jg., Nr. 21, 1. November 1910. Wiederabgedr. in: Landauer, Beginnen. Aufsätze über Sozialismus von Gustav Landauer, S. 141-153, hier S. 149. 172,2-8 »Das sozialistische Dorf […] übriggeblieben ist.«] Landauer, Die Siedlung, in: ders., Beginnen, S. 67-73, hier S. 71. 172,24-26 »das Seltsame […] Wirtschaft hat«] Landauer, Ein Brief über die anarchistischen Kommunisten, in: Beginnen, S. 141-152, S. 149 f. 172,27-30 »daß wir […] Beginnenden sind.«] Ebd., S. 150. 172,30-35 »so schnell […] vereinigt«] Ebd. 172,36-37 »so weit […] Zukunft«] Ebd. 172,37-40 »Der Kommunismus […] Worte.«] Ebd. 173,6-11 »Überall […] Jobeljahres in sich.«] Nicht nachgewiesen. 173,11 der Seisachteia oder des Jobeljahres] Landauer geht auf das jüdische Jobeljahr mit dem damit verbundenen Erlass aller Schulden und auf die griechische, von Solon eingeführte Seisachteia (»Lastenabschüttelung«) zurück, um sie mit der anarchistischen Idee der Zukunft zu verknüpfen. Die Kombination »Sozialismus und Mosaismus« war zeitweilig auch in zionistischen Kreisen weit verbreitet, vgl. hierzu Alfred Nossig, Sozialismus und Mosaismus, in: ders., Integrales Judentum, Leipzig 1922, S. 55-79. 173,12-25 »Keinerlei […] Verfassung werden.«] Landauer, Aufruf zum Sozialismus, Berlin 1911, S. 136. 173,16-17 ›Da sollst du die Posaune blasen lassen durch all euer Land!‹] Lev 25,9 »Da sollst du die Posaune lassen blasen durch all euer Land am zehnten Tage des siebenten Monden, eben am Tage der Versöhnung.« 174,26 Genossenschaftsbewegung] Die Genossenschaftsbewegung bezieht sich auf eine wirtschaftliche Organisationsform der Selbsthilfe,

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die in England und im restlichen Europa Mitte des 19. Jahrhunderts als Antwort auf die von der Industrialisierung aufgeworfenen Probleme auftritt. Diese wirtschaftspolitische Lösung verbreitete sich unter Bauern (Raiffeisen-Genossenschaften), Handwerkern und Einzelhändlern (Kreditgenossenschaften und Einkaufsgenossenschaften), Wohnungssuchenden (Wohnungsbaugenossenschaften), Verbrauchern (Konsumgenossenschaften). Bei der Entwicklung dieser Assoziationsformen spielten England (Robert Owen, die Redlichen Pioniere von Rochdale), Frankreich (Charles Fourier) und Deutschland (Hermann Schulze-Delitzsch [1808-1883] und Friedrich Wilhelm Raiffeisen [1818-1888]) eine überaus wichtige Rolle. 174,26-27 »den idealen […] gesetzt«] Nicht nachgewiesen. 175,2-6 »Geben wir […] zu führen«] Nicht nachgewiesen. 175,14-15 1827 die erste englische Konsumgenossenschaft] Dabei handelt es sich entweder um die 1827 gegründete Kooperative »Meltham Mills«, die als eine der ersten das Kriterium der Umsatzdividende anstelle der Kapitaldividende eingeführt hat, oder um die von William Bryan im demselben Jahr gegründete »Brighton Co-operative Benevolent Fund Association«, die dank dem Philanthropen William King ziemlich Erfolg hatte. 175,16-17 1832 die erste französische Produktivgenossenschaft] In Frankreich wurde die erste Produktivgenossenschaft (Association des bijoutiers en doré [»Verband der Goldjuweliere«]), in der die Erträge der Gesellschaft auf die Mitglieder verteilt werden, 1832 vom französischen Politiker, Historiker und Ideologen des christlichen Sozialismus Philippe Joseph Benjamin Buchez (1796-1865) gegründet. 175,20 Weber von Rochdale] Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 59,2-3. 175,20 Louis Blancs »nationale Werkstätten«] Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 148,3-4. 175,21-22 das tragikomische […] Mississippi] Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 119,28. 175,34-35 »in soziale Institutionen zu verwandeln«] Im ersten Heft der von 1835 bis 1838 veröffentlichten Zeitschrift L’Européen: journal de morale et de philosophie schrieb Philippe Buchez: »Nous croyons que le moment est venu de réaliser socialement les commandements de la morale chrétienne, d’operer par le Christianisme, une Révolution plus importante, plus grave […] Il faut aujourd’hui transformer en institutions sociales tous les commandements, tous les enseignements du Christianisme«, in: Étienne Cabet, Réfutation des doctrines de l’Atelier, Paris 1842, S. 2.

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176,5-6 die 28 kleinen Hefte […] herausgab] Die Monatsschrift The Cooperator hatte eine weite Verbreitung und übte einen großen Einfluss auf die aufkommende Genossenschaftsbewegung aus. Obwohl sie nur etwas mehr als zwei Jahre lang erschien, diente die Zeitschrift dazu, die isolierten genossenschaftlichen Gruppen zu vereinheitlichen. Kings Artikel in der Zeitung gaben der Bewegung eine philosophische und praktische Grundlage, die ihr vorher fehlte. Als die Zeitschrift eingestellt wurde, behauptete King, es gäbe mindestens dreihundert Genossenschaften in England. 176,9 William Thompson] Vgl. die Wort- und Sacherläuterungen zu 60,19. 176,10-20 »der Wurzel […] wie ein Tier«] »Labour is the root of the tree whatever size it may ultemately grow to. Labour is in this sense every thing: therefore he who has labour has every thing. No man will be senseless enough to deny that the working classes posses this labour within themselves. They are the only people who do posses it. They have the monopoly of this article most completely in their own hands. Nor can any law force deprive them of it: for all force is a species of labour and resides in the working classes, and in them alone: and the power of any person, or class of man is nothing more than the power of directing the labour or power of the working classes.« Dr. William King and the Co-operator 1828-30, hrsg. von T. W. Mercer, Manchester 1922. The Co-operator, No. 8, December 1, 1828, S. 29 f. 176,25-29 »Sobald die Arbeiter […] machen wird.«] Nicht nachgewiesen. 176,36-39 »Land erwerben […] genannt werden.«] »When the capital has accumulated sufficiantly, the society may purchase land, live upon it, cultivate it themselves, and produce any manufactures they please, and so proviode for all their wants of food, clothing and houses. The society will then be called a community.« William King, in: The Co-operator, No. 1, May 1, 1828, S. 3. 177,14-17 »Wenn jemand […] der religiösen.«] »When a man enters a Co-operative society, he enters upon a new relation with his fellow men; and that relation immediately becomes the subjekt of every sanction both moral and religious.« William King, in: The Co-operator, No. 7, November 1, 1828, S. 27. 178,33-37 »so bald als […] beizustehn.«] Nicht nachgewiesen. 179,21-30 »Das Prinzip des Föderalismus […] der Produktion.«] Nicht nachgewiesen. 180,5-7 »an ihre Herren […] ihnen arbeiten«] »By selling these inventions to their masters to work AGAINST themselves, instead of keep-

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ing them in their own hands, to work WITH themselves, and to diminish their own labour, they have built an inclined plain for themselves-down which, they must infallibly descent, into the abyss of misery and despair.« William King, in: The Co-operator, No. 4, August 1, 1828, S. 14. 181,19 Ferdinand Tönnies] (1855-1936): dt. Nationalökonom. Mit seinem 1887 erschienenen Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft prägte Tönnies nicht nur diesen später populären begrifflichen Gegensatz, es gilt auch als erste im eigentlichen Sinn soziologische Untersuchung in Deutschland. 181,21-24 »die Grundlagen […] aus den Angeln gehoben«] »Zur Rede gestellt aber wird die öffentliche Meinung geltend machen, daß doch offenbar und eigenständlich diese neuen Konsumvereine es darauf abgesehen haben, durch ihr Anwachsen und ihre Eigenproduktion allmählich die kapitalistische Welt aus den Angeln zu heben.« Ferdinand Tönnis, Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin 1922, S. 456. 181,27 Buchez] Philippe Buchez (1796-1865): franz. Arzt und Schriftsteller, Anhänger Saint-Simons. 183,30-32 »was den Proletariern […] zu liefern«] »Il y fault appliquer toute la force de L’Ètat. Ce qui manque aux proletaires pour se affranchir, se sont les instruments de travail: la foction de gouvernement et de les leurs fournir.« Louis Blanc, Organisation du Travail, S. 14. 186,2-3 »Bruderschaft der Arbeiter«] Vgl. Beatrice Webb, The Co-Operative Movement in Great Britain, London 1904, S. 147. 186,4-5 »eine erstaunliche […] aufwiesen.«] »Forty years of persistent self-devoted effort, the institution of some hundreds of Associations of Producers, have left us with eight establishements with constitutions more or less approximating the model self-governing workshop […] all in the stage of infancy or childhood. The remaining forty-six, cited as orthodox exponents of co-operative production, exhibit an amazing variety of aristocratic, plutocratic, and monarchical constitutions which defy scientific classification.« Ebd., S. 157. 193,8-20 »Es genügt nicht, Bauern in einem Bezirk […] und zu vereinigen.«] »It is not enough to organize farmers in a district for one purpose only – in a credit society, a diary society, a fruit society, a bacon factory, or in a co-operative store. All these may be and must be beginnings; but if they do not develop and absorb all rural business into their organization they will have little effect on character. No true social organism will have been created. If people unit as consumers to buy together they only come into contact on this one point; there is no general identity of interest. If co-operative societies are specialized

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for this purpose or that – as in Great Britain or on the Continent – to a large extent the limitation of objects prevents a true social organism from beeing formed. […] The evolution of humanity beyond its present level depends absolutely on its power to unit and to create true social organisms.« George William Russell (A. E.), The National Being. Some Thoughts On An Irish Polity, New York 1916, S. 40 f. 196,41-197,6 »Die Revolution überhaupt […] politische Hülle weg.«] Karl Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel »Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen«, in: MEW, Bd. 1, S. 392-409, hier S. 409. 197,8-15 »Erst wenn der Mensch […] Emanzipation vollbracht.«] Karl Marx, Zur Judenfrage, in: MEW, Bd. 1, S. 347-377, hier S. 370. 197,34-35 »als allgemeine Angelegenheit […] konstituierte«] Ebd. S. 368. 198,7-14 »Die arbeitende Klasse […] bürgerlichen Gesellschaft ist.«] Marx, Das Elend der Philosophie, in: MEW, Bd. 4, S. 182. 199,14-15 »kleinen […] Experimente«] »Sie verwerfen daher alle politische, namentlich alle revolutionäre Aktion, sie wollen ihr Ziel auf friedlichem Wege erreichen und versuchen, durch kleine, natürlich fehlschlagende Experimente, durch die Macht des Beispiels dem neuen gesellschaftlichen Evangelium Bahn zu brechen.« Marx u. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, S. 490. 199,16-19 »der doktrinäre Sozialismus […] Sentimentalitäten wegphantasiert«] Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850, in: MEW, Bd. 7, S. 64-94, hier S. 89. 199,21-26 »doktrinäre Experimente […] notwendig scheitert«] Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, S. 115-123, hier S. 122. 199,30-35 »Die schwierige question […] noch ascendent ist?«] Brief von Marx an Engels vom 8. Oktober 1858, in: MEW, Bd. 29, S. 360. 199,40-200,11 »Sieg eines Prinzips« […] Pflicht der Arbeiterklasse«] »Die Zehnstundenbill war daher nicht bloß eine große praktische Errungenschaft, sie war der Sieg eines Prinzips. Zum erstenmal erlag die politische Ökonomie der Mittelklasse in hellem Tageslicht vor der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse. Ein noch größerer Sieg der politischen Ökonomie der Arbeit über die politische Ökonomie des Kapitals stand bevor. […] Durch die Tat, statt durch Argumente, bewiesen sie, daß Produktion auf großer Stufenleiter und im Einklang mit dem Fortschritt moderner Wissenschaft vorgehen kann ohne die Existenz einer Klasse von Meistern (masters), die eine Klasse von »Händen« anwendet; daß, um Früchte zu tragen, die Mittel

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der Arbeit nicht monopolisiert zu werden brauchen als Mittel der Herrschaft über und Mittel der Ausbeutung gegen den Arbeiter selbst, und daß wie Sklavenarbeit, wie Leibeigenenarbeit so Lohnarbeit nur eine vorübergehende und untergeordnete gesellschaftliche Form ist, bestimmt zu verschwinden vor der assoziierten Arbeit, die ihr Werk mit williger Hand, rüstigem Geist und fröhlichen Herzens verrichtet. […] Um die arbeitenden Massen zu befreien, bedarf das Kooperativsystem Entwicklung auf nationaler Stufenleiter und der Förderung durch nationale Mittel. […] Politische Macht zu erobern ist daher jetzt die große Pflicht der Arbeiterklassen.« Karl Marx, Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation, in: MEW, Bd. 16, S. 5-13, hier S. 11 f. 200,18-19 »nicht imstande, […] umzugestalten«] Karl Marx, Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen, MEW, Bd. 16, S. 190-199, hier S. 195. 200,31-33 »Proudhonisierter Stirnerianismus […] aber keinen Staat«] Brief von Karl Marx an Engels, 20. Juni 1866, in: MEW, Bd. 31, S. 229. 201,11-12 »ihr wahres Geheimnis […] der Arbeiterklasse«] Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 313-365, hier S. 342. 201,14-15 »die Selbstregierung der Produzenten«] Ebd. S. 339. 201,18-20 »nicht eine […] zu gleicher Zeit«] Ebd. 201,25-29 »mit ihren […] übertragen werden«] Ebd., S. 336. 201,33-37 »Die Kommunalverfassung […] in Gang gesetzt haben.«] Ebd., S. 341. 201,40-202,1 »überflüssig gemacht«] Ebd. 202,6-8 »endlich entdeckte […] vollziehen konnte«] Ebd., S. 342. 202,8-11 »das individuelle Eigentum […] Arbeit verwandelt«] Ebd. 202,12-17 »Wenn die genossenschaftliche […] der ›mögliche‹ Kommunismus?«] Ebd. S. 343 202,22-23 »hat keine […] durch Volksbeschluß einzuführen«] Ebd. 202,28-31 »Sie hat keine Ideale […] Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben.«] Ebd. S. 343. 202,41-203,2 »bevor die materiellen […] ausgebrütet worden sind«] Karl Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, S. 7-11, S. 9. 203,10-11 »kleine […] fehlgeschlagene Experimente«] Marx u. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, S. 490. 203,17-21 »Hätten sich […] verständigen können.«] »Wenn die Autonomisten sich damit begnügten, zu sagen, daß die soziale Organisation der Zukunft die Autorität einzig und allein auf jene Grenzen beschränken wird, in denen die Produktionsbedingungen sie unvermeidlich machen, so könnte man sich verständigen; sie sind indessen

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blind für alle Tatsachen, die die Sache notwendig machen, und stürzen sich auf das Wort.« Vgl. Friedrich Engels, Von der Autorität, MEW, Bd. 18, S. 305-308, hier S. 307 f. 203,30-33 »daß der politische Staat […] Autorität sein soll«] »Aber die Antiautoritarier fordern, daß der autoritäre politische Staat auf einen Schlag abgeschafft werde, bevor noch die sozialen Bedingungen vernichtet sind, die ihn haben entstehen lassen. Sie fordern, daß der erste Akt der sozialen Revolution die Abschaffung der Autorität sei.« Ebd., S. 308. 203,38-40 »Haben Sie […] es gibt.«] »Haben diese Herren nie eine Revolution gesehen? Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; […].« Ebd. 204,14-15 »Stiftung […] Staatshilfe.«] Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms. Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW, Bd. 19, S. S. 13-32, hier S. 26. 206,30-32 »allmählich […] Skala entwickeln«] Brief von Marx an Vera Sassulitsch, 8. März 1881, MEW, Bd. 19, S. 242 f. 206,38-40 »durch eine von der Kommune […] Interessen dient«] Karl Marx, Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch, 1. Entwurf, MEW, Bd. 19, S. 390. 207,19-21 »überall, wo […] aufkommen lassen«] Karl Marx, Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch, 2. Entwurf, MEW, Bd. 19, S. 399. 207,24-25 »um die russischen […] russischen Revolution«] Marx, Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch, 1. Entwurf. MEW, Bd. 19, S. 395. 207,26-27 »alle ihre Kräfte […] zu sichern«] Ebd. 207,33-208,2 »Die im ›Kapital‹ gegebene Analyse […] spontanen Entwicklung sichern.«] Brief von Marx an Vera Sassulitsch, 8. März 1881, MEW, Bd. 19, S. 243. 208,30-31 »und dann können […] Dienst erweisen«] Vera Sassulitsch, Vorwort zur russischen Ausgabe von Engels »Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, in: Der Sozialdemokrat, H 5, 1884, Originalgetreue Reproduktion in 3 Bänden, hrsg. von Hans Barthels. 208,41-209,4 »Wenn die russische […] Entwicklung dienen.«] Friedrich Engels, Vorwort zur vierten deutschen Ausgabe (1890) des »Manifests der kommunistischen Partei«, MEW, Bd. 22, S. 52-59, hier S. 55. 209,5-8 »sich in die […] hineinziehen zu lassen«] Zit. nach: Gustav Mayer, Friedrich Engels. Eine Biografie, Bd. 2: Friedrich Engels und der Aufstieg der Arbeiterbewegung in Europa, Köln 1919, S. 423.

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209,12 Marx sei Zentralist] »Marx ist Zentralist. Und in seinen hier zitierten Darlegungen ist nicht die geringste Abweichung vom Zentralismus enthalten.« W. I. Lenin, Staat und Revolution, in: ders., Werke (40 Bände, 2 Ergänzungsbände, Register, Vergleichendes Inhaltsverzeichnis). Dietz-Verlag, Berlin 1956-1972), Bd. 25, S. 442. 209,22-24 »von 1792 […] Selbstverwaltung«] »Von 1792 bis 1798 besaß jedes französische Departement, jede Gemeinde vollständige Selbstverwaltung nach amerikanischem Muster, und das müssen wir auch haben.« Friedrich Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, MEW, Bd. 22, S. 225-240, hier S. 236. 209,27-30 »sich völlig frei […] Zentralismus?«] »Nun, wenn aber das Proletariat und die arme Bauernschaft die Staatsgewalt in ihre Hände nehmen, sich vollkommen frei in Kommunen organisieren und das Wirken aller Kommunen VEREINIGEN, um das Kapital zu schlagen, den Widerstand der Kapitalisten zu brechen und das Privateigentum an den Eisenbahnen, Fabriken, an Grund und Boden usw. der GESAMTEN Nation, der gesamten Gesellschaft zu übertragen – wird das etwa kein Zentralismus sein? Wird das nicht der konsequenteste demokratische Zentralismus sein? Und dazu noch proletarischer Zentralismus?« Vgl. W. I. Lenin: Staat und Revolution, ders., Werke, Bd. 25, S. 442. 211,4-8 »die Ackerbautagelöhner […] bebaut würde«] »Ebenso können die Landarbeiter nur aus ihrem scheußlichen Elend erlöst werden, wenn vor allem ihr Hauptarbeitsgegenstand, das Land selbst, dem Privatbesitz der großen Bauern und noch größeren Feudalherren entzogen und in gesellschaftliches Eigentum verwandelt und von Genossenschaften von Landarbeitern für ihre gemeinsame Rechnung bebaut wird.« Vgl. Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg. Vorbemerkung zur Ausgabe 1870 und 1875. MEW, Bd. 7, S. 393-400, hier S. 399. 212,7-12 »die Gründung […] Genossenschaften entgegenzutreten«] Protokoll über die Verhandlung des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in Hannover, 14.-21. Nov. 1892. Reprints zur Sozialgeschichte. Tagesordnung des Parteitags, Punkt 8: Das Genossenschaftswesen, der Boykott und die Kontrollschutzmarke, hrsg. von Dieter Dowe, Berlin 1978, S. 220. 212,17-18 »keine entscheidende […] Lohnsklaverei«] Nicht nachgewiesen. 212,21-23 »eine wirksame Ergänzung […] der Arbeiterklasse«] Nicht nachgewiesen. 213,12-16 »Die Utopie […] werden soll.«] Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage, MEW, Bd. 18, hier S. 280.

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213,16-18 »Bei Marx […] zusammenphantasiere.«] Lenin, Staat und Revolution, S. 438. 214,20 »wo seine organisierende Tätigkeit beginnt«] »Ohne Revolution kann sich aber der Sozialismus nicht ausführen. Er bedarf dieses politischen Aktes, soweit er der Zerstörung und der Auflösung bedarf. Wo aber seine organisierende Tätigkeit beginnt, wo sein Selbstzweck, seine Seele hervortritt, da schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg.« Karl Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel »Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen«, MEW, Bd. 1, S. 409. 215,5-6 »Was Sozialismus […] abzusterben begonnen?«] Nicht nachgewiesen. 215,18-19 »infolge […] verschwinden«] »Alle Sozialisten sind einer Meinung darüber, daß der politische Staat und mit ihm die politische Autorität im Gefolge der nächsten sozialen Revolution verschwinden werden, und das bedeutet, daß die öffentlichen Funktionen ihren politischen Charakter verlieren und sich in einfache administrative Funktionen verwandeln werden, die die wahren sozialen Interessen hüten.« Engels, Von der Autorität, S. 308. 215,23-25 »zugleich […] absterben«] »Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ›abgeschafft‹, er stirbt ab.« Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW, Bd. 19, hier S. 224. 215,26-27 »der Sprung […] der Freiheit«] Friedrich Engels, Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft, MEW 20, S. 264. 215,35-36 »die Gesellschaft […] neu organisiert«] »Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.« Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW, Bd. 21, S. 152-173, hier S. 168. 216,5-8 »schlimmsten Seiten […] abzutun«] »In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre, und zwar in der demokratischen Republik nicht

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minder als in der Monarchie; und im besten Fall ein Übel, das dem im Kampf um die Klassenherrschaft siegreichen Proletariat vererbt wird und dessen schlimmste Seiten es ebensowenig wie die Kommune umhin können wird, sofort möglichst zu beschneiden, bis ein in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun.« Friedrich Engels, Einleitung [zu »Der Bürgerkrieg in Frankreich« von Karl Marx (Ausgabe 1891)], MEW, Bd. 22, S. 188-199, S. 199. 216,10-12 »lange Kämpfe […] umgewandelt werden«] »Sie weiß, daß, um ihre eigne Befreiung und mit ihr jene höhere Lebensform hervorzuarbeiten, der die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre eigne ökonomische Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt, daß sie, die Arbeiterklasse, lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden.« Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, S. 343. 216,36-38 »die Überreste […] Repressionsgewalt«] Lenin, Staat und Revolution, S. 409. 217,9-11 »daß er … werden soll«] Ebd. S. 421. 217,14-15 »daß er sich […] Erfahrung hält«] Ebd. S. 438. 217,25-26 »Solange […] mehr geben«] Ebd., S. 482. 217,36-37 »Es ist klar […] sein kann.«] Ebd. S. 471. 218,7-11 »die dringende […] gleichem Lohn«] Ebd. S. 484. 218,15-18 »eine notwendige […] zu leiten«] Ebd. S. 489. 218,35-36 »den alten […] dem andern lassen«] Ebd., S. 496. 219,5-7 »neuer, unermeßlich […] Staatsapparats«] W. I. Lenin, Eine der Kernfragen der Revolution, in: ders., Werke, Bd. 25, Seite 378-386, hier S. 382. 220,1 »die Keimzelle einer Arbeiterregierung«] W. I. Lenin, Briefe aus der Ferne (Brief vom 20. März 1917), in: ders., Werke, Bd. 23, S. 319. 220,3-5 »die Organisation […] Konterrevolution«] Lenin, Briefe aus der Ferne (Brief vom 24. März 1917), S. 336 f. 220,8-10 »den Staat, […] weiterbauen müssen«] Ebd., S. 340 f. 220,12-13 »eine Republik […] bis oben«] W. I. Lenin, Rede vor dem Petersburger Sowjet, 4. April 1917, in: ders., Werke, Bd. 24, S. 5. 220,18-21 »revolutionäre Diktatur […] ›Usurpation‹«] »Sie ist die revolutionäre Diktatur, d. h. eine Macht, die sich unmittelbar stützt auf die revolutionäre Eroberung, auf die direkte Initiative der Volksmassen von unten, und nicht auf das Gesetz, das von einer zentralisierten Staatsmacht erlassen wurde. […] 1. Ursprung der Macht ist nicht das

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vom Parlament beratene und beschlossene Gesetz, sondern die direkte, von unten kommende Initiative der Volksmassen im Lande, die direkte ›Usurpation‹, um sich des landläufigen Ausdrucks zu bedienen.« W. I. Lenin, Über Doppelherrschaft, in: ders., Werke, Bd. 24, S. 20. 220,30-31 »Wir haben […] nicht begriffen«] Nicht nachgewiesen. 220,39-40 »einzig […] Revolutionsregierung«] W. I. Lenin, Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution. Thesen, in: ders., Werke, Bd. 24, S. 5. 221,19-20 »ihrem sozialen […] Charakter nach«] Nicht nachgewiesen. 221,28-30 »Ganz Rußland […] überzogen«] W. I. Lenin, Petrograder Stadtkonferenz der SDAPR (B) 14.-22. April 1917. Schlusswort zum Referat über die politische Lage und die Stellung zur Provisorischen Regierung (7. Mai 1917), in: ders., Werke, Bd. 24, S. 135. 221,40 »die Revolution vorwärtstreiben«] »Dem Proletariat muss gezeigt werden, wie man durch konkrete Maßnahmen die Revolution vorwärts treiben kann. Die Revolution vorwärtstreiben heißt eigenmächtig die Selbstverwaltung verwirklichen.« Ebd., S. 136. 222,1-2 »die völlige Selbstverwaltung […] von oben«] »Kommune bedeutet völlige Selbstverwaltung, das Fehlen jeder Bevormundung von oben.« Ebd. S. 136. 222,5-9 »Wir müssen […] vorwärtstreiben.«] »Wir müssen Zentralisten sein, es gibt jedoch Momente, wo diese Aufgabe auf die Provinz verschoben wird, wir müssen den einzelnen Orten das Maximum an Initiative lassen. Die Kadetten handeln bereits wie Bürokraten. Sie sagen der Bauernschaft: ›Warte auf die Konstituierende Versammlung.‹ Nur unsere Partei stellt Losungen auf, die die Revolution wirklich vorwärtstreiben.« Ebd. 222,22-26 »Wir müssen Dezentralisten […] zu lassen«] Nicht nachgewiesen. 222,29-31 »sehr häufig […] fortschritt«] Nicht nachgewiesen. 222,33-35 »Lokale Kommunen […] Bauernmassen«] W. I. Lenin, Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR (B). Entwurf zu den Thesen der Resolution über die Sowjets, ders., Werke, Bd. 4, S. 246. 223,3-6 »Übergang […] vorläufig nicht«] W. I. Lenin, Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR (B). Referat zur politischen Lage (24. April), ders., Werke, Bd. 24, S. 220. 223,20-23 »kein Staat […] darauf hinaus«] »Wenn diese Räte die Macht in ihre Hände nehmen, dann wird es kein Staat im gewöhnlichen Sinne des Wortes mehr sein. Eine solche Staatsmacht, die sich längere Zeit gehalten hätte, hat es in der Welt noch nie gegeben, aber

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die ganze Arbeiterbewegung der Welt lief darauf hinaus.« Ebd., S. 228. 223,28-29 »die die ersten Schritte […] unvermeidlich ist«] »Arbeiterund Soldatendeputiertenräte – das ist eine Staatsform, die es in keinem Staate gibt noch je gegeben hat. Das ist eine Form, die die ersten Schritte zum Sozialismus darstellt und am Beginn der sozialistischen Gesellschaft unvermeidlich ist.« Ebd., S. 230. 223,34-36 »daß die französische […] festgesetzt hatte«] W. I. Lenin, Siebente Gesamtrussische Konferenz der SDAPR (B), S. 244. 223,41-224,4 »Das Privateigentum […] unmöglich durchführen.«] W. I. Lenin, Referat zur politischen Lage (24. April 1917), S. 231. 224,5-6 »Wozu wollen […] übergehe?«] Ebd., S. 230. 224,36-39 »Hätte nicht […] eine hoffnungslose Sache«] W. I. Lenin, Werden die Bolschewiki die Macht behaupten?, in: ders., Werke, Bd. 26, S. 87. 225,24-29 »zu Schwatzbuden […] oder Spielzeug«] »Auch in der Revolution von 1917 kann davon noch keine Rede sein, denn die Zeitspanne von einigen Monaten ist viel zu kurz, und was die Hauptsache ist: die sozialrevolutionären und die menschewistischen Führer haben die Räte prostituiert, sie zu Schwatzbuden, zum Anhängsel der Kompromisspolitik ihrer Führer degradiert. Die Räte faulten und verwesten lebendigen Leibes unter der Führung der Liber, Dan, Zeretelli, Tschernow. Sich wirklich entwickeln, ihre Anlagen und Fähigkeiten voll entfalten können die Räte erst nach der Ergreifung der ganzen Staatsgewalt, denn sonst haben sie nichts zu tun, sonst sind sie entweder einfache Keimzellen (und allzu lange kann man nicht Keimzelle sein) oder Spielzeug.« Ebd., S. 87. 225,37-41 »Die ganze Erfahrung […] bloßes Spielzeug«] W. I. Lenin, Thesen zum Referat der Konferenz der Petersburger Organisation am 8. Oktober, in: ders., Werke, Bd. 26, S. 128. 226,19-21 »Und da sollen […] zu regieren!«] Lenin, Werden die Bolschewiki die Macht behaupten?, S. 95. 226,26-27 »der Überzeugung […] Zentralisten«] Ebd., S. 100. 226,41-227,1 »Eure Räte […] beschließende Organe«] W. I. Lenin, An die Bevölkerung, in: ders., Werke, Bd. 26, S. 294. 227,5-6 »ihre Anlagen […] entfalten«] Nicht nachgewiesen. 227,7-10 »ohne Bürokratie […] begonnen worden«] »So beweist das, was theoretisch unbestritten ist, daß die Sowjetmacht ein neuer Typus des Staates ist, ohne Bürokratie, ohne Polizei, ohne stehendes Heer, mit Ersetzung des bürgerlichen Demokratismus durch eine neue Demokratie – eine Demokratie, die die Vorhut der werktätigen

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Massen in den Vordergrund rückt, sie sowohl zum Gesetzgeber als auch zum Vollstrecker der Gesetze sowie zur militärischen Schutzwache macht und einen Apparat schafft, der die Massen umerziehen kann. In Rußland ist das kaum erst begonnen worden und schlecht begonnen worden.« W. I. Lenin, Referat über die Revision des Parteiprogramms und die Änderung des Namens der Partei – 1918, in: ders., Werke, Bd. 27, S. 120. 227,12-14 »In unseren Sowjets […] Unvollendetes«] »In unseren Sowjets gibt es noch viel Rohes, Unvollendetes, das unterliegt keinem Zweifel, das ist jedem klar, der sich ihre Arbeit näher angesehen hat, aber was an ihnen wichtig, was historisch wertvoll ist, was einen Schritt vorwärts in der weltumspannenden Entwicklung des Sozialismus darstellt, ist dies, daß hier ein neuer Typus des Staates geschaffen worden ist.« Ebd. 227,17-18 »Diejenigen, die die Kommune […] nicht verstanden.«] »Die die Kommune schufen, verstanden sie nicht, sie schufen mit dem genialen Instinkt der erwachten Massen, und keine einzige Fraktion der französischen Sozialisten war sich bewußt, was sie tat.« Ebd. 227,19-20 »Wir haben die Räte nicht verstanden«] Nicht nachgewiesen. 227,24-26 »Wir können keine Charakteristik […] können wir nicht sagen«] W. I. Lenin, Reden gegen den Abänderungsvertrag Bucharins zur Resolution über das Parteiprogramm 1918, in: ders., Werke, Bd. 27, S. 134. 228,3-4 »Die Ziegelsteine […] werden wird.«] Nicht nachgewiesen. 228,11-21 »Wir sind für den demokratischen Zentralismus […] wirklich demokratischen Sozialismus.«] W. I. Lenin, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht (Ursprünglicher Entwurf des Artikels »Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht), in: ders., Werke, Bd. 27, S. 196. 229,6-7 »In Rußland […] zertrümmert«] Nicht nachgewiesen. 229,8-9 »Arbeiterstaat […] Realität des Übergangs«] »Aber nicht genug damit. Aus unserem Parteiprogramm – einem Dokument, das dem Verfasser des ›Abc des Kommunismus‹ sehr gut bekannt ist –, aus diesem Programm, ist bereits ersichtlich, daß unser Staat ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen ist. Ja, mit diesem traurigen – wie soll ich mich ausdrücken? – Etikett mußten wir ihn versehen. Da haben Sie die Realität des Übergangs.« W. I. Lenin, Über die Gewerkschaften, in: ders., Werke, Bd. 32, S. 7. 229,16-17 »Wir haben […] übernommen«] W. I. Lenin, Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution. Bericht auf dem IV. Kongreß der Kommunistischen Internationale am 13. November 1922, in: ders., Werke, Bd. 33, S. 414.

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230,4-7 »Sobald die […] weichen müssen.«] Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 339. 232,14-16 »Alle Staatsbürger […] nationalisiert«] »Alle Staatsbürger müssen einer lokalen Konsumgenossenschaft angehören (des Dorfes, des Amtsbezirks, der Siedlung oder eines bestimmten Stadtviertels, eines Straßenviertels usw.). […] Die bestehenden Konsumgenossenschaften werden nationalisiert und sind verpflichtet, die gesamte Bevölkerung des betreffenden Ortes aufzunehmen.« W. I. Lenin, Entwurf des Dekrets über die Konsumgenossenschaften, in: ders., Werke, Bd. 26, S. 416. 232,39-40 »Das wäre […] unmöglich.«] Nicht nachgewiesen. 233,6-9 »die den wirtschaftlichen […] Zentralismus«] Nicht nachgewiesen. 233,18-19 »die Produktionsgenossenschaften […] verknüpfen«] »Der Gedanke aber, daß man die Produktionsgenossenschaft mit der Konsumgenossenschaft verknüpfen und alle möglichen Zugeständnisse machen muß, nur um die Produktenmenge in kürzester Zeit zu erhöhen, dieser Gedanke ergibt sich aus unseren zweijährigen Erfahrungen.« W. I. Lenin, Rede zur Genossenschaftsfrage, in: ders., Werke, Bd. 30, S. 474. 233,23-24 »Hort der konterrevolutionären Gesinnung«] Nicht nachgewiesen. 233,27-31 »Freiheit und Rechte […] zu verschließen.«] W. I. Lenin, Referat über die Naturalsteuer in der Versammlung der Sekretäre und Verantwortlichen Vertreter der Zellen der Kpr(B) der Stadt und des Gouvernements Moskau, 9. April 1921, Werke, Bd. 32, S. 361. 233,31-36 »Der genossenschaftliche Kapitalismus […] zu leiten«] Ebd. 233,39-41 »daß wir […] Distribution vorzunehmen«] »Zum Teil unter dem Einfluß der auf uns einstürmenden militärischen Aufgaben und der, wie es schien, verzweifelten Lage, in der sich die Republik damals, im Augenblick der Beendigung des imperialistischen Krieges, befand, unter dem Einfluß dieser und einer Reihe anderer Umstände begingen wir den Fehler, daß wir beschlossen, den unmittelbaren Übergang zur kommunistischen Produktion und Verteilung zu vollziehen.« W. I. Lenin, Die neue ökonomische Politik und die Aufgaben der Ausschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung, in: ders., Werke, Bd. 33, S. 42. 234,15-18 »die davon sprachen […] sprechen mußte«] Nicht nachgewiesen. 234,23-25 »weiteren Möglichkeiten […] zu regulieren«] Nicht nachgewiesen.

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234,34-36 »Wir haben […] zu denken.«] »Wir haben beim Übergang zur NÖP den Bogen überspannt, nicht in der Beziehung, daß wir dem Prinzip der Gewerbe- und Handelsfreiheit zuviel Platz eingeräumt hätten, sondern wir haben beim Übergang zur NÖP den Bogen in der Beziehung überspannt, daß wir vergessen haben, an die Genossenschaften zu denken, daß wir jetzt die Genossenschaften unterschätzen, daß wir schon begonnen haben, die riesige Bedeutung der Genossenschaften in dem oben angedeuteten zweifachen Sinn dieser Bedeutung zu vergessen.« W. I. Lenin, Über das Genossenschaftswesen, in: ders., Werke, Bd. 33, S. 455. 234,41 »die einzige […] geblieben ist«] Nicht nachgewiesen. 235,2-4 »Das ist […] dieser Gesellschaft.«] »Das ist noch nicht die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, aber es ist alles, was zu dieser Errichtung notwendig und hinreichend ist.« W. I. Lenin, Über das Genossenschaftswesen, in: ders., Werke, Bd. 33, S. 454. 235,6-9 »Eine Gesellschaftsordnung […] Gesellschaftsordnung«] Ebd. 235,10-11 »Das einfache Wachsen […] des Sozialismus«] »Jetzt haben wir das Recht zu sagen, daß das einfache Wachstum der Genossenschaften für uns (mit der obenerwähnten ›kleinen‹ Ausnahme) mit dem Wachstum des Sozialismus identisch ist, und zugleich müssen wir zugeben, daß sich unsere ganze Auffassung vom Sozialismus grundlegend geändert hat.« Ebd., S. 460. 235,11-13 »Unter der Bedingung […] Boden stehen«] »Unter der Voraussetzung des maximalen genossenschaftlichen Zusammenschlusses der Bevölkerung erreicht jener Sozialismus, der früher berechtigten Spott, mitleidiges Lächeln, geringschätziges Verhalten seitens derjenigen hervorrief, die mit Recht von der Notwendigkeit des Klassenkampfes, des Kampfes um die politische Macht usw. überzeugt waren, von selbst das Ziel.« Ebd., S. 453. 236,37-40 »Wir müssen bekennen […] zu begegnen«] Nicht nachgewiesen. 237,12 »Wegschleuderung der politischen Hülle«] »Wo aber seine organisierende Tätigkeit beginnt, wo sein Selbstzweck, seine Seele hervortritt, da schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg.« Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel »Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen«, MEW, Bd. 1, S. 409. 238,9-12 »Man kann nicht […] Dekrete einzuführen«] Josef Stalin, Vor Erfolgen von Schwindel befallen – zu den Fragen der kollektivwirtschaftlichen Bewegung, in: ders., Werke, Bd. 12, Berlin 1950, S. 170. 240,22-27 »Wie soll […] seinem Belieben zu schalten?«] Max Weber, Rede zur allgemeinen Orientierung von österreichischen Offizieren in

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Zum Problem der »Gesinnungsgemeinschaft«

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Wien 1918, in: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, hrsg. von Marianne Weber, Tübingen 1988, S. 491-510, hier S. 510. Zum Problem der »Gesinnungsgemeinschaft« Diese Reflexion Bubers über die Probleme der »Gesinnungsgemeinschaft« erschien in einer kleinen Broschüre, die die Artikel der Freunde Robert Weltschs aus dem Umfeld des Mitteilungsblatts (vgl. den Kommentar zu »Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose«, in diesem Band, S. 410 f.) und des Ichud (vgl. die Einleitung in MBW 11.1, S. 34, 66-68 u. 84) anlässlich von dessen 60. Geburtstag zusammenstellte. Buber hatte bereits zu seinem 50. Geburtstag eine Würdigung verfasst (»Zum Ruhm des Publizisten«, Mitteilungsblatt des Irgun Olej Merkas Europa, 5. Jg., Nr. 25, 12. Juni 1941, S. 2; jetzt in: MBW 7, S. 229) und wird ihn auch zu seinem 70. Geburtstag beglückwünschen (»Funktion des Geistes in der Geschichte« in: Robert Weltsch zum siebzigsten Geburtstag, Tel-Aviv: Bitaon Publishing 1961, S. 207-208; jetzt in: MBW 20, S. 359 f.). Die drei Würdigungen spiegeln die freundschaftliche Beziehung zwischen Buber und Weltsch wider. Weltsch hatte als Mitglied des Prager Studentenvereins Bar Kochba Bubers Drei Reden über das Judentum gehört. Er war Herausgeber der Jüdischen Rundschau von 1919-1938 und später des Mitteilungsblatts der Hitachduth Olej Germania we Olej Austria und engagierte sich wie Buber in Brit Shalom und Ichud, Organisationen, die sich für jüdischarabische Verständigung einsetzten. Darüber hinaus schrieb Weltsch das Vorwort zu dem Sammelband von 1963 Der Jude und sein Judentum und ein umfangreiches Nachwort zur zweiten Auflage von Hans Kohn, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit (Köln 1961, S. 413-478). Textzeugen: TS: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 154); 1 Blatt, einseitig beschrieben, mit vereinzelten, unerheblichen Korrekturen versehen. D1: Robert Weltsch zum 60. Geburtstag. Ein Glückwunsch gewidmet von Freunden, Tel-Aviv u. Jerusalem: Privatdruck 1951, S. 2 (MBB 878). D2: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 240-241 (MBB 1270). Druckvorlage: D1

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Variantenapparat: 260,26-27 aus Flecken […] der »Feind«] fehlt D2 Zwischen Gesellschaft und Staat Die Abhandlung, die eine Ergänzung zu Pfade in Utopia darstellt, war ursprünglich ein Vortrag anlässlich des 25jährigen Bestehens der Hebräischen Universität (vgl. das Vorwort, in diesem Band, S. 263) und erschien kurz darauf in Molad, einer politischen und literarischen Vierteljahreszeitschrift. Auf Deutsch erschien sie zunächst als Broschüre, auf deren Titelseite sie so vorgestellt wird: »Die kleine Schrift, die gegen Bertrand Russels Überschätzung der soziologischen Bedeutung des Machtprinzips gerichtet ist, ergänzt Bubers ›Pfade in Utopia‹ durch eine geistesgeschichtliche Darstellung der Beziehungen zwischen dem Gesellschafts- und dem Staatsbegriff, von der frühesten Scheidung im Denken Laotses bis zum entscheidenden Auseinandertreten in zwei Phasen, dem grundsätzlichen bei Saint-Simon und Hegel und dem motivierenden bei Marx und Lorenz von Stein. Daran schließt sich eine knappe Analyse des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen dem politischen und dem sozialen Prinzip, in der nach der Möglichkeit einer fortschreitenden Emanzipation der Gesellschaft vom Staat gefragt wird.« Textzeugen: H1: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 38); 11 lose paginierte Blätter, doppelseitig beschrieben mit blauer Tinte, mit zahlreichen Korrekturen von Bubers Hand versehen. H2: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 38); 17 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte, mit einigen Korrekturen von Bubers Hand versehen. D1: Heidelberg: Lambert Schneider 1952, 42 S. (MBB 894). D2: Werke I, S. 1003-1020 (MBB 1193). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: Society and the State, World Revue, N. S., 27, April 1951, S. 512 (MBB 875); in: Buber, Pointing the Way. Collected Essays, übers. und hrsg. von Maurice Friedman, New York: Harper 1957, S. 161176 (MBB 1045).

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Französisch: in: Utopie et socialisme, übers. von Paul Corset u. Francois Girard, Vorwort von Emmanuel Levinas, Paris: Aubier 1977 (MBB 1398). Hebräisch: Chevra u-medina, Molad, 5. Jg., Heft 26, Juni 1950, S. 147153 (MBB 850); in: Pene adam. Bechinot be-anthropologia filosofit, Jerusalem: Mossad Bialik 1962 (MBB 1209). Japanisch: in: Reden über Erziehung und andere Essays. (1910-1961), übers. von S. Yamamoto u. a., Tokio: Misuzu-shobo 1970 (MBB 1347). Niederländisch: in: Pade in Utopia, übers. von F. de Miranda und Jan Hardenberg, Utrecht: J Bijleveld 1974 (MBB 1378). Portugiesisch: in: O Socialismo utópico, collection debates, Sao Paulo: editòra perspectiva 1971 (MBB 1354). Variantenapparat: 261,1 Zwischen Gesellschaft und Staat] Gesellschaft und Staat H1, H2 261,2-17 Vorwort […] Kapitel Gesagten.] fehlt H1, H2 262,1 Ende 1938] einen Monat vor dem deutschen Pogrom H1 [einen Monat vor dem deutschen Pogrom] ! Ende 1938 H2 262,5-6 , die an die Lehre […] erinnert,] h, die an die Lehre […] erinnert,i H1 262,8-9 sozialen Gebilden] sozialen Gebilden [hauch den völlig unpolitischeni] H1 262,12-15 Wohl aber ist […] miteinander bilden.] hWohl aber ist […] miteinander bilden.i H1 262,13-14 finden oder sich miteinander] finden, der auf einem ihnen gemeinsamen Bedürfnis oder Interesse beruht, oder sich zu dessen Befriedigung miteinander H1, H2 262,17 Unterwerfung] [Bemächtigung] ! Unterwerfung H1 262,28 gesellschaftlichen] sozialen H1, H2 262,30 , der Herrscher] fehlt H1 262,37-38 ein Staatswesen in der Art des zeitgenössischen Athen] das zeitgenössische Athen H1, H2 262,40 dem freien Bürger] hdem freien Bürgeri H1 263,3 die starke Basis des Sklaventums] [das soziale Prinzip das politische mächtig durchdrang und] die starke Basis [der Sklavenwirtschaft] ! des Sklaventums H1 263,6-7 einer Evolution, […] blieb] h, einer Evolution, […] bliebi H1 263,11-12 in dem schlechthin politischen] hin dem schlechthin politischeni H1 263,14 Mitglieder] Mitglieder [, der Wächter] H1

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263,18 kennzeichnend] charakteristisch H 263,28-29 der werdenden und vergehenden Menschengeschlechter] [des Werdens und Vergehens menschlichen Lebens] ! der werdenden und vergehenden Menschengeschlechter H1 263,31 unterbaut] [ermöglicht] ! unterbaut H1 263,40 diskursive] [begriffliche] ! diskursive H1 264,2 Versammlung] [Ekklesia] ! Versammlung H1 264,2-3 manche Züge mit […] gemein hatte] beinah das Bild […] bot H1, H2 264,4 zurücktrat] [fast bedeutungslos wurde] ! zurücktrat H1 264,18 aber die Kategorie] [aber eine Scheidung] ! aber die Kategorie H1 264,27-29 Denn zwar wird […] geschaffen,] hDenn zwar wird […] geschaffen,i H1 264,39 von Wichtigkeit] charakteristisch H1 von [Bedeutung] ! Wichtigkeit H2 264,41-265,1 , die er ja auch, […] erkannt hat] h, die er ja auch, […] erkannt hati H1 265,7 zentralistischen Staat] hzentralistischeni Staat H1 265,15 societas civium schlechthin] societas civium schlechthin [, er identifiziert ihn also mit jener »bürgerlichen Gesellschaft«, die Hegel dem Staate gegenüberstellen sollte] H1 265,17 Gesamtheit] [Einheit] ! Gesamtheit H2 265,17 damals] damals in der Wirklichkeit H1 265,36-37 beseelter Gedanke] [Gedanke, ein Gefühl] ! beseelter Gedanke H1 265,41 gedachte] [geplante] ! gedachte H1 266,2-4 , und zuletzt blieb auch […] finden konnte] h, und zuletzt blieb auch […] finden konntei H1 266,8-9 samt ihren Organisationsformen] hsamt ihren Organisationsformeni H1 266,9 deren Heilung] [ihre Reformierung und Heilung] ! deren Heilung H1 266,17 »intuitiven«] fehlt H1, H2 266,17-18 14. Jahrhunderts] 14. Jahrhunderts, dessen Lehre von der Intuition die Scholastik auflöste H1, H2 266,22-23 , und jeder Einzelverband […] erkannt wird] h, und jeder Einzelverband […] erkannt wirdi H1 266,25-26 Korporationswesen der Epoche] [Genossenschaftswesen des Mittelalters] ! Korporationswesen der Epoche H1 266,32 Erst in der] davor Absatzwechsel H1, H2 1

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266,34 Verbände] Verbände [, Familie, Berufsgenossenschaft, Gemeinde] H1 266,36 auch hier] auch hier [, wie bei Aristoteles] H1 267,6-8 , wie es Grotius […] Althusius] h, wie es Grotius […] Althusiusi H1 267,9 assoziiert erscheinen] assoziiert erscheinen h, dass also die Gesellschaft ihrem Wesen nach eine Gesellschaft von Gesellschaften ist,i H1 267,11-13 wird freilich […] auftritt] [braucht freilich noch Jahrhunderte, um sich durchzusetzen] ! wird freilich […] auftritt H1 267,Anm] fehlt H1, H2 267,16 vereinigen] [zusammenfügen] ! vereinigen H1 267,21 im modernen Denken […] wiederkehrende] fehlt H1 268,6 den Gesellschaften] den Individuen gegenüber, aber zu einem wachsenden Illiberalismus des Staates den Gesellschaften H1, H2 268,8-9 , wie der moderne […] zu finden] h, wie der moderne […] zu findeni H1 268,21 fragwürdige] problematische H1, H2 268,22-24 , obgleich Rousseau […] unterscheiden weiß] h, obgleich Rousseau […] unterscheiden weißi H1 268,31 vitale Essenz] Lebensessenz H1 268,34-35 ihren Wirkungskreis] [ihre Tätigkeit sie in ihrer Freiheit] ! ihren Wirkungsbereich H1 268,38-269,3 konnte sich […] Methoden] [hat bekanntlich beide Weisungen ausgeführt, die eine, indem sie die associations bekämpfte, die andere, indem die die societes du peuple schuf. Man wird das Zusammenwirken beider in grösserem Gesichtspunkt] ! konnte sich […] Methoden H1 269,7 gegenüberzustellen] [in aller Entschiedenheit] gegenüberzustellen H1 269,10-11 mehr oder minder chimärischen] [chimärischen utopischen] ! mehr oder minder chimärischen H1 269,11 im wesentlichen] [grossenteils] ! im wesentlichen H1 269,15-16 Administrativgewalt] Verwaltung oder Administrativgewalt H1 269,22 wird regiert] wird regiert, [die Herrschaft des Menschen über den Menschen aber ist immer schädlich] H1 269,24-25 auf dem Gebiete […] Produktion] hauf dem Gebiete […] Produktioni H1 269,27 zu belassen] zu belassen [, ein Vorschlag, der darauf hinausläuft, die bestehende Relation X und Bedeutungsskala umzukehren] H1

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269,38-39 einer relativen Ganzheit und Einheit] [einem relativen Ganzen und einem absoluten Ganzen] ! einer relativen Ganzheit und Einheit H1 270,6 ihrem Wesen] berichtigt aus ihren Wesen nach H1, H2, D2 270,6-8 , indem er […] regiert] h, indem er […] regierti H1 270,15 echtem Genossenschaftssinn] [echter Genossenschaft] ! echtem Genossenschaftssinn H1 270,30 Gesellschaft an] Gesellschaft an [, die dem Leben ja doch wohl näher steht als der Staat] H1 270,34 modernen] hanhebendeni modernen H1 271,10-11 des letzten Standes] hdes letzten Standesi H1 271,12-13 »die Bewegung […] aller Völker«] [»das Leben der menschlichen Gemeinschaft aus dem beständigen Stoss und Gegenstoss von Staat und Gesellschaft besteht«] ! »die Bewegung […] aller Völker« H1 271,16 , um sie ist es ihm zu tun] h, um sie ist es ihm zu tuni H1 271,20-21 seiner Reifezeit] fehlt H1, H2 271,25 eschatologischen] [messianischen] ! eschatologischen H1 271,27 noch als letzte Zielsetzung, nicht im real-praktischen] [eschatologisch, nicht real-geschichtlich] ! noch als letzte Zielsetzung, nicht im real-praktischen H1 272,1 Heute, mitten] unmittelbar an vorheriges Textstück anschließend H1, H2 272,4 Man darf dieses] [Das erste sehen wir überall, wo zwischen den individuellen Menschenwesen eine gleichsam nicht physikalische, sondern chemische Verbindung besteht, gleichviel ob sie in dieser Verbindung ganz oder nur mit einem bestimmten Teil der Person eingegangen sind, gleichviel ob sie in dieser Verbindung zweckbewusst oder ohne alles Zweckbewusstsein stehen.] ! Man darf dieses H1 272,16-17 und Gruppen […] Gemeinden] hund Gruppen […] Gemeindeni H1 272,17-18 deren Gesamtheit und Umfassung] ihre Umfassung H1 272,17 Substanz und Essenz] hSubstanz undi Essenz H1 272,25-26 im Sinn […] nahe hält und] [in Ansicht und Gesinnung beeinflusst] ! im Sinn […] nahe hält und H1 272,29 Macht] Macht [, nicht die aktive Einheit] H1 272,33-34 Aber all die […] Propaganda] [Es ist das Strafgesetz und sein Vollzug, die aktuelle und die latente Polizeigewalt, es ist die offenbare und die unmerkliche Propaganda; aber sie alle] ! Aber all die […] Propaganda H1

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272,39-40 er stützt sich […] Gesellschaft selber;] her stützt sich […] Gesellschaft selber;i H1 273,6-7 zwischen den Völkern bestehenden] [gegenwärtig] zwischen den Völkern [waltenden] ! bestehenden H1 273,8 Bestimmung] Anordnung H1, H2 273,10 Verwaltung bedeutet] davor Absatzwechsel H1, H2 273,25 unter politischer Macht verstehen] [als Macht bezeichnen] ! unter politischer Macht verstehen H1 273,26 dessen Höhe sich natürlich nicht errechnen läßt] das natürlich unberechenbar ist H1 273,29-30 zwischen den Völkern und in jedem Volk] h zwischen den Völkern und in jedem Volki H1 273,39 Vitalität] Lebendigkeit H1 273,40 seine kulturelle Einheit] [die Einheitlichkeit] ! seine [kulturellgeistige] ! kulturelle Einheit H1 274,4-5 lokalen […] Gemeinschaften] [Genossenschaften, Gemeinden und Bünden] ! lokalen […] Gemeinschaften H1 274,10-11 Diese Demarkation […] erneut werden.] hDiese Demarkation […] erneut werden.i H1 274,13-14 fortschreitende Wandlung] [Änderung] ! fortschreitende Wandlung H1 274,15 Regierung] [Herrschaft] ! Regierung H1 274,24-25 Bedingungen gestatten] ergänzt Wird jemals eine Revolution der Gesellschaft gegen den politischen Überschuss und gegen die Machtakkumulation unternommen werden? Wenn überhaupt, könnte nur eine ihre inneren Konflikte selbst überwindende Gesellschaft eine solche Revolution wagen und daher ist sie sic stantibus rebus nicht zu erwarten. Aber für die Gesellschaft, das heisst zunächst für die Menschen, die den unvergleichlichen Wert des sozialen Prinzips erkennen, gibt es einen Weg, um den Boden für eine Besserung des Verhältnisses zwischen ihm und dem politischen Prinzip zu bereiten: es ist die Erziehung, die Erziehung eines wahrhaft Gesellschaftsbewussten und gesellschaftswilligen Geschlechts. Erziehung ist das grosse Mittel, das hmehr oder weniger auch jetzt nochi in den Händen der Gesellschaft liegt und dessen sie sich nicht zu bedienen weiss. hSozialei Erziehung ist der genaue Gegensatz zur politischen Propaganda. Diese, sei es die einer Regierung oder die einer Partei, will den Mitgliedern der Gemeinschaft einen fertigen Willen »suggerieren«, d. h. in ihnen die Gewissheit erzeugen, dies sei eben ihr eigener, in ihrem Innersten entstandener Wille. Die hsozialei Erziehung hingegen will in den Zöglingen die [gesellschaftlichen] Spontaneitäten

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der Gesellung erwecken und ausbilden, die in allen [unverborgenen] ! unverwüsteten Menschenseelen angelegt ist, und die sich mit der Entwicklung [selbständigen] ! persönlichen Seins und Denkens sehr wohl verträgt. Damit dies geschehe, muss die Erziehung freilich [entpolitisiert] ! die heute in der ganzen Welt herrschende Politisierung überwunden werden. [Ich bekenne mich zu diesem Programm, aber, wie aus allem was ich gesagt habe wohl klar genug geworden ist, nicht aus einer individualistischen Neigung, sondern um der Gemeinschaft willen.] Die wahre staatsbürgerliche Erziehung ist die Erziehung zur Verwirklichung der Gesellschaft. H1 Wort- und Sacherläuterungen: 262,1-4 In der »neuen sozialen Analyse«, […] Grundbegriff der Physik ist«.] »In the course of this book I shall be concerned to prove that the fundamental concept in social science is Power, in the same sense in which Energy is the fundamental concept in physics.« Bertrand Russell, Power. A New Social Analysis, London 1938, S. 10. 262,19 der amerikanische Soziolog MacIver] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 43,23-25. 262,20-22 »Das Soziale mit dem Politischen […] gänzlich verstellt«.] »To identify the social with the political is to be guilty of the grossest of all confusions, which completely bars any understanding of either society or the state.« Robert MacIver, The Modern State, London 1926, S. 4 f. 262,36 »eine werdende […] zu schauen.«] Nicht nachgewiesen. 265,25 »Wir sind zum Zusammenwirken geboren«] »Sind wir doch zur gemeinsamen Wirksamkeit geschaffen, wie die Füße, die Hände, die Augenlieder, die obere und untere Kinnlade.« Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 2. Buch, Jena 1906, S. 12. 265,41-266,1 »nur Eine […] Eine Staatsordnung«] Nicht nachgewiesen. 266,20-22 (totum genus […] an invicem)] Guillelmi de Ockam, Opera politica, Bd. 1: Octo quaestiones de potestate papae, Manchester 1974, S. 97. 266,31-32 »ausschließliche Darstellung […] Staat«.] »Allein im Ganzen gieng schon im Mittelalter die unaufhaltsame fortschreitende Richtung der Theorie auf die Steigerung der ausschließlichen staatlichen Souveränität zur ausschließlichen Darstellung alles Gemeinlebens durch den Staat.« Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3, Berlin 1881, S. 641. 267,1 »eine unübersteigliche Schranke«] »So ergab sich ihm ein rein naturrechtlicher Gesellschaftsaufbau, in welchem Familie, Berufsgenos-

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senschaft und Gemeinde und Provinz als nothwendige und organische Gliederung zwischen Individuum und Staat stehen; […] in welchem endlich der Staat […] allein an dem eignen Recht der engeren Verbände eine unübersteigliche Schranke findet und bei deren Ueberschreitung vor dem durch den Bruch des Vereinigungsvertrages sich wieder zu voller Souveränetät entfaltenden Recht der Glieder hinfällig wird.« Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, Breslau 1902, S. 244. 267,19-20 »De cive«] Kurzform für Thomas Hobbes Schrift: Elementa philosophica de cive, Amsterdam 1647. 267,22 Adam Smith’s »Lectures on Justice«] Bei den Lectures on Justice, Police, Revenue and Arms, Oxford 1896, handelt es sich um Vorlesungen aus dem Jahr 1763. 267,23 Ferguson’s »Essay on the History of Civil Society« ] Adam Ferguson, An Essay on the History of Civil Society, London 1773. 267,32-36 »Der Staat würde seinen […] Gesellschaft im Staate.«] Ferdinand Tönnies, Hobbes Leben und Lehre, Stuttgart 1896, S. 204. 268,10 »Leviathan«] Thomas Hobbes, Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil, London 1651, auf Deutsch Thomas Hobbes: Leviathan, oder der kirchliche und bürgerliche Staat, Halle 1794. 268,11-17 »Les citoyens […] d’être utiles.«] Anne Robert Jacques Turgot, Artikel »Fondations«, in : Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Paris 1757, Bd. VII, S. 72-75. 268,20 »Contrat Social«] Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social, ou Principes du Droit Politique, Amsterdam 1762. 268,24-25 »Il importe, pour avoir bien […] dans l’état.«] »Il importe, pour avoir bien l’énoncé de la volonté générale, qu’il n’y ait pas de société partielle dans l’Etat & que chaques Citoyen n’opine que d’après lui.« Ebd., S. 37. 268,32-33 »il en faut multiplier […] l’inégalité«] »Que s’il y a des sociétés partielle, il en faut multiplier le nombre, & en prévenir l’inégalité, comme firent, Solon, Numa, Servius.« Ebd., S. 38. 268,41-269,1 »ein absolut freier Staat […] dulden darf«] Nicht nachgewiesen. 269,29-31 »Um weniger regiert zu werden, […] zu werden.«] Nicht nachgewiesen. 270,6-7 »die Wellen […] hineinscheinende Vernunft«] »Indem die Besonderheit an die Bedingung der Allgemeinheit gebunden ist, ist das Ganze der Boden der Vermittelung, wo alle Einzelheiten, alle An-

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lagen, alle Zufälligkeiten der Geburt und des Glücks sich freimachen, wo die Wellen der Leidenschaften ausströmen, die nur durch die hineinscheinende Vernunft regiert werden.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1821, 116. Zusatz zu § 182, S. 334. 270,8-11 »Moderator des gesellschaftlichen Notstands«] Ebd., 118. Zusatz zu § 185, S. 335. 270,10-11 »die Gewalt […] verwirklichenden Vernunft«.] »Es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist; sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft.« Ebd. 152. Zusatz zu § 258, S. 349. 270,24-29 »die Idee, diesen wirklichen Gott, […] hier zu tun«] Ebd. S. 349 271,12-13 »die Bewegung des Gegensatzes […] aller Völker«] »Die Bewegung des Gegensatzes zwischen Staat und Gesellschaft, die in diesen beiden letzten Gesetzen liegt, ist der Inhalt der ganzen inneren Geschichte aller Völker und Staaten der Welt, das Lebensprincip der inneren Geschichte überhaupt.« Lorenz von Stein, Begriff und Wesen der Gesellschaft, S. 32. Hoffnung für diese Stunde Es handelt sich um die Rede, die Buber anlässlich des Empfangs hielt, der ihm zu Ehren in der Carnegie Hall in New York am 6. April 1952 stattfand. Diese Rede bildete den Abschluss seiner vielbeachteten, ein halbes Jahr dauernden Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten, während der er mehr als 70 Vorträge hielt. (Vgl. Maurice Friedman, Martin Buber’s First Visit to America, in: ders., My Friendship with Martin Buber, Syracuse 2013, S. 35-59.) Veranstaltet wurde der Empfang durch das Jewish Theological Seminary, die wichtigste Institution des konservativen Judentums in den Vereinigten Staaten. Die Vorstellung beim Empfang übernahmen Paul Tillich und Mordecai M. Kaplan (1881-1983), der Gründer des Reconstructionism, einer modernen Strömung innerhalb des Judentums. (Vgl. Bourel, Martin Buber, S. 600.) Bezüglich der Veröffentlichung schreibt Maurice Friedman: »Buber wanted it to be published but not in a predominantly Jewish journal such as Commentary. In search of a suitable journal I sent it to William Phillips, coeditor of Partisan Review, who at that time was my colleague at Sarah Lawrence College. Phillips’s opinion, which I found surprising and never quite understood, was that Buber did not understand the reality of the Cold War.

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This response led Buber to write the little essay ›Abstract and Concrete‹ [vgl. in diesem Band, S. 283-284].« (Friedman, My Friendship with Martin Buber, S. 56.) Inhaltlich beschäftigt sich Buber mit dem Kalten Krieg und dem diesem inhärenten Schwarzweißmuster, mit dem sowohl der Westen als auch der Osten den Feind als das absolut Böse betrachteten, wodurch ein Dialog zwischen diesen beiden verunmöglicht würde. Tiefere Ursache dafür sei die Krankheit des Mißtrauens (vgl. in diesem Band, S. 277 f.). Den Gedankengang nimmt Buber wieder in der Preisrede Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens vom 27. September 1953 in der Paulskirche zu Frankfurt anlässlich der Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels auf: »Dieser Mangel an Vertrauen zum Sein, diese Unfähigkeit zum rückhaltlosen Umgang mit dem Andern weisen auf eine innerste Erkrankung des Daseinssinns hin. Eine der Äußerungsformen dieser Erkrankung, und die aktuellste von allen, ist das, wovon ich ausgegangen bin: daß ein echtes Wort zwischen den Lagern nicht aufkommt.« (Heidelberg: Lambert Schneider 1953, S. 13; jetzt in: MBW 6, S. 95-101, hier S. 100.) Martin Heidegger zeigt sich gegenüber seiner Frau Elfride beeindruckt von Bubers Rede: »Der Aufsatz von M. Buber ist ausgezeichnet u. wir werden, wenn Du da bist, viel darüber zu sprechen haben. Die Diagnose ist sehr weitsichtig und von großer Weisheit – Aber die Heilung muß noch tiefer ansetzen, als er andeutet. Und es bleibt eine Frage, ob wir Sterbliche durch unser sterbliches Zu-einander-Du-sagen unser ewiges Du (B. meint Gott) ansprechen, oder ob wir nicht erst durch den Anspruch des Gottes in die Entsprechung zueinander gebracht werden. Die Frage bleibt, ob dieses ›entweder-oder‹ überhaupt zureicht oder ob nicht das Eine u. das Andere noch ursprünglicher vorbereitet werden muß, welche Bereitung freilich wieder des Geheißes und seines Schutzes bedarf. Schön und darum wesentlich ist der letzte Satz: ›Versöhnung wirkt Versöhnung‹. Das bloße Verzeihen und um Verzeihung bitten genügt nicht. Versöhnen, Versühnen, gehört zu ›sühnen‹ u. das sagt eigentlich: stillen – in die Stille der Wesenszugehörigkeit einander bringen. Das echte u. fruchtbare u. im Grunde unablässige Gespräch ist jenes, wo die Sprechenden verschiedener Art sind und diese anschauend anerkennen, weder im bloßen gleichgültigen Geltenlassen, noch nach der Maßgabe eines einzigen Maßstabes u. seiner Doktrin.« (Gertrud Heidegger [Hrsg.], »Mein liebes Seelchen!«, München 2005, S. 279, Brief vom 12. August 1952.) 1959 wurde »Hoffnung für diese Stunde« in den Band Reden, die die Welt bewegten aufgenommen. Bubers Rede findet sich dort neben Bei-

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trägen von Abraham Lincoln (1809-1865) oder Martin Luther (14831546). Der Herausgeber Karl Heinrich Peter stellt Buber als den »jüdischen Gelehrten« vor, der »wie wenige […] berufen [ist], zu den brennenden Fragen der Neuordnung unserer Welt aus tiefgründigem, sittlichem Ernst Stellung zu nehmen. […] Er hat die innere Begegnung mit Luther, den deutschen Mystikern, Fichte und Herder nie verleugnet, auch nicht in den furchtbaren Tagen, die ihn ins Exil und zur Heimkehr nach Jerusalem zwangen, nachdem er bis 1938 den Prüfungen seiner jüdischen und deutschen Sendung standgehalten hatte.« Weiter hebt K. H. Peter hervor: »Als das Gebäude der Hybris zusammenbrach, dröhnte Bubers Stimme nicht im Chor der Rache. Buber, der die Leiden seines Volkes aus der Geschichte kannte, sah nicht nur dieses allein, sondern die Krankheit der ganzen Zeit und erhob seine Stimme, um neue Wege zu weisen.« (Karl Heinrich Peter [Hrsg.], Reden, die die Welt bewegten, Stuttgart 1959, S. 472.) Auf Hebräisch wiederholte Buber die Rede am 29. Oktober 1952 auf einem Kongress der hebräischen Schriftsteller in Jerusalem. Textzeugen: H1: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 37); 11 lose paginierte Blätter, doppelseitig beschrieben mit blauer Tinte, mit zahlreichen Korrekturen von Bubers Hand versehen. H2: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 37); 6 lose paginierte Blätter, doppelseitig beschrieben mit blauer Tinte, mit wenigen Korrekturen von Bubers Hand versehen. Reinschrift von H1. TS: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 37); 11 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben, mit wenigen handschriftlichen Korrekturen versehen, D1: Merkur, VI/8, August 1952, S. 711-718 (MBB 902). D2: Neue Schweizer Rundschau, XX/5, September 1952 (MBB 902). D3: Hinweise. Gesammelte Essays, Zürich: Manesse 1953, S. 313-326 (MBB 919). D4: Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst, Literatur, 10. Jg. Heft 1, Januar 1955, S. 1-5 (MBB 995). d5: »Mißtrauen – Krankheit der Welt«, Der Aufbau, 1. Februar 1957 (MBB 1064). Enthält zu einem Artikel zusammengezogene Teilabschnitte. d6: »Mißtrauen – Krankheit der Welt«, Die Kultur, V/79, 1. März 1957, S. 1 (MBB 1064). Enthält zu einem Artikel zusammengezogene Teilabschnitte. D7: Neue Wege, III, 7/8 1958, S. 193-197 (MBB 1100).

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D : Reden, die die Welt bewegten, hrsg. v. Karl Heinrich Peter, Stuttgart: Cotta-Verlag 1959, S. 473-480 (MBB 1126). 8

Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: Hope for This Hour, übers. von Maurice S. Friedman, World Review, N. S., Dezember 1952, S. 20-24 (MBB 903); in: Buber, Pointing the Way. Collected Essays, übers. und hrsg. von Maurice Friedman, New York: Harper 1957, S. 220-229 (MBB 1045). Hebräisch: Tiqwa le-scha’a zo, Ner, 4. Jg. Heft 2, November 1952, S. 5-9 (MBB 912); in: Buber, Teʿ uda we-jiʿ ud, 2. Bd.: Am weʾ olam. Maʾ amarim al injane ha-schaʿ a, Jerusalem: Ha-sifrija ha-zionit, S. 8291 (MBB 1182). Spanisch: Esperanza para esta hora, Donde Estamos Hoy?, übers. aus dem Deutschen von G. Bleiberg, Madrid: Tribuna de la Revista de Occidente 1962, S. 81-92 (MBB 1200). Variantenapparat: 275,1-2 Hoffnung für diese Stunde / Eine Ansprache] Mißtrauen – Krankheit der Welt d5, d6 275,2 Eine Ansprache] fehlt H1, H2 (1952) zusätzliche Anmerkung Ansprache bei einer, nach Abschluß meiner nordamerikanischen Vorlesungen, in der Carnegie Hall in New York veranstalteten Abschiedsfeier. D3 (1952) zusätzliche Anmerkung (Aus einer 1952 in der Carnegie Hall in Neuyork gehaltenen Ansprache) D7 275,3-25 Wir fragen […] beschert werden.] fehlt d5, d6 275,4 der schwersten Bedrängnis] [finstere] ! der schwersten Bedrängnis H1 275,5-8 für die es keinen […] bezeichnen] [der der Ausblick in eine künftige wesensverschiedene, in eine Stunde des Lichts verwehrt scheint. Solch ein Ausblick ist es ja, den wir in spezifischem Sinne Hoffnung nennen] ! für die es keinen […] bezeichnen H1 275,13-14 , seine ganz persönliche […] von heute,] h, seine ganz persönliche […] von heute,i H1 275,18 können die Wasseradern] [ihre Angst vor einem ihnen drohenden Unheil die Weltangst davor, dass der Mensch verderbe, nur dann können sich die Nöte zusammenschliessen] ! können die Wasseradern H1

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275,20 Es kommt aber] [Aber auch wenn wir so weit sind, dass uns die gemeinsame Not des Menschengeschlechts in dieser Stunde spürbar wird] ! Es kommt aber H1 275,22 erkennen] erfassen. [Die Pein und Bangnis, die uns gemeinsam ist, ist nur eine Kundgebung unserer Krankheit, ein Zeichen, das auf sie hinweist, sie ist nicht die Krankheit selber.] H1 275,23 heutige Menschenleid] [Leid des heutigen Menschen] ! heutige Menschenleid H1 275,24 erspüren] [ergründen] ! erspüren H1 275,25 beschert werden] [entgegensteigen] ! beschert werden H1 275,26 nie zuvor] zuvor D4 275,27-276,15 Zwar haben […] verwenden zu können.] fehlt d5, d6 275,32 seltenen] einigen D3, D4, D7 275,33 allerorten] überall H1 275,34 angesehen] [verstanden] ! angesehen H1 275,35 Jede Seite hat] [Es darf keine andere Farbe mehr als Weiss und Schwarz geben, und Weiss wird Schwarz und Schwarz Weiss, je nachdem man diesseits oder jenseits der über den Erdball gezogenen Linie lebt. Es darf nichts anderes mehr geben als das ganz und gar Rechte, nämlich das] ! Jede Seite hat H1 275,36-37 und jede Seite […] zu entscheiden] [und anders als Tag und Nacht kann es bekanntlich nichts geben, man muss sich eben zwischen Tag und Nacht entscheiden] ! und jede Seite […] zu entscheiden [und wer das nicht begreifen will, ist ein Schwächling oder ein Narr] H1 276,2-3 die konkretere] das Concretum H1 [das Concretum] ! die konkretere H2 276,5-6 Als dem Losungswort der Brüderlichkeit] [Als die Brüderlichkeit zur eitlen Phrase erniedrigt wurde, konnte] ! Als der Brüderlichkeit der Wahrheitsgehalt genommen wurde H1 276,9 der Machtsucht] [des Machtstrebens] ! der Machtsucht H1 276,11 In solchem Stand […] als je geneigt] [Der Mensch ist naturgemäss geneigt] ! In solchem Stand […] als je geneigt H1 276,14 bekräftigen] verstärken H1 [verstärken] ! bekräftigen H2 276,14-15 , um ihn besser verwenden zu können] fehlt D7 276,19 ihm um] ihm und dem Seinen um H1 276,22 Von dieser Quelle] [Hier liegt der tiefste Grund für das Misstrauen] ! Von dieser Quelle H1 276,23 Lagern] [Welten] ! Lagern H2 276,26 ganz besonders] besonders D4 276,27-277,3 Der unmittelbare […] Voraussetzung:] fehlt d5, d6

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276,27-28 unmittelbare] echte unmittelbare H 276,29 umbarmherziger] grausamer H1 276,31 Schicksalsfrage] [innere] Schicksalsfrage H1 276,32 Zukunft] [Zukunftshoffnung] ! Zukunft H2 276,33 als Mensch] fehlt H1 276,33-277,3 Ich habe daher […] Voraussetzung: es gilt] Es gilt D7 276,36 die Wichtigkeit und Möglichkeit] hdie Wichtigkeit und Möglichkeiti H1 277,6 Artfremden] [Unbekannten] ! Artfremden H1 277,8 Landgänger] Landstreicher H1, H2, D2, D3, D7 277,9-18 Nichts steht […] fort und fort.] fehlt d5, d6 277,9 Aufstieg einer Kultur] [der Entstehung] ! dem Aufstieg einer auf echter gegenseitiger Mitteilung gegründeten Kultur H1 277,12 wenn man grundsätzlich] wenn [man gegen alles, was er sagen wird, mit dem Panzer] ! man grundsätzlich H1 277,13-18 Schon die Begegnung […] fort und fort.] fehlt D4 277,14 Perspektive seiner Unzuverlässigkeit] Unzuverlässigkeit D8 277,19-280,40 Es ist wichtig, […] Krankheit entstammt.] fehlt D7 277,22 zahllose Situationen] Situationen H1 277,25-28 ; wo ein Mensch […] abzuwehren] fehlt d5, d6 277,36-37 den Aspekt […] gewonnen habe] [seine Auffassung eines bestimmten Gegenstands] ! den Aspekt […] gewonnen habe H1 277,37 seine Mitteilung] [diese Auffassung] ! seine Mitteilung H1 278,2 Geäußerten] Gesagten d5, d6 278,4 Idee] geäusserte Idee H1 278,7 soziologisch] sozialpsychologisch H1 278,11-12 , dazwischen […] Übergangsformen] fehlt d5, d6 278,12-14 Mit dieser veränderten […] ist das Mißtrauen] [Damit ist das Misstrauen] ! Mit dieser veränderten […] ist das Misstrauen H1 278,12 Mit dieser veränderten] davor Absatzwechsel D4 278,20 Durchschauung und Entlarvung] hDurchschauung undi Entlarvung H1 278,21 der große] der mit Virtuosität betriebene grosse H1 der [mit Virtuosität betriebene] grosse H2 278,21 ihn treiben] ihn [mit Virtuosität] treiben H2 278,21-22 , von dem die […] verlockt] h, von dem die […] verlockti H1 278,22-35 ; Nietzsche wußte […] Dasein überhaupt.] fehlt d5, d6 278,24 gegenseitig] gegenwärtig D4 278,26-27 vollständigen und vollkommenen] hvollständigen undi vollkommenen H1 278,37-279,41 ; aber die Zerstörung […] Mißtrauens] fehlt d5, d6 1

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278,38-40 die Zerstörung […] entstammt] aber die innere Vergiftung des gesamtmenschlichen Organismus, der sie entstammt, ist die wachsende [Vergiftung] ! Zerstörung des Vertrauens zum hmenschlicheni Dasein H1 278,41-281,1 Civilization of the Dialogue] Zivilisation des Dialogs D7 279,1 Die Lebenssubstanz ihrer aller war] [Alle grossen Kulturen waren] ! Die Lebenssubstanz ihrer aller war H1 279,3-4 ; die Individuation […] Lebens] h; die Individuation war nur die [notwendige] Voraussetzung für die [der entfalteten Dialogik] ! volle Entfaltung [der Dialogik] ! des dialogischen Lebensi H1 279,7 Vernehmen] [Hören] ! Vernehmen H1 279,9-281,3 Natürlich gab es […] Ideologische reduziert.] fehlt D7 279,10 Störungen] Störungen der Kommunikation H1 279,10-11 es gab Verschlossenheit […] Verführung] hes gab Verschlossenheit […] Verführungi H1 279,12 erblühte] aufbrach H1 [aufbrach] ! erblühte H2 279,12-13 daß diese Hemmungen] [dass der eine sich unmittelbar zum andern wandte] ! dass diese Hemmungen H1 279,22 Niedergang] [Erlahmen] ! Niedergang H1 279,23 Wachstum] [Aufstieg] ! Wachstum H1 279,28 fehlschlagen] [versagen] ! fehlschlagen H1 279,28-29 Wen kein anderes Wesen] [Keine Bestätigung, die der Mensch sich selbst zu geben bemüht ist, hält auf die Dauer stand; er muss zu immer künstlicheren und gewagteren Mitteln greifen, um sie gegen den Zweifel [aufrechtzuerhalten] ! zu behaupten, den sie, so wie sie ist, eher [nährt] ! fördert als abwehrt: und schliesslich] ! Wen kein Mitmensch H1 Wen kein Mitmensch H2 279,30 krampfhafteren] heftigeren H1 [heftigeren] ! krampfhafteren H2 279,30 wiederherzustellen] zu erneuern H1 [zu erneuern] ! wiederherzustellen H2 279,31 unabwendbar] unrettbar H1 [unrettbar] ! unabwendbar H2 279,32 Fiktion] Illusion H1 279,41 existentiellen] [universalen] ! existentiellen H1 280,1-281,40 Wo hat der Wille […] unerbittlich scheiden.] fehlt D4 280,3 Eingangssituation] Voraussetzung H1 280,4-5 wesentlichen] entscheidenden d5, d6 280,4-5 wesentlichen Belange] entscheidendem [Punkte] ! Belange H1 entscheidendem Belange H2 280,6 Es handelt sich] Mit anderen Worten: es handelt sich H1 280,6-7 fundamentalen und ungeheuer einflußreichen] fundamentalen hund ungeheuer einflussreicheni H1

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280,9-10 beachtetes, nun entdecktes oder erhelltes Element] beachtetes Motiv H1 280,10 erhelltes Element] [beachtetes Motiv] ! erhelltes Element H2 280,12-282,21 Es müßte ein […] den Menschen,] fehlt d5, d6 280,16 erfassen] erforschen H1 280,16 einleitenden] entscheidenden H1, H2, D2, D3 280,19 eingeschränkt] eingeschränkt [, welches sind die Grenzen seiner Macht] H1 280,35-36 in seine Welt […] gefügt] [von seiner ganzen Umwelt beeinflusst wird,] in seine Umwelt als in eine vielfältige Durchkreuzung von [Einflusssphären] ! beeinflussenden Sphären, von der kosmischen zur erotischen gestellt H1 280,35 Zusammenhang] [Durchkreuzung] ! Zusammenhang H2 280,39 Bestand der Person?] ergänzt (Wobei noch zu beachten wäre, dass der Einfluss der sozialen Schichtung keineswegs ein einfach positiver ist, da die Rebellion gegen die Klassenzugehörigkeit nicht selten mit der Konformität im Streite liegt.) H1, H2 281,1 Vorbedingung] Voraussetzung H1 281,4 schrankenlose Simplifikation] ungeheure [Formulierung] ! Simplizität H1 [ungeheure] ! schrankenlose Simplifikation H2 281,5 entscheidend mitgewirkt] wesentlich beigetragen H1 281,7 Akzeptation] Akzeption D8 281,9-11 Was ich meine, ist […] Realität.] fehlt H1, H2 281,12 seinem Offenbaren und seinem Heimlichen] seiner Offenbarkeit und seiner Heimlichkeit D3 281,15 Ganzheit, seiner eigentlichen Beschaffenheit] Ganzheit h, seines eigentümlichen Wesensi H1 281,17 anzunehmen] zu akzeptieren H1 281,25 nichtorganisierte] unorganische D2 281,27 Vertretung und Vertreterschaft] Vertretung hund Vertreterschafti H1 281,28 Zwecken der Stunde] Zwecken der Stunde [und in denen der Taktik] H2 281,31 offenbare Macht] Macht H1, H2, D2, D3 281,37 aufgebauschten] übersteigerten D7 281,41-282,1 übrig sein wird, kann die Erwägung] [reduziert haben werden, wird die Frage nach den Zugeständnissen zuverlässig aufgeworfen werden können] ! X haben werden, wird die Erwägung H1 282,3-4 diese scheinbar allereinfachste […] bietende] fehlt H1 282,7 Geistes] machtlosen Geistes H1 282,8 wagen] [beginnen] ! wagen H1

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282,13 mutigen Einsatz] Einsatz H 282,15-16 die Hoffenden selber, auf uns] auf [hdie Hoffnung auf eine Erneuerung des dialogischen Verhältnisses zwischen den Menschen,i] uns selber H1 282,17 Krankheit] [gemeinsame] Krankheit H1 282,17 tiefsten empfinden] stärksten fühlen H1 282,20-31 Die Hoffnung […] Versöhnung.] fehlt D4 282,21 Aber laßt uns] Laßt uns d5, d6 282,23 Menschenweges] Menschenweges [, Ursprung, Bestimmung und gegenwärtiges] H1 282,30-31 Versöhnung wirkt Versöhnung.] fehlt d5, d6 1

Wort- und Sacherläuterungen: 276,35-36 Robert Hutchins] (1899-1977): US-amerik. Bildungstheoretiker. Nach Unterricht an der Yale Law School und der University of Chicago gründete Hutchins 1959 das Center for the Study of Democratic Institutions. Er war Gesprächspartner Bubers in den Philosophical Interrogations, seine Fragen finden sich jetzt in: MBW 12, S. 554-558. 276,37-39 »The essence of the Civilization […] agreement.«] Robert M. Hutchins, Goethe and the Unity of Mankind, in: Atlantische Begegnungen. Eine Freundesgabe für Arnold Bergstraesser, hrsg. von Fritz Hodeige u. Carl Rothe, Freiburg i. B. 1964, S. 55-70, hier S. 68. 276,40-277,1 »It is no good saying […] to talk.«] Ebd. 278,23 »Kunst des Mißtrauens«] »Hier kommt eine Philosophie – eine von meinen Philosophien – zu Worte, welche durchaus nicht ›Liebe zur Weisheit‹ genannt sein will, sondern sich, aus Stolz vielleicht, einen bescheidneren Namen ausbittet: einen abstoßenden Namen sogar, der schon seinerseits dazu beitragen mag, daß sie bleibt, was sie sein will: eine Philosophie für mich – mit dem Wahlspruch: satis sunt mihi pauci, satis est unus, satis est nullus. – Diese Philosophie nämlich heißt sich selber: die Kunst des Mißtrauens und schreibt über ihre Hausthür: μέμνης ἀπιστεῖν.« Friedrich Nietzsche, KSA Bd. 11. S. 487 Nachlass April-Juni 1885. Abstrakt und Konkret Dieser Text ist zuerst in der Neuen Schweizer Rundschau im Dezember 1952 erschienen und stellt eine Replik auf Kritiken an Bubers »Hoffnung für diese Stunde« (in diesem Band, S. 275-282) dar. (Vgl. den ein-

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leitenden Kommentar, in diesem Band S. 580 f.) Bubers Versuch, das Lagerdenken zu überwinden, fiel in die Hochphase des Kalten Kriegs. Im Koreakrieg (1950-1953) griff das von der Sowjetunion und China unterstützte Nordkorea Südkorea an, dem US-amerikanische Streitkräfte als Vertreter der Vereinten Nationen zur Hilfe eilten. Die skrupellose Politik der kommunistischen Machthaber zeigte sich sehr aktuell im Schauprozess gegen Rudolf Slánský (1901-1952), der im November 1952 stattfand. Gleichzeitig gelang es der Sowjetunion 1950 die erste Atombombe zu zünden, womit das atomare Wettrüsten in Gang kam. Auf diese Zuspitzung der Sicherheitslage bezieht sich Buber in diesem Essay im Besonderen. Textzeugen: H: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 73); 3 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit einigen Korrekturen versehen. D1: Neue Schweizer Rundschau, XX/8, Dezember 1952, S. 451-452 (MBB 895). D2: Merkur, VII/1, Januar 1953, S. 99-100 (MBB 922). D3: Hinweise. Gesammelte Essays, Zürich: Manesse 1953, S. 327-329 (MBB 919). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: Abstract and Concrete, in: Buber, Pointing the Way. Collected Essays, übers. und hrsg. von Maurice Friedman, New York: Harper 1957, S. 230-231 (MBB 1045). Variantenapparat: 283,2 mir zu Ohren und Augen gekommenen] [zahlreichen] ! mir zu Ohren und Augen gekommenen H 283,3 – hier veröffentlichte – New-Yorker Ansprache] im Augustheft des Merkur veröffentlichte – New Yorker Ansprache (»Hoffnung für diese Stunde«) D2 Carnegie-Hall-Ansprache D3 283,35 gewichtigen] [schweren] ! gewichtigen H 284,1 Realität] [Wirklichkeit] ! Realität H 284,1-2 aufgehoben haben] [erfolgt sein] ! angehoben haben H 284,3 besonders] [keine Zweifler, sondern] ! besonders H 284,9 diese auszugleichen] diese [dann auch gemeinsam] auszugleichen H

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284,16 geschieht?] geschieht? [Soll der Mensch, homo humanus, der in ihren pseudorealistischen Doppelchor nicht einstimmt, entweder verstummen müssen oder nur noch »philosophieren« dürfen?] H Volk und Führer In der Jerusalemer Synagoge Beth Jisrael der deutschsprachigen, nichtorthodoxen Gemeinde Emet we-Emuna (Mitglieder waren u. a. Hugo Bergmann und Ernst Simon) hielt Buber am 17. Februar 1940 den Vortrag »Volk und Führer«. Wie aus dem erhaltenen Typoskript hervorgeht, war er bereits einige Monate zuvor gebeten worden, einen Vortrag über die »Führung von Menschen durch Menschen« zu halten und hatte sich nach der Lektüre des kurz zuvor erschienenen Buches Gespräche mit Hitler von Hermann Rauschning (1887-1982) entschlossen, den Vortrag zu einer Anklage gegen den Nationalsozialismus zu nutzen. Eine deutsche Zusammenfassung des Vortrags wurde im Bulletin von Beth Jisrael. Igud le-maʿ an ha-dat we-ha-tarbut la-am, Tel Aviv Adar I 1940, S. 7-9 (MBB 627) veröffentlicht. Eine erste Druckfassung erschien 1942 auf Hebräisch. Diese Publikation griff der angesehene hebräische Schriftsteller Gerschon Schoffmann (1880-1972) am 15. Mai 1942 in Davar in einer Sammelbesprechung mit dem Titel »Zwei, drei Zeilen« an. Darin heisst es: »In seinem Artikel […] taucht Buber tief, um das Wesen des Faschismus zu klären. Hier finden wir Georges Sorel, Burckhardt, Stirner, Nietzsche und auch jüdische Persönlichkeiten, die große Lust haben mit Mussolini und Hitler, den großen Philosophen in Verbindung gebracht zu werden! / Die Sache ist ja anscheinend ganz klar, was muss man da denn groß ›klären‹ ?! ›Der gewöhnlichste kleine Hund‹, (Chamberlain sah ihn von Angesicht zu Angesicht und er sah es!) ›der das Gerücht über Napoleon gehört hatte‹ […] Ja das ist es, der Grundgehalt jener Erscheinung, die Hitler heißt, und unsere Philosophen sind nicht zufrieden, bis sie den Nazismus in den Rahmen einer bestimmten philosophischen Methode hineingebracht haben. Was für eine ›kämpferische‹ Expertise! Sicherlich: Ihr Denken kommt nicht zur Ruhe, bis sie selbst den Nazismus in ein gewisses philosophisches System eingeordnet haben! / Ein scheußlicher Hooligan überfällt sie mitten auf der Straße, schlägt sie ohne Grund, sie sind schwerst verletzt, trampelt auf sie, verhöhnt sie und sie sagen ihm: / ›Aufgrund deiner Schläge und Hiebe wird ersichtlich, dass du ein Nietzscheaner bist.‹« Diese Kritik veranlasste Buber zu zwei Repliken, die ebenfalls auf Heb-

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räisch in Davar 1942 erscheinen. Der erste Text, »Ein Ratschlag für Kunst schaffende Kritiker« erschien kurz nach Schoffmanns Kritik am 21. Mai 1942, am 5. Juni 1942 erschienen »Zwei Gleichnisse«. Sie werden im Folgenden nach dem hebräischen Original in der Übersetzung von Karin Neuburger abgedruckt. Ein Ratschlag für Kunst schaffende Kritiker Rezensionen können auf zweierlei Weisen verfasst werden. Die eine zeichnet sich dadurch aus, dass der Rezensent das, worüber er schreiben will, kennt. Die andere dadurch, dass er es nicht kennt. Der zweite Weg ist der sehr viel bequemere. Nicht allein deswegen, weil man Zeit spart – und Zeit ist für den Schriftsteller, der einer Sache in zwei, drei Zeilen Ausdruck verleihen will, ein teures Gut –, sondern weil man auf diesem Weg frei ist; und bekanntlich ist die Freiheit das wertvollste aller Güter. Liest jemand ein Buch, über welches er zu schreiben gedenkt, so wird er auf gewisse Weise verfahren: er kann es loben oder kritisieren, doch ist es seine Pflicht, sich an das Gelesene zu halten. Wer aber der Ansicht ist, dass sich für den bedeutenden Schriftsteller das Lesen nicht schickt und es seine Freiheit einschränkt, wird anders verfahren: er bedarf allein einer beschränkten Anzahl von Motiven, um diese in seinen Aufsatz einzuarbeiten, wobei er die kreative Gestaltungsfreiheit hat. Das ist die Hauptsache. Und worin besteht das Entscheidende für den Künstler? In der Herrschaft über die Materie. Deswegen also nur ein paar Motive! Am besten man stützt sich hierfür auf den Titel des Buches oder Aufsatzes, über welchen man zu schreiben gedenkt, oder auf einige Sachen, die man beim flüchtigem Durchblättern leicht aufschnappt. Oh, vieles ist aus dem Titel eines Aufsatzes und aus einigen Eigennamen zu machen. Wenn man nur Künstler ist! Diese letztgenannte Vorgehensweise zieht Herr Schoffmann, der berühmte Schriftsteller, der anderen, zuerst genannten, vor. Ich will erzählen, wie ich zur höchsten Wertschätzung seiner Kunst als Kritiker gelangte. Ich werde diese Anekdote in erforderlicher Ausführlichkeit erzählen, obgleich ich hierfür mehr als zwei bis drei Zeilen zu schreiben habe, handelt es sich doch um eine aufschlussreiche Geschichte, um einen wahren Musterfall. Folgendermaßen war der Gang der Dinge: In weiten Kreisen – selbst in Demokratien und selbst in unserer gelobten Demokratie – ist das Vorurteil verbreitet, der Faschismus stelle eine Idee, ein politisches, verschiedenen anderen vergleichbares Gedankensystem dar; da dies Vorurteil jedoch einer richtigen Einstellung gegenüber dem Faschismus im

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Weg steht, schrieb ich einen Aufsatz, in dem ich die Ansicht vertrat, diese Bewegung gründe in Wahrheit »auf der Verleugnung der Idee an sich und der Aushöhlung des Denkens.« Da sich die faschistischen Führer auf diverse Denker, wie z. B. Nietzsche, berufen, sah ich mich gezwungen, zu beweisen, dass sie gerade auf diesem Wege vertuschen wollen, dass ihnen jegliche Idee fehle. Nun tritt der freie Künstler in Erscheinung, für den mein Aufsatz – sofern er sich natürlich Zeit nimmt, ihn zu lesen – ein gefundenes Fressen darstellt. Denn er will seine Kunst über die »Philosophen« ausschütten, deren Degeneration so weit fortgeschritten ist, dass sie »selbst Mussolini und Hitler den Lorbeer der Philosophen winden« und »deren Denken nicht zur Ruhe kommt, bis sie selbst den Nazismus in ein gewisses philosophisches System eingeordnet haben.« Um das von ihm beabsichtigte Kunstwerk zu schaffen, muss der Künstler nichts tun, entsteht es doch aufgrund seiner Begabungen wie von selbst; er hat allein davon Abstand zu nehmen, meinen Aufsatz zu lesen. Es ist ihm geradezu verboten, ihn zu lesen: hätte er auch nur eine Seite gelesen, wäre ihm sein Material wie Wasser zwischen den Fingern zerronnen. Doch Titel und Untertitel meines Aufsatzes wie Namen einiger von mir erwähnter Denker und Werke als Motive zu verwenden, gilt als Pflicht; sofort entspringt dem Felsen Wasser und der Künstler-Kritiker hat schon bewiesen, dass ich, der ich gezeigt habe, dass Faschismus Anti-Geist ist, mich auch »vom geistigen Standpunkt aus« vor Hitler in die Knie zwingen lasse. Damit ist eigentlich folgendes gesagt: Ich, der ich während der nationalsozialistischen Herrschaft gegen Deutschland fünf Jahre hintereinander kämpfte, der ich zur seelischen Rettung des deutschen Judentums gegen das faschistische Deutschland einen umfassenden und harten Kampf geführt habe, habe mich vor diesem Deutschland zunächst auf andere Weise und nun auch »geistig« herabgesetzt. So zu schreiben, ist befugt, wer nicht liest und wer nicht weiß, über wen er schreibt. Doch wozu soll man das auch wissen? Vielleicht wird einer argumentieren: »Ihr Aufsatz ist doch gedruckt worden und die Leser können Vergleiche anstellen.« Doch wie viele Leser der Zeitung werden dies tun? Aber nicht darum geht es mir hier. Vielmehr geht es mir um die Intention Schoffmanns. Dieser dachte mit Sicherheit nicht an einen Vergleich und auch nicht daran, was sich aus diesem ergibt. Ich bin nicht der Meinung und argumentiere auch nicht, dass Schoffmann meinen Aufsatz gelesen und dann dessen Inhalt entstellt hat; vielmehr bin ich der Meinung und argumentiere auch, dass er meinen Aufsatz nicht gelesen hat. Ich hege keinerlei Zweifel, dass er davon überzeugt war, eine absolut treffliche Gelegenheit gefunden zu haben, jenen »Philosophen« eine Ohrfeige zu verabreichen. Doch was wird

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er tun, wenn wir seine Aufmerksamkeit auf die Tatsachen richten? Ich weiß es nicht. Es ist überflüssig, zu sagen, was ein einfacher und aufrichtiger Mensch tun wird, wenn er erkennt, dass er seinem Nächsten das Gegenteil des von ihm wirklich Gesagten in den Mund gelegt hat. Was aber wird der »freie Künstler«, wie er sich mir darstellt, tun? Er wird sagen: »Im Prinzip geht es doch gar nicht darum, was in dem Aufsatz genau geschrieben steht. Für mich war der Aufsatz bloß Material. In zwei, drei Zeilen habe ich beschrieben, wie jene ›Philosophen‹ vorgehen, die selbst die Barbaren noch mit Philosophie und nicht – wie es sich gehört – mit Schlägen versehen. Im Mittelpunkt steht das Leben, nicht das Philosophieren. Ich beschäftige mich nicht mit toten Begriffen. Mit meinem lebendigen Wort rühme ich das Leben. Diese Philosophen dagegen sind unfähig, mit dem Leben selbst in Berührung zu kommen«. Dies erinnert mich an eine kleine Geschichte. In einem polnischen Städtchen arbeitete ein Jude zusammen mit einigen Polen in einem Sägewerk. Von Zeit zu Zeit trug jeder Pole zwei Holzbretter zu der naheliegenden Bahnstation, während der Jude nur ein Brett trug. Als die Polen den Juden daraufhin zur Rede stellten, sagte er: »Die Gojim sind zu faul, zweimal zu laufen.« Dies ist ein Witz und dazu ein guter; die Wahrheit jedoch ist, dass wir, die »Philosophen«, das Lebensbrett immer mit dem Denkbrett zusammen tragen. Dies kann nur ignorieren, wer sich über uns lustig machen will, anstatt sich mit uns auseinanderzusetzen. Der von uns ausgefochtene Streit ist wichtig genug, als dass man hierfür selbst den bequemen Weg des Kritikenschreibens zugunsten des unbequemen Weges aufgibt. Der Kritiker schreibt: »Einen dummen Hund muss man töten«. Ich sage: »Auch wenn Hitler beseitigt sein wird, wird sein Gift noch weiter wirken. Sein vergiftendes Potential muss also ausgeschaltet werden.« Es wird dem Kunst schaffenden Kritiker nicht schaden, ein bisschen über das von mir tatsächlich Gesagte nachzudenken. Denken erschwert das Schreiben, so wie Lesen die Kritik erschwert, doch ist es wünschenswert, diese beiden Tätigkeiten jeder Handlung voranzustellen. Zwei Gleichnisse

1. Die Jäger »Eine Bestie in Gestalt einer Bestie« (G. Schoffmann) Es war einmal ein Löwenjäger. Er wusste, dass es gut ist, die Wege und Gebräuche des Tieres, welches man jagen will, zu erforschen; gut ist es,

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diese zu kennen, um auf richtige Weise gegen das Tier zu kämpfen und es zu besiegen. Demgemäß lernte er aus den Geschichten anderer und aufgrund eigener Beobachtung, wie sich der Löwe in verschiedenen Lebenssituationen verhält. Schließlich traf er die seinen erworbenen Kenntnissen gerechten Vorbereitungen und machte reiche Beute. Ein anderer, der sich zum Jagdhelden und insbesondere zum großen Löwenjäger prädestiniert sah, hielt jegliche Erforschung des Beutetieres und jegliche Überlegung hinsichtlich des Vorgehens bei der Jagd für überflüssig, da solche Dinge, wie er sagte, einer Bestie nicht angemessen seien. Man habe sich über diese keine Gedanken zu machen oder sich ihretwegen nicht zu mühen, sondern sie einfach nur zu töten. Die Methoden seines Freundes trat er mit Füßen und ließ sich, sein Gewehr in der Hand, im Hinterhalt nieder; doch noch bevor er schießen konnte, griff ihn ein mit den Gebräuchen der Menschen vertrauter Löwe an und fraß ihn auf.

2. Das Lamm und der Biber

»Und mit philosophischer Gelassenheit sprechen sie mit ihm« (G. Schoffmann) »Warum blökst du nicht mit mir zusammen? Das Gewitter ist doch schon über unseren Köpfen!«, sagte das Lamm zum Biber. »Da stehst du und philosophierst, anstatt wie ich zu schreien. Hast du denn kein fühlendes Herz im Leib?« »Dort ist ein Refugium«, sagte der Biber, »wenn du den erreichst, bist du gerettet. Ich habe überlegt, wie ich dich dorthin bringen könnte. Es wird nicht einfach sein, aber wir können es schaffen. Komm!« Textzeugen: h1: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 48); 1 loses Blatt, zweiseitig beschrieben, mit Korrekturen versehen; enthält einen Entwurf des Abschnitts »Es sind Massen […] auf jeden Fall.« (In diesem Band, S. 288,21-289,13.) H2: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 153); 10 lose paginierte Blätter; doppelseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit zahlreichen Korrekturen versehen. Die Handschrift enthält zusätzliche Textteile, die nicht in die Veröffentlichung aufgenommen worden sind. Der Text in H2 ist lediglich durch Absätze und nicht in nummerierte Abschnitte unterteilt.

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ts: unvollständiges Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var 350 07 36); 12 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben, ohne Korrekturen; Blatt 5 fehlt. Mitschrift eines Vortrags, datiert auf den 17. Februar 1940. Das Typoskript wird im Anschluss reproduziert. D: Hinweise – Gesammelte Essays, Zürich: Manesse 1953, S. 294-313 (MBB 919). Druckvorlage: D Übersetzungen: Englisch: People and Leader, in: Buber, Pointing the Way. Collected Essays, übers. und hrsg. von Maurice Friedman, New York: Harper 1957, S. 148-160 (MBB 1045). Hebräisch: Am u-manhig, Moznajim 14. Jg., 3. Heft, Ijar 1942, S. 137145 (MBB 664); in: Buber, Teʿ uda we-jiʿ ud, 2. Bd.: Am weʿ olam. Maʾ amarim al injane ha-schaʿ a, Jerusalem: Ha-sifrija ha-zionit, S. 6274 (MBB 1182). Abdruck von ts: Volk und Führer Vortrag gehalten von Prof. Martin Buber im Beth Jisrael am 17. 2. 1940. Als ich vor einigen Monaten ersucht wurde, über dieses Thema, das Problem der Führung von Menschen durch Menschen zu Ihnen zu sprechen, und zusagte es zu tun, da wusste ich noch nicht, von welcher Seite aus ich dieses Thema beginnen sollte. Ich war geneigt, es von der besonderen Tatsache des Juden aus zu behandeln. Aber ich habe inzwischen ein Buch gelesen, das meine Gedanken in eine bestimmte Richtung gelenkt hat. Ich möchte dieses Buch kritisch erörtern. Ich möchte darauf hinweisen, was wir für unsere Sache aus diesen Mitteilungen lernen können. Ausnahmsweise möchte ich mich selbst zitieren. Ich habe im August 1927 in einer Gedenkrede auf Achad Haam, die ich auf dem Baseler Zionistenkongress gehalten habe, folgendes gesagt: Unsere Zeit hat es über uns gebracht, dass wir glauben, mit dem Führer allein auskommen zu kommen. Und das ist zu verstehen. Führung ohne Lehre hat Erfolg. Man erreicht etwas. Nur dass dieses Etwas, das man so erreicht, etwas ganz anderes und zuweilen geradezu eine Karikatur dessen ist, was man eigentlich gemeint hatte. Solange das Ziel noch ein Ziel war, herrschte

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Sehnsucht und Hoffnung, aber wenn das Ziel sich verkehrt hat, was dann? Gewiss ist das Volk unglücklich, das keinen Führer hat, aber dreifach unglücklich ist das Volk, dessen Führer keine Lehrer hat. Ich sagte das damals, um bestimmte Völker und bestimmte Fakten der Gegenwart zu benennen. Es hat sich inzwischen in einer Weise bewährt, die ich damals kaum ahnen konnte. Führer ohne Lehrer, Führung ohne Lehre, Führung, die keine Lehre empfängt, weil sie keine Lehre anerkennt, weil sie keine Wahrheit anerkennt. Dieses Bild, das ich aus dem Buch empfangen habe, habe ich schon vorher aus der Wirklichkeit, die ich erlebt habe, empfangen. Es ist das neue Buch von Rauschning über Hitler. Rauschning war ein Parteigenosse von Hitler, der lange mit ihm zusammengearbeitet, der sich nachher von ihm getrennt hat. Er hat dieses sein zweites Buch über Hitler geschrieben, das besonders interessant ist, weil es Äusserungen von Hitler selbst wiedergibt. Ich halte nicht alle diese Äusserungen für authentisch. Man muss selbst Hitlerreden mit angehört haben, um zu wissen, was kann dieser Mensch sagen und was nicht. Nun habe ich im Allgemeinen das Gefühl, dass Rauschning seine Äusserungen etwas nach der Seite des gebildeten Menschen hin bearbeitet hat. Abgesehen von einzelnen Äusserungen passt es aber doch zu dem Bild, das man sich aus Hitlers einzelnen Zügen gemacht hat. Man kann sagen, dass es etwas Echtes ist, etwas was den Charakter des Nichtausgedachten trägt. Ich will etwas sagen, was sich auf das Problem der Führung bezieht und darauf aufmerksam machen, was in diesen Äusserungen steht und in welchem Zusammenhang man sie betrachten soll. Ich fange mit einem Wort an, das nicht von Hitler stammt, aber im Buche angeführt ist, es ist von Göring, der sagte, ich habe kein Gewissen, mein Gewissen ist Adolf Hitler. Ganz abgesehen davon, dass Rauschning auch Äusserungen von Göring anführt, die kritisch gegen H sind, ist aber zweifellos die erste Hälfte dieses Satzes aufrichtig. Die zweite Hälfte des Satzes deckt die erste –. Ein Mensch der beansprucht Führer zu sein, sagt einen solchen Satz, wie die erste Hälfte nicht ohne die zweite, das heisst also, ein Mensch, der zu Hitler hält und mit seinen Genossen in vorderster Reihe steht, spricht etwas aus, was für so einen Menschen programmatisch ist, nämlich dass er kein Gewissen hat und sich damit deckt, dass der Führer sein Gewissen sei. Also gibt es das, gleichviel ob es aufrichtig gesagt ist oder nicht, die Leute empfinden etwas Ähnliches, das heisst also ich brauche kein Gewissen zu haben, weil es den Führer gibt. Heisst das, dass der Mensch ein so starkes Gewissen hat, das er es auch für mich hat? Nein. Das heisst, dass eine Person an Stelle des Gewissens, an Stelle

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der persönlichen Verantwortung gesetzt wird und dass dieser Mensch selbst im genauesten Sinne weiss, dass er gewissenlos ist und sich als bar des Gewissens, als Mensch ohne Gewissen empfindet. Hitler selbst sagt das in diesem Buch auf charakteristische Weise. Er sagt, das Gewissen ist eine jüdische Erfindung, ist ein Makel wie die Beschneidung. Das ist sehr präzis gesagt. Ich bin überzeugt, dass das Gewissen keine jüdische Erfindung ist, denn es ist was, was mit dem Menschen geboren ist, aber etwas, was man bis zu einem gewissen Grad loswerden kann. (Ich möchte die schlaflosen Nächte Hitlers nicht analysieren). Aber im Zustande des zurechtgemachten Wachbewusstseins in dem Stande, in dem man handelt, da kann man es ziemlich weit bringen in der Befreiung vom Gewissen. Um Befreiung von diesem Gewissen geht es programmatisch offenbar in der Weise, wie diese Menschen handeln wollen, handeln zu müssen meinen. In dieser Weise kann man nur mit sehr weitgehender Befreiung vom Gewissen handeln. Das heisst, das was hier getan worden ist, die Erfüllung dieser sogenannten historischen Funktion und diese Handlungen so wie sie in der Aussen- und Innenpolitik getan worden sind, so kann man sie nur tun, wenn man in einem ziemlich grossen Teile seines täglichen Lebens hemmungslos ist und hemmungslos handeln kann. Wenn man in einer kritischen Situation, wo das Volk durch schwere Hemmungen behindert ist zu handeln, befähigt ist, das zu tun, was eben die anderen nicht tun können, dann ist diese Hemmungslosigkeit der Vorzug des Menschen, der kommt, und sich anbietet, diese politischen Geschäfte zu übernehmen und alles zu tun, was anderen zu schwer ist. Dieser Mensch übernimmt damit scheinbar die historische Funktion. Was das bedeutet, lässt sich jeweils immer vom Ende dieser Periode ablesen, was hoffentlich uns bald gewährt sein wird. Übrigens, wenn Hitler christlich sagt, denkt er oft das Jüdische mit und sagt es auch seinen Freunden. Nach Hitler kann man eben zu politischem Handeln nur durch Befreiung von Gewissen kommen. Hitler sagt, das Wort Verbrechen stammt aus einer vergangenen Welt. Jedes Verbrechen im alten Sinne steht turmhoch über einer »ehrbaren Untätigkeit«. Das heisst, es ist viel besser das zu tun, was die Welt Verbrechen nennt, es ist viel besser eine Politik solchen Verbrechens zu tun, als in einer solchen Situation die furchtbar problematisch ist, untätig zu sein. Aber Hitler geht noch weiter. Es geht offenbar nicht nur um eine Volkssituation in einer bestimmten Stunde, Hitler geht darüber hinaus und nötigt einen zu formulieren: Herrschaft ist stets von einem bürgerlichen Gesichtspunkt betrachtet, auf Verbrechen gegründet. Es handelt sich also nicht nur darum in einer bestimmten Situation gewissenlos zu handeln, sondern darum, Herrschaft zu gewinnen, und das ist nur durch Verbrechen möglich. Das ist nicht machiavellistisch,

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sondern eine Vulgarisierung der Gedanken über Renaissance, eine Vulgarisierung in einem Sinne, dass man es möglichst radikal fasst, also schlechthin auf Verbrechen gerichtet. Also nicht nur einmal ein Verbrechen gezwungen zu tun, sondern das ist programmatisch gesagt. Weiter – und das ist persönlicher als all dieses – Hitler redet oft von sich und zwar in einem bestimmten Perfekt: Ich habe das und das getan, ich habe die Welt von ihrer Abhängigkeit von ihrer geschichtlichen Vergangenheit befreit. Das eigentliche Motiv also ist es für ihn, kein Gewissen zu haben, das einen hemmt, ein Verbrechen zu begehen, sondern darauf los Verbrechen zu begehen und auch die Welt von diesen Hemmungen zu befreien. Gewissen ist eine jüdische Erfindung, die Welt ist davon durchsetzt, also muss man die Welt davon befreien. Ich habe mich umgesehen, wo ich dergleichen schon gefunden habe, in der machiavellistischen Literatur nicht, bei Nietzsche gewiss nicht. All das was Nietzsche Ähnliches sagt, ist ganz anders gemeint, nämlich nur intellektual, auf das Leben des Philosophen gemeint. Ich habe aber bei einem Menschen Ähnliches gefunden, wo sowas steht beinahe nur bei einem Menschen. Dieser Eine ist das Äusserste, was mir an jüdischer Entartung untergekommen ist, an Entartung im Judentum, Entartung der spätjüdischen Mystik, Entartung des Messianismus. Nach dem Tode von Sabbatai Zewi nachdem er zum Islam übergetreten war, kam eine nachsabbatianische Bewegung und Theologie, und die brachte ein äusserstes Produkt hervor, die Bewegung von Jakob Frank. Der war kein einfacher Betrüger, sondern eine seltsame Mischung von einem von sich selbst ehrlich überzeugten Menschen und einem Betrüger. Eine seltsame einzigartige Mischung. Frank sagt folgendes, was uns in Aufzeichnungen von Schülern überliefert wird. Er ging damals von der Türkei nach Polen und liess sich taufen. Die Schüler haben seine Worte aufgezeichnet. Wir haben nur eine Auswahl in polnischer Sprache. Man muss – sagt Frank – sich alle Glaubenslehren, alle Gesetze, vernichten, aller Lehren entledigen und dann Schritt für Schritt Lehren in die Welt setzen. Dies ist ein Anspruch auf Führung aus der Tatsache des Führens, des Geführtwerdens von Millionen, von einem ganzen Volk durch diesen Menschen, der ebenso zu handeln bekennt und ebenso in die Welt hinein zu wirken bekennt. Das ist ein Bekenntnis im engsten Sinne. Dass Hitler in der Tat diese Sache der Befreiung an die Stelle des Christentums setzt, das drückt er auf eine lehrreiche dogmatische Weise aus. [Textverlust wegen fehlender Seite] »Volk sind die äusseren und sichtbaren Formen unserer Geschichte« »So habe ich diese Völker in eine höhere Ordnung zu verschmelzen« sagt Hitler bei Rauschning. Also die Völker, die unter seiner politischen Einwirkung stehen. »Ich habe zu

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verschmelzen, wenn ich das Chaos vermeiden will. Dazu ist mir der Begriff der Rasse dienlich.« Das ist wohl kein Nationalismus. Das ist nicht Rasse. – Ich (Buber) bin noch nicht darauf gekommen, was Rasse ist – es ist ein mythisches Wesen. Man müsste doch meinen, dass das etwas ist, was von Anfang an da ist, worauf die Nationalität begründet ist. Hitler sagt doch aber, er wolle die Völker verschmelzen und dazu ist der Begriff der Rasse dienlich. Also: Rasse ist zunächst eine biologische Angelegenheit. Aber mit diesen biologischen Werten hat es ein eigentümliches Bewenden. Die Rasse ist aber kein Ursprungswert. Die Völker würden, so sollte man meinen, die verwischte Form der Rasse sein. So scheint es aber nicht zu sein. Der intimste Begriff der Rasse ist anders gemeint. Das sagt Hitler so schön: »Der Tag wird kommen, wo wir einen Pakt mit diesen neuen Männern in England, Frankreich, Amerika machen werden. Da wird von den Klischees des Nationalismus nicht viel übrig sein. Statt dessen wird es ein Einvernehmen geben zwischen den verschiedenen Elementen der einen herrschenden guten Rasse.« Also offenbar ist Rasse etwas anderes als was wir gelernt haben. Rasse steht nicht am Anfang, ist verteilt auf alle Völker. Rasse ist die jetzt zur Herrschaft kommende Schicht, die kooperieren soll und die gemeinsam die gute Rasse bilden soll. Diese Rasse ist daran zu erkennen, dass sie das tut, was sie tut, sie führt das historische Werk mit Rücksichtslosigkeit durch. An dieser historischen Tat sind die neuen Menschen zu erkennen. Das kann bei Hitler einen psychologischen Hintergrund haben. Man könnte sagen, dass der Sprecher von dem alten Begriff der Rasse loskommen will, der einen Menschen, der so und so aussieht, einer bestimmten Rasse zuordnet, und der Rasse nach dem We r k bestimmen will. Es kommt also nicht auf etwas von urher an Gemeinsames an sondern es kommt darauf an, in der Welt eine herrschende Gruppe zu finden, die sich aus sprachlich verschiedenen Elementen zusammensetzt, die zusammen die Elite der Menschheit bildet, die diese neue Rasse auch biologisch herstellen soll. Diese Elite ist auf ihre Hemmungslosigkeit begründet. Ihre auszeichnende, vereinfachende Eigenschaft ist ihre Hemmungslosigkeit. Das eben was Hitler Heroismus nennt. Es gibt einen fiktiven und einen realen Heroismus. Ich (Buber) stelle mir einen realen Heroismus vor, nicht einen Heroismus, der einen Menschen hindert, sich für eine Sache, an die er glaubt, zu opfern. Wenn wir also fragen, was soll verwirklich werden, um welcher Sache willen soll dies alles geschehen, dann bekommen wir nicht die Antwort, die wir bisher hörten: Macht, Herrlichkeit der Nation etc. Offensichtlich wird hier von den Nationen abgesehen und auf eine herrschende Schicht hingearbeitet. Das kann objektiv sehr schwer dargestellt werden, weil es

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das nicht gibt. Was aber ist das Ziel dieses revolutionären Willens? Die Antwort ist, er hat kein festes Ziel. Das heisst es gibt nicht ein Bild, das im Geiste gesehen werden und das verwirklicht werden soll mit allen Mitteln. Sondern diese Revolution, diese Machtakkumulation ist das, worauf es ankommt. Deshalb wird weiter revolutioniert. Daher hat diese Revolution kein Ende. Das System der endlosen Revolution. Ja aber, wenn das so ist, dann gibt es nicht nur kein festes Ziel, das vor meinen Augen fest bleibt, vor meinen hoffenden Augen, sondern es bilden sich immer neue Ziele heraus. Aber es kann auch keine feste Wahrheit geben. Denn gebe es so etwas, was wir als Wahrheit bezeichnen, so wäre doch dieser Wahrheit gegenüber der Handelnde irgendwie verantwortlich. Jemand hätte durch diese Wahrheit doch irgendwie sein Ziel zu bestimmen. Diese herrschenden Menschen, die als Rasse zu etablieren sind, hätten doch etwas zu verwirklichen, was wahr ist, etwas was größer ist als alle, die Wahrheit. Etwas wozu jede Menschengruppe ein Verhältnis haben kann. Die Wahrheit ist ja kein Verrat, sondern etwas, was uns entrückt ist, wozu aber jeder Mensch und jede Gemeinschaft ein Realverhältnis hat, in dem ich meine Schau der Wahrheit, so viel oder so wenig ich von ihr erfasse, in meinem kleinen Leben zu verwirklichen versuche. Diese Wahrheit kann es in dieser Schau nicht geben. Also: Es gibt nicht etwas wie Wahrheit, weder im sittlichen noch im wissenschaftlichen Sinn. Also keine Wahrheit, die unabhängig von menschlichen Personen wäre, es gibt nur die menschlichen Personen mit dem, was sie durchsetzen sollen. Die menschlichen Personen halten ja nichts für wahr. Es gibt daher auch keine sittliche Wahrheit. Es gibt so etwas wie Wahrheit nicht. Daraus ergibt sich aber ein gewisser Widerspruch zwischen der Tatsache dass man Wahrheit nicht für möglich hält, aber dass man im Verkehr mit der Masse immer doch auf Wahrheit hinweist, auf etwas, was wahr ist, was zu verwirklichen sittliche Pflicht dessen ist, der mitgeht. Dieses Widerspruchs ist sich Hitler bewusst, er will ihn lösen, indem er sagt: Moralische Gemeinplätze sind unentbehrlich für die Masse. Dieses Gedankensystem hat eine beachtenswerte Konsequenz. Hitler ist sich bewusst, dass wer so Macht gewinnt, hemmungslos, von keinem Gewissen, von keiner Verantwortung behindert der so unbehindert handelt, dass der immer mehr Macht gewinnt, denn er steht Menschen gegenüber, die behindert sind. Die Anhänger haben sich des Gewissens und freien Willens begeben, die anderen aber im alten Lager haben noch diese Residuen der Vergangenheit, die sie hindern, mit Rücksichtslosigkeit zu kämpfen. In dem Buche von Rauschning ist das so ausgedrückt: Die Menschen, die der Geschichte gegenüber verantwortlich sind, das heisst,

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die Dinge setzen, die in der Geschichte bleiben, diese Menschen sagt Hitler wachsen immer weiter zu weltweiter Allmacht. Deshalb müssen sie so frei wie Götter von den Massen sein. Ihre Aufgabe muss es sein, ihre Macht zu behaupten. Wieder frage ich (Buber): Wo gibt es ähnliches? Keine Wahrheit, alles darf getan werden, nichts braucht geglaubt zu werden, es kommt nur Allmacht des Menschen an!?! Für diese Auffassung habe ich lange nach Beispielen in der Geschichte gesucht und habe sie bei der dem Islam nahestehenden Sekte der Assassinen gefunden. Das Wort hängt mit Haschich zusammen. Sie liessen sich zu gewissen Träumen und Handlungen durch Haschich antreiben. Sie liessen sich vom Gewissen befreien. Es gibt ein sehr lesenswertes Buch über die Assassinen von H. Purgstahl: Geschichte der Assassinen. Es gibt bei ihnen eine Reihe von Graden, zuerst 7, später 9. In jedem Grad wird man in gewisse Geheimnisse eingeweiht, die sich auf jeder höheren Stufe als hinfällig erweisen. Auf der allerhöchsten Stufe enthüllt sich dann: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Dies nenne ich Verführung. Aber ein Führer muss doch wohl ein Ziel sehen, auf das hin er seine Geführten führen will. Führung hat doch zur Voraussetzung, dass der Führende an etwas glaubt, das ihn zur Führung ermächtigt, etwas Unbedingtes, das nicht in ihm steckt, das nicht eine persönliche Meinung ist und das nicht von ihm abhängt, sondern von dem er abhängt. Es ist die eine Wahrheit, die er findet, die er wirklich zu machen zu verwirklichen hat. Führung verträgt sich nicht mit Relativierung der Wahrheit. Das bedeutet, es gibt ein Unbedingtes, um dessentwillen geführt wird. Wenn aber diese Relativierung der Wahrheit und das Gesetz des Unbedingten nicht miteinander übereinstimmen, so bedeutet das das Ende aller echten Führung. Führung ohne Glauben an eine Wahrheit ist keine Führung mehr. Das was dem Führer die Legitimation zur Führung gibt, das ist der Glaube an etwas Unbedingtes, an die Wahrheit, an das Ziel. Führung ohne diese Glauben führt zur völligen Hemmungs- und Gewissenlosigkeit. Der einzig mögliche Ersatz ist die Erlösung der Menge vom freien Willen. Was bedeutet die Verantwortung der Geschichte gegenüber, die er verwirft? Vielleicht gibt es eine Verantwortung gegenüber dem Geschichtsschreiber. Aber die ist unwichtig. Aber es gibt zwei reale Verantwortungen an die ich glaube. Die eine Verantwortung ist die Gott gegenüber. Über die kann man nicht reden. Die Verantwortung dem gegliederten Volk gegenüber ist das 2. Die Verantwortung den realen Volksgruppen gegenüber, das ist der eigent-

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liche Sinn der in unseren Tagen einigermassen degenerierten Demokratie. Zur Erläuterung eine Anekdote: Es ist ein Gespräch zwischen dem grossen Soziologen Max Weber und Ludendorff im Frühjahr 1919. Damals trafen beide Männer zusammen. Damals sagte Ludendorff zu Weber: Da haben Sie nun Ihre Demokratie. Was ist besser geworden? Sie und die Frankfurter Zeitung haben daran schuld. Darauf Weber: Glauben Sie, dass ich die Schweinerei, die jetzt ist, für Demokratie halte? Ludendorff: So können wir uns verständigen. Weber: Aber die Schweinerei vorher war auch keine Monarchie. Ludendorff: Was verstehen Sie unter Demokratie? Weber: In der Demokratie wählt das Volk seinen Führer, dem man dann aber nicht mehr dreinreden darf. Ludendorff: Das gefällt mir. Weber: Nachher kann das Volk richten, hat der Führer Fehler gemacht, an den Galgen mit ihm. Etwas Richtiges daran ist, dass Demokratie Führung zum Ziel ist. Wenn der Führer den Weg den Weg verfehlt, dann usw. Es gibt noch eine empirische Verantwortung des Führers dem Volk gegenüber. Die hat zwar die schöne Symbolik des Galgens. Aber es gibt die Verantwortung der nächsten Generation gegenüber. Dann ist zwar der Führer nicht mehr da. Das bedeutet nicht, dass er verantwortlich ist, weil es der nächsten Generation vielleicht schlecht geht, sondern das Volk ist dann so, wie es geworden ist. Die Führung ändert die Beschaffenheit der heranwachsenden Generation des Volkes. Wir können ahnen, wie diese heranwachsende Generation in Deutschland geworden ist. Wir wissen es nicht genau, weil wir ja nicht dieses Volk sind. Es bleibt also schliesslich nur die Macht, nichts als die Macht. Zwei Worte eines jüdischen Demokraten, der an der Macht war und geendet hat, wie er geendet hat. Infolge der unglücklichen Liebe eines deutschen Juden zum deutschen Staat. Walter Rathenau sagte 1922: »Es war ein frivoles Wort, der Herrgott ist mit den stärkeren Bataillonen. Wahr ist, dass Gott mit der tieferen Verantwortung ist. Wir brauchen selbstverwaltete Gemeinschaft, keine Herrschaft, Akratie, nicht Anarchie. Es ist ein Volk unserer (der deutschen) Art ebenso wenig bestimmt zu herrschen wie beherrscht zu werden.« Noch eine Geschichte zur Tragik des Juden, der Führer zu sein bereit ist in einem nichtjüdischen fremden Volk. Ich sehe diese Sache gar nicht von oben her an, sondern nehme sie sehr ernst. Denn ich habe Rathenau gekannt und Gustav Landauer war mein Freund. Im Spätsommer 1919, also wenig Monate nach dem Tode von Landauer, fuhr ich in einem über-

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füllten Provinzeisenbahnzug in Bayern. In diesem Zug waren eine Menge Weissgardisten. Sie unterhielten sich über alles Mögliche aus der Zeit der Räteregierung und einer sagte zum andern: Der Landauer, der hat schon das Rechte gewollt, das was der gesagt hat, das wär schon das Rechte gewesen, bloss einer von den unseren hätte er sein sollen! Noch ein Wort von Hitler zu dem Thema »frei wie die Götter«: Dieses Wort fasst alles zusammen: »Der Mensch ist im Begriffe, Gott zu werden.« Bei Hitler ist das aber nicht Philosophie (wie Ähnliches bei Max Scheler gemeint ist) sondern als Tatsache gedacht. Von da möchte man fast den Judenhass ganz tief verstehen. Denn gerade das können wir unter keinen Umständen begreifen. Das können wir einfach physiologisch nicht ertragen. Gott und Mensch sind zwei und können nie eins werden. Das geht uns gegen das Innerste. Der werdende Gott ist die schlimmste von allen Phrasen. Ich glaube aber dass es vielleicht doch den werdenden Teufel gibt, und es gibt einen Kampf gegen den werdenen Teufel. Diese Anwendung möchte ich aus dem heutigen Abend ziehen. Auch bei uns gibt es eine Tendenz, die ich den grossen jüdischen Defaitismus nenne. Dieser besteht darin, dass wir an diese Welt zu glauben beginnen, an dieses so erfolgreich scheinende Programm, an diese so zuverlässig wirksam scheinenden Methoden. Wir handeln so, dass man merkt, es greift um sich. Zum Schluss: es gibt auf der einen Seite Hitlers Kampf gegen uns wie er ihn sieht. In dem Buch von Rauschning spricht Hitler über die Protokolle der Weisen von Zion. Hitler scheint daran ernstlich zu glauben. Mich haben die Leute in meinem seinerzeitigen Wohnsitz Heppenheim am Rhein für einen Oberweisen gehalten. Hitler sagt: »Ich sah sogleich, dass wir sie kopieren müssen, aber auf unsere Art. Denken Sie, diese Leute, fortwährend auf dem Sprung, und wir mit unserem Glauben in unablässiger Tätigkeit. Zwei Gruppen so eng verknüpft. Es ist in Wahrheit der ewige Kampf um das Schicksal der Welt.« Diesem Kampf aber, den Hitler sieht, ist unser wahrer Kampf entgegenzustellen. Das bedeutet nicht Stellungnahme in dem gegenwärtigen Krieg für irgendeine Macht sondern das ist ein eigener Kampf. Wir kämpfen für Hitler, wenn wir hitlerisch werden. Hitlerisch ist der Mensch, der nur glaubt, es gibt die Macht und den sogenannten Erfolg. Bald wird Hitler sagen können, die Juden kommen zur Klarheit meiner Politik, (so wie er es von den Bolschewiken gesagt hat). Schon hier gibt es eine Anbetung des Erfolges im politischen Leben, bei Leuten die nicht den Erfolg im persönlichen Leben so hoch werten. Die historische Tatsache des sogenannten Erfolges bannt diese Leute. Sie meinen, wir ein Volk

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ohne Macht, müsse auch ähnliche unseren Aufgaben angepasste Methoden anwenden und lernen, was zu lernen ist. Wenn wir auf diese Scheidung zwischen Persönlichem und Politischem eingehen, dann müssen wir diese Konsequenzen ziehen, dann gilt es so hemmungslos wie irgend möglich zu sein. Dann stärken wir die Macht des Feindes. Dieser Kampf ist für das Schicksal der Menschheit vielleicht von unabsehbarer Bedeutung. Jeder von uns ist vor diese Entscheidung gestellt, jede Gruppe von Menschen ist vor diese Entscheidung gestellt, wollen wir diese Gesetze der politischen Welt anerkennen, wollen wir den Erfolg anbeten? Wollen wir auf die Stirne fallen und anbeten den Gott Erfolg? Oder haben wir einen anderen Gott, der nicht so handgreiflich operiert der stiller und langsamer arbeitet und auf den man sich verlassen kann? Das ist die Wahl zwischen Gott und Baal, dessen Name heute politischer Erfolg ist. Dieser Erfolg steht in der Gefahr in einen wirklichen Sieg umgewandelt zu werden. Gestaltung eines Volkslebens auf einer hohen Stufe, das allein ist Erfolg im Sinne wirklicher Führung. Die Frage der Führung in unserer eigenen Gemeinschaft. Ich weiss, es ist schwer, wir leben in einer führerlosen Welt. Aber immerhin, es gibt eine kleine Führung im Zionismus. Aber was uns eigentlich fehlt, ist eine jüdische Führung, in dieser schwersten Stunde unserer Existenz. Das ist Erziehung zu verantwortlicher Führung. Führung gibt es überall, in der kleinsten Gruppe, in jeder Partei, in jeder Organisation. Überall, wo zu bestimmen ist, was zu tun und was zu lassen ist, kann es eine verantwortliche Führung geben. Was wir brauchen ist ein verantwortliches Gemeinwesen einer gestaffelten Demokratie, wo es in jeder kleinsten Gruppe verantwortliche Führer gibt. Kleine geführte Gruppen, die sich zusammenschliessen, die verantwortliche Führer entsenden bis zur Spitze. Die Voraussetzung für eine derartige Führung ist der Glaube an ein Unbedingtes, das uns trägt, von dem wir entsendet sind, ihm zu dienen. Hierzu dient uns unser Gewissen –Für den Bereich, gross oder klein, der uns anvertraut ist. Variantenapparat: 285,4 »Unsere Zeit«, […] »will] Es sei mir erlaubt, ausnahmsweise mit einem Selbstzitat zu beginnen. [Als ich 1927 auf dem Zionistenkongress in Basel eine Gedenkrede auf Achad Haam zu halten hatte, stellte ich ihn als grosses Beispiel des Lehrertyps dem Führertypus gegenüber.] »Unsere Zeit«, sagte ich damals, »will H2 285,6-16 Jene ›geistigen‹ Menschen […] ganz unrecht.] fehlt H2

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285,26-27 das Leben] [das menschliche Dasein uns menschenwürdig,] das Leben H2 285,28 Führung] Führung ohne Lehre an sich H2 285,29 so geführten Volke] so geführten Volke [, den so geführten Massen] H2 285,30 der Führer ist] ergänzt nach Absatzwechsel Als man Mussolini [noch vor der Machtergreifung] ! kurz vor dem Marsch auf Rom nach seinem Programm befragte – seiner Meinung nach »in hinterlistiger Absicht« –, antwortete er: »Unser Programm ist einfach: wir wollen Italien regieren.« Und im Jahr danach definierte er in einer Kammerrede die Revolution als »den festen Willen, die Macht zu behalten«. Man hat die faschistische Partei mit Recht als das einzige Parteigebilde der Welt bezeichnet, »dem es erst im dritten Jahre seiner Existenz eingefallen ist, sich durch die Aufstellung eines Programms irgendwie geistig zu legitimieren«. Was dann in dieser Richtung geschah, hatte zum Ziel, das bisherige Handeln grundsätzlich zu rechtfertigen, nicht aber, Grundsätze zu formulieren, von denen es eingegeben war – es war eben von keinen Grundsätzen eingegeben. Auch dies hat Mussolini und dem mehrmals wiederholten bekannten Satz ausgesprochen, der auch in die Satzungen der Partei aufgenommen worden ist: »L’atto precedete sempre la norme«. Wenn dieser Satz mehr sein will als ein fascistisches Selbstbekenntnis, wenn er eine historische Aussage sein will, ist er falsch. Revolutionen und Volksbewegungen überhaupt sind immer daraus entstanden, dass neue Normen sich gegen alte erhoben; hdie alten sind starr [und unveränderlich], die neuen noch unfertig und plastisch;i die alten herrschen, als Worte und als Einrichtungen, in der Welt, die neuen leben nur erst im Geist, aber sie leben als Antrieb zur Tat, die sie verwirklichen soll; die Menschen, die sie aussprechen [und damit erst aktivieren, die Menschen, die den Weg zeigen indem sie vorangehn, sind die Führenden] ! aktivieren sie. Im Gegensatz dazu sieht der Fascismus die Idee als das Werkzeug einer nachträglichen Propaganda, die dann einsetzt, wenn es den neuen Machthabern nützlich oder notwendig erscheint, für ihre Macht die Billigung auch solcher Kreise zu finden, die an ihr nicht teilnehmen; dieses Werkzeug wird am bequemsten auf eklektischem Wege hergestellt. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang, wie Mussolini den Begriff des »Mythus«, des Mythus im politischen Sinne, verwendet. Dieser Begriff geht auf die Lehre vom sozialen Mythus des syndikalistischen Theoretikers Georges Sorel zurück, eines Mannes, der auf Mussolini stark eingewirkt hat und überhaupt auf das Zeitalter einen verhängnisvollen

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Einfluss ausgeübt hat. Unter sozialem Mythus versteht Sorel das Bild eines zukünftigen Vorgangs, welches der inneren Tendenz der Massen, ihrem Bedürfnis und Verlangen entspricht und die [zum Handeln,] zum Kampfe, zur Bewegung im genauen Sinn zu veranlassen vermag, wie z. B. das Bild des proletarischen Generalstreiks. Es kommt dabei nicht darauf an, wie Sorel ausdrücklich sagt, ob [der Mythus der dem Bild] ! das Bild einen sei es auch nur partiellen Wirklichkeitsgehalt hat oder nur das Produkt der volkstümlichen Einbildungskraft ist; es kommt einzig auf seine bewegende Kraft an. Ein Generalstreik braucht gar nicht möglich zu sein, oder, wenn er möglich ist, mag er ganz andere Wirkungen hervorbringen als die ersehnte Erneuerung der menschlichen Gesellschaft, entscheidend ist für Sorel, dass sein Bild die Massen zum Kampfe anfeuert; was aus diesem Kampfe hervorgehn wird, ist nicht [abzusehen] ! zu wissen und daher auch nicht zu bedenken. Diese Lehre [, die man mit Recht als »irrationale Illusion der rational Desillusionierten« bezeichnet hat,] verkehrt das Wesen des Mythus [in sein Gegenteil]: aus der sinnlichen, erziehungsartigen Darstellung eines unsinnlichen, unaussprechlichen Geheimnisses, an dessen Wirklichkeit der mythenbildende Mensch glaubt, wird [eine brauchbare Fiktion – brauchbar, weil man auf die Massen in der erwünschten Richtung einwirkt, freilich (so sollte man meinen) nur so lange, als die Massen die Fiktion und die Ungläubigkeit des sie Verwendenden nicht durchschaut haben] ! ein wunderliches Gebilde, das zwar Ausdruck der Gefühle und Tendenzen der Massen und Gegenstand ihres Glaubens ist, aber von dem den Massen im Geist voranschreitenden Menschen als wertvoller Wachtraum erkannt wird. H2 286,2-5 (noch 1934 […] gehen werde)] h(noch 1934 […] gehen werde)i H2 286,5-6 tut einen Schritt […] hinaus] geht einen Schritt weiter, den Schritt H2 286,13-15 , nämlich […] zu verfestigen] h, nämlich […] zu verfestigeni H2 286,15-16 (Mussolini hat […] definiert)] fehlt H2 286,21-22 Es sind Massen] Beginn von h1 286,25 ausgetrieben] [zerschlagen] ! ausgetrieben h1 286, 26 – im Gegensatz […] behauptet –] fehlt h1, H2 286,27 , auch der revolutionären,] fehlt h1, H2 286,33-35 eben von der […] »Nation« verklären] glaubenslos von der Norm verklären. Und der Faschismus erleichtert es einem h1 [ohne Glauben] ! eben von der Norm verklären. Und der Faschismus erleichtert es einem ja H2

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286,35-36 (noch 1910 […] genannt)] h(noch 1910 […] genannt)i H 286,36-37 Obgleich das] Sein Mythus ist »die Nation«, aber mag auch das h1 Sein Mythus ist »die Nation« und ob auch das H2 286,37-38 es ist nichts weiter vonnöten] schliesslich gibt es ja die Nation wirklich, und es ist weiter nichts vonnöten h1 287,3 »Ein Stachel […] sagt Mussolini.] h»Ein Stachel […] sagt Mussolini.i h1 287,5-9 »Wir wollen […] Lebens.«] h»Wir wollen […] Lebens.«i H2 287,7 Pragmatismus] Pragmatisten William James vom Sozialismus H2 287,11 , bis um Mitternacht] fehlt h1 287,13 auf jeden Fall.] Ende von h1 287,15 Ein entscheidender Unterschied] Um der Klärung willen muss ich hier eine Zwischenbemerkung einschalten. Ein entscheidender Unterschied H2 287,16 Totalitarismus] berichtigt auch Totalismus nach H2 287,25-26 um die Gegensätzlichkeit […] zu merken] und man merkt die abgrundtiefe Kluft zwischen zwei Menschenarten, zwischen zwei Daseinsarten H2 287,27 Selbst] Selbst: beide hängen unlöslich zusammen H2 287,30-31 artista formidable] ungeheurer Künstler (artista formidable) H2 288,10 Rom fuhr] ergänzt (an dem berühmten Marsch hat er sich bekanntlich nicht beteiligt) H2 288,13 Histrionenantwort] Schauspielerantwort H2 288,Anm] fehlt H2 288,21 innersten] [engsten] Kreis H2 288,26-27 faktisches […] faktisches] wirkliches […] wirkliches H2 288,30 seine Gesinnung öffentlich enthüllte] [die Wahrheit sagt] ! öffentlich seine Gesinnung enthüllte H2 289,1 öffentlichen oder halböffentlichen] höffentlichen oder halböffentlicheni H2 289,6 zur Kenntnis] [zum Verständnis] ! zur Kenntnis H2 289,7 umgearbeiteten] [verbesserten] ! umgearbeiteten H2 289,7 erheblich] wesentlich H2 289,9-10 dieser Wesensgattung] fehlt H2 289,10-11 von neuem […] erschrecken] [darüber erschrecken] ! von neuem darüber erstaunen und erschrecken H2 289,11-12 Hitler sieht] Hitler sieht [, wie seine eignen Worte ihn uns zeigen] H2 289,12 erfaßt.] [überfallen] ! erfasst. ergänzt nach Absatzwechsel Über jene esoterische Haltung informiert uns die bekannte Gesprächs2

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sammlung von Rauschning, wiewohl wir sie nur mit einiger Vorsicht als Quelle benützen dürfen. Zwar war der Verfasser von den Umständen besonders begünstigt: er war Bundesgenosse Hitlers ohne sein Parteigenosse zu sein und bekam so einerseits Dinge zu hören, die nur für vertraute Ohren bestimmt waren, anderseits blieb für ihn Hitler der Gegenstand unbefangener Beobachtung. Aber er schrieb naturgemäss das Gehörte aus dem Gedächtnis nieder und verlieh ihm dabei offenbar einen aphoristischen Schliff, der Hitlers Sprache fremd ist. An dem Inhalte jedoch scheint er nichts geändert zu haben; weder weist das Gepräge des Geäusserten irgendeine Ähnlichkeit mit Rauschnings eigenem Denkstil auf, noch ist ihm jene ungeheure Phantasie eigen, die solch einen Zusammenhang, solch eine »geistige Figur« ersinnen könnte [, wofür es überhaupt eine solche Phantasie gibt]. Manches wird durch verwandte Stellen in Hitlers Buch »Mein Kampf« und seine Reden beglaubigt, anderes durch andere Publikationen früherer Vertrauter. H2 289,21 sein Befehl] [oder vielmehr, Hitler ist das verbesserte Gewissen, das Gewissen muss bekanntlich oft nachträglich] ! sein Befehl H2 289,23 abgeschafft] abgeschafft, [die lästige Selbstentscheidung, die lästige Selbstverantwortung] ! Selbstentscheidung und Selbstverantwortung sind einem durch die [Einrichtung] ! Tatsache abgenommen, dass man einen »Führer« hat H2 289,26 dem Führer zu überantworten] [auf den Führer zu verlassen] ! dem Führer zu überantworten H2 289,36 anscheinend] [offenbar] ! anscheinend H2 289,38-290,8 Das ist ein Vorgang […] entbindet.«] hDas ist ein Vorgang […] entbindet.«i H2 290,11 Germanen] [Isländer] ! Germanen H2 290,13 ihre Wesensanlage] [ihr Wesen] ! ihre Wesensanlage H2 290,14 bedeutsam] nicht minder bedeutsam und merkwürdig H2 290,28-29 Soweit mir gegenwärtig ist] [Weder bei Machiavelli, noch bei Nietzsche, noch, soweit ich mich erinnere, irgendwo sonst in der indogermanischen Welt.] ! Soweit mir gegenwärtig ist H2 291,4 ausgetilgt werden] soweit es [die Entstehung der grossen Masse behindert, ausgetilgt werden] ! das Zustandekommen der totalen Masse behindert, ausgetilgt werden H2 291,8 1936] berichtigt aus 1919 nach H2 291,8-9 1936 veröffentlichten Aufsatz] Buch »Die Frage an den Einzelnen«, das ich in deutscher Sprache in Deutschland im Jahr 1936 veröffentlicht habe, H2

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291,16 im eigentlichen Sinn gibt es] gibt es [in Wahrheit] ! eigentlich H2 291,23-26 Um »die bisher […] höhere Ordnung] Aber es ist Hitler auch gar nicht um das Volk, es ist ihm letztlich auch nicht um die Nation zu tun. Auch das hat er mit restloser Klarheit formuliert. »Der Begriff der Nation«, sagt er, »ist leer geworden. [Ich habe mit ihm aus zeitgeschichtlich bedingten Gründen noch beginnen müssen] … Ich als Politiker brauche einen Begriff, der es erlaubte, die bisher auf geschichtlichen Zusammenhängen beruhende Ordnung aufzulösen und eine ganz neue antihistorische Ordnung zu erzwingen und gedanklich zu unterstützen … Die Nationen sind die manifesten Formen unserer Geschichte. Also muss ich diese Nationen in eine höhere Ordnung umschmelzen.« Dieser neue Begriff, diese höhere Ordnung H2 291,27-30 auf einem gemeinsamen […] aussehn] auf Blutsverwandschaft, auf gemeinsame Abstammung h, auf einem gemeinsamen […] aussehni H2 291,37-38 Masse, jene der »aktive« […] Nationen] Masse. Unter »Rasse« versteht er den »aktiven« Teil der Nationen, [unter Masse also den passiven] als Masse bleibt der passive, genauer: derjenige H2 291,39-40 ihrer Aktivität zu dienen] an ihrer Aktivität teilzunehmen H2 291,41 werdende] [kommende] ! werdende H2 292,11-12 aber eine faktische […] gibt es nur] es ist unmöglich, mir innerhalb eines gedanklichen Zusammenhangs etwas Konkretes darunter vorzustellen: auch vor der Geschichte gibt es Verantwortung nur H2 292,16 hinein … Die Aufrechterhaltung] hinein. Sie selbst, an der vordersten Spitze der Geschichte, hätten daher, gleichsam wie die Götter, ungerührt von den Begriffen der Masse zu sein. Die Aufrechterhaltung H2 292,18 Verantwortung] Verantwortung [irgendeiner Art und vor irgendeiner Instanz] H2 292,26 Glauben] [Religion] ! Glauben H2 292,29 krampfhaft sich immer wieder darein versetzen] hysterischkrampfhaft H2 292,29-30 in großer Gewißheit] hin Wahrheit,i in grosser Gewissheit H2 292,31-32 Unbedingten […] Unbedingte] Absoluten […] Absolute H2 292,32-33 das Sein des Unbedingten] [die Welt] ! das Sein des Absoluten H2 292,40 Angesicht nackt] Angesicht [ohne Maske] ! [unverschleiert] ! nackt H2

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293,2 Es ist an der Zeit] Im Anblick dieser Abgründe ist es an der Zeit H2 293,2 geschichtlich] allein H2 293,3-4 Damit kann […] gemeint sein.] fehlt H2 293,9 das nennt, woran er glaubt] [nach glaubt] ! das nennt, woran er glaubt H2 293,9-10 Unbedingte […] Unbedingten] Absolute […] Absoluten H2 293,11-12 wie dieser Mensch […] bereit ist] wem der Führer seine Führer verantwortet H2 293,14 Verantwortung ist] Verantwortung ist, [also nicht eine fiktive wie jene »vor der Geschichte«] ! wenn er nur mit seinem ganzen Wesen weiss, dass er im äussersten X verantwortlich ist H2 293,15 Was aber […] ob er] Was ist es aber hvor allemi, was der Führer zu verantworten hat? [Nun, eben dies, dass er wirklich auf das Ziel hinführt.] Nicht ob H2 293,20 schlecht werden läßt] schlecht [macht, mächtig und verderbt mach] ! werden lässt H2 293,21 , mit oder ohne Vorwissen,] fehlt H2 293,21-22 verantworten hat] verantworten hat, sei sie sichtbar oder unsichtbar, H2 293,22 Geführten] Geführten [, der von ihm Verführten] H2 293,26 allmählichen] langsamen und nicht mehr aufzuhaltenden H2 293,27 frevelhaft] frevelhaft, und zwar nicht bloss vom Gesichtspunkt einer allgemeinen Moral aus, sondern von dem des [Wohls] ! Loses seines eigenen Volkes aus H2 293,31-32 der Selbstüberhebung] [Wahn] ! [Wahnsinn] ! [dem Wahnwitz] ! der Selbstüberhebung H2 293,32 zur Selbstzerstörung] [zum Wahnsinn] H2 294,1 eine grell verkleidete] verkleidete H2 294,1-4 Die stärkeren […] ankommen wird.] hDie stärkeren […] ankommen wird.i H2 294,7 In den großen Geschichtsepochen] Die Zeit, in der wir leben, ist nicht, wie [manche] ! so viele zu glauben geneigt sind, eine der grossen Geschichtsepochen, sondern – so Ungeheures auch in ihr geschieht – hin manchen Erscheinungeni ihre Karikatur. Und zwar ist es jene Art von Karikatur, die [auf einem] ! durch Darstellung des Missverhältnisses zwischen der Haltung und dem Gehalt eines Wesens, zwischen seinem Anspruch und [seiner Wirklichkeit] ! seinem Charakter, zwischen seiner Geltung und seinem Werte entsteht. Die grossen Geschichtsepochen H2 294,8 Zeitalter] Zeitalter, ebendem, in dem die Maschinen über die

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Menschen hinausgewachsen sind und sich ihrer gleichsam nur noch bedienen, H2 294,10-12 es durch […] Taten gehören] die sich so halten, als ob sie es wären, die den Anspruch erheben es zu sein, ja die schliesslich als [das Subjekt der Taten] ! die Personen gelten, die zu diesen Werken gehören H2 294,16 drauflos] drauflos, die Situation trieb ihn mit Macht H2 294,16 folgten ihm] folgten ihm, und sie traten gleichsam einen Weg aus – wohin er schliesslich führt, ist eine andere Sache H2 294,17 in dem Mann] die in einer verzweifelten Situation nach Führung schmachtet, dem anhangt H2 294,18-19 das Werkzeug […] Ermächtigten sieht] dass sie in ihm das Werkzeug der Geschichte, den [Boten] ! den Abgesandten und Ermächtigten der Schicksalswende sieht H2 294,20 Kräfte zuwachsen] ungeahnte Kräfte wachsen und dass er, was ihm fehlt, durch seine Haltung verdeckt, auch wohl vor sich selber durch eine innere Haltung H2 294,20 Kern] [Innern] ! Kern H2 294,22 die Welt] [im Antlitz der Welt durch ihn] ! [das Angesicht] ! die Welt H2 294,23-24 Sein […] es schielt] Sein und Schein, um so stärker das Missverhältnis hzwischen Haltung und Gehalti. Dazu kommt aber noch ein anderer karikaturhafter Zug im Gesicht des Zeitalters, der es von jenen Geschichtszeiten unterscheidet: es schielt H2 294,25 Epochen] Zeiten H2 294,27 Epochen] Zeiten H2 294,28-29 Wo solches geschieht] [Es gab Zeiten, in denen die Gewissenlosen, die Grausamen, [die Verbrecher] ! oder die vor den Verbrechen nicht Zurückschreckenden obenauf waren; aber sie besahen sich nicht im Spiegel und riefen entzückt: »Was für herrliche Verbrecher wir sind!«] Wo solches geschah H2 294,29-30 vor dem Spiegel […] Größe] [sich mit ihrer Grösse beschäftigt] ! vor dem Spiegel steht und ihre Grösse bewundert, ist keine grosse Zeit. Der Glaube der [Horden Dschniskhans] ! Truppen Napoleons an ihren Führer hat einen festen Grund; die Propaganda liefert keinen H2 294,32-33 etwas, was ich negatives Charisma] [ein Charisma von oben und ein Charisma von unten] ! etwas, was ich negatives Charisma H2 294,37 Es verfügt über alle Künste der Verstellung] Dieses Streben [beherrscht] ! verfügt über alle Künste der Verkleidung H2

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294,38-295,1 (der Artikel […] aufgenommen)] h(der Artikel […] aufgenommen)i H2 295,5-6 erkennt er] erklärt er den Staat für »ein Absolutum« und erkennt H2 295,8 alles ist] alles ist, offenbart dem Vertrauten, [dass er die Nationen in eine höhere Ordnung verschmelzen will] H2 295,10 Menschenvolk] berichtig aus Menschenwohl nach H2 295,10-12 um die »Auswahl […] herrschen«] als Wirklichkeit bleibt nichts als das Streben nach Macht um der Macht willen, [das Handeln um des Handelns willen] ! die Bewegung um der Bewegung willen, der Betrieb um des Betriebs willen H2 295,19 Was aber bedeutet dies in concreto?] fehlt H2 295,19-22 »Es gibt«, […] Rasse.] h»Es gibt«, […] Rasse.i H2 295,23 Übermensch.«] ergänzt In der Tat hat Nietzsches Schwester Hitler als die Erfüllung von Nietzsches Traum vom Übermenschen begrüsst. Unsere Zeit ist durch die Scheinerfüllung grosser Träume gekennzeichnet. Was sich die begeisterten Träumer erträumten, ersteht vor unseren Augen [als seine eigene] ! leibhaftig – als Karikatur. Und es ist das Mächtige. Es will noch mächtiger werden. »Tatsächlich«, schreibt Hitler in seinem Buch »Mein Kampf«, »ist die pazifistisch-humane Idee vielleicht ganz gut dann, wenn der höchststehende Mensch sich vorher die Welt in einem Umfange erobert und unterworfen hat, der ihn zum alleinigen Herrn dieser Erde macht.« H2 295,28 Trivialpathetik] in unseren Ohren entsetzlich falsch klingenden Pathetik H2 295,35 die (ungenau zitierten) Worte] die Worte, die im übrigen von einer bei einem Philologen wie Nietzsche erstaunlichen Ungenauigkeit zitiert sind H2 295,38 Edlen und Vornehmen] [vornehmen Menschen] ! Edlen und Vornehmen H2 296,3 Nietzsche hat nicht geahnt] Nietzsche, der weder einer der grossen Denker noch ein grosser Dichter, aber ein genialer [Schwärmer] ! Aphorist war, hat nicht geahnt H2 296,8 glauben zu können] glauben zu können. [Diese Ahnungslosigkeit der Wirklichkeit gegenüber ist für Nietzsche charakteristisch.] H2 296,11 künftigen Stunde] kritischen [Situation] ! Stunde H2 296,18 Zauberers kommt.] ergänzt Aber all dies geht letztlich auf die Tatsache zurück, dass Nietzsches Liebe [zum Aphorismus] ! zum aphoristischen Sprengstoff weit grösser als [seine Liebe zur Wahrheit] ! sein Verantwortungsgefühl der Wahrheit gegenüber war. Er

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denkt z. B. über den grossen Menschen offenbar, dass er an keine geltende Meinung gebunden sei; was er aber sagt, lautet: »Die Freiheit von jeder Art Überzeugung gehört zur Stärke seines Willens«, – und damit liefert er dem kleinen, aber gewandten Menschen die erwünschte Rechtfertigung. [In eine vielleicht noch grössere Tiefe der Problematik] ! Seine ganze Lehre vom »Willen zur Macht« ist nur eine ungeheure Simplifikation. Wenn er sagt: »Alles Geschehen aus Absichten ist reduzierbar auf die Absicht der Mehrung von Macht«, verwechselt er Mittel und Zweck: um ihre unendlich verschiedenen Absichten erreichen zu können, streben die lebenden Wesen nach Mehrung ihrer Macht, – aber es ist grundverkehrt, deshalb all die Absichten auf die eine zu reduzieren, die sich zu ihnen dienend verhält. »Rang bestimmend, Rang abhebend«, sagt Nietzsche, »sind allein Macht-Quantitäten, und nichts sonst«; daran ist nur so viel wahr, dass der Rang eines Menschen [hin der Menschenwelti] sich nicht danach bestimmt, was er in der Seele trägt, sondern nach seinem Vermögen, es in die gemeinsame Wirklichkeit einzusetzen, es zu »realisieren«, sei es durch Taten oder durch Werke oder auch nur durch seine persönliche Existenz, die sich seiner Umwelt offenbart. »Macht« ist unerlässlich, aber Macht allein ist gar nichts. [Der grosse Historiker] Burckhardt, von dem Nietzsche manches, aber schlecht, gelernt hat, hat die Macht bekanntlich als »an sich böse« bezeichnet. Aber Macht ist zwar verführerisch, sie ist es öfter für ihren Inhaber selber, böse ist sie damit noch nicht, [sie w i r d gut oder böse] ! [sie ist wesentlich neutral] ! sie ist ja letztlich nichts andres als das innere und äussere Vermögen das zu vollbringen was man vorhat, und ihr Wesen bestimmt sich demgemäss danach was man mit ihr anfängt. Böse, zerstörerisch, zersetzerisch ist dagegen der Wille zur Macht um der Macht willen, der Wille zur Macht als Macht, der leere Machtwille; er reisst Führer und Geführte in den Abgrund. / Burckhardt hat die Problematik unserer Zeit [weit tiefer erkannt] ! [tiefer und] mit grösserem Ernst erkannt als Nietzsche. Er sagte vor siebzig Jahren ein »heftiges Begehr nach grossen Männern« voraus, »und das hauptsächlich im Staat, weil die Dinge in allen grossen Ländern auf eine solche Bahn geraten sind, dass man mit gewöhnlichen Dynastien und Oberbeamten nicht mehr durchkommt, sondern Extrapersonen haben sollte.« »Wenn aber der grosse Mann käme«, fährt er fort, »und nicht gleich in seinen Anfängen unterginge, so ist doch die Frage, ob man ihn nicht zerschwatzen und durch Hohn über ihn Meister würde. Unsere Zeit hat eine zermürbende Kraft. Dagegen ist die Zeit sehr geneigt, sich zeitweise durch Abenteurer und Phanta-

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sten imponieren zu lassen.« Diesen Abenteurern hat Nietzsche dann das besorgt, was er selber »das gute Gewissen« nannte. hEinwände, die in der Richtung auf solch eine Möglichkeit gingen, hat er nie gelten lassen wollen. »Wie?«, lässt er einmal gegen sich einwenden, »heisst das nicht, populär geredet: Gott ist widerlegt, der Teufel aber nicht?« Und er antwortet: »Im Gegenteil, meine Freunde! Und, zum Teufel auch, wer zwingt euch, populär zu reden!« Nun aber ist die Geschichte gekommen und hat selber »populär geredet«.i / Freilich hat Nietzsche zuweilen geahnt, was kommen würde. In einem zu »Also sprach Zarathustra« gehörigen Fragment, das in das Buch nicht aufgenommen worden ist, heisst es: »Vernichten, vernichten sollst du, oh König, die Menschen, vor denen kein Bild herläuft: das sind aller Menschheit schlimmste Feinde!« Wir sehen sie heute die Herrschaft der Welt anstreben, die Menschen, vor denen kein Bild herläuft, die Menschen ohne Idee und ohne Ideal, ohne Glauben und ohne Verantwortung, die Menschen des leeren Machtwillens. / »Ich erkannte sofort«, sagt Hitler von den Protokollen der »Weisen von Zion«, »dass wir dies nachbilden müssten, auf unsere Weise natürlich. Denken Sie diese ewig beweglichen Menschen und wir mit unserem neuen Glauben an die ewige Bewegung, wie so verwandt, und im anderen völlig verschieden. Es gilt wahrhaftig den Entscheidungskampf über das Schicksal der Welt!« In der Tat gilt es einen Entscheidungskampf. Um was geht es im letzten Grunde? Israel bedeutet den Glauben an die eine Wahrheit h, die der Mensch nicht zu erlangen vermag, der es aber dienen darfi. Hitler kann nicht bestehen, wenn [es eine Wahrheit gibt] ! die Menschenwelt eine faktische Verbundenheit mit der einen Wahrheit gilt. Er kämpft gegen sie. Aber [kämpfen wir für sie?] ! wir kämpfen nicht für sie. Wir kämpfen nicht für sie, weil wir nicht mehr an sie zu glauben wagen. Wir wissen nicht mehr, dass es über den Völkern die eine göttliche Wahrheit gibt, der gegenüber sie sich zu verantworten haben. Wir wissen nicht mehr, dass sie von uns fordert, mit unserem eigenen Volksleben das Reich der Gerechtigkeit zu unterbauen. Hitler kämpft wirklich gegen uns, aber wir stellen uns nicht zum Kampf. Unser Kampf müsste vor allem der Erweisung der einen Wahrheit gelten; alle andern Kampfweisen müssten dieser untergeordnet sein und sie nur ergänzen. Die eine Wahrheit lässt sich aber nur erweisen, indem man ihr faktisch dient. Nation ist nicht genug, Sprache ist nicht genug, Land ist nicht genug. Wenn wir und mit nationaler Existenz und nationaler Kultur begnügen, ohne nationalen Dienst am Übernationalen, ohne nationalen Dienst an der einen Wahrheit, hwenn wir unserem Volk kein

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anderes Ziel setzen als sich selbst zu behaupten,i dann bilden wir Hitlers unerwünschten Tross, dann arbeiten wir für ihn, dann sind wir selber ein [Stück der Hitlerei, nur ungeheuer viel schwächer als er] ! elendes Stücklein Hitlerei. Wagen wir es, an die Wahrheit zu glauben und ihr zu dienen, [sind wir unbesiegbar] ! dann sind wir selbständig und unüberwindlich. Hitler kann Judenmassen umbringen, aber Israel nicht und Zion nicht, [w e n n s i e l e b e n ] ! w e n n s i e w i r k l i c h d a s i n d . Die Völker, die den gegenwärtigen Krieg führen, werden, das ist unsere Hoffnung, Hitler besiegen; aber um seine S a c h e , d. h. seine L ü g e zu besiegen, um zu verhüten, dass sie nach seinem Sturze in anderer Gestalt auf die anderen Völker übergreifen und das Menschengeschlecht zersetze, bedarf es eines anderen Einsatzes. hDer Einsatz heisst: als Israel, dem Sinn und der Bestimmung von Israel nach, in Zion, den Sinn und der Bestimmung von Zion nach, zu leben. Sind wir imstande, diesen Einsatz zu leisten?i H2 Wort- und Sacherläuterungen: 285,Anm 2 In einer […] veröffentlichten Rede.] Es handelt sich um eine Gedenkrede für Achad-Haam, die Buber »in der Eröffnungssitzung des XV. Zionistenkongresses am 30. August 1927 gesprochen« hat. Vgl. Martin Buber, Achad-Haam-Gedenkrede in Basel, in: ders., Kampf um Israel, Berlin: Schocken Verlag 1933, S. 150-163, hier S. 153 f. (jetzt in: MBW 20, S. 50-56, hier S. 51 f.). 286,2 »socialismo alla Sorel«] Der Ausdruck stammt aus der 1922 veröffentlichten Abhandlung Il fascismo nella vita italiana des antibolschewistischen, nationalistischen Intellektuellen und Vorläufers des Faschismus Pietro Gorgolini (1891-1973). Das Buch, das mit einer Vorrede von Benito Mussolini versehen war, wurde auch von antifaschistischen Kommentatoren, wie z. B. Piero Gobetti (1901-1926), als Darlegung eines nicht extremistischen, linksorientierten Faschismus betrachtet. Von Il fascismo nella vita italiana erschienen viele Ausgaben und fremdsprachige Übersetzungen. »Mussolini, in poche parole, non è contro il socialismo che tende alla graduale e lenta conquista dei maggiori diritti e delle migliori forme di esistenza per le masse. Il suo potrebbe definirsi ›socialismo alla Sorel‹.« Pietro Gorgolini, Il fascismo nella vita italiana, con prefazione di Benito Mussolini, Torino 1922, S. 22. Georges Eugène Sorel (1847-1922) war ein französischer Philosoph und Theoretiker des revolutionären Syndikalismus. Seine Schriften waren Mussolinis beliebteste Lektüre. 286,3 einer seiner engsten Mitarbeiter] Nicht ermittelt.

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286,7-10 »Wir haben«, […] »Unser Mythus ist die Nation«] »Noi abbiamo creato il nostro mito. Il mito è una fede, è una passione. Non è necessario che sia una realtà. È una realtà nel fatto che è un pungolo, che è una speranza, che è fede, che è coraggio. Il nostro mito è la Nazione«. Benito Mussolini, Discorso a Napoli, in: Opera omnia, hrsg. von Edoardo u. Duilio Susmel, Firenze 1963, Bd. 18, S. 457. Die Rede wurde am 24. Oktober 1922 von Mussolini im Theater San Carlo in Neapel am Jahrestag der italienischen Niederlage von Caporetto und einen Tag vor dem Marsch auf Rom gehalten. 286,15-16 Mussolini hat ja selber in einer Kammerrede die Revolution als »den festen Willen, die Macht zu behalten«, definiert] Vor der Abgeordnetenkammer (Camera dei deputati) unter dem Vorsitz des Liberalen Enrico de Nicola (1877-1959) behauptet Mussolini am 15. Juli 1923 bei der Diskussion über das sogenannte Acerbo-Wahlgesetz, das am Ende der Sitzung verabschiedet wird: »Noi abbiamo lasciato molti morti sulla strada di Roma, e naturalmente ognuno, che si faccia delle illusioni, è uno stolto. Il potere lo abbiamo e lo teniamo. Lo difenderemo contro chiunque. Qui è la rivoluzione: in questa ferma volontà di mantenere il potere.« Benito Mussolini, Discorso alla Camera dei Deputati del 15 luglio 1923, in: Opera omnia, Bd. 19, S. 314. 286,35-36 »eine auf einem Misthaufen aufgepflanzte Fahne«] Am 27. September 1911 nahm der noch für die sozialistische Bewegung tätige Mussolini zusammen mit seinem republikanischen Freund Pietro Nenni (1891-1980) an einer Demonstration gegen das von der Regierung des Liberalen Giovanni Giolittis (1842-1928) ausgeführte afrikanische Kolonialunternehmen, insbesondere gegen den für die Eroberung der lybischen Gebiete Kyrenaika und Tripolitanien geführten italienisch-türkischen Krieg, teil. Bei dieser Gelegenheit behauptete er, die italienische Trikolore sei »uno straccio da piantare su un mucchio di letame«. Wegen dieser Behauptung wurde er am 14. Oktober 1911 inhaftiert und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. 287,5-9 »Wir wollen […] Realität des Lebens.«] »Ci sono i termini dell’eterno conflitto fra l’idealismo e l’utilitarismo, tra la fede e la necessità. Che importa al proletario di capire il socialismo come si capisce un teorema? E il socialismo è forse riducibile a un teorema? Noi vogliamo crederlo, noi dobbiamo crederlo, l’umanità ha bisogno di un credo. È la fede che muove le montagne perché dà l’illusione che le montagne si muovano. L’illusione è, forse, l’unica realtà della vita.« Benito Mussolini, Opera omnia, Bd. IV, S. 173-174. Der Auszug ist dem am 18. Juni 1912 in der sozialistischen Zeitung L’Avanti, des-

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sen Direktor Mussolini von 1912 bis 1914 war, veröffentlichten Artikel »Da Guicciardini a … Sorel« entnommen. 287,30-31 ein artista formidabile] Am 21. Juni 1921, in seiner ersten Rede als Abgeordneter in der Kammer nach den Wahlen desselben Jahres (15. Mai 1921) bezeichnete Mussolini Lenin als Künstler, indem er vom Kommunismus sprach: »Quel grande, quel formidabile artista (non già legislatore) che risponde al nome di Vladimiro Ulianoff Lenin, quando ha dovuto foggiare il materiale umano, si è accorto che esso è più refrattario del bronzo e del marmo.« Benito Mussolini, Scritti e discorsi, Bd. II, Milano 1934, S. 205. 288,3-5 »das Evangelium […] gesungen worden ist«.] Max Stirner (Pseudonym für Georg Caspar Schmidt, 1806-1856): Philosoph und Journalist. Seine Anfänge als linksorientierter Junghegelianer überwand er, indem er sich vom deutschen Idealismus distanzierte und die Dimension des »inneren Jenseits« entdeckte. Den derart neu geschaffenen Menschen nennt Stirner den »Eigner« (oder den »Egoisten«), eine Gestalt, die im Mittelpunkt seines Denkens steht und auf der er sein bekanntestes Werk Der Einzige und sein Eigentum (Leipzig: Wigand 1845) basiert. Der Egoismus, der Amoralismus und der Individualismus, die die Grundlage von Stirners Philosophie bilden, sind Bestandteil des anarchistischen Denkhorizonts, aber sie legitimieren auch dessen Kehrseite, d. h. den Autoritarismus und den absoluten Dezisionismus, so dass Stirner zahlreiche Anhänger unter konservativen und reaktionären Denkern fand. Mussolini war ein begeisterter Leser Stirners, der zusammen mit Ferdinand Lassalle, Georges Sorel, Auguste Blanqui und Louis Blanc eine der Hauptquellen seines jugendlichen Sozialismus war. Noch als Diktator ließ Mussolini die italienische Übersetzung (L’Unico e la sua proprietà) des Hauptwerks Stirners zu. 288,7-8 »Die Idee«, […] in einem.«] Nicht nachgewiesen. 288,9-12 »Auf die Frage […] eines Künstlers«] Mussolini hat immer die ästhetische Dimension des Faschismus hervorgehoben. Im Hinblick auf den Faschismus spürte er schon seit den Anfängen der Bewegung die Möglichkeit, die Rolle eines politischen Künstlers zu spielen und die Wichtigkeit einer ästhetischen Politik. Emil Ludwig (1881-1948) – ein bekannter deutscher Journalist, der Mussolini zwischen dem 23. März und dem 4. April 1932 eine Stunde pro Tag interviewte – fragte ihn bezüglich des Marsches auf Rom, ob er sich auf seiner Reise nach Rom mehr als Künstler, dessen künstlerische Laufbahn am Beginn stand, oder als Prophet, der seiner Mission folgte, gefühlt habe. (Vgl. Emil Ludwig, Colloqui con Mussolini, Milano 1932, S. 96)

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Darauf antwortete Mussolini: »Als Künstler«. Vgl. hierzu Simonetta Falasca Zamponi, Lo spettacolo del fascismo, Soveria Mannelli 2003, S. 35. 288,Anm Rauschnings Mitteilungen] Hermann Rauschning (18871982), dt. Politiker und Autor. Buber zitiert hier aus Hermann Rauschnings Buch Gespräche mit Hitler, das 1939 unter dem Titel Hitler m’a dit in Frankreich und ein Jahr später in der Schweiz erschien. Rauschnings Buch wurde bis in die 1980er Jahre auch von namhaften Historikern als Standardquelle herangezogen. Heute gilt die Ausgabe als nicht zitierfähig, weil Rauschning selbst Hitler ausschließlich im Kontext seiner Position als Senatspräsident der Freien Stadt Danzig begegnete und nie persönliche Zwei-Augen-Gespräche mit ihm führte. Die Wiedergabe von Positionen Hitlers gilt allerdings als sehr gelungen und wird durch andere Quellen gestützt. 288,23 Eroberung von Addis Abeba] Es wird hier auf die italienische, völkerrechtswidrige Eroberung Äthiopiens im Abessinienkrieg (2. Oktober 1935 – 9. Mai 1936) Bezug genommen. Der Krieg endete mit der proklamierten Annexion Abessiniens durch das faschistische Italien, die bis 1941 dauerte. 288,24-25 »Ich bin mit euch, weil ich weiß, daß ihr mit mir seid.«] Nicht nachgewiesen. 288,25-26 »Ich bin mit euch wie ihr mit mir«] Nicht nachgewiesen. 289,17-18 »Ich habe […] Adolf Hitler«] Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, S. 77. 289,28-29 »Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung«] Ebd., S. 210. 289,33-34 »Das Gewissen«, […] eine Verstümmelung des menschlichen Wesens.«] Ebd. 290,2-3 Hitler selbst, […] er sei »mehr noch als Religion«] »Wer den Nationalsozialismus nur als politische Bewegung versteht, weiß fast nichts von ihm. Er ist mehr noch als Religion: er ist der Wille zur neuen Menschenschöpfung.« Ebd., S. 232. 290,5-8 »An die Stelle des stellvertretenden […] entbindet.«] Ebd., S. 212. 290,19-27 »Der Ausdruck ›Verbrecher‹ […] […] befreien.«] Ebd., S. 211 f. 290,31 Pseudomessias Jakob Frank] Jakob Josef Frank, eigentl. Jankiew Lebowicz (1726-1791), Gründer des Frankismus, einer sabbatianischen Religionsgemeinschaft in Osteuropa. Seine Lehre war von einem radikalen Antinomismus geprägt. 1759 trat er mit etlichen seiner Anhänger zum Katholizismus über. Mit seiner Gestalt setzt sich Buber intensiv im Kapitel »Die Anfänge« in Die chassidische Bot-

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schaft auseinander. Dieses Kapitel ist ungefähr zeitgleich mit »Volk und Führer« entstanden. Buber bezeichnet Frank darin als »›die vollkommene Lüge‹«, was nicht bedeutet er sei ein »Betrüger«, sondern wie Buber weiter erklärt: »unter ›Lüge‹ verstehe ich hier nicht etwas, was der Mensch sagt oder tut, sondern was er ist; dieser Mensch ist nicht ein Lügner, sondern er ist Lüge.« Buber, Die chassidische Botschaft, Heidelberg: Lambert Schneider, S. 40 (jetzt in: MBW 17, S. 259). 290,31-35 »Ich bin […] Schritt um Schritt.«] Nicht nachgewiesen. 290,38-291,2 »Was haben wir […] Menschen.«] Rauschning, Gespräche mit Hitler, S. 181. 291,5-6 Ich mische das Volk«, sagt Hitler. »Ich spreche zu ihm als Masse!«] Ebd., S. 198. 291,8-9 1936 veröffentlichten Aufsatz] Martin Buber, Die Frage an den Einzelnen, Berlin: Schocken Verlag 1936. 291,10-15 »An dem Ort, wo er steht […] finden und wiederfinden.«] Ebd., S. 58 (jetzt in: MBW 4, S. 177). 291,23-26 »die bisher […] umschmelzen«] Rauschning, Gespräche mit Hitler, S. 219. 291,32 »die neue Auslese«] Ebd., S. 219. 291,32-34 »Ich werde […] darstellt«] Ebd. 292,3 »Es gibt kein fest fixiertes Ziel«] Ebd., S. 175. 292,6-7 »Es gibt«, sagt Hitler, »keine Wahrheit, […] Sinn.«] Ebd., S. 210. 292,11»der Geschichte verantwortlich«] Nicht nachgewiesen. 292,13-17 »Die vor der Geschichte Verantwortlichen […] Handelns sein.«] Rauschning, Gespräche mit Hitler, S. 257. 292,24 Jakob Frank] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 290,31. 292,24-26 »Ich sage […] müssen ohne Glauben sein.«] Nicht nachgewiesen. 293,23 Ranke] Franz Leopold von Ranke (1795-1886): dt. Historiker und Klassiker der Geschichtsschreibung. 293,23 Machiavelli] Niccolò di Bernardo dei Machiavelli (1469-1527): ital. Philosoph, Politiker, Diplomat, Schriftsteller und Dichter. 293,35-38 »Es war ein frivoles Wort, […] Verantwortung ist.«] Walther Rathenau, Der Höhepunkt des Kapitalismus. Vortrag in der Deutschen Hochschule für Politik am 27. April 1921, in: ders., Gesammelte Reden, Berlin 1924, S. 153-189, hier S. 187. 294,26-27 »Ja, wir sind Barbaren! Wir wollen Barbaren sein!«] Rauschning, Gespräche mit Hitler, S. 78. 294,31-32 Max Weber hat das Geheimnis […] bezeichnet] Max Weber,

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Wirtschaft und Gesellschaft, in Grundriss der Sozialökonomik, 3. Abteilung, Tübingen 1922, S. 140 ff. 295,1-3 »Ich gehe vom Individuum […] von morgen!«] Zitat aus Mussolini, Il Popolo d’Italia, vom 6. April 1922. 295,4-5 »Auf welchen Wegen wird der Fascismus Staat werden? Wir wollen Staat werden!«] Nicht nachgewiesen. 295,6-7 »als es mit dem Staat übereinstimmt«] Nicht nachgewiesen. 295,10-12 »Auswahl […] zu herrschen«] Nicht nachgewiesen. 295,13-15 »Bei uns«, […] Ziel kennt«] Zitiert nach Otto Strasser, Hitler und Ich, Buenos Aires 1940, S. 104. 295,19-21 »Es gibt«, […] höhere Rasse.«] Nicht nachgewiesen. 295,26-28 »Der Mensch wird Gott«, […] werdende Gott.«] Rauschning, Gespräche mit Hitler, S. 232. 295,30-31 »Den Platz Gottvaters?« äußerte er, »ach, ich möchte ihn nicht – das ist eine Sackgasse!«] Ein Bonmot Napoleons, zitiert z. B. bei Georges Lefebvre, Napoleon, hrsg. von Peter Schöttler, Stuttgart 2003, S. 61. 295,32-33»Im Theages […] wieder da sein.«] Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Frühjahr bis Herbst 1884, in Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin u. New York 1974, Bd. VII.2, S. 44. Geltung und Grenze des politischen Prinzips Am 1. Dezember 1951 hat das Preiskuratorium der »Stiftung F. V. S. zu Hamburg« beschlossen, Martin Buber den Hansischen Goethe-Preis zu verleihen, der »zur Förderung übernationaler Gesinnungen und humanitärer Bestrebungen« ausgeschrieben war. Hinter dem Kürzel, wie es in der Verleihungsurkunde erscheint, verbarg sich eine von dem Industriellen Alfred Toepfer (1894-1993) finanzierte und initiierte Stiftung, die ihren Namen von dem preussischen Reformer Freiherr vom Stein (1757-1831) ableitete. Die bereits 1931 gegründete, öffentlich aber wenig bekannte Stiftung war auch während der Nazizeit aktiv und bildete einen Bestandteil des von Toepfer geknüpften umfangreichen Netzwerks von Stiftungen, die unter dem Deckmantel der Kulturarbeit einerseits Devisen für das Dritte Reich besorgten, andererseits europaweit Kontakte zu den verschiedenen nationalsozialistischen Bewegungen etablieren und eine pangermanisch-völkische Politik propagieren sollten. Nach einer Neuorientierung wurden seit 1950 durch die Stiftung Kulturpreise mit einer nunmehr humanistischen Ausrichtung finanziert.

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Zum ersten Mal wurde der Preis im Jahr 1950 an Carl Jacob Burckhardt verliehen. Für 1951 hatte das Kuratorium zunächst den amerikanisch-englischen Dichter T. S. Eliot (1888-1965) als Preisträger ins Auge gefasst. Dieser Vorschlag wurde jedoch aufgrund der Tatsache, dass T. S. Eliot den Nobelpreis für Literatur im Jahre 1948 bekommen hatte, schließlich abgelehnt. Des Weiteren wurden die Namen von Albert Schweitzer und Ernst Jünger (1895-1998) in die Diskussion eingebracht, schließlich auch der von Martin Buber. Kuratoriumsvorsitzender war damals der Reformpädagoge Wilhelm Flitner (1889-1990), den Buber aus dem Jahre 1924 kannte, als er in Jena auf dessen Einladung hin Vorträge gehalten hatte. (Vgl. Martha Friedenthal-Haase u. Ralf Koerrenz [Hrsg.], Martin Buber: Bildung, Menschenbild und Hebräischer Humanismus, S. 197.) Ein weiteres Mitglied des Kuratoriums war der langjährige Freund und Vertraute Bubers, der katholische Sozialphiloph Ernst Michel. Zwischenzeitlich wandte sich der Stifter Alfred Toepfer in der Diskussion an den Kuratoriumsvorsitzenden Flitner mit der Bemerkung: »… ich höre, daß das Kuratorium des Hansischen Goethe-Preises zu keinem rechten Schluß kommt bezüglich des diesjährigen Preisträgers. Ich habe mir selbst darüber Gedanken gemacht. Vielleicht darf ich Ihnen dies kurz sagen: Es ist vielleicht doch ein klein wenig zu früh, heute deutscherseits den Preis einem Angehörigen der Staaten, mit denen wir im Krieg waren, dazu rechne ich auch Israel, zu übergeben. Man sollte hier doch wohl warten, bis der Friedensschluß oder ein de jure oder de facto Friedenszustand geschaffen ist.« (Susanne Hornfeck, Der Hansische Goethe-Preis 1949-1999, Hamburg 1999, S. 22 f.). Toepfer legte stattdessen nahe, »Persönlichkeiten von europäischer Bedeutung aus dem neutralen oder gesamtdeutschen Raum« zu wählen (ebd., S. 23). Dennoch kam das Kuratorium am Ende zu dem Ergebnis: »Weitaus an erster Stelle ist als Preisträger Martin Buber wegen seiner weltweiten geistigen Wirkung vorzuschlagen.« (Ebd., S. 23.) Der damalige Rektor der Hamburger Universität, der Gräzist Bruno Snell (1896-1986), teilte daraufhin Buber in einem Brief vom 7. Dezember 1951 mit: »Ich habe die hohe Ehre und die Freude, Ihnen mitzuteilen, daß das Preiskuratorium des Hansischen Johann Wolfgang v. Goethe-Preises, der seit dem vorigen Jahr alljährlich von der Universität Hamburg verteilt wird, einstimmig beschlossen hat, den Hansischen Johann Wolfgang v. Goethe-Preis in DM 10 000 für das Jahr 1951 an Sie zu verleihen.« (B III, S. 297.) Snell begründete die Entscheidung damit, dass die Stiftung Bubers »hohe wissenschaftliche Leistung, vor allem aber [sein] Wirken im Sinne einer echten Humanität« würdigen wolle. (Ebd.) Buber hielt sich damals zu einer Vortragsreise in den USA auf (vgl. den

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Kommentar zu »Hoffnung für diese Stunde«, in diesem Band, S. 580) und antwortete am 22. Dezember 1951 aus New York, er nehme die Ehrung »dankbar« an, könne den Preis zur Zeit aber nicht persönlich entgegennehmen. (B III, S. 298.) In diesem Brief kommt zugleich auch ein gewisser Vorbehalt Bubers gegenüber der Preisverleihung zum Ausdruck, wenn er bemerkt, dass diese Ehrung »eine Art von Bekennntnissen aber eben von überperönliche[n], ja gleichsam institutionelle[n] Bekenntnisse[n]« sei: »So sei es mir gestattet, sie zu begrüßen, wie man ein Sinnbild grüßt.« Schon Bruno Snell hatte in seinem Brief die wahre Identität des Stifters nicht erkennen lassen, als er feststellte, dass der Goethe-Preis »von einer Hamburger Kaufmannsfamilie, die nicht genannt zu werden wünscht«, gestiftet worden sei. (Ebd., S. 307.) Hierbei mag eine Rolle gespielt haben, dass einigen der Kuratoriumsmitglieder bewusst war, dass Alfred Toepfer der Volkstumsideologie des Nationalsozialismus nahe gestanden hatte. Diese Verwicklungen des Stifters wurden allerdings erst in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts publik. »Der Hauptvorwurf lautet auf enge Bindungen Alfred Toepfers an das ›Dritte Reich‹ : Er habe das nationalsozialistische Regime ideell und materiell unterstützt; spezialisiert auf Aktivitäten in der ›Deutschtums‹- Politik, habe er den Zielen der Nationalsozialisten eifrig gedient; und er habe sich bei deren kriminellen Unternehmungen als aktiver und überzeugter Komplize verhalten.« (Einleitung, in: Alfred Toepfer Stifter und Kaufmann. Bausteine einer Biographie – Kritische Bestandsaufnahme, hrsg. v. Georg Kreis, Gerd Krumeich, Henri Ménudier, Hans Mommsen, Arnold Sywottek, Hamburg 2006, S. 9.) Allerdings hatte Buber schon in einem früheren Artikel, seine Weigerung, öffentlich vor einem allgemeinen deutschen Publikum zu sprechen, durchaus mit den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland begründet: In dem »Nachtrag zu einem Gespräch«, den er in der Neuen Zeitung am 21. Februar 1951 (jetzt in: MBW 21) veröffentlichte, erklärte Buber, warum er es »abgelehnt habe«, »in Deutschland öffentlich zu reden«: »es geschah weil für mich seit dem, was von deutschen Menschen, sowohl als Massen wie einzelnen, in der Hitler-Zeit den Juden angetan worden ist, – dem Ungeheuren, dem sogar in der Weltgeschichte des jüdischen Märtyriums nichts verglichen werden kann – der Deutsche als Vielheit, als Menge, als öffentliches Wesen gesichtslos geworden ist. Ich aber kann nur zu Menschengesichtern reden.« Diese Argumentation wiederholt Buber in seinem Brief an Bruno Snell aus Los Angeles vom 25. Januar 1952, in dem er begründet, warum er bei der öffentlichen

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Preis-Verleihung einem gesichtslosen Publikum von Deutschen nicht gegenübertreten könne. (B III, S. 309 f.) Diese Weigerung ist auch im Zusammenhang zu sehen mit den außerordentlich heftigen Auseinandersetzungen, die zur gleichen Zeit in Israel durch die Gespräche zwischen Ben-Gurion und Konrad Adenauer über deutsche Wiedergutmachungsleistungen ausbrachen und zu gewalttätigen Demonstrationen führten. (Vgl. Dan Diner, Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage, München 2015.) Am 19. Dezember 1951 wurde in der Knesset über Bubers Annahme des Preises debattiert, wobei »der Abgeordnete Mordechai Nurock (von der religiös-zionistischen Partei Misrachi) in der Knesset ans Rednerpult [trat], um die Tatsache anzuprangern, dass ›ein Professor der Hebräischen Universität‹ einen Preis in Deutschland annimmt« (Bourel, Martin Buber, S. 596). Einen Tag später warf der Kommentator der Zeitung Ha-aretz Buber vor, den Preis vor allem aus finanziellen Interessen angenommen zu haben. (Vgl. MBW 6, Kommentar zu »Das echte Gespräch und die Möglichkeit des Friedens«, S. 169.) Gegen diese öffentlichen Anwürfe setzte sich Buber in einer »Erklärung für die Zeitungen« zur Wehr, in der er sich an die jüdischen englisch- und hebräischsprachigen Zeitungen wandte und seine Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass er mit der Annahme des Preises die humanitären Bewegungen in Deutschland stärken würde. (Vgl. die hier im Anschluss abgedruckte [Erklärung für die Zeitungen], S. 629 f. Sie wurde u. a. veröffentlicht in Ha-aretz am 30. Dezember 1951, in The Jewish Chronicle und in der Jerusalem Post am 1. Januar 1952.) Unterstützung erhielt Buber von seinen Freunden. So stärkte ihm Gershom Scholem in Ha-aretz am 30. Dezember 1951 mit einem Leserbrief den Rücken, in dem er feststellte, »dass die Zeit für einen Versöhnungsakt noch nicht gekommen sei, dass man aber einen solchen Willen zur Wiedergutmachung nicht entmutigen solle« (Vgl. Bourel, Martin Buber, S. 596). Ähnlich argumentierte Werner Senator in seinem Brief vom 19. Januar 1952 an Buber: »Ich habe natürlich die Debatte in Haaretz verfolgt und ich hoffe sehr, daß Sie inzwischen den mutigen Brief von Scholem an den Haaretz gesehen haben. […] Nachdem ich […] all den Unflat gelesen habe, der da veröffentlicht wurde, muß ich sagen, daß Sie offenbar doch den richtigen Instinkt gehabt haben, nämlich, daß der Kampf gegen den bornierten und aggressiven Nationalismus dieser Zeit vielleicht gerade durch solche provokativen Akte geführt werden muß.« (B III, S. 308 f.) Auch auf seiner Amerikatournee war Buber persönlichen Angriffen ausgesetzt. In einer anonymen Polemik, geschrieben auf einer Ein-

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ladungskarte zu einem Vortrag Bubers im Fairfax Temple in Los Angeles am 21. Februar 1952, die sich im MBA erhalten hat, wird Buber verflucht: »How do you find the courage to speak in Front of Jewish People, after having taken on the German Goethe Price? How could you take a ›Preis‹ from the murderers of millions of your fellow Jews? I and many others hope to God that one day you will get your just reward for doing so and that the souls of these innocent dead will haunt you night and day, Professor Martin Buber!!!« (MBA Arc. Ms. Var. 350 01 26 a-c.) Am 24. Juni 1953 nahm Buber »Medaille und Urkunde des Hansischen Goethe-Preises« im Großen Festsaal des Hamburger Rathauses entgegen. In der Urkunde wurden die Verdienste des Preisträgers für die Neudeutung der biblischen Glaubenswelt und die Vermittlung des religiösen Gehalts des Chassidismus »an die Welt des Abendlandes« gewürdigt und seine Person dafür gepriesen, dass er »als Lehrer stets, auch unter Gefahren und Opfern, für eine Verständigung unter den Menschen mutig eintrat«. (Gedenkschrift zur Verleihung des Hansischen GoethePreises 1953, S. 8). Die Laudatio hielt Bruno Snell, der Rektor der Hamburger Universität, der seine Ansprache mit der Frage beendete, »ob wir es wagen dürften, einem Angehörigen des Volkes eine Ehre anzubieten, das so Unmenschliches durch Deutschland erlitten hat. Martin Buber war großmütig und menschlich und nahm den Hansischen GoethePreis an; wir fühlten uns beschenkt und beglückt dadurch. Hierfür danken wir ihm heute von Herzen.« (Ebd., S. 7.) Anschließend hielt Buber seine Festrede »Geltung und Grenze des politischen Prinzips«. Das Preisgeld von 10 000 DM spendete Buber für die Verständigung von Arabern und Juden. Es floss der von ihm gegründeten Zeitschrift Ner zu. In der »Gedenkschrift«, S. 3 f., findet sich ein Text, der die Übergabe des Preises und dessen programmatische Ausrichtung wiedergibt: »Am Nachmittag des 24. Juni 1953 wurde im Großen Festsaal des Hamburger Rathauses – in Anwesenheit des Bürgermeisters und des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg, der Dekane der Universität, der konsularischen Vertreter des Auslandes und eines großen Hörerkreises aus allen Berufen und Konfessionen – der Hansische Goethe-Preis 1951 der Stiftung F. V. S. an Professor Dr. Martin Buber, Jerusalem, durch den Rektor der Universität Hamburg, Professor Dr. Snell, feierlich überreicht. Der Hansische Goethe-Preis, wie die Stiftung F. V. S. selbst von einem Hamburger Kaufmann geschaffen, ist kein Literaturpreis; er ist vielmehr als Ehrung für Persönlichkeiten bestimmt, die in hervorragender Weise

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zur Förderung übernationaler Gesinnung und humanitärer Bestrebungen beigetragen haben. Des näheren geht es um ein solches humanitäres Wirken, das für die Rettung und Erneuerung von Kultur und Menschlichkeit nach den schweren inneren und äußeren Einbußen der Kriegsund Nachkriegsjahre in besonderer Weise sich als lebenswichtig erwiesen hat. Dieser Preis wurde zum ersten Male im Jahre 1950 an Professor Dr. Carl J. Burckhardt (Schweiz), dem einstigen Völkerbundskommissar in Danzig und späteren Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, verliehen, 1951 Professor Dr. Martin Buber zuerkannt, 1952 Professor Dr. Eduard Spranger, Tübingen, und für 1953 dem evangelischen Bischof Eivind Berggrav, Oslo, überreicht. Da die feierliche Preisverleihung an Martin Buber im Jahre 1951 aus äußeren Gründen nicht möglich war, wurde sie 1953 nachgeholt. Wie stark die Bedeutung Martin Bubers für die Rettung und Erneuerung der religiösen, geistigen und sozialen Substanz der abendländischen Völkerwelt heute in maßgeblichen Kreisen erkannt und anerkannt wird, hat sich nicht nur anläßlich der Hamburger Goethe-Preis-Verleihung gezeigt, sondern bekundet sich auch in den anderen Ehrungen, die Martin Buber in diesem Jahr zuteil wurden: Kurz nach der Hamburger Feier nahm er in der schottischen Universität Aberdeen die Würde eines Ehrendoktors der theologischen Fakultät in Empfang; im September dann in Frankfurt am Main den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der ihm nach Albert Schweitzer und Romano Guardini als drittem Preisträger verliehen wurde. Dieses Heft bringt neben der Ansprache von Professor Dr. Bruno Sarell den Festvortrag des Preisträgers über das Thema ›Geltung und Grenze des politischen Prinzips‹.« Darauf folgend wird in der »Gedenkschrift«, S. 5-7, die Ansprache des Rektors Professors Dr. Bruno Snell zur Preisverleihung abgedruckt: »Es gibt Zeiten, in denen das Überkommene so fragwürdig ist und die so viel an Programmen, an Heilsideen und Weltverbesserungsgedanken auf den Markt bringen, daß es fast unmöglich scheint, ohne moralischen Defekt hindurchzukommen. Wenn der Geist weiß, daß es verschiedene Formen des Lebens, verschiedene Wege des Heils gibt, neigt er dazu, mit den Möglichkeiten zu spielen. Desto beglückender ist es, in solchen Zeiten Menschen zu begegnen, denen ihr weites Wissen und ihre umfassende Bildung nicht das Handeln verwirrt oder lähmt, sondern im Gegenteil dazu hilft, das Rechte fest ins Auge zu fassen und ihm unbeirrt nachzugehen. Wie ein Weiser aus alter Zeit steht ein solcher Mensch unter uns.

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Es gehört wohl zweierlei dazu, um solche Weisheit zu erreichen: sich einer geistigen Tradition anzuvertrauen und dem Tag aufgeschlossen zu sein. Als Martin Buber vor bald 40 Jahren die Legenden des Baalschem veröffentlichte und als er die Geschichten des Rabbi Nachman dem Gedächtnis seines Großvaters Salomon Buber, dem »letzten Meister der alten Haskala« widmete, da wurde uns eine merkwürdige Welt lebendig. Im 18. Jahrhundert, also noch in jüngster Zeit, entstand eine ostjüdische Sekte, die Chassidim, die uns wie die letzte Blüte mittelalterlichen Denkens anmutet. Ihr Meister, der Baalschem, wächst heraus aus der uralten theologischen Tradition der Schriftauslegung, aber die Legenden, die sich um seine Gestalt ranken, finden den Weg zurück zu dem einfachen Wort und der einfachen Handlung, zu dem zugleich Volkstümlichen und Tiefen, das gerade das 18. Jahrhundert als das Natürlich-Ursprüngliche anzusehen geneigt war, das in Wahrheit aber eher das Produkt einer hohen Kultur und alter Weisheit ist. Wir wissen aus der Selbst-Biographie des Salomon Maimon, der eben diesem 18. Jahrhundert entstammte, wie im östlichen Judentum die Schriftgelehrten hoch geehrt und unterstützt wurden, so daß sie die größten Familien zu haben pflegten und dort eine hohe Intelligenz geradezu gezüchtet wurde, eine Intelligenz, die vor der Emanzipation der Juden noch abseits blieb von den neuzeitlichen Betätigungsfeldern der Wissenschaft, der Technik, der Politik und der Kunst. Es ist kein Zufall, daß Martin Buber in seiner Jugend anknüpfte an den Chassidismus, der in seinen Ausläufern bis in unsere Tage hineinreichte, der noch die theologischen Diskussionen seines Großvaters bewegte. Hier konnte er etwas als lebendig existierend begreifen, was sonst fast verloren und verschüttet war, eine unmittelbare und echte Religiosität. Die Legenden des Baalschem und die Schriften Bubers über den Chassidismus haben deswegen bei uns so stark gewirkt, weil auch die christliche Kirche ein eigenes Anliegen darin ausgesprochen fand, eine Frömmigkeit, der christlichen wesensverwandt und doch so verschieden, daß sie erst recht dazu führen mußte, sich auf das Wesentliche und Eigentliche im Glauben und Hoffen zu besinnen. Buber wirkte daher mit der von ihm erneuerten chassidischen Mystik durch alle Konfessionen hindurch. Buber hat in einer Zeit, die die Aufklärung und die neuesten Errungenschaften vielfach leid geworden war, aus der bis in seine Tage hineinreichenden religiösen Tradition seines Volkes Kraft und Sicherheit gezogen. Weil er sich als Glied dieser langen, geistigen Ahnenreihe fühlen konnte, war er davor geschützt, künstlich oder krampfhaft Archaisches wieder zu beleben. Daneben aber war er, der 1878 in Wien Geborene,

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von Jugend an vertraut mit dem modernen westlichen Denken, und als Dozent der Universität Frankfurt, als Verfasser wichtiger religionswissenschaftlicher und philosophischer Werke, als Freund in einem Kreis bedeutender Menschen nahm er regen und bestimmenden Anteil nicht nur an der Wissenschaft, sondern auch an den Problemen der Zeit. Als dann all das geschah, was so beschämend für uns Deutsche ist und von dem zu sprechen uns deswegen schwerfällt, harrte Buber, solange es irgend ging, als Leiter des jüdischen Lehrhauses in Frankfurt aus, um die nicht zu verlassen, die ihm anvertraut waren, und um die Juden, die Deutschland nicht verlassen konnten, womöglich vor dem Schlimmsten zu bewahren. Er ging erst 1937 fort; seitdem wirkt er als Professor der Sozialphilosophie in Jerusalem, und dort wirkt er noch, seit zwei Jahren als Emeritus, durch Vorlesungen auf dem Gebiet der Religionswissenschaft. Dort, in Israel, hat er mit der immer gleichen tätigen Weisheit und mit demselben unbestechlichen Gefühl für Gerechtigkeit für die Verständigung zwischen Juden und Arabern gewirkt. So hat er stets, auch unter Opfern und Gefahren, durch das Wort und durch die Tat, Zeugnis abgelegt für den Satz, den er einmal schrieb: ›Alles Ethos hat seinen Ursprung in einer Offenbarung, ob es nun um sie weiß und ihr botmäßig ist oder nicht; alle Offenbarung aber ist Offenbarung des menschlichen Dienstes am Ziel der Schöpfung, in welchem Dienst der Mensch sich bewährt.‹ Als vor zwei Jahren der Hansische Goethe-Preis verliehen werden sollte und als Martin Bubers Name genannt wurde, da waren sich alle einig, keinen Würdigeren zu wissen, aber wir fragten uns bange, ob wir es wagen dürften, einem Angehörigen des Volkes eine Ehre anzubieten, das so Unmenschliches durch Deutschland erlitten hat. Martin Buber war großmütig und menschlich und nahm den Hansischen Goethe-Preis an; wir fühlten uns beschenkt und beglückt dadurch. Hierfür danken wir ihm heute von Herzen. Lieber und verehrter Professor Buber, ich überreiche Ihnen jetzt die Medaille des Hansischen Goethe-Preises und die Urkunde.« * Bereits einen Tag nach der Bekanntgabe der Preisverleihung erschien am 1. Januar 1952 in der Jerusalem Post ein Artikel Bubers, der dessen Argumentation, warum er den Preis annimmt, in Kurzfassung wiedergibt und dabei aus einem Schreiben in englischer Sprache zitiert, das sich im Archiv neben der deutschen Vorlage erhalten hat (MBA Arc. Ms. Var. 350 001 26b). Es war nicht mehr zu ermitteln, ob und wo Buber dieses

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Schreiben veröffentlicht hat, ob er es direkt der Redaktion der Jerusalem Post mitteilte, oder ob es sich um eine allgemeine Presseerklärung gehandelt hat. Die handschriftliche deutsche Fassung aus dem Archiv wird im Folgenden abgedruckt: »Ich bin von so vielen Seiten über meine Haltung zu dem mir von der Universität Hamburg erteilten Goethepreis befragt worden, dass ich mich veranlasst fühle, etwas darüber zur Kenntnis der Öffentlichkeit zu bringen. Der Rektor der Un. H. hat mir mitgeteilt, der ›zur Förderung übernationaler Gesinnung und humanitärer Bestrebungen im Sinne Goethes‹ gestiftete Preis sei mir von der Universität erteilt worden, um [unlesbares Textstück] mein ›Wirken im Sinne einer echten Humanität zu würdigen‹ als ›ein vorbildliches kulturelles Wirken, das dem gegenseitigen Verstehen der Menschen und dem Bewahren und Fortführen einer hohen geistigen Tradition dient.‹ Ich habe unmittelbar erkannt, dass es sich hier um das Dokument eines echten inneren Kampfes im Leben eines Volkes handelt. Dass es im deutschen Volk einen solchen, wenn auch damals nicht zur allgemeinen Kenntnis gelangten Kampf schon zu Zeiten Hitlers gegeben hat, bezeugen nicht bloss zahlreiche mutige Taten zum Schutze jüdischen Lebens und Eigentums, sondern auch eine Reihe wirklicher Märtyrer, von denen ich Kenntnis habe. Gegenwärtig ist dieser Kampf zu einem öffentlichen, in der öffentlichen Meinung Deutschlands selbst ausgefochtenen zwischen Humanität und Antihumanität geworden. Wie rücksichtslos die auf Seiten der ersteren geübte Selbstkritik ist, dafür möge von sehr vielen Äusserungen dieser Art, die ich erhalten habe, folgende Stelle aus dem Brief eines führenden deutschen Theologen zeugen: ›Die ungeheure Blutschuld meines Volkes an Israel liegt täglich als schwere Last auf mir: Dass ich selbst nur durch ein mir bis heute unerklärliches Wunder dem Tode, der mich wegen meiner Haltung bedrohte, entgangen bin, ändert daran nichts.‹ Unter diesen Umständen war die Frage, vor die mich die Preisverleihung mit ihrer Motivierung stellte, einfach diese: ob ich durch eine intransigente Ablehnung den Verfechtern der Humanität erklären sollte, dass ich sie mit ihren äussersten Gegnern, ja mit den Massenmördern vieler zusammenwerfe und damit verwerfe; oder ob ich durch Annahme sie in ihrem Kampfe anerkenne und stärken sollte. Ich habe diesen zweiten Weg gewählt und meine Absicht dabei dadurch klargemacht, dass ich in meiner Antwort an die Un. H. zwei Dinge hervorhob: erstens, dass die ›aus gegenmenschlicher Chaotik erstehende neue Humanität‹ sich ›im

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Kampf jedes Volkes‹ in dem sie ersteht, ›mit sich selbst wird bewähren müssen‹, und zweitens, dass ich im Akt der Preisverleihung der Un. H. eine überpersönliche Kundgebung und ein symbolisches Bekenntnis sehe und sie als solches annehme. Den mit dem Preis verbundenen Geldbetrag habe ich für die Förderung von Werken und Unternehmungen in Israel, die der Sache einer neuen, national-übernationalen Humanität dienen, bestimmt.« Die Behauptung, es habe »schon zu Zeiten Hitlers […] zahlreiche mutige Taten zum Schutze jüdischen Lebens und Eigentums« gegeben, kann indes als ebenso zweifelhafte Selbstimmunisierung Bubers gegen Kritik betrachtet werden wie das Verfahren, die reuevolle Äußerung eines vereinzelten Theologen – Person und Brief konnten bislang nicht ermittelt werden –, die zudem brieflich und also privat gegenüber Buber erfolgte, zum Dokument eines öffentlichen Meinungskampfes zu stilisieren. Bei einem Vergleich der im Jahr 1953 in etwa zeitgleich erfolgenden Veröffentlichungen erwies es sich aufgrund der präziseren Interpunktion und einiger Verbesserungen in den Formulierungen, dass der Druck in Hinweise gegenüber den Publikationen in der »Gedenkschrift« und den beiden Zeitschriften als die von Buber selbst autorisierte Fassung angesehen werden kann. Darum wurde auf diese Fassung als Druckvorlage zurückgegriffen. Im Archiv hat sich des Weiteren ein Konvolut von Typoskripten und einer Handschrift erhalten, die sich auf einen Vortrag Bubers beziehen, den er laut Vermerk auf den Textzeugen am 29. August 1953 in Holland auf »Einladung der Königin Juliane von Holland« auf einer Konferenz im Schloss Soestdijk gehalten hat (vgl. Textzeugenbeschreibung zu TS2). Das Schloss, Wohnsitz der niederländischen Königsfamilie, wurde in dieser Zeit auch als Tagungsort internationaler Konferenzen genutzt. Zu dem Vortrag Bubers existieren: 1) ein umfangreiches Stenogramm der mündlichen Rede Bubers; 2) eine Handschrift, die auf Grundlage des Stenogramms von Buber erstellt wurde und dieses einer erheblichen, wohl für eine Veröffentlichung gedachten Stilisierung – Kürzung, Umformulierung und Glättung von Eigenarten des mündlichen Vortrags – unterzieht; 3) zwei Typoskripte, die Abschriften dieser Handschrift darstellen. Sowohl in seiner mündlichen Fassung wie in der Bearbeitung durch Buber ist die Textgestalt dieses Vortrags einerseits zu selbständig, um noch in einem kritischen Apparat verzeichnet zu werden, andererseits zu abhängig von »Geltung und Grenze des politischen Prinzips«, um als eigener Text im Haupttextteil dieses Bandes abgedruckt werden zu können. Nicht nur ist das zentrale Thema – die biblische Gleichnis vom Zinsgroschen – beiden Vorträgen gemein, auch

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die Argumentationen und Formulierungen ähneln einander zu sehr, um den Vortrag vom August als eigenen Text betrachten zu können, zumal die letzten Abschnitte der kürzenden Bearbeitung mit denen aus »Geltung und Grenze des politischen Prinzips« identisch sind. Er wird daher in der Fassung von TS1 im Folgenden abgedruckt. Buber scheint zwar eine selbständige Veröffentlichung beabsichtigt zu haben – nur so ist die aufwendige Revision des Stenogramms erklärlich –, doch verzichtete er schließlich auf die Publikation vielleicht auch deswegen, weil ihm selbst die große Nähe zu »Geltung und Grenze des politischen Prinzips« aufgefallen war. Seltsam ist es allerdings, bei beabsichtigter Veröffentlichung wortgleiche Abschnitte aus einem praktisch zeitgleich prominent publizierten Text einfließen zu lassen. Dass Buber kurz nach der Preisverleihung eine ganz ähnliche Rede in Holland hält, verweist indes darauf, wie wenig sich schon seine Gedenkrede selbst, anders, als Buber in seiner Verteidigung gegenüber den kritischen Angriffen auf seine Entgegennahme des Preises nahelegt, auf die jüngste deutsche Vergangenheit bezieht. Gegenstand beider Reden ist denn auch vielmehr die Gegenwart der Block-Konfrontation des Kalten Krieges als jene Vergangenheit. Textzeugen: H1: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 31b); Teil eines Schreibheftes; 21 einseitig mit blauer Tinte beschriebene Seiten, mit zahlreichen Korrekturen versehen. H2: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 31 f.); 27 paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit Korrekturen versehen; Seite 25 ist zweimal vorhanden, dabei einmal auf 2 Blättern, einmal auf einem Blatt doppelseitig beschrieben. H3: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 31); 16 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit einigen Korrekturen versehen. Das erste Blatt enthält in der Handschrift Bubers eine teils gestrichene Anmerkung, der Ort und Umstände der Rede zu entnehmen sind: »Vortrag Martin Buber, gehalten auf Einladung der Königin Juliane von Holland i Schloss ›Het Oude Loo‹ am 29. August 1953. Vom Vortragenden zusammengezogen.« Die Handschrift wurde von Buber also nachträglich auf Grundlage des in TS1 enthaltenen Stenogramms seiner mündlichen Rede erstellt. Die letzten Abschnitte sind mit dem Ende der Druckfassung von »Geltung und Grenze des politischen Prinzips« identisch. 1 TS : Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 31); 35 lose paginierte Blätter; auf den Blättern 1-6 mit zahlreichen handschriftlichen Strei-

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chungen, Korrekturen und Ersetzungen Bubers versehen, danach finden sich nahezu keine Korrekturen mehr. Das Typoskript enthält das Stenogramm der mündlichen Rede Bubers in Holland und wird im Folgenden abgedruckt. Da Bubers Korrekturen auf die gestraffte Fassung der Handschrift von H3, TS2 und TS3 hinführen, wird die Korrekturschicht dabei nicht berücksichtigt. Das Typoskript ist unbetitelt. TS2: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 31); 7 lose paginierte Blätter, die in drei identischen Exemplaren vorliegen; auf einer Kopie sind vereinzelte handschriftliche Korrekturen vorgenommen worden. Das Typoskript trägt den Titel »Der Spruch vom Zinsgroschen und unsere Zeit« und ist mit einer Anmerkung versehen: »Vortrag gehalten auf ›Het Oude Loo‹ am 29. August 1953 auf Einladung der Königin Juliane von Holland im Schloss Soestdijk.« TS3: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 31); 8 lose paginierte Blätter. Das Typoskript trägt den Titel »Der Spruch vom Zinsgroschen und unsere Zeit« und ist mit zwei Anmerkung versehen: »Vortrag von Professor Martin Buber, gehalten auf ›Hot Oude Loo‹ am 29. August 1953.« »Vom Vortragenden zusammengezogen.« Über dem Titel findet sich eine handschriftliche Notiz: »Geltung und Grenze des politischen Prinzip«. Das Typoskript ist zweischichtig: 3.1 TS : Grundschicht. TS3.2: Korrekturschicht: vereinzelte Streichungen, Korrekturen und stilistische Umformulierungen von Bubers Hand. Da es sich hierbei um relativ einfache Eingriffe handelt, werden die Abweichungen von TS3.1 im folgenden Abdruck nicht berücksichtigt. Da es sich bei TS3.2 um die letzte Fassung der Bearbeitungen des Vortrags handelt, wird diese im Folgenden nach dem Stenogramm der Rede abgedruckt, ohne dass dabei die geringfügigen Änderungen in H3, TS2 und TS3 berücksichtigt werden. 1 D : Gedenkschrift zur Verleihung des Hansischen Goethe-Preises 1951, überreicht am 24. Juni 1953, S. 9-20 (MBB 931). D2: Neue Schweizer Rundschau, XXI/5, September 1953, S. 259-269 (MBB 931). D3: Frankfurter Hefte, VIII/9, September 1953, S. 663-670 (MBB 931). D4: Hinweise – Gesammelte Essays, Zürich: Manesse 1953, S. 330-346 (MBB 919). d5: »Ein Wort zur Weltstunde«, Neue Wege, XLVII, 11/12, November/ Dezember 1953, S. 453 (MBB 937). Enthält den Absatz »Wir leben in einer Weltstunde […] Prinzip verschlungen wird.« (S. 308,23-39.)

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D : Universitas, Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur, 16. Jg., Heft 7, Juli 1961, S. 689-699 (in MBB nicht verzeichnet) D7: Werke I, S. 1095-1108 (MBB 1193). 6

Druckvorlage: D4 Übersetzungen: Englisch: The Validity and Limitation of the Political Principle, in: Buber, Pointing the Way. Collected Essays, übers. und hrsg. von Maurice Friedman, New York: Harper 1957, S. 208-219 (MBB 1045). Japanisch: in: Buber, Reden über Erziehung und andere Essays (19101961), übers. von S. Yamamoto u. a., Tokio: Misuzu-shobo 1970 (MBB 1347). Abdruck von TS1: Meine Damen und Herren, Seit mindestens drei Jahrzehnten ist es mir immer deutlicher geworden, dass wir in einem Zeitalter leben in dem das politische Prinzip den Menschen zu verschlingen droht. Und dass dies unter allen den schweren und harten Fragen, die uns heute bedrängen, vielleicht die schwerste und härteste von allen ist, ja eine die sich hinter manchen anderen Fragen, die heute die Menschen bedrängen, verbirgt: diese Drohung des politischen Prinzips. Dieser Drohung gegenüber, dieser grossen Gefahr gegenüber, über die ich noch etwas ausführlicher sprechen will, besteht für uns zunächst die Pflicht uns zu fragen, was das ist, das uns da so bedroht. Denn es ist nicht etwa der Staat oder die Gesamtheit der Obrigkeit, oder irgend so etwas, sondern es ist ein Prinzip, d a s politische Prinzip. Was ist das? Ich möchte zunächst es in einem Satz fassen, womit ich natürlich das Prinzip als solches nicht erfasse, nicht erfassen kann. Aber wir Menschen müssen doch zunächst versuchen uns einem Begriff so klar zu machen, dass wir sagen können: Das ist das. Wir wissen sehr gut, dass das noch nicht das ist, aber begrifflich müssen wir es so fassen, und dann würde ich sagen: Wenn wir also genötigt sind, es, das politische Prinzip, in einem Satz zu erklären, so würde ich sagen, der Satz ist etwa: die öffentlichen Ordnungen sind die Determinante des menschlichen Lebens. Aber ein Wort muss noch zu diesem Satz hinzugefügt werden, damit er erst richtig wird: die öffentlichen Ordnungen sind rechtmässig die Determinante des menschlichen Lebens. Denn es geht ja nicht darum eine Tatsache festzustellen, etwa der Art, die nicht wenigen von uns aus ihren

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Lebenserfahrungen bekunden können, aus der Geschichte der letzten zwei, der sogenannten Weltkriege, die Erfahrung, dass das Schicksal, zumindest das äussere Schicksal, der in einer Zeit lebenden Generationen, bestimmt wird von dem Verhältnis der sogenannten Staatsvertreter zu einander. Ich sage, das genügt nicht, diese Tatsache festzustellen, die wir in den letzten dreissig, fünfunddreissig – wie lange ist es her? – lang oder nicht lang, immerhin, immerhin, ja fast 40 Jahre, dass die angefangen hat, ich sage das genügt nicht, nicht die Feststellung einer historischen Tatsache, sondern der Satz sagt: rechtmässig, d. h. es ist richtig, dass es so ist, es muss so sein, es entspricht dem Werden der Dinge, dass es so ist, dass die öffentlichen Ordnungen unser Schicksal bestimmen, dass sie die Determinante unseres Daseins sind. Warum? Wie kann man das begründen, nun, diejenigen die es sagen, die das vertreten dieses »rechtmässig«, die sagen nun eben, weil die Staatlichkeit den Wesensstand des Menschen ausmacht, oder, dass der Mensch um des Staates willen besteht, und nicht der Staat um die Menschen – das ist nicht etwa eine moderne Lehre, das ist eine uralte, eine Lehre, ich glaube freilich dass sie nicht wahrer geworden ist in der langen Zeit, die diese Lehre schon besteht – dies, dieser Satz, ich möchte sagen, praktisches Axiom, das einen sehr grossen Teil der heute lebenden Menschen beherrscht, dies halte ich für eine wesentliche Bedrohung der Existenz des Menschen als Mensch. Und demgegenüber, diesem fraglosen unnuancierten Satz, diesem klobigen Satz gegenüber, der so das Dasein des Menschen bedroht, fragen wir uns, an wen können wir appellieren, diesem Satz gegenüber? Von wem aus kann die Richtigkeit oder Unrichtigkeit, die Wahrheit oder Unwahrheit dieses Satzes geprüft werden? Sicherlich von nichts, was auf derselben Ebene ist wie dieser Satz und wie die Staatlichkeit, von der die Rede ist. Das an was wir appellieren können, kann nichts anderes sein als etwas so Absolutes, dass ihm gegenüber sich die prätendierte Absolutheit des Staates als prätendiert, als Scheinabsolutheit erweist, d. h. wir können an nichts Anderes appellieren als an eine der grossen religiösen Botschaften des menschlichen Geschlechts. Ich habe im Laufe der letzten dreissig Jahre, also seit mich das Problem dieses politischen Prinzips zu peinigen begann, peinigen ganz exakt im Laufe dessen was sich begeben hat. Das ist keine intellektuelle Beschäftigung mit einem philosophischen Problem, sondern das ist was wir alle im Laufe dieser dreissig, vierzig Jahre durchgemacht, erfahren haben, jeder einzelne für sich und alle miteinander. Die religiöse Botschaft. Ich habe mich im Laufe meines Lebens immer wieder, zuerst in anderer Absicht, dann aber am stärksten von dieser Frage bewegt, an eine nach der anderen der religiösen Botschaften

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gewendet. Im Ernst, gewendet, wie man zu jemandem kommt zu dem man Vertrauen hat, oder von dem man fühlt, dass er Vertrauen verdient. Ich selbst wage noch gar nicht Vertrauen zu ihm zu haben, aber ich fühle schon dass er es verdient; so von einer zur anderen gegangen und ich fand dass fast alles was es an religiösen Botschaften in der Welt gibt, die Antwort auf diese unsere Frage nicht enthält. Ich will mit zwei religiösen Botschaften, bei einer ist es offenbar, dass es eine religiöse Botschaft ist, bei der anderen nicht so sehr, aber sie ist es doch, beginnen, die unsere Welt mehr oder weniger färben. Es gibt, es hat einen grossen religiösen Denker gegeben, der sich mit diesem Problem befasst hat: das ist Laotse. Laotse, der sich gegen den damaligen chinesischen Staat, gegen den zum Zentralismus strebenden chinesischen Staat, und gegen diese das ganze Leben, zumindest der chinesischen städtischen Bevölkerung, damals durchdringende Staatlichkeit wandte. Es gab zwei Kulturen nebeneinander, eine städtische und eine dörfliche, die städtische die den Staat mit dem Hof zusammenhält, die dörfliche die ein Leben für sich führte, den Begriff Staat gab es nur in der städtischen Kultur, die dörfliche erlitt, erduldete sozusagen den Staat, ohne wirklich in ihm und mit ihm zu leben. Laotse stellte sich gegen diesen städtischen Glauben an den Staat als an etwas was sich den Menschen auferlegt, ob sie wollen oder nicht. Laotse war, wie wir ja wohl wissen, ein Mensch der etwas nicht ertragen konnte, nämlich dass sich eine irdische Macht den Menschen auferlegt. Er stellte demgegenüber jene aktive Zurückhaltung, jenes Wirken in blosser Existenz, jenes Tun das er mit dem Wort Nicht-Tun bezeichnet, und an Stelle dieses Auferlegens wollte er diese Zurückhaltung stellen, der Mensch, der an der Macht ist, solle die Menschen dadurch beeinflussen, dass er sie jeden zu sich selber kommen lässt. Also diese Erschliessung der Menschen, diese Gewährung, dass jedes nicht bloss in seinem Wesen bleiben sondern dieses Wesen entfalten, dies gilt als die wahre Regierung, diesem sich Auferlegen gegenüber. Nun möchte man meinen, dass wir zu diesem Menschen Vertrauen haben dürften und ihn fragen, wie wir es nun anfangen sollen mit dieser schweren quälenden Frage. Aber er gibt keine Antwort. Denn er erkennt diese unsere ganze restliche späte Zivilisation, Staatlichkeit, eben nicht an, er negiert sie von den Wurzeln an, er stellt sie etwas ganz anderem gegenüber, und diesem anderen nun von unserem Leben aus nachgeben zu wollen, wäre nicht Gläubigkeit, sondern Romantik. Denn was immer wir erreichen sollen, was immer wir hoffen können zu erreichen, bis zum höchsten, kann nur hier auf dieser uns gegebenen Wirklichkeit gebaut sein und nicht irgendwo anders.

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Es gibt noch einen anderen, uns historisch oder geographisch näheren, sagen wir religiösen Denker, obwohl er gewöhnlich nur als Philosoph angesehen wird, das ist Platon. Aber Platon ist gerade der Mensch, zu dem wir am wenigsten gehen können um Antwort zu bekommen. Denn für Platon bestand ein Staat, den er als Staat bejahte, gerade weil es der absolute Staat war. Den Staat den Platon meinte und beschrieb. Er schilderte ihn geradezu, diesen utopischen Staat, in dem es keinen Ort gibt der irgendwo sich befindet, den er doch so beschreibt, wie man nur etwas beschreiben kann, was man gesehen, in dessen Mitte man gelebt hat. Dieser Staat ist ein absoluter, den Menschen absoluter, jedenfalls die Schichten die im Staat nur eingefügt sind, die nicht-führenden Schichten unbedingt beherrschender und bestimmender. Dass Platon das konnte liegt an einer ganz einfachen Tatsache, nämlich dass Platon in diesem Staat die menschlichsten Menschen, die echtesten, wirklichsten, wissensten, besten Menschen an die Spitze stellt. Damit aber setzt er sich zu unserer Frage in noch grössere Distanz als Laotse. Denn wir haben es nicht mit einer Welt zu tun in der nicht einfach die besten an der Spitze stehen oder durch irgend eine Methode an die Spitze zu stellen sind. Es geht also nicht an statt der wirklichen bestimmenden Menschen, fiktive zu setzen. Ja, wenn die Ordnung der Menschen solche Weise (?) einer Gottesordnung wäre, dass obenauf vom Himmel her die besten eingesetzt wären, von dem Gnaden Gottes, dann wäre ja die ganze Frage nicht da. Die würden schon das besorgen, was zu besorgen ist, damit der Staat, das was dann noch an Staat nötig ist, uns nicht fessele, sondern freimache. Wir müssen also notwendigerweise, – ich glaube nicht das irgend woher eine andere Botschaft zu nennen wäre, – wir müssen uns notwendigerweise an unsere abendländische religiöse Welt halten, an d. h. an die biblische Welt. Und zunächst habe ich mich naturgemäss gefragt ob von der Bibel Israels her eine Antwort zu erwarten ist. Und es verhält sich so, dass naturgemäss eine solche Antwort von der Bibel Israels her nicht zu erwarten ist, und ich will Ihnen sagen warum. Den Staat in dem Sinne wie wir hier von ihm sprechen und sprechen müssen den gab es ja in Israel nicht. In Israel gab es nicht mal ein weltliches Recht, alles, das ganze Leben, das ganze öffentliche Leben: Wirtschaft, Gesellschaft, öffentliche Ordnung, war bestimmt von dem einen grossen Realglauben: Gott ist unser König. Und wenn nach einem Zeitalter, wo je und je in kritischen Stunden ein Mensch – diese werden Richter genannt – ein Mensch den Geist auf sich niedergehen fühlte und dann Taten tat, die er eben sonst nicht tut, aussergewöhnliche Taten, als der vom Geist berufenen, ich sage, nachdem, nach diesem Zeitalter aus der ungeheuren Problematik aufstieg und aufsteigen musste, es gibt die Inter-

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regna, es gibt die chaotischen Zeiten zwischen dem einen und dem anderen und so fort, [Leerstelle] kommt eine Zeit wo zwar irdische Könige, ja sogar in einer Dynastie herrschen, aber so dass jeder König entweder wenn er gesalbt wird, oder wenn er den Thron besteigt, dies als Erfüllung eines statthalterischen Auftrags sieht und das ist nicht symbolisch gemeint, sondern höchst real, denn wenn dieser König den Auftrag dessen man ihn eingesetzt hatte, des wahren Königs nicht erfüllt, dann scheinbar geschieht nichts, aber es geschieht doch etwas, es gibt nämlich Männer des Geistes, die gar keine Macht haben, die garnicht in Herrschaft eingesetzt sind, sondern die dazu da sind, den Protest Gottes anzumelden, und das geschieht wieder ganz real, nämlich so, dass so ein Mensch zu dem König und zu den Machthabern geht und ihnen vorhält worin sie sich gegen den Auftrag des königlichen Auftraggebers verfehlt haben. Weil nun alles so im Geiste, eine Einheit ist und zwar eine Einheit von Gott her, gegen die sich die Menschen natürlich immerzu verfehlen, aber dies ist die tiefe, die grundhafte Wirklichkeit ihres Daseins, als Volk, deshalb kann das sogenannte Alte Testament keine Antwort enthalten. Eine Antwort konnte erst gegeben werden nachdem dieses Reich, das auf die Entstehung des Anfangs eines Gottes Reiches hin intendiert war, dass nämlich dieses Reich zerschlagen wurde, überwältigt wurde und zwar von einem Staat der vielleicht so sehr stark wie nur irgend ein historisches Gebilde war, von Rom, vom römischen Kaiser. In dieser Situation, erst in dieser Situation wo das werdende, oder werden-sollende, Königreich Gottes so durch den staatlichsten Staat überwältigt wurde und die Menschen nun nicht mehr in dieser Gemeinschaft des Reiches, sondern als einzelne als isolierte, also als einzelne, einer neben den anderen standen, diesem Ungetüm der Drohung gegenüber, da erst konnte ein Wort gesprochen werden, das als Antwort von uns anzunehmen versucht werden kann. Dies ist das Wort Jesu vom Zinsgroschen: Gebet, ich will es etwas genauer aus dem Urtext, aus dem aramäischen Text übersetzen: Gebet das was Gott zukommt und dem Kaiser was dem Kaiser zukommt, oder gebet, umgekehrt, so erfordert es die Situation; Gebet dem Kaiser was dem Kaiser zukommt und Gott was Gott zukommt. Auslegung dieses Spruchs ist das was von uns in dieser Lage gefordert wird, aber dürfen wir ihn überhaupt auslegen. Dürfen wir ihn für diese besondere Situation unseres Zeitalters auslegen. Darf man überhaupt einen Text für eine bestimmte historische Situation auslegen? Steht die Bedeutung des Textes nicht ein für alle Mal fest? Müssen wir nicht die Interpreten jener Zeit oder aus der unmittelbar folgenden Zeit befragen? Hat die Theologie nicht irgendwie

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schon festgelegt, was dieser Satz zu bedeuten hat? Können überhaupt religiöse Botschaften für eine historische Epoche ausgelegt sein, so dass sie der Bangigkeit, der Unruhe, der Qual, dem Zweifel, der Verzweiflung dieser Zeit antwortet? Ich glaube sie können es und sie müssen es. Und die Legimitation dazu ist uns durch das Wesen der religiösen Botschaften gegeben. Jede grosse religiöse Botschaft ist in einer bestimmten Situation gesprochen. Religiöse Botschaften werden nicht wie philosophische Maximen formuliert, dass man sie immer wieder in jeder Zeit, – in jeder Situation kann man sie vornehmen und es braucht weiter nichts gesagt zu werden – es ist immer dasselbe. Immer wieder holt man die Münze (?) hervor, sie ist das blank gegebene wie am ersten Tag. Aber die religiöse Botschaft ist stets an eine bestimmte Situation gebunden. Der wer sie spricht, spricht immer eine bestimmte Schar von Menschen an. Er spricht nicht zum Fenster hinaus. Er denkt nicht am Schreibtisch sitzend Gedanken aus, die man dann wieder in ein Buch schreiben kann, und etwa veröffentlichen kann. Dieser Mensch spricht zu bestimmten Menschen. Diese Menschen da vor ihm, die Menschen die vor ihm da sitzen oder stehen und von ihm eine Erklärung, eine Auskunft, einen Rat, einen Hinweis, eine Wegweisung, erwarten, er spricht zu ihnen. Von ihrer gemeinsamen Situation aus und in diese Situation hinein. Er spricht zu diesen Menschen das wo nach es nur diese Menschen verlangt, in dieser besonderen historischen und geographischen Lage in der sie gerade stehen, an diesem bestimmten Ort und in dieser bestimmten Stunde – also scheinbar etwas, was mit dieser Situation seine Vollgültigkeit verliert. Aber die echte religiöse Botschaft ist dadurch ausgezeichnet, dass sie von jeder kommende[n] Generation, in ihrer neuen und von der ursprünglichen vielleicht ganz verschiedenen Situation, aufgesucht und befragt werden kann, und sie antwortet, wenn sie wirklich, d. h. wenn auch der Sprecher diese Schar von Menschen, sei es Menschen die schon seine Schüler waren, oder Menschen die sich jetzt eben um ihn versammeln um etwas von ihm zu erfahren, obwohl er diese bestimmten Menschen, und nur sie im Sinn hat. So ist doch die Echtheit der Botschaft, sie besteht eben darin, dass die Botschaft nicht bloss diese Schar, sondern zugleich auch die Menschheit, und zwar nicht eine vage, unbestimmte abstrakte Menschheit umfasst, sondern jeweils die ganz konkrete lebendige, jetzt und hier lebende Gesamtheit der Menschen. Und immer wieder wenn die Menschen es wagen, oder wenn sie in irgend einer Zeit es wagen hinzugehen, mit zitterndem Vertrauen um diesen Spruch neu zu befragen, so antwortet er ihnen auf ihre neue Frage.

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D. h. die echte religiöse Botschaft enthält, ganz real, enthält die Antwort auf die Fragen all der Generationen, die mit ihren neuen Sorgen, mit ihrer neuen Unruhe vor sie hintreten und mit Furcht und Zittern fragen. So verhält es sich mit dem Spruch vom Zinsgroschen. Immer wieder sind menschliche Generationen, oder Menschen aus den Generationen hingetreten und haben dieses Buch, sagen wir das Markus Evangelium aufgeschlagen und haben es befragt danach was sie erfahren mussten um weiterleben zu können. Und sie haben Antwort bekommen. So meine ich müssen wir den Zinsgroschen-Spruch heute erfahren, aus dieser Situation und ich glaube, ich habe es schon einigermassen deutlich gemacht was für eine Situation das ist und im übrigen weiss jeder von ihnen in seinem Herzen genug und übergenug darüber was für eine Situation das ist. Die einigen Pharisäer, so heisst es, kommen zu Jesus und befragen ihn ob eine bestimmte Steuer in einer bestimmten Münze zu leisten ist, ob die zu leisten ist oder nicht. Und das ist eine Frage, die wir heute in unserer Zeit, vielleicht sehr präzis verstehen, weil es einen Menschen und eine Bewegung gegeben hat, vielleicht in einem anderen Weltteil, aber immerhin wir haben uns mit dem Menschen und mit der Bewegung nicht wenig befasst, und die sagte mehr oder weniger: Nein. Das war Ghandi. Ghandi war der Ansicht: wenn wir von einem fremden Staat beherrscht werden, der nicht berechtigt ist uns zu beherrschen, dann haben wir ihm nicht das zu leisten was er von uns als Leistung verlangt. Wir haben eine Waffe gegen ihn und das ist der passive Widerstand, ich sage das nach europäischen Begriffen, aber ungefähr darauf kommt es hinaus. Vergessen Sie aber nicht, Ghandi sagte nicht einfach das britische Gesetz [Leerstelle] als Ghandi nachdem er aus Afrika nach Indien gekommen war, die erste These aufstellte, was man nicht tun soll, da sagte er z. B. nicht: man soll seine Kinder nicht in britische Schulen schicken, sondern er sagte: man soll seine Kinder nicht in schlechte Schulen schicken. (Etwas Gelächter) Bitte nehmen Sie das so Ernst wie er es gemeint haben muss. Er wollte damit sagen, nicht weil das britisch ist, sondern weil das schlecht ist, passt das nicht für uns: wir sollen unsere Kinder in gute Schulen schicken. Nun, bei Ghandi war die Steuerfrage nicht essentiell, der passive Widerstand äusserte sich in anderen Dingen. Aber hier, die Frage die diese Menschen – sie werden einige Pharisäer

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genannt, das ist zu mindesten eine Generalisierung oder eine Simplizifierung der historischen Wirklichkeit, aber ich möchte jetzt nicht von den Pharisäern sprechen. Also es gibt da, es gibt da in dem Evangelium, es gibt da so einen konventionellen Ausdruck, die Pharisäer. Die Pharisäer, das waren die religiösen Denker, die eigentlich die Mehrheit des Volks geistlich bestimmten, und in dieser Andeutung, ihnen ging es darum die Lehre Gottes zu erfüllen, durch diese [Leerstelle] d. h. dass man sie je und je, wo sie vorstellbar scheint als erfüllbar [Leerstelle] entgegen [Leerstelle] die Sadduzäer, die die Lehre Gottes reduzieren wollen, auf das Erfüllbare. Ist der Unterschied klar? Nicht hineinterpretieren, also herausholen, auslegen was in ihm ist, was der Mensch immer und immer generalisieren kann, hier hat Paulus gewiss unrecht dieser Auffassung gegenüber, die Menschen die darin lebten, die Menschen die sagten ja, man muss das reduzieren auf das Erfüllbare. Also diese zwei Dinge standen einander gegenüber. Also wenn es immer wieder Pharisäer und nicht Sadduzäer sind, fast immer Pharisäer sind, die zu Jesus kommen, so handelt es sich hier nicht darum, dass sie Jesus eine Falle legen wollen, dass sie ihn sozusagen verleiten wollen etwas zu sagen, woran man ihn dann festhalten, was man dann gegen ihn ausnützen kann, sondern die Fragen mit denen diese ernsten Menschen kommen sind ernste Fragen. Sie wenden sich an diesen Mann, der da gekommen ist, aus dem Lehrhaus, und er lehrt sie und sie fragen ihn warum, nun so wie sie einander fragen um etwas erfahren zu wollen, [Leerstelle] das ist der Sinn [Leerstelle] also ist das sicherlich eine etwas tendenziöse Bezeichnung, aber das ist nicht das wichtigste. Sie fragen ihn was da ist, sie fragen eine höchst aktuelle Sache, nämlich, nachdem dieser Staat, [Leerstelle] der Staat [Leerstelle] jenen Gottes Staat vernichtet hatte, wie soll man sich zu ihm verhalten? Soll man passiven Widerstand leisten und bei diesem Widerstand bleiben oder [Leerstelle] und Jesus, wie Sie wissen, lässt sich die Münze zeigen auf der das Bild des Kaisers ist und sagt: da sehen sie doch, das ist etwas was man dem Kaiser zu geben hat, das können sie schon aus dem Bild ablesen. Und dann ist zunächst die Frage für diese Menschen beantwortet: keinen passiven Widerstand. Keine Rebellion, auch nicht in der Form des passiven Widerstands, sondern nachdem man dem Kaiser gegeben hat was ihm zukommt, also diese Steuer und alles was noch an Pflichten daran gebunden ist, dann Gott geben was Gott zukommt, und auf diese

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Dinge die da dem Kaiser zukommen, macht Gott keinen Anspruch, das ist nicht [Leerstelle] Aber wie sieht es heute aus? Die Situation hat sich ungeheuer geändert. Für uns bedeutet die Frage nicht, wie wir uns zu einer Fremdherrschaft verhalten sollen, sondern zur eigenen Regierung, nicht zu einer auferlegten, die man nicht anerkennt, nicht zu einem Gewaltstaat, sondern zu dem Staat, der der meine ist, den ich als der meine anerkenne. Wie verhält es sich da. Was bedeutet da, was bedeutet in einer so gewandelten Situation: gebt dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist. Was heisst das? Was heisst das überhaupt, so müssen wir fragen. Wir können uns jetzt nicht mit dieser ersten Bedeutung begnügen, sondern wir müssen fragen, ja, was heisst das überhaupt: Gott etwas geben. Der Mensch gibt Gott etwas. Was das heisst dem Kaiser oder der Regierung, oder der Obrigkeit oder der Obrigkeit, oder dem Staate oder irgendeiner irdischen Macht etwas geben, das verstehen wir gut. Sie machen den Anspruch und wir können es ihm geben oder es verweigern, das ist deutlich. Aber was heisst das: Gott geben? Ist das überhaupt noch dieselbe Tätigkeit hier, die wir mit geben bezeichnen? Wie geschieht das, Gott etwas geben? Und weiter, was sind denn das für Dinge die Gottes sind? Nicht eines anderen, sondern Gottes, und die soll man von den anderen unterscheiden und Gott geben? Wer sich ernstlich mit dieser Frage befasst hat, fühlt die tiefe, oder wird von der tiefen Unruhe überkommen, die aus dieser Frage ihn anregt, was ist da für mich, für uns, gemeint? Wie kann ein Geben an Gott und das Geben an irgend einer irdischen Macht gleichgestellt werden? Ist das überhaupt noch das Gleiche? Dem Staat, dem Kaiser etwas geben, das geschieht doch wohl auf der Grundlage eines gegenseitig begrenzten Anspruchs. Der Staat, oder fangen wir bei mir an, ich stelle Ansprüche an den Staat, dem ich das und das leisten soll. Wege bauen, Brücken bauen, Wirtschaft schützen, die Sicherheit gewährleisten, und sofort, und der Staat stellt an mich Ansprüche, wie bekannt. Das ist Gegenseitigkeit und das ist begrenzt. Was ich also vom Staat beanspruchen kann und darf ist genau begrenzt. Ich kann von dem Staat nur diese bestimmten Dinge, für die er da ist, beanspruchen und er kann von mir auch nur bestimmte Dinge beanspruchen. Diese Dinge sind ja in der Verfassung und in dem Gesetz festgelegt, was der Staat von mir verlangen darf, was er in seiner Tendenz das ganze Dasein des Menschen zu umfassen, diese Tendenz die wir heute so erleben wie vielleicht sie noch kein Zeitalter erlebt hat, dass er da weiter seinen Anspruch spannt, dass er den ganzen Menschen ohne Rest um-

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fassen will, das ist eine Entartung des Verhältnisses zwischen Staat und Menschen, aber im Ursprung bedeutet der Anspruch, dieser gegenseitige Anspruch, etwas begrenztes. Dies hat der Staat mir zu leisten, dies habe ich dem Staat zu leisten. Kann man das Verhältnis des Menschen zu Gott irgendwie damit vergleichen? Kann man das Verhältnis zu Gott als das eines gegenseitig begrenzten Anspruchs verstehen? Hat der Mensch einen Anspruch an Gott? Wer die Erfahrung des Gebets gemacht hat, wer in Wahrheit und Wirklichkeit gebetet hat und betet, der weiss, wenn er vielleicht im Anfang versucht hat einen Anspruch an Gott festzuhalten, den kann er schon nach ein paar Augenblicken nicht mehr festhalten, der wird ihm aus den Händen ge[Leerstelle] und umgekehrt, wenn Gott einen Anspruch an die Menschen hat, kann der begrenzt werden? Wie ist es möglich Gottes Anspruch an den Menschen zu begrenzen? Kann das irgendwie anders geschehen als dass Gott, je und je, selber in seinem Umgang mit dem, und dem, und dem, und dem Menschen seinen Anspruch ihnen gegenüber begrenzt, d. h. die diesmalige Begrenzung des Anspruchs ihnen offenbart? Ich glaube nicht daran. Wie kann man also so unbedingt, wirklich absolut verschiedene Dinge miteinander zusammenstellen? Fangen wir das [Leerstelle] praktisch an zu [Leerstelle] hören noch einmal das Wort Jesu und fangen wir beim Kaiser an, ja, wie sollen wir da die Abgrenzung vollziehen? Wir fangen beim Kaiser an, und da gibt es nun die, und die, und die und die Ansprüche gesetzlich festgelegt oder nicht festgelegt und dann leisten wir das dem Staat und den Rest bekommt Gott. Den Rest, den aktuellen Rest, das was bleibt nachdem wir alles dem Kaiser geleistet haben, was wir zu leisten angefordert sind und was ist diese Leistung. Nun Sie wissen, es ist in der Auslegung des Spruchs immer wieder gesagt worden, sogar in der frühen Zeit also innerhalb des römischen Reiches noch, wurde gesagt, ja, wir haben dem Kaiser das zu leisten was er von uns verlangt, bis er etwa von uns etwas verlangt, was sich mit dem Glauben an Gott, mit dem Dienst Gottes, was sich mit dem Bekenntnis und mit dem Kult, nicht verträgt, etwa wenn man von uns verlangt, dass wir dem Kaiser als einem gottartigen Wesen opfern sollen, das sollen wir nicht. Aber mit dieser Interpretation wurde das Gebet Gottes auf Kult und Bekenntnis reduziert, d. h. Gott wurde aus dem Gott des Daseins zum Gott der Religion gemacht. So verhält es sich mit jener fast klassisch zu nennenden Interpretation.

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Versuchen wir aber von der anderen Seite. Versuchen wir mit Gott zu beginnen. Würden wir je in der Lage sein eine Grenze konstruieren zu können und Gott sagen zu können bis hierher und nicht weiter geht Dein Anspruch an mich! Wir werden je an eine Grenze kommen? Jeder für den das Wort Gottes nicht eine Vokabel, nicht eine [Leerstelle] nicht eine Konvention ist, weiss dass das absurd ist. Wer sich diese Frage, die Abmessung der Ansprüche mit Gott beginnen [Leerstelle] Wer sich diese Frage im innersten Herzen stellt der trifft – das ist nicht bloss meine eigene Erfahrung sondern es haben mir Menschen die ich gekannt habe mir immer wieder das bestätigt – der trifft auf einem tiefenden hellenden (?) [Leerstelle] Tage die Selbsterfahrung des Menschen, nämlich die, dass er, der Mensch, sich, sich selber Gott schuldet. Es gibt ein grosses ungeschichtliches Symbol dafür, das ist eine bestimmte Grundtendenz, Urtendenz des Opfers, in alter und in neuer Zeit, überall treffen wir auf diese Grundvorstellung. Opfer bedeutet letztlich, dass der Mensch sich selbst Gott dagibt, dem er sich schuldet. Wir finden von uralten, phoenizischen Opferformen, bis zur Opferform des indischen Islams, immer wieder dasselbe, dass das Opfertier darstellt, dass das Opfer nur dann Sinn und Geltung hat, wenn ich im Augenblick, wo ich das Tier dalege, mich wirklich mit dem Tier identifiziere, mich wirklich von ihm vertreten lasse, d. h. die ganze Bereitschaft wirklich habe, mich dazulegen? [Leerstelle] und er schlägt die Hand an den Kopf und sagt: dies ist mein Kopf und ein Teil des Körpers nach dem anderen. Es ist also etwas ursprüngliches. Es ist nicht etwas was dem Menschen, im Laufe seines religiösen Fortschritts, zugekommen ist, sondern das ist etwas dem Menschen schon von Ur her eigentümlich gegebenes. Und das ist der Anfang, doch wir müssen uns noch klar zu werden versuchen, was das bedeutet. Noch wichtiger als diese dunkle elementare Selbsterfahrung, die wir auf dem Grund unserer Seele vorfinden und so aus der Religionsgeschichte bestätigt bekommen, noch wichtiger ist etwas was Jesus, besonders die Tradition in der Jesus aufgewachsen war und auf die er immer wieder zurückgriff, auf die er sich immer wieder grundlegend berief, als auf eine Wahrheit, nicht wie man ein Buch zitiert, sondern wie man sich das was man zu sagen hat je und je von einer Urbotschaft bestätigen, beglaubigen lässt, diese Tradition der Bibel Israels, in der gibt es einen Spruch, das ist der Spruch der den Menschen sagt: Sie sollen Gott mit ihrer ganzen Seele, mit ihrer ganzen Macht lieben. Und Sie wissen Jesus bezeichnet diesen Spruch als das Erste aller Gebote. Und wenn wir nun versuchen, dieses Primat, diesen ersten Teil des

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Spruchs, soweit wir es können, so ernst zu nehmen wie Jesus ihn nahm, dann ist die Anerkennung eines Sonderbereiches in dem der Mensch von dieser seiner Verbindung mit Gott unabhängig wäre und wo er in diesem Sonderbereich irgend jemanden, irgend etwas zu geben hätte, das nicht daher unsere Verbindung mit Gott geboten wird, ausgeschlossen. Es gibt keinen Sonderbereich der faktisch in gelegten Wegen ausserhalb der Verbindung mit Gott stehen dürfte, also eigenen Gesetzes, also das und das wäre ihm zu geben, unabhängig von meiner konstitutiven Verbindung mit Gott, als von ihr abgetrennt. Versuchen wir aus diesen einfachen Tatsachen zu folgern. Es kann keine, oder sagen wir genau, der Spruch vom Zinsgroschen kann nicht meinen, dass es eine Teilung des lebendigen Menschen, der lebendigen Seele, zwischen verschiedenen Bezirken der gleichen Sphären, einen Gottesbezirk und einen Kaiserbezirk geben kann. Wir müssen uns heute und hier einer anderen Auslegung zuwenden, wenn wir dem gerecht werden wollen, was dieser Spruch uns, für unsere geschichtliche Lage zu sagen hat. Nicht also als ob der Mensch eine Sphäre wäre einer von Gott, einer vom Staat und sofort und da gibt es verschiedene Bezirke, sondern wir müssen den Mut aufbringen, zu erkennen und zu verstehen, dass der Mensch nicht eine Sphäre ist, sondern – aber dann wird etwas zu erklären sein, – sondern zwei. Das ist aber nicht etwa die Zweiheit von Körper und Seele, denn das kann ja nicht gemeint sein. Es kann ja nicht gemeint sein, dass wir unseren Körper dem Kaiser und unsere Seele Gott zu geben haben, denn Gott begehrt nicht die abgelöste Seele, sondern den Menschen ganz und gar. Ich meine also nicht Körper und Seele, sondern ich meine und dann kommen wir an etwas, was meinem Gefühl nach einige Erklärung bedarf, aber wir können das vielleicht nachher tun. Ich meine die Sphäre der Ganzheit und eine Sphäre die ich nennen will, Sonderung, Aufteilung [Leerstelle] Sofern, oder sagen wir so, wenn und insofern der Mensch ganz wird, wird er Gott geben was er ihm zu geben hat, eben sich selbst, aber das sterbliche, unser sterbliches, von der Sterblichkeit, vom Anfang bis Ende geprägtes Leben, kann nicht in der Ganzheit verlaufen. Wir gehen notwendig immer wieder in die Sphäre ein, wo wir aufgeteilt sind, in verschiedene Bezirke, verschiedene Pflichten, verschiedene Zusammenhänge und nun ist die Frage, wie verhält es sich richtig, rechtmässig zwischen diesen zwei Sphären in uns. Was [Leerstelle] ich nicht [Leerstelle] mein Leben [Leerstelle] das tatsächliche Leben, der Tage und der Nächte, des Tuns dessen was man tun will und des Nichttuns dessen was man tun will und das Wort von Paulus, das schon angedeutet worden ist [Leerstelle]

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Wenn ich dies bis in dieser Sphäre der Aufteilung dies erfahre, das Andere, dies das ich nicht eins bin und dass dies und dies und dies und dies da ist, das mich verlangt, mich rechtmässig verlangt, wie ist dann das Verhältnis zwischen den beiden Sphären, jedes von uns, die der Unmittelbarkeit und die der Mittelbarkeit, und die der Direktheit und die der Indirektheit. Ein vollkommen unmittelbares Verhältnis können wir ja nur zu Gott haben, aber jede unmittelbare Beziehung zu einem anderen Wesen, schöpft ihr tiefstes Dasein, Möglichkeit, eben aus dieser Unmittelbarkeit zu Gott. Wir können zu dem anderen Wesen nur dann ganz unmittelbar sein, wenn wir zu Gott ganz unmittelbar sind, und diese unsere Unmittelbarkeit [Leerstelle] zwischen den Menschen, wird ermächtigt und ermöglicht durch diese Unmittelbarkeit zu Gott und mit Gott. So verhält es sich mit der Unmittelbarkeit, aber all das viele Mittelbare in das wir gestellt sind und dem wir uns nicht entziehen können, es ist unmöglich als [Leerstelle] Menschen Fleisch und Blut [Leerstelle] in reiner unmittelbarer Beziehung zum anderen zu leben. Das ist nicht mit uns gemeint. Wir können es nicht sondern [Leerstelle] Alles Mittelbare muss seine Rechtmässigkeit aus der Sphäre der Unmittelbarkeit, aus der Sphäre der Verbindung mit Gott zufolgen [Leerstelle] So also auch die Sphäre in der wir dem Staat zu geben haben was des Staates ist, je und je, müssen wir aus der Sphäre der Ganzheit, aus der Sphäre wo wir als jetzt ganz gewordene Wesen vor Gott stehen, das eben was am intimsten [Leerstelle] kennt, dass wir von da aus, aus dieser Sphäre der Ganzheit, der Unmittelbarkeit, je und je ermächtigt werden, aus der Sphäre der Aufteilung, jedem, ganz besonders dem Staat, das zu geben was ihm zukommt. Aber nicht so, dass wir es etwa ein für alle Mal buchen können, oder in irgend einem Buch, sei es auch in einem heiligen Buch, nachschlagen könnten, wie wir uns zum Staat zu verhalten haben, so und so, wir haben nur es nachzuschlagen, das eben gibt es nicht. Es wird dies dem Menschen, dies nicht abgenommen, dass ich mich in jeder neuen historischen oder geographischen Situation so, in meiner Ganzheit, oder mit meiner Ganzheit zu konfrontieren habe, dass ich da allein die Verbindung mit dem unbedingten verstehen kann, je und je, immer wieder neu, für diese neue Situation erfahre, was ich ihr, der und der Existenz oder Macht, zu geben habe. In dem Buch Deuteronomium, aus dem Jesus das Wort anführt, dass man Gott mit seiner ganzen Seele und mit seiner ganzen Macht lieben soll, also mit der Sphäre der Ganzheit, denn wir sind nicht ganz, wir können nur je und je die Ganzheit erlangen, die Ganzheit erreichen, weil

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wir sterblich sind, auf dieses Wort folgt bald nachher ein anderes in dem das Wort lieben, ein Spruch in dem das Wort lieben, [Leerstelle] oder richtiger zwei Sprüche. Zuerst wird gesagt Gott liebt und jetzt kommt ein eigentlich unübersetzbares jüdisches Wort, d. h. Gähr, das Wort Gähr übersetzt man gewöhnlich mit dem Fremdling. Aber nicht jeder Fremdling ist ein Gähr, ein Gähr ist der Mensch fremden Volkes der sich unter uns niedergelassen hat und mit uns leben soll und von dem wird nun besonders gesagt: Gott liebt ihn. Warum steht nicht da, Gott liebt den Israeliten, es steht nicht da, Gähr steht da, Gott liebt den Gähr, es steht Gott liebt den Gast … ?? den fremdwürdigen Gast ….. d. h. den vom Gesetz und von den Staatsordnungen am wenigsten gesicherten Menschen, den exponierten, den preisgegebenen Menschen, der wirklich zu Gott seine Zuflucht nehmen muss und dem Gott Hilfe, und dem Gott seine besondere Liebe gewährt, weil er der Gott ist der von sich sagt: in der Höhe der Heiligkeit wohne ich und weil der zermalmte am meisten erniederte am meisten ausgesetzte, preisgegebene, am meisten dem Leid preisgegebene Mensch [Leerstelle] und wieder fast unmittelbar danach steht in der Form des Gebots: Liebet den Gähr. Ihr sollt den Gähr lieben, warum, weil Gott ihn liebt. Weil wenn ihr Gott wirklich mit ganzer Seele und mit ganzer Macht liebt, ihr das zu lieben bekommt, den zu lieben, den Gott liebt. So wird nun aus der Sphäre der Ganzheit, in der wir Gott lieben, wird nun diese Beziehung der zu Gott gegenüber unmittelbare ermächtigt, sanktionierte Gebote [Leerstelle] die Liebe zu den abhängigsten Menschen. Dieser Art, wenn auch ganz anderer Struktur ist das Verhältnis zwischen unserer Beziehung zu Gott und unserer Beziehung zum Staat, zwischen unserem Geben an Gott und unserem Geben an den Kaiser. Das Geben an den Kaiser wird je und je in den wechselnden Situationen des Geschichtslebens und unseres eigenen Lebens gezeigt, gegeben, aufgegeben, ja geboten, von der Sphäre der Ganzheit und der Ganzheitsverbindung her. Was der Spruch vom Zinsgroschen uns sagt, das dürfen wir wohl in den Satz fassen: Gebet Gott Eure Ganzheit und Unmittelbarkeit und ihr werdet je und je erfahren was von Eurer Aufteilung und von Eurer Mittelbarkeit, ihr dem Kaiser geben dürft und sollt. Ich will Ihnen mit einigen anderen Beispielen, [Leerstelle] bemühen, [Leerstelle] in diesem Zusammenhang was das etwa wirklich bedeutet. Es ist klar, dass es in keiner Lebenssituation eine prinzipiell schon vorgezeichnete Entscheidung geben kann, die sagt, dies und dies macht ihr

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gleichviel der Staat soll als politisches Prinzip [Leerstelle] was ihr dem zu geben habt. Es gibt keine materiale festgestellte prinzipielle Entscheidung von der man ablesen könnte. Man muss immer selber darangehen. Man muss immer dem zu lebenden Augenblick mit seinem ganzen Wesen real machen, uns in die Ganzheit des eigenen Wesens, wo man mit Gott verbunden wird aufsteigen um daher das genaue Gebot zu empfangen, das ich nennen möchte die Demarkationslinie dieser Stunde zwischen dem was man dem Kaiser zu geben hat und dem was man ihm nicht zu geben hat. Dieses Zielen der Demarkationslinie ist ein Zielen bei dem die Hand des Menschen in der Sphäre der Aufteilung geführt wird von der Sphäre der Ganzheit her und immer wieder neu, und immer wieder anders, unvorhersehbar, unvorschreibbar, nicht Vorschrift, sondern je und je in genauestem Sinne die Eingebung dieses Augenblicks. Nicht weniger als das wird gewährt, aber nicht weniger als das wird gefordert. Dies, dass der Mensch so je und je, in dem Augenblick von der Entscheidung, und das sind vielleicht die grössten, vielleicht sogar die heiligsten Augenblikke des Lebens, in der Ganzheit um eine Entscheidung zu treffen, sei es auch nur für meine ganz persönliche Handlung in einer gewissen Situation, aber wenn das von mir aus geschieht ist die Entscheidung Entscheidung, d. h. sie gilt, wenn man das so ausdrücken darf, in die göttliche Entscheidung herein, aufgenommen, wie ein Kind das nicht einem Befehl des Vaters gehorcht, sondern mit dem ganzen Vertrauen des Kindes zum Vater kommt, wirklich zu Ihm kommt, wie so ein Kind zum Vater. Das bedeutet glaube ich, quantum satis, dass ist das woran es genug ist. Mehr wird nicht gefordert aber auch nicht weniger. Konflikt bleibt immer. Es gibt das nicht, dass ich in einer Situation nachsehen kann, ich bin zwischen verschiedenen Schichten dieser und dieser Art geteilt und nun ist es recht sich dem Konflikt der Pflichten zu entziehen und eine Formel mir sagen zu lassen was ich zu tun habe oder muss ich (mich) immer neu den ganzen grausamen Konflikt der Pflichten erdulden, bis zur echten Entscheidung meines ganzen Wesens. Quantum satis bedeutet nicht entweder/oder, sondern so sehr ich jetzt und hier kann, wenn ich so sehr ich kann, mich der Ganzheit einsammle und von ihr aus wage zu entscheiden. Dies ist was von mir gefordert wird. Nicht mehr und nicht weniger. Ich will mit einem Beispiel schliessen. Ein heute besonders aktuelles Beispiel. Es ist das Beispiel der modernen politischen Partei. Mehr oder weniger geht die Frage von der ich als eine Frage unserer Zeit redete, mehr oder weniger geht die Frage auf die Partei, dieses sonderbare Gebilde, das wir Partei nennen zurück. Soll man Mitglied einer Partei sein, d. h. darf man sich einer organisierten

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Gruppe anschliessen, die ihrem Programm nach das erreichen will was sie für gut und recht hält? Ich glaube man darf es, wenn man in der Partei ebenso Gott dienen will, d. h. wenn man die Wahrheit des Spruchs vom Zinsgroschen [Leerstelle] Existenz [Leerstelle] in die Partei einführt. Kann man das, so darf man das, kann man es nicht, merkt man dass man es nicht kann, so merkt man eben dass man nicht dazu taugt. Die Partei ist nämlich zusammengesetzt aus zwei Arten von Menschen. Die eine nenne ich die Realgesinnten, d. h. die Menschen die deshalb in die Partei eintreten weil sie diese Gesinnung haben, weil sie dieses Ziel haben und weil ihrer Einsicht nach dieses Ziel nur durch zusammenwirken von mehreren Menschen erreicht werden kann, aber daneben gibt es in der Partei die Fiktivgesinnten, d. h. die Menschen, die warum, aus irgendwelchen Motiven in die Partei eintreten. In dieser Partei, die so zusammengesetzt ist, worin vielleicht eine Mehrheit von Fiktivgesinnten und eine Minderheit von Realgesinnten anwesend ist, in dieser Partei hat sich der Mensch zu bewähren und Gott zu dienen, d. h. er hat das Fiktive in der Partei rücksichtslos und rückhaltslos zu bekämpfen in der Partei ohne dadurch die Partei zu zerstören. Das ist ein greuliches Geschäft. Ich möchte nicht ohne weiteres diesen Ratschlag geben, aber ich würde doch zu einem sagen: Traust du es dir zu? Vieleicht ist es sogar ein Zeichen dass Gott es dir zutraut! Ja, und nun aber, wir müssen noch einen Schritt weitergehen. Stellen Sie sich vor, was das bedeutet dass in jeder Gruppe, in jeder Partei, in jedem Staat, in jeder Gruppe schlechthin und [Leerstelle] dass wir alle den Fiktiven verneinen? Stellen Sie sich vor was das bedeutet, dass heute über diesen Planeten hin überall in jeder Gruppe Realgesinnte mit Fiktivgesinnte sozusagen auf [Leerstelle] und Verderb verbunden sind, aber denken Sie jetzt bitte einen Augenblick an die Realgesinnten allein. Denken Sie jetzt einen Augenblick lang nicht an die Fiktivgesinnten auch wenn Sie [Leerstelle] So denken Sie an diese echten Menschen, die in einer Gruppe aufgewachsen sind oder sich einer Gruppe angeschlossen haben aus realer auf die Ganzheit gerichteter Gesinnung und d. h. letztlich um Gottes Willen. Was ist mit ihnen? Sie haben sehr verschiedene Ziele, aber sie haben etwas ungeheures miteinander gemeinsam, dass sie das was sie meinen wirklich meinen, dass sie das was sie wollen wirklich wollen, und dass sie das was sie meinen zu tun, sei es im letzten Opfer, zu tun bereit sind. Dass es ihnen nicht darum geht dem anderen etwas aufzuerlegen, sondern selber mit dem woran sie glauben, den Lebensernst und Todesernst zu verwirklichen.

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Stellen Sie sich vor, dass durch alle diese Gruppen heute, diese Schar der realgesinnten Menschen also deren sie wirklich im gelebten Leben, aus dem öffentlichen Leben, Gott das geben wollen was Gottes ist. Sie wissen nicht von einander, zumeist wissen sie garnicht in einer Gruppe von dem Realgesinnten der anderen und dennoch haben sie alle miteinander etwas zu tun. Es gibt ein grosses Geheimnis zwischen den Realgesinnten auf der ganzen Welt und sie hängen ohne es zu wissen miteinander zusammen, so verschiedenes sie auch wollen [Leerstelle] riesenhaft zumindest durch die Echtheit dieses menschlichen Daseins sind sie miteinander verbunden quer durch alles [Leerstelle] geht die grosse Front der realgesinnten Menschen die Gott mittendrin, mitten in diesem so verklüfteten und widerspruchsvollen, öffentlichen Leben, das geben wollen was seins ist. Vielleicht wird eine Stunde kommen, wenn die grosse Katastrophe, diese letzte Drohung vorausschickt, wo nichts mehr übrig sein wird als das nachdem die Fiktivgesinnten versagt haben, die Realgesinnten aller Gruppen, die ja einander nicht kannten und von einander nichts wussten, zusammen treten und einander erkennen als Diener der einen, Gottes Wahrheit und erkennen dass alle menschliche Wahrheit, diese sei, letztlich nichts anderes sein kann, als die Treue an die eine wirkliche Wahrheit, die wir nicht besitzen können, der wir nur gehen können, die Treue zur Wahrheit Gottes. Vielleicht werden, wenn die Politiker, die keine gemeinsame Sprache mehr haben, nicht mehr versuchen können miteinander zu reden in der politischen Sprache, in der Sprache der politischen Deklamationen, die keine Sprache ist, keine Menschensprache. Vielleicht werden dann diese Realgesinnten aller Nationen, die eine gemeinsame Sprache haben, trotz aller Verschiedenheit, miteinander, in dieser Sprache, über die gemeinsamen menschlichen Situationen, die sie überkommen haben, dann miteinander zu reden beginnen und d. h. endlich beginnen gemeinsam als Menschen Gott zu geben was Gottes ist. Aber in einer Stunde wo eine Menschheit die sich verliert vor Gott steht, bedeutet das eben dasselbe wie dem Menschen zu geben was des Menschen ist. Abdruck von TS3.2: Der Spruch vom Zinsgroschen und unsere Zeit Seit mehr als drei Jahrzehnten ist es mir immer deutlicher geworden, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem das politische Prinzip den Menschen zu verschlingen droht. Unter all den Fragen, die uns heute hart

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bedraengen, ist diese zwar nicht die offenkundigste, aber vielleicht die schwerste. Dieser Gefahr gegenueber liegt es uns zunaechst ob zu klaeren, was das ist, das uns so bedroht. Es ist nicht etwa die aeussere Macht des Staates und seiner Institutionen ueber dem Staatsbuerger, es ist vielmehr wie gesagt ein Prinzip, das politische Prinzip. Dieses Prinzip, das die heutige Menschheit beherrscht, besagt, in einem Satz formuliert, die oeffentlichen Ordnungen seien rechtmaessig die Determinante unseres Daseins. In diesem Satz wird selbstverstaendlich nicht einfach die geschichtliche Tatsache konstatiert, die ja vielen der heute Lebenden aus ihren Lebenserfahrungen zur Genuege bekannt ist: dass das Schicksal der in einer Zeit existierenden Generationen in einem wesentlichen Masse von dem damaligen Verhaeltnis ihrer Staaten – bzw. ihrer Staatsvertreter als solcher – zu einander abhaengt. Sondern diese Abhaengigkeit wird g e b i l l i g t ; es wird gesagt: so ist es recht, es muss so sein, es soll so sein. Damit wird gemeint und behauptet, die Staatlichkeit mache den Wesensstand des Menschen aus, der Mensch bestehe um des Staates willen und nicht der Staat um des Menschen willen. Wer diese uralte, aber in unseren Tagen stark ausgebaute Lehre als verderblich erkannt hat, an wen kann er von ihr appellieren? Nur an eine Geistesmacht, die auf ein Absolutes hinzeigt, dem gegenueber die praetendierte Absolutheit des Staates sich als Schein erweist. In der ausserchristlichen Geisteswelt gibt es zwei grosse Denker – man darf sie religioese Denker nennen –, die sich mit der Problematik des Staates so tief befasst haben, dass wir uns mit unserem Anliegen an sie wenden duerfen. Es sind Laotse und Platon. Laotse stellt nicht Gesetz und Ordnung an sich in Frage, wohl aber das Uebermass und die Ueberhebung von Gesetz und Ordnung in ihren geschichtlichen Erscheinungsformen. Er bekaempft an ihnen, dass sie sich dem menschlichen Leben auferlegen, statt ihm zu helfen, sich dem grossen Sinn des kosmischen Seins gemaess zu entfalten. Der Herrscher solle durch eine Art aktiver Zurueckhaltung jeden seiner Untertanen zu dessen wahrem Wesen kommen lassen. Hier wird dem Verhaeltnis zwischen Mensch und Staat gegenueber eine bedeutsame kritische Haltung eingenommen. Dennoch duerfen wir uns der Fuehrung Laotses nicht anvertrauen. Denn er fordert von der Menschheit, dass sie von dem Stand ihrer Zivilisation zu einem Urstand zurueckkehren, wir aber koennen, um die Rettung und Heilung unseres Daseins zu vollbringen, nicht daran denken, dessen Grundlagen durch andere, urspruenglich zu ersetzen, sondern es ist diese unsre geschichtlich gewordene Welt, an deren Erloesung zu wirken uns aufgegeben ist. Was wir von Laotse zu wissen

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haben, ist grundwichtig, aber wir muessen es in die Sprache unserer eigenen Situation uebertragen. Platon verhaelt sich zu den geschichtlichen Erscheinungen des Staats nicht weniger kritisch als Laotse. Er bekennt, dass ihm bei der Betrachtung des politischen Treibens in all den Gemeinwesen ringsum schwindlich geworden sei, so schlecht regiert seien sie alle. Aber seine Kritik ist weniger grundsaetzlich als die Laotses, denn sie beruehrt nicht den entscheidenden Punkt, das Verhaeltnis zwischen der Regierung und dem regierten Menschen; den Primat des Staates und der Staatsvertretung stellt er nicht in Frage. In seinem Bild des rechten Staates sind Geist und Macht in einer Person vereinigt, aber er lehrt den Geist nicht, wie es Laotse tut, der Macht Grenzen zu setzen. Die wesentliche Voraussetzung ist fuer ihn, dass ein geistbegabter Mensch die Macht ergreife; aber er erwaegt nicht wie dem vorzubeugen sei, dass in dessen Seele und in denen seiner Helfer der Hauptinhalt der geheimen Weltgeschichte, der tragische Konflikt zwischen Geist und Macht fortwirke. So ungeheuer verschieden die platonische Utopie von allen Staatsverfassungen seiner Zeit war, die unbedingte Suprematie des Staates ueber den Einzelnen tastete sie nicht an; ja sie hatte hierin einen geradezu totalitaeren Zug. Die fuehrende Schicht repraesentiert hier den Staat in adaequater Weise, weil sie aus den »Besten« zusammengesetzt ist; aber ueber ihren Haeuptern steht kein Gebot, den beherrschten Menschen zu einem personhaften Leben zu fuehren. Der Mensch, an dem die Macht sich ausuebt und dessen Geist sich nicht entfalten kann, kommt in Platons Staatsbild nicht zu seinem Recht. Darum finden wir auch hier die Antwort nicht, die wir suchen. Wenn wir uns nun aber an die religioesen Botschaften wenden, aus denen das Glaubensleben des Abendlands erwuchs, so sehen wir alsbald, dass das sogenannte Alte Testament keine Erwiderung auf unsere Frage enthalten kann. Denn den Staat im Sinne der abendlaendischen Geschichte gab es im Glauben des alten Israel nicht. Da war das ganze oeffentliche Leben, Wirtschaft, Gesellschaft und politische Ordnungen der Intention nach vom Koenigtum Gottes aus bestimmt, und für den echt glaeubigen Menschen, den Traeger der prophetischen Botschaft, gab es den weltlichen Staat als eine selbstaendige, eigengesetzliche Sphaere nicht; der Herrscher war zum Statthalter Gottes eingesetzt und Ihm verantwortlich, er wurde demgemaess, wenn er sich gegen die Gerechtigkeit als goettlichen Auftrag verging, von dem Propheten im Namen Gottes zur Rechenschaft gezogen. In einer Welt wie diese, wo der Geist das politische Prinzip als Sonderprinzip nicht anerkennt, ist eine Antwort aus unsere Frage naturgemaess nicht zu finden.

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Sie kann erst ausgesprochen worden sein, nachdem die juedische Gemeinschaft in die Hoerigkeit Roms geriet und der Weltmacht nun nicht mehr als Gemeinschaft eigenen Sinnes und Ziels, sondern als Summe von Einzelne gegenueberstand, die zwar noch durch die Religion, aber nicht mehr durch die Tendenz zu ihrer Verwirklichung im oeffentlichen Leben verbunden waren. Jetzt erst erscheint unsere Frage nach den Grenzen des politischen Prinzips und seines Anspruchs. Ihre Erscheinungsform ist die Frage, die etliche Pharisaer an Jesus richten, um von ihm zu erfahren, was seine Botschaft im Hinblick auf das brennende Problem des Verhaeltnisses zu Rom praktisch bedeutete: sollte man die Steuer zahlen und damit kundtun, dass man die Zwangsmacht anerkenne, oder sollte man passiven Widerstand leisten? Jesus laesst sich die Muenze reichen, durch die die Abgabe zu entrichten ist, und, den Blick auf das darauf gepraegte Bild des Herrn des Imperiums gerichtet, heisst er sie ihm, dem Kaiser, geben was dem Kaiser zukommt, Gott aber das was Gott zukommt. Mehr als das wird nicht gesagt, eine Interpretation wird nicht gegeben, doch ist es offenbar, dass die Fragenden die Antwort als Ablehnung der Steuerverweigerung, der Hauptform des passiven Widerstands, zugleich aber auch als fundamentale Begrenzung des kaiserlichen, des staatlichen Anspruchs verstehen mussten. Was koennen wir aus Jesu Spruch vom Zinsgroschen lernen? Koennen wir daraus ueberhaupt etwas Wesentliches und Eindeutiges für unsere, von jener so verschiedene Situation lernen? Jede grosse religioese Botschaft ist in einer bestimmten historischen Situation und auf sie hin gesprochen worden. Ungleich der philosophischen Maxime mit ihrem zeitlosen Geltungswillen wendet sie sich an eine bestimmte Menschenschar; sie will dieser den Weg weisen, der fuer diese Menschen in dieser Stunde der rechte ist. Scheinbar kann sie ueber diese gegebene Situation hinaus keine Geltung beanspruchen. In Wahrheit aber sichert ihr gerade ihre Situationstreue, d. h. ihre Konkretheit den besonderen Dauerbestand – nicht den der Zeitlosigkeit, wohl aber den der All-zeitlichkeit. Immer wieder darf eine neue Generation mit ihrer neuen Sorge vor sie hintreten und von ihr Antwort, Wegweisung erbitten. Dazu bedarf es freilich einer neuen, zeitgerechten Auslegung. Aber diese bedeutet keine Willkuer. Das eben ist das Geheimnis der Botschaft, dass sie voller Antwort, voller Antworten ist. Man muss nur aus ihr zu schoepfen wissen. In unserer spaeten, so voellig gewandelten Situation, in der es nicht mehr um das Verhaeltnis zu einer Fremdherrschaft, aber auch nicht bloss um das zum eigenen Staat, sondern um das zum politischen Prinzip ueberhaupt geht, muessen wir den Schoepfeimer bis auf den Grund des

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Brunnens hinablassen. Wir muessen zunaechst fragen, was das heisse: Gott etwas geben. Ist das überhaupt noch die Handlung, die wir sonst mit »geben« bezeichnen? Kann, wenn vom Kaiser die Rede ist und wenn von Gott die Rede ist, mit dem Worte »geben« dasselbe gemeint sein? Wie kann ein Geben an Gott und das Geben an eine irdische Macht gleichgestellt werden? Dass ich dem Kaiser, dem Staat etwas gebe, geschieht auf der Grundlage eines gegenseitigen begrenzten Anspruchs. Er leistet mit Bestimmtes und verlangt von mir Bestimmtes. Kann man dieses Verhaeltnis zwischen Mensch und Staat dem zwischen Mensch und Gott vergleichen? Hat der Mensch ueberhaupt einen Anspruch an Gott? Wer wahrhaft die Erfahrung des Gebets gemacht hat, weiss wohl, dass er, wenn er mit einem Anspruch an Gott zu beten beginnt, diesen Anspruch alsbald nicht mehr festzuhalten vermag. Wenn aber Gott einen Anspruch an den Menschen hat – und wie sonst koennte von Dingen die Rede sein, die Gott zukommen! –, kann dieser Anspruch ein begrenzter sein? Kann er ueberhaupt anders begrenzt werden als je und je durch Gott selber? Eine tiefe Unruhe steigt aus den Fragen auf und ueberkommt uns. Wir muessen uns erneut dem Spruch vom Zinsgroschen zuwenden und ihm seinen Sinn fuer uns anders abzufragen suchen. Fangen wir mit dem Kaiser an, wie der Spruch mit ihm anfaengt. Die Ausleger haben ihn immer wieder so erklaert, die Menschen seien gehalten dem Kaiser zu leisten, was er von uns verlangt, so lange, als er nicht etwas von uns verlangt, was sich mit dem Glauben an Gott und mit dem Dienste Gottes, mit Bekenntnis und Kult nicht vertraegt, also etwa – wie es im roemischen Imperium ja mehrfach geschah – dass sie dem Kaiser als einem gottartigen Wesen opfern. Aber mit dieser Interpretation wird Gott aus dem Gott des Daseins zum Gott der Religion gemacht. Das ist nicht der, den wir meinen, wenn wir »Gott« sagen. Versuchen wir denn nun mit Gott zu beginnen, das heisst: mit dem Verhaeltnis des Menschen zu Gott, wie es der Mensch schon in seiner Fruehe verstanden hat, wenn er damit Ernst zu machen bestrebt war. Gerade das Beispiel des Opfers fuehrt uns auf ein uraltes Gefuehl des Menschen. Der Mensch hat Mal um Mal sein Verhaeltnis zu Gott so verstanden, dass er sich selber Gott schulde. Ein starkes Zeugnis dafür sind z. B. jene Opferformeln, in denen, vom alten Phoenizien bis zum indischen Islam, der Mensch sich mit dem von ihm dargebrachten Tier identifiziert; in sehr verschiedenen Kulturen, von primitiven bis zu hochentwickelten, finden wir Braeuche verwandten Charakters. Noch wichtiger aber fuer unsere Frage als dieses Urgefuehl, von dem wir zuweilen noch eine Spur

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auf dem Grunde unserer Seele entdecken, ist jenes biblische Gebot, das Jesus selber als das erste und oberste von allen bezeichnet hat: »Liebe den Herrn deinen Gott mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Macht.« Hier ist mit unueberbietbarer Klarheit das ausgesprochen, was dort in elementarem Dunkel auf dem Grunde heiliger Braeuche schlummert: das, was Gott zukommt, ist die Ganzheit des Menschen. Es darf im Menschen keinen Sonderbereich geben, innerhalb dessen er sich Gott entzieht, keinen Sonderbereich, den er Gott entzieht. Es gibt in der Welt keine Instanz, die zu Recht von mir fordern koennte, dass ich ausserhalb dieser meiner konstitutiven Bindung an Gott ihr etwas »gebe«. Jesu Spruch vom Zinsgroschen kann somit nicht meinen, der Mensch habe sein Leben, sein Dasein, sein Selbst zwischen Gott und Staat zu teilen, einen Kaiserbezirk und einen Gottesbezirk gegeneinander abzugrenzen. Sondern soweit der Mensch eine Ganzheit ist oder je und je eine Ganzheit wird – als Ganzheit schuldet er sich Gott, seine Ganzheit ist es die er Gott geben soll. Der Mensch ist ja beides in einem: er ist ganz und er ist aufgeteilt. Aufgeteilt ist er, weil seine Kraefte, seine Neigungen, seine Gedanken auseinanderstreben – er ist es, insofern sie auseinanderstreben; aber er ist auch ganz: weil in diesem Auseinandersein die Sehnsucht nach der Einheit wirkt und je und je sie erwirkt. Das ist aber nicht bloss etwas, was der Mensch zuweilen erlangt; es ist ja die Urganzheit des Menschen, die sich in solchem Erlangen erfuellt. Die Ganzheit ist ohne Unterlass lebendig im Menschen; auf dem Grunde seines Wesens, unter all dem Auseinander seiner Kraefte, Neigungen und Gedanken stroemt und kreist die einige Ganzheit. Sie ist es, die wir Gott geben sollen. Sie kommt ihm zu. Was dem »Kaiser« zukommt, kann nur aus der Sphaere unserer Aufgeteiltheit stammen. In ihr hat auch das, was wir dem Staate zu leisten haben, seinen Platz. Aber auch dies, wie alles was uns in dieser Sphaere beanspruchen darf, empfaengt seine Richtigkeit und Rechtmaessigkeit in jeder einzelnen Situation aus der Sphaere der Ganzheit. Von ihr her, der von uns Gott gegebenen, erfahren wir in der einzelnen Situation, was wir in dieser dem Kaiser zu geben haben. Wenn wir Gott geben, was ihm zukommt, wissen wir in der geschichtlichen Stunde, was in ihr dem Kaiser zukommt. Gebt Gott eure Ganzheit, sagt uns der Zinsgroschenspruch, und ihr werdet je und je erfahren, was jetzt und hier des Kaisers ist. Wir leben in einer Zeit, in der der Anspruch des politischen Prinzips sich mehr und mehr zum Totalitaetsanspruch, zur Beanspruchung der Gesamtexistenz des Menschen aufblaeht. Dem gegenueber geht es nicht an, die Geltung des politischen Prinzip materiell, ein fuer allemal zu be-

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grenzen, indem etwa ein Verzeichnis der Leistungen aufgestellt wird, die eine politische Ordnung von uns zu fordern berechtigt ist. Diese Begrenzung kann sich eben nur Mal um Mal, Seele um Seele, Situation um Situation rechtmaessig vollziehen, in der Verantwortung des Menschen vor Gott. Wenn die politische Seinsordnung meine Ganzheit nicht antastet, darf sie von mir verlangen, dass ich ihr jeweils so gerecht werde, als ich in der gegenwaertigen Situation glaube verantworten zu koennen. Es gibt hier kein Ein-fuer-allemal: in jeder Situation, die eine Entscheidung erheischt, ist die Demarkationslinie zwischen Dienst und Dienst neu zu ziehen. In allen politischen Gruppen sind die Realgesinnten, die einem Ziele in Wahrheit und Verantwortung zustreben, mit den Fiktivgesinnten vermischt, die ihren Interessen verknechtet sind. Gleichviel, ob die Realgesinnten Gottes Namen nennen oder nicht, sie dienen ihm; denn unabhaengig von der Nennung von Namen ist es moeglich, Gott und der Gruppe, der eine angehoert, zu dienen, wenn man nur herzhaft darauf bedacht ist, Gott auch im Bereich der Gruppe zu dienen, so sehr man kann. Diesen Menschen liegt es ob, in der Gruppe die Macht des Fiktiven zu bekaempfen. Es gibt eine Front, die, nur selten einem von den sie Bildenden in ihrer Gaenze bewusst werdend, quer durch alle Fronten dieser Stunde, die aeusseren und die inneren, geht. Da stehen sie aneinandergereiht, die Realgesinnten aller Gruppen, aller Parteien, aller Voelker, und wissen von Gruppe zu Gruppe, von Partei zu Partei, von Volk zu Volk wenig oder nichts voneinander, und doch, so verschieden auch die Ziele hier und hier sind, es ist doch e i n e Front; denn es ist der Kampf um die menschliche Wahrheit, der da ueberall gekaempft wird. Die menschliche Wahrheit aber ist ja nichts anderes als die Treue des Menschen zu der Einen Wahrheit, ihr, die er nicht besitzen, der er nur eben dienen kann, seine Treue zu der Wahrheit Gottes. Der Wahrheit treu bleibend, so sehr er kann, strebt er seinem Ziele zu, und die Ziele sind verschieden, sehr verschieden, aber die Linien, die zu ihnen fuehren, schneiden sich, ueber die Ziele hinaus verlaengert, in der Wahrheit Gottes, wenn der Weg in Wahrheit gegangen wird. Die an der Querfront Stehenden, die voneinander nicht wissen, haben miteinander zu tun. In dieser Weltstunde ist das Problem des gemeinsamen Menschengeschicks so widerborstig geworden, dass die routinierten Vertreter des politischen Prinzips zumeist sich nur noch zu gebaerden vermoegen, als ob sie ihm gewachsen waeren. Sie reden Rat und wissen keinen; sie streiten gegeneinander, und eines jeden Seele streitet gegen ihn selber. Sie brauchten eine Sprache, in der man einander versteht, und haben keine

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andere als die gelaeufige politische, die nur noch zu Deklarationen taugt. Vor lauter Macht sind sie ohnmaechtig und vor lauter Kuensten unfaehig, das Entscheidende zu koennen. Vielleicht werden in der Stunde, da die Katastrophe ihre letzte Drohung vorausschicken wird, die an der Querfront Stehenden einspringen muessen. Sie, denen die Sprache der menschlichen Wahrheit gemeinsam ist, muessen dann zusammentreten, um zusammen zu versuchen, endlich Gott zu geben, was Gottes ist, oder was hier, da eine sich verlierende Menschheit vor Gott steht, das gleiche bedeutet, dem Menschen zu geben, was des Menschen ist, um ihn davor zu retten, dass er vom politischen Prinzip verschlungen wird. Variantenapparat: 297,Anm Dieser Vortrag […] gehalten worden.] fehlt D1, D3, D6 ergänzt Er wird demnächst in Buchform innerhalb der Essaysammlung »Hinweise« im Manesse-Verlag erscheinen. D2 297,4-5 Ihr Ort ist nicht jenseits des menschlichen Getriebes] [Sie werden nicht jenseits des menschlichen Getriebes konzipiert und etwa auf eine Buchrolle geschrieben: eine Schar ist gegenwärtig] ! Ihr Ort ist nicht jenseits des menschlichen Getriebes H1 297,7 zusammengeschlossen] [konzentriert] ! zusammengeschlossen H1 297,7 im Augenblick] augenblickhaft H1, H2 297,16 es] dieses Geschlecht D3 297,17-18 die Erfüllung seiner Ursprungsabsicht] seine Ursprungsabsicht D3 297,19 historischen] [geschichtlichen] ! historischen H1 297,23 Interpretation] Interpretation [– womit ich selbstverständlich nicht eine hiomiletische, sondern die streng exegetische meine –] H1 297,24 Absicht] [Intention] ! Absicht H1 297,24-25 Stunde, da er gesprochen wurde,] Stunde seines Gesprochenseins H1, H2 297,28-29 nähert sich dem Grunde] [fährt auf einen Grund] ! nähert er sich dem Grunde H1 298,1 Bejahung] [gebotene Steuer] ! Bejahung H1 298,3-4 gesunden Menschenverstand] »gesunden Menschenverstand« H1, H2 298,22-23 in sinngemäßer Wiedergabe des […] Anzunehmenden] (in wortgetreuer Wiedergabe dessen, was […] anzunehmen ist) D3 298,22 sinngemäßer] [sinngemässerer] ! wortgetreuer H1 wortgetreuer H2 298,22 aramäische] [hebräische oder] aramäische H2

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298,29 Gott zu geben] Gott zu geben [halso zu leisteni] H 298,30 Ist denn auch] davor Absatzwechsel D6 298,34-35 in Wahrheit und Wirklichkeit] hin Wahrheit und Wirklichkeiti H1 299,3 Dienst] [Dienst] ! [Kult] ! Dienst H2 299,4-5 gottartigen Wesen] [Gotte] ! gottartigen Wesen H1 299,10-11 dann treffen wir in der Tiefe] [und unternehmen wir diese Ermittlung,] ! dann treffen wir [zu allererst auf dem Grunde] ! in der Tiefe H1 299,11-12 elementares] [abgründig] ! elementares H1 299,13 Gesamtheit] [Ganzheit] ! Gesamtheit H1, H2 299,16 Ersatz für ihn selber; der Leib] [Ersatz, das Lamm, wie es in einer semitischen Formel heisst, als »Ersatz« heisst »für sein Leben] ! Ersatz für ihn selber versteht; [das Fleisch] ! der Leib H1 299,19 Offenbarung, in deren Tradition] Offenbarung, [in der] ! in deren Tradition H1 299,22 seiner ganzen Macht] [all seinem Vermögen] ! seinem ganzen Vermögen H1 299,22 den Primat dieses Gebots] die »Erstheit« dieses [Wortes] ! Gebots H1 die »Erstheit« dieses Gebots H2 299,27 vom Zinsgroschen] berichtigt aus von Zinsgroschen nach D1, D2, D3, D6, D7 299,36 der heutigen Begrifflichkeit] [unserer heutigen Begriffsprache] ! der heutigen Begrifflichkeit H1 299,36 versuchen, da] versuchen, [habe aber eine Anschauung im Sinn, die [im Zeitalter] ! in der Epoche Jesu, dem Zeitalter Philos und Senecas auch für Palästina durchaus denkmöglich ist, wiewohl sie keine Formulierung] ! da H1 299,37 sich mit ihr abgegeben hat] [formuliert worden ist] ! sich mit ihr abgegeben hat H1 299,41 h, ontologisch betrachtet,i] H1 300,4 Wort] Gebot der Liebe Gottes H1 300,5 deiner ganzen Macht] [deinem ganzen Vermögen] ! deiner ganzen Macht H1 300,6 Sonderung oder Aufteilung] Sonderung H1 Sonderung hoder Aufteilungi H2 300,11-12 an die Sonderung, die Aufteilung gebunden] der Sonderung verhaftet H1 der Sonderung h, der Aufteilungi verhaftet H2 300,18 Unsere Liebespflicht zu ihm] [Die Liebe zum [Gastsassen] ! Fremdling] ! Unsere Liebespflicht zu ihm H1 Unsere [Liebe zum Fremdling] ! Liebespflicht zu ihm H2 2

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300,20 je und je] auch D 300,30 je und je] auch D3 300,31 Kaiser geben sollt.] [/ Wer diese Interpretation annimmt, für den geht daraus zwingend hervor, dass die Bestimmung und Abgrenzung dessen, was »des Kaisers ist«, nicht ein für allemal, sondern nur je und je im obersten Bereich des Menschen, in seinem Vor-Gott-Stehen erfolgen darf. Aber auch wer meint, die Interpretation ablehnen zu müssen, wird in dem Maße, als er den Zinsgroschen-Spruch ernst nimmt, zur gleichen Einsicht geführt, es sei denn, er wähnte, es stünde allweil eindeutig fest, was des Kaisers sei, sie sei nämlich ganz einfach damit identisch, was der Kaiser fordre] H1 300,35 gehalten sei, die Steuer zu entrichten] gehalten sei, dem fremden Gewaltstaat, der sein Volk verjocht hatte, die Steuer zu entrichten H1 300,38 widerspruchsvoller] [problematischer] ! widerspruchsvoller H1 301,7 ins Absolute] [nicht ins Allgemeine, sondern] ins Absolute H1 301,29 heutigen Generationen vorherrscht] [heute lebenden Menschen obwaltet] ! heutigen Generationen vorherrscht H1 301,33 Schicksal] äussere Schicksal H1, H2 301,33 in ihr Lebenden] [Menschen] ! in ihr Lebenden H2 301,36 festsetzen] statuieren H1, H2 301,40 zunichte gemacht] annuliert H1, H2 301,40-302,3 Ob der nach Abzug […] Belang sein.] fehlt D6 302,5-7 an den […] Absoluta […] Kritik üben] [den Kampf gegen die […] Absoluta […] aufnehmen] ! [sich gegen die […] Absoluta auflehnen] ! an den […] Absoluta […] Kritik üben H1 302,12 Grundform] [Hauptform] ! Grundform H1 302,14 des Einzelnen] [der menschlichen Person] ! des Einzelnen H1 302,15 Beziehung] Relation H1, H2 302,16 , durch die zweite, kollektivistische abgelöst worden] [, durch die zweite, kollektivistische abgelöst worden] H2 302,17-18 Zuträgliche] [Förderliche] ! [zu fördern Geeignete] ! Zuträgliche H2 302,18-20 Dieses »Wir« […] Herrschenden.] [Dieses »Wir« […] Herrschenden.] H2 302,21 seiende] [objektive] ! seiende H1 302,23-24 , wie wir sie […] Reihenfolge] h, wie wir sie […] Reihenfolgei H1 302,26-27 eigentümlich nahestehenden] [sei es nur praktisch, sei es theoretisch] ! eigentümlich nahestehenden H1 302,27-31 unter denen mir […] Hegel herkommt] [der französischen nihilistischen, die sich praktisch für den Marxismus »engagiert«, und 3

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der deutschen, neo-historistischen, die ihm naturgemäss ein tiefes Verständnis entgegenbringt. Ich kann mich darauf beschränken, auf die erste und die dritte dieser drei Tendenzen etwas genauer hinzuweisen, weil nur sie für unser Problem von realer Wichtigkeit sind. Die erste geht bekanntlich mit äussertem Nachdruck, die zweite nur tatsächlich von Hegel aus] ! unter denen mir […] Hegel herkommt H1 302,33 des großen Vico] Vicos H1, D1 302,36 verbindet sich eine noch intensivere] vollzieht er eine noch wesentlich intensivere H1 vollzieht er eine noch [wesentlich] intensivere H2 302,41 Träger der künftigen Wende] [[ausschliessliche Träger] ! [das aktuale Movens] ! Träger der hkünftigeni grossen Wende H1 [das aktuale Movens] ! der Träger der künftigen [grossen] Wende H1 303,1 politische Machtballung] [staatliche] ! politische Machtakkumulation H1 politische Machtakkumulation H2 303,4 Wundersprung] [Sprung] ! Wundersprung H1 303,6 Existentialismus Heideggers] Existentialismus Heideggers [in seiner zweiten, historistischen Phase] H1 303,9 Auferhellung] Aufhellung D3 303,11 betrachtet und über sie richtet] [in den Blick, in den richtenden Blick bekommen] ! betrachtet und über sie richtet H1 303,14 kühnsten] [wagemutigsten] ! kühnsten H1 303,17 vom Zeitlosen umgriffen] [umrandet] ! vom Zeitlosen umgriffen H1 303,18 , der in ihr nur erscheint] fehlt H1 h, der in ihr nur erscheinti H2 303,19 das Wissen] [die Ahnung] ! das Wissen H1 303,19 geschwunden] [verstummt] ! geschwunden H1 303,21-22 – gleichviel ob als […] unendlich –] fehlt H1 h– gleichviel ob als […] unendlich –i H2 303,22 die Absurdität auflauert] [im Absurden mündet] ! die Absurdität auflauert H1 303,27-28 Gottessitz der Vollmacht einnehmen.] [[Gottesthron einnehmen] ! [Thron des von Gott Ermächtigten einnehmen] ! Gottessitz der Vollmacht einnehmen. [Da es nun eben »den Staat« gar nicht gibt, sondern immer nur die Staaten, hilft man sich damit, dass man in dem jeweils erfolgreichsten den ermächtigten, den gottgewollten, den »sichtbarlich gesegneten« erblickt. // Es ist nun freilich so, dass auf eben der Tatsache, an der die absolute Geltung des Staates scheitert, auf der seine Pluralität, seine relative Geltung fusst:

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paradox ausgedrückt: der Staat ist notwendig, weil es mehr als einen Staat gibt.] H1 303,30 Wie geht es aber zu] Anschluss an vorigen Textteil durch Absatzwechsel D1 303,35 repräsentativ gewesene] [bestimmende] ! repräsentativ gewesene H1 303,35 Staatsseins] [absoluten] Staatsseins H1, H2 304,1 schmalen Stammes-Territoriums] hschmaleni Territoriums H1 304,11 die feindlichen Gemeinschaften werden] die feindliche Gemeinschaft wird D1 304,11-12 die feindlichen […] spürbar] die feindliche Gemeinschaft ist [fast in allen Zeiten der Geschichte] ! zumeist weit stärker [fühlbar] ! spürbar H1 304,15-16 Unterschiede der Interessen als radikale Gegensätze] als radikale Interessengegensätze H1, H2, D1 304,16 akkumulierte] geballte D1, D2 304,16 Herrschaftmacht] [Staatsmacht] ! Herrschaftsmacht H1 304,17 Gewinn zu ziehen] [zu profitieren] ! Gewinn zu ziehen H1, H2 304,19 Hilfe zu leisten] [zu assistieren] ! Hilfe zu leisten H1 [zu assistieren und] Hilfe zu leisten H2 304,20-21 im Anbeginn unserer Geschichtsstunde] an der Schwelle [solcher Zeiten] ! dieser Zeit H1 [an der Schwelle dieser Zeit] ! im Anbeginn unserer Geschichtsstunde H2 304,22 den Begriff des Politischen] [das politische Prinzip] ! den Begriff des Politischen 304,23-24 , wobei der Begriff […] einschließe] h, wobei der Begriff […] einschließei H1 304,26 lebenswerte] erhaltenswerte H1 [erhaltenswerte] ! lebenswerte H2 erhaltenswerte D1, D2 304,27 todeswerte] ausschaltungswerte H1 [ausschaltungswerte] ! todeswerte H2 ausschaltungswerte D1, D2 304,28 dringe] eindringe D3 304,32 Lebensbereich] [Lebensraum] ! Lebensbereich H1 304,33 unfrei wird] unfrei wird [und insbesondere von den Fabriken des Guten Gewissens] H1 304,36 Rechtlichkeit] Rechtlichkeit [, ja von einer recht aktiven Menschlichkeit] H2 304,37-38 , nachdem diese […] »Feind« sei,] h, nachdem diese […] »Feind« sei,i H1 304,40 foltern, morden] foltern, morden; es gab darunter auch [manche] ! nicht wenige als strenggläubig bekannte Männer, die offenkundig

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sicher waren, dass ihre Partei sich im Besitz eines [Spezial-]Generalablasses für alles befindet, was ihre Mitglieder in ihrem Dienste tun H1 foltern, morden [; es gab darunter auch nicht wenige als strenggläubig bekannte Männer, die offenkundig sicher waren, dass ihre Partei sich im Besitz eines Generalablasses für alles befindet, was ihre Mitglieder in ihrem Dienste tun] H2 304,41 zuverlässig gearbeitet] zuverlässig gearbeitet. [Es scheint auch dann noch unanfechtbar zu funktionieren, wenn sein Inhaber um zwei Uhr nach Mitternacht aus dem Schlafe fährt, aber nach dem ersten jähen Erschrecken den gewohnten Seelenfrieden wiederfindet.] H1 305,3 grausamen Konflikte] hgrausameni Konflikte H1, H2 305,5-6 Seelenkampfes, das Fehlen] [inneren Kampfes] ! Seelenkampfes H1 [inneren Kampfes] ! Seelenkampfes h, das Fehleni H2 305,6 nicht] auch nicht D3 305,9 realiter] wirklich D3 305,9 sagen] feststellen H1, H2 305,15-16 man kann] man jeweils kann D1 305,18 die politische Seinsordnung] das politische Prinzip H1 305,20 inneren Konflikt] hinnereni Konflikt H1 305,21 können] [dürfen] ! können H1 305,21 kein Ein-für-allemal] keine Kantsche Maxime, kein Ein-für-allemal H1 [keine Kantsche Maxime,] kein Ein-für-allemal H2 305,23 Furcht] [Angst] ! Furcht H1 305,36 dorniges] [ebenso schwieriges als] dorniges H1 305,37 der politischen Ordnung] des politischen Prinzips H1, H2 305,40 kann es einem nicht obliegen] hat einer nicht H1, H2 306,4 Ziel] [ursprünglichen] Ziel H1 306,7 dünkt mich, es gebe] dünkt mich [zuweilen, ich wisse] ! es gebe H1 306,7-8 nur selten […] bewußt werdend] obwohl sie denen, die sie bilden, nur selten bewußt wird D1, D2, D3 306,10-12 aller Parteien […] voneinander,] und wissen von Gruppe zu Gruppe nichts voneinander, und haben von Gruppe zu Gruppe nicht Fühlung miteinander H1 306,18 , sehr verschieden] fehlt H1, H2 306,23 Wir leben] [Noch eins ist zu berühren, das nur eben berührt werden, auf das nur eben hingedeutet werden kann.] Wir leben H1 306,24 routinierten] [beamteten] ! routinierten H1 306,31 unfähig, das Entscheidende] [preisgegeben] ! unfähig, das Entscheidende H1

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306,31-32 Vielleicht werden […] wird, die an] [In allen Winkeln ihrer Versammlungshäuser lauert der Verderber.] Vielleicht ist der Augenblick nicht fern, in dem die Realgesinnten, die an H1 [Vielleicht ist der Augenblick nicht fern, in dem] ! Vielleicht werden […] wird, die an H2 306,35 um mitsammen] um in später Stunde mitsammen H1 um [in später Stunde] mitsammen H2 306,38-39 davor zu retten, […] verschlungen wird] vor dem Verschlungenwerden durch das politische Prinzip zu retten H1, H2 306,38-39 verschlungen wird] zusätzlich Anmerkung Wie die Stiftung erfährt, hat Professor Buber den Preisbetrag einer internationalen Organisation zur Verständigung zwischen Juden und Arabern zur Verfügung gestellt. D1 nach Leerzeile werden abgesetzt die Verse Mt 22,15-22 abgedruckt D2, D3 Wort- und Sacherläuterungen: 297,2 (1947)] Es ist unklar, worauf sich diese Angabe bezieht. Eine Druckfassung aus diesem Jahr existiert nicht, es haben sich keine Nachrichten über einen Vortrag zu dem Thema erhalten. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich um einen Druckfehler handelt. 297,30 Jesu Spruch vom Zinsgroschen] Die in den drei synoptischen Evangelien berichtete Episode (Mt 22,15-22; Mk 12,13-17; Lk 20,2026) überliefert den Spruch Jesus: »So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.« (Mt 22,21; Mk 12,17 u. Lk 20,25). 299,21-22 der Mensch solle Gott »mit seiner ganzen Macht« lieben] Vgl. Dtn 6,5. 300,5 »mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Macht«] Ebd. 300,16-18 Zuerst wird gesagt, Gott liebe […] Gastsassen lieben] Dtn 10,18 f. 301,14-15 »daß der Staat ist«, […] der »wirkliche Gott«] »[…] es ist der Gang Gottes in der Welt, dass der Staat ist, sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft. Bei der Idee des Staates muß man nicht besondere Staaten vor Augen haben, nicht besondere Institutionen, man muß vielmehr die Idee, diesen wirklichen Gott, für sich betrachten.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von Eduard Gans, in: Hegel, Werke, Achter Band, Berlin 1833, S. 320. 301,15 »mit Bewußtsein realisiert«] »Der Staat ist der wirkliche Geist, der in der Welt steht und sich in derselben mit B e w u ß t s e y n realisiert, während er sich in der Natur nur als das Andere seiner, als schlafender Geist verwirklicht.« Ebd., S. 319 f.

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301,16-17 Volksgeist als »das sich wissende und wollende Göttliche« versteht] »Die P e n a t e n sind die inneren, u n t e r e n Götter, der Vo l k s g e i s t (Athene) das sich w i s s e n d e und w o l l e n d e Göttliche; die P i e t ä t die Empfindung und in Empfindung sich benehmende Sittlichkeit – die p o l i t i s c h e Tu g e n d das Wollen des an und für sich seyenden gedachten Zweckes.« Ebd., S. 312. 301,18-19 »nur daran sein Wesen«, was er dem Staat verdankt, hat er »allen Wert«, den er hat, »allein durch den Staat«] »In der Weltgeschichte kann nur von Völkern die Rede seyn, welche einen Staat bilden. Denn man muß wissen, daß ein solcher die Realisation der Freiheit, d. i. des absoluten Endzwecks ist, daß er um sein selbst willen ist; man muß ferner wissen, daß aller Werth, den der Mensch hat, alle geistige Wirklichkeit, er allein durch den Staat hat. Denn seine geistige Wirklichkeit ist, daß ihm als Wissenden sein Wesen, das Vernünftige gegenständlich sey, daß es objektives, unmittelbares Daseyn für ihn habe; so nur ist er Bewußtseyn, so nur ist er in der Sitte, dem rechtlichen und sittlichen Staatsleben.« Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke, hrsg. von Eduard Gans, Neunter Band, Berlin 1848 S. 49. 302,6 den Archonten] Archon war einer der neun höchsten Beamten in der griechischen Polis. 302,32 Marxens sogenannte »Umkehrung« des Hegelschen Weltbildes] Karl Marx postulierte, er habe in seiner materialistischen Dialektik die idealistische Dialektik Hegels »vom Kopf auf die Füße« gestellt. 302,33 des großen Vico] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 321,16. 302,39-40 der Staat gehört nur dem, als solchem relativierten »Überbau«] Im Marxismus wird zwischen dem ökonomischen »Unterbau« und dem »Überbau« rechtlicher, religiöser und künstlerischer Vorstellungen unterschieden. Letzterer soll auf ersterem basieren und wesentlich von ihm abhängig sein. 304,5-6 »Indem der Staat, das Vaterland, eine Gemeinsamkeit des Daseins ausmacht …] »Indem der Staat, das Vaterland, eine Gemeinsamkeit des Daseyns ausmacht, indem sich der subjective Wille des Menschen den Gesetzen unterwirft, verschwindet der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit.« Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 49. 304,6 Jakob Grimm] Jacob Grimm (1785-1863): deutscher Sprach- und Literaturwissenschaftler; Begründer der deutschen Philologie. 304,23 »Freund – Feind«] Anspielung auf Carl Schmitts Reduktion allen politischen Denkens und Handelns auf das Freund-Feind-Schema.

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304,24 Begriff des Feindes »die Möglichkeit der physischen Tötung« einschließe] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 6. Aufl. Berlin 1996, S. 33: »Der Begriff Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, dass sie insbesonderer auf die reale Möglichkeit des physischen Tötung Bezug haben und behalten.« 305,11 Daß man nicht Gott und dem Mammon dienen könne] Mt 6,24 u. Lk 16,13. 306,21 Querfront] Diesen Begriff im Sinn von »überparteiischem Verhalten« nutzt Buber in selber Weise im Vortrag »Religion und Politik«, jetzt in: MBW 11.1, S. 374. Staat und Kultur Diese Rede wurde bei der Zeremonie anlässlich der erstmaligen Verleihung des Israel-Preises gehalten. Es handelt sich um den prestigeträchtigsten Preis, den der Staat Israel verleiht und hat mehrere Kategorien für künstlerische und wissenschaftliche Bereiche. Buber selbst erhielt 1958 diesen Preis im Bereich »Geisteswissenschaften«. In Hugo Bergmanns Tagebüchern findet sich zu der ersten Preisverleihung folgende Notiz (20. April 1953): »Mittags die Verleihung der Israel-Preise. Die Feier war einfach und würdig, Buber hielt das Schlußwort über das Verhältnis von Staat und Kultur: Ägypten, wo die Kultur dem Staat dient, gegen Athen.« (Bergmann, Tagebücher & Briefe, Bd. 2, S. 137.) Zeitnah erschien in einer arabischen Zeitung, die von der israelischen Arbeiterpartei und der Histadrut herausgegeben wurde, die ins Arabische übersetzte Rede. Textzeugen: D1: Medina we-tarbut, Ha-aretz vom 30. April 1953 (MBB 943). D2: in: Buber, Teʿ uda we-jiʿ ud, 2. Bd.: Am weʿ olam. Maʾ amarim al injane ha-schaʿ a, Jerusalem: Ha-sifrija ha-zionit, S. 357-358 (MBB 1182). Übersetzung: Arabisch: in: Aljom, 8. Mai 1953 (MBB 943). Druckvorlage: Übersetzung aus dem Hebräischen von Karin Neuburger. Wort- und Sacherläuterungen: 307,30-31 »langsames inneres Verwelken und Unvermögen zur Neubelebung seiner Jugend«] Vgl. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Be-

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trachtungen, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 1, Paderborn 2011, S. 79: »Auch die Despoten mochten dann die priesterliche entstandene Kunst für sich ausnützen. / Allein die Kunst wird dann mit der Zeit nicht bloß auf einer gewissen Höhe erhalten, sondern auch nach oben festgehalten, d. h. die weiteren, höheren Entwicklungen werden einstweilen abgeschnitten durch hieratische Stillstellung; das einmal mit enormer Anstrengung Erreichte gilt als heilig, wie besonders am Anfang und am Ausgang der alten Kulturwelt Ägypten und Byzanz lehren. / Ägypten ist dabei geblieben, hat die Schritte zum Individuellen nie machen dürfen und ist unfähig geworden, überhaupt in ein Neues auszumünden und überzugehen.« Moses Hess und die sozialistische Idee Buber gab in den Jahren 1954 und 1956 im Auftrag der Zionistischen Organisation eine zweibändige Ausgabe der Schriften von Moses Hess (1812-1875) in der »Zionistischen Bibliothek« heraus. 1954 erschien zunächst der Band mit den »nationalen«, d. h. den protozionistischen Texten von Moses Hess, dessen von Buber verfasste Einleitung in MBW 21 zu finden ist. 1956 erschien dann der Band mit den »allgemeinen« Schriften, d. h. insbesondere den sozialistischen Schriften von Hess. In seinem Buch Israel und Palästina (1950) stellt Buber Moses Hess als »Begründer des modernen zionistischen Gedankenbaus« dar. (Vgl. das Kapitel »Der Erste der Letzten (Moses Hess)«, jetzt in: MBW 20, S. 268-279, hier S. 268.) Da die erhaltene Handschrift in deutscher Sprache lediglich einen rohen Entwurf darstellt und nicht selbst als Druckfassung dienen kann, zumal sie an einigen Stellen unlesbar ist und der hebräische Druck mitunter erweiterte und umgearbeitete Stellen aufweist, wird an dieser Stelle auf eine durch Simone Pöpl erstellte Übersetzung der autorisierten hebräischen Veröffentlichung zurückgegriffen, bei deren Erstellung der Wortlaut der Handschrift als Grundlage diente. Auf die Wiedergabe von Korrekturen in der Handschrift wird deshalb aus pragmatischen Gründen verzichtet. Textzeugen: H: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var 350 05 10); 27 lose Blätter. D: Mosche Hess we-ha-raʾ jon ha-sotzialisti, Mavo, in: Mosche Hess, Ketavim klaliim[Allgemeine Schriften], hrsg. von Martin Buber, Jerusalem: Ha-sifrija ha-tzionit al-jede ha-histadrut ha-tzionit 1956, S. 9-24 (MBB 1941).

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Druckvorlage: Übersetzung von D unter Zuhilfenahme von H. Wort- und Sacherläuterungen 309,19 Lehre Zarathustras] Zarathustra (2./1. Jt. v. Chr.): legendärer Religionsstifter des Zoroastrismus, der persischen bzw. altiranischen Religion. Der ausgeprägte Dualismus zwischen Ahura Mazda und Ahriman, der Kampf des Guten und des Lichts gegen das Böse und die Finsternis, wird schließlich zu einem Sieg des Ahura Mazda führen. 309,23-29 Der Prophet erkennt klar […] oder hindert.] Diese These hat Buber 1954 in seinem Aufsatz »Prophetie, Apokalyptik und die geschichtliche Stunde« (jetzt in: MBW 15, S. 380-393) ausgearbeitet. 310,10-11 »Heiligen Geschichte der Menschheit«] Das Buch erschien anonym als Die heilige Geschichte der Menschheit. Von einem Jünger Spinoza’s, Stuttgart 1837. 310,20-21 die biblische Weissagung] Vgl. Sach 14,9. 310,25-26 »idealen Pantheismus«] [Hess], Die heilige Geschichte der Menschheit, S. 238. 310,34 »Einheit des Lebens«] 1843 erklärt Hess: »Das vorige Jahrhundert ist noch nicht bis zum Grundprinzip der Neuzeit hindurch gedrungen, obgleich es diesem Prinzipe, der absoluten Einheit alles Lebens, den Weg zu den Kulturstaaten Europas dadurch bahnte, daß es sich polemisch und kritisch gegen die mittelalterliche Gestaltung des sozialen Lebens, gegen Staat und Kirche verhielt.« Moses Hess, »Sozialismus und Kommunismus«, in: Moses Hess, Sozialistische Aufsätze. 1841-1847, hrsg. von Theodor Zlocisti, Berlin 1921, S. 6078, hier S. 62. 311,9 Saint-Simons] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 9,3. 311,17 »heiligen Stamm«] Vgl. Ex 19,6. 311,19-26 »Im alten Bunde« […] im Auge hatten.«] Hess, Die heilige Geschichte der Menschheit, S. 235 f. 311,41-312,1 »die Ungleichheit ihren Höhepunkt erreicht«] Ebd., S. 248. 312,5-6 »Die Zukunft als Folge dessen, was geschehen ist.«] Ebd., S. [227]. 312,13-14 »das letzte Ziel der alt gewordenen Menschheit«] Ebd., S. 251. 312,16 »Offenbarung an Esra« (IV. Buch Esra)] Ein in der Vulgata überliefertes apokryphes Buch, dessen griechische Vorlage verlorengegangen ist. Während die einleitenden zwei Kapitel christlich sind (manchmal auch als Esra V bezeichnet), stammt das eigentliche Textkorpus von jüdischen Kreisen ca. 95/100 n. Chr. Zur »altgewordenen Menschheit« vgl. 4Esr 14,10.

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312,25 Bakunin] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 146,12-13 u. 159,7. 312,30-31»in einer Schrift, […] zu sein verdient«] Das zugrundeliegende Rede-Manuskript findet sich im Hess-Nachlass im Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis in Amsterdam (Signatur B 154), vgl. Edmund Silberner, Moses Hess. Geschichte seines Lebens, Leiden 1966, S, 54. 312,39-40 durch die Gesetze für das 7. und das 50. Jahr] Buber meint die biblische Gesetzgebung zum Schuldenerlass im siebten Jahr (Sabbatjahr) und Rückgabe des Bodens im 50sten Jahr (Jobeljahr), vgl. Dtn 15,1-11 und Lev 25,1-55. 313,12 Ferdinand Tönnies] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 181,19. 313,13 »von den älteren Sozialisten der entschiedenste«] Nicht nachgewiesen. 313,32 Fichte] Johann Gottlieb Fichte (1762-1814): dt. Philosoph des Idealismus. 313,38-314,1 »Die europäische Triarchie«] Das Werk erschien anonym in Leipzig 1841. 314,15-16 in der dritten meiner »Reden über das Judentum«] Das ist die Rede: »Die Erneuerung des Judentums«; jetzt in: MBW 3, S. 238-256. 314,30-36 Die Idee der absoluten Einheit alles Lebens« […] nicht gekannt.«] Hess, Die europäische Triarchie, Leipzig 1841, S. 147 f. 314,40 Cieszkowski] Graf August von Cieszkowski (1814-1894): polnischer Geschichtsphilsoph und Ökonom, kam 1832 mit Beginn seines Studiums in Berlin in Kontakt mit Hegels Philosophie. 315,6 »praktische, angewandte, vollführte, spontane, gewollte, freie«] Vgl. August von Cieszkowski, Prolegomena zur Historiosophie, Hamburg 1981 [Nachdruck von Berlin 1838], S. 16. 315,7 »die ganze Sphäre der Tat« […] »die Vollführer der Geschichte erzeugt«] Ebd. 315,7-11 »die Philosophie der Praxis: […] überhaupt.«] Vgl. ebd., S. 129. 315,14 Mickiewicz] Adam Mickiewicz (1798-1855): polnischer Dichter der Romantik; neigte zu einem politisch-religiösen Messianismus. 315,28 »positiven Übergang«] Hess, Die europäische Triarchie, S. 13. 315,30 Georg Lukács] (1885-1971): ungarischer marxistischer Philosoph und Literaturtheoretiker. 315,34-36 »die Zukunft […] methodologisch entdeckt«] Zitat aus Georg Lukács, Moses Hess und die Probleme der idealistischen Dialektik, in: Werke, Bd. 2: Frühschriften II, Neuwied 1968, S. 643-686.

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316,1-3 »Natur und Geschichte« […] manifestiert werden.«] Hess, Die europäische Triarchie, S. 7. 316,26 »die Revolutionshöhe erreicht] Ebd., S. 173. 316,26-28 wird vom modernen Geist nicht mehr erlitten« […] »geschaffen« werden] Vgl. Ebd., S. 89: »Der Geist schuf also nicht die Revolution, sondern erlitt selbst erst in Folge dieser seine eigene Metamorphose […] Er folgt nun nicht, wie ehedem, der metamorphosirten Außenwelt, sondern diese mußte ihm, dem neuen Geiste folgen.« 316,28-30 »sie wird die praktische κατ εξοχην, […] ausüben wird.«] Ebd., S. 89 f. 316,33 ‫ ]דעת‬daʾ at; hebr.: »Wissen«, »Erkennen«. Buber denkt bei dem »aktiven Kontakt« an den Gebrauch dieser Wurzel für »Beischlaf« wie in »Adam erkannte seine Frau Eva« (Gen 4,1). Vgl. Buber, Bilder von Gut und Böse, S. 33 (jetzt in: MBW 12, S. 327). 317,9 Ludwig Feuerbach] (1804-1872): dt. Philosoph und Religionskritiker. Das Wesen des Christentums erschien 1841 in Leipzig. 317,33-35 »wahren Bedürfnis« der Menschheit, dass sie der »antizipierten Zukunft« entspreche] (nicht nachgewiesen). 317,35-36 »die empirische Tätigkeit auch als eine philosophische Tätigkeit«] »Aber wie kommt die Philosophie zur Empirie? Dadurch, daß sie sich nur die Resultate der Empirie aneignet? Nein, nur dadurch, daß sie die empirische Tätigkeit auch als eine philosophische Tätigkeit anerkennt […].« Ludwig Feuerbach, Der Anfang der Philosophie. Von Reiff. (Rezension), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9: Kleinere Schriften II (1839-1846), hrsg. von Werner Schuffenhauer, Berlin 1970, S. 143-153, hier S. 145. 318,3-4 von diesem »Gespensterglauben« freimachen] Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie (1842), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 243-263, hier S. 247. 318,5-6 »Der denkende Mensch […] sich weiss.«] »Die neue Philosophie ist keine abstrakte Qualität mehr, keine besondere Fakultät – sie ist der denkende Mensch selbst – der Mensch, der ist und sich weiß als das selbstbewußte Wesen der Natur […].« Ebd., S. 259. 319,34 »der wahre Humanismus Sozialismus«] Vgl. »die wahre Lehre vom Menschen, der wahre Humanismus, ist die Lehre von der menschlichen Gesellschaftung, d. h. Anthropologie ist Sozialismus.« Moses Hess, Ueber die sozialistische Bewegung in Deutschland, in: ders., Sozialistische Aufsätze 1841-1847, hrsg. von Theodor Zlocisti, Berlin 1921, S. 107-135, hier S. 115 f. 319,37 »Die Krise der deutschen Philosophie«] Der Titel lautet »Gegen-

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wärtige Krisis der deutschen Philosophie« in: Moses Hess, Sozialistische Aufsätze 1841-1847, S. 8-11. 319,38-39 »dem errungenen Selbstbewusstsein gemäss«] sinngemäß, ebd., S. 10. 320,4 »die Masse mit seinen Ideen zu befruchten«] Ebd. 320,15 Begegnung mit Karl Marx] Zum Einfluss von Hess auf Marx, vgl. Zwi Rosen, Moses Hess und Karl Marx. Ein Beitrag zur Entstehung der Marxschen Theorie, Hamburg 1983. 320,27-28 »Nationalökonomie und Philosophie«] Marx äußert sich in der Vorrede positiv über die Aufsätze von Hess »Sozialismus und Kommunismus«, »Philosophie der Tat« und »Die Eine und die ganze Freiheit!«. Vgl. MEW 40, S. 467. 321,1-2 besonders im Kommunistischen Manifest] Hess wird im Kommunistischen Manifest nicht namentlich genannt, ist aber mitgemeint, wenn die »deutsche Ideologie« darin verurteil wird. Vgl. das Zitat in den Wort- und Sacherläuterungen zu 324,23-24. 312,16 Giambattista Vico]: ital. politischer Philosoph und Historiker im Zeitalter der Aufklärung. 321,32-33 »Spruch der Philosophie […] Götter«] Karl Marx, Vorrede zur Dissertation Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, in: MEW, Ergänzungsband. Erster Teil, S. 261-305, hier S. 262. 321,33-35 »die das menschliche […] Keiner neben ihm sein.«] Ebd. 323,12-13 »Wir stehen«, […] Einlass«] Vgl. Hess, Ueber die sozialistische Bewegung in Deutschland, S. 103. 323,15 »Not des Magens«] Ebd., S. 129. 323,18-19 Mitgefühl mit dem Leiden der Menschheit«] Ebd. 323,21-22 »dass es […] menschlich leben müsse.«] Ebd., S. 131. 323,25 »Kapitulation« vor Marx] Vgl. den Brief von Moses Hess an Karl Marx und Friedrich Engels vom 28. Juli 1846 in: Karl Marx Friedrich Engels Briefwechsel Mai 1846 bis Dezember 1848, in: Karl Marx Friedrich Engels Gesamtausgabe, Dritte Abteilung: Briefwechsel, Band 2, S. 247 f. Die Einschätzung, es handele sich um eine »Kapitulation«, geht auf die Marx-Biographie Karl Marx. Geschichte seines Lebens (1918) von Franz Mehring zurück. Vgl. jedoch Edmund Silberner, Moses Hess, S. 261 f. 323,27 »Organisation der Erziehung und der Arbeit«] Moses Hess, Ueber die Not in unserer Gesellschaft und deren Abhilfe, in: ders., Sozialistische Aufsätze 1841-1847, hrsg. von Theodor Zlocisti, Berlin 1921, S. 135-157, hier S. 140. 323,30 »echt deutsche Illusion«] Ebd., S. 147.

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Haltet ein!

324,12 Marxens Biograph Mehring] Franz Mehring (1846-1919): dt. Publizist und Politiker. Vgl. auch die Wort- und Sacherläuterung zu 323,25. 324,14-18 »So notwendig […] aller Farben fertig.«] Brief von Hess an Karl Marx, 28. Juli 1846, in: Karl Marx Friedrich Engels Briefwechsel Mai 1846 bis Dezember 1848, S. 247 f. 324,23-24 »statt der Interessen […] Wesens«] Das vollständige Zitat im Kommunistischen Manifest, MEW, Bd. 4, S. 486: »Die französiche sozialistisch-kommunistische Literatur wurde so förmlich entmannt. Und da sie in der Hand des Deutschen aufhörte, den Kampf einer Klasse gegen die andere auszudrücken, so war der Deutsche bewußt, die ›französiche Einseitigkeit‹ überwunden, statt wahrer Bedürfnisse das Bedürfnis der Wahrheit und statt der Interessen des Proletariers die Interessen des menschlichen Wesens, des Menschen überhaupt vertreten zu haben.« 324,27-28 »Sie sind zu materialistisch […] der das Volk hinreisst.«] Das Zitat findet sich in der in Genf erschienenen Schrift Jugement dernier du vieux monde social, die auszugsweise in den von Eduard Bernstein herausgegebenen Documente des Sozialismus. Hefte für Geschichte, Urkunden und Bibliographie des Socialismus, Berlin 1902, Bd. 1, S. 537-552, abgedruckt ist. Zitat S. 540. 324,30-31 »Wir sind am Ende […] Welt bei.«] Ebd., S. 546. Haltet ein! Im Jahr 1954 veröffentlichte die amerikanische kirchliche Zeitschrift Pulpit Digest eine Umfrage zur ersten Explosion einer Wasserstoffbombe. Zu ihr trug auch Buber einen kurzen Text bei, den er in deutscher Sprache im August 1957 in der Schweizer Zeitschrift Neue Wege erneut veröffentlichen ließ, um seine Zustimmung zu einem Beitrag von Karl Barth (1886-1968) in den Neuen Wegen (»Es geht ums Leben«, Juni 1957, S. 110 f.) zum Ausdruck zu bringen, wie aus der redaktionellen Vorbemerkung hervorgeht: »Martin Buber, Professor an der Hebräischen Universität, Jerusalem, ein alter Freund Leonhard Ragazens und der ›Neuen Wege‹, schreibt uns, daß er seiner Zustimmung zur Äußerung von Prof. K. Barth (siehe Juniheft der ›Neuen Wege‹) öffentlichen Ausdruck verleihen möchte. Auf seinen Wunsch bringen wir nachstehend seine Botschaft zur Atomwaffenfrage, die er er 1954 im ›Pulpit Digest‹, einer amerikanischen kirchlichen Zeitschrift, als Antwort auf eine Umfrage veröffentlichte.«

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Karl Barth hatte in seinem Beitrag in eindringlichen Worten vor der Gefahr eines Atomkriegs gewarnt und an die Öffentlichkeit in Ost und West appelliert, ihre Regierungen zu einem Umsteuern aufzufordern. »[Die Menschen] sollen ihrer Regierung und ihrer Presse mit allen Mitteln zu verstehen geben, daß sie weder ausrotten noch ausgerottet werden wollen, auch nicht zur Verteidigung der »freien Welt«, auch nicht zur Verteidigung des Sozialismus! Sie sollen den Verantwortlichen im Westen und im Osten ein Halt zurufen, daß ihnen die Ohren gellen.« (Barth, »Es geht ums Leben«, S. 111.) Gegenüber dem »ungewollten Selbstmord der Menschheit« plädiert Buber angesichts des Destruktionspotenzials der Wasserstoffbomben für einen wohl abgewogenen Kompromiss. Textzeugen: D1: Neue Wege, LI/6, August 1957, S. 164-165 (MBB 1058). D2: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 231-232 (MBB 1270). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: [Message], Pulpit Digest, 34. Jg., Heft 194, Juni 1954, S. 36; A Talk with the Politicians, in: God and the H-Bomb, hrsg. von Donald Keys, Foreword by Steve Allen, New York: Bellmeadows Press, with Bernard Geis Associates 1961, S. 73-74 (MBB 1176); Stop!, in: Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967 (MBB 1293). Hebräisch: in: Buber, Olelot, Mossad Bialik 1966 (MBB 1292). Niederländisch: Houdt op!, in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Politik aus dem Glauben Buber hielt diese Rede zum »Tag der Arbeit« dem 1. Mai 1933. Zu den historischen Umständen vgl. die Einleitung zu [Rede anlässlich des 1. Mai], in diesem Band, S. 421 f. Im Oktober 1957 publizierte die Redaktion der »Schweizerischen Wochenzeitung für Recht, Frieden und Freiheit« Der Aufbau den Text und versah diese »Nachschrift« der Rede mit

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folgendem Hinweis: »Wir geben hier die Nachschrift eines von Martin Buber am 1. Mai 1933 gehaltenen Vortrages wieder. Verständlicherweise dürfen wir M. Buber nicht an allen Stelllen mit dem Wortlaut dieses Stenogramms belasten; aber der Gedankengang ist der seine.« Vor dem Hintergrund des Jahres 1933 spricht Buber nicht mehr offen politisch, sondern vermittelt über Referenzen aus der Hebräischen Bibel seine politische Botschaft. Der sprachliche Ausdruck erscheint tatsächlich recht untypisch für Buber, z. B. »Menschenreich und Gottgemeinschaft decken sich« (in diesem Band, S. 328). Der Ort und die Umstände dieser Rede waren nicht mehr zu ermitteln, allerdings muss sich Buber der Erinnerung von Mosche Spitzer zufolge am 1. Mai 1933 in Heppenheim aufgehalten haben. Während Spitzer bei den Bubers in Heppenheim zugegen war und sie unfreiwillig Teile der von den Nationalsozialisten organisierten Maiparaden sahen und hörten, kam ein junger Mann zu Buber und führte mit ihm eine kurze Unterredung. Danach kam Buber sehr aufgeregt aus seinem Studienzimmer und sagte, dass es sich um einen Beamten gehandelt habe, dem befohlen worden war an der Parade teilzunehmen, was ihn aber mit Ekel erfülle und er so nicht zu Frau und Kind heim gehen könne, ohne dass er seinen Ekel Buber mitgeteilt habe. Er sagte zu Buber: »I lifted my hand to say Heil Hitler and I feel that the hand is filthy. Please shake my hand and I promise that I will never again raise my hand in such a salute.« Der junge Mann war Ludwig Metzger (1902-1993), der daraufhin tatsächlich den Staatsdienst verließ, sich aktiv in der »Bekennenden Kirche« engagierte und nach dem Krieg Oberbürgermeister von Darmstadt wurde. (Gordon, The Other Buber, S. 149.) Textzeugen: D1: Der Aufbau, XXXVIII/41, 25. Oktober 1957, S. 321-323 (MBB 1066). 2 D : Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 190-197 (MBB 1270). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: Politics born of Faith, in: Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967, S. 174-179. (MBB 1293). Hebräisch: in: Buber, Olelot, Mossad Bialik 1966 (MBB 1292).

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Niederländisch: in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van HengelBaauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Variantenapparat: 327,26 deren] berichtigt aus dessen nach D2 329,22 Midrasch] Talmud D2 Wort- und Sacherläuterungen: 327,20-21 König bleibt er in Zeit und Ewigkeit.] Ex 15,18. 329,4 »sacro egoismo«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 225,40-41 in MBW 11.1. 329,7 Dostojewskijs »Dämonen«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 236,21-31 in MBW 11.1. 329,22 Im Midrasch wird […] erzählt] bMeg 10b (BT, Bd. IV, S. 40); bSan 39b (BT, Bd. VIII, S. 615). Der Mensch im Zeitalter der Weltraumfahrten Der Text wurde am 25. Dezember 1957 in der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel im Rahmen einer »Weihnachtsumfrage« zum Thema »Der Mensch im Zeitalter der Weltraumfahrten« veröffentlicht. Anlass war der am 4. Oktober 1957 durch die Sowjetunion gestartete erste Satellit »Sputnik«. Neben Buber antwortete unter anderem der konservative Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen (1904-1976). Bubers Text ist mit einem Faksimilie seiner Unterschrift versehen. Textzeugen: H: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 156); 1 Blatt, doppelseitig beschrieben mit blauem Stift, mit wenigen Korrekturen versehen. TS: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 156); bestehend aus 2 nur teilweise beschriebenen Blättern, mit wenigen Korrekturen versehen. D1: Der Tagesspiegel, 25. Dezember 1957, S. 7 (MBB 1063). D2: Weltraumfahrt, in: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 265 ff. (MBB 1270). Druckvorlage: D1

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Gruß und Willkomm

Übersetzungen: Englisch: World Space Voyage, in: Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967, S. 224 (MBB 1293). Niederländisch: in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van HengelBaauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Variantenapparat: 332,1 Der Mensch im Zeitalter der Weltraumfahrt] Weltraumfahrt D2 332,2 die Erwerbung] [das Geschenk] ! die Erwerbung H 332,8 Demut] neue Demut D2 332,14 Der Mensch] davor Absatzwechsel D2 332,17 vorwegnehmen] vorwegzunehmen versuchen H 332,18-19 das Menschengeschlecht als solches einig] die Gattung Mensch als solche H Gruß und Willkomm Theodor Heuss (1884-1963) hat als Altbundespräsident im Jahr 1960 zum ersten Mal Israel besucht. Auf dieser Reise hielt Heuss am 9. Mai 1960 eine Vorlesung an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Dazu hielt Buber als Begrüßung eine Ansprache, die hier abgedruckt ist. Der jüdische Ner-Tamid-Verlag in München publizierte sie in dem Buch Staat und Volk im Werden, das neben Bubers Ansprache Heuss’ Vorlesung »Staat und Volk im Werden« über Israel als demokratischen Staat und Ernst Simons Schlussworte enthielt. In einem Fernsehinterview (28. Juni 1960) bemerkt Heuss zu dem Rahmen der Veranstaltung: »Ich habe an der Hebräischen Universität deutsch gesprochen, wie Carlo Schmid wenige Monate zuvor: Man hat mich verstanden. Ich wurde auf Hebräisch begrüßt. Das hat Martin Buber besorgt, um dann Deutsch fortzufahren – das wurde als eine ganz selbstverständliche Vermittlungsform angesehen.« (Staat und Volk im Werden, S. 72.) Der zweite Teil des Bandes enthält eine Ansprache, die Heuss bei der Gedenkfeier für Otto Hirsch (1885-1941) anlässlich der Einweihung der ihm gewidmeten Gedenkstätte in Schawe Zion hielt. Otto Hirsch war 1933 zusammen mit Leo Baeck einer der Gründer der Reichsvertretung der Deutschen Juden, die von den Nationalsozialisten 1939 zwangsweise in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland überführt wurde. 1941 wur-

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de er im Konzentrationslager Mauthausen ermordet. Heuss war mit Otto Hirsch gut befreundet gewesen und setzte sich seit Ende des Krieges dafür ein, dass seiner in Deutschland würdig gedacht wird. Textzeugen: D1: Theodor Heuss (Hrsg.), Staat und Volk im Werden, Reden in und über Israel, München: Ner-Tamid-Verlag 1960, S. 9-10 (MBB 1146). D2: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 249-251 (MBB 1270). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: Greeting and Welcome, in: Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967, S. 215-217 (MBB 1293). Niederländisch: Groet et welkom, in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Wort- und Sacherläuterungen: 333,2 Heuss!] Theodor Heuss: Journalist und liberaler Politiker; 1. Vorsitzender der FDP und von 1949 bis 1959 erster Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Theodor Heuss wurde 1959 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Die Verleihung fand während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, den 11. Oktober 1959, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hielt Benno Reifenberg (1892-1970). Am 19. Oktober 1959 folgte die Verleihung des Hansischen Goethe-Preises. 334,9-10 »Ich habe mein Leben […] leiden können.«] »Denken Sie, ich habe mein Leben lang das Wort ›Toleranz‹ nicht leiden können, den anderen dulden, vielleicht sogar erdulden: das ist einmal Anmaßung, dann aber hat es auch den Unterton des Schwächlichen, ja Weichlichen gewonnen.« Theodor Heuss, Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1959, in: Ansprachen aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Frankfurt a. M. 1959, S. 11 f. 334,17 ›menschlichen Vertrauen‹, das in der Tiefe wachse] Vgl. Theodor Heuss, Selbstgestaltung der Demokratie, in: Gedenkschrift zur Verleihung des Hansischen Goethe-Preises 1959, S. 15-26, hier S. 26.

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[Dankesrede für den Münchner Kulturpreis]

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[Dankesrede für den Münchner Kulturpreis] Bereits am 9. November 1954 hatte Buber in München einen Vortrag mit dem Titel »Der Mensch und sein Gebild« gehalten (jetzt in: MBW 12, S. 449-463; vgl. den Kommentar in MBW 12, S. 788 f.). 1956 besuchte er die Stadt erneut, diesmal, um über das Thema »Dem Gemeinschaftlichen folgen« (jetzt in: MBW 6, S. 103-123) zu sprechen. Vom 11.-15. Juli 1960 kam Buber ein drittes Mal nach München: er hielt den Eröffnungsvortrag »Das Wort, das gesprochen wird« (jetzt in: MBW 6, S. 125-137, vgl. auch den Kommentar, ebd., S. 178-183) im Rahmen der Tagung »Wort und Wirklichkeit«, die von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste ausgerichtet wurde und die Buber mitgestaltet hatte. Das Jahr zuvor hatte Buber wegen des Todes seiner Frau Paula an der Veranstaltung nicht teilnehmen können. Während dieses Aufenthalts wurde Buber als dritter Preisträger nach dem Physiker Werner Heisenberg (1901-1976) und dem Dirigenten Bruno Walter (1876-1962) mit dem »Kulturellen Ehrenpreis der Landeshauptstadt München« beehrt. Der Preis ist Persönlichkeiten mit »internationaler Ausstrahlung« vorbehalten, die sich durch »künstlerische, kulturelle oder wissenschaftliche Leistungen« besonders verdient gemacht haben. Der Sammelband München ehrt Martin Buber (1961) versammelt neben Bubers kurzer Danksagung die Ansprache des damaligen Oberbürgermeisters Hans-Jochen Vogel, Paula Bubers Beitrag »Betrachtungen einer Philo-Zionistin«, Schalom Ben-Chorins Erinnerungen »Martin Buber in München« sowie Bubers Text »Wie kann Gemeinschaft werden«, den er auf der Tagung des Verbandes des jüdischen Jugendvereins im Juni 1930 in München gehalten hatte. (Jetzt in: MBW 8, S. 185-199.) Laut der Verleihungsurkunde wird Buber nicht nur für sein Lebenswerk geehrt, sondern für »einen kulturell-ethischen Zionismus, den er als einen Teil der allgemeinen jüdischen RenaissanceBewegung auffaßt. Sie soll vor allem in künstlerischen und kulturellen Leistungen ihren Niederschlag finden und zugleich Teil einer allgemeinen Menschheitsbewegung sein. Diese geistige Einstellung macht Buber gerade im Jahre 1960, in welchem der Münchner Stadtrat einstimmig den Beschluß zu einem verstärkten kulturellen Austausch mit dem Staate Israel gefaßt hat, zum hervorragenden Repräsentanten der erneuerten Beziehungen zwischen dem jüdischen und dem deutschen Volk.« (Rede von Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, in: München ehrt Martin Buber, S. 8 f.)

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Textzeuge: D: München ehrt Martin Buber, München: Ner-Tamid-Verlag 1961, S. 11-12 (MBB 1146). Druckvorlage: D Wort- und Sacherläuterungen: 335,11-12 als München sich selbst untreu wurde] Im Nationalsozialismus galt München als »Hauptstadt der Bewegung«. Zu zwei Burckhardt-Worten Carl Jacob Burckhardt (1891-1974) war ein Schweizer Diplomat, der im Jahr 1937 zum Hochkommissar für die Freie Stadt Danzig ernannt wurde. Von 1945-1948 war er Präsident des Internationalen Roten Kreuzes. Daneben veröffentlichte er eine dreibändige Richelieu-Biographie und war als Historiker tätig. Buber nimmt in seinem Text, in der 1961 erschienenen Festschrift zum 70ten Geburtstag von Carl J. Burckhardt Stellung zu dessen Kritik an dem Spruch des Historikers Jacob Burckhardt, »die Macht sei an sich böse«. Buber bezieht sich dabei auf seine eigenen Überlegungen zu Gut und Böse. (Vgl. Bilder von Gut und Böse, jetzt in: MBW 12, S. 315-358.) In einem Brief vom 11. November 1961 geht Burckhardt ausführlich auf das von Buber aufgeworfene Problem, wie Macht zu bewerten sei, ein, bedankt sich für Bubers Beitrag und stimmt ihm zu: »Ich denke, es ist so, daß Macht weder gut noch böse ist. Aber sicher ist sie immer wieder nötig und zwar in den allerverschiedensten Dosierungen.« (B III, S. 528.) Textzeugen: D1: Carl J. Burckhardt, Hermann Rinn u. Max Rychner (Hrsg.), Dauer im Wandel – Festschrift zum 70. Geburtstag von Carl J. Burckhardt, München: G. D. W. Callwey 1961, S. 102 (MBB 1181). D2: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 200 (MBB 1270). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: On Two Burckhardt Sayings, in: Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and ex-

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[Greetings to Bertrand Russell]

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planatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967 (MBB 1293). Niederländisch: Bij uitspraken van twee Burckhardts in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Wort- und Sacherläuterungen: 336,3 die Macht sei an sich böse] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 13,27. 336,3-4 hat Carl Burckhardt in seiner Münchner Rede von 1960] Es handelt sich um die Rede »Das Wort im politischen Geschehen«, die Burckhardt auf der von Buber mitveranstalteten Tagung in München hielt, vgl. den Kommentar zu »[Dankesrede für den Münchner Kulturpreis]«, in diesem Band, S. 335. Burckhardts Rede erschien 1960 in dem Band Worte und Wirklichkeit, (Sechste Folge des Jahrbuchs Gestalt und Gedanken), hrsg. von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München. 336,10-17 »gleichviel wer sie ausübe […] eine Gier.«] »Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also Andere unglücklich machen.« Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Berlin und Stuttgart 1905, S. 96. [Greetings to Bertrand Russell] Der Geburtstagsgruß zu Bertrand Russells 90ten Geburtstag erschien 1962 in der Broschüre. Into the 10th Decade – Tribute to Bertrand Russel. Weitere Gratulanten waren der damalige israelische Landwirtschaftsminister Moshe Dayan (1915-1981) und der Schriftsteller Isaac Deutscher (1907-1967). Mit dem Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell verband Buber der gemeinsane Kampf gegen die atomare Bedrohung. Russell engagierte sich weiterhin stark im Kampf für bürgerliche Rechte und Menschenrechte und sollte später gegen den Vietnamkrieg kämpfen. Buber konnte ihn dafür gewinnen, ein von Buber formuliertes Telegramm an das sowjetische Staatsoberhaupt Nikita Chrustschow (1894-1971) zu schicken, dessen Wortlaut war: »News has come to us, through the Soviet and international press, that in the Soviet Union the death penalty has been instituted for economic and other offences, for which it is not generally the custom to punish with death. // The undersigned belong to those who, as a matter of principle, are op-

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posed to the death penalty. The Soviet Union has for many years been one of the countries where the death penalty did not exist, and this aroused our sympathy. And just because of it, we are gravely concerned that as from about nine months ago increasing death sentences have been passed for economic offences and the like. We consider that this judicial custom does not agree with a great, progressive and cultured people, and we call on the Government of the Soviet Union to abolish this system of internal contest against economic offences. We zealously call upon you to prevent the execution of the death sentences which have already been passed by soviet courts. We are further concerned by the fact that prejudices have not yet been rooted out from the wide masses towards some minorities living among them, these causes might eventually bare the entire Jewish community to grave dangers, those, of course, being contrary to the aims of the Soviet Union itself. // We are positive that you will see in this application no intention to harm the position the Soviet Union enjoys in the world. We are driven solely by the concern for the maintenance of universal human standards, as well as for the good name of the Soviet Union, so as to render easier international understanding towards world peace.« (B III, S. 541.) Buber weist Russell in seinem Brief vom 4. März 1962 darauf hin; daß in »der Mehrzahl der von der Sowjetpresse veröffentlichten Fälle […] es sich bei den zum Tode Verurteilten um Juden« handelte. (Ebd., S. 538.) Des weiteren konnte der Schriftsteller François Mauriac (1885-1970) als Mitunterzeichner des Telegramms gewonnen werden. Textzeugen: H: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 008 705b.I); 1 Blatt, einseitig beschrieben, mit wenigen Korrekturen versehen. TS: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 008 705b.I); 1 Blatt, einseitig beschrieben; Reinschrift von H. D: Into the 10th Decade – Tribute to Bertrand Russel, London: The Malvern Press 1962 (MBB 1202). Druckvorlage: D Wort- und Sacherläuterungen: 337,2-4 »The question is […] to destruction?«] Aus Bertrand Russells Rede im House of Lords am 28. November 1945, kurze Zeit nach dem Abwurf der ersten Atombomben am 6. bzw. 9. August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki. Vgl. The Parliamentary Debates (Hansard), House of Lords official report, 1945, Bd. 138, Sp. 89.

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Nachbemerkung [zu: Nach dem Eichmann-Prozess]

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Nachbemerkung [zu: Nach dem Eichmann-Prozess] Bubers Text ist seine persönliche Stellungnahme zu der Kontroverse, die sich 1963 um Raoul Hilbergs The Destruction of the European Jews (1961) und Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil (New York 1963) entwickelt hatte. Sie erschien in dem Buch Nach dem Eichmann Prozess. Zu einer Kontroverse um die Haltung der Juden, das vom Council of Jews from Germany von Siegfried Moses (1887-1974), dem Vorsitzenden der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, 1963 in Tel Aviv herausgegeben wurde. In ihm nehmen die jüdischen Funktionäre und Intellektuellen Kurt Löwenstein (19021973), Adolf Leschnitzer (1899-1980), Hans Tramer (1905-1979) und Ernst Simon Stellung zu Arendts Vorwürfen, »daß jüdische Führer bei der Zerstörung ihres eigenen Volkes mitgewirkt hätten«. (Nach dem Eichmann Prozess, 1963, S. 7.) Explizit zu Bubers Verhalten schreibt Arendt: »Martin Buber called the execution a ›mistake of historical dimensions‹ as it might ›serve to expiate the guilt felt by many young persons in Germany‹ […] Professor Buber went on to say that he felt ›no pity at all‹ for Eichmann, because he could feel pity ›only for those whose actions I understand in my heart,‹ and he stressed what he had said many years ago in Germany – that he had ›only in a formal sense a common humanity with those who took part‹ in the acts of the Third Reich. This lofty attitude was, of course, more of a luxury than those who had to try Eichmann could afford, since the law presupposes precisely that we have a common humanity with those whom we accuse and judge and condemn. As far as I know, Buber was the only philosopher to go on public record on the subject of Eichmann’s execution (shortly before the trial started, Karl Jaspers had given a radio interview in Basel, later published in Der Monat, in which he argued the case for an international tribunal); it was disappointing to find him dodging, on the highest possible level, the very problem Eichmann and his deeds had posed.« (Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 229 f.) Darauf entgegnet Ernst Simon (Hannah Arendt-Eine Analyse, in: Nach dem Eichmann Prozess, S. 51-97, hier S. 81 f.) recht bissig: »Aber Buber und seine Freunde kommen in einer anderen von Hannah Arendt bespöttelten Funktion […] vor, wenn auch wiederum keineswegs in gewissenhafter Darstellung der Tatsachen. / Dem früheren New Yorker Bürgermeister La Guardia wird der Ausspruch zugeschrieben: ›We must have the facts, before we distort them.‹ […] Hannah Arendt scheint sich oft nicht einmal dieser präliminarischen Mühe unterzogen zu haben; sie sieht lieber gleich schief, um dann noch schiefer urteilen

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zu können. So behauptet sie, Buber habe eine Aktion für ›Begnadigung‹ Eichmanns unternommen […], während er genau im Gegenteil immer betont hat, dass der gnadenlose Untermensch keiner Gnade wert war. Die von ihm initiierte und von etwa 15 Männern und Frauen des öffentlichen Lebens in Israel – aber keineswegs nur von Universitätsprofessoren wie H. A. […] will (Anmerkung: Unter diesen befanden sich allerdings auch einige Vertreter philosophischer oder an die Philosophie grenzender Lehrfächer: Hugo Bergman, Nathan Rotenstreich, Shmuel Samburski, Gerhard Scholem, Ernst Simon. Hannah Arendt schreibt: ›Soweit ich weiss, war Buber der einzige Philosoph, der sich öffentlich zur Frage von Eichmanns Exekution geäussert hat‹ […]. Scholems Aufsatz, gegen die Vollstreckung der Todesstrafe, erschien nachträglich in der hebräischen Presse, war aber vorher abgefasst.) – unterzeichnete Eingabe an den Staatspräsidenten bediente sich nicht vor allem des Arguments, der Staat Israel solle sich nicht von Eichmann zwingen lassen, zum ersten Male in seiner Geschichte einen Galgen auf seinem Boden zu errichten. In einer persönlichen Kundgebung fügte Buber hinzu, dass er für Eichmann ›keinerlei Mitgefühl fühle‹ (also auch nicht um ›Gnade‹ für ihn bitten könne!), da er dieses Gefühl nur denen gegenüber aufbringe, ›deren Taten er in seinem Herzen verstehen kann‹ […]. In diesem Zusammenhang wiederholte Buber eine Formulierung, die er ›viele Jahre früher in Westdeutschland gebraucht hatte.‹ Sie lautet in ausführlicherer Wiedergabe als bei Hannah Arendt, wie folgt: ›Ich, einer der am Leben Gebliebenen, habe mit denen, die an jener Handlung (einer systematisch vorbereiteten und durchgeführten Prozedur, der an organisierter Grausamkeit kein geschichtlicher Vorgang zu vergleichen ist) in irgendeiner Funktion teilgenommen haben, die Dimension des menschlichen Daseins nur zum Scheine gemein; sie haben sich dem menschlichen Bereich so dimensional entrückt, so in eine meinem menschlichen Vorstellungsvermögen unzugängliche Sphäre der monströsen Unmenschlichkeit versetzt, dass nicht einmal ein Hass, geschweige denn eine Hass-Überwindung in mir hat aufkommen können.‹« Das letztgenannte Zitat Bubers stammt aus der Rede zum Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels »Das echte Gespräch und die Möglichkeit des Friedens« (jetzt in: MBW 6, S. 95). Textzeugen: H: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 007 008); 2 gefaltete DINA3-Bögen; der erste Bogen ist komplett beschrieben (Vorderseite, linke u. rechte Innenseite, Rückseite), vom zweiten Bogen nur die Vorderseite beschrieben mit blauem Stift, mit Korrekturen versehen.

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Nachbemerkung [zu: Nach dem Eichmann-Prozess]

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TS : Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 007 008); 2 lose unpaginierte Blätter, einseitig beschrieben. TS2: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 007 008); 2 lose unpaginierte Blätter, einseitig beschrieben. Das Typoskript ist zweischichtig: 2.1 TS : Grundschicht: Durchschlag von TS1. TS2.2: Überarbeitungsschicht: zahlreiche Korrekturen stilistischer Natur, nicht von Bubers Hand. Der gleiche Autor, der die Korrekturen vornahm, hat das Typoskript mit Nachfragen und Randbemerkungen versehen, die ebenso wie die stilistischen Änderungen im kritischen Apparat nicht berücksichtigt werden. TS3: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 007 008); 2 lose unpaginierte Blätter, einseitig beschrieben. Das Typoskript ist zweischichtig: TS3.1: Grundschicht: Abschrift von TS2.2. TS3.2: Überarbeitungsschicht: einige Korrekturen von Bubers Hand. Da es sich um Korrekturen stilistischer Natur handelt, werden diese im kritischen Apparat nicht berücksichtigt. D1: Nach dem Eichmann Prozess. Zu einer Kontroverse über die Haltung der Juden, hrsg. vom Council of Jews from Germany, London, Jerusalem u. New York: Bitaon Publishing 1963, S. 99-101 (MBB 1234). D2: Die Kontroverse Hannah Arendt, Eichmann und die Juden, München: Nymphenburger Verlagshandlung 1964, S. 233-234 (in MBB nicht verzeichnet). 1

Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: Postscript, in: In the Wake of the Eichmann Trial, hrsg. vom Council of Jews from Germany, London, Jerusalem u. New York: Waldon Press 1964, S. 60-61 (in MBB nicht verzeichnet). Variantenapparat: 338,3 Den gewichtigen Ausführungen […] hinzuzufügen] fehlt H, TS1, TS2.1, TS2.2, TS3.1, TS3.2 338,5-10 Hannah Arendt […] Ein Autor] Nicht um das, was hier Hannah Arendt erwidert worden ist, zu ergänzen schreibe ich diese Nachbemerkung nieder. Was ich in der Kritik vermisse, die sie an der von der Führung der deutschen Juden in der Stunde [der schwersten] ! einer vergleichslos schweren Probe eingenommenen Haltung übt, ist die Mitwirkung [seelischen] ! inneren Tätigkeit, die als Realphantasie bezeichnet werden mag. H, TS1, TS2.1

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Einzelkommentare

338,13 vergegenwärtigen] vergegenwärtigen [, und zwar mit der Anschauung des eigenen Herzens] H 338,24 Ich will] Eine Ergänzung habe ich, wie gesagt, nicht zu gaben, – nur einen Hinweis. Doch will ich H, TS1, TS2.1 338,25 meiner Stellungnahme zu dem] [meinem Verhalten nach dem] ! meiner Stellungnahme zu dem H 338,28 geboten] mir angemessen H, TS1, TS2.1 338,29 zu ergänzen] in diesen Kontext Gehörende zu berichten H, TS1, TS2.1 338,34 wohl in Israel und selbstverständlich] selbstverständlich H, TS1, TS2.1 339,5 Motiv allgemeiner Art] Motiv H, TS1, TS2.1 339,5-6 spezifisches. Es fragte mich, es fragte aus mir hervor:] spezifisches: D2 339,11 Gespräch] persönlichen Gespräch H, TS1, TS2.1 339,21 erfahren] [kennen gelernt] ! erfahren H, TS1, TS2.1 Wort- und Sacherläuterungen: 338,2 Eichmann-Prozess] Im Mai 1960 wurde der SS Obersturmbannführer Adolf Eichmann (1906-1962) von israelischen Agenten in Argentinien gefangen genommen und nach Israel entführt, damit ihm dort der Prozess wegen seiner maßgeblichen Rolle bei der Vernichtung des europäischen Judentums gemacht werde. Die Anklage berief sich in ihrer juristischen Legitimation vor allem auf die Rechtsgrundsätze, die für die »Nürnberger Prozesse« 1946 entwickelt worden waren. Der in der Weltöffentlichkeit vielbeachtete Prozess fand vom 15. April bis 15. Dezember 1961 statt, die Berufung wurde am 29. Mai 1962 verworfen, der Staatspräsident Jizchak ben Zwi (18841963) lehnte den u. a. von Buber ersuchten Verzicht auf Vollzug der Todesstrafe ab. Am 1. Juni 1962 wurde Eichmann hingerichtet. Buber hatte sich für einen Prozess vor einem internationalen Gerichtshof, der jedoch in Israel verhandeln solle, ausgesprochen, weil er der Ansicht war, dass das Opfer nicht der Richter sein solle. (Vgl. das Interview in der hebräischen Zeitung Ma’ariv vom 27. Januar 1961.) Praktische und theoretische Einwände gegen diese Idee äußerte ein junger Mensch namens Uri Lev, vgl. den Brief vom 28. Januar 1961 in B III, S. 516 f. 338,5 Hannah Arendt] dt.-jüdische Politologin und Philosophin; verließ 1933 Deutschland und bekämpfte die Nationalsozialisten, teilweise auch in zionistischen Organisationen. 1941 konnte sie in die Vereinigten Staaten flüchten und verstand sich später als amerik. Intel-

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Sie und wir

lektuelle. Ihr Hauptwerk The Origins of Totalitarianism erschien 1951 in New York, 1955 auf Deutsch als »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«. 338,22 Otto Hirsch] Vgl. den einleitenden Kommentar zu »Gruß und Willkomm«, in diesem Band, S. 673 f. 338,26-27 Da sie sich dabei […] stützt] Vgl. Lawrence Fellows, Eichmann Death Decried by Buber. May Salve German Guilt, Israeli Professor Believes, New York Times vom 5. Juni 1962, S. 5. 338,31 Äusserung von Karl Jaspers] Karl Jaspers, Zum Eichmann-Prozess. Ein Gespräch mit Luc Bondy, Der Monat, Jg. 13. 1961, Heft 152, S. 15-19. Karl Jaspers (1883-1969) war der wichtigste akademische Lehrer Hannah Arendts, zu dem sie bis an sein Lebensende freundschaftliche Kontakte pflegte. In dem Interview schlägt er vor, dass sich das israelische Gericht für nicht zuständig erklären solle, weil seine Taten nicht als gewöhnliche Morde zu verstehen seien, sondern »Verbrechen gegen die Menschheit« seien, d. h. Verbrechen, die die Existenz der gesamten Menschheit bedrohen, und der Prozess deswegen von einem Gericht der Weltgemeinschaft geführt werden solle. Da dieses Gremium bislang nicht existiere, solle er solange in israelischem Gewahrsam bleiben. (Ebd., S. 16 f.) Jaspers ist sich des hypothetischen Charakters seiner Überlegungen bewusst. 338,31-32 Nahum Goldmann] zionistischer Politiker, Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender des Jüdischen Weltkongresses (1949-1977) sowie Präsident der Zionistischen Weltorganisation (1956-1968); oft mit kritischer Positionierung zur offiziellen israelischen Politik. 339,1-3 Gegner der Todesstrafe […] in dem Buch von E. M. Mungenast] Diese Stellungnahme wurde von Buber erst in Nachlese eigenständig veröffentlicht. Vgl. »Über die Todesstrafe«, in diesem Band, S. 374. Sie und wir Der Text erschien zuerst in Ha-aretz am 15. November 1939 anlässlich des ersten Gedenktags des Novemberpogroms von 1938 (»Reichskristallnacht«). Aufgrund der Textzeugen scheint er auf einem mündlichen Vortrag in deutscher Sprache zu basieren, zu dessen Umständen aber nichts in Erfahrung gebracht werden konnte. Buber selbst war schon im Frühjahr 1938 nach Palästina übergesiedelt, so dass er nicht direkt betroffen war, jedoch wurde sein Haus in Heppenheim verwüstet. Der Artikel enthält einige persönliche Erfahrungen Bubers, die er mit der nationalsozialistischen Verfolgung gemacht hatte und von denen er selten

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Einzelkommentare

öffentlich sprach. Buber weist insbesondere die Ansicht als Propaganda zurück, dass es sich bei den Ausschreitungen um einen spontanen Akt der Deutschen gehandelt habe. Im Gegenteil es sei »Verrat« durch den Staat gewesen. Daneben versucht Buber eine eher wirtschaftssoziologische Erklärung des Antisemitismus, wobei er zwischen dem vor- und nachemanzipatorischen Antisemitismus unterscheidet. Die deutsche Fassung erschien erst 1963 im Abschnitt »In der Krisis« in Der Jude und sein Judentum. Textzeugen: TS1: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 05 5b); 9 lose paginierte Blätter. Das Typoskript ist zweischichtig: TS1.1: Grundschicht: aufgrund sprachlicher Eigenheiten scheint es sich um die Mitschrift des mündlichen Vortrags Bubers zu handeln. TS1.2: Überarbeitungsschicht: zahlreiche, vornehmlich stilistische Korrekturen von Bubers Hand. TS2: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 05 5b); 6 lose paginierte Blätter; Reinschrift von TS1.2. 3 TS : Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 05 5b); 6 lose paginierte Blätter; das Typoskript ist zweischichtig: TS3.1: Grundschicht: Reinschrift von TS1.2. TS3.2: Überarbeitungsschicht: Korrekturen von Bubers Hand. TS4: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 05 5b); 6 lose paginierte Blätter; Reinschrift von TS3.2. D: JuJ, S. 648-654 (MBB 1216). Druckvorlage: D Übersetzungen: Hebräisch: Hem wa-anachnu (Bi-mleat schana le-par’ot Germanija), Ha-aretz vom 15. November 1939 (MBB 613); in: Buber, Teʿ uda wejiʿ ud, 2. Bd.: Am weʾ olam. Maʾ amarim al injane ha-schaʿ a, Jerusalem: Ha-sifrija ha-zionit, S. 296-300 (MBB 1182). Variantenapparat: 340,4 grauenhaftesten] schrecklichsten TS1.1 furchtbarsten TS1.2, TS2, TS3.1, TS3.2, TS4 340,16 daß er ihnen] dass er ihnen gegenueber ebenso zuverlaessig ist wie sie ihm gegenüber, dass er ihnen TS1.1 340,18 Heiligtümer] Tempel TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 340,21 Sippe] Rotte TS1.1

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Sie und wir

340,24 soziale] gesellschaftliche TS , TS , TS , TS 340,33 der Volksleidenschaft] des Volkszornes TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 341,5 der Apparat] die Maschine TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 341,13 Zermalmten und Geisterniederten] Gedrückten und Niederen TS1.1 341,14 wahrhaften Geistesmenschen] Maennern des Geistes TS1.1 341,15-16 Vereinsamung […] öffentlichen Handeln] Einsamkeit und Vereinzelung und Tatunfähigkeit TS1.1 Vereinsamung, Isolierung und Tatenfremde TS1.2 Vereinsamung und Tatunfähigkeit TS2, TS3.1 341,17 das politische Geschäft mit Gewalt ergreift] die Staatsangelegenheiten mit Gewalt an sich reisst TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 341,18 Härte] Grausamkeit TS1.1 Rücksichtslosigkeit TS1.2, TS2, TS3.1 341,20 Haltung] Einstellung TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 341,23 gutes] schoenes TS1.1 edles TS1.2, TS2, TS3.1 341,30-36 ins Geleise kommen […] ins Geleise kommen […] nicht im Geleise liefen] in Ordnung werden […] in Ordnung werden […] in Ordnung waren TS1.1 342,1 zu schonen] selbst zu bedauern TS1.1, TS1.2, TS2 342,15 verdächtig erschienen] als etwas misstrauen erweckendes erschienen TS1.1 Misstrauen wachriefen TS1.2, TS2, TS3.1 342,24-26 Dagegen haben sie […] wie Bergwerk] Hingegen beim ursprünglichen Produzieren, bei der Muehe der Erreichung der Rohstoffe, der muehseligen Feldarbeit, der schweren Arbeit an der Erde, sowohl im Feld wie in der Landwirtschaft wie im Bergwerk, haben wir nicht teil oder doch nur einen geringen Anteil TS1.1 Hingegen bei der wirklichen Produktion, der mühevollen Herstellung der Rohstoffe, der Schwerarbeit am Boden, Landwirtschaft und Bergwerk, haben sie keinen oder höchstens sehr geringen Anteil TS1.2, TS2, TS3.1 342,32 Grundzug] Grundbegriff TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 342,33 rechtmäßiger] gerechter TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 342,36 Gewinnung und Bearbeitung der Rohstoffe erreicht werden kann] Grundproduktion und die Produktion und Bearbeitung der Rohstoffe TS1.1 Herstellung und Bearbeitung der Rohstoffe TS1.2, TS2, TS3.1, TS3.2, TS4 342,40 eigentümlichen Bewegungen] besondere Bewegungsart TS1.1 343,18 trauern und klagen] trauern und erbittert sind TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 343,31-32 Werk […] Werk] Schaffen […] Schaffen TS1.1 344,2 Galuth] Verbannung TS1.1 344,5-6 Gelingt uns […] Aufbau] Wenn es uns gelingen wird, diese Aenderung des Blicks zu erreichen, diese Aenderung der Werturteile, 1.1

1.2

2

3.1

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Einzelkommentare

diesen einigen Bau TS Wenn es uns gelingen wird, die Blickrichtung zu aendern und die Werurteile, wenn wir diesen einigen Bau TS1.2, TS2, TS3.1 344,7 Diaspora] Zersteuung TS1.1 344,8-9 Stärke und Tiefe] Kraft und Eindringlichkeit TS1.1 344,19-20 Jahrtausende lang bekannten wir uns zu der Lehre] Vor Jahrtausenden lehrten wir in der Thora TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 344,20-21 Gerechtigkeit […] Gerechtigkeit] Recht […] Recht TS1.2, TS2, TS3.1 344,22-23 das dem Frevler Sieg und Macht zuteilt] nach dem Sieg und Macht dem Unrechttuenden zuteil wird TS1.1 344,27-29 Gemeinschaften […] Gemeinschaften] Gemeinden […] Gemeinden TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 344,34 die Werke des Satan] teuflisches TS1.1 344,41 veraltete Redensart] überholte Phrase TS1.1 344,15 ihr zu dienen] sie zu wirken TS1.1 1.1

Wort- und Sacherläuterungen: 341,1 »Wenn erst das Judenblut vom Messer spritzt«] Diese Zeile kommt in mehreren SA-Liedern vor, z. B. heißt es in einer Strophe des Kampfliedes: »War einst ein junger Sturmsoldat«: »Wir sind vom Gausturm Groß-Berlin / Und haben frohen Mut. / Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, / Dann geht’s noch mal so gut.« Vgl. Michael Kohlstruck und Simone Scheffler, Das Hecker-Lied und seine antisemitische Variante. Zu Geschichte und Bedeutungswandel eines Liedes, in: Michael Kohlstruck, Andreas Klärner (Hrsg.), Ausschluss und Feindschaft. Studien zu Antisemitismus und Rechtsextremismus, Festschrift für Rainer Erb, Berlin 2011, S. 135-158, hier S. 146 u. 147. 342,8-9 dort haßte man, wie Pinsker sagt, gleichsam ein Gespenst] Vgl. [Leo Pinsker], »Autoemancipation!«. Mahnanruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden, Berlin 1882, S. 5 u. 12. Die Schrift erschien ursprünglich anonym. 344,40 wie wir […] ein Volk wie alle Völker sind] Vgl. I Sam 8,20. 345,11 »Gott führt Krieg gegen Amalek«] Vgl. Ex 17,16. Amalek, ein kanaanäischer Stamm, stellt schon in der Bibel die Verkörperung der Kräfte dar, die das jüdische Volk vernichten wollen.

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Schweigen und Schreien

Schweigen und Schreien Auf Hebräisch erschien der Artikel im April 1944 in der von Buber mit herausgegebenen Zeitschrift Be’ajot und beklagt die Hilf- und Ratlosigkeit des Jischuws angesichts der Schoa. Am 30. Juni 1942 hatte die hebräische Zeitung Davar die Nachricht des Jüdischen Weltkongresses publiziert, dass mindestens eine Million Juden ermordet worden seien. Nachdem die Gefahr, dass Palästina von den Deutschen erobert würde, nach der zweiten Schlacht von El Alamein gebannt war, drangen die Schreckensnachrichten im November 1942 ins öffentliche Bewusstsein. Angesichts der Katastrophe rief die zionistische Leitung zu drei Fastentagen auf. In diesen Tagen organisierte sich eine Gruppe um Rabbi Benjamin (eigentlich Yehoschua Radler-Feldmann, 1880-1957), die sich »Al-domi« (»schweig doch nicht«, vgl. Ps 83,2) nannte und zu der Buber, Agnon und weitere (ehemalige) Mitglieder des Brit Schalom, aber auch revisionistische Zionisten wie z. B. der Literaturwissenschaftler an der Hebräischen Universität Joseph Klausner gehörten. In seinem Artikel kritisiert Buber an »der Einstellung der jüdischen Siedlung zur Katastrophe der Diaspora« das ursprüngliche, ihm unverständliche »Schweigen« und das darauf folgende parteiische »Schreien«. Er selbst fordert »zu dieser späten Stunde«, »soviele Juden wie nur möglich zu retten«. Auf Deutsch erschien der Text erst 1963 im Abschnitt »In der Krisis«, in Der Jude und sein Judentum. Zu Text und Kontext, vgl. auch die Einleitung in MBW 11.1, S. 57-59, Bourel, Martin Buber. Was es heißt, ein Mensch zu sein, S. 534-537 und Maurice Friedman, Martin Buber’s Life and Work, II, New York 1982, S. 306-309. Textzeugen: TS1: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 05 5c); 5 lose paginierte Blätter. Das Typoskript ist zweischichtig: 1.1 TS : Grundschicht: aufgrund sprachlicher Eigenheiten scheint es sich um die Mitschrift des mündlichen Vortrags Bubers zu handeln. TS1.2: Überarbeitungsschicht: zahlreiche, vornehmlich stilistische Korrekturen von Bubers Hand. TS2: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 05 5c); 4 lose paginierte Blätter; Reinschrift von TS1.2. 3 TS : Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 05 5c); 4 lose paginierte Blätter; das Typoskript ist zweischichtig: TS3.1: Grundschicht: Durchschlag von TS2. TS3.2: Überarbeitungsschicht: Korrekturen von Bubers Hand.

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Einzelkommentare

TS : Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 05 5c); 4 lose paginierte Blätter; Reinschrift von TS3.2. D: JuJ, S. 655-658 (MBB 1216). 4

Druckvorlage: D Übersetzungen: Hebräisch: Schtika u-ze’aqa, Beʾ ajot, 1. Jg., 1. H., Nissan 1944, S. 21-23 (MBB 712); in: Buber, Teʿ uda we-jiʿ ud, 2. Bd.: Am weʾ olam. Maʾ amarim al injane ha-schaʿ a, Jerusalem: Ha-sifrija ha-zionit, S. 317-319 (MBB 1182). Variantenapparat: 346,1 Schweigen und Schreien] Schrei und Schweigen TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 Geschrei und Schweigen TS3.2 346,4 Werke der Erneuerung] Taten des Erneuerns TS1.1 346,12 irgendwas] eine Spur TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1, TS3.2, TS4 346,13 in seiner Ganzheit] voll und ganz TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 346,13-14 Einbildungskraft] Vorstellungsvermoegen TS1.1 346,14 Fähigkeit] Begabung TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 346,15-16 sich vorstellte, was sich ereignet] in {seinem Geist TS1.1 seiner Seele TS1.2, TS2, TS3.1} die Vorgaenge schilderte TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 346,17 zulängliches Quantum] bescheidenes Mass TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1, TS3.2, TS4 346,18 Es ist eben doch nicht angemessen] Es geht doch nicht an TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 346,19-20 Angemessen ist, daß wir, was sich ereignet] Wir muessen das Geschehnis TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 346,20-21 das übliche Rachegebrüll] den ueblichen Racheschrei TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 346,25 Siedlung] Gemeinschaft des Landes TS1.1 Gemeinschaft TS1.2, TS2, TS3.1, TS3.2, TS4 346,25-26 zur Katastrophe der Diaspora] fehlt TS1.1 346,28 bestritten] widerlegt TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 346,28-29 Eingeweihten, […] verheimlichten] Eingeweihten um die Vorgaenge und Absichten und verschwiegen TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 346,30-31 Ich verstehe […] verstehen.] fehlt TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 347,3 das Geschrei] der Schrei TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 347,27 Wirkens] Akts TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 347,27-28 das Wirken der Illusion […] Wirken] die Illusion wirkt durch Luege und zerstört TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1

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[Aus: Philosophical Interrogations]

347,29 liegt es und ob] wir muessen TS , TS , TS , TS 348,4 mißbilligen] verabscheuen TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 348,7 Problematik wird] Zweifel werden TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 348,8-9 Zweck […] Parteizweck] Ziel […] Ziel einer Partei TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 348,17-18 denen es um die Rettung der noch zu Rettenden bange] die darauf draengen, zu retten, was noch zu retten ist TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 348,22 das Heil] die Erloesung TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 348,32 sollte sie sich dennoch verwirklichen] wenn sie dennoch Tatsache wird TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 348,38 völlig realistische Behandlung] realistische Inangriffnahme TS1.1 realistische Schritte TS1.2, TS2, TS3.1 348,41-349,1 Nichts vom Geist […] Aktion stehen] Aller Parteigeist ist abzutun und jede Politisierung: diese Aktion darf {nichts anderes im Blick haben TS1.1 auf nichts anderes schauen TS1.2, TS2, TS3.1} TS1.1, TS1.2, TS2, TS3.1 349,5 zu arbeiten] zu tun TS1.2, TS2, TS3.1 1.1

1.2

2

3.1

[Aus: Philosophical Interrogations] Die Entstehungsumstände der Philsophical Interrogations sind ausführlich im Kommentar MBW 12, S. 817-819 dargestellt. In diesem Band werden lediglich die Abschnitte abgedruckt, die Bubers Antworten zu Fragen der Sozialphilosophie beinhalten. Im Kommentar finden sich die ursprünglich von Buber redigierten deutschen Fassungen seiner Texte, die in der Publikation durch die Übersetzungen Maurice Friedmans wiedergegeben wurden. Textzeugen: H: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 85); Konvolut loser paginierter Blätter, einseitig beschrieben, mit vielen Korrekturen versehen. Es handelt sich um die deutschsprachigen Entwürfe Bubers zu den Antworten auf die auf Englisch formulierten Fragen. Da es sich um erste Formulierungsversuche, zumal in anderer Sprache als der Veröffentlichung handelt, wird auf eine Berücksichtigung der einzelnen Korrekturen in Gestalt eines kritischen Apparats verzichtet. Es fehlt Bubers Antwort auf Reinhold Niebuhr. TS: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 bet 85); Konvolut loser paginierter Blätter, einseitig beschrieben. Es handelt sich um die Ab-

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Einzelkommentare

schrift von H, mit einigen Korrekturen versehen. Diese den englischsprachigen Antworten Bubers entsprechenden deutschen Vorlagen werden im Anschluss abgedruckt. Es fehlt Bubers Antwort auf Reinhold Niebuhr. D: Philosophical Interrogations: Interrogations of Martin Buber, John Wild, Jean Wahl, Brand Blanshard, Paul Weiss, Charles Hartsthorne, Paul Tillich. Edited, with an Introduction by Sydney and Beatrice Rome, New York u. Evanston: Holt, Rinehart and Winston 1964, S. 68-80 (MBB 1257). Druckvorlage: D Abdruck der deutschsprachigen Passagen aus TS: Cohen Es ist nicht richtig zu sagen, in meiner Darstellung des Chassidismus sei die Unmittelbarkeit der Begegnung founded upon the fact of community. Vielmehr ist hier meiner Ansicht nach umgekehrt die Gemeinschaft auf der Unmittelbarkeit der Beziehung gegründet. Die chassidische Gemeinde besteht, wie alle echte Gemeinschaft, aus Menschen, die eine gemeinsame, unmittelbare Beziehung zu einer lebendigen Mitte und eben kraft dieser Gemeinsamkeit eine unmittelbare Beziehung zu einander haben. In der chassidischen Gemeinde steht in der Mitte der Zaddik, dessen Funktion es ist, den Chassidim zu helfen, als Personen und als Gesamtheit ihre Beziehung zu Gott in der Heiligung des Lebens zu bewahren und eben von da aus miteinander als Brüder zu leben. Das ist ein grosses geschichtliches Beispiel für eine gemeinschaftliche Wirklichkeit, die in diesem oder jenem Masse, in dieser oder jener Gestalt zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten entstehen kann. Warum sollte das für den modernen Menschen implausible sein? Er muss nur der Sinnlosigkeit seines Daseins radikal überdrüssig werden und eine unbändige, kühne Begierde bekommen, ein Leben wiederzugewinnen, das Sinn hat. (Den Ansatz dazu habe ich kürzlich (1957) in dem Vortrag H a s i d i s m a n d M o d e r n M a n behandelt). Wo l f f (1) Die erste Frage ist mir nicht ganz klar geworden: ich kann mir nicht vorstellen, dass ich eine civilisation als Du anrede, ich kann mir gar nichts Reales dabei denken. Dagegen mag mein eigener Satz, jede civilisation könne geheiligt werden, nicht klar genug formuliert sein. Ich meine damit nicht, man könne irgendeine civilisation als Ganzes heiligen,

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[Aus: Philosophical Interrogations]

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sondern ich meine damit, dass es in jeder civilisation, sie sei wie sie auch sei, dem Menschen möglich ist, Leben, gelebtes Leben, zu heiligen. Was die sociological cogency davon ist, weiss ich nicht; ja, ich bezweifle sehr, dass es so etwas gibt. Wohl aber meine ich, dass wenn Menschen miteinander leben, die ihr Leben heiligen, dies unter anderem auch höchst reale und bedeutsame »soziologische« Folgen haben kann. Wird aber nun die Frage, statt soziologisch, metaphysisch gestellt, als die Frage nach der relation between spirit and world, so weiss ich zur Antwort nun darauf zu verweisen, dass es da sehr verschiedene Arten der relation gibt. Was mich in einer besonderen, für mich entscheidenden Weise angeht, ist der Geist, der in die Menschenwelt eingehen, in ihr »sich verwirklichen« will. Es verhält sich offenbar so, dass die Welt diesem Willen weit mehr widerstrebt als nachgibt; es scheint sich aber auch so zu verhalten, dass das Verlangen der Welt, der Leib des Geistes zu werden, insgeheim immer grösser wird. Es kommt freilich auch vor, dass die Welt ihr Widerstreben als Nachgeben maskiert, vielleicht in der Absicht, ihr Verlangen durch Scheinbefriedigung zu überwinden. (2) Gegen die Gefahr, dass die Ich-Du-Philosophie als an instrument of political reaction verwendet werde, gibt es meines Wissens keinen anderen safeguard als den, dass alle ihre wahren Freunde diesen Missbrauch bekämpfen; die Waffen zu diesem Kampf werden sie in ihr selbst finden. Als ein kleines Beispiel dafür führe ich an, was in dem Aufsatz »What is to be done«? von 1919 (P o i n t i n g t h e Wa y pp. 108 ss.) gegen den withdrawal into one’s private garden gesagt ist. Die »ideologisation« ist in der Tat das Schlimmste, was der Ich-DuPhilosophie widerfahren kann. Mein Freund, der Benediktiner Pater Caesarius Lauer, hat schon 1951 darauf hingewiesen (s. Maurice Friedman, Martin Buber, The Life of Dialogue s 271 s.), dass die bequemste Art, der Forderung der Dialogik auszuweichen, die ist, sie als diskutable und unverbindliche Theorie anzunehmen. Ich kann dem gegenüber nur wiederholen, was ich 1923 schrieb und Pater Caesarius zitiert: »Der Weg ist zum Gehen da«. Heydorn (1) Auch ich hoffe auf die Geschichte (wie ich ja im Schlussabschnitt von P r o p h e c y, A p o c a l y p t i c a n d t h e H i s t o r i c a l H o u r (P o i n t i n g t h e Wa y pp. 203 ss.) deutlich dargelegt habe). Und das heisst: auch ich hoffe auf das Wachstum der »Gemeinschaft« in der Gesellschaft, auf die wachsende Gemeinschaftshaltigkeit der Gesellschaft. Dieses Wachsen aber ist naturgemäss gar nicht anders denkbar denn als in intimer Verbindung mit einer Wandlung der Menschen und ihrer Bezie-

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Einzelkommentare

hungen zueinander, und diese Verbindung nicht anders dann als eine gegenseitige Beeinflussung. Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass gar leicht in die Versuche einer Verwirklichung der »Gemeinschaft« hier die »Gesellschaft« sich einschleicht. Ich habe das hier im Lande Israel an der nicht unproblematischen Entwicklung der Kibuzzim beobachtet, und zwar an zwei Erscheinungen: vom Wirtschaftsprinzip her der zunehmenden Gebundenheit an den Markt, [die zur Folge hatte, dass in Krisenzeiten die Kibbuzim Mut und Schwung der Initiative zur Verbilligung der Produkte nicht aufbrachten,] und vom politischen Prinzip her der Aufspaltung einheitlicher Genossenschaften in einander bekämpfende Parteigruppen, die wiederholt zur Selbstzerschlagung von Gemeinschaften geführt hat. Worauf ist solchen Gefahren gegenüber zu hoffen? Doch wohl auf jene Menschen, in deren Herzen die echte Beziehung und das Streben nach ihrer Auswirkung so mächtig sind, dass sie sich gegen die angebliche Notwendigkeit, die wirtschaftliche oder die politische, zu stellen wagen. Hier wie überall wird letztlich – darauf geht meine verwegene Hoffnung – der innere Kampf, der Kampf des Geistes der entscheidende sein. Dass diese Hoffnung mit dem Vertrauen zu Gott – wie immer man ihn nennen mag – tief zusammenhängt, ist offenkundig. Aber ich identifiziere dieses Vertrauen keineswegs mit einem »Vertrauen in die alleinige Aktivität Gottes«; ich glaube an eine s o l c h e Aktivität nicht, ich bestreite sie, ich zähle sie zu jenen »Visionen der Vergangenheit«, auf deren »Massengräber« Heydorn hinzeigt. Ich glaube daran, dass der Mensch zu einem Partner Gottes erschaffen ist; das heisst: ich glaube an ein, für den Menschengeist unfassbares Zusammenwirken von Tat der Sterblichen und Gnade der Ewigkeit. (2) Das Argument ist auf der Ebene der Argumentation unbestreitbar; wie könnte bestritten werden, dass der Geist für sein Wirken keinen Ansatzpunkt ausserhalb der jeweils gegebenen Wirklichkeit hat! Dennoch wage ich es, an das Unplausible zu glauben. Es mag vorauszusehen sein, wo der Geist ansetzt; es ist unvorhersehbar, wohin er von dort aus gelangt, denn was immer sich aus der bisherigen Geschichte folgern lässt, es lässt sich nicht daraus folgern, wie mächtig der Geist, etwa in einer Erhebung des Menschen in seiner äussersten Krisis zu dem grossen Willen, Mensch zu bleiben, werden kann. (3) Das ist mir aus der Seele gesprochen. Aber ich habe nicht von alledem geredet, womit sich der Mensch unterwegs, auf einem von ihm eingeschlagenen richtigen Weg, Mal zu Mal verfehlt, sondern ich habe gesagt und kann es nur wiederholen: »wer einen Weg einschlägt …«.

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Goldstein Eine noch deutlichere Ablehnung des Marxismus, als ich sie in meinen Büchern D a s P r o b l e m d e r M e n s c h e n und P f a d e i n U t o p i a ausgesprochen habe, kann ich mir kaum vorstellen. Freilich, ich lehne den Marxismus eben deshalb ab, weil er unsozialistisch ist. Und was in einer gegebenen Geschichtszeit mächtig ist, kann ich keinesfalls als »gültig« anerkennen. Pfuetze Ich sehe in decentralized cooperations settlements keineswegs the solution for the social problem. Ich nenne sie ausdrücklich »experiments« (P a t h s i n U t o p i a pp. 58 ss.) und auch föderative Verbindungen on the most diverse social forms to exist side by side sehe ich nur als a i m i n g at the new organic whole an (das. p. 79). Auch die Kibbuzim behandle ich lediglich als an experiment that did not fail (das. p. 139 ss.), und ich habe meine kritische Haltung zu ihrer Entwicklung nicht verschwiegen (vgl. auch meine Antwort an Wolff). Ich bin der Ansicht, dass die genossenschaftlichen Experimente, ausgebaut, einen grundwichtigen Beitrag zu einer Restrukturierung der Gesellschaft leisten könnten, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Mein Sozialismus ist nicht ein perfektionistischer, sondern ein melioristischer; das Entscheidende ist, welches die R i c h t u n g der stets erneuten, sich immer neu den neuen geschichtlichen Bedingungen anpassenden Meliorisierung sein und bleiben soll. Die Richtung ist für mich durch ein einziges Ziel, aber durch ein doppeltes Motiv seiner Erreichung bestimmt: ein negatives, die Reduktion des politischen zu Gunsten des sozialen Prinzips, der »Macht« zu Gunsten der »Verwaltung«, soweit sie unter den jeweiligen geschichtlichen Bedingungen statthaft ist (vgl. S o c i e t y a n d t h e S t a t e in P o i n t i n g t h e Wa y pp. 161 ss., sowie The Validity and Limitation of the Political Principle das. p. 208 ss.), und ein positives, die zunehmende Entfaltung der Gemeinschaftskräfte innerhalb der Gesellschaft. Zu dieser Entfaltung kann es ausser den genossenschaftlichen Experimenten mancherlei Beiträge geben, so verschiedener Art wie z. B. eine organischere Ordnung der politischen Vertreterwahlen, die Pflege der Nachbarschaft, sogar in den Strassen von New York, die Pflege der Kameradschaft, sogar in den Fabriken von Detroit, usw. Utopisch? So wird der Weg zu einer neuen Topik immer angesehen, ehe er ernstlich eingeschlagen wird. Romantisch? Den Vorwurf bin ich gewöhnt; der Antwort, die ich darauf, vor mehr als einem Vierteljahrhundert, im 3. Teil von D i a l o g u e gegeben habe, hätte ich heute kaum mehr hinzuzufügen als dies, dass ich unter der

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»Gemeinschaft« deren Kräften ich die Entfaltung wünsche, nichts verstehe, was bereits in irgendeiner Vergangenheit seine Form gefunden hat, und dass ich, wenn ich von Realisierung rede, an bestimmte Bedingungen denke, die voraussichtlich dafür gegeben sein werden. Agus Diese Frage wundert mich, denn sie wird so gestellt, als hätte ich sie nicht längst öffentlich beantwortet. Die allzu vereinfachende Behandlung des nationalen Problems in meinen »Reden über das Judentum« von 1909-1914 habe ich schon 1921, also recht lange vor den historischen Evolutionen des Nazismus einerseits und des Staates Israels andererseits, auf die Agus hinweist, in meiner Rede über Nationalismus mit aller erforderlichen Deutlichkeit berichtigt. Damals, während des Zionisten-Kongresses von 1921, habe ich darauf hingewiesen, dass »the spirit of nationalism is fruitful just so long as it does not make the nation an end in itself.« Aber schon in jenen frühen »Reden über das Judentum« war der K e r n nicht romantisch. Im Grunde genommen modernisierte er nur die biblischen Grundbegriffe von »Samen« und »Land« (Genesis 12,7). Es kam damals darauf an, darzulegen, dass eine Gemeinschaft, um das in ihr Angelegte voll entfalten zu können, der biologischen und territorialen Kontinuität bedarf. Keineswegs wird die Entfaltung von dieser Kontinuität hervorgebracht; sie ist nur eben ohne sie nicht möglich. Auf den grässlichen Missbrauch, den der Nationalismus mit jenen beiden Grundbegriffen geübt hat, habe ich mitten im Deutschland Hitlers, in einer öffentlichen Rede über »die Mächtigkeit des Geistes« von 1936 wieder mit aller erforderlichen Deutlichkeit geantwortet. Wieder genügt es hier, einen Satz daraus zu zitieren: »blood and soil are hallowed in the promise made to Abraham, because they are bound up with the command to be ›a blessing‹ (Gen. 12, 2)«. Was aber den Staat Israel betrifft, so ist die Stunde für ein Urteil über ihn noch keineswegs gereift. Wer hier lebt, spürt, wie in den Herzen eines wachsenden Teils der Jugend immer stärker der Kampf zwischen den zwei Arten den Nationalismus ausgefochten wird, auf deren Gegensatz ich in jener Rede von 1921 hingewiesen habe. Wort- und Sacherläuterungen: 350,3 Arthur A. Cohen] (1928-1986): amerik.-jüd. Judaist, Kunstkritiker, Publizist und Autor. 1957 veröffentlichte er die Monographie Martin Buber. 350,25 »Hasidism and Modern Man« (1957)] Das ist Bubers Essay, »Der

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Chassidismus und der abendländische Mensch«, zuerst erschienen in Merkur, 10. Jg., Nr. 10, Oktober 1956, S. 933-943 (jetzt in: MBW 17, S. 233-250). 350,26 Kurt H. Wolff] (1912-2003): dt.-jüd. Soziologe, der seit 1939 in den Vereinigten Staaten lebte, wo er an verschiedenen Universitäten, zuletzt an der Brandeis University lehrte. Er übersetzte die Werke Simmels ins Englische. 350,28 How can »every civilization … be hallowed«?] Deutsch: »eine geheiligte Menschenkultur« in: Martin Buber, An der Wende, S. 52 (jetzt in: MBW 20, S. 334). 351,5 (cf. »Abstract and Concrete,«] »Abstrakt und Konkret«, jetzt in diesem Band, S. 283 f. 351,33 »What Is to Be Done,«] Deutsch: »Was ist zu tun?« Dieser Artikel ist zuerst am 20. April 1919 in der Frankfurter Zeitung, 1. Morgenblatt, S. 1, erschienen und wurde von Buber in Die Frage an den Einzelnen und in Hinweise aufgenommen (jetzt in: MBW 1, S. 293-295). 351,35 Father Caesarius] Der Student geisteswissenschaftlicher Fächer Caesarius Lauer (1915-1984) war seit 1939 Mönch, seit 1947 Priester, und besonders verbunden mit der Benediktinerabtei Maria Laach, einem Zentrum der Liturgiereform. Lauer half 1938 einer jüdischen Familie aus Oberwesel bei der Flucht und engagierte sich beispielsweise für die Arbeiterpriesterbewegung in Frankreich. 1949 wandte er sich brieflich an Buber, woraus ein umfangreicher Briefwechsel entstand. Vgl. Harold Stahmer, Lieber Pater Caesarius … Ihr Martin Buber. Ein Dialog in Briefen zwischen Pater Caesarius Lauer und Martin Buber. Mit Vorworten von Freya von Moltke und Maurice Friedman, Moers 1996. 351,Anm 4 Cf. Maurice S. Friedman, Martin Buber: The Life of Dialogue, pp. 271 ff.] Das ist der Brief vom 15. August 1951, vgl. Stahmer, Lieber Pater Caesarius … Ihr Martin Buber, S. 123-126. Darin heißt es: »Inzwischen nimmt das ›Gespräch‹ über das Gespräch zwar allenthalben zu. Das sollte einen freuen. Mich erfüllt das aber mit einiger Sorge. Denn – wenn nicht alles täuscht – das Gespräch selber, das lebendige Ereignis dialogischen Lebens nimmt unter den Menschen ab. Da muß also mit dem ›Gespräch‹ über das dialogische Leben etwas nicht stimmen. […] In der Dialogik ist der Vollzug entscheidend; ist sie doch wirkende Wirklichkeit eben – Leben. Nun, das Wort gehört gewiß mit zu diesem Vollzug, wie Ebner gezeigt hat. Aber eben das Wort, nicht die Wörter, das Gerede, die logizistische Dialektik. Die Dialogik ist logoshaft. Aber in einer Dialektik über die Dialogik ergehen sich jene, die über die Dialogik von Kopf zu Kopf reden […]

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Sie meinen auch über Dialogik reden zu müssen, weil sie über gar alles und jedes reden.« Ebd., S. 123 f. 352,3 »The way is there in order that one may walk on it.«] Ebd., S. 124. Das Zitat stammt ursprünglich aus dem Vorwort zu Das verborgene Licht, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1924, S. 11 (jetzt in: MBW 18.1, S. 72-73, hier S. 73): »Aber damals meinte ich, das sei etwas, was man auch bloß betrachten könne und dürfe; seither habe ich erfahren, daß die Lehre zum Lernen und der Weg zum Gehen da ist.« 352,4 Heinz-Joachim Heydorn] (1916-1974): dt. Pädagoge und SPD-Politiker; seit 1933 Mitglied der »Bekennenden Kirche«; leistete illegale Arbeit gegen das nationalsozialistische Regime; seit 1961 Prof. in Frankfurt a. M. 352, Anm 5 Pointing the Way, pp. 228 f.] Vgl. »Hoffnung für diese Stunde«, in diesem Band, S. 282. 353,8-13 »An organic commonwealth […] communities.«] Deutsch lautet die Passage: »Ein organisches Gemeinwesen – und nur solche können zu einer gestalteten und gegliederten Menschheit sich fügen – wird nie aus Individuen, nur aus kleinen und kleinsten Gemeinschaften sich aufbauen: ein Volk ist in dem Maße Gemeinschaft, in dem es gemeinschaftshaltig ist.« Buber, Pfade in Utopia, in diesem Band, S. 258. 354,Anm 8 Pointing the Way, p. 105.] Deutsch als »Bildung und Weltanschauung«, Der Morgen 10, Nr. 11, Februar 1935, S. 481-488, hier S. 488 (jetzt in: MBW 8, S. 279-286, hier S. 286): »Wie weit die künftige Gemeinschaft dem Wunschbild entsprechen wird, hängt von der Wesenshaltung der gegenwärtigen Personen – nicht der führenden allein, sondern jedes Einzelnen – wesentlich ab. Das Ziel steht nicht fest und wartet; wer einen Weg einschlägt, der nicht schon in seiner Art die Art des Zieles darstellt, wird es verfehlen, so starr er es im Auge behielt; das Ziel, das er erreicht, wird nicht anders aussehen als der Weg, auf dem er es erreichte.« 354,Anm 9. Pp. 203 ff.] Das ist der letzte Abschnitt von »Prophetie, Apokalypse und die geschichtliche Stunde« (jetzt in: MBW 15, S. 390393). 355,32 Walter Goldstein] (1893-1984) Interpret Martin Bubers deutschjüdischer Herkunft; 1934 Emigration nach Israel; verfasste auch Bücher zu Jakob Wassermann (1873-1934) und Hermann Cohen. 356,5 Between Man and Man (»What Is Man?«)] Das ist deutsch Das Problem des Menschen. 356,9 Paul E. Pfuetze] (gest. 1985): US-amerik. Theologe; Professor für Religion am Vassar College. Pfuetze beteiligte sich auch an dem von

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Schilpp und Friedman herausgegebenen Band Martin Buber. Philosophen des 20. Jahrhundert mit dem Beitrag »Martin Buber und der amerikanische Pragmatismus«, S. 448-478. 357,32 Jacob B. Agus] (1911-1986): US-amerik. Rabbiner, der aus Osteuropa stammte. Seit 1927 lebte er in den USA, wo er zunächst der orthodoxen Auslegung folgte. Später wurde er ein führender Repräsentant des konservativen Judentums. 357, Anm 10 Paths in Utopia, pp. 58 ff.; p. 79.] Pfade in Utopia, in diesem Band, S. 174 ff., S. 194. 357,Anm 11 Ibid., pp. 139 ff.] Vgl. das Kapitel »Noch ein Experiment«, in Pfade in Utopia, in diesem Band, S. 241 ff. 357,Anm 12 Cf. »Society and the State« […] »The Validity and Limitation of the Political Principle,«] Das ist »Zwischen Gesellschaft und Staat«, in diesem Band, S. 261-274 und »Geltung und Grenze des politischen Prinzips«, in diesem Band, S. 297-306. 357,26-27 in the third part of »Dialogue« (Between Man and Man)] Das ist der dritte Abschnitt »Bewährung« in Zwiesprache (jetzt in: MBW 4). 358,Anm 13 Reden über das Judentum […] Lecture 1] Deutsch lautet das Zitat: »Die Vergangenheit seines Volkes ist sein persönliches Gedächtnis, die Zukunft seines Volkes ist seine persönliche Aufgabe. Der Weg des Volkes lehrt ihn sich selbst verstehen und sich selbst wollen.« (Jetzt in: MBW 3, S. 223.) 358,Anm 14 Cheruth (Vienna: R. Löwit Verlag, 1919), p 8.] So zugespitzt nicht im Deutschen zu finden, entspricht aber Bubers Gedankengang, S. 8-10 (jetzt in: MBW 8, S. 109-127, hier S. 112 f.). 358,31 in my talk on »Nationalism«] Deutscher Titel: »Nationalismus«. Die am 5. September 1921 außerhalb des offiziellen Rahmens auf dem XII. Zionistenkongress in Karlsbad gehaltene Rede wurde zum ersten Mal 1933 gedruckt in Kampf um Israel, S. 225-242 (jetzt in: MBW 21). 359,10-11 in a public speech of 1936 on »The Power of the Spirit.«] Das ist die Rede »Die Mächtigkeit des Geistes«, zuerst erschienen in: Die Stunde und die Erkenntnis. Reden und Aufsätze. 1933-1935, Berlin: Im Schocken Verlag 1936, S. 74-87, hier S. 85 (jetzt in: MBW 9, S. 176-183, hier S. 182). Das deutsche Zitat lautet: »So werden Blut und Boden in der Verheißung an Abraham geheiligt durch ihre Bindung an das Geheiß (1. M 12,2), ›ein Segen‹ zu werden.« In der Jahresangabe unterläuft Buber ein Fehler: er hielt diese Rede zunächst im Jüdischen Lehrhaus am 14. Oktober 1934 (vgl. den Kommentar, MBW 9, S. 400) und danach in der Berliner Philharmonie. Wegen

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dieser Rede wurde am 21. Februar 1935 ein Redeverbot gegen ihn von seiten der nationalsozialistischen Machthaber verhängt. (Vgl. Ernst Simon, Aufbau im Untergang, S. 73). 359,19 Reinhold Niebuhr] (1892-1971): einflussreicher prot.-amerik. Theologe, Philosoph und Wissenschaftler; von 1930-1960 Professor am Union Theological Seminary in New York. 360,24 At the Turning] Der Titel der deutschen Ausgabe lautet An der Wende. Reden über das Judentum, Köln u. Olten: Jakob Hegner 1952, S. 37-107. (Die deutsche Ausgabe enthält zusätzlich die Rede »Der Geist Israels und die Welt von heute«.) 360,24 Amos chapter of The Prophetic Faith] Buber meint das Kapitel »Um die Gerechtigkeit«, in: Der Glaube der Propheten, Zürich: Manesse 1950, S. 139-158 (jetzt in: MBW 13, S. 226-237). Dank Der kleine Text erschien in einer Anthologie über das Alter. In einer Anmerkung erklärt die Herausgeberin Erika Horn (1918-2015): »Das Dankschreiben Professor Martin Bubers, des großen jüdischen Theologen und Philosophen, für die Glückwünsche zu seinem 80. Geburtstag, das er auch der Herausgeberin dieses Buches sandte und dem er handschriftlich hinzufügte: ›Über das Geheimnis des Altwerdens weiß ich kaum etwas anderes zu sagen, als was ich hier gesagt habe.‹« (Du sollst ein Segen sein. Vom Sinn des Alters, hrsg. von Erika Horn, Graz, Wien, Köln: Verlag Styria 1964, S. 37.) Die in dem nationalsozialistischen Jugendverband Bund Deutscher Mädel aktive Erika Horn löste sich seit 1944 in einem jahrelangen Prozess von der nationalsozialistischen Ideologie und engagierte sich später in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Seit 1975 unterrichtete sie an der »Fachschule für Altendienste« und war in der Erwachsenenbildung tätig. Ihr soziales und humanitäres Engagement wurde 1991 mit der Verleihung des Professortitels durch den österreichischen Bundespräsidenten gewürdigt. Textzeugen: D1: Dank, in: Du sollst ein Segen sein. Vom Sinn des Alters, hrsg. von Erika Horn, Graz, Wien, Köln: Verlag Styria 1964, S. 37. D2: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 254.

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In Heidelberg

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Übersetzungen: Englisch: Expression of Thanks, 1958 in: Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967, S. 225 (MBB 1293). Hebräisch: [Divre toda] Jerusalem: Dfus limudi 1958, S. 1 (MBB 1114); in: Buber, Olelot, Mossad Bialik 1966 (MBB 1292). Niederländisch: in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van HengelBaauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). In Heidelberg 1965 veröffentlichte Buber eine Sammlung kleinerer Texte, die er Nachlese nannte und aus der die letzten Texte des vorliegenden Bandes stammen. Einige der dort versammelten Texte stellen den (deutschen) Erstdruck dar. Im Nachwort (vgl. in diesem Band, S. 377) erklärt Buber seine Auswahl. Die in Nachlese veröffentlichte »Ansprache bei der Verleihung des philosophischen Ehrendoktorats der Universität Heidelberg am 28. November 1964« (Buber, Nachlese, S. 263) wurde von seinem Verleger Lambert Schneider für den abwesenden Buber verlesen. Er schreibt kurz darauf an Buber am 30. November 1964: »[A]m Samstag hat mir bei dem Festakt der Universität und der feierlichen Verpflichtung der neuimmatirikulierten Studenten der Dekan der Philosophischen Fakultät die Abschrift der Urkunde Ihrer Ehrenpromotion übergeben und er hielt zugleich eine sehr schöne Ansprache. […] Die Universität hat aus der Verleihung der Ehrenpromotion sozusagen ein Geheimnis gemacht, denn auf dem Programm war Ihr Name nicht vermerkt. So war es wohl für die meisten Teilnehmer eine Überraschung, als Ihr Name genannt wurde, und der Beifall des Publikums war spontan und sehr herzlich.« (B III, S. 628 f.) Textzeugen: D: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 16-17 (MBB 1270). Druckvorlage: D

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Übersetzungen: Englisch: In Heidelberg, in: Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967, S. 34 f. (MBB 1293). Niederländisch: in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van HengelBaauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Erinnerung an Hammarskjöld 1962 wurde im schwedischen Rundfunk diese Ansprache Bubers gesendet. Wie dem ersten Absatz zu entnehmen ist, zog es Buber vor, statt Autobiographisches mitzuteilen, sich seiner Beziehung zu Dag Hammerskjöld zu erinnern. Der schwedische Politiker Dag Hammerskjöld (1905-1961) amtierte als Generalsekretär der Vereinten Nationen von 1953 bis zu seinem Tod durch einen nicht aufgeklärten Flugzeugabsturz 1961, als er auf Friedensmission im Kongo war. Am 16. April 1958 hatte Hammerskjöld brieflich Kontakt zu Buber aufgenommen, weil er seine Aufsatzsammlung Pointing the Way, das englische Pendant zu Hinweise, gelesen hatte. Besonders seiner Aussage zu dem »Zeitalter des Mißtrauens« (vgl. »Hoffnung für diese Stunde«, in diesem Band, S. 275-282) könne er zustimmen. (B III, S. 454 f.) Im Jahr 1958 kam es dann zu ersten persönlichen Begegnungen. 1959 schlug Hammerskjöld Buber ohne Erfolg für den Nobelpreis für Literatur und den Friedensnobelpreis vor. Vgl. Bourel, Martin Buber, S. 644, 650 f. und Friedman, Martin Buber’s Life and Work, Bd. III, S. 310-319. Textzeugen: H: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350, bet 87); 4 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte, mit Korrekturen versehen. TS: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350, bet 87); 2 lose paginierte Blätter; Reinschrift von H. D: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 33-36 (MBB 1270). Druckvorlage: D Übersetzungen: Englisch: Memories of Hammerskjøld, in: Martin Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduc-

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Erinnerung an Hammarskjöld

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tion and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967, S. 57-59 (MBB 1293). Niederländisch: in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van HengelBaauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Variantenapparat: 364,22 Scheinsprache] [Aneinandervorbeireden] ! Scheinsprache H 364,23-24 in der unveränderlichen Routine] hin der unveränderlichen Routinei H 364,39-365,3 Aber ich spürte […] zusammenhing.] hAber ich spürte […] zusammenhing.i H Wort und Sacherläuterungen: 364,14-16 Als wir dann in New York […] zusammenkamen] Am 1. Mai 1958 fand diese Zusammenkunft statt. Hammerskjöld hatte Buber eingeladen, nachdem er erfahren hatte, dass Buber im Sommer 1958 eine Gastprofessur für Religionsgeschichte in Princeton innehatte. 365,6-9 indem er mit besonderer Betonung […] Mißtrauens war.] Das ist die Rede »Hoffnung für diese Stunde«, in diesem Band, S. 275282, besonders ab S. 279 »Es wird nun nicht mehr einfach befürchtet« bis S. 280 »der Sinn in Wahnsinn umschlägt.« Vgl. Friedman, Martin Buber’s Life and Work, Bd. III, S. 313. 365,15-16 Platons Versuch, in Sizilien seinen Staat der Gerechtigkeit zu begründen] Das ist Platons »Siebter Brief«. Vgl. auch Wort- und Sacherläuterungen zu 14,8. 365,20 Im August 1961 schrieb mir] Brief vom 17. August 1961. Vgl. B III, S. 524 f. Ein Gespräch mit Tagore Buber schildert hier eine Begegnung mit dem bengalischen Dichter Rabindranath Tagore (1861-1941) und Nobelpreisträger für Literatur (1913). Tagore stattete Europa, wo er begeistert begrüßt wurde, im Jahr 1921 einen Besuch ab. Im selben Jahr war im Kurt Wolff Verlag in München seine von Marie-Luise Gothein (1863-1931) übersetzte Schrift Gitanjali. Sangesopfer erschienen. Im April 1921 wurde Tagore auf eine Konferenz in die 1920 in Darmstadt vom Grafen Hermann von Keyserling (1880-1946) gegründete »Schule der Weisheit« eingeladen, die sich schwerpunktmäßig der europäischen Auseinandersetzung mit asiati-

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schem Denken widmete. Diesbezüglich schreibt Arnold Zweig an Buber folgende Worte, die sein Misstrauen gegenüber der zu lauen Haltung Tagores, was die problematische Lage der Juden betrifft, ausdrücken und von den Manipulationsversuchen des bengalischen Denkers durch die Deutschen zeugen: »Haben Sie Verbindung zu der zweifelhaften Gründung des zweifelhaften aber sicher redlichen Grafen Keyserling? Dorthin, hör ich, kommt Tagore; ich mache die Überschätzung dieses sanften und edlen Mannes nicht mit […] Irgendetwas nicht genau Fixierbares verspräche ich mir von Ihrem Zusammentreffen mit ihm. Die Deutschen möchten ihm sicher am liebsten ein Hakenkreuz an den Turban heften« (6. Juni 1921, B II, S. 77). Buber selbst nahm im Juni an dieser »Tagore-Woche« in Darmstadt teil, über die er am 12. Juni 1921 an Luise Dumont-Lindemann berichtet: »Der ganze Rahmen ist falsch. Ich selbst bin nur zu einem öffentlichen Vortrag gegangen und habe alle übrigen, recht dringenden Einladungen der Veranstalter, auch die letzte zum Großherzog, abgelehnt. Tagore selbst ist eine kindlich-ehrwürdige Erscheinung mit einem rührend schönen aber uns ungemäßen Glauben; er kennt unsere Last nicht und meint, sie uns leicht machen zu können, indem er uns darlegt, wie leicht er es hat – wir aber, ihm feuchten Auges zulächend wie einem Kinde, vergessen keinen Augenblick, daß wir von dem Vollgewicht unsrer Last nichts abwerfen dürfen, sondern mit ihr die Höhe zu ersteigen oder mit ihr in den Abgrund zu stürzen haben.« (B II, S. 78 f.) Kurz darauf traf Buber mit Tagore bei dem Indologen Moritz Winternitz (1863-1937) in Prag persönlich zusammen. Textzeugen: TS1: Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350, bet 98); 2 lose paginierte Blätter. Das Typoskript ist zweischichtig: TS1.1: Grundschicht. TS1.2: Überarbeitungsschicht: wenige, zumeist stilistische Korrekturen von Bubers Hand. D: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 202-204 (MBB 1270). Übersetzungen: Englisch: A Talk with Tagore, in: India and Israel, 3. Jg., H. 4/5, November 1950, S. 18, (MBB 841); in: Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967, S. 183-185 (MBB 1293). Hebräisch: Zikaron ufegischa (im Tagore bi-scheʾ elat Zion), Ner vom

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Gemeinschaft und Umwelt

27. Oktober 1950, 2. Jg., Heft 1/2, S. 14-15; in: Buber, Olelot, Mossad Bialik 1966 (MBB 1292); Sicha im Tagore, in: Am wa-aretz. Asufa leschana ha-25 [Sammlung zum 25. Jahr der Gründung Israels], Jerusalem: Misrad ha-chinukh we-ha-tarbut 1973, S. 36-37 (MBB 1376). Niederländisch: in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van HengelBaauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Variantenapparat: 367,22 ihre Existenz selber ist ein Experiment] diese Existenz selber sei gleichsam ein Experiment des Geistes TS1.2 Wort- und Sacherläuterungen: 366,5 Prof. Winternitz] Moritz Winternitz (1863-1937): österr. Indologe jüdischer Herkunft; als Spezialist für Sankskrit lehrte er an der deutschen Universität in Prag und lud als Dekan der Philosophischen Fakultät 1921 Rabindranath Tagore ein. Gemeinschaft und Umwelt Erwin A. Gutkind (1886-1968) war ein berühmter Architekt, der 1933 Deutschland verlassen mußte und nach England übersiedelte. Dort war er vor allem als Städteplaner tätig, seit 1956 war er Professor an der Graduate School of Fine Arts in Philadelphia. Er sprach sich für eine nicht-hierarchische Form des Städtebaus aus, die dazu beitragen sollte, menschliche Beziehungen im urbanen Raum zu erneuern. Hierin konnte Buber seine Vorstellungen von der Notwendigkeit wiederfinden, dass die Städte zu »Zentren, die die Begegnung gestalten«, umgewandelt werden müssten. Textzeuge: D: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 82-85 (MBB 1270). Übersetzungen: Englisch: Foreword, in: Erwin Anton Gutkind, Community and environment. A discourse in Social Ecology, London: Watts 1953, S. VII-IX (MBB 929); Community and Environment in: Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967, S. 93-95 (MBB 1293).

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Einzelkommentare

Hebräisch: in: Buber, Olelot, Mossad Bialik 1966 (MBB 1292). Niederländisch: Gemeenschap en omomgeving, in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). »In zwanzig Jahren« Mit seinem Text antwortete M. Buber auf eine Anfrage der sowjetischen Presseagentur Novosti in Moskau, die 1961 danach gefragt hatte, wie die Welt in 20 Jahren aussehen würde und wie »das Motto eines Menschen 1981« aussehen könnte. Offensichtlich hat Novosti, wie Buber 1965 in einer Anmerkung zur Erstveröffentlichung des deutschen Textes in Nachlese schreibt, »meines Wissens« seine Antwort »nicht veröffentlicht«. (Nachlese, S. 265.) Textzeuge: D: Nachlese, Heidelberg: (MBB 1270).

Lambert

Schneider

1965,

S. 198-199

Druckvorlage: D Übersetzungen: Englisch: In Twenty Years, in: Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967, S. 180 (MBB 1293). Niederländisch: in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van HengelBaauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Über den »bürgerlichen Ungehorsam« Der Text wurde zunächst in englischer Sprache in dem Sonderheft von The Massachusetts Review zum 100. Todestag von Henry David Thoreau 1962 veröffentlicht. Die deutsche Fassung erschien 1965 in Nachlese. Vgl. auch die Wort- und Sacherläuterungen zu 341,9-10 in MBW 11.1.

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Nochmals über den »bürgerlichen Ungehorsam«

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Textzeuge: D: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 213-214 (MBB 1270). Druckvorlage: D Übersetzungen: Englisch: Man’s Duty as Man, The Massachussets Review: A Centennary Gathering for Henry David Thoreau, Herbst 1962, S. 55 (MBB 1204); on »Civil Disobedience«, in: Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967 S. 191 (MBB 1293). Niederländisch: Over de burgerlijke ongehoorzamheid, in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Wort- und Sacherläuterungen: 372,4-5 Thoreaus Traktat über den »bürgerlichen Ungehorsam«] In seinem Essay »On the duty of civil disobedience« (1849) führt Thoreau aus, weshalb er den gewaltfreien Widerstand gegen die Regierung seiner Zeit – auf dem Hintergrund des amerikanisch-mexikanischen Krieges und der Sklaverei – für geboten hält. 372,21 zur Pflicht des Menschen als Mensch] Vgl. den englischen Titel »Man’s Duty as Man« der englischen Erstpublikation. Nochmals über den »bürgerlichen Ungehorsam« Der kleine Text Bubers erschien in dem von Clara Urquhart herausgegebenen Sammelband A Matter of Life (London 1963), der sich in insgesamt 23 Aufsätze mit der Ethik des bürgerlichen Widerstands auseinandersetzt. Ein weiterer prominenter Beiträger war der damalige indische Ministerpräsident Jawaharlal Nehru (1889-1964). Die deutsche Fassung erschien 1965 in dem Band Nachlese. Textzeuge: D: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 215-217 (MBB 1270). Druckvorlage: D

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Einzelkommentare

Übersetzungen: Englisch: [Civil Disobedience], in: A Matter of Life, hrsg. von Clara Urquhart, London: J. Cape 1963; S. 51-52 (MBB 1223); More on »Civil Disobedience«, in: Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967, S. 192 (MBB 1293). Niederländisch: Nogmals over de burgerlijke ongehoorzamheid, in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Wort- und Sacherläuterungen: 373,11-12 des evangelischen Gleichnisses] Vgl. Mt 22,15-22; Mk 12,1317 u Lk 20,20-26; zum Thema vgl. »Geltung und Grenze des politischen Prinzips«, in diesem Band, S. 297-306. Über die Todesstrafe In der Mitte der 1920er Jahre in der Weimarer Republik brach die Diskussion über die Abschaffung der Todesstrafe, die schon bei der Abfassung der Weimarer Verfassung höchst umstritten war, aus aktuellem Anlass erneut aus. 1927 brachte die SPD einen Antrag auf Abschaffung in den Reichstag ein, der jedoch erneut abgelehnt wurde. In diesem Kontext ist auch der von Ernst M. Mungenast herausgegebene Sammelband Der Mörder und sein Staat (Stuttgart 1928) erschienen, in dessen zweitem Teil prominente Zeitgenossen, u. a. Thomas Mann, Hermann Hesse, der Schauspieler Albert Bassermann (1867-1952) und der Verfassungsjurist Gustav Radbruch nach ihrer Stellung zur Todesstrafe befragt wurden. Die Fragen lauteten folgendermaßen: »Erstens: Ist die Todesstrafe, (ihre Vollstreckung) mit den Grundsätzen und Forderungen eines modernen Kulturstaates zu vereinbaren? Zweitens: Glauben Sie an eine abschreckende, erzieherische Wirkung der Todesstrafe (ihrer Vollstreckung)?« (Ebd., S. 64.) Bubers Text antwortet auf diese beiden, damals aktuellen Fragen. Wie die meisten anderen Befragten war er ein Gegner der Todesstrafe. Der Text wird von ihm in Nachlese wieder aufgenommen, wohl weil die Frage der Todesstrafe durch den Eichmann-Prozess erneut aktuell geworden ist. Aus diesem Grunde wird der Text hier nach der durch Nachlese authentifzierten Fassung abgedruckt.

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Über die Todesstrafe

Todestrafe Textzeugen: D1: in: Ernst M. Mungenast, Der Mörder und der Staat. Die Todesstrafe im Urteil hervorragender Zeitgenossen, Stuttgart: Walter Hädecke / Verlag 1928, S. 65 (MBB 373). D2: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 218 (MBB 1270). Druckvorlage: D2 Übersetzungen: Englisch: On Capital Punishment, in: Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967, S. 194 (MBB 1293). Niederländisch: Over de doodstraf, in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Variantenapparat: 375,1-3 Über die Todesstrafe […] Rundfrage] fehlt D1 Danksagung 1963 Wie aus dem letzten Absatz des Textes hervorgeht, hat Buber diese Meditation über den Zusammenhang von »Danken« und »Denken« als Antwort auf die »Guten Wünsche« zu seinem 85. Geburtstag verfasst und an die Gratulanten versandt. Der Erstdruck ist in Nachlese 1965 erschienen. Textzeuge: D: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 255-256 (MBB 1270). Druckvorlage: D Übersetzungen: Englisch: Expression of Thanks, 1963, in: Martin Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967, S. 230 (MBB 1293).

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Einzelkommentare

Hebräisch: Divre toda, Jerusalem: Dfus limudi, S. 1, auch als Faksimile in Maariv am 5. April 1963 (MBB 1240); in: Buber, Olelot, Mossad Bialik 1966 (MBB 1292). Niederländisch: Danksegging 1963, in: Martin Buber. Zijn Leven en zijn Werk, gesammelt und hrsg. von Juliette Binger, Einleitung von W. Bannings Graveland: De Driehoek 1947 (MBB 763); in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285). Nachwort [zu Nachlese] Buber gibt in diesem kurz vor seinem Tod verfassten Text Rechenschaft darüber, nach welchen Kriterien er die Auswahl der Texte in dem letzten von ihm veröffentlichten Band getroffen hat. Textzeuge: D: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 261-262 (MBB 1270). Übersetzungen: Englisch: Authors’s Foreword, in: Martin Buber, A Believing Humanism. My Testament, 1902-1965, transl. and with an introduction and explanatory notes by Maurice Friedman, Credo Perspectives, New York: Simon and Schuster 1967, S. 27 f. (MBB 1293). Niederländisch: in: Buber, Sluitsteen, übers. von M. M. van Hengel-Baauw u. Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat 1966 (MBB 1285).

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Abkürzungsverzeichnis B I-III

BBS BT

JuJ

MBA MBB

MBW

Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, 3 Bde., hrsg. und eingel. von Grete Schaeder, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1972-75. Bd. II: 1918-1938 (1973), Bd. III: 1938-1965 (1975). Briefwechsel Martin Buber-Ludwig Strauß 1913-1953, hrsg. von Tuvia Rubner und Dafna Mach, Frankfurt a. M. 1990. Lazarus Goldschmidt, Der Babylonische Talmud. Nach der ersten zensurfreien Ausgabe unter Berücksichtigung der neueren Ausgaben und handschriftlichen Materials neu übertragen, Berlin 1929-1936. Martin Buber, Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, mit einer Einl. von Robert Weltsch, Köln: J. Melzer Verlag 1963. Martin Buber-Archiv der National Library of Israel. Martin Buber. Eine Bibliographie seiner Schriften, 1897-1978, zusammengestellt von Margot Cohn und Rafael Buber, Jerusalem: Magnes Press, Hebräische Universität und München/New York et al.: K. G. Saur 1980. Martin Buber Werkausgabe: Bd. 1 Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1981-1919, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Martin Treml, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2001. Bd. 2.1 Mythos und Mystik. Frühe religionswissenschaftliche Schriften, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von David Groiser, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2013. Bd. 3 Frühe jüdische Schriften 1900-1922, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Barbara Schäfer, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007. Bd. 4 Schriften über das dialogische Prinzip, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Andreas Losch und Paul Mendes-Flohr, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2019. Bd. 6 Sprachphilosophische Schriften, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Asher Biemann, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2003. Bd. 7 Schriften zu Literatur, Theater und Kunst. Lyrik, Autobiographie und Drama, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Emily D. Bilski, Heike Breitenbach, Freddie Rokem u. Bernd Witte, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2016. Bd. 8 Schriften zu Jugend, Erziehung und Bildung, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Juliane Jacobi, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005.

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710

MEW WA

Abkürzungsverzeichnis

Bd. 9 Schriften zum Christentum, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Karl-Josef Kuschel, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011. Bd. 10 Schriften zur Psychologie und Psychotherapie, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Judith Buber Agassi, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008. Bd. 12 Schriften zur Philosophie und Religion, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Ashraf Noor, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2017. Bd. 14 Schriften zur Bibelübersetzung, eingeleitet und kommentiert von Ran HaCohen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012. Bd. 15 Schriften zum Messianismus, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Samuel Hayim Brody, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2014. Bd. 17 Chassidismus II. Theoretische Schriften, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Susanne Talabardon, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015. Bd. 18 Chassidismus III. Die Erzählungen der Chassidim, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Ran HaCohen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015. Bd. 20 Schriften zum Judentum, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Michael Fishbane und Paul Mendes-Flohr, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2019. Bd. 21 Schriften zur zionistischen Politik und zur jüdisch-arabischen Frage, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Paul MendesFlohr, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2019. Marx-Engels-Werke, 44 Bde., hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1955-1981. Goethes’ Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abtlg. I-IV. 133 Bände in 142 Teilen. H. Böhlau, Weimar 1887-1919.

Hebräische Bibel Gen Ex Lev Num Dtn Ri I Sam

Genesis (1. Mose) Exodus (2. Mose) Leviticus (3. Mose) Numeri (4. Mose) Deuteronomium (5. Mose) Richter 1. Samuel

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711

Abkürzungsverzeichnis

II Sam I Kön II Kön Jes Jer Ez Hos Am Mi Sach Ps Hi Esr Neh

2. Samuel 1. Könige 2. Könige Jesaja Jeremia Ezechiel Hosea Amos Micha Sacharja Psalm(en) Hiob Esra Nehemia

Neues Testament Mt Mk Lk Apg Röm 1 Kor 2 Kor Phil 2 Thess Hebr Apk

Matthäus Markus Lukas Apostelgeschichte Römerbrief 1. Korintherbrief 2. Korintherbrief Philipperbrief 2. Thessalonicherbrief Hebräerbrief Johannes-Apokalypse

Außerkanonische Schriften 4 Esr 1 Makk

4. Esra 1. Makkabäer

Rabbinische Literatur bAS bBer bChul

Talmud Bavli, Traktat Avoda sara Talmud Bavli, Traktat Berakhot Talmud Bavli, Traktat Chullin

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712

bJoma bMeg bPes bSan bShab bSota BerR

Abkürzungsverzeichnis

Talmud Bavli, Traktat Joma Talmud Bavli, Traktat Megilla Talmud Bavli, Traktat Pesachim Talmud Bavli, Traktat Sanhedrin Talmud Bavli, Traktat Shabbat Talmud Bavli, Traktat Sota Bereshit Rabba (Genesis Rabba)

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Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Quellenverzeichnis 2. Literaturverzeichnis 2.1 Bibliographien 2.2 In den Band aufgenommene Schriften Martin Bubers 2.3 Verwendete Werke Martin Bubers 2.4 Verwendete Literatur 1. Quellenverzeichnis Aus dem Martin Buber Archiv (MBA) der National Library of Israel sind folgende unveröffentlichte Quellen verwendet worden:

1.1 Handschriften und Typoskripte Die Ueberwindung (Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 007 071 [Über die Revolution] (Handschrift) Arc. Ms. Var. 350 bet 163a Der heilige Weg (Handschriften) Arc. Ms. Var 350 05 23 Worte an die Zeit: Gemeinschaft (Handschriften) Arc. Ms. Var. 350 02 66 Martin Buber Abende (Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 47d Staatsideen, Gemeinschaftsversuche und die menschliche Wirklichkeit (Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 47e Vortrag über Erziehung und Volkstum (Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 007 070 Drei Sätze eines religiösen Sozialismus (Handschrift) Arc. Ms. Var. 350 02 26 Religion und Volkstum (Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 007 043 [Religion und Autorität – Form und Freiheit] (Typoskript) Arc. MS. Var 350 007 043 [Religion und Politik, Aussprache] (Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 007 43a Erziehung zur Gemeinschaft (Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 47d Warum muß der Aufbau Palästinas ein sozialistischer sein? (Handschrift und Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 06 27 Individuum und Person – Masse und Gemeinschaft (Typoskripte)Arc. Ms. Var. 350 47a 001 und Arc. Ms. Var. 350 47d 001 [Religion und Politik; Vortrag] (Typoskript) Arc. Ms. Var 350 007 43 Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee (Autorenexemplar) Arc. Ms. Var. 350 07 52 Über Religion und Gemeinschaft (Handschrift und Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 02 40 f

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Aus einem Rundfunk-Dreigespräch über »Religion und Gemeinschaft« (Handschrift und Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 bet 40 f. Israel und die Völker (Typoskript) Arc. Ms. Var 350 53-S Zur Ethik der politischen Entscheidung (Handschriften) Arc. Ms. Var. 350 02 116 Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit (Handschriften) Arc. Ms. Var. 350 02 13 und Arc. Ms. Var. 350 02 13 u. 13a [Rede anlässlich des 1. Mai] (Handschrift) Arc. Ms. Var. 350 02 138 Landauer heute (Handschrift) Arc. Ms. Var. 350 02 135 Wenn Herzl noch lebte (Handschrift) Arc. Ms. Var. 350 06 18b The Crisis and the Truth (Handschriften) Arc. Ms. Var 350 05 54 [Vorwort zu Jacob Burckhardt, »Die Kultur der Renaissance in Italien«] (Handschrift) Arc. Ms. Var. 350 007 43 Pfade in Utopia (Handschriften) Arc. Ms. Var. 350 02 20b und 350 02 20 Mappe 2c Individualismus und Kollektivismus (Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 47c,1 Zum Problem der »Gesinnungsgemeinschaft« (Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 02 154 Zwischen Gesellschaft und Staat (Handschriften) Arc. Ms. Var. 350 02 38 Hoffnung für diese Stunde (Handschriften und Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 02 37 Abstrakt und Konkret (Handschrift) Arc. Ms. Var. 350 02 73 Volk und Führer (Handschriften und Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 02 153 Geltung und Grenze des politischen Prinzips (Handschriften und Typoskripte) Arc. Ms. Var. 350 02 31b, Arc. Ms. Var. 350 02 31 f., und Arc. Ms. Var. 350 02 31 Moses Hess und die sozialistische Idee (Handschrift) Arc. Ms. Var. 350 05 10 Der Mensch im Zeitalter der Weltraumfahrten (Handschrift und Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 02 156 [Greetings to Bertrand Russell] (Handschrift und Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 008 705b.I Nachbemerkung [zu: Nach dem Eichmann-Prozess] (Handschrift und Typoskripte) Arc. Ms. Var. 350 007 008 Sie und Wir (Typoskripte) Arc. Ms. Var. 350 05 5b Schweigen und Schreien (Typoskripte) Arc. Ms. Var. 350 05 5c [Philosophical Interrogations] (Handschrift und Typoskript) Arc. Ms. Var. 350 bet 85 Erinnerung an Hammarskjöld (Handschrift und Typoskript) Arc. Ms. Var. 350, bet 87 Ein Gespräch mit Tagore (Typoskript) Arc. Ms. Var. 350, bet 98

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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1.2 Notizen und Briefe Brief Hauers an Buber vom 4. Januar 1933 Arc. Ms. Var. 350 008 297-13 Brief Hauers an Buber vom 20. März 1933 Arc. Ms. Var. 350 008 297-14 Brief Hauers an Buber vom 14. Dezember 1948 Arc. Ms. Var. 350 008 297:16 Brief Hauers an Buber vom 12. April 1949 Arc. Ms. Var. 350 08 297:17 Brief Hauers an Buber vom 25. Juli 1953 Arc. Ms. Var. 350 08 297:18 Gutachten Martin Bubers an das Staatskommisariat für die politische Säuberung Tübingen- Lustnau / Spruchkammmer für den Lehrkörper der Universität Arc. Ms. Var. 350 08 297:21 [Erklärung für die Zeitungen Zur Annahme des Goethepreises] (Handschrift) Arc. Ms. Var. 350 001 26b.

1.3 Materialien aus anderen Archiven Aus dem Bundesarchiv sind folgende unveröffentlichte Quellen verwendet worden: Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee (Typoskript)[tab](Nachlass J. W. Hauer, Ordner 48, S. 8-12 und 103-122) Briefe Hauers an Buber und Bubers an Hauer im Nachlass J. W. Hauer, Ordner 13 Aus dem Archiv des Leo Baeck Institut in New York: Martin- Buber-Abende, (Typoskript) Martin Buber Collection. Box 1, Folder 14 Brief Martin Bubers an Franz Rosenzweig vom 2. Dezember 1923, Martin Buber Collection; AR 9; Box 1; Folder 6 Brief Bubers an Rosenzweig vom 11. November 1923, Martin Buber Collection; AR 9; Box 1; Folder 6 Postkarte Bubers an Franz Rosenzweig vom 9. Dezember 23, Martin Buber Collection; AR 9; Box 1; Folder 6 Postkarte Bubers an Franz Rosenzweig vom 27. Februar 1924, Martin Buber Collection, AR 9; Box 1; Folder 7 Max Grünewald Collection, AR 7204/MF 727 Aus dem Central Zionist Archive, Jerusalem: Ina Britschgi-Schimmer, Gustav Landauers Weg durch die Münchener Revolution. Eine Darstellung, in Central Zionist Archive, Ina Britschgi-Schimmer File A 110, 12

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Quellen- und Literaturverzeichnis

2. Literaturverzeichnis 2.1 Bibliographie Martin Buber. Eine Bibliographie seiner Schriften, 1897-1978, zusammengestellt von Margot Cohn u. Rafael Buber, Jerusalem: Magnes Press, Hebräische Universität Jerusalem u. München [u. a.]: K. G. Saur 1980.

2.2 In den Band aufgenommene Schriften Martin Bubers Abstrakt und Konkret, Neue Schweizer Rundschau, XX/8, Dezember 1952, S. 451452. Arbeitsglaube, in: ders., Kampf um Israel. Reden und Schriften 1921-1932, Berlin: Schocken 1933, S. 281-282. Aus einem Rundfunk-Dreigespräch über »Religion und Gemeinschaft«, Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 02 40 f). Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee, Kommende Gemeinde, 3. Jg., Heft 2, Juni 1931, S. 19-26. The Crisis and the Truth, The Australian Jewish Review, VI/7, September 1945, S. 3. Dank, in: Du sollst ein Segen sein. Vom Sinn des Alters, hrsg. von Erika Horn, Graz, Wien u. Köln: Verlag Styria 1964, S. 37. Dankesrede zum Münchner Kulturpreis, in: München ehrt Martin Buber, München: Ner-Tamid-Verlag 1961, S. 11-12. Danksagung 1963, in: ders., Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 255256. [Drei Diskussionsbeiträge], in: Sozialismus aus dem Glauben – Verhandlungen der Sozialistischen Tagung in Heppenheim, Pfingstwoche 1928, Zürich: Rotapfel 1929, S. 90-94, S. 121-122 u. S. 217-219. Drei Sätze eines religiösen Sozialismus, Neue Wege, 22. Jg., Juni/Juli 1928, (Sonderheft »Leonhard Ragaz zum sechzigsten Geburtstag«) S. 327-329. Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose, Jüdische Welt-Rundschau I, 1 vom 10. März 1939, S. 5. Erinnerung an einen Tod, Neue Wege, 23. Jg., Heft 4 (1929), S. 161-165. Erinnerung an Hammarskjöld, in: ders., Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 33-36. Erkenntnis tut not, in: Almanach des Schocken-Verlags auf das Jahr 5696, Berlin: Schocken 1935, S. 11-14. Erziehung zur Gemeinschaft, Typoskript im MBA (Arc. Ms. Var. 350 47d). Flucht?, Frankfurter Zeitung, 21. März 1924 (Abendblatt). Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit, Berlin: Schocken 1938.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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Stellenregister Bibelstellen Hebräische Bibel Gen 2,9 2,17 3,19 3,24 4,1 12,2 12,7 22 29,17 45,7 Ex 3,14 12,38 13,9 13,16 15,18 17,16 19,6

II, 409 II, 409 I, 658 I, 513, 617 II, 657 II, 359; 694 II, 359; 694 I, 550 I, 487 II, 86, 466, 468

20 20,7-17 24,7 25,17 ff. 28,30 29,10

I, 553 I, 474 I, 473 I, 473 I, 672; II, 672 II, 686 I, 470, 673; II, 468, 665 II, 468 II, 468 I, 470 I, 513 I, 475 I, 558

Lev 1,4 3,2 4,4 8,8 13-14 13,45 16,21-22 19 19,18 19,33 24,22 25,1-55 25,9 25,10-13 25,23

I, 558 I, 558 I, 558 I, 475 II, 402 II, 402 I, 558 II, 32 II, 436 I, 674 I, 674 I, 470; II, 666 II, 556 I, 673 I, 80, 471

Num 15,37-41 27,18-20 27,21 15,16 15,26

I, 469 I, 558 I, 475 I, 674 I, 674

Dtn 5 5,6-21 6,5 6,8 7,16 10,17 ff. 10,18 f. 11,18 15,1-11 22,12 33,8 34,9 35,5-9

II, 468 II, 468 II, 661 (2�), I, 473 I, 551 (2�) I, 674 II, 661 I, 473 II, 666 I, 469 I, 475 I, 558 I, 513

Ri 3,9 3,15 4,4 6,11 8,23 9,23 13-16 13,3

I, 471 I, 471 I, 471 I, 471 I, 672; II, 327 II, 402 I, 598, 674 I, 471

I Sam 3,4 ff. 8 8,1 8,5 8,7 9-31 14,41 15 15,3b 15,22 16,14 18,10 28,6

I, 471 I, 80; II, 686 I, 471 I, 471 I, 471 I, 674 I, 475 I, 552, 557 I, 552 I, 559 II, 402 I, 553 I, 475

II Sam 6 7,12 7,23

I, 673 I, 471 I, 473

I Kön 14 17-22

I, 471 I, 471

II Kön 18,17 f.

II, 403

Jes 1,9 1,27 2 2,2 2,4 6 6,1 6,5 6,6 f. 6,9-13 6,10 7,3 7,4-9 7,4 7,8 f. 7,9 10,20-22 10,22 11,6 19,23-25 19,24 f. 30,15 30,17 32 35,8 36,2 f. 40-55 41,8 42,8 49,2 57,15 62,10

II, 402 I, 34 II, 404 II, 404 II, 404 II, 403, 404 II, 401 II, 402 (2�) II, 403 II, 402 II, 405 II, 403 II, 404 II, 19, 404 II, 404 II, 404 II, 467 II, 402 I, 616 II, 328 I, 673 II, 19 II, 402 II, 403 I, 125, 468 II, 403 I, 673 I, 673 I, 673 I, 558, 674 II, 341 I, 125, 468

Jer 1,3 2,3

I, 471 I, 673

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747

Stellenregister 6,9 6,20 7,21-23 7,22 22 27,6 29,1 29,5 29,7 34,16 ff.

II, 467 I, 559 I, 559 I, 558 (2�) I, 674 I, 673 I, 674 I, 674 I, 674 I, 471

Ez 11,13

II, 467

Hos 6,6 10,12

I, 559 I, 475

Mi 4,3 6,6-8

I, 674 I, 559

Am 1,1 9,7

I, 471 I, 673

Sach 14,9

II, 665

Ps 35,10 51,16 74,14 83,2 103,20 104,26

I, 557 I, 559 II, 439 II, 687 I, 470 II, 439

Hi 40,25-41,26 II, 439 Esra 2,63

I, 475

Neh 7,65

I, 475

9,9 13,7 18,20 19,21 22,15-22 22,21 22,37-40 26,6-13 27,46

I, 443 I, 475 I, 578 I, 443 II, 661, 706 I, 472; II, 661 II, 436 I, 574 I, 513

Mk 1,15 2,14 4,7 10,21 12,13-17 12,17 12,29-31 14,3-9 15,34

I, 492 I, 443 I, 475 I, 443 II, 661, 706 I, 472; II, 661 II, 436 I, 574 I, 513

Lk 5,27 8,7 10,25-28 16,13 18,22 20,20-26 20,25

I, 443 I, 475 II, 436 I, 473; II, 663 I, 443 II, 661, 706 I, 472; II, 661

Phil 3,13

I, 557

2 Thess 2,6 2,7

I, 525 I, 525

Hebr 9

I, 513

Apk 21,1 21,5

I, 471 I, 437

1 Makk 2,42

I, 472

4. Esra 4,26 14,10

I, 437 II, 665

Talmud bAS 8a bBer 6a 54a bChul 94a bJoma 9b bMeg 10b bPes 113b bSan 24a 39b bShab 55a 88a bSota 48b

Joh 1,43 2,23 ff. 3,5 12,3-8 18,36 21,19 21,22

I, 443 I, 412 I, 516 I, 574 I, 472 I, 443 I, 443

Apg 17,30 26,20

I, 445 I, 445

Röm 7,15 7,19

I, 473 I, 443

Midrasch

1 Kor 2,9

I, 557

BerR XII,6

2 Kor 5,21

I, 473

II, 467 I, 473 I, 551 II, 468 I, 575 II, 672 II, 468 II, 468 II, 672 II, 468 I, 470 I, 575

Neues Testament Mt 3,2 5,39 6,24

I, 492 I, 473 I, 473; II, 663

II, 467

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748 Antike Autoren Homer Odyssee 10. Gesang 495 II, 400 Josephus Antiquitates Judaicae 13,171-173 I, 472 18,11 ff. I, 472 Plato Politeia Drittes Buch

Stellenregister 386d II, 400, 405 Sechstes Buch 487e II, 399 489b-490e II, 401 493c I, 470 496d-e II, 400, 405 Neuntes Buch 592b II, 400 Vierter Brief 320e II, 400 Siebter Brief 326b II, 399 328b II, 400 328e II, 400 (2�)

Mittelalterliche Kommentatoren Sohar I 19b II 8a 69b III 185a

I, 553 I, 474 I, 553 I, 553

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Sachregister Die Seitenzahlen zu den jeweiligen Teilbänden werden im Sach- und Personenregister durch »I« und »II« unterschieden. Abendland I, 141, 142, 201, 348, 350; II, 55 Abraham I, 237, 261; II, 359, 419 Ägypten I, 390; II, 664 Akratie II, 160 Al Domi I, 57 Alija II, 71, 109, 111, 245 Anarchie I, 49; II, 160 Anarchisten I, 497 Antike II, 264-265 Antisemitismus I, 67, 441, 503, 545; II, 342-343, 469, 684 Apokalyptik I, 47; II, 128 Arbeit I, 157, 336-337, 387; II, 176, 343344 Arbeiterklasse, siehe Proletariat Arbeitsteilung II, 80, 162, 252, 262 Die Arbeit I, 499-500, 504 Askese I, 511, 609 Assimilation I, 129; II, 24, 344, 415 Assoziation II, 137, 147-148, 153-154, 159, 165, 181, 198, 202, 240, 324, 501, 543, 544 Atheismus I, 294; II, 319 Aufklärung II, 126 Auslese II, 105, 107, 109, 113 Autonomie I, 189 Autorität I, 199-200 Babylon I, 390, 393 Balfour-Deklaration I, 30, 65, 431 Bar Kochba I, 26, 472, 682; II, 571 Begegnung I, 234, 510; II, 260 Benda, Julien - La trahison des clercs I, 234, 549 Bergpredigt I, 401 Bewegung –, anarchistische II, 549 –, Arbeiter- I, 604; II, 518 –, Genossenschafts- II, 174, 186, 200, 556 –, Jugend- I, 580-581, 637 –, Kibbutz- II, 459, 460 –, kommunistische I, 631 –, marxistische II, 212 –, sozialistische II, 73, 212, 214, 247, 309

–, zionistische I, 23, 30; II, 39, 429, 437, 440-441, 442, 446, 460 Bibel I, 388, 389, 390-391, 399, 409, 571; II, 466, 635, 642 Bildung II, 49 Biltmore-Programm II, 102 Bnai Brith-Loge I, 527, 541-542 Bolschewiki I, 436; II, 225-226 Bolschewismus I, 598, 676; II, 287 Böse, das I, 141, 186, 246, 333, 610; II, 336 Bourgeoisie II, 46 Brit Shalom I, 32, 66-67; II, 405, 431, 475, 571, 687 Buber, Martin –, Alte und neue Gemeinschaft I, 36, 74 –, An der Wende I, 58; II, 360 –, Bilder von Gut und Böse II, 464, 521 –, Daniel I, 28, 83, 429 –, Drei Reden I, 127; II, 314 –, Drei Reden über das Judentum I, 26, 38, 472; II, 474, 571 –, Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens II, 581 –, Das Erste I, 53 –, Die Frage an den Einzelnen I, 55, 598, 618 –, Der Geist des Orients und das Judentum II, 520 –, Der Gesalbte II, 520 –, Geschehende Geschichte I, 445 –, Die Geschichten des Rabbi Nachman I, 423, 425, 431, 512; II 626 –, Der Glaube der Propheten I, 81; II, 360, 520 –, Gottesfinsternis I, 58; II, 467 –, Der große Maggid und seine Nachfolge I, 431 –, Der heilige Weg I, 440 –, Ich und Du I, 71, 74, 79, 83, 86, 437, 439, 444, 502, 509, 510, 515, 516, 529; II, 365 –, Israel und Palästina I, 31 –, Der jüdische Mensch von heute I, 53 –, Kirche, Staat, Volk, Judentum I, 52 –, Das Kommende I, 472, 575; II, 520 –, Königtum Gottes I, 19, 51, 81, 471, 509, 571, 619, 658, 670; II, 403-404, 520

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750 –, Die Legende des Baalschem I, 37, 80, 431; II 626 –, Mein Weg zum Chassidismus I, 75, 431, 513 –, Moses I, 81; II, 360, 520 –, Das Problem des Menschen I, 16, 56, 86, 91; II, 353, 448 –, Reden über das Judentum I, 20, 23, 447; II, 357-359, 394 –, Über Jakob Böhme I, 36 –, Vom Geist des Judentums I, 127 –, Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre II, 470 –, Zwei Glaubensweisen I, 44; II, 464 –, Zwiesprache I, 74, 529, 580 Buch Richter I, 280, 375 Buch Samuel I, 242, 280, 375, 557 Bund I, 302-304, 349, 381, 389; II, 157, 257 Bund der Gerechten II, 119, 120, 511 Bund der Kommunisten II, 511-512 Bundeslade I, 196, 395 Burckhardt, Jakob –, Kultur der Renaissance II, 114, 476 Chaluzim II, 105, 109-111, 112, 113, 245247 Charisma I, 19, 51-52; II, 294 Chartismus II, 59, 174, 178, 455 Chassidismus I, 37, 75, 144, 145, 262, 391392, 447, 474, 557, 559, 684; II, 350, 624, 626, 690 Christentum I, 52, 112, 114, 141, 205, 245, 259, 262, 269, 281, 398-399, 405-408, 486, 532-534, 626; II, 127, 175, 290, 419 –, Ur- I, 532; II, 55 Christus I, 205, 516, 533 Davar II, 453 Debora I, 135 Demokratie I, 123, 554; II, 334, 602 Deuterojesaja I, 258 Deuteronomium II, 300 Deutsche Glaubensbewegung I, 624 Deutsche Volkspartei I, 647 Deutschland I, 172, 174-175, 178, 207-208, 302, 347, 356; II, 340-341 Dialog II, 276-277, 279, 695 Diaspora II, 107, 113, 466 Dogma I, 255, 257-258 Dorf I, 201 –, gemeinschaftliches II, 65, 67-68, 70-71, 72-73, 242, 245 –, hebräisches II, 459

Sachregister –, russisches II, 204, 206-208, 239 Dostojewskij, Fjodor –, Die Dämonen (Bessenene) I, 236, 279, 373, 394, 574, 676; II, 329 Düsseldorfer Schauspielhaus I, 437-438, 443, 488, 491 Ehe I, 201-203, 241 Eichmann-Prozess I, 63-64, 69 Elite II, 71, 101, 105, 107, 113, 245-246 emet II, 85, 465, 467-468 Engels, Friedrich –, Anti-Dühring II, 121-122, 515 –, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft II, 121, 515 Entscheidung I, 412-415, 539, 636, 676; II, 12, 164, 305, 646 Eranos-Kreis I, 508, 668 Erfolg I, 94, 342, 344, 376, 393, 398, 591, 609; II, 303, 603-604 Erlösung I, 609, 636-637; II, 55, 127, 328329 Erzieher I, 224-225, 226 Erziehung I, 199, 224, 286-287, 289-290, 305, 308; II, 58, 577-578 Eschatologie II, 125-128, 309 Essäer I, 137-139, 458, 472 Exil, babylonisches I, 281, 393, 574 Existentialismus II, 302-303 Faschismus I, 598; II, 35, 286-287, 295, 591-592, 605, 617 Feind I, 584; II, 304 Feuerbach, Ludwig –, Wesen des Christentums II, 317 Föderation, Föderalismus II, 67, 147, 149150, 158-159, 179, 200, 202, 209, 228, 534 Forte-Kreis I, 38, 479 Fortschritt II, 251 Frankfurter Republikanischer Studentenbund I, 222 Freies Jüdisches Lehrhaus I, 52, 516, 518, 541-542, 543, 610; II, 354 Freiheit I, 220, 223, 251; II, 145, 154, 217, 235, 276 Frieden I, 376-377; II, 84 Friedenspreis des deutschen Buchhandels I, 60 Front, innere, wahre, auch Querfront I, 320, 323, 376, 415, 577, 582, 623, 676; II, 306, 348, 654-655 Führer I, 51, 55, 321, 412, 414, 514; II, 285, 286, 292, 293, 294-295, 595-596, 602

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Sachregister Führertum I, 158; II 601, 604 –, biblisches I, 19 Galuth I, 57, 150; II, 24, 26, 412 Gastsasse I, 400; II, 300, 645 Geist I, 93, 115-118, 148, 155, 158, 189, 240; II, 10-11, 13, 15-16, 17, 19, 21, 32, 41, 46, 51, 56-57, 251, 257, 281, 285, 323, 351, 355 Gemeinde I, 155, 159, 168, 189, 191, 217, 254, 381-382, 510; II, 171, 258 Gemeinschaft I, 19, 28, 29, 41, 42, 74-79, 81-82, 98-99, 114, 155, 159, 162-163, 166-167, 169-170, 171, 185-187, 188-190, 191, 192, 194, 196, 198, 207, 209, 213214-218, 222, 225-226, 251, 275, 293, 296, 300-305, 308, 352, 362, 378-380, 382-383, 384, 415, 483, 519, 637, 638, 650; II, 18, 93, 163, 165, 217, 255-259, 330, 350, 352, 354, 356, 394, 413, 454, 480, 517-518, 552, 690, 691-692, 694 –, echte, wahre I, 46, 127, 130-132, 136, 139, 141, 143, 150, 171, 173, 331, 373, 448, 451, 455, 485, 594; II, 72, 108, 139, 246 –, primitive I, 210-211, 213, 216, 302, 309310, 483 –, religiöse I, 204-205, 214, 252, 378; II, 256 Gemeinwesen I, 159, 217, 383; II, 190 Genossenschaft II, 196, 232-233, 234-236, 501, 570 –, Konsum- II, 177-180, 187, 192, 233, 569 –, Produktiv- II, 178, 181-182, 184-187, 193-194, 200, 202, 211, 233, 569 –, Siedlungs- II, 178, 179 –, Voll- II, 177, 182, 185-188, 194, 242-243 Gerechtigkeit I, 169; II, 18-19, 30, 154, 344345 Geschichte I, 258, 393; II, 13, 19, 292, 303, 321, 323, 328 –, jüdische II, 342 –, Welt- I, 591, 635-636, 641, 646; II, 303, 318, 329 Gesellschaft I, 19, 28, 98, 162-163, 166, 169, 301-302, 428; II, 9, 46, 82-83, 92-93, 126, 131-132, 135-136, 138, 145, 147, 165 253, 262, 264, 267-269, 271, 272-273, 394 –, bürgerliche II, 198, 199, 265, 267, 269 –, Restrukturierung II, 132, 145, 149, 162, 177, 179, 193, 200, 208, 210, 211-212, 216, 241, 249-250, 484, 501, 693

751 Gesetz I, 148-150, 186, 189, 229, 260, 263, 463, 517, 639, 645-646 Gesinnung II, 260 Gespräch I, 272; II, 88, 95-96, 276, 278, 281, 334, 695 Gewalt I, 180, 290-292, 497, 570, 597 –, politische II, 198 Gewerkschaft II, 241 Gewissen I, 414-415; II, 289, 465-466, 596597, 600, 604 Gideon I, 135, 596, 619; II, 327 Glaube I, 244, 412; II, 330, 465 –, jüdischer II, 327 Gleichheit II, 276, 311-312 Gott I, 129, 131, 170, 171, 186-187, 188, 244 Gottesherrschaft I, 396; II, 18, 327 Gottesknecht I, 259, 393, 397-398 Gute, das I, 246 Ha-aretz II, 405, 407, 410, 440-443 Hagana II, 442, 453 Hansischer Goethe-Preis I, 60, 62, 95, 620621, 624, 627-628 Hapoel Hazair I, 31, 451, 476, 492, 499, 504, 656, 657; II, 439, 471 Hebräische Universität Jerusalem II, 380, 382-383 Heiligkeit I, 131 Herrschaft II, 273, 597 Herzl, Theodor –, Der Judenstaat I, 24 Hess, Moses –, Die europäische Triarchie II, 313-314, 317 –, Heilige Geschichte der Menschheit II, 310-311, 313 –, Rom und Jerusalem II, 325 Hierokratie I, 472, 574 Historizismus I, 118 Hobbes, Thomas –, Leviathan II, 268, 544 Hochland I, 233, 554 Hohenrodter Bund I, 578-579 Humanismus, hebräischer I, 151, 475 Ichud I, 34, 66, 68, 84, 682; II, 106, 462, 478, 479, 571 Idealismus I, 353, 354 Ideologie II, 278, 280 Indien I, 340, 343-344, 345-346, 348 Individualismus I, 414; II, 91-95, 137, 146, 288

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752 Individuum I, 351-354, 357, 415; II, 53, 9192, 94, 145 Intellekt I, 115-116 Intellektuelle I, 172; II, 46, 100-101 Intention I, 145, 250, 474, 557 Irgun II, 431, 453-454, 479 Israel I, 52, 69, 331, 388-391, 394-395, 399401, 403-404, 405, 407-409, 513; II, 100, 107, 309, 311, 327, 329, 356, 615, 635, 650 –, Auserwähltheit I, 393, 402-403; II, 329 Israel (Staat) I, 68, 82; II, 76, 354, 358, 480 Jewish Theological Seminary II, 580 Jischuw II, 64, 420, 441, 453-454, 460, 462 Jobeljahr I, 391, 392; II, 413, 556 Josua I, 260, 619 Der Jude I, 84, 443, 545; II, 405, 415, 429, 444, 453 Judentum, Juden I, 37, 129-133, 224, 225226, 229, 245, 280, 384, 386, 388, 399, 401, 464, 481, 504, 533-535, 619, 626; II, 38, 366-367, 419, 464 –, altes I, 134, 154 –, deutsches I, 24, 53, 57, 432; II, 309, 338, 415 –, liberales I, 262-263 –, orthodoxes I, 262 Jüdische Renaissance I, 25, 65, 447; II, 294, 398, 414, 417, 426, 450, 474 Jüdische Rundschau I, 53, 546, 681-682; II, 410, 421, 571 Jüdische Welt-Rundschau II, 410-411 Jüdisches Lehrhaus Mannheim I, 528, 529 Jüdisches Lehrhaus Stuttgart I, 568, 618, 622, 625 Kabbala I, 474; II, 475 Kant, Immanuel –, Zum ewigen Frieden II, 14, 100 Kapital II, 65, 176, 241 Kapitalismus II, 65, 81, 153, 181, 206 Katholizismus I, 262 Kibbuz, Kibbuzim, Kvutza I, 24, 32-33, 46, 597, 602; II, 37, 68-69, 72, 74-75, 112, 354-357, 437, 439-440, 692-693 Kirche I, 141, 205-206, 212, 278, 282, 286, 288-289, 295, 296, 299, 375-376, 384, 385-386, 571 Klassenherrschaft II, 198-199 Klassenkampf II, 270, 322, 323 Kollektiv II, 84, 279

Sachregister Kollektivismus I, 54, 354; II, 91, 93-95, 137 Kommune, Pariser II, 201-204, 209, 212, 216-219, 221, 229, 568 Kommunismus I, 598, 631, 652; II, 127, 148-149, 160, 161, 172, 202, 231, 320 Köngener Bund I, 623-625, 627-628, 658659, 661-662; II, 413 König I, 397 Königtum Gottes I, 78, 227, 280, 471, 619; II 650 Konsumverein II, 138 Kosmos I, 198 KPD I, 492, 496-497 Die Kreatur I, 84, 443, 514, 545, 608, 621 Krieg I, 376-377; II, 31-32 –, heiliger I, 395 –, kalter II, 371 Krise I, 89, 92-93; II, 10, 20, 79, 80, 152, 251-252, 254, 257-258, 465, 465, 581 Kultur I, 82-83, 86-88, 151, 161, 192-193, 194, 198-199, 331; II, 42-48, 49-53, 55, 57, 307-308, 447, 450 –, abendländische I, 173 –, christliche I, 111-113 –, griechische I, 193; II, 54 –, mittelalterliche I, 193 Kvutza I, 326, 328, 589, 597; II, 73, 74, 76, 244, 246-248 Landauer, Gustav –, Die Revolution I, 38, 181; II, 57, 167, 424, 439, 554 League of Arab-Jewish Reapprochement and Cooperation I, 66 Leben, dialogisches I, 367; II, 279 Lenin, W. I. –, Staat und Revolution II, 224 Liberalismus I, 554; II, 38-39, 444-445 Liebe I, 203 Liga für das arbeitende Palästina in Deutschland I, 585-587; II, 77, 480 Macht I, 96, 393, 640-641, 646; II, 13, 15, 17, 20, 33, 164, 197, 253, 262, 274, 293, 336, 602 Mapai II, 453 Marx, Karl –, Bürgerkrieg in Frankreich II, 209, 216 –, Das Elend der Philosophie II, 513, 515 –, Die heilige Familie I, 122, 523

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Sachregister –, Das Kapital II, 206 –, Die Klassenkämpfe in Frankreich II, 199 –, Manifest der kommunistischen Partei II, 119, 120, 121, 136, 149, 199, 203, 215, 240, 321, 324, 501-502, 514, 527 –, Zur Kritik der politischen Ökonomie II, 199, 202 Marxismus I, 35, 46, 333, 339, 428, 539, 603, 604; II, 118, 123, 127-128, 196, 302, 355, 356, 484-485, 693 Maschine II, 81-82, 180, 241 Masken I, 437-439, 488, 490, 491 Masse I, 352, 356-362, 431 Mensch I, 157; II, 251, 252 –, abendländischer II, 88 –, moderner II, 257 –, religiöser I, 270-271, 274, 276-277, 290, 291-292, 294-295, 296-298, 344, 376, 609, 649 –, Über- II, 295, 612 Menschheit I, 160, 241, 384, 391, 394 Messianismus I, 80, 136-137, 138, 280, 472, 533-534, 571, 575, 582; II, 127, 318 Messias I, 130-131, 145 Militär II, 111 Misstrauen I, 72-73; II, 277-282, 334, 352, 581, 588 Mitte I, 510, 515; II, 256 Mittelalter I, 113; II, 114, 170, 183, 266 Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung I, 53 Monogamie I, 202-203 Monotheismus I, 203 Morgenfeiern I, 437-438, 443, 488 Morus, Thomas –, Utopia II, 520 Moschav II, 68, 75, 107, 112, 248, 437 Moses I, 134, 152, 196, 260, 619; II, 311 Münchener Räterepublik I, 38, 438 Mutualismus II, 150, 154 Mystik I, 141, 252; II, 553 Mythos I, 193; II, 286, 605-606 Nation I, 148, 241-242, 355; II, 166, 286 Nationalismus I, 109, 131, 146, 234, 235, 236, 239, 240-242, 246, 355, 503, 545, 676; II, 291, 357-358, 366, 599 Nationalsozialismus I, 357, 659-660, 670; II, 290-291, 358-359, 590, 618 Natur II, 48, 79-80, 251 Ner I, 60, 67, 84; II, 624 Neue Erde I, 476-479, 533, 537, 601 Neue Gemeinschaft I, 36, 266

Neue Wege I, 44, 531, 566, 581-582, 624; II, 420 Nürnberger Gesetze II, 340 Odessa II, 441-442 Offenbarung I, 188, 204, 257, 403, 517; II, 125, 327, 627 Opfer I, 260; II, 299, 642, 652 Opferkult I, 261-262 Orient I, 201 Parlamentarismus I, 217, 523, 650 Partei I, 376, 649; II, 132, 304-305, 348; II, 673 Person I, 415; II, 93 Persönlichkeit I, 353-354, 357, 361, 362 Phalanstére II, 137 Pharisäer II, 638-639, 651 Philosophie II, 385 –, dialogische I, 15 Platon –, Politeia I, 93, 212; II, 19, 262, 399, 401 Poalei Tzion I, 502, 657 Polis I, 134, 194, 210, 213, 216, 277; II, 5354, 262-265 Politik I, 94-95, 176, 199, 270-271, 272273, 275, 278-279, 341-342, 346-347, 349, 365, 366, 372-373, 376, 571, 619; II, 36, 330-331 Prinzip, dialogisches I, 16 –, politisches I, 95-98; II, 214, 230, 253, 262-264, 267, 270, 273-274, 301, 302, 577, 632, 633, 648-649, 650-651, 653, 654-655 –, soziales I, 96, 98; II, 214, 262-264, 266, 267, 270, 271, 273, 577 Proletariat I, 336, 497, 532, 540; II, 65, 119, 137, 198, 202, 209, 212, 215-216, 241, 501-502, 565 –, Diktatur des II: 214, 216, 230 Propaganda I, 416 Prophet, Künder I, 81, 136, 143, 238-239, 253-254, 260-261, 331, 348-349, 384, 391, 393-394, 397, 609; II, 115, 266, 309310, 391, 392, 401 Prophetie I, 47, 135-136, 281, 391, 620; II, 20, 309-310, 315 Protestantismus I, 141, 262 Protokolle der Weisen von Zion II, 614 Proudhon, Pierre-Joseph –, Contradictions II, 122 –, Philosophie des Fortschritts II, 143 Psychologischer Club I, 507-508

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754 Rasse II, 291, 599 Räte, siehe auch Sowjets I, 640; II, 220-221, 223-227, 427, 506-507, 566-567 Redliche Pioniere von Rochdale II, 178179, 454, 455 Reformation II, 114, 145, 316 Regierung II, 135, 273-274 Reich Gottes I, 43, 54, 78, 81-82, 130, 136, 139, 141, 205, 214, 230, 257, 275, 282283, 349, 391, 398, 509, 516, 532-533, 539, 594, 610, 633, 635, 644; II, 189, 328, 330, 636 Reichspogromnacht I, 56 Reichsvereinigung der Juden in Deutschland I, 530 Reichsvertretung der deutschen Juden I, 53, 528; II 673 Religion I, 80, 94, 204-205, 230-231, 244, 252, 257, 269-272, 275, 278, 293, 295, 341-342, 344, 348, 349, 364-366, 369, 372-374, 384, 397, 412, 517, 537, 571, 619; II, 171, 330 Religionsstifter I, 254-256, 258 Religiosität I, 80, 118, 517 –, jüdische I, 127, 143 Renaissance I, 115; II, 46, 55, 114, 115, 450 –, jüdische, siehe Jüdische Renaissance Revolution I, 39, 40-41, 42, 48, 109-110, 121, 123-124, 152, 175-177, 218, 293295, 320, 321, 323, 338, 496-497, 570, 643; II, 27, 57, 131, 145, 161, 167, 169, 173, 196-197, 202, 210, 212, 213-214, 222, 226, 424-425, 577, 605 –, deutsche November- I, 108, 175-177, 182, 218, 435, 436 –, Französische I, 72, 235, 293; II, 65, 127, 136, 144, 221, 241, 268, 276, 316 –, Münchner I, 435, 439, 476-477, 492, 500, 502, 503 –, politische II, 168-169, 197 –, Russische I, 35, 42, 49, 108, 147, 189, 218, 293-294, 434, 436, 643; II, 28, 209, 229, 232, 269 –, soziale II, 168, 169, 197, 203, 215 Revolutionär I, 321 Rom I, 139 Rosenzweig, Franz –, Der Stern der Erlösung I, 473, 507 Rousseau, Jean Jaques –, Contrat Social II, 268 Ruach I, 260 Russland I, 118, 177-178, 219, 339, 642, 647; II, 28, 205, 208, 227, 235, 250, 568

Sachregister Samuel I, 134-135, 242-243, 552 Saul I, 242-243, 245, 396, 552, 574 Schechina I, 143, 473, 513; II, 105, 107, 475 Schoa I, 58, 59, 60 Schocken Verlag II, 406-407 Schöpfung I, 470 Schule I, 286-287, 309, 313 –, freie I, 309, 313-315 Simson I, 135, 396, 598 Sinai I, 54, 132, 666; II, 86, 327 Soldat I, 320-321, 323 Sowjets I, 42, 218-219, 382, 631, 642, 646; II, 219, 221, 227, 228, 568 Sowjetunion, UdSSR I, 40, 49, 329, 400, 640, 642, 646; II, 77, 187, 219, 229, 237, 240, 677-678 Sozialdemokratie I, 319, 647; II, 28, 211 Sozialismus I, 35, 40, 43, 46, 120, 131, 161, 162-163, 165, 168, 172-173, 176, 182, 221, 230, 231, 266, 324, 327-328, 334, 335, 337, 339, 378, 434, 503, 533, 537, 539, 540, 562, 590, 594, 600, 607, 629, 633, 651; II, 27, 29-30, 33-36, 64, 127, 132, 141, 142, 144, 160, 163, 166, 171, 173, 195-198, 204, 214, 215, 224, 227228, 232, 235, 237, 240, 254, 271, 309312, 319, 322-323, 371, 429, 437, 521, 552, 555, 564 –, deutscher II, 318 –, Erneuerung des I, 45, 110 –, religiöser I, 44-45, 99, 230, 232, 531-534, 536-537, 582, 653, 675; II, 420, 426, 430, 480 –, utopischer I, 46-48, 337, 383, 531, 589; II, 29, 118, 130-131, 132, 138, 144, 195, 196, 197, 203, 259, 480, 482 Der Sozialist I, 36, 174, 493, 564, 568; II, 424 Sozialistischer Bund I, 38, 173, 493, 568; II, 171, 424, 552 Soziologie I, 85, 92-93, 96, 105; II, 9-11, 42, 262, 270, 272, 397 Sprache I, 184, 188, 253, 316, 367 Staat I, 40-41, 49-50, 78, 97, 114, 136, 163, 166, 167-168, 172, 176, 189-190, 191192, 207-210, 214-216, 218, 220, 277278, 281, 287-288, 299, 329, 375, 378, 384, 396, 493, 519, 571, 641-641, 644, 647, 648, 650-651; II, 9, 33-34, 40, 65, 77, 83, 102, 135, 145, 155-157, 163-165, 195, 197, 200, 201, 203, 215-218, 229, 235, 253, 254, 262, 264-271, 272, 298, 301, 302-304, 308, 340, 508, 546, 564, 579,

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Sachregister 580, 633, 634, 635, 640-641, 649-650, 661, 662 –, Absterben des I, 590, 631, 642, 647; II, 33, 128, 215, 216-218, 229, 231, 303 –, Mehr- II, 164 –, moderner I, 219; II, 157, 161, 241 –, zentralistischer II, 65 Stadt I, 201; II, 243 Stoa II, 265 Symbiose, deutsch-jüdische II, 24-26 Symbol I, 196 Syndikalismus I, 605

–, deutsches II, 340-341 Völkerbund I, 123, 241, 298, 446 Volksgeist II, 301 Volksopfer II, 342-343 Volkstum I, 159 Wahrheit II, 85, 292, 465-466, 600-601, 614-615, 654 Die Welt I, 24, 26, 84 Das werdende Zeitalter I, 583 Wissenschaft I, 256-257 Yad Vashem I, 57; II, 475

Taufe I, 205 Technik II, 39-40, 151, 163, 445, 463 Theokratie I, 137, 280-281, 456, 471, 574; II, 18, 403 –, naive I, 396-397 Theologie, dialektische I, 532, 675 –, politische I, 56, 94, 675, 678 Theopolitik I, 56, 471, 509 Thoreau, Henry –, Pflicht des bürgerlichen Ungehorsams I, 341, 613; II, 372-374 Tod I, 197, 196 Tora I, 515; II, 360 Tradition II, 108, 112, 165 Umkehr I, 120, 140, 344, 445, 485; II, 335, 394, 426 Universalismus II, 266 Utopie I, 47; II, 123, 125-126, 127, 128, 167-168, 213, 368, 480 Utopismus II, 123, 129, 202 Veden I, 119 Verantwortung I, 221, 361, 412-415, 635; II, 94, 331 Verband der Jüdischen Jugendvereine Deutschlands I, 448 Verwaltung II, 273, 274 Verwirklichung I, 28-29, 129-131, 146, 455, 464, 594, 639; II, 331 Volk I, 210, 239, 241-242, 331, 355-356, 389, 391-392, 402, 521, 549-550; II, 107108, 163, 165, 166, 293, 358

Zaddik I, 513; II, 690 Zeitung II, 22-23, 408-409 Zentralisation I, 191-192; II, 34, 145, 150151, 159, 181, 203, 222, 274 –, De- I, 328, 335; II, 124, 151, 181, 201, 203, 217, 221, 258 Zentralismus I, 216, 217, 219, 328, 335, 382, 511, 523, 590; II, 28, 34, 65, 131, 157, 161, 209-210, 213, 215, 217, 222, 223, 226-228, 233, 235, 258, 523, 563 –, demokratischer II, 228 –, marxistischer II, 132 Zion I, 30-31, 156, 464; II, 40, 466, 615 Zionismus I, 23, 26, 32, 38, 67, 150-151, 330-331, 432-433, 504, 535, 598, 681, 685; II, 30, 38-39, 41, 108, 110, 344, 358, 366, 414, 430, 441, 443, 444, 604 –, Kultur- I, 23, 25, 29, 331; II, 405, 426, 441 –, religiöser I, 31 –, revisionistischer II, 441 Zionistenkongress, XII. I, 31 Zionistische Vereinigung für Deutschland I, 686; II, 429 Zionistische Weltorganisation II, 442 Zivilisation I, 82-83, 87-88, 161, 347-348, 350; II, 42-43, 44-47, 49, 351, 366-367, 447, 450, 465 Zukunft II, 315 Zwischenmenschliches I, 104-106, 428, 430

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Personenregister Achad Haam (eigentlich Asher Hirsch Ginsberg) (1856-1927): Publizist; Hauptvertreter des Kulturzionismus. II, 427, 441, 595, 615 Agnon, Samuel Josef, eig. S. J. Czaczkes (1888-1970): hebr. Schriftsteller galizischer Herkunft; 1907-13 in Palästina, 1913-24 in Berlin; ab 1924 in Palästina; plante mit Martin Buber die Herausgabe eines Corpus Chassidicum; 1966 gemeinsam mit Nelly Sachs Nobelpreis für Literatur. I, 57; II, 406, 687 Agus, Jacob B. (1911-1986): US-amerik. Rabbiner, Repräsentant der konservativen Strömung. II, 357, 358, 697 Ahab (ca. 871-852): König des Nordreichs Israel; führte den Baalskult ein. I, 135 Aharonovich, Josef (1877-1937): zionist. Journalist und Politiker; Einwanderung nach Palästina 1906. II, 437 Ahas (Regierungszeit 735-715 v. Chr.): König des Südreiches Juda. II, 403, 404 Aischylos (525-456 v. Chr.): griech. Tragödiendichter. I, 193, 512 Alexander der Große (356-323 v. Chr.): makedonischer König und Feldherr. II, 401 Allen, Devere (1891-1955): US-amer. Journalist, Autor und Herausgeber; Sozialist, Pazifist und politischer Aktivist. II, 433 Almog, Jehuda Kopeliowitsch (1896-1972): israel. Unternehmer und Politiker. II, 106, 475 Alterman, Nathan (1910-1970): israel. Dichter, Journalist und Zionist. II, 446 Althusius, Johannes (1563-1638): dt. Jurist, calvinistischer Staatstheoretiker und Politiker. II, 65, 266, 267, 459, 575 Amir, Aharon (1923-2008): israel. Dichter und Literaturübersetzer. II, 447 Amos von Tekoa (8. Jh. v. Chr.): erster Schriftprophet; prangerte besonders die fehlende soziale Gerechtigkeit an. I, 394, 673; II, 328, 360 Andreae, Wilhelm (1888-1962): dt. Sozialökonom. II, 399 Andreas-Salomé, Lou (1861-1937): russ.-dt. Schriftstellerin und Psychoanalytikerin. I, 85, 427 f. Annenkow, Pawel Wassiljewitsch (1813-1887): russ. Publizist, Literaturkritiker und Herausgeber der Werke Puschkins. II, 532 Appel, Julius (1881-1952): dt.-jüd. Justizrat in Mannheim. Emigration 1939 in die USA. I, 227, 529 Arco, Anton Graf von (1897-1945): dt. Nationalist, ermordete Kurt Eisner. I, 494, 495 Arendt, Hannah (1906-1975): dt.-jüd. Philosophin und Politikwissenschaftlerin; 1933 Emigration in die USA. I, 22, 520, 683, 684; II, 338, 339, 679-680, 682, 683 Aristoteles (384-322 v. Chr.): griech. Philosoph und Wissenschaftler. I, 246, 512, 571; II, 53, 264, 266, 401, 575

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Arlosoroff, Chaim (1899-1933): zionist. Politiker; gründete gemeinsam mit Aharon David Gordon die zionistische und sozialistische Arbeiterpartei Ha-Poel haTzaʾ ir. II, 429 Arp, Hans (1886-1966): dt.-franz. Künstler; dem Surrealismus und Dadaismus zugerechnet. I, 508 Asarja (8. Jh. v. Chr.): König von Juda; Regierungszeit wird auf die Jahre 783-742 v. Chr. bzw. 767-740 v. Chr. datiert. In II Chr lautet sein Name Usija(hu). II, 401, 402 Auerbach, Erich (1892-1957): dt.-jüd. Literaturwissenschaftler und Romanist; 1936 Emigration in die Türkei. II, 476 Augustinus von Hippo (354-430): lat. Kirchenlehrer, Bischof und Philosoph; prägte maßgeblich das theologische und geschichtsphilosophische Denken Europas. I, 112, 120, 140, 141, 212, 251, 398, 443, 521, 571, 575 Babeuf, François Noël (Gracchus Babeuf, 1760-1797): franz. Herausgeber und polit. Journalist; Aktivist der Französischen Revolution; hingerichtet. II, 119, 149, 513, 538-539 Baeck, Leo (1873-1956): dt. Rabbiner und führender Vertreter des liberalen Judentums in Deutschland. I, 528, 530, 681; II, 406, 673 Bakunin, Michail Alexandrowitsch (1814-1876): russ. Revolutionär und Anarchist. I, 383, 652; II, 159, 161, 203, 259, 312, 320, 534, 549, 656 Barasch, Ascher (1889-1952): hebr. Schriftsteller und Journalist. II, 112, 476 Baratz, Josef (1890-1968): israel. Kibbuzim-Pionier und Politiker der Ha-Poel haTzaʾ ir. II, 76, 461 Bar Kochba, hebr. Sternensohn (gest. 135 n. Chr.): messianischer Beiname des Simon bar Koseba; Führer des letzten großen Aufstandes der palästinen. Juden gegen die Römer (132-135 n. Chr.). I, 140, 472 Barth, Karl (1886-1968): schweiz. reformierter Theologe; Begründer der Dialektischen Theologie; Prof. für Systematische Theologie an den Universitäten Göttingen, Münster und Bonn, Sprecher der Bekennenden Kirche; 1935 Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten und Wechsel an die Universität Basel. I, 45, 532, 534, 675; II, 669-670 Basewitz-Cohen, Lilia (1900-1990): sozialistisch-zionistisch orientierte Aktivistin der Arbeiterbewegung im Jischuw und im Staat Israel. II, 72, 460 Bauer, Bruno (1809-1882): dt. Philosoph und Religionskritiker, Junghegelianer. II, 517, 521 Bauer, Edgar (1820-1886): dt. Schriftsteller; Verfasser polit.-philosophischer Schriften. II, 521 Bäuerle, Theodor (1882-1956): dt. Pädagoge und Politiker; Mitglied des Hohenrodter Bundes; 1947-1951 Minister für Kultus und Unterricht in Baden-Württemberg. I, 268-299, 540, 568, 570, 571, 574, 575, 578, 579, 614, 625 Bäumer, Gertrud (1873-1954): Führerin der dt. Frauenbewegung; Reichstagsabgeordnete der DDP (ab 1929 der DStP). I, 406, 663, 664, 666

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Bazard, Saint-Amand (1791-1832): franz. Sozialist. II, 135, 137, 181, 526 Bebel, August (1840-1913): sozialdemokratischer Politiker, seit 1892 Vorsitzender der SPD. II, 211 Beethoven, Ludwig van (1770-1827): dt. Komponist. I, 198, 514 Begin, Menachem (1913-1992): revisionistischer zionist. Politiker; 1977-1983 Ministerpräsident Israels; Friedensnobelpreis 1978. II, 453 Behrens, Peter (1868-1940): dt. Architekt, Industriedesigner u. Graphiker; 1907 Mitbegründer des Deutschen Werkbundes; Vertreter des Jugendstils und der Neuen Sachlichkeit; gestaltete die Bände der von Buber herausgegebenen Reihe Die Gesellschaft. I, 426 Beilinson, Moshe (1889-1936): hebr. Schriftsteller, Journalist; Aktivist der Arbeiterbewegung in Israel. II, 453 Ben-Chorin, Schalom, eigentlich Fritz Rosenthal (1913-1999): dt.-jüd. Publizist und Schriftsteller; 1935 Emigration nach Palästina; Schüler Bubers. I, 431, 437, 537 Ben Gurion, David (1886-1973): erster Premierminister (1948-53, 1955-63) und Verteidigungsminister (1948-53; 1955-63) Israels. I, 34, 64, 68, 69, 90; II, 100, 102, 105, 106, 109, 111, 112, 339, 441, 442, 460, 472, 474, 623 Benda, Julien (1867-1956): franz. Schriftsteller, Journalist und Philosoph; Hauptwerk La Trahison des clercs (1927); Kritiker Henri Bergsons. I, 234, 240, 549 Benedikt von Nursia (um 480-547): Abt und Begründer des Benediktinerordens. I, 380, 652, II, 257 Benjamin, Walter (1892-1940): dt.-jüd. Philosoph, Literaturkritiker und Übersetzer; ab 1933 Exil in Paris, stand Buber kritisch gegenüber; beging nach der gescheiterten Flucht an der span. Grenze Selbstmord, um der Auslieferung an die Nazis zu entgehen. II, 381, 409, 445 Bentham, Jeremy (1748-1832): engl. Philosoph und Sozialreformer; Begründer des Utilitarismus. II, 455 Bentwich, Joseph (1902-1982): israel. Pädagoge. II, 448 Berdyczew, Levi Jizchak von (1740-1810): chassidischer Rabbiner und Zaddik. I, 144, 473 Berdyczewski, Micha Josef, Pseud. Micha bin Gorion (1865-1921): hebr. Schriftsteller und Literaturhistoriker. II, 406 Bergman(n), Shmuel Hugo (1883-1975): öster. Philosoph und Zionist; Mitglied des Vereins jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag; Freund Bubers; 1920 Emigration nach Palästina; erster Direktor der Jüdischen Nationalbibliothek; ab 1935 Prof. für moderne Philosophie an der Hebräischen Universität Jerusalem, deren Rektor er 1935-1938 war. I, 26, 30, 57, 90, 432, 433, 444, 472, 491, 502, 503, 537; II, 380, 381,383, 407, 422-423, 428, 442, 447, 448, 457, 472, 474, 479, 590, 663, 680 Berkowitz, Isaak Dov (1885-1967): israel. Schriftsteller und Übersetzer für Jiddisch und Hebräisch. II, 447 Berndl, Ludwig (1878-1946): Wiener Schriftsteller und Übersetzer, Freund und Anhänger Gustav Landauers. I, 267, 568

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Bernstein, Eduard (1850-1932): dt. Politiker; sozialdemokratischer Theoretiker und Autor. I, 424, 426, 587; II, 153, 209, 397, 502, 543, 669 Besant, Annie (1847-1933): engl. Feministin und Publizistin; kämpfte in Indien gegen die britische Kolonialherrschaft. I, 616 Bevin, Ernest (1881-1951): brit. Politiker der Labour Party und Gewerkschaftsführer; von 1945-1951 brit. Außenminister. II, 462, 479 Beyer, Georg (Lebensdaten nicht ermittelt): dt. Journalist; 1928 Mitorganisator der sozialistischen Tagung von Heppenheim. I, 600 Bialik, Chajim Nachman (1873-1934): russ.-jüd. Dichter, Journalist und Autor, der auf Jiddisch und Hebräisch schrieb. II, 441, 447, 452 Billigheimer, Samuel (1889-1983): dt.-jüd. Pädagoge; 1929-1938 Leiter des Jüdischen Lehrhauses Mannheim; 1939 Emigration nach Australien. I, 529 Biram, Arthur (1878-1967): israel. Philosoph, Philologe und Pädagoge. II, 448 Birnbaum, Nathan; Pseud. Mathias Acher und Pantarhei (1864-1937): öster. Schriftsteller und früher zionistischer Aktivist. I, 24 Bismarck, Otto v. (1815-1898): dt. Politiker, seit 1862 Ministerpräsident Preußens und von 1871-1890 des Deutschen Reichs. II, 168 Blanc, Louis (1811-1882): franz. Journalist, utopischer Sozialist und Begründer der Sozialdemokratie. II, 148, 153, 175, 183-185, 186, 200, 537, 543, 557, 559, 617 Bloch, Ernst (1885-1977): dt.-jüd. Philosoph des Neomarxismus; 1933 Emigration in die USA; 1948-1957 Professur für Philosophie in Leipzig; wegen polit. Kritik zwangsemeritiert; seit 1961 in der Bundesrepublik; Hauptwerk: Das Prinzip Hoffnung (1954-59). I, 469, 477 Blüher, Hans (1888-1955): dt. Schriftsteller, Schriften zur dt. Jugendbewegung. I, 441; II, 420 Blumenfeld, Kurt (1884-1963): dt. Zionist; 1923-33 Vorsitzender der Zionistischen Vereinigung für Deutschland; seit 1933 in Palästina; 1936 Präs. des Keren Hajessod in Jerusalem. I, 416, 681-685 Blumhardt, Johann Christoph (1805-1880): schweizer Pastor; gilt zusammen mit seinem Sohn als Begründer der Bewegung des religiösen Sozialismus. I, 532 Blumhardt, Christoph (1842-1919): Sohn von Johann Christoph Blumhardt, gilt zusammen mit seinem Vater als Begründer der Bewegung des religiösen Sozialismus. I, 532, 537 Bodin, Jean (1529-1596): franz. Staatstheoretiker. I, 522, Boeke, Kees (1884-1966): niederl. Reformpädagoge. II, 433 Braun, Otto (1897-1918): dt. Lyriker; fiel im Ersten Weltkrieg. I, 212, 521 Brenner, Josef Chaim (1881-1921): hebr. Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer. II, 439 Britschgi-Schimmer, Ina (1881-1949): Sozialwissenschaftlerin; Mitherausgeberin von Landauers Briefwechsel. I, 267, 562, 564-565 Brod, Max (1884-1968): öster.-jüd. Schriftsteller aus Prag; 1939 Emigration nach Palästina; Dramaturg der Habima in Tel Aviv; Freund und Nachlassverwalter ! Franz Kafkas; mit Buber befreundet. I, 26, 686

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Brunner, Constantin, eigentlich Arjeh Yehuda Wertheimer (1862-1937): dt.-jüd. Philosoph; Emigration in die Niederlande. I, 267, 568 Brunner, Emil (1889-1966): schweiz. prot. Theologe; Vertreter der Dialektischen Theologie; setzte sich mit Buber theologisch auseinander. I, 52, 532 Bruno, Giordano (1548-1600): ital. Naturphilosoph; 1592 von der Inquisition festgenommen und 1600 wegen ketzerischer Lehren verbrannt; vom Papst 2000 rehabilitiert. I, 114, 444 Buber, Carl (1848-1935): Vater Martin Bubers; Unternehmer in Wien, später Galizien. I, 686 Buber, Paula (1977-1958): Ehefrau Martin Bubers; unter dem Pseud. Georg Munk schriftstellerisch tätig. I, 63, 498, 523, 530, 664; II, 425 Bucharin, Nikolai Iwanowitsch (1888-1938): bolschewistischer Politiker; hingerichtet im Zuge der Moskauer Schauprozesse. II, 227 Buchez, Philippe Joseph Benjamin (1796-1865): franz. Politiker und Historiker; Ideengeber des christlichen Sozialismus. II, 175, 181, 182, 183, 183-184, 187, 204, 498, 557, 558, 559 Buddensieg, Hermann (1893-1976): dt. Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer. I, 623, 629, 630, 665, 667 Buddha, eigentl. Siddharta Gautama (um 560-480 v. Chr.): ind. Adliger; Stifter des Buddhismus. I, 119, 445, 493, 511 Buek, Otto (1873-1966): dt. Philosoph, Schriftsteller, Journalist und Übersetzer; Neukantianer, Anhänger Hermann ! Cohens. II, 532 Bultmann, Rudolf (1884-1976): dt. prot. Theologe; ab 1921 Prof. für Neues Testament an der Universität Marburg; Vertreter der Dialektischen Theologie; löste 1941 eine später in Theologie und Kirche leidenschaftlich geführte Debatte um eine »Entmythologisierung« des Neuen Testaments und des christlichen Glaubens aus. I, 44 Buoninsegnas, Duccio di (um 1255-1319): ital. Maler. II, 450 Burckhardt, Carl Jacob (1891-1974): schweiz. Diplomat. II, 336, 621, 625, 676, 677 Burckhardt, Jacob (1818-1897): schweiz. Kultur- und Kunsthistoriker; 1855-58 Prof. in Zürich, seit 1858 in Basel; gilt als Begründer der modernen Kunstgeschichte; prägte den Begriff der Renaissance in seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung. I, 25; II, 13, 114, 115, 307, 336, 398, 476, 477, 590, 613, 676 Burdach, Konrad (1859-1936): dt. Germanist. II, 477 Burke, Edmund (1729-1797): ir.-brit. Schriftsteller und Politiker; Vordenker des Konservatismus. II, 459 Burschell, Friedrich (1889-1970): dt. Schriftsteller. I, 476, 477, 478, 479 Cabet, Étienne (1788-1856): franz. Publizist, Jurist, Politiker und Revolutionär. II, 119, 175, 191, 513, 533 Calvin, Johannes (1509-1564): Genfer Reformator. I, 283, 284, 575, 576 Canetti, Elias (1905-1994): deutschsprachiger Schriftsteller jüd. Herkunft; Literaturnobelpreis 1981. I, 508

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Carpaccio, Vittore (1465-1525/26): ital. Maler. I, 499 Cavour, Camillo Benso Graf von (1810-1861): ital. Politiker; Kämpfer für die ital. Einheit. II, 68 Celan, Paul (1920-1970): deutschsprachiger jüd. Lyriker. I, 62 Chamberlain, Houston Stewart (1855-1925): brit. deutschsprachiger Schriftsteller; einflussreicher Vordenker der Rassenideologie und des Antisemitismus. I, 427 Chamberlain, Neville (1869-1940): engl. Premierminister von 1937 bis 1940. II, 590 Chapelier, Isaac René Guy Le (1754-1794): Jurist und Politiker während der Französischen Revolution. II, 527 Chesterton, Gilbert Keith (1874-1936): engl. Schriftsteller. II, 368 Chojecki, Charles-Edmond (1822-1899): poln. Schriftsteller, Dramatiker und Journalist. II, 543 Churchill, Winston (1874-1965): brit. Staatsmann; von 1940-1945 und von 19511955 Premierminister. II, 443 Cicero (106 v. Chr.-43 v. Chr.): röm. Politiker, Redner und Philosoph. II, 265, 266 Cieszkowski, August (1814-1894): poln. Geschichtsphilosoph, Ökonom und politischer Aktivist. II, 314, 315, 316, 451, 666 Cimabue (1240-1302): ital. Maler. II, 46, 55 Cohen, Arthur Allen (1928-1986): US-amerik.-jüd. Judaist, Kunstkritiker, Publizist und Autor, II, 350, 694 Cohen, Hermann (1842-1918): dt.-jüd. Philosoph; Hauptvertreter des Marburger Neokantianismus; einer der wichtigsten Vertreter der jüdischen Philosophie des 20. Jh.; Lehrtätigkeit an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. I, 29, 30; II, 397, 406, 696 Cohn, Oskar (1869-1934): dt.-jüd. SPD-Politiker. I, 587 Comte, August (1798-1857): franz. Mathematiker und Wissenschaftsphilosoph; Begründer des Positivismus sowie Mitbegründer der Soziologie. I, 430; II, 9, 10, 11, 144, 271, 272, 386, 387, 393 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat, Marquis de (1743-1794): franz. Aufklärungsphilosoph, Politiker und Autor. II, 11, 396 Considerant, Victor (1808-1893): franz. Philosoph, Ökonom und Schüler von Fourier. II, 136, 137, 149, 527, 539 Cornelius, Hans (1863-1947): dt. Philosoph; akad. Lehrer von Theodor W. Adorno und ! Max Horkheimer. I, 496 Coulanges, Numa Denis Fustel de (1830-1889): franz. Historiker. II, 53, 451 Cromwell, Oliver (1599-1658): engl. Staatsmann; 1649-1658 Oberhaupt der Republik; Puritaner. I, 283-284, 293, 571, 576 Dannemann, Hans (Lebensdaten nicht ermittelt): Jugendführer im Bund der Köngener, den er teilweise in die Hitlerjugend überführte. I, 402, 410, 411, 628, 629, 630, 645, 659

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Dante Alighieri (1265-1321): ital. Philosoph und Dichter. I, 113, 443, 554; II, 55, 524 Darwin, Charles (1809-1882): brit. Naturforscher; sein Hauptwerk On the origin of species (1859) begründete die Evolutionstheorie. I, 487 Das, Chittaranjan (1870-1925): ind. Politiker; gegen Zusammenarbeit mit den britischen Kolonialherren. I, 345, 346, 616, 616-617 Daur, Rudi (1892-1976): ev. Pfarrer; Leiter des Bundes der Köngener. I, 402, 626 David (11./10. Jh. v. Chr.): nach Saul zweiter König Israels. I, 135, 395 Davidsohn, Robert (1853-1937): dt. Journalist und Historiker. II, 54, 452 Dayal, Lala Har (1884-1939): ind. Nationalrevolutionär. II, 431 Desjardins, Paul (1859-1940): franz. Philosoph und Schriftsteller; Begründer der Dekaden von Pontigny. II, 520 Diederichs, Eugen (1867-1930): dt. Verleger und Buchhändler; verkehrte in der Neuen Gemeinschaft; Lebensreformer und Förderer neureligiöser Literatur; Verleger der von Buber herausgegebenen Ekstatischen Konfessionen; vertrat seit dem Ersten Weltkrieg zunehmend nationalistische, völkische und antisemitische Positionen. I, 25, 519 Diettrich, Fritz (1902-1964): dt. Schriftsteller. I, 608 Dilthey, Wilhelm (1833-1911): dt. Philosoph, Geistes- und Literaturhistoriker; 1867 Vertreter der Lebensphilosophie; Begründer der »verstehenden Geschichtswissenschaft«; Lehrer Bubers an der Universität Berlin. I, 18, 21, 25, 34, 85, 87, 428, 449, Dinur (Dinaburg), Ben-Zion, (1884-1973): israel. Historiker und Politiker; Mitglied der ersten Knesset; von 1951 bis 1955 Bildungsminister. II, 104, 109, 111 Dion von Syrakus (409 v. Chr.-354 v. Chr.): griech. Politiker. II, 14, 15, 16, 390, 398, 401 Dionysios I (ca. 430 v. Chr.-367 v. Chr.): Tyrann von Syrakus. II, 398 Dionysios II (ca. 396 v. Chr.-337 v. Chr.): Nachfolger von ! Dionysios I. II, 400, 401 Döblin, Alfred (1878-1957): dt. Schriftsteller der literarischen Moderne; 1933 Emigration nach Frankreich, 1940 in die USA. I, 561 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch (1821-1881): russ. Schriftsteller. I, 236-238, 279, 373, 394, 549-550, 550, 574, 623, 676; II, 329 Driesch, Hans (1867-1941): dt. Biologe und Naturphilosoph. II, 450 Dserschinski, Felix Edmundowitsch (1877-1926): pol.-russ. Revolutionär. I, 322, 585, 631 Dubnow, Simon (1860-1941): russ.-jüd. Historiker; Arbeiten zur Geschichte des Chassidismus sowie Weltgeschichte des jüdischen Volkes (10 Bde.; 1925 ff.); 1922 Emigration nach Deutschland, 1933 Rückkehr nach Riga, dort von Deutschen ermordet. I, 587; II, 441 Dühring, Eugen (1833-1921): dt. Philosoph und Nationalökonom; Antisemit und Vordenker der späteren nationalsozialistischen Rassenlehre. II, 121, 514-515

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Dumont(-Lindemann), Louise (1862-1932): dt. Schauspielerin und Theaterleiterin; zus. mit ihrem Mann ! Gustav Lindemann gründete sie 1905 das Düsseldorfer Schauspielhaus; mit Buber befreundet. I, 437, 438, 479, 488, 489, 490, 491; II, 702 Durkheim, Émile (1858-1917): franz. Soziologe und Ethnologe; zählt zu den Begründern der Soziologie und Sozialanthropologie. II, 534 Eckhart von Hochheim, genannt Meister Eckhardt (um 1260-1328): dt. Theologe und Mystiker; als Häretiker angeklagt; sein Werk wurde um die Jahrhundertwende von Repräsentanten der wilhelminischen Gegenkultur wie ! Gustav Landauer wiederentdeckt. I, 36, 113, 444, 563; II, 553 Ehlen, Nikolaus (1886-1965): dt. kath. Lehrer und Pazifist. I, 406, 408, 627, 631, 663, 664, 665, 666 Ehrenberg, Hans (1883-1958): dt. Philosoph und prot. Geistlicher; Cousin ! Franz Rosenzweigs. I, 536 Ehrenpreis, Markus, auch Mordechai (1869-1951): aus Lemberg stammender Schriftsteller und Publizist in hebr. Sprache, Übersetzer und Rabbiner; 1900-1914 Oberrabbiner zunächst Bulgariens, seit 1914 bis zu seinem Tode in Stockholm; seit den 1880ern zionistisch aktiv und Mitstreiter ! Theodor Herzls, später Kulturzionist. I, 425 Eichmann, Adolf (1906-1962): Angehöriger der NSDAP und SS; Mitorganisator der Ermordung der europäischen Juden; 1962 zum Tode verurteilt und hingerichtet. I, 64-65; II, 338, 679-680, 682 Einstein, Albert (1879-1955): dt.-jüd. Physiker; Begründer der Relativitätstheorie; 1921 Nobelpreis für Physik; 1933 Emigration in die USA. I, 561, 562 Eisenstadt, Shmuel (1923-2010): israel. Soziologe; Schüler und Nachfolger Bubers an der Hebräischen Universität in Jerusalem. I, 88, 91 Eisler, Rudolph (1873-1926): öster.-jüd. Philosoph; Vater des Komponisten Hanns Eisler und der beiden Politiker Gerhart Eisler und Ruth Fischer. I, 431 Eisner, Kurt (1867-1919): dt.-jüd. sozialdemokratischer Politiker, Journalist und Schriftsteller; von Nov. 1918 bis zu seiner Ermordung im Feb. 1919 erster Ministerpräsident des Freistaats Bayern. I, 177, 178, 179, 435, 436, 438, 439,441, 477, 488, 492, 494, 495, 497, 500, 533, 566, 585 Eliasberg, Aaron (1879-1937): dt.-jüd. Publizist; 1911-1919 Leiter des Jüdischen Verlags; Cousin Bubers. I, 24 Eliot, Thomas Stearns (1888-1965): englischsprachiger Lyriker, Dramatiker und Kritiker; erhielt 1948 den Literaturnobelpreis. II, 621 Enfantin, Barthélemy Prosper (1796-1864): franz. Philosoph, Sozialist und einer der Begründer des Saint-Simonismus. II, 144, 526, 533 Engels, Friedrich (1820-1895): dt. Philosoph und Politiker, Theoretiker des Sozialismus; enge Zusammenarbeit mit ! Karl Marx. II, 119, 120, 121, 122, 123, 127, 132, 140, 199, 200, 203, 208, 209, 210, 211, 213, 214, 215-216, 216-217, 217, 218, 320, 324, 485, 505, 511, 512, 513, 514, 515, 516,517, 518, 519, 524

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Eppstein, Paul (1902-1944): dt.-jüd. Soziologe; 1934-1942 Dozent an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums; 1942 Deportation nach Theresienstadt, dort 1944 erschossen. I, 228, 229, 530 Ernst, Max (1891-1976): dt. Maler. I, 508 Eucken, Rudolf (1846-1926): dt. Philosoph. I, 580 Euripides (ca. 480-406 v. Chr.): Tragödiendichter der griech. Antike. I, 192, 512 Faas-Hardegger, Margarethe (1882-1963): schweiz. Frauenrechtlerin, Gewerkschaftlerin und Aktivistin der Arbeiterinnenbewegung; gründete 1908 gemeinsam mit Gustav Landauer den Sozialistischen Bund und dessen Zeitschrift Der Sozialist. I, 267, 568; II, 552 Feiwel, Berthold (1875-1937): öster.-jüd. Schriftsteller und zionistischer Politiker; Mitglied der Demokratischen Fraktion; gründete mit Buber u. a. den Jüdischen Verlag Berlin; ab 1933 in Palästina; Herausgeber des Jüdischen Almanachs; enger Freund Bubers. I, 26 Ferguson, Adam (1723-1816): schott. Historiker und Sozialphilosoph der Aufklärung. II, 267 Feuchtwanger, Lion (1884-1958): dt.-jüd. Schriftsteller; durch den Roman Jud Süß bekannt geworden; später eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des Literaturbetriebs der Weimarer Republik. I, 587 Feuerbach, Ludwig (1804-1872): dt. Philosoph der Junghegelianischen Schule; Religionskritiker; beeinflusste nachhaltig ! Karl Marx. II, 317, 318, 319. 321, 322, 667 Fichman, Jakov (1881-1958): hebr. Dichter, Essayist und Literaturkritiker. II, 110, 475 Fichte, Johann Gottlieb (1762-1814): dt. Philosoph; neben Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel wichtigster Vertreter des dt. Idealismus. I, 235; II, 313, 582, 666 Figgis, John Neville (1866-1919): engl. Historiker, politischer Philosoph, Theologe und anglikanischer Priester. II, 157, 546 Flitner, Wilhelm (1889-1990): dt. Reformpädagoge. II, 621 Fourier, Charles (1772-1837): franz. Gesellschaftstheoretiker, Vertreter des Frühsozialismus. I, 46; II, 119, 120, 121, 122, 123, 127, 129, 134, 136-137, 138, 138139, 140, 142, 144, 149, 188, 455, 480, 487, 512, 514, 517, 519, 526, 527, 528, 529, 530, 533, 539, 557 Fox, George (1624-1691): Gründer der »Gesellschaft der Freunde« (Quäker). I, 576 Frank, Jakob Josef eigentl. Jankiew Lebowicz (1726-1791): poln.-jüd. religiöser Sektierer; Gründer der antinomischen Sekte der Frankisten; selbsternannter Kabbalist und Prophet; Gegner des Talmuds und der Treue zur Tora; Konversion zum Katholizismus. II, 290, 292, 618-619 Franz von Assisi (1181/1182-1226): ital. Ordensgründer der Franziskaner und kath. Heiliger. I, 113, 259, 262, 380, 443, 652; II, 55, 257

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Freud, Sigmund (1856-1939): öster. Mediziner und Kulturphilosoph; Begründer der Psychoanalyse; 1938 Emigration nach England. I, 427, 428, 669, II, 278 Friedman, Maurice (1921-2012): US-amerik. Kultur- und Religionswissenschaftler; Übersetzer der Werke Martin Bubers ins Amerikanische und Buber-Biograph. I, 20 Friedrich II von Preußen, genannt der Große (1712-1786): König von Preußen. II, 24, 415 Fröbe-Kapteyn, Olga (1881-1962): Initiatorin der Eranos-Tagungen in der Schweiz. I, 508 Fuchs, Emil (1874-1971): dt. evangelischer Theologe; 1931-1933 Prof. an der Pädagogischen Hochschule in Kiel und von den Nationalsozialisten entlassen; seit 1933 Hinwendung zu den Quäkern; seit 1943 im Widerstand; seit 1949 in der DDR. I, 600, 601 Galai, Benjamin (1921-1995): israel. Schriftsteller und Journalist. II, 447 Gandhi, Mahatma, eigentlich Mohandas Karamchand Gandhi (1869-1948): ind. Rechtsanwalt; radikaler Pazifist und führende Figur der indischen Unabhängigkeitsbewegung. I, 56, 201, 290, 293, 340-348, 350, 515, 577, 608, 609, 610, 611, 612, 613, 614, 615, 616, 617; II 638 Gehlen, Arnold (1904-1976): dt. Philosoph und Soziologe. II, 672 Geiger, Abraham (1810-1874): dt. Reformrabbiner; Mitbegründer der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. I, 25 Gentile, Giovanni (1875-1944): ital. Philosoph (ital. Idealismus), Erzieher, Herausgeber und Politiker; Theoretiker der faschistischen Ideologie. I, 598 George, Stefan (1868-1933): dt. Dichter. II, 25, 418, 435 Gerson, Hermann (1908-1989): dt.-jüd. Jugendführer; Gründer der Werkleute, eines zionistischen Bundes; 1933/34 Auswanderung nach Palästina; 1936 Gründung des Kibbuz Hasorea; führender Erziehungswissenschaftler der Kibbuz-Bewegung; in jungen Jahren Schüler Bubers. I, 34, 536, 656, 678 Gide, Charles (1847-1932): franz. Nationalökonom; herausragende Gestalt der Genossenschaftsbewegung. II, 62, 136, 181, 457, 526 Gierke, Otto von (1841-1921): dt. Rechtshistoriker, Experte des Genossenschaftsrechts. II, 119, 131, 148, 156, 266-267, 523, 544, 546 Giolittis, Giovanni (1842-1928): ital. liberaler Politiker, mehrfacher Ministerpräsident des Landes. II, 616 Giotto di Bondone (1266-1337): ital. Maler der Hochgotik im Übergang zur Renaissance. I, 444 Goes, Albrecht (1908-2000): dt. prot. Pfarrer, Dichter und Essayist; mit Buber befreundet. I, 62; II, 418 Goethe, Johann Wolfgang von (1749-1832): dt. Dichter und Universalgelehrter. I, 114, 409, 667; II, 25, 56, 417, 436, 452 Gogarten, Friedrich (1887-1967): dt. prot. Theologe; Vertreter der Dialektischen Theologie. I, 45, 55, 534

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Goldberg, Leah (1911-1970): bedeutende israel. Lyrikerin und Kinderbuchautorin; Mitglied der Dichtergruppe Jachdav. II, 446, 472, Goldberg, Oskar (1885-1953): dt.-jüd. Arzt u. Religionsphilosoph. I, 513, 522 Goldmann, Nahum (1895-1982): dt. Zionist russ. Herkunft; 1915-33 in Berlin, dann Emigration in die USA; bis 1968 Präsident des Jüdischen Weltkongresses; Mitherausgeber der Encyclopaedia Judaica. I, 500, 501; II, 338, 439, 683 Goldstein, Walter (1893-1984): dt.-jüd. Interpret Martin Bubers; 1934 Emigration nach Palästina. II, 355, 696 Gordon, Aaron David (1856-1922): jüd. Sozialist; 1904 Emigration nach Palästina; führende Persönlichkeit der Kibbuzbewegung und in der Ha-Poel ha-Tzaʾ ir; zahlreiche Schriften über die »Religion der Arbeit«. I, 33, 387, 503, 658 Gorgolini, Pietro (1891-1973): ital. nationalistischer Intellektueller; Vordenker des Faschismus. II, 615 Göring, Hermann (1893-1946): führender nationalsoz. Politiker; wegen Kriegsverbrechen zum Tod verurteilt. II, 289, 290, 596 Görres, Joseph (1776-1848): dt. kath. Publizist. I, 498 Grabski, Władysław (1874-1938): poln. Politiker der nationalistischen, konservativen und antisemitischen Bewegung (ND); Finanzminister und zweimaliger Ministerpräsident. II, 109, 475 Graef, Botho (1857-1917): dt. Archäologe und Kunsthistoriker. II, 418 Grimm, Jacob (1785-1863): deutscher Sprach- und Literaturwissenschaftler; Begründer der deutschen Philologie. II, 304, 662 Grotius, Hugo (1583-1643): niederl. Rechtsgelehrter. II, 267, 575 Grün, Karl Theodor Ferdinand (1817-1887): dt. Journalist und Linkshegelianer. II, 531 Grünbaum, Jizchak (1879-1970): erster Minister für innere Angelegenheiten des Staates Israel. II, 112, 476 Grundtvig, Svend (1824-1883): dän. Literaturwissenschaftler und Volkskundler. II, 101, 102, 473 Grünewald, Max (1899-1992): 1925 bis 1936 Stadtrabbiner Mannheims; 1938 Auswanderung über Palästina in die USA; 1955 Mitbegründer des Leo Baeck Instituts. I, 224, 226, 229, 527-528 Guardini, Romano (1885-1968): kath. Religionsphilosoph. I, 553, 554; II, 625 Guinness, Edward (Erster Baron Moyne) (1880-1944): ir. Geschäftsmann und Philanthrop. II, 454 Gutkind, Erwin A. 1886-1968): dt.-jüd. Architekt der klassischen Moderne. II, 703 Guttmann, Julius (1880-1950): dt.-jüd. Religionsphilosoph und Rabbiner; seit 1934 Prof. für Jüdische Philosophie an der Hebräischen Universität von Jerusalem. II, 448 Habermas, Jürgen (geb. 1929): dt. Philosoph und Soziologe. I, 62 Hadrian (76-138): röm. Kaiser. I, 398 Haeckel, Ernst (1834-1919): dt. Zoologe und Schriftsteller. II, 505

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Hammarskjöld, Dag (1905-1961): Generalsekretär der Vereinten Nationen (19531961); Friedensnobelpreis (1961). I, 70-71; II, 364-365, 700, 701 Hammer-Purgstall, Joseph von (1774-1856): öster. Diplomat und Orientalist. Hart, Heinrich (1855-1906): dt. Schriftsteller und Lebensreformer; Vertreter des Naturalismus; zusammen mit seinem Bruder ! Julius Hart gründete er die Neue Gemeinschaft, in der auch Buber verkehrte. I, 74, 568 Hart, Julius (1859-1930): dt. Schriftsteller und Lebensreformer; Vertreter des Naturalismus; zusammen mit seinem Bruder ! Heinrich Hart begründete er die Lehre der Neuen Gemeinschaft, in der auch Buber verkehrte. I, 74, 568 Hauer, Jakob Wilhelm (1881-1962): dt. Indologe und Religionswissenschaftler; Gründer des pietistischen Jugendbundes Bund der Köngener sowie im Nationalsozialismus Gründer der Deutschen Glaubensbewegung. I, 51, 402, 403, 404, 405, 406, 407, 408, 411, 472, 541, 547, 555, 569, 570, 623, 624, 625, 626, 627, 628, 629, 632, 639, 642, 643, 645, 647, 659, 660, 661, 662, 663, 664, 665, 667, 668, 669, 670, 671, 678 Hauschner, Auguste (1850-1924): dt. Schriftstellerin jüd. Herkunft. I, 489, 491, 565 Hefele, Hermann (1885-1936): dt. Romanist, Historiker, Literaturhistoriker und Kulturkritiker. I, 247-263, 540, 552, 553, 554, 555, 569, 626 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770-1831): Philosoph des dt. Idealismus. I, 96, 98; II, 13, 26, 128, 143, 267, 269-270, 270-271, 301, 302, 302-303, 303-304, 310311, 313, 314, 315, 317, 318, 319, 320, 321, 322, 389, 398, 419, 451, 490, 521, 531, 572, 662 Heidegger, Martin (1889-1976): dt. Philosoph, der Existenzphilosophie zugerechnet; 1928 Nachfolger ! Edmund Husserls in Freiburg; zeitweiliger Fürsprecher des Nationalsozialismus. I, 62, 96; II, 302, 303, 581, 648 Heimann, Eduard Magnus Mortier (1889-1967): dt.-jüd. Sozialökonom und religiöser Sozialist. I, 333, 336, 535, 601, 602, 603, 604, 605, 606, 627, 630; II, 128, 480, 521 Heine, Heinrich (1797-1856): dt. Lyriker, Schriftsteller, Journalist (Begründer des Feuilletons), Essayist und Satiriker jüd. Herkunft; Hauptvertreter der Literatur des Vormärz. I, 475; II, 393, 406 Henein, Georges (1914-1973): ägypt. Minister und Dichter. I, 70 Heraklit (um 520-460 v. Chr.): griech. vorsokratischer Philosoph. I, 514 Herder, Johann Gottfried (1744-1803): dt. Theologe und Philosoph; seine Sprachund Völkerphilosophie beeinflusste die romantische Bewegung. I, 28, 554; II, 42, 582 Herzl, Theodor (1860-1904): öster. Journalist und Politiker; Schöpfer des modernen Zionismus und Gründer der Zionistischen Organisation; Schriftsteller und Journalist; bis zu seinem Tod Feuilletonredakteur der Wiener Neuen Freien Presse. I, 23, 24, 26, 34, 65, 84, 425, 460; II, 38-41, 113, 430, 440, 440-441, 443, 444-445, 445

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Hess, Moses (1812-1875): dt.-jüd. Schriftsteller und Journalist; in früheren Jahren mit ! Karl Marx und ! Friedrich Engels befreundet; in seinem Buch Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage fordert er schon 1862 die Errichtung eines jüd. Nationalstaates in Palästina. II, 119, 310-325, 512 Heß, Rudolf (1894-1987): dt. Nationalsozialist; Stellvertreter ! Hitlers. I, 495 Hesse, Hermann (1877-1962): dt. Schriftsteller; seit 1926 in der Schweiz; mit Buber befreundet; 1946 Nobelpreis für Literatur. I, 61, 427, 428, 508, 668, 669; II, 407, 706 Heuss, Theodor (1884-1963): dt. Politiker; 1949-1959 erster Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. I, 62, 63, 64; II, 333, 334, 673-674 Heydorn, Heinz-Joachim (1916-1974): dt. Pädagoge und SPD-Politiker. II, 352, 355, 696 Hielscher, Friedrich (1902-1990): dt. nationalrevolutionärer Publizist und Privatgelehrter. I, 519, 523-524, 664, 667 Hilferding, Rudolf (1877-1941): dt. Ökonom. I, 428 Hillel (gest. ca. 9 n. Chr.): pharisäischer Rabbiner zur Zeit des Zweiten Tempels. I, 472 Hiller, Kurt (1885-1972): dt. Schriftsteller und Publizist. I, 561 Hirsch, Emanuel (1888-1972): dt. ev. Theologe und Hochschullehrer; aktiver Vordenker der Ideologie und Politik des Nationalsozialismus. I, 623 Hirsch, Otto (1885-1941): dt.-jüd. Jurist; seit 1933 Vorsitzender der Reichsvertretung der deutschen Juden; ermordet im Konzentrationslager Mauthausen. I, 528, 542, 545, 619; II, 338, 673, 683 Hirsch, Samuel (1815-1889): dt. Rabbiner und Religionsphilosoph; Vertreter des Reformjudentums. I, 25 Hirschfeld, Magnus (1868-1935): dt.-jüd. Arzt; Begründer der Bewegung für homosexuelle Befreiung. I, 560 Hiskija (ca. 750-696 v. Chr.): König von Juda seit ca. 725 v. Chr. II, 401 Hitler, Adolf (1889-1945): dt. Diktator; 1933-1945 Reichskanzler. I, 670; II, 85, 109, 288-292, 294, 295, 333, 334, 345, 359, 421, 423, 465, 466, 467, 480, 590, 592, 593, 596-601, 603, 608, 609, 612, 614-615, 618, 628, 629 Hobbes, Thomas (1588-1679): engl. Philosoph, Staatstheoretiker und Mathematiker; entwickelte die Theorie des Absolutismus in seinem Hauptwerk Leviathan (1651). I, 96; II, 11, 156, 157, 267, 268, 270, 301, 396, 544, 545 Hofer, Andreas (1767-1810): führte 1809 den Aufstand gegen die franz. und bayerische Herrschaft über Tirol an. I, 293, 577 Hoffmann, Johannes (1869-1930): dt. Politiker der SPD; 1919/20 bayerischer Ministerpräsident. I, 489, 490 Hofmannsthal, Hugo von (1874-1929): öster. Schriftsteller des Fin de siècle und der Wiener Moderne; mit Buber lebenslang befreundet. I, 34, 424, 427 Hölderlin, Friedrich (1770-1843): dt. Dichter. I, 545, 547 Horkheimer, Max (1895-1973): dt. Philosoph und Sozialwissenschaftler; begründete mit Adorno die Kritische Theorie. I, 606; II, 520

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Hugo, Victor (1802-1885): franz. Schriftsteller, Lyriker Dramatiker und politischer Publizist; Begründer der französischen Romantik und einer ihrer bedeutendsten Vertreter; Verfasser sozialkritischer Romane. II, 132, 524 Huizinga, Johan (1871-1945): niederl. Kulturhistoriker. II, 42, 115, 449, Husserl, Edmund (1859-1938): öster.-dt. Mathematiker und Philosoph jüdischer Herkunft; Begründer der Phänomenologie. II, 25, 418 Hutchins, Robert (1899-1977): US-amerik. Bildungstheoretiker. II, 276, 277, 588 Huxley, Thomas Henry (1825-1895): engl. Zoologe und Anatom; einer der ersten Verfechter der Evolutionstheorie Darwins. I, 487 Ibsen, Henrik (1828-1906): norw. Dramatiker und Lyriker; verfasste vor allem bürgerliche Dramen naturalistisch-psychologischer Prägung. I, 341, 613 Isaacson, Caroline (1900-1962): öster.-jüd. Journalistin. II, 463 Jaakob Jizchak von Przysucha (1765-1813): chassidischer Zaddik. I, 145 Jabotinsky, Wladimir Zeʾ ev (1880-1940): russ.-jüd. Schriftsteller, Essayist und zionistischer Aktivist; Begründer des revisionistischen Zionismus. I, 598; II, 430431, 441 Jaspers, Karl (1883-1969): dt. Arzt, Psychologe und Philosoph; Vertreter der Existenzphilosophie. I, 579; II, 338, 683 Jeremi(j)a (Wirkungszeit 626-585 v. Chr.): bibl. Prophet, der sich dafür aussprach, die politische Oberherrschaft der Babylonier als von Gott gewünscht anzuerkennen und deshalb politisch verfolgt wurde. Die Missachtung seines Rates führte zur Rebellion, die von ! Nebukadnezar niedergeschlagen wurde und die Zerstörung des Südreichs Juda und des Tempels zur Folge hatte. I, 135, 253, 260, 397, 399, 400 Jernensky, Eliyahu Moshe (1887-1949): hebr. Autor, Herausgeber und Übersetzer. II, 380 Jerobeam (Regierungszeit 926-907 v. Chr.): erster König des Nordreichs Israel. I, 135 Jesaja (8. Jh. V Chr.): I, 93, 395; II, 16, 17, 18, 19, 392, 401, 404 Jesus von Nazareth (um 0-30 n. Chr.): Gründergestalt des Christentums. I, 96, 112-113, 119, 139, 140, 141, 142, 180, 205, 256, 348, 398, 401, 412, 443, 449, 493, 513, 541, 547, 569, 570, 574, 625, 627; II, 32, 297, 299, 300, 311, 335, 436, 460, 636, 638, 639, 642, 643, 644, 651, 653 Joachim von Fiore (ca. 1130/1135-1202): ital. Abt und Ordensgründer. I, 259, 558; II, 53, 452 Jochanan ben Sakkai, Rabban (gest. ca. 90 n. Chr.): gilt als Schüler Hillels; Führungsrolle in der rabbinischen Bewegung und Gründer der Gelehrtenschule von Jabne, die die religiöse Krise meisterte, die durch die Zerstörung des Zweiten Tempels ausgelöst wurde. I, 140, 472 Josephus Flavius, auch Joseph ben Mathitjahu (ca. 38-ca. 100): jüd. Historiker; einer der wichtigsten Vertreter der jüd.-hell. Literatur. I, 472

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Joyce, James (1882-1941): irischer Schriftsteller. I, 508 Jung, Carl Gustav (1875-1961): schweiz. Psychiater, Begründer der analytischen Psychologie. I, 507, 669; II, 469, 470 Jünger, Ernst (1895-1998): dt. Schriftsteller; Vertreter der Konservativen Revolution. I, 472, 597, 627 Kafka, Franz (1883-1924): deutschsprachiger Schriftsteller; stand dem Prager Kreis um ! Max Brod und ! Hugo Bergmann nahe; in Bubers Zeitschrift Der Jude erschienen kurze Erzählungen Kafkas. II, 406 Kahler, Erich von (1885-1970): dt. Schriftsteller, Kulturphilosoph und Soziologe. II, 418 Kant, Immanuel (1724-1804): Begründer der klassischen dt. Philosophie. I, 83, 654; II, 14, 15, 20, 100, 450, 531, 533 Kantorowicz, Ernst (1895-1963): dt.-jüd. Ökonom; dem George-Kreis zugehörig; 1939 Emigration in die USA; bis zu seinem Tod Prof. in Princeton. I, 579; II, 418 Kaplan, Mordecai Menahem (1881-1983): US-amerik. Rabbiner, Gründer der Strömung des Reconstructionism. II, 580 Kapp, Ernst (1808-1896): dt. Philosoph und Geograf. II, 451 Karl der Grosse (747/748-814): von 768-814 König des fränkischen Reichs. I, 180, 498 Karni, Yehudah (1884-1949): hebr. Dichter, Zionist. II, 447 Katznelson, Berl (1887-1944): russ. sozialistischer Zionist, Journalist und Politiker; eine der führenden Figuren der jüd. Arbeiterbewegung; enger Vertrauter ! David Ben-Gurions. II, 75, 249, 452, 453, 461 Kautsky, Karl (1854-1938): dt.-tsch. Philosoph, Autor und sozialdemokratischer Politiker. I, 561; II, 502 Kayser, Rudolf (1889-1964): dt.-jüd. Literaturwissenschaftler. 1933 Emigration, seit 1935 in den Vereinigten Staaten. II, 416 Kaznelson, Siegmund (1893-1959): dt.-jüd. Publizist. I, 497; II 410 Keller, Gottfried (1819-1890): schweiz. Schriftsteller. II, 169, Kenan, Amos (1927-2009): israel. Kolumnist, Maler, Bildhauer, Dramatiker und Schriftsteller. II, 447 Kerenski, Alexander Fjodorowitsch (1881-1970): russ. Politiker; Ministerpräsident während der Februarrevolution 1917. I, 436 Kessler, Harry Graf (1868-1937): dt. Kunstsammler, Mäzen, Schriftsteller, Pazifist und Diplomat. I, 427 Key, Ellen (1849-1926): schwed. Reformpädagogin und Schriftstellerin. I, 85, 427 Kierkegaard, Søren (1813-1855): dän. Philosoph und Schriftsteller; Vorläufer der modernen Existenzphilosophie; übte großen Einfluss auf die prot. Theologie nach dem Ersten Weltkrieg aus. I, 55, 623 King, Martin Luther (1929-1968): US-amerik. Baptistenpastor; hatte eine Schlüsselrolle in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung; Friedensnobelpreisträger (1964). I, 70

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King, William (1786-1865): engl. Physiker, Unternehmer und früher Unterstützer der Genossenschaftsbewegung in England. II, 60, 61, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 185, 187, 456, 496, 557, 558 Kirejewski, Iwan Wassiljewitsch (1806-1856): russ. Schriftsteller und Publizist. II, 155, 544 Kittel, Gerhard (1888-1948): dt. prot. Theologe; seit 1926 Ordinarius für Neues Testament an der Universität Tübingen; vertrat einen aggressiven völkischen Antisemitismus. I, 52 Klausner, Joseph L. (1874-1958): israel. Literaturwissenschaftler, Historiker und Religionswissenschaftler. II, 441, 687 Koebner, Richard (1885-1958): jüd. Historiker. II, 428 Kohn, Hans (1891-1971): dt. Historiker und Politikwissenschaftler; Freund Martin Bubers; Mitglied im Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba; lebte in den 1920er Jahren in London u. Jerusalem, danach in den USA; 1930 erschien seine grundlegende Darstellung zu Bubers Leben und Werk Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. I, 22, 26, 74, 425, 472, 506, 512, 517, 537, 545, 566, 581, 582, 609, 625, 668, 675, 677 Konstantin, gen. der Große (274-337): röm. Kaiser. I, 398, 674 Kopeliowitsch, J. siehe Almog Kornilow, Lawr Georgijewitsch (1870-1918): russ. General; unternahm 1917 einen Putschversuch gegen die provisorische Regierung Kerenskis. I, 436 Korsch, Karl (1886-1961): dt. marxist. Philosoph. I, 518 Kracauer, Siegfried (1889-1966): dt.-jüd. Journalist und Kulturphilosoph. I, 519; II, 401-402 Kraft, Werner (1896-1991): dt. Dichter und Literaturwissenschaftler; 1933 Emigration nach Schweden und Frankreich, 1934 nach Palästina; Freund und regelmäßiger Gesprächspartner des älteren Martin Buber. I, 499, 661 Krannhals, Paul (1883-1934): dt.-balt. Kulturphilosoph und Publizist; ideologischer Vordenker und Unterstützer des Nationalsozialismus. I, 402, 403, 408, 410, 664 Kraus, Karl (1874-1936): öster. Schriftsteller. I, 561, 562 Krehl, Ludolf von (1861-1937): dt. Arzt. I, 621 Krieck, Ernst (1882-1947): dt. Lehrer, Erziehungswissenschaftler, Kulturpolitiker und Schriftsteller; führender Vertreter der nationalsozialistischen Pädagogik. I, 661, 665 Kronstein, Max (1895-1992): verheiratet mit Gustav Landauers Tochter Charlotte. I, 267, 568 Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch (1842-1921): russ. anarchistischer Theoretiker und Revolutionär. I, 46, 49, 162, 487; II, 67, 130, 134, 137, 155-162, 163, 169, 172, 185, 189, 190, 221, 239, 242, 480, 482, 492, 493, 494, 509, 543, 547, 548, 549, 551 Kruckenberg-Konce, Elsbeth (1867-1954): dt. Schriftstellerin und Frauenrechtlerin. I, 663, 664

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Kun, Béla (1886-1938): ung. kommunistischer Politiker jüdischer Herkunft; gründete 1918 die Kommunistische Partei Ungarns. I, 446 Konfuzius, auch Kungfutse (551-479 v. Chr.): chin. Philosoph. II, 265 Kuysten, Johannes (Han) (1902-1988): niederl. Journalist, Antimilitarist. II, 433 Kyros II auch Cyrus (um 600-530 v. Chr.): pers. König; Begründer des altpersischen Reiches; erlaubte den Juden die Rückkehr aus dem babylonischen Exil und den Wiederaufbau des Tempels. I, 574 La Pira, Giorgio (1904-1977): ital. kath. Politiker. I, 70 Lachmann, Hedwig (1865-1918): dt. Schriftstellerin, Dichterin und Übersetzerin; Frau ! Gustav Landauers. I, 266, 319, 567, 577, 584 Lagarde, Paul Anton de (1827-1891): dt. Kulturphilosoph; Exponent des sich seit der Reichsgründung 1871 neu formierenden Antisemitismus. I, 547 Lamey, August (1816-1896): liberaler badischer Politiker. I, 527 Landauer, Georg (1895-1954): dt.-jüd. zionistischer Politiker; gehörte zu den Gründungsmitgliedern der sozialistisch-zionistischen Organisation Ha-Poel haTzaʾ ir in Deutschland; engagierte sich in der Ansiedlung deutscher Juden in Palästina, insbesondere in der Kinder- und Jugendalija; 1934 Einwanderung nach Palästina. I, 587 Landauer, Gustav (1870-1919): dt.-jüd. belletristischer und politischer Schriftsteller und Anarchist; Erforscher der dt. Mystik; seit 1900 eng mit Buber befreundet; radikaler Kriegsgegner; ab Herbst 1918 in der Münchener Revolution aktiv; 1919 Ermordung durch gegenrevolutionäre Milizionäre; besorgte den dreizehnten Band »Die Revolution« (1907) in der von Buber herausgegebenen Reihe Die Gesellschaft. I, 23, 35, 35-36, 36-41, 41, 42, 43, 47, 51, 75, 85, 85-86, 161, 172-181, 182-183, 265-267, 319-320, 322-323, 328, 424, 427, 432, 433, 435, 438, 439, 440, 441, 442, 443, 446, 451, 475, 486, 488-491, 492, 493, 495, 496, 497, 498, 499-501, 503, 504, 505, 506, 532, 533, 562-566, 567, 568, 577, 581-583, 597, 602, 633; II, 27, 33-37, 57, 134, 157, 163-173, 221, 424, 424-425, 426, 427-428, 436-437, 438, 439-440, 478, 480, 494, 495, 509, 552, 553, 554, 555, 602-603 Landshut, Siegfried (1897-1968): dt.-jüd. Politikwissenschaftler und Soziologe. II, 10, 395 Lao-Tse (vermutlich 6. Jahr.): chin. Philosoph; gilt als Begründer des Daoismus. I, 91; II, 93, 263, 264, 265, 572, 634, 635, 649-650 Lasker-Schüler, Else (1869-1945): bedeutende dt.-jüd. Dichterin der avantgardistischen Moderne und des Expressionismus; 1939 Emigration nach Palästina. I, 431 Lassalle, Ferdinand (1825-1864): Führer in der sozialdemokratischen Bewegung. I, 43, 336, 564, 605; II, 51, 122, 148, 183, 200, 204, 211, 212, 451, 517, 537, 617 Lauer, Caesarius (1915-1984): Benediktinerpater in Maria Laach und Briefpartner Bubers. II, 350-351, 691, 695 Lavi, Shlomo (1882-1963): zionist. Aktivist und Politiker. II, 69, 460

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Le Bon, Gustav (1841-1931): franz. Arzt, Soziologe und Psychologe; Begründer der Massenpsychologie. I, 430 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646-1716): dt. Philosoph. II, 268 Lenin, Wladimir Iljitsch (1870-1924): russ. kommunistischer Politiker und Revolutionär. I, 46, 49, 375, 585, 631; II, 209, 213-236, 238, 239, 240, 287, 482, 505, 506, 507, 508, 508, 508-509 Leo, Heinrich (1799-1878): dt. Historiker. II, 393 Leonardo da Vinci (1452-1519): ital. Maler und Universalgelehrter der Renaissance. II, 46 Leroux, Pierre (1797-1871): franz. Philosoph und Sozialist. II, 498 Lessing, Theodor (1872-1933): dt.-jüd. Schriftsteller. I, 562 Levien, Max (1885-1937): dt.-russ. Kommunist; führte zusammen mit Eugene Leviné die Münchner Kommunistische Partei auch während der Räterepublik. I, 441, 495, 585 Leviné, Eugen (1883-1919): dt. kommunist. Aktivist russ. jüd. Herkunft; Anführer in der Münchner Räterepublik; 1919 hingerichtet. I, 441 Lévinas, Emmanuel (1906-1995): franz.-litauischer Philosoph jüdischer Herkunft; stark beeinflusst durch seine beiden Lehrer Husserl und Heidegger sowie durch die jüd. Überlieferung der Tora. II, 482 Lévy-Bruhl, Lucien (1857-1939): franz. Anthropologe. I, 521 Lewin, Reinhold (1888-1943): 1920-1938 Rabbiner in Königsberg i. Pr., sodann in Breslau; 1943 in Auschwitz ermordet. I, 242, 243, 551 Liebknecht, Karl (1871-1919): dt. Jurist und Ökonom; Marxist und Antimilitarist; von 1912-1916 Abgeordneter im Reichstag für die Sozialdemokratische Partei, steht auf der äußersten Linken; einer der Gründer der Kommunistischen Partei Deutschlands. I, 319, 320, 322, 435, 566, 584 Liebknecht, Wilhelm (1826-1900): dt. Politiker; Mitbegründer der SPD. II, 211, 518 Lifshitz, Moshe (1894-1940): ukrain.-jüd. Journalist, Übersetzer, Dramaturg und jiddischer Dichter; Zionist. II, 446 Ligt, Barthélémy de (1883-1938): niederl. Pazifist und Anarchist. II, 432 Lilien, Ephraim Moses (1874-1925): jüd. Künstler des Jugendstils. I, 26 Lilienblum, Moshe Leib (1843-1910): russ.-jüd. Gelehrter, hebräischer Schriftsteller, jüd. Reformer und Pionier des frühen Zionismus. II, 441 Lincoln, Abraham (1809-1865): 16. Präsident der Vereinigten Staaten (1861-1865). II, 582 Lindau, Hans (1875-1963): Bibliothekar; Mitarbeit an der Herausgabe von Landauers Briefwechsel. I, 267, 563, 568 Lindemann, Gustav (1872-1960): dt.-jüd. Regisseur und Theaterleiter; Ehemann von ! Louise Dumont, mit der er 1905 das Düsseldorfer Schauspielhaus gründete, das 1933 schließen musste; überlebte den Krieg in Deutschland. I, 437, 438, 488, 491

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Linsert, Richard (1899-1933): dt. Sexualforscher und Mitarbeiter von Magnus Hirschfeld; Kommunist. I, 560 List, Friedrich (1789-1846): dt. Ökonom. II, 190 Liszt, Franz von (1851-1917): dt. Rechtswissenschaftler. I, 427 Lloyd, Freiherr George Ambrose (1879-1941): brit. Politiker der Konservativen Partei (Tories). I, 612 Locke, John (1632-1704): engl. Philosoph. II, 267 Loening, Karl Friedrich, vor 1847 Zacharias Löwenthal (1810-1884): deutscher Verleger jüdischer Herkunft (1847 zum ev. Glauben konvertiert); gründete 1859 zusammen mit ! Joseph Rütten den Verlag Rütten & Loening. I, 423; II, 523 Loewe, Heinrich (1869-1951): dt. Zionist und Schriftsteller; lebte lange in Berlin; 1892 gründete er dort Jung Israel, die erste zionist. Gruppe im dt. Zionismus; 1902-08 Hrsg. der Jüdischen Rundschau; 1933 Emigration nach Palästina. I, 448, 449, 450 Lorenzetti, Ambrogio (ca. 1290-ca. 1348): ital. Maler. II, 436 Louis-Philippe I (1773-1850): von 1830-1848 franz. König; auch bekannt als Bürgerkönig. II, 513 Löwe, Adolf (1893-1995): dt. Nationalökonom und Soziologe; Sozialdemokrat und Anhänger des religiösen Sozialismus. I, 338, 606, 607: II, 519 Ludendorff, Erich (1865-1937): dt. General und Politiker; Unterstützer Hitlers. II, 602 Ludwig XVI. (1754-1793): franz. König. II, 268 Ludwig, Emil (1881-1948): dt. Journalist. II, 617 Lukács, Georg (1885-1971): ungar. Philosoph und Literaturtheoretiker. I, 427, 477; II, 315, 666 Luther, Martin (1483-1546): dt. Reformator. I, 114, 283, 409; II, 25, 130, 417, 522, 582 Luxemburg, Rosa (1871-1919): poln.-jüd. polit. Journalistin, sozialistische Politikerin und Aktivistin der europ. Arbeiterbewegung; gründete u. a. mit ! Karl Liebknecht den »Spartakusbund«, aus dem später die Kommunistische Partei Deutschlands hervorging. I, 319, 320, 322, 565-565, 584, 601 Luz, Kadish (1895-1972): israel. Politiker, Landwirtschaftsminister und Sprecher der Knesset (1959-1969). II, 75, 460-461 MacDonald, Malcolm (1901-1981): brit. Politiker. II, 422 Machiavelli, Niccolò di Bernardo dei (1469-1527): ital. Philosoph, Politiker, Diplomat und Schriftsteller. II, 292, 293, 619 MacIver, Robert Morrison (1882-1970): US-amerik. Soziologe und Sozialphilosoph. II, 262, 449, 578 MacMichael, Harold (1882-1967): brit. Verwaltungsbeamter in den Kolonien; von 1938-1944 Hochkommissar im brit. Mandatsgebiet Palästina. II, 454

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Magnes, Jehuda Leon (1877-1948): US-amerik. Rabbiner; ab 1922 in Palästina; erster Präsident der Hebräischen Universität Jerusalem; stand dem Brith Schalom nahe. I, 57, 67, 90, 682; II, 383, 442, 462, 479 Mahler, Gustav (1860-1911): öster. Komponist und Dirigent jüd. Herkunft; einer der bedeutendsten Komponisten am Übergang von der Spätromantik zur Moderne. II, 436 Maitland, Frederic William (1850-1906): engl. Jurist und Historiker; Gründer der britischen Rechtsgeschichte. II, 156, 545 Man, Hendrik de (1885-1953): belg. Sozialspychologe, Journalist, sozialistischer Theoretiker und Politiker; seit 1938 Präsident der belg. Arbeiterpartei; Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Regime. I, 333, 334, 335, 336, 600, 601, 603, 604, 605, 607 Mann, Heinrich (1871-1950): dt. Schriftsteller; älterer Bruder von ! Thomas Mann; verfasste satirische Romane gegen den deutschen Militarismus und Wilhelminismus; Emigration 1933 erst nach Frankreich, später in die USA. I, 561, 562 Mann, Thomas (1875-1955): dt. Schriftsteller; Nobelpreis für Literatur 1929; Emigration 1933 erst nach Frankreich, später in die USA. I, 487, 508; II, 435, 706 Mannheim, Karl (1893-1947): brit.-dt. Soziologe und Philosoph ungar.-jüd. Herkunft; gilt gemeinsam mit ! Max Scheler als Begründer der Wissenssoziologie; stand den religiösen Sozialisten um Paul Tillich nahe. II, 476, 522 Marcus Aurelius (121-180): röm. Kaiser (Regierungszeit 161-180) und Philosoph; Vertreter der jüngeren Stoa. II, 100, 265, 473 Maréchal, Sylvain (1750-1803): franz. Dichter, Philosoph; Spätaufklärer, Atheist und Vordenker des Anarchismus. I, 554 Martin, Alfred von (1882-1979): dt. Historiker und Soziologe. II, 46 Martow, Julius (1873-1923): russ. Politiker für die Menschewiki. II, 224 Marx, Karl (1818-1883): dt. Philosoph und Kritiker der pol. Ökonomie; seit 1849 im Londoner Exil; veröffentlichte 1867 sein Hauptwerk Das Kapital; gründete die Internationale Arbeiter-Assoziation. I, 46, 47, 49, 91, 383, 603, 635, 652, 654; II, 118, 119, 120, 122, 123, 127, 128, 130, 140, 160-161, 167, 196-212, 213-214, 214, 215, 216, 216-217, 217, 219, 220, 221, 223,224, 230, 231, 233, 237, 259, 270271, 278, 302, 312, 313, 315, 316, 317, 320-324, 355, 356, 395, 456, 482, 501-502, 503, 504, 505, 509, 511, 512, 513, 514, 515, 516,517, 518, 519, 521, 527, 531, 532, 563, 572, 662, 668 Marx, Leopold (1889-1983): Textilfabrikant; Initiator des Jüdischen Lehrhauses in Stuttgart. I, 542, 544, 546, 552, 625, Mauthner, Fritz (1849-1923): öster. Philosoph und Schriftsteller; verfasste in der Reihe Die Gesellschaft den Band »Die Sprache«; berühmt für seine Sprachphilosophie; eng befreundet mit ! Gustav Landauer; seit 1905 bekannt mit Martin Buber. I, 37, 85, 266, 267, 424, 441, 491, 567 Maximos von Tyros (2. Jh.): griech. Redner und Philosoph. I, 498

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Mazzini, Giuseppe (1805-1872): ital. Politiker und Journalist; geistiger Führer des demokratischen Flügels der ital. Unabhängigkeitsbewegung des 19. Jh. II, 62, 457 Mehring, Franz (1846-1919): dt. Publizist und linksgerichteter Politiker; früher Historiker des Marxismus und bedeutender Marx-Biograf. II, 324, 668, 669 Meister Eckhart, siehe Eckhart von Hochheim Melanchthon, Philipp (1497-1560): dt. lutheranischer Reformator. I, 575 Mendelssohn, Moses (1729-1786): Philosoph und Bibelübersetzter; zentrale Gestalt und Begründer der Berliner Haskala, der jüdischen Aufklärung. I, 25; II, 415 Mendele, Moicher Sforim (1836-1917): russ.-jüd. Schriftsteller; schrieb in jiddischer und hebr. Sprache; gilt als Begründer der mod. jidd. und hebr. Literatur; neben Scholem Alejchem und Jitzchok Leib Perez einer der drei Klassiker der jidd. Literatur. II, 441 Meng, Heinrich (1887-1972): dt.-schweiz. Arzt, Psychoanalytiker und Psychohygieniker. II, 433 Mennicke, Carl (1887-1958): dt. prot. Theologe und Sozialpädagoge, Angehöriger des Kreises um ! Paul Tillich; 1920-1927 Herausgeber der Blätter für Religiösen Sozialismus; 1933 Emigration in die Niederlande. I, 534, 535, 536, 600; II, 480, 521 Mergenthaler, Christian (1884-1980): dt. Politiker (NSDAP). I, 662 Metzger, Ludwig (1902-1993): dt. Rechtsanwalt und Politiker der SPD; 1929 Vorsitzender des Bundes religiöser Sozialisten in Hessen; Mitbegründer der Bekennenden Kirche. 671 Michel, Ernst (1889-1964): dt. Religionsphilosoph, Sozialpsychologe und Psychotherapeut; Mitglied im Kreis der religiösen Sozialisten, den Buber und ! Florens Christian Rang Anfang der zwanziger Jahre um sich versammelten. I, 45, 479, 675; II, 478, 621 Michel, Wilhelm (1877-1942): dt. Schriftsteller, Essayist und Hölderlin-Forscher. I, 233-246, 248, 540, 544-545, 545, 547, 548, 551, 565, 578 Michelangelo Buonarotti (1575-1564): ital. Künstler der Hochrenaissance. I, 198, 514 Michelet, Carl Ludwig (1801-1893): dt. Philosoph, Hegelschüler. II, 152, 451, 542 Michels, Robert (1876-1936): dt.-ital. Soziologe, einer der Gründerväter der modernen Politikwissenschaft; zunächst linksstehend, wandte er sich später dem ital. Faschismus zu. I, 427 Mickiewicz, Adam (1798-1855): poln. Schriftsteller, Lyriker und Publizist; Freiheitskämpfer und Nationaldichter Polens. II, 666 Mladenatz, Gromoslav (1891-1958): rumän. Ökonom. II, 179 Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch (1890-1986): führender Politiker der UdSSR. II, 237 Montefiore, Claude Joseph Goldsmid (1858-1938): Hauptvertreter des englischen liberalen Judentums. I, 263, 559 Montessori, Maria (1870-1952): ital. Ärztin, Philosophin und Begründerin der Montessori-Pädagogik. II, 432

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Moritz, Karl Philipp (1756-1793): dt. Schriftsteller des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik. II, 450 Morwitz, Ernst (1887-1971): dt. Jurist, Schriftsteller, Germanist; Mitarbeit an der von George und Karl August Klein herausgegebenen Zeitschrift Blätter für die Kunst; veröffentlichte unter dem Titel Die Dichtung Stefan Georges (1933) eine bedeutende Arbeit zum Werk Georges. II, 418 Moses ben Maimon, auch Maimonides (1135-1204): bedeutender jüd. Religionsphilosoph, Bibelkommentator und Arzt. I, 518 Mosse, George (1918-1999): US-amerikanischer Historiker dt.-jüd. Herkunft. I, 27 Motzkin, Leo (1867-1933): zionist. Politiker aus Rußland; von seinen Studentenjahren an in Berlin; Mitbegründer der Demokratischen Fraktion; wiederholt Mitglied der Zionistischen Exekutive. I, 26 Muckermann, Friedrich (1883-1946): dt. Publizist und Jesuit; Widerstandskämpfer. I, 523 Mühsam, Erich (1878-1934): dt. Dichter u. Anarchist; befreundet mit Martin Buber und ! Gustav Landauer; verkehrte im Friedrichshagener Dichterkreis; 1933 von den Nazis verhaftetet und im KZ Oranienburg ermordet; seine Unpolitischen Erinnerungen (1927-29) beinhalten ein lebhaftes Porträt der künstlerisch-politischen Bohème um 1900. I, 440, 489, 492, 495, 506, 585; II, 552 Müller, Adam Heinrich (1779-1829): dt.-öster. Romantiker; Verfasser philosophisch-staatswissenschaftlicher Schriften. I, 210, 520, 521 Müntzer, Thomas (1489-1525): dt. Prediger zur Reformationszeit, rief die Bauern zum Aufstand auf. II, 393 Mussolini, Benito (1883-1945): ital. Politiker; faschistischer Diktator seit 1922. I, 571; II, 286-289, 294, 295, 590, 592, 605-606, 615-616, 617 Muth, Carl (1867-1944): dt.-kath. Publizist. I, 548 Naphtali (Naphtali), Peretz (Fritz) (1888-1961): dt.-jüd. Wirtschaftsjournalist, Sozialdemokrat und Gewerkschafter; hatte für die Mapai-Partei verschiedene Ministerämter inne. II, 63, 180, 457 Napoleon Bonaparte (1769-1821): franz. General und Staatsmann; 1804-1815 franz. Kaiser. I, 176, 554, 577; II, 134, 152, 168, 295, 307, 398, 590, 611, 620 Natorp, Paul (1854-1924): dt. Philosoph und Pädagoge; ab 1885 Prof. an der Univ. Marburg; gehört zu den Gründern der Marburger Schule; mit Buber erkannt. I, 45 Nebukadnezar II (6. Jh. v. Chr.): König von Babylon 604-562 v. Chr.; eroberte das Südreich Juda und zerstörte den Ersten Tempel in Jerusalem. I, 393, 574 Nehru, Motilal (1861-1931): ind. Politiker. I, 616 Nenni, Pietro (1891-1980): ital. sozialistischer Politiker, ab 1946 Außenminister; von 1963 bis 1968 stellv. Ministerpräsident unter Aldo Moro. II, 616 Nettlau, Max (1865-1944): dt. Historiker des Anarchismus. I, 566 Nicola, Enrico de (1877-1959): ital. Journalist, Schriftsteller und liberaler Politiker. II, 616

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Niebuhr, Reinhold (1892-1971): US-am. prot. Theologe. II, 357, 359, 360, 698 Niekisch, Ernst (1889-1967): dt. Politiker. I, 495 Nietzsche, Friedrich (1844-1900): dt. Philosoph; beeinflusste die Lebensphilosophie und den Ästhetizismus der Jahrhundertwende; Stichwortgeber für den Faschismus und die Ideologie der Nationalsozialisten. I, 25, 34, 83, 428, 429, 512, 634; II, 115, 262, 278, 295-296, 302, 319, 336, 398, 439, 463, 471, 477, 585, 590, 592, 598, 612-614 Nikolaus II. (1868-1918): letzter Kaiser des Russischen Reiches. I, 434 Nordau, Max, eig. Südfeld (1849-1923): ungar-jüd. Arzt, polit. Zionist. I, 26 Oppenheimer, Franz (1864-1943): dt.-jüd. Soziologe und Nationalökonom, Zionist und liberaler Sozialist. I, 424, 432, 433, 606; II, 187, 397, 519, 550 Ostwald, Wilhelm Ernst (1877-1942): seit 1903 Direktor des Verlages Rütten & Löhning. I, 423 Otto, Rudolf (1869-1937): dt. evang. Theologe und Religionswissenschaftler. I, 44 Owen, Robert (1771-1858): brit. Unternehmer und Frühsozialist; Begründer des Genossenschaftswesens. I, 46; II, 59, 60, 61, 119, 120, 123, 134, 137, 138-141, 144, 175, 178, 188, 190-191, 191, 235, 454, 455, 456, 480, 482, 489, 513, 514, 519, 528, 529, 530, 533, 557 Paetel, Karl Otto (1906-1975): Journalist und Vertreter des deutschen Nationalbolschewismus. I, 627, 629, 630, Pappenheim, Bertha (1859-1936): öster.-jüd. Frauenrechtlerin und Schriftstellerin. I, 474 Paquet, Alfons (1881-1944): dt. Journalist, Reiseschriftsteller, Theaterautor und Pazifist. I, 45 Pascal, Blaise (1623-1662): franz. Mathematiker und Philosoph. II, 143, 533 Paulus (ca. 10-65): christl. Apostel der Heidenmission, der vom Verfolger zum eifrigen Verbreiter der neuen Lehre wurde; formulierte erste Grundlehren des entstehenden Christentums. I, 112, 142, 443, 525; II 639, 643 Pell, Robert (Lebensdaten nicht ermittelt): US-amerik. Diplomat. II, 410, Penn, Alexander (1906-1972): israel. Dichter. II, 446 Penn, William (1644-1718): Gründer der nach ihm benannten amerikanischen Kolonie Pennsylvania; Quäker. I, 284, 285, 571 Perikles (490 v. Chr.-429 v. Chr.): griech. Staatsmann in Athen. II, 296 Petöfi, Sándor (1823-1849): ung. Dichter, Volksheld der ung. Revolution von 1848. I, 319, 584 Pfuetze, Paul E. (gest. 1985): US-amerik. Theologe. II, 356, 696 Philip, André (1902-1970): franz. Sozialist und Politiker. I, 600 Philo(n) von Alexandrien (ca. 15/10 v. Chr.-40/50 n. Chr.): jüd. hell. Philosoph und Vertreter der jüd. Gemeinde; versuchte die jüdische Religion und die griechische Philosophie in Einklang zu bringen. I, 138; II, 417 Pinsker, Leo (1821-1891): russ.-jüd. Arzt und Schriftsteller; früher Zionist. II, 342,

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Pisano, Nicola (1210/20-1278/87): ital. Bildhauer und Architekt. II, 55, 452 Plato(n) (ca. 428-348 v. Chr.): griech. Philosoph; Begründer der abendländischen Metaphysik. I, 71, 93, 199, 212, 487, 571, 687; II, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 100, 127, 262, 263, 264, 265, 295, 336, 365, 380, 384, 389, 390, 391, 392, 398, 399, 400, 401, 473, 518, 635, 649-650 Proudhon, Pierre-Joseph (1809-1865): franz. Ökonom und Soziologe; Vertreter der anarchistischen Sozialismustradition. I, 46, 494; II, 119, 121, 121-123, 130, 134, 142-154, 155, 157, 158, 159, 160, 165, 167, 168, 169, 172, 179, 185, 198, 200, 203, 209, 230, 324, 438, 480, 482, 490, 491, 492, 493, 501, 513, 515, 516, 517, 518, 519, 522, 527, 530, 531, 532, 533, 534, 535, 536, 540, 542, 543, 550, 553 Quervain, Alfred de (1896-1968): schweiz., ev.-reform. Theologe. I, 578, 675, 676, 677, 678 Rabanus Maurus (um 780-856): Universalgelehrter, Abt des Klosters Fulda, Mainzer Erzbischof (847). II, 436 Rabbi Binyamin (Pseudonym für Yehoschuha Radler-Feldmann; 1880-1957): hebr. Journalist und Essayist; gehörte 1925 zu den Mitbegründern des Brith Schalom. I, 57; II, 687 Radbruch, Gustav (1878-1949): dt. Rechtsphilosoph und Strafrechtler; sozialdemokratischer Politiker; von 1921-1923 Reichsjustizminister; später Mitglied des Staatsgerichtshofs von Württemberg-Baden. I, 600, 675; II, 706 Radler-Feldmann, siehe Rabbi Binyamin Ragaz, Leonhard (1868-1945): schweiz. Theologe; 1908-1925 Prof. für Theologie in Zürich; 1906-1945 Herausgeber der Zeitschrift Neue Wege. Blätter für religiöse Arbeit; beeinflusst von der Dialektischen Theologie; setzte sich für den religiösen Sozialismus und die internationale Friedensbewegung ein; stand Buber nahe. I, 41,43-44, 44, 54, 230, 507, 509, 531, 532, 533, 534, 535, 536,537, 550, 565, 566, 581, 582, 583, 599, 600, 601, 602, 610, 624, 675; II, 420, 430, 480, 669 Raiffeisen, Friedrich Wilhelm (1818-1888): dt. Sozialreformer; einer der Gründerväter der modernen Genossenschaftsbewegung in Deutschland. II, 557 Rang, Florens Christian (1864-1924): dt. prot. Theologe und Schriftsteller; Mitglied des Forte-Kreises; Freund Bubers; rief in seiner Schrift Deutsche Bauhütte (1924), die Beiträge diverser bedeutender Autoren versammelte, zu freiwilligen Reparationsleistungen an Belgien und Frankreich auf. I, 45, 479, 536 Ranke, Franz Leopold von (1795-1886): dt. Historiker und Klassiker der Geschichtswissenschaft. II, 293, 610, 619 Rappeport, Ernst Elijahu (1889-1952): Zionist und Schriftsteller aus Wien; Freund Bubers. I, 432, 450 Rathenau, Walter (1867-1922): dt. Schriftsteller, Industrieller und Politiker; Außenminister während der Weimarer Republik (1918-22); von Rechtsradikalen ermordet. I, 427, 518; II, 293, 602

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Rathmann, August (1895-1995): dt. sozialdemokratischer Politiker und politischer Autor; neben Paul Tillich und Eduard Heimann Mitherausgeber der Neuen Blätter für den Sozialismus. I, 600, 602 Ratosh, Yonatan (1908-1981): israel. Dichter. II, 447 Rauschning, Hermann (1887-1982): dt. Politiker und Autor; 1933/1934 Senatspräsident der Freien Stadt Danzig; Verfasser der umstrittenen Gespräche mit Hitler. II, 590, 596, 598, 602, 608, 618 Reifenberg, Benno (1892-1970): dt. Journalist, Schriftsteller und Kunstkritiker; gehörte zwischen 1959 und 1965 zu den Herausgebern der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. II, 674 Rembrandt van Rijn (1606-1669): niederl. Maler. I, 198, 514 Rengstorf, Karl Heinrich (1903-1992): dt. protest. Theologe. I, 62 Rieger, Emilie (Lebensdaten nicht ermittelt): Frau von Paul Rieger. I, 555 Rieger, Paul (1870-1939): Stuttgarter Gemeinderabbiner. I, 555 Robespierre, Maximilien de (1758-1794): franz. Politiker; zeitweiliger Führer der Jakobiner. II, 393 Rodrigues, Benjamin Olinde (1795-1851): franz. Mathematiker, Bankier und Sozialreformer. II, 526 Roland-Holst, Henriette (1869-1962): niederl. Schriftstellerin, Journalistin und Publizistin; sozialistische und kommunistische Aktivistin; Pazifistin; wendet sich später dem religiösen Sozialismus zu. I, 339, 601, 607; II, 480 Rolland, Romain (1866-1944): franz. Schriftsteller und Pazifist. I, 608, 610 Roniger, Emil (1883-1958): schweiz. Schriftsteller und Verleger. I, 348, 608 Rosenbaum, Wladimir (1894-1984): schweiz. Anwalt und Kunsthändler; führte einen literarischen Salon in Zürich. I, 508 Rosenberg, Alfred (1893-1946): nationalsozialistischer Ideologe. I, 495, 505, 522, 662 Rosenberg, Arthur (1889-1943): dt. kommunistischer Politiker und Historiker, 1933 Flucht, seit 1937 Lehrtätigkeit in den Vereinigten Staaten. II, 221 Rosenstock-Huessy, Eugen (1888-1973): dt. Kulturphilosoph und Rechtshistoriker jüdischer Herkunft. I, 514, 548, 578; II, 430 Rosenzweig, Franz (1886-1929): dt.-jüd. Philosoph; übersetzte mit Buber die Bibel; 1919 Leiter der jüdischen Volkshochschule (ab 1920 Freies Jüdisches Lehrhaus); anders als Buber vertrat er eine Rückbesinnung auf das traditionelle Judentum und stand dem Zionismus kritisch gegenüber. I, 43, 443, 473, 507, 516, 518, 541, 543, 610; II, 128, 397, 401, 406, 415, 427 Ross, Edward Alsworth (1866-1951): US-amerik. Soziologe und Eugeniker. II, 10; 395 Rotenstreich, Nathan (1914-1993): israel. Philosoph; mit Buber befreundet. II, 447, 680 Rotten, Elisabeth (1882-1964): dt. Reformpädagogin, Friedensaktivistin und Hauptherausgeberin der Zeitschrift Das Werdende Zeitalter. I, 583, 585; II, 432

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Rousseau, Jean Jaques (1712-1778): schweiz.-franz. Philosoph und Schriftsteller. II, 197, 268, 575 Rubinstein, Richard Lowell (geb. 1924): amerik. Rabbiner, Theologe und Publizist. I, 58 Rubinstein, Sigmund (1864-1934): Wiener Jurist und Journalist. II, 425 Rublee, George (1868-1957): amerik. Rechtsanwalt. II, 410, 411 Ruppin, Arthur (1876-1943): jüd. Soziologe; bedeutende Gestalt der zionist. Siedlungsbewegung. II, 104, 105, 475 Russell, Bertrand (1872-1970): brit. Philosoph, Mathematiker und Logiker; Mitbegründer der analytischen Philosophie; 1950 Nobelpreis für Literatur. I, 70; II, 262, 337, 572, 677, 678 Russell, George William (1867-1935): ir. Dichter. II, 193 Rütten, Joseph (1805-1878): dt.-jüd. Verleger; gründetet zusammen mit Karl Loening den Verlag Rütten & Loening. I, 423; II, 523 Sabbatai Zwi (1626-1676): Pseudomessias und zentrale Figur des Sabbatianismus; 1665 Proklamation als Messias; 1666 erzwungene Konversion zum Islam. II, 598 Sadan, Dov (1902-1989): israel. Literaturkritiker, Politiker; Mitglied der Knesset für verschiedene linksgerichtete Bündnisse. II, 447 Sadeh, Pinchas (1929-1994): israel. Schriftsteller und Lyriker. II, 447 Saint-Simon, Henri de (1760-1825): franz. Ökonom, Politiker und Autor; frühsozialistischer Theoretiker; Vordenker des utopischen Sozialismus und Mitbegründer des christlichen Sozialismus. I, 46, 98; II, 9, 10, 11, 13, 20, 119, 120, 123, 134, 135, 136, 138, 139, 140, 142, 144, 144-145, 149, 152, 184, 230, 269, 270-271, 271. 274, 311, 386, 393, 480, 489, 491, 514, 519, 525, 526, 529, 530, 559, 572 Salandra, Antonio (1853-1931): ital. Politiker. I, 529 Salin, Edgar (1892-1974): dt. Nationalökonom. II, 418 Sambursky, Shmuel (1900-1990): israel. Wissenschaftshistoriker; Gründer des Instituts für Geschichte und Philosophie der Naturwissenschaften der Hebräischen Universität. II, 428, 680 Sassulitsch, Wera Iwanowna (1849-1919): russ. Revolutionärin. II, 204, 207, 208 Savonarola, Girolamo (1452-1498): ital. Bußprediger, der in Florenz seit 1494 faktisch die Macht hatte; 1498 exkommuniziert und hingerichtet. II, 393 Schacht, Hjalmar (1877-1970): dt. Bankier und Politiker; 1933-1939 Reichsbankpräsident. II, 410 Schaeder, Grete (1903-1990): dt. Kulturwissenschaftlerin; Buberforscherin und Herausgeberin einer dreibändigen Briefausgabe des Buberschen Briefwechsels; seit 1961 in engem Kontakt zu Martin Buber. I, 478 Schaeffer, Albrecht (1885-1950): dt. Schriftsteller. I, 523 Schasar, Salman, urspr. Salman Rubaschow (1889-1974): israel. sozialdemokratischer Politiker (Mapai) und Zionist russ. Herkunft; nach 1914 Studium der Philosophie und Geschichte in Berlin; Redakteur der Jüdischen Rundschau; in dieser

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Zeit befreundet mit Buber; 1924 Emigration nach Palästina; von 1963-1973 der dritte Staatspräsident Israels. II, 453 Scheler, Max (1874-1928): dt. Philosoph. II, 389, 603 Schiker, Friedrich (1894-1977): dt. Reformpädagoge. I, 547 Schiller, Friedrich (1759-1805): bedeutender dt. Dramatiker des Sturm und Drang sowie der Klassik; Verfasser kunstästhetischer Schriften. I, 614; II, 450 Schilpp, Paul Arthur (1897-1993): US-amerik. Philosoph; von 1939-1981 Herausgeber der Library of Living Philosophers. I, 20 Schimon ben Jochai (2. Jh.): bedeutender Rabbiner und Gelehrter der Mischna; angeblich Verfasser mehrerer rabbinischer und mystischer Werke. I, 474 Schimoni, David (1891-1956): hebr. Schriftsteller und Übersetzer. II, 110, 473 Schlosser, Friedrich Christoph (1771-1861): dt. Historiker. II, 398 Schmalenbach, Herman (1885-1950): dt. Sozialphilosoph. I, 302, 580 Schmidt, Karl Ludwig (1891-1956): dt. prot. Theologe. I, 52, 513, 541 Schmitt, Carl (1888-1985): dt. Staatsrechtler; bereitete mit seiner Theorie des Ausnahmezustands den nationalsozialistischen Terror vor; verteidigte 1935 die Nürnberger Rassengesetze. I, 55, 429, 470, 509, 519, 525, 554, 584, 675, 676; II, 156, 157, 545, 546, 662 Schmoller, Gustav von (1838-1917): dt. Jurist und Nationalökonom; 1881 Prof. der Staatswissenschaft an der Univ. Berlin. I, 427 Schneider, Lambert (1900-1970): dt. Verleger in Berlin; Anreger der Buber-Rosenzweig Übersetzung der Bibel; 1931-38 Leiter des Schocken Verlags; Hauptherausgeber der Schriften Bubers nach dem Zweiten Weltkrieg. I, 61; II, 363, 405, 406, 425-426, 480, 481, 482, 699 Schneller, Ernst (1890-1944): dt. Politiker; Reichstagsabgeordneter für die KPD; seit 1933 in Haft; 1944 Tod im KZ Sachsenhausen. I, 627, 630, 631, 641, 642, 646 Schocken, Gustav Gershom (1912-1990): israel. Journalist, Verleger und Politiker; Sohn ! Salman Schockens; langjähriger Herausgeber der israel. Tageszeitung Ha-aretz; Knesset-Abgeordneter (1955-1959). II, 440, 441, 442, 443 Schocken, Salman (1877-1959): dt. Kaufmann, Verleger und Zionist; Mitbegründer der von Buber geführten Zeitschrift Der Jude; 1931 gründete er in Berlin den Schocken Verlag; 1934 Emigration nach Palästina und Kauf der Tageszeitung Haaretz; 1938 Schließung des Berliner Schocken Verlages; 1940 Emigration in die USA. II, 383, 405, 406, 407, 440 Schoeps, Hans-Joachim (1909-1980). dt.-jüd. Historiker und Religionswissenschaftler. I, 660 Schoffmann, Gerschon (1880-1972): hebr. Schriftsteller. II, 590, 591, 592 Scholem Alejchem, eig. Schalom Rabinowitz (1859-1916): jidd. Schriftsteller; geb. in der Ukraine. II, 406 Scholem, Gershom (1897-1982): jüd. Religionshistoriker dt. Herkunft; in seiner Jugend von Buber beeinflusst; nahm später eine kritische Distanz zu ihm ein; Begründer der wissenschaftlichen Erforschung der jüd. Mystik; 1923 Emigration

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nach Palästina; ab 1933 Prof. für Jüdische Mystik an der Hebräischen Universität Jerusalem. I, 87, 90, 432, 559, 683, 684; II, 381, 382, 383, 406, 415, 623, 680 Schulze-Delitzsch, Hermann (1808-1883): dt. Sozialreformer, Politiker und Jurist; einer der Gründerväter des deutschen Genossenschaftswesens. II, 557 Schweitzer, Albert (1875-1965): dt.-franz. Arzt, prot. Theologe und Philosoph; Friedensnobelpreisträger von 1925; mit Buber befreundet. I, 44, 668; II, 621, 625 Schweitzer, Johann Baptist von (1833-1875): dt. Schriftsteller und sozialdemokratischer Politiker; Mitbegründer des Arbeiter-Bildungs-Vereins; seit 1864 Herausgeber und seit 1868 Eigentümer der Zeitschrift Der Sozialdemokrat. II, 531 Senator, Werner David (1896-1953): dt.-jüd. Politologe; neben Leon Judah Magnes, Martin Buber und Ernst Simon führendes Mitglied des Brit Schalom und der Ichud-Vereinigung; von 1949 bis zu seinem Tod Vizepräsident der Hebräischen Universität. I, 683; II, 428, 623 Servet, Miguel (franz. Michel) (1511-1553): prot. Theologe; von Calvinisten hingerichtet. I, 283, 575-576 Shakespeare, William (1564-1616): engl. Dramatiker und Dichter. I, 438, 491, 563; II, 167, 553 Shimoni, David (1891-1956): hebr. Dichter und Übersetzer. II, 110, 112 Shlonsky, Avraham (1900-1973): israel. Schriftsteller und Übersetzer russ. Herkunft; zionist. Pionier. II, 446, 472 Silone, Ignazio (1900-1976): ital. Schriftsteller. I, 508 Simmel, Georg (1858-1918): dt. Philosoph und Soziologe; verband in seinem Denken Neukantianismus und Lebensphilosophie; Lehrer und Förderer Bubers; besorgte den zweiten Band »Die Religion« in der von Buber herausgegebenen Reihe Die Gesellschaft. I, 18, 21, 25, 34, 38, 85, 86, 87, 88, 91, 424, 425, 426, 428, 430, 477, 498, 515, 580, 683, 684; II, 449-450 Simon, Ernst Akiba (1899-1988): dt.-jüd. Pädagoge und Philosoph; befreundet mit Martin Buber und ! Franz Rosenzweig; 1923-28 Redakteur der von Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude; 1928 Emigration nach Palästina; Mitglied des Brith Schalom; 1933-1935 Mitarbeit an Bubers Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung; 1950-1967 Prof. der Pädagogik an der Hebräischen Universität Jerusalem. I, 59, 516, 530, 543, 564, 598, 656, 667, 668, 678; II, 380, 381, 479, 673, 680 Singer, Kurt (1886-1962): dt.-jüd. Neurologe, Musikwissenschaftler und Vorsitzender des Jüdischen Kulturbundes. II, 384, 418 Sinzheimer, Hugo (1875-1945): dt.-jüd. Rechtwissenschaftler und sozialdemokratischer Politiker. I, 600, 601 Slánský, Rudolf (1901-1952): von 1945 bis 1951 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei; hingerichtet. II, 589 Smilanski, Mosche (1874-1953): hebr. Autor, Mitstreiter Bubers im Ichud. I, 67 Smith, Adam (1723-1790): schott. Philosoph; gilt als Begründer der Nationalökonomie. II, 267

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Snell, Bruno (1896-1986): einflussreicher dt. Klass. Philologe und Gräzist. II, 621622, 624, 625 Sohrab, Mirza Ahmad (1890-1958): pers.-US-amer. Schriftsteller. II, 431 Sokrates (469 v. Chr.-399 v. Chr.): griech. Philosoph. I, 199; II, 15, 262, 295, 389390, 399-400, 400 Sollmann, Wilhelm (1881-1951): dt.-US-amerik. Journalist und Politiker. I, 600 Sombart, Werner (1863-1941): dt. Soziologe und Ökonom; ab 1917 Prof. f. pol. Ökonomie in Berlin; Verfasser der kontroversen Schriften Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) u. Die Zukunft der Juden (1912). I, 85, 396, 423, 424, 426 Sorel, Georges (1847-1922): franz. Ingenieur und anarchistischer Sozialphilosoph. I, 91; II, 590, 605, 615, 617 Soret, Frédéric-Jacob (1795-1865): schweiz. Privatgelehrter. II, 452 Spencer, Herbert (1820-1903): engl. Soziologe; begründete den Sozialdarwinismus. I, 487 Spengler, Oswald (1880-1936): dt. Geschichtsphilosoph u. Kulturkritiker; Vertreter der sog. »Konservativen Revolution«; mit seinem Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes (2 Bde. 1918 u. 1922) wurde er schlagartig berühmt. I, 38, 55, 235, 445, 549 Spinoza, Baruch de (1632-1677): niederl. Philosoph; wegen seiner Schriften wurde 1656 gegen ihn durch die seph.-jüd. Gemeinde Amsterdams der Bann ausgesprochen. II, 25, 310, 311, 313, 314, 318, 324, 417 Spira, Theodor Otto (1885-1961): dt. Anglist; religiöser Sozialist; Mitglied der Bekennenden Kirche; 1940 zwangsemeritiert; Freund und Gesprächspartner von Buber. I, 45 Stählin, Otto (1868-1949): dt. Historiker der Jugendbewegung. I, 578 Stalin, Josef Wissarionowitsch (1878-1953): kommunistischer Politiker, seit 1922 Generalsekretär der KPdSU. II, 214, 236-239 Stammler, Georg, eigent. Ernst Emanuel Krauss (1872-1948): dt. Schriftsteller; insb. populär in Nazi-Deutschland; Vordenker der völkischen Jugendbewegung. I, 664 Stehr, Hermann (1864-1940): dt. Schriftsteller; Verfasser von Heimatromanen; polit. zunehmend völkisch-national; 1935 Mitglied des Reichskultursenats; zeitweise Freund Bubers. I, 423 Stein, Lorenz von (1815-1890): dt. Staatsrechtslehrer, Soziologe und Nationalökonom; einer der ersten Interpreten des franz. Sozialismus und Kommunismus. I, 91; II, 9, 10, 21, 134, 167, 267, 270-271, 387, 393, 394, 395, 525, 572 Stein, Heinrich Friedrich Carl vom und zum (1757-1831): preuß. Beamter, Staatsmann und Reformer. II, 620 Steinberg, Isaak (nicht ermittelt): I, 594-595 Steinbüchel, Theodor (1888-1949): bedeutender dt. katholischer Moraltheologe, Sozialethiker und Professor für Philosophie; religiöser Sozialist. I, 385-386, 652, 653, 653-654, 655

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Steiner, Rudolf (1861-1925): öster. Publizist und Esoteriker; Begründer der Anthroposophie. I, 192, 511 Steinman, Eliezer (1892-1970): in Russland geborener israel. Schriftsteller, Journalist und Herausgeber; 1924 Emigration nach Palästina. II, 446 Stenbock-Fermor, Alexander Graf (1902-1972): dt.-balt. Autor. I, 577 Stern, Avraham (1907-1942): Untergrundkämpfer gegen die Briten in Palästina; hingerichtet. II, 453, Stirner, Max, eig. Georg Caspar Schmidt (1806-1856): dt. Schriftsteller und Anarchist. I, 55, 566; II, 288, 302, 590, 617 Strauß, Eduard (1876-1952): dt.-jüd. Chemiker und Religionswissenschaftler; Dozent am Freien Jüdischen Lehrhaus. I, 443, 480 Strauß(-Eppstein), Hedwig: dt.-jüd. Sozialarbeiterin; seit 1934 Leiterin der Jugendalija; ermordet in Auschwitz. I, 228, 530 Strauss, Leo (1899-1973): Us-amerik. politischer Philosoph dt.-jüd. Herkunft. I, 91 Strauß, Ludwig (1892-1953): dt.-jüd. Schriftsteller und Germanist; Zionist; mit Bubers Tochter Eva verheiratet; 1935 Emigration nach Palästina. I, 432, 434, 450, 451, 476, 491, 497, 500, 508, 563; II, 478 Susman, Margarete (1872-1966): dt.-jüd. Philosophin, Dichterin und Journalistin; nach der NS-Machtergreifung Emigration in die Schweiz; gehörte dem Kreis um Leonhard Ragaz an; mit Buber befreundet. I, 491, 582-583, 583; II, 403, 415 Tagore, Rabindranath (1861-1941): ind. Dichter, Philosoph, Maler, Komponist; Universalgelehrter und Sozialreformer; für seine Lyriksammlung »Gitanjali« (Liedopfer) erhielt er 1913 den Nobelpreis für Literatur. I, 88, 201, 515; II, 366367, 701-702, 703 Tammuz, Benjamin (1919-1989): vielfach ausgezeichneter israel. Schriftsteller, Kinderbuchautor, Journalist, Kritiker, Maler und Bildhauer; Chefredakteur des Literaturfeuilletons der Tageszeitung Ha-aretz. II, 447 Tarde, Gabriel (1843-1904): franz. Kriminologe, Soziologe und Sozialpsychologe. I, 430; II, 272 Taubes, Jacob (1923-1987): schweiz.-jüd. Religionsphilosoph. I, 513 Taut, Bruno (1880-1938): dt. Architekt und Stadtplaner. I, 561 Tawney, Richard Henry (1880-1962): engl. Wirtschaftshistoriker, Sozialkritiker, christlicher Sozialist und ein bedeutender Befürworter der Erwachsenenbildung. II, 548 Themistokles (524 v. Chr.-459 v. Chr.): griech. Feldherr und Staatsmann. II, 295296 Thiers, Adolphe (1797-1877): liberal-konservativer franz. Politiker und Historiker. II, 535 Thomas von Aquino (um 1225-1274): Kirchenlehrer; bedeutendster Vertreter der Scholastik. I, 141, 473, 614, 654 Thomas Morus (1478-1535): engl. Staatsmann, Politiker (Lordkanzler), Philosoph, Autor und Humanist. II, 127, 520

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Thompson, William (1775-1833): ir. Philosoph, Schriftsteller und Sozialreformer; beeinflusste mit seiner frühen Kritik des Kapitalismus die Genossenschafts- und Gewerkschaftsbewegung sowie das Denken von Karl Marx. II, 60, 176, 455, 456, 496, 558 Thoreau, Henry David (1817-1862): US-amerik. Schriftsteller und Philosoph. I, 341, 613; II, 372, 704, 705 Thurneysen, Eduard (1888-1974): schweiz. evangelischer Theologe. I, 532 Tillich, Paul (1886-1965): dt. prot. Theologe; emigrierte 1933 in die Vereinigten Staaten und lehrte bis 1955 am Union Theological Seminary in New York; Vertreter des religiösen Sozialismus. I, 44, 337, 339, 385-386, 527, 531, 535, 536, 601, 606, 607, 627, 652 653, 655, 656, 675; II, 128, 418, 419-421, 430, 480, 520, 521, 580 Timoleon (411-337 v. Chr.): griech. Politiker und Heerführer. II, 16, 390, 401 Toepfer, Alfred Carl (1894-1993): dt. Industrieller. II, 620, 621-622 Toeplitz, Otto (1881-1940): dt.-jüd. Mathematiker. II, 428 Tönnies, Ferdinand (1855-1936): dt. Nationalökonom; Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) gilt als erste im eigentlichen Sinn soziologische Untersuchung. I, 19, 75, 76, 85, 91, 161, 162, 301, 428, 486, 580, 637; II, 11, 139, 181, 208, 267, 313, 394, 397, 559 Tolain, Henri (1828-1897): franz. Aktivist der Arbeiterbewegung. II, 538 Toller, Ernst (1893-1939): dt.-jüd. Schriftsteller, Dramatiker; linkssozialistischer Politiker und Pazifist; als Parteivorsitzender der bayerischen USPD bildet er 1918 gemeinsam mit ! Gustav Landauer, ! Erich Mühsam u. a. die 1919 ausgerufene Münchener Räterepublik. I, 440, 492, 506, 508 Tolstoi, Leo (1828-1910): russ. Schriftsteller. I, 161, 180, 234, 236-238, 344, 486, 497, 525, 548, 597, 616 Treitschke, Heinrich von (1834-1896): dt. Historiker; vertrat antisemitische Positionen. II, 414 Troeltsch Ernst (1865-1923): bedeutender dt. prot. Theologe, Kulturphilosoph und liberaler Politiker; Vertreter des Kulturprotestantismus; beteiligte sich aktiv am Aufbau des politischen Lebens der Weimarer Republik. I, 19, 85, 427 Trotzki, Leo (1879-1940): russischer Revolutionär. 219 Trüb, Hans (1889-1949): schweiz. Arzt und Psychotherapeut aus der Schule C. G. Jungs. I, 61, 507; II, 87, 89, 90, 469, 470, 477 Truman, Harry S. (1884-1972): US-amerik. Politiker der Demokratischen Partei; von 1945-1953 der 33. Präsident der Vereinigten Staaten. II, 462, 479 Tscherkesoff, Warlaam (auch Prinz Varlam Cherkezishvili) (1846-1925): georg. Politiker und Journalist. II, 527 Tucholsky, Kurt (1890-1935): dt. Journalist und Schriftsteller. I, 508 Ular, Alexander (1876-?): dt. Autor, Übersetzer, Herausgeber. I, 425, 426 Unamuno, Miguel de (1864-1936): span. Philosoph und Schriftsteller. 143, 532-533 Unger, Erich (1887-1950): dt.-jüd. Autor. I, 513

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Unruh, Friedrich Franz von (1893-1986): dt. Schriftsteller. I, 583 Usija, siehe Asarja. Ussishkin, Menachem Mendel (1863-1941): führender Zionist russ. Herkunft und einer der Pioniere der Bewegung; 1919 Einwanderung nach Palästina; seit 1920 langjähriger Präsident des Jüdischen Nationalfonds; Vorsitzender der Jewish Agency (1921-1923); Vorsitzender der Zionistischen Weltorganisation (19351941). II, 442 Vasari, Giorgio (1511-1574): it. Historiker und Architekt; Hofmaler der Medici; Verfasser von Biografien von Künstlern der Renaissance. II, 46 Verwey, Albert (1865-1937): niederl. Dichter, Prof. für Literatur und Literaturhistoriker; spielte eine wichtige Rolle im literarischen Leben der Niederlande im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. I, 426 Vico, Giambattista (1668-1744): ital. Historiker und Geschichtsphilosoph. II, 302, 668 Vierkandt, Alfred (1867-1953): dt. Soziologe, Ethnologe, Sozialpsychologe und Geschichtsphilosoph. I, 428 Wallace, Alfred Russel (1823-1913): brit. Naturforscher, Biologe, Geograf und Anthropologe. I, 487 Warburg, Otto Heinrich (1883-1970): dt. Biochemiker, Arzt und Physiologe; Nobelpreis für Medizin (1931). I, 621 Wasmuth, Ewald (1890-1963): dt. Philosoph. II, 425 Webb, Beatrice (1858-1943): engl. Sozialistin. II, 186 Weber, Alfred (1868-1958): dt. Nationalökonom und Soziologe; jüngerer Bruder von ! Max Weber; bei der Promotion von ! Franz Kafka leitete Weber die mündliche Prüfung; stand mit dem »Kreisauer Kreis«, einer bürgerlichen Widerstandsgruppe in Kontakt; Verleihung des Hansischen Goethe-Preises (1957). I, 91, 427, 579 Weber, Marianne (1870-1954): dt. Frauenrechtlerin und Rechtshistorikerin; Vorsitzende des »Bundes deutscher Frauenvereine« (1919-1923); Abgeordnete im Landtag der Republik Baden für die DDP (1919); Frau ! Max Webers. I, 402, 405, 409-410, 410, 411, 625, 628, 649, 666, 667 Weber, Max (1864-1920): dt. Soziologe, Sozialpolitiker und Nationalökonom; Arbeiten zur Verflechtung von Ökonomie, Herrschaft und Religion; Hauptwerk u. a. das postum erschienene Wirtschaft und Gesellschaft (1922). I, 19, 51, 75, 76, 85, 91, 429, 470, 509, 684; II, 11, 158, 240, 294, 363, 388, 396, 397, 407, 408-409, 414, 534, 547, 602 Weil, Simone (1909-1943): franz. Philosophin jüdischer Herkunft, Lehrerin und sozialrevolutionäre Aktivistin. II, 432 Weismann, Willi (1909-1983): dt. Verleger in der Nachkriegszeit. II, 481 Weitling, Wilhelm Christian (1808-1871): dt. Theoretiker des Kommunismus; in der Arbeiterbewegung engagiert; religiöser Sozialist. II, 119, 511, 513

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Weizmann, Chaim (1874-1952): jüd. Chemiker u. zionist. Politiker; 1920-1931 und 1935-1946 Präsident der Zionistischen Weltorganisation; 1949 erster israelischer Staatspräsident. I, 26, 69; II, 382 Weizsäcker, Viktor von (1886-1957): dt. Neurologe; lehrte an den Universitäten Heidelberg und Breslau; Mitbegründer der Psychosomatik und der anthropologischen Medizin; 1926-29 Mitherausgeber der Zeitschrift Die Kreatur zusammen mit Martin Buber und ! Joseph Wittig. I, 84, 579, 621 Weltsch, Felix (1884-1964): 1910-1939 Bibliothekar an der Prager Deutschen Universität; führender Zionist im deutschsprachigen Prager Judentum; 1939 Emigration nach Palästina; ab 1940 Bibliothekar an der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem. I, 26 Weltsch, Robert (1891-1982): israel. Publizist, Journalist und Zionist; Mitglied in der Prager Vereinigung Bar Kochba; 1919-1938 Chefredakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift Jüdische Rundschau; 1938 Emigration nach Palästina; nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er in England; ab 1955 Leiter des Londoner Leo Baeck Instituts. I, 20, 26, 439, 462, 501, 502, 503, 504, 587, 677, 681; II, 260, 410, 423, 462, 571 Whitman, Walt (1819-1892): US-amerik. Dichter. II, 167, 553 Wilde, Oscar (1854-1900): engl. Schriftsteller. I, 294, 577 Wilker, Karl (1885-1980): Reformpädagoge und Arzt; Direktor des Lindenhofes Berlin-Lichtenberg (Fürsorgeanstalt) und verschiedener anderer sozialpädagogischer Projekte; 1933 Emigration in die Schweiz. I, 222, 519, 525-526, 583, 585 William von Ockham (1288-1347): Philosoph der Spätscholastik. II, 266 Wittig, Joseph (1879-1949): dt. kath. Kirchenhistoriker, Priester und Schriftsteller; 1926 exkommuniziert; 1926-1929 Mitherausgeber der Zeitschrift Die Kreatur zusammen mit Martin Buber und ! Viktor von Weizsäcker; 1948 Aufhebung der Exkommunikation. I, 84, 548 Wohlthat, Helmuth (1893-1982): ranghoher dt. Beamter, insbesondere zur Zeit des Nationalsozialismus. II, 410 Wolff, Kurt (1887-1963): dt. Verleger; Gründer des Kurt Wolff-Verlages (19131940), des zu seiner Zeit wichtigsten Verlags für expressionistische Literatur in Deutschland. I, 478, 479 Wolff, Kurt Heinrich (1912-2003): dt.-jüd. Soziologe, seit 1939 in den Vereinigten Staaten. II, 350, 357, 695 Wolff, Wilhelm (1809-1864): dt. Publizist; befreundet mit ! Karl Marx u. ! Friedrich Engels. II, 511 Wolfskehl, Hanna (1878-1946): Frau von ! Karl Wolfskehls. I, 426 Wolfskehl, Karl (1869-1948): dt. Schriftsteller und Übersetzer; korrespondierte mit Buber. I, 426; II, 418 Woyslawski, Zwi (1889-1957): hebr. Schriftsteller und Übersetzer Bubers. II, 100, 381 Wundt, Wilhelm (1832-1920): dt. Physiologe und Psychologe. I, 28 Wyneken, Gustav (1875-1964): dt. Reformpädagoge. I, 561

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Zarathustra (2./1. Jt. v. Chr.): legendärer Religionsstifter des Zoroastrismus. II, 309, 665 Zedekija (ca. 618 v. Chr.-ca. 586 v. Chr.): Letzter König des Reiches Juda in der Königszeit Israels (Regierungszeit 597 bis 586 v. Chr.). I, 135 Zenon (333/332 v. Chr.-262/261 v. Chr.): griech. Philosoph; begründete die Stoa. II, 266 Zmora, Israel (1899-1983): israel. Publizist und Literaturkritiker. II, 446, 447 Zweig, Arnold (1887-1968): dt.-jüd. Schriftsteller; zionistisch orientiert; 1933 Emigration nach Palästina; 1948 Rückkehr nach Deutschland, wo er in der DDR lebte. I, 431, 432, 503, 587, 594; II, 430, 702 Zweig, Stefan (1881-1942): jüd.-öster. Schriftsteller; 1934 Emigration nach London; 1940 Emigration nach Brasilien; beging Selbstmord. I, 432, 433, 440, 441, 442, 451 Zwingli, Huldrych oder Ulrich (1484-1531): schweiz. Reformator. I, 293, 577