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German Pages 313 Year 2008
Martin Buber Werkausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Israel Academy of Sciences and Humanities herausgegeben von Paul Mendes-Flohr und Peter Schäfer
Gütersloher Verlagshaus
Martin Buber Werkausgabe 10 Schriften zur Psychologie und Psychotherapie Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Judith Buber Agassi
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MBW 10 (02686) / p. 5 / 13.12.2016
Inhalt Danksagung 9 Einleitung 11
Texte Von der Verseelung der Welt (1923) 29 Das Problem des Menschen (1943) Dritter Abschnitt: Die Lehre Schelers 37 Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre (1948) Vierter Abschnitt: Bei sich beginnen 39 Urdistanz und Beziehung (1950) 42 Heilung aus der Begegnung (1951) 54 Bilder von Gut und Böse (1952) II: Unser Ausgangspunkt 59 III: Das erste Stadium 60 IV: Das zweite Stadium 64 V: Das Böse und das Gute 67
Das existentielle Mißtrauen zwischen Mensch und Mensch (1952) 70
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Inhalt
Religion und Modernes Denken (1952) Zweiter Abschnitt 74 Erwiderung an C. G. Jung (1952) 86 Elemente des Zwischenmenschlichen (1954) 90 Dem Gemeinschaftlichen folgen (1956) 106 Schuld und Schuldgefühle (1957) 127 Nachwort zu Ich und Du (1957) Fünfter Abschnitt 153 Philosophische Befragungen (1964) Psychologie und Psychotherapie 155
Briefwechsel Briefwechsel mit Hans Trüb 159 Briefwechsel mit Hermann Menachem Gerson, Ronald Gregor Smith, Rudolf Pannwitz und Ernst Michel 175 Briefwechsel mit Ludwig Binswanger 179 Briefwechsel mit Maurice Friedman und Leslie H. Farber 185 Briefwechsel zwischen Robert C. Smith, Martin Buber und C. G. Jung 194
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Inhalt
Dialoge Das Unbewußte (1965) 217 Martin Buber und Carl Rogers (1965) 236
Kommentar 259
Anhang Abkürzungsverzeichnis 285 Quellen- und Literaturverzeichnis 287 Glossar 295 Stellenregister 297 Sachregister 299 Personenregister 305 Gesamtaufriß der Edition 209
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Danksagung Den Herausgebern der Martin Buber Werkausgabe, Paul Mendes-Flohr und Peter Schäfer, gilt mein Dank für die Einladung zur Mitarbeit. Paul Mendes-Flohr danke ich auch besonders für seine Vorschläge zu Einleitung und Kommentar. Mein besonderer Dank gilt Heike Krajzewicz, Leiterin der Arbeitsstelle der Martin Buber Werkausgabe in Berlin, für ihre freundliche und andauernde Zusammenarbeit. Ich bedanke mich auch bei Margot Cohn und den Mitarbeitern des Martin Buber Archivs in Jerusalem für die Benutzung von bisher unveröffentlichten Briefen von und an Buber. Für die Übersetzung einiger englischer Texte Bubers ins Deutsche danke ich Anna-Nina Widmer Mein Dank gilt den Verlegern von C. G. Jungs Collected Works für die Erlaubnis, sowohl Jungs »Antwort an Martin Buber« von 1952, als auch zwei der Antworten Jungs an Robert C. Smith, der sich 1960 mit identischen Fragen an Jung und an Buber gewandt hatte, abdrucken zu dürfen. Ich danke auch Professor Smith für seine Erlaubnis, seine gesamte Korrespondenz mit Buber und mit Jung zu veröffentlichen. Außerdem bedanke ich mich bei den Professoren Kenneth N. Cissna und Rob Anderson für die freundliche Erlaubnis, ihren Text der Transkription des Original-Tonbands des Dialogs zwischen Buber und Carl Rogers aus dem Jahr 1957 hier in Übersetzung veröffentlichen zu können. Schließlich danke ich den Mitarbeitern des Gestalt Instituts Köln für ihre großzügige Übersendung zahlreicher Texte, in denen Gestaltherapeuten den Beitrag Bubers zur Psychotherapie beschreiben und bewerten. Paul Roazen, der bekannte Historiker der Psychotherapie, war es, der mir mehrere Jahre vor dem Beginn des Projekts der Martin Buber Werkausgabe als erster vorschlug, Martin Bubers wichtigste Schriften zur Psychologie und Psychotherapie zu sammeln und zu veröffentlichen.1 Leider verstarb Roazen am 3. November 2005, sodaß er meinen Dank nicht mehr erhalten kann. Herzliya, Israel,im Juli 2008
1.
Judith Buber Agassi
Eine erste Sammlung erschien 1999 auf Englisch in der Martin Buber Library der Syracuse University Press: Martin Buber on Psychology and Psychotherapy. Essays, Letters and Dialogue, edited by Judith Buber Agassi, with an Introduction by Paul Roazen.
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Einleitung Martin Bubers lebenslanges Interesse an Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie war an seine philosophischen, religiösen, ethischen und anthropologischen Arbeiten gebunden. Er war weder Psychotherapeut noch Psychologe. Als junger Student hatte Buber 1897 und 1898 drei Semester Psychologie und klinische Psychiatrie studiert, zuerst in Wien bei Adolf Stoehr (1855-1921), dann in Leipzig bei Paul Flechsig (1847-1929), Max Heinze (1835-1906) und Wilhelm Wundt (18321920) sowie in Berlin bei Rudolf Lehmann (1887-1969), Friedrich Paulsen (1846-1908), Friedrich Schumann (1863-1940) und Georg Simmel (1858-1918)).1 Er plante jedoch nie ernsthaft eine professionelle Laufbahn in Psychiatrie. Ebenso entschied er sich in dieser Zeit gegen eine akademische Karriere. Erst 1923, als er bereits fünfundvierzig Jahre alt war, wurde Buber Lehrbeauftragter für Jüdische Religionswissenschaft und Ethik an der Universität Frankfurt am Main und einige Jahre später, 1930, Honorarprofessor für allgemeine Religionswissenschaft. Seine Interessen waren weit gefächert, und die große Vielfalt von Themen und Problemen, mit denen er sich befaßte, werden gewöhnlich als zu den Geistes- oder Gesellschaftswissenschaften gehörig klassifiziert. Auf anderen Gebieten las er, korrespondierte, schrieb oder hielt gelegentlich Vorträge. Während drei Jahrzehnten arbeitete Martin Buber hauptsächlich an zwei Aufgaben – der »Verdeutschung« der hebräischen Bibel und der Sammlung und Bearbeitung der chassidischen Geschichten. An der Hebräischen Universität Jerusalem, war er ab 1938 Professor für Sozialphilosophie, und nach seiner Emeritierung beschäftigte er sich intensiv mit Erwachsenenbildung. In seinen frühen Jahren war das Bild, das Buber von sich selbst hatte, das eines Schriftstellers, eines Dichters und eines ›Nachdichters‹, eines poetischen Übersetzers von Mythen. Er verdiente seinen Lebensunterhalt als Lektor im Verlagshaus Rütten und Loening, wo er zwischen 1906 und 1912 eine Serie von vierzig Monographien über soziale Phänomene, Institutionen, Bewegungen, Berufe, Handwerke und Moden herausgab, die den Titel Die Gesellschaft. Sammlung Sozialpsychologischer Monographien trug. Unter den Autoren waren mehrere der damals originalsten Denker deutscher Sprache, darunter Georg Simmel, Werner Sombart (18631941), Gustav Landauer (1870-1919), Fritz Mauthner (1849-1923), Fer1.
Siehe die »Aufstellung der von Buber 1896-1901 belegten Universitätsveranstaltungen«, in: MBW 1, Anhang, S. 301-304.
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Einleitung
dinand Tönnies (1855-1936), Eduard Bernstein (1850-1932), Ellen Key (1849-1926) und Lou Andreas-Salomé (1861-1937). Der Name der Serie bezeugt die damals vorhandene Durchlässigkeit der Grenzen zwischen den Gebieten der Soziologie und der Psychologie. 1908 wandte sich Buber mit der Bitte an Sigmund Freud (1856-1940), einen Beitrag für Die Gesellschaft zu schreiben, und schlug vor, ihn zu besuchen, um dieses Anliegen mit ihm zu besprechen. In einem kurzen, höflichen Brief ließ Freud die Möglichkeit eines Besuches Bubers offen, deutete aber auf gewisse Umstände hin, die ihn bedauerlicherweise von einem Beitrag für die Serie abhalten könnten. Lou Andreas-Salomé, die 1911 Mitglied in Freuds Zirkel wurde, hatte 1909 eine Monographie unter dem Titel Die Erotik für Bubers Gesellschaft verfaßt,2 und die Gespräche zwischen beiden über die Monographie markierten den Beginn einer Freundschaft zwischen Buber und Lou Andreas-Salomé. Sie war die erste, die Buber die Psychoanalyse nahezubringen suchte. Als er ihr später erzählte, daß er ein Buch gegen Freud zu schreiben beabsichtige, soll sie es gewesen sein, die ihm diesen Plan ausredete, indem sie behauptete, die Freudianische Psychoanalyse brauche noch Zeit zum Reifen.3 Ich hörte von Margot Cohn, die zuerst Bubers Sekretärin war und seit seinem Tod 1965 seinen Nachlaß im Martin Buber Archiv der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem betreut, daß Buber überzeugt gewesen war, er hätte einmal tatsächlich eine kritische Schrift über Freud verfaßt. Zu der Zeit, als er gerade dabei war, das Wertvollste unter seinen noch unveröffentlichten Manuskripten für den Band Nachlese (1965) zur Veröffentlichung vorzubereiten, bat er Margot Cohen, auch nach dem Manuskript dieser kritischen Schrift über Freud zu suchen, da er es in Nachlese mit aufnehmen wollte. Als sich die Suche als erfolglos erwies, war er darüber sehr enttäuscht. In seiner Korrespondenz fuhr Buber aber fort, Freud zu kritisieren, vor allem dessen Standpunkt zur Religion, wie Freud ihn in Die Zukunft einer Illusion (1927) ausgedrückt hatte, und erklärte seine Absicht, darüber zu schreiben.4 Hermann Menachem Gerson (1908-1984) hatte Buber um Rat gebeten, wie einem anti-religiösen Anhänger ›Freudscher Illusionsanschauung‹ zu antworten sei. Buber antwortete ihm, daß es »darauf ankommt, der Ratio mit rationalen Mitteln die Erfahrungen ihrer eigenen unaufhebbaren Grenzen aufzunötigen«.5 2. 3. 4. 5.
Vgl. Lou Andreas-Salomé, Die Erotik, Frankfurt am Main 1910. Persönliche Mitteilung an Grete Schaeder. Siehe B I, S. 94. Siehe den Brief an Hermann Gerson vom 30. August 1928; in diesem Band unten S. 175. Siehe ebd.
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Einleitung
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Später, in einem Brief an Gerson vom 23. April 1937, beginnt Buber, auch Freuds zentrales Konzept der Schuldgefühle zu kritisieren: »Bei Erkrankungen der ›Seele‹ [wird] der Begriff der Therapie selber zweideutig und problematisch und klärungsbedürftig. Wenn X statt seines fleischernen Herzens, das ihn unerträglich schmerzte und peinigte (u. d. h. mahnte, stachelte usw.) ein zuverlässiges Uhrwerk bekäme, das gar nicht mehr weh täte, wäre er ›geheilt‹ ?« 6 Eine Gruppe junger jüdischer Einwanderer nach Palästina, die aus Deutschland kamen, formten die kollektive Siedlung Hazorea und traten einer Kibbutzföderation bei (Hakibbutz Ha’arzi – Hashomer Hazair), deren Mitglieder damals dogmatisch einer sowohl marxistischen als auch freudianischen Weltanschauung anhingen. Gerson, der früher stark von Buber beeinflußt worden war, war einer der ideologischen Anführer von Hazorea. Buber diskutierte mit ihm nicht gegen die Psychoanalyse als solche, sondern gegen den extremen Dogmatismus ihrer philosophischen Schule, die nur anscheinend fortschrittlich und kritisch sei. In der Einleitung zu seiner Abhandlung Moses aus dem Jahr 1948 macht Buber eine Bemerkung zu Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion von 1939.7 Er schreibt dort: »Dass ein auf seinem Gebiet so bedeutender Forscher wie Sigmund Freud sich entschliessen konnte, ein so völlig unwissenschaftliches, auf grundlosen Hypothesen haltlos gebautes Buch wie ›Der Mann Moses und die monotheistische Religion‹ (1939) zu veröffentlichen, ist verwunderlich und bedauerlich.« 8 Aus seiner Schrift »Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre«9 wird ersichtlich, daß sich Bubers Kritik an der rein analytischen Methode der Therapie entwickelt hatte. Es handelt sich in diesem Abschnitt um Wege der Erklärung des Ursprungs des Konflikts zwischen den Menschen. Buber schreibt: »[…]; oder man geht analytisch vor und sucht die unbewussten Komplexe zu erforschen, zu denen sich jene Motive [für einen Streit] nur wie Symptome einer Krankheit zu den organischen Schäden selber verhalten.« 10 Im Gegensatz dazu sagt er über die chassidische Lehre: »Der grundsätzliche Unterschied besteht darin, dass die chassidische Lehre nicht auf die Untersuchung einzelner seelischer Komplikationen ausgeht, sondern den ganzen Menschen meint.« Und 6. Siehe den Brief an Hermann Gerson vom 23. April 1937; in diesem Band unten S. 175. 7. Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen, Amsterdam 1939. 8. Martin Buber, Moses, Zürich: Gregor Müller 1948, S. 7. Erscheint in MBW 13. 9. Ein Auszug daraus in diesem Band, S. 39-41. 10. In diesem Band, S. 39.
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Einleitung
weiter: »Vielmehr handelt es sich hier um die Erkenntnis, dass Herauslösen von Teilelementen und Teilprozessen aus dem Ganzen der Erfassung der Ganzheit hinderlich ist und dass zu wirklicher Wandlung, zu wirklicher Heilung zunächst des Einzelnen und sodann des Verhältnisses zwischen ihm und seinen Mitmenschen, nur die Erfassung der Ganzheit als Ganzheit führen kann.«11 In einer in New York am 6. April 1952 gehaltenen Rede über »Das existentielle Mißtrauen zwischen Mensch und Mensch« 12 erklärt Buber gewisse Theorien von Freud und Karl Marx (1818-1883) – die das Bild vom Menschen bei vielen verändert hätten – als Ursache des Anwachsens des Mißtrauens zwischen den Menschen. Es gebe kaum noch ›Zwiesprache‹ – d. h. unmittelbares Anhören und Antworten – zwischen den Menschen der beiden großen Lager des Kalten Krieges. Als Theorie Freuds erwähnt Buber nur kurz die vom ›Komplex‹, wobei wohl der Ödipus-Komplex gemeint ist. Erst 1957 veröffentlichte Buber in seiner Schrift »Schuld und Schuldgefühle«13 seine ausführliche Kritik an Freuds Grundeinstellungen auf diesem Gebiet. Freud kenne nur »Schuldgefühle«, deren Ursprung die Verletzung eines gesellschaftlichen Tabus sei, und nicht das Bewußtwerden einer ungesühnten »existenziellen Schuld«. Die Beziehung zwischen Buber und Carl Gustav Jung (1875-1961) war anderer Art. Jung könnte 1923 Bubers Vorlesung im Psychologischen Klub Zürich 14 gehört haben.15 Hans Trüb (1889-1949), ein Schweizer Psychoanalytiker und Psychotherapeut, der Buber 1923 in Amersfoort kennengelernt hatte, war damals ein Schüler Jungs, mit ihm befreundet und ein praktizierender jungianischer Psychiater. Er hatte Buber eingeladen, im Psychologischen Klub kurz nach der Veröffentlichung von Ich und Du eine Vorlesung zu halten. Damals begannen die Freundschaft und der regelmäßige Briefwechsel zwischen Trüb und Buber. Der Titel 11. 12. 13. 14.
In diesem Band, S. 40. In diesem Band, S. 70-73. In diesem Band, S. 127-152. Der Psychologische Klub Zürich wurde 1916 auf Initiative von C. G. Jung nach etwa drei Jahren relativer Isolation infolge seines Bruchs mit S. Freud gegründet. Er diente Jung als wichtigstes interdisziplinäres Forum zur Vorstellung und Diskussion seiner Archetypenlehre und zur Entwicklung der Analytischen Psychologie. Dank Jungs charismatischer Persönlichkeit und seines Ideenreichtums zog der Klub viele berühmte Wissenschaftler an und wurde zum Vorbild für ähnliche psychologische Klubs in anderen Städten. In dem Jahr von Bubers Vortrag leitete Hans Trüb das Präsidium des Klubs. 15. Siehe den Brief Bubers an Hans Trüb vom 18. Oktober 1923, in diesem Band, S. 159.
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Einleitung
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von Bubers Vorlesung in Zürich lautete »Von der Verseelung der Welt«, und sie befaßte sich mit einer Kritik verschiedener Formen von »Psychologismus.« (Wie aus dem Brief Bubers an Trüb vom 18. 10. 1923 hervorgeht, hatte Buber als alternativen Titel »Psychologie und Ontologie« vorgeschlagen. 16 ) Der Text dieser Vorlesung existierte lange nur als unveröffentlichter Entwurf und wurde erst 1965 in der schon erwähnten Sammlung Nachlese veröffentlicht. »Von der Verseelung der Welt« enthält zwei zum Thema dieses Bandes sehr relevante Abschnitte – einen über die analytische Methode, der die Annahme unterstützt, daß Buber zu diesem Zeitpunkt Jungs Methode für eine verdienstvolle und offensichtlich Freuds vorzuzuiehende hielt, und einen zweiten, in dem Buber zum ersten Mal, Jahrzehnte vor den anderen erhaltenen Schriften, seine Ansicht über die Wichtigkeit seiner dialogischen Philosophie für die Psychotherapie formuliert. Der Vortrag von 1923 erscheint in diesem Band als die erste von Bubers Schriften zum Thema Psychologie und Psychotherapie. Leben und Werk Bubers und Jungs scheinen sich an verschiedenen Punkten gekreuzt zu haben, aber über ein wirkliches Gespräch oder eine Korrespondenz zwischen ihnen ist nichts bekannt. Emma Jung (18821955), Carl Gustav Jungs Ehefrau, nahm an Bubers Vortragsreihe über »Glaube an die Wiedergeburt« an der Akademie Amersfoort in den Niederlanden im Sommer 1925 teil. Das bestätigt ihre Postkarte vom 25. Dezember 1925 an Buber, wo sie schreibt: »Mit den besten Wünschen für das neue Jahr und in dankbarer Erinnerung an Amersfoort grüßt Sie Emma Jung.« Jung und seine Frau waren auf der III. Internationalen Pädagogischen Konferenz des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung – The New Education Fellowship im Sommer 1925 in Heidelberg anwesend, auf der Buber den Hauptvortrag – seine »Rede über das Erzieherische« 17 – hielt. Man begegnete sich wohl, doch die vorherrschende Konferenzatmosphäre erschwerte echte Gespräche. 18 . Laut Maurice Friedman (geb. 1921) schrieb Buber am 14. August 1932 an Hans Trüb, er habe in den letzten Jahren einige Schriften Jungs gelesen, die einen positiven Eindruck auf ihn gemacht hätten. 19 Unglücklicherweise ist dieser Brief nicht mehr auffindbar. Wie Friedman erwähnt, hatte Buber vor, sich mit Jung im Frühling 1933 zu treffen. Buber war eingeladen worden, auf der Zweiten Internationalen Eranos Konferenz in As16. 17. 18. 19.
Siehe ebd. Siehe MBW 8 (Schriften zu Jugend, Erziehung und Bildung), S. 136-154. Vgl. den Brief Bubers an Hans Trüb vom 14. August 1925; in diesem Band, S. 159 f. Siehe Maurice Friedman, The Worlds of Existentialism: A Critical Reader, New York 1991, S. 335.
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cona über »Sinnbildliche und sakramentale Existenz im Judentum« 20 zu sprechen. Die jährlich stattfindende Eranos Konferenz war 1933 von Jung gegründet worden. Nach 1934 wurde Buber nicht mehr eingeladen, dort zu sprechen. Viele Jahre später, als er und seine Frau nach Bubers erster Europa-Vorlesungsreise nach dem Zweiten Weltkrieg im Spätsommer 1947 in Ascona Urlaub machten, hielt sich Jung ebenfalls in Ascona auf, doch er und Buber trafen sich nicht. Ein kritisches Interesse an Jungs Ansichten nahm einen wichtigen Platz in Bubers allgemeinem Interesse an Psychopathologie und Psychotherapie ein. Während Buber offensichtlich viele von Jungs Schriften gelesen hatte, hat sich Jung seinerseits wohl nie intensiver mit Bubers Werk und seinen Anschauungen auseinandergesetzt. Dies geht aus Jungs Antwort auf Bubers Kritik an seinem »Gnostizismus«, die Buber in »Religion und Modernes Denken«21 formuliert hat, und noch mehr aus seinen Antwortbriefen an Robert C. Smith hervor. 22 Die Entwicklung von Bubers Gedanken und Argumenten zur Psychologie und Psychotherapie läßt sich gut in seinem intensiven Briefwechsel mit Hans Trüb verfolgen. Trüb wurde ein enger Freund Bubers, und es kam zu zahlreichen persönlichen Begegnungen zwischen beiden. Die Freundschaft dauerte von 1923 bis zu Trübs Tod im Jahr 1951. Als analytischer Psychologe beschäftige sich Trüb hauptsächlich mit der menschlichen Begegnung von Arzt und Patient. Er versuchte, die Distanz zwischen ihm als Arzt und dem in seinem Sprechzimmer vor ihm stehenden Patienten aufzuheben. Er begründete dies damit, daß das Selbst des Menschen im Grunde ein religiöses Wesen sei, so daß er und sein Patient in einem gemeinsamen »Angerufensein« vor Gott stünden. Die ärztliche Aufgabe muß für Trüb demnach auf das Spirituelle des Patienten gerichtet sein. Dieses ist durch Krankheit verschüttet worden, und die Aufgabe des Arztes besteht darin, das Spirituelle wieder zu heilen. Die spirituelle Beziehung zur Welt müsse in diesem Prozeß neu gestaltet werden. Die therapeutische Methode, die Trüb dafür anwandte, war das, was Buber ›Dialog‹ nennt. Trübs Hauptwerk, Heilung aus der Begegnung, wurde erst nach seinem Tod von seinen beiden engen Mitarbeitern – und gemeinsamen Freunden von ihm und Buber –, Ernst Michel (1889-
20. Aufgenommen in: Martin Buber, Die chassidische Botschaft, Heidelberg: Lambert Schneider 1952. Der Text wird in Band 17 der MBW aufgenommen. 21. Die für die Thematik dieses Bandes relevanten Auszügen hieraus sind abgedruckt in diesem Band, S. 74-85. 22. Siehe in diesem Band, S. 194 ff.
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1964) und Arie Sborowitz (1899-1986), herausgegeben. Buber schrieb das Geleitwort. 23 Buber und Trüb beschäftigten sich mehr als fünfundzwanzig Jahre gemeinsam mit psychoanalytischen und psychotherapeutischen Fragen. Drei Jahre nach seiner Vorlesung vor dem Psychologischen Klub in Zürich gründete Buber eine interkonfessionelle, richtiger: überkonfessionelle Zeitschrift, Die Kreatur, zusammen mit dem Katholiken Josef Wittig (1879-1949) und dem Protestanten Viktor von Weizsäcker (1886-1957). Buber bat Trüb, einen Aufsatz für die Kreatur zu schreiben. Sein Beitrag erschien in zwei Teilen: »Eine Szene im Sprechzimmer des Artzes« und »Aus einem Winkel meines Sprechzimmer.« 24 Trüb hatte diesen Aufsatz als Weiterführung eines Beitrages von Viktor von Weizsäcker, »Krankengeschichte«, 25 betrachtet. Ein Neurologe wie Weizsäcker betrachtet Arzt und Patient als »kreatürliches« Ich und Du. Deshalb steht der Arzt vor einer Antinomie, einem existentiellen Paradox: Er begegnet dem Patienten als Mitmensch, der kein reines Objekt der medizinischen Behandlung sein kann, aber trotzdem muß er die Krankheit des Patienten wissenschaftlich diagnostizieren. Solche »asymmetrischen Situationen« der dialogischen Begegnungen waren auch für Buber eine Hauptfrage. Dank Trüb war Buber noch mit zwei weiteren bedeutenden Psychologen befreundet. Arie Sborowitz, ebenfalls ein Schüler Jungs, hatte eine psychotherapeutische Praxis in Jerusalem. Er versuchte, die geistigen Grundlagen Bubers und Jungs in Dialog zu setzen. 26 Durch Hans Trüb lernte Buber auch den Schweizer Psychiater Ludwig Binswanger (1881-1966) kennen. In seinem Werk Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins 27 entwickelt er seine eigene therapeutische Methode, die »Daseinsanalyse«, die eine Verbindung von Psychoanalyse und Existenzphilosophie herzustellen versucht. Diese Methode orientiert 23. Siehe in diesem Band, S. 54-58. 24. Die Kreatur, 3. Jg., 1929/30, S. 53-60, S. 403-420. 25. Die Kreatur, 2. Jg., 1927/28, S. 455-473; siehe auch: Weizsäcker, Der Arzt und die Kranke. Stücke seiner medizinischen Anthropologie, in: Die Kreatur 1. Jg., 1926/27, S. 69-86; ders., Die Schmerzen, in: Die Kreatur, 1. Jg., S. 315-335. 26. Siehe A. Sborowitz, Beziehung und Bestimmung. Die Lehren von Martin Buber und C. G. Jung in ihrem Verhältnis zueinander, in: Psyche. Eine Zeitschrift für Tiefenpsychologie und Menschenkunde in Forschung und Praxis, 2. Jg. (1948), S. 9-56; ders., Beziehung und Bestimmung. Die Lehren von Martin Buber und C. G. Jung in ihrem Verhältnis zueinander, Heidelberg 1948 u. Darmstadt 1955. 27. Ludwig Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, Zürich 1942.
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sich an Bubers Auffassung der Ich-Du Begegnung als eine zwischenmenschliche ontologische Realtität, und nicht an den Wahrnehmungen der Teilnehmer (Relata) der Begegnung. 28 Der erste Teil dieses Bands umfaßt insgesamt vierzehn Schriften oder Auszüge aus Schriften Bubers. Sie erscheinen hier chronologisch, gemäß ihres Entstehungsdatums. Der erste Text, Bubers 1923 in Zürich gehaltener Vortrag »Von der Verseelung der Welt«, ist das früheste Zeugnis für eine intensive Beschäftigung Bubers mit Problemen der Psychotherapie und fällt in die Phase der Entwicklung und Formulierung seines dialogischen Prinzips in seinem Hauptwerk Ich und Du. Die folgenden drei Texte bzw. Textauszüge entstanden alle in den 1940er Jahren bis einschließlich 1950: 1943 der Abschnitt »Die Lehre Schelers«29 aus Bubers Schrift »Das Problem des Menschen«, 1948 der Abschnitt »Bei sich beginnen« aus seinem Werk Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre und 1950 der Aufsatz »Urdistanz und Beziehung«. Es folgen anschließend fünf Texte, die Buber alle in den Jahren 1951 und 1952 verfaßte: »Heilung aus der Begegnung«, Bilder von Gut und Böse, woraus in diesem Band Auszüge zum Abdruck kommen, die Rede »Das existentielle Mißtrauen zwischen Mensch und Mensch«, der Abschnitt über Jung aus der Abhandlung »Religion und modernes Denken« sowie die »Erwiderung an C. G. Jung«, die wiederum eine Replik auf Jungs Reaktion hinsichtlich Bubers Ausführungen in »Religion und modernes Denken« darstellt. Da Jungs Antwort zum Verständnis von Bubers »Erwiderung« unerläßlich ist, kommt der Text Jungs im Kommentar zu Bubers »Erwiderung an C. G. Jung« vollständig zum Abdruck. 30 In der zweiten Hälfte der 50er Jahre entstanden die Schriften »Elemente des Zwischenmenschlichen«, 1954, und »Dem Gemeinschaftlichen folgen«, »Schuld und Schuldgefühle« sowie das »Nachwort zu Ich und Du« in den Jahren 1956 und 1957. Aus letzterem kommt nur der für die Thematik dieses Bandes relevante fünfte Abschnitt zum Abdruck. Am Schluß des ersten Teils der Texte dieses Bandes steht ein Auszug aus den Philosophischen Befragungen, die 1964 erschienen. Diese vierzehn Schriften Bubers behandeln alle die Bedeutung der Philosophie des Dialogs für die Psychologie, die Psychopathologie und die Psychotherapie und enthalten Bubers Kritik an zentralen Lehren von Freud und Jung. 28. Ebd., S. 16 ff., 21, 29-34, 46 f., 57, 82 ff., 85 f., 97 ff., 105 f., 130-133, 163, 166 f., 210215, 234 f., 264 f. 29. Max Scheler (1874-1928). 30. Siehe in diesem Band, S. 266-274.
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Der übergreifende Titel der drei Vorlesungen und des Seminars, die Buber Anfang 1957 an der Washingtoner School of Psychiatry hielt, lautete: »Was kann Philosophische Anthropologie zur Psychiatrie beitragen?« Er schloß dabei die Schriften »Urdistanz und Beziehung« und »Elemente des Zwischenmenschlichen« als Teile dieser philosophischanthropologischen Grundlage mit ein. Der Aufsatz »Dem Gemeinschaftlichen folgen« sowie Teile der Bilder von Gut und Böse stellen die philosophisch-anthropologische Vorbereitung für »Schuld und Schuldgefühle« – Bubers ausführlichste Kritik an Freud – und für seine Theorien zum Unbewußten und zu Träumen dar. Der Text »Heilung aus der Begegnung« wurde zuerst als Geleitwort zu einem posthumen Buch von Hans Trüb, das unter dem selben Titel erschien, veröffentlicht, erschien aber dann bald auch separat. Von »Das Problem des Menschen« wird hier nur der Abschnitt, in dem Buber Max Schelers Annahme von Freuds Konzepten der Verdrängung und der Sublimierung kritisiert, abgedruckt. Ebenso ist von der Schrift Bilder von Gut und Böse in diesem Band nur der Teil enthalten, der für Psychologie und Psychotherapie relevant ist. Der Text »Religion und Modernes Denken« erschien zuerst in der Zeitschrift Merkur und wurde dann als fünftes Kapitel in den Band Gottesfinsternis aufgenommen. 31 Er ist hier vom zweiten Paragraphen an abgedruckt. Jungs Replik und Bubers Antwort auf diese Replik erschienen beide ebenfalls im Merkur. Bubers Schrift Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre aus dem Jahr 1948 enthält einen kurzen kritischen Vergleich der psychoanalytischen Theorie mit der chassidischen Art, mit dem Problem von Konflikten innerhalb der Familie umzugehen. Da gerade dieser Abschnitt unter dem Titel »Bei sich beginnen« auf verschiedene Psychotherapeuten nachhaltigen Einfluß ausgeübt hat, wird auch er in diesen Band aufgenommen. Aus dem »Nachwort zu Ich und Du« kommt nur der für die Psychotherapie wichtige fünfte Abschnitt zum Abdruck, der von der Mutualität im Ich-Du Verhältnis handelt. Auch der letzte Text dieses ersten Teils des Bandes stellt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem 1964 veröffentlichten Band Philosophical Interrogations dar. Buber beantwortet hier zwei Fragen zu Psychologie und Psychotherapie. Der Band erschien auf Englisch, da Bubers ursprüngliche, auf deutsch geschriebene handschriftliche Antworten aber erhalten sind, werden diese hier abgedruckt. Der zweite Teil des Bandes, der die für Bubers Auseinandersetzung mit Fragen der Psychologie und Psychotherapie bedeutsame Korrespondenz 31. Martin Buber, Gottesfinsternis, Zürich: Menasse 1953.
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Bubers umfaßt, beginnt mit dem Briefwechsel zwischen ihm und Hans Trüb. Vor allem Bubers Reaktion auf Trübs praktische therapeutische Erfahrungen und seine Bemühungen, die darauf gerichtet waren, eine Alternative zu Jungs Ideen zu formulieren, stehen hier im Vordergrund. Bubers Freundschaft mit Hans Trüb führte ihn zu regelmäßigen Kontakten und Briefwechseln auch mit verschiedenen anderen Theoretikern und Praktikern der Psychotherapie. Einige relevante Passagen aus Briefen an Rudolf Pannwitz (1881-1969), Ludwig Binswanger und Ernst Michel werden darum in diesem Band ebenfalls abgedruckt. Der Briefwechsel mit Binswanger ist besonders interessant, weil Buber darin ausführlich seine Ablehnung der Lehren der Existenzialisten erklärt. Mit allen diesen Korrespondenten tauschte Buber Veröffentlichungen aus und diskutierte mit ihnen nicht nur seine Kritik an Jung, sondern auch seine Sorge um den richtigen Platz des Glaubens in der Theorie und der Praxis der Psychotherapie. Bubers langjähriger Briefwechsel mit Hermann Menachem Gerson enthält etliche Briefe, die Freud und die Freudianische Psychoanalyse betreffen. Diese kommen hier zum Abdruck. 1936 erhielt Buber einen Brief eines schottischen Geistlichen, Ronald Gregor Smith (1913-1968), der nach dem Einfluß und der Bedeutung von Bubers Schriften vor allem für die protestantische Theologie fragte. Bubers Antwort an Ronald Gregor Smith vom Dezember 1936 enthält einen Abschnitt, in dem er auf die Schriften Trübs als Beispiele der Anwendung seiner dialogischen Philosophie für die Behandlung psychologischer Probleme hinweist und Trübs Schriften auflistet. Nach der Veröffentlichung mehrerer seiner Schriften in den Vereinigten Staaten und seinen Vorlesungen dort erhielt Buber im März 1956 eine Einladung, im folgenden Jahr für einige Wochen an der School of Psychiatry in Washington D.C. zu unterrichten. Der Briefwechsel mit dem Direktor der Schule, Leslie Farber (1912-1981), und mit Maurice Friedman, der intensiv in die Vorbereitungen und die Organisation dieses Besuches Bubers involviert war, 32 werden in diesem Band abgedruckt. Buber nahm die Einladung nach Washington an und unterrichtete dort im März und April 1957. Die Korrespondenz mit Farber und Friedman illustriert die Ansichten und Erwartungen der amerikanischen Gastgeber Bubers einerseits, sowie andererseits Bubers Überlegungen und seine thematische Auswahl, als er zum ersten Mal dazu aufgefordert wurde, 32. Friedmann war ebenfalls am Zustandekommen und der Durchführung des öffentlichen »Dialogs»mit Carl Rogers beteiligt, der am 18. April 1957 in Ann Arbor stattfand und im dritten Teil dieses Bandes abgedruckt ist. Siehe in diesem Band, S. 236-258.
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seine Lehren speziell einer Gruppe amerikanischer Psychologen und Psychiater zu präsentieren und sie mit ihnen zu diskutieren. Der Briefwechsel zwischen Robert C. Smith, Martin Buber und C. G. Jung, der den Abschnitt mit Bubers Korrespondenz zu Psychologie und Pschotherapie abschließt, ist etwas anders zu charakterisieren, als die zuvor genannten Briefwechsel. 1960 schickte Robert C. Smith, ein junger amerikanischer protestantischer Geistlicher und Doktorant an der Temple University, parallel an Buber und an Jung eine ausführliche Liste mit Fragen, um Informationen für seine geplante Dissertation über »Religious Knowledge and Experience in the Writings of Carl Jung and Martin Buber« zu sammeln.33 Ein lebhafter Briefwechsel folgte. Dieser Austausch erwies sich für Buber als Gelegenheit, seine Position gegenüber Jung auszubauen. Smith schickte an Buber auch Kopien seiner eigenen Briefe an Jung sowie drei Antworten Jungs an ihn, woraufhin Buber dann auch auf Jungs Position, wie dieser sie in den Briefen an Smith dargestellt hatte, antwortete. Buber las und kommentierte kurz Smiths Dissertation und gab die Erlaubnis, aus diesem Briefwechsel zu zitieren und seine Briefe in der Dissertation abzudrucken. Doch als Jung sich ausdrücklich weigerte, Smith ebenfalls eine solche Erlaubnis zu erteilen, mußte Buber seine Reaktionen auf Jungs Briefe von seiner Erlaubnis ausschließen. Nach Jungs Tod 1961 und Bubers Tod vier Jahre später veröffentlichte Smith Auszüge seiner Briefe an Buber und Bubers Antworten an ihn in der Review of Existential Psychology and Psychiatry. 34 Originale und Kopien des gesamten Briefwechsels verbleiben im Martin Buber Archiv. Später wurden die erste und die dritte Antwort Jungs an Smith in Jungs Collected Letters (Gesammelte Briefe) veröffentlicht. Freundlicherweise gewährten die Herausgeber die Erlaubnis, sie im von mir redigierten Band Martin Buber on Psychology and Psychotherapy 35 abzudrucken. Somit wurden dort fast alle relevanten Teile dieses Briefwechsels in chronologischer Abfolge zum ersten Mal veröffentlicht und erscheinen nun auch in diesem Band. Vom Jungs drittem Brief an Smith wird eine kurze Zusammenfassung abgedruckt.
33. Die Doktorarbeit von Robert C. Smith erschien unter dem Titel: A Critical Analysis of Religious and Philosophic Issues Between Buber and Jung, Temple University, 1961. Eine Zusammenfassung dieser Arbeit ist zu finden in: Barbara D. Stephens, The Martin Buber-Carl Jung Disputations: Protecting the Sacred in the Battle for Boundaries of Analytical Psychology, in: Journal of Analytical Pyschology, 46/3 (July 2001), S. 455-491. 34. 6. Jg., Heft 3, Herbst 1966. 35. Syracuse 1999.
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Einleitung
Von den meisten Briefen, sowohl denen von wie an Buber, bringt der Band nur Auszüge, da sie nur in Teilen für das Thema dieses Bandes relevant sind. Der dritte Teil dieses Bandes besteht aus zwei besonderen Texten – aus »Dialogen« besonderer Art. Beim ersten Text handelt es sich um das Protokoll, das Maurice Friedman während der drei Sitzungen des Seminars über »Das Unbewußte« anfertigte. Dieses Seminar wurde von Buber an der School of Psychiatry in Washington D.C. im März und April 1957 gehalten. Obwohl Buber der Hauptredner war, wurden auch über 30 Beiträge von Teilnehmern, eine Gruppe amerikanischer Psychotherapeuten, mit dokumentiert. Ihre Beiträge inspirierten Buber, erweiterten und schärften seinen Vortrag. Soviel mir bekannt ist, war dies das einzige Mal, daß Buber es unternahm, einem professionellen Publikum seine eigenen Ansichten über Psychologie vorzutragen. Er präsentierte den Zuhörern seine Ideen über das Unbewußte, insbesondere seine Vorstellung, daß das Unbewußte sowohl eine physiologische wie eine psychologische Dimension sei. Darüber hinaus sprach Buber über seine Vorstellungen vom Geist, vom Selbst, von den Träumen, der Verdrängung, der freien Assoziation, der Hypnose und der Übertragung. Dabei schlug er nicht eine neue, mit den bestehenden konkurrierende psychotherapeutische Methode vor, sondern er behandelte vielmehr hauptsächlich zwei Thesen. Erstens: Das Unbewußte ist nicht das, was Freud und Jung annahmen. Zweitens: Die vorgefaßten Kategorien und Methoden der Interpretation, die in der professionellen Psychotherapie angewandt werden, gefährden die Unmittelbarkeit der Begegnung von Patient und Heilpraktiker. Buber kritisierte außerdem, daß Freud keiner der Kritiken an seinen frühen Hypothesen nachgegangen sei, und daß seine Anhänger an diesen Hypothesen dogmatisch hingen. Nach Bubers Rückkehr nach Israel 1958 bat ihn Maurice Friedman, die Aufzeichnungen des Seminars über »Das Unbewußte« zu einer Monographie zu erweitern. Buber beabsichtigte dies dann auch. 36 Als es sich während seiner letzten Krankheit abzeichnete, daß er diese Arbeit nicht werde vollenden können, gab er die Erlaubnis, die bestehenden Aufzeichnungen vom Washingtoner Seminar sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch zu veröffentlichen.
36. Seine Briefe an Binswanger von 1962 bezeugen, daß er sich damals mit Problemen der Schizophrenie und der Paranoia beschäftigte. Siehe in diesem Band, S. 179-184.
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Der zweite Text der »Dialoge« basiert auf einem Transkript eines aufgezeichneten Dialogs zwischen Martin Buber und Carl Rogers (19021987), der vor Publikum an der University of Michigan in Ann Arbor am 18. April 1958 stattfand. Das hier zugrunde liegende Transkript der ursprünglichen Tonbandaufnahme ist weitaus genauer als die Fassung, die von Maurice Friedman, dem Initiator dieses Treffens, zunächst veröffentlicht worden war. Die Version, die in diesem Band zum Abdruck kommt, wurde von Kenneth N. Cissna (University of South Florida, Tampa) und Rob Anderson (St. Louis University, St. Louis, Missouri), beide Professoren der Kommunikationswissenschaften, erstellt und auch in Buchform veröffentlicht. 37 Hier erscheint dieser genauere Text zum ersten Mal vollständig in deutscher Übersetzung. Da Buber zuerst Bedenken gegen einen Dialog vor einem Publikum und auch gegen eine Tonbandaufnahme des Dialogs hatte, war es ein Glücksfall, daß es Maurice Friedman doch noch gelang, Buber davon zu überzeugen, den öffentlichen Dialog abzuhalten und ihn sogar aufzeichnen zu lassen. Das Resultat war eine recht unbeschwerte, jedoch sehr detaillierte und vorsichtige Exposition von Bubers Ideen über die Anwendung der dialogischen Methode in der Psychotherapie. Das ist bemerkenswert, da der Gesprächspartner in diesem Dialog der berühmte Gründer der Methode der sogenannten »client-centered«-Therapie war. Überraschenderweise erscheint Buber hier pragmatischer und bescheidener in seinen Ansprüchen an die dialogische Methode als der führende amerikanische Praktiker Carl Rogers. Buber faßte seine Ansichten über die Bedeutung der dialogischen Methode, über »Umfassung«, sowohl als auch über die Unmöglichkeit der vollkommenen Mutualität in der Psychotherapie, die er in diesem öffentlichem Dialog mit Carl Rogers ausgedrückt hatte, kurze Zeit danach in dem Abschnitt über Psychotherapie seines »Nachwort zu Ich und Du« von 1957 zusammen. Ich möchte nun versuchen, diese Einleitung mit einer kurzen Zusammenfassung von Bubers Hauptbeiträgen zur Diskussion über Probleme der Psychologie, der Psychopathologie und der Psychotherapie abzuschließen. Buber selber zog die Bezeichnung »philosophische Anthropologie« für die meisten seiner Schriften, die diese Probleme behandeln, derjenigen der »Psychologie« und der »Psychiatrie« vor. Er verwendete die Bezeich37. Mein herzlicher Dank gilt Prof. Cissna und Prof. Anderson für die freundliche Erlaubnis, ihren Text in diesem Bande abdrucken zu dürfen.
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nung »Anthropolog« für den dialogischen Therapeuten. Buber sah in der »dialogischen Beziehung« das wichtigste Element des Mensch-Werdens und des Mensch-Seins. Daher sprengte er die konventionelle Einteilung des Studiums des Menschen in »individualistisch« und »kollektivistisch«. Schon früh erklärte er, alle Erkrankungen der Seele seien Krankheiten der Beziehung. Später, 1952, beschrieb Buber in der Rede »Hoffnung für diese Stunde«, aus der der Abschnitt »Das existenzielle Mißtrauen zwischen Mensch und Mensch« in diesem Band abgedruckt ist, eine gefährliche Massenerkrankung in der Epoche des Kalten Krieges. Das existentielle Mißtrauen mache den Dialog zwischen Menschen aus den zwei Lagern unmöglich. Die Theorien, die diesem Mißtrauen ihre Begründung und Rechtfertigung geben würden, seien diejenigen von Marx (Klassenbewußtsein) und diejenigen von Freud (Ödipus-Komplex). Vier Jahre später beschrieb Buber in »Dem Gemeinschaftlichen folgen« zwei zur Mode gewordene gesellschaftliche Tendenzen, die zur psychichen Erkrankung beitragen würden: einerseits die Flucht aus dem gemeinschaftlichen Leben durch das Einnehmen von Rauschgiften, im besonderen Mescalin, und andererseits die Flucht in das Kollektiv. Während drei Jahrzehnten entwickelte Buber sein Hauptprinzip der Psychotherapie: »Heilung aus der Begegnung«. Die Heilung psychischer Erkrankungen erfordere, daß der Therapeut eine dialogische Beziehung mit dem Klienten/Patienten anstrebe, ihn als Person – und nicht als Objekt – behandele, ihn in seiner gegenwärtigen Form »bestätige« und ihn in seiner potentiellen Entwicklungsform »umfasse«. Buber betonte, daß in dieser dialogischen Beziehung zwischen Therapeut und Klient/Patient keine vollkommene Mutualität erreicht werden könne. Ein zentrales Thema von Bubers Kritik an Freud und an Jung ist deren Leugnung der Fähigkeit des Menschen, die eigenen Taten moralisch zu beurteilen und sich seiner »existentiellen Schuld« bewußt zu werden. Buber nannte das die »existentielle Schuld«, was ein Mensch auf sich lädt, der dem Anderen realen Schaden zufügt. Freud dagegen kennt nur »Schuldgefühle«, deren Ursprung in der Verletzung eines gesellschaftlichen Tabus und besonders im unterdrückten Wunsch nach Vatermord (Ödipus-Komplex) zu suchen sei. Während Buber darauf hinweist, daß existentielle Schuld psychische Erkrankung verursachen, und daß diese nur durch reale »Sühne« wirklich geheilt werden kann, meint Freud, daß es genüge, den Ursprung der »Schuldgefühle« aus dem Unbewußten heraufzuholen. Während Freud Religion als »Illusion« abtut, spricht Jung religiösen Vorstellungen, bewußten sowohl wie unbewußten, großen Einfluß auf
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das Seelenleben zu. Doch macht er keinen Unterschied zwischen religiösem Glauben an einen guten Gott, dem man verpflichtet ist, das Gute zu tun, und dem bewußten oder unbewußten Glauben an oder der Furcht vor Dämonen und dem Teufel, der bei seelisch Kranken sehr häufig sei. Buber, der eine direkte Verbindung zwischen der Tatsache, daß Menschen sich von Gott angesprochen fühlen, und der für ihn über alles entscheidenden menschlichen Fähigkeit zu »Zwiesprache«, zu dialogischen Beziehungen zu anderen Menschen, sah, hielt Jungs »Gnostizismus« für eine falsche und schädliche Einstellung zur Religion – besonders bei einem so einflußreichen Psychologen und Psychotherapeuten. Verschiedene andere wichtige Themem und Probleme der Psychotherapie beschäftigten Buber, und er begann, sich kritisch mit ihnen auseinander zu setzen, doch schloß er diese Arbeit nicht ab: 1. a) Buber nennt als Ursachen der psychischen Erkrankungen nur zwei: erstens, die »existentielle Schuld«, und zweitens, das Bewußtwerden davon, daß man den Weg im Leben verloren hat. b) Es gibt bei Buber keinerlei Aussage über Traumata in der Kindheit, Traumata durch die Erfahrung von Krieg, Terror, Gewalt, Vergewaltigung oder über die mögliche Rolle von physiologischen (vielleicht ererbten) Ursachen der psychischen Erkrankung. 2. Charakteristika und Unterschiede in der Behandlung von psychotischen und neurotischen Erkrankungen: Im Kontrast zu Freud erwähnte Buber hier keinen prinzipiellen Unterschied und erwog ernstlich die Möglichkeit der Anwendung der dialogischen Methode auch in der Therapie von institutionalisierten Psychotikern. Er erkundigte sich wiederholt bei praktizierenden Therapeuten nach deren Erfahrung. Während Carl Rogers dazu nur sehr oberflächlich und optimistisch antwortete, beschrieb Leslie Farber seine eigenen Erfahrungen mit der »dialogischen« Behandlung von institutionalisierten schizophrenen Patienten in zwar tragikomischer, doch auch recht pessimistischer Form. 38 Aus Bubers eigener Erfahrung mit Bekannten in seinem Umfeld, die an psychotischen Erkrankungen litten, wußte er, daß Schizophrene sich eine ihnen eigene Welt bilden, in der sie sich zumindest zeitweise abschließen; er bezeugte auch, daß bei Menschen, die an Schizophrenie leiden, lange Perioden der Rückkehr in das »normale Leben« möglich seien, wobei ihm aber kein einziger Fall einer endgültigen Heilung eines Schizophrenen bekannt sei.
38. Paul Arthur Schilpp u. Maurice Friedman (Hrsg.), Martin Buber – Philosophen des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1963, S. 524-531.
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In den früheren Jahren seiner Beschäftigung mit Themen der Psychologie und Psychotherapie betonte Buber mehrmals, daß er gar keine Kritik an den wissenschaftlichen Methoden üben wolle, die durch die psychoanalytischen Schulen entwickelt worden waren. Auch später ging er weiter davon aus, daß auch der »dialogische« Therapeut Methoden seiner Wahl anwenden werde, und unterzog diese Methoden keiner detaillierten Kritik. Doch aus seiner kritischen Diskussion über die Natur der Träume und des Unbewußten läßt sich eine grundlegende Kritik Bubers an der psychoanalytischen Methode der ›Introspektion‹ und der Übertragung erkennen. Diese kritische Auseinandersetzung Bubers fand 1957 im Seminar der School of Psychiatry in Washington statt und geht auch aus seinen späten Antworten in den Philosophical Interrogations hervor. Über Träume sagt Buber im Seminar über »Das Unbewußte«: »Es gibt keine Gemeinschaft mit dem Träumenden.«39 Über das ›Unbewußte‹ sagt er dort: »Die Annahme, das Unbewußte sei entweder Körper oder Seele ist unbegründet. Das Unbewußte ist ein Zustand, aus dem diese zwei Phänomene noch nicht hervorgegangen sind und in dem beide noch nicht voneinander unterschieden werden können.«40 Seine daraus folgende Kritik an der Methode der »Übertragung« (transference) lautet: »Wenn das Unbewußte nichts Psychisches ist, das im Untergrund aufbewahrt wird, sondern eben ein Stück Körper-Seelen-Dasein, kann es überhaupt nicht hervorgeholt werden, wie es vorher war. […] [Der Patient] holt herauf, was nach seinem Gefühl von ihm gewollt wird.« 41 In den »Philosophischen Befragungen«, erschienen 1964, erklärte Buber zwar, daß seine Bemerkungen kaum eine »Methode« genannt werden könnten, doch war er bereit, seine Kritik an der »sogenannten Introspection« kurz zu formulieren und sie mit der »anthropologischen« Methode der Reflexion der Erinnerung, die er demgegenüber empfiehlt, zu vergleichen. In diesen »Befragungen« beantwortet Buber die Frage nach der Unterscheidung von neurotischen Schuldgefühlen und existentieller Schuld nur sehr kurz: Der wesentliche Platz der neurotischen Schuldgefühle sei im Unbewußten, während sich der wesentliche Platz der existentiellen Schuld im Gedächtnis befinde. Seine Hauptkritik wendet sich gegen den »Pseudo-Therapeuten«, für den der Patient ein Objekt der Untersuchung und der Manipulation sei. 39. Siehe in diesem Band, S. 224. 40. Siehe in diesem Band, S. 219. 41. Siehe in diesem Band, S. 228 f.
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Solch ein Therapeut übersieht gewöhnlich den Unterschied zwischen neurotischen Schuldgefühlen und existentieller Schuld. Offensichtlich beabsichtigte Buber, die Diskussionen und die Kritik an den Methoden der Psychoanalyse weiter zu entwickeln und zu veröffentlichen. Dies bezeugt seine Korrespondenz aus dieser Zeit, besonders die Briefe an Ludwig Binswanger. Eine reichhaltige und langjährige Literatur belegt den Einfluß Martin Bubers auf mehrere Schulen der Psychotherapie. 42
42. Siehe das Literaturverzeichnis in diesem Band, S. 288-294.
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Von der Verseelung der Welt 1 Entwurf zu einem frei gehaltenen Vortrag im Psychologischen Klub Zürich Das, wovon wir sprechen, ist etwas, was nicht außerhalb von uns besteht, sondern in unserm Leben. Aus diesem Leben heraus muß es immer wieder berichtigt werden, aus diesem Leben heraus muß immer wieder Zeugnis dafür abgelegt werden, wenn wir in die Tiefe des Gegenstandes dringen wollen. Verseelung der Welt: Die Einbeziehung der Welt in die Seele, die Überführung der Welt in die Seele, aber nicht jede, sondern nur die, die so weit geschieht, daß das Wesentliche dadurch gestört wird. Dieses Wesentliche ist das Gegenüberstehen von Ich und Welt. Daß die Welt mir und ich ihr gegenüberstehen und daß zwischen uns das Wirkliche geschieht, dieses wesentliche Grundverhältnis, von dem unser Leben seinen Sinn bekommt, wird verletzt, wenn die Welt so weit in die Seele hineingezogen wird, daß ihre unpsychische Realität verwischt, daß dieses fundamentale Verhältnis des Ich zur Welt aufhört, ein Verhältnis von Ich zu Du werden zu können. (Dabei können wir für Welt auch setzen das Sein.) Nach dieser wesentlichen Störung wäre etwa die Welt nur etwas in mir, womit ich mich wohl befassen kann, wie mit andern Dingen in mir, zu dem ich aber nicht rechtmäßig, nicht in voller Wahrheit Du sagen kann. Dieses Faktum der Verseelung kann auch mit einem philosophischen Ausdruck Psychologismus 2 genannt werden. Es handelt sich aber hier nicht um eine Weltanschauung, wie Psychologismus sonst eine ist, sondern es ist eine Tatsache, die fast in jedem Menschen heute besteht. Die Wirklichkeit in der sich der unverbildete Mensch vorfindet, ist die Wirklichkeit eines unmittelbaren Zusammenhangs von Ich und Welt, ein 1. 2.
Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 259. Psychologismus bezeichnet einen philosophischen Standpunkt insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach welchem alle Wirklichkeit aus Daten der Psychologie, der inneren Erfahrung besteht und aufgebaut ist. Für diesen Standpunkt sind die Geisteswissenschaften wie Philosophie, Logik, Ethik und Ästhetik nur Teilgebiete der Psychologie.
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Zusammenhang, der aber kein Verschmolzensein, kein Vermischtsein bedeutet, sondern einen Zusammenhang der Relation. Er beruht darauf, daß Ich und Welt deutlich voneinander getrennte Wesenheiten sind. Der Bogen der Beziehung erhebt sich gleichsam auf diesen zwei deutlichen einzelnen Pfeilern. Dieses natürliche Verhältnis wird im Lauf der Entwicklung leicht verdunkelt, indem einerseits der Menschengedanke die Welt in die Seele hineinzieht (kosmische Phänomene werden als psychische aufgefaßt, sie sind einer Funktion, von der Seele des Menschen abhängig), anderseits indem die Seele hineingezogen wird in die Welt und erscheint als ihr Produkt, als etwas aus ihr Herausgewachsenes, aus ihr evolutionär verständlich. Dieses Doppelspiel des Menschengedankens wird durch ein Faktum gefördert: dadurch, daß, so abgehoben auch die zwei Pfeiler gegeneinander stehen, es doch eine wechselseitige Einbezogenheit von Ich und Welt gibt. Der Psychologismus in seiner geläufigsten Form betrachtet die Welt als eine Vorstellung. Der Kosmologismus betrachtet die Seele als ein Element, ein Produkt der Welt. Zu diesem Faktum a müssen wir noch sagen: Die Welt ist freilich auch meine Vorstellung, d. h. ich habe sie auch als Vorstellung, nur, daß das Wesenhafte an ihr in meine Vorstellung nicht eingeht – der Seinscharakter der Welt geht nicht in sie ein. b Und umgekehrt, wenn die Seele aus der Welt heraus begriffen wird, bleibt das Wesenhafte der Seele (das Ich) draußen, wird in die Welt mit einbezogen. (Statt Wesenhaftes des Ich sagen wir auch der Selbstcharakter des Ich.) Es ist so, daß diese wechselseitige Einbezogenheit: Seele–Welt und Welt–Seele, besteht, aber die Wesenhaftigkeit des einen und des andern wird dabei unberührt gelassen. Nun entsteht die Frage: Sind diese zwei Aspekte, die sich bei gewisser Entwicklungshöhe des Menschen einstellen und die zueinander gehören, sind das nun Dinge, die zur Wahl stehen, sind es Gegensätze, zu denen es kein Drittes gibt, das diese Gegensätzlichkeit überwölbt, aufhebt? Ist es so, daß diese Fiktivierungen des Seins sein müssen, obschon dabei ein Verhältnis von Welt zu Seele unmöglich gemacht wird? Ich glaube das nicht. Heute zwar können wir nur hindeuten auf dieses Dritte, das uns befreien kann von beiden, es ist noch nicht einmal in der Form eines Bildentwurfes faßbar. Die Anschauung, die die Einbezogenheit von Ich und Welt sieht als Ganzes und dieses Ganze einbettet in das wirkliche Sein (die Anschauung, die die Wirklichkeit so wahrhaft sieht, daß diese Einbezo-
a. b.
Typoskript: Faktum, das wir oben erwähnten, müssen Typoskript: eingeht (der Seinscharakter geht nicht in eine Vorstellung).
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genheit in ihr Platz hat), ist eine größere Auffassung von der Wirklichkeit als die, die wir gewohnt sind. b Die Wirklichkeit, in der die Begriffe psychisch und kosmisch aufgehen, das ist die pneumatische 3 Wirklichkeit (nach einem religiösen Wert). Diese Wirklichkeit als das Seiende gefaßt, als das Seiende gefaßt, in das alles Psychische und alles Kosmische und alles Gegenüber und alle Einbezogenheit der beiden eingebettet sind, können wir mit aller Vorsicht und Selbsteinschränkung für einen Augenblick als Ontologismus 4 zu den zwei: Psychologismus und Kosmologismus als Drittes, Vereinigendes aufstellen. Aber wachsam! Selbsteinschränkung! Genaue Kenntnis der Grenzhaftigkeit dessen, was man sagt! Was wir besprechen, ist ein Problem, keine Antwort. Vielleicht sind immerhin Winke für die Antwort oder Ahnungen dabei. Seelenbegriff: Ist der Mensch wirklich aus Seele und Körper zusammengesetzt? Fühlt man sich wirklich aus zweierlei bestehen? Ich nicht! Natürlich gibt es zwei Aspekte, ich nehme mich sinnenhaft wahr und auch unsinnenhaft von innen. Das sind aber nur zwei Arten von SichVorfinden, aber ob es wirklich zweierlei ist? Woher ist diese Zweiteilung entstanden?c Aus dem Faktum des Todes und unserm Verhältnis dazu. Wir sind geneigt, das Geheimnis des Todes abzustumpfen. Wir sind geneigt zu sagen, daß eben einfach diese Zweiheit auseinandergeht. Wir wissen aber vom Tod nur, daß er das Ende unseres vorstellbaren Seins ist. d Wohl müssen wir aber auch wissen, daß wir nicht sterben können, aber wir dürfen das Nicht-sterben-Können nicht anders begrifflicher machen als so, daß es das Geheimnis an sich ist, daß es sich im Geheimnis begibt. Aber nirgends finden wir hier eine Rechtmäßigkeit der Zweiteilung. Dennoch wissen wir von seelischen Phänomenen: Denken, Fühlen, Wollen usw., was ist das? Ist das so wie Körper? Sind sich diese zwei Aspekte darin gleich, daß dieses zweite, wie der Körper, solange das Leben währt, dem Ich zugehört? – Und wirklich: da ist ein Auseinandergehen. 3. 4.
a. b. c. d.
Pneumatisch, von griech. ›pneuma‹, aus Gott stammend, Gott-artig im Gegensatz zu materiell, vom Demiurgen abstammend. Ontologismus heißt die Lehre, wonach das Seiende und insbesondere Gott unmittelbar durch seine Idee, d. h. durch eine Selbstoffenbarung im Geist erfaßt werde. Diese Lehre baut darauf auf, daß das absolute Sein selbst Objekt unmittelbarer geistiger Intuition sei und daß sich jede Philosophie auf Offenbarung, d. h. auf objektive Wesenheiten stützen müsse. Typoskript: das ist die größere Auffassung Typoskript: als das was wir gewöhnlich haben. Typoskript: entstanden: Typoskript: ist. Er ist das Ende! Aufhören! Wir müssen aber auch wissen,
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Fassen wir den Körper ichhaft und die Seele ichhaft, dann sind es nur zwei Aspekte. Ist aber nicht einer dieser Innenaspekte über die Ichhaftigkeit hinaus? – Ja wohl. Wenn wir tiefer das betrachten, was wir die seelischen Phänomene nennen, in ihrer Wesenhaftigkeit, so finden wir, daß sie alle und daß ihr Zusammenhang hinweisen auf etwas, was nicht ichhaft verstanden werden kann, daß auch die Phänomene der Einsamkeit, der scheinbaren Einzelheit, in Wirklichkeit auf etwas über den einzelnen Hinausgehendes hinweisen a . Wenn auch eine große Zahl von Phänomenen so erscheinen, als ob sie außerhalb der Beziehung zwischen Ich und dem Andern stehen, so sind auch diese Phänomene nur dynamisch aus dem Faktum der Beziehung entstanden und durch dieses Faktum verständlich. Begriff des Geistes: Geist und Seele sind beide gleichsam Beziehungsflächen, beide nicht ichhaft zu verstehen, es sind verschiedene Formen der Beziehung in ihrer Abgezogenheit auf das Ich betrachtet. Seele ist aus der Beziehung zu verstehen zwischen Mensch und Welt, Geist aus der Beziehung zwischen Mensch und dem, was nicht Welt ist, zwischen Mensch und dem Sein, das nicht welthaft erscheint, das nicht in der welthaften Erscheinung aufgeht. – Beides aber, Seele und Geist, sind nicht aus dem isolierten Einzelnen zu verstehen, nicht ichhaft zu verstehen, nur aus der Beziehung zwischen Ich und welthaftem oder nicht welthaftem Sein. Beiden eigentümlich ist die Dynamik, d. h., daß sie in einer anhaltenden sich entwickelnden Doppelbewegung stehen, in der Entfaltung oder Verwirklichung der Beziehung und in dem Sich-zurückziehen oder Zurückgezogen-werden des Ich aus der Beziehung (der Geist ist b darin verschieden von der Seele, daß Geist hinweist auf etwas, woraus er stammt, hinweist darauf, daß sich immer wieder etwas neu erhebt, was von je in einer nicht individuierten, unbedingten Weise besteht. Das ist zu zart, um mehr darüber sagen zu könnenc .) – Damit ist die Ichhaftigkeit der Seele gebrochen: sowie die Seele ichhaft aufgefaßt wird, wird sie schon in Ablösung aufgefaßt, in Abstraktion, nicht in der vollen Existenz. Verseelung d der Welt: Abziehung, Versuch der vollständigen Ablösung der Seele aus einem beziehungshaften Grundcharakter. Dieser Versuch geht darauf zurück, daß der Geist in dem Zustand der höchsten Differenzierung sich auf sich zurückzubiegen geneigt ist, d. h., daß der Geist in dem Maße seine Individuation zu vergessen, zu verleugnen geneigt ist, a. b. c. d.
Typoskript: hinweisen und darauf herauskommen. Typoskript: ist dem Unterschiede gemäß darin Typoskript: zu sagen. Typoskript: Nun Verseelung
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daß er nicht im Menschen (im Ich), sondern zwischen den Menschen und dem, was nicht Mensch ist (was nicht Welt ist) besteht. Dann wird das Sein verseelt, in die Seele des Menschen hineingelegt. Die Welt steht nicht mehr der Seele gegenüber. Das ist der Seelenwahn des Geistes. An Stelle der Seele, welche eine Beziehungsfläche zwischen Mensch und Welt ist, wird eine alles durchdringende (alles zu Seele verwandelnde) Substanz geschaffen. Dieses Faktum ist der eigentliche Abfall. Erst hier geschieht der Abfall. Wie tritt der Psychologismus hervor? Wir unterscheiden den philosophischen und den naiven Psychologismus. Philosophischer Psychologismus: Er ist die Fundierung der philosophischen Disziplinen (das, was die Methoden bestimmt, das Kriterium begründet). Er ist grundlegend heute, auch da, wo scheinbar ein anderer Ausgangspunkt gewählt werden kann oder gewählt wird. Im Grunde wird immer wieder versucht, auf das zurückzugehen, was man als das Reale, nicht Wegzuleugnende ansieht, auf das Psychologische. (»Ich meine nicht etwas, was außerhalb der Seele besteht.«) Auch metaphysische Anschauungen werden psychologisch legitimiert. Es wird gesagt, welche seelischen Funktionen ihnen entsprechen. So ist es auch im ethischen, im ästhetischen Bereich.a Zum Beispiel die Ästhetik: Es wird vergessen, daß wir in eine Welt eintreten, wenn wir zu dem Kunstwerk gehen, daß wir wirklich in etwas Neues kommen; es wird dieses Werk, dieses Sein aufgesogen und behauptet, es bestehe in uns. Man erkennt nicht, daß es ist und daß es vorher nur nicht gehabt wurde von uns. Es heißt den Sinn zerstören, wenn man die Relation in das aufnehmende Subjekt hineinlegt. Naiver Psychologismus: Es ist merkwürdig wenig Bewußtheit dabei. b Die Menschen befassen sich wenig mit dieser Erscheinung. Eine spielhafte Vorform: Der Mensch denkt sich immer alles als durch ihn und in ihm geschehend. (»Die Landschaft ist ein Seelenzustand«, sagt Amiel 5 ); das ist eine Verbildung c des echten Naturgefühls. Etwas anderes ist, wenn man die Zweiheit vergißt und so stark die Beziehung erlebt, daß diese stärker gespürt wird als die Existenz des einzelnen von den zwei. So wird auch mit Gott gespielt 5.
Tagebucheintrag vom 31. 10. 1852: »Eine Landschaft ist ein Seelenzustand, wer in beiden lesen kann, ist überrascht, Übereinstimmendes in jeder Einzelheit zu finden.«; Tagebucheintrag vom 11. 4. 1868: »Mich überkommt ein seliges Wohlsein, ich genieße die Freuden ruhiger Betrachtung, meine Seele wird zur Seele der Landschaft, der Gegend und fühlt in sich eine Vielheit von Leben.« In: Henri-Frédéric Amiel, Tagebücher, München u. Leipzig 1905.
a. b. c.
Typoskript: auch in ethischen, in ästhetischen. nicht im Typoskript: dabei. Typoskript: ist die Einlbildung des
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(Rilke). In der Jugendbewegung wird gesprochen von dem Verhältnis zwischen Mensch und Wirklichkeit, dabei sind die Menschen alle geneigt, das als etwas mit ihrer Person Verknüpftes zu betrachten, es entsteht ein gewisser Meinheitscharakter aller Auffassungen in der Jugendbewegung. (Als Beispiel: Erörterung einer tragischen Angelegenheit zwischen Menschen immer wieder durchflochten von den Sätzen, die anfingen: »Meine Art … Mein Blut … Mein Schicksal usw.«) – Etwas Ähnliches ist die Tatsache, daß viele Menschen in ihrer innern Einstellung davon bestimmt werden, wie sie anderen Menschen erscheinen, daß sie alles zurückbeziehen auf das Bild, das sie im andern erzeugen. Sie leben nicht vom Kern aus, nicht zu dem andern hin, sondern vom Bild aus, das sie im andern erzeugen. – Und die Erotik: fast durchweg nur differenzierter Selbstgenuß. Der andere Mensch wird nicht in seinem Leben vergegenwärtigt, nicht als das andere Leben mit seinem Recht empfangen. Was elementar wahrgenommen wird, ist das, was sich in der eigenen Seele ereignet. – Auch die Versuche des geistigen Lebens, des religiösen Lebens, sind vom gleichen Gift durchseucht. Der Ausdruck Expressionismus ist bezeichnend: nicht in der Verbindung zwischen mir und der Form, der ich zustrebe, sondern im Ausdruck dessen, was in mir sich begibt, wird das Wichtige gesehen. Darum wird die wirkliche Anknüpfung zerstört. Nur aus dem Glauben an das Nicht-Ich kann ich anknüpfen, ich muß auf das Andere schauend, horchend erfüllend zugehen. Aktive Form des Psychologismus: Verhältnis des heutigen Menschen zu sich selbst: Wie nimmt der Mensch sich selbst wahr? Erstens durch Selbsterfahrung: sie wird erlebt im natürlichen Wachstum des Bewußtseins. Das, was zwischen mir an dieser Beziehungsfläche der Seele (zwischen mir und der Welt) in seiner Dynamik (Zueinander, Auseinander, Einsam-werden) aufsteigt und zu Bewußtsein wird, das ist Selbsterfahrung eines durch natürliches Wachstum des Bewußtseins Erworbenes. Hier greift keine Willkür ein. Zweitens: Selbstbeobachtung: das ist ein Eingriff, sie will das Wachstum befördern und vereitelt es. Sie führt nicht zu tieferer Selbsterfahrung, sondern zersetzt sie. Was man so scheinbar erfährt, ist nicht die Wirklichkeit, sondern Verändertes. Es ist keine Erfahrung, sondern Bearbeitung. Erfahren kann man nur willkürlos. Ähnlich ist es mit Seelenerfahrung (ein Glück, ein Geschenk; sie gibt einem Künstler Größe) und Seelenbeobachtung (kann fleißig geübt werden, gibt aber nur Talent).
6.
Rainer Maria Rilke, Geschichten vom lieben Gott, Leipzig 1913.
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Wissenschaftliche Form des Psychologismus: Sie äußert sich in der analytischen Methode, genauer dem »Analytismus«, welcher diese Methode als allgemeingültig anwendet, welcher also nicht mehr weiß, daß es eine Methode und nur vorläufig brauchbar ist, um immer bereit zu sein, geopfert zu werden. Wenn die Analyse sich nach Synthese sehnt, ist sie nicht so. Wenn der Mensch weiß, jetzt muß ich dies tun, ich muß z. B. Motive suchen, obwohl ich weiß, daß es keine Motive gibt, ich muß z. B. das Seelenleben zerlegen, obschon es eine Einheit ist, das ist kein Analytismus. In dieser weisen Beschränkung, ich möchte das gerne betonen, ist mir die analytische Methode gerade von Vertretern der hier herrschenden Richtung 7 oft entgegengetreten, als wahre wissenschaftliche Methode. a Hier noch ein Wort zur Problematik auf dem Gebiet der Psychotherapie: Die Krankheiten der Seele sind Krankheiten der Beziehung. Sie könnten vollständig nur behandelt werden, indem ich den Bereich des Patienten transzendiere und die Welt dazunehme. Wenn der Arzt übermenschliche Macht hätte, müßte er die Beziehung selber zu heilen versuchen, im Dazwischen heilen. Der Arzt muß wissen, daß er eigentlich das tun sollte und daß ihn nur seine Gebundenheit beschränkt auf eine Seite. Psychologie ist die Erforschung der Seele in einer gesetzten Abgezogenheit von der Welt. (Ähnlich wie die Planimetrie 8 Flächen behandelt, obschon es nur Körper gibt.) Die Grenze der Psychologie ist da, wo diese gesetzte (angenommene) Abgezogenheit sich an der Wirklichkeit aufhebt, wo sie an die Wirklichkeit gerät, an die Beziehung. Welchen Anteil kann die Psychologie haben an der Überwindung des Psychologismus? Diese Überwindung können wir nur erfassen, wenn wir verstehen, daß Psychologismus ein Randphänomen ist. Dieses Randphänomen wird deutlich im Selbstwiderspruch. Wenn der Psychologismus sich so steigert, daß der Mensch schlechthin seine äußere Beziehungsfähigkeit (das eingeborene Du) 9 nicht mehr auszuwirken vermag am Andern, an der Welt, wenn seine Beziehungskraft zurückschlägt ins Ich, wenn er sich selbst gegenübertritt, wenn der Doppelgänger ihm immer wieder er7. 8. 9.
a.
Der Psychologische Klub war jungianisch. Siehe Anm. 14. Planimetrie bezeichnet allgemein die Problemstellung der ebenen Geometrie, d. h. die Flächenberechnung in der Ebene. Die Berechnung von Flächeninhalten im dreidimensionalen Raum wird Stereometrie oder räumliche Geometrie genannt. Vgl. »Im Anfang ist die Beziehung: Als Katagorie des Wesens, als Bereitschaft, fassende Form, Seelenmodel; das Apriori der Beziehung; das eingeborene Du.« Martin Buber, Ich und Du, in: Ders., Das dialogische Prinzip, 4. Aufl. Heidelberg: Lambert Schneider 1979, S. 31. im Typoskript kein Absatz.
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scheint, dann ist das Faktum gegeben, das ich Selbstwiderspruch nenne. 10 Fluchtversuch ist Pseudo-Religiosität (der Doppelgänger erhält einen religiösen Sinn). Dieses Phänomen ist der Ort der Umkehr. 11 Gemeinschaft kann in einer Zeit, wie die unsere, nur aus Durchbruch geschehen, aus Umkehr. Die Schwungkraft dazu gibt nur die Not des äußersten Gesondertseins, das Phänomen des Randes. Hat die Psychologie, die wahre, die echte, eine Funktion darin? Erst von ihr aus wird die Problematik der Individuation kundbar. Erst wenn sie an ihre Grenze gerät, gerät sie an das Unpsychologische. Durch Selbstaufhebung der abgeschlossenen Individuationsebene kann die Psychologie zur echten Gemeinschaftsauffassung und – Tat führen. Echte Gemeinschaft beginnt in einer Zeit wie dieser mit der Entdeckung des metapsychischen Charakters der Wirklichkeit und beruht auf dem Glauben an diese Wirklichkeit. Die empirische Gemeinschaft ist ein dynamisches Faktum. Sie enthebt den Menschen nicht seiner Einsamkeit, sondern füllt sie, positiviert sie. Damit vertieft sie das Verantwortungsbewußtsein des Einzelnen – der Ort der Verantwortung ist das Einsam-werden des Menschen. Die Gemeinschaft hat nicht ihren Sinn in sich selbst. Es ist die Stätte, wo sich das Göttliche noch nicht verbraucht hat, die Stätte der kommenden Theophanie. Wenn man das weiß, weiß man auch, daß die Gemeinschaft in unserer Zeit immer wieder scheitern muß, daß Versuche dazu immer wieder mißglücken. Das Ungeheure, Furchtbare des Psychologismus waltet so, daß man nicht einfach leicht mit einem Schlag die Heilung, Rettung herbeiführen kann. Aber die Enttäuschungen gehören zum Weg. Es geht kein anderer Weg, als der durch dieses Mißglücken. Das ist der Weg des getreuen Glaubens.
10. Diese Stelle bezieht sich auf den letzten Absatz des zweiten Teils von »Ich und Du«. Ebd., S. 73-75. 11. »Umkehr« ist nicht nur ein Grundkonzept in »Ich und Du«, sondern zieht sich durch Bubers gesamtes Werk, angefangen bei seinen ganz frühen Schriften bis hin zu seinen spätesten. Der Begriff wiederholt den biblisch-talmudischen Grundbegriff der »teschuwa« – der Ruf nach Umkehr zu Gott, und zwar, wie Buber betont, Umkehr des Menschen zu Gott mit seiner gesamten Existenz, einschließlich seiner Beziehungen zu seinen Mitmenschen, zu seiner Gemeinschaft, zu anderen Völkern und zur Natur.
MBW 10 (02686) / p. 37 / 13.12.2016
Das Problem des Menschen 1 Dritter Abschnitt Die Lehre Schelers 12
Der Geist als Ereignis, der Geist, den ich an Kind und Bauer aufgezeigt habe, beweist uns, daß es nicht zum ursprünglichen Wesen des Geistes gehört, wie Scheler meint, durch Verdrängung 2 und Sublimierung 3 der Triebe zu entstehen. Diese psychologischen Kategorien entnimmt Scheler bekanntlich dem Begriffsschatz Sigmund Freuds, zu dessen großen Verdiensten es gehört, sie geprägt zu haben. Aber wiewohl diesen Kategorien eine allgemeine Geltung zukommt, so ist doch die zentrale Stellung, die Freud ihnen verleiht, ihre beherrschende Bedeutung für den ganzen Aufbau des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens und insbesondre auch für die Entstehung und Entwicklung des Geistes, nicht im allgemeinen Wesen des Menschen, sondern nur in der Lage und Beschaffenheit des typischen heutigen Menschen begründet. Dieser Mensch aber ist erkrankt, sowohl in seinem Verhältnis zu den anderen als auch in seiner Seele selbst. Die zentrale Bedeutung von Verdrängung und Sublimierung in Freuds System ergibt sich aus der Analyse eines pathologischen Zustands und gilt für diesen Zustand; die Kategorien sind psychologische, ihre beherrschende Macht ist eine pathopsychologische. Es läßt sich freilich erweisen, daß trotzdem ihre Bedeutung nicht für unsere Zeit allein, sondern auch für andere, ihr artverwandte gilt; nämlich für Zeiten, denen eine ähnliche Pathologie wie der unseren innewohnt, Zeiten der ausbrechenden Krise wie die unsere; aber ich kenne in der Geschichte keine so tiefreichende und umfassende Krise wie unsere, und dem entspricht das Maß der Bedeutung jener Kategorien. Wenn ich unsre Krise auf eine Formel bringen soll, möchte ich sie die Krise des Vertrauens nennen. Wir haben gesehen, wie Epochen der Sicherheit menschlichen Seins im Kosmos mit Epochen der Unsicherheit abwech1. 2.
3.
Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 259 f. Verdrängung bezeichnet bei Freud eine Operation, durch die das Subjekt versucht, mit einem Trieb zusammenhängende Bilder, Erinnerungen und Gedanken in das Unbewußte zurückzustoßen oder dort festzuhalten, weil die Befriedigung des Triebes im Hinblick auf andere Anforderungen Gefahr läuft, Unlust hervorzurufen. Freud erklärte mit dem Begriff der Sublimierung diejenigen menschlichen Handlungen (insb. künstlerische und intellektuelle Betätigung), deren treibende Kraft der Sexualtrieb ist, obwohl sie scheinbar ohne Beziehung zur Sexualität sind.
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seln, aber in diesen waltet zumeist noch eine soziale Gewißheit, das Getragenwerden von einer kleinen, in wirklichem Miteinandersein lebenden organischen Gemeinschaft; das Vertrauendürfen innerhalb dieser Gemeinschaft entschädigt für kosmische Unsicherheit, es gibt Zusammenhang und Gewißheit. Wo das Vertrauen herrscht, muß der Mensch zwar oft seine Wünsche den Geboten seiner Gemeinschaft anpassen, aber er muß sie nicht in solchem Maße verdrängen, daß diese Verdrängung beherrschende Bedeutung für sein Leben gewinnt; sie verschmelzen vielfach mit den Bedürfnissen der Gemeinschaft, deren Ausdruck ihre Gebote sind. Diese Verschmelzung kann sich wohlgemerkt nur da wirklich vollziehen, wo innerhalb der Gemeinschaft wirklich alles mit allem lebt, wo also nicht ein gefordertes und eingebildetes, sondern ein echtes, elementares Vertrauen waltet. Erst wenn die organische Gemeinschaft von innen her zerfällt und das Mißtrauen der Grundton des Lebens wird, gewinnt die Verdrängung ihre beherrschende Geltung. Die Unbefangenheit des Wünschens wird vom Mißtrauen erstickt, alles um einen her ist feindlich oder kann feindlich werden, man erfährt keine Übereinstimmung mehr zwischen dem eignen Verlangen und dem der andern, denn es gibt keine wahre Verschmelzung oder Versöhnung mit dem, was einer tragenden Gemeinschaft nottut, und hoffnungslos verkriechen sich die dumpfgewordenen Wünsche in die Höhlen der Seele. Nun aber ändern sich auch die Wege des Geistes. Vorher war es die wesentliche Art seiner Entstehung, als konzentrierte Kundgebung der Ganzheit des Menschen aus dem Gewölk hervorzublitzen. Jetzt gibt es eine menschliche Ganzheit mit der Kraft und dem Mut sich kundzugeben nicht mehr; damit Geist werde, muß zumeist erst die Energie der verdrängten Triebe »sublimiert« werden, die Spuren dieser Entstehung haften dem Geist an, und er kann sich zumeist nur in krampfhafter Entfremdung gegen die Triebe behaupten. Die Scheidung zwischen Geist und Trieben ist hier wie oft die Folge der Scheidung zwischen Mensch und Mensch.
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… Bis dahin dachte der Mensch mit dem ganzen Leibe, und noch mit den Fingerspitzen, von da an denkt er nur noch mit dem Gehirn. Erst jetzt erhält Freud den Gegenstand seiner Psychologie und Scheler den seiner Anthropologie: den erkrankten Menschen, der von der Welt getrennt und in Geist und Triebe gespalten ist. Solang wir wähnen, dieser kranke Mensch sei der Mensch, der normale Mensch, der Mensch überhaupt, werden wir ihm keine Heilung bringen …
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Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre 1 IV. Bei sich beginnen Einige Grosse in Israel waren einmal bei Rabbi Jizchak von Worki zu Gast. 2 Man sprach vom Wert eines rechtschaffenen Dieners für die Führung des Hauses; wenn er gut sei, wende sich alles zum Guten, wie man an Josef sehe, in dessen Hand alles gedieh. Rabbi Jizchak widersprach. »So habe auch ich einst gemeint«, sagte er, »dann aber zeigte mir mein Lehrer, dass alles am Hausherrn hangt. In meiner Jugend nämlich hatte ich grosse Bedrängnis von meinem Weibe, und ob auch ich selbst es tragen mochte, so erbarmte mich doch des Gesindes. Darum fuhr ich zu meinem Lehrer, Rabbi David von Lelow, und befragte ihn, ob ich meinem Weibe entgegentreten solle. Er antwortete mir: ›Was redest du zu mir? Rede zu dir selber!‹ Ich musste mich auf das Wort eine Zeit besinnen, bis ich es verstand; ich verstand es aber, als ich mich auf ein Wort des Baalschem besann: ›Es gibt den Gedanken, das Wort, die Handlung. Der Gedanke entspricht der Ehefrau, das Wort den Kindern, die Handlung dem Gesinde. Wer die drei in sich zurechtschafft, dem wandelt sich alles zum Guten.‹ Da verstand ich, was mein Lehrer gemeint hatte: dass alles an mir selber hangt.« In dieser Erzählung wird an eins der tiefsten und schwersten Probleme unseres Lebens gerührt: an den wahren Ursprung des Konflikts Menschen. Man pflegt Erscheinungen des Konflikts zunächst aus den Motiven zu erklären, deren sich die miteinander im Streit Liegenden als des Anlasses zum Streit bewusst sind, und aus den diesen Motiven zugrundeliegenden objektiven Situationen und Vorgängen, in die beide Teile verwickelt sind; oder man geht analytisch vor und sucht die unbewussten Komplexe zu erforschen, zu denen sich jene Motive nur wie Symptome einer Krankheit zu den organischen Schäden selber verhalten. Die chassidische Lehre hat mit dieser Auffassung das gemeinsam, dass auch sie von der Problematik des äusseren Lebens auf die des inneren verweist. Aber sie unterscheidet sich von jener in zwei wesentlichen Punkten, einem grundsätzlichen und einem praktischen, der aber noch wichtiger ist. Der grundsätzliche Unterschied besteht darin, dass die chassidische 1. 2.
Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 260 f. Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich: Manesse Verlag 1949, Kapitel »Rabbi Jizchak von Worki«, Abschnitt »Selber«, S. 803 f. Erscheint in MBW 18.
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Lehre nicht auf die Untersuchung einzelner seelischer Komplikationen ausgeht, sondern den ganzen Menschen meint. Damit ist aber keineswegs ein quantitativer Unterschied ausgesprochen. Vielmehr handelt es sich hier um die Erkenntnis, dass Herauslösen von Teilelementen und Teilprozessen aus dem Ganzen der Erfassung der Ganzheit hinderlich ist und dass zu wirklicher Wandlung, zu wirklicher Heilung zunächst des Einzelnen und sodann des Verhältnisses zwischen ihm und seinen Mitmenschen, nur die Erfassung der Ganzheit als Ganzheit führen kann. (Paradox ausgedrückt: die Suche nach dem Schwerpunkt verschiebt ihn und vereitelt damit den ganzen Versuch, die Problematik zu überwinden). Das heisst nicht, dass nicht alle Phänomene der Seele zu betrachten sind; aber keins von ihnen ist so in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken, als ob alles andre daraus abzuleiten wäre; vielmehr muss an allen Punkten angesetzt werden, und zwar nicht einzeln, sondern gerade in ihrem vitalen Zusammenhang. Der praktische Unterschied aber besteht darin, dass der Mensch hier gar nicht als Objekt der Untersuchung behandelt wird, sondern aufgerufen wird, sich »zurechtzuschaffen«. Der Mensch soll zuerst selbst erkennen, dass die Konfliktsituationen zwischen ihm und den andern nur Auswirkungen der Konfliktsituationen in seiner eigenen Seele sind, und dann soll er diesen seinen inneren Konflikt zu überwinden suchen, um nunmehr als ein Gewandelter, Befriedeter zu seinen Mitmenschen auszugehen und neue, gewandelte Beziehungen zu ihnen einzugehen. Der Mensch sucht freilich naturgemäss dieser entscheidenden, für das ihm geläufige Verhältnis zur Welt äusserst kränkenden Wendung dadurch auszuweichen, dass er den ihn so Aufrufenden oder die eigene Seele, wenn sie es ist, die ihn aufruft, auf die Tatsache hinweist, dass an jedem Konflikt zwei beteiligt sind: fordre man von ihm, dass er von diesem auf seinen inneren Konflikt zurückgreife, so müsse man das eben auch von seinem Konfliktpartner fordern. Aber gerade in dieser Betrachtungsweise, in der der Einzelne sich nur als Individuum ansieht, dem andere Individuen entgegenstehen, und nicht als echte Person, deren Wandlung zur Wandlung der Welt hilft, gerade hier liegt der fundamentale Irrtum, dem die chassidische Lehre entgegentritt. Es kommt einzig darauf an, bei sich zu beginnen, und in diesem Augenblick habe ich mich um nichts andres in der Welt als um diesen Beginn zu bekümmern. Jede andre Stellungnahme lenkt mich von meinen Beginnen ab, schwächt meine Initiative dazu, vereitelt das ganze kühne und gewaltige Unternehmen. Der archimedische Punkt, von dem aus ich an meinem Orte die Welt bewegen kann, ist die Wandlung meiner selbst; setze ich anstatt seiner zwei archimedische Punkte, den hier in meiner Seele und den dort in der Seele
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meines mit mir im Konflikt stehenden Mitmenschen, dann entschwindet mir alsbald der eine, in den sich mir eine Sicht eröffnet hatte. Rabbi Bunam lehrte: »Unsere Weisen sagen: ›Suche den Frieden an deinem Ort.‹ Man kann den Frieden nirgendwo anders suchen als bei sich selber, bis man ihn da gefunden hat. Es heisst im Psalm: 3 ›Es ist kein Friede in meinem Gebein meiner Sünde wegen‹. Erst wenn der Mensch in sich selber den Frieden gefunden hat, kann er daran gehen, ihn in der ganzen Welt zu suchen.« 4 Aber die Erzählung, von der ich ausgegangen bin, begnügt sich nicht damit, auf den wahren Ursprung der äusseren Konflikte, auf den inneren Konflikt, allgemein hinzuweisen. In dem Spruch des Baalschem, der darin angeführt wird, wird auch genau gesagt, worin der entscheidende innere Konflikt besteht. Es ist der Konflikt zwischen drei Prinzipien im Wesen und Leben des Menschen: dem Prinzip des Gedankens, dem Prinzip des Wortes und dem Prinzip der Handlung. Der Ursprung alles Konflikts zwischen mir und meinen Mitmenschen ist, dass ich nicht sage, was ich meine, und dass ich nicht tue, was ich sage. Denn dadurch verwirrt und vergiftet sich immer wieder und immer mehr die Situation zwischen mir und dem andern, und ich in meiner inneren Zerfallenheit bin gar nicht mehr fähig sie zu meistern, sondern entgegen all meinen Illusionen bin ich ihr willenloser Sklave geworden. Mit unserm Widerspruch, mit unserer Lüge päppeln wir die Konfliktsituationen auf und geben ihnen Macht über uns, bis sie uns versklaven. Von hier führt kein anderer Ausgang als durch die Erkenntnis der Wende: Alles hangt an mir, und durch den Willen der Wende: Ich will mich zurechtschaffen. Damit der Mensch aber dieses Grosse vermöge, muss er erst von all dem Drum und Dran seines Lebens zu seinem Selbst gelangen, er muss sich selber finden, nicht das selbstverständliche Ich des egozentrischen Individuums, sondern das tiefe Selbst der mit der Welt lebenden Person. Und auch dem steht all unsre Gewohnheit entgegen.
3. 4.
Ps 38, 4. Rabbi Simcha Bunim von Pschis’cha (gest. 1827) verfaßte selbst keine Bücher. Seine Aussprüche und Lehren wurden posthum von seinen Schülern veröffentlicht, wie z. B. in Ramataim zofim von Rabbi Schmuel Schne’ur von Naschlak und in Kol Simcha (Stimme der Freude) von Rabbi Alexander Susche von Ploz. Die Idee, daß der Friede zuerst bei sich selbst zu suchen sei, wird ihm von seinen Schülern und von späteren Gelehrten zugeschrieben.
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Urdistanz und Beziehung1 I. Es ist die Frage nach dem Prinzip des Menschseins, nach seinem Anfang also, zu stellen. Dieser kann hier nicht als ein Anfang in der Zeit gemeint sein. Es ist nicht sinngemäß, etwa ermitteln zu wollen, wann und wie eine bestimmte Gattung von Lebewesen, statt sich wie die andern mit der Wahrnehmung von Dingen und Zuständen zu begnügen, auch noch das eigene Wahrnehmen wahrzunehmen begann. Es darf nur darum gehen, die Seinskategorie, die mit dem Namen des Menschen bezeichnet wird, in all ihrer Paradoxie und Tatsächlichkeit zu betrachten, um in Erfahrung zu bringen, worin sie ihren Grund und Anfang hat. Doch wäre es durchaus verfehlt, im Stellen der Frage von der Wirklichkeit des Geistes auszugehen. Das Prinzip eines Seins ist ja nicht anders zu erschließen, als daß man zunächst die Wirklichkeit dieses Seins gegen die Wirklichkeit anderen bekannten Seins sich abheben läßt. Die Wirklichkeit des Geistes aber ist uns nicht ohne den Menschen gegeben; alles uns gegebene Geistige hat seine Wirklichkeit in ihm. Die Natur allein bietet sich uns zum Akt des Sich-abheben-Lassens dar, sie, die wohl den Menschen mitumfaßt, aber, sowie wir zu dessen Eigentlichkeit vordringen, ihren Umgriff zu lockern, ja das – von ihr aus gesehen – aus der Art geschlagene Kind für unsere Sonderbetrachtung freizugeben genötigt wird. Diese Sonderbetrachtung geschieht nunmehr nicht innerhalb der Natur, aber von ihr aus. Von der Natur aus, in diesem Falle also: von dem Verband der »Lebewesen« ausgehen, dem der Mensch, insofern er ein Bestandteil der Natur ist, zugerechnet werden muß, bedeutet nicht, die Merkmale ausfindig machen, durch die er von jenen sich unterscheidet, sondern untersuchen, worin die Gesamtheit dieser Merkmale ihren Seinsgrund hat. Nur so wird uns kund, daß und warum diese Gesamtheit der unterscheidenden Merkmale nicht lediglich eine besondere Gruppe der Lebewesen, sondern eine besondere Seinsweise, somit eine eigene Kategorie des Seins konstituiert. Die echt und zulänglich ausgeführte Abhebung führt zur Erfassung des Prinzips als solchen. Auf diesem Wege gelangen wir zur Einsicht, daß das Prinzip des Menschseins kein einfaches, sondern ein doppeltes ist, in einer doppelten Bewegung sich aufbauend, und zwar solcher Art, daß die eine Bewegung 1.
Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 261 f.
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die Voraussetzung der anderen ist. Die erste sei die Urdistanzierung, die zweite das In-Beziehung-Treten2 genannt. Daß die erste die Voraussetzung der zweiten ist, ergibt sich daraus, daß man nur zu distanziertem Seienden, genauer: zu einem ein selbständiges Gegenüber gewordenen, in Beziehung treten kann. Ein selbständiges Gegenüber aber gibt es nur für den Menschen. In der modernen Biologie 3 wird von der Umwelt eines Tieres gesprochen, worunter die gesamte seinen Sinnen zugängliche Gegenständlichkeit verstanden wird, wie sie durch die ihm eigentümlichen Lebensumstände bedingt ist. Ein Tier, so sagt man beiläufig, nimmt nur die Dinge wahr, die es in seiner ihm vorgegebenen Gesamtsituation angehen, und sie eben machen seine Umwelt aus. Es erscheint aber fraglich, ob der Begriff einer Welt hier zu Recht angewendet wird, ob man also berechtigt ist, den mit »Umwelt« bezeichneten Zusammenhang als eine Art von Welt und nicht lediglich als eine Art von Bereich anzusehen. Mit Welt ist ja doch notwendigerweise das sich wesenhaft über den Bereich des »in« ihr befindlichen Betrachters hinaus Erstreckende und als solches Selbständige gemeint. Auch eine »Sinnenwelt« ist eben damit eine Welt, daß sie nicht aus Sinnesdaten allein zusammengesetzt ist, sondern das Wahrgenommene durch das Wahrnehmbare ergänzt wird und erst die Einheit beider ihr den Eigenbestand gibt. Der Organismus des Tieres holt sich, konstant oder je und je ansetzend, aus dem »Vorhandenen« die seinen Lebensbedürfnissen und Lebensnöten zugeordneten Elemente zusammen, den Umkreis seines Daseins daraus zu konstruieren. Wohin immer Schwalben oder Tunfische wandern, stets vollzieht ihre Leiblichkeit diese Selektion an der ihnen als solche völlig unbekannten »Natur«, auf die sie doch auch, eben ins Unbekannte, Unkennbare hinein, wirkt. Das »Weltbild«, vielmehr Bereichsbild des Tieres ist nichts weiter als die Dynamik der Präsenzen, die durch das leibliche Gedächtnis in dem Maße miteinander verbunden sind, als es die zu leistenden Lebensfunktionen erfordern. Es hangt, es haftet am Lebensgetriebe des Tieres. Erst der Mensch setzt an Stelle dieser unsteten Konglomerate, deren Reihe der Lebenszeit des individuellen Organismus eingepaßt ist, eine von ihm als für sich seiend vorstellbare oder denkbare Einheit. Er greift gewaltigen Schwungs über das ihm Gegebene hinaus, überfliegt den Horizont und die jeweils wahrgenommenen Sterne und faßt nun ein Ganzes. Mit ihm, mit seinem Menschsein gibt es eine Welt. Die Begegnung des naturhaften Seins mit 2. 3.
[Anm. Buber] Dieser Grundakt darf natürlich nicht mit der zwischen irgendwelchen Gegenständen bestehenden Relation, welcher Art immer, verwechselt werden. [Anm. Buber] Vgl. insbesondere die bahnbrechenden Arbeiten v. Uexkülls.
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dem Lebewesen erzeugt jene mehr oder weniger wechselnden Haufen verwendbarer Sinnesdaten, die den Lebensbereich des Tieres ausmachen; aber erst aus der Begegnung jenes mit dem Menschen ersteht das Neue und Beharrende, das den Bereich Umfangende und unendlich Übergreifende. Das Tier befindet sich in dem Bereich seiner Wahrnehmungen wie der Fruchtkern in der Schale; der Mensch ist in der Welt oder kann doch in der Welt sein wie ein Wohngast in einem ungeheuren Bau, der unablässig durch Zubauten erweitert wird, und zu dessen Grenze er nie vorzudringen vermag, den er aber doch weiß, wie man eben ein Haus weiß, in dem man wohnt: weil er die Ganzheit des Baus als solche innezuhaben befähigt ist. Daß er das aber ist, liegt daran, daß er das Wesen ist, durch dessen Sein das Seiende von ihm abgerückt und in sich anerkannt wird. Erst der abgerückte, der nackten Präsenz enthobene, dem Getriebe der Bedürfnisse und Nöte halbwegs entzogene, der distanzierte und damit sich selber übergebene Bereich ist mehr und anderes als Bereich. Erst wenn einem Seienden ein Seinszusammenhang selbständig gegenüber, selbständiges Gegenüber ist, ist Welt. Man könnte meinen, diese Verselbständigung einer Welt sei doch erst das Ergebnis urlanger Entwicklungen des Menschengeschlechts, könne also nicht für den Menschen als solchen konstitutiv sein. Es kann uns ja aber nicht darum zu tun sein, wann und wie die Kategorie des Menschen sich verwirklicht hat, sondern worin sie sich gründet. Eben wenn und insofern es Welt gibt, gibt es den sie bedingenden Menschen im Sinne nicht einer Gattung der Lebewesen, sondern einer in die Wirklichkeit gekommenen Kategorie. Man kann ihn, den Menschen, auf seinem Wege nirgends betreten, ohne daß er in irgendeinem Maße, in irgendeiner Weise mit dem ihm Bekannten auch das ihm Unbekannte, beides zu einer – wenn auch noch so »primitiven« – Welt verbunden, sich gegenüber hielte. Das gilt natürlich für sein Verhältnis zur Zeit nicht weniger als für das zum Raum: das Tier befaßt sich handelnd mit seiner und seiner Jungen Zukunft, aber nur der Mensch imaginiert sie – der Biber treibt seinen Bau in einen Zeitbereich hinein, aber der gepflanzte Baum wurzelt in der Zeitwelt, und wer den ersten Baum pflanzt, ist eben der, der den Messias erwarten wird. Damit freilich ist schon zur ersten Bewegung die zweite gefügt: dem abgerückten Zusammenhang des Seienden wendet sich der Mensch zu und tritt zu ihm in Beziehung. Wieder sind »erste« und »zweite« nicht im Sinn eines zeitlichen Aufeinanderfolgens zu verstehen; es ist kein Einer-Welt-Gegenübersein denkbar, das nicht auch schon ein Zu-ihr-alsWelt-sich-Verhalten, und das heißt, der Umriß eines Beziehungsverhaltens wäre. Es soll somit eben nur dies gesagt sein, daß das Tier den
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Beziehungsstand deshalb nicht kennt, weil man zu einem nicht als abgehoben und für sich seiend Wahrgenommenen nicht in einer Beziehung stehen kann. Der Regenmacher, der mit der hinter seinem Gesichtskreis heransegelnden Wolke verhandelt, tut kategorial dasselbe wie der Physiker, der den noch ungesehenen Planeten errechnet hat und am Schreibtisch mit ihm kommuniziert. Akt und Werk des In-Beziehung-Tretens zur Welt als solcher – also nicht zu Bestandteilen ihrer und nicht zu aller Summe, sondern zu ihr als Welt – dürfen wir als synthetische Anschauung bezeichnen, wofern wir nur feststellen, daß dieser Begriff in diesem seinen prägnanten Gebrauch die Einheitsfunktion involviert: synthetische Anschauung nennen wir die Anschauung eines Seienden als Ganzheit und Einheit. Anschauung solcher Art ist nur und wird immer wieder nur von der Anschauung der Welt als Welt aus gewonnen. Die Konzeption der Ganzheit und Einheit ist ursprünglich mit der der Welt identisch, der der Mensch zugewandt ist. Wer sich dem zur Welt ergänzten und gewandelten Bereich, den er von sich abgerückt hat, – wer sich der Welt zuwendet und anschauend zu ihr in Beziehung tritt, wird des Seins von Ganzheit und Einheit dermaßen inne, daß er von da her, je und je, Seiendes als Ganzheit und Einheit zu erfassen vermag; das einzelne Seiende hat den Charakter der Ganzheit und Einheit in seinem Wahrgenommenwerden von der der Welt in deren Wahrgenommenwerden empfangen. Die Distanzierung und Verselbständigung allein aber liefert dem Menschen diese Anschauung noch nicht; sie würde ihm die Welt nur zum Gegenstand bieten, als welcher nur eine Summe beliebig vermehrbarer Qualitäten, nicht eine echte Ganzheit und Einheit ist. Nur die Anschauung des mir gegenüber welthaft Wesenden in seiner vollen Gegenwärtigkeit, zu der ich, selber als Gesamtperson gegenwärtig, mich in die Beziehung gesetzt habe, gibt mir die Welt wahrhaft als ganze und eine. Denn nur in solchem Gegenüber ist der Bereich des Menschen und alles seinen Bereich im Geist Ergänzende letztlich eins. So von je und so in dieser Stunde. Man darf das hier Angedeutete jedoch nicht dahin mißverstehen, als ob gemeint wäre, das Ich »setze« die Welt oder dergleichen. Der Distanzierungsakt des Menschen ist ebensowenig wie sein damit verbundener Beziehungsakt als ein Erstes zu fassen. Vielmehr ist dies das schlechthin Eigentümliche am Menschsein, daß hier, und hier allein, der Allheit ein Wesen entsprungen ist, begabt und befugt sie als Welt von sich abzusetzen und sie sich zum Gegenüber zu machen, statt wie alle andern sich mit seinen Sinnen sein notdürftiges Teil aus ihr zu schneiden und damit auszukommen. Diese dem Menschen verliehene Gabe und Befugnis treibt aus der Allheit das Weltsein hervor, das immer nur bedeuten kann, für
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den Menschen eben als Für-sich-Seiendes da zu sein, zu dem er in Beziehung zu treten vermag. Es ist nun aber erneut die Doppelheit des Prinzips ins Auge zu fassen. So sehr und so vielfältig die beiden Bewegungen in ihm miteinander verknüpft sind, so sind sie doch keineswegs etwa als zwei Seiten desselben Vorgangs oder Prozesses zu fassen. Es besteht keinerlei Parallelismus zwischen ihnen, nichts auch was bedingte, daß der Vollzug der einen den der andern mit sich führte. Vielmehr ist streng daran festzuhalten, daß die erste die Voraussetzung der zweiten bildet – nicht die Herkunft, sondern die Voraussetzung. Es ist also mit dem In-Erscheinung-Treten der ersten nicht mehr als der Raum für die zweite gegeben. Ob und wann und wie die zweite sich manifestiert, ist nicht mehr von der ersten aus zu bestimmen. An diesem Punkte setzt erst die eigentliche Geschichte des Geistes, eben als Geschichte, ein, die ihren ewigen Ursprung im Maße des Anteils der zweiten Bewegung an den Kundgebungen der ersten, in den Maßen ihres Aufeinanderzuwirkens, ihres Gegeneinanderwirkens und ihres Zusammenwirkens hat. Der Mensch kann distanzieren, ohne zu dem Distanzierten wesentlich in Beziehung zu kommen; er kann den Distanzierungsakt selber mit dem Willen zur Beziehung füllen, als welche durch jenen erst möglich wird; er kann den Beziehungsakt in der Anerkennung der fundamentalen Tatsächlichkeit der Urdistanz vollziehen; es können aber auch die beiden Bewegungen miteinander ringen, weil jede in der andern das Hindernis für die eigene Verwirklichung erblickt; und schließlich kann, in Momenten und Gestalten der Gnade, aus der gewaltigsten Anspannung des Widerspruchs als dessen erst jetzt und so gewährte Überwindung die Einheit hervorgehen.
II. Wer, den Blick auf das Doppelprinzip des Menschseins gerichtet, dem Geschichtsgang des Geistes nachzugehen versucht, muß beachten, daß die großen Phänomene auf der Seite der Distanzakte überwiegend universal, die auf der Seite der Beziehungsakte überwiegend personal sind, wie es ja ihrem Verhältnis zueinander entspricht. Die Tatsachen der Urdistanz liefern uns eben die wesentliche Antwort auf die Frage »Wie ist der Mensch möglich?«, die Tatsachen der Beziehung aber die wesentliche Antwort auf die Frage »Wie verwirklicht sich das Menschsein?« Die erste Frage ist streng kategorial, die zweite kategorial-geschichtlich; die Urdistanz stiftet die menschliche Situation, die Beziehung das Menschwerden in ihr.
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An zwei Sphären ist diese Differenz anschaulich zu machen: innerhalb des Verhältnisses zu den Dingen und innerhalb dessen zu den Mitmenschen. Auch das Tier verwendet Dinge. Ja, gerade bei Tieren können wir das Verwenden im genauen Sinn beobachten, wenn sie ein Ding, auf das sie stoßen, um und um wenden, bis sie auf die Möglichkeit geraten, es zur Erreichung eines bestimmten, vorgefaßten oder jetzt eben aufsteigenden Zwecks zu verwenden. Affen verwenden einen gefundenen Stock, um eine Öffnung durchzustoßen, an die sie mit dem Arm nicht gelangten, einen gefundenen Stein, um Nüsse aufzuklopfen; aber sie stellen keines dieser für den Augenblick zu Gerät gewordenen Dinge beiseit, um es morgen ähnlicherweise benützen zu können, keines offenbar dauert in ihrem Bewußtsein als eines, dem die Fakultät des Hebels, des Hammers innewohnt; sie sind jeweils im Bereich zuhanden, bekommen aber die ihren Platz in einer Welt. Nur der Mensch, als Mensch, distanziert Dinge, auf die er in seinem Bereich trifft, und versetzt sie in ihre Selbständigkeit, als etwas, was nunmehr funktionsbereit fortbesteht und was er auf ihn warten machen kann, daß er je und je sich wieder seiner bemächtige und es aktualisiere. Ein geeignetes Metallstück, einmal als Bohrer verwendet, hört nicht auf, Bohrer zu sein: es dauert in seiner bekanntgewordenen Beschaffenheit, es selber, dieses bestimmte leistungsfähige Es dauert nun dort – verfügbar. Alle am Stoffe der Dinge vorgenommene Änderung, die sie zur Erfüllung eines Zwecks geschickter machen soll, alle Verstärkung und Verfeinerung, Differenzierung und Kombinierung, alle Technik baut sich auf diesem elementaren Grunde auf: daß ein Wesen Vorgefundenes von sich absetzt und es in ein Fürsichsein stellt, darin es aber, das zu Werkzeug Gewordene, stets wiedergefunden, und zwar als eben dieses, eben diese Arbeit auszuführen Bereites wiedergefunden werden kann. Ein Affe kann einen Ast als Waffe schwingen; aber der Mensch allein vermag dem Ast ein Sondersein zu verleihen, darin er, nunmehr eben als »Waffe« konstituiert, der Wiederverwendung zu Willen bleibt. Was immer sodann an ihm vorgenommen wird, um ihn zu völlig wehrgemäßer Keule auszugestalten, wesenhaft ändert sich nichts mehr: die Techne vollbringt nur, was eine primäre Herausstellung und Zuteilung, ein primärer Nomos gestiftet hat. Nun aber kann ein Neues und essentiell Anderes hinzutreten. Vergegenwärtigen wir uns einen naturnahen Volksstamm, dem bereits das Beil, ein schlichtes, aber zuverlässiges Steinbeil, bekannt ist. Da kommt es einem Burschen bei, mit einem schärferen Stein in sein Beil einen geschwungenen Strich zu ritzen. Es ist ein Bild von etwas und von nichts; mag sein, ein Zeichen, aber auch sein Urheber weiß nicht, was es
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bezeichnen soll. Was hatte er im Sinn? Magie, dem Gerät erhöhte Wirkung zu verleihen? oder Spiel mit der Möglichkeit, die der freie Raum auf dem Schafte darbietet? Die beiden schließen einander nicht aus, sie mischen sich – die magische Absicht verdichtet das Spiel zu festeren Gestalten, die spielende Freiheit locken die magiebestimmte Form und wandelt sie –, aber mitsammen genügen sie noch nicht, um das Unerhörte zu erklären, daß über den technischen Zweck hinaus ein vorbildloses Werk getan wird. Wir müssen uns dem Prinzip des Menschseins in seinem Doppelcharakter zuwenden, um zu ergründen, was da geschieht. Der Mensch distanziert die Dinge, die er in Gebrauch nimmt, er schickt sie in eine Selbständigkeit, in der die Funktion Dauer gewinnt, er reduziert und potenziert sie zu Trägern der Funktion; der ersten Bewegung des Prinzips ist so genug getan, der zweiten nicht. Der Mensch hat ein großes Verlangen, zu den Dingen in persönliche Beziehung zu kommen und seine Beziehung zu ihnen ihnen aufzuprägen. Am Gebrauch, auch am Besitz ist’s nicht genug; sie müssen auf andere Weise sein werden: indem er im Bildzeichen ihnen seine Beziehung zu ihnen eingibt. Aber das Bildzeichen wächst zum Bilde: nicht mehr Akzessorium eines Gerätes, sondern selbständiges Gebild. Die Gestalt, auf die schon das unbeholfenste Ornament hindeutete, erfüllt sich nun im selbeigenen Gebiet, als der Niederschlag der Beziehung des Menschen zu den Dingen. Kunst ist weder Impression naturhafter Objektivität noch Expression seelenhafter Subjektivität, sie ist Werk und Zeugnis der Beziehung zwischen der substantia humana 4 und der substantia rerum, 5 das gestaltgewordene Zwischen. Man betrachte etwa große Aktskulpturen der Zeiten: keine ist von der Gegebenheit des Menschenleibes, keine von dem Ausdruckswillen einer Innerlichkeit aus zulänglich zu erfassen, sondern einzig davon aus, was sich zwischen zwei Auseinandergetretenen, dem abgerückten »Körper« und der ihn abrückenden »Seele«, beziehunghaft begibt. Eine spezifische Entsprechung zum Beziehungscharakter des Bildes gibt es in jeder der Künste. Musik etwa ist kategorial nur zu erfassen, wenn man erkennt, daß es um das distanzierende Entdecken des tonalen Seins und dessen beziehunghaftes Erlösen zur gestalthaften Erscheinung geht, wieder und wieder.
4. 5.
Lat., menschliche Substanz. Lat., Substanz der Dinge.
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III. Noch vollständiger ist das Doppelprinzip des Menschseins an dem Verhältnis der Menschen zueinander zu klären. In einem Insektenstaat schließt das System der Arbeitsteilung nicht bloß jede Variation, sondern auch jede im genauen Sinn individuelle Zuerkennung einer Funktion aus; in der menschlichen Gesellschaft, auf allen ihren Stufen, bestätigen die Personen, in irgendeinem Maße, einander praktisch in ihrer persönlichen Beschaffenheit und Befähigung, und man darf eine Gesellschaft in dem Maße eine menschliche nennen, als ihre Mitglieder einander bestätigen. Außer der Technik des Gerätes und der Waffe ist es dies gewesen, was das »von Natur« so schlecht ausgerüstete Lebewesen sich hat behaupten und die Erdenherrschaft erlangen lassen: die durch das Faktum der gegenseitigen individuellen Funktionsergänzung und das ihm gemäße der gegenseitigen individuellen Funktionsanerkennung ermöglichte dynamische, anpassungsfähige, pluralistische Form des Zusammenschlusses. Innerhalb des gebundensten Clans bestehen noch freie Genossenschaften von Fischern, freie Ordnungen des Tauschverkehrs, freie Assoziationen mannigfacher Art, die sich auf der anerkannten Verschiedenheit der Eignungen und Neigungen aufbauen; in den starrsten Epochen der alten Reiche bewahrt die Familie ihren Sonderbestand, in dem trotz seiner autoritativen Struktur die Einzelnen einander in ihrer Vielfalt bejahen; und überall wird die Position der Gesellschaft durch diesen Ausgleich von Festigkeit und Lockerheit gestärkt. Gegen die natürlichen Mächte steht der Mensch von je als das mit selbständig beharrendem Gerät ausgestattete Wesen, das aus selbständigen Einzelleben seine Verbände errichtet. Das Tier gelangt nie dazu, die Gefährten aus dem Knäuel der Gemeinsamkeit mit ihnen herauszuwickeln, wie es nie dazu gelangt, dem Feind ein Dasein außerhalb seines Feindtums, und das heißt außerhalb des eigenen Bereiches, zuzuerkennen; der Mensch, als Mensch, distanziert und verselbständigt den Menschen, er läßt sich von Menschen wie er selber umleben, und so kann er, nur er, als er selber in Beziehung zu seinesgleichen treten. Das Fundament des Mensch mit-Mensch-Seins ist dies Zwiefache und eine: der Wunsch jedes Menschen, als das, was er ist, ja was er werden kann, von Menschen bestätigt zu werden, und die dem Menschen eingeborene Fähigkeit, seine Mitmenschen eben so zu bestätigen. Daß diese Fähigkeit so unermeßlich brachliegt, macht die eigentliche Schwäche und Fraglichkeit des Menschengeschlechts aus: aktuale Menschheit gibt es stets nur da, wo diese Fähigkeit sich entfaltet. Wie freilich anderseits der leere Anspruch auf Bestätigung ohne die Andacht zu Sein und Werden je und
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je die Wahrheit der Existenz zwischen Mensch und Mensch zuschanden macht. Das große Merkmal des menschlichen Miteinanderseins, die Sprache, ist in doppeltem Belang ein Zeugnis für das Prinzip des Menschseins. Menschen äußern sich zu Menschen anders – nicht nach Axt und Grad, sondern wesenhaft anders – als Tiere sich zu ihren Gefährten äußern. Das Anrufen hat der Mensch mit vielen Tieren gemein, das Anreden ist ihm wesenhaft eigentümlich, und das Anreden gründet sich auf die Setzung und Anerkennung der selbständigen Anderheit des Andern, mit dem man auf eben diesem Grunde anredend und Rede stehend Beziehung pflegt 6 . Die älteste Wortform mag, neben der »holophrastischen« Bezeichnung von Situationen in einem Satzwort, die sie den zu Verständigenden signalisierte, ja vielleicht noch vor ihr, der Eigenname gewesen sein: als der den Gefährten und Helfer auf eine Entfernung hin in Kenntnis setzte, daß, von einer gegebenen Situation aus, seine, eben seine Gegenwart benötigt werde. Beides sind noch Signale und doch schon Worte; denn – dies ist das zweite Zeugnis der Sprache für das Prinzip des Menschseins – der Mensch distanziert und verselbständigt auch seine Rufe, er setzt sie, wie das hergerichtete Gerät, als fertiges und gebrauchsfähiges Objekt beiseit, er macht sie zu Worten, die für sich bestehen. Hier, in der Wortsprache, hebt die Anrede sich gleichsam auf, sie neutralisiert sich – aber um immer wieder, zwar nicht in den beliebten Diskussionen, die die Sprachwirklichkeit mißbrauchen, aber im echten Gespräch, sich lebendig wiederzugewinnen. Wenn wir je dazu gelangten, uns nur noch durch den Diktographen, also kontaktlos, miteinander zu verständigen, wäre die Chance der Menschwerdung bis auf weiteres vertan. Das echte Gespräch, und so jede aktuale Erfüllung der Beziehung zwischen Menschen, bedeutet Akzeptation der Anderheit. Wenn zwei Menschen einander ihre grundverschiedenen Meinungen über einen Gegenstand mitteilen, jeder in der Absicht, seinen Partner von der Richtigkeit der eigenen Betrachtungsweise zu überzeugen, kommt im Sinne des Menschseins alles darauf an, ob jeder den andern als den meint, der er ist, bei allem Einflußwillen also ihn doch in seinem Dieser-Mensch-Sein, in seinem So-beschaffen-Sein rückhaltlos annimmt und bestätigt. Die Strenge und Tiefe der menschlichen Individuation, das elementare Anderssein des Andern, wird dann nicht bloß als notwendiger Ausgangs6.
[Anm. Buber] Das Tier, insbesondere das domestizierte, vermag einen Menschen »sprechend« anzusehen, es meint ihn also als einen, dem es sich kundgeben will, aber nicht als ein auch für sich, außerhalb des Anspruchs, bestehendes Wesen. Über dieses merkwürdige Grenzgebiet der Beziehung vgl. mein »Dialogisches Leben« (1947) 104 ff., 162 f. [Erscheint in MBW 4.]
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punkt zur Kenntnis genommen, sondern von Wesen zu Wesen bejaht. Einflußwille bedeutet dann nicht die Bestrebung, den andern zu ändern, ihm meine eigene »Richtigkeit« einzupfropfen, sondern die, das als richtig, als recht, als wahr Erkannte, das ja eben darum auch dort, in der Substanz des andern angelegt sein muß, dort, eben durch meinen Einfluß, in der der Individuation angemessenen Gestalt aufkeimen und erwachsen zu lassen. Diesem steht die Verwendungssucht gegenüber, von der besessen der »Propagierende« und »Suggerierende« in seinem Verhältnis zu den Menschen als in einem Verhältnis zu Dingen beharrt, und zwar zu Dingen, zu denen er die in Beziehung treten wird, ja die er ihres Distanzseins und ihrer Selbständigkeit zu berauben beflissen ist. Menschentum und Menschheit werden in echten Begegnungen. Da erfährt der Mensch sich vom Menschen nicht etwa bloß begrenzt, auf die eigene Endlichkeit, Partialität, Ergänzungsbedürftigkeit hingewiesen, sondern das eigene Verhältnis zur Wahrheit wird ihm erhöht durch des andern individuationsmäßig verschiedenes, verschieden zu keimen und zu wachsen bestimmtes Verhältnis zur selben Wahrheit. Es ist den Menschen not und ist ihnen gewährt, in echten Begegnungen einander in ihrem individualen Sein zu bestätigen; aber darüber hinaus ist ihnen not und gewährt, die Wahrheit, die die Seele sich erringt, der verbrüderten andern anders aufleuchten und eben so bestätigt werden zu sehen.
IV. Die Verwirklichung des Prinzips in der Sphäre zwischen den Menschen gipfelt in einem Vorgang, der Vergegenwärtigung genannt sei. Als Teilmoment ist etwas davon überall zu finden, wo Menschen miteinander umgehen, aber in seiner essentiellen Ausbildung kommt er wohl nur selten vor. Er beruht auf einer Fähigkeit, von der jeder etwas besitzt und die als Realphantasie bezeichnet werden mag; ich meine die Fähigkeit, sich eine in diesem Augenblick bestehende, aber nicht sinnenmäßig erfahrbare Wirklichkeit vor die Seele zu halten. Auf den Umgang zwischen Menschen angewandt, bedeutet Realphantasie, daß ich mir vorstelle, was ein anderer Mensch eben jetzt will, fühlt, empfindet, denkt, und zwar nicht als abgelösten Inhalt, sondern eben in seiner Wirklichkeit, das heißt, als einen Lebensprozeß dieses Menschen. Die volle Vergegenwärtigung geht darüber in einer entscheidenden Weise hinaus: der Vorstellung gesellt sich etwas vom Charakter des Vorgestellten selber, das heißt, meiner Vorstellung eines Willensakts des andern ist etwas vom Wesen eines Willensaktes beigetan, und so fort. Als ein geläufiges Beispiel dafür mag das sogenann-
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te Mitgefühl dienen, wofern man nur die vage Sympathie außer acht läßt und den Begriff auf jenen Vorgang beschränkt, in dem ich etwa den spezifischen Schmerz eines andern so erfahre, daß mir das Spezifische an ihm, also nicht ein allgemeines Unbehagen oder Leidwesen, sondern dieser besondere Schmerz, und doch eben als der des andern, fühlbar wird. Zur Paradoxie der Seele steigert sich die Vergegenwärtigung, wo ich und der andere von einer gemeinsamen Lebenssituation umschlossen sind und etwa der Schmerz, den ich ihm zufüge, in mir selber aufzuckt, bis daß die Widersprüchlichkeit des Lebens zwischen Mensch und Mensch sich abgründig offenbart. Da kann etwas erstehen, was nicht anders aufgebaut zu werden vermag. Das erkannte Prinzip des Menschseins gibt uns das Verständnis der Vergegenwärtigung in ihrer ontologischen Bedeutung an die Hand. Innerhalb der Distanzierung und Verselbständigung der Welt und doch auch wesenhaft darüber hinausreichend und im Eigentlichen nicht in jene einbeziehbar steht des Menschen selber Distanzierung und Verselbständigung: als die Anderen. Wohl umleben uns die Mitmenschen als Bestandteile der uns gegenüber selbständigen Welt, aber sofern wir jeden als ein Mensch-Seiendes fassen, ist er nicht mehr Bestandteil, sondern in seinem Selbstsein da wie ich, und seine Distanzhaftigkeit ist nicht bloß als auf mich hin existent: sie ist von dem Faktum meiner Distanzhaftigkeit auf ihn hin nicht zu trennen. Die erste Bewegung des Menschseins gibt mir die Menschen in das gegenseitige Sein, fundamental und gleichmäßig. Die zweite aber gibt sie mir in die gegenseitige Beziehung, je und je und höchst ungleichmäßig, je nachdem wir sie eben vollziehen. Die Beziehung erfüllt sich in der vollen Vergegenwärtigung, wo ich den andern nicht bloß als eben diesen meine, sondern in der jeweiligen Approximation die ihm als eben diesem zugehörige Erfahrung erfahre. Hier und nun erst wird mir der andere zum Selbst, und die in der ersten, distanzierenden Bewegung erfolgte Verselbständigung seines Seins erweist sich in einem neuen, höchst prägnanten Sinn als Voraussetzung: Voraussetzung dieser Selbstwerdung-für-mich, die aber nicht psychologisch, sondern streng ontologisch zu verstehen, eher also Selbstwerdung-mit-mir zu nennen ist. Ihre ontologische Vollständigkeit gewinnt diese aber erst, wenn der andere sich von mir in seinem Selbst vergegenwärtigt weiß und dieses Wissen den Prozeß seines innersten Selbstwerdens induziert. Denn das innerste Wachstum des Selbst vollzieht sich nicht, wie man heute gern meint, aus dem Verhältnis des Menschen zu sich selber, sondern aus dem zwischen dem Einen und dem Andern, unter Menschen also vornehmlich aus der Gegenseitigkeit der Vergegenwärtigung – aus dem Vergegenwärtigen anderen Selbst und dem sich in seinem Selbst vom anderen Vergegenwär-
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tigtwissen – in einem mit der Gegenseitigkeit der Akzeptation, der Bejahung und Bestätigung. In seinem Sein bestätigt will der Mensch durch den Menschen werden und will im Sein des andern eine Gegenwart haben. Die menschliche Person bedarf der Bestätigung, weil der Mensch als Mensch ihrer bedarf. Das Tier braucht nicht bestätigt zu werden, denn es ist, was es ist, unfraglich. Anders der Mensch: aus dem Gattungsreich der Natur ins Wagnis der einsamen Kategorie geschickt, von einem mitgeborenen Chaos umwittert, schaut er heimlich und scheu nach einem Ja des Seindürfens aus, das ihm nur von menschlicher Person zu menschlicher Person werden kann; einander reichen die Menschen das Himmelsbrot des Selbstseins.
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Heilung aus der Begegnung 1 Geleitwort zu Hans Trübs gleichnamigem Buch2 Wenn der Träger eines »geistigen Berufs« mitten in seiner Tätigkeit Mal um Mal innehalten muß, weil er der Paradoxie gewahr wird, die er betreibt (jeder dieser Berufe steht auf paradoxem Grund), ist schon etwas Erhebliches geschehen. Bedeutend wird dieses Geschehen aber erst, wenn er sich nicht damit begnügt, solche flüchtigen Erschütterungen einer wohlgefügten Welt in die Register des Gedächtnisses aufzunehmen, sondern immer wieder, sogleich nach der Vollendung der so unterbrochenen Tätigkeit oder eine Weile danach, sich in einem angestrengten und unbefangenen Besinnen mit der aktualen Problematik, auf die er hingewiesen worden ist, befaßt, sie stellt und sich ihr, und a mit dem Einsatz der lebenden und leidenden Person zu größerer und wieder zu größerer Klärung jener Paradoxie vordringt. So wird und wächst ein geistiges Schicksal mit seiner eigentümlichen, zögernden, tastenden, tastend ringenden, schwerfällig überwindenden, überwindend erliegenden, erliegend erleuchteten Produktivität. Solcherart ist Hans Trübs Schicksal gewesen. Aber der besondere Beruf, um den es hier geht, ist unter allen der paradoxeste, ja er ragt in seiner Paradoxie aus der Sphäre der geistigen Berufe nicht minder hervor als dieses geordnete geistige Treiben insgesamt aus der Gesamtheit der professionellen Wirksamkeit. Gewiß, auch der Anwalt, der Lehrer, der Priester und nicht minder der Arzt des Leibes, jeder von ihnen bekommt, wofern ihm ein echtes Gewissen seines Berufes zuteil geworden ist, je und je zu spüren, was es heißt, sich mit den Nöten und Bangnissen des Menschen und nicht bloß, wie die Träger »nicht-geistiger« Berufe, mit der Befriedigung seiner Bedürfnisse zu befassen. Aber dieser hier, der »Psychotherapeut«, dem es aufgetragen ist, Warter und Heiler kranker Seelen zu sein, begegnet jeweils der nackten Abgründigkeit des Menschen, seiner abgründigen Labilität, der schlimmen Zugabe, die bei der Erwerbung jenes der Natur unbekannten b Prozesses mit in den Kauf genommen werden mußte, den man im spezifischen Sinne als Psy1. 2.
a. b.
[Anm. Buber:] Zu Hans Trübs gleichnamigem Buch. [Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 262 f.] [Anm. Buber]: »Heilung aus der Begegnung. Eine Auseinandersetzung mit der Psychologie C. G. Jungs.« Aus dem Nachlaß herausgegeben von Ernst Michel und Arië Sborowitz. Das Buch erscheint demnächst im Ernst Klett Verlag, Stuttgart, der uns den Vorabdruck dieses Beitrags freundlicherweise gestattete. In Nachlese gelöscht: , sie stellt und sich ihr, In Nachlese gelöscht: der Natur unbekannten
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chik bezeichnen darf ; und zwar begegnet er ihr, nicht wie der Priester, mit heiligem Gnadengut oder doch a heiligem Wortgut ausgerüstet, sondern als bloße Person, über nichts anderes verfügend als über die Tradition seiner Wissenschaft und die Theorie seiner Schule. Es ist verständlich genug, daß er den ihn antretenden Abgrund zu objektivieren und den tobenden Nichts-als-Prozeß in ein einigermaßen handhabbares Ding umzuwandeln bestrebt ist. Dabei leistet ihm der von den Schulen mannigfaltig ausgearbeitete Begriff eines Unbewußten wesentliche Hilfe. Der Wirklichkeitsbereich dieses vielgenannten Begriffs ist meinem Verständnis nach unterhalb der Aufspaltung menschlicher Existenz in körperliche und seelische Phänomene gelagert 4 . Aber jeder seiner Gehalte vermag in jedem Augenblick in die Dimension der Introspektivität einzutreten und läßt sich daher als dem psychischen Bezirk zugehörig erklären und behandeln. Auf dieser mit großer Weisheit und Kunst ausgebildeten Grundlage wird nun – im allgemeinen unter Beistand des Patienten, der sich die beruhigende und gewissermaßen orientierende, ja gewissermaßen zentrierende Prozedur zumeist wohlgefallen läßt – das paradoxe Geschäft des Psychotherapeuten mit Geschick und auch mit Erfolg betrieben. Bis einer in einem bestimmten Fall, in bestimmten Fällen über das was er tut erschrickt, weil ihn die Ahnung überkommt, daß, zumindest in solchen Fällen, aber letztlich vielleicht in allen, etwas ganz anderes von ihm gefordert ist. Etwas der geläufigen Berufsökonomik Unangemessenes, ja die geregelte Berufsausübung zu gefährden Drohendes. Nämlich b daß er zunächst den Fall aus der methodengerechten Versachlichung ziehe und selber, aus der in langer Lehre und Uebung errungenen und durch sie verbürgten professionellen Ueberlegenheit tretend, in die elementare Situation zwischen einem anrufenden und einem angerufenen Menschen eingehe. In Wahrheit ruft der Abgrund nicht die zuverlässig funktionierende Aktionssicherheit, sondern den Abgrund an, das heißt die unter den durch Lehre und Uebung errichteten Strukturen verborgene, die selber vom Chaos umwitterte, selber mit den Dämonien vertraute, aber mit der demütigen Macht des Ringens und Ueberwindens begnadete und immer neu so zu ringen und zu überwinden bereite Selbheit des Arztes. Aus dem Vernehmen dieses Anrufs bricht in dem exponiertesten der geistigen 3. 4. a. b.
[Anm. Buber]: Damit ist nichts anderes als die jeweils dem introspektiven Vollzug sich erschließende Phänomenreihe gemeint. [Anm. Buber]: Davon handle ich ausführlicher in einem anderen Zusammenhang. [Vgl. Von der Verseelung der Welt, in diesem Band S. 29-36.] In Nachlese: mit In Nachlese: Nämlich:
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Berufe die Krisis seiner Paradoxie aus. Der Psychotherapeut wird, eben wenn und weil er Arzt ist, aus der Krisis in die Methodik zurückkehren, aber als ein Veränderter in eine veränderte; als einer nämlich, dem die Notwendigkeit aufgegangen ist, daß echt personhafte Begegnungen zwischen dem Hilfsbebdürftigen und dem Helfer sich im Abgrund des Menschseins begeben, zurückkehren in eine modifizierte Methodik, in der, von dem in solchen Begegnungen Erfahrenen aus, auch das Ungewohnte, das den herrschenden Denkungsweisen Widerstrebende und den stets erneuten personhaften Einsatz Heischende a seinen Platz findet. Ein hier nur allgemein skizzierbares Beispiel mag zur Klärung des Dargelegten dienen und noch etwas darüber hinaus weisen. Ein Mensch lädt eine Schuld auf sich gegenüber einem andern und verdrängt sein Wissen um sie. Von dem fundamentalen Lebensvorgang der Schuld ist in der psychoanalytischen Literatur nur selten die Rede, und dann im allgemeinen nur seiner subjektiven Seite nach, nicht im Umkreis des zwischenmenschlich Ontischen; das heißt, b nur seine psychische Projektion und deren Ausschaltung durch die Verdrängungsakte erscheint hier relevant. 5 Erkennt man aber den ontischen und zwar überpersonhaft ontischen Charakter der Schuld, erkennt man also, daß die Schuld nicht in der menschlichen Person steckt, sondern die Person höchst wirklich in der Schuld steht, die sie umfängt, dann wird es offenbar, daß auch die Verdrängung des Schuldwissens nicht als nur-psychologisches Phänomen zureichend zu erfassen ist. Sie hindert ja den Schuldigen, die (von der »Buße« toto genere verschiedene) Sühne zu vollziehen, deren ontisches Wesen freilich von moralphilosophischen und moraltheologischen Erörterungen eher verdunkelt worden ist, und damit auf den überpersönlichen Tatbestand im Sinne der Zurechtbringung der in den menschlichen Konstellationen erzeugten Störung einzuwirken – einer Zurechtbringung, als deren persönliche Begleiterscheinung allein die »Reinigung« der Seele anzusehen ist. Sühne kann nicht etwa bloß an dem Menschen geschehen, demgegenüber man sich schuldig gemacht hat (und der etwa tot ist), sondern an allem und jedem, je nach dem Gang des Einzellebens, je nach seiner Umgebung und seinen Umständen; es geht einzig darum, daß das Leben von dem Faktum der Schuld aus, nicht zwar als ein »büßendes«, 5.
In der Psychoanalyse spielt weniger Schuld als das Schuldgefühl eine wichtige Rolle; es bezeichnet eine intersystemische Spannung zwischen Ich und Über-Ich. Freud analysiert die Selbstvorwürfe und Anklagen, die das Über-Ich oftmals unbewußt gegen das Ich vorbringt, als Schuldgefühle und versucht in Das Ich und das Es (1923) dessen verschiedene Modalitäten zu unterscheiden.
a. b.
In Nachlese: Heischende, In Nachlese gelöscht: das heißt,
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wohl aber als ein sühnendes, ein »gutmachendes« gelebt werde. Nun jedoch sei der Fall so, daß der Mensch, der sein Schuldwissen verdrängt hat, einer Neurose verfällt. Er kommt zum Psychotherapeuten um Heilung. Der holt nun das von ihm innerhalb des alles-enthaltenden Mikrokosmos des Patienten Bevorzugte, Oedipuskomplex oder Minderwertigkeitsgefühl oder kollektive Archetypik, aus dem Unbewußten ins Bewußtsein und verfährt damit sodann nach den Regeln seiner Weisheit und Kunst; die Schuld bleibt ihm fremd oder uninteressant. a In einem Fall, an den ich besonders denke, dem Fall einer Frau, die einer andern den Mann nahm, später selber das gleiche Los erlitt und sich nun »in die Seele verkroch«, aber da von unbestimmten Qualen heimgesucht und zerrüttet wurde, gelang es dem Analytiker (einem namhaften Freudschüler), die »Heilung« so gründlich zu betreiben, daß die Pein völlig aufhörte, die Patientin »aus der Seele hervorkam« und in einer Fülle von angenehmen, von ihr als freundschaftlich empfundenen gesellschaftlichen Beziehungen ihr Leben fort- und ablebte: jene unablässige schmerzensreiche Mahnung an das Ungesühnte, an das gestörte und zurechtzuschaffende Verhältnis zum Sein war ausgetilgt. Ich nenne diese erfolgreiche Kur die Auswechslung des Herzens. Das zu restloser Zufriedenheit funktionierende Kunstherz tut nicht mehr weh; das vermag nur eins von Fleisch und Blut. 6 Dem Psychotherapeuten, der die Krisis seiner Berufsparadoxie durchschritten hat, ist der Weg solcher Heilungen versperrt. Er hat in einer entscheidenden Stunde mitsamt dem ihm anvertrauten und ihm vertrauenden Kranken den geschlossenen Raum der Seelenbehandlung verlassen, darin der Analytiker kraft seiner systematischen und methodischen Ueberlegenheit waltet, und ist mit jenem an die Luft der Welt getreten, wo Selbheit der Selbheit ausgesetzt ist. Dort, in dem geschlossenen Raum, wo man die isolierte Psyche, der Neigung des in sich verkapselten Patienten gemäß, ergründet und verarztet, wird dieser in immer tieferen Schichten auf seine Innerlichkeit als auf seine eigentliche Welt verwiesen; hier draußen, in der Unmittelbarkeit des menschlichen Gegenüberseins, muß und kann die Verkapselung durchbrochen, und dem in seinem Verhältnis zur Anderheit, zur uneinseelbaren Anderwelt Erkrankten b muß und kann ein gewandeltes, ein geheiltes Verhältnis zu ihr eröffnet werden. Nie ist eine Seele allein krank, immer auch ein Zwischenhaftes, ein zwischen ihr und 6.
Für eine ausführliche Diskussion dieses Beispiels (der Fall »Melanie«) sowie über die ontische bzw. existenielle Schuld, siehe Bubers Aufsatz »Schuld und Schuldgefühle«, in diesem Band S. 127-152.
a. b.
Der folgende Teil bis zum Ende des Absatzes ist in Nachlese gelöscht. In Nachlese: Anderheit – zur uneinseelbaren Anderwelt – Erkrankten
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anderen Seienden Bestehendes. Der Psychotherapeut, der die Krisis durchschritten hat, darf es nun wagen, daran zu rühren. Diesen Weg des erschreckten Innehaltens, des unerschrockenen Besinnens, des persönlichen Einsatzes, des Abwerfens der Sicherheiten, des rückhaltlosen Gegenübertretens, der Aufsprengung des Psychologismus diesen Weg der Schau und der Wagnisse ist Hans Trüb gegangen und hat von ihm immer wieder, nach immer neuem Ringen um das Wort für das Ungeläufige, immer reifere und zulänglichere Kunde gegeben, bis zur reifsten und zulänglichsten, dieser Schrift hier, die er nicht mehr vollendet hat. Sein Fuß ist erstarrt, aber die Bahn ist gebrochen. Es werden gewiß die Nachfolgenden nicht ausbleiben, die wie er sind, Wache und Kühne, die Berufsökonomik aufs Spiel Setzende, sich nicht Schonende und nicht Aufsparende, sich Dranwagende, und werden weitergehn.
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Bilder von Gut und Böse 1 II Unser Ausgangspunkt Es ist hergebracht, sich Gut und Böse als zwei Pole, zwei einander entgegengesetzte Richtungen, die zwei nach rechts und links gestreckten Arme eines Wegweisers zu denken; man versteht sie als der gleichen Ebene des Seins zugehörig, als von gleicher Art, nur eben einander widersprüchlich. Wir müssen, wenn wir nicht Abstraktionen der Ethik, sondern Wesensstände der Menschlichen Wirklichkeit im Sinne haben, vorerst mit dieser Konvention aufräumen und die Grundverschiedenheit der beiden nach Art, Struktur und Dynamik innerhalb der menschlichen Wirklichkeit erkennen. Es empfiehlt sich, mit dem Bösen zu beginnen, da, wie sich noch zeigen wird, im ursprünglichen Stadium, von dem zunächst zu handeln ist, der Wesensstand des Guten den des Bösen in einer gewissen Weise voraussetzt. Nun aber ist dieses zwar in seinen Aktionen und Wirkungen, seinen Mienen und Gebärden auch der extraspektiven Sicht konkret gegeben, in seinem Wesensstande jedoch nur unsrer Introspektion, und nur unser Selbstwissen – das freilich überall und immer der Ergänzung durch unsre Kenntnis des Selbstwissens anderer bedarf – vermag auszusagen, wie es zugeht, wenn man das Böse tut [nur daß wir dieses Selbstwissen viel zu wenig anzuwenden pflegen, wenn wir uns in den Kreisen des Bösen umsehn und dabei doch wohl auch einigermaßen darauf aus sind, es zu verstehen]. Da hinwieder solch eine Erfahrung einen hohen Grad von Objektivierung erreicht haben muß, um für die Erkenntnis des Gegenstands brauchbar zu sein, ist es nötig, von der Haltung eines auf sein Leben zurückblickenden Menschen auszugehen, der die unerläßliche Distanz auch zu jenen unter den erinnerten inneren und äußeren Begebnissen gewonnen hat, die für ihn mit der Tatsächlichkeit des Bösen verknüpft sind, dessen Gedächtnis aber die nicht minder erforderliche Kraft und Frische nicht eingebüßt hat. Es ergibt sich aus dem Gesagten, daß er um die existentielle Tatsächlichkeit des Bösen als Bösen wissen, ja daß es ihm um sie spezifisch ernst sein muß. Wer es zu einer mehr oder weniger zweifelhaften Sphäre der sogenannten Werte zulänglich unterzubringen gelernt hat, für wen Schuldigwerden nur der zivilisierte Ausdruck für die Übertretung eines Tabu ist, dem keine andere Realität als die Kontrolle der Gesellschaft und in ihrem Gefolge des »Über-Ich« 2 über 1. 2.
Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 263 f. Freud führte den Begriff »Über-Ich« in Das Ich und das Es (1923) ein und bezeich-
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das Spiel der Triebe entspricht, ist für das hier gemeinte Geschäft naturgemäß untauglich. Es ist jedoch, um einem heute jeder Erörterung dieser Art drohenden Mißverständnis vorzubeugen, an dieser Stelle vonnöten, eine wesentliche Abgrenzung vorzunehmen. Um was es hier geht, ist gattungsmäßig verschieden von dem, was man in der modernen Psychologie die Selbstanalyse nennt. Diese, wie im allgemeinen die psychologische Analyse in unserer Zeit, geht darauf aus, »hinter« das Erinnerte zu gelangen, es auf die als »verdrängt« angenommenen Realelemente »zurückzuführen«. Uns ist es um die Vergegenwärtigung des so zuverlässig, so konkret und vollständig wie möglich erinnerten, durchaus unreduzierten und unzerlegten Vorgangs zu tun. Selbstverständlich muß das Gedächtnis dabei von allen je erfolgten Abstrichen und Zutaten, Beschönigungen und Dämonisierungen freigemacht werden; dies aber kann, wem die Konfrontation mit sich selbst, dem wesentlichen Umfang des Vergangenen nach, sich als eine der wirkenden Mächte im Prozeß des »Werdens zu dem, was man ist« erwiesen hat. Führend in diesem Werk der großen Reflexion wird ihm die unvergessene Reihe jener Momente elektrischer Spontaneität sein, da unversehens das Wetterleuchten des Gewesenen am Himmel des Jetzt aufzog. Versucht der Fragende, in seinem so gewonnenen Selbstwissen und dem ihm bekannt gewordenen analogen Selbstwissen anderer das grundlegend Gemeinsame zu erfassen, dann ergibt sich ihm ein Bild der biographisch maßgebenden Anfänge von Böse und Gut, das sich von den hergebrachten Darstellungen bemerkenswert unterscheidet und jene Erzählungen des Alten Testaments von der Menschenfrühe bedeutsam bestätigt. Die Einsicht in das zweite Stadium, auf das die altiranischen Erzählungen zu beziehen sind, wird freilich auf einem andern Wege gewonnen werden müssen.
III Das erste Stadium Das menschliche Leben in seinem eigentlichen, aus der Natur tretenden Sondersinn beginnt mit der Erfahrung des Chaos als eines in der Seele wahrgenommenen Zustands. net damit einen Teil des psychischen Apparats, der sich vom bewußten Ich abspaltet und ihm als Richter, Zensor, Beobachter, Ideal und Gewissen gegenübertritt. Gebildet durch die Verinnerlichung elterlicher Forderungen und Verbote wird das ÜberIch klassisch als Erbe des Ödipuskomplexes gefaßt.
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Nur durch diese Erfahrung und als ihre Versinnlichung hat der keiner andern Empirie zu entnehmende Begriff des Chaos entstehen und in die mythischen Kosmogonien eingehen können. In einer Werdezeit, die zumeist mit der Pubertät koinzidiert, ohne an sie gebunden zu sein, wird die menschliche Person unausweichlich der Seinskategorie der Möglichkeit inne, die sich ja unter allen Lebewesen eben im Menschen darstellt, dem offenbar einzigen unter den uns bekannten, für den das Wirkliche dauernd vom Möglichen umrandet ist. Die werdende menschliche Person, von der ich rede, wird von der Möglichkeit als einer Unendlichkeit überstürzt. Die Fülle der Möglichkeiten flutet über ihre schmale Wirklichkeit hin und überwältigt sie. Die Phantasie, mit den Potentialitäten spielend, die Möglichkeitsbilderei, die jener alttestamentliche Gottesspruch als böse bezeichnet, weil sie von der von Gott gegebenen Wirklichkeit ablenkt, erlegt die Daseinsform ihrer Unbestimmbarkeit der Bestimmtheit des Augenblicks auf. Die Substanz droht in der Potenz unterzugehn. Das wirbelnde Chaos, »Irrsal und Wirrsal« [Gen 1, 2], ist eingedrungen. Wie aber in dem Stadium, von dem ich rede, für den Menschen alles, was ihm erscheint oder widerfährt, sich ins Motorische, in ein Tunkönnen und Tunwollen wandelt, so wird auch das eingedrungene Chaos der Seinsmöglichkeiten zu einem Chaos der Tunsmöglichkeiten. Nicht die Dinge kreisen im Wirbel, sondern die möglichen Weisen, sich ihnen zuzutun und anzutun. Diese treibende All-Leidenschaft ist nicht mit der sogenannten Libido 3 zu verwechseln, ohne deren vitale Kraft sie freilich nicht bestehen könnte, auf die sie zu reduzieren aber eine Simplifikation und Animalisation der menschlichen Wirklichkeit bedeutet. Triebe im Sinn der Psychologie sind erforderliche Abstraktionen; wir aber sprechen von einem konkreten Gesamtvorgang in einer Lebensstunde der Person. Zudem sind jene Triebe per definitionem »auf etwas gerichtet«; dem in sich kreisenden Wirbel aber ist die Richtungslosigkeit eigentümlich. Die im schwindligen Taumel umgetriebene Seele kann in ihm nicht beharren; sie entstrebt ihm. Wenn nicht die in die geläufige Normalität zurückführende Ebbe eintritt, bestehen für sie zweierlei Ausgänge. Der eine bietet sich ihr immer wieder dar: sie kann nach irgendeinem Gegenstand, an den der Wirbel sie eben heranführt, greifen und ihre Leiden3.
Der Ausdruck »Libido« bedeutet im Lateinischen Lust oder Wunsch. Bei Freud steht er für die Energie als Substrat von Umwandlungen des Sexualtriebs hinsichtlich des Objekts, des Ziels oder der Quelle der sexuellen Erregung. Im Gegensatz zu Freuds Libido-Begriff, der stets sexueller Natur ist, erweitert ihn Jung zu einem Begriff der allgemeinen »psychischen Energie«, die in jedem Streben nach etwas enthalten sei.
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schaft darauf werfen; oder sie kann, in einer ihr selber noch unverständlichen Eingebung, das verwegene Werk der Selbsteinung beginnen. Im ersten Fall tauscht sie die richtungslose Möglichkeit gegen eine richtungslose Wirklichkeit ein, in der sie tut, was sie nicht tun will, das ihr Widersinnige, das Fremde, das »Böse«; im zweiten hat sie, wenn das Werk gerät, die richtungslose Fülle für die eine gespannte Sehne, den einen gestreckten Balken der Richtung hergegeben. Wenn aber das Werk nicht gerät, was ja bei einer so abgründigen Unternehmung nicht wunder nehmen darf, hat sie doch zu ahnen bekommen, was Richtung, vielmehr die Richtung ist, – denn es gibt in diesem strengen Sinn nur eine. In dem Maße nämlich, in dem die Seele sich eint, erfährt sie die Richtung, erfährt sie sich als auf die Suche nach ihr geschickt. Sie kommt in den Dienst des Guten oder in den Dienst um das Gute. Endgültigkeit waltet hier nicht. Immer wieder taucht mit dem Wogen ihrer Lockungen die Allversuchung auf und reißt die Kraft der Menschenseele hin; immer wieder manifestiert sich ihr die eingeborene Gnade und verheißt das schier Unglaubliche: du kannst ganz und eins werden. Immer aber sind da nicht Links und Rechts, sondern der Chaoswirbel und der darüber schwebende Geist. Von den zwei Wegen ist der eine die eingeschlagene Weglosigkeit, die Scheinentscheidung, die die Entscheidungslosigkeit ist, die Flucht in den Wahn und zuletzt in die Sucht; der andere ist der Weg, denn es gibt nur einen. Aber die gleiche Grundstruktur des Vorgangs, nur knapper und härter geworden, finden wir in zahllosen Situationen unseres späteren Lebens wieder. Es sind die Situationen, in denen wir uns angefordert fühlen, die Entscheidung zu treffen, die von unserer Person aus, und zwar von unserer Person aus, wie wir sie als mit uns »gemeint« empfinden, dieser uns antretenden Situation antwortet. Eine solche Entscheidung kann nur mit der ganzen, einsgewordenen Seele getroffen werden, die ganze Kraft der Seele, wohin immer sie gewandt oder geneigt war, als die Situation uns antrat, muß in sie eingehen, sonst werden wir nichts als ein Stottern, eine Scheinantwort, einen Antwortersatz hervorbringen. Die Situationen, ob mehr biographischen, ob mehr historischen Charakters, sind immer – wenn auch oft hinter Verhüllungen – grausam streng, weil der unredressierbare Zeit- und Lebensablauf es ist, und nur mit der Strenge der geeinten Entscheidung können wir uns ihnen gewachsen erweisen. Es ist ein grausames Wagnis, dieses Ganzwerden, Gestaltwerden, Kristallwerden der Seele. Es muß ja alles überwunden werden, was an Neigungen, an Bequemlichkeiten, an Gewohnheiten, an Betriebsamkeiten, an Liebhaberei der Möglichkeiten sich in uns breitgemacht hat, und überwunden werden muß es nicht durch Ausschaltung, durch Niederwerfung, denn
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nie ist so die echte Ganzheit zu erreichen, wo keine niedergetretenen Lüste in den Ecken lauern. Vielmehr müssen all diese bewegten oder festgelegten Kräfte, vom Schwung der Seele ergriffen, sich gleichsam aus freien Stücken in die Mächtigkeit der Entscheidung stürzen und in ihr aufgehen. Bis die Seele als Gestalt so Großes über die Seele als Materie vermag, bis das Chaos zum Kosmos gebändigt und geformt wird, welch ungeheuerer Widerstand! So ist es verständlich genug, daß der Vorgang – der zuweilen, wie wir es von ein ganzes Drama umfassenden Träumen wissen, nicht länger als eine Minute dauert – so oft in einer beharrenden Entscheidungslosigkeit mündet. Der anthropologische Rückblick der Person [der zu Unrecht »Blick« heißt, wir erfahren ja, wenn unser Gedächtnis sich bewährt, die vergangenen Begebenheiten dieser Art mit allen Sinnen, mit der Erregung der Nerven und der Spannung oder Schlaffheit der Muskeln] sagt uns alle diese und all unsre andern Entscheidungslosigkeiten, alle die Momente, wo wir nichts anderes taten, als daß wir das als das Rechte Erkannte nicht taten, als böse an. Aber ist denn das Böse nicht wesensmäßig ein Handeln. Durchaus nicht: das Handeln ist nur die Art des bösen Geschehens, die das Böse kundbar macht. Aber entstammt das böse Handeln nicht eben doch einer Entscheidung zum Bösen? Es ist der letzte Sinn unsrer Darlegung, daß auch es primär der Entscheidungslosigkeit entstammt, vorausgesetzt, daß wir unter Entscheidung nicht eine partielle, eine Scheinentscheidung, sondern die der ganzen Seele meinen. Denn eine partielle Entscheidung, eine, die die ihr entgegenstehenden Kräfte unberührt läßt, und gar eine, der die höchsten Kräfte der Seele, die eigentliche Aufbausubstanz der mit mir gemeinten Person, zurückgedrängt und ohnmächtig, aber im Protest des Geistes wesend zusehn, ist in unserem Sinne nicht Entscheidung zu nennen. Das Böse kann nicht mit der ganzen Seele getan werden; das Gute kann nur mit der ganzen Seele getan werden. Es wird getan, wenn der Schwung der Seele, von ihren höchsten Kräften ausgehend, alle ergreift und sie sich in das läuternde und einwandelnde Feuer, als in die Mächtigkeit der Entscheidung, stürzen läßt. Das Böse ist die Richtungslosigkeit und was in ihr und aus ihr, als Ergreifen, Packen, Schlingen, Verführen, Nötigen, Ausnützen, Niederbeugen, Peinigen, Vernichten dessen, was sich bietet, getan wird. Das Gute ist die Richtung und was in ihr getan wird; was in ihr getan wird, wird mit der ganzen Seele getan, so daß in die Tat all die Kraft und Leidenschaft, mit der das Böse hätte getan werden können, miteingeht. In diesem Zusammenhang ist an jene talmudische Interpretation des biblischen Gottesspruchs von der Einbildung oder dem »bösen Trieb« zu erinnern, dessen ganze Kraft man in die Liebe zu Gott hereinnehmen muß, um Ihm wahrhaft zu dienen.
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Mit dem Gesagten soll und kann nichts andres gegeben sein als eine anthropologische Bestimmung von Gut und Böse, wie sie sich in letzter Instanz dem Rückblick der menschlichen Person, ihrem Erkennen ihrer selbst im Ablauf ihres gelebten Lebens ergibt. Diese anthropologische Bestimmung lernt sich verstehen als wesensähnlich den biblischen Erzählungen der Ursprünge von Gut und Böse, deren Erzähler so Adam wie Kain im Abgrund seines eigenen Herzens erfahren haben muß. Nicht aber soll und kann darüber hinaus ein Kriterium gegeben sein, weder zum Gebrauch der theoretischen Meditation über die Wesenheiten »Gut« und »Böse«, noch gar zum Gebrauch des entwerfenden Menschen, dem das Fragen und Forschen, was im Sinn des Entwurfs gut, was böse sei, das Tasten und Tappen im Dunkel der Problematik, ja auch die Zweifel an der Gültigkeit der Begriffe selber nicht erspart bleiben. Jener und dieser werden sich ihr Kriterium oder ihre Kriterien anderswo holen, anders erringen müssen; der Meditierende will anderes erfahren als wie es zugeht, der Entwerfende kann seine Wahl nicht danach treffen, ob seine Seele daran ganz werden wird. Zwischen ihrem Bedürfen und unsrer anthropologischen Einsicht gibt es nur eine Verknüpfung, die freilich eine gewichtige ist. Es ist die jedem, ja: jedem Menschen eingepflanzte, aber ungebührlich vernachlässigte Ahnung des Wesens, das mit ihm, und mit ihm allein – gleichviel, schöpfungsmäßig oder »individuationsmäßig« – gemeint, intendiert, vorgebildet und das zu vollenden, das zu werden ihm zugemutet und zugetraut ist, und die dadurch ermöglichte jeweilige Vergleichung. Auch hier ist ein Kriterium, und es ist ein anthropologisches; freilich kann es seinem Wesen nach nie über den Bereich des einzelnen hinauslangen. Es kann so viele Gestalten annehmen als es menschliche Individuen gibt – und wird doch nie relativiert.
IV Das zweite Stadium Weit schwerer ist es, die menschliche Wirklichkeit zu ermitteln, die den Mythen von der ahrimanischen Wahl 4 und dem luziferischen Abfall entspricht. Es liegt im Wesen der Sache, daß uns hier die Hilfe des Rückblicks nur sehr selten geboten ist; die sich einmal mit dem innersten Wesen dem Bösen ergeben haben, werden kaum je in ihrem späteren Leben, auch 4.
Ahriman steht für das böse Prinzip der Finsternis im zoroastrischen Religionssystem, das im letzten Kampf gegen Ormuzd (Prinzip des Lichts) die Welt und damit auch sich selber zerstören werde.
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nicht nach einer vollkommenen Umkehr, zu jenem gelassenen zuverlässig entsinnenden und deutenden Rückblick befähigt sein, der allein unsere Einsicht fördern kann. Im Schrifttum derer, die ihr Schicksal zu erzählen wissen, werden wir fast nie solch einem Bericht begegnen; was uns auf diesem Gebiet vorliegt, ist – anscheinend zwangsweise – pathetisiert oder sentimentalisiert, und zwar so gründlich, daß wir die Vorgänge selbst, innere und äußere gleicherweise, nicht herauszudestillieren vermögen. Was die psychologische Forschung an Phänomenen ähnlicher Art zutage gebracht hat, sind naturgemäß lediglich neurotische Grenzfälle und mit sehr wenigen Ausnahmen nicht geeignet, unser Problem zu erhellen. Eigene, methodisch auf das hierfür Wesentliche gerichtete Beobachtung muß hier einsetzen. Das weitaus ergiebigste Material zu deren Ergänzung bietet sich uns in der historischen und insbesondere der biographischen Literatur. Es kommt darauf an, unsere Aufmerksamkeit jenen persönlichen Krisen zuzuwenden, die auf die Seelendynamik der Person eine spezifische Wirkung zum Starrwerden, Verhohlenwerden ausüben. Wir finden dann, daß diese Krisen von zwei verschiedenen, deutlich unterscheidbaren Arten sind: der einen liegen negative Erfahrungen mit der Umwelt zugrunde, als die einem die Bestätigung seines Wesens verweigert, nach der er begehrt, der andern, die uns hier allein angeht, negative Erfahrungen mit sich selbst, indem die menschliche Person selber zu sich nicht mehr Ja sagen kann; von den Mischformen sei abgesehen. Wir haben gesehen, wie der Mensch immer wieder die Dimension des Bösen als Entscheidungslosigkeit erfährt. Die Vorgänge, in denen er sie erfährt, bleiben aber in seinem Selbstwissen nicht eine Reihe isolierter Momente des Sich-nicht-entscheidens, des vom Spiel der Phantasie mit den Potentialitäten Besessenwerdens, des sich in eben dieser Besessenheit auf das sich Darbietende Werfens: sie schließen im Selbstwissen sich zu einer Folge der Entscheidungslosigkeit, gleichsam zu einer Beharrung in ihr zusammen. Diese Negativierung des Selbstwissens wird natürlich immer wieder »verdrängt« werden, solange der Wille zur puren Selbsterhaltung den zum Sich-selbst-bejahen-können überwältigt. In dem Maße hingegen, als dieser sich behauptet, wird der Zustand in eine akute AutoProblematik übergehen: der Mensch stellt sich selbst in Frage, weil sein Selbstwissen ihm nicht mehr ermöglicht, sich zu bejahen und zu bestätigen. Diese Lage nimmt nun entweder eine pathologische Form an, das heißt, das Verhältnis der Person zu sich selbst wird brüchig und verworren, oder die Person findet den Ausgang, wo sie ihn kaum noch erwartete, 5.
»Umkehr«, heb. »teschuwa« bezeichnet in der jüdischen Tradition die Sühne einer Sündentat sowie die Rückwende eines ehemals Säkularen zur Religion.
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nämlich durch eine äußerste, an Gewalt und Wirksamkeit sie selbst überraschende Anstrengung des Einswerdens, einen entscheidenden Akt der Entscheidung, eben das also, was in der erstaunlich treffenden Sprache der Religion »die Umkehr« heißt; oder es geschieht ein Drittes, etwas, dem unter den Seltsamkeiten des Menschen ein Sonderrang zukommt und dessen Betrachtung wir uns nun zuwenden müssen. Weil der Mensch das einzige uns bekannte Lebewesen ist, in dem sich gewissermaßen die Kategorie der Möglichkeit verkörpert hat, und dessen Wirklichkeit unablässig von den Möglichkeiten umwittert wird, bedarf er als das einzige unter allen der Bestätigung. Jedes Tier ist in seinem Diessein gefestigt, seine Modifikationen sind ihm vorbestimmt, und wenn eins sich zur Raupe und zur Puppe wandelt, ist auch seine Wandlung noch Grenze; es ist eben in alledem mitsammen das, was es ist, und so kann ihm keine Bestätigung not tun, ja es wäre ein Widersinn, wenn ihm jemand oder wenn es sich selber sagte: Du darfst sein, was du bist. Der Mensch ist als Mensch ein Wagnis des Lebens, undeterminiert und ungefestigt; er bedarf daher der Bestätigung, und diese kann er naturgemäß nur als der einzelne Mensch empfangen, indem die andern und er selbst ihn in seinem Dieser-Mensch-Sein bestätigen. Immer wieder muß das Ja zu ihm gesprochen werden, vom Blicken des Vertrauten und von der Regung des eigenen Herzens her, um ihn von der Bangigkeit des Preisgegebenseins zu befreien, die ein Vorgeschmack des Todes ist. Zur Not kann man auf die Bestätigung durch die andern verzichten, wenn die eigne sich so steigert, daß sie die Ergänzung durch jene entbehrlich macht. Nicht aber umgekehrt: der Zuspruch der Mitmenschen reicht nicht hin, wenn das Selbstwissen die innere Ablehnung gebietet, denn das Selbstwissen ist ja unbestreitbar das zuständigere. So muß denn der Mensch, wenn er das Selbstwissen nicht dadurch zu berichtigen vermag, daß er umkehrt, ihm die Macht über das Ja und Nein nehmen; er muß die Bejahung von allem Befund unabhängig machen und sie statt auf ein »über sich selber Urteilen« auf ein souveränes Sich-selber-wollen gründen; er muß sich selber wählen, und zwar nicht, »wie er gemeint ist« – dieses Bild muß vielmehr völlig ausgelöscht werden –, sondern wie er eben ist, wie er selber sich entschlossen hat, sich zu meinen. Man erkennt sie, die das eigne Selbstwissen Bezwingenden, zumeist an der krampfhaften Pressung der Lippen, der krampfhaften Spannung der Handmuskeln oder dem krampfhaften Auftritt des Fußes. Diese Haltung ist jenes seltsamste Dritte, das aus der Auto-Problematik »ins Freie« führt: man braucht nicht mehr nach dem Sein hinauszuschauen, es ist hier, man ist was man will, und man will was man ist. Das ist es auch, wovon der Mythus redet, wenn er erzählt, Yima habe sich zum Schöpfer seiner selbst
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proklamiert. Eben dies weiß noch Prudentius vom Satan zu berichten, 6 und das große Sagenmotiv des Pakts mit ihm geht offenbar darauf zurück: der sich das Selbstschöpfertum errang, ist bereit, dem Menschen zu ihm zu verhelfen. Von hier aus erschließt sich auch der Sinn jenes paradoxen Mythus von den zwei Geistern, von denen der eine das Böse wählte, nicht unwissend, daß es das Böse sei, sondern als das Böse. Der »arge Geist« – in dem also das Böse bereits, sei es auch nur in statu nascendi, 7 besteht – hat zwischen zwei Bejahungen zu wählen: der Bejahung seiner selbst und der Bejahung der Ordnung, die Gut und Böse, das erste als das Bejahte, das zweite als das Verneinte, gesetzt hat und ewig setzt. Bejaht er die Ordnung, so muß er selbst »gut« werden, das heißt, er muß seinen gegenwärtigen Wesensstand verneinen und überwinden; bejaht er sich selber, so muß er die Ordnung verneinen und verkehren, er muß an die Ja-Stelle, die das »Gute« einnahm, das Prinzip seiner eigenen Selbstbejahung bringen, es darf kein Bejahenswertes mehr geben als eben das von ihm Bejahte, sein Ja zu sich selber bestimmt Grund und Recht der Bejahung. Wenn er dem Begriff »gut« noch einen Sinn zugesteht, so ist es dieser: das, was ich eben bin. Er hat sich gewählt, und nichts, keine Beschaffenheit und kein Schicksal, kann mehr mit einem Nein signiert sein, wenn es das Seine ist. So erklärt sich denn auch vollends, daß Yimas Abfall als Lüge bezeichnet wird. 8 Indem er sich als Schöpfer seiner selbst preist und segnet; begeht er die Lüge am Sein, ja er will sie, die Lüge, zur Herrschaft über das Sein erheben, denn Wahrheit soll nicht mehr sein, was er als solche erfährt, sondern was er als solche bestimmt. Die Erzählung von Yimas Leben nach dem Abfall sagt überdeutlich, was hier noch zu sagen ist.
V Das Böse und das Gute Die Bilder von Gut und Böse, die hier erläutert worden sind, entsprechen, wie ich gezeigt habe, bestimmten, anthropologisch erfaßbaren Vorgängen im Lebensweg der menschlichen Person, und zwar die Bilder des Bösen zwei verschiedenen Stadien dieses Wegs, die alttestamentlichen einem frühen, die iranischen einem späteren Stadium, wogegen die Bilder des 6. 7. 8.
Aurelius Clemens Prudentius, Libri contra Symmachum, ca. 403 n. Chr. Lat., im Zustand des Entstehens. Die alten Iranier glaubten, daß Yima ihr erster König im Goldenen Zeitalter gewesen war, über dessen Wirken und Gottesglauben sich u. a. in zoroastrischen Schriften verschiedene Legenden ranken.
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Guten im wesentlichen auf den gleichen Moment hinweisen, der sich sowohl im ersten wie im zweiten Stadium begeben kann. Den biblischen Bildern vom Bösen entspricht im ersten Stadium der Lebenswirklichkeit das Vorhaben des Menschen, den chaotischen Zustand der Seele, den Zustand der richtungslos wogenden Leidenschaft scheinbar statt wirklich zu überwinden, aus ihm gewaltsam auszubrechen, wo eben eine Bresche zu schlagen ist, statt durch die Einung der Kräfte die Richtung zu gewinnen, die nur so gewonnen werden kann. Den altpersischen Bildern entspricht im zweiten Stadium der Lebenswirklichkeit das Unterfangen des Menschen, den durch seine Richtungslosigkeit und seine Scheinentscheidungen entstandenen widersprüchlichen Zustand dadurch zu einem tragbaren und sogar befriedigenden zu machen, daß dieser Zustand, im Zusammenhang der Beschaffenheit der Person überhaupt, schlechthin bejaht wird. Im ersten Stadium wählt der Mensch noch nicht, er handelt nur; im zweiten wählt er sich selbst, im Sinn seines So-beschaffen-seins oder So-geworden-seins. Ein »radikal Böses« gibt es im ersten Stadium noch nicht; welche Übeltaten auch vollbracht werden, das Handeln ist nicht ein Tun der Handlung, sondern ein in sie Geraten. Im zweiten Stadium radikalisiert sich das Böse, weil das Vorgefundene gewollt wird; wer dem, das ihm je und je in der Tiefe der geeinten Selbstbesinnung als das zu Verneinende einsichtig wurde, das Vorzeichen des Bejahten, weil Seinen, verleiht, gibt ihm den substantiellen Charakter, den es bis dahin nicht hatte. Wenn wir den Vorgang des ersten Stadiums mit einer exzentrischen Wirbelbewegung vergleichen dürfen, so mag, um den des zweiten zu verdeutlichen, der Prozeß des Gefrierens eines fließenden Wassers als Gleichnis dienen. Das Gute hingegen bewahrt in beiden Stadien den Charakter der Richtung. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß es für die wahre, für die mit der geeinten Seele vollzogene menschliche Entscheidung nur Eine Richtung gibt. Das bedeutet, daß, wofür immer die jeweilige Entscheidung getroffen wird, in der Seinswirklichkeit alle die so verschiedenen Entscheidungen nur Variationen einer einzigen, in einer einzigen Richtung immer neu vollzogenen sind. Diese Richtung kann auf zweierlei Weise verstanden werden. Entweder man versteht sie als die Richtung auf die Person, die mit mir gemeint ist und die ich eben nur in solcher Selbstbesinnung, die scheidet und entscheidet, keine Kraft zurückdrängend, aber die richtungslosen Kräfte durch Richtungsverleihung an sie verwandelnd, erfasse: ich erkenne das mit mir Gemeinte je und je und immer klarer, eben indem ich die Richtung darauf verleihe, die Richtung darauf nehme, – die Erfahrung der wesentlichen Stunden erschließt uns diese Paradoxie, ihre Tatsächlichkeit und ihren Sinn. Oder aber man versteht
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die einzige Richtung als die Richtung zu Gott. Diese Doppelheit des Verständnisses ist aber nichts anderes als eine Doppelheit der Aspekte, wofern ich nur mit dem Namen »Gott« nicht eine Projektion meines Selbst oder dergleichen, sondern meinen Schöpfer nenne, das heißt, den Urheber meiner Einzigkeit, die innerweltlich unableitbar ist. Meine Einzigkeit, diese unwiederholbare Wesensform hier, in keine Elemente zerlegbar und aus keinen zusammensetzbar, erfahre ich als eine entworfene oder vorgebildete, mir zur Ausführung anvertraut, wiewohl alles, was auf mich einwirkt, an ihr mitwirkt und mitwirken muß. Daß ein einmaliges Menschenwesen erschaffen ist, bedeutet, daß es nicht zu einem bloßen Dasein, sondern zur Erfüllung einer Seinsintention ins Sein gesetzt ist, einer Seinsintention, die personal ist, aber nicht im Sinn einer freien Entfaltung unendlicher Sonderheiten, sondern einer Verwirklichung des Rechten in unendlichen Persongestalten. Denn Schöpfung ist zielhaft, und das menschlich Rechte ist der in der Einen Richtung gerichtete Dienst an dem nur eben so weit als dazu not tut zu ahnen gegebenen Ziel der Schöpfung; das menschlich Rechte ist ja der Dienst des einzelnen, der die mit ihm schöpferisch gemeinte rechte Einzigkeit verwirklicht. In der Entscheidung die Richtung annehmen bedeutet somit: die Richtung auf den Punkt des Seins nehmen, an dem ich, den Entwurf, der ich bin, an meinem Teil ausführend, dem meiner harrenden Gottesgeheimnis meiner erschaffenen Einzigkeit begegne. Das so begriffene Gute ist in kein ethisches Koordinatensystem einzuordnen, denn alle, die wir kennen, entstanden um seinetwillen und bestanden oder bestehen kraft seiner. Alles Ethos hat seinen Ursprung in einer Offenbarung, ob es nun noch um sie weiß und ihr botmäßig ist oder nicht, alle Offenbarung aber ist Offenbarung des menschlichen Dienstes am Ziel der Schöpfung, in welchem Dienst der Mensch sich bewährt. Ohne die Bewährung, und das heißt, ohne das Einschlagen und Einhalten der Einen Richtung, soviel er vermag, quantum satis, gibt es für den Menschen wohl, was er das Leben nennt, auch das Leben der Seele, auch das Leben des Geistes, in allen Freiheiten und Fruchtbarkeiten, allen Graden und Rängen, – Existenz gibt es für ihn ohne sie nicht.
MBW 10 (02686) / p. 70 / 13.12.2016
Das existentielle Mißtrauen zwischen Mensch und Mensch 1 Wir fragen nach Hoffnung für diese Stunde. Damit ist gesagt, daß wir Fragenden diese Stunde nicht bloß als eine der schwersten Bedrängnis empfinden, sondern auch als eine, für die es keinen Ausblick in künftige wesensverschiedene Stunden, in eine Zeit der Helle und der Höhe zu geben scheint. Solch ein Ausblick ist es ja, den wir im spezifischen Sinne als Hoffnung bezeichnen. Die Menschenwelt ist heute, wie zuvor, in zwei Lager aufgespalten, von denen jedes des andere als die leibhafte Falschheit und sich selber als die leibhafte Wahrheit versteht. Der Mensch begnügt sich nicht mehr, wie in früheren Epochen, das eigne Prinzip für das allein wahre und das ihm gegenüberstehende für durchaus falsch zu halten, er ist überzeugt, daß es auf seiner Seite mit rechten Dingen zugehe, auf der Gegenseite mit unrechten, daß es ihm um die Erkenntnis und Verwirklichung des Richtigen zu tun sei, dem Gegner um die Maskierung seiner selbstsüchtigen Interessen, in der modernen Terminologie ausgedrückt: daß bei ihm die Ideen, bei dem andern nur Ideologien seien. Von dieser Quelle wird das Mißtrauen gespeist, das zwischen den beiden Lagern herrscht. Während des ersten Weltkrieges ist mir offenbar geworden, daß sich ein Prozeß vollzieht, den ich bis dahin nur geahnt hatte: Die zunehmende Erschwerung des echten Gesprächs, und ganz besonders des echten Gesprächs zwischen Menschen verschiedener Art und Gesinnung. Der unmittelbare, rückhaltlose Dialog wird immer schwerer und seltener, immer unbarmherziger drohen die Abgründe zwischen Mensch und Mensch unüberbrückbar zu werden. Dies, so ging mir damals, vor 35 Jahren, auf, ist die eigentliche Schicksalsfrage der Menschheit. Seither habe ich unablässig darauf hingewiesen, daß die Zukunft des Menschen als Mensch von einer Wiedergeburt des Dialogs abhängt. Es gilt, das massive Mißtrauen im andern zu überwinden, aber auch das in uns selbst. Ich meine damit nicht das angestammte Urmißtrauen, etwa das gegen den Artfremden, den Unsteten, den Traditionslosen, das Mißtrauen des Bauern im abgelegenen Gehöft gegen den plötzlich vor ihm auftauchenden Landstreicher. Ich meine das universale Mißtrauen unseres Zeitalters. Nichts steht dem Aufstieg einer Kultur des Dialogs so sehr im Wege wie die dämonische Macht, die unsere Welt regiert, die Dämonie des grundsätzlichen Mißtrauens. 1.
Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 264 f.
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Es ist wichtig, deutlich wahrzunehmen, worin sich das spezifische moderne Mißtrauen von dem uralten, ja dem Menschenwesen anscheinend inhärenten unterscheidet, das in allen Kulturen seine Zeichen hinterlassen hat. Immer hat es zahllose Situationen gegeben, wo ein Mensch im Umgang mit einem Mitmenschen vom Zweifel ergriffen wurde, ob er ihm vertrauen dürfe, das heißt, ob der andere auch wirklich meine, was er sagt, und ob er handeln würde, wie er spricht; wo ein Mensch glaubte, sein Lebensinteresse fordere von ihm, den Verdacht zu hegen, der andere lege es darauf an, ihm anders zu erscheinen als er ist, und er müsse auf der Hut sein, das andrängende Scheinbild abzuwehren. In unserer Zeit ist etwas wesentlich anderes hinzugekommen, das mit weit größerer Mächtigkeit die Grundlagen des zwischenmenschlichen Daseins zu untergraben geeignet ist. Es wird nun nicht mehr einfach befürchtet, der andere verstehe sich willentlich, sondern es wird schlechthin vorausgesetzt, er könne gar nicht anders; die bei ihm angenommene Differenz zwischen Meinung und Aeußerung, zwischen Aeußerung und Handlung wird hier nicht mehr als Absicht, sondern als Wesensnotwendigkeit verstanden. Der andere teilt mir den Aspekt mit, den er von einem bestimmten Gegenstand gewonnen habe, aber ich nehme seine Mitteilung gar nicht wirklich zur Kenntnis, sie ist mir nicht ein ernst zu nehmender Beitrag zur Information über diesen Gegenstand; ich höre vielmehr vor allem etwas heraus, was den andern antreibe, das zu sagen, was er sagt, ein unbewußtes Motiv, einen »Komplex« etwa. Er äußert einen Gedanken über ein Lebensproblem, das mich beschäftigt, aber ich frage mich gar nicht nach dem Wahrheitsgehalt des Geäußerten, ich achte nur darauf, welches Interesse der Gruppe, der der andere angehört, sich in dieses dem Schein nach so sachliche Urteil verkleidet habe; die Idee ist mir, eben als die Idee des andern, nur noch eine »Ideologie«. Die Hauptaufgabe im Umgang mit meinem Mitmenschen wird mehr und mehr, ihn, sei es individualpsychologisch oder soziologisch, zu durchschauen und zu entlarven – wobei im klassischen Fall gar nicht mehr eine Larve gemeint ist, die er sich aufgesetzt habe, um mich zu täuschen, sondern eine, die sich ihm ohne sein Wissen aufgesetzt, ja geradezu aufgeprägt habe, so daß der eigentlich Getäuschte sein eigenes Bewußtsein ist; dazwischen gibt es natürlich unzählige Uebergangsformen. Mit dieser veränderten Grundhaltung, die in den Lehren von Marx und Freud wissenschaftliche Rationalisierungen gefunden hat, ist das Mißtrauen zwischen Mensch und Mensch existentiell geworden, und zwar im doppelten Sinn: Es stellt nicht mehr bloß die Aufrichtigkeit, die Redlichkeit des andern in Frage, sondern die innere Uebereinstimmung seines Daseins selber, und es hebt nicht mehr bloß das zuverlässige Gesprächs zwischen offenen oder gehei-
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men Gegnern auf, sondern die Unmittelbarkeit des Miteinanderseins von Mensch und Mensch überhaupt. Die Durchschauung und Entlarvung wird jetzt der große zwischenmenschliche Sport, von dem, die ihn treiben, freilich nicht ahnen, wohin er sie verlockt. Daß wir von einem Lager zum andern kein echtes Gespräch mehr führen können, ist das stärkste Symptom der Krankheit des Menschen von heute; das existentielle Mißtrauen ist diese Krankheit selber; aber die Zerstörung des Vertrauens zum menschlichen Dasein ist die innere Vergiftung des gesamtmenschlichen Organismus, der diese Krankheit entstammt. Wo hat der Wille zur Ueberwindung anzusetzen? Genauer: Von welcher geistigen Position aus ist der Mensch, für den das existentielle Mißtrauen schon zur selbstverständlichen Eingangssituation im Umgang mit seinen Mitmenschen geworden ist, zur Selbstkritik in diesem entscheidenden Belange zu veranlassen? Es ist eine Position, die als Kritik der Kritik bezeichnet werden kann. Es handelt sich darum, einen fundamentalen und ungeheuerlich einflußreichen Irrtum aller Durchschauungsund Entlarvungstheorien aufzuzeigen. Das Wesen dieses Irrtums ist, daß man ein vordem nicht oder zu wenig beachtetes, nun entdecktes oder erhelltes Element im seelischen und geistigen Bestand des Menschen mit seiner Gesamtstruktur identifiziert, statt es in diese einzugliedern. Betrachten wir als Beispiel die Ideologientheorie, wonach Ansichten und Urteile eines einer bestimmten Gesellschaftsklasse angehörigen Menschen im wesentlichen als Produkt dieser seiner Klassenlage, das heißt, im Zusammenhang der Aktion seiner Klasse zur Durchsetzung ihrer Interessen zu untersuchen sind. War das Problem der Klassenlage und ihres Einflusses mit aller Deutlichkeit gestellt, so hätte die wissenschaftliche Eingangsfrage lauten müssen: Da der Mensch in seine Welt als in einen vielfältigen Zusammenhang von beeinflussenden Sphären, von der kosmischen zur erotischen, gefügt ist, als eine, von denen die soziale Schichtung erscheint, in welchem Gewichtsverhältnis und in welcher Wechselwirkung steht der Klasseneinfluß in der Gestalt der Ideologie zu dem nichtideologischen Bestand der Person? Die Hoffnung für diese Stunde geht auf eine Erneuerung der dialogischen Unmittelbarkeit zwischen den Menschen. Aber laßt uns über die drängende Not, die Angst und Sorge dieser Stunde hinausgehen, laßt uns diese Not in dem Zusammenhang des großen Menschenweges sehen, und wir werden erkennen: Nicht zwischen Mensch und Mensch allein, sondern zwischen dem Wesen Mensch und dem Urgrunde des Seins ist die Unmittelbarkeit verletzt worden. Im Innersten des Widerstreits von Mißtrauen und Vertrauen zum Menschen birgt sich der Widerstreit zwischen Mißtrauen und Vertrauen zur Ewigkeit. Gerät es unserem Munde,
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wahrhaft Du zu sagen, dann haben wir, nach langem Schweigen und Stammeln, unser ewiges Du von neuem angesprochen. Versöhnung wirkt Versöhnung.
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Religion und Modernes Denken (1952) 1 2. Zum Unterschied von Heidegger und Sartre hat Jung, der führende Psycholog unserer Tage, die Religion in ihren historischen und biographischen Gestaltungen zum Gegenstand umfassender Betrachtungen gemacht. Daß er in diese Betrachtungen eine Fülle von Phänomenen mit einbezogen hat, die ich als pseudoreligiös bezeichnen muß, weil sie nicht eine persönliche Wesensbeziehung zu einem als unbedingtes Gegenüber Erfahrenen oder Geglaubten bezeugen, ist ihm nicht zum Vorwurf zu machen. Die Psychologie, deren selbstgezogene Grenzen er berechtigterweise nicht überschreiten zu wollen erklärt, bietet kein Kriterium der qualitativen Unterscheidung zwischen beiden Bereichen, so wenig wie etwa die Soziologie, wie Max Weber sie verstand, ihm ermöglicht hätte, zwischen dem Charisma Moses’ und dem Hitlers gattungsmäßig zu unterscheiden. 2 Was Jung zum Vorwurf zu machen ist, ist vielmehr, daß er in seiner Behandlung des Religiösen die Grenzen der Psychologie in den wesentlichsten Punkten mit souveräner Freiheit, aber zumeist ohne anzumerken oder gar zu begründen, daß er es tut, überschreitet. Es fehlt gewiß bei Jung nicht an streng psychologischen Aussagen über religiöse Gegenstände, manchmal sogar unter ausdrücklicher Betonung der begrenzten Gültigkeit der Aussage, etwa wenn3 die Revelation als »Eröffnung der menschlichen Seelentiefe« »zunächst ein psychologischer Modus« genannt wird, »womit bekanntlich nichts ausgemacht ist darüber, was sie sonst noch sein könnte«. Mitunter 4 wird auch grundsätzlich erklärt, es solle »jegliche Aussage über das Transzendente vermieden wer1. 2.
3. 4.
Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 265 f. Max Weber (1864-1920) gebrauchte den Begriff »Charisma«, um einen von drei Haupttypen von Herrschaft – neben traditioneller und rationaler Herrschaft – als charismatische zu bezeichnen. »Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung – ursprünglich stets: durch Wunder – gesicherte freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene, Anerkennung durch die Beherrschten. Aber diese ist (bei genuinem Charisma) nicht der Legitimitätsgrund, sondern sie ist Pflicht der kraft Berufung und Bewährung zur Anerkennung dieser Qualität Aufgerufenen. Diese ›Anerkennung‹ ist psychologisch eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene gläubige, ganz persönliche Hingabe.« Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 140. [Anm. Buber] Psychologie und Religion (Vorlesungen von 1937, deutsche Ausgabe 1942) 133. [Anm. Buber] Wilhelm, Jung, Das Geheimnis der goldenen Blüte (1929) 73. [Jung interpretiert in der Einleitung das taoistische Buch Tai I Gin Hua Dsung Dschï, deutsch Das Geheimnis der goldenen Blüte].
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den«, denn sie sei »stets nur eine lächerliche Anmaßung des menschlichen Geistes, der seiner Beschränktheit unbewußt ist«; wenn Gott ein Zustand der Seele genannt werde, so sei damit »nur über das Erkennbare etwas ausgesagt, nicht aber über das Unerkennbare, über welches (hier kehrt die soeben zitierte Formulierung wörtlich wieder) schlechthin nichts ausgemacht werden kann«.5 In solchen Sätzen kommt die legitime Haltung der Psychologie zum Ausdruck, die wie jede Wissenschaft zu objektiv begründbaren Aussagen autorisiert ist, sofern sie dabei nur den Blick auf ihre Grenzen als auf solche gerichtet bewahrt, die nicht überschritten werden dürfen. Sie sind schon überschritten, wenn es von der Religion heißt, 6 sie sei »eine lebendige Beziehung zu den seelischen Vorgängen, die nicht vom Bewußtsein abhängen, sondern jenseits davon, im Dunkel des seelischen Hintergrundes sich ereignen«. Diese Definition der Religion wird nicht bloß ohne jede Einschränkung ausgesprochen, sondern sie würde auch keine dulden; denn ist die Religion eine Beziehung zu seelischen Vorgängen, dann ist eben damit gesagt, sie sei nicht eine Beziehung zu einem urselbständigen Sein oder Wesen, das, wie sehr es sich je und je zu ihr neigt, ihr stets transzendent bleibt, genauer: sie sei nicht die Beziehung eines Ich zu einem Du; als das jedoch haben die unverkennbar Religiösen aller Zeiten ihre Religion auch dann verstanden, wenn es sie am mächtigsten verlangte, ihr Ich in jenem Du mystisch aufgehen zu lassen. Aber die Religion ist ja immerhin nur eine Sache der menschlichen Beziehung zu Gott, nicht Gottes selber. Darum ist uns wichtiger zu hören, was Jung von Gott selber hält. Er versteht ihn im allgemeinen7 als einen »autonomen, psychischen Inhalt« – wohlgemerkt, nicht als ein Sein oder Wesen, dem ein psychischer Inhalt entspricht, sondern als eben diesen; wenn dem nicht so ist, fügt er hinzu, »so ist auch Gott nicht wirklich, denn dann greift er nirgends in unser Leben ein« – demnach würde alles, was nicht selber ein autonomer psychischer Inhalt ist, sondern einen psychischen Inhalt in uns erzeugt oder bewirkt oder mitbewirkt, nicht als in unser Leben eingreifend, somit auch nicht als wirklich zu verstehen sein. Ungeachtet dessen kennt auch Jung 8 eine »wechselseitige und unerläßliche Beziehung zwischen Mensch und Gott«; damit aber meint er, der Mensch sei als »eine psychologische Funktion Gottes« und Gott als »eine psychologische Funktion des Menschen« anzusehen. Ich gestehe, daß ich 5. 6. 7. 8.
Ebd. [Anm. Buber] Jung, Kerényi, Einführung in das Wesen der Mythologie (1941) 109. [Anm. Buber] Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten (1928) 208. [Anm. Buber] Psychologische Typen (1921) 340.
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nicht imstande bin, mir bei »einer psychologischen Funktion Gottes« – womit Gott allen Ernstes eine Psyche und Psychologie zugeschrieben wird – etwas auch nur halbwegs Faßliches zu denken. Gewiß vermerkt Jung sogleich, 9 Gott sei »für unsere Psychologie« »eine Funktion des Unbewußten«, aber als eine nur innerhalb der Grenzen der Psychologie gültige These ist diese keinesfalls gemeint; denn sie wird der »orthodoxen Auffassung«10 gegenübergestellt, wonach Gott »für sich existiert«, was psychologisch bedeute, »daß man sich der Tatsache, daß die göttliche Wirkung dem eigenen Innern entspringt, nicht bewußt ist«. Hier wird doch wohl unzweideutig erklärt, was der Gläubige Gott zuschreibe, habe seinen Ursprung in seiner eignen Seele. Wie sich diese Erklärung mit Jungs Versicherung 11 vereinbaren läßt, er meine mit alledem »ungefähr dasselbe, was Kant meinte, als er das Ding an sich einen ›lediglich negativen Grenzbegriff‹ nannte«, ist mir unerfindlich. Bekanntlich hat Kant von den Dingen an sich erklärt, sie seien, weil keine Erscheinung, durch keine Kategorien zu erkennen, sondern nur unter dem Namen eines unbekannten Etwas zu denken; daß aber z. B. die Erscheinung des Baums vor meinem Fenster nicht meiner Begegnung mit einem unbekannten Etwas, sondern meinem eigenen Innern entspringe, hat Kant eben nicht gemeint. Entgegen seiner Erklärung, jegliche Aussage über das Transzendente vermeiden zu wollen, identifiziert Jung sich 12 mit der Ansicht, »nach der Gott nicht ›absolut‹, d. h. losgelöst vom menschlichen Subjekt und jenseits aller menschlichen Bedingungen existiert«. Wohlgemerkt, die Möglichkeit wird nicht freigelassen, daß Gott – der doch wohl, wenn das singularische und exklusive Wort »Gott« (ohne Artikel) nicht allen Sinn verlieren soll, nicht, wie wenn es sich nur um einen unter mehreren Göttern handelt, auf eine einzige Existenzweise beschränkt ist – sowohl losgelöst vom menschlichen Subjekt als in Verbindung mit ihm existiert, sondern es wird erklärt, er existiere n i c h t losgelöst von ihm. Das ist doch wohl eine Aussage über das Transzendente, über das, was es nicht ist, und eben damit über das, was es ist. Jungs Äußerungen über die »Relativität« des Göttlichen sind nicht psychologische, sondern metaphysische Aussagen, wie nachdrücklich er auch seine »Begnügung mit dem psychisch Erfahrbaren und Ablehnung des Metaphysischen« betont. 13
9. 10. 11. 12. 13.
Ebd., S. 341. Ebd. [Anm. Buber] Geheimnis 73. [Anm. Buber] Typen 340. [Anm. Buber] Geheimnis 73.
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Jung mag demgegenüber geltend machen, was er einmal so formuliert: »Metaphysische Behauptungen sind Aussagen der Seele, und darum sind die psychologisch.« Da aber alle Aussagen schlechthin, wenn sie nicht nach Sinn und Absicht auf ihren Gehalt hin, sondern auf den Prozeß ihrer seelischen Entstehung hin betrachtet werden, als »Aussagen der Seele« zu bezeichnen sind, werden, wenn mit jenem Satz Ernst gemacht wird, die Grenzen der Psychologie aufgehoben, dieselben Grenzen, von denen Jung anderswo 15 wieder sagt, die Psychologie müsse sich davor hüten, sie »durch metaphysische Behauptungen oder sonstige Glaubensbekenntnisse zu überschreiten«. Im äußersten Widerspruch dazu wird hier die Psychologie die einzige zulässige Metaphysik; zugleich soll sie aber empirische Wissenschaft bleiben; beides zusammen ist aber unmöglich. Jung liefert auch den zu dieser Konzeption gehörigen Seelenbegriff. »Die Seele ist es«, sagt er, 16 »die aus eingeborener göttlicher Schöpferkraft die metaphysische Aussage macht; sie ›setzt‹ die Distinktionen der metaphysischen Wesenheiten. Sie ist nicht nur die Bedingung des metaphysisch Realen, sondern sie ist es selbst.« Der Terminus »setzen« ist nicht umsonst gewählt; was hier vorliegt, ist in der Tat eine Übertragung des nachkantischen Idealismus ins Psychologische. 17 Aber was, von einem Erzeugnis philosophischer Reflexion wie Fichtes Ich ausgesagt, seinen Platz innerhalb des metaphysischen Denkens hat, kann auf einen solchen keinen Anspruch machen, wenn es auf die konkrete Einzelseele oder genauer, auf das Seelische an einer existenten menschlichen Person angewandt wird, – und etwas anderes als dies kann Jung ja nicht meinen, da seiner Erklärung nach 18 auch das kollektive Unbewußte, die Sphäre der Archetypen, jeweils nur durch die Psychik des Individuums, dem sich diese »typischen Verhaltensformen« vererbt haben, in die Erfahrung treten kann. Die reale Seele hat unbestreitbar hervorbringende Kräfte, in denen sich Urenergien der Menschengattung individuell verdichtet haben; »eingeborene göttliche Schöpferkraft« scheint mir dafür freilich eine allzu hohe und allzu unpräzise Bezeichnung zu sein. Wenn diese Seele aber Aussagen macht, seien es auch metaphysische, so kann sie das recht14. [Anm. Buber] Evans-Wentz, Das tibetanische Totenbuch [»Bardo Thödol«] (1936) 18. 15. [Anm. Buber] Psychologie und Alchemie (1944) 28. 16. [Anm. Buber] Totenbuch 19. 17. [Anm. Buber] Bei den Philosophen der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, die, wie [Jakob Friedrich] Fries und [Friedrich Eduard] Beneke, die Metaphysik auf die Psychologie gründen wollten, ist kein diesem ähnlicher Ausspruch zu finden. 18. [Anm. Buber] Vgl. Der Geist der Psychologie (Eranos-Jabrbuch 1946) 460 ff.
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mäßig je und je nicht aus irgendeiner Schöpferkraft tun, sondern nur aus dem verbindlichen Realverhältnis zu einer von ihr auszusprechenden Wahrheit, deren Einsicht ihr aus dem, was ihr widerfahren und was ihr zu erfahren gegeben worden ist, denkerisch erwuchs; was darüber ist, ist keine Aussage, sondern schlechte Dichtung oder fragwürdige Kombination. Die reale Einzelseele kann niemals als »das metaphysisch Reale« angesehen werden, denn ihr wesentliches Leben, ob sie das wahrhaben will oder nicht, besteht aus realen Begegnungen mit anderen Realitäten, seien es andere reale Seelen oder was sonst – man müßte sie denn als Leibnizsche Monade verstehen, eine Konzeption, deren ideelle Konsequenzen, insbesondere die auf Gottes unablässige Intervention, Jung wohl kaum wird ziehen wollen. Oder aber es wäre etwa wirklich der empirische Realbereich der Einzelseelen, das der Psychologie überantwortete Gebiet, dezidiert zu überschreiten und ein in ihnen allen nur erscheinendes, also transzendentes Gesamtwesen, »Seele« oder »die Seele« genannt, anzunehmen, – eine metaphysische »Setzung«, die denn doch wohl einer zureichenden philosophischen Determinierung und Fundierung bedürfte, wie wir sie bei Jung, soweit ich sehe, nirgends, auch nicht in der speziell die Erfassung der Seele behandelnden Abhandlung »Der Geist der Psychologie«, finden. Welche entscheidende Bedeutung aber diesem unbestimmten Seelenbegriff für Jungs eigentliche Stellungnahme zur Religion zukommt, geht aus folgenden zwei Sätzen19 hervor, die durch das gleiche Subjekt verknüpft sind: »Das moderne Bewußtsein wendet sich im Gegensatz zum 19. Jahrhundert mit seinen intimsten und stärksten Erwartungen der Seele zu« und »Das moderne Bewußtsein perhorresziert den Glauben und darum auch die darauf basierten Religionen.« Daß Jung sich trotz jener früheren Verwahrung, 20 man dürfe in seiner Lehre keine »Spitze gegen den Glauben oder das Vertrauen in höhere Mächte« finden, mit dem den Glauben »perhorreszierenden« modernen Bewußtsein identifiziert, ist für jeden aufmerksamen Leser unzweifelhaft.21 Dieses moderne Bewußtsein nun wendet sich nach Jung mit seinen »intimsten und stärksten Erwartungen« der Seele zu. Das kann nicht anders verstanden werden, als daß es mit dem in den Religionen geglaubten Gott, der der Seele 19. [Anm. Buber] Seelenprobleme der Gegenwart (1931) 417. 20. [Anm. Buber] Geheimnis 73. 21. [Anm. Buber] Man vergleiche insbesondere den zweiten Teil des oben aus »Seelenprobleme« 417 angeführten Satzes: »Das moderne Bewußtsein … will wissen, d. h. Urerfahrung haben« mit dem im gleichen Buche (S. 83) enthaltenen: »Wir Modernen sind darauf angewiesen, den Geist wieder zu erleben, d. h. Urerfahrung zu machen.«
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zwar präsent wird, sich ihr kundtut, mit ihr kommuniziert, aber in seinem Sein ihr transzendent bleibt, nichts mehr zu tun haben will und sich von ihm der Seele als der einzigen Sphäre zukehrt, von der man erwarten kann, daß sie ein Göttliches in sich trage. Grob gesagt: ob die Psychologie auch versichert, »keine Weltanschauung, sondern eine Wissenschaft« zu sein, sie begnügt sich nicht mehr mit der Rolle einer Interpretin der Religion; sie verkündigt die neue, die einzig noch wahr sein könnende, die Religion der reinen psychischen Immanenz. Jung spricht einmal22 , und mit Recht, von Freuds Unvermögen, das religiöse Erleben zu verstehen. Er selber beschließt seine Wanderungen durch Gründe und Abgründe des religiösen Erlebens, auf denen er Erstaunliches, alle Unternehmungen der bisherigen Psychologie weitaus Überholendes geleistet hat, mit der Entdeckung, der religiös Erlebende, die Seele, erlebe schlechthin sich selber. Ähnliches haben Mystiker aller Zeiten verkündet, auf die Jung sich denn auch beruft; doch gibt es da zwei Unterschiede, die zu beachten sind: erstens, hinsichtlich der Erlebenden, daß sie mit der solchermaßen erlebenden Seele diejenige allein meinten, die sich vom irdischen Getriebe, von der Widersprüchlichkeit des kreatürlichen Daseins losgemacht habe und daher fähig sei, das überwidersprüchliche Göttliche aufzufangen und in ihr wirken zu lassen; und zweitens, hinsichtlich des Erlebten, daß sie als dieses die Einheit und das Einswerden der Seele mit dem in sich wesenden Gott verstanden, der, um in die Wirklichkeit der Welt einzugehen, immer wieder in der Seele »geboren wird«. An Stelle jener Losmachung des ganzen Menschen vom Getriebe setzt Jung den von einer Ablösung des B e w u ß t s e i n s bestimmten Prozeß der »Individuation«; an Stelle jenes Einswerdens mit dem in sich Seienden setzt er das »Selbst«, bekanntlich auch wieder einen ursprünglich mystischen Begriff, der aber bei Jung nicht mehr genuinmystisch, sondern ins Gnostische gewendet ist. Diese Wendung ins Gnostische spricht Jung selber aus; auf den zitierten Satz, das moderne Bewußtsein wende sich der Seele zu, folgt die Erläuterung »und zwar … im gnostischen Sinne«. Wir haben hier, wenn auch in der Form einer bloßen Andeutung, den reifen Ausdruck einer Tendenz vor uns, die Jung von den Anfängen seines geistigen Lebens an eigentümlich ist; in einer sehr früh gedruckten, aber nicht in den Handel gekommenen Schrift 23 22. [Anm. Buber] Seelenprobleme 77. 23. Vermutlich spiel Buber hier auf die Septem Sermones ad Mortuos an, die von C. G. Jung zunächst nur im Privatdruck 1916 an ausgewählte Personen weitergegeben wurden. Vgl. auch C. G. Jungs Brief an Robert Smith vom 29. Juni 1960, in diesem Band S. 200-203. Die Septem Sermones ad Mortuos sind abgedruckt im Anhang zu Erinnerungen. Vgl. C. G. Jung, Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 657 f.
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tritt sie in geradezu religiöser Sprache als Bekenntnis zu einem durchaus gnostischen Gotte auf, in dem Gut und Böse miteinander verbunden sind und einander gleichsam ausbalancieren. Diese Vereinigung der Gegensätze in einer allumfassenden Ganzheitsgestalt zieht sich seither durch Jungs Gedankenwerk; sie ist auch für unsere Betrachtung der Lehre von der Individuation und vom Selbst von wesentlicher Bedeutung. Um was es hier letztlich geht, hat Jung am präzisesten in einer seiner Mandala-Analysen zum Ausdruck gebracht. Mandalas sind kreisförmige Symbolbilder, wie sie Jung nicht bloß in verschiedenen religiösen Kulturen, insbesondere des Orients und des frühen christlichen Mittelalters, sondern auch auf Zeichnungen von Neurotikern und Geisteskranken gefunden hat. Er versteht sie als aus dem kollektiven Unbewußten stammende Darstellungen der Ganzheit oder Vollständigkeit, die als solche eine Vereinigung der Gegensätze sei; es seien »vereinigende Symbole«, die so Weibliches wie Männliches und so Böse wie Gut in ihre in sich geschlossene Einheit einbeziehen, deren Zentrum im allgemeinen – nach Jungs Interpretation als Sitz der Gottheit – besonders betont sei. Es gebe nun aber einzelne alte Mandalas und viele moderne, in deren Mittelpunkt »keine Spur einer Gottheit zu finden ist« 24 ; das auf den modernen Bildern deren Stelle einnehmende Symbol wird, wie Jung sagt, 25 von den Urhebern dieser Mandalas als »ein Zentrum in ihnen selbst« verstanden. »Der Platz der Gottheit«, erklärt Jung 26 , »scheint durch die Ganzheit des Menschen eingenommen zu werden.« Diese zentrale Ganzheit, die das Göttliche versinnbildlicht, nennt Jung im Anschluß an altindische Lehren das Selbst. Er meint damit freilich ausgesprochenerweise nicht, daß es in diesen Bildern, in denen sich das Unbewußte des modernen Menschen äussere, die Gottheit ersetze. Man wird Jungs Ansicht eher treffen, wenn man sagt, daß nunmehr die Gottheit nicht mehr, wie in der bisherigen Menschheit, das menschliche Selbst ersetze. Der Mensch zieht die Projektion seines Selbst auf einen Gott außerhalb seiner nunmehr zurück, ohne daß er damit sich selber vergotten wollte (wie Jung hier betont 27 , wogegen in anderem Zusammenhang, wie wir sehen werden, die Vergottung als Absicht unzweideutig zum Ausdruck kommt). Der Mensch leugnet einen transzendenten Gott nicht, er schaltet ihn nur aus. Er kennt den Unkenntlichen nicht mehr, er braucht nicht mehr vorzugeben, ihn zu kennen; an seiner Stelle kennt er die Seele oder vielmehr das Selbst. Es ist ja nicht ein Gott, den »das moderne Bewußtsein« perhorresziert, sondern 24. 25. 26. 27.
Psychologie und Religion, S. 145. [Anm. Buber] Religion 145 ff. Ebd., S. 147 f. Beziehungen 203.
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der Glaube. Was immer es um Gott sei, es kommt für den Menschen des modernen Bewußtseins einzig darauf an, in keiner Glaubensbeziehung mehr zu ihm zu stehen. Dieser Mensch des »modernen Bewußtseins« ist freilich nicht mit dem heute lebenden Menschengeschlecht zu identifizieren. »Die Menschheit«, sagt Jung, 28 »ist in der großen Hauptsache psychologisch noch in einem Kindheitszustand – eine Stufe, die nicht übersprungen werden kann«. Das wird daran veranschaulicht 29 , die paulinische Überwindung des Gesetzes falle nur dem zu, der es verstehe, an Stelle des Gewissens die Seele zu setzen, wozu nur sehr wenige befähigt seien. Was bedeutet das? Gewissen nennt man doch herkömmlich – gleichviel ob man ihm göttlichen oder gesellschaftlichen Ursprung zuschreibt oder es einfach als dem Menschen zugehörig ansieht – jene innerseelische Instanz, die sich mit der Scheidung zwischen dem Rechten und Unrechten innerhalb des Getanen und des zu Tuenden befaßt und gegen das als Unrechtes Determinierte vorgeht. Es handelt sich hier natürlich nicht schlechthin um die Vertretung eines tradierten Gesetzes, ob göttlichen oder sozialen Ursprungs; vielmehr weiß z. B. jeder, der ein Werk, zu dem er sich berufen wußte, nicht getan, der eine Aufgabe, die er als die seine erkannte, nicht erfüllt hat, jeder, der seiner ihm gewiß gewordenen Bestimmung nicht die Treue hielt – jeder solche weiß, was es heißt, daß einem »sein Gewissen schlägt«. Und was »Bestimmung« zu nennen ist, darüber finden wir bei Jung selbst 30 die schöne Erläuterung: »Wer Bestimmung hat, hört die Stimme des Innern.« Jung meint zwar damit 31 eine Stimme, die gerade das anscheinend Böse an uns heranbringe und der »zum Teil« zu unterliegen erforderlich sei, damit Erneuerung und Heilung stattfinde; ich denke aber, daß, wer Bestimmung hat, zu Zeiten eine Stimme ganz anderer Art zu hören bekommt, eben die Stimme des Gewissens, die ihn, wie er jetzt ist, mit dem vergleicht, der zu werden ihm bestimmt war; nur daß ich, im offenbaren Unterschied zu Jung, dafür halte, daß jeder Mensch, in irgendeinem Maße, zu etwas bestimmt worden ist, dem er freilich im allgemeinen erfolgreich aus dem Wege geht. Nun aber noch einmal: was bedeutet es, an Stelle des richtunggebenden und richtunghütenden, des rechtenden und richtenden Gewissens die Seele zu setzen? Es kann in dem Zusammenhang von Jungs Gedanken nicht anders verstanden werden als »im gnostischen Sinne«, d. h. daß die 28. [Anm. Buber] Beziehungen 203 ff. 29. Ebd., S. 205. 30. [Anm. Buber] Wirklichkeit der Seele (1934), Vortrag »Vom Werden der Persönlichkeit« von 1932, 197 f. 31. [Anm. Buber] Ebenda 208 f.
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im Selbst integrierte Seele, als die Vereinigung der Gegensätze, insbesondere der Gegensätze Gut und Böse, in einer allumfassenden Ganzheit, das Gewissen als eine zwischen Gut und Böse, zwischen dem Rechten und dem Unrechten scheidende und entscheidende Instanz ausschaltet und die Schlichtung zwischen den Prinzipien oder die Wahrung des Einvernehmens zwischen ihnen oder ihre Ausbalancierung oder wie immer man es nennen mag selber vollzieht. Dieser »Weg«, den Jung, gewiß mit Recht, als »schmal wie die Schneide eines Messers« bezeichnet, 32 ist nicht zur Darstellung gelangt und offenbar auch nicht zur Darstellung geeignet; die Frage nach ihm führt auf die Frage nach der positiven Funktion des Bösen. Etwas deutlicher immerhin spricht Jung anderswo 33 von der Bedingung für »Herstellung und Geburt der oberen Persönlichkeit«: es ist die »Befreiung von jenen Gelüsten und Ambitionen und Leidenschaften, die uns ans Sichtbare verhaften«, durch »sinnvolle Erfüllung der instinktiven Forderungen«, denn »wer seine Instinkte lebt, kann sich auch von ihnen trennen«. Das taoistische Buch, 34 das Jung so auslegt, enthält diese Lehre nicht; aus gewissen gnostischen Kreisen ist sie uns wohlbekannt. 35 Der »der Psyche eigentümliche Entwicklungsprozeß«, den Jung als Individuation bezeichnet, führt durch Integration der unbewußten Inhalte, der persönlichen und besonders der kollektiven, archetypischen, ins Bewußtsein zur Verwirklichung einer »neuen ganzheitlichen Gestalt«, die er wie gesagt das Selbst nennt. Hier bedarf es eines klärenden Verweilens. Jung will das Selbst dahin verstanden wissen, 36 es sei »ebenso der oder die andern, wie das Ich«, und die Individuation dahin, sie »schließe die Welt nicht aus, sondern ein«. Es tut not, genau zu erfassen, in welchem Sinne das zutrifft und in welchem nicht. In der Persönlichkeitsgestaltung, die aus dem »relativ seltenen Vorkommnis« 37 der von Jung erörterten Entwicklung hervorgeht, sind »die andern« wohl mitumfaßt, aber nur als Inhalte der individualen Seele, die durch die Individuation ja zu ihrer Vollendung, eben als individuale Seele, gelangen soll. Der Andere selber, der mir begegnet, so begegnet, daß meine Seele an die seine als an etwas rührt, was sie nicht ist und nie werden kann, was sie nicht einschließt und 32. [Anm. Buber] Beziehungen 205. 33. [Anm. Buber] Geheimnis 13. 34. Buber meint sicherlich wieder das taoistische Buch Tai I Gin Hua Dsung Dschï, deutsch Das Geheimnis der goldenen Blüte. Die Einleitung der Ausgabe, die im Literaturverzeichnis dieses Bandes angegebenen ist, enthält einen Kommentar von C. G. Jung. Vgl. Anm. 4 zu diesem Text. 35. [Anm. Buber] Vgl. Religion 139 ff. 36. [Anm. Buber] Der Geist der Psychologie 477 f. 37. Ebd. 474.
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nie einschließen kann, und zu dem sie dennoch in diesen allerrealsten Kontakt zu treten vermag: dieser Andere ist und bleibt auch dem Selbst gegenüber, zu welcher Vollständigkeit immer dieses gelangen mag, der Andere; wie das Selbst, und wenn es all sein Unbewußtes integriert haben sollte, dieses einzelne, in sich gebannte Selbst bleibt. Alle mir gegenüber existierenden Wesen, die von meinem Selbst »eingeschlossen« werden, werden in solchem Einschluß von ihm als ein Es besessen; nur wenn ich, der uneinschließbaren Anderheit eines Wesens gewahr werdend, darauf Verzicht leiste, es mir irgend einzuverleiben, einzuverseelen, wird es mir wahrhaft zum Du. Das gilt für Gott wie für Mensch. Dies ist gewiß kein Weg, der zu dem Ziel führte, das Jung ein Selbst nennt; aber es ist ebensowenig ein Weg der Entselbstung. Er führt einfach zum echten Kontakt mit dem mir begegnenden Seienden, zur vollen unmittelbaren Gegenseitigkeit mit ihm; er führt von der Seele, die die Wirklichkeit sich einträgt, zur Wirklichkeit, in die die Seele sich fügt. Jung meint seinen Begriff eines Selbst bei Meister Eckhart wiederzufinden. Das ist ein Irrtum. Eckharts Seelenlehre gründet sich auf die Glaubensgewißheit, daß die Seele zwar Gott an Freiheit gleiche, daß sie aber erschaffen, er unerschaffen sei. 38 Diese Wesensverschiedenheit liegt allem zugrunde, was Eckhart von Verwandtschaft und Nähe zwischen Gott und der Seele zu sagen weiß. Das Selbst als Ziel des Individuationsprozesses versteht Jung als die »hochzeitliche Vereinigung der Gegensatzhälften« 39 in der Seele. Das bedeutet, wie gesagt, vor allem andern die »Integration des Bösen«,40 ohne die es keine Ganzheit im Sinne dieser Lehre geben kann. Die Individuation verwirklicht somit den ganzen Archetypus des Selbst, wogegen dieser in der christlichen Symbolik auf Christus und den Antichrist verteilt ist, die seinen hellen und seinen dunklen Aspekt veranschaulichen; im Selbst sind beide Aspekte vereint. Das Selbst ist daher eine reine Totalität und als solche »ununterscheidbar von einem Gottesbild«, und die Selbstverwirklichung ist recht eigentlich als »die Inkarnation Gottes« zu bezeichnen. Dieser, Gut und Böse in sich vereinigende Gott, dessen Gegensatznatur sich auch in seiner Mannweiblichkeit ausdrückt, 41 ist eine gnostische Gestalt, die letztlich wohl auf die (von Jung übrigens, soweit ich sehe, unter seinen zahlreichen religionsgeschichtlichen Hinweisen nicht erwähnte) 38. [Anm. Buber] »Und got der ist aleine vrî und ungeschaffen und dar umbe ist er ir aleine glîch nach der vrîheit und nicht nach der ungeschaffenheit, wan sie ist geschaffen« (Predigten ed. Quint 13 f.). 39. [Anm. Buber] Über das Selbst (Eranos-Jahrbuch 1948) 315, vgl. Alchemie 61. 40. [Anm. Buber] Symbolik des Geistes (1948) 385. 41. [Anm. Buber] Ebd. 410.
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altiranische Gottheit Zurvan zurückzuführen ist, als aus welcher der lichte Gott und sein dunkler Widerpart hervorgehen. Von dieser gnostischen Grundanschauung aus bearbeitet Jung die jüdischen und christlichen Gotteskonzeptionen. Aus dem Gott des Alten Testaments, für den der Satan, der »Hinderer«, nur ein dienendes Element ist, von dem er, Gott, sich insbesondere zum Zweck der »Versuchung« vertreten läßt, d. h. um durch Drangsal und Verzweiflung die äußerste Entscheidungsmöglichkeit des Menschen zu aktualisieren – aus diesem Gott macht Jung einen selber halbsatanischen Demiurgen, der denn auch sodann – dies die Bedeutung des Sühnetods Christi – um seiner »Schuld«, der mißglückten Weltschöpfung, willen (ich zitiere nun Jungs Sprache von 1940;42 derengleichen in dem gnostischen Schrifttum, auf das er sich beruft, nirgends zu finden ist), »der rituellen Tötung unterworfen werden mußte«, womit die Kreuzigung Christi gemeint ist; und die Trinität wird zur Quaternität erweitert, indem in sie der autonome Teufel als »der Vierte« einbezogen wird. 43 Dies alles sind freilich, wie Jung betont, nur »Projektionen von psychischen Vorgängen«, »menschliche Geistesprodukte, denen man keine metaphysische Gültigkeit anmaßen darf«, 44 und das Selbst erscheint ihm als das Urbild aller monotheistischen Systeme, die hier als heimliche Gnosis entlarvt werden. Anderseits aber sieht er es zugleich als imago Dei in homine: es müsse ja, sagt er einmal45 in solchem Zusammenhange in einer bei ihm, soweit ich sehe, durchaus analogielosen Formulierung, die Seele eine Entsprechung zum Wesen Gottes in sich haben. Jedenfalls wird von ihm das Selbst, die hochzeitliche Vereinigung von Gut und Böse, als die neue »Inkarnation« auf den Thron der Welt erhoben. »Wenn wir wissen wollen«, sagt er, 46 »was geschehen wird in einem Falle, wo die Gottesidee nicht länger projiziert ist als eine autonome Wesenheit, so ist dieses die Antwort der unbewußten Seele: das Unbewußte schafft die Idee eines deifizierten oder göttlichen Menschen.« Diese in sich Christus und Satan umfassende Figur 47 ist die als die Realisierung der »Identität Gottes mit dem Menschen«48 zur Erde herabgestiegene letzte Gestalt jenes gnostischen Gottes, zu dem Jung sich einst bekannt hatte und dem er, immer
42. [Anm. Buber] Das Wandlungssymbol in der Messe (Eranos-Jahrbuch 1940-1941) 153 f. 43. [Anm. Buber] Symbolik 439, vgl. Religion 108 ff., Zur Psychologie der Trinitätsidee (Eranos-Jahrbuch 1940-1941) 51 ff., Alchemie 212. 44. [Anm. Buber] Symbolik 417. 45. [Anm. Buber] Alchemie 22 f. 46. [Anm. Buber] Religion 65. 47. [Anm. Buber] Symbolik 409, vgl. Selbst 304. 48. [Anm. Buber] Religion 111.
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wieder auf dessen bevorstehende Erscheinung hindeutend, treu geblieben ist. 49 Zu Nietzsches Wort »Tot sind alle Götter, nun wollen wir, daß der Übermensch lebet«50 schreibt Heidegger 51 in einem ihm sonst fremden Ton diese Warnung: »Nie kann sich der Mensch an die Stelle Gottes setzen, weil das Wesen des Menschen den Wesensbereich Gottes nie erreicht. Wohl dagegen kann, gemessen an dieser Unmöglichkeit, etwas weit Unheimlicheres geschehen, dessen Wesen zu bedenken wir noch kaum begonnen haben. Die Stelle, die, metaphysisch gedacht, Gott eignet, ist der Ort der verursachenden Bewirkung und Erhaltung des Seienden als eines Geschaffenen. Dieser Ort Gottes kann leer bleiben. Statt seiner kann sich ein anderer, d. h. metaphysisch entsprechender Ort auftun, der weder mit dem Wesensbereich Gottes noch mit demjenigen des Menschen identisch ist, zu dem aber wiederum der Mensch in eine ausgezeichnete Beziehung gelangt. Der Übermensch tritt nicht und nie an die Stelle Gottes, sondern die Stelle, auf die das Wollen des Übermenschen eingeht, ist ein anderer Bereich einer anderen Begründung des Seienden in einem anderen Sein.« Die Worte zwingen einen aufzuhorchen.
49. [Anm. Buber] Vgl. insbesondere ebenda 175 f. 50. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Werke Bd. 2, S. 340. 51. [Anm. Buber] Holzwege 235. Es empfiehlt sich, Jungs fast gegensätzlich gemeinte Äußerung »Das Interregnum ist voller Gefahr« in ihrem Zusammenhang (Psychologie und Religion 158) zu vergleichen.
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Erwiderung an C. G. Jung 1 Der Erwiderung C. G. Jungs 2 gegenüber genügt es, an der Hand seiner Argumentation mein Anliegen erneut klarzustellen. Ich habe nicht, wie er meint, irgendwelche Bestandteile seines psychiatrischen Erfahrungsmaterials in Frage gezogen; das wäre gewiß unbefugt. Ich habe ebensowenig an einer seiner psychologischen Thesen Kritik geübt; auch das ist nicht meine Sache. Ich habe lediglich nachgewiesen, daß er über die religiösen Gegenstände Behauptungen formuliert, die den Bereich des Psychiatrischen und Psychologischen – entgegen seiner Versicherung, streng innerhalb seiner zu verbleiben – überschreiten. Ob ich diesen Nachweis geführt habe, kann der gewissenhafte Leser durch Nachprüfung meiner Zitate in ihrem Kontext feststellen, was ich ihm durch sorgfältige Quellenangaben zu erleichtern bemüht gewesen bin. Jung bestreitet es. Welcher Methode er sich dabei bedient, sei an seiner Entgegnung erläutert. Ich habe darauf hingewiesen, Jung bezeichne es als eine »Tatsache«, »daß die göttliche Wirkung dem eigenen Innern entspringt«, und er stelle diese Tatsache der »orthodoxen Auffassung« gegenüber, wonach Gott »für sich existiere«; er erklärt, Gott existiert nicht losgelöst vom menschlichen Subjekt. Die kontroverse Frage lautet somit: Ist Gott lediglich ein psychisches Phänomen oder existiert er auch unablässig von der Psychik des Menschen? Jung antwortet: Gott existiert nicht für sich. Man kann die Frage auch so fassen: Entspringt das, was der Gläubige die göttliche Wirkung nennt, lediglich seinem eigenen Innern oder kann darin auch die eines transpsychischen a Seins befaßt sein? Jung antwortet: Es entspringt dem eigenen Innern. Dazu habe ich vermerkt, das seien nicht legitime Aussagen eines Psychologen, dem es als solchem nicht zustehe, zu deklarieren, was jenseits des Psychischen bestehe und was nicht, oder inwiefern es anderswoher kommende Wirkungen gebe. Nun aber erwidert Jung: Ich habe ja nur über das Unbewußte geurteilt! Und: »Ich sage doch ausdrücklich, daß alles, s c h l e c h t h i n a l l e s [von mir gesperrt], was von Gott ausgesagt wird, menschliche Aussage, d. h. psychisch sei.« 3 Was er frei1. 2.
3.
Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 266. Gemeint ist Jungs Aufsatz »Religion und Psychologie«, den dieser als Erwiderung auf Bubers Aufsatz »Religion und modernes Denken« ebenfalls im Merkur 1952 veröffentlicht hatte. Der Aufsatz von Jung ist im Kommentar dieses Bandes vollständig abgedruckt; siehe in diesem Band, S. 267-274. Jung, »Religion und Psychologie«, in diesem Band S. 271.
a.
In Gottesfinsternis: überpsychischen
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Erwiderung an C. G. Jung
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lich, merkwürdigerweise, dann wieder so einschränkt, er sei der Ansicht, »daß alle Aussagen über Gott aus der Seele i n e r s t e r L i n i e [von mir gesperrt] hervorgehen.«4 Man halte zunächst den ersten dieser Sätze mit den von mir angeführten Thesen Jungs zusammen. Über eine der Mächte des Unbewußten mit Nachdruck zu erklären, ihre Wirkung entspringe dem eigenen Innern, oder sie existiere nicht losgelöst vom menschlichen Subjekt, wäre, nachdem einmal die Terminologie des »Unbewußten« festgesetzt worden ist, eine sinnwidrige Tautologie; denn es würde nichts anderes bedeuten als: der als das Unbewußte bezeichnete psychische Bereich ist psychisch. Einen Sinn bekommen die Thesen erst dadurch, daß sie, mit ihrem Nein, über die Sphäre der Mächte des Unbewußten und die psychische Sphäre überhaupt hinauslangen. Daß sie diesen Sinn hätten, stellt Jung nun freilich in Abrede. Und er beruft sich darauf, alles Aussagen über Gott seien »menschliche Aussagen, d. h. psychisch«. Dieser Satz verdient eine genauere Betrachtung. Ich sehe gewiß keine Möglichkeit, eine Diskussion anders als auf dem Boden dieser Voraussetzung zu führen. (Ganz allgemein trage ich meinen Glauben nicht in die Diskussion, sondern halte darin die um des menschlichen Gesprächs willen auferlegte Askese ein. Es sei aber der völligen Klarheit halber hier erwähnt, daß mein eigener Glaube an Offenbarung – der mit keinerlei »Orthodoxie« verquickt ist – nicht bedeutet zu glauben, daß fertige Aussagen über Gott vom Himmel zur Erde niedergereicht würden, sondern, daß die menschliche Substanz von dem sie heimsuchenden Geistesfeuer geschmolzen wird, und nun bricht aus ihr Wort hervor, Aussage, die nach Sinn und Gestalt menschlich ist, Menschenfassung und Menschensprache, und doch für ihren Erreger und seinen Willen zeugt. Wir werden uns offenbart – und können es nicht aussagen, es sei denn als ein Offenbartes.) Nicht bloß die Aussagen über Gott, sondern alle Aussagen überhaupt sind »menschlich«. Aber ist denn damit irgend etwas, Positives oder Negatives, über ihren Wahrheitsgehalt konstatiert? Die Unterscheidung, um die es hier geht, ist doch nicht die zwischen psychischen und nichtpsychischen Aussagen, sondern die zwischen psychischen Aussagen, denen eine transpsychische Wirklichkeit entspricht, und psychischen Aussagen, denen keine entspricht. Solche Unterscheidung zu vollziehen ist die psychologische Wissenschaft aber nicht befugt; sie überlebt, sie verhebt sich, wenn sie es tut. Was der psychologischen Wissenschaft hier zusteht, ist ausschließlich eine motivierte Zurückhaltung. Jung übt sie nicht, wenn er erklärt, Gott könne nicht los4.
Ebd., S. 272.
MBW 10 (02686) / p. 88 / 13.12.2016
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gelöst vom Menschen existieren. Denn, noch einmal, ist das eine Aussage über einen Archetypus, Gott genannte, so bedarf es doch wohl der emphatischen Versicherung nicht, er sei ein psychischer Faktor (was könnte er denn sonst sein?), ist es aber eine Aussage über ein diesem psychischen Faktor irgend entsprechendes außerpsychisches Sein, nämlich die Aussage, es gebe ein solches Sein nicht, so waltet hier statt der gebotenen Zurückhaltung eine unerlaubte Überschreitung der Grenzen. Wir wollen doch endlich einmal aus dieser geistvollen Zweideutigkeit herauskommen! Nun aber macht mich Jung darauf aufmerksam, die Menschen hätten von Gott doch nur viele und verschiedene Bilder, die sie selber machen. Das meine ich schon gewußt und auch mehrfach ausgesprochen und gedeutet a zu haben. Aber das Wesentliche bleibt, daß es eben Bilder sind. Kein Glaubender wähnt, eine Photographie oder ein magisches Spiegelbild Gottes zu besitzen; jeder weiß: Ich habe, wir haben das gemalt. Aber eben als Bild, als Bildnis; das heißt: in der Glaubensintention auf den Bildlosen, den die Bilder »darstellen«, das heißt meinen. Diese Glaubensintention auf ein Seiendes, auf einen Seienden ist den aus mannigfacher Erfahrung glaubenden Menschen gemeinsam, und wenn sonst nichts ihnen gemeinsam wäre. Gewiß, »das moderne Bewußtsein«, mit dem Jung sich an unmißverständlichen Stellen seiner Schriften identifiziert hat, »perhorresziert« den Glauben. Aber die Ergebnisse dieses Perhorreszierens in Aussagen einzuführen, die als streng psychologische auftreten, geht nicht an. Weder die psychologische noch sonst eine Wissenschaft ist zuständig, den Wahrheitsgehalt des Gottesglaubens zu untersuchen. Es steht ihren Vertretern zu, ihm fernzubleiben; es steht ihnen nicht zu, innerhalb ihrer Disziplin über ihn zu urteilen als über etwas, das sie kennen. Die es tun, kennen ihn nicht. Die Seelenlehre, die die Geheimnisse behandelt, ohne die Glaubenshaltung zum Geheimnis zu kennen, ist die moderne Erscheinungsform der Gnosis. Die Gnosis ist nicht als eine nur-historische, sondern als eine allmenschliche Kategorie zu verstehen, Sie – und nicht ein Atheismus, der, weil er Gottes bisherige Bilder verwerfen muß, ihn annihiliert – ist der eigentliche Widerpart der Glaubenswirklichkeit. Ihre moderne Erscheinungsform geht mich nicht bloß ihres massiven Anspruchs wegen spezifisch an, sondern insbesondere auch der von ihr als Psychotherapie gelehrten Wiederaufnahme des karpokratianischen Motivs 5 wegen, die 5.
Gemeint ist Karpokrates aus Alexandrien (um ca. 130 n. Chr.), der häufig mit frühkommunistischem Gemeinschaftsleben und der Ansicht in Verbindung gebracht
a.
In Gottesfinsternis: erläutert
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Erwiderung an C. G. Jung
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Instinkte mystisch zu vergotten, statt sie im Glauben zu heiligen. Daß C. G. Jung in diesem Zusammenhang zu sehen ist, habe ich aus seinen Äußerungen belegt und kann es noch weit reichlicher tun. a Sein »Abraxas« 6 -Opusculum – das jeder unbefangene Leser nicht für ein Gedicht, sondern für ein Bekenntnis halten wird – habe ich mit herangezogen, weil hier noch in aller Deutlichkeit der ambivalente, Gut und Böse in sich ausbalancierende gnostische »Gott« verkündet wird. Ich gestehe, daß ich dieses binitarische Bild dem einer Quaternität, in der der Platz des Vierten entweder dem Satan oder der Madonna oder einem noch undeterminierten X zugedacht ist, ästhetisch weitaus vorziehe. Nun aber – »Ketzergericht«?! Nichts ist mir widerwärtiger, nichts weniger meines Amtes. (Mein Gegner ahnt offenbar nicht, daß ich selber von einer Orthodoxie 7 als Ketzer verschrien bin.) Nein, nichts Gerichtsähnliches, aber eine Kennzeichnung. Und es wird sich weisen, daß es die richtige war.
6.
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wird, gut und böse sei nur die Gesinnung, die Werke als solche seien gleichgültig und könnten nicht beflecken. In der ägyptischen Gnosis symbolisiert »Abraxas« das höchste Urwesen, das der Scheidung in Licht und Finsternis vorausgeht und die fünf Urkräfte geboren hat. In den Septem sermones ad Mortuos spricht C. G. Jung explizit vom Gott »Abraxas«, der »noch unbestimmter als Gott und Teufel« sei. Vgl. ebd., Sermo 2, abgedruckt in Jung, Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 657 f. Buber meint hier jüdische orthodoxe Kreise. Der folgende Teil des Absatzes sowie der letzte Absatz sind im Abdruck in Gottesfinsternis weggelassen.
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Elemente des Zwischenmenschlichen 1 1 Das soziale und das Zwischenmenschliche Man pflegt das, was sich zwischen Menschen begibt, dem Gebiet des »Sozialen« zuzurechnen und verwischt damit eine grundwichtige Trennungslinie zwischen zwei wesensverschiedenen Bereichen der Menschenwelt. Ich selbst habe, als ich vor nahezu fünfzig Jahren mich in dem Wissen von der Gesellschaft selbständig zurechtzufinden begann und mich dabei des damals noch unbekannten Begriffs des Zwischenmenschlichen bediente 2 , den gleichen Irrtum begangen. Seither ist mir mit zunehmender Klarheit die Erkenntnis aufgegangen, daß wir hier eine Sonderkategorie, ja, wenn ein mathematisches Fachwort solcherart bildlich gebraucht werden darf, eine Sonderdimension unseres Daseins vor uns haben, und zwar eine, die uns so vertraut ist, daß wir bisher ihrer Besonderheit kaum recht inne geworden sind. Und doch ist die Einsicht in diese ihre Besonderheit von hoher Bedeutung nicht für unser Denken allein, sondern auch für unser Leben. Von sozialen Phänomenen dürfen wir überall da sprechen, wo das Miteinanderdasein einer Vielheit von Menschen, ihre Verbundenheit miteinander gemeinsame Erfahrungen und Reaktionen zur Folge hat. Diese Verbundenheit aber bedeutet nur, daß all die einzelnen Existenzen in einer gruppenhaften beschlossen und von ihr umfangen sind; sie bedeutet nicht, daß zwischen einem und dem andern innerhalb der Gruppe eine irgend personhafte Beziehung bestehe. Wohl empfinden sie einander spezifisch zusammengehörig in einer Weise, die von jeder möglichen Zusammengehörigkeit mit jemandem außerhalb der Gruppe sozusagen grundsätzlich verschieden ist; und wohl ergeben sich auch immer wieder, insbesondere im Leben kleinerer Gruppen, Kontakte, die die Entstehung individueller Beziehungen häufig begünstigen, nicht selten freilich eher erschweren. Auf keinen Fall jedoch involviert schon die Mitgliedschaft in der Gruppe eine Wesensrelation zwischen einem Mitglied und dem andern. Es hat zwar in der Geschichte Gruppen gegeben, die sogar höchst intensive und intime Beziehungen zwischen je zwei ihr Angehörigen – etwa homoerotische wie bei den japanischen Samurai und den dorischen 1. 2.
Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 274-276. [Anm. Buber] Vgl. mein Vorwort zur Erstausgabe von Sombarts »Das Proletariat« (1. Band der von mir herausgegebenen Sammlung »Die Gesellschaft« 1905). [Erscheint in MBW 11.]
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Kriegern – umfaßten und sie um des strafferen Zusammenhalts der Gruppe willen begünstigten; im allgemeinen aber ist zu sagen, daß die Führungen der Gruppen, zumal im späten Verlauf der Menschengeschichte, eher geneigt sind, das persönliche Beziehungselement zugunsten des rein kollektiven Elements zu verdrängen. Wo dieses ausschließlich oder doch überwiegend waltet, fühlt sich der Mensch von der Kollektivität getragen, die ihn der Einsamkeit, der Weltangst, der Verlorenheit enthebt, und in dieser für den modernen Menschen wesentlichen Funktion scheint das Zwischenmenschliche, das Leben zwischen Person und Person, mehr und mehr gegen das Kollektive zurückzutreten. Das kollektive Miteinander ist darauf bedacht, die Neigung zum personhaften Zueinander in Schranken zu halten. Es ist, als sollten die in der Gruppe Verbundenen in der Hauptsache nur noch gemeinsam dem Werk der Gruppe zugekehrt sein und nur in sekundären Begegnungen sich den von jener tolerierten persönlichen Beziehungspartnern zuwenden. Der Unterschied zwischen den zwei Bereichen ist mir einmal sehr spürbar geworden, als ich mich in einer großen Stadt dem Umzug einer Bewegung angeschlossen hatte, der ich nicht angehörte; 3 ich tat es aus Anteilnahme an der von mir als bevorstehend geahnten tragischen Entwicklung im Schicksal eines Freundes, 4 der einer der Führer jener Bewegung war. Während der Zug sich formte, stand ich im Gespräch mit ihm und einem andern, einem gutherzigen »wilden Mann«, 5 der aber auch schon vom Tod gezeichnet war. In diesem Augenblick fühlte ich die beiden noch wirklich mir gegenüber, jeden von beiden als einen mir vertrauten Menschen, vertraut auch noch in dem, was mir am fernsten war; so anders als ich, daß meine Seele sich je und je an seiner Anderheit wehstieß, aber doch mit eben dieser Anderheit mir das Sein authentisch gegenüberstellend. Da setzten sich die Formationen in Gang, und nach kurzer Zeit war ich schon allem Gegenüber entrückt, nur noch in den Zug einbezogen, den ziellosen Schritt mitschreitend, und ganz ebenso verhielt es sich offenbar mit den beiden, mit denen ich eben erst das Menschenwort getauscht hatte. Nach einer Weile kamen wir an einem Kaffeehaus vorbei, in dem ich tags vorher mit einem mir nur flüchtig bekannten Musiker zusammengesessen hatte. Im gleichen Nu öffnete sich die Tür, der Musiker stand an der Schwelle, erblickte mich, anscheinend mich allein, und winkte mir zu. Sogleich war es mir, als würde ich aus dem Zug und der Gegenwart der mitschreitenden Freunde geschaltet und dorthin, 3. 4. 5.
Gemeint ist ein Umzug der Räterepublik in München 1918. Gustav Landauer. Erich Mühsam (1878-1934).
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dem Musiker gegenüber, gestellt. Ich wußte nichts davon, daß ich im gleichen Takt weiterging, ich erfuhr mich als drüben stehend und lautlos, mit einem Lächeln des Einvernehmens, dem Anrufenden die Antwort gebend. Als das Bewußtsein der Tatsächlichkeit mir wiederkehrte, hatte der Zug, dessen Spitze meine Gefährten und ich bildeten, das Kaffeehaus schon hinter sich gelassen. Selbstverständlich erstreckt sich der Bereich des Zwischenmenschlichen weit über den der Sympathie hinaus. Es können ihm schon so simple Vorfälle zugehören, wie wenn im überfüllten Straßenbahnwagen zwei Unbekannte Beachtungsblicke tauschen, um sogleich wieder in die Konvenienz des Nichts-voneinander-wissen-wollens zurückzugleiten. Aber auch alles, noch so beiläufige, Zusammentreffen von Gegnern ist hierher zu zählen, wenn es auf die gegenseitige Haltung einwirkt, wenn sich also etwas, wie unmerklich auch, zwischen ihnen vollzieht, gleichviel ob es zur Stunde gefühlsbetont ist oder nicht. Es kommt auf nichts anderes an, als daß jedem von zwei Menschen der andere als dieser bestimmte Andere widerfährt, jeder von beiden des andern eben so gewahr wird und eben daher sich zu ihm verhält, wobei er den andern nicht als sein Objekt betrachtet und behandelt, sondern als seinen Partner in einem Lebensvorgang, sei es auch nur in einem Boxkampf. Dies ist das Entscheidende: das Nicht-Objekt-sein. Bekanntlich behaupten manche Existentialisten, es sei das Grundfaktum zwischen Menschen, daß einer dem andern Objekt ist; soweit es aber so zugeht, ist die eigentümliche Wirklichkeit des Zwischenmenschlichen, das Geheimnis des Kontakts, schon in hohem Maße eliminiert. Ganz kann es freilich nicht eliminiert werden. Man nehme als krasses Beispiel dies, daß zwei Menschen einander beobachten: das Wesentliche an der Begebenheit ist nicht, daß der eine den andern zu seinem Objekt macht, sondern daß und warum es ihm nicht völlig gelingt. Gegenstand der Beobachtung werden zu können haben wir mit jedem Ding gemein; daß ich aber durch die verborgene Aktion meines Seins der Objektivierung eine unübersteigliche Schranke zu setzen vermag, ist das Privileg des Menschen. Wahrgenommen, als seiende Ganzheit wahrgenommen kann es nur partnerlich werden. Von soziologischer Seite mag meiner Unterscheidung von Sozialem und Zwischenmenschlichem entgegengehalten werden, die Gesellschaft erbaue sich doch gerade auf den menschlichen Beziehungen und die Lehre von ihnen sei demgemäß recht eigentlich als die Grundlegung der Soziologie anzusehen. Aber hier gibt sich eine Doppeldeutigkeit des Begriffs »Beziehung« kund. Wir sprechen etwa von einer werkkameradschaftlichen Beziehung zwischen zwei Menschen und meinen damit keineswegs
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bloß das, was sich zwischen ihnen als Kameraden begibt, sondern auch eine dauernde Verfassung, die sich in jenen Begebenheiten aktualisiert, aber auch rein individualpsychische Vorgänge umschließt, wie den der Erinnerung an den abwesenden Kameraden. Ich meine jedoch mit der Sphäre des Zwischenmenschlichen lediglich aktuale Ereignisse zwischen Menschen, sei es voll gegenseitige, sei es solche, die sich unmittelbar zu gegenseitigen zu steigern oder zu ergänzen geeignet sind; denn die Partizipation beider Partner ist prinzipiell unerläßlich. Die Sphäre des Zwischenmenschlichen ist die des Einander-gegenüber; ihre Entfaltung nennen wir das Dialogische. Demgemäß ist es auch von Grund aus irrig, die zwischenmenschlichen Phänomene als psychische verstehen zu wollen. Wenn etwa zwei Menschen ein Gespräch miteinander führen, so gehört zwar eminent dazu, was in des einen und des andern Seele vorgeht, was, wenn er zuhört, und was, wenn er selber zu sprechen sich anschickt. Dennoch ist dies nur die heimliche Begleitung zu dem Gespräch selber, einem sinngeladenen phonetischen Ereignis, dessen Sinn weder in einem der beiden Partner noch in beiden zusammen sich findet, sondern nur in diesem ihrem leibhaften Zusammenspiel, diesem ihrem Zwischen.
2 Sein und scheinen Die eigentliche Problematik im Bereich des Zwischenmenschlichen ist die Zwiefalt von Sein und Scheinen. Daß Menschen sich oft angelegentlich darum kümmern, welchen Eindruck sie auf andere machen, ist zwar eine allgemein bekannte Tatsache; sie ist aber bisher weit mehr moralphilosophisch als anthropologisch erörtert worden. Und doch bietet sich hier der anthropologischen Betrachtung einer ihrer wichtigsten Gegenstände. Wir dürfen zwischen zwei Arten menschlichen Daseins unterscheiden. Die eine mag als Leben vom Wesen aus, Leben bestimmt von dem was einer ist, die andre als Leben vom Bilde aus, Leben bestimmt von dem wie einer erscheinen will, bezeichnet werden. Im allgemeinen treten sie miteinander vermischt auf; es wird wohl wenige Menschen gegeben haben, die völlig unabhängig von dem Eindruck waren, den sie auf andere machten, aber ein ausschließlich davon Geleiteter dürfte kaum zu finden sein. Wir müssen uns damit begnügen, Menschen, bei denen in ihrem wesentlichen Verhalten das eine, und solche, bei denen das andre vorherrscht, zu unterscheiden.
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Am stärksten macht sich dieser Unterschied naturgemäß im Bereich des Zwischenmenschlichen, also im Umgang von Menschen miteinander geltend. Man nehme als einfachstes und doch schon recht deutliches Beispiel eine Situation, in der zwei Personen einander ansehen, von denen die eine dem ersten, die andre dem zweiten Grundtypus angehört. Der Wesensmensch sieht den andern so an, wie man eben jemand ansieht, mit dem man sich persönlich abgibt; es ist ein »spontaner«, ein »unbefangener« Blick, er ist zwar selbstverständlich nicht unbeeinflußt von der Absicht, sich dem andern verständlich zu machen, aber er ist unbeeinflußt von einem Gedanken darüber, welche Vorstellung von der Beschaffenheit des Blickenden er in dem Angeblickten erwecken kann oder soll. Anders der Widerpart: da es ihm um das Bild zu tun ist, das seine Erscheinung, also ganz besonders der »sprechendste« Bestandteil seiner Erscheinung, sein Blick, im andern erzeugt, »macht« er diesen Blick; er stellt mit Hilfe der dem Menschen mehr oder minder eignenden Fähigkeit, ein bestimmtes Element des Seins im Blick erscheinen zu lassen, einen Blick her, der als spontane Äußerung wirken soll und oft genug auch wirkt, ja nicht allein als Äußerung eines angeblich in diesem Moment sich psychisch Ereignenden, sondern auch gleichsam als Spiegelung eines so und so beschaffenen persönlichen Seins. Man muß dies freilich gegen einen anderen Bezirk des Scheinens sorgsam abgrenzen, dessen ontologische Rechtmäßigkeit nicht angezweifelt werden kann, weil es hier sozusagen mit rechten Dingen zugeht. Ich meine das Reich des »echten Scheins«, in dem etwa ein Jüngling sein heldisches Vorbild nachahmt und mitten in seinem Gebaren das heroisch Faktische ihn ergreift, oder die Darstellung eines Schicksals, die das authentische Schicksal herbei beschwört. »So laßt mich scheinen, bis ich werde« – damit ist genau an dieses Geheimnis gerührt. Hier ist eben nirgends etwas Vorgebliches, die Nachahmung ist echte Nachahmung und die Darstellung echte Darstellung, auch die Maske ist eine Maske und keine Vortäuschung. Wo aber der Schein der Lüge entspringt und von ihr durchsetzt ist, wird das Zwischenmenschliche in seiner Existenz bedroht. Das ist auch nicht, wie wenn einer eine Lüge sagt, etwa einen Sachverhalt verfälschend berichtet: die Lüge, die ich meine, vollzieht sich nicht an einem Tatbestand, sondern an der Existenz selber, und sie greift die zwischenmenschliche Existenz selber an. Zuweilen kann einer, um einer schalen Eitelkeit zu genügen, die große Chance des wahren Geschehens zwischen Ich und Du verscherzen. Stellen wir uns nun zwei Bildmenschen vor, die beieinander sitzen und miteinander reden – nennen wir sie Peter und Paul – und zählen wir die
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Figurationen nach, die dabei im Spiel sind. Da sind erst mal der Peter, wie er dem Paul erscheinen will, und der Paul, wie er dem Peter erscheinen will; sodann der Peter, wie er dem Paul wirklich erscheint, Pauls Bild von Peter also, das gemeiniglich keineswegs mit dem von Peter gewünschten übereinstimmen wird, und vice versa; dazu noch Peter, wie er sich selbst, und Paul, wie er sich selbst erscheint; zu guter Letzt der leibliche Peter und der leibliche Paul. Zwei lebende Wesen und sechs gespenstische Scheingestalten, die sich in das Gespräch der beiden mannigfaltig mischen! Wo bliebe da noch Raum für die Echtheit des Zwischenmenschlichen! Was immer in anderen Bereichen der Sinn des Wortes »Wahrheit« sein mag, im Bereich des Zwischenmenschlichen bedeutet es, daß Menschen sich einander mitteilen als das was sie sind. Es kommt nicht darauf an, daß einer dem andern alles sage, was ihm einfällt, sondern darauf allein, daß er zwischen sich und den andern keinen Schein sich einschleichen lasse. Es kommt nicht darauf an, daß einer sich vor einem andern »gehen lasse«, sondern daß er dem Menschen, dem er sich mitteilt, an seinem Sein teilzunehmen gewähre. Auf die Authentizität des Zwischenmenschlichen kommt es an; wo es sie nicht gibt, kann auch das Menschliche nicht authentisch sein. Deswegen müssen wir, die wir die Krisis des Menschen als die Krisis des Zwischen zu erkennen beginnen, den Begriff der Aufrichtigkeit von dem dünnen Moralpredigtton, der sich ihm angeheftet hat, befreien und ihn wieder an den Begriff der Aufrechtheit anklingen lassen. Wenn eine Voraussetzung des Menschseins in der Urzeit durch das Aufrechtgehen gegeben worden ist, erfüllt kann es erst durch die aufrecht gehende Seele, durch die hohe Aufrichtigkeit werden, die kein Schein mehr anficht, weil sie die Scheinhaftigkeit besiegt hat. Wie aber – so mag gefragt werden –, wenn einer seiner Art nach sein Leben den Bildern hörig macht, die er in anderen hervorbringt? Kann er denn noch zum Wesensmenschen werden – kann er aus seiner Art fahren? Die so verbreitete Neigung, von der Jeweiligkeit des gemachten Eindrucks statt von der Stetigkeit des Wesens aus zu leben, ist keine »Art«. Sie hat ja ihren Ursprung in der Rückseite des Zwischenmenschlichen selber: in der Abhängigkeit der Menschen voneinander. Es ist kein Leichtes, von den anderen in seinem Wesen bestätigt zu werden; da bietet sich der Schein zur Aushilfe an. Ihm willfahren ist die eigentliche Feigheit des Menschen, ihm widerstehen dessen eigentlicher Mut. Das aber ist nicht ein unerbittliches Sosein, nicht ein Sobleibenmüssen. Man kann darum ringen, zu sich zu kommen, das heißt, zum Vertrauen auf das Wesen. Man ringt mit wechselndem Erfolg, aber nie umsonst, auch wenn man zu erliegen meint. Man muß das Leben aus dem Wesen zuweilen teuer
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bezahlen; zu teuer ist es nie bezahlt. Aber gibt es denn nicht das schlechte Wesen, wuchert es nicht überall? Ich habe keinen jungen Menschen gekannt, der mir hoffnungslos schlecht erschienen wäre. Später wird es freilich immer schwerer, die immer zäher werdende Schicht, die sich auf das Wesen gewälzt hat, zu durchstoßen. So entsteht die falsche Perspektive der unabdingbaren »Art«. Sie ist falsch; der Vordergrund trügt; der Mensch ist, als Mensch, erlösbar. Wieder sehen wir die Zwei vor uns, die vom Spuk der Scheingestalten umringt sind. Spuk kann gebannt werden. Stellen wir uns einen Peter und einen Paul vor, die es anzuwidern beginnt, die es immer heftiger anwidert, durch Gespenster vertreten zu werden. In jedem von beiden erwacht, erstarkt der Wille, als dieser Seiende und nicht anders bestätigt zu werden. Wir sehen die Kräfte des Wirklichen an ihrem bannenden Werk, bis der Schein hier und hier zerrinnt und die Abgründe des Personseins einander anrufen.
3 Die personale Vergegenwärtigung Das weitaus meiste von allem, was sich heute unter Menschen Gespräch nennt, wäre richtiger, in einem genauen Sinn, als Gerede zu bezeichnen. Im allgemeinen sprechen die Leute nicht wirklich zu einander, sondern jeder ist zwar dem andern zugewandt, redet aber in Wahrheit zu einer fiktiven Instanz, deren Dasein sich darin erschöpft, ihn anzuhören. Den gültigen dichterischen Ausdruck für diesen Zustand hat schon Tschechow in seinem Schauspiel »Der Kirschgarten« geliefert, wo die Mitglieder einer Familie ihr Beisammensein auf nichts anderes verwenden als aneinander vorbeizureden; aber erst Sartre hat das, was hier noch als die Not des in sich gesperrten Menschen erscheint, zum Lebensprinzip erhoben. Er sieht die Mauern zwischen den Gesprächspartnern als schlechthin unübersteiglich an, für ihn ist es das unabwendbare Menschenschicksal, daß einer es unmittelbar nur mit sich und seinen Affären zu tun hat; die innere Existenz des andern ist eben dessen Sache und nicht die meine, eine Unmittelbarkeit zum andern gibt es nicht und kann es nicht geben. Hier erscheint so deutlich wie kaum je sonst der unselige Fatalismus des modernen Menschen, der die Entartung als die unabänderliche Art und das Mißgeschick, sich in eine Sackgasse verrannt zu haben, als das Urschicksal des homo sapiens betrachtet und jeden Gedanken an einen Durchbruch als reaktionäre Romantik brandmarkt. Wer wirklich erkennt, wie weithin sich unser Geschlecht von der wahren Freiheit, der freien Freigebigkeit
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von Ich und Du verloren hat, müßte, kraft des Auftragscharakters jeder großen Erkenntnis solcher Art, selber, und wäre es als der einzige auf Erden, Unmittelbarkeit üben und nicht von ihr lassen, bis die Spötter erschrecken und in seiner Stimme die der eigenen, niedergehaltenen Sehnsucht vernehmen. Die Hauptvoraussetzung zur Entstehung eines echten Gesprächs ist, daß jeder seinen Partner als diesen, als eben diesen Menschen meint. Ich werde seiner inne, werde dessen inne, daß er anders, wesenhaft anders ist als ich, in dieser bestimmten ihm eigentümlichen einmaligen Weise wesenhaft anders als ich, und ich nehme den Menschen an, den ich wahrgenommen habe, so daß ich mein Wort in allem Ernst an ihn, eben als ihn, richten kann. Vielleicht muß ich seiner Ansicht über den Gegenstand unseres Gesprächs die meine Mal um Mal in aller Strenge entgegenhalten, um eine Auflockerung der Überzeugungen geht es ganz und gar nicht, aber diese Person, den personhaften Träger der Überzeugung nehme ich in seinem Sosein an, aus dem seine Überzeugung gewachsen ist, eben die Überzeugung, von der ich etwa Stück um Stück zu zeigen versuchen muß, was da nicht stimmt. Ich sage Ja zu der Person, die ich bekämpfe, partnerisch bekämpfe ich sie, ich bestätige sie als Kreatur und als Kreation, ich bestätige auch das mir entgegen Stehende als das mir gegenüber Stehende. Freilich hängt es nun von jenem ab, ob zwischen uns ein echtes Gespräch, die zu Sprache gewordene Gegenseitigkeit aufkommt. Aber ist es erst so weit, daß ich den andern, als einen Menschen, mit dem ich dialogisch umzugehn bereit bin, so mir gegenüber legitimiere, dann darf ich ihm zutrauen und zumuten, daß auch er partnerisch handle. Was aber bedeutet das, in dem genauen Sinn, in dem ich hier das Wort verwende, eines Menschen innewerden? Eines Dings oder Wesens innewerden heißt ganz allgemein: es als Ganzheit und doch zugleich ohne verkürzende Abstraktionen, in aller Konkretheit erfahren. Aber ein Mensch ist, wiewohl als Wesen unter Wesen und sogar als Ding unter Dingen befindlich, doch etwas von allen Dingen und von allen Wesen kategorial Verschiedenes: weil ein Mensch nicht wirklich erfaßt werden kann, ohne daß man ihn auch von der dem Menschen allein unter ihnen allen eignenden Gabe des Geistes her erfaßt, und zwar des Geistes als entscheidend beteiligt an dem Personsein dieses Lebewesens hier: des personbestimmenden Geistes. Eines Menschen innewerden heißt also im besonderen seine Ganzheit als vom Geist bestimmte Person wahrnehmen, die dynamische Mitte wahrnehmen, die all seiner Äußerung, Handlung und Haltung das erfaßbare Zeichen der Einzigkeit aufprägt. Solch ein Innewerden ist aber unmöglich, wenn und solang der andere mir das abgelöste Objekt meiner Betrachtung oder gar Beobachtung ist, denn ihr
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gibt sich diese Ganzheit und gibt sich diese ihre Mitte nicht zu erkennen; es ist erst möglich, wenn ich zu dem andern elementar in Beziehung trete, wenn er mir also Gegenwart wird. Darum bezeichne ich das Innewerden in diesem besonderen Sinne als personale Vergegenwärtigung. Dem Wahrnehmen des Mitmenschen als einer – wenn auch zumeist recht mangelhaft entfalteten – Ganzheit, Einheit und Einzigkeit widerstrebt in unserer Zeit fast alles, was man als das spezifisch Moderne zu verstehen pflegt. In dieser Zeit herrscht ein analytisches, reduktives und ableitendes Blicken zwischen Mensch und Mensch vor. Es ist analytisch oder vielmehr pseudoanalytisch, da es das gesamte leibseelische Sein als zusammengesetzt und daher zergliederbar behandelt, nicht das sogenannte Unbewußte allein, das einer relativen Objektivierung zugänglich ist, sondern auch den psychischen Strom selber, der in Wahrheit niemals als objektiv Bestehendes erfaßbar ist. Reduktiv ist das Blicken, weil es die aus der mikrokosmischen Fülle des Möglichen gespeiste Vielfältigkeit der Person auf schematisch es überschaubare und überall wiederkehrende Strukturen zurückführen will. Und ableitend ist es, weil es vermeint, das Gewordensein eines Menschen, ja sein Werden, in genetische Formeln fassen und auch noch das dynamisch zentrale Individualprinzip dieses Werdens durch einen Allgemeinbegriff vertreten lassen zu dürfen. Nicht bloß »Entzauberung« – das könnte man sich recht wohl gefallen lassen – sondern auch eine radikale Entgeheimnissung wird heute zwischen Mensch und Mensch angestrebt. Die Personhaftigkeit, das unablässig nahe Mysterium, einst der Beweggrund der stillsten Begeisterungen, wird eingeebnet. Was ich eben gesagt habe, wendet sich keineswegs gegen die analytische Methode in den Geisteswissenschaften; diese Methode ist überall da unentbehrlich, wo sie die Erkenntnis eines Phänomens fördert, ohne die anders beschaffene Erkenntnis seiner den rechtmäßigen Geltungskreis der Methode transzendierenden Individuität zu beeinträchtigen. Die Geisteswissenschaft, die sich der analytischen Methode bedient, muß demgemäß stets die horizontartige unbeschreitbare Grenze solcher Betrachtung im Auge halten. Diese Pflicht macht die Übertragung der Methode ins Leben so fragwürdig; denn es ist exzessiv schwierig, hier jeweils die Grenze als solche zu beachten. Wollen wir zugleich das Heutige wachsam betreiben und das Morgige hellsichtig bereiten, dann müssen wir in uns selber und in den nach uns kommenden Generationen eine Gabe ausbilden, die als Aschenbrödel und vorbestimmte Prinzessin in der Innerlichkeit der Menschen lebt. Manche nennen sie Intuition, aber das ist ein nicht ganz eindeutiger Begriff. Ich möchte den Namen Realphantasie vorziehen, denn in ihrem ei-
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gentlichen Wesen ist sie nicht mehr ein Anschauen, sondern ein kühnes, fluggewaltiges, die intensivste Regung meines Seins beanspruchendes Einschwingen ins Andere, wie es eben die Art aller echten Phantasie ist, nur daß hier der Bereich meiner Tat nicht das Allmögliche, sondern die mir entgegentretende besondere reale Person ist, die ich mir eben so und nicht anders in ihrer Ganzheit, Einheit und Einzigkeit und in ihrer all dies immer neu verwirklichenden dynamischen Mitte zu vergegenwärtigen versuchen kann. Dies aber, noch einmal sei darauf hingewiesen, vermag nur in lebendiger Partnerschaft zu geschehen, das heißt, wenn ich, in einer gemeinsamen Situation mit dem andern stehend, mich seinem Anteil daran, als dem seinen, vital aussetze. Gewiß, diese meine Grundhaltung kann unerwidert bleiben und die Dialogik kann im Keim ersterben. Gerät die Gegenseitigkeit aber, dann blüht das Zwischenmenschliche im echten Gespräch auf.
4 Auferlegung und Erschließung Ich habe auf zwei Momente hingewiesen, die das Wachstum des Zwischenmenschlichen hemmen: den sich eindrängenden Schein und die Unzulänglichkeit der Wahrnehmung. Ein drittes steht nun vor uns, offenkundiger als jene beiden, dazu in dieser kritischen Stunde mächtiger und gefährlicher als je. Es gibt zwei Grundweisen, auf Menschen, auf ihre Gesinnung und Lebensgestaltung einzuwirken. In der ersten will einer sich, seine Meinung und Haltung, dem andern so auferlegen, daß der wähne, das seelische Ergebnis der Aktion sei seine, durch jene Beeinflussung nur eben entbundene Einsicht. In der zweiten Grundweise der Einwirkung will einer das, was er in sich selber als das Rechte erkannt hat, auch in der Seele des andern, als darin angelegt, finden und fördern; weil es das Rechte ist, muß es auch in dem Mikrokosmos des andern, als Möglichkeit unter Möglichkeiten, lebendig sein, der andre muß nur in dieser seiner Potentialität erschlossen werden, und zwar im wesentlichen nicht durch Belehrung, sondern durch Begegnung, durch existentielle Kommunikation zwischen einem Seienden und einem Werden-könnenden. Die erste Weise hat sich am stärksten im Bereich der Propaganda, die zweite in dem der Erziehung ausgebildet. Den sich auferlegenden Propagandisten, den ich meine, geht die Person, auf die er einwirken will, als Person überhaupt nicht an; etwelche
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individuelle Eigenschaften sind ihm nur insofern von Belang, als er sie für die Gewinnung des andern ausnutzen kann und zu diesem Zweck kennen lernen muß. In seiner Gleichgültigkeit gegen alles Personhafte geht der Propagandist über die Partei, für die er wirkt, noch erheblich hinaus. Für die Partei sind die Personen in ihrer Verschiedenheit von Bedeutung, weil jede ihrer besonderen Eignung nach in einer besonderen Funktion zu gebrauchen ist; das Personhafte wird somit zwar nur auf die spezifische Verwendbarkeit hin beachtet, aber in diesen Grenzen immerhin praktisch anerkannt. Der Propaganda als solcher hingegen ist das Individuelle eher lästig, es geht ihr einfach um das Mehr – mehr Mitglieder, mehr Anhänger, eine zunehmende Stützfläche. Das politische Mittel, wo es wie hier in seiner extremen Form waltet, bedeutet: sich des andern bemächtigen, indem man ihn depersonalisiert. Diese Art der Propaganda geht verschiedene Verbindungen mit dem Zwang ein, sie ergänzt oder ersetzt ihn, je nach Bedarf und Aussichten, sie ist aber letztlich nichts anderes als der sublimierte, der unmerklich gewordene Zwang. Sie setzt die Seelen unter einen Druck, der die Illusion der Autonomie ermöglicht. Das politische Mittel vollendet sich in der effektiven Aufhebung des Menschenfaktums. Der Erzieher, den ich meine, lebt in einer Welt der Individuen, von der ein bestimmter Teil jeweils seiner Hut anvertraut ist. Jedes dieser Individuen erkennt er als darauf angelegt, eine einmalige, einzige Person und damit der Träger eines besonderen, durch sie und durch sie allein erfüllbaren Seins-Auftrags zu werden. Jedes personhafte Wesen zeigt sich ihm als in einem solchen Prozeß der Aktualisierung begriffen, und er weiß aus eigner Erfahrung, daß die aktualisierenden Kräfte je und je in einem mikrokosmischen Kampf mit Gegenkräften stehen. Er hat sich als einen Helfer der aktualisierenden Kräfte verstehen gelernt. Er kennt diese Kräfte: sie haben auch an ihm gewirkt und wirken. Es ist dieses an ihm getane Werk, das er Mal um Mal ihnen begegnen läßt, ihnen für neuen Kampf und neues Werk zur Verfügung stellt. Er kann sie nicht auferlegen wollen, denn er glaubt an das Wirken der aktualisierenden Kräfte, das heißt, er glaubt, daß in jedem Menschen das Rechte in einer einmaligen und einzigartig personhaften Weise angelegt ist; keine andere Weise darf sich diesem Menschen auferlegen, aber eine andere Weise, die dieses Erziehers, darf und soll das Rechte, wie es eben hier werden will, erschließen und dazu helfen, daß es sich entfalte. Der sich auferlegende Propagandist glaubt nicht einmal an die eigene Sache wirklich, denn er, traut ihr nicht zu, daß sie aus eigener Kraft, ohne seine Methoden, deren Gleichnis der Lautsprecher und die Lichtreklame sind, zur Wirkung käme. Der erschließende Erzieher glaubt an die Urmacht, die sich in all die Menschenwesen ausgestreut hat und ausstreut,
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um in jedem zu einer eigentümlichen Gestalt zu erwachsen; er vertraut darauf, daß dieses Wachstum jeweils nur jener in den Begegnungen gegebenen Hilfe bedarf, die eben auch er herzugeben berufen ist. Ich habe an zwei extrem antithetischen Beispielen den Charakter der beiden Grundhaltungen und ihr Verhältnis zueinander verdeutlicht. Aber überall, wo Menschen miteinander umgehn, ist ein Maß der einen oder der andern zu finden. Man darf jedoch diese zwei Prinzipien, sich jemandem auferlegen und jemanden erschließen, durchaus nicht mit Begriffen wie Hochmut und Demut verwechseln. Einer kann recht wohl hochmütig sein ohne sich anderen auferlegen zu wollen, und es genügt nicht demütig zu sein um einen andern zu erschließen. Hochmut und Demut sind Seelenverfassungen, individual-psychologische Tatsachen mit ethischem Akzent, Auferlegung und Erschließung sind Vorgänge zwischen Menschen, anthropologische Sachverhalte, die auf eine Ontologie, die Ontologie des Zwischenmenschlichen eben, hinweisen. Auf ethischem Gebiet hat Kant den überaus wichtigen Grundsatz ausgesprochen, der Mitmensch dürfe niemals bloß als Mittel, sondern müsse jederzeit zugleich als selbständiger Zweck gedacht und behandelt werden.6 Der Satz steht im Zeichen eines Sollens, das von der Idee der Menschenwürde getragen wird. Unsere im Kern verwandte Betrachtung kommt anderswoher und zielt anderswohin. Uns geht es um die Voraussetzungen des Zwischenmenschlichen. Der Mensch ist nicht in seiner Isolierung, sondern in der Vollständigkeit der Beziehung zwischen dem einen und dem andern anthropologisch existent: erst die Wechselwirkung ermöglicht, das Menschentum zulänglich zu erfassen. Dazu, zum Bestande des Zwischenmenschlichen ist, wie gezeigt wurde, erforderlich, daß sich in die Beziehung von personhaftem Sein zu personhaftem Sein nicht der Schein verderblich einmische; es ist dazu des weiteren, wie gezeigt wurde, erforderlich, daß jeder den anderen in dessen personhaftem Sein meine und vergegenwärtige. Daß keiner der Partner sich dem andern auferlegen wolle, ist die dritte basische Voraussetzung des Zwischenmenschlichen schlechthin. Daß einer auf den andern erschließend einwirke, gehört nicht mehr zu diesen Voraussetzungen; wohl aber ist dies ein Element, geeignet, zu einer höheren Stufe des Zwischenmenschlichen zu führen. 6.
»Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.« Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 4, Hamburg 1959, S. 428. (Hervorhebungen im Original)
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Daß jedem Menschen die Bestimmung innewohnt, das rechte Menschsein auf seine besondere, ihm allein eigentümliche Art zu erlangen, kann man im aristotelischen Bilde der Entelechie, 7 der eingeborenen Selbstverwirklichung fassen; nur muß man darauf achten, daß das eine Entelechie des Schöpfungswerkes ist. Irrig ist es, hier von der Individuation allein zu sprechen; diese bedeutet nur das urnotwendig personhafte Gepräge aller Verwirklichung des Menschseins. Nicht das Selbst als solches ist das Letztwesentliche, sondern daß der Schöpfungssinn des menschlichen Daseins sich und je und je als Selbst erfülle. Die erschließende Funktion zwischen den Menschen, die Hilfe zum Werden des Menschen als Selbst, das Einander-Beistehn zur Selbstverwirklichung des schöpfungsgerechten Menschentums ist es, das das Zwischenmenschliche zu seiner Höhe führt. Erst in zwei Menschen, von denen jeder, wenn er den andern meint, zugleich das Höchste meint, das eben diesem zubestimmt ist, und der Erfüllung der Bestimmung dient, ohne dem andern etwas von der eigenen Realisierung auferlegen zu wollen, stellt sich die dynamische Herrlichkeit des Menschenwesens leibhaft dar.
5 Das echte Gespräch Es gilt nun noch, die Merkmale des echten Gesprächs klärend zusammenzufassen. Im echten Gespräch geschieht die Hinwendung zum Partner in aller Wahrheit, als Hinwendung des Wesens also. Jeder Sprecher meint hier den Partner, an den, oder die Partner, an die er sich wendet, als diese personhafte Existenz. Jemanden meinen heißt in diesem Zusammenhang zugleich das dem Sprecher in diesem Augenblick mögliche Maß der Vergegenwärtigung üben. Die erfahrenden Sinne und die Realphantasie, die das von ihnen Befundene ergänzt, wirken zusammen, um den andern als ganze und einzige, als eben diese Person gegenwärtig zu machen. Der Sprecher nimmt aber den ihm so Gegenwärtigen nicht bloß wahr, er nimmt ihn zu seinem Partner an, und das heißt: er bestätigt, soweit Bestätigen an ihm ist, dieses andere Sein. Die wahrhafte Hinwendung seines Wesens zum andern schließt diese Bestätigung, diese Akzeptation ein. Selbstverständlich bedeutet solch eine Bestätigung keineswegs schon eine 7.
Aristoteles (384-322 v. Chr.) bezeichnete mit Entelechie die verwirklichte Einheit von Ding, Eigenschaft und Verhalten und bestimmt sie in der Metaphysik näher als »die Vollendung des Seins nach seiner Bestimmung« und als »tätiger immanenter Zweck«.
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Billigung; aber worin immer ich wider den andern bin, ich habe damit, daß ich ihn als Partner echten Gesprächs annehme, zu ihm als Person Ja gesagt. Des weiteren muß, wenn ein echtes Gespräch entstehen soll, jeder, der daran teilnimmt, sich selber einbringen. Und das bedeutet, daß er willens sein muß, jeweils zu sagen, was er zu dem besprochenen Gegenstand im Sinn hat. Und das wieder bedeutet, daß er jeweils den Beitrag seines Geistes ohne Verkürzung und Verschiebung hergebe. Auch sehr redliche Menschen wähnen, im Gespräch durchaus nicht gehalten zu sein, alles zu sagen »was sie zu sagen haben«. Aber in der großen Treue, welche der Atemraum des echten Gesprächs ist, hat das, was ich jeweils zu sagen habe, schon in mir den Charakter des Gesprochenwerdenwollens, und ich darf es nicht davon ab-, darf es nicht in mir zurückhalten. Es trägt ja, mir unverkennbar, das Zeichen, das die Zugehörigkeit zum gemeinschaftlichen Leben des Wortes anzeigt. Wo das dialogische Wort echtbürtig besteht, muß ihm sein Recht durch Rückhaltlosigkeit werden. Rückhaltlosigkeit aber ist das genaue Gegenteil des Drauflosredens. Alles kommt auf die Legitimität des »Was ich zu sagen habe« an. Und freilich muß ich auch darauf bedacht sein, das, was ich eben jetzt zu sagen habe, aber noch nicht sprachlich besitze, ins innere Wort und sodann ins lautliche zu heben. Sagen ist Natur und Werk, Gesproß und Gebild zugleich, und es hat, wo es dialogisch, im Atemraum der großen Treue erscheint, die Einheit beider stets neu zu vollenden. Dazu gesellt sich jene Überwindung des Scheins, auf die ich hingewiesen habe. In wem auch noch in der Atmosphäre des echten Gesprächs der Gedanke an die eigene Wirkung als Sprecher des von ihm zu Sprechenden waltet, der wirkt als Zerstörer. Wenn ich statt des zu Sagenden mich anschicke, ein zur Geltung kommendes Ich vernehmen zu lassen, habe ich unwiederbringlich verfehlt, was ich zu sagen gehabt hätte, fehlbehaftet tritt es ins Gespräch, und das Gespräch wird fehlbehaftet. Weil das echte Gespräch eine ontologische Sphäre ist, die sich durch die Authentizität des Seins konstituiert, kann jeder Einbruch des Scheins es versehren. Wo aber das Gespräch sich in seinem Wesen erfüllt, zwischen Partnern, die sich einander in Wahrheit zugewandt haben, sich rückhaltlos äußern und vom Scheinenwollen frei sind, vollzieht sich eine denkwürdige, nirgendwo sonst sich einstellende gemeinschaftliche Fruchtbarkeit. Das Wort ersteht Mal um Mal substantiell zwischen den Menschen, die von der Dynamik eines elementaren Mitsammenseins in ihrer Tiefe ergriffen und erschlossen werden. Das Zwischenmenschliche erschließt das sonst Unerschlossene.
MBW 10 (02686) / p. 104 / 13.12.2016
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Aus der Zwiesprache ist dieses Phänomen ja vielfach bekannt; aber auch im mehrstimmigen Dialog habe ich es zuweilen erfahren. Um die Ostern 1914 trat, aus geistigen Vertretern einiger europäischen Völker zusammengesetzt, ein Kreis zu einer dreitägigen Beratung zusammen, die als Vorbesprechung gedacht war. 8 Man wollte gemeinsam erwägen, wie etwa der von allen geahnten Katastrophe vorzubeugen wäre. Ohne daß man etwelche Modalitäten der Aussprache vorweg vereinbart hätte, waren alle Voraussetzungen des echten Gesprächs erfüllt. Von der ersten Stunde an herrschte Unmittelbarkeit zwischen allen, von denen manche einander eben erst kennen gelernt hatten, jeder sprach mit einer unerhörten Rückhaltlosigkeit, und offenbar war nicht ein einziger unter den Teilnehmern dem Scheine hörig. Ihrer Absicht nach muß man die Zusammenkunft als eine gescheiterte bezeichnen (wiewohl es in meinem Herzen auch jetzt noch nicht feststeht, daß sie scheitern mußte); die Ironie der Situation wollte es, daß man die endgültige Besprechung auf Mitte August ansetzte, und der Weltgeschichte war es naturgemäß bald gelungen, den Kreis zu sprengen. Dennoch hat in aller Folge gewiß keiner der damals Versammelten bezweifelt, daß er an einem Triumph des Zwischenmenschlichen teilgenommen hatte. Ein Hinweis ist noch vonnöten. Selbstverständlich brauchen nicht alle zu einem echten Gespräch Vereinten selber zu sprechen; schweigsam Bleibende können mitunter besonders wichtig werden. Jeder aber muß entschlossen sein, sich nicht zu entziehen, wenn es etwa dem Gang des Gesprächs nach an ihm sein wird zu sagen, was eben er zu sagen hat. Wobei natürlich keiner von vornherein wissen kann, was das etwa sein wird: ein echtes Gespräch kann man nicht vordisponieren. Es hat zwar seine Grundordnung von Anbeginn in sich, aber nichts kann angeordnet werden, der Gang ist des Geistes, und mancher entdeckt, was er zu sagen hatte, nicht eher, als da er den Ruf des Geistes vernimmt. Auch dies jedoch ist selbstverständlich, daß alle Teilnehmer, ohne Ausnahme, so beschaffen sein müssen, daß sie den Voraussetzungen des echten Gesprächs zu genügen fähig und bereit sind. Die Echtheit ist schon in Frage gestellt, wenn ein noch so geringer Teil der Anwesenden von sich 8.
[Anm. Buber im Merkur]: Eine Episode dieser Tagung habe ich anderswo (in dem Abschnitt »Meinungen und das Faktische« des Buches »Zwiesprache«) erzählt. [Zwiesprache erscheint in MBW 4. Es handelt sich um ein Treffen des Forte-Kreises in Potsdam, bei dem neben Buber auch Frederik van Eeden (1860-1932), Gustav Landauer, Eric Gutkind (1877-1965), Florens Christian Rang (1864-11924), Poul Bjerre (1876-1964), Henri Borel (1869-1933) und Ernst Norlind anwesend waren. Vgl. M. Friedman, Martin Buber’s Life and Work, Detroit 1988, Bd. 1, S. 181.
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und von den andern als solche empfunden werden, denen keine aktive Beteiligung zugedacht ist. Ein Zustand dieser Art kann sich zu einer schweren Problematik steigern. Ich hatte einen Freund, den ich zu den beträchtlichsten Männern des Zeitalters zähle. Er war ein Meister des Gesprächs, und er liebte es; seine Echtheit als Sprecher war evident. Aber einmal ereignete es sich, daß er mit zwei Freunden und den Frauen der drei beisammen saß und ein Gespräch aufstieg, an dem die Frauen seinem Wesen nach offenkundigerweise nicht teilnahmen, wiewohl freilich ihre Gegenwart höchst bestimmend war. Das Gespräch zwischen den Männern entwickelte sich bald zu einem Gefecht zwischen zweien (ich war der dritte). Auch der andere, mir ebenfalls befreundet, war von edler Art, ein Mann des Wortes auch er, aber mehr der sachlichen Gerechtigkeit als den Ansprüchen des Geistes ergeben und aller Eristik urfremd. Der Freund, den ich einen Meister des Gesprächs genannt habe, sprach nicht gelassen-gewichtig wie sonst, sondern »glänzend«, fechterisch, siegerisch. Das Gespräch verdarb. In unserer Zeit, in der das Verständnis für das Wesen des echten Gesprächs selten geworden ist, werden seine Voraussetzungen von dem falschen Öffentlichkeitssinn so gründlich mißkannt, daß man vermeint, ein solches Gespräch vor einem Publikum interessierter Zuhörer mit gebührender publizistischer Assistenz veranstalten zu können. Aber eine öffentliche Debatte von noch so hohem »Niveau« kann weder spontan noch unmittelbar noch rückhaltlos sein; eine als Hörstück vorgeführte Unterredung ist von dem echten Gespräch brückenlos geschieden.
MBW 10 (02686) / p. 106 / 13.12.2016
Dem Gemeinschaftlichen folgen 1 1 Unter den Sprüchen, mit denen Heraklit zum Bau der abendländischen Denkweise den Grund gelegt hat, ist einer von so großer Schlichtheit und dünkt uns Spätlingen des Geistes so selbstverständlich, daß wir ihn als nur gleichnishaft gemeint zu verstehen gewohnt sind, zumal Heraklit selbst in anderen Sprüchen sich solchermaßen auf ihn zu beziehen scheint. Aber in dieser Höhe besteht nichts Konkretes, das nur als Gleichnis gilt, nichts, was nicht auch als Aussage der unmittelbaren Anschauung einer wahrgenommenen Wirklichkeit vollkommenen Bestand hat. Der Spruch besagt, die Wachenden, hätten einen einzigen ihnen gemeinschaftlichen Kosmos, 2 das heißt eine einzige Weltgestalt, an der sie gemeinschaftlich teilhaben, – und damit ist schon ausgesprochen, worauf der späte Moralphilosoph Plutarch, der uns das Fragment erhalten hat, interpretierend hindeutet, daß nämlich jeder Schläfer sich von dem gemeinsamen Kosmos ab und einem ihm allein eigenen Etwas zuwendet, welches er also mit keinem andern teilt und mit keinem zu teilen vermag. 3 Die Zweiheit von Wachen und Schlaf ist hier nicht, wie anderswo bei Heraklit, ein Sinnbild der Zweiheit jener Menschen, die des Seins und seines Sinns inne sind, und all der andern die davon abgekehrt leben.4 Hier ist – wie es je und je not tut, damit ein echtes Sinnbild im Geiste werden könne – ein leiblich Seiendes in entscheidender Schau gefaßt. Der Ephesier macht hier dem Okzident die grundlegende Einsicht offenbar, daß der rhythmisch geregelte Ablauf unseres täglichen Lebens nicht einen Wechsel zweier Zustände, sondern einen Wechsel zweier Bereiche bedeutet, in denen wir uns abwechselnd finden und von denen er den einen einen Kosmos nennt. Diesen einen Kosmos, den Heraklit als wertsetzender Denker bejaht, bezeichnet er als ein den Menschen Gemeinschaftliches. Das bedeutet aber Anderes und Größeres, als daß sie allesamt in jenem Bereich hausen, 1.
2. 3. 4.
Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 276 f. Da dieser Text ebenfalls in MBW 6 abgedruckt ist, sind die Anmerkungen größtenteils von dort übernommen. Ich danke Asher Biemann, dem Herausgeber von MBW 6 und Verfasser der Anmerkungen, für seine Erlaubnis zur Übernahme in diesen Band. Vgl. Heraklit: »Die Wachenden haben eine einzige und gemeinsame Welt […]«, Die Fragmente der Vorsokratiker, hrsg. von Hermann Diels und Walter Kranz, Berlin, 1951. Fragment 22 B 89. Ebd.: »[…] doch jeder Schlummernde wendet sich nur an seine eigene [Plutarch].« Vgl. ebd., Fragment 22 B 1 und Fragment 22 B 72.
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den wir Welt nennen, oder daß jedem von ihnen eben dieser Bereich zur Wahrnahme gegeben ist. »Das Gemeinschaftliche« ist für Heraklit die tragende Kategorie, die es ihm trotz des von ihm so peinvoll erlittenen und so grimmig gerügten Unverstands der Menschen möglich macht, ihr Miteinandersein, die Allgegenseitigkeit des Menschenwesens als ein geistig Wirkliches zu begreifen und zu bestätigen. Wenn Heraklit etwa vom Logos, dem in der Substanz des Wortes wohnenden Sinn des Seins, sagt, er sei gemeinschaftlich, 5 so ist damit geäußert, daß die Allheit der Menschen in der ewigen Ursprünglichkeit ihres sprachlichen Umgangs miteinander am Vollzug dieses Inwohnens teilhat. So verhält es sich auch mit der Weltgestalt, die der Gesamtheit des Menschengeschlechts zugehört, mit dem »gemeinschaftlichen Kosmos«. Derselbe Sinn des Seins, der im Wortwerden waltet, dieselbe im Feuer der Gegensätzlichkeit sich stets erneuernde Echtheit ist es, die sich im Weltprozeß verkörpert. Aber diese Welt, die Heraklit als die Welt der Menschen versteht, baut sich immer nur aus der Allheit des Menschengeschlechts auf, dem sie zugehört. Mit allem, was Menschen sind, tragen sie zum kosmischen Vorgang bei. Als einzelne sind sie sogar im Schlaf, mögen sie auch jeder in seinem Eigenbereich versenkt sein, dennoch, wie Heraklit sagt, »Werker und Mitwirker am Weltgeschehen«,6 passive Werker. Das heißt: es gibt keinen Zustand, in dem der einzelne lediglich ein Eigensein führte, ohne eben dadurch, was er in diesem Zustand lebt, sein Teil zum Leben seiner menschlichen Umwelt und zu dem der Welt überhaupt beizusteuern. Aber an der Weltgestalt selber, die eben ein menschlicher Kosmos ist, als Kosmos dem Menschen als Menschen kenntlich, daran bauen sie wachend, gemeinschaftlich, miteinander in der Welt umgehend, einander von der Macht des Logos her helfend, die Welt als Weltordnung zu fassen, ohne welche ordnende Fassung sie nicht Welt ist und nicht Welt sein kann. Das freilich vermögen sie nur, wenn und insofern sie wahrhaft Wachende sind, wenn sie nicht im Wachen schlafen und traumhaften Trug, eigene Einsicht genannt, spinnen, – wenn sie gemeinschaftlich existieren. »Man soll dem Gemeinschaftlichen folgen.« 7 Dieser große Spruch Heraklits erschließt sich uns erst dann, wenn wir seine Lehre von der Gemeinschaftlichkeit des Logos wird des Kosmos aufgenommen haben. Wa5.
6. 7.
Vgl. ebd., Fragment 22 B 2: »Drum ist es Pflicht dem Gemeinsamen zu folgen – d. h. dem Gemeinschaftlichen, denn der gemeinschaftliche [Logos] ist allgemein [Sextus Empiricus]. Aber obschon das Wort [logos] allen gemein ist, leben die meisten so, als ob sie eine eigene Einsicht hätten.« Ebd. Fragment 22 B 75: »Die Schlafenden nennt, glaub’ ich, Heraklit Werker und Mitwirker an den Weltereignissen.« Vgl. Anm. 5.
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chen und Schlaf sind eines von den Gegensatzpaaren, in denen sich nach Heraklit die Einheit des Seins, in ihnen schwingend und die eigene Spannung in ihnen austragend, erfüllt. In jedem Paar hat jeder der beiden Gegensätze seinen Stand und sein Recht; aber die Verwischungen und Verquickungen sind vom Übel. So verhält es sich auch mit Wachen und Schlaf. Im Schlaf gibt es keinen faktischen Zusammenschluß mit anderen; jeder träumt von den anderen, aber die, von denen er träumt, haben nicht teil an seinem Traum. So soll auch die traumhafte Verlorenheit eines jeden an sein Eignes nicht in die gemeinschaftliche Wachwelt dringen. Hier und nur hier sind wir Wir. Hier dürfen wir wache Menschen als solche den Logos vernehmen, indem wir einander in unserer Wahrheit vernehmen, durch deren Stimme er spricht, und hier sind wir mit dem Kosmos werkhaft vertraut, mit ihm durch unser Zusammenwirken vertraut, weil er in dem Maße Kosmos wird, als wir ihn mitsammen erfahren. Heraklit stellt uns in die reine Pflicht und Verantwortung des wachen Miteinanderseins. Er verwirft selbstverständlich nicht den Traum, der dort, in der dem Wir unzugänglichen Entrücktheit, seinen Stand und sein Recht hat, aber er verwirft die traumhafte Absage an das Wir, die mit ihrem Trug den gemeinschaftlichen Tag sprengt.
2 Mit seiner Verkündigung der den Wachenden zugeteilten Weltgestalt und des in ihr sich darstellenden Seinssinnes als des Gemeinschaftlichen, dem wir folgen sollen, hat Heraklit dem Geiste das Werk angewiesen, sich, in Menschenwelt wachend, und das heißt eben: gemeinschaftlich gemeinschaftliche Wirklichkeit stiftend, zu bekunden. Was das in der Geschichte des Geistes bedeutet, sei an zwei Gegenbeispielen verdeutlicht. Im selben Zeitalter, in dem der kleinasiatische Grieche Heraklit Recht und Pflicht des wachen Geistes stiftete, hat sich in China, zumeist in mündlicher Überlieferung, die entscheidende Prägung einer Lehre begeben, die der seinen denkwürdig ähnlich und zugleich denkwürdig unähnlich ist. Es ist die Lehre von Tao, 8 der »Bahn«, die selber unbedingte Einheit ist, aber den Wechsel der Gegensätze und gegensätzlichen Prozesse, ihre Entsprechungen und ihre Widersprechungen, ihre Kämpfe und ihre Paarungen trägt, umfängt und rhythmisch regelt. Das geschieht so in der 8.
Siehe besonders Buber, »Die Lehre vom Tao«, als Nachwort zu Reden und Gleichnisse des Tschuang Tse (1910), erscheint in MBW 2.2. Buber benutzte vor allem die von Alexander Ular besorgte Ausgabe Die Bahn und der rechte Weg des Lao-Tse, der chinesischen Urschrift nachgedacht, Leipzig, 1903.
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Welt wie im Geist, denn ebenso wie bei Heraklit ist auch hier die Ordnung beider Eine. Die Gegensätze selber aber stehen hier nicht wie dort in der nicht weiter zurückzuführenden Vielfältigkeit von Feuer und Wasser, Tag und Nacht, Leben und Tod, sondern all diese und ihresgleichen alle sind nur Erscheinungen und Akte der zwei Urwesenheiten, Yin und Yang, die sich als das Weibliche und das Männliche, das Dunkle und das Helle, das Lockere und das Feste, das Nachgiebige und das Vordringende, ja das Nichtsein und das Sein manifestieren. Sie ergänzen einander, vermählen sich miteinander; in dem Buch Tao Te King, das trotz aller Unsicherheit der Traditionen manches von der ältesten Sprachschicht der Lehre bewahrt zu haben scheint, heißt es sogar, Sein und Nichtsein brächten einander hervor. 9 Dennoch wird hier, anders als bei Heraklit, dem passiven Prinzip der Vorrang zugesprochen, weil es das wahrhaft wirksame sei. Was sich daraus für das Verhältnis zwischen dem Bereich des Wachens und dem des Traums ergibt, zeigt sich mit äußerster Anschaulichkeit in einem Text des Tschuangtse, eines Denkers und Dichters des vierten Jahrhunderts, der sich als einen nachgeborenen Jünger des ganz voll Sage umwobenen Laotse verstand. Tschuangtse berichtet einen Traum und dessen Nachspiel. Er redet von sich in der dritten Person. »Tschuang Tschou«, heißt es bei ihm, »träumte einst, er sei ein Schmetterling, ein hin und her flatternder Schmetterling, ohne Sorge und Wunsch, seines Tschuang Tschou-Daseins unbewußt. Plötzlich erwachte er, und da lag er, wieder der selbige Tschuang Tschou. Nun weiß er nicht: ist er ein Mensch, der träumte, er sei ein Schmetterling, oder ein Schmetterling, der träumt, er sei ein Mensch?« 10 Der Text ist nicht vereinzelt. In einem anderen taoistischen Buch 11 wird von einem Fabelreich erzählt, an dessen Grenze das Spiel der Gegensätze erlahmt. Da gibt es keinen Unterschied von Kälte und Wärme, von Nacht und Tag. Die Insassen, die weder der Nahrung noch der Kleidung bedürfen, schlafen sieben Wochen lang. Wenn sie dann erwachen, halten sie, was sie geträumt haben, für wirklich, und was sie nun erfahren, für scheinbar. Es ist offenkundig, daß in dieser Lehre dem wachen Dasein kein Vorzug zukommt, ja daß, wenn einer der beiden Bereiche als Welt anzuspre9. Lao Tse, Tao T king. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Aus dem Chinesischen verdeutscht und erläutert von Richard Wilhelm, Jena 1911 (Neuaufl., Düsseldorf/ Köln 1957), S. 2: »Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.« 10. Martin Buber, Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse, Insel: Leipzig 1910, S. 9, erscheint in MBW 2.2. Bei Buber ist der Traum in der Ich-Form wiedergegeben. 11. Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund »Tschung Hü Dschen Ging«. Die Lehren der Philosophen Liä Yü Kou und Yang Dschu, Aus dem Chinesischen verdeutscht und erläutert von Richard Wilhelm, Jena 1921 (1911). Buch III, 5, S. 33.
MBW 10 (02686) / p. 110 / 13.12.2016
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chen wäre, es gar eher wohl der des Traums sein könnte, und zwar gerade deshalb, weil er sich dem Erwachenden als Traum zu erkennen gibt, wogegen der Erfahrungskreis des Wachen die Wirklichkeit schlechthin zu sein prätendiert, ohne daß er diesen Anspruch zu begründen vermöchte. Logos und Kosmos gelten hier nicht. Aber auch das Gemeinschaftliche gilt hier nicht. Der sich abkehrende Einzelmensch bekommt das volle Maß des Daseins zugeteilt. In demselben Abschnitt, in dem von jenem Fabelreich erzählt wird, lesen wir, wie ein gebrechlicher Knecht von seinem Herrn grausam geplackt wurde, aber Nacht um Nacht träumte, er sei ein Fürst und lebe in Freuden, und deshalb auch bei Tag mit seinem Lose zufrieden war, wogegen es dem Herrn umgekehrt erging. 12 Und wieder eine andere Geschichte desselben Abschnitts läßt Laotse sogar den Wahnsinn mit gelassenem Humor in ähnlicher Weise behandeln; »wäre die ganze Welt außer dir verrückt,« sagt er zum klagenden Vater eines geisteskranken Sohnes, »dann wärst eben du der Verrückte.« 13 So steht es hier um die gegensätzlichen Bereiche im Leben des Menschen. Was wir Wache als einen traumhaften Wahn determinieren, kann hier als ebenso wirklich wie die Wachwelt, ja als wirklicher gelten. Dieser Bereich steht jeweils bereit, den Menschen aufzunehmen, etwa gar tröstlich und gnadenreich. Aber eben nicht uns, sondern nur jeden einzelnen von uns besonders. Wir, als wir, können ihn nie betreten; er nimmt kein Wir auf. Jeder von uns träumt, er ginge mit anderen um; aber keiner dieser anderen erfährt es an sich, keiner betritt die Traumsphäre mit uns. Der Anspruch des Sonderbereichs, eine Welt zu sein, ist es, dem Heraklit seinen elementaren Spruch entgegenstellt: »Man soll dem Gemeinschaftlichen folgen.«
3 Die andere Kundgebung aus der morgenländischen Tiefe stößt hier weiter vor. Es ist die Lehre der ältesten Upanischaden, also eine ursprünglich streng esoterische Lehre, jeweils vom Mund des Meisters zu den Ohren der Schüler gehend, die ihm zu Füßen sitzen, die Lehre von Traumschlaf und Tiefschlaf. Der Traum wird hier durchaus als eine Vorstufe betrachtet. Der persönliche Wesensgeist wird geschildert, wie er, in den Traumschlaf einge12. Ebd., Buch III, 6, S. 34. 13. Ebd., Buch III, 9, S. 37.
MBW 10 (02686) / p. 111 / 13.12.2016
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gangen, die ganze Welt durchstreift und ihr seinen Baustoff entnimmt, den er »zerspellt«, also in die elementaren Bestandteile zerlegt, um daraus »im eigenen Licht« zu bauen, was er bauen mag, denn »er ist ein Schöpfer«.14 Verse, wohl noch älteren Ursprungs als die Lehrprosa, werden angeführt, in denen es heißt: Das niedre Nest muß ihm der Odem hüten, Er schwingt unsterblich sich vom Nest hinweg, Unsterblich schweift umher er, wo er mag, Der goldene Geist, die einsame Wandergans. Im Traumenlande schweift er auf und nieder Und schafft sich gotthaft vielerlei Gestalten. 15 Stärker als in den taoistischen Texten wird hier die souveräne Freiheit des Traums gepriesen. Allen Bindungen des Tages enthoben, schaltet er als selbstherrlicher Bildner mit der ganzen Welt, die ihm als widerstandsloser Stoff untertan ist, er bedarf zum Werk keines andern Lichtes als seines eigenen, und in göttlicher Wandlungsmächtigkeit bekleidet er sich mit Gestalt um Gestalt. Nun aber entsteigt der souveräne Geist auch der Sphäre des Traums. Er hat an dem Spiel der Wandlungen keine Genüge mehr, er gibt auch die letzte Bindung an die Welt, die durch die ihr entnommenen Bilder, auf und geht in den völlig traumlosen, bildlosen, wunschlosen Tiefschlaf ein. »Wie im Luftraum ein Falke oder Adler,« so heißt es in jenem Text weiter, »des Fliegens müde, die Fittiche faltend sich anschickt niederzuhocken, so eilt der Wesensgeist jenem Stande zu, da schlafend keinen Wunsch er wünscht und keinen Traum er schaut.« 16 Aus all den Gestalten gezogen, zu denen er den Weltstoff verwandte, hat er nun das gestaltlose Weilen im weltlosen Sein gefunden. Erst jetzt darin beschlossen und geborgen, ist er, wie es weiter heißt, »übers Verlangen hinaus, des Übels ledig, von Angst frei«, 17 denen allen er ja in der Traumwelt trotz seiner Ungebundenheit noch ausgesetzt war. Er erfährt nun nichts mehr, was von ihm selber unterschieden, unterscheidbar wäre, denn »da ist kein Zweites außer ihm«. 18 Ein andrer, aus derselben ältesten Epoche der Upanischaden stammender 14. Brihad-Aranyaka-Upanischad, IV/3 (»Traum«). Vgl. A. Hillebrand, Aus Brahmanas und Upanishaden Gedanken altindischer Philosophen, Jena 1923 (1921), S. 55: »Wenn er da in Schlaf versinkt, so sondert er ein Teilchen der alles enthaltenden Welt ab, zerspaltet es selbst, bau es selbst auf und versinkt beim eigenen Glanz, beim eigenen Licht in Schlaf […] er ist ein Schöpfer.« Auch P. Deussen, Sechzig Upanishad’s des Veda, Leipzig 1897), S. 468. 15. Ebd., IV/3, 10 (Hillebrand, S. 55; Deussen, S. 468). 16. Ebd., IV/3, 19 (Hillebrand, S. 56; Deussen, S. 470). 17. Ebd., IV/3, 21 (Hillebrand, S. 56; Deussen, S. 470). 18. Ebd., IV/3, 23 (Hillebrand, S. 57 f.; Deussen, S. 471 f.).
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Text umschreibt das gleiche in einer andern Sprache. »Wenn es heißt,« lesen wir hier, »ein Mensch schlafe« – womit eben der Tiefschlaf gemeint ist –, »ist er dem Sein geeint. Er ist in sein Selbst eingegangen. Wo einer kein Anderes sieht, kein Anderes hört, kein Anderes erkennt, dies ist die Fülle.«19 Wir müssen darauf achten, was diese Sprüche sagen, die im Abendland erst sehr spät bekanntgeworden sind, aber sich in unserem Zeitalter tiefreichend ausgewirkt haben. Der Schlaf erscheint hier als der Weg aus dem Bereich, in dem der Mensch vom Kern des Seins getrennt ist, zu dem, in dem er ihm geeint ist. Der Weg führt über die Freiheit, die sich im Traum entfaltet, zur Einheit. Diese Einheit ist die des individuellen Selbst mit dem Selbst des Seins: sie sind in Wahrheit ein einziges Selbst. Ihre Entzweiung in der Erfahrung der Wachwelt ist somit der große Trug. Von der Wachwelt wurden wir im Traum unabhängig und blieben ihr doch noch verhaftet; im Tiefschlaf werden wir von ihr frei und damit vom Trug, der allein das persönliche Selbst vom Selbst des Seins trennt, – eine Folgerung, die freilich erst von späteren, im genaueren Sinn philosophischen Lehren schlüssig gezogen wird. Demnach ist das Dasein des Menschen in der Welt das Dasein einer Scheinwelt, die eine zauberische Täuschung ist. Da aber die Identität das Selbst nur in einer absoluten Einsamkeit, wie eben der Tiefschlaf eine ist, erreicht werden kann, ist auch das Dasein zwischen Mensch und Mensch letztlich nur Schein und Trug. Jener Spruch »Das bist du«, 20 den spätere Zeiten auf das zwischenmenschliche Verhältnis haben erstrecken wollen, ist von der ursprünglichen Lehre einzig auf das Verhältnis zwischen Brahman und Atman, Selbst des Seins und Selbst der menschlichen Person, intendiert. Ob auch jedermann im Tiefschlaf die Identität alles Selbst erfährt, kann sie sich in der Wachwelt, als in der Scheinwelt, nicht stiften. Das Umschlungenwerden von einem geliebten Weib dient in einem der angeführten Upanischadtexte als Gleichnis der Einung; 21 als Tatsache des Lebens betrachtet, ist es dem Trug anheimge19. Vgl. Chandogya-Upanishad des Samveda, Sechster Prapathaka, Achter Khanda, v. 1 (Hillebrand, S. 84; Deussen, S. 164). 20. Vgl. ebd., v. 6-7: »Diese feinste Substanz durchzieht das All, das ist das Wahre, das ist das Selbst, das bist du, Çvetaketu.« In der sechsten Prapathaka dieser Upanishad belehrt Uddalaka seinen Sohn Çvetaketu über die Entstehung der Elemente des Menschen, den Schlaf, Hunger und Durst. Der Refrain »das bist du« wiederholt sich im 9. bis 11. Khanda. 21. Vgl. Brihad-Aranyaka-Upanischad, IV/3, 21: »Denn so wie einer, von einem geliebten Weibe umschlungen, kein Bewußtsein hat von dem, was außen oder innen ist, so auch hat der Geist, von dem erkenntnisartigen Selbste umschlungen, kein Bewußtsein von dem, was außen oder innen ist.«
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geben. Der Mensch, der der Lehre der Identität anhangt, mag freilich, wenn er zu einem Mitmenschen du sagt, zu sich, auf den andern hinweisend, sagen: »Der da bist du selber«, denn das Selbst des andern ist ja mit dem seinen identisch. Aber was das echte Dusagen zum andern in der Wirklichkeit des gemeinschaftlichen Daseins grundhaft bedeutet, die Bejahung des urtiefen Andersseins des anderen nämlich, die Bejahung seines von mir angenommenen, von mir geliebten Andersseins, das wird eben durch jene Identifikation entwertet und im Geist zunichte gemacht. Die Identitätslehre steht nicht bloß dem Glauben an das wahre Sein eines gemeinschaftlichen Logos und eines gemeinschaftlichen Kosmos entgegen; sie widerspricht auch der Erzwirklichkeit dessen, woraus alle Gemeinschaftlichkeit stammt, der menschlichen Begegnung. Das altindische »Das bist du« würde, in der faktischen wachen Kontinuität des Umgangs miteinander ernst genommen, dem Postulat einer Annihilierung der menschlichen Person, so der fremden wie der eigenen, gleichkommen, denn Person ist durch und durch Einmaligkeit, also Anderssein allem gegenüber. Und möchte darin etwa noch jenes vorgeblich universale Selbst auf dem Grunde des Ich verbleiben, Umgang könnte es mit niemand mehr pflegen. Wir aber sehen im Menschsein, in dem daraus sich ergebenden Umgang von Menschen miteinander die Chance der Begegnung zwischen Seiendem und Seiendem, in der jedes von beiden zwar nicht zu sich sagt: »Das drüben bist du«, wohl aber jedes zum andern: »Ich nehme dich an wie du bist.« Hier erst ist unverkürzte Existenz.
4 Die Absicht dieser Nebeneinanderstellung von Sprüchen Heraklits mit Sprüchen taoistischer Meister und der frühen Upanischaden ist keine historische; aber erst recht nicht geht es um eine kritische Vergleichung des Orients mit dem Okzident. Der Erdstrich zwischen Schwarzem und Rotem Meer, in dem im gleichen Zeitalter Anaximander und Heraklit auf griechisch lehrten und israelitische Propheten auf hebräisch mahnten und trösteten, ist ja nicht als ein Wall, sondern als eine Brücke zwischen Osten und Westen zu verstehen. Kamen doch die Lehren jener Denker, die Lehre vom Einander-Buße-Schulden aller Wesen und die Lehre von der Gemeinschaftlichkeit des Logos und des Kosmos, und die Botschaft dieser Künder von dem Einander-Hilfe-Schulden der Menschen und von der Aufgabe eines gemeinschaftlichen Lebens, kamen doch jene und diese aus dem Herzen des Morgenlands und haben doch beide an der Grundlegung abendländischen Geistes gewirkt.
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Wenn ich die von scheinbarer Widersprüchlichkeit durchzuckte Philosophie Heraklits gegen die im Gleichmaß schwebenden Weisheiten des Orients anrufe, geschieht es um einer spezifischen Not unserer Zeit willen. Ich meine damit das Gegeneinanderstehen zweier Ansichten, von denen die erste die Kollektivität zuhöchst stellt, wogegen die zweite den Sinn des Daseins in dem Verhältnis des einzelnen zu seinem Selbst erschlossen oder doch erschließbar glaubt. Die erste erscheint wie eine Travestie der antiken Idee des Gemeinschaftlichen; die zweite, von westlichen Philosophen, Psychologen und Literaten vertreten, beruft sich gern auf altindische Lehren und deren Ableger. Ihr gilt die Erörterung, und der Grund für diese Wahl ist gewichtig. Der moderne Kollektivismus stellt zwar die Kollektivität über alles, aber er spricht ihr nicht den Charakter des Absoluten zu; er behandelt ja das Absolute überhaupt als eine unerlaubte Fiktion. Dagegen neigt die moderne Abart des Individualismus dazu, das individuelle Selbst, welches das Ich auf seinem Grunde findet, als das Selbst schlechthin und damit als das Absolute zu verstehen. Trotz aller Betonung des Interesses an der »Außenwelt« oder sogar einer Art von kosmischer Sympathie, trotz aller Hindeutung auf die »Allseele« als auf die eigentlich gemeinte, waltet hier unverkennbar die Tendenz zum Primat des Einzeldaseins und zu seiner Selbstherrlichkeit. Und dieser Individualismus ist noch bedenklicher als der Kollektivismus, weil die Prätention des falschen Absoluten bedenklicher als die Leugnung des Absoluten ist. Vergegenwärtigen wir uns erneut die vitale Ursprünglichkeit der drei Grundbegriffe Heraklits: der Begriffe des Gemeinschaftlichen, des Logos und des Kosmos, und unternehmen wir es, von ihrer Ursprünglichkeit aus in unsere Situation zu blicken. Heraklit sagt vom Denken, es sei allen gemeinschaftlich, und er erläutert dies auch noch dahin, alle Menschen hätten wie am Selbsterkennen so am Denken teil. In der Konkretheit seiner Betrachtung, die er bis in die höchsten Abstraktionen bewahrt, ist damit nicht das Allbekannte gemeint, daß jeder von uns die Denkfähigkeit besitzt, 22 sondern daß wir, wenn wir dem Logos gemäß erkennen und denken, dies nicht isoliert, sondern gemeinschaftlich tun: wir verschmelzen all unser Sonderwissen, und auch noch zum Selbsterkennen23 hilft einer dem andern. Diesem Gemeinschaftlichen, an dem wir, miteinander lebend und aufeinander wirkend, teilhaben, »soll man folgen«. Heraklit ist stets im Einvernehmen mit der durch und durch sensuell 22. Vgl. Diels/Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Fragment 22 B 113: »Gemeinsam ist allen das Denken.« 23. Vgl. ebd. Fragment 22 B 116: »Allen Menschen ist es gegeben sich selbst zu erkennen und klug zu sein.«
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lebendigen Sprache seiner Zeit geblieben. Daher hört der Logos auch in der äußersten Sublimierung nicht auf, ihm das sinnhafte Wort zu sein, die Menschenrede, die dem Sinn die Treue hält. Der Sinn kann im Wort sein, weil er im Sein ist. So regt er sich tief in der Seele, die des Sinns inne wird, mehrt sich in ihr, wird aus ihr zur Stimme, die zu den Mitseelen spricht und von ihnen vernommen wird, gar oft freilich ohne daß ihr Vernehmen zu einer wirklichen Aufnahme würde. Und wie der Logos, so gehört auch der Kosmos dem Gemeinschaftlichen zu als dem, woran die Menschen wie an einem gemeinsamen Werke teilhaben. Daß er ihnen gemeinschaftlich ist, meint nicht die ebenfalls allbekannte Tatsache, daß sie sich mitsammen in der Welt befinden; es meint, daß ihr Verhältnis zu ihr ein gemeinschaftliches ist. Was inzwischen als die subjektive Seite unserer Wahrnehmungen zu einiger Klärung gebracht worden ist, würde Heraklit in dieser seiner Einsicht gewiß nicht wankend gemacht haben; denn wir können ja dennoch einander die Dinge zeigen, einander die Dinge bezeichnen, jeder kann jedem, ihn ergänzend, helfen, eine Weltgestalt, eine Welt zu haben. Davon wird noch zu sprechen sein. Jetzt aber ist eine Abart jenes Individualismus ins Auge zu fassen, die uns in diesem Zusammenhang exemplarisch angeht. Die Tendenz, durch Verlassen der Gemeinschaftlichkeit eine höhere Seite des Daseins, ja das »eigentliche« Dasein 24 zu erreichen, ist hier zu einem besonders drastischen Ausdruck gelangt. Die Lobpreiser des Unternehmens meinen zwar, darin der »Welt der Selbstheit« entrückt zu sein, aber in Wahrheit sind sie durchaus beflissen, die dem einzelnen vorbehaltene Sphäre und damit die der Selbstheit zu isolieren. Die Vorgänge dieses Gebiets sind weit eher mitteilbar als was sich auf dem rein innerlichen Weg und gar an seinem Ende begibt, und so ist uns einiges Material gewährt.
5 Vor kurzem hat der namhafte englische Romancier Aldous Huxley die erstaunlichen Wirkungen des Meskalinrausches geschildert und gerühmt. 25 24. Eine Anspielung auf die Existenzphilosophie, insbesondere Heideggers (1889-1976) Unterscheidung der beiden »Seinsmodi« der »Eigentlichkeit« und »Uneigentlichkeit« (vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Frankfurt a. M. 1975, S. 42 f.). Buber selbst jedoch verwendet diese Begriffe in seiner philosophischen Rechenschaft ebenfalls, wenn er von einer »Diskontinuität von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit« spricht, womit er das Ich-Du bzw. Ich-Es Verhältnis meint. (vgl. M. Buber, Anwort, in: Schilpp/Friedman (Hrsg.), Martin Buber– Philosophen des 20. Jahrhunderts. S. 637). 25. Aldous Huxley, The Doors of Perception, New York 1954.
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Meskalin wird aus einem Kaktus gewonnen, dessen Genuß von altersher mexikanische Indianerstämme so verzückt und beseligt hat, daß ihnen die freigebige Pflanze zum Mittelpunkt eines ritenreichen Kults wurde. Die Wirkungen des Rausches berichtet Huxley aus eigener Erfahrung, die sich in der Hut wohlgeschulter Selbstbeobachtung vollzieht. Was er da mit offenen Augen schaut, ist nicht etwa ein erdferner Phantasiebau, es ist die ihm vertraute häusliche Umwelt, aber von ihren räumlichen Bedingnissen losgemacht, in nie geahnter Farbengewalt und einer faszinierenden Präsenz des einzelnen Gegenstands, die Huxley mit der kubistischen Sehweise vergleicht. 26 Diese radikale Ästhetisierung des Verhältnisses zu den Dingen ist aber nur die Vorstufe einer höheren Art von Vision, die er als »die sakramentale Schau der Wirklichkeit« bezeichnet. 27 In den Religionen bedeutet Sakrament den in Leben und Sterben zu bewährenden Einstand der ganzen Person, die in ihrer leiblichen Existenz von dem Transzendenten berührt worden ist. Huxley meint aber mit sakramentaler Schau lediglich ein Eindringen und Aufgenommenwerden in die Tiefe der Sinnenwelt. Da zerfalle das durch Begriffe zusammengehaltene Schattenreich, das wir die Wirklichkeit nennen, denn es werde als »das Universum eines verminderten Bewußtseins« entlarvt, 28 und dieses verminderte Bewußtsein sei eben das in der Sprache zum Ausdruck gelangende. »Durch das Einnehmen eines geeigneten chemischen Präparats« werde jedermann, befähigt, »von innen her zu wissen, wovon der Mystiker redet«: 29 der sprachlose Urgrund des Seins öffne sich ihm in den Gegenständen. Da bestehe keine Scheidung mehr von Innen und Aussen, von Subjekt und Objekt. Naturgemäß muß Huxley die Augen der im Zimmer anwesenden, ihm sonst besonders teuren Menschen meiden: sie gehören ja der »Welt der Selbstheit« 30 an, die er verlassen hat. Mit diesem Begriff bezeichnet er, ohne es auszusprechen, die gemeinschaftliche Welt. Wenn er den Meskalinrausch unter die verschiedenen Arten der »Flucht aus Selbstheit und Umwelt« einreiht, zu welcher Flucht der Drang »in fast jedem Menschen fast jederzeit vorhanden«31 sei, so meint er wieder die gemeinschaftliche Welt, der der Meskalingenießer für die Dauer seines Rausches entflieht. Huxley nennt ihn freilich den 26. Ebd., S. 21 f.: »Table, chair and desk came together in a composition that was like something by Braque or Juan Gris […] this purely aesthetic, Cubist’s eye view […].« 27. Ebd., S. 22: »sacramental vision od reality«. 28. Ebd., S. 23: »universe of reduced awareness.« 29. Vgl. ebd., S. 14. 30. Ebd., S. 36: »the world of selves«. 31. Ebd., S. 63: »The urge to escape from selfhood and the environment is in almost everyone almost all the time.«
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»Drang zur Selbstüberschreitung«, worunter er versteht, daß der Mensch hier dem Verfangensein in das Netz seiner Nutzzwecke entgehe. In Wahrheit aber gelangt der Meskalinkonsument aus diesem Netz nicht etwa in eine freie Teilnahme am gemeinschaftlichen Sein, sondern gerade in eine schlechthin private, ihm für etliche Stunden zu eigen gegebene Sondersphäre. Die »chemischen Ferien«,33 von denen Huxley redet, sind Ferien nicht bloß von dem ins Getriebe seiner Zwecke verwickelten kleinen Ich, sondern auch von der an der Gemeinschaftlichkeit von Logos und Kosmos partizipierenden Person, – Ferien von der häufig sehr unbequemen Mahnung, sich als eine solche zu bewähren. Huxley spricht auch von Ferien von der, etwa abstoßenden, Umgebung. Aber der Mensch mag seine Situation, zu der seine Umgebung gehört, bewältigen, wie er will, er mag ihr standhalten, er mag sie ändern, er mag sie, wenn es not tut, mit einer andern vertauschen; nur die flüchtige Flucht aus dem Anspruch der Situation in die Situationslosigkeit ist keine rechtmäßige Sache des Menschen. Der wahre Name all der Paradiese, die man sich mit chemischen oder anderen Mitteln für ein Weilchen beschafft, ist Situationslosigkeit. Situationslos sind sie wie der Traumzustand und wie die Schizophrenie, weil sie ihrem Wesen nach ungemeinschaftlich sind. Jede Situation aber, auch die Situation dessen, der in die Einsamkeit ging, ist der Gemeinschaftlichkeit von Logos und Kosmos verhaftet. Zur Umwelt, von der nach Huxleys Ansicht von Zeit zu Zeit Seelenferien zu nehmen erwünscht und wohltätig ist, gehören auch die Menschen, mit denen wir leben. Haben wir eine hinreichende Dosis Meskalin eingenommen, dann verwandeln sich die Gegenstände unserer Umgebung zu eitel Herrlichkeit; nur die uns gerade umgebenden Menschen verwandeln sich nicht mit ihnen. Es ist daher wie gesagt folgerichtig, wenn Huxley, wie er erzählt,34 ihre Augen jetzt meidet; einander ansehen bedeutet ja das Gemeinschaftliche anerkennen. Es mag sein, daß die den Kaktus Peyotl genießenden Indianer einander nicht weniger als sonst anblicken; der moderne Zivilisationsmensch wendet in diesem Zustand seine Augen von den Menschen seiner Umgebung ab, weil es ihre Welt ist, die ihn sonst bindet. Ähnlich lesen wir es in vielen Berichten von Versuchspersonen über ihren Meskalinrausch. Sie erzählen, wie sie sich, »dem Ding an sich nah«, 32. Ebd., S. 62: »[T]he urge to escape, the longing to transcend themselves if only for a few moments, is and has always been on of the principal appetites of the soul.« 33. Ebd., S. 64: »the need for chemical vacations«. 34. Vgl. ebd., S. 36: »I relized that was deliberately avoiding the eyes of those who were with me in the room.«
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über allem schwebend fanden, der »peinlichen irdischen Welt« entrückt, und auch noch das von ihnen nachher als Halluzinationen Determinierte als »königliche Spiele« erlebten. 35 Und nur die andere Seite desselben Sachverhalts ist es, daß sie den anwesenden Mitmenschen mit einem tiefen Mißtrauen begegneten, daß sie am eigenen Leibe Organe des stärksten Kontakts, wie die inneren Handflächen und die Geschlechtssphäre, als vereist empfanden; daß das Gehör, der Sinn der geistigen Kommunikation, oft fast ausgeschaltet schien, ja daß es ihnen zuweilen nicht gelingen wollte, sich überhaupt Menschen vorzustellen. Dieses »Gefühl des völligen Isoliertseins« wird einmal in die Worte gefaßt: »Es braucht keine Frauen zu geben, auch keine Menschen.«36 Manche dieser Züge erinnern an eine verwandte Grundhaltung von Schizophrenen, nur daß wir bei diesen mitunter das Verlangen entdecken, einzelne Menschen, an denen ihnen in besonderer Weise gelegen ist, der verworfenen gemeinschaftlichen Welt zu entfremden und sie in die eigene allein zuverlässige und sinnreiche Sonderwelt zu entführen.
6 Huxley unterscheidet wie gesagt innerhalb des Rausches zwei Stufen. Auf der ersten sehe man die Dinge von innen her, wie der bildende Künstler sie sieht, zugleich vertieft-gegenständlich und von einem Innenlicht verklärt. Auf der zweiten, von der aus er fast verächtlich auf die geliebte Kunst als auf einen Ersatz« hinabsieht, erlebe man gewissermaßen, was der Mystiker erlebt. In der Tat, auch der Künstler ist in seinen entscheidenden Momenten der gemeinschaftlichen Sicht entzogen und in seine besondere, figurvolle gehoben; nur daß er gerade in diesen Momenten durch und durch und bis hinein in seine Wahrnehmung selber vom Urhebertrieb, vom Gebot des Bildens bestimmt wird. Huxley versteht jene Art, alles in leuchtender Farbigkeit und vordringlicher Gegenständlichkeit zu sehen, nicht bloß als die »wie man sehen sollte«, sondern auch »wie die Dinge in Wirklichkeit sind«. 37 Was soll das konkret besagen? Was wir Wirklichkeit 35. Buber bezieht sich hier auf die Meskalinexperimente des Heidelberger Arztes Kurt Beringer. Vgl. Kurt Beringer, Der Meskalinrausch: Seine Geschichte und Erscheinungsweise (Monographien aus dem Gesamtbereich der Neurologie und Psychiatrie, Heft 49), Berlin 1927, S. 168, S. 254. 36. Ebd., S. 199. 37. Huxley, The Doors of Perception, S. 34: »This is how one ought to see, how things really are.«
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nennen, erscheint doch nur je und je in unserem persönlichen Kontakt mit den Dingen, die uns in ihrem Eigensein unanschaulich bleiben, und es gibt persönliche Kontakte, die freier, direkter als die andern sind, die Dinge in größerer Wucht, Frische und Tiefe figurieren. Zu ihnen gehören bildnerische, gehören auch toxische Zustände, aber der fundamentale Unterschied zwischen diesen und jenen ist, daß etwa der Meskalingenießer die Veränderung seines Bewußtseins willkürlich herstellt; die Berufung des Künstlers dagegen setzt ihn in sein unwillkürliches besonderes Verhältnis zum Seienden, und von da aus, wollend, was er soll, bewußt realisierend wirkt er sein Werk. Wo Willkür eingreift, wird die Kunst unrechtmäßig. Die gleiche Problematik zeigt sich auf der zweiten von Huxley geschilderten oder vielmehr angedeuteten Stufe. Er sagt, der Meskalinrausch befähige einen, »von innen her zu wissen, wovon der Visionär, das Medium, ja sogar der Mystiker reden«. 38 Lassen wir das problematische Medium beiseite und begnügen wir uns mit der Betrachtung der großen Visionen und mystischen Erfahrungen der Menschengeschichte, soweit sie unserer Betrachtung zugänglich gemacht worden sind. Ihnen allen ist eins gemeinsam: wem dergleichen widerfährt, den überfällt etwas aus einem Bereiche, in dem er nicht wohnt und nicht wohnen kann, ein »Gesicht«, eine »Hand«, ein »Wort«, ein »Geheimnis«. Er ist nicht im Einvernehmen damit, ja er wehrt sich oft genug gegen das ihn Antretende, er klammert sich an die gemeinschaftliche Welt, bis er ihr entrissen wird. Und das ist keinesfalls etwa ein sekundärer Zug, es ist die Essenz des Vorgangs selber. Der Schamane, der Yogin haben ihre Methoden, durch deren Übung sie Macht der Magie und Macht der Versenkung gewinnen oder zu gewinnen vermeinen; der Mensch, von dem wir reden, hat nichts als seinen Weg, auf dem er überfallen, auf dem er geführt wird. Was hier geschieht, ist keine »Flucht«: man wird ergriffen, man wird, bezwungen, man wird berufen. Beide, der Künstler und der Mystiker, versetzen sich nicht in die Verfassung, in der sie je und je ihre Schau schauen, sie empfangen sie. Sie nehmen sich nicht aus der Gemeinschaftlichkeit heraus sie werden herausgenommen. Und sie müssen nicht weniger als sich selber, die ganze lebende Person und ihr ganzes persönliches Leben hergeben, um dem standzuhalten, was sich ihrer bemächtigt hat.
38. Vgl. ebd., S. 14.
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7 Die großen Lehren, von denen wir ausgegangen sind, die der kleinasiatischen Brücke und die des tiefen Morgenlandes, gleichen einander darin, daß in ihnen der Geist seinen Anspruch an die Ganzheit der persönlichen Existenz stellt und dieser Anspruch von dem Spruch der Lehre nur scheinbar zu trennen ist. Sie fordern das Leben dessen, der sie vernimmt, restlos an. Die frühen Upanischaden weisen auf das objektive Einswerden von Seelenselbst und Seinsselbst hin, das aus dem Aufhören des Bewußtseins im Tiefschlaf entstehe. Diese Einheit, so will es hier der Anspruch, soll durch die wache vollbewußte erkennende Person aus wissendem Dasein nachvollzogen werden, indem sie ihr eignes Selbst mit dem der Welt identifiziert. Die Lehre Laotses weist auf das Tao des Himmels hin, das der schwingenden kosmischen Gegensätze waltet, als auf das Urbild, das der Mensch nachahmen soll und nachzuahmen vermag, wenn er des ihm selber innewohnenden Tao, des Tao des Menschen, innegeworden ist; er soll und kann die ihm entgegentretenden Gegensätze des Daseins miteinander versöhnen und vermählen, ohne sie abzustumpfen. Auch dieser Lehre tut nicht weniger als die persönliche Existenz genug: die Existenz, die nicht eingreift, aber ausstrahlt. Beide Lehren wollen den Menschen aus der Verfangenheit ins Gemeinschaftliche zur Freiheit der überwindenden Abgeschiedenheit führen, die Lehre der Upanischaden in die Einsamkeit über die Welt hinaus, die taoistische in die Einsamkeit mitten in der Welt. Ihnen beiden steht die Lehre Heraklits gegenüber, die dem Gemeinschaftlichen folgen heißt; aber der Existentialanspruch des Geistes an die Person ist hier eher von noch stärkerem Gewicht. Gerade weil Heraklit anders als jene Inder das Sein des Seienden in all seiner Vielfalt annimmt und keine andere Harmonie kennt als die aus dessen Spannungen ersteht, und gerade weil er anders als jene Chinesen den Sinn des Seins nicht auf dem Grunde der Schiedlichkeit, sondern im Allgemeinschaftlichen findet, ist der Existentialanspruch hier ein so unmittelbarer. Heraklits zornigem Heischen ist es um die Menschen zu tun, die sein Wort hören, aber es noch nicht wahrhaft vernehmen. Nicht ihn sollen sie vernehmen, sagt er, sondern den ihnen gemeinschaftlichen Logos, der, um zwischen ihnen in die Gesprochenheit zu treten, des Mannes Heraklit sich bedient. Fremd ist ihnen der Logos durchaus nicht: sie haben ja, wie Heraklit sagt, dauernd den engsten Umgang mit ihm, mit dem Wort, indem sie es nämlich immerzu in den Mund nehmen, und doch leben sie im Zwist mit ihm, weil sie das sinnhafte Wort immerzu mißbrauchen und den Sinn in Widersinn verkehren.
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Denn, noch einmal sei’s hervorgehoben, nicht anders als von der Urstiftung der Ehe von Sinn und Rede aus kann der heraklitische Begriff des Logos verstanden werden. Drei- und viermal wird es uns in den erhaltenen Fragmenten eingehämmert: Logos ist etwas Vernehmbares, aber falsch Vernommenes, das in der rechten Weise, als Sinnwort eben, vernommen werden soll. Es scheint mir nicht richtig, daß man Logos vereinfachend mit »Sinn« übersetzt39 womit seine ursprüngliche Konkretheit preisgegeben wird, noch auch vermag ich zuzustimmen, wenn, von besonders zuständiger Seite, 40 interpretiert wird: »Nicht mir, sondern dem Logos in euch selber müßt ihr recht geben«, wo Heraklit schlichter Weise sagt: »nicht mich, sondern den Logos hören«. 41 Wohl hat jede Seele ihren Logos tief in sich, aber zu seiner Fülle gelangt der Logos nicht in uns, sondern zwischen uns; denn er bedeutet, die ewige Chance der Sprache, zwischen den Menschen wahr zu werden. Darum ist er ihnen gemeinschaftlich. Dem Menschen als Menschen eignet der stets erneute Vorgang des Eintritts des Sinns in das lebendige Wort. Heraklit fordert von der menschlichen Person, diesen Vorgang lebensmäßig so zu hüten, daß sie an der Wirklichkeit des gemeinschaftlichen Logos, an einem echten Sinndienst legitim teilhabe. Aus solchen Personen allein kann sich ein Ring schließen, der dem Logos folgt. Es sind die wahrhaft miteinander Denkenden, weil sie wahrhaft zueinander reden. Alle Menschen haben nach Heraklit wesenhaft teil am Selbsterkennen und am einsichtigen Denken. Das ist natürlich etwas, was jede Person nur personhaft vollziehen kann; aber indem sie es vollzieht, und soweit sie es vollzieht, nimmt sie teil an der Selbsterkenntnis des Menschen, und an seinem gemeinschaftlichen Den39. [Anm. Buber]: Walter Kranz. [Vgl. Diels/Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Fragment 22 B 2. In der Ausgabe von Hermann Diels hieß es: »Aber obschon das Wort allen gemein ist, leben die meisten so, als ob sie eine eigene Einsicht hätten.« (H. Diels, Heraklitos von Ephesos. Griechisch und deutsch, Berlin 1901). In der Bearbeitung von Walter Kranz dagegen: »Aber obschon der Sinn gemeinsam ist, leben die Vielen, als hätten sie eine eigene Einsicht.« (Diels/Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker).] 40. [Anm. Buber]: Karl Reinhardt. [Gemeint ist der Berliner Altphilologe Karl Reinhardt (1886-1958). Buber bezieht sich auf Reinhardts Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, Bonn 1916, S. 219: »Nicht mir, sondern dem Logos in euch selber müßt ihr Recht geben und eingestehen, daß alles eins ist.« Es handelt sich um das Fragment 22 B 50 (Diels/Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker). Zu Reinhardts Heraklit-Verständnis siehe auch dessen »Heraclitea« (1942), in: K. Reinhardt, Vermächtnis der Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung, hrsg. v. C. Becker, Göttingen 1960, S. 72-97.] 41. Vgl. Diels/Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Fragment 22 B 50: »Haben sie nicht mich, sondern den Sinn vernommen [griech. tou logou akousantas], so ist es weise, dem Sinne gemäß zu sagen, alles sei eins.«
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ken. Und wieder, wie zahllos auch je und je die Leute sind, von denen Heraklit sagt, sie verstünden weder zu hören noch zu reden, 42 wieder kann keine Verirrung, keine Verkehrung des Gedankens an der Tatsache rütteln, daß solche gemeinschaftliche Hut des Sinns existentiell getan wird. Aber auch aus der heraklitischen Idee des gemeinschaftlichen Kosmos ist ein existentieller Anspruch zu erschließen. Derselbe Logos, der als sinnhaftes Wort zwischen den Menschen laut wird, ebenderselbe ist es doch, der in unserem Kosmos unwandelbar der schwingenden Gegensätze waltet. Ohne dieses blitzhafte Steuern wäre ja nach Heraklit »die schönste Weltordnung wie ein Haufen wirr hingeschütteten Zeugs«. 43 Aber auch wir selber sollen, als des Logos gewärtige und ihm botmäßige Träger seines Worts dem Kosmos seine Wirklichkeit gewähren, unsere Welt zu sein. Durch uns wird er die gestalthafte Welt des Menschen, und nun erst gebührt ihm der Name des Kosmos als einer gestalthaft offenbaren Gesamtordnung. Erst durch unseren Dienst am Logos wird die Welt zu »demselben Kosmos für alle«. So und nur so haben die Wachenden, eben insofern sie wach sind, in Wahrheit eine einzige gemeinsame Welt, an deren Einheit und Gemeinsamkeit sie in allem wirklich wachen Dasein wirken. Denn wohl sind wir auch schlafend, wie Heraklit sagt, »Werker und Mitwirker« am Weltgeschehen, passive Werker; aber nur wachend, nur wach zusammenwirkend, lassen wir die Gesamtheit dieses Geschehens als Kosmos in die Erscheinung treten. Denn dann erfahren wir miteinander, helfen einander erfahren und ergänzen einander in unserer Erfahrung, die Lebenden zusammenwirkend mit den andern Lebenden und alle Lebenden mit allen Toten. »Nicht wie Schlafende,« sagt Heraklit, »sollen wir handeln und reden.« 44 Denn im Schlaf regiert der Schein, Wirklichkeit aber gibt es nur im Wachen, und zwar eben im Maße des Zusammenwirkens. Dieses jedoch ist keineswegs als ein Vielgespann vor dem großen Wagen zu verstehn; es ist ein strenges Tauziehn um die Wette, es ist Kampf und Streit, aber insofern er sich vom Logos bestimmen läßt, ist es gemeinschaftlicher Kampf und wirkt das Gemeinsame: aus der äußersten Spannung, indem sie im Dienst des Logos geschieht, geht immer neu die Harmonie der Lyra 45 hervor. 46 Hier wird uns der zweite existentielle 42. Ebd. Fragment 22 B 19: »Leute, die weder zu hören noch zu reden verstehen.« 43. Vgl. ebd. Fragment 22 B 64: »Das Weltall aber steuert der Blitz.« Und ebd., Fragment 22 B 124: »Wie ein Haufen aufs Geratewohl hingeschütteter Dinge die schönste Weltordnung.« 44. Ebd. Fragment 22 B 73. 45. Griech., antike Leier bzw. Zupf- und Saiteninstrument. 46. Vgl. ebd. Fragment 22 B 51: »Sie verstehen nicht, wie es auseinander getragen mit
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Anspruch Heraklits faßlich: daß die Person sich der großen Trägheit, die er eine viehische Sattheit nennt,47 entwinde und das Eigene, ohne ihm sein Eigensein zu verkürzen, so im gemeinschaftlichen Logos verwirkliche, daß damit am gemeinsamen Kosmos gewirkt werde. Dieser aber, von dem wir herkommen und der von uns herkommt, ist, in seiner Tiefe gemeint, unendlich Größeres als die Summe aller traumhaften und rauschhaften Sondersphären, in die die Menschen vor dem Anspruch des Wir flüchten.
8 Wir wissen nicht, in welchem Ausmaß Heraklit »Wir« sagte. Er hätte jedenfalls nicht bestritten, daß einer sich nicht zulänglicher zum Logos im Ursinn bekennen kam, als indem er »Wir« sagt – indem er es nicht leichtfertig und nicht dreist, sondern in Wahrheit sagt. Seither wurde im Wandel der Menschengeschlechter das echte Wir-Sagen immer wieder manifest, freilich auch immer mehr gefährdet. Was damit gesagt wurde und wird, ist jenem andern stracks entgegengesetzt, das Kierkegaard als »die Menge« und Heidegger als »das Man« bezeichnet 48 – entgegengesetzt wie die klare Gestalt dem Zerrbild. Das echte Wir in seiner objektiven Existenz ist daran zu erkennen, daß, in welchem auch seiner Teile es betrachtet wird, stets eine wesenhafte Beziehung zwischen Person und Person, zwischen Ich und Du sich als aktuell oder potentiell bestehend erweist. Denn das Wort entspringt immer nur zwischen einem Ich und einem Du, das Element aber, aus dem das Wir sein Leben hat, ist die Sprache, das gemeinschaftliche Sprechen mitten im Zueinander-sprechen anhebend. sich selbst im Sinn [Logos] zusammengeht: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Lyra.« 47. Vgl. ebd. Fragment 22 B 29: »die Vielen freilich liegen da vollgefressen wie das Vieh.« 48. Zu Bubers Diskussion der »Menge« und des »Man« siehe auch Das Problem des Menschen (1943), Werke I, S. 371 (erscheint in MBW 12): »Die Heideggersche ›Erschlossenheit‹ des Daseins zu sich selbst ist also in Wahrheit seine endgültige, wenn auch in humanen Formen auftretende, Verschlossenheit gegen alle echte Verbindung mit den anderen und der Anderheit. Das wird uns noch klarer, wenn wir von dem Verhältnis der Person zu einzelnen Menschen übergehen zu ihrem Verhältnis zur anonymen Allgemeinheit, zu dem, was Heidegger das ›Man‹ nennt. Auch darin ist ihm Kierkegaard (1813-1855) mit seinem Begriff der ›Menge‹ vorangegangen.« Vgl. auch Die Frage an den Einzelnen (1936), Werke I, bes. S. 237 f. Dazu Ludwig Binswanger an Buber, 17. Nov. 1936: »Es ist sehr wichtig, daß Sie die Öffentlichkeit nicht nur im Sinne der Menge und des Man aufgefaßt wissen wollen.« (Siehe in diesem Band, S. 180.)
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Sprache im ontologischen Sinn war von je überall gegenwärtig, wo Menschen einander in der Gegenseitigkeit des Ich und Du antraten; wo einer dem andern irgend etwas in der Welt so zeigte, daß der es fortan erst wirklich wahrnahm; wo einer dem andern ein Zeichen so gab, daß der darin die bezeichnete Situation zulänglicher erkannte, als er es bisher vermocht hatte; wo einer dem andern die eigene Erfahrung so mitteilte, daß sie den Erfahrungszusammenhang des andern durchdrang und wie von innen her ergänzte, so daß er von nun an welthafter empfand als zuvor. All dies immer wieder einfließend in ein größeres Strömen wechselseitiger Kundgabe – so wurde und so ist das lebendige Wir, das echte, das, wo es sich vollendet, die Toten mit umfaßt, die einst am Gespräch teilnahmen und nun mit dem von ihnen Überlieferten weiter daran teilnehmen. Das Wir, von dem ich rede, ist keine Kollektivität, keine Gruppe, keine gegenständlich aufzeigbare Vielheit. Es verhält sich zum Wirsagen wie das Ich zum Ichsagen. Es läßt sich ebensowenig wie das Ich faktisch in der dritten Person erhalten. Aber es hat nicht die verhältnismäßige Konstanz und Kontinuität, die das Ich hat. Als potentiell liegt es aller Geschichte des Geistes und der Tat zugrunde, es aktualisiert sich unversehens je und je, und je und je desaktualisiert es sich unversehens und ist nicht mehr da. Es kann sich innerhalb einer Gruppe aktualisieren, die dann eben sich aus einem feurigen Kern und einer schlackigen Kruste zusammensetzt, und es kann außerhalb aller Kollektivität aufzüngeln und lodern. In der Luft der Debatten kann es nicht atmen, und keine Vielheit sogenannter Gleichgesinnter kann mitten in der Debatte authentisch Wir sagen; aber auch heute noch ereignet es sich, daß in vielen Zungen Redende beisammen sind, und urplötzlich west das echte Wir in ihrer Rede. Seine Erfahrungen hat der Mensch von je als ich gemacht, Erfahrungen mit anderen und mit sich; aber als Wir, immer wieder als Wir hat er aus Erfahrungen Welt gebaut und ausgebaut. Eine Schar, von Gleichaltrigen etwa, in der die von den einzelnen gemachten überwältigenden neuen Erfahrungen in begeisterten Zurufen Sprache werden und alsbald bestätigenden und ergänzenden Widerhall finden, – eine Schar und wieder eine Schar: so ist wohl ureinst dem abgründigen Sein der gemeinschaftliche Kosmos abgewonnen worden, die gestalthafte Ordnung des vom Menschen Erfahrenen und als erfahrbar Erkannten, eine Gestalt, die wächst und sich wandelt. Und so auch wird, mitten im abgründigen Sein, er, der menschliche Kosmos, bewahrt, den sein Bildner, die menschliche Sinnrede, der gemeinschaftliche Logos hütet; so wird der Kosmos im Wandel der Weltbilder bewahrt. Seine Gedanken hat der Mensch je und je als Ich gedacht und hat als Ich seine Ideen an den Sternenhimmel des Geistes versetzt, aber als Wir
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hat er sie je und je in das Sein selber gehoben, in jene Art des Seins eben, die ich das Zwischen oder das Zwischensein nenne. Das ist die zwischen den miteinander kommunizierenden Personen bestehende Seinsart, die wir weder der Psyche noch der Physis zuzuordnen vermögen. Darauf weist der siebente Platonische Brief hin, wenn er den Bestand einer Lehre andeutet, die nicht erst als in vielfachem Beisammensein und Miteinanderleben zur Wirklichkeit des Wirkens gelangt, wie von überspringendem Feuer ein Licht entzündet wird. 49 Springendes Feuer ist ja das rechte Bild für die Dynamik zwischen den Personen im Wir. Die Flucht aus dem gemeinschaftlichen Kosmos in eine Sondersphäre, welche als das wahre Sein verstanden wird, ist auf allen ihren Stufen, vom elementaren Spruch der uralten morgenländischen Lehren bis zur Willkür moderner Intoxikationsratschläge, letztlich eine Flucht vor dem Existentialanspruch an die Person, die sich im Wir bewähren soll. Es ist eine Flucht vor der authentischen Gesprochenheit der Sprache, in deren Reiche Antwort geheischt wird, und Antwort ist Verantwortung. Der Fliehende verhält sich, als wäre die Sprache nichts als Verführung zur Lüge und zur Konvention, und in der Tat, sie kann ungeheuer zur Verführung werden, aber sie ist auch unser großes Pfand der Wahrheit. Beim typisch heutigen Menschen hat sich die Flucht vor der verantwortenden personalen Existenz absonderlich polarisiert. Da er nicht willens ist, für die Echtheit seiner Existenz einzustehen, flüchtet er entweder in die breite Kollektivität, die ihm die Verantwortung abnimmt, oder in die Haltung eines Selbst, das keinem als sich selber Rede zu stehen hat und den großen Generalablaß in der Sicherheit findet, mit dem Selbst des Seins identisch zu sein. Mag diese Haltung sich auch als eine vertiefte Betrachtung des Seienden gebärden, sie bleibt eine Flucht vor dem überspringenden Feuer. Das deutlichste Kennzeichen dieser Art von Menschen ist, daß sie nicht wirklich auf die Stimme eines anderen hören können; in all ihr Hören mischt sich, wie in all ihr Sehen, die Beobachtung. Der andere ist nicht ihr Gegenüber, dessen Anspruch an sie dem ihren an ihn gleichen Rechtes gegenübersteht; der andere ist nur noch ihr Objekt. Wer aber kein Du existentiell kennt, wird nie ein Wir zu kennen bekommen. 49. Buber spielt auf eine berühmte Stelle an, in der Platon dem gesprochenen Dialog den Vorzug vor Schrift und Lehrsystem zu geben scheint (Platon, VII. Brief, 341d): »Denn in bestimmten sprachlichen Schul-Ausdrücken darf man sich darüber wie über andere Lerngegenstände gar nicht aussprechen, sondern aus häufiger familiärer Unterredung gerade über diesen Gegenstand sowie aus innigem Zusammenleben entspringt plötzlich jene Idee aus der Seele wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht und bricht sich dann selbst weiter seine Bahn.«
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In unserem Zeitalter, in dem der wahre Sinn jedes Wortes von Wahn und Lüge umstellt ist und die Urabsicht des Menschenblicks vom Mißtrauen erstickt wird, kommt es entscheidend darauf an, die Unverfälschtheit der Sprache und der Wir-Existenz wiederzufinden. Es geht dabei nicht mehr um die kleinen Kreise, die einst in der eigentlichen Geschichte des Menschen so wichtig gewesen sind; es geht um die Durchsäuerung des Menschgeschlechts mit echter Wirheit. Der Mensch wird im Dasein nicht beharren, wenn er nicht neu lernt, in ihm als echtes Wir zu beharren. Wir hatten den abgearteten abendländischen Geist mit seinem Ursprung zu konfrontieren und haben dafür Heraklits Hilfe angerufen. Jetzt aber scheiden wir von ihm in unserer Not. Denn was er als das Gemeinschaftliche bezeichnet, führt nicht über sich hinaus: Logos und Kosmos sind hier in sich beschlossen, nichts mehr ist ihnen transzendent. Und auch wenn Heraklit das Göttliche als namentragend und namenlos zugleich bezeugt, 50 auch da kennt er keine wahrhafte Transzendenz. Uns aber ist kein Heil zu ersehen, wenn wir nicht wieder als ein Wir in aller Wirklichkeit »im Angesicht Gottes zu stehen«51 vermögen, wie es in jener Glaubenssprache heißt, die einst von dem Israel genannten Südpfeiler der Brücke zwischen Morgen- und Abendland aus ihren Weg angetreten hat. In unserem Zeitalter hat dieses vor dem göttlichen Angesicht stehende Wir seinen höchsten Ausdruck durch einen Dichter, durch Hölderlin erhalten. Er sagt von der gültigen Vergangenheit des Menschen als Menschen: »Seit ein Gespräch wir sind und hören können von einander.« 52 Hölderlin sagt nicht, wir führten ein Gespräch: selber sind wirs. Wir sind ein Gespräch.
50. Vgl. Diels/Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Fragment 22 B 32: »Eins, das allein Weise, will nicht und will doch mit dem Namen des Zeus benannt werden.« 51. Vgl. etwa Gen 32, 23, oder Hos 5, 15. 52. Friedrich Hölderlin (1770-1843), »Versöhnender, der du nimmergeglaubt«, Dritter Ansatz, in: Werke und Briefe I (Gedichte – Hyperion), hrsg. v. F. Beißner und J. Schmidt, Frankfurt a. M. 1969, S. 163.
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Schuld und Schuldgefühle 1 1 Auf der Londoner Internationalen Konferenz für medizinische Psychotherapie von 19482 war als das Thema der ersten Plenarsitzung »The Genesis of Guilt« bestimmt. Der erste Vortragende, ein Holländer, begann mit der Mitteilung, man habe in seiner Sondergruppe die Frage erörtert, ob damit die Entstehung von Schuld oder die Entstehung von Schuldgefühl gemeint sei. Die Frage blieb ungeklärt. Aber im Fortgang der Diskussion blieb es den Theologen überlassen, von der Schuld selber zu reden (womit sie freilich nicht eigentlich die persönliche Schuld, sondern die Urschuld des Menschengeschlechts meinten); die Psychologen befaßten sich lediglich mit den Schuldgefühlen. Diese Themenverteilung, bei der die faktischen, aktualen schuldhaften Begebenheiten im Leben des »Patienten«, des leidenden Menschen, kaum in die Erscheinung traten, ist charakteristisch für das meiste von dem, was man die psychotherapeutische Disziplin nennt. Erst in der letzten Zeit beginnt man daran zu rütteln, daß sowohl in der Theorie wie in der Praxis dieser Wissenschaft nur der psychischen »Projektion« der Schuld, nicht aber ihren projizierten Geschehnissen Raum gewährt worden ist. Diese Unterlassung aber ist nicht etwa als solche dargelegt und methodologisch begründet worden; man hat sie als eine sich mit Selbstverständlichkeit aus dem Wesen der Psychologie ergebende Einschränkung behandelt. Nichts Derartiges jedoch ist selbstverständlich; ja nichts Derartiges besteht zu Recht. Wohl hat sich im Gang der Geistesgeschichte jede Wissenschaft, die sich aus umfassenden Zusammenhängen löste und sich die Selbständigkeit des eigenen Bereichs sicherte, eben damit nach Gegenstand und Arbeitsweise streng und immer strenger begrenzt; aber der Forscher kann seine Verbindung mit der Wirklichkeit – die Verbindung, ohne die all sein Werk zu einem wohlgeregelten Spiel wird – nicht wahrhaft aufrechterhalten, worin er nicht immer wieder, wann immer es erforderlich ist, über die Grenzen hinausschaut, je und je in einen Bereich, der arbeitsmäßig nicht der seine ist und den er doch mit all seiner forschenden Kraft betrachten muß, um seiner eigenen Aufgabe gerecht zu 1. 2.
[Anm. Buber]:Vorlesung, gehalten an der School for Psychiatry in Washington im April 1957. [Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 277 f.] [Anm. Buber]: International Congress on Mentel Health, London 1948, vol. III. Proceedings of the International Conference on Medical Psychotherapy.
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werden. Für den Psychotherapeuten bildet diesen Bereich der faktische Verlauf des sogenannten äußeren Lebens seines Patienten und darin besonders dessen Handlungen und Haltungen, und wieder besonders sein aktiver Anteil an dem vielfältigen Verhältnis zwischen ihm und der Menschenwelt. Und nicht bloß seine Entscheidungen sind in diesem Anteil eingeschlossen, sondern auch seine Entscheidungslosigkeiten, wenn sie sich in einer ihm wahrnehmbaren Weise wie Entscheidungen auswirken. Der gültige Wissenschaftsbereich der Psychotherapie sind die »inneren« Reaktionen des Individuums auf sein – passives und aktives – Erleben, die psychische Verarbeitung des biographischen Geschehens, sei es in bewußten, sei es in unbewußten Prozessen. Das Verhältnis des Patienten zu einem Menschen, mit dem er in einem sein eigenes Leben stark bestimmenden Kontakt steht, ist für den Psychologen als solchen nur insofern von Wichtigkeit, als seine Auswirkungen in der Psychik des Patienten zum Verständnis von dessen Erkrankung dienen können; das Verhältnis selber in seiner Gegenseitigkeitsrealität, die sinnvolle Tatsächlichkeit des zwischen den beiden Menschen Geschehenen und Geschehenden, transzendiert seine Aufgabe, wie es seine Methode transzendiert. Er hält sich daran, was seine erschließende Arbeit am Patienten ihm von dessen inneren Zusammenhängen zugänglich macht. Und doch darf, ja muß er, wenn er seiner Pflicht nicht bloß den Gesetzen seines Faches und ihrer Anwendung gegenüber, sondern auch der dem Dasein und der Not des Menschen gegenüber Genüge tun will, den Blick immer wieder dahin wenden, wo nicht mehr bloß ein Seiendes sich zu sich selber, sondern Seiendes sich zu Seiendem verhält, dieses Seiende hier, der »Patient«, zu einem andern, dem Arzt nicht »gegebenen« oder gar ihm unbekannten a Seienden, und vice versa. Diese andere Person, diese anderen Personen kann der Psychotherapeut nicht in seine Arbeit einbeziehen, es ist nicht an ihm, sich mit ihnen zu befassen, und doch darf er sie in ihrer Wirklichkeit nicht vernachlässigen, er muß diese ihre Wirklichkeit so zureichend als möglich zu lassen bekommen, insofern sie in das Verhältnis zwischen ihnen und dem Patienten eingegangen ist. Mit der größten Intensität zeigt sich dieser Sachverhalt an dem Problem, das uns hier beschäftigt. Der Psychotherapeut hat es innerhalb seiner Methodik nur mit Schuldgefühlen, bewußten und »unbewußten«, zu tun (schon Freud hat um den Widerspruch gewußt, der in dem Begriff unbewußter Gefühle liegt). Aber innerhalb eines umfassenden Dienstes um Erkenntnis und Hilfe muß er der Schuld selber gegenübertreten, als
a.
In der Buchausgabe gestrichen: oder gar ihm unbekannten
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einem ontisch charakterisierten Etwas, dessen Ort nicht die Seele, sondern das Sein ist. Er wird das freilich auf die Gefahr hin tun, daß durch die neue Erkenntnis auch die ihm obliegende Hilfe modifiziert werden könnte, so daß er seiner Methode Ungewohntes abfordern, ja sogar aus den gesicherten Regeln seiner Schule treten müßte. Aber ein »Seelenarzt«, der es wirklich ist, d. h. der das Werk der Heilung nicht betreibt, sondern in es jeweils als Partner eintritt, ist eben ein Wagender.
2 Die Grenzziehung der Methodik reicht jedoch keineswegs aus, um die negative oder gleichgültige Haltung zu erklären, die die Psychotherapie so lange dem ontischen Charakter der Schuld gegenüber eingenommen hat. Die Geschichte der modernen Psychologie zeigt uns, daß hier tiefere Momente wirkend sind, die auch an der Entstehung und Ausbildung der Methoden mitgewirkt haben. Die zwei deutlichsten Beispiele dafür liefern uns die zwei wohl bemerkenswertesten Denker dieser Geistesrichtung, Freud und Jung. Wie Freud, ein großer spätgeborener Aufklärer, der dem aufklärerischen Naturalismus 3 ein wissenschaftliches System und damit eine zweite Blüte schenkte, selber mit aller Deutlichkeit zu erkennen gegeben hat 4 , hatte die Bekämpfung aller metaphysischen und religiösen Lehren vom Sein eines Absoluten und von der Möglichkeit eines Verhältnisses der menschlichen Person zu ihm einen großen Anteil am Werden der psychoanalytischen Theorie. Aus dieser Grundhaltung ergab sich, daß der Schuld schlechthin kein ontischer Charakter zukommen durfte; sie mußte auf Vergehen gegen urzeitliches und modernes Tabu, gegen elterliche und gesellschaftliche Instanzen zurückgeführt werden. Das Schuldgefühl war im wesentlichen nur noch zu verstehen als Auswirkung der Angst vor 3. 4.
[Anm. Buber]: Als »unverbesserliche Mechaniker und Materialisten« bezeichnet Freud selbst die Psychoanalytiker, wie er sie verstand (»Schriften«, Londoner Ausgabe, XVII, 29). [Anm. Buber]: Vgl. unter anderem das Kapitel »Um eine Weltanschauung« in der Neuen Folge der Vorlesungen. [Buber meint vermutlich die Vorlesung »Über eine Weltanschauung«, ebd., Bd. XV, S. 170-197, in der sich Freud mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Religion auseinandersetzt: »Von den drei Mächten [Religion, Kunst, Philosophie], die der Wissenschaft Grund und Boden bestreiten können, ist die Religion allein der ernsthafte Feind.« (S. 173) »Den letzten Beitrag zur Kritik der religiösen Weltanschauung hat die Psychoanalyse geleistet, indem sie auf den Ursprung der Religion aus der kindlichen Hilflosigkeit hinwies und ihre Inhalte aus den ins reife Leben fortgesetzten Wünschen und Bedürfnissen der Kindheit ableitete.« (S. 181)]
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Strafe und Rüge durch diese Instanzen, als Auswirkung der kindlichen Furcht vor dem »Liebesverlust« oder aber, zumal wo es sich um eingebildete Schuld handelte, als ein libidinös geartetes »Strafbedürfnis«, als »moralischer Masochismus« 5 , zu welchem der Sadismus des »Über-Ichs« ergänzend hinzutritt. »Der erste Triebverzicht«, sagt Freud 1924 folgerichtig, »ist ein durch äußere Mächte erzwungener, und er schafft erst die Sittlichkeit, die sich im Gewissen ausdrückt und weiteren Triebverzicht fordert.« Von ganz anderer, ja geradezu entgegengesetzter Art ist die Lehre Jungs, den man als einen Mystiker des modernen, psychologischen Solipsismus bezeichnen kann. Die mystischen und mystisch-religiösen Konzeptionen, die Freud verachtet, sind für Jung der wichtigste Gegenstand seines Studiums; aber sie sind es lediglich als »Projektionen« der Psyche, nicht als Hinweise auf etwas Außerpsychisches, dem sie begegnet. Bei Freud gipfelt die Struktur der Psyche im »Über-Ich«, das mit seiner zensorischen Funktion nur die autoritären Instanzen von Familie und Sozietät vertritt; bei Jung gipfelt oder vielmehr gründet sie im »Selbst«, das »die Individualität im höchsten Sinn«6 ist und »die unmittelbarste Erfahrung des Göttlichen« bildet, »welche psychologisch überhaupt faßbar ist«. Jung kennt überhaupt kein wesenhaftes, die Grenzen der Psychik überschreitendes Verhältnis zwischen der individuellen Seele und einem anderen Seienden. Hierzu kommt aber, daß als ein Hauptmoment im Prozeß der »Individuation«, der »Verwirklichung des Selbst«, die Integrierung des Bösen als Vereinigung der Gegensätze in der Psyche angegeben wird. Von hier aus gesehen ist, wie in Freuds Materialismus so auch in Jungs Panpsychismus, kein Platz für eine Schuld im ontologischen Sinn, es sei denn im Verhältnis des Menschen zu sich selbst, d. h. als Verfehlung gegen den Prozeß der Individuation. In der Tat vernehmen wir in dem ganzen großen Werke Jungs nichts von der Schuld als Tatsache im Verhältnis zwischen der menschlichen Person und der ihr lebensmäßig anvertrauten Welt. Mit den anderen psychoanalytischen Lehrmeinungen steht es im allgemeinen ebenso. Fast überall, wo man sich überhaupt ernstlich mit dem Schuldproblem befaßt, geht man darauf aus, die in der Analyse vorgefundenen Schuldgefühle von bestimmten Verborgenheiten abzuleiten, sie auf solche zurückzuführen, sie als solche zu entlarven. Man sucht die im Unbewußten mächtigen Niederschläge, als die sich hinter den Phäno5. 6.
[Anm. Buber]: Freud, »Das Ökonomische Problem des Masochismus«, Londoner Ausgabe, XIII, 382 f. [Anm. Buber]: Von den Wurzeln des Bewußtseins, S. 296 f.
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menen der Krankheit bergen, nicht aber auch die Lebenszusammenhänge, deren Bild im lebendigen Gedächtnis verblieben ist, jeweils den Erinnernden mahnend, angreifend, peinigend und nach je dem Untertauchen im See des Nicht-mehr-daran-Denkens daraus wiederkehrend und die Arbeit wiederaufnehmend. Ein Mensch steht vor uns, der handelnd oder Handlung unterlassend eine Schuld auf sich geladen oder auch nur an einer Gemeinschaftsschuld teilgenommen hat und nun nach Jahren oder Jahrzehnten Mal um Mal von dem Revenant seines Schuldigseins heimgesucht wird. Ihm ist von dem Genese seines Übels nichts verhohlen, sowie er nur willens ist, sich den Schuldcharakter jener aktiven oder passiven Vorgänge nicht länger zu verhehlen. Was ihn immer wieder antritt, hat mit keiner elterlichen oder gesellschaftlichen Rüge irgend zu tun, und wenn er eine irdische Vergeltung nicht zu fürchten hat und an eine himmlische nicht glaubt, gibt es keine Instanz, deren Strafgewalt ihn ängstigen könnte. Hier waltet die eine durchdringende oder zu durchdringen befähigte Einsicht in die Unwiederbringlichkeit der Ausgangsposition und die Irreparabilität des Bewirkten, und das heißt, die reale Einsicht in die Irreversibilität der gelebten Zeit, einen Sachverhalt, der sich in der stärksten aller menschlichen Perspektiven, der auf den eigenen Tod eindeutig dokumentiert. Von keinem Punkte aus ist die Zeit so als Sturz zu verspüren wie von der Selbstschau der Schuld aus. In diesem Sturz mitstürzend, wird der Träger der Schuld von dem Schauder des Identischseins mit sich selbst heimgesucht. Ich, bekommt er zu wissen, der ich ein anderer geworden bin, bin derselbe. Ich habe drei bedeutende und mir teure Menschen an ihrem, wenn auch nur zeitweiligen, Versagen in den Tagen einer akuten Gemeinschaftsschuld längeren Krankheiten verfallen sehen, an denen der Anteil des psychogenen Elements kaum abzuschätzen, seine Aktion aber unverkennbar war. Der eine von ihnen weigerte sich, vor dem Gericht seines Geistes sich zum Selbstwiderspruch zu bekennen; der zweite lehnte sich dagegen auf, daß eine erinnerte leichte Irrung, a die an eine sehr schwere Gesamtverkettung geheftet war, von ihm als schwer anerkannt zu werden begehrte; b der dritte aber wollte sich den Fehlgriff eines Augenblicks von Gott nicht vergeben lassen, weil er selber ihn sich nicht vergab. Alle drei scheinen mir zuständiger Helfer bedurft und ermangelt zu haben. Der Psychotherapeut, dem solche Erscheinungen der Existentialschuld in all ihrer Gewaltigkeit ins Blickfeld treten, wird nicht mehr vermeinen a. b.
Buchausgabe: eine als leicht erinnerte Irrung Buchausgabe: anerkannt werden sollte
MBW 10 (02686) / p. 132 / 13.12.2016
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dürfen, er könne seiner Aufgabe als Arzt schuldiger Menschen durch das bloße Hinwegräumen von Schuldgefühlen gerecht werden. Hier ist der Zurückführung etwa auf die Tabus urzeitlicher Gesellschaft die Schranke errichtet. Den Psychologen, der sieht, was hier zu sehen ist, muß die Ahnung überkommen, daß es nicht deshalb Schuld gibt, weil es ein Tabu gibt, dem man den Gehorsam versagt, daß vielmehr Tabu und Tabuierung nur dadurch ermöglicht worden sind, daß die Führerschaft früher Gemeinschaft eine Urtatsache des Menschen als Menschen gekannt und verehrt hat: die Tatsache, daß der Mensch schuldig werden kann und es weiß. Existentialschuld, d. h. Schuld, die eine Person als solche und in einer persönlichen Situation auf sich geladen hat, kann nicht durch Kategorien der analytischen Wissenschaft, wie Verdrängung und Bewußtwerdung erfaßt werden. Der Träger der Schuld, von dem ich spreche, erinnert sich ihrer je und je von selber und in hinreichendem Maße; er versucht wohl nicht selten auszuweichen, aber nicht dem erinnerten Faktum, sondern dessen Tiefe als Existentialschuld, bis die Wahrheit dieser Tiefe ihn überkommt und die Zeit nunmehr ihm als Sturz wahrnehmbar wird. Kann der Arzt der Seelen hier, über Berufsgewohnheit und regelrechte Methodik hinausversetzt, als Helfer fungieren, darf er es? Wird ihm zuweilen ein anderes, höheres therapeutisches Ziel als das vertraute gewiesen? Kann und darf er sich, statt mit bewußten oder unbewußten, begründeten oder grundlosen Schuldgefühlen, mit der sich manifestierenden Existentialschuld selber messen? Kann und darf er sich von da aus zusprechen lassen, daß Heilung jetzt und hier etwas anderes als das Gewohnte bedeutet, und was sie jetzt und hier bedeutet? Der Arzt, der den Rückwirkungen einer Existentialschuld gegenübersteht, muß ja in allem Ernste von der Situation ausgehen, in der die Schuldtat sich ereignet hat. Existentialschuld geschieht, wenn jemand eine Ordnung der Menschenwelt verletzt, deren Grundlagen er wesensmäßig als die des ihm und allen gemeinsamen menschlichen Daseins kennt und anerkennt. Der Arzt, der solch einer Schuld im lebendigen Gedächtnis seines Patienten gegenübersteht, muß in jene Situation eintreten, er muß seine Hand a in die Wunde der Ordnung legen und erfahren: tua res agitur. 7 Dann aber kann es sich ereignen, daß die Orientation des Psychologen sich unversehens ändert und er, wenn er als ein Heilen-
7.
Lat., es geht um deine Sache.
a.
Buchausgabe: muß seinen Finger
MBW 10 (02686) / p. 133 / 13.12.2016
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Schuld und Schuldgefühle
der bestehen will, eine Last auf sich laden muß, die zu tragen er nie seinem Amte zugerechnet hatte. Man mag einwenden, eine Existentialschuld sei doch nur eine Ausnahme, und es sei nicht angemessen, den ohnehin überforderten Therapeuten mit den Bildern solcher Grenzfälle zu schrecken. Aber was ich Existentialschuld nenne, ist nur eine Steigerung dessen, was in irgendeinem Maße sich überall findet, wo ein authentisches Schuldgefühl brennt; und das authentische Schuldgefühl ist sehr oft unübersehbar mit dem problematischen, dem »neurotischen«, dem »grundlosen« vermischt. Die Methoden befassen sich naturgemäß nicht gern mit dem authentischen Schuldgefühl, das im allgemeinen einen streng personhaften Charakter trägt und sich nicht leicht in allgemeingültigen Sätzen einfangen läßt. Es liegt der Doktrin und der Praxis wesentlich näher, mit der Rückwirkung unterdrückter Kindheitswünsche oder irregehender Jugendlüste sich abzugeben als etwa mit den inneren Folgen des Verrats eines Menschen an seinem Freund oder an seiner Sache. Und für den Patienten ist es eine große Erleichterung, von seinen authentischen Schuldgefühlen auf ein eindeutig neurotisches abgelenkt zu werden, das, innerhalb dieser Gattung von der Schule seines Arztes bevorzugt, sich in dem Mikrokosmos seiner Träume oder in der Flut seines freien Assoziierens auffinden läßt. Alledem steht der genuine Seelenarzt mit dem postulativen Gefühl gegenüber, hier zugleich gebunden und ungebunden handeln zu sollen. Er läßt zwar nie von seinen Methoden ab, die ja anpassungsfähig geworden sind, aber wo ihm wie hier in der Psyche des Leidenden die Auswirkung einer den psychologischen Kategorien unzugänglichen Wirklichkeit zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Welt kenntlich wird, erkennt er die hier seiner Methode gesetzte Schranke und erkennt sodann, daß das Heilungsziel sich gewandelt hat, weil der Krankheitszusammenhang, der Ort der Krankheit im Sein sich a gewandelt hat. Erkennt der Therapeut das, dann wird alles schwerer, was ihm obliegt, viel schwerer – und alles wird wirklicher, radikal wirklich.
3 Ich will diese Hinweise an dem Beispiel eines Lebensgangs verdeutlichen, das ich schon früher einmal8 , jedoch nur flüchtig, herangezogen habe. Ich 8.
[Anm. Buber]: Vorwort zu Hans Trübs nachgelassenem Werk »Heilung aus der Begegnung«. [In diesem Band, S. 54-58.]
a.
Buchausgabe: sich ihm
MBW 10 (02686) / p. 134 / 13.12.2016
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wähle es unter den verfügbaren, weil ich teils ferner, teils naher Zeuge der Begebenheiten gewesen bin und mir ihre Abfolge gegenwärtig geblieben ist. Eine Frau – nennen wir sie Melanie – von mehr intellektuellen als eigentlich geistigen Gaben, wissenschaftlich gebildet, aber ohne die Fähigkeit zu selbständiger Bewältigung a ihrer Kenntnisse, von jenem bemerkenswerten Talent zu guter Kameradschaft, hatte nach einigen, zumindest von ihrer Seite mehr oder weniger erotisch betonten Freundschaftsbeziehungen, die ihr eher heftiges als leidenschaftliches Liebesbedürfnis unbefriedigt ließen, einen Mann kennengelernt, der vor der Ehe mit einer anderen, auffallend häßlichen, aber bedeutenden Frau stand. Melanies eigene Erscheinung wies manche Vorzüge auf. Es gelang ihr unschwer, die Verbindung zu sprengen und den Mann zu heiraten. Ihre Rivalin versuchte sich zu töten; Melanie hat sie bald danach des fingierten Selbstmords bezichtigt, sicherlich zu Unrecht. Nach einigen Jahren wurde sie selber von einer anderen verdrängt. Bald darauf erkrankte sie an einer mit Sehstörungen verknüpften Neurose. Freunden, die sie damals bei sich aufnahmen, gestand sie ihre Schuld, ohne zu beschönigen, daß diese nicht aus einer Leidenschaft, sondern aus einem festen Willensvorsatz aufgestiegen war. Später begab sie sich in die Behandlung eines sehr bekannten Psychoanalytikers. Dieser vermochte sie in kurzer Zeit von ihren Gefühlen der Enttäuschung und der Schuld zugleich zu befreien und sie zur Überzeugung zu bringen, sie sei »ein Genie der Freundschaft« und werde auf diesem Gebiet die ihr gebührende Kompensation finden. Die Umstellung glückte, und Melanie ergab sich einer ausgiebigen Geselligkeit, die sie als eine Freundschaftswelt empfand, wogegen sie mit den Menschen, mit denen sie sich in ihrer Berufsarbeit, der »Sozialfürsorge«, zu beschäftigen hatte, im allgemeinen nicht als ihres Verständnisses und sogar ihres Trostes bedürftigen Personen, sondern als Objekten ihres Durchschauens und Dirigierens umging. Das Schuldgefühl meldete sich nicht mehr; der Apparat, der an Stelle des schmerzenden und mahnenden Herzens eingesetzt worden war, funktionierte mustergültig. Das ist ja nun gewiß kein außerordentliches Schicksal; wir erkennen die allgewohnte Trübsal menschlichen Handelns und Leidens wieder, und von Wesensschuld b im großen Sinn kann hier wohl nicht die Rede sein. Und doch, das Schuldgefühl, das damals, in der Krankheit, erwachsen war, so mit der Krankheit verschmolzen, daß man nicht sagen konnte, a. b.
Buchausgabe: selbständiger Verarbeitung Buchausgabe: von Existentialschuld
MBW 10 (02686) / p. 135 / 13.12.2016
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welches von beiden die Ursache und welches die Wirkung war, dieses Schuldgefühl hatte durchaus den Charakter des Authentischen. Mit dem Verstummen des Schuldgefühls entschwand für Melanie die Möglichkeit der Sühne durch ein neu gewonnenes echtes Verhältnis zur Umwelt, in dem sich zugleich ihre besten Eigenschaften entfalten konnten. Für die Vernichtung des Stachels wurde als Preis die endgültige Vernichtung der Chance gezahlt, das Wesen zu werden, zu dem dieses Geschöpf seinen höchsten Anlagen nach bestimmt war. Wieder mag man mir einwenden, es könne doch nicht Sache des Psychotherapeuten sein, sich um dergleichen zu kümmern; seine Aufgabe sei es, das Übel zu erforschen und zu heilen, vielmehr zur Heilung zu verhelfen, und das eben habe der angerufene Arzt getan. Aber hier liegt ein gewichtiges Problem. Man kann es, allgemein gefaßt, etwa so formulieren: Soll ein Mensch, der berufen ist, in einer spezifischen Weise anderen zu helfen, lediglich die Hilfe leisten, um die er angerufen wird, oder auch die andere Hilfe, deren dieser Mensch, wie er, der Arzt, erkannt hat, objektiv bedarf? Was bedeutet das jedoch hier: die Hilfe, deren einer objektiv bedarf? Offenbar dies, daß sein Wesen anderen Gesetzen folgt als sein Bewußtsein. Aber erst recht anderen als sein »Unbewußtes«. Das Unbewußte sorgt sich noch weit weniger als das Bewußtsein darum, daß das Wesen dieses Menschen gedeihe. Wesen, damit meine ich das in einer Person, eigentümlich Angelegte, das, was zu werden sie bestimmt ist. Das Bewußtsein mit seinem Planen und Wägen befaßt sich damit nur gelegentlich, das Unbewußte mit seinen Wünschen und Widersprüchen wohl kaum je. Es sind große Momente des Daseins, wann ein Mensch sein Wesen entdeckt und auf jeweils höherer Stufe wiederentdeckt; wann er sich entschließt und neu entschließt, zu werden, was er ist, und als so Werdender sich ein echtes Verhältnis zur Welt zu stiften; wann er Entdeckung und Entschluß heldisch gegen sein Alltagsbewußtsein und gegen sein Unbewußtes verteidigt. Soll nun der Helfer, kann er, darf er sich gleichsam mit dem Wesen des ihn Anrufenden über dessen bewußten und unbewußten Willen hinweg verbünden, vorausgesetzt, daß er das Bedürfen des Wesens wirklich zuverlässig erkannt hat? Ist dergleichen überhaupt seines Amtes? Kann es seines Amtes sein? Zumal wo der Helferberuf wissenschaftlich so genau umrissen ist wie beim modernen Psychotherapeuten? Droht hier nicht die Gefahr eines pseudointuitiven Dilettierens, das alle feste Norm auflöst? Ein bedeutender Psychologe und Arzt unserer Zeit, Viktor von Weizsäcker, hat hier eine in sehr präziser Sprache gehaltene Warnungstafel aufgestellt. Da wird die »Behandlung des Wesentlichen im Menschen«
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vom Bereich der Psychotherapie schlechtweg ausgeschlossen. »Gerade die letzte Bestimmung eines Menschen«, heißt es 9 , »kann nie Gegenstand der Therapie sein.« Und meine Laieneinsicht muß dieser Deklaration beipflichten. Aber sie muß hinzufügen: Wo der Blick des Arztes, der wahrnehmende Blick, der ihn zum Arzt macht und zu dem sich alle Methoden dienend verhalten, in die Sphäre des Existentiellen reicht, wo er Existentialverfehlung und Existentialnot wahrnimmt, da muß es ihm zwar versagt bleiben, »das Wesentliche« seines Patienten zu behandeln, aber er darf und soll ihn dahin leiten, wo eine bisher weder gewollte noch geahnte Wesenshilfe des Selbst einsetzen kann. Einen Weg, der von hier aus weiterführt, zu zeigen, ist dem Therapeuten weder gegeben noch erlaubt; aber der Patient kann von dieser Warte aus, zu der er geleitet worden ist, einen für ihn richtigen und gangbaren Weg zu sehen bekommen, den zu sehen dem Arzt nicht gewährt ist. Denn an dieser hohen Stätte wird alles personhaft im strengsten Sinn. Der Psychotherapeut ist kein Seelsorger und kein Seelsorgerersatz. Niemals hat er ein Heil zu vermitteln, immer nur eine Heilung zu befördern. Aber es steht ihm nicht bloß zu, sich der in der Krankheit symptomatisch offenbar gewordenen Not des Patienten so weit anzunehmen, als die methodengemäß geführte Analyse genetisch erschließt: ihm ist auch jene Not überantwortet, die erst in der Unmittelbarkeit des Partnertums zwischen dem zufluchtnehmenden Kranken und dem um Rettung bemühten Arzt sich zu erkennen gibt, wiewohl sie mitunter auch dann noch verschleiert bleibt. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß der Arzt, um dies zulänglich tun zu können, sich dem festen Boden der Prinzipien und Methoden, auf dem er zu wandeln gelernt hat, zeitweilig entheben muß. Man darf dies freilich, wie gesagt, nicht dahin verstehen, als ob er nunmehr in dem freien Äther einer unverbindlichen »Intuition« schwänge. Auch jetzt, und jetzt erst recht, ist er gehalten, folgerichtig zu denken und exakt zu arbeiten; und wenn er sich jetzt einer unmittelbareren Anschauung ergeben darf, so kann es nur eine sein, die ihre nicht in allgemeingültigen Sätzen zu umschreibenden Normen in jeder ihrer Einsichten verwirklicht. Auch in diesem scheinbar ihm zu selbständiger Führung überlassenen Bezirk erfährt der Mann des geistigen Berufs, daß ein wahres Werk tun eine Sache des Gehorsams ist. Damit der Therapeut aber solches vermöge, muß er eben eins unverbrüchlich wissen und es in jedem Einzelfall von neuem erkennen: Es gibt wirkliche Schuld, grundverschieden von all den angsteinflößenden Po9.
[Anm. Buber]: Ärztliche Fragen (1934).
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panzen, die in der Höhle des Unbewußten hergestellt werden. Die personhafte Schuld, deren Wirklichkeit etwelche psychoanalytische Schulen bestreiten und etwelche anderen ignorieren, läßt sich nicht auf Vergehen gegen ein mächtiges Tabu reduzieren. Wir dürfen uns aber nicht damit begnügen, diese Erkenntnis, die lange in Bann getan war, uns nunmehr von dieser oder jener uns heiligen Überlieferung wieder zuführen zu lassen; neu muß sie der geschichtlichen und biographischen Selbsterfahrung der heute lebenden Generationen entspringen. Wir heute Lebenden wissen, in welchem Ausmaß wir geschichtlich und biographisch schuldig geworden sind. Das ist kein Gefühl und keine Summe von Gefühlen; es ist, wie vielfältig auch es verhohlen und verleugnet wird, ein wirkliches Wissen um eine Wirklichkeit. Unter der immer unwiderstehlicher werdenden Zucht dieses Wissens lernen wir neu, daß Schuld ist. Um dies recht, zu verstehen, müssen wir uns noch eine Tatsache vergegenwärtigen, keine akzessorische, sondern eine Grundtatsache. Jeder Mensch steht in einem objektiven Verhältnis zu anderen, die Gesamtheit dieser Verhältnisse konstituiert sein Leben als ein am Sein der Welt faktisch teilnehmendes, ja sie ist es, die ihm überhaupt erst ermöglicht, seine Umwelt zur Welt zu erweitern; sie ist sein Anteil an der menschlichen Seinsordnung, der Anteil, für den er die Verantwortung trägt. Ein objektives Verhältnis, in dem zwei Menschen zueinander stehen, kann sich, vermöge einer existentiellen Beteiligung beider, zu einer personhaften Beziehung erheben; es kann lediglich hingenommen, kann vernachlässigt werden; es kann verletzt werden. Die Verletzung eines Verhältnisses bedeutet, daß an dieser Stelle die menschliche Seinsordnung verletzt worden ist. Kein anderer, als der die Wunde schlug, kann sie heilen. Dazu, daß er es versuche, kann ihm helfen, wer um die Tatsache der Schuld weiß und ein Helfer ist.
4 Eine letzte Klärung steht noch aus. Wenn dem Therapeuten eine Wesensschuld a seines Patienten erkennbar wird, kann er – das sahen wir – diesem nicht den Weg zur Welt zeigen, den jener vielmehr als seinen eigenen persönlichen Weg suchen und finden muß; der Arzt kann ihn nur bis zu dem Punkt hin leiten, von dem aus er den persönlichen Weg oder doch seinen Anfang zu erblicken vermag. a.
Buchausgabe: Existentialschuld
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Damit der Arzt dies aber könne, muß er auch um die allgemeine, allem großen Handeln des Gewissens gemeinsame Art des Wegs wissen und um den Zusammenhang, der zwischen der Natur der Existentialschuld und der Natur dieses Wegs besteht. Um hier aber keinem Irrtum zu verfallen, müssen wir darauf achten, daß es drei verschiedene Sphären gibt, in denen Schuldsühnungen sich vollziehen können und zwischen denen sich manchmal merkwürdige Relationen stiften; nur eine dieser Sphären, die wir als die mittlere bezeichnen wollen, geht den Therapeuten, den ich meine, direkt an. Die erste Sphäre ist die des Rechtes. Die Handlung beginnt hier mit der – ins Werk gesetzten oder latenten – Forderung, die die Gesellschaft ihren Gesetzen gemäß an den Schuldigen stellt; die Vorgänge des Vollzugs heißen Geständnis, Strafverbüßung und Schadloshaltung. Mit dieser Sphäre hat der Therapeut naturgemäß nichts zu tun; ihm als Arzt steht nicht einmal ein Urteil darüber zu, ob die Forderung der Gesellschaft zu Recht besteht oder nicht; sein Patient, der Schuldige, mag an der Gesellschaft schuldig sein oder nicht, ihr Gericht über ihn mag gerecht sein oder nicht, ihn, den Arzt, als Arzt betrifft das nicht, er ist hier unzuständig, und in seine Beziehung zum Patienten darf diese problematische Themenstellung keinen Einlaß finden, mit Ausnahme der unvermeidlichen Beschäftigung mit der Angst des Patienten vor den gesellschaftlichen Strafen, Rügen und Boykotten. Aber auch die dritte und höchste Sphäre, die des Glaubens, kann nicht seine Sache sein. Hier beginnt die Handlung im Raum zwischen dem Schuldigen und seinem Gott und verbleibt darin. Sie vollzieht sich ebenfalls in drei Vorgängen, die jenen drei entsprechen, aber ganz anders als jene untereinander zusammenhängen; es sind das Sündenbekenntnis, die Reue und das Bußopfer in seinen verschiedenen Gestalten. Der Arzt darf, eben als solcher, an diese Sphäre nicht einmal dann rühren, wenn er und der Patient in der gleichen Glaubensgemeinschaft stehen; hier hat kein Mensch das Wort, es sei denn einer, den der Schuldige als einen Hörer und Sprecher anerkennt, der die von ihm, dem Schuldigen, geglaubte Transzendenz vertritt. Auch wenn dem Therapeuten das Glaubensproblem in der von ihm in der Analyse erschlossenen Angst des Patienten vor der göttlichen Strafe entgegentritt, kann er hier nicht eingreifen, ohne – auch bei großen Geistesgaben – einem gefährlichen Dilettantismus zu verfallen. Die mittlere Sphäre, in deren Sicht – bis zu ihr, wie gesagt, und nicht weiter – der Therapeut führen darf, die Sphäre also, um die er zu diesem Behuf wissen muß, mögen wir die des Gewissens nennen, mit einer Einschränkung jedoch, von der ich sogleich reden werde. Auch die vom Ge-
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wissen geforderte Handlung vollzieht sich in drei Vorgängen, die ich die Selbsterhellung, die Beharrung und die Sühnung nenne und die ich noch näher bestimmen will. Gewissen heiße uns die Fähigkeit und Tendenz des Menschen, innerhalb seines vergangenen und künftigen Verhaltens radikal zu unterscheiden zwischen zu Billigendem und zu Mißbilligendem, wobei die Mißbilligung im allgemeinen weit stärker gefühlsbetont ist, wogegen die Billigung von Vergangenem zuweilen erschreckend leicht in eine recht fragwürdige Selbstzufriedenheit übergeht. (Es können natürlich, besonders wo es sich um Geschehenes handelt, nicht bloß Taten, sondern auch Unterlassungen, nicht bloß Entscheidungen, sondern auch Entscheidungslosigkeiten, ja auch eben erst aufgestiegene oder erinnerte Vorstellungen und Wünsche solchermaßen unterschieden und notfalls verworfen werden.) Um diese Fähigkeit und Tendenz genauer zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß unter allen uns bekannten Lebewesen der Mensch allein zu distanzieren vermag, und zwar nicht bloß seine Umwelt 10 , sondern auch sich selber, so daß er für sich zum abgelösten Gegenstand wird, über den er nicht nur »reflektieren«, sondern den er jeweils sowohl bestätigen als verwerfen kann. Das Gewissen ist dabei zwar inhaltlich sehr vielfach von den Geboten und Verboten der Gesellschaft bestimmt, der sein Träger angehört, oder denen der Tradition, der er glaubensmäßig verhaftet ist; aber es selber kann weder als eine Introjektion der einen noch als eine der anderen Autorität begriffen werden, und zwar weder ontogenetisch noch phylogenetisch. Die Tafeln des Sollens und Nichtsollens, unter denen dieser Mensch aufgewachsen ist und lebt, determinieren nur Konzeptionen, die im Bereich des Gewissens walten, nicht aber dessen Bestand selber, der eben in jener Distanzierung und jener Scheidung, Urqualitäten der Menschengattung, begründet ist. Die mehr oder minder verborgenen Kriterien, die das Gewissen bei seinen Akzeptationen und Ablehnungen anwendet, decken sich nur selten völlig mit einem von der Gesellschaft oder Gemeinschaft überkommenen Standard. Damit hängt es zusammen, daß das Schuldgefühl kaum je gänzlich von Vergehen gegen ein Tabu des Hauses oder der Sozietät abzuleiten ist. Die Gesamtheit der Ordnung, die ein Mensch als von ihm verletzt oder verletzbar empfindet, transzendiert in irgendeinem Maße die Gesamtheit der ihn bindenden elterlichen und gesellschaftlichen Tabus. Nicht selten hängt die Tiefe des Schuldgefühls gerade mit diesem nicht dem Tabufrevel zuzurechnenden Teil des Schuldigseins, also mit der Existentialschuld zusammen. 10. [Anm. Buber]: Vgl. Buber, Urdistanz und Beziehung. [In diesem Band, S. 42-53.]
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Die Einschränkung, von der ich sprach, will somit sagen, daß unser Gegenstand die Beziehung des Gewissens zur Existentialschuld ist. Seine Beziehung zu den Tabuvergehen geht uns hier nur insofern an, als ein Schuldiger diese stärker oder schwächer als wirkliche Existentialschuld versteht, für die er die Verantwortung nicht üben kann, ohne sein Verhältnis zu seinem eigenen Wesen zu verantworten. Das Vulgärgewissen, das sich zwar auf das Zwicken und Zwacken trefflich versteht, aber unfähig ist, der Schuld auf ihren Grund und Abgrund zu kommen, wird freilich zu solcher Verantwortung nicht aufzurufen vermögen. Dazu bedarf es eines größeren, eines ganz personhaft gewordenen Gewissens, das den Blick in die Tiefe nicht scheut und schon im Mahnen den Weg intendiert, der hinüberführt. Aber man meine ja nicht, dieses Persongewissen sei etwelchen »höheren« Menschen vorbehalten. Die schlichte Kreatur, die sich in sich sammelt, um den Durchbruch aus der Schuldverstrickung zu wagen, hat dieses Gewissen. Und es ist eine große, noch nicht zureichend erkannte Aufgabe der Erziehung, das Gewissen von seinen niederen Gemeinformen zur Gewissensschau und zum Gewissensmut zu erheben. Denn es ist dem Gewissen des Menschen eingeboren, sich erheben zu können. Aus dem Gesagten geht wohl schon zur Genüge hervor, daß der uralte Begriff des Gewissens, wenn a er nur als ein dynamischer und nicht als ein instanzhaft statischer verstanden wird, realistischer ist als der moderne Strukturbegriff des Über-Ich, dem nur eine orientative Bedeutung zukommt, und dazu noch eine, die den Neuling leicht falsch orientiert. Wenn wir nun vom Handeln in der Sphäre des Gewissens in diesem hohen und strengen Begriff sprechen wollen, so meinen wir damit eben nicht die wohlbekannte Zusammensetzung aus Verinnerlichungen von Rüge, Folter und Strafe, die man als die eigentliche Tätigkeit des Gewissens anzusehen pflegt, jene drängende und bedrängende Einwirkung einer übergeordneten inneren Instanz auf ein ihr mehr oder minder unterworfenes »Ich«. Vielmehr hat diese Peinigung für unsere Betrachtung nur den Charakter eines angelisch-dämonischen Zwischenspiels, auf das der hochdramatische oder tragikomische Akt der Neurose folgen mag, und das Ganze kann mit einer als erfolgreich geltenden Therapie enden. Was uns hier beschäftigt, ist eine andere Möglichkeit, sei es als der wahre Heilungsprozeß nach der Neurose, sei es, ohne daß diese vorausging. Es ist der mögliche Moment, wo die ganz wach und unerschrocken gewordene Person von den qualvollen Niederungen des Gewissens zu dessen
a.
Buchausgabe: wofern
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Höhe aufsteigt und sich der von ihm gelieferten Materie selbständig bemächtigt. Von hier aus kann der Mensch die dreifache Handlung unternehmen, auf die ich hingewiesen habe: fürs erste das Dunkel erhellen, das trotz aller bisherigen Aktion des Gewissens noch rings um die Schuld webt, es nicht mit Scheinwerfern erhellen, sondern mit einer breiten und dauernden Lichtwelle; fürs zweite – und wäre er in der Wirklichkeit seines gegenwärtigen Lebens noch so hoch über jenen Stand der Schuld gestiegen – in dem neu erworbenen demütigen Wissen um die Identität der jetzigen mit der damaligen Person beharren; und fürs dritte, die einst durch ihn verletzte Seinsordnung an seinem Orte und nach seinem Vermögen in den ihm geschichtlich und biographisch gegebenen Situationen durch das Verhältnis einer aktiven Hingabe zur Welt wiederherstellen – denn a die Wunden der Seinsordnung können an unendlich b vielen anderen Orten geheilt werden, als an denen sie geschlagen wurden. Damit das in dem Maße gelinge, das diesem Menschen überhaupt erreichbar ist, muß er die Kräfte und Elemente seines Wesens sammeln und die so gewonnene Einheit immer wieder vor dem drohenden Zwiespalt und Widerspruch hüten. Denn, um mich selbst zu zitieren 11 , man kann das Böse nicht mit ganzer Seele tun, man kann das Gute nur mit ganzer Seele tun. Was einer sich erst abringen muß, ist noch nicht das Gute; erst wenn er sich selbst errungen hat, gerät das Gute durch ihn.
5 Dem Vorgang der Erhellung entspricht auf der Ebene des Rechts das Geständnis, auf der Ebene des Glaubens das Sündenbekenntnis. Der geläufigste Begriff unter den dreien ist naturgemäß, als sozialer Begriff, das Geständnis; was sich hier begibt, begibt sich im öffentlichen Raum, in den Rechtsanstalten der Gesellschaft. Das Sündenbekenntnis wird vom Menschen gesprochen, wenn er Versöhnung mit Gott suchend unmittelbar oder mittelbar vor die absolute Instanz tritt. Das mag im Chorspruch der Gemeinde geschehen wie am jüdischen Versöhnungstag oder im Flüstern des Beichtenden ins Ohr des Beichtigers oder aber in der Einsamkeit, die sich als Alleinstehen vor Gott 11. [Anm. Buber]: Bilder von Gut und Böse. [In diesem Band, S. 63.] a. b.
Buchausgabe: wiederherstellen. Denn Buchausgabe: unbestimmbar
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und ihre Rede als ein Anreden Gottes intendiert: Immer ist der Bekennende der anonymen Öffentlichkeit der Sozietät enthoben, aber keineswegs auf sich angewiesen. Er hat ein Gegenüber, das sein Bekenntnis vernimmt, ihm anwortet, ihm (bei den Juden in einem bedeutsamen Zusammenwirken mit dem, an dem er schuldig wurde) »vergibt«. Anders verhält es sich mit dem ersten der drei Vorgänge im Handeln des großen Gewissens, dem Vorgang der Erhellung. Hier unterwindet sich der Mensch, die Tiefe einer Schuld zu erhellen, die er zwar als das, was sie ist, erkannt hat, noch nicht aber in ihrem Wesen und ihrem Sinn für sein Leben. Was ihm nun obliegt, kann sich in keinem anderen Raum vollziehen als im Abgrund des Ich-mit-mir, und eben dieser ist es, der erhellt werden soll. Das Geständnis bedeutete einen Dialog mit den dem Strafrecht gemäß richterisch entgegnenden Vertretern der Gesellschaft, das Bekenntnis einen Dialog mit der absoluten göttlichen Person, die aus ihrem Geheimnis geheimnishaft erwidert; die Wesenserhellung ist in ihren realsten Momenten nicht einmal ein Monolog mehr, geschweige denn, daß sich wirklich ein »Ich« und ein »Über-Ich« miteinander unterredeten: alle Sprache versiegt, was sich hier ereignet, ist der stumme Schauder des Selbstseins. Aber ohne diese starke Lichtwelle, die den Abgrund der Sterblichkeit erhellt, bleibt das Geständnis wie schwerwiegend auch seine Konsequenzen sein mögen, im inneren Leben des Schuldigen substanzlos, und das Bekenntnis ist nur noch ein pathetisches Plappern, dem niemand zuhört. Es ist nicht zu verkennen, daß es dem Menschen unseres Zeitalters schwerer als irgendeinem früheren geworden ist, wachen und unerschrockenen Gemüts die Selbsterhellung zu wagen, wiewohl er mehr als irgendein früherer vermeint, um sich selber Bescheid zu wissen. Der innere Widerstand, der sich hier zeigt, ein tieferer als aller der genetischen Forschung des Analytikers sich erschließende, hat in zwei für das epische Schrifttum des 19. und das des 20. Jahrhunderts charakteristischen Gestalten eine so gültige Darstellung gefunden, daß wir am besten tun, uns ihnen zuzuwenden, um unser Verständnis des Problems zu ergänzen. Ich meine Nikolaj Stawrogin in Dostojewskijs Roman »Die Dämonen« und Josef K. in Kafkas Erzählung »Der Prozeß«. In unserer Erörterung des Gegenstandes muß das zweite dieser Bücher, so wenig es an bildnerischer Mächtigkeit dem ersten zu vergleichen ist, doch das wichtigere sein, weil in ihm das gegenwärtige Stadium des menschlichen Schuldproblems zum Ausdruck gelangt ist. Aber um zu sehen, wie dieses späte Stadium mit dem ihm vorangehenden zusammenhängt, müssen wir zuerst auf Dostojewskij achten. Für unsere Fragestellung ist von der vollständigen Fassung des Romans
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auszugehen, jener also, die noch das später aus äußeren Gründen gestrichene Kapitel von Stawrogins Beichte und einiges Zugehörige enthielt. 12 In dem gestrichenen Kapitel wird erzählt, wie Stawrogin – von Dostojewskij als der vom Hochmut des Nichts besessene Mensch am äußersten Rande des Zeitalters gedacht, der den Sinn des Daseins auflöst, indem er ihn leugnet, und durch die Zerstörung von allem, über das er Gewalt bekommt, zur Selbstzerstörung gelangt – einen heiligen Mann aufsucht und ihm die Niederschrift eines Geständnisses bringt, das er veröffentlichen zu wollen erklärt. Darin berichtet er, wie er einst ein kleines Mädchen vergewaltigt hat. Später widerruft er das Geständnis, und zwar ersichtlich deshalb, weil er aus der Reaktion des Priesters erkannt hat, daß es, so wie es abgelegt worden ist, das nicht zu leisten vermag, was er ihm zugetraut hatte. Der Inhalt des Geständnisses ist wahr, aber seine Ablegung ist fiktiv, denn es ist Stawrogin gar nicht um Selbsterhellung, um beharrende Selbstidentifizierung, um sühnende Wiederverbindung mit der Welt zu tun, und so ist sogar sein (wie Dostojewskij erklärend sagt) »ungeheucheltes Bedürfnis nach einer öffentlichen Hinrichtung« 13 von der Fiktivität durchsetzt. Was Stawrogin begehrt, ist »der Sprung«. Ein fragmentarischer Entwurf des Dichters belehrt uns unzweideutig darüber. Es heißt hier, offenbar im Zusammenhang damit, daß der Priester der Absicht Stawrogins, das Geständnis zu veröffentlichen, widerspricht: »Der Erzpriester beweist, daß ein Sprung nicht nötig sei, daß der Mensch vielmehr in seinem Innern sich wiederaufrichten müßte – durch lange Arbeit, dann erst vollbringt er den Sprung.« Stawrogin fragt: »Und plötzlich sollte es unmöglich sein?« »Unmöglich?« entgegnet der Priester. »Aus einem Engelswerk wird es ein Werk des Teufels.« »Ach«, ruft Stawrogin aus, »das habe ich ja selbst gewußt.« 14 Stawrogin »begeht« das Geständnis, wie er seine Verbrechen begeht: als Versuch, die echte Existenz zu erraffen, die er nicht besitzt, die er aber – Nihilist in der Praxis, aber der Ahnung nach Existentialist – als das eigentliche Gut erkannt hat. Er ist voller »Ideen« (Dostojwskij leiht ihm sogar seine eigenen!), voller »Geist«, aber er existiert nicht. Den grundsätzlichen Nihilismus in existentialistischer Form wird dieser Menschen12. Gemeint ist das Kapitel XI »Bei Tichon«, das Dostojewskij auf anraten seiner Freunde getrichen hatte. Es erschien auf Deutsch erstmals 1925 als Sonderdruck unter dem Titel »Die Beichte Stawrogins«. 13. Dostojewskij, »Der Grundgedanke des Dokuments ist das schreckliche, ungeheuchelte Bedürfnis nach Strafe, nach dem Kreuze, nach einer öffentlichen Hinrichtung.« Die Dämonen, Deutsch von E. K. Rahsin, München 1956, S. 604. 14. Die Zitate konnten nicht wörtlich so in der Übersetzung von Rahsin gefunden werden. Buber, der den Roman auf Russisch lesen konnte, hat diese Passagen aus dem Kapitel »Bei Tichon« vermutlich selbst übertragen.
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typus erst nach Dostojewskijs Zeitalter, erst in dem unsern entdecken, nachdem er erfahren hat, daß er zur Existenz auf den ihm wesensmäßig entsprechenden Wegen nicht gelangen kann, und ihm nun nur dies übrigbleibt: das gedankenvolle Nihil als die Existenz und sich als den neuen Menschen zu proklamieren. Stawrogin ist noch nicht so weit, er vermag sich nur umzubringen, nachdem all das »dämonische« Spiel mit Ideen, Verbrechen und Geständnissen, dieses Spiel, das ein Ziel hat, sich als ohnmächtig erwiesen hat. Der entscheidende Moment – in der jetzigen, vom Verfasser verstümmelten Fassung des Romans ausgelöscht – ist eben das Fehlgehen des Geständnisses: Stawrogin wollte, daß der heilige Mann an dessen existentiellen Charakter glaube und dadurch ihm, Stawrogin, zur Existenz verhelfe. Existentielles Geständnis aber ist nur möglich als Aufbruch zu der großen Handlung des Hochgewissens in Selbsterhellung, beharrender Selbstidentifizierung und einem sühnenden Verhältnis zur Welt. Diese Möglichkeit aber ist in Stawrogins Augen eins von beiden: entweder ihm wesensmäßig nicht gegeben oder von ihm durch sein Lebensspiel vernichtet. In Dostojewskijs eigenen Augen jedoch ist der Mensch erlösbar: wenn er die Erlösung als solche will und damit auch seinen Anteil an ihr, die große Handlung des Hochgewissens.
6 »Die Dämonen« ist von 1870, Kafkas »Prozeß« von 1915. Die beiden Bücher repräsentieren zwei grundverschiedene, aber untereinander eng zusammenhängende Situationen der Menschengeschichte, an denen ihre Verfasser leiden: die einer unheimlichen negativen Gewißheit: »Die menschlichen Werte beginnen zu zerbrechen«, und die einer noch unheimlicheren Ungewißheit: »Gibt es überhaupt noch einen Zusammenhang von Weltsinn und Weltordnung mit diesem Unsinn und dieser Unordnung der Menschenwelt?« 15 – einer Ungewißheit, die aus negativen Gewißheit hervorgegangen zu sein scheint. Alles in diesem Buch ist gewollt ungewiß und unbestimmt, zuweilen bis zur Absurdität, die aber immer künstlerisch gemeistert bleib. Dieses Gericht, vor das Josef K. unversehens wegen einer ungenannten, ihm unbekannten Schuld zitiert wird, ist zugleich nüchtern real und spukhaft unbestimmt, durch und durch wüste, krasse, sinnlose Unordnung. Aber von kaum geringerer, nur eben andersartiger Unbestimmtheit all seines
15. Diese Zitate konnten keiner Quelle zugeordnet werden.
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Verhaltens ist dieser Mensch Josef K., der der Schuld bezichtigt, unordentlich wie bisher Tag um Tag ein richtungsloses Leben betreibt, nur daß er jetzt, bis auf weiteres, teils geschäftig, teils nebenbei, einen Zweck verfolgt, den nämlich, dieses Gericht loszuwerden. Zu diesem Zweck gibt er sich mit unbestimmten Advokaten, unbestimmten Weibern und sonstigem unbestimmtem Menschenzeug ab, damit sie ihm auf sonderbaren Wegen diesem sonderbaren Gericht gegenüber den Schutz verschaffen, dessen allein er zu bedürfen meint. Die unbestimmte Schuld, die ihm vorgehalten wird, beschäftigt ihn nur insofern, als er von Zeit zu Zeit daran denkt, eine Verteidigungsschrift in der Form einer kurzen Lebensbeschreibung abzufassen, in der bei jedem wichtigeren Ereignis erklärt werden soll, aus welchem Grunde er damals so und nicht anders gehandelt habe und wie er jetzt zu seiner jeweiligen Handlungsweise stehe, billigend oder verwerfend. Schließlich geschieht, was in einem unvollendeten Kapitel berichtet wird: »Von da an vergaß K. das Gericht.« 16 All das zusammen ist nicht etwa chaotisch zu nennen, denn in einem Chaos ist eine Welt verborgen, die aus ihm auftauchen soll, hier aber ist von einem werden wollenden Kosmos nichts zu spüren. Wohl aber darf man all dies miteinander, das Gericht, den Angeklagten und die Leute um ihn, labyrinthisch nennen: die bis zur Absurdität gehende Unordnung weist auf eine geheime Ordnung hin, die sich aber nirgends auch nur andeutungsweise zeigt, die vielmehr anscheinend erst dann und nur dann in die Erscheinung treten würde, wenn Josef K. das täte, was er bis zum Schluß nicht tut: wenn er »das Geständnis« ablegte, das von ihm gefordert wird. Er aber vermag, wie er sagt, nicht die geringste Schuld aufzufinden, derentwegen man ihn anklagen könnte; ja er bringt es später fertig – offenbar ohne recht zu wissen, was er sagt –, das verwegene Wort auszusprechen, das keinem Menschenmunde zusteht: »Ich bin vollständig unschuldig.« 17 Der Faden, der aus dem Labyrinth führt, ist im Buch nicht zu finden, vielmehr gäbe es diesen Faden nur dann, wenn geschähe, was eben nicht geschieht, das »Geständnis«. Aber was kann hier, unter den gegebenen Voraussetzungen, überhaupt damit gemeint sein: ein Geständnis ablegen? Die Frage danach schwebt hier in einer nur seltsamen, durch und durch beabsichtigten Paradoxie. Ein sachkundiges Mädchen sagt zu Josef K., an seine Schulter gelehnt: »Gegen dieses Gericht kann man sich ja nicht wehren, man muß das Geständnis machen. Machen Sie doch bei nächster Gelegenheit das Geständ16. Franz Kafka, Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Der Proceß, Fragment: »Zu Elsa«, S. 338. 17. Ebd. S. 200.
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nis. Erst dann ist die Möglichkeit zu entschlüpfen gegeben.« Und er antwortet: »Sie verstehen viel von diesem Gericht und von den Betrügereien, die hier nötig sind.« 18 Das kann, da bei Kafka nichts beiläufig gesagt wird, nur bedeuten, daß Josef, der sich ja für »völlig unschuldig« hält, versteht, er solle ein falsches Geständnis ablegen, und in diesem Augenblick scheint er nicht abgeneigt zu sein, das zu tun. Später aber läßt er sich von einem, ebenfalls, wie wir hören, mit den Wegen dieses Gerichts wohlvertrauten Maler so beraten: »Da Sie unschuldig sind, wäre es wirklich möglich, daß Sie sich auf Ihre Unschuld verlassen.«19 Wohlgemerkt, im gleichen Gespräch erklärt derselbe Sprecher, er habe noch nicht einen einzigen Freispruch erlebt, weiß aber gleich danach zu sagen, die Entscheidungen des Gerichts würden nicht veröffentlicht, es gebe jedoch »Legenden« von wirklichen Freisprüchen, und diese Legenden enthielten wohl »eine gewisse Wahrheit«. In dieser Atmosphäre schreitet die Handlung fort, und es sieht ganz so aus, als wäre die Anklage und mit ihr die Zumutung des Geständnisses eine wahnwitzige Absurdität, wie a Josef K. sie zu Anfang, in seiner Rede vor dem Gericht deklariert b hat: »Und der Sinn dieser großen Organisation, meine Herren? Er besteht darin, daß unschuldige Personen, verhaftet werden und gegen sie ein sinnloses und meistens, wie in meinem Fall, ergebnisloses Verfahren eingeleitet wird.« 20 Einige Kafka-Interpreten stehen auf dem gleichen Standpunkt. Er wird durch den weiteren Verlauf der Handlung und durch darauf zu beziehende Aufzeichnungen in Kafkas Tagebüchern widerlegt. Ich meine das Kapitel »Im Dom«, in dem erzählt wird, wie Josef K. von ungefähr in eine Kirche kommt und hier von einem ihm unbekannten Geistlichen, dem Gefängniskaplan (der also der Gerichtsorganisation angehört, jetzt aber keineswegs im Auftrag des lokalen Gerichts handelt), mit Namen angesprochen wird. Dieses Kapitel entspricht genau dem von Dostojewskij in den »Dämonen« gestrichenen, in dem Stawrogin dem Erzpriester sein Geständnis übergibt (einem Kapitel, von dem Kafka übrigens nur eine unvollständige, den Text des Geständnisses nicht enthaltende Fassung kennen konnte). 21 In beiden ist ein Priester der Gegenspieler, in beiden geht es um ein Geständnis, nur daß dieses bei Dosto18. 19. 20. 21.
Ebd. S. 143. Ebd. S. 205. Ebd. S. 61. Siehe Anm. 12.
a. b.
Buchausgabe: wofür Buchausgabe: erklärt
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jewskij unverlangt geleistet, bei Kafka aber verlangt wird. Denn das ist es, was der Kaplan um der Nachricht sagen will, daß der Prozeß schlecht stehe, da man die Schuld für erwiesen halte. »Ich bin aber nicht schuldig«, antwortet K., »es ist ein Irrtum. Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der andere.« 22 Man muß gut hinhören: Was hier geleugnet wird, ist der ontische Charakter der Schuld, die Tiefe der Existentialschuld über alle bloßen TabuVerletzungen hinaus. Eben dies hat Freud leugnen wollen, als er es unternahm, das Schuldgefühl genetisch zu relativieren. Und darauf antwortet der Priester: »Das ist richtig«, das heißt: In der Tat sind wir alle Menschen, und man soll die Unterschiede zwischen den Menschen nicht überschätzen. Er fährt jedoch fort: »Aber so pflegen die Schuldigen zu reden«, 23 d. h.: Der, um den es jeweils geht, redet sich auf die anderen heraus, statt sich mit sich selber zu befassen. Und nun fragt der Priester: »Was willst du nächstens in deiner Sache tun?« »Ich will noch Hilfe suchen«, antwortete K. »Du suchst zuviel fremde Hilfe«, bekommt er nun zu hören. Und als er noch immer nicht verstehen will, schreit der Kaplan ihn an: »Siehst du denn nicht zwei Schritte weit?« 24 Er spricht wie einer, der einen Menschen, der noch dasteht, schon fallen sieht. Was er mit seinen Worten sagen will, ohne es direkt zu sagen, ist, das Urteil, in das »das Verfahren allmählich übergeht«,25 stehe nun unmittelbar bevor, und das Urteil ist selber schon der Tod. Und nun, als das Letzte und Äußerste, erzählt der Kaplan dem Menschen, um dessen Seele und Schicksal in einem er ringt, jene Parabel von dem Türhüter, der, als einer von unzähligen, »vor dem Gesetz«, vor einer der unzähligen in das Innere des Gesetzes führenden Türen steht, und von dem Mann, der hier Einlaß begehrt. Dieser erschrickt vor den Schwierigkeiten, die nach der Mitteilung des Türhüters den den Eintritt Wagenden erwarten. Er verbringt nun Tage und Jahre, den ganzen Rest seines Lebens, seitwärts vor dieser einen von den unzählig vielen Türen sitzend, bis ihm knapp vor seinem Ende der Hüter eröffnet, dieser Eingang sei für ihn allein bestimmt gewesen, und jetzt werde er geschlossen. Josef K. hört der Parabel zu und versteht nicht: Was also hätte der Mann tun sollen, um hineinzugelangen? Der Geistliche sagt es ihm nicht. Kafka selber ist, wie er in den Tagebüchern verzeichnet hat, die Bedeutung der Geschichte erst aufgegangen, als er sie seiner Braut vorlas. Er hat diese Bedeutung ein andermal selber, an einer unvergeßlichen Stelle seiner Notizhefte, deutlich ausgesprochen: »Ge22. 23. 24. 25.
Kafka, Der Proceß, S. 289. Ebd. Ebd. S. 290. Ebd. 289.
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ständnis, unbedingtes Geständnis, aufspringendes Tor, es erscheint im Innern des Hauses der Welt, deren früher Abglanz hinter Mauern lag.« 26 Das Geständnis ist das aufspringende Tor. Es ist der wahre »Durchbruch«, mit welchem Worte Josef K. fälschlich das angestrebte Loskommen vom Gericht zu bezeichnen pflegte. Was ist hier aus dem Rechtsbegriff des Geständnisses geworden? Was hier so genannt wird, ist die Selbsterhellung, der erste und eröffnende Vorgang im Handeln des großen Gewissens. Stawrogin legt ein Geständnis in Worten ab. Er beschreibt darin den Verlauf seiner Untat mit grauenhafter Genauigkeit, aber auch im Erinnern und Niederschreiben bleibt er der Selbsterhellung unfähig. Er ermangelt des Lichtleins Demut, das allein den Abgrund des schuldigen Selbst in breiter Welle zu erhellen vermag. Er sucht nach irgendeinem, noch so notdürftigen Halt, dann gibt er’s auf und tötet sich. Josef K. legt kein Geständnis ab; er weigert sich zu verstehen, daß es ihm obliegt. Zum Unterschied von Stawrogin ist er nicht hochmütig; er unterscheidet nicht wie jener zwischen sich und den anderen Menschen. Aber eben damit, mit diesem »Wir sind hier doch alle Menschen« entzieht er sich der Forderung, in sein inneres Dunkel (von dem Kafka in den Tagebüchern redet) das grausame und heilsame Licht zu tragen. Er besteht darauf, daß es die persönliche Existentialschuld überhaupt nicht gebe. Sein Innerstes weiß es anders – weil Kafka, der diesem Josef K. nah steht, es anders weiß –, aber zu diesem Innersten vorzudringen scheut er sich eben, bis es zu spät ist. An diesem Punkte scheinen Franz Kafka und Josef K. auseinandergehen zu müssen. Kafka hatte ihm etwas von seinem eigenen Namen zugeteilt, er hatte ihm (wie dem »K« im »Schloß«) sein eigenes Leiden an einer sinnlos handelnden Umwelt zu tragen gegeben, er hatte ihn mit humorvoll karikierten eigenen Zügen ausgestattet, aber wie er ihn nun in der entscheidenden Stunde, der dichterischen Logik gemäß, sagen läßt: »Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein?« 27 und ihn über die Türhütergeschichte, Kafkas konzentriertestes Bekenntnis, weitläufig und scharfsinnig disputieren läßt, statt ihre Lehre anzunehmen, muß er, der um die Tiefe der Existentialschuld weiß, sich von ihm für diese Stunde trennen. Er gewinnt jedoch die Verbindung mit ihm dadurch wieder, daß er bald danach, als schon die Schergen Josef K. zum Tode geleiten, ihn sich in starken, wiewohl immer noch rein verstandesmäßigen Selbstbesinnung sammeln läßt. Er läßt ihn, der jetzt weiß, daß 26. »Geständnis, unbedingtes Geständnis, aufspringendes Tor, es erscheint im Inneren des Hauses der Welt, deren trüber Abglanz bisher draußen lag.« Kafka, Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente, Bd. II, »Ehepaar-Hefte«, S. 533. 27. Kafka, Der Proceß, S. 299.
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und wie der Prozeß zu Ende geht, zu sich sprechen: »Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck.« 28 Josef K. hat erkannt, daß er der unordentlichen Menschenwelt nur seine eigene Unordnung zugeworfen hatte. Diese Selbstbesinnung ist zwar nicht der Anfang einer Selbsterhellung, aber sie ist ein erster Schritt auf sie zu, ohne daß der Mensch, der ihn tut, es weiß. Und nun darf Kafka vor dem Ende den Toren wieder an sein Herz nehmen, obgleich er ihm ganz zuletzt, ehe das Messer ihn trifft, die alten törichten Vorstellungen von etwa noch vergessenen Einwänden in den Sinn kommen läßt. Vielleicht meint er sich selber mit dem Menschen, den Josef K. zuletzt in einem Fenster stehend erblickt, »einen Menschen, schwach und dünn in der Ferne und Höhe«; 29 er möchte seinem Geschöpf helfen und darf es nicht. Es mag aber noch gefragt werden, wie denn das widersinnige Durcheinander, das in dein Gericht waltet, mit der Gerechtigkeit von Anklage und Forderung zu vereinbaren sei. Die Frage stellt uns vor ein zentrales Problem Kafkas, das wir im Hintergrund sowohl dieses Romans wie des ihm verwandten »Das Schloß« finden, wo eine unzugängliche Macht ihre Herrschaft auf dem Wege über eine liederliche Beamtenschaft ausübt. Die Antwort können wir aus einer wichtigen Tagebuchnotiz Kafkas aus der Entstehungszeit des »Prozesses« schöpfen, in der er von einer Beschäftigung mit der biblischen Stelle von den ungerechten Richtern spricht. Es heißt da: »Finde also meine Meinung, oder wenigstens die Meinung, die ich in mir bisher vorgefunden habe.«30 Der 82. Psalm, von dem hier offenbar die Rede ist, hat Gottes Gericht über jene »Gottessöhne« oder Engel zum Gegenstand, denen er das Regiment über die Menschenwelt anvertraut hatte und die ihr Amt schnöd mißbrauchten und »falsch richteten«. Der Inhalt dieses späten Psalms hängt mit dem von der Gnosis verarbeiteten orientalischen Mythos von den Gestirngeistern zusammen, die verhängnishaft das Schicksal der Welt bestimmen, von deren Macht sich aber der Mensch zu befreien vermag, der sich dem verborgenen höchsten Lichte weiht und in die Wiedergeburt eintritt. Ich habe Grund anzunehmen, daß Kafka auch diesen Mythos damals gekannt hat. Er fragte mich danach, als er mich um jene Zeit in Berlin besuchte. 31 Im »Prozeß« hat er ihn im Sinn seiner Weltbetrachtung dahin abgewandelt, daß er die gerechte Anklage einer unzugänglichen obersten Instanz durch ein 28. 29. 30. 31.
Ebd. S. 308. Ebd. S. 312. Kafka, Kritische Ausgabe. Tagebücher, Eintrag vom 16. September 1915, S. 753. Im Jahr 1911 besuchte Kafka Buber zweimal in Berlin. Vgl. M. Friedman, Martin Buber’s Life and Work, Bd. 1, S. 141.
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lotteriges und grausames Gericht durchgeführt werden läßt. Dem Arm dieses Gerichts kann sich nur entziehen, wer aus eigenster Erkenntnis die Forderung des Geständnisses ihrer Wahrheit nach erfüllt, indem er das Urgeständnis, die Selbsterhellung, vollzieht: er tritt ins Innere des Gesetzes.
7 Das Schicksal beider Menschen, das Stawrogins und das von Josef K., ist durch ihr falsches Verhältnis zu ihrem Schuldigsein bestimmt. Stawrogin spielt zwar mit dem Gedanken, das Geständnis seiner schändlichsten Schuld wie ein Banner vor sich herzutragen, aber er bringt den größeren Mut nicht auf, in der Selbsterhellung das Wesen und den Ursprung seines Schuldigseins zu erkennen. Sein Gefühl ist, wie er in seinem letzten Brief sagt, »zu klein und flach«, seine Wünsche »zu wenig stark; sie können mich nicht leiten«. 32 Er erklärt, sich nicht töten zu können,a denn »Unwillen und Scham kann in mir niemals sein, folglich keine Verzweiflung«,33 aber unmittelbar danach kommt die Verzweiflung, und er gibt sich den Tod. Josef K. gehört einer anderen, essentiell späteren, sozusagen weiter gekommenen Generation an. Er lehnt es nicht etwa bloß vor der Welt, sondern vor sich selbst ab, sich mit einem vorgeblichen Schuldigsein zu befassen, er lehnt es ab, für diese Anklage, die irgendwoher, etwa von einem unsichtbaren, unkennbaren »höchsten Gericht« her, durch diese fragwürdige Gesellschaft auf ihn geschleudert wird, den Grund in sich selbst zu finden und zu erhellen. Es gilt ja nunmehr, in dieser seiner Generation, als erwiesen, es gebe wirkliche Schuld nicht, nur Schuldgefühle und Schuldkonvention. Bis zum letzten Augenblick weigert er sich, durch die noch offenstehende, nur scheinbar geschlossene Tür einzutreten; so ereilt ihn das Urteil. Beide, Stawrogin und Josef K., haben die Stunde des Menschen nicht auf sich genommen und haben sie verloren. Es ist die Stunde des Menschen, wovon wir reden. Denn, um es in Pascals Sprache zu sagen, die Größe des Menschen ist an sein Elend gebunden. 34 32. Dostojewskij, Die Dämonen, S. 972. 33. Ebd. S. 974. 34. Z. B. »Denn das Elend des Menschen beweist sich aus seiner Größe und seine Größe a.
Buchausgabe: erklärt sich unvermögend, sich den Tod zu geben
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Der Mensch ist das Wesen, das fähig ist, schuldig zu werden, und fähig ist, seine Schuld zu erhellen. Ich habe an zwei Beispielen aus dem epischen Schrifttum den mannigfaltigen Widerstand des Menschenwesens gegen die Erhellung erläutert. Dieser innere Widerstand ist aber völlig verschieden von dem dem Psychoanalytiker wohlbekannten Sträuben des Patienten gegen sein Bemühen, einen verdrängten schuldartigen Tatbetand »aus dem Unbewußten ins Bewußte überzuführen«35. Denn die Schuld, um die es uns hier geht, ist gar nicht ins Unbewußte verdrängt worden. Der Träger der Wesensschuld bleibt im Bereich des bewußten Daseins. Diese Schuld ist nicht eine, die sich ins Unbewußte verdrängen ließe. Sie bleibt im Raum des Gedächtnisses, aus dem sie in jedem Augenblick überfallartig in den des Bewußtseins dringen kann, ohne daß gegen solche Überfälle irgendwelche Hindernisse errichtet werden könnten. Das Gedächtnis nimmt ohne Zutun des Menschen alle Erfahrung und Handlung auf.a Erb vermag jedoch oft Bestandteile des Gedächtnisses in solcher Weise niederzuhalten, daß die in die aktuale Erinnerung aufsteigenden nicht in ihrem ursprünglichen Charakter in sie treten, die Existentialschuld also nicht als solche. Nur wenn die menschliche Person selbst ihren inneren Widerstand überwindet, kann sie zur Selbsterhellung gelangen. Das »aufgehende Tor« der Selbsterhellung führt uns in kein Jenseits vom Gesetz, sondern ins innere des Gesetzes. Es ist das Gesetz des Menschen, in dem wir dann stehen: das Gesetz der Identität der menschlichen Person als solcher mit sich selber, der schulderkennenden mit der schuldtragenden, der im Licht mit der im Dunkel. Auf die harte Probe der Selbsterhellung folgt die noch härtere, weil die je aufhörende Probe der Beharrung in der Selbstidentifikation. Damit ist aber nicht etwa ein stets erneutes Sichgeißeln der Seele mit dem Wissen um ihren Abgrund als einen ihr unabwendbar zugeteilten gemeint, sondern ein aufrechtes und unbeirrtes Verharren in der Klarheit des großen Lichts. Wenn ein Mensch nur an sich selber schuldig wäre, brauchte er, um beweist sich aus einem Elend. Daher haben die einen um so besser das Elend dargethan, wenn sie zum Beweise dafür die Größe genommen und die andern haben die Größe um so stärker dargethan, wenn sie dieselbe aus dem Elend selbst gefolgert. Alles, was die einen haben sagen können um die Größe zu zeigen, hat nur den andern zum Beweise für das Elend gedient, weil man um so viel elender ist, von je größerer Höhe man gefallen und so umgekehrt.« Pascal, Gedanken über die Religion., Berlin 1840, S. 233. 35. [Anm. Buber]: Freud, 19. Vorlesung. [Londoner Ausgabe, Bd. XI, S. 304.] a. b.
In der Buchausgabe ist der ganze Satz gestrichen. Buchausgabe: Der Mensch
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dem fordernden Ruf genugzutun, der ihn auf der Höhe des Gewissens traf, vom Tor der Selbsterhellung aus nur noch diesen einen Weg, den der Beharrung, einzuschlagen. Aber ein Mensch ist immer auch an den andern Wesen, an der Welt, an dem ihm gegenüber wesenden Sein schuldig. Von der Selbsterhellung aus muß er, um dem Ruf gerecht zu werden, nicht einen Weg, sondern zwei Wege einschlagen, von denen der zweite der der Sühne ist. Unter Sühne ist hier jene Handlung von der Höhe des Gewissens aus zu verstehen, die der auf der Ebene des Rechts üblichen Leistung von »Wiedergutmachung« entspricht. Im Bereiche der Existentialschuld kann man freilich im strengen Sinn nichts »wiedergutmachen« – als ob die Schuld mit ihren Folgen dadurch gleichsam zurückgenommen werden könnte. Sühne meint hier zunächst, daß ich dem Menschen, an dem ich schuldig wurde, im Licht meiner Selbsterhellung gegenübertrete – wofern ich ihn noch auf Erden erreichen kann –, mich ihm gegenüber zu meiner Wesensschuld bekenne und ihm nach Vermögen helfe, die Folgen meiner Schuldhandlung zu überwinden; als Sühne kann solches Tun aber hier nur dann gelten, wenn es nicht aus gefaßtem Vorsatz, sondern im willkürlosen Wirken meiner errungenen Existenz getan wird. Und dies kann naturgemäß nur aus dem Kern eines gewandelten Verhältnisses zur Welt, eines neuen Dienstes an der Welt mit den erneuten Kräften des erneuten Menschen geschehen. Es ist hier nicht der Ort, von a den Vorgängen in der Sphäre des Glaubens zu sprechen, die den oben erörterten Vorgängen in b der Sphäre des hohen Gewissens entsprechen. Für den redlich Glaubenden sind in der Praxis seines Lebens, und ganz besonders, wenn er durch die Existentialschuld gegangen ist, die zwei Sphären so aufeinander angewiesen, daß er sich nie einer von ihnen ausschließlich anvertrauen kann. Beide, der menschliche Glaube nicht minder als das menschliche Gewissen, können irren und irren immer wieder; und beide, das Gewissen nicht minder als der Glaube, müssen sich, um dieses ihr Irren wissend, der Gnade anheimgehen. Wer es aber von sich weist, an ein transzendentes Sein zu glauben, mit dem er kommunizieren darf, von dessen innerer Wirklichkeit generell zu reden, steht mir nicht zu. Nur das habe ich zu berichten, daß mir auf dem Gang meines Lebens manche Menschen begegnet sind, die mir erzählten, wie sie, als Schuldiggewordene von dem hohen Gewissen aus handelnd, sich als Umkehrende und von einem Höheren Ergriffene erfuhren und in einen Wesensstand hineinwuchsen, dem der Name der Wiedergeburt zukommt. a. b.
Buchausgabe: Es ist hier nicht von Buchausgabe: die denen in
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Nachwort zu Ich und Du 1 52 In der nächsten Frage geht es nicht mehr um Schwelle, Vorschwelle und Überschwelle der Mutualität, sondern um sie selber als um die Eingangstür unseres Daseins. Gefragt wird: Wie verhält es sich mit dem Ich-Du-Verhältnis zwischen Menschen? Steht dieses denn immer in voller Gegenseitigkeit? Kann es das immer, darf es das immer? Ist es nicht, wie alles Menschliche, der Beschränkung durch unsere Unzulänglichkeit ausgeliefert, aber auch der Beschränkung durch innere Gesetze unseres Miteinanderlebens unterstellt? Das erste von diesen beiden Hindernissen ist ja bekannt genug. Von deinem eigenen Blick Tag um Tag in die befremdet aufschauenden Augen deines deiner doch bedürfenden »Nächsten« bis zur Wehmut der heiligen Männer, die Mal um Mal das große Geschenk vergebens anboten, – alles sagt dir, daß die volle Mutualität nicht dein Miteinanderleben der Menschen inhäriert. Sie ist eine Gnade, für die man stets bereit sein muß und die man nie als gesichert erwirbt. Es gibt jedoch auch manches Ich-Du-Verhältnis, das sich seiner Art nach nicht zur vollen Mutualität entfalten darf, wenn es in dieser seiner Art dauern soll. Als ein solches Verhältnis habe ich an anderem Ort 3 das des echten Erziehers zu seinem Zögling charakterisiert. Um den besten Möglichkeiten im Wesen des Schülers helfen zu können, sich zu verwirklichen, muß der Lehrer ihn als diese bestimmte Person in ihrer Potentialität und ihrer Aktualität meinen, genauer, er muß ihn nicht als eine bloße Summe von Eigenschaften, Strebungen und Hemmungen kennen, er muß seiner als einer Ganzheit inne werden und ihn in dieser seiner Ganzheit bejahen. Das aber vermag er nur, wenn er ihm jeweils als seinem Partner in einer bipolaren Situation begegnet. Und damit seine Einwirkung auf ihn eine einheitlich sinnvolle sei, muß er diese Situation jeweils nicht bloß von seinem eigenen Ende aus, sondern auch von dem seines Gegenüber aus in all ihren Momenten erleben; er muß die Art von Realisation üben, die 1. 2. 3.
Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 278 f. Von den sechs Paragraphen des »Nachworts« handelt nur Paragraph 5 von Psychotherapie. [Anm. Buber] Über das Erzieherische. Vgl. oben S. 145, Anm. 2. [Abgedruckt in MBW 8, S. 136-154.]
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ich Umfassung nenne. Obzwar es aber darauf ankommt, daß er auch im Zögling das Ich-Du-Verhältnis erwecke, daß dieser also ebenfalls ihn als diese bestimmte Person meine und bejahe, so könnte doch die besondere erzieherische Beziehung nicht Bestand haben, wenn der Zögling seinerseits die Umfassung übte, also den Anteil des Erziehers an der gemeinsamen Situation erlebte. Ob das Ich-Du-Verhältnis nun endet oder aber den ganz andersartigen Charakter einer Freundschaft annimmt, es erweist sich, daß der spezifisch erzieherischen Beziehung als solcher die volle Mutualität versagt ist. Ein anderes, nicht minder aufschlußreiches Beispiel für die normative Beschränkung der Mutualität bietet uns die Beziehung zwischen einem echten Psychotherapeuten und seinem Patienten. Wenn er sich damit begnügt, diesen zu »analysieren«, d. h. aus seinem Mikrokosmos unbewußte Faktoren ans Licht zu holen und die durch ein solches Hervortreten verwandelten Energien an eine bewußte Lebensarbeit zu setzen, mag ihm manche Reparatur gelingen. Er mag bestenfalls einer diffusen, strukturarmen Seele helfen, sich einigermaßen zu sammeln und zu ordnen. Aber das, was ihm hier eigentlich aufgetragen ist, die Regeneration eines verkümmerten Person-Zentrums wird er nicht zu Werke bringen. Das vermag nur, wer mit dem großen Blick des Arztes die verschüttete latente Einheit der leidenden Seele erfaßt, und das ist eben nur in der partnerischen Haltung von Person zu Person, nicht durch Betrachtung und Untersuchung eines Objekts zu erlangen. Damit er die Befreiung und Aktualisierung jener Einheit in einem neuen Einvernehmen der Person mit der Welt kohärent fördere, muß er, wie jener Erzieher, jeweils nicht bloß hier, an seinem Pol der bipolaren Beziehung, sondern auch mit der Kraft der Vergegenwärtigung am anderen Pol stehen und die Wirkung seines eigenen Handelns erfahren. Wieder aber würde die spezifische, die »heilende« Beziehung in dem Augenblick enden, wo es dem Patienten beifiele und gelänge, seinerseits die Umfassung zu üben und das Geschehen auch am ärztlichen Pol zu erleben. Heilen wie erziehen kann nur der gegenüber Lebende und doch Entrückte. Am nachdrücklichsten wäre die normative Beschränkung der Mutualität wohl am Beispiel des Seelsorgers darzulegen, weil hier eine Umfassung von der Gegenseite her die sakrale Authentizität des Auftrags antasten würde. Jedes Ich-Du-Verhältnis innerhalb einer Beziehung, die sich als ein zielhaftes Wirken des einen Teils auf den anderen spezifiziert, besteht kraft einer Mutualität, der es auferlegt ist, keine volle zu werden. Jerusalem, Oktober 1957
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Philosophische Befragungen 1 B. Psychologie und Psychotherapie Walter Blumenfeld: Kann man behaupten, dass sich Bubers Methode grundlegend von psychologischer Introspektion und Retrospektion unterscheidet? Buber: Ich weiss nicht genau, was hier unter »meiner Methode« zu verstehen ist. Meine paar gelegentlichen Bemerkungen zur Arbeit des Anthropologen genügen wohl kaum um darüber zu diskutieren. Doch will ich gern den wesentlichen Unterschied zwischen den psychologischen Methoden und den anthropologischen ein wenig präzisieren. Dabei soll die spezifische Problematik der sogenannten Introspektion nur eben berührt werden. Einige der modernen Psychologen haben ja erkannt, dass die sogenannte Selbstbeobachtung auf den psychischen Prozess einen verändernden Einfluss ausübt, dem vergleichbar, den die Physiker für die Beobachtung des Elektrons statuiert haben. Darum ist die retrospektive Methode, die mit den mehr oder weniger verlässlichen Ergebnissen eines absichtslosen Gedächtnisses operiert, die brauchbarere von beiden. Ein seiner Aufgabe und seines Wegs bewusster Anthropolog wird keine der »Introspektion« analoge Methode verwenden. Weit wichtiger jedoch ist der grundsätzliche Unterschied zwischen den psychologischen und den anthropologischen Methoden und insbesondere der zwischen der psychologischen und der anthropologischen »Retrospektion«. Die psychologischen Methoden dürfen ihrem Wesen nach reduktiv, die anthropologischen integrativ genannt werden. Die ersteren haben sich die Erkenntnis »psychischer Phänomene« zur Aufgabe gesetzt. Aber inwiefern sind diese uns in unserer Selbsterfahrung als eine gesonderte, in sich beschlossene Art von Phänomenen gegeben? Sind nicht in unserem faktischen Leben, zumindest in unserem faktischen wachen Leben die psychischen Phänomene zumeist eng mit andersartigen verknüpft? Die Psychologen schränken den erinnerten Vorgang auf seine psychische Seite ein; der Anthropolog, dem es um den ganzen leibseelischen Menschen zu tun ist, erneuert betrachtend das Gedächtnis dessen, was sich an ihm in einem bestimmten Lebenszusammenhang, »von innen« und »von aussen« zugleich, in der engsten Verbindung von Innen und Aussen begab. 1.
Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 279.
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Und nicht genug daran: seine Betrachtung erfasst auch den erinnerten Anteil anderer Menschen an den gemeinsamen Situationen, erfasst die erinnerte Beziehung von hüben und von drüben. In solcher integrativen Vergegenwärtigung menschlichen Daseins vervollständigt sich ihm immer mehr die Erkenntnis dessen, was der Mensch und nur der Mensch ist. Maurice S. Friedman: Da Schuld sich in unserem Bewußtsein als ein Gefühl manifestiert, wie kann man unterscheiden zwischen dem Schuldgefühl, das existentielle Schuld begleitet, und dem, das neurotische Schuld begleitet? Erklärung: In »Schuld und Schuldgefühle« betonen Sie die Tatsache, dass die psychoanalytische Schule die Existenz von wirklicher oder »existentieller« Schuld bestreitet – von »Schuld, die eine Person als solche und in einer persönlichen Situation auf sich geladen hat«, 2 Schuld, die dann »eintritt, wenn jemand eine Ordnung der menschlichen Welt verletzt, deren Grundlagen er als diejenigen seiner eigenen Existenz und aller menschlichen Existenz kennt und anerkennt.« Diese Unterscheidung zwischen »existentieller Schuld« und neurotischer Schuld, die von einer verzerrten Selbstbeziehung herstammt, ruht ihrerseits auf der Unterscheidung zwischen dem »Zwischenmenschlichen« – der Sphäre der direkten, gegenseitigen Beziehungen zwischen Menschen – und den nur psychischen Beziehungen, inklusive der psychischen Wirkung von indirekten, nicht-gegenseitigen interpersonalen Beziehungen. Ihr Protest gegen die Reduktion aller Schuld auf neurotische Schuld ist daher ein wesentlicher Teil des weiteren Protests gegen die Psychologisierung des Dialogs zwischen Mensch und Mensch und die Reduzierung des Zwischen-menschlichen zum Psychischen. Der Therapeut, der diesem Protest zustimmt, wird die Tendenz – die er vielleicht besaß – alle Schuld zu Schuldgefühlen zu reduzieren, überwinden. Aber als Therapeut muss er sich weiterhin mit Krankheiten beschäftigen, d. h. mit vielen Manifestationen von Schuldgefühlen, die keine Basis in existentieller Schuld haben mögen, oder die die Folge einer unentwirrbaren Mischung von wirklicher existentieller und von »grundloser« neurotischer Schuld sind. Wie kann der Therapeut, der das Ereignis, durch das die Schuld entstand, nur durch den Bericht und die Augen des Patienten und seine eigenen Schlüssen und Vermutungen kennt, in der Praxis eine Unterscheidung treffen zwischen dem Schuldgefühl oder Element in einem Schuldgefühl, das existenziell und dem, das neurotisch 2.
In diesem Band S. 132.
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begründet ist? Das ist keine Frage nach Spezifischem für spezifische Umstände, sondern nach Natur und Ursprung der Kriterien, nach denen man zwischen wahren und scheinbaren Ich-Du Beziehungen und zwischen wahren und scheinbaren Verletzungen und Ablehnungen von IchDu Beziehungen unterscheidet. Buber: Auch auf diesem Gebiete habe ich objektive, allgemein verwendbare Kriterien nicht zu bieten, mit Ausnahme des einen, auf das ich in »Schuld und Schuldgefühle« hingewiesen habe: dass die neurotischen Schuldgefühle ihren wesentlichen Ort im »Unbewussten« haben, das Verhältnis des Menschen zu einer Existentialschuld hingegen seinen wesentlichen Ort im Gedächtnis. Die eigentliche Unterscheidung aber ist nicht allgmeingültig zu umschreiben; der echte Therapeut, der ein partnerisches Verhältnis zu seinem Patienten hat, vollzieht sie je und je, wenn auch natürlich nicht immer, der Pseudotherapeut aber, für den der Patient ein Objekt der Untersuchung und Behandlung ist, verfehlt sie gewöhnlich, zuweilen auf eine recht kunstreiche Weise. Ich kann nur immer wieder auf die Notwendigkeit der Unterscheidung hinweisen; wie sie zu üben ist, das generell zu lehren bin ich nicht befähigt. Ich neige sogar anzunehmen, dass auch andere nicht dazu befähigt sind. Es kommt, meine ich, entscheidend auf den Arzt an, entscheidend auf die menschliche Person.
MBW 10 (02686) / p. 158 / 13.12.2016
MBW 10 (02686) / p. 159 / 13.12.2016
Briefwechsel
Briefwechsel mit Hans Trüb 1 1. Martin Buber an Hans Trüb 2 Heppenheim 18. Oktober 1923 Sehr geehrter Herr, Ich glaube mir nach Ihrem Brief eine einigermaßen zutreffende Vorstellung davon machen zu können, was Sie für Ihren Kreis 3 von mir erwarten. Es ist mir nur noch nicht klar geworden, ob Ihnen eine wissenschaftliche Formulierung des Themas oder eine unmittelbare erwünschter ist. Im ersten Fall wäre der Vortrag etwa »Psychologie und Ontologie« zu benennen, im andern etwa »Von der Verseelung der Welt«. Teilen Sie mir bitte mit, welchen Sie vorziehen. Mit dem vorgeschlagenen Datum bin ich einverstanden.
2. Martin Buber an Hans Trüb Heppenheim 14. August 1925 Lieber Dr. Trüb, Ihre guten Worte haben mir das Herz erfreut. Auch ich denke an Amersfoort 4 gern, wie an einen jungen Baum, dem man vertrauen darf. Heut nur noch, daß ich vorraussichtlich in der ersten Septemberwoche
1. 2. 3.
4.
Der Kommentar zu diesem Briefwechsel siehe S. 279 f. Zu Hans Trüb siehe die Einleitung, in diesem Band S. 14 f., und den Kommentar zu »Heilung aus der Begegnung«, in diesem Band S. 262 f. Gemeint ist der Psychologische Klub Zürich. Buber sprach hier am 1. 12. 1923 »Von der Verseelung der Welt«. Der Entwurf erschien in Nachlese (1965), S. 146 ff. und erscheint in diesem Band als erster Text Bubers. Zum Psychologischen Klub vgl. auch die Einleitung in diesem Band, Anm 14. Vom 20. bis 25. Juli 1925 hielt Buber in Amersfoort eine Reihe von Vorlesungen über »Glauben und Wiedergeburt.«
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Briefwechsel
einige Stunden in Zürich verbringen werde; ganz sicher ist es noch nicht. Ich gebe Ihnen noch Nachricht. Jungs habe ich in Heidelberg nur kurz sprechen können. Es war Konferenzatmosphäre, 5 – die ich nur in der Aussprache über meinen Vortrag durchbrochen habe.
3. Hans Trüb an Martin Buber Zürich 3. Februar 1926 Lieber, verehrter Freund, […] Ich hatte seit Gandria 6 in meiner Praxis überraschend viel zu tun. Wohl jede Woche kam ein neuer Fall hinzu, was bei unserer Arbeit gerade genug ist. Wenn ich auf diese Zeit nun zurückblicke, so fällt mir auf, wie ich von Gandria her eine einzige Frage, die Sie an mich richteten, immer und immer beachten mußte. Als ich Ihnen von jenem einen Fall erzählt hatte, fragten Sie mich zum Schluß, ob die Patientin nicht eigentlich sich vor der »Verantwortung« scheue. Dies Wort von Ihnen gesprochen hat mich seither nicht in Ruhe gelassen. Wohl kommen mir so und so viele andere Aussprüche und Stellen aus Ihren Büchern oft in den Sinn und stehen mir da und dort bei. Aber mit dem Wort »Verantwortung« war es in diesem Moment ganz anders. Es stand irgendwie ganz zentral. Von ihm aus und meiner täglichen persönlichen Erfahrung damit kann ich mir den Gedanken von »Amersfoort« heute vollständig in Erinnerung rufen. Wenn man dies Wort in der ganzen Tiefe seiner Bedeutung sich vergegenwärtigt, d. h. wenn man sich jeden Augenblick, in dem man die Schicksalhaftigkeit seines Daseins empfindet, seines Sinnes bewußt zu werden versucht, so gelangt man mit Notwendigkeit zu der zentralen Fragestellung, wie Sie sie am Schlusse Ihres Vortrags in Holland exponiert haben: »Bist Du bereit, mit Deiner ganzen, gesammelten Person Deiner Berufung standzuhalten? Bist Du bereit, mit nichts anderem als eben nur mit Deiner Person, mit Deinem ›Da bin ich‹ Dein Dasein zu verantworten?« Sie glauben nicht, wie groß für mich in meiner täglichen Arbeit diese Zielgebung und ihre Hilfe ist. Gewiß habe ich instinktiv stets in
5.
6.
Buber hielt auf der III. Internationalen Pädagogischen Konferenz des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung – The New Education Fellowship in Heidelberg den Hauptvortrag, seine »Rede über das Erzieherische«. Siehe: MBW 8, S. 136-154; vgl. Einleitung, S. 15. Buber und Trüb hatten sich im Oktober 1925 in Gandria am Luganer See getroffen.
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Hans Trüb
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dieser Richtung getastet. Aber Ihre zahlreichen Winke haben mir weite Strecken des Weges, den ich betreten hatte, beleuchtet und [waren] mir eine unschätzbare Hilfe. Habe ich Ihnen schon einmal erzählt, wie ich schon vor 5 – 6 Jahren mich von der hergebrachten inhaltlich-psychologischen Analyse am Patienten freizumachen versuchte? Es blieb mir keine andere Möglichkeit. Ich entdeckte eines Tages die entscheidende Bedeutung der apriorischen Wirklichkeit der Beziehung. Ich habe, d. h. wir haben für sie nur wach zu werden – nicht etwa sie selbst zu schaffen. Sie liegt im Dunkel. Ich sah sie als einen Weg, der (eben durch das unbekannte Dunkel) uns verbindend, zwischen uns liegt. Erhellt wird er durch das Ereignis der Begegnung. Dieses Ereignis stellte ich mir als etwas »nicht Psychologisches« d. h. nicht »im« Menschen Liegendes vor. Es liegt zwischen uns. Darum ließ ich von der systematischen psychologischen Analyse am Patienten und führte die Behandlung, indem ich dem Patienten die Analyse meiner »eigenen Erfahrung mit ihm« gab. D. h. ich ließ ihn als Objekt fahren und setzte mich selbst, d. h. »meine Erfahrung mit ihm« als Objekt der Untersuchung ein. Ich sagte mir: Es handelt sich also um das Begehen des Weges, der zwischen uns liegt. Die Hindernisse von hüben und drüben sind dieselben, die Distanz ist die selbe von mir zu ihm wie von ihm zu mir. Wenn ich mit ihm die Schwierigkeiten beheben will, so kann ich sie aus dem, was ich selbst in der Begegnung mit ihm erlebe, heraus erkennen, wenn ich rückhaltlos aufrichtig meine Erfahrung bekenne. An mein Bekenntnis knüpfte ich wohl stets die Frage an den andern: »Und wie stellt es sich Ihnen dar?« Ich nannte dies »Beziehungsanalyse«, hielt darüber vor 4 Jahren einige kleine Referate im Club. 7 So fing es bei mir an zu dämmern, daß wir nicht vom »andern«, sondern von unserer eigenen Person auszugehen haben, daß der Gegenstand unserer Betrachtung nicht der »andere«, sondern die Wirklichkeit der Beziehung sein muß. Psychologische Betrachtungen empfand ich je länger je mehr als etwas »Vorletztes«, als etwas, was wir nur insofern gewissenhaft beachten, um es »lassen« zu können. […] Ich muß täglich eine Art Übersetztungsarbeit leisten von dem, was ich durch Sie empfangen habe, hinüber in die tägliche Erfahrung hinein und zurück, was keine Kleinigkeit ist, da mich jeden Augenblick das Bewußtsein größter Verantwortung dabei beherrscht. Ich finde keine Ruhe bis ich von hüben nach drüben und umgekehrt alles verifiziert habe. Dabei bin ich immer wieder erstaunt und beglückt zu erkennen, wie zuverlässig und 7.
Gemeint ist der Psychologische Klub Zürich. Vgl. die Einleitung in diesem Band, Anm. 14, und den Brief vom 18. 10. 1923.
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gewissenhaft ihr »Bericht« ist. Als das fasse ich das von Ihnen Gehörte und Empfangene vor allem auf. Es sind nicht Auffassungen, von einem erhöhten Standpunkt aufgenommen, gesammelt und geordnet und über die Wirklichkeit hingebreitet, wie ich es so oft in Büchern und bei Menschen getroffen habe. Ich erkenne Ihr Werk als einen wahrhaften, ehrlichen Bericht dessen, was Ihre guten, treuen Augen, auf die Sie sich in jedem – auch im erschütterndsten – Augenblick mit unbedingtem Vertrauen verlassen, je und je gesehen haben. Ihr Blick ist mir unvergeßlich. Er ist durchdringlich und doch in keiner Weise verletzend, streng, unerbittlich und doch von unbeirrbarer Güte! […]
4. Martin Buber an Hans Trüb Heppenheim, 2. Oktober 1928 Lieber Hans, Die Schwierigkeit scheint mir vor allem darin zu liegen, daß Du Dich allzusehr um die Kompositionen, um den einheitlichen Zusammenhang bekümmerst.8 Begib Dich doch ohne diese Rücksicht daran, die »Situationsbilder« zu zeichnen, und Du wirst, wenn Du damit fertig bist, das Wesentliche schon beisammen haben; dann fehlt Dir nur noch Anordnung und die Dir jetzt noch etwas unheimliche Interpretation. Die Anordnung triffst Du am besten so, daß in der Reihenfolge der Bilder die Erfahrung der Grenze immer deutlicher, immer ernster, immer instruktiver wird; daß der Leser also, indem er die berichteten Ereignisse in sich aufnimmt, schon damit einen wirklichen Weg, einen Stufenweg der Erkenntnis, abschreitet. Ist eine solche Anordnung geglückt, dann bedarf es nicht mehr vieler Besprechung, denn der echte Leser trägt selber die Interpretation bei; nötig sind dann nur noch die einleitende Darlegung des Problems, der zum Verständnis der einzelnen Situationsprobleme erforderliche verbindende Text und eine kurze Schlußbetrachtung. Tu Du also nur getrost das Deine, eben vom Nahblick aus, eben der Momenthaftigkeit des Moments gerecht werdend, eben nicht vom Darüber, sondern vom Daran, ja vom Darin her, und scheue Dich nicht, Mal um Mal die Aktualität des Aktus zu bezeugen, der Deinem »Patienten« und Dir, dem »Agenten« widerfuhr. […] 8.
Die Schwierigkeiten beziehen sich auf einen Aufsatz, den Hans Trüb auf Bubers Bitte hin für die Zeitschrift Die Kreatur über seine Erfahrungen mit Patienten schreiben wollte. Vgl. die Einleitung in diesem Band, S. 17.
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5. Hans Trüb an Martin Buber Zürich 5. Oktober 1928 Lieber Martin […] Ich kann nicht alles sagen wollen. Ich muß mich an das halten, was mir wirklich nahe geht, was mich braucht, was ich hier und jetzt aus seiner Eingebundenheit befreien kann. Erst jetzt kann ich den Sinn Deiner Worte erfassen, die Du mir einst in Heppenheim gabst, als ich Dir diese meine Schwierigkeit anvertraute. Du sagtest: Nimm die Gedanken wie Deine Kranken. Nimm sie zu Dir in ihrer Unerlöstheit. Sie brauchen Dich, um frei zu werden. Nimm sie wie Wesen, wie Menschen. Ich muß und will mich darum begnügen, diese eine geschilderte Szene anzuerkennen und will versuchen, herauszuarbeiten, was sie mit ihrem paradoxen Gehalt mit offenbaren möchte. Ich denke, daß auch Du diese Szene als eine der »eigentlichen« Krankengeschichte angehörende anerkennst. Es ist die Schwelle, auf der ich stehe. Hinter uns der alte Tag, vor uns der kommende Tag und dazwischen – dieses jetzt und hier – die Nacht, die Gegenwart. Ich und der Andere. Ich und das Geschöpf. Ich und diese Seele hier. Sie war mir anvertraut. Nicht freiwillig, nur mit Widerstreben lasse ich sie in Seine Hand fallen. Ist sie es fortan, der ich mich anvertrauen werde? Ist sie es, die fortan für mich eintreten wird? Hat nicht von jeher alle Hilfe, die ich ihr geleistet habe, auf diese Schwelle hingewiesen, wo sie – jenseits des Versagens – statt meiner eintreten und handeln wird? Sie, die den Ruf kennt, der an ihr Ohr dringt. Sie, die den Weg zum Vater, den Weg der Kindschaft kennt? In der Richtung solcher Fragen, fühle ich mich gedrängt, mir Rechenschaft zu geben. Ich will mir aber dabei Mühe geben, auch der Tatsache nahe zu bleiben, daß diese Szene im Sprechzimmer des Arztes geschehen ist, damit ich mich ja nicht verflüchtige! […] Für Deinen guten Brief danke ich Dir von Herzen. Du stehst mir bei, über eine Schwelle mich zu wagen, vor der ich noch lange stehen bleiben würde, in der Meinung, daß da nur andere durchgehen dürfen. Gewiß, dies Tun stellt sich mir heute noch als ein folgenschweres dar. Und ich zittere noch und gehe nur tastenden Fußes vorwärts. Doch gehört eben auch das vielleicht hinzu. Wenn ich ihn nur gehe, den Weg! Hab Dank also für Deine Handreichung! […]
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6. Martin Buber an Hans Trüb Heppenheim 30. September 1935 Lieber Hans, […] »Individuation« ist m. E. zunächst ein falscher Terminus: 9 wir entstehen als Individuen, wir werden zu Personen. Das Prinzip der Individuation ist der Philosophie bekannt, seit es eine gibt, und zwar als der Existenzgrund der Pluralität von Einzelwesen, von denen jedes ein Einziges und Einmaliges ist; schon Anaximander10 sah das metaphysische Problem, das hier gestellt ist, da er die Individuation als Schuld – am ungeteilten Einen – und den Tod als Buße betrachtete. Diese Individuation ist natürlich kein anthropologisches, sondern ein kosmologisches Prinzip. Jung meint etwas anderes, nämlich die Personation, die Personwerdung. Auch diese ist ein uraltes Problem. In unserem Zeitalter ist es am bedeutendsten von Kierkegaard behandelt worden, und zwar als Existenzproblem. Für Jung ist es ein Problem der psychologischen Entwicklung, er betritt die Dimension der Existenz gar nicht, es ist als ob statt eines Körpers dessen Projektion auf eine Fläche zum Gegenstand würde. Was mich betrifft, so geht mich, wie Du weißt, schon seit langem die psychologische Projektion nicht mehr erheblich an, nur noch die existentielle Körperlichkeit. Von dieser rede ich eigentlich immerzu, ohne zu sagen, daß ich von Personation od. dgl. rede. Expressis verbis sollte man von ihr – wie schon Kierkegaard wußte – besser nicht reden, weil sie in Wirklichkeit gar kein Thema, sondern nur die verhüllte Vorraussetzung der Themen ist. Im übrigen kannst Du schon im 5. Daniel-Dialog 11 einiges dazu finden, aber in noch unfertiger Weise.
9.
Bezieht sich auf eine Frage Trübs an Buber, welchen Sinn das Prinzip der Individuation für ihn habe. 10. Anaximander von Milet (ca. 610 – 540 v. Chr.), Buber bezieht sich hier auf dessen Schrift Über die Natur, das erste philosophische Werk der Griechen. 11. Gemeint ist das fünfte Gespräch in Bubers Schrift Daniel. Gespräche von der Verwirklichung (1913), das die Überschrift »Von der Einheit. Gespräch am Meer« trägt. Abgedruckt in MBW 1, S. 234-245.
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7. Martin Buber an Hans Trüb Heppenheim 7. Juni 1936 Lieber Hans, […] Was Du mir in Deinem Vortrag berichtest und geschickt hast, hat mich für Dich sehr gefreut. Zugleich geht mir das Ganze gedanklich nah, Jungs Antwort (ist es eine Antwort?) hat mir ein großes Problem neu aufgetan. Das Verhältnis von Analyse und Synthese ist doch ein anderes. Aber das müßte mal von Grund aus erörtert werden. […]
8. Martin Buber an Hans Trüb Heppenheim 13. Juni 1936 Lieber Hans, Der Satz über A.[nalyse] und S.[ynthese] in meinem Brief 12 bezog sich nicht auf Deine Gedanken darüber, sondern auf die Problematik des Ausgleichs zwischen den beiden. Sie scheinen mir eben doch nicht auf einer Ebene zu liegen. Jeder synthetische Akt ist ein faktischer Protest gegen den Anspruch der Analytik, er setzt das Recht der Wirklichkeit gegen das ihres Symbolik-Ersatzes ein, und jenes ist eben doch das höhere – die Wirklichkeit muß der Symbolik Raum gewähren und nicht umgekehrt. Die Synthese vertritt das Ganze, die Analyse den Einbruch, jene das Sein, diese dessen Fraglichwerden. Für Veröffentlichung bin ich sehr. 13 Die Anmerkungen mache ich so bald wie möglich. […]
9. Hans Trüb an Martin Buber Zürich 17. Juni 1936 Lieber Martin, Ich bin sehr froh über Deine ausführliche Erklärung betr. Analyse und Synthese. Hat nicht die Analytik eine ganz analoge Stellung wie der 12. Buber verweist auf seinen Brief an Trüb vom 7. Juni 1936. 13. Gemeint ist Hans Trübs Schrift Psychosynthese als seelisch-geistiger Heilungsprozeß, Zürich und Leipzig 1936.
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Staat = status? So wie Du s. Z. davon sprachst? Die Analyitk rückt genau so weit vor, als die Synthetik weicht und ihr »Raum gewährt«. Doch frage ich: wie weit ist dies »Raum gewähren« bewußt? Wird die Synthetik sich ihrer selbst als des Positivs erst bewußt – an dem Vordringen ihres Negativs der Analytik? – Ich habe Jung und Pannwitz auch je ein Exemplar der »Korrektur-Abschrift« 14 zukommen lassen. Pannwitz schreibt mir darauf: »Wenn Jung, Buber und ich Anmerkungen machen – ich tue es selbstverständlich – so werden Sie selber Gelegenheit bekommen, sich aufrecht zu erhalten. Zum Mindesten entsteht dann etwas ganz einzigartig Interessantes! Hoffentlich nimmt Ihnen nicht jeder von uns ein anderes Stück von Ihnen selber weg! Doch im Ernst: ich glaube wirklich so ist es und wird es das Beste!« – Ob Pannwitz sich denkt, daß die Anmerkungen mit veröffentlicht werden? Wäre das u. U. zu wünschen? Was meinst Du? […]
10. Martin Buber an Hans Trüb Heppenheim 25. Juni 1936 Lieber Hans, Ich komme erst heute dazu, Dir auf Deinen Brief vom 17. zu antworten. Dein Vergleich der Analytik mit dem »Staat« ist sehr treffend. Die Frage nach dem Bewußtwerden der Synthetik ist eine recht delikate. Alles Bewußtwerden ist zwiespältig, gefährlich, nur aus der Tiefe der Verantwortung zum Heil zu wenden, – und dennoch, der Weg geht nur über diese Krisis. In der Tat, die Synthetik wird sich ihrer selbst erst am Vordringen des Widerparts bewußt – aber eben dessen wegen muß sie es werden. Ich werde die Anmerkungen vielleicht erst in den Ferien machen können – falls es Dir aber eilt, will ichs doch unternehmen: ich bin nur gerade tief in der Arbeit. Am angenehmsten wäre es mir ja, wenn ich Etwaiges von Jung und Pannwitz vorher kennen lernen könnte. Eine Veröffentlichung der Anmerkungen halte ich nicht für ratsam; meine werden dafür gewiß nicht geeignet sein. […]
14. Vgl. Anm. 13.
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11. Martin Buber an Hans Trüb Heppenheim 31. Oktober 1936 Lieber Hans, […] Welcher Art war der Rückschlag in Deiner Praxis? Kannst Du etwas darüber sagen? Vielleicht kann ich Dir dann einen »Wink« geben: ich weiß, auf anderm Gebiet freilich, einiges vom möglichen Nutzen der Rückschläge. Mein »Verdruß« 15 dauert noch an, immerhin besteht eine Hoffnung auf baldige Überwindung. Das Problem, das ich für mein Buch meine, ist das Verhältnis zwischen Sonderwelt und Gemeinwelt etwa bei Schizophrenen, die doppelte Bewußtseinsreihe usw. Das Beste darüber steht doch wohl immer noch bei Bleuler; 16 aber es befriedigt mich nicht. […]
12. Hans Trüb an Martin Buber Zürich 3. November 1936 Lieber Martin, Ich will versuchen, Dir über den »Rückschlag in meiner Praxis« einiges zu sagen. Zuerst eine allgemeine Beobachtung: vielleicht war es immer schon so, jedenfalls aber fällt es mir seit Jahren vermehrt auf, daß meine Arbeit in der Praxis in Schüben anwächst; ich kann dann die Fülle des mir Aufgegebenen eine Zeit lang halten, bis sie auf einmal auseinanderbirst und als Stückwerk herumliegt. Es ist eine verteufelte Geschichte. In einer frischen Ausgangssituation ziehe ich die Menschen an, sie kommen von nah und fern, und handkehrum ist mein Wochenprogramm gefüllt und es gibt vieles anzuhören und zu beantworten und viel zuzugreifen. Ich bin zunächst ganz bei mir selbst und nötige unwillkürlich dadurch auch den Anderen zu sich selbst zu kommen. In dieser Zeit ist alles richtig an seinem Platz und es geschieht viel Hilfreiches und ich kann mich dann redlich freuen auch am objektiven Ergebnis meiner Bemühungen. Das Auseinanderfallen ist gewiß nicht einfach mit Ermüdung zu erklären. Ich will Dir grad heraus sagen, wo ich das Übel vermute, und es ist gewiß gut, daß ich mich in dieser Schwierigkeit zu Dir hin ausspreche; 15. Die Entziehung von Bubers Paß durch nationalsozialistische Autoritäten. 16. Eugen Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie, Berlin, 1916.
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denn ich weiß, daß Du diese Schwierigkeit in Deiner Arbeits- und Lebensweise schöpferisch gelöst hast und mir sicher einen Wink geben kannst. Ich sehe erst jetzt, wo ich Dir Rechenschaft ablegen will, meine Lage ist eindeutig klar: die Art meines Einsatzes und meiner Haltung in der Arbeit am Kranken ist ganz und gar im Blei. Es fehlt hieran gar nicht. Im Gegenteil: ich bin im unmittelbaren Tun und Wirken mir selbst, d. h. meinem geistigen Fassungsvermögen, weit voraus. Es geschehen täglich in den Begegnungen mit den Leidenden kleine Wunder wahrer Erkenntnis, wirklicher Entscheidung, Umkehr und Bewährung und es ist gerade diese Fülle positiver Geschehnisse, an denen ich in der Folge zu Fall komme. Ich ersticke jeweils an der sich häufenden Fülle positiver Erfahrung. Ich bin tagtäglich in der Verschwiegenheit der ausschließlichen Begegnung mit dem einzelnen Andern Blutszeuge geschehender Erneuerung und als Einzelner, der solches mit Vielen erlebt, erlebe ich dann plötzlich den »Rückschlag«. Die offenbarungsträchtige Erfahrungsfülle, die in ihrer Bedeutung weit über die Tragfähigkeit des einzelnen Menschen hinausreicht, kann ich nicht für mich behalten wollen. Sie verschüttet mich schließlich und dann erfolgt ein Umschlag im inneren Kräfteverhältnis. Ich bin mit einem Schlag in Ohnmacht versetzt und begreife den Sinn dessen, was ich erlebte, auf lange Zeit nicht mehr. Ich erlebe in dieser Zeit faktisch auch nichts mehr, denn ich bin dann völlig abgesperrt und ausgeschlossen. Meine Hautkrankheit ist wohl ein Symptom dieser Verwicklung. Ich nannte sie auch schon die »Tunnelkrankheit«. Ich denke mir, daß Menschen, die dauernd »unter Tag« arbeiten, solche Krankheit – Überempfindlichkeit gegen Sonne und Licht – bekommen müssen. Ich sehe meinen Weg der letzten 12 Jahre: ich habe unter äußerster Entsagung auf den geistigen Allgemeinzusammenhang mich zu dem einsamen und verborgenen Ort des geeinzelten Menschen durchgeschlagen – auf gut Glück, ob ich je den Rückweg wiederfinde – und nun, wo ich mich tatsächlich mit dem isolierten einzelnen Menschen verständigen kann, finde ich nicht zurück. Ich fürchte die Indiskretion. Ich scheue das Licht des Tages und erschrecke vor dem eigenen Wort, das aus der Stille der »ausschließlichen Zweisamkeit« in den großen Raum der »Gemeinwelt« hinausbrechen will (damit hängt übrigens meine Schwerhörigkeit zusammen, die nur funktionaler Art ist, wie mein Ohrenarzt mir sagt – ich muß mich zwangsläufig taub machen gegen das Wort der eigenen Tiefe, weil es droht, in den großen Raum hinausfahren zu wollen). Dies ist meine wunde Stelle. Ich kann nur ganz langsam mich wieder ans Licht gewöhnen und mit Stimme und Ohr muß ich vorsichtig jetzt
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mich vorwärts wagen. Ich weiß ja, daß der Widerhall da ist, doch muß ich mein Erschrecken davor ernst nehmen, um »Maß und Mitte« nicht zu verlieren. M. a. W.: ich weiß heute, daß es im Interesse meiner im Stillen getätigten Arbeit und auch der Patienten sogar ist, daß ich den Weg und die Form der gemeinverständlichen Mitteilung nun finde. Was in den diskreten Begegnungen im Sprechzimmer sich regt und reckt, will doch endlich auch im Angesicht dieser Welt sich bewahrheiten und bewähren. Ich habe mich von den »Sonderwelten der Vielen« einfangen und zum Schweigen bringen lassen. Nun aber sehe ich, daß ich erst eigentlich meine eigene Sonderwelt um jener Vielen willen zur Gemeinwelt hin aufschließen – oder als Gemeinwelt offenbar werden lassen? – muß. Hier werden nun auch rein technische Fragen aktuell. Wie den Tag einteilen, damit ein Rhythmus aufkommt? Wie lerne ich umschalten, hinüberleiten: aus der Sondererfahrung und –mittelung in die Allgemeinverständlichkeit. Ich muß mich nun fast davor bewahren, daß zu viel Positives geschieht, was ich dann liegen lasse bis es mich angreift. Ich muß lernen, es täglich aufzunehmen und zu gestalten, sonst läuft es mir nach und schlägt mich schließlich für meine Blind- und Taubheit auf den Kopf. Da nehme ich mir gerne Dich nun als Vorbild im ganz Konkreten und Alltäglichen: Ich muß vorzu wegarbeiten, was sich anhäuft, damit ich nicht mehr darunter gerate und dann ersticke – mit der Ausrede, ich sei übermüdet. So, nun hast Du einen Anhaltspunkt und ich bin Dir schon für Deine eindringliche Anfrage dankbar und in der Folge auch um jedes Wort, das Du mir »zuwinkst«. […]
13. Martin Buber an Hans Trüb Heppenheim 7. November 1936 Lieber Hans, Du schreibst: »… als Einzelner, der solches mit den Vielen erlebt …«. Ich lege den Akzent auf »den Vielen«. Wer so wie Du (lebensmäßig, unter Einsatz der Person) mit vielen zu tun hat, muß, wenn sie sich nicht zu einer einheitlichen Welt zusammenbringen lassen (und das lassen sie in diesem Fall nicht), jeden einzelnen objektivieren – ungeachtet aller Subjektivitätsverknüpfung –, um nicht »verschüttet« zu werden. Als technisches Beispiel einer solchen Objektivierung nenne ich: Anlage eines Dossiers für jeden einzelnen, Schriftlichmachung aller Details, materielle
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Sonderung; innerhalb des Dossiers dann aber Zweiteilung: Material und Deutung, und in der Deutung ebenso fortschreitend jede Sinn-Einsicht eintragen. Das klingt arg technisch, besagt aber einfach die geordnete Geistes- und Arbeits-Welt. Nun führst Du ja natürlich Buch über alle; aber ich vermute, daß da etwas nicht stimmt und infolge davon die Seele überbeansprucht wird, weil sie auch das noch liefern soll, wozu es ihrer nicht bedarf. – Das ist mal erst ein probates Hausmittel; weitere Behandlung erfolgt nach Information über die Sachlage. […]
14. Martin Buber an Hans Trüb Jerusalem 4. August 1946 Lieber Hans, Dein Brief vom 28. 7. kam überraschend schnell, geradezu »normal«, und hat mir, trotz der Nachrichten über die Krankheit – die bald ganz zur konstruktiv wirkenden Erinnerung geworden sein möge! –, wohlgetan. Besonders wertvoll war mir, was Du über den Durchbruch der Äußerung in Dir schreibst. Es kommt jetzt für Dich fundamental darauf an, daß Du den zu erwartenden Einflüsterungen des bösen Geistes Ungetan und natürlich auch den wirklichen, ebenfalls zu erwartenden Schwierigkeiten standhältst. Die Praxis wird durch die Erfahrung des Standhaltens noch mehr als durch die gewonnenen Inhalte der Ideenarbeit gefördert werden. Ich bin in der letzten Zeit noch näher an die Probleme, die mich beschäftigen, herangekommen. Es handelt sich, wie ich Dir schon andeutete, um das Verhältnis zwischen der uns so geläufigen »kosmischen« Sinnenwelt und der »chaotischen« Welt, die im Traum, im Rausch, in der Psychose erfahren wird. Wohlgemerkt, es handelt sich nicht um eine Frage des Erlebens, sondern um eine – ebenso gewichtige wie unheimliche – des Seins selber. Alles Psychologische kann hier also nur Hilfe sein, aber eine unentbehrliche. Ich brauche sie zu diesem zweiten und anscheinend letzten Teil meiner Philosophie weit mehr als ich sie zum ersten brauchte. 17 17. Zu diesem »zweiten Teil« ist es nicht gekommen; Buber hat seine im Briefwechsel mit Trüb mehrfach erwähnten Studien über Grenzzustände der menschlichen Seele nicht in einer Schrift zusammengefaßt. Nur Schuld und Schuldgefühle führte er aus Anlaß der Vorlesungen an der School of Psychiatry in Washington 1957 aus. Allerdings zeigen das öffentliche Gespräch mit dem Psychologen Carl Rogers (ins Deutsche übersetzt in diesem Band, S. 236-258) und das Seminar über »Das Unbewußte« (vgl. in diesem Band, S. 217-235) Bubers tiefdringende Kenntnis der behandelten Probleme. Auch der Vortrag Dem Gemeinschaftlichen folgen von 1956 (ebenfalls in diesem
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Inzwischen habe ich mich mit Binswanger in Verbindung gesetzt und einige Auskunft sowie eine Abhandlung19 von ihm erhalten. Dich bitte ich, mir, sobald Du kannst, – ich möchte versuchen, das Buch bis Winterende im wesentlichen abzuschließen – die diesbezüglichen Aufzeichnungen zu schicken, wie sie sind; ich werde mich schon zurechtfinden. Ich bin gewiß, daß Du für das Grundproblem – Zusammenbruch der kosmischen Sicherheit im buchstäblichsten Sinn – spezifisches Verständnis hast. […] PS. Ein hiesiger jüngerer Philosoph hat eine interessante Arbeit über Jung und mich geschrieben, deren (deutsches) Manuskript ich Dir gelegentlich senden will. 20
15. Martin Buber an Hans Trüb Jerusalem 27. August 1946 Lieber Hans, Dein Brief vom 19. mit der zentralen Frage macht mir besonders stark fühlbar, daß eine schriftliche Auskunft in solchen Fällen nur ein Ersatz für eine mündliche sein kann. Ich will aber mein Bestes tun, um auf diesem Wege Dir eine Klärung zu erleichtern, denn es liegt mir vital daran, daß Du die einfachen großen Linien Deiner Sache findest. […] Welt ist doch offenbar zunächst das, woran sich die Seele »stößt«. Für den Säugling ist nicht die Mutterbrust, die ihm zugehört, sondern die Schmerz verursachende Tischkante »Welt«. Welt ist zunächst, d. h. im »Ausgangszustand« des Menschen, das, was sich so nachdrücklich als »anders als ich« dokumentiert, daß ich es in meine Seele nicht einbeziehen, in sie nicht »eintragen« kann. Wahrnehmung von Welt als Welt erfolgt immer wieder durch Widrigkeit, durch Widerstand, durch Widerspruch, durch »Widersinn« – der überwunden werden muß, ehe es zu einem Einvernehmen oder gar zu einer Freundschaft, Liebschaft mit der Welt kommen kann. Ehe mir die Welt als nicht-mein gegenwärtig ge-
Band, S. 106-126), befaßt sich mit dem Verhältnis zwischen der »kosmischen« Sinnenwelt und einer jenseits ihrer Ordnung erfahrenen Welt. 18. Ludwig Binswanger, siehe unten den Briefwechsel mit Binswanger. 19. Vermutlich meint Buber folgende Schrift: Ludwig Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, Zürich 1942. 20. Arie Sborowitz, Beziehung und Bestimmung. Die Lehre von Martin Buber und C. G. Jung in ihrem Verhältnis zueinander. Vgl. die Einleitung in diesem Band, S.17.
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worden ist, vermag sie mir nicht mein zu werden. Dieser Tatbestand, daß die Welt nicht mein »ist«, aber mein »werden« kann (natürlich nicht schlechthin, sondern nur je und je in echten Begegnungen), und daß sie auch dann, wenn sie solcherweise mein wird, nicht mein als in-mir, sondern mein als mit-mir ist, dieser Tatbestand ist, wie durch manche andern modernen Konzeptionen, so auch durch die des »Unbewußten« verdunkelt worden. Als psychologischer Hilfsbegriff – der mit Vorsicht und Zurückhaltung zu handhaben, immer wieder mit der Wirklichkeit zu konfrontieren, stets dynamisch und nicht statisch, als Prozeß und nicht als Vorhandenheit zu fassen ist – ist das Unbewußte anzuerkennen; es prätendiert aber ungeheuer viel mehr, es will durch die Fiktion der »Welt in der Seele«, also eine Welt die mein-in-mir- ist, die Möglichkeit des »Lebens der Seele mit der Welt«, also des jeweiligens Erscheinens einer Welt, die mein-mit-mir ist, verdecken. Ich kann Dir nicht raten, theologische Termini in der Arbeit zu verwenden. »Einwohnung« (so richtiger als »einwohnende Herrlichkeit«) 21 setzt einen Einwohnenden oder zumindest ein Einwohnendes, im Sinne von: Wohnung Nehmendes, voraus. Damit aber würdest Du Einsprüchen ein Tor öffnen, die sich vermeiden lassen. In einer grundsätzlichen psychologischen Arbeit sollten theologische Termini nicht anders als am Rande, gewissermaßen als letzter Ausblick in eine psychologisch nicht mehr determinierte Sphäre verwendet werden; eine psychotherapeutische Arbeit ist aber notwendigerweise eine psychologische in diesem Sinn. Innerhalb einer solchen kann wohl nur vom Seienden Geheimnis oder vom Wesenhaften Geheimnis o. ä. die Rede sein, d. h. vom Seiensgeheimnis nicht als Funktion unserer Erkenntniswelt (so also daß es für eine vollkommenere Erkenntnis weniger geheim wäre), sondern als Geheimnis in sich selber, seinem Wesen nach (so also daß es auch für die vollkommenste Erkenntnis, die von außerhalb seiner selbst kommt, ungemindertes Geheimis bliebe). Diesem Geheimnis gegenüber ist Apperzeption unmöglich, aber Kontakt mit ihm, Begegnung mit ihm, Umgang mit ihm ist möglich, und eben darin konstituiert sich das Leben der Seele mit der Welt. Wodurch aber all dies, von unsrer Seite aus, möglich ist, dies aber darf als das eingeborene Du bezeichnet werden. Soviel fürs erste. Schreib mir nur möglichst präzis, worüber Du etwa noch genauere Auskunft wünschest. Blätter 1 – 13 habe ich leider schon zurückgeschickt. Was Du sonst noch schickst, möchte ich völlig Dir überlassen; Du sollst nur wissen, daß hier stets zwei Ohren (durch die lesen-
21. Die Schechina.
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den Augen einigermaßen vertreten) und ein Mund (durch die schreibende Hand nur notdürftig vertreten) für Dich da sind. 22 PS. Vermutlich wird Dir die Arbeit von Dr. Sborowitz, die Du wohl inzwischen erhalten hast, von Nutzen sein, wiewohl sie m. E. zu weit nach der Seite von Jung neigt: sie geht von den wirklichen Problemen aus.
16. Martin Buber an Hans Trüb Jerusalem 9. September 1946 Lieber Hans, […] Hoffentlich kann ich bald ausführlich schreiben; doch möchte ich Dir schon heute etwas Zusätzliches im Hinblick auf Deine Arbeit sagen. Hast Du die Schrift von Jung und Kerényi »Einführung in das Wesen der Mythologie« 23 gelesen? Sie ist für den unbefangenen Leser sehr lehrreich. Angeblich befassen sich die beiden Verfasser mit der selben Sache, nur von verschiedenen Seiten aus; in Wahrheit aber meint K. mit Mythen etwas, was aus dem Kontakt mit der Weltwirklichkeit hervorgeht, als Erschließung und Eingestaltung von Geheimnissen dieser Weltwirklichkeit, wogegen J. darunter etwas versteht, was sozusagen parthenogenetisch in der Seele entsteht und letztlich nichts anderes zu sagen, nichts anderes zu bedeuten vermag als eben Prinzipien und Mysterien der Seele selber. Die Anschauung J.s ist, jedenfalls praktisch, Seelenimmanenz. Ein andermal mehr darüber. Hast Du übrigens die Schrift von Sborowitz erhalten und wie denkst Du darüber?
17. Hans Trüb an Martin Buber Zürich, 10. Oktober 1948 Lieber Martin, […] Vor ca. einer Woche schickte ich an Sborowitz meine ersten beiden Kapitel per Luftpost. Ich hoffe, daß sie gut bei ihm eingetroffen sind. Ich bat, daß er sie dir bald zum Lesen bringe, wenn das möglich ist. […] Ich bin sehr gespannt, was ihr beide zu dem bisher Elaborierten sagen 22. In der Einführung seines Buches Vom Selbst zur Welt. Der zweifache Auftrag des Psychotherapeuten, Zürich 1947, verhandelt Trüb das Verhältnis von Mensch und Welt; er hatte Buber um seine Meinung gebeten.. 23. Amsterdam und Leipzig 1941.
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werdet. Es wird mir gewiß wieder etwas vorwärts helfen. Jetzt mühe ich mich mit dem letzten, dem »kasuistischen« Kapitel: Anthropologische Psychotherapie. Ich habe nach langem Mühen einen guten Anfang gefunden. Es wird sich im Rahmen dieser Schrift zwar noch nicht um ausführliche »Kasuistik« handeln können. Das würde zu weit führen. Ich kann nur einen Anfang mit kleinen charakteristischen Situationen, resp. mit ihrer Beschreibung, machen, um damit den wesentlichen Umschlag in der Psychotherapie zu veranschaulichen. Ich möchte im übrigen dieses kleine Buch 24 mit »Psychotherapie an der Wende?« betiteln. Was meinst Du dazu? […]
18. Hans Trüb an Martin Buber Zürich 2. Oktober 1949 Lieber Martin, Hab meinen herzlichen Dank für Deinen guten schönen Geburtstagsbrief, der mich tief beglückt. Dieses Jahr hat mir viel Gutes gebracht, dazu rechne ich nicht zuletzt den Besuch von Ari? Sborowitz, der mir durch sein tiefes Interesse an meinen geistigen Gestaltungsversuchen innerlichst zu Hilfe gekommen ist. Er ist ein lieber Mensch, ist mir als solcher recht ans Herz gewachsen. Seit er weg ist, bin ich wie nie zuvor unaufhaltsam an der Arbeit. Ich habe alles Bisherige noch ein letztes Mal umgearbeitet, nachdem ich die Kapitel betitelt hatte und diesen Titeln entsprechend sich Umstellungen und Amplificationen als notwendig erwiesen. Sbo. wird Dir gelegentlich Einblick in alles geben. Jetzt mache ich mich an die Fertigstellung des Schlußteils und hoffe bis etwa Ende Okt. oder Nov. abzuschließen. […] Du wirst wieder von mit hören, sobald ich aus meiner Bucharbeit heraus bin. 25
24. Das Buch erschien 1951 nach Trübs Tod unter dem Titel Heilung aus der Begegnung. Buber schrieb ein Geleitwort mit demselben Titel, abgedruckt in diesem Band S. 54-58. Vgl. den Kommentar, in diesem Band, S. 262 f., sowie die Einleitung, oben S. 16 f. 25. Hans Trüb verstarb am 8. 10 1949 unerwartet an einem Herzschlag.
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Briefwechsel mit Hermann Menachem Gerson, Ronald Gregor Smith, Rudolf Pannwitz und Ernst Michel1 19. Martin Buber an Hermann Menachem Gerson z. Zt. Sils (Engadin) 30. August 1928 Lieber Herr Gerson, Ich kann jetzt keine Briefe schreiben, Ihnen daher vorläufig nur dies sagen, daß es in Fällen wie der von Ihnen angeführte darauf ankommt, der Ratio mit rationalen Mitteln die Erfahrungen ihrer eigenen unaufhebbaren Grenzen aufzunötigen – mehr als das ist hier weder erforderlich noch aber möglich. Ich hoffe bald einmal Zeit zu finden, auf die Freudsche Schrift zu antworten2 ; ich habe es schon seit einer Weile vor, komme aber bisher nicht dazu. […]
20. Martin Buber an Hermann Menachem Gerson Heppenheim 23. April 1937 Lieber Hermann Gerson, Natürlich bin ich nicht »gegen eine Analyse als therapeutisches Mittel« 3 – das hätte doch gar keinen Sinn! Es geht aber z. B. darum, daß bei Erkrankungen der »Seele« der Begriff der Therapie selber zweideutig und problematisch und klärungsbedürftig wird. Wenn X statt seines fleischernen Herzens, 4 das ihn unerträglich schmerzte und peinigte (u. d. h. mahnte, stachelte usw.) ein zuverlässiges Uhrwerk bekäme, das gar nicht mehr weh täte, wäre er »geheilt«? Geben wir nun, mein Lieber, der kritischen Frage auf allen Gebieten Raum, mir solls recht sein! Aber Raum auch der Kritk der Kritik! Es gibt 1. 2.
3. 4.
Der Kommentar zu diesem Briefwechsel siehe S. 280 f. Das ist nicht erfolgt. Vgl. aber einen früheren Brief von Gerson, in dem er Freuds Schrift »Zukunft einer Illusion« (Wien, 1927) diskutiert, sowie Bubers Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse in Schuld und Schuldgefühle (in diesem Band S. 127-152), im Geleitwort zu Hans Trübs Schrift Heilung aus der Begegnung (in diesem Band S. 54-58) und in Das Unbewußte (in diesem Band S. 217-235). So hatte sich Buber in einer Auseinandersetzung mit Gerson über die Bedeutung der Psychoanalyse geäußert. Hinweis auf Ez 11, 19; 36, 26, wo vom fleischernen Herz als Gegensatz zum steinernen Herz die Rede ist.
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Briefwechsel
keine so schlimme Dogmatik wie eine Kritik, die sich dogmatisch benimmt. Und manche (nicht jede) Psychoanalytik tut das schon mit ihrem angeblich der Nachprüfung unbedürftigen Anspruch, die Psyche wie ein Raumding €nalÐein 5 zu können. Mir ist es doch gerade um Kritk der verwendeten Begriffe und Prämissen zu tun. […]
21. Martin Buber an Ronald Gregor Smith 6 Heppenheim 28. Dezember 1936 Sehr geehrter Herr Smith, […] Einige Anwendungen auf psychologische Probleme finden sich in den Arbeiten von Hans Trüb »Individuation, Schuld und Entscheidung. Über die Grenzen der Psychologie« in der unter dem Titel »Die kulturelle Bedeutung der komplexen Psychologie« 1935 erschienenen Festschrift für C. G. Jung und »Psychosynthese«, 1936. […]
22. Martin Buber an Rudolf Pannwitz Heppenheim 1. Januar 1937 Lieber Freund, […] Ich will das Jahr mit diesem Brief beginnen. […] Sie haben gewiß recht mit Ihren Bemerkungen zu Trüb; 7 doch scheint er die Bezogenheit auf Jung nun doch zu überwinden. Was mir an ihm das Wichtige und über die Mängel seiner Begrifflichkeit immer wieder Hinausdeutende ist, ist daß er lebensmäßig vorweg mehr gehalten hat als er nun hinterher verspricht; das legt eine Aura um den in sich unzulänglichen Gedanken. – Ihre Besprechung ist sehr aufschlußreich.8 […] 5. 6.
7.
8.
Griech., auflösen. Ronald Gregor Smith (1913-1968) hatte Buber um bibliographische Informationen zum Einfluß von »Ich und Du« auf Philosophie allgemein, auf Protestantische Theologie im speziellen und auch zu dessen Anwendungen auf psychologische Probleme gebeten. Dieser Brief ist Bubers Antwort zu der letzten dieser Bitten. Pannwitz hatte sich in zwei Briefen vom 2. und 5. Dezember 1936 ausführlich über Hans Trüb geäußert; er sei Praktiker und werde die von ihm angestrebte theoretischsystematische Durchführung seiner Gedanken, die über die Psychoanalyse C. G. Jungs hinausführen sollte, nicht leisten können; er habe Jung gegenüber eine Art Ödipus-Komplex. Vermutlich ist die Besprechung von Trübs Schrift Psychosynthese als seelisch-geistiger Heilungsprozeß gemeint.
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H. M. Gerson, R. G. Smith, R. Pannwitz und E. Michel
23. Martin Buber an Ernst Michel Jerusalem 23. September 1949 Lieber Ernst Michel, Vielen Dank für die Übersendung Ihrer neuen Arbeiten, die ich mit großem Interesse und Gewinn gelesen habe. Nur ein Bedenken habe ich anzumelden, ein gewichtiges freilich, wie mir scheint, gegen Ihre sehr wertvolle Hysterie-Abhandlung. 9 Soweit ich verstehe, ist sie für Neurologen und Psychotherapeuten im allgemeinen bestimmt, nicht bloß für solche, die gläubig sind. Wie kann aber den Nichtgläubigen zugemutet werden, daß sie das Angerufensein von der Transzendenz her in die Voraussetzungen der Erläuterung – die doch eine ihnen und dem Autor sowie dessen gläubigen Lesern gemeinsame sein soll – aufnehmen? Sie, E. M., sagen, diese Bestimmung sei durch Erfahrung gewonnen – aber eben nicht durch ihre Erfahrung; sie werde durch die tägliche Wirklichkeit bestätigt – aber eben nicht durch ihre! Denn ihre Erfahrung ist nun einmal bis auf weiteres keine Glaubenserfahrung und ihre Wirklichkeit keine Glaubenswirklichkeit, das Angerufenwerden von der Transzendenz her wird aber nun einmal im Glauben allein erfahren und in der Wirklichkeit immer neu wiedergefunden. Die Nichtgläubigen verstehen ihre Individuation von ganz anderen Voraussetzungen aus. Sagen Sie aber, sie seien nicht wahrhaft individuiert (»in einer typisierenden Art verlaufendes Leben«), so zerstören Sie die Grundlagen der Verständigung. Es handelt sich bei dieser Differenz zwischen Rufvernehmenden und Nichtvernehmenden ja nicht um eine im Bereich des Willens (James’ »Wille zum Glauben«)10 liegende, sondern um eine Grundtatsache des Menschentums. Anderseits: ist es nicht eine essentielle Pflicht des Forschers und Deuters seelischer Erkrankungen, seine Einsichten allen Zuständigen, so Gläubigen wie Ungläubigen, vorzulegen? Oder ist etwa gemeint, daß die Ungläubigen nicht zuständig seien? Das würde aber einen Abgrund zwischen ihnen und den Gläubigen aufreißen und für die gesamte Sphäre der Verständigung über Krankheit und Heilung der Seele verhängnisvolle Folgen haben. Auch ist es unleugbar, daß Menschen, die in diesem Sinn, dem des Rufvernehmens, ungläubig sind (wiewohl sie in irgendeinem anderen Sinn »an 9.
Ernst Michel, Zur anthropologischen Deutung der Hysterie. Ein Beitrag zur Neurosenlehre, in: Studium Generale, 3. Jg., Heft 6 (1950). 10. William James, The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy, New York, 1897; deutsch: Stuttgart 1899.
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Gott glauben« mögen), auf Neurotiker heilsame Wirkungen auszuüben vermögen. Und darüber hinaus, wie weit ist es überhaupt zulässig, die Transzendenz in eine nicht schlechthin ontologische, sondern wesentlich anthropologisch-psychologische Darlegung einzubeziehen? Sie werden mir sagen, nicht sie selber werde ja einbezogen, sondern das Von-ihr-her. Aber wie weit ist dies möglich, ohne sie selbst einzubeziehen? Schon dadurch, daß Sie sie als Transzendenz bezeichnen, daß Sie von ihr erklären, sie sei eben dies und nichts in der Immanenz Vorfindliches, beziehen Sie sie ein, die uns ja eben doch nur im Glauben präsent, nicht aber unsrer Betrachtung des Lebens kranker oder gesunder Menschen gegeben ist. Gewiß, ich darf und soll mich zu Gottes Anruf als zu dem, was von ihm her geschieht, bekennen, mehr noch, ich darf und soll dies als die Wahrheit bekennen, aber darf ich in einer Untersuchung menschlicher Zustände und ihrer Behandlung daraus folgern wie aus einem bewiesenen Satz? Diese meine Fragen sind keine rhetorischen, es geht mir um wirkliche Probleme, schwere, überschwere Probleme, die wir nur eben so schwer nehmen müssen, wie sie sind. […]
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Briefwechsel mit Ludwig Binswanger 1 24. Ludwig Binswanger an Martin Buber Kreuzlingen 7. Februar 1933 Sehr verehrter Herr Professor! Ich danke Ihnen herzlich für die freundliche Übersendung ihrer »Zwiesprache«, die ich in einem Zug gelesen habe. Da ich »Ich und Du« gut kenne, war mir die Lektüre nicht schwierig. Den größten Eindruck hat mir der zweite Abschnitt gemacht, und hier wiederum die Abschnitte vom Denken, dem Eros und der Gemeinschaft. Hier schwinge ich ganz und gar mit, dasselbe gilt von dem Gespräch mit dem Gegner. Da ich schon früh zur Leitung eines »großen Betriebs« berufen wurde, zugleich aber Arzt bin, und gern immer mehr Mensch werden möchte, ist der hier angezeigte Weg der Weg meiner totalen Existenz, also nicht nur der denkenden und strebenden, sondern auch der täglich »am eigenen Leib« erfahrenen. […]
25. Martin Buber an Ludwig Binswanger Heppenheim 23. Oktober 1936 Lieber Herr Binswanger, Für Ihre letzte Gabe bin ich Ihnen besonders dankbar. 2 Die »anthropologische Kritik«, namentlich was Sie S. 295 f. sagen, bietet endlich jene genaue Gerechtigkeit dar, die mir bisher Freud gegenüber gefehlt hat. Demnächst geht Ihnen ein kleines Buch 3 von mir zu, das einiges zur Kritik Kierkegaards beitragen will; es befaßt sich mit der Kategorie des »Einzelnen«. In einem andern Buch, an dem ich arbeite, handelt ein Abschnitt von der Metaphysik des Wahnsinns. Gibt es in der neuesten psychiatrischen Literatur etwas, was mir hinsichtlich konkreten Materials oder sonst nützlich sein könnte? Es geht mir hauptsächlich um das Verhältnis der 1. 2. 3.
Der Kommentar zu diesem Briefwechsel siehe S. 281. Vgl.: Ludwig Binswanger, »Freuds Auffassung des Menschen im Lichte der Anthropologie«, in: Nederlands tijdschrift voor de psychologie en haar grensgebieden, Jahrgang IV (1936), Nr. 5/6. M. Buber, Die Frage an den Einzelnen, Berlin: Schocken 1936. Erscheint in MBW 4.
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»irrealen« zu der »realen«, richtiger der Sonderwelt zur Gemeinwelt beim Schizophrenen und beim Paranoiker. Es sind da einige Probleme, die ich gern einmal mit Ihnen besprechen würde.
26. Ludwig Binswanger an Martin Buber Kreuzlingen 17. November 1936 Lieber Herr Professor! Ich danke Ihnen sehr für die freundliche Übersendung Ihres neuen Buches, 4 das ich sofort mit großer Freude und Interesse gelesen habe. Ich vermag nicht nur überall mit Ihnen zu gehen, sondern sehe in Ihnen auch einen Bundesgenossen nicht nur gegen Kierkegaard, sondern auch gegen Heidegger, dem ich methodisch zwar aufs tiefste verpflichtet bin, dessen Daseinsauffassung (Dasein als je meines), wenn auch säkularisiert, doch noch ganz auf der Linie Kierkegaards liegt. Es ist sehr wichtig, daß Sie die Öffentlichkeit nicht nur im Sinne der Menge und des Man aufgefaßt wissen wollen. Sehr schön und wahr ist die Beleuchtung Stirners vom Sophisten aus. Natürlich habe ich auch sonst viel Schönes in der Schrift gefunden. Ich danke Ihnen nochmals herzlich.
27. Martin Buber an Ludwig Binswanger Jerusalem 4. Juni 1946 Verehrter Herr Binswanger, Die zufällig gelesene Anzeige eines Buches anthropologischen Inhalts von Ihnen5 (das Buch selbst haben wir hier noch nicht zu Gesicht bekommen, obwohl in den letzten Wochen nach der langen Unterbrechung die ersten Schweizer Bücher wieder hergekommen sind) gibt mir den äußeren Anstoß, die persönliche Verbindung mit Ihnen, an der mir nach wie vor viel gelegen ist, wieder herzustellen. Es hat sich uns ja seinerzeit, insbesondre bei dem unvergeßlichen Besuch bei Ihnen, manches Gemeinsame ergeben, das nun, da es wieder, wenn auch nur skizzenhaft, »Welt« gibt, weiter geklärt und gepflegt werden sollte. Ich habe auch noch ein besonderes Anliegen. Im Zusammenhang einer philosophischen Arbeit 4. 5.
Die Frage an den Einzelnen. Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, Zürich 1942.
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Ludwig Binswanger
(ich habe in diesem Jahr mehr als je gearbeitet) beschäftigt mich das Problem der Chaotisierung des Weltbildes bei verschiedenen abnormen Zuständen. Möchten Sie mir wohl helfen, des Materials habhaft zu werden? Es handelt sich mir vor allem um einigermaßen zuverlässige Beschreibungen. Was die mir bekannte Literatur (aus den letzten acht Jahren kenne ich nichts, da nichts hergekommen ist) bietet, sind im wesentlichen Zustandsschilderungen, wogegen es mir auf Schilderungen der in diesen Zuständen (Traum und verwandte Zustände, Intoxikationen, psychische Erkrankungen) erfahrenen Außenwelt ankommt, und zwar vornehmlich insofern sie sich hinsichtlich Kohärenz, Ordnung usw. qualitativ von der uns geläufigen Welt unterscheidet. Für jeden Hinweis von Literatur, Wink in Bezug auf mögliche Zusammenhänge, methodologischen Rat usw. wäre ich sehr dankbar. Publiziert habe ich inzwischen situationsgemäß nur hebräisch, doch soll jetzt einiges in englischer Übersetzung erscheinen, wovon Ihnen zugehen soll, was für Sie Interesse hat.
28. Ludwig Binswanger an Martin Buber Kreuzlingen 10. Januar 1952 Sehr verehrter, lieber Herr Professor! Ich war über das Jahresende unpäßlich, sonst hätte ich Ihnen schon früher dafür gedankt, daß Sie mir Ihr neues Buch »Bilder von Gut und Böse« durch den Verlag zuzuschicken die große Freundlichkeit hatten. Dafür hatte ich Muße, Ihre neue, mir sehr willkommene Schrift genauestens zu lesen. Ich sah, daß man nur von Ihnen lernen kann, wie man die Bibel lesen muß, sah aber auch wieder, daß wir uns heutzutage bei niemand mehr und besser Rat holen können über das Problem von Gut und Böse als bei Ihnen. Damit hängt wohl auch zusammen, daß Ihr Wirkungskreis, wenigstens soweit ich in meiner eigenen Umgebung, bei meinen eigenen Bekannten sehe, immer größer und tiefer wird. Das habe ich besonders hinsichtlich des »Wegs des Menschen« konstatieren können. Dr. Sborowitz – den ich herzlich grüßen lasse – wird Ihnen gesagt haben, daß ich im »Weg des Menschen« die Grundtendenz wiedergefunden habe, mit der ich von jeher psychotherapeutisch vorgegangen bin, soweit es sich nicht um eine Spezialbehandlung handelte. Sie werden verstehen, daß ich das Buch sofort für unsere Patientenbibliothek angeschafft habe, da es eine geradezu glänzende Unterstützung meiner Behandlung bildet, wobei ich natürlich bemerke, daß mir weder Ihr
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Briefwechsel
Wissen, noch Ihre Darstellungskunst, noch die Tiefe der Sicht in die ganze Problematik zur Verfügung stehen. Kommen Sie diesen Sommer wieder in die Schweiz? Falls Sie nicht zu mir kommen können – Sie können jederzeit mein Gast sein solange Sie Lust haben –, würde ich Sie, wie das letzte Mal, auch gerne in Zürich treffen. – Ich habe mich in der letzten Zeit viel mit Kafka und Kierkegaard beschäftigt, wobei ich oft Ihrer gedacht und manche Frage an Sie gestellt habe. Im übrigen habe ich jetzt meine vierte Schizophreniestudie 6 (schwere Form des Verfolgungswahns) beendigt. Leider wird es noch längere Zeit dauern, bis ich sie Ihnen schicken kann. Ich mußte dabei an das Wort von Kierkegaard denken, daß die Feigheit der Menschheit nicht ertrage, was Tod und Wahnsinn über das Leben zu sagen haben.
29. Ludwig Binswanger an Martin Buber Kreuzlingen 8. Oktober 1957 Sehr verehrter, lieber Herr Professor! Ich danke Ihnen sehr für die freundliche Übersendung Ihres im Merkur erschienenen Vortrags, 7 den ich in meinen Ferien erhalten habe. Ich war zuletzt in Brissago und traf dort auch eines Nachmittags Herrn Prof. Scholem. Die Ohren müssen Ihnen geklungen haben, denn Sie waren die längste Zeit das Hauptgesprächsthema unserer Unterhaltung. Ihre Unterscheidung von Schuld und Schuldgefühlen teile ich natürlich, desgleichen Ihre Unterscheidung zwischen Heilen und Heil oder zwischen Therapie und Seelsorge, die letztere Unterscheidung aber mehr aus prinzipiellen als aus praktischen Gründen. Ihre Unterscheidung variiert praktisch von Arzt zu Arzt, vor allem aber auch von Patient zu Patient. Ich gebe zu, daß ich in der Mehrzahl meiner Fälle mich vor allem auf das Heilen-wollen verlegt haben mußte, ich hatte aber auch eine ganze Anzahl von Kranken – und das waren mir die lieberen –, wo ich die betreffende Unterscheidung nicht machen konnte und wollte, wo mir vielmehr das Heilen nur möglich schien unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Möglichkeit des Heils, und zwar von beiden Seiten aus, d. h. vom Arzt und Patient, aus. – 6. 7.
Der Fall Suzanne Urban, in: Schweizer Archiv für Psychiatrie und Neurologie, Bd. 69, 1952, Heft 1/2. Gemeint ist »Schuld und Schuldgefühle«, in diesem Band S. 127-152.
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Ludwig Binswanger
Ihre Analyse von Stawrogin und dem Prozeß hat mich ganz besonders interessiert. 8
30. Ludwig Binswanger an Martin Buber Kreuzlingen 8. Mai 1962 Sehr verehrter, lieber Martin Buber, Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie mir die zwei Reden Logos 9 zukommen ließen, die mich beide sehr nahe angesprochen haben. Was Sie über die beiden Wahrheiten sagen, ist sehr wahr und fruchtbar. Auch die zweite Rede ist mir überaus wertvoll, zumal ich ja selber über Heraklit gearbeitet habe; Sie gehen aber viel tiefer. 10 In einem neuen Vorwort zur dritten Auflage meiner »Grundformen«11 habe ich wiederum Ihrer entscheidenden Bedeutung für dieses Werk gedacht. Wir sind uns auch heute noch in der Betonung der Bedeutung der Wirheit, und zwar gerade gegenüber Heidegger, äußerst nahe. Nur wenn Sie von der »monologisierenden Hybris« mit ihrer stärksten Androhung des Zerfalls sprechen (S. 13), möchte ich gerade nach der Lektüre des zweiten Bandes von Heideggers »Nietzsche« 12 insofern Widerspruch erheben, als Heidegger in Tat und Wahrheit in einem bisher ungeahnten dauernden Dialog mit den großen Philosophen aller Zeiten steht, zumal für ihn Philosophie und Philosophie-Geschichte identisch sind. Ich freue mich zu sehen, wie tätig Sie immer noch sind und zu welcher Reife und Klarheit Sprache und Gedanke sich gleicherweise immer höher emporgeläutert haben. […]
8. In »Schuld und Schuldgefühle«. Stawrogin ist eine Gestalt in dem Roman Die Dämonen von Dostojewskij. Der Prozeß ist die Erzählung von Franz Kafka. Siehe in diesem Band, S. 142 ff. 9. Logos. Zwei Reden, Heidelberg: Lambert Schneider 1962. 10. Dem Gemeinschaftlichen folgen. In diesem Band, S. 106-126 und in MBW 6, S. 103123. 11. Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, München 1962. 12. Martin Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961.
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Briefwechsel
31. Martin Buber an Ludwig Binswanger Jerusalem 14. Mai 1962 Lieber Ludwig Binswanger, Vielen Dank für Ihre beiden Briefe. Mein Befinden ist keineswegs zufriedenstellend (der Zustand läßt sich am ehesten als eine konstante Labilität bezeichnen), aber die Ärzte haben mir nun erlaubt, den größten Teil der Monate Juli und August in dem Kurhaus Sonn-Matt bei Luzern zuzubringen; in der ersten Juli- und der letzten August-Woche werde ich je ein paar Tage mich in Zürich aufhalten. So darf ich hoffen, Sie das eine oder das andere Mal wiederzusehen. Wir können dann unter anderem auch Ihr Bedenken gegen meine Kritik des »Monologisierens« durchsprechen. Im wesentlichen scheint es sich mir darum zu handeln, daß ich das, was Sie als »dauernden Dialog« bezeichnen, überhaupt nicht in concreto als Dialog verstehen kann. Dialog in dem von mir gemeinten Sinn impliziert notwendig das Unvorhersehbare, und sein Lebenselement ist die Überraschung, die überraschende Mutualität. Ihr so freundliches Anerbieten, mir das mir noch unbekannte Buch über Melancholie und Manie schicken zu lassen, nehme ich dankbar an. 13
13. Ludwig Binswanger, Melancholie und Manie: Phänomenologische Studien, Pfullingen 1960.
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Briefwechsel mit Maurice Friedman und Leslie H. Farber 1 32. Martin Buber an Maurice Friedman 2 Jerusalem 30. Januar 1956 Dear Maurice, […] Bitte teilen Sie mir Näheres über die Schule für Psychoanalyse [Psychiatrie] 3 mit, besonders darüber, was für eine Art von menschlichen Wesen sie sind. Ich sehe mich noch nicht recht in einem solchen Institut. Aber Tatsache ist, daß ein paar Tage bevor Ihr Brief kam, meine Frau zu mir sagte: »Wir haben nicht genug von der großen wilden Natur Amerikas gesehen« (Wir sahen nur den Great Cañon, der uns sehr beeindruckt hat, aber den Lauf des Hudson haben wir nur vom Eisenbahnfenster aus gesehen), und ich antwortete: »Wer weiß – vielleicht sehen wir noch mehr davon.« Die wesentlichen Punkte sind die folgenden: 1) eine Atmosphäre, in der sich der Versuch eines synthetischen Lebens4 wie das meine verständlich machen kann, und 2) Bedingungen, die es uns ermöglichen, die Landschaft intensiver zu sehen; ich kann die aufreibende und ermüdende Erfahrung einer amerikanischen Vorlesungs-Tournee nicht wiederholen. Natürlich könnte ich Vorlesungen über Anthropologie halten (über die drei Themen, die Sie kennen, und zwei oder drei andere, vor allem über den anthropologischen Aspekt der »Seele« und der Sprache); […] Ich bin momentan sehr beschäftigt mit der Encyclopedia (of Education) und einigen anderen Dingen, so daß es recht zweifelhaft ist, ob ich technisch fähig sein werde, jetzt über Freud zu schreiben. […]
1. 2. 3. 4.
Der Kommentar zu diesem Briefwechsel siehe S. 281 f. Zu Maurice Friedman (geb. 1921) siehe den Kommentar zum Briefwechsel, in diesem Band, S. 282. Leslie Farbers Brief vom 17. März 1956 enthielt eine Einladung an Buber zu Vorlesungen an der Washington School of Psychiatry. Die Vorlesungen hielt Buber im Frühjahr 1957. Es handelt sich hier um eine halb scherzhafte Begriffsbildung, mit der Buber wohl den eigenen Standpunkt von der Psychoanalyse abgrenzen möchte.
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Briefwechsel
33. Martin Buber an Maurice Friedman Jerusalem 2. März 1956 Dear Maurice, […] Die Einladung der Washington School hat mir den Anstoß dazu gegeben, meine kritische Haltung zu Begriffen wie Libido, das Unbewußte, die Archetypen theoretisch besser zu klären als ich es bisher getan habe. Ich hoffe, ich werde mich im nächsten Sommer mit der ganzen Sache befassen. Natürlich ist das psychische Leben als solches das Hauptproblem. […]
34. Leslie H. Farber5 an Martin Buber Washington 17. März 1956 Dear Professor Buber Als Vorsitzender des Lehrkörpers der Schule für Psychiatrie in Washington habe ich die große Ehre, Sie einzuladen, im kommenden Winter die vierten William Alanson White-Vorlesungen zu halten, wobei der genaue Zeitpunkt nach Ihrem Belieben festgesetzt werden könnte. Wie hätten gern drei oder vier formelle Vorlesungen von Ihnen, verteilt über eine Zeitspanne von drei Wochen. Und wir würden die Gelegenheit begrüßen, mit Ihnen während der gleichen Zeit weniger förmlich in kleinen Seminargruppen zusammenzutreffen. […] Was das Thema anlangt, so wären wir selbstverständlich an allen Aufzeichnungen interessiert, die Sie auf dem Gebiet Ihrer im Werden begriffenen philosophischen Anthropologie vorzulegen wünschen. Ich wurde neulich sehr angeregt durch die Lektüre von »Urdistanz und Beziehung« in einer kleinen englischen Zeitschrift. 6 Sie müssen wissen, daß wir eine ziemlich eklektische Gruppe ohne feste Bindung an ein bestimmtes psychologisches System sind und außerhalb des orthodoxen psychoanalytischen Betriebs stehen. Ich erwähne das, damit Sie wissen, daß wir für jede Kritik zugänglich sind, die Sie über Freuds Theorien geschrieben haben oder noch schreiben wollen. Maurice Friedman hat in einem Brief an 5. 6.
Leslie H. Farber (1912-1981) war zur Zeit seines Briefwechsels mit Buber Vorsitzender der Fakultät an der Schule für Psychiatrie in Washington. Siehe auch den Kommenta zum Briefwechsel, in diesem Band, S. 282. »Distance and Relation«, englische Erstveröffentlichung in: The Hibbert Journal 49 (1951), »Urdistanz und Beziehung«, in diesem Band S. 42-53.
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Maurice Friedman und Leslie H. Farber
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mich angedeutet, daß Sie an einer Kritik des Unbewußten und der Traumtheorie bei Freud arbeiten; das würde uns sehr interessieren. Die Schule wurde vor ungefähr zwanzig Jahren auf Betreiben von Harry Stack Sullivan gegründet, der allgemein – selbst von seinen Gegnern – als der begabteste Forscher in Amerika auf dem Gebiet der Schizophrenie und ihrer Behandlung betrachtet wurde. Obwohl er etwas von Freud verstanden hat, wandte er sich in seiner Laufbahn frühzeitig einer soziologischen Betrachtung der geistigen Störungen zu, die in vieler Hinsicht der von George Herbert Mead ähnlich war, mit dem er während seiner frühen Jahre in Chicago in Verbindung stand. Sullivan bestand darauf, daß Psychiatrie als Studium und Behandlung »zwischenpersönlicher Beziehungen« bezeichnet werden sollte. Falls Sie Gelegenheit haben, seine Schriften einzusehen, so möchte ich sagen, daß zwischen seinen Theorien und seiner praktischen Arbeit eine unerfreuliche Diskrepanz besteht. Unglücklicherweise fiel ihm das Schreiben schwer; er war in erster Linie ein Mann der Rede. Beim Schreiben packte ihn eine Wichtigtuerei und Pedanterie, die auf Ungeschicklichkeit und den Zwang, seinen Theorien ein »wissenschaftliches«Ansehen zu geben, zurückzuführen waren. Seinem Wesen nach war er ein Mann, der sich seine Bildung selbst erworben hatte, mit etwas wissenschaftlichem Hintergrund. Aber er war naiv, was Philosophie, Theologie und Kunst anlangt. Und wenn er genötigt war, seine Ideen systematisch darzustellen, wandte er sich den Theorien der modernen Physik zu, und das führte nur dazu, die Kluft zwischen seiner privaten und seiner öffentlichen Person zu erweitern. Trotzdem war er ein hinreißender Lehrer mit einem fast vollkommenen Gefühl für jede Art von Beziehung. Darüber hinaus war er ein Mann von bemerkenswertem Mut, bereit, den Freudianern bei jeder Gelegenheit öffentlich zu opponieren. Bis zu seinem Tod vor ein paar Jahren bemühte er sich sehr, die Schule für Psychiatrie in Washington zu einer interdisziplinären Anstalt auszugestalten und Menschen aus all den Berufen zur Mitarbeit heranzuziehen, die mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun haben. Ich selber komme von der zünftigen Psychoanalyse her. Ich hatte die übliche orthodoxe psychoanalytische Ausbildung bei einer Gruppe von Freudianern und arbeitete später mit Sullivan. Während des Zweiten Weltkriegs bin ich zum erstenmal auf einen Bericht über Ihre Schriften gestoßen und habe mir ein Exemplar von »Ich und Du« aus Schottland verschafft. Ich brauche den Einfluß dieses Buches auf mein Leben und meine Arbeit nicht mühsam herauszuarbeiten, denn er tritt in dem Aufsatz »Martin Buber and Psychiatry«, 7 den ich Ihnen zugleich mit dieser 7.
Vgl. Farbers Aufsatz »Martin Buber und die Psychotherapie«, in: Schilpp/Friedman
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Briefwechsel
Einladung schicke (noch im Rohentwurf), offen zutage. Ich habe diesen Aufsatz vor kurzem im Rahmen einer Reihe von Vorlesungen vorgetragen, die gemeinsam von unserer Schule und einem hiesigen Seminar über Religion und Psychiatrie veranstaltet wurde. Diskutiert wurde meine Aufzeichnung von Maurice Friedman und Reuel Howe, einem Professor der Pastoraltheologie am Seminar der Episkopalkirche in Alexandria, Virginia. Wenn Sie noch mehr über unsere Gruppe und ihre Veröffentlichungen erfahren möchten, lassen Sie es mich bitte wissen. Inzwischen erwarte ich mit Spannung Ihre Antwort auf unsere Einladung.
35. Martin Buber an Leslie H. Farber Jerusalem 1. April 1956 Dear Dr. Farber, Ich danke Ihnen für Ihre Einladung und für Ihren sehr interessanten Aufsatz. Ich war recht überrascht von der großen geistigen Freiheit, die ihm zugrunde liegt. Wir brauchen heute, in der Psychologie wie anderswo, eine Phase der wirklichen Freiheit. Ich war beeindruckt von dem, was Sie in Ihrem Aufsatz und Brief über Sullivan sagen; offensichtlich fehlte hier nichts als eben diese Freiheit. Ich werde gern im nächsten Winter – voraussichtlich im Januar – gemäß Ihrem Vorschlag drei oder vier Vorlesungen für Ihre Hörer halten und mit kleinen Gruppen Seminarübungen veranstalten. Ich gedenke einen Teil der Vorlesungen anthropologischen Problemen (wie in »Urdistanz und Beziehung«) zu widmen und den Rest einer kritischen Neubetrachtung von psychologischen Begriffen. Die letzte Frage sollte sein: Was hat die Anthropologie, wie ich sie verstehe, der Psychologie zu geben? Natürlich würde ich gern mehr darüber hören, was Ihre Gruppe bis jetzt getan und veröffentlicht hat. Es würde mir helfen, die speziellen Probleme zu sehen, um die es sich hier handelt. […]
(Hrsg.), Martin Buber – Philosophen des 20. Jahrhunderts, besonders den Abschnitt »Buber und Sullivan«, S. 516 f.
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Maurice Friedman und Leslie H. Farber
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36. Leslie H. Farber an Martin Buber Washington 9. April 1956 Dear Professor Buber, Ich bin hocherfreut darüber, daß Sie im Januar 1957 die William Alanson White-Vorlesungen halten wollen. […] Vielleicht kann ich Ihnen noch etwas mehr über unsere Gruppe berichten. Die William Alanson White-Stiftung ist die Gründungsorganisation der Schule für Psychiatrie in Washington und der Zeitschrift »Psychiatry«, die beide seit 1939 bestehen. William Alanson White, dessen Namen die Stiftung trägt, war viele Jahre lang Superintendent des St. Elisabeth-Krankenhauses in Washington – eine der ältesten und humansten psychiatrischen Anstalten in Amerika. White war einer der Lehrer von Sullivan, und er war von Psychiatern aller theoretischen Richtungen anerkannt. Soviel über die Einrichtung als solche. Unser Kreis ist von anderen psychiatrischen oder psychoanalytischen Gruppen dadurch unterschieden, daß wir uns fortgesetzt mit der Behandlung von Schizophrenie befassen. Obwohl die meisten von uns eine psychoanalytische Ausbildung haben, können wir mit der Freudschen Theorie vom Narzißmus 8 als Ursprung der Schizophrenie wenig anfangen. Wir haben frühzeitig erkannt, daß es oft möglich war, sehr intensive Beziehungen zu Schizophrenen zu haben, daß aber diese Beziehungen sehr leicht bruchstückhaft blieben, wie ich in meinem Aufsatz angedeutet habe. Diese Erfahrung führte dazu, daß wir uns immer mehr nach den Gründen unseres Versagens im Aufrechterhalten dieser Beziehungen fragten. Ich werde Ihnen eine Anzahl von Sonderdrucken schicken, von denen einige sich mit der sogenannten Freudianischen »Gegenübertragung« 9 beschäftigen. Mitte der dreißiger Jahre kam Frieda Fromm-Reichmann (1889-1957, Erich Fromms erste Frau) als leitender behandelnder Arzt an die Chestnut Lodge Heilanstalt, ein privates Krankenhaus am äußersten Ende von Washington, wo die meisten von uns einen Teil ihrer Ausbildung erhalten hatten. Auch sie hatte sich für die Behandlung von Psychosen in Europa interessiert. Nächst Sullivan dürfte sie wohl den größten persönlichen Einfluß auf die Gruppe gehabt haben. Ich will versuchen, einige ihrer Aufsätze beizulegen. Es wird Ihnen auffallen, daß sie wenig von Sullivans chronischer Erbitterung, nicht zu reden von seiner Großtuerei, hat. Auf 8. 9.
[Anm. B III] Übersteigerte, in manchen Fällen exklusive Ichbezogenheit. [Anm. B III] Nach dem Widerstand des Patienten gegen den Analytiker und der affektiven Überhöhung des Analytikers in Freuds Lehre das dritte Stadium, in dem der gemeinsame Kampf gegen die Neurose voll wirksam wird.
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der andern Seite war sie geneigt, den Schizophrenen zu romantisieren, indem sie ihn als ein irrgeleitetes Genie betrachtete. Während Sullivan sich an die Theorien der Naturwissenschaft hielt, hielt sich Frieda Fromm-Reichmann an die Romantik des 19. Jahrhunderts und griff auf solche termini wie »Einfühlung« und »Spontaneität« zurück. Wie Sie sehen, deutet ein Teil meines Aufsatzes den Konflikt zwischen Sullivan und Fromm-Reichmann an. Sullivan war der erste Vorsitzende des Lehrkörpers der Schule, auf ihn folgte Fromm-Reichmann, der dritte Vorsitzende bin ich. Ich bin erst seit einem Jahr im Amt. Überhaupt bin ich erst seit zwei Jahren wieder zurück in Washington. Nach dem Zweiten Weltkrieg entschloß ich mich, nicht nach Washington zurückzukehren. Statt dessen ging ich nach San Francisco, wo ich sieben Jahre lang eine Privatpraxis hatte und Unterricht gab und im ganzen ein ziemlich isoliertes Berufsleben führte. Immerhin, ich glaube, die Einsamkeit erlaubte mir, meine eigenen Ideen mit größerer Freiheit zu entwickeln als ich sie gehabt hätte, wäre ich gleich nach Washington zurückgekehrt. In San Francisco hörte ich Sie 195010 sprechen, einmal an der Stanford Universität und dann in einer Synagoge in San Francisco. Ich werde nie die verschiedenen Rabbis vergessen, die Sie einzuführen suchten, sichtlich ohne mehr von Ihnen zu wissen, als die flüchtige Lektüre des Buchumschlags eines Ihrer Werke hergab. Ein Analytiker in unserer Gruppe ist ein guter Freund von Paul Tillich, und ihm ist es zu verdanken, daß dieser mehrere Vorträge in Washington gehalten hat. Wir haben auch ein paar Analytiker, die am Zen-Buddhismus interessiert sind. Eine von ihnen, Margaret Rioch, 11 wird im Mai in Europa sein. Wenn Sie mir Ihre Adresse für diesen Monat geben könnten, wird sie sich bemühen, mit Ihnen Verbindung aufzunehmen. Ich glaube, sie wird Ihnen alle anderen Fragen, die Sie vielleicht noch stellen möchten, beantworten. Es trifft sich, daß Margaret eine große Bewunderin Ihres Romans »Gog und Magog« ist. Ich danke Ihnen für Ihre Äußerung über meinen Aufsatz. 12 Ich glaube, daß Ihre Vorlesungen und Seminare einen sehr großen befreienden Einfluß auf die Schule – und letzten Endes auf die Psychiatrie in Amerika überhaupt haben werden.
10. Es muß sich hier wohl um das Jahr 1952 handeln. 11. Margaret Rioch (1907-1996), selbst Analytikerin, war eine aktive Teilnehmerin an Bubers Seminar »Das Unbewußte«. 12. Farbers Aufsatz »Martin Buber und die Psychotherapie«, in: Schilpp/Friedman (Hrsg.), Martin Buber – Philosophen des 20. Jahrhunderts, S. 508-532.
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Maurice Friedman und Leslie H. Farber
37. Martin Buber an Leslie H. Farber Jerusalem 1. September 1956 Dear Dr. Farber, Ich schulde Ihnen seit einiger Zeit einen Brief, aber die Vortragsreise durch Westeuropa (3 Länder, 3 Sprachen, 3 Monate) hat sich als zuviel für mich herausgestellt, und nach meiner Heimkehr konnte ich an nichts anderes denken als an Ausruhen. Aber sicher haben Frau Rioch und Maurice Friedman Sie genügend oder fast genügend informiert. Wie ich inzwischen herausgefunden habe, hatten Sie recht mit Ihrer Behauptung, daß Sie drei bis vier Vorlesungen vorgeschlagen hatten. Um es vier werden zu lassen, obwohl ich nicht daran denken kann, mehr als zwei neue vorzubereiten, muß ich zwei frühere Vorlesungen mitverwenden, die in Amerika noch nicht bekannt sind. Eine davon, »Urdistanz und Beziehung«, ist allerdings schon in englischer Sprache veröffentlicht 13 und Sie haben sie gelesen. Sie stellt die Grundlage dar, und es ist methodisch notwendig, damit zu beginnen. Es werden sicher allerhand Erläuterungen dazu erforderlich sein, aber sie können in Form von Antworten und Fragen gegeben werden; und dann braucht der genau überlegte Aufbau nicht durch Zusätze zu leiden. Sagen Sie mir bitte Ihre Meinung darüber. »Elemente des Zwischenmenschlichen«, in gekürzter Form, soll die zweite Vorlesung werden. Auch hier ist eine Diskussion wünschenswert, aber nicht so unbedingt nötig wie im ersten Fall. Die Themen der beiden andern Vorlesungen sind 1. Schuld und die moderne Psychologie 14 und 2. Grundbegriffe der Psychologie. 15 Über das erste hat mir Friedman nach seiner Unterredung mit Ihnen geschrieben. Das zweite wird Gelegenheit geben, sich mit den Theorien über das Unbewußte und mit Freuds Traumtheorie auseinanderzusetzen. Beide zusammen stellen den Vortragenden, der selber kein Psychologe ist, aber seine kritische Haltung Menschen darzulegen hat, die in der Gedankenwelt der modernen Psychologie leben, vor große Schwierigkeiten. Deshalb ist eine gründliche Diskussion notwendig. Aber der Hauptteil davon könnte und sollte in das Seminar verlegt werden, das der Neu-Un13. Vgl. Anm. 6. 14. Daraus wurde die Schrift »Schuld und Schuldgefühle«. 15. Die Arbeiten am Text dieser geplanten Vorlesung, die das Unbewußte und Freuds Traumtheorie behandeln sollte, schloß Buber nie ab. Jedoch wurden Bubers Aufzeichnungen hierzu in den Notizen Maurice Friedmans über Bubers Seminar »Das Unbewußte« veröffentlicht. Siehe in diesem Band, S. 217-235.
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tersuchung der geltenden psychologischen Begriffe und der Erläuterung einiger von mir eingeführter anthropologischer Begriffe wie Annahme, Bestätigung usw. gewidmet wird. Grundlage der Seminararbeit sollten einigermaßen systematische Fragen von seiten der teilnehmenden Psychologen sein. Damit diese mehr oder weniger systematisch sind, sollte die Reihenfolge der Probleme vorher überlegt und auch mir vorher mitgeteilt werden. Es ist natürlich wünschenswert, daß psychotherapeutische Fälle (in Kürze) als Beispiele verwendet werden. Aber es muß Klarheit darüber herrschen, daß ich mich nicht mit der psychotherapeutischen Seite der Sache befassen kann, soweit nicht prinzipielle Fragen daraus erwachsen. Ich bin Ihnen dankbar für das sehr interessante Material, das Sie mir geschickt haben, vor allem für die Bücher von Sullivan. Die Kapitel, die ich bisher gelesen habe, sind überaus anregend, und der praktische Hauptgesichtspunkt ist anscheinend tatsächlich dem meinen sehr nahe. […]
38. Leslie H. Farber an Martin Buber Washington 25. Oktober 1956 Dear Professor Buber, […] Was die Vorlesungen selbst anbelangt, so bin ich ganz und gar damit einverstanden, daß Sie mit »Urdistanz und Beziehung« beginnen – eine Schrift, die mir für Ihre Anthropologie entscheidend wichtig erscheint. Ich glaube kaum, daß mehr als eine Handvoll Ihrer Zuhörer sie kennt. Ich weiß, daß ich selber nur dazu gekommen bin, indem der Freund eines Freundes von mir sie für mich in einer Seminarbibliothek fotokopieren ließ. Ich teile Ihre Meinung, daß sie der Erläuterung und Durcharbeitung bedarf und daß dies mit Hilfe von Fragen, die in den kleineren Seminaren an Sie gerichtet werden, geschehen kann. Sie darf nicht gekürzt werden, denn sie ist schon jetzt so kurz gefaßt und sparsam in der Gedankenführung, daß sie dem Leser oder Zuhörer, der Laie ist, erhebliche Schwierigkeiten bereiten wird. Ich kenne den nächsten Aufsatz, den Sie nennen – »Elements of Between Man and Man«, wenn meine Übersetzung richtig ist – nicht. Es ist mir übrigens aufgefallen, falls dies zur Sache gehört, daß Freunde von mir, die mit der poetischen Sprache von »Ich und Du« nicht viel anfangen konnten, mit »Between Man and Man« gut zurecht kamen, da ihnen seine sprachliche Form vertrauter war. Ich sehe mit Spannung den Themen Ihrer beiden neuen Vorlesungen
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Maurice Friedman und Leslie H. Farber
entgegen, gerade weil ich die Schwierigkeit verstehe, sich mit einer Zuhörerschaft, die überladen ist mit modernen psychologischen Theorien, über Träume und das Unbewußte auseinanderzusetzen. Aber ich glaube, der Zeitpunkt ist günstig für eine anthropologische Betrachtung des Gegenstandes, denn die Neuheit gerade dieser psychologischen Theorien hat sich abgenutzt: sie sind nicht mehr so überraschend, daß die Leute sie für anthropologisch halten. Oder vielleicht ist das, was ich meine, ontologisch. Als ich über »Urdistanz und Beziehung« sprach, habe ich vergessen zu erwähnen, daß ich die Leute, die an den kleineren Seminaren teilnehmen, dazu veranlassen möchte, sich vorher mit dem Essay und auch mit anderen Schriften von Ihnen vertraut zu machen. Dadurch könnten die Seminare systematischer werden. Wenn es Ihnen recht ist, werden wir die Seminare auf Band aufnehmen, und zwar so, daß der technische Vorgang der Aufnahme unauffällig ist, und werden später Nachschriften für Ihren Gebrauch machen. […]
39. Leslie H. Farber an Martin Buber Washington 29. Dezember 1956 Dear Professor Buber, […] Ich bemitleide Sie wegen Ihrer Aufgabe, »die übliche Analyse des Unbewußten zu analysieren«. Meine eigenen bescheidenen Anstrengungen in dieser Richtung haben gewöhnlich mit dem Bewußtsein geendet, daß ich in einer dicken Erbsensuppe stecke.
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Briefwechsel zwischen Robert C. Smith, Martin Buber und C. G. Jung 1 40. Robert C. Smith an Martin Buber, 14. Mai 1960 Villanova, Penna. 14. Mai 1960 Lieber Prof. Buber: Ich […] arbeite gerade an meiner Promotion im Bereich der Philosophie der Religion an der Temple School of Philosophy in Philadelphia. Mein Doktorvater ist Dr. Richard Kroner, der früher am Union Theological Seminary in New York City war. Das Thema meiner Dissertation ist »Religiöses Wissen und Erfahrung in den Schriften Carl Jungs und Martin Bubers«. Es könnte für Sie interessant sein zu wissen, daß ich durch das Lesen Ihres kleinen Buches Eclipse of God (Gottesfinsternis) angeregt wurde, diesem Thema nachzugehen. Ich habe alle Ihre Referenzen zu Jungs Schriften verfolgt und ausführlich zu diesem Thema gelesen. Im Grunde genommen bin ich im Einverständnis mit Ihrer Kritik und den meisten Ihrer Schlußfolgerungen. Ich fand Ihre Analyse unserer momentanen spirituellen Krise tiefgehend und intensiv anregend. Tatsächlich ist das Verfolgen dieses Themas mehr als eine intellektuelle Forschungsreise gewesen, es war eine persönliche Herausforderung und Suche, in die ich mich tief involviert fühle. Manchmal stand ich in Versuchung gegenüber jener psychologischen Interpretation der Welt, die Jung repräsentiert. Dann wiederum hatte ich meine Zweifel daran. So wie Sie schon daraufhin deuteten, übertritt er die Grenzen seiner Disziplin an den maßgebenden Punkten. Es dürfte Sie interessieren, daß ich über dieses Thema einige längere Diskussionen mit Maurice Friedman geführt habe. Ich habe sein freundliches Angebot sehr geschätzt, die Artikel und Ihre Antwort an Ihre Kritiker in dem Band für die Library fo Living Philosophers, die er herausgibt, vorab lesen zu dürfen. Wie Sie es wohl erwarten könnten, gibt es viele Fragen, die weiterer Klärung bedürften. Ich werde einige dieser aufzählen und wenn Sie so freundlich wären eine Antwort zu versuchen (entweder auf Englisch oder auf Deutsch), stünde ich zutiefst in Ihrer Schuld. 1. Ist Ihre Grunddiffernzierung zwischen der Einstellung des Ich-Du und Ich-Es eine ontologische Differenzierung, eine epistemologische Differenzierung oder eine ethische Differenzierung? 1.
Der Kommentar zu diesem Briefwechsel siehe S. 282 f.
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2. Ist es legitim von Ich-Du Wissen und Ich-Du Erfahrung zu sprechen? Ich denke nicht so, aber viele Ihrer Kritiker tun dies. Ob sie Sie in diesen Punkt wohl mißverstehen? 3. Würden Sie Prof. Agus in »Modern Philosophies of Judaism« 2 zustimmen, daß »Ich-Du eine profunde psychische Erfahrung enthüllt?« (S. 234) 4. Ist die Ich-Du Beziehung auf psychische Erfahrung gegründet? (Ihr Traum des doppelten Schreies scheint daraufhin zu deuten. Between Man and Man, S. 1-2.) 3 Wenn dem so ist, wie übersteigt Ich-Du psychische Erfahrung? 5. Können wir sagen, daß die Ich-Du Beziehung »Wissen des Glaubens« ist? 6. Als ich Prof. Jung über die Natur dieser Studie schrieb, antwortete er, »das Problem ist, daß die Kritiken seines Werkes sich nicht über die von der Erkenntnistheorie (Epistemologie) auferlegten Grenzen bewußt sind.« Ich würde noch weiter gehen und behaupten, daß keine Theorie des Wissens möglich ist innerhalb der legitimen Grenzen der Psychologie. Würden Sie zustimmen? 7. Ich habe nicht das Gefühl, daß Jung adäquat auf die Kritiken, die Sie ihm entgegenbringen, geantwortet hat, aber ich habe auch das Gefühl, daß Sie nicht vollkommen auf seine Kritiken Ihrer Position geantwortet haben. Lassen Sie mich bestimmte Sätze von seiner Antwort an Sie auswählen und neu formulieren. A) »Es ist beachtenswert, daß er an meiner Behauptung, daß Gott nicht vom Menschen getrennt existieren kann, Anstoß nimmt und dies für eine transzendente Aussage hält. Und doch sage ich ausdrücklich, daß alles, ohne Ausnahme, was über ›Gott‹ behauptet wird, eine menschliche, d. h. psychologische Assertation ist. Ist dies unwahr? Ist das Bild, welches wir für uns selbst von Gott haben oder uns machen, jemals ›abgetrennt vom Menschen‹ ?« (Antwort an Buber, Frühling 1957, S. 6, 7. Original in Merkur, Mai 1952.) Sie sprechen zu dieser Frage indem Sie sagen, daß »Nicht nur Behauptungen über Gott, sondern alle Behauptungen im Allgemeinen sind ›menschlich‹«, aber Sie sagen nicht, ob alle Behauptungen im ersten Moment psychologisch sind. Wenn ja, sind sie, wie Sie wissen, dann offen zur Analyse und Re-
2. 3.
Jacob B. Agus, Modern Philosophies of Judaism. A Study of Recent Jewish Philosophies of Religion, New York 1941. Den ersten Teil von Between Man and Man bildet die englische Übersetzung von Zwiesprache; Smith bezieht sich hier also auf das erste Unterkapitel »Urerinnerung«, in dem Buber von einen häufig erlebten Traum erzählt, den er »Doppelruf« nennt. Vgl. Das dialogische Prinzip, S. 139-141. Erscheint in MBW 4.
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duktion. Der Haken an der Angelegenheit ist: Sind alle religiösen und metaphysischen Behauptungen psychologisch wie Jung behauptet? b. »Mein Kritiker scheint sich nicht darüber bewußt zu sein, daß, wenn er selbst über Gott spricht, seine Assertationen zu allererst von seiner bewußten Haltung stammen und dann von seinen unbewußten Vorurteilen.« (Antwort an Buber, S. 6) Würden Sie kommentieren? 8. Glauben Sie, daß Gott sich selbst sowohl durch unser Unbewußtes, d. h. unser unbewußtes Bild, als auch durch »Treffen« und »Begegnung« enthüllt? 9. Welchen Platz weisen Sie der Funktion des Unbewußten zu? 10. Glauben Sie, daß Gott unkonditioniert ist? 11. Sie sagen Prof. Jung sei ein moderner Gnostiker, aber worin besteht sein Dualismus? 12. Haben Sie das Gefühl, daß Jung, wie Spinoza, grundlegend ein Leben des Monologes anbietet? 13. Glauben Sie Jung reduziert Gott zu einem Objekt? Vergißt er, daß Gott immer das Subjekt ist, welches uns begegnet? Sie sagen dies nicht ausdrücklich, aber Sie implizieren es. Diese Fragen, die ich stellte, bleiben einige der unbeantworteten Probleme, die mich immer noch plagen. Wegen Platzmangel kann ich diese Angelegenheiten nicht so ausführlich ausdrücken, wie ich wünschte. Ich realisiere nur zu gut, daß in Antwort auf diese Fragen viel gesagt werden könnte. Ich wäre sehr glücklich, wenn Sie einige Klärungen einiger dieser Fragen andeuten könnten. Nochmals möchte ich meine tiefste Dankbarkeit für Ihre tiefschürfende Analyse der religiösen Krise unseres Zeitalters ausdrücken. Ich würde es sehr schätzen, wenn Sie bis zum ersten Juli 1960 antworten könnten. Mit freundlichen Grüßen,
41. Martin Buber an Robert C. Smith, 2. Juni 1960 Jerusalem 2. Juni 1960 Lieber Herr Smith, meine Zeit ist völlig damit in Anspruch genommen, zu versuchen, einige unvollendete Arbeiten zu vollenden. Deshalb kann ich Ihre Fragen nicht Ihres Wunsches gemäß beantworten. Aber ich werde Ihnen das unerläßliche Minimum an Information geben. Frage 1: Eine ontologische Differenzierung.
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2. Kein »Wissen« im objektiven und keine »Erfahrung« im psychologischen Sinne; die gewöhnliche Terminologie erweist sich als nicht ausreichend, wenn man über ihre Voraussetzungen hinausgeht. 3. Ich mag »psychisch« hier nicht: es gibt Erfahrungen der ganzen Person, »Psyche« wird im Vergleich dazu zu einer notwendigen Abstraktion. 4. Träume sind überhaupt keine Ich-Du Beziehungen, sondern der Hinweis darauf. 5. Solch eine Definition wäre eine unerlaubte Vereinfachung. 6. Zu kompliziert, um hier darauf einzugehen. 7. »Kann nicht existieren« ist keine »psychologische Behauptung«, sondern eine ontologische Leugnung – selbst eine einfache Behauptung wie das folgende »Ich habe Ihren Brief als den Ausdruck eines lebenden menschlichen Wesens erhalten« sollte nicht als »psychologisch« festgesetzt werden, obwohl sie offensichtlich eine psychologische Seite hat und deshalb zu einer psychologischen Behauptung reduziert werden kann. 7 b. Genau das gleiche. 8. Gott kann sich selbst durch alles enthüllen, aber wir müssen, wenn wir solche Enthüllungen behandeln, vorsichtiger sein, als wir im Allgemeinen zu sein geneigt sind. Ihre Frage ist nicht mit ausreichender Klarheit gestellt. 9. Ich habe das in aller Länge in meinem Seminar über das Unbewußte an der Washington School for Psychiatry behandelt und habe im Sinn, dies im Verlaufe dieses Jahres schriftlich auszuarbeiten. 10. Ich vermeide es, Behauptungen über was Gott ist oder nicht ist, zu machen, da das logische Gesetz des zwischen gegensätzlichen Behauptungen wählen zu müssen hier nicht anwendbar ist, wie schon Nicolaus Cusanus wußte (»complexio oppositorum«). 11. Es gibt nicht nur dualistische Gnosis (vgl. das Buch von H. Jonas 4 ); die Gnosis, die auf der Idee der ursprünglichen Einheit basiert, ist nicht dualistisch. Jungs »Reintegration«, zum Beispiel, entwickelt ein gnostisches Motiv. 12. Jung ist grundsätzlich ein Monologist. Spinoza war es viel weniger, soweit ich es erfahren konnte. 13. Ich erinnere mich nicht daran, daß Jung irgendwo von Gott als »das Subjekt, welches uns begegnet« oder ähnliches gesagt hat, ich glaube nicht, daß er dies tun kann, da sein Gott letztlich identisch mit dem Großen Selbst ist. Mit freundlichen Grüßen,
4.
Hans Jonas, The Gnostic Religion: The Message of the Alien God and the Beginnings of Christianity, Boston 1958.
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42. Robert C. Smith an C. G. Jung, 10. Juni 1960 Villanova, Penna. 10. Juni 1960 Lieber Dr. Jung: Vor einiger Zeit schrieb ich Ihnen5 mit der Absicht zu erfahren, ob Ihr Artikel »Religion und Psychologie« ins Englische übersetzt worden war. Damals sagte mir Frau Jaffe, daß Sie sich nicht einer Übersetzung bewußt wären. Seit dann fand ich nach langem Suchen, daß Dr. Robert Clark aus Philadelphia eine ausgezeichnete Übersetzung Ihres Artikels im Frühling 1957 fertiggestellt hatte. Wenn es möglich wäre denke ich, daß es von großem Vorteil wäre, wenn der Artikel in Ihre gesammelten Werke aufgenommen würde. Im Moment vervollständige ich meine Promotionsforschung. Das Thema meiner Dissertation ist »Religiöses Wissen und Erfahrung in den Schriften C. G. Jungs und Martin Bubers«. Der Ausgangspunkt meiner These ist und bleibt das Problem, das aus dem Meinungsaustausch, welchen Sie mit Martin Buber damals im Jahre 1952 hatten, erwachsen ist. Ich habe Ihre Schriften und die Prof. Bubers weitgehend gelesen und habe das Gefühl, daß es zwischen seinem und Ihrem eigenem Standpunkt entschiedene Unterschiede gibt, aber trotzdem habe ich immer noch das Gefühl, daß die Mißverständnisse ziemlich klar zutage liegen. Erst kürzlich fragte ich Prof. Buber viele Fragen, die um jene Punkte zentriert waren, welche Sie hervorheben und welche immer noch Schwierigkeiten darstellen. Sie könnten an einigen, die ich ihm gestellt habe, interessiert sein. Frage: »Ich habe nicht das Gefühl, daß Jung adäquat auf die Kritiken, die Sie ihm entgegenbringen, geantwortet hat, aber ich habe auch das Gefühl, daß Sie nicht vollständig auf seine Kritiken Ihrer Position geantwortet haben. Lassen Sie mich bestimmte Sätze von seiner Antwort zu Ihnen auswählen und neu formulieren. ›Es ist beachtenswert, daß er an meiner Behauptung, daß Gott nicht vom Menschen getrennt existieren kann, Anstoß nimmt und dies für eine transzendente Aussage hält. Und doch sage ich ausdrücklich, daß alles, ohne Ausnahme, was über ›Gott‹ behauptet wird, eine menschliche, d. h. psychologische Assertation ist. Ist dies unwahr?‹« Antwort: »›Kann nicht existieren‹ ist keine ›psychologische Behaup5.
Robert C. Smith hatte, bevor er über das Thema seiner Dissertation entschied, an C. G. Jung geschrieben und Jungs Antwort an Buber mit dem Titel »Religion und Psychologie«, die zuerst im deutschsprachigen Journal Merkur im Mai 1952 erschienen war, zur Diskussion gestellt. Jungs Aufsatz ist vollständig abgedruckt im Kommentar dieses Bandes, S. 267-274.
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tung‹, sondern eine ontologische Leugnung – selbst eine einfache Behauptung wie ›Ich habe Ihren Brief als den Ausdruck eines lebenden menschlichen Wesens erhalten‹ sollte nicht als ›psychologisch‹ festgesetzt werden, obwohl sie offensichtlich eine psychologische Seite hat und deshalb zu einer psychologischen Behauptung reduziert werden kann.« Frage: »Sie sagen Prof. Jung sei ein moderner Gnostiker, aber worin besteht sein Dualismus?« Antwort: »Es gibt nicht nur dualistische Gnosis (vgl. das Buch von H. Jonas); die Gnosis, die auf der Idee der ursprünglichen Einheit basiert, ist nicht dualistisch. Jungs ›Reintegration‹, zum Beispiel, entwickelt ein gnostisches Motiv.« Frage: »Haben Sie das Gefühl, daß Jung, wie Spinoza, grundlegend ein Leben des Monologes anbietet?« Antwort: »Jung ist grundsätzlich ein Monologist. Spinoza war es viel weniger, soweit ich es erfahren konnte.« Frage: »Glauben Sie Jung reduziert Gott zu einem Objekt? Vergißt er, daß Gott immer das Subjekt ist, welches uns begegnet? Sie sagen dies nicht ausdrücklich, aber Sie implizieren es.« Antwort: »Ich erinnere mich nicht daran, daß Jung irgendwo von Gott als ›das Subjekt, welches uns begegnet‹ oder ähnliches gesprochen hat, ich glaube nicht, daß er dies tun kann, da sein Gott letztlich identisch mit dem Großen Selbst ist.« Nun sind dies ernsthafte Vorwürfe, wenn sie wahr sind. Es wäre mir eine große Hilfe, wenn Sie sich die Zeit nehmen würden, diese Interpretationen zu kommentieren, vor allem die Behauptung, Sie seien ein Monologist und daß Sie Gott zu einem Objekt reduzieren. Buber würde darauf bestehen, daß das Transzendente nicht im objektiven Sinne gekannt oder im psychologischen Sinne erfahren werden kann. Das ist eine entscheidende Frage und ich glaube, daß die meisten religiösen Denker zustimmen würden, daß religiöses Wissen und Erfahrung nicht »Wissen« und »Erfahrung« in dem Sinne sind, als daß sie auf phänomenale Objekte angewandt werden könnten. Tatsächlich hat einer Ihrer Anhänger, Dr. Fordham, 6 dies gesehen. Er besteht darauf, daß Religion auf einer Art von Realität beruht, die nicht erfahren werden kann (Zitiert von Dr. Philip in seinem Buch Jung and the Problem of Evil.) Würden Sie ihm zustimmen oder nicht? Gott kann nicht zu einem Objekt des Wissens und der Erfahrung gemacht werden und zugleich noch Gott bleiben, dann sprechen wir näm6.
Dr. Michael Fordham (1905–1995) arbeitete ab 1953 als Mitherausgeber der Collective Works of C. G. Jung.
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lich von dem unbewußten Bild und sollten das deutlich so sagen. Ich weiß, daß Sie das meinen, aber ich habe das Gefühl, daß Ihre Anwendung des Gottbegriffes in Ihren Schriften viel Mißverständnis hervorgerufen hat. Trotz der Tatsache, daß Sie sagen Sie sprächen von Gott als von einer menschlichen Erfahrung, scheint es mir, daß Sie diesen Begriff sowohl im symbolischen als auch im teilnehmenden oder aktiven Sinne eher lose verwenden. Ich habe auch nicht das Gefühl, daß der Sache geholfen ist, wenn Sie von der Relativität Gottes sprechen. Sicherlich ist das unbewußte Bild dem Menschen gegenüber relativ, aber Religion spricht über etwas recht anderes, wenn sie sich auf das transzendente Absolute bezieht. Ich wäre sehr glücklich, wenn sie mir helfen könnten, Ihr genaues Verständnis bezüglich dieser Punkte zu erhellen, damit ich Ihre Position in meiner Dissertation nicht falsch darstelle. Ich möchte Ihnen für Ihre scharfe Analyse der Krise unserer Zeit meinen tiefen Dank aussprechen und meine Dankbarkeit für die Einblicke, die ich durch Ihr Schreiben erhalten habe. Ich würde es zutiefst schätzen, wenn es möglich wäre, bis zum 10. Juli eine Antwort zu bekommen. Mit freundlichen Grüßen, P.S. In Ihrem anderen Brief sagten Sie »das Problem ist, daß die Kritiker meines Werkes sich nicht über die von der Erkenntnistheorie (Epistemologie) auferlegten Grenzen bewußt sind.« Würden Sie zustimmen, daß keine Theorie des Wissens im Rahmen der Grenzen der Psychologie möglich ist?
43. C. G. Jung an Robert Smith, 29. Juni 1960 Zürich 29. Juni 1960 Lieber Herr Smith, Buber und ich fangen von einer ganz anderen Grundlage aus an: Ich mache keine transzendentalen Erklärungen. Ich bin essentiell empirisch, wie ich schon mehr als nur einmal sagte. Ich beschäftige mich mit psychischen Phänomenen und nicht mit metaphysischen Behauptungen. Im Rahmen der psychischen Ereignisse finde ich die Tatsache des Glaubens an Gott. Sie sagt: »Gott ist.« Dies ist die Tatsache, die mich beschäftigt. Ich beschäftige mich nicht mit der Wahrheit oder Unwahrheit der Existenz von Gott. Ich beschäftige mich mit der Behauptung allein, und ich bin an ihrer Struktur und Verhaltensformen interessiert. Es ist ein emo-
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tionell »getönter« Komplex wie der Vater-oder Mutterkomplex oder der Oedipuskomplex. Es ist offensichtlich, daß, wenn der Mensch nicht existiert, eine solche Behauptung genausowenig existiert, und genausowenig irgendjemand beweisen kann, daß die Behauptung »Gott« in einer nicht menschlichen Sphäre existiert. Was Buber mißversteht, ist, daß Gnostizismus psychiatrische Beobachtung ist, worüber er offensichtlich nichts weiß. Es ist sicherlich nicht meine Erfindung. Buber wurde in die Irre geführt von einem Gedicht im gnostischen Stil, das ich vor vierundvierzig Jahren für eines Freundes Geburtstagsfeier erstellte (ein privater Druck), 7 eine poetische Paraphrase der Psychologie des Unbewußten. Jeder Pionier ist ein Monologist, solange bis andere Leute seine Methode ausprobiert und seine Ergebnisse bestätigt haben. Würden Sie etwa alle großen Denker, die bei ihren Zeitgenossen nicht populär waren, Monologisten nennen, sogar jene »Stimme des einen Schreienden in der Wildnis«? Buber, der keine praktische Erfahrung in Tiefenpsychologie hat, weiß nichts über die Autonomie der Komplexe, welches jedoch eine allzu leicht ersichtliche Tatsache ist. Deshalb ist Gott, als ein autonomer Komplex, ein Subjekt, welches mich konfrontiert. Wer das nicht aus meinen Büchern verstehen kann, muß wirklich blind sein. Genauso ist das Selbst eine furchtbare Realität, wie jeder lernt, der versuchte oder gezwungen wurde, etwas damit zu tun. Ich definiere jedoch das Selbst als Grenzbegriff. Dies muß ein Rätsel sein für Leute wie Buber, die mit der empirizistischen Epistemologie nicht vertraut sind. Warum kann Buber nicht in seinen Kopf hineinbekommen, daß ich mich mit psychischen Fakten beschäftige und nicht mit metaphysischen Behauptungen? Buber ist ein Theologe und hat viel mehr Informationen über Gottes wahre Existenz und andere Seiner Qualitäten, als ich jemals träumen könnte zu kennen. Meine Ambitionen streben nicht zu theologischen Höhen empor. Ich kümmere mich einfach nur um das praktische und theologische Problem des wie-funktionieren-Komplexe? Zum Beispiel, wie verhält sich ein Mutterkomplex in einem Kind und in einem Erwachsenen? Wie verhält sich der Gotteskomplex in verschiedenen Individuen und Gesellschaften? Wie läßt sich der Selbstkomplex mit Lapis philosophorum 8 in der Hermetischen Philosophie vergleichen und mit 7. 8.
Es handelt sich um die Septem Sermones ad Mortuos, Privatdruck 1916, abgedruckt im Anhang zu C. G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedenken, hrsg. von Aniela Jaffé, Zürich 1962. Vgl. auch Jung, Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 657 f. Lat., Stein der Weisen.
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der Christfigur in patristischen Allegorien, mit Al Chadir in der Islamischen Tradition, mit Tifereth 10 in der Kabbala, mit Mithras, Attis, Odin, Krishna usw. Wie Sie sehen, kümmere ich mich um Bilder, menschliche Phänomene, von welchen nur Ignoranten annehmen, sie seien unter unserer Kontrolle oder könnten zu einfachen »Objekten« reduziert werden. Jeder Psychiater oder Psychotherapeut kann Ihnen sagen, zu welch enormem Ausmaße der Mensch der furchtbaren Kraft eines Komplexes ausgeliefert wird, der Überhand über seinen Geist genommen hat. (Siehe Zwangsneurosen, Schizophrenie, Drogen, politischer und privater Unsinn usw.) Mentale Besessenheiten sind genauso gut wie Geister, Dämonen und Götter. Es ist die Aufgabe des Psychologen, diese Angelegenheiten zu erforschen. Der Theologe hat es mit Sicherheit noch nicht getan. Leider ist es ein schieres Vorurteil gegen die Wissenschaft, welches Theologen daran hindert, meinen empirischen Standpunkt zu verstehen. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist die »Erfahrung von Gott« nolens volens die psychische Tatsache, daß ich mich mit dem psychischen Ereignis eines Faktors in mir selbst konfrontiert finde (welches mehr oder weniger auch von externen Umständen repräsentiert wird), die sich für mich als von unüberwindbarer Kraft erweist. Zum Beispiel, ein äußerst rationaler Professor der Philosophie, der völlig von der Angst vor Krebs besessen ist, von dem er weiß, daß dieser nicht existiert. Versuchen Sie, solch einen unglücklichen Kollegen aus seiner mißlichen Lage zu befreien, und Sie werden eine Ahnung von »psychischer Autonomie« bekommen. Es tut mir leid, wenn X sich mit der Frage der Grundlage, auf der »Religion beruht«, plagt. Dies ist eine metaphysische Frage, deren Lösung ich nicht weiß. Ich sorge mich um Phänomenale Religion, mit ihren ersichtlichen Tatsachen, welchen ich versuche einige psychologische Beobachtungen zu den Grundereignissen im kollektiven Unbewußten, dessen Existenz ich beweisen kann, hinzuzufügen. Darüber hinaus weiß ich nichts und habe niemals irgendwelche Behauptungen darüber gemacht. Wie weiß Buber etwas, das er nicht »psychologisch erfahren« kann? Wie ist so etwas überhaupt möglich? Wenn nicht in der Psyche, wo dann? Sehen Sie, es ist immer die selbe Angelegenheit: das komplette Mißverständnis des psychologischen Argumentes: »Gott« ist im Rahmen der Psy9. Al Chadir (der »grüne Mann«) ist eine sehr frühe Sagen- bzw. auch Heiligengestalt des sunnitischen Islams. 10. Tifereth ist die sechste Sefira der insgesamt zehn Sefiroth, Attribute Gottes, im Baum des Lebens der Kabbala und wird in der Regel mit Schönheit, Spiritualität, Gleichgewicht, Leidenschaft und Maskulinität assoziiert.
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chologie ein autonomer Komplex, ein dynamisches Bild, und das ist alles, was Psychologie jemals behaupten kann. Sie kann Gottes aktuelle Existenz weder beweisen noch verleugnen, aber sie weiß, wie fehlbar Bilder im menschlichen Geiste sind. Wenn Niels Bohr das Modell der atomischen Struktur mit einem planetarischen System vergleicht, weiß er, daß es nur ein Modell einer transzendenten und unbekannten Realität ist, und wenn ich über das Gottesbild spreche, leugne ich dabei nicht eine transzendentale Realität, sondern bestehe nur auf der psychischen Realität des Gottkomplexes oder des Gottbildes, genauso wie Niels Bohr die Analogie eines planetarischen Systems vorschlägt. Er wäre nicht so dumm zu glauben, daß sein Modell eine exakte und wahre Replikation des Atomes ist. Kein Empirizist, der bei Sinnen ist, würde glauben, daß seine Modelle die ewige Wahrheit in sich selbst sind. Er weiß zu gut, wie viele Veränderungen jede Art von Realität durchmacht, während sie eine bewußte Repräsentation wird. Und meine Ideen sind Namen, Modelle und Hypothesen für ein besseres Verstehen von ersichtlichen Tatsachen. Ich träumte nie davon, daß intelligente Menschen sie als theologische Behauptungen, d. h. Hypostasen, mißverstehen könnten. Ich war offensichtlich zu naiv in dieser Hinsicht, und das ist der Grund, daß ich manchmal nicht vorsichtig genug war, um ständig zu wiederholen: »Aber was ich meine, ist nur das psychische Bild eines Noumenons« (Kants Ding an sich, welches, wie Sie wissen, keine Negation ist. 11 ) Mein empirischer Standpunkt ist so enttäuschend einfach, daß man nur eine Durschnittsintelligenz und ein bißchen gesunden Menschenverstand braucht, um ihn zu verstehen, aber es benötigt einen ungewöhnlichen Grad an Vorurteil oder sogar böse Absicht, um ihn mißzuverstehen, wie es mir scheint. Es tut mir leid, wenn ich Sie mit meinen Banalitäten langweile. Aber Sie fragten danach. Sie können sie in den meisten meiner Bücher finden, seit dem Jahre 1912,12 fast ein halbes Jahrhundert her und doch noch unbemerkt von solchen Autoritäten wie Buber. Ich habe eine ganze Lebenszeit mit psychologischen psychopathologischen Forschungen verbracht. Buber kritisiert mich in einem Bereich, in welchem er inkompetent ist, und dieses versteht er nicht einmal. Mit freundlichen Grüßen, 11. Bezeichnet häufig ein Objekt der puren intellektuellen Intuition, leer von allen phänomenalen Attributen. Dieser Begriff wurde von Kant eingeführt, um zwischen ›Noumenon‹ und ›Phenomenon‹ als ›unmittelbares Objekt der Wahrnehmung‹ zu unterscheiden. 12. Veröffentlichungsjahr von Wandlungen und Symbole der Libido, erschienen 1912 in Leipzig, später umgearbeitet zu: Symbole der Wandlung, 1952, (Ges. Werke, Bd. V).
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Briefwechsel
44. Robert C. Smith an Martin Buber, 7. Juli 1960 7. Juli 1960 Lieber Prof. Buber, ich möchte Ihnen dafür, daß Sie sich die Zeit nahmen, meine Fragen zu beantworten – obwohl Sie zutiefst in andere Angelegenheiten verwickelt waren – meine tiefsten Danksagungen aussprechen. Aus Florence, Italien, hat Maurice Friedman mir geschrieben: »selbst wenn er die Zeit zu antworten findet, was an sich zu bezweifeln ist, da er einen ganzen Ordner unbeantworteter Briefe hat, zu denen er noch nicht gekommen ist und er gerade dabei ist, für vier Monate nach Europa aufzubrechen, kann ich mir nicht vorstellen, daß er Ihr Dutzend Fragen beantworten kann. Ich befürchte, Sie werden sich damit zufrieden geben müssen, was Sie aus seinen Büchern ersehen können.« Meinen herzlichsten Dank für Ihre Antwort! Es freut mich zu hören, daß Sie planen, Ihre Konzeption des Unbewußten im Laufe des Jahres auszuarbeiten. Ich habe dies an Leslie Farber von der Washington School of Psychiatry geschrieben und er antwortete: »Ich bin froh zu hören, daß er beabsichtigt, einen speziellen Artikel über das Unbewußte zu erstellen, da auch ich gerne eine spezielle Referenz dazu in meinen eigenen Schriften machen würde. Bis jetzt hielt ich dies zurück, in der Hoffnung er schriebe einen solchen Artikel.« Es wird Sie interessieren zu wissen, daß ich einen ziemlich heftigen Brief an Prof. Jung schrieb, in dem ich einige meiner Fragen und Ihre Antworten dazu auflistete und ihn speziell fragte, etwas über den Vorwurf zu sagen, daß er ein Monologist sei und Gott zu einem Objekt reduziere. Er war freundlich genug, mir eine längere Antwort in seinem typischen aggressiven Stil zu geben. Sein Mißverständnis jeder Theorie, die anders als seine eigene ist, bleibt unverändert. Er zeigt, daß er nicht weiß, was der philosophische Denker unter einem Monologisten versteht, und für ihn haben Subjekt und Objekt nur eine psychologische Konnotation. Nichtsdestotrotz habe ich das Gefühl, daß Sie vielleicht zuvor die Grenzen seines spezialisierten Vokabulars nicht klar genug gesehen haben, genausowenig, daß es einige Anzeichen der Entwicklung bei Jung gibt. Kritik aus vielen Richtungen zwang ihn, dem Glauben ein wenig mehr Platz einzuräumen. Das ist deutlich zu sehen, obwohl er immer die größten Schwierigkeiten hatte, die Beiträge von Disziplinen, die anders sind als seine eigenen, als authentisch anzuerkennen. Meinen herzlichsten Dank und beste Wünsche an Sie. Mit freundlichen Grüßen,
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Robert C. Smith, Martin Buber und C. G. Jung
45. Robert C. Smith an C. G. Jung, 8. Juli 1960 Villanova, Pa. 8. Juli 1960 Lieber Prof. Jung, vielen Dank, daß Sie sich die Zeit nahmen, Ihre eigenen Meinungsverschiedenheiten mit Buber ausführlich auszudrücken. Die Intensität Ihrer Bemerkungen weist darauf hin, welch starke Gefühle Sie zu diesem Thema haben. Ich denke jedoch, daß Sie zu weit gehen, wenn Sie sagen, daß Buber Sie in einem Sachgebiet kritisiert, in dem er inkompetent sei und das er nicht einmal verstünde. Wie er in seiner Antwort zu Ihnen sagte, hat er nicht den geringsten Wunsch, Sie in Ihrer eigenen Psychologie als solche zu kritisieren, sondern einfach nur von Ihrer uneingestandenen Transgression in den Bereich der Ontologie zu sprechen. Es muß nicht gesagt werden, daß er in gewissem Sinne inkompetent ist, als Autorität von Tiefenpsychologie zu sprechen, genau so wie Sie inkompetent sind, als Autorität von der Philosophie der Religion zu sprechen. Was zählt, ist, einen authentischeren Dialog zwischen den beiden Bereichen in die Diskussion einzubringen. Sie benutzen die Ausdrücke Subjekt und Selbst in einer ziemlich anderen Weise, als die traditionelle. Trotz Ihres Protestes, daß die anderen dumm seien, da sie dies nicht erkennen, müssen Sie eingestehen, daß es sicherlich verständlich ist, daß dies der Fall ist. Ich glaube nicht, daß Sie zu dem Vorwurf »ein moderner Gnostiker« zu sein, so immun sind, wie Sie es gerne darstellen würden. Buber erhält nicht alle seine Eindrücke von Ihrem privaten Druck. In Ihren Schriften sagen Sie immer wieder, daß Sie niemals fähig waren, etwas zu glauben, das Sie nicht verstehen konnten. Aber ist nicht genau dies mit Glauben der Fall, außer er ist ein ganz und gar »rationaler Glaube«, was als nichts anderes als Intellekt verstanden wird. Sicherlich sind Sie kein Gnostiker im klassischen Sinne, denn Sie setzten keine ultimative Dualität zwischen Gut und Böse, aber Sie müssen zugeben, daß es viele gnostische Elemente in Ihren Schriften gibt. Malcolm Diamond von der Princeton Universität hat meine Aufmerksamkeit darauf gelenkt, als er in einem Brief an mich erwähnte, wie Sie das Heilen eines Wissenschaftlers durch Ihr eigenes Wissen von den Mandalas beschreiben (Psyche & Symbol). 13 Ich würde Ihnen jedoch zustimmen, daß der Weg der Individuation nur jenen, die bereit sind ihn zu verfolgen, offen ist. Sogar Clement von Alexandria fand, daß der Weg zum Wissen Raum für Glauben schafft. (Und hierbei 13. C. G. Jung, Psyche and Symbol. A selection from the writings, hrsg. v. Violet S. de Laszlo, Garden City, NY 1958.
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Briefwechsel
meinte er nicht länger höheres Wissen.) Schon er sah, daß »Gott kein Subjekt für Beweisführung ist und nicht das Objekt wissenschaftlichen Wissens sein kann« (Strom, IV, ch. XXIV, 156, 1). Wenn Sie Buber lesen würden, denke ich, fänden Sie, daß er Ich-Du Wissen im objektiven und Ich-Du Erfahrung im psychologischen Sinne leugnet. Seine Differenzierung zwischen Ich-Du und Ich-Es ist ontologischer Natur. Das ist es natürlich, was das Thema so verzwickt und spannend macht. Niemand kann ultimativ sagen, ob Ich-Du nur eine persönliche Beziehung ist oder nicht. Wenn dem so ist, dann sind Sie im Recht. Wenn es mehr als das ist, so wie er behauptet, dann hat er Recht. Und das Gleiche gilt für das Problem der Individualität. Mit freundlichen Grüßen
46. Robert C. Smith an Martin Buber, 24. Juli 1960 24. Juli 1960 Lieber Prof. Buber, nochmals möchte ich Ihnen sagen, wie sehr ich es schätze, Ihren Brief vom 2. Juni 1960 erhalten zu haben. Ich hatte die Möglichkeit, Ihre Antworten mit Prof. Kroner zu diskutieren, als er mich vor Kurzem besuchte. Er war interessiert an Ihrer Behauptung, daß Ich-Du eine ontologische Differenzierung ist, da er einen Unterschied zwischen Metaphysik und Ontologie macht. Ich sagte ihm, daß ich glaube, Sie würden das nicht tun. Ich muß zugeben, daß wir uns nicht ganz sicher waren, was Sie mit »dem Großen Selbst« meinten. Trotzdem waren wir umso überzeugter, daß Prof. Jung nicht fähig ist, diese Themen in irgendeinem anderen Sinne als dem psychologischen zu sehen. Ich würde gerne Ihre Erlaubnis erfragen, Ihren Brief in meiner Promotionsdissertation und in einem möglichen zukünftigen Buch, das über meine Ergebnisse zu dem Thema »Religiöse Problematiken zwischen Buber und Jung« veröffentlicht werden soll, zu benutzen. Mit freundlichen Grüßen
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Robert C. Smith, Martin Buber und C. G. Jung
47. Robert C. Smith an C. G. Jung, 24. Juli 1960 Villanova, Penna. 24. Juli 1960 Lieber Prof. Jung, ich würde gerne Ihre Erlaubnis erfragen, von Ihrem Brief des 29. Juni 1960, bezüglich der Klärung Ihrer Position mit Buber, in meiner Doktorpromotion und einer möglichen späteren Buchversion zu demselbigen Thema, Gebrauch zu machen. Wie ich in meinem letzten Brief an Sie erwähnte, stehe ich einigen Ihrer Positionen, selbst nachdem sie aufs weitere in Ihrem Brief geklärt wurden, ziemlich kritisch gegenüber. Trotzdem kann ich Ihnen versichern, daß ich alles mir Mögliche tun werde, um Ihren Ansichten eine faire und vorurteilslose Präsentation zu gewähren und zuzusehen, daß sie nicht außerhalb von Kontext und Intention zitiert werden. Wie Sie wissen, sind Ihre Ansichten, genauso wie Bubers, vielen falschen Interpretationen ausgesetzt. Nochmals möchte ich Ihnen meine Danksagung für die vielen Einblikke, die ich aus Ihren Schriften gewann, ausdrücken. Falls Sie meiner Bitte zustimmen, können Sie, wenn Sie möchten, am Ende dieses Briefes darauf hindeuten. Mit allen guten Wünschen und herzlichen Grüßen
Zusammenfassung von C. G. Jungs zweitem Brief an Robert C. Smith, 2. August 1960 Da dieser Brief in Jungs gesammelten Briefen nicht veröffentlicht wurde, kann dessen Text hier nicht abgedruckt werden. In diesem zweiten Brief – der eine Antwort auf Smiths Brief vom 8. Juli ist – behauptet Jung, daß Smith, Buber und Malcolm Diamond, den Smith betrefflich Jungs therapeutischer Arbeit zitierte, ihn mißverstanden und falsch interpretiert hätten. Jung protestierte dagegen, daß seine wissenschaftlichen Behauptungen philosophischer Kritik ausgesetzt würden, da diese inadäquate Methode zu fürchterlich falschen Schlußfolgerungen führe. Er bat Smith darum, die Tatsache, daß Jung jemals an Smith schrieb, nicht einmal zu erwähnen. Daher schloß er den Brief mit dem Ausdruck des Wunsches ab, weder den Briefwechsel fortzusetzen, noch den Brief in der Dissertation Smiths erwähnt zu finden. Trotzdem antwortete er in ziemlich detaillierter Weise auf die zwei letzten Briefe von Smith und Jungs Antwort erscheint unten als Brief Nr. 50.
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Briefwechsel
48. Robert C. Smith an C. G. Jung, 9. August 1960 Villanova, Penna. 9. August 1960 Lieber Prof. Jung: Ich bin etwas betrübt über die Tatsache, daß Sie zu denken scheinen, ich hätte Ihre Position auf radikale Weise falsch dargestellt, da ich dreist genug war, einige Kritiken vorzubringen, die nicht genau Ihrem Gefallen entsprachen. Ich versichere Ihnen, daß die Kritiken, die ich darbot, in keiner Weise darauf ausgerichtet waren, alles, was Sie zu sagen hatten, als ungültig darzustellen. Als ein Ihnen kameradlicher Sucher der Wahrheit, fühlte ich mich gezwungen, meine eigenen Standpunkte in Bezug auf Ihre Position kenntlich zu machen. Sie sagten einmal, daß das Problem mit Freud seine Ungewilltheit sei, die bittersüße philosophische Kritik zu trinken. Mein Eindruck ist, daß auch Sie nicht gewillt sind, dies zu tun, wenn der zum Ausdruck gebrachte Standpunkt mit dem Ihrigen variiert. Sie machten es in allen Ihren Schriften perfekt offensichtlich, daß Sie kein Philosoph, sondern ein empirischer Wissenschaftler sind. Ich stimme Ihnen mit ganzem Herzen zu und ich habe nicht den Wunsch, Sie diesbezüglich falsch zu repräsentieren. In Bezug auf die Erwähnung dessen, was Diamond sagte, sollte ich hinzufügen, daß ich voll und ganz verstehe, daß Heilung nur stattfindet, wenn Personen Dinge für sich selbst entdecken und sich nicht nur auf das Wissen des Therapeuten verlassen, obwohl ich einfach nur die Weise, auf die Diamond mir die Referenz gab, zitierte. Sicherlich müssen Sie zugestehen, daß es oft vorkommt, daß die Theorie eines Therapeuten die Auffassungen seines Patienten beeinflußt. Unabhängig davon, war die Frage, auf die ich wirklich deutete, ob Gnosis oder Glauben tiefere Heilung hervorbringen. Offensichtlich haben Sie Ihre Meinung und ich habe meine. Aber allein diese Tatsache repräsentiert Werturteile auf unseren beiden Seiten. So sehen Sie, daß Sie solche philosophischen Vermutungen nicht umgehen können. Ich denke, Sie werden interessiert sein zu wissen, daß ich nicht direkt aus irgendeinem Ihrer Briefe, die Sie mir schrieben, zitieren werde. Aber Sie verlangen zu viel, wenn Sie verlangen, daß ich die Tatsache unseres Briefwechsels nicht einmal erwähne. Dieser kleine Wortstreit war nicht wertlos für mich. Ob Sie es einsehen oder nicht, ich fand unseren Briefwechsel sowohl aufschlußreich als auch aufklärend. Ich möchte Ihnen sagen, daß ich mich geehrt fühle, das Privileg zu besitzen, mit einer weltweit anerkannten Persönlichkeit wie Sie zu korrespondieren, und danke Ihnen nochmals, daß Sie mir Ihre Ansichten so deutlich darlegten. Mit herzlichen Grüßen
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Robert C. Smith, Martin Buber und C. G. Jung
49. Martin Buber an Robert C. Smith, 11. August 1960 Wengen, Schweiz 11. August 1960 Lieber Herr Smith, ich bin nicht direkt, sondern nur historisch gesehen, an Metaphysik interessiert. An Stelle dessen ist das Konzept der Ontologie für mein Denken von größter Notwendigkeit, da es mir ermöglicht kategorisch zwischen, lassen Sie uns sagen, jedem Ereignis an sich selbst und dessen psychologischer Introjektion zu differenzieren. Würden Sie, bezüglich Ihrer Frage dazu, was ich mit »dem Großen Selbst« meinte, mich bitte an den Kontext, in dem ich diesen Ausdruck verwendet habe, erinnern (ich habe hier überhaupt keine Kopien meiner Briefe). Ich bin sehr erfreut, Ihnen die Erlaubnis, um welche Sie baten, zu geben, würde aber gerne jene Teile Ihrer Dissertation, in welchen Sie meine Antworten zitieren, lesen. Mit freundlichen Grüßen
50. C. G. Jung an Robert C. Smith, 16. August 1960 Zürich 16. August 1960 Lieber Herr Smith, warum können Sie nicht verstehen, daß die therapeutische Arbeit ein vitaler Prozeß ist, welchen ich den »Prozeß der Individuation« nenne? Dieser findet im objektiven Sinne statt, und es ist diese Erfahrung, und nicht die mehr oder weniger kompetente oder törichte Interpretation des Analysten, die dem Patienten hilft. Das Beste, was der Analyst tun kann, ist, die natürliche Evolution dieses Prozeßes nicht zu stören. Meine sogenannten Ansichten dazu sind nur spärliche Mittel, den allzu mysteriösen Prozeß der Transformation in Form von Worten darzustellen, welche keinen anderen Sinn haben, als dessen Natur zu beschreiben. Der Prozeß besteht darin, ganz oder integriert zu werden, und das wird nie durch Worte oder Interpretation zu Stande gebracht, sondern ganz und gar durch die Natur der Psyche selbst. Wenn ich »Psyche« sage, meine ich etwas Unbekanntes, welchem ich den Namen »Psyche« gebe. Es gibt einen Unterschied zwischen Hypothese und Hypostase. Meine Hypothese besagt, daß alle psychischen Produkte, die sich auf religiöse Ansichten beziehen, auf Grund einer fundamentalen Ähnlichkeit des
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Briefwechsel
menschlichen Geistes, vergleichbar sind. Dies ist eine wissenschaftliche Hypothese. Der Gnostiker Buber beschuldigt mich, keine Hypothese, sondern darin, daß ich metaphysische Behauptungen aufstelle, eine Hypostase zu machen. Wenn ich versuche, eine fundamentale Ähnlichkeit individueller psychischer Produkte und alchemistischer oder ansonsten gnostischer Noumena zu erstellen, vermeide ich auf vorsichtige Weise, eine Hypostase zu erstellen, und verbleibe wohl innerhalb der Grenzen von wissenschaftlicher Hypothese. Die Tatsache, daß ich versuche, Ihnen meinen Standpunkt ersichtlich zu machen, könnte Ihnen zeigen, daß mich die Kritik nicht stört. Ich will mich nur gegen falsche Prämissen verteidigen. Könnte ich Kritik nicht ertragen, wäre ich schon lange tot, da ich seit sechzig Jahren nichts als Kritik erhielt. Außerdem kann ich nicht verstehen, was meine Unfähigkeit, Kritik zu ertragen, mit dem Vorwurf, ich sei ein Gnostiker, zu tun hat. Sie fügen zu der willkürlichen Vermutung, ich sei ein Gnostiker, einfach die Beschuldigung der moralischen Minderwertigkeit hinzu, und Sie sehen nicht ein, daß man Ihnen den selben subjektiven Vorwurf machen könnte. Ich habe niemanden beschuldigt und wenn ich attackiert werde, habe ich das Recht, mich zu verteidigen, indem ich meinen Standpunkt erkläre. Es besteht absolut keine Notwendigkeit mich unter jenen Umständen der Intoleranz zu beschuldigen. Mit freundlichen Grüßen
51. Robert C. Smith an Martin Buber, 21. August 1960 Box 126 c/o Schuerch Newbury, New Hampshire 21. August 1960 Prof. Martin Buber Hotel Waldrand Wengen, Schweiz Mein lieber Prof. Buber, […] Ich bin sehr erfreut, daß Sie mir angeboten haben, einen Blick auf meine Bemühungen zu werfen. […] In meinen anderen Briefen an Sie erzählte ich Ihnen ein wenig über meinen Briefwechsel mit Prof. Jung. Wegen meiner Meinungsverschiedenheit mit seiner Position, entzog er mir die Erlaubnis, aus seinen Briefen zu zitieren. Wegen Ihres Interesses
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Robert C. Smith, Martin Buber und C. G. Jung
an diesem Thema dachte ich, Sie würden es schätzen, eine Kopie unseres Briefwechsels zu haben. Offensichtlich schätzt er weder Ihre noch meine Kritik, und ich glaube, wir beide sind einer danklosen Aufgabe nachgegangen. Wie Sie sehen werden, ist er höchst sensitiv in diesem Bereich. Ich muß Sie darum bitten, diesen Briefwechsel vertraulich zu behandeln und in Ihren weiteren Schriften keinen Gebrauch davon zu machen. Jedoch wäre ich sehr an Ihrer Reaktion interessiert, wenn es Ihnen nichts ausmachen würde, eine Interpretation seiner höchst negativen Reaktion zu entwickeln. Offen gesagt war ich ziemlich frei in der Kritik, die ich ihm darlegte, da ich das Gefühl hatte, er würde solche Kritik in dem Sinne auffassen, in welchem sie ihm dargelegt wurde. Nun gut, man lernt daraus nur, daß der psychiatrische Beruf allzu menschlich in diesem Sinne ist. Kennen Sie Hans Urs von Balthasars Buch Einsame Zwiesprache: Martin Buber? Scribners & Sons forderten mich auf, das Buch durchzulesen und Ihnen eine Einschätzung dessen zu geben, was sein Wert und Interesse für den amerikanischen Leser sei. Ich wäre interessiert zu wissen, was Sie von diesem Buch halten, falls Sie es gesehen haben. Meine wärmsten und persönlichsten Grüße an Sie. Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Aufenthalt in der Schweiz. Ihr amerikanischer Freund P.S. Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihre eigne Definition des Selbst zu geben oder anzudeuten, wo Sie in Ihren Schreiben eine solche Definition gegeben haben? Würden Sie sagen, daß das Selbst für Sie eine transzendente Dimension hat?
52. Martin Buber an Robert C. Smith, 29. August 1960 Wengen, Schweiz 29. August 1960 Lieber Herr Smith, ich bin sehr beschäftigt vor meiner Abreise hier und kann Ihnen nur in Kürze antworten. Ihr Briefwechsel mit Jung ist sehr interessant, und Ihre letzten zwei Briefe an ihn recht bemerkenswert. Soweit es ihn betrifft, hat er mich offensichtlich überhaupt nicht gelesen und deshalb stellt er sich die Existenz einer anderen Epistemologie als der, die in der Subjekt-Objekt Beziehung absorbiert ist, nicht einmal vor. Über Jungs Konzept des Großen Selbst, welches am Ende des Prozesses der Individuation gefunden werden kann, habe ich im Laufe meiner Dis-
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Briefwechsel
kussion mit ihm geschrieben. Mein eigenes Verständnis des Selbst behandelte ich in meinem Washington Seminar über das Unbewußte, welches ich hoffe, nächsten Winter ausarbeiten zu können. Ich kenne Balthasars Buch und ich schätze es, aber ich denke, es ist zu dogmatisch. Man kann nicht dogmatisch und gleichzeitig dialogisch (»Zwiesprache«) sein. Mit herzlichen Grüßen
53. Robert C. Smith an Martin Buber, 21. September 1960 Villanova, Penna. 21. September 1960 Lieber Prof. Buber, […] Sie werden interessiert sein, zu wissen, daß ich einen weiteren Brief von Prof. Jung erhalten habe, seit ich Ihnen zum letzten Mal schrieb. Er antwortet auf meinen Vorwurf, er sei unfähig, philosophische Kritik, die ihm nicht gefällt, zu akzeptieren. Dies ist viel eher die Art von Brief, die man von einem Mann seiner Statur zu erhalten erwarten würde. Ich lege eine Kopie dieses Briefes bei, falls Sie interessiert sind. Gemäß Ihrer Erlaubnis, die Sie mir in Ihrem Brief vom 11. August gewährten, habe ich in meiner Dissertation von Ihrem Briefwechsel mit mir Gebrauch gemacht. Ich glaube, daß was Sie in Antwort auf meine Fragen zu sagen hatten, wird für den amerikanischen Leser von großem Interesse sein, falls ich jemals fähig sein sollte, dieses Dokument in einer revidierten Form zu veröffentlichen. Was Sie in Antwort auf meine Fragen zu sagen hatten, ist von viel größerer Wichtigkeit für das Grundargument meiner Studie als die philosophischen Falschauffassungen von Prof. Jung. Ich würde gerne Ihre Zustimmung zu der Erlaubnis erfragen, aus Ihren veröffentlichten Schriften und Ihrem Briefwechsel für den Zweck einer möglichen zukünftigen Buchversion dieses Materials zu zitieren. Natürlich wäre ich sehr dankbar, Ihre Vorschläge, Kommentare und ehrliche Einschätzungen meiner Bemühungen zu erhalten. Nochmals möchte ich Ihnen für Ihr Interesse an meiner Forschung und für Ihre hilfreichen Briefe, die sich als eine Quelle persönlicher Ermutigung bewährt haben, danken. Meine allerbesten Wünsche an Sie. Mit freundlichen Grüßen
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Robert C. Smith, Martin Buber und C. G. Jung
54. Robert C. Smith an Martin Buber, 11. November 1960 Villanova, Penna. 11. November 1960 Lieber Prof. Buber, Sie werden interessiert sein zu wissen, daß Dr. Kroner den ersten Auszug meiner Dissertation gelesen und bis auf einige Veränderungen, auf die er mich hinwies, anerkannt hat. Ich bin jetzt dabei, einige Korrekturen zu machen, damit die endgültige Ausgabe vorbereitet werden kann. Ich würde sehr gerne Ihre Kritiken wissen, damit ich alle gravierenden Fehler korrigieren kann bevor die Dissertation Ihre endgültige Form erhält. Ihre Kommentare wären mir auch deshalb eine Hilfe, da ich mich vorbereite, meine Dissertation vor der Fakultät der Temple Universität zu verteidigen. Wäre es möglich für Sie, mir Ihre Kommentare bis ersten Dezember zu schicken? Wenn ja, würde ich das sehr schätzen, da ich meinen Doktortitel gerne im Februar erhalten würde. Dr. Kroner war gegenüber meiner Kritik und meinen Schlußfolgerungen ziemlich sympathisch eingestellt. Er hatte das Gefühl, daß ich in meiner Kritik an Jungs Epistemologie sogar noch strenger hätte sein können. Der Ausdruck psychische Erfahrung gefällt auch Kroner überhaupt nicht. Für ihn ist Erfahrung niemals psychisch. Glauben Sie, daß man berechtigt ist, den Ausdruck Erfahrung im psychologischen Sinne zu verwenden? Wir diskutierten Ihre Ansichten über Kant. Würden Sie sagen, daß Kants Ansicht von Gott »im Menschen drinnen« ist? Kroner behauptet, daß wenn Sie das tun, mißverstünden Sie Kant in diesem Punkt, denn er glaubt, daß Kants Gott der heilige Schöpfer der Natur ist, der dem Menschen absolut überlegen ist. Während er die enormen Kontributionen dessen, was Sie zu Ich und Du zu sagen hatten, anerkennt, glaubt Kroner, daß Sie falsch liegen, wenn Sie von der Ich-Du Beziehung als einer ontologischen Differenzierung sprechen. Er würde sie für eine theologische halten. Er denkt, daß Sie nie wirklich definieren, was Sie mit ontologisch meinen. Mein Eindruck ist, daß Sie zwischen ontologisch und theologisch keinen radikalen Unterschied machen würden. Für mich selbst denke ich, daß Sie irgendwie schon berechtigt sind, von Ich und Du als einer ontologische Dimension zu sprechen, aber ich müßte zugeben, daß solch ein Gebrauch gemäß des traditionellen Gebrauchs des Ausdruckes Ontologie nicht sehr genau ist und eher in Ihrem Wunsch, mehr als eine psychologische Dimension für die menschliche Existenz zu bewahren, gründet. Würden Sie kommentieren? Kroner denkt auch, daß Sie dem, was Sie den monologischen Dialog
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Briefwechsel
des Selbst mit sich selbst nennen, nicht genug Diskussion gewidmet haben. Damit meint er nicht nur einfach »Rückbiegung« oder das selbst, das sich, so wie der psychologische Monolog von Jung, auf sich selbst zurückbiegt, sondern die Art des inneren Dialoges, auf die sich Niebuhr in The Self and the Dramas of History bezieht. Halten Sie es für möglich, eine solche innere Unterhaltung als Dialog im wahrhaftigen Sinne zu bezeichnen? Ist es letztlich wahr, daß Sie, während Sie keine essentielle Dichotomie zwischen Geist und Natur ziehen, dazu neigen, durch Ihre Auffassung der Bewegung von Ich-Du nach Ich-Es eine Art von Dichotomie zwischen Geist und Natur zu erstellen? Dies sind einige der Fragen, die noch offen bleiben. Wenn Sie sich darum bemühen würden, auf einige von ihnen eine Antwort zu formulieren, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Auch würde ich gerne die Erlaubnis erhalten, für eine zukünftige Buchausgabe dieses Materials aus Ihrem Briefwechsel zu zitieren. Ich denke, Sie sagten etwas darüber, Ihre Gedanken zum Unbewußten diesen Winter in Buchform auszubauen. Wenn dem so ist, wer wird der Publizist sein und wann wird dieses Buch erhältlich sein? Mit feundlichsten Grüßen
55. Martin Buber an Robert C. Smith, 13. November 1960 Jerusalem, Israel 13. November 1960 Lieber Herr Smith, seit meiner Heimkehr war ich ernsthaft krank und deshalb noch nicht fähig, Ihre Dissertation aufmerksam zu lesen und ich kann nicht sagen, wann ich fähig sein werde, dies zu tun. Aber gelegentlich habe ich die folgenden Aufzeichnungen gemacht: […] […] Was Sie am Ende der Seite 168 und am Anfang der Seite 169 sagen, müssen Sie mit dem, was in meinem Nachwort 14 zu Ich und Du über das Konzept einer absoluten Person gesagt wird, vergleichen. […] Was ich bis jetzt von Ihrer Dissertation lesen konnte, fand ich interessant und einen Teil davon sogar wichtig. Mit freundlichen Grüßen 14. Das Nachwort zu »Ich und Du« erschien unter dem Titel »Zur Geschichte des dialogischen Prinzips« in der Ausgabe von 1957. In diesem Band wird der fünfte Abschnitt des Nachwortes gebracht, siehe S. 153-154. Es erscheint vollständig in MBW 4.
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Robert C. Smith, Martin Buber und C. G. Jung
56. Martin Buber an Robert C. Smith, 4. Januar 1961 Jerusalem, 4. Januar 1961 Lieber Herr Smith, ich bin für einige Zeit krank gewesen, fühle mich jetzt aber etwas besser und nehme meinen Briefwechsel wieder auf. Deshalb möchte ich einige der Fragen Ihres Briefes vom 11. November, wenn auch nur kurz, beantworten. Ich dachte niemals, daß Kants Ansicht von Gott »im Menschen drinnen« ist. Meiner Meinung nach hat das Problem der göttlichen Existenz Kant sein ganzes Leben lang gejagt. Es brach aus, wenn man es so sagen kann, auf Grund eines Problemes in seinem bemerkenswerten Opus postumum, über welches ich geschrieben habe. Ich verstehe nicht, was Sie mit einer theologischen Differenzierung meinen, da ich meine Auffassung vorerst auf die einfache Erfahrung der Beziehung zwischen einem selbst und einer anderen menschlichen Person begründe. Dies ist eine Realität, in welcher ich mich selbst vorfinde und ich weigere mich, dies in die Psyche hinein zu blenden. Ich sage ausdrücklich, daß die Dualität der Beziehungen etwas ist, das den Menschen zu dem macht, was er ist und sich das nur in seiner dualen Erfahrung ausdrückt. Deshalb nenne ich dies ontologisch. Sie werden einige Bemerkungen zu dem sogenannten »Monologischen Dialog des Selbst mit sich selbst« in meiner Rede über die Sprache in diesem Jahre finden, veröffentlicht in Wort und Wirklichkeit, herausgegeben von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Verlag von R. Oldenbourg, München. Der Abschnitt, den ich meine, befindet sich auf Seite 19. 15 Die Schrift zum Unbewußten wird die letzte in einem Band anthropologischer Schriften sein. Die englische Ausgabe davon wird von Harper veröffentlicht werden. Ich hoffe, sie im März schreiben zu können, damit sie im April übersetzt werden kann. 16 Mit freundlichen Grüßen
15. »Das Wort, das gesprochen wird«, zuerst in: Wort und Wirklichkeit – Sechste Folge des Jahrbuches Gestalt und Gedanke, hrsg. von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München: R. Oldenbourg 1960, S. 15-31. Abgedruckt in MBW 6. 16. Seminar on the Unconscious. Buber beabsichtigte offenbar, diesen Text zu überarbeiten, welcher auf deutsch unter dem Titel »Das Unbewußte. Notizen zu einem Seminar in der School of Psychiatry in Washington« im Band Nachlese, 1965, erschien. In diesem Band S. 217-235.
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Briefwechsel
57. Robert C. Smith an Martin Buber, 16. Juni 1961 Villanova, Penna. 16. Juni 1961 Lieber Dr. Buber, gestern war für mich und meine Familienmitglieder ein sehr spannender Tag. Ich wurde von der Temple Universität mit dem Doktortitel ausgezeichnet. Nochmals möchte ich Ihnen für Ihre Hilfe durch das Beantworten der vielen Fragen, die ich stellte, danken. […] […] Ich hoffe, dieser Brief erreicht Sie in bester Gesundheit. Auch tat es mir leid, von Jungs kürzlichem Tod zu erfahren. Über seinen Tod wurde in Zeitungen und Magazinen in diesem Land umfassend berichtet. Mit freundlichen Grüßen
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Dialoge
Das Unbewußte1 Notizen von einem Seminar in der School of Psychiatry in Washington Erstes Gespräch: 23. März 1957
Buber: In den Analekten des Konfuzius gibt es eine Geschichte von einem Schüler, der einige Zeit damit verbrachte, am Hof eies der Könige wieder einmal »die Begriffe zu klären«. Solange sie unklar sind, ist alles im Königreich zweifelhaft. Begriffe werden problematisch, weil sie keinen konkreten Zusammenhang zeigen, der kontrolliert werden kann. Jede Abstraktion muß die Probe bestehen, auf eine konkrete Realität bezogen zu werden, ohne die sie keinen Sinn hat. Diese Überprüfung der Begriffe hat notwendigerweise etwas Destruktives, wenn die neue Generation nicht ihr Leben lang Sklave der Tradition sein soll. Zur Geschichte des Unbewußten. Was Leibniz über die »kleinen nicht zu empfindenden Vorstellungen« (»petites perceptions insensibles«)2 sagte, kommt dem Unbewußten nahe, aber es ist nicht dasselbe. Es handelt sich um Elemente des Seelenprozesses. Plotin hat eine klare Lehre des Unbewußten: »Wir wissen nicht alles, was in jedem Teil der Seele vor sich geht, nur auf Grund der Tatsache seines Vor-sich-Gehens.Wir wissen es nur, wenn es die ganze Seele durchdrungen hat.« (4. Enneade 8, 8.) »Denn es ist sehr möglich, daß jemand etwas in sich hat, ohne sich dessen bewußt zu sein, und sogar in einer wirksameren Form, als wenn er es wüßte.« (4. Enneade 4, 4.) »Das Bewußtsein scheint die Vorgänge, die es wahrnimmt, zu verdunkeln, und nur wenn sie ohne es vorgehen, sind sie reiner, wirksamer und lebendiger.« (1. Enneade 4, 10.) Das Unbewußte ist eine lebendige Kraft in mir, und wenn ich versuche, es bewußt zu machen, kann ich es verderben. Das Bewußtsein hat Grade. Die Durchdringung der ganzen Seele ist nicht notwendig für das Bewußtsein. 1. 2.
Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 283. Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux Essais sur L’entendement humain, Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. von der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Darmstadt 1923, Bd. 6, S. V 180.
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Nikolaus Cusanus gebraucht den Begriff nicht, aber er spricht über die verschiedenen modi der göttlichen Partizipation in unserer Existenz, und diese entsprechen verschiedenen Graden der Selbsterkenntnis. Die Ansichten von Leibniz sind am besten dargelegt in seinem Vorwort zu den Nouveaux Essais: »Es gibt in jedem Augenblick unseres inneren Seins eine unendliche Vielzahl von Vorstellungen, die nicht von Apperzeption und Reflexion begleitet werden, sondern nur Veränderungen in der Seele selbst darstellen – Veränderungen, die uns nicht bewußt werden, weil diese Eindrücke entweder zu schwach oder zu zahlreich oder zu gleichartig sind, so daß sie keine ausreichenden Unterscheidungsmerkmale bieten. Nichtsdestoweniger können sie im Einklang mit andern Vorstellungen ihre Wirkung tun und können innerhalb der Gesamtheit der Eindrücke ins Gewicht fallen, wenn auch nur unbestimmt und undeutlich.« 3 Das kommt dem modernen psychologischen Begriff des Unbewußten nahe, aber im Gegensatz zu Plotin ist es mehr eine Beschreibung als eine Theorie. Immerhin war der Einfluß dieser Gedanken von Leibniz sehr stark. Die Bemerkungen von Novalis über das Unbewußte sind von Leibniz abhängig, wie auch die der andern deutschen Romantiker. 4 In der deutschen Philosophie hat Hamman, der Gegner Kants, viel zu diesem Thema zu sagen. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts baute C. G. Carus, der Vater der modernen Psychologie, seine Psychologie auf folgendem Satz auf: »Der Schlüssel zur Erkenntnis von der Natur des Lebens der bewußten Seele liegt im Bereich der Unbewußtheit.«5 Damit meint er, daß wir kein bewußtes Phänomen verstehen können, ohne seine unbewußte Grundlage zu verstehen. Eduard von Hartmann sah im Unbewußten die Lösung des Welträtsels.6 Nicht der Wille, wie bei seinem Lehrer Schopenhauer, sondern das Unbewußte wurde bei 3. 4.
5.
6.
Ebd. S. 8. Gemeint sind vermutlich die Hymnen an die Nacht, die Novalis (1772-1801) in der Zeit zwischen 1797 und 1800, nach dem Tod seiner Verlobten, verfaßte und in denen er sich mit Tod und Unbewußtem auseinandersetzt. Leibniz sprach in seiner Abhandlung über die Metaphysik von »unbewußten Perzeptionen« bzw. kleinsten unbewußten Wahrnehmungen. Der Satz lautet bei C. G. Carus (1789-1869): »Der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußten.« Mit diesem Satz beginnt die Einleitung von Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele, 1846, S. 1. Vgl. insb. die Einleitung zu Hartmanns Philosphie des Unbewußten, Berlin 1869, S. 1-5. Dort heißt es, besonders wichtig sei, »wie das Princip des Unbewußten unvermerkt aus dem physischen und psychischen Gebiet sich zu Ansichten und Lösungen von Aufgaben erweitert, die man nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch als dem metaphysischen Gebiet angehörig bezeichnen würde.« (S. 3.)
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ihm zur treibenden Kraft der Schöpfung. Er hat Schopenhauer trivialisiert. Freud kannte Carus und von Hartmann. Er hat eine klare Definition gegeben – eine physiologische, keine biologische. Freud war ein leidenschaftlicher Gegner des Vitalismus, ein wahrer Vertreter der mechanistischen Philosophie. Die vitalistische Tendenz Bergsons sucht man bei Freud vergebens. Als Hauptargument gegen seine Lehre vom Unbewußten zitiert Freud immer wieder, daß das Unbewußte nicht psychisch sein könne, weil das Psychische bewußt ist. Im Gegensatz dazu stellt Freud fest, daß es Vorgänge im Menschen gibt, die jenseits von bewußter Erkenntnis, aber dynamisch wirksam sind. Das ist aber eine seltsame, falsche Alternative – zwischen einem Unbewußten, das nur physiologisch oder nur psychisch ist. Bestimmte unbewußte Prozesse funktionierten in einer Weise, daß sie die Eigenschaften des Geistes hatten. Reed: Es war eine tautologische Konsequenz der populären Definition des Geistes. Edith Weigert: Freud glaubte an eine Teilung des Geistes. Buber: Richtig! Ist es das Eine oder das Andere? Das Unbewußte ist für Freud keine Erscheinung, hat aber Wirkungen auf Erscheinungen. Das ist kein Dualismus der Substanz, sondern der Funktion. Trotz der Revolution in den Lehren von Jung ordnet auch er in allen seinen Schriften das Unbewußte in die Kategorie des Psychischen ein, und ebenso macht es die ganze moderne Psychologie. Was ist der radikale Unterschied zwischen physischen und psychischen Erscheinungen, und was ist das Kriterium, um eine Entscheidung hier oder dort einzuordnen? Und warum kann das Unbewußte weder an dem einen noch an dem andern Ort untergebracht werden? Nicht nur das Unterscheiden von zwei Substanzen, wie in jeder Philosophie, sondern sogar das Unterscheiden von zwei Funktionsbereichen genügt hier nicht. Das Physische und das Psychische vertreten zwei radikal verschiedene Arten des Erkennens: durch die Sinne oder den ›inneren Sinn‹. Was ist der grundlegende Unterschied zwischen Erscheinungen, die durch die äußeren Sinne, und solchen, die durch den inneren Sinn gegeben sind? Das Gefühl – reiner psychischer Prozeß in der Zeit – kann nicht als physisch befunden werden. Mein Gedächtnis bewahrt den Prozeß nur durch einen weiteren Prozeß in der Zeit. Die Physiologie hat es mit Dingen zu tun, die man als befindlich wahrnehmen kann. Die Annahme, das Unbewußte sei entweder Körper oder Seele ist unbegründet. Das Unbewußte ist ein Zustand, aus dem diese zwei Phänomene noch nicht hervorgegangen sind und in dem beide noch nicht voneinander unterschieden werden
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können. Das Unbewußte ist unser Sein selbst, aus dem die beiden (Phänomene) in jedem Augenblick wieder und wieder hervorgehen. Um in Erscheinung zu treten, muß sich das Unbewußte dissoziieren – eine der Methoden dieser Dissoziierung ist die analytische Psychologie. Nicht alles, was ist, ist Erscheinung. Der Bereich einer Erscheinung ist begrenzt. Das Psychische ist reiner Prozeß in der Zeit. Es gibt Punkte der Begegnung zwischen dem Physischen und dem Psychischen – bewußte –, aber wir müssen zwischen den beiden Bereichen unterscheiden. Ein psychischer Prozeß kann nicht im Gehirn vor sich gehen, was immer die Beziehung zwischen den beiden sein mag. »Die Seele ist nicht befindlich.« Um das Physische als Ganzes zu fassen, benötige ich die Kategorie des Raumes genauso wie die der Zeit. Aber für das Psychische benötige ich nur die Zeit. Ich meine dasselbe, was die moderne Psychologie mit dem Unbewußten meint – dieses dynamische Faktum, das sich durch seine Wirkungen bemerkbar macht, Wirkungen, die der Psychologe erforschen kann. Ein Beispiel. Wenn es Archetypen gibt, so erfahren wir etwas von ihnen durch ihre Wirkung: die Archetypen selber, sagt Jung, können niemals wahrgenommen werden, aber sie beeinflussen das Leben in dieser oder jener Weise, die nur aus ihnen kommen kann. Ich bestreite nicht im geringsten, daß es Dinge gibt, die unser Leben beeinflussen und die in bestimmten Bewußtseinszuständen zutage treten. Wir können nichts über das Unbewußte an sich aussagen. Es ist uns niemals gegeben. Aber wir können aus bestimmten Bewußtseinszuständen schließen, daß es bestimmte Dinge geben muß. Der grundlegende Fehler von Freud war, zu glauben, daß er zugleich haben und nicht haben konnte. Der Psychoanalytiker kann das Unbewußte des andern nicht verstehen, aber er kann das Bewußte des andern als etwas Primäres verstehen – es gibt unmittelbares Verstehen von Mensch zu Mensch. Wilhelm Dilthey hat den Versuch gemacht, das gegenseitige Verstehen zu analysieren.
Zweites Gespräch: 30. März 1957
Maurice Friedman: Zusammenfassung und Überlegungen. Die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Physischen und dem Psychischen, obwohl nicht klar getrennt, reicht nicht in das Unbewußte hinein, das nicht-phänomenologisch ist und der Spaltung zwischen dem Psychischen und Physischen vorausliegt. Freuds logischer Fehler, dem alle Schulen der Psychoanalyse folgten, lokalisiert das Unbewußte innerhalb
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der Person. So wird die Wirklichkeit mehr als eine psychische denn als eine zwischenmenschliche gesehen. Buber: Die meisten psychologischen Schulen, besonders die Jungs, nehmen an, daß es eine nicht-phänomenologische, sondern psychische Wirklichkeit gibt. Das bedeutet die Aufstellung einer mystischen Hypothese als Grundlage der Wirklichkeit. Wir wissen aus zusammenhängender Lebenserfahrung nur etwas vom Sein, soweit es die zwei Richtungen und die zwei Arten der Phänomene (die psychischen und die physischen) umfaßt. Die Annahme einer Psyche, die existiere, wie etwas im Raum existiert, ist entweder eine Metapher oder ein rein metaphysischer Grundsatz über die Natur des Seins, für den es keinerlei Erfahrungsgrundlage gibt. Freud blieb letzten Endes ein radikaler Physiologe. Jung behandelte das Problem falsch, und Freud behandelte es überhaupt nicht. Freud nimmt diese Fragen bis zum Schluß leicht: er spricht nicht ausdrücklich von der Seele, sondern von dem, was »psychoate« (etwa: psychisch begründet) ist. Er definiert es niemals. Freud war ein »simplificateur« so wie es Marx auf dem gesellschaftlichen Gebiet vor ihm war, d. h. jemand, der eine allgemeine Konzeption an die Stelle der immer erneuten Erforschung der Wirklichkeit setzt. Ein neuer Aspekt der Wirklichkeit wird von dem simplificateur als die Lösung eines der Welträtsel behandelt. Fünfzig Jahre psychotherapeutischen Denkens haben auf dieser gefährlichen Art des Denkens aufgebaut. Nun ist diese Zeit zu Ende. Reed: Solche Fragen haben Freud, wie alle Positivisten, nicht beschäftigt, aber es gibt bei ihm Ansätze zu ausgesprochen metapsychologischen Theorien. Buber: Ja, zum Schluß, aber er wollte nicht aufgeben, was vorausgegangen war, und so konnte er damit nichts weiterbringen. Außerdem: seine Schule hielt sich an seine früheren Theorien. Sie hatten ihre ganze Lehre und Behandlungsweise darauf aufgebaut. Aber es war ein großer Versuch, die Probleme philosophisch zu fassen – ein tragischer Versuch. Ein Denker, der neu anfängt, ohne in vollem Ernst den Neuanfang zu wagen, muß scheitern. Einige Denker konnten das nur vermeiden, indem sie alles im Zustand offener, sich ständig erneuernder Problematik beließen. Das ist die spezifische Verantwortlichkeit des denkenden Menschen angesichts der Realität. Dr. Tucker: Würden Sie das Psychische mit Bewußtsein gleichsetzen? Buber: Es gibt viele Grade des Bewußtseins. Wenn es in einem Bereich so viele Teilbereiche gibt, dann möchte ich es nicht gern zur Grundlage machen. Aber ich kann nicht definieren, was das Psychische ist. Die Hauptaufgabe des Denkens ist es immer wieder, Kritik an Begrif-
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fen und Definitionen zu üben und sie mit einer Wirklichkeit zu konfrontieren, von der jene Denker nichts wußten. Ich lehne eine Definition ab, nicht nur, weil ich keine weiß, sondern auch im Interesse dieser Denkdynamik. Das Psychische, das in diesem Augenblick vor sich geht, kann selbst nicht so weit Objekt sein, daß eine Definition möglich wäre. Tucker: Würden Sie das Psychische mit »Geist« gleichsetzen? Buber: Das Psychische kennen wir unmittelbar und ohne Problem, aber »Geist« ist eine unentbehrliche Objektivierung. Dr. Farber: Eines der Argumente, die Freud für das Unbewußte anführt, sind posthypnotische Phänomene. Gegenstand des Unbewußten ist gewöhnlich eine Suggestion, d. h. die Person schläft ein und tut dies und jenes. Und wie wir jetzt genau wissen, sind Schlaf und Hypnose nicht identisch. Buber: Was wird in dieser hypnotisierten Person beeinflußt? Carus würde sagen: ›die Seele‹. Das ist eben der fragliche Punkt. Ich würde sagen, nicht die Seele, sondern das nicht-phänomenale Unbewußte, das sich in das Physiologische und das Psychische dissoziiert. Beim Aufwachen aus der Hypnose ist das erste, was geschieht, diese Dissoziierung. Das erste, was sich ereignet, betrifft den Kontakt zwischen den beiden Zuständen und nicht den gemeinsamen Bereich. Farber: Ich finde hier etwas, das uns das Vergessen der Träume verständlicher macht. Eine Ursache dafür, daß sie so schnell verschwinden – es sei denn, sie werden in der psychischen Aufmerksamkeit objektiviert –, ist, daß sie als solche gar nicht existieren. Buber: Kennen wir denn Träume überhaupt? »Haben« wir einen Traum, so wie ich dieses Glas hier habe? Wir haben das Werk der gestaltenden Erinnerung. Aber wie kann ich das als die geträumte Wirklichkeit anerkennen und nicht vielmehr als die Haltung des Träumenden in Bezug auf X – den ›Traum‹, den ich an sich niemals kenne? Das ist die erste Frage. Die zweite ist die nach dem Inhalt der Träume und damit die nach Freuds ganzer Theorie der Verdrängung. Was ist der Hauptunterschied zwischen dem Zustand des Wachseins und des Träumens? Wir neigen dazu zu denken, daß die regelmäßige Wiederkehr von Träumen dem bewußten Zustand der Seele analog sei. Wir können jedoch einen Traum mit keinem andern Phänomen vergleichen. Im Traum selbst, so scheint es, haben wir ein gewisses Gefühl von Bewußtheit. Dessen Beziehung zum Bewußtsein im psychischen Leben ist ein echtes Problem. Was ist der Charakter der Verbindung zwischen Elementen eines Traums im Gegensatz zu der zwischen Elementen des bewußten Lebens? Es handelt sich da um etwas sehr Verschiedenes. Freud hat gar nicht den Versuch gemacht, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. Manch-
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mal mache ich beim Erwachen eine gewaltige Anstrengung, um mich von der Welt der Träume loßzureißen und in die gemeinsame Menschenwelt (Heraklit) einzugehen. Eine andere Frage: Inhalte unseres bewußten Lebens erscheinen im Traum wieder. Wie weit ist der Traumgegenstand mit dem des wachen Lebens identisch oder nicht-identisch? Eine vierte Frage: Wie wir alle wissen, gibt es im bewußten Leben eine ordnende Macht. Jeden Morgen, wenn wir erwachen, ist da von neuem eine treibende Kraft, die uns handeln und in einem gemeinschaftlichen Kosmos leben heißt. Nichts dergleichen geschieht in Träumen. Sie haben ihre eigene Art von Kontinuität und Zusammenhang. Was ist das Wesen dieses Unterschieds? Eine psychologische Theorie des Traumes wird gewaltig erschwert durch die Tatsache, daß der Traum uns weder als Erfahrung noch als Gegenstand der Erforschung gegeben ist, und auch nicht als etwas, das mit dem bewußten Leben verglichen werden kann. Selbst in meinem hohen Alter bin ich noch nicht zu einem Zustand des Gleichmuts hinsichtlich der Träume gelangt, die ich jede Nacht habe. Freud hat das alles als etwas Selbstverständliches behandelt. Die Anhänger des Tao haben niemals aufgehört, über das Traumproblem nachzudenken. Der Traum ist ein Problem, das dem des Todes tatsächlich benachbart ist. Shakespeares Vergleich ist keine Metapher, denn beide sind ihrem Wesen nach unbekannt. Wir glauben auf Grund unserer gestaltenden Erinnerung den Traum zu kennen, aber das eigentlich Zugrundeliegende entzieht sich uns. Mollegen: Gibt es die gestaltende Erinnerung auch im Traum? Buber: Es gibt da eine sehr verschiedene Art von gestaltender Erinnerung. Im bewußten Leben können wir sehen, wie in voller Unschuld eine Legende geboren wird. Das mag im Traum auch so vor sich gehen, aber wir können es nicht wissen. Es gibt kein objektives Fortbestehen von Träumen, während die anderen Erinnerungen durch andere Zeugen kontrolliert werden können. Edith weigert: Der Traum hat viel Ähnlichkeit mit dem, was Psychotiker hervorbringen; beides ist ungeordnet. Buber: Der Mensch im Zustand der geordneten Welt duldet nichts Ungeordnetes. Weigert: Es ist sehr wichtig, daß wir in seine eigene Welt eindringen, um durch die Ungeordnetheit durchzustoßen. Buber: Hier genau liegt der Unterschied. Man kann nicht versuchen, in Kontakt mit dem Träumenden zu kommen. Sobald man Erfolg hat, ist es aus mit den Träumen. Es ist ein dynamischer Unterschied. Weigert: Man kann versuchen, mit dem Psychotiker später in Berüh-
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rung zu kommen wenn er weniger ängstlich und in mehr geordneter Verfassung ist und genauso können wir mit dem Träumenden verfahren. Buber: Nein! Ich kann versuchen, mit dem Schizophrenen in Kontakt zu kommen, aber ich kann nicht mit einem Träumenden in Kontakt kommen. Der Schizophrene bleibt ein Schizophrener, aber etwas in ihm hat noch mit uns Gemeinschaft. Es gibt keine Gemeinschaft mit dem Träumenden. Dan weininger: Manchmal hat sich in seinem Bewußtsein etwas geändert, wenn er aus dem Schlaf kommt. Buber: Er liegt wach in einem Zustand ungewöhnlicher Klarheit, aber das bedeutet den Übergang vom Schlaf in einen Zustand der Klarheit. Ich erinnere mich – und andere haben es mir bestätigt – an Nächte von außerordentlicher Klarheit ohne Schlaf. Das Lösen von Problemen »im Schlaf« geht so vor sich. Es ist eine außerordentliche Wachheit – viel intensiver als in der gemeinschaftlichen Welt. Es ist weder Traum noch Schlaf. Mrs. Marjorie Farber: Ist ein Traum nicht wie ein Kunstwerk ohne einen bewußten ›Schöpfer‹ ? Buber: Die Einbildungskraft ist nicht an einen bestimmten Zusammenhang von Bildern gebunden. Sie hat keine Verantwortung in bezug auf Tatsachen. Sie hat ihre eigenen Gesetze, aber sie ist nicht an ein bestimmtes Material gebunden. Aber der Mensch, der sich an Träume erinnert, würde bewußt und willentlich nichts ändern. In der Einbildungskraft habe ich ein Gefühl eines dynamischen Prozesses, dem ich unterworfen bin. Das ist der Unterschied von der »Flucht der Gesichte«. Diese ähnelt dem Traum, aber im Traum hängen die einzelnen Erscheinungen immer zusammen. Der Traum ist episch – eine Abfolge von untereinander zusammenhängenden Geschehnissen – aber diese GesichterFluchten sind vollständig voneinander getrennt. Das hat etwas Gemeinsames mit der psychotischen Ideenflucht (Binswanger). Margarete rioch: Setzen Sie die Welt des Schlafes und der Träume mit dem Unbewußten gleich? Buber: Nein! Träume sind eine der Formen des Unbewußten. Die sogenannte Seele und der sogenannte Leib sind nicht voneinander getrennt, aber die Welt ist abgetrennt. Hierin weiche ich gar nicht von den analytischen Schulen ab. Ich anerkenne alles, was sie als solches unbewußt nennen. Einzelne psychotische Prozesse sind es – insoweit ich keinen psychischen Vorgang unterscheiden kann. Farber: Der Traum ist manchem ähnlich, was in der Psychose vor sich geht.
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Kvarnes: In beiden kann man Beobachter sein, ohne daran teilzuhaben. Buber: Man kann eine Art von Gespräch mit dem Schizophrenen führen. Kvarnes: Der Patient kann im Lauf einer einzigen Unterredung hinein- und herausfallen aus der Psychose. Insofern er psychotisch ist, kann man ihn nicht erreichen. Dr. Cameron: In Fällen, wo die Therapie mit Erfolg fortgeschritten ist, gibt es Umstände, unter denen die Distanz im Gespräch zwischen dem Therapeuten und dem Patienten verlorengeht. Ich habe einen bärtigen deutschen Patienten, sehr krank, zu dem ich eine falsche Beziehung hatte. Dann wurde er von einem andern Patienten geschlagen und zog sich gänzlich in seine eigene Welt zurück. Als mir klar wurde, daß diese Art des Anteilnehmens ein wesentlicher Faktor der Beziehung war, kehrte die Distanz zurück. Er erzählte mir seinen Traum, und es ging ihm besser. Buber: Unter meinen Freunden war ein Schizophrener, dessen Krankheit ich Jahre hindurch verfolgt habe. Er hatte eine Frau mit einer erstaunlichen Willenskraft, die ihn ein für allemal geheilt sehen wollte. Ich bezweifle, daß dergleichen möglich ist. Wenn der Mann lang genug lebt, wird sich Gleiches oder Ähnliches wieder ereignen. Um ihn zu heilen, besuchte sie ihn in den katatonischen Augenblicken, wo er Haltungen, Stellungen und Bewegungen annahm, von denen einige für einen normalen Menschen nicht möglich sind. Diese Frau bemühte sich mit Erfolg, ihn nachzuahmen, und machte dieselben Bewegungen wie er. Da geschah etwas Seltsames. Er ließ sie in seine Sonderwelt ein – nahm sie mit herein. Manche Schizophrene haben den Wunsch, eine andere Person aus dem Bereich der gemeinschaftlichen Menschenwelt in ihre Sonderwelt zu ziehen – in die einzige, die (für sie) wirklich Wert hat. Der Einfluß war positiv. Vielleicht in demselben Maß, in dem er sie hineinnahm, kam er heraus – er lernte eine Welt schätzen, die ihnen beiden gemeinsam war. (Zwischenruf: folie à deux.) Ungefähr zwanzig Jahre später, nachdem dieser Mann für eine Reihe von Jahren normal gewesen war – ein von allen geachteter Universitätsprofessor –, sah ich ihn wieder, und er erzählte mir von seiner Frau, daß sie es nicht wagte, aus dem Haus zu gehen und selbst bei Tag ihr Bett zu verlassen. Der Mann war anscheinend normal. Wir sprachen mehrere Stunden miteinander. Aber als ich wegging, erzählte er meiner Frau, daß er den Engländern durch seine Verbindung zu den Sternen sehr nützlich gewesen sei. Unsere gemeinschaftliche Welt ist für den Schizophrenen eine Welt der Täuschungen und Konventionen. Ihre Sonderwelt ist die wirkliche. Sie haben einen doppelten Gedächtnisstrom.
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Dr. Cameron: Das Fehlen von Distanz ist charakteristisch für die Schizophrenie. Buber: In den Träumen, an die wir uns erinnern, werden manchmal Räume dazwischengeschoben, in dem Sinn, daß Dinge hier vor sich gehen und dort andere Dinge, daß sie sich aber nicht vermischen. Es gibt also sozusagen zwei Ebenen, zwei Raum-Dimensionen, die nebeneinander fortbestehen. Noch seltsamer sind die Zeiterscheinungen. Ich hatte einmal einen Traum, in dem ich zu einem Zeitpunkt vorwärtsging, und der Wind blies mir ins Gesicht. Da sagte ich zu mir selbst im Traum: »Aha, das ist die andere Zeit.« Im Traum gibt es einen Zusammenhang von Dingen, der gänzlich verschieden ist vom Wachzustand, aber es gibt ihn. Es hat eine Zeit in meinem Leben gegeben, da ich sehr viel von Träumen wußte; dann wurde es immer weniger, und nun ist es nur noch Erinnerung. Was Rank über die Träume schrieb, ist recht interessant. Weigert: Das Interesse an Träumen nimmt ab, weil die Traumdeutung eine Kunst ist. Buber: In seiner ganzen Wirklichkeit ist der Traum unzugänglich. Der hypnotische Traum ist sehr anders als der gewöhnliche. Ein bestimmter Traum von mir ging weiter, bis zu einem Zeitpunkt, in dem ich das Gefühl hatte – im Traum –: »Es ist nicht, wie es sein sollte – was nun?« Als ob ich eine Geschichte schrieb und daran dächte, sie zu ändern. Von diesem Augenblick an kam dieselbe Szene immer wieder vor, mit einigen Abweichungen. Schließlich gelang es mir, den Schluß der Szene zu ändern, und es ging weiter. Das wiederholte sich viele Male. Als ich aufwachte, dachte ich, daß es ein bestimmtes Willensmoment im Traum gibt, obwohl es nicht als solches im Traum gefühlt wird. Dr. Smith: Was würden Sie aus dem folgern, das Sie im Unbewußten und in der gestaltenden Erinnerung eines Traums sehen? Buber: Träume sind nicht das beste Beispiel, weil es schwierig ist, sie zum Forschungsgegenstand zu machen. Smith: In der Praxis werden Träume mehr in der Richtung behandelt, wie Sie vorschlagen, als nach den Traumtheorien. Buber: Zunächst würde ich raten zu beobachten, was der wache Mensch mit dem Traum tut. Seit etwa zehn Jahren habe ich den Eindruck, daß sich in der psychotherapeutischen Praxis ein Wandel vollzieht, indem immer mehr Therapeuten nicht länger so fest davon überzeugt sind, daß diese oder jene Theorie richtig ist, und eine mehr ›musikalische‹, fließende Beziehung zu ihrem Patienten haben. Die entscheidende Wirklichkeit ist der Therapeut, nicht die Methoden. Ohne Methoden ist man ein Dilettant. Ich bin durchaus für Methoden, aber
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um sie zu gebrauchen und nicht, um an sie zu glauben. Obwohl kein Arzt ohne Typologie auskommen kann, weiß er doch, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt die unvergleichliche Person des Patienten vor der unvergleichlichen Person des Arztes steht; er wirft so viel von seiner Typologie über Bord, als er kann, und nimmt das Unvorhersehbare auf sich, das zwischen Arzt und Patient vor sich geht. Dieser Wandel verbindet sich mit einem ›medizinischen Realismus‹, der nicht, wie der gewöhnliche Gebrauch der Fachausdrücke, des Akzeptieren von Allgemeinbegriffen ist, sondern die Annahme dieser einen Situation in ihrer Einzigartigkeit. Obwohl es mir nicht erlaubt ist, auf Typologie und Methode zu verzichten, muß ich wissen, in welchem Augenblick ich sie aufgeben muß. Dr. David Rioch: Könnten Sie unterscheiden zwischen dem Aufgeben von Hypothesen um gegebener Tatsachen willen und um des Einmaligen willen? Buber; Über Dinge, die objektiviert sind, können sich Menschen nur in einer bestimmten gemeinsamen Sprache verständigen. Rioch: Wir haben die vorausgegangene Erfahrung, die gegenwärtige Erfahrung und die Formulierung. Buber: Ja, aber die Formulierung ist weniger wichtig. Rioch: Die Formulierung ist von größter Wichtigkeit, da es keinen Tatbestand ohne Formulierung gibt. Buber: Die Erfahrung ist die Voraussetzung jeder Formulierung. Ich meine die wirkliche Formulierung. Ich meine die wirkliche Begegnung zwischen dem Therapeuten und dem Patienten, die vor allen Formeln und gegebenen Tatsachen kommt. Rioch: Es besteht ein Unterschied zwischen Hypothesen, die auf Tatsachen, und Hypothesen, die auf Schlußfolgerungen beruhen, z. B. das Unbewußte, Freundschaft und Liebe. Eine Menge solcher Ableitungen werden jetzt aufgegeben und recht nützlicherweise. Buber: Ja, das bestreite ich nicht, aber die Hauptsache ist, was von anderen Erfahrungen und Schlußfolgerungen verschieden ist und nicht das, was allen gemeinsam ist. Rioch: Kennen Sie jemanden, der eine Nacht der Klarheit gehabt hat, ohne vorher sorgfältig an einem Problem gearbeitet zu haben? Buber: Oja, ich selber – im allgemeinen zwar nicht, aber ein- oder zweimal als Überraschung, mit dem Charakter einer ständigen Überraschung, und die bestimmte hinterher die Ursache meiner anderen, nachträglichen Gedanken. Rioch: Wenn Sie etwas herausbekommen, ist es dann notwendig, es zu kontrollieren?
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Buber: Niemals im Verlauf selber, manchmal hinterher. Aber zu meinem Leidwesen vergesse ich es.
Drittes Gespräch: 6. April 1957
Farber: Es gibt offenbar drei Gebiete, die von den Folgerungen aus Ihrer Theorie des Unbewußten betroffen werden: die Freudsche Theorie, der Dialog im Vergleich zum psychologischen Ansatz und die Therapie im allgemeinen. Buber: Ich weiß nichts über die Folgerungen, die aus meinen Gedanken für die verschiedenen Gebiete zu ziehen sind. Wenn ich gefragt werde, fange ich an, darüber nachzudenken. Ich war ungefähr vierzig Jahre, als ich anfing, über diese Fragen nachzudenken. Ich bekam den Eindruck, daß verschiedene Leute auf verschiedenen Gebieten anfingen, sich dafür zu interessieren und diese Ideen zu übertragen wünschten. Ich war bereit, mich dafür gebrauchen zu lassen. Ungefähr 1923 begannen die Psychotherapeuten sich zu interessieren und wollten mit mir ins Gespräch kommen. Und ich redete und redete. Sie, nicht ich, zogen die Folgerungen. Ich will es heute Abend versuchen, aber ich habe keine Schlüsse und Folgerungen parat. Wenn Sie eine Frage an mich richten, werde ich eben anfangen, darüber nachzudenken. Farber: Sie sagten, daß Freud einen Fehler beging, das Unbewußte als psychisch zu bestimmen. Was ergibt sich daraus nach Ihrer Theorie für Freuds Bemühungen, die Inhalte des Unbewußten bewußt zu machen – für Verdrängung, Fixierung, Übertragung und freie Assoziation? Buber: Das Bewußte unbewußt machen bedeutet, daß es verdrängte Elemente gibt, die der Patient nicht behalten will. Er versenkte sie in den Acheron, und nun veranlaßt der Therapeut ihn, sie wieder ans Licht zu ziehen. Wenn das Unbewußte nichts Psychisches ist, das im Untergrund aufbewahrt wird, sondern eben ein Stück Körper-Seelen-Dasein, kann es überhaupt nicht hervorgeholt werden, wie es vorher war. Wir haben keine Tiefkühlung, die die Fragmente konserviert, sondern dies Unbewußte hat sein Eigendasein, das wieder in physische und psychische Phänomene dissoziiert werden kann – aber das kann eine radikale Veränderung seiner Substanz bedeuten. Diese radikale Veränderung kann vom Patienten unter der Aufsicht, Hilfe und sogar Initiative des Therapeuten hervorgebracht werden. Die neue Dissoziierung kann auf sehr verschiedene Weise hervorgebracht werden, aber jedesmal findet eine radikale Veränderung statt. Was bedeutet diese seltsame Zusammenarbeit zwischen zwei Personen, in deren Verlauf diese Veränderung und Aufarbeitung
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vor sich geht? »Übertragung« ist eine Voraussetzung dafür, aber selbst der Begriff Übertragung ändert sich grundlegend, wenn es nicht darum geht, das Unbewußte bewußt zu machen, sondern um die Aufarbeitung dieser dissoziierten Elemente. Es handelt sich um eine einzigartige Zusammenarbeit, deren Stoff geradezu ein Stück der Substanz des andern ist. Wenn es das Ziel ist, etwas heraufzuholen, das im Untergrund liegt, dann ist der Therapeut nur eine Art von Hebamme. Wenn aber diese Arbeit eine wirkliche und manchmal radikale Veränderung der Substanz bedeutet, dann impliziert die Übertragung in hohem Maß einen bestimmten Einfluß des Therapeuten auf den Vorgang selbst. Der Patient hat den Eindruck, daß eine Entdeckung vor sich geht in bezug auf etwas, das in seiner Seele enthalten ist, und zwar in unbewußter Form. Das ist ein Irrtum des Patienten, zu dem er durch die Beziehung zwischen ihm und dem Therapeuten veranlaßt wird. Er holt herauf, was nach seinem Gefühl von ihm gewollt wird. Ich möchte die Therapeuten der Welt bitten, das Wesen dieser einzigartigen Übertragungsbeziehung erneut zu untersuchen. Margarete rioch: Da wird dem Therapeuten eine große Verantwortung auferlegt. Buber: Ja. Denn es wird vielmehr etwas hervorgebracht und geschaffen als nur heraufgeholt. Keine andere Beziehung der Welt erzeugt so seltsame Phänomene. Bei diesem neuen Begriff wird die Verantwortung geteilt und liegt nicht nur beim Therapeuten. Farber: Freud ging von der Hypnose zur freien Assoziation über. Wie würden Sie die freie Assoziation beschreiben? Buber: Sie wird gewöhnlich so beschrieben, daß der Patient in eine Haltung versetzt wird, in der er seine Gedanken nicht lenkt, sondern zuläßt, daß er sagt, was ihm in den Sinn kommt. Meine Frage ist: ist das wirklich freie Assoziation? Was läßt uns annehmen, daß sie frei ist? Farber: Es ist klar, daß dies selten ist, und wir geben es zu. Der Patient würde unsere Hilfe nicht brauchen, wenn er frei assoziieren könnte. Buber: Es gibt zwei Arten von Therapeuten, einen, der mehr oder weniger bewußt die Art der Deutung kennt, die er erhalten wird, und den andern, den Psychologen, der das nicht weiß. Ich bin durchaus auf der Seite des zweiten, der nichts Bestimmtes will. Er ist bereit zu empfangen, was er empfangen wird. Er kann vorher nicht wissen, welche Methode er anwenden wird. Er ist sozusagen in der Hand seines Patienten. Man kann nicht verschiedenes Material mit der gleichen Methode deuten. Nehmen Sie z. B. literarische Texte. Man kann Lyrik nicht mit den selben Methoden interpretieren wie einen Roman. In der Welt der Patienten
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sind die Unterschiede noch größer als hier. Wenn bei der Deutung von Träumen der Therapeut kein Freudianer, Jungianer oder Adlerianer ist, sondern das, was der Patient ihm nahe legt, wird er ein besserer Therapeut sein. Es gibt mehr Gemeinsames in der Literatur als unter den Menschen. Die Deutung von Träumen wird sehr viel schwieriger ohne Kategorien. Der Therapeut muß bereit sein, sich überraschen zu lassen. Daraus kann sich ein neuer Typus des Therapeuten entwickeln – eine Persönlichkeit mit größerem Verantwortlichkeitsgefühl und sogar mit größeren Begabungen, denn es ist nicht so leicht, neue Verhaltensweisen ohne fertige Kategorien zu meistern. Ich finde diese neue Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, in den Schriften von Sullivan. Hier ergibt sich eine Analogie zur Physik, wo die Terminologie gerade geändert wird. Eine neue Terminologie ist notwendig, um Niels Bohrs Komplementärtheorie 7 auszudrücken – die ich für die wichtigste unseres Zeitalters halte. Edith weigert: Ich verstehe, daß wir uns selbst von den Kategorien befreien müssen – aber man braucht doch einige vorgezeichnete Erwartungen. Gibt es keinen Mittelweg, der vorgefaßte Ideen vermeidet und doch eine bestimmte Richtlinie der Erwartung hat, was gefunden werden soll? Buber: Der gewöhnliche Therapeut drängt sich dem Patienten auf, ohne es gewahr zu werden. Was ich meine, ist die bewußte Befreiung des Patienten von dieser unbewußten Aufdrängung des Therapeuten – indem er den Patienten wirklich sich selbst überläßt und abwartet, was dabei herauskommt. Der Therapeut nähert sich dem Patienten, aber er muß versuchen, ihn so wenig wie möglich zu beeinflussen, das heißt: der Pateint darf nicht beeinflußt werden durch die allgemeinen Ideen der Schule. Der Patient muß, wenn ich so sagen darf, mit der Demut des Meisters sich selbst überlassen werden, und dann wartet der Therapeut auf das Unerwartete und bringt das, was kommt, nicht in feste Kategorien. (Analog zur Interpretation des Gedichts). Es ist viel leichter, sich aufzudrängen, als die ganze Seelenkraft aufzuwenden, um den anderen sich selber zu überlassen und ihn sozusagen nicht anzurühren. Wenn ich etwas von einem unbekannten Dichter lese, kann ich beim Aufnehmen des Gedichts keine Methode anwenden. Wenn man Eliot nach Keats be7.
Die 1927 erstmals von Niels Bohr (1885-1962) aufgestellte Komplementärtheorie bzw. das Komplementärprinzip besagt, daß Wellen- und Teilchenbild in der Quantenmechanik komplementär sind und als solche nicht in einer einzigen Messung nachgewiesen werden können. Albert Einstein (1879-1955) bestritt diese Hypothese und versuchte einen Gegenbeweis in Versuchen mit Photonen (»Lichtteilchen«) zu liefern.
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urteilt, geht man fehl. Der wirkliche Meister weiß dem Einzigartigen zu begegnen. Maurice friedman: Ist das Unbewußte statt einer psychischen Sphäre im Innern eine Sphäre, die einen unmittelbaren Kontakt mit und Anteil am Zwischenmenschlichen hat als das Psychische? Wenn ja, würden dann Begriffe wie Introjektion und Projektion auf dieser Grundlage nicht teilweise in Frage gestellt werden? Buber: Das muß überdacht werden, aber es braucht Zeit – zwanzig Jahre vielleicht. Der neue Therapeut wird dann wohl auch nicht mehr Psychologe oder Psychotherapeut genannt werden. Ich habe das Gefühl, daß in bestimmten Krisen der späteren Kindheit eine entscheidendere Umbildung vor sich geht als im Kleinkind-Alter. Ich denke dabei an soziale und kosmische Pubertät – die auch ausbleiben können – und nicht einfach an die sexuelle Pubertät. Wir brauchen neue Begriffe und eine neue Art, die Dinge anzupacken. Wenn man die Sache anpacken will, muß es mit neuen Methoden und neuen Einsichten geschehen. Wenn das Unbewußte der Teil des Daseins einer Person ist, in dem die Bereiche von Leib und Seele nicht getrennt sind, dann bedeutet die Beziehung zwischen zwei Menschen die Beziehung zwischen zwei ungeteilten Existenzen. Da würde der höchste Augenblick der Beziehung das sein, was wir unbewußt nennen. Aber »das Unbewußte« sollte, mag und wird mehr Einfluß auf das Zwischenmenschliche haben als das Bewußte. Zum Beispiel beim Hände-Schütteln: wenn der wirkliche Wunsch besteht, in Berührung zu sein, dann ist der Kontakt weder körperlich noch seelisch, sondern eine Einheit aus beidem. Das Unbewußte als solches tritt nicht leicht in Aktion. Ich ziehe ein Wort zurück, du nimmst es an – das Unbewußte hat keine solchen Mittel zu seiner Verfügung. Immerhin – das Unbewußte führt manchmal zu einem halbartikulierten Ausruf, was alle vorbereiteten Wörter nicht können. In diesem Fall wird die Stimme das unmittelbare Instrument des Unbewußten. Dr. Rycoff: Der Patient leidet unendlich viel mehr an vorgefaßten Vorstellungen als der Therapeut (seine Abwehrmechanismen). Bringt Offenheit auf seiten des Therapeuten ihn dazu, diese Abwehrmechanismen fallen zu lassen? Buber: Sind Sie sicher, daß das die normale Haltung des Patienten ist? Besteht zur Zeit der stärksten Übertragung nicht das Bedürfnis des Patienten, sich selber in seinem Unbewußten in die Hand des Therapeuten zu geben, so daß ein Kontakt zwischen ihnen entsteht? Rycoff: Er kann das nicht. Er leidet an Wiederholungszwang. Er wendet immer die selben Mittel an und sieht das Neue an der Situation nicht.
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Buber: Ein Arzt führte ein Tagebuch über solche Dinge, und ein Jahr später lachte er über seine Diagnosen. Rycoff: Würden Sie die Betonung auf die Empfänglichkeit des Therapeuten legen? Buber: Ja, aber ich bin nicht sicher, ob Empfänglichkeit das richtige Wort ist. Aber der Therapeut muß innerlich bereit sein, so daß der Patient ihm existentiell vertraut. Dr. Nelkin: Führt Ihre Theorie zu dem Schluß, daß Heilung eher durch Begegnung zustandekommt als durch Einsicht und Analyse? Buber: Eine bestimmte sehr wichtige Art der Heilung – existentielle Heilung – kommt so zustande: Heilung, bei der nicht nur ein bestimmter Teil des Patienten, sondern wirklich die Wurzeln seines Seins erfaßt werden. Nelkin: Was halten Sie davon, zu sagen, daß Heilung zur Begegnung führt? Patienten finden Mittel und Wege, um Begegnung zu vermeiden, und das bezeichnen wir als Krankheit. Wenn nun aber diese Mittel aufgegeben werden, kann dann Begegnung stattfinden? Buber: Ich habe Zweifel daran. Meinen Sie, daß der Patient die Ursache dafür ist, daß die Begegnung nicht stattfindet? Es gibt bestimmte Schwierigkeiten auf seiten des Patienten, und andere, vielleicht nicht weniger, auf seiten des Therapeuten. Nicht jeder ist ein Therapeut, der sich dafür hält, obwohl er studiert hat und die erforderlichen Fähigkeiten besitzt. Betrachten wir einmal die Art der Beziehung, die Vertrauen genannt wird – existentielles Vertrauen einer ganzen Person zu einer anderen. Was wir im gewöhnlichen Leben Vertrauen nennen, spielt im Bereich der Heilung eine besondere Rolle, und solange es da noch nicht vorhanden ist, ist das Bedürfnis, das, was verdrängt wurde, in die Hände des Therapeuten zu geben, nicht wirklich da. Ich kenne in Europa Therapeuten ziemlich nahe, die sehr begabt waren und eine Menge wußten, Meister der Methoden, die erkannten, daß es eine lange Zeit braucht, um die Schwierigkeiten des Patienten zu überwinden (denen aber kein Vertrauen entgegengebracht wurde). Friedman: Tritt nach Ihrer Ansicht vom Unbewußten und von der Heilung »Bestätigung« an die Stelle von Beobachtung und Übertragung oder ergänzen sich Übertragung und Bestätigung, oder schließen sie einander ein? Buber: Lassen Sie uns diese Frage zweiteilen: Bestätigung ist in diesem Zusammenhang ein zu allgemeiner Begriff. Die Art der Bestätigung müßte näher bestimmt werden. Zweitens: Bestätigung ersetzt nicht Übertragung. Wenn aber Begegnung der entscheidende Faktor ist, würden sich auch die anderen Begriffe verändern, in ihrer Bedeutung wie in
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ihrer Dynamik. Alles verändert sich in der wirklichen Begegnung. Bestätigung kann als etwas Statisches mißverstanden werden. Ich begegne einem andern – ich nehme ihn an und bestätige ihn so, wie er jetzt ist. Aber eine Person bestätigen so wie sie ist, ist nur der erste Schritt, denn Bestätigung bedeutet nicht, daß ich ihre Erscheinung in diesem Augenblick als die Person verstehe, die ich bestätigen will. Ich muß darunter die andere Person in ihrer dynamischen Existenz, in ihrer spezifischen Möglichkeit verstehen. Wie kann ich bestätigen, was ich am meisten in seinem gegenwärtigen Sein bestätigen will? Es ist das Verborgene, denn im Gegenwärtigen liegt das, was werden kann, verborgen. Was in ihm angelegt ist, macht sich mir als das fühlbar, was ich am meisten bestätigen möchte. (In religiösen Begriffen: der Schöpfungssinn in ihm). Friedman: Gibt es für die Therapie eine bestimmte Art von Bestätigung? Buber: Ich neige dazu zu denken, daß sich in der schwersten Krankheit, die im Leben einer Person auftritt, zugleich die höchste Möglichkeit dieser Person kundgibt. Ein teilnehmer: Bestätigt bei der Heilung dieser Krankheit der Therapeut die Negativität? Buber: Der Therapeut kann das Wachsen von Möglichkeiten unmittelbar beeinflussen. Heilung heißt nicht das Alte heraufholen, sondern das Neue, sie will nicht einen Nullpunkt, sondern ein positives Gegengewicht erreichen. Wolfgang weigert: Dissoziiere ich nicht bei jedem Akt der Selbsterkenntnis? Was ist diese dissoziative Erfahrung? Buber: Das Unbewußte ist keine Erscheinung, weder eine physische noch eine psychische, und wir erfahren es niemals unmittelbar, sondern wir kennen es nur durch seine Wirkungen, durch die Dissoziierung des Ungeformten in Erscheinungen des Leibes und der Seele. Dissoziation ist der Vorgang seiner Selbstkundgebung in inneren und äußeren Wahrnehmungen. Das bewußte Leben des Patienten ist so, wie er es kennt, ein dualistisches Leben; sein objektives Leben ist nicht dualistisch, aber das kennt er nicht. Weigert: Ist dieser Dualismus eine Krankheit? Buber: Nein, er ist die Biographie der Leib-Seele-Einheit. David rioch: Was können Sie über Gott im Bezirk des Heiligen sagen? Buber: In dem Augenblick, da der Name Gottes genannt wird, brechen menschliche Kreise in Personen auseinander, ohne es zu wissen. In diesem Augenblick wird die Gemeinschaftlichkeit des Denkens – das Faktum des Zusammen-Denkens – zerstört. Der Unterschied zwischen
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einer Welt mit Gott und ohne ihn ist so ungeheuer, daß die Diskussion über Gott trennend wirkt, außer in einer Gruppe, die durch echten gemeinsamen Glauben verbunden ist. Die Menschen sagen Gott, ohne die Wirklichkeit zu meinen, als die erhabene Konvention einer kultivierten Persönlichkeit. Ein teilnehmer: Wenn der Mensch seine eigene Einheit nicht kennt, bedeutet das, daß er sich selbst nicht kennt? Buber: Zu sagen, daß der Mensch seine Einheit nicht als ein Objekt wahrnehmen kann, bedeutet nicht, daß er keine Vorstellung von seinem Selbst hat. In seltenen Augenblicken kann er die Vereinigung seiner Kräfte fühlen, jede Kraft in ihrer eigenen Sphäre, alle vereinigt, ohne ihr Eigenwesen zu verlieren. Dieses Einswerden ist die Vorbedingung wirklicher Entscheidungen. Eine Entscheidung, die nur von einem Teil des Menschen getroffen wird, ist keine echte Entscheidung. Der Mensch kann bis zu einem gewissen Grad das Bewußtsein und Gefühl von der Vereinigung seiner Kräfte haben, von seiner HandlungsEinheit, aber als ein Objekt kann er seine Einheit nicht wahrnehmen. Solange der Mensch das Selbst als ein Objekt wahrnimmt, ist er keine Einheit. Dr. Cameron: Könnten Sie etwas mehr auf das Wesen der gestaltenden Erinnerung eingehen? Buber: Die Geburt und das Wachsen von Legenden gibt ein gutes Beispiel ab. Es geschieht etwas, das so überwältigend ist, daß diejenigen, die es miterlebt haben, aufhören, treue Chronisten zu sein, und es in äußerster Unschuld als ein Wunder in Erinnerung behalten. Die Erinnerung gestaltet das, was geschieht. Cameron: Werden Sie in Ihrem Traum gewahr, daß Sie träumen und gestalten? Buber: Man kann sich an einen Traum gar nicht anders erinnern, als indem man ihn gestaltet. Das innere Handeln hat teil an dem Ergebnis, das man den Inhalt des Traums nennt. Es gibt einen aktiven Teil in den Träumen selber, der in einer gewissen Analogie zum Handeln im wachen Leben steht. Cameron: Bezieht sich das auf Distanz? Dieses Zurücktreten in der Schizophrenie – »das ist verrückt?« Buber: Der Schizophrene hat ein doppeltes Gedächtnis. Er wohnt in einer gemeinsamen Welt und in seiner eigenen Welt. Beispiel: »Der Oberdada« mit seinem Weimarer Tagebuch (1910). 8 8.
Johannes Baader (1875-1955) veröffentlichte in Berlin 1920 das Handbuch des Oberdada, eine literarische Montage auf Tageszeitungen. Er unternahm dadaistische, antibürgerliche Aktionen u. a. mit Raoul Hausmann (1886-1971) und ver-
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Margarete rioch: Gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Lehrer-Schüler-Verhältnis einerseits und der Beziehung zwischen Therapeut und Patient anderseits? Buber: Beide haben die Tatsache gemeinsam, daß Erzieher und Therapeut das Verhältnis auch von der Seite des Zöglings aus erfahren, ohne daß dies umgekehrt der Fall ist. Der Erzieher erfährt (die gemeinsame Situation) von seiner und von der Seite des Zöglings aus, aber das beruht nicht auf Gegenseitigkeit; der Zögling kann und soll die Seite des Erziehers nicht miterfahren. Geschieht es doch, so wird das Lehrer-SchülerVerhältnis gesprengt, oder die beiden werden Freunde. Das gleiche gilt für den Therapeuten und seinen Patienten. Der Therapeut muß die andere Seite geradezu körperlich mitempfinden, um zu wissen, wie der Patient sie empfindet. Wäre der Patient dazu ebenfalls imstande, so bedürfte er keiner Behandlung, und die Beziehung bestünde überhaupt nicht. Aber es gibt auch einen wesentlichen Unterschied. Es besteht eine bestimmte und rechtmäßige, eine recht problematische und trotzdem rechtmäßige Überlegenheit des Therapeuten. Ohne sie könnte er nichts ausrichten. Er muß freilich in ihr demütig bleiben, wenn er wirklich ein Therapeut sein soll. Ich glaube nicht, daß der Erzieher eine wirkliche Überlegenheit besitzt. Der Therapeut kann im günstigsten Fall tatsächlich heilen. Kein Erzieher kann vollkommen erziehen. Der Erzieher ist im Grunde eine tragische Gestalt, denn in den meisten Fällen bleibt das Lernen Stückwerk. Rioch: Auch die Tätigkeit des Therapeuten bleibt Stückwerk. Eine vollständige Entwicklung der menschlichen Person gibt es nicht. Buber: Existentielle Heilung bedeutet, den Patienten zur Selbsthilfe zu bringen – die gleiche Aufgabe hat Erziehung.
breitete Flugblätter und Manifeste, z. B. »Dadaisten gegen Weimar« 1919. Näheres über ein Weimarer Tagebuch von 1910 konnte nicht herausgefunden werden.
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Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers, 18. April 19571 Rev. Dewitt Baldwin: (Die ersten 11 Sekunden der Aufnahme sind weitgehend unverständlich.) … Dr. Maurice Friedman als ein, nun, als Interpret oder Diskussionsleiter … und ich bin mir sicher, daß viele von Ihnen sich auf die Gelegenheit gefreut haben den Gedankenaustausch zu sehen und (unverständlich) zu fühlen … zwei Männer wie Carl Rogers and Dr. Buber. Und so habe ich heute abend die angenehme Aufgabe, Sie willkommen zu heißen und Sie zu bitten, sich zurückzulehnen und zumindest eine Stunde zu genießen, in der Sie mit zwei Männern denken können, die sich mit ihren eigenen Ideen näher auseinandersetzen möchten. Ich möchte Ihnen hier eine Person vorstellen, die ich von den anderen sprechen lassen werde. Der Diskussionsleiter ist Professor Maurice S. Friedman, Professor der Philosophie am Sarah Lawrence College, Bronxville, New York. Professor Friedman, wie diejenigen, die an der Konferenz teilnahmen, sicher merken, ist einer der besten amerikanischen Interpreten Martin Bubers. Er war »undergraduate« in Harvard und »graduate« in der Ohio State und der Chicago Universität, wo er seinen Doktor machte, und ist vielleicht am bekanntesten in Zusammenhang mit Martin Buber durch sein Buch Martin Buber: The Life of Dialogue. Und so, Maurice, werde ich mich dir zuwenden und wissen, daß du es genießen wirst. Maurice friedman: Vielen Dank, DeWitt Baldwin. Es bereitet mir eine solche Freude, dies hier zu moderieren, denn ich könnte sagen, daß ich vielleicht den Dialog zwischen Professor Buber und Professor Rogers vor einigen Jahren initiiert habe, als jemand mich auf einige Ähnlichkeiten in ihrem Denken hingewiesen hat, und ich schrieb an Dr. Rogers, und er hat mich freundlicherweise mit einigen seiner Aufsätze versorgt, und dann korrespondierten wir eine Weile, und dann habe ich dieses Material an Buber geschickt, einschließlich einiger Artikel von Professor Rogers, und deshalb war ich sehr glücklich, als die Idee aufkam, daß die beiden hier im Dialog sprechen. Ich denke, daß dies ein allerwichtigstes Zusammentreffen ist, nicht nur im Sinne von – (kurze unverständliche Unterbrechung) nicht nur im Zusammenhang mit Psychotherapie, sondern angesichts der Tatsache, daß diese beiden Männer (unverständlich) 1.
Die Übersetzung wurde von Anna-Nina Widmer auf Grundlage des von Profs. Kenneth N. Cissner und Rob Anderson 1997 veröffentlichten Transkripts angefertigt. Der Kommentar zu diesem Text siehe S. 284.
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unsere Bewunderung als Personen mit Interesse an persönlichen Beziehungen und persönlichem Werden verdient haben. Es gibt so viele bemerkenswerte Ähnlichkeiten in ihren Gedanken, daß es einen auch neugierig macht, das Privileg zu besitzen zu sehen, wie sie miteinander sprechen und welche Themen dabei herauskommen. Und meine Rolle als Diskussionsleiter ist nur, falls es überhaupt nötig sein sollte, diese Themen zu schärfen oder auf die eine oder andere Weise auszulegen. Sie benötigen, denke ich, keine Einführung zu Professor Buber, da er im Mittelpunkt der Konferenz steht, und ich bin mir sicher, daß sie zu Dr. Rogers genausowenig eine Einführung brauchen. Er war, selbstverständlich, berühmt für viele lange Jahre als Begründer der damals sogenannten »nicht-lenkende Therapie« (nondirective therapy), 2 heute, glaube ich, umgetauft in »klientbezogene Therapie« (rechristened client-centered therapy), und ist Direktor der Universität des Chicago Counseling Center (Chicago Beratungszentrum), wo er in sehr ausgewogener Beziehung mit der theologischen Gruppe und den Personalitäts- und Religionskursen stand. Und die Form dieses Dialoges wird sein, daß Dr. Rogers selbst Fragen an Dr. Buber stellen wird, und Dr. Buber wird antworten, und vielleicht mit einer Frage, vielleicht mit einer Behauptung. Von dort aus werden wie sie alleine weiter machen lassen. Dr. Rogers. Carl rogers: Eine Sache, die ich denke sagen zu wollen, ist, daß dies mit ganzer Gewissheit ein ungeprobter Dialog ist. Das Wetter machte es für mich notwendig, den ganzen Tag damit zu verbringen, hier anzukommen, und so habe ich erst vor ein oder zwei Stunden Dr. Buber getroffen, obwohl ich ihm schon vor langer Zeit in seinen Schriften begegnet bin. Ich denke, daß die erste Frage, die ich Sie gerne fragen möchte, Dr. Buber, sich ein wenig unverschämt anhören könnte, aber ich würde das gerne erklären und dann wird es vielleicht weniger unverschämt klingen. Ich habe mich gefragt: Wie haben Sie so tief in interpersonalen Beziehungen gelebt und sich ein solches Verstehen über das menschliche Individuum angeeignet, ohne jemals selbst Psychotherapeut zu sein? (Buber lacht, das Publikum lacht.) Der Grund, aus dem ich frage ist, daß es mir scheint, daß es einer Zahl von uns passiert ist, einige der selben Arten von Einsichten zu fühlen und zu erfahren, welchen Sie in Ihren Schriften 2.
In der von C. Rogers in den 40er Jahren gegründete Therapieform steht die Zurückhaltung des Psychologen im Vordergrund, den Patienten nicht anzuleiten oder dessen Probleme für ihn zu lösen. Er soll es dem Klienten durch eine bedingungslos positive Haltung erleichtern, von sich zu erzählen, aber das Erzählte nicht interpretieren, sondern nur reflektieren.
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Ausdruck verliehen haben, doch sehr häufig sind wir zu diesen Einsichten durch unsere Erfahrung in der Psychotherapie gelangt. Ich denke, daß es da etwas in der therapeutischen Beziehung gibt, das uns die Erlaubnis, beinahe formale Erlaubnis, gibt, eine tiefe und enge Beziehung mit einer Person einzugehen, und deshalb neigen wir dazu auf jene Weise sehr tiefgründig zu lernen. Ich denke an einen psychiatrischen Freund von mir, der sagt, daß er sich nie so ganz, oder so als richtige Person fühlt, wie in seinen therapeutischen Interviews; und ich teile dieses Gefühl. Und darum, wenn das nicht zu persönlich ist, wäre ich interessiert zu wissen, welche die Kanäle des Wissens waren, durch die Sie die Fähigkeit gewonnen haben, wirklich so tiefgründig Menschen und Beziehungen zu studieren? Martin buber: Hmmm. Das ist wohl eher eine biographische Frage. Ich denke, daß ich an Stelle von einer Antwort zwei geben muß. (Rogers: Ehm heh.) Eine, (Unverständliches Wort.) das ist nur eine Einzelheit – ist, daß ich in, sagen wir mal, Psychiatrie, nicht ein völlig Fremder bin, denn als ich Student war – das ist lange her – studierte ich drei Semester Psychiatrie und was man in Deutschland »Psychiatrische-Klinik« nennt. Das interessierte mich am meisten. Sehen Sie, ich studierte nicht Psychiatrie, um ein Psychotherapeut zu werden. Ich studierte drei Semester. Zuerst mit Flechsig in Leipzig, wo ich ein Student Wundts war. Daraufhin in Berlin mit Mendel, und das dritte Semester mit Bleuler in Zürich, welches das interessanteste der drei war. Und, genau dann wollte ich – ich war auch ein sehr junger, unerfahrener, und nicht sehr verständnisvoller junger Mann. Aber ich hatte das Gefühl, über den Menschen wissen zu wollen, und über den Mensch im sogenannten pathologischen Zustand. Sogar damals zweifelte ich, ob dieser Ausdruck der richtige sei. (Rogers: Oh, ich verstehe.) Ich wollte solche Leute sehen, wenn möglich treffen, und – soweit ich mich erinnern kann – die Beziehung aufbauen, die wirkliche Beziehung zwischen dem, was wir einen gesunden Menschen nennen und was wir einen pathologischen Menschen nennen. (Rogers: Uh huh.) Und das habe ich gelernt – soweit ein Junge mit zwanzig oder so (Buber lacht) solche Sachen lernen kann. Aber was das hauptsächliche ausmacht, was Sie fragen – das war etwas anderes. Es war einfach eine bestimmte Inklination, Leute zu treffen, und so weit wie möglich einfach etwas, wenn möglich, im anderen zu verändern, aber auch mich selbst von ihm verändern zu lassen. Auf jeden Fall habe ich mich dem nicht widersetzt – mich nicht widersetzt. Ich – schon damals als junger Mann – ich fühlte ich habe nicht das Recht, den anderen verändern zu wollen, wenn ich nicht offen bin von ihm im Rahmen des Legitimen verändert zu werden. Etwas muß verändert werden,
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und seine Berührung, sein Kontakt, kann es mehr oder weniger ändern. Ich kann nicht, sozusagen, über ihm sein, und sagen, »Nein! Ich bin raus aus dem Spiel. Du bist verrückt.« Und deshalb von meinem – lassen Sie mich sehen – da waren zwei Phasen. Die erste Phase ging bis zum Jahr achtzehn, 1918, d. h. bis ich ungefähr vierzig war. Rogers: Bis Sie vierzig waren? Buber: Ganz genau. Und dann, 1918, habe ich etwas recht Seltsames gefühlt. Ich fühlte, daß ich stark beeinflußt worden war von etwas, das genau dann zu einem Ende kam, nämlich der Krieg, der Erste Weltkrieg. Rogers: Neunzehnhundertachtzehn. Buber: Es war vorüber dann, und im Verlaufe des Krieges hatte ich nicht sehr viel von diesem Einfluß gespürt. Aber am Ende merkte ich, »Oh, ich wurde schrecklich beeinflußt«, denn ich konnte mich dem, was passierte, nicht widersetzen, und ich war einfach gezwungen, laß uns sagen, es zu leben. Sehen Sie? Dinge, die genau in diesem Moment passierten. (Rogers: Uh huh.) Sie könnten es »sich das Wirkliche vorstellen« nennen. (Rogers: Uh huh.) Sich vorstellen, was passierte. Dieses Vorstellen, für vier Jahre, hat mich fürchterlich beeinflußt. Genau als es vorbei war (Rogers: Eh hmm.), es wurde beendet mit einer bestimmten Episode im Mai neunzehn, als ein Freund von mir, ein großartiger Freund, ein großartiger Mensch, 3 auf sehr barbarische Weise von anti-revolutionären Soldaten umgebracht wurde (Rogers: Uh huh.), und ich, jetzt auch wieder – und das war das letzte Mal – gezwungen war, mir genau dieses Umbringen vorzustellen, aber nicht auf eine optische Weise allein, sondern, wenn ich es so sagen kann, mit meinem Körper. Rogers: Mit Ihren Gefühlen. Buber: Und das war der entscheidende (unverständlich) oder eher der entscheidende Moment, nachdem ich, nach einigen Tagen und Nächten in diesem Zustand, fühlte, »Oh, etwas ist mir geschehen.«(Rogers: Uh huh.) Und von da an nahmen diese Treffen mit Leuten, vor allem mit jungen Leuten, eine etwas andere Form an. Ich hatte eine entscheidende Erfahrung, Erfahrung von vier Jahren, sehr konkrete Erfahrung, und von jetzt an mußte ich etwas mehr geben als nur meine Neigung, Gedanken und Gefühle, usw., auszutauschen. Ich mußte die Frucht einer Erfahrung geben. Rogers: Das klingt, als sagten Sie, das Wissen, vielleicht, oder ein Teil davon, kam in den zwanzigern auf, aber dann kam ein Teil der Weisheit, die Sie über interpersonale Beziehungen haben, von dem Willen, Leute offen zu treffen ohne dominieren zu wollen. Und dann, drittens, vom 3.
Gustav Landauer.
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tatsächlichen Erleben des Weltkrieges, aber in Ihren eigenen Gefühlen und (Buber: Uh huh.) Vorstellungen zu leben. Buber: Genau so. Da dies echt war, ich kann es in keiner anderen Sprache sagen, war es wirklich ein Leben mit jenen Leuten. Leute verwundet, getötet (Rogers: Ehm heh.) im Krieg. Rogers: Sie haben ihre Wunden gefühlt. Buber: Ja. Aber Gefühl ist nicht ausreichend stark – (Rogers: Uh huh.) – das Wort ›Gefühl‹. Rogers: Sie hätten gerne etwas Stärkeres. Ich werde einen Vorschlag machen, obwohl es uns ein bißchen unterbricht. Ich kann nicht gleichzeitig das Mikro und Sie anschauen. (Buber: Oh.) Würde Sie es stören, wenn ich den Tisch ein wenig verschiebe? Buber: Ja, bitte, bitte tun Sie dies. Rogers: Dann – Buber: Soll ich hier sitzen? Rogers: Ja. Es – schieben Sie ein wenig nach vorne dann denke ich es – Buber: Richtig so? Rogers: Das scheint mir besser. Ich hoffe das selbe für das Publikum. Friedman: Während er das ändert, werde ich etwas einwerfen, nämlich, daß mich Professor Rogers’ Frage an einen theologischen Studenten aus einem Baptistischen Seminar erinnert hat, der mit mir eine Stunde lang über Professor Bubers Gedanken sprach, und als er ging, sagte er, »Ich muß Ihnen diese Frage stellen. Professor Buber ist so gut. Wie kommt es, daß er kein Christ ist?« (Gelächter.) Buber: Kann ich Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen, nicht über mich, aber auch eine wahre Geschichte, nicht nur eine Anekdote. Ein christlicher Offizier – ich weiß nicht – ein Oberst oder so – mußte einigen Leuten in – ich glaube – in Wales etwas über den Krieg erklären, im Zweiten Weltkrieg (unverständlich), ihnen etwas erklären – Soldaten – etwas über die Juden. Es fing an, selbstverständlich, mit einer Erklärung darüber, was Hitler bedeutete usw., und dann erklärte er ihnen, daß die Juden keine barbarische Rasse sind, daß sie eine großartige Kultur hatten usw.; und dann wendete er sich an einen jüdischen Soldaten, der dort war und etwas wußte und sagte zu ihm, »Jetzt fährst du fort und erzählst uns etwas.« Und dieser junge Jude erzählte ihnen etwas über Israel und sogar über Jesus. Und, zum Scherz, antwortete einer der Soldaten, »Willst du uns etwa sagen, daß wir vor eurem Jesus keine Christen waren?« (Langes Gelächter.) Buber: Jetzt machen Sie weiter. Rogers: Oh nein. (unverständlich)
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Buber: Nicht? (Mehr Gelächter.) Rogers: Nun, ich würde gerne zu einer Frage übergehen, über die ich schon oft gegrübelt habe. Ich habe mich gefragt, ob Ihr Konzept – oder Ihre Erfahrung – das Sie die Ich-Du Beziehung nannten, dem ähnelt, was ich den effektiven Moment in einer therapeutischen Beziehung nenne. Und ich frage mich – falls Sie es mir erlauben würden, werde ich mir einen oder zwei Momente rausnehmen, um zu sagen, was ich (Buber: Ja, ja.) als wesentlich betrachte – und dann könnten Sie das vielleicht von Ihrem Standpunkt aus kommentieren. Ich fühle, daß, wenn ich als Therapeutt effektiv bin (Buber: Mmm.), gehe ich eine Beziehung ein als subjektive Person, nicht als Begutachter, nicht als Wissenschaftler usw. (Buber: Eh.) Ich spüre auch, daß wenn ich am effektivsten bin, bin ich irgendwie relativ ganz in jener Beziehung, oder das Wort, das für mich Bedeutung hat, ist »transparent«. Das bedeutet, da ist nichts – um sicher zu gehen, könnte es viele Aspekte in meinem Leben geben, die nicht in die Beziehung eingebracht werden, aber was in der Beziehung ist, ist transparent. Es gibt nichts Verstecktes. (Buber: Mmm.) Dann denke ich auch, daß ich in solch einer Beziehung eine wirkliche Bereitschaft fühle, für diese andere Person zu sein, was sie ist. Das nenne ich »Annahme«. Ich weiß nicht, ob das ein sehr gutes Wort dafür ist, aber meine Absicht ist hier, daß ich bereit bin für ihn die Gefühle zu besitzen, die er besitzt, die Einstellungen zu haben, die er hat, die Person zu sein, die er ist. (Buber: Mmm.) Und dann nehme ich an, daß ein weiterer Aspekt dessen, was mir wichtig ist, ist, daß ich in jenen Momenten denke, ich bin tatsächlich in der Lage mit einem beträchtlichen Teil an Klarheit zu fühlen, wie seine Erfahrungen ihm erscheinen, es tatsächlich von innen zu betrachten, und doch ohne meine eigene Persönlichkeit oder Abgetrenntheit hier zu verlieren. (Buber: Uh huh.) Und dann, wenn zusätzlich zu den Dingen meinerseits mein Klient oder die Person, mit der ich arbeite, fähig ist, einige jener Einstellungen in mir zu fühlen, dann scheint es mir, daß ein richtiges, experimentelles Treffen von Personen stattfindet, in dem jeder von uns verändert wird. Ich weiß nicht – manchmal denke ich, daß der Klient mehr als ich verändert wird, aber ich denke, daß beide von uns verändert werden in dieser Erfahrung. Also, ich sehe, daß das ein wenig Ähnlichkeit hat mit dem, worüber Sie in der Ich-Du Beziehung sprechen. Trotzdem vermute ich, daß es Unterschiede gibt. Jedenfalls wäre ich sehr interessiert an Ihren Kommentaren dazu, wie Ihnen jene Beschreibung erscheint in Beziehung zu dem, was Sie über zwei sich bewegende Personen dachten oder eine Ich-Du Beziehung. Buber: Jetzt will ich versuchen – aber erlauben auch Sie mir Fragen
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zu stellen (Rogers: Uh huh.) zu dem, was Sie meinen. Zu allererst, würde ich sagen, das ist die Tätigkeit eines Therapeuten. Es ist ein sehr gutes Beispiel für einen bestimmten Modus der dialogischen Existenz. Ich meine: Zwei Personen haben eine bestimmte Situation gemeinsam. Diese Situation ist, von Ihrem Standpunkt aus – Punkt ist kein gutes Wort, aber lassen Sie uns es von Ihrem Standpunkt aus sehen – eine kranke Person kommt zu Ihnen und bittet Sie um eine bestimmte Art von Hilfe. Nun, blicken Sie hinab (unverständliches Wort) – was würden Sie sehen? Rogers: Dürfte ich Sie hier unterbrechen? Buber: Ja, bitte tun Sie dies. Rogers: Ich fühle, daß wenn, von meinem Standpunkt aus, das eine kranke Person ist, dann kann ich wahrscheinlich nicht so hilfreich sein wie ich sein könnte. (Buber: Mmm.) Ich fühle, daß das eine Person ist. (Buber: Mmm.) Ja, jemand anderes könnte ihn krank nennen, oder wenn ich ihn von einem mehr oder weniger objektiven Standpunkt anschaue, könnte ich auch zustimmen, »Ja, er ist krank.« Aber sobald ich die Beziehung eingehe, scheint es mir, wenn ich annehme »Ich bin eine relativ gesunde Person (Buber: Mmm.) und dies ist eine kranke Person« – Buber: Nein, das meine ich aber nicht. Rogers: – nicht gut. Buber: Das meine ich nicht. Lassen Sie mich das Wort »krank« auslassen. (Rogers: Ehm.) Ein Mensch, der zu Ihnen kommt zwecks Ihrer Hilfe. Der Unterschied – der entscheidende Unterschied – zwischen Ihrer Rolle in dieser Situation und seiner ist offensichtlich. (Rogers: Uh huh.) Er kommt zu Ihnen zwecks Ihrer Hilfe. Nicht Sie kommen zu ihm zwecks seiner Hilfe. Und nicht nur das, sondern Sie sind fähig, mehr oder weniger, ihm zu helfen. Er kann verschiedene Dinge für Sie tun, aber einfach nicht Ihnen helfen. Und nicht nur das. Sie sehen ihn, wirklich. Ich meine nicht, daß Sie sich nicht täuschen können, verstehen Sie (Rogers: Em hmm.), aber Sie sehen ihn, genau wie Sie es sagten, so wie er ist. Er kann Sie nicht, bei weitem, nicht sehen. Nicht nur in jenem Ausmaß, sondern sogar in jener Weise des Sehens. Sie sind, selbstverständlich, eine sehr wichtige Person für ihn. Aber nicht eine Person, die er sehen und kennen will und dazu fähig ist. Sie sind wichtig für ihn. Er ist, von dem Moment an, in dem er in Ihr Leben eintritt, ist er, würde ich sagen, in Ihr Leben verwickelt, in Ihre Gedanken, in Ihr Sein, Ihre Kommunikation, usw. Aber er ist nicht interessiert an Ihnen als wer Sie sind. Das kann nicht sein. Sie sind, so sagen Sie und da haben Sie recht, interessiert an ihm als diese Person. Diese Art von losgelöste Präsenz
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kann er nicht haben und geben. Und dies ist nun der erste Punkt, so weit ich es sehe. Und der zweite ist – jetzt, Sie bitte – Rogers: (Unverständlich.) Ja, ich bin nicht (Buber: Ja.), ich bin nicht ganz sicher – Buber: Sie können mich jederzeit unterbrechen. Rogers: Oh, alles klar. Ich möchte das wirklich verstehen. Die Tatsache, daß ich fähig bin ihn mit weniger Verzerrung zu sehen als er mich sieht, und daß ich die Rolle habe ihm zu helfen und daß er nicht (Buber: Mmm.) versucht mich in dem gleichen Sinne zu kennen – ist es das, was Sie mit »losgelöste Präsenz« meinen? Buber: Ja, hmmm. Rogers: Ich wollte nur sicherstellen, daß ich – Buber: Hhmm. Rogers: Okay. Buber: Ja (Rogers: okay); ja, nur dies. Rogers: Uh huh. Buber: Nun, die zweite Tatsache, so weit ich es als Tatsache sehe, ist in dieser Situation, die Sie mit ihm gemeinsam haben, nur von zwei Seiten. Sie sind auf einer Seite der Situation – auf der, wenn ich es so sagen darf, mehr oder weniger aktiven, und er in einer mehr oder weniger passiven, nicht völlig aktiven, nicht ganz passiven, selbstverständlich – aber relativ. Und, lassen Sie uns jetzt diese gemeinsame Situation von Ihrem Standpunkt und von seinem Standpunkt aus anschauen. Die selbe Situation. (Rogers: Eh.) Sie können es sehen, fühlen, von beiden Seiten erfahren. Lassen Sie uns beginnen mit Ihrer Seite, von der aus Sie ihn sehen, ihn beobachten, ihn kennenlernen, ihm helfen – aber er – von Ihrer Seite und von seiner Seite aus. Sie können erfahren, so würde ich wagen zu behaupten, körperlich, seine Seite der Situation erfahren. Wenn Sie etwas tun mit ihm, um es so zu sagen, fühlen Sie sich berührt von dem, was Sie mit ihm tun. Er kann das überhaupt nicht tun. Sie sind zur selben Zeit auf Ihrer und auf seiner Seite. Hier und dort, oder lassen Sie uns besser sagen, dort und hier. Wo er ist und wo Sie sind. Er kann nur dort sein, wo er ist. Und das möchten Sie, nicht nur möchten, das wollen Sie. Ihre innere Notwendigkeit kann sein, wie sie will. Das akzeptiere ich. Ich habe überhaupt keine Einwendungen. Aber die Situation hat eine Einwendung. Sie haben – notwendigerweise – eine andere Einstellung zu der Situation als er sie hat. Sie sind fähig etwas zu tun, wozu er nicht fähig ist. Ihr seid keine Gleichgestellten und könnt es nicht sein. Sie haben eine große Aufgabe – selbstauferlegt – eine große selbstauferlegte Aufgabe, dieses Bedürfnis von ihm zu ergänzen und eher mehr als in der normalen Situation zu tun. Aber, natürlich gibt es Grenzen, und mir ist
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es bestimmt erlaubt, Ihnen zu sagen – sicherlich in Ihrer Erfahrung als Therapeut, als eine heilende Person oder zum Heilen helfende, müssen Sie das immer wieder aufs Neue erfahren – diese Grenzen der einfachen Menschlichkeit. »Der einfachen Menschlichkeit« bedeutet: Ich und mein Partner sind, sozusagen, einander gleich, auf der selben Ebene. Ich sehe, Sie meinen auf der selben Ebene zu sein, aber Sie können es nicht sein. Da sind nicht nur Sie, Ihre Denkweise, Ihre Art, Dinge zu tun, da ist auch eine bestimmte Situation – Dinge sind so und so – die manchmal tragisch sein kann und sogar schlimmer als das, was wir tragisch nennen. Das können Sie nicht ändern. Menschlichkeit, menschlicher Wille, menschliches Verstehen, das ist nicht alles. Da ist eine gewisse Realität, die wir konfrontieren – die uns konfrontiert. Wir können das nicht – wir dürfen nicht – für einen Moment vergessen. Rogers: Nun, was Sie gesagt haben, erweckt in mir sicherlich viele Reaktionen. Eine von ihnen, denke ich, ist diese. Lassen Sie zuerst mit einem Punkt anfangen, von dem ich denke, wir würden darüber einstimmen. Ich vermute auch, daß wenn dieser Klient zu einem Punkt kommt, an dem er erfahren kann, was er ausdrückt, aber auch mein Verstehen dessen und Reaktion darauf erfahren kann, usw., dann ist Therapie wirklich so gut wie vorüber. Buber: Ja, das ist genau was ich meine. Rogers: OK. Aber eine weitere Sache, die ich fühle, ist diese. Ich habe mich manchmal gefragt, ob das einfach nur persönliche Idiosynkrasie von mir ist, aber es scheint mir, daß wenn eine andere Person sich wirklich ausdrückt und seine Erfahrungen usw., fühle ich mich nicht, auf die Weise wie Sie es beschrieben haben, anders als er. Das bedeutet – ich weiß nicht so genau wie ich es formulieren soll – aber ich fühle als ob in jenem Moment seine Art, seine Erfahrung anzuschauen, so verzerrt sie auch sein mag, etwas ist, das ich anschauen kann als hätte sie die gleiche Autorität, gleiche Gültigkeit mit der Weise auf die ich Leben und Erfahrung sehe. Und es scheint mir, daß das wirklich die Basis ist zur Hilfe, auf eine Weise. Buber: Ja. Rogers: Und ich spüre tatsächlich ein wirkliches Gefühl von Gleichheit zwischen uns. Buber: Kein Zweifel daran. Aber ich spreche jetzt nicht über Ihr Gefühl, sondern über eine echte Situation. Ich meine, Sie beide schauen, wie Sie es gerade sagten, sich seine Erfahrung an. Weder Sie noch er betrachten Ihre Erfahrung. Der Gegenstand hier ist exklusiv er und seine Erfahrung. Er kann nicht im Laufe eines, sagen wir, Gespräches mit Ihnen seine Position ändern und Sie fragen, »Oh, Doktor, wo waren Sie
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gestern? (Gelächter.) Oh, waren Sie im Kino? Was haben Sie sich angeschaut, und wie hat Sie das beeindruckt?« Er kann das nicht tun. So, ich sehe und fühle sehr gut Ihr Gefühl, Ihre Einstellung, Ihre Teilnahme. Aber Sie können die gegebene Situation nicht ändern. Da ist etwas objektiv Wirkliches, das Sie konfrontiert. Nicht nur er konfrontiert Sie, die Person, sondern gerade die Situation. Sie können das nicht ändern. Rogers: Nun, jetzt frage ich mich, wer hier Martin Buber ist, Sie oder ich, denn was ich fühle – Buber: Heh, heh, heh. (Das Publikum stimmt in das Gelächter ein.) Rogers: – weil – Buber: Ich bin nicht, sozusagen, »Martin Buber« als, wie sagt man, mit Anführungszeichen, Klammern? Ja – nein? Rogers: In diesem Sinne bin auch ich nicht »Carl Rogers« (Buber: Ich bin nicht –.) (Gelächter.) Buber: Ja, sehen Sie, ich bin kein zitierter Mann, der so und so denkt usw. Rogers: Ich weiß. Buber: Wir haben gerade über etwas gesprochen (Rogers: sicher), das uns interessiert, vielleicht, im gleichen (Rogers: Richtig.) Ausmaß. Sie sind in einer anderen Art von, Sie sind immer in Kontakt mit, in praktischem Kontakt mit – Rogers: Lassen Sie uns jetzt diese spaßige Bemerkung vergessen, was ich sagen wollte ist dies: Daß ich denke, Sie haben ziemlich recht, daß es dort eine objektive Situation gibt (Buber: Uh huh.), eine, die gemessen werden könnte, eine, die echt ist, eine, der verschiedene Leute zustimmen könnten, wenn sie die Situation aus der Nähe untersuchten. Aber meine Erfahrung hat mich gelehrt, daß das die Realität ist, wenn sie von außen betrachtet wird, und daß das wirklich nichts mit der Beziehung zu tun hat, welche eine Therapie hervorruft. (Buber: Emm.) Das ist etwas Unmittelbares, Gleiches, ein Treffen von zwei Personen auf einer gleichen Grundlage – obwohl das in der Welt des Ich-Es als eine sehr ungleiche Beziehung verstanden werden könnte. Buber: Jetzt, Dr. Rogers, das ist der erste Punkt, zu dem wir einander sagen müssen, »Wir sind nicht einer Meinung.« Rogers: OK. (Gelächter.) Buber: Sehen Sie, ich kann Sie nicht einfach nur anschauen, Ihren Teil der Dinge, von Ihrer Erfahrung. Lassen Sie mich sagen – lassen Sie uns den Fall vornehmen, daß auch ich zu ihm sprechen könnte, zu Ihrem Patienten. Ich würde, selbstverständlich, von ihm eine ziemlich andere Geschichte von diesem selben Moment zu hören bekommen. (Rogers: Ja.) Jetzt, Sehen Sie, ich bin kein Therapeut. Ich bin an Ihnen
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interessiert und an ihm. Ich muß die Situation sehen. Ich muß Sie und ihn in diesem Dialog sehen, der von Tragödie behindert wird. Manchmal, in vielen Fällen, kann die Tragödie überwunden werden. Gerade in Ihrer Methode. Ich habe überhaupt keine Einwände zu Ihrer Methode, Sehen Sie? Es besteht keine Notwendigkeit, darüber zu reden. Aber manchmal ist Methode nicht genug, und sie kann nicht bewirken, was nötig zu tun ist. Lassen Sie mich jetzt eine Frage stellen, die anscheinend nichts damit zu tun hat, aber es ist der selbe Punkt. Sie haben sicherlich viel mit Schizophrenen zu tun. Stimmt das? Rogers: Mit einigen. Uh huh. Buber: Sie haben, haben Sie auch, lassen Sie mich sagen, mit Paranoiden zu tun? Rogers: Mit einigen. Buber: Hem? Rogers: Mit einigen. Buber: Also, würden Sie sagen, daß die Situation in dem einen und in dem anderen Fall dieselbe ist? D. h., die Situation, insofern sie mit der Beziehung zwischen Ihnen und dem anderen Menschen zu tun hat. Ist diese Beziehung, die Sie beschreiben, die gleiche Art von Beziehung in dem einen Fall und in dem anderen? Können Sie über – dies ist ein Fall mit einer Frage, die mich sehr interessiert, weil Paranoia mich in meiner Jugend sehr interessierte. Ich weiß viel mehr über Schizophrenie, aber oft bin ich sehr beeindruckt und ich würde gerne (unverständlich) wissen, haben Sie – das würde sehr viel bedeuten – können Sie den Paranoiden genau auf die gleiche Weise treffen? Rogers: Lassen Sie mich zuerst meine Antwort auf eine gewisse Ebene qualifizieren. Ich habe in keinem psychiatrischen Krankenhaus gearbeitet. Mein Umgang war mit Leuten, die zum Großteil fähig sind, sich zumindest auf eine gewisse Weise der Gesellschaft anzupassen, daher sehe ich nicht die wirklich chronisch – Buber: Oh, ich verstehe. Rogers: – kranken Menschen. (Buber: Uh huh.) Andererseits haben wir mit Individuen zu tun, die schizophren sind und anderen, die sicherlich paranoid sind. Und eins der Dinge, die ich sehr vorsichtig sage, weil ich mir im Klaren darüber bin, daß dies einem gewichtigen Teil von psychiatrischer und psychologischer Meinung widerspricht, aber ich würde sagen, daß es keinen Unterschied gibt in der Beziehung, die ich (Buber: Hem.) mit einer normalen Person bilde, einer schizophrenen, einer paranoiden – ich merke wirklich keinen Unterschied. (Buber: Hmm.) Das bedeutet natürlich nicht, daß wenn – also, das ist wieder die
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Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers
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Frage des Betrachtens von außen. Wenn man es von außen betrachtet, kann man leicht feststellen, daß viel – Buber: Nein, nein – ich meine nicht – Rogers: – Unterschiede. Ich auch nicht. Und, mir scheint es, daß, wenn Therapie effektiv ist, diese gleiche Art von Treffen von Personen stattfindet, unabhängig von der psychiatrischen Etikette. Und, ein nebensächlicher Punkt in Bezug auf etwas, das Sie gesagt haben, hat auf mich Eindruck gemacht: Es scheint mir, daß die Momente, in denen Personen sich mit größter Wahrscheinlichkeit ändern, oder ich denke darüber sogar als die Momente, in denen sich Leute wirklich ändern, die Momente sind, in denen vielleicht die Beziehung auf die selbe Weise von beiden erfahren wird. Als Sie sagten, Sie könnten mit meinem Patienten reden und Sie würden einen ganz anderen Eindruck erhalten, da stimme ich zu – das würde stimmen in Bezug auf sehr viele der Dinge, die in den Interviews vorgegangen sind. Aber ich vermute, daß in diesen Momenten (Buber: Uh huh.), wenn eine wirkliche Veränderung stattfand, daß das sein würde, weil ein wirkliches Treffen von Personen stattgefunden hatte, in welchem es von beiden Seiten auf die selbe Weise erfahren wurde. Buber: Uh huh. Ja. Das ist, das ist wirklich wichtig. Friedman: Kann ich hier eine Frage (Buber fängt an zu sprechen.) dazwischenstellen? Als – Buber: Nein. Würden Sie, würden Sie einen Moment warten? (Friedman: Alles klar, danke aber –) Ich will Dr. Rogers nur erklären, warum diese Frage besonders wichtig ist (Rogers: Uh huh.) für mich und für Ihre Antwort auch. Ein sehr wichtiger Punkt in meinem Denken ist das Problem der Grenzen, das bedeutet, ich tue etwas, ich versuche etwas, ich will etwas, und ich widme alle meine Gedanken, meine gesamte Existenz – diesem Tun. Und dann komme ich, in einem bestimmten Moment, an eine Mauer (Rogers: Hem.), an eine Begrenzung, an eine Grenze, die ich nicht, nicht ignorieren kann. Das trifft auch zu auf das, was mich mehr als alles andere interessiert: menschlicher Effekt des Dialoges. Dialog bedeutet nicht einfach nur Reden. Dialog kann still sein. Sie könnten, wir könnten, vielleicht, ohne das Publikum – ich würde empfehlen, es ohne ein Publikum durchzuführen. Wir könnten zusammensitzen, oder eher zusammen in Stille laufen und das könnte ein Dialog sein. Deshalb ist sogar im Dialog, echten Dialog, eine Grenze gesetzt. Darum bin ich an Paranoia interessiert. Es gibt hier eine gesetzte Grenze für den Dialog. Manchmal ist es sehr schwer zu einem Schizophrenen zu sprechen. Er, in bestimmten Momenten – soweit meine Erfahrung damit, natürlich, wie kann ich es
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sagen, ein Dilettant? (Rogers: Uh huh.) – Ich kann mit einem Schizophrenen sprechen, so lange er bereit ist, mich in seine spezielle Welt eintreten zu lassen, die seine eigene ist; und daß im Allgemeinen er dich nicht reinlassen will, oder andere Leute. Aber einige Leute läßt er hinein. Und deshalb kann er auch mich einlassen. Aber, in dem Moment, in dem er sich verschließt, kann ich nicht weitermachen. Und das Gleiche, nur in einer fürchterlich ausgeprägten Weise, ist der Fall mit einem Paranoiden. Er öffnet sich nicht und schließt sich nicht. Er ist verschlossen. Da gibt es noch etwas anderes, das ihm angetan wurde, das ihn verschließt. Und das Schreckliche dieses Schicksals fühle ich sehr stark, denn in der Welt der normalen Leute gibt es genau analoge Fälle, wenn ein gesunder Mann sich, nicht zu jedem, aber gegenüber einigen Leuten genau so verhält, verschlossen. Und das Problem ist, ob er geöffnet werden kann, ob er sich selbst öffnen kann, usw. Und das ist ein Problem für Menschen im Allgemeinen. Rogers: Ja, ich denke ich sehe das als – Buber: Ja, jetzt, Dr. Friedman möchte gerne drankommen – Friedman: Das ist meine Rolle als Moderator. Ich bin nicht – die einzige Rolle, die ich hier spiele – nicht so sehr zufrieden damit, ob in diesem Austausch, genau vor dem paranoiden/schizophrenen, zu welchem Ausmaß das ein Gesprächsgegenstand ist, zu welchem Ausmaß es ein anderer Gebrauch von Begriffen sein könnte, deshalb lassen Sie mich Dr. Rogers um etwas Weiteres fragen. Soweit ich verstanden habe, was Buber sagte, war, daß die Beziehung eine Ich-Du Beziehung ist, aber nicht voll wechselseitig in dem Sinne, daß, während Sie das Treffen abhalten, sind Sie doch derjenige, der von seinem Standpunkt aus sieht, und er kann nicht von Ihrem aus sehen. Und in Ihrer Antwort darauf deuteten Sie wieder und wiederum auf das Treffen hin, das stattfindet und sogar auf die Veränderung, die auf beiden Seiten stattfinden kann. Aber ich habe Sie nie auf den Vorschlag hindeuten hören, daß er von Ihrem Standpunkt aus sieht, oder daß es voll wechselseitig ist in dem Sinne, daß auch er Ihnen hilft. Und ich fragte mich, ob das nicht vielleicht nur ein Unterschied sein könnte, wenn nicht in Worten, im Gesichtspunkt, wo Sie darüber nachdachten, wie Sie sich ihm gegenüber fühlen, das heißt, daß er eine gleichgestellte Person ist und Sie ihn respektieren. (Gelächter.) Buber: Ein entscheidender Unterschied bleibt. Das ist keine Frage des sich Widersetzens dem anderen zu helfen. Es ist eine Frage des Willens dem anderen zu helfen. Er ist ein Mensch, der dem anderen helfen will. (Rogers: Yeah.) Und seine gesamte Einstellung ist diese aktive, helfende Einstellung. Ihre Einstellung ist so vollkommen anders »wie der ganze
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Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers
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Himmel«, aber ich würde es eher vorziehen zu sagen »wie die ganze Hölle«. Das ist ein Mensch in der Hölle. Ein Mensch in der Hölle kann nicht denken, kann sich nicht vorstellen, einem anderen zu helfen. Wie könnte er? Rogers: Aber genau hier erscheint ein Teil des Unterschieds. Denn es scheint mir, nochmals, daß in den meisten echten Momenten der Therapie ich nicht glaube, daß diese Absicht zu helfen mehr als ein Substrat meinerseits ist. In anderen Worten, ich würde sicherlich diese Arbeit nicht verrichten, wenn jenes nicht ein Teil meiner Absicht wäre. Und wenn ich den Klienten zum ersten Mal sehe, ist, was ich hoffe tun zu können, ihm helfen zu können. Und doch denke ich, daß im Austausch des Momentes mein Geist nicht mit dem Gedanken »Jetzt will ich dir helfen« beschäftigt ist. Es ist viel eher »Ich will dich verstehen. Was für eine Person bist du hinter diesem paranoiden Schirm, oder hinter all diesen schizophrenen Verwirrungen, oder hinter all diesen Masken, die du im wirklichen Leben trägst?« (Buber: Heh, uh huh.) »Wer bist du?« Und es scheint mir, daß das ein Verlangen ist, eine Person zu treffen, nicht »Jetzt will ich helfen.« Es scheint mir, daß ich mehr durch meine Erfahrung gelernt habe, daß wenn wir uns treffen können, kommt Hilfe auf, aber das ist ein Nebenprodukt. Friedman: Dr. Rogers, würden Sie trotz alledem nicht zustimmen, daß das nicht vollständig wechselseitig ist in dem Sinne, daß jener Mensch nicht jene Einstellung Ihnen gegenüber hat: »Ich will Sie verstehen. Was für eine Art von Person sind Sie?« Rogers: Die einzige Modifikation die ich machte, war, daß vielleicht in den Momenten, in denen wirkliche Veränderung stattfindet, ich mich dann frage, ob es nicht wechselseitig ist in dem Sinne, daß ich fähig bin, dieses Individuum so zu sehen, wie es in diesem Moment ist (Buber: Uh huh.) und er wirklich mein Verständnis und meine Annahme ihm gegenüber spürt. Und das ist es, was meiner Ansicht nach wechselseitig ist und vielleicht das ist, was Veränderung hervorruft. Buber: (Seufzt – Publikum lacht.) Hmmm. Sehen Sie, ich bin, natürlich, vollständig mit Ihnen einverstanden, soweit es um Ihre Erfahrung geht. Ich kann Sie nicht weiterverfolgen, sobald ich die ganze Situation betrachten muß, Ihre Erfahrung und seine. Sehen Sie, Sie geben ihm etwas, um ihn Ihnen gleichzustellen. Sie ergänzen sein Bedürfnis in seiner Beziehung zu Ihnen. Sie machen ihn – wenn ich das persönlich so sagen kann – aus einer bestimmten Fülle heraus geben Sie ihm, was er will, um, nur für diesen Moment, sozusagen, mit Ihnen auf der gleichen Ebene sein zu können. Aber sogar das ist nur in Versuch. Es ist ein Versuch,
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der vielleicht nicht länger als einen Moment anhalten wird. Es ist nicht die Situation, soweit ich es sehe, nicht die Situation einer Stunde; es ist eine Situation von Minuten. Und diese Minuten werden von Ihnen möglich gemacht. Nicht im geringsten von ihm. Rogers: Mit dem letzten würde ich völlig zustimmen – jedoch verspüre ich eine wirklichen Meinungsverschiedenheit hier, denn es scheint mir, daß das, was ich ihm gebe, eine Erlaubnis zu sein ist. (Buber: Hem. Huh huh.) Was irgendwie etwas leicht anderes ist, als ihm etwas zu geben, oder so etwas. Buber: Ich denke, daß kein menschliches Wesen mehr als das geben kann. Dem anderen das Leben möglich machen, wenn auch nur für einen Moment. Erlaubnis. Rogers: Also, wenn wir nicht genau hinschauen, werden wir uns einig werden. (Gelächter.) Buber: Lassen Sie uns jetzt (unverständlich) machen. Rogers: Ich würde wirklich gerne zu einem anderen Thema übergehen (Buber: Hmm.), denn es scheint mir, soweit ich verstehe, was Sie geschrieben haben usw., daß ich eine andere Art von Treffen wahrnehmen kann, die für mich in meinen Arbeiten von großer Bedeutung ist und worüber Sie, soweit ich weiß, nicht geredet haben. Es könnte sein, daß ich mich in diesem Zusammenhang täusche, ich weiß nicht. Und was ich hierbei meine, ist, daß ich die Beziehung der Person zu sich selbst (Buber: Hmm.) für eine der wichtigsten Arten von Treffen oder Beziehungen halte. (Buber: Hmm.) In der Therapie wiederum, auf die ich Bezug nehmen muß, da dies der Hintergrund (Buber: Sicherlich.) meiner Erfahrungen ist – Buber: Selbstverständlich. Rogers: – da sind so einige lebhafte Momente, in welchen das Individuum einige Aspekte von sich selbst trifft, ein Gefühl, das es niemals zuvor erkannte, etwas von einer Bedeutung in sich selbst, die es nie zuvor kannte. Das kann alles Mögliche sein. Es kann sein intensives Gefühl von Einsamkeit sein, oder der schreckliche Schmerz, den es fühlte (Buber: Hmm.) oder etwas ziemlich positives (Buber: Hmm.), wie sein Mut, usw. Aber auf jeden Fall scheint es mir in diesen Momenten, daß da etwas ist, das an der selben Qualität teilhat, die ich in einer wirklichen Treffensbeziehung vorfinde. Daß er in seinem Gefühl ist und das Gefühl in ihm. Das ist etwas, das ihn durchflutet. Nie zuvor hat er diese Erfahrung gemacht. In einem sehr wirklichen Sinne denke ich, daß das als echtes Treffen mit einem Aspekt seiner selbst beschrieben werden könnte, den er nie zuvor antraf. Jetzt weiß ich nicht, ob es Ihnen scheint ich dehnte das Konzept, welches Sie benutzten, zu sehr. Ich nehme an, ich
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würde gerne Ihre Reaktion darauf erhalten. Ob jenes Ihnen als eine mögliche Form von echter Beziehung oder eines »Treffens« erscheint? Ich gehe noch einen Schritt weiter. Ich vermute, ich habe das Gefühl, daß erst wenn sich die Person in diesem Sinne selbst getroffen hat, daß sie dann und vielleicht nur dann, wirklich in der Lage ist, einen Anderen in einer Ich-Du Beziehung zu treffen. Buber: Hier gehen wir jetzt ein Sprachproblem an. Sie nennen etwas Dialog, das ich nicht so nennen kann. Aber kann ich verdeutlichen, warum ich es nicht so nennen kann? Warum ich für dies einen weiteren Begriff zwischen Dialog und Monolog haben will. Also, das, was ich einen Dialog nenne, beinhaltet einen essentiellen, nötigen Überraschungsmoment. Ich meine – Rogers: »Überraschung« sagen Sie? Buber: Ja, überrascht sein. Ein Dialog – nehmen wir uns eine eher triviale Verbildlichung vor. Der Dialog ist wie ein Schachspiel. Der ganze Zauber des Schachs liegt darin, daß ich nicht weiß und nicht wissen kann, was mein Partner tun wird. Ich bin überrascht über das, was er tut, und auf dieser Überraschung basiert das ganze Spiel. Darauf deuteten Sie gerade hin, daß ein Mensch sich selbst überraschen kann. Doch auf eine sehr verschiedene Art, als eine Person eine andere Person überraschen kann – Rogers: Ich hoffe, Ihnen vielleicht mal irgendwann meine Aufnahmen von Interviews vorspielen zu können, um Sie darauf hinzuweisen, wie das Überraschungselement wirklich vorhanden sein kann. D. h., eine Person kann etwas ausdrücken und dann plötzlich von der Bedeutung dessen getroffen werden, was aus irgend einem Ort in ihm, welchen er nicht erkennt, hervorgekommen ist. In anderen Worten, er ist wirklich von sich selbst überrascht. Definitiv kann das passieren. Aber das Element, das ich als fremdestes zu Ihrem Konzept des Dialog auffasse, ist, daß es stimmt, daß diese Andersartigkeit in ihm selbst nicht etwas ist, das geschätzt werden sollte. (Buber: Hmm.) In der Form von Dialog, die ich meine, im Inneren – daß es jene Andersartigkeit ist, die wahrscheinlich zerschlagen würde. Und ich bin mir darüber bewußt, daß dies wahrscheinlich teilweise – die ganze Diskussion darüber könnte auch auf einem Unterschied in unserem Gebrauch von Worten beruhen. Ich meine, daß – Buber: Und sehen Sie, könnte ich etwas Technisches hinzufügen? (Rogers: Uh huh.) Ich habe im Laufe meines Lebens Begriffe zu schätzen gelernt. (Rogers: Uh huh.) Und ich glaube, daß die moderne Psychologie dies nicht ausreichend tut. Wenn ich auf etwas stoße, das essentiell verschieden von einem anderen Ding ist, verlange ich einen neuen Begriff.
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Ich will ein neues Konzept. Sehen Sie, die moderne Psychologie, z. B., sagt generell über das Unbewußte, daß es ein bestimmter Modus des Psychischen ist. Das hat für mich überhaupt keinen Sinn. Wenn zwei Dinge so verschieden von einander sind wie dieser Aufschrei der Seele, der sich in jedem Moment verändert, wo ich nichts auffassen kann, wenn ich versuche, es aufzufassen, ist es verschwunden, auf einer Seite – das findet in purer Zeit statt, und das nennen wir das Unbewußte, das kann nicht im geringsten ein Phänomen genannt werden. Wir können nicht – wir haben dazu überhaupt keinen Zugang, wir müssen uns nur um dessen Effekte kümmern usw. Wir können nicht sagen, das sei psychisch und das sei psychisch, das Unbewußte ist etwas, in dem psychisch und physiologisch, wie soll ich es sagen, »vermischt« vorhanden sind; das ist nicht ausreichend. Sie durchdringen einander auf so eine Weise, daß wir die Ausdrücke »Körper« und »Seele«, als späte Ausdrücke sozusagen (Rogers lacht), späte Ausdrücke, und das Bewußtsein als eine primäre Realität in Relation dazu sehen. Nun, wie können wir dieses eine Konzept verstehen, genau dort? Aber dies ist nur – Rogers: Ich stimme Ihnen hier vollständig zu – wenn eine Erfahrung definitiv unter eine andere Klasse fällt, dann verdient sie einen eigenen Ausdruck. Ich denke, darüber sind wir uns einig. Vielleicht, da die Zeit vorübergeht, würde ich gerne eine andere Frage stellen, die mir sehr viel bedeutet, und ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich denke, daß es vielleicht ungefähr so etwas ist: Wenn ich sehe, wie Leute in einer Beziehung in der Therapie zusammenkommen, denke ich, daß eins der Dinge, an welche ich zu glauben und fühlen und erfahren gelernt habe, ist, daß, was ich über die menschliche Natur oder die grundlegende menschliche Natur denke – das ist ein schwacher Ausdruck, Sie mögen eine bessere Ausdrucksform dafür haben – etwas ist, dem wirklich vertraut werden kann. (Buber: Hmm.) Und es scheint mir, daß ich in einigen Ihrer Schriften etwas von jenem selben Gefühl verspüre. Aber, auf jeden Fall habe ich sehr oft in Therapie erfahren, daß (Buber: Hmm.) man dem Positiven oder dem Konstruktiven keine Motivation zu geben braucht. Das existiert im Individuum. (Buber: Hmm.) In andern Worten, wenn wir das, was am grundlegendsten im Individuum existiert, freilassen können, wird das konstruktiv sein. Nun, ich weiß nicht. Nochmals, ich hoffe einfach, daß das vielleicht (Buber: ja) einige Kommentare von Ihnen hervorrufen würde. Buber: Ich sehe hier noch nicht die genaue Frage. Rogers: Die einzige Frage, die ich stelle ist: »Stimmen Sie zu?« Ich vermute. Oder, falls ich unklar bin, fragen Sie mich bitte andere Fragen. Ich werde vielleicht versuchen, es auf eine andere Weise auszudrücken.
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Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers
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Nun, das wäre ein Weg des Kontrastes. (Buber: hmm.) Es scheint mir, daß ein Großteil der orthodoxen Psychoanalyse zumindest an dem Standpunkt festhält, daß, wenn das Individuum enthüllt ist, ich meine, wenn man wirklich auf das tiefe Innere der Person stößt (Buber: Uh huh), das zum Großteil aus Instinkten und Einstellungen usw. besteht, die kontrolliert werden müssen. (Buber: Eh hmm.) Nun, das verläuft diametrisch konträr zu meiner eigenen Erfahrung, die besagt, daß, sobald man zum Tiefsten im Individuum gelangt, genau das der Aspekt ist, dem am meisten vertraut werden kann konstruktiv zu sein oder zu Sozialisation zu neigen oder zur Entwicklung von besseren interpersonalen Beziehungen usw. Hat (Buber: Uh huh.) das irgendeine Bedeutung für Sie? Buber: Ich verstehe. Ich würde es etwas anders formulieren. Soweit ich sehe, wenn ich mit einer, lassen Sie mich mal sagen, problematischen Person zu tun habe, oder einfach eine kranke Person, eine problematische Person, eine Person, die andere eine »schlechte« Person nennen, oder nennen wollen. (Rogers: Uh huh.) Sehen Sie, im Allgemeinen werden die Menschen, die wirklich mit dem, was wir Geist nennen, zu tun haben, nicht zu den guten Leuten gerufen, sondern nur zu den schlechten Leuten, den problematischen, den unzugänglichen, usw. Mit den guten Leuten können wir befreundet sein, aber die – offensichtlich – die brauchen das nicht. (Rogers: Eh.) Darum interessieren mich nur die sogenannten Schlechten, Problematischen, usw. Und meine Erfahrung lehrt mich, daß, wenn es mir gelingt – und das ist dem, was Sie sagen, nahe, aber doch etwas anderes (Rogers: Uh huh.) – wenn ich der Realität dieser Person nahe komme, erfahre ich das als polare Realität. Rogers: Als was? Eine polare? Buber: Polare Realität. (Rogers: Uh huh.) Sehen Sie, generell sagen wir, daß das entweder A oder Nicht-A ist. Es kann nicht gleichzeitig A und Nicht-A sein. Das geht nicht. Das geht nicht. Ich meine, daß dem, was Sie sagen, möglicherweise vertraut werden kann. Ich würde sagen, das steht in polarer Beziehung zu dem, dem in diesem Menschen am wenigsten vertraut werden kann. Man kann nicht behaupten, und vielleicht unterscheide ich mich in diesem Punkt von Ihnen, man kann nicht sagen, »Oh, ich entdecke in ihm nur Dinge, denen vertraut werden kann.« Ich würde sagen, wenn ich ihn sehe, verstehe ich ihn besser und tiefgehender als vorher, ich sehe seine gesamte Polarität; und dann sehe ich wie das Schlechteste in ihm und das Beste in ihm voneinander abhängig sind, miteinander verbunden sind. Und ich kann – könnte – fähig sein, ihm zu helfen einfach nur, indem ich ihm helfe, die Beziehung zwischen den Polen zu ändern. Nicht nur durch Entscheidung, sondern durch
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eine bestimmte Stärke, die er dem einen Pol in Beziehung zu dem anderen gibt, sodaß sie einander qualitativ ähnlich sind. Ich würde nicht sagen, daß in der Seele des Menschen Gut und Böse, so wie es üblicherweise behauptet wird, einander entgegengesetzt sind. Da gibt es immer und immer wieder auf verschiedene Weisen eine Polarität, und die Pole sind nicht gut und böse, sondern eher ja und nein, eher Annahme und Ablehnung. Und diesen einen positiven Pol können wir verstärken, ihm helfen, ihn zu verstärken. Und vielleicht können wir sogar die Richtungskraft in ihm verstärken, weil diese Polarität oft richtungslos ist. Es ist ein chaotischer Zustand. Wir könnten dem eine kosmische Note zufügen. Wir können helfen, Ordnung zu verschaffen, dem eine Form zu geben. Weil ich denke das Gute, oder was man das Gute nennt, besteht immer nur aus Richtung. (Rogers: Uh huh.) Keine Substanz. Rogers: Richtig. Und wenn ich den letzten Teil speziell heraushebe, sagen Sie, daß wir vielleicht dem Individuum helfen können, das »Ja« zu verstärken, d. h. eher das Leben zu anzunehmen als es abzulehnen. Heißt das – Buber: M-hmmm. Und, sehen Sie, ich unterscheide mich nur in diesem Wort, ich würde nicht »Leben« sagen. Ich würde dem kein Objekt zuschreiben. Rogers: Uh huh. Buber: Ich würde einfach »ja« sagen. Rogers: Uh huh. Uh huh. Rogers: Sie (zu Friedman) sehen aus, als wollten Sie etwas sagen. Also, könnte ich – Friedman: Ich bin in Versuchung zu – Rogers: Nun, wir könnten ewig weitermachen mit dem – Friedman: Meine Funktion als Moderator, eine davon ist, Gesprächspunkte zu schärfen und ich habe das Gefühl, daß hier zwei aufeinander bezogene Dinge berührt wurden, aber vielleicht nicht ausgearbeitet wurden, und ich denke, sie sind besonders wichtig, das würde ich gerne sehen. Als Dr. Rogers zum ersten Mal Dr. Buber nach seiner Einstellung zu Psychotherapie fragte, erwähnte er »Annahme« als einen der Faktoren, die in seine Theorie zur Therapie eintreten. Nun, wie wir gestern Abend gesehen haben, benutzt Professor Buber oft den Ausdruck ›Bestätigung‹, und ich selbst habe das Gefühl, sowohl wegen dem, was sie heute Abend sagten, als auch von meiner Kenntnis ihrer Schriften, daß es wirklich wichtig wäre klarzustellen, ob sie das gleiche meinen. (Buber: Hmmm.) Dr. Rogers schreibt über Annahme, als Zusatz zu seinem Ausspruch, daß es eine warme Anerkennung des anderen und ein Respekt seiner Individualität ist, denn er ist eine Person unbedingten Wertes, das bedeutet
MBW 10 (02686) / p. 255 / 13.12.2016
Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers
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»Eine Annahme des, und Anerkennung seiner momentanen Einstellungen, egal wie negativ oder positiv, egal wie stark sie anderen Einstellungen, die er in der Vergangenheit hatte, widersprechen,« und »Diese Annahme jedes fluktuierenden Aspektes dieser anderen Person macht es für ihn zu einer Beziehung von Wärme und Sicherheit.« 4 Nun, ich frage mich, ob Professor Buber Bestätigung auf eine ähnliche Weise betrachten würde, oder ob er Bestätigung als etwas sieht, das vielleicht nicht das Angenommen-Werden beinhaltet, das eine Forderung bezüglich des anderen beinhaltet, die in gewissem Sinne die Nicht-Annahme seiner Gefühle in diesem Moment bedeuten könnte, um ihn später zu bestätigen. Buber: Ich würde sagen, daß jede wahre, sagen wir, existentielle Beziehung zwischen zwei Personen mit Annahme beginnt. Mit Annahme meine ich – vielleicht sind sich die beiden Konzepte nicht einfach ähnlich – aber mit Annahme meine ich die Fähigkeit, einer anderen Person mitzuteilen, oder eher nicht mitzuteilen, sondern sie es fühlen zu lassen, daß ich sie genau so, wie sie ist, akzeptiere. (Rogers: Uhm hmm.) Ich nehme Sie an, wie Sie sind. Aber das ist noch nicht, was ich mit »den anderen bestätigen« meine. Denn Annehmen, das heißt einfach nur, den anderen, wie er gerade in diesem Moment ist, in seiner Aktualität, anzunehmen. Bestätigen heißt, zu allererst, das ganze Potential des anderen zu akzeptieren und sogar einen entscheidenden Unterschied in seinem Potential zu machen. Natürlich können wir uns hierbei immer wieder aufs Neue irren, aber es ist einfach eine Chance zwischen menschlichen Wesen. Ich kann in ihm, mehr oder weniger, die Person, die – ich kann es nur auf diese Weise sagen – geschaffen worden ist zu werden, wiedererkennen, kennen. In dieser einfachen tatsächlichen Sprache finden wir keinen Ausdruck dafür, denn wir finden hier den Ausdruck nicht, das Konzept, ›bestimmt zu werden‹. Das ist es, was wir, soweit wir können, verstehen müssen, wenn nicht im ersten Moment, dann danach. Und jetzt, wenn ich den anderen nicht nur so annehme, wie er ist, sondern ihn bestätige, in mir selbst, und dann in ihm, in Beziehung zu seinem Potential, das von ihm bestimmt wurde und jetzt entwickelt werden kann, evolvieren kann, eine Lebenswirklichkeit eingehen kann. Er kann zu diesem Ziel mehr oder weniger hinzufügen, aber auch ich kann etwas tun. Und dies ist mit Zielen, die sogar noch tiefer liegen als Annahme. Lassen Sie uns als Beispiel einen Mann und eine Frau vornehmen, einen Mann und seine Ehefrau. Und er sagt zu ihr, zwar nicht ausdrücklich, 4.
Friedman zitierte aus Rogers’ damals noch unveröffentlichter Schrift »Some Hypotheses Concerning the Faciliation of Personal Growth«, welche zum Kapitel 2 seines Buches On Becoming a Person (Boston 1961) wurde. Das Zitat ist der Seite 34 entnommen.
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aber einfach mit seiner ganzen Beziehung zu ihr, »ich entdecke in dir, einfach durch meine akzeptierende Liebe, entdecke ich in dir, was du zu werden bestimmt bist.« Das ist natürlich nicht in missiven Begriffen auszudrücken. Aber es könnte sein, daß es mit den Jahren des gemeinsamen Lebens wächst und wächst. Rogers: Also, ich denke, daß – Buber: Meinten Sie das? (Rogers: Uh huh. Ja, ja.) Gut. Rogers: Und ich denke, daß sich das genau wie die Eigenschaft anhört, die Erfahrung, die ich als Annahme betrachte, obwohl ich geneigt war, es anders auszudrücken. Ich glaube, daß wir das Individuum und sein Potential akzeptieren. Ich denke, es ist eine echte Frage, ob wir das Individuum, wie es ist, akzeptieren könnten, weil es oft vielleicht in ziemlich trauriger Verfassung ist, wenn da nicht die Tatsache wäre, daß wir auch in irgendeiner Weise sein Potential erkennen und anerkennen. Ich denke, ich fühle auch, daß die Annahme in ihrer ganzen Fülle, Annahme dieser Person wie sie ist, der mir als stärkster Faktor bekannt ist, der Veränderung hervorruft. Anders gesagt, ich denke daß jenes Veränderung freiläßt, oder Potential freiläßt zu verstehen, daß ich voll angenommen werde so wie ich bin, genau so wie ich bin – dann kann ich mich nur noch verändern. Denn dann, spüre ich, besteht die Notwendigkeit zu defensiven Schranken nicht länger, deshalb gewinnen dann die vorwärtstreibenden Prozesse des Lebens selbst überhand, so denke ich. Buber: Es tut mir leid, darüber bin ich mir nicht so sicher wie Sie, vielleicht weil ich kein Therapeut bin. (Rogers: Hhm.) Und notwendigerweise habe ich es mit der problematischen Seite eines problematischen Menschen zu tun. (Rogers: Uh huh.) In meiner Beziehung zu ihm kann ich nicht einfach ohne dies vorgehen. Ich kann es nicht zur Seite schieben. Ich habe einfach, wie ich sagte, ich habe es mit beiden Menschen zu tun. Ich habe es mit dem Problematischen in ihm zu tun. Und es gibt Fälle, in denen ich ihm gegen ihn selbst helfen muß. Er will meine Hilfe gegen sich selbst. Ja, das Leben ist grundlos für ihn geworden. Er kann nicht auf festem Boden, auf fester Erde voranschreiten. Er hängt sozusagen in der Luft. Und was will er? Was er will ist nicht nur ein Wesen, dem er trauen kann, so wie Menschen einander vertrauen, sondern auch ein Wesen, das ihm jetzt die Sicherheit gibt »Da ist ein Boden. Da ist eine Existenz. (In diesen zwei Sätzen schlägt Buber offensichtlich bei »ist« auf den Tisch.) Die Welt ist nicht (Buber schlägt auf den Tisch.) verurteilt (Rogers: Uh huh) zum Verlust, Degeneration, eh, Zerstörung. (Rogers: Uh huh.) Eh, die Welt kann wieder gut gemacht werden. Ich kann erlöst werden, weil dieses Vertrauen da ist« (Buber schlägt während des letzten
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Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers
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Satzes auf den Tisch.). (Rogers: Uh huh.) Und wenn das erreicht ist, kann ich jetzt sogar diesem Menschen in seinem Kampf gegen sich selbst helfen. Und das kann ich nur tun, wenn ich zwischen »annehmen« und »bestätigen« unterscheide. Rogers: Ich habe gerade das Gefühl, daß eine Schwierigkeit des Dialoges darin besteht, daß er einfach endlos sein kann, aber ich denke, daß sowohl aus Barmherzigkeit mit Dr. Buber, als auch mit dem Publikum, dies – (Buber überschneidet) (Gelächter.) Buber: Das – was sagen Sie? Rogers: Ich sage, daß mit Rücksicht zu Ihnen und zum Publikum – Buber: Nicht zu mir. Huh huh. Rogers: Oh, alles klar – (Gelächter.) – nur aus Rücksicht zum Publikum – Friedman: Dürfte ich so unbarmherzig sein und eine letzte Frage stellen? Und diese wäre: Ich habe den Eindruck, daß, einerseits, Dr. Rogers mehr auf die volle Wech –, vollere Wechselseitigkeit der Ich-Du Beziehung in der Therapie besteht und Dr. Buber weniger; andererseits jedoch bekomme ich den Eindruck, daß Dr. Rogers mehr Klient-orientiert ist als – Buber: Was? Friedman: Mehr Klient-orientiert – besorgter (Gelächter.) – besorgter hinsichtlich des Werdens der Person. Und er spricht in seinem zweiten Artikel 5 über die Fähigkeit, seinem eigenen Organismus zu vertrauen, damit er Befriedigung finden wird, damit er mich ausdrücken wird. Und er spricht vom Ort des Wertes als in einem seiend, wohingegen ich von meinem Treffen mit Dr. Buber den Eindruck habe, daß er den Wert eher als »das dazwischen Seiende« auffaßt. Ich frage mich, ob das ein ernsthafter Punkt zwischen Ihnen beiden ist? Rogers: Ich möchte einfach noch meiner Meinung darüber eine Art von Ausdruck verleihen, die das in ziemlich anderen Begriffen darstellt als Sie es taten, und doch denke ich, daß sich das wirklich auf die selbe Sache bezieht. Ich denke, daß Sie das, worüber ich in den letzten Monaten 6 nachdachte, als Ziel bezeichnen könnten, auf welches sich die The5. 6.
Friedman bezog sich hier auf das unveröffentlichte Manuskript von Rogers’ »What It Means to Become a Person«, was dann zum Kapitel 6 seines Buches On Becoming a Person wurde. Anderson und Cissna vermuten, daß Rogers auf seine Arbeit an zwei Aufsätzen anspielte, »A Process Conception of Psychotherapy« und »To Be That Self Which One Truly Is: ›A Therapist’s View of Personal Goals.‹« Beide Schriften wurden 1957 auf Konferenzen vorgestellt, später wurden sie zu den Kapiteln 7 und 8 des Buches On Becoming a Person.
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rapie zubewegt, und ich vermute, daß das Ziel, auf das die Reife in einem Individuum sich zubewegt, entweder »das Werdende« ist oder wissend und akzeptierend das zu sein, was man wirklich ist. In anderen Worten, auch jenes gibt Ausdruck zu einem wirklichen Vertrauen in den Prozeß, der wir sind, welcher vielleicht nicht vollständig von uns beiden geteilt wird. Buber: Nun, vielleicht wäre es von irgendeiner Hilfe, wenn ich ein Problem hinzufügte, auf das ich stieß, während ich genau diesen Artikel von Ihnen las, oder ein Problem, das mir nahe kam. Sie sprechen von Personen, und das Konzept »Person« scheint dem Konzept »Individuum« sehr nahe zu sein. Ich denke, es ist ratsam, zwischen den beiden zu unterscheiden. Ein Individuum ist nur eine bestimmte Einzigartigkeit eines menschlichen Wesens. Und wenn es kann, kann es sich entwickeln, einfach, da es sich mit Einzigartigkeit entwickelt. Und das ist es, was Jung »Individuation« nennt. Er kann mehr und mehr und mehr zum Individuum werden, ohne mehr und mehr zum Mensch zu werden. Ich kenne viele Beispiele von Menschen, die sehr individuell wurden, sehr abgehoben von den anderen, sehr entwickelt in ihrem So-und-so-Sein, ohne dabei auch nur ein wenig davon zu sein, was ich Mensch nenne. Deshalb, individuell ist einfach nur diese Besonderheit, fähig sein, sich zu entwickeln, so und so. Aber Person, würde ich sagen, ist nur ein Individuum, das wirklich mit der Welt lebt. Und »mit der Welt« meine ich nicht auf der Welt, sondern einfach in wirklichem Kontakt, in echter Wechselseitigkeit der Welt in allen Punkten, in welchen die Welt den Menschen treffen kann. Ich sage nicht nur mit Menschen, denn manchmal treffen wir die Welt in anderen Formen als in denen der Menschen. Aber das ist es, was ich eine Person nennen würde, und wenn ich ausdrücklich »ja« und »nein« sagen darf zu bestimmten Phänomenen, ich bin gegen Individuen und für Personen. Rogers: Uh huh. Korrekt. (Applaus.) Friedman: Wir haben guten Grund, tief in der Schuld von Dr. Rogers und Dr. Buber zu stehen fur einen einzigartigen Dialog. Sicherlich einzigartig in meiner Erfahrung: erstens, weil es ein echter Dialog ist, der vor einem Publikum stattfindet, und ich denke, daß das zum einen Teil daran liegt, daß sie bereit waren, und das auch wirklich taten, und zum anderen Teil, da Sie (das Publikum) teilnahmen, uns eine Art von Trialog zu ermöglichen, oder, mit mir zusätzlich, ein Quatrolog, in dem Sie in Stille teilnahmen. (Applaus – Buber sagt mehrere unverständliche Worte während des Applauses.)
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Kommentar Texte Von der Verseelung der Welt
Druckvorlage: Nachlese, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1965, S. 146-157. MBB 1270. Verfaßt 1923 als »Entwurf zu einem frei gehaltenen Vortrag im Psychologischen Klub Zürich am 1. Dezember 1923«. Eine holländische Übersetzung von Nachlese erschien 1966 unter dem Titel Sluitseen, übertragen von M. M. van Hengel-Baauw und Sunya F. des Tombe, Rotterdam: Lemniscaat. MBB 1285. Eine englische Übersetzung erschien 1967 unter dem Titel A Believing Humanism – My Testament, 1902-1965, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Maurice Friedman, New York: Simon and Schuster. MBB 1293. Die Druckvorlage enhält gegenüber dem Typoskript kleinere Abweichungen, die im Textapparat dokumentiert sind. Typoskript Arc. Ms. Var. 350/ 84h. Dieser Vortrag stellt eine ausführliche Erläuterung zentraler Themen dar, die Buber bereits in »Ich und Du« poetisch formuliert und im selben Jahr veröffentlicht hatte. Daher tauchen hier immer wieder Kernbegriffe aus »Ich und Du« auf, z. B. »das eingeborene Du«. 1 Das Problem des Menschen Auszug: Dritter Abschnitt – Die Lehre Schelers
Druckvorlage: Dialogisches Leben, Zürich, Gregor Müller Verlag, 1947, S. 443-447. MBB 761. Zuerst erschienen auf Hebräisch: Ba’ajat Ha’adam Ijunim Betoldotaw, Tel Aviv, Machberot Lesifrut, 1943. MBB 671. Identischer deutscher Wiederabdruck in: Das Problem des Menschen, Heidelberg, Schneider 1948. MBB 788. Auszug S. 152-156. Aufgenommen in: Schriften zur Philosophie, Werke I. MBB 1193. Die Texte der Sammlung Dialogisches Leben wurden in zahlreiche Sprachen übertragen: Englische Übersetzung: Between Man and Man, übersetzt von Ronald Gregor Smith, London: Routledge & K. Paul 1947. MBB 760. Wiederabdruck unter demselben Titel bei: Boston: Beacon Press 1955. MBB 980. Holländische Übersetzung: De Vraag naar de 1.
Siehe in diesem Band, S. 35, Anm. 9.
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Kommentar
Mens – Het anthropologisch probleem historisch en dialogisch ontvouwd, übersetzt von I. J. van Houte, Utrecht: E. J. Bijleveld 1957. MBB 1046. Japanische Übersetzung: Das Problem des Menschen, übersetzt von Hiroshi Kojima, Tokyo: Riso-Sha 1941. MBB 1161. Französische Übersetzung: Le Problème de l’homme, übersetzt von Jean Loewenson-Lavi, Paris: Aubier 1962. MBB 1191. Italienische Übersetzung: Il Problema dell’uomo, übersetzt und hrsg. von F. S. Pignagnoli, Bologna: Pàtron 1972. MBB 1363. Der hebräische Erstdruck Ba’ajat Ha’adam Ijunim Betoldotaw ist die Ausarbeitung eines Kollegs, das Buber im Sommersemester 1938 auf Hebräisch an der Hebräischen Universität Jerusalem gehalten hatte. In dieser Abhandlung versucht Buber, eine Antwort auf die Frage zu geben, die zuerst von Kant gestellt wurde: Was ist der Mensch? Um diese Frage zu beanworten, stellt Buber eine andere Frage: Was ist Geist? »Aber um genauer zu erfahren, was Geist ist, darf man sich nicht damit benügen, ihn zu erforschen, wo er zu Werk und Beruf geworden ist; man muß ihn auch da aufsuchen, wo er noch Ereignis ist. Denn der Geist in seiner ursprünglichen Wirklichkeit ist nicht etwas, was ist, sondern etwas was sich ereignet, genauer: etwas, was nicht erwartet wird, sondern plötzlich geschieht.« Das Problem des Menschen, S. 146. In dem Ausschnitt, der in diesem Band zum Abdruck kommt, kritisiert Buber die Anthropologie des Philosophen Max Scheler, die auf Sigmund Freuds Begriffe von der Verdrängung und der Sublimierung gegründet ist. Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre Auszug: Vierter Abschnitt – Bei sich beginnen
Druckvorlage: Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre, The Hague, Pulvis Viarum 1948. MBB 790. Auszug S. 30-36. Aufgenommen in: Schriften zum Chassidismus, Werke III. MBB 1219. Ersterscheinung auf Hebräisch: Darko schel Adam, Me’olam Hachassidut, Hagalgal, 1945. MBB 728. Englisch: The Way of Man, According to the Teaching of Hasidim, London: Routledge & K. Paul 1950. MBB 829. Holländisch: De Weg van den mens volgens de chassidische leer, übersetzt von Louise Moor, Den Hague: L. J. C. Boucher 1951. MBB 860. Jiddisch: Der Weg von Mentsch, Die Goldene Kajit, Tel Aviv, 1951. MBB 880. Norwegisch: Menneskets vei efter den chassidike laere, übersetzt von Johan B. Hygen, Oslo: H. Aschehoug 1963. MBB 1217. Schwedisch: Människans väg enligt den chassidiska läran, übersetzt von Monica Engström, Stockholm: Bonniers 1924. MBB 1251.
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Buber erkannte in der chassidischen Folklore eine Quelle psychologischer Weisheit, insbesondere hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen. In dieser Passage zitiert er eine bekannte Geschichte, die Rabbi Jizchak von Worki (1779-1848) zugeschrieben wird, einem der am meisten verehrten chassidischen Lehrer Mittelpolens. Diese Erzählung, in der von der möglichen Lösung eines Ehekonflikts berichtet wird, und andere ähnliche Passagen illustrieren die besondere Bedeutung Bubers für die Familientherapie. Urdistanz und Beziehung
Druckvorlage: Studia Philosophica-Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft, Separatum Bd. 10, Basel: Verlag für Recht und Gesellschaft 1950, S. 7-19. MBB 843. Wiederabdruck: Urdistanz und Beziehung, Heidelberg: L. Schneider 1951. MBB 858. Englisch: »Distance and Relation«, übersetzt von Ronald Gregor Smith, in: The Hibbert Journal, Nr. 49, Januar 1951, S. 105-113. MBB 862. Hebräisch: »Rechek Wesika«, in: Ajon, 2, Januar 1951, S. 32-42. MBB 881. Japanisch: Beiträge zu einer philosophischen Anthropologie, übersetzt von Minoru Inaba, Tokyo: Misuzo-Shobo 1969. MBB 1326. Holländisch: Oerdistantie en relatie, übersetzt von F. de Miranda, Utrecht: J. Bijleveld 1978. MBB 1401. Im Frühling des Jahres 1957 reiste Buber als Gast der Washington School of Psychiatry nach Washington D.C. Er war eingeladen worden, um die vierten »William Alanson White Gedenkvorlesungen« zu halten. Der übergreifende Titel der Vorlesungsreihe lautete: »Welchen Beitrag kann die philosophische Anthropologie für die Psychiatrie leisten?« Dr. Leslie H. Farber, der Präsident der Washington School of Psychiatry, bemerkte in seiner Einführung zu den Vorträgen, daß die philosophische Anthropologie Buber zufolge bemüht sei, den Menschen in seiner Ganzheit zu begreifen, während sich alle anderen Wissenschaften nur mit Aspekten des Menschlichen auseinandersetzten: »Die medizinischen und biologischen Wissenschaften fragten stets: Was ist der Mensch im Verhältnis zur Natur – zur Naturgeschichte, der Evolution der Organismen und der physikalischen Kräfte, die seinen Körper regulieren? Sie fragten: Was ist der Mensch als Naturwesen, als physischer oder biologischer Organismus? Und auch die anderen Wissenschaften vom Menschen – die Anthropologie, Soziologie, Politikwissenschaft und schließlich die neue Freudsche Wissenschaft der Psychoanalyse – stellten ihre Fragen auf dieser naturwissenschaftlichen Basis: Was ist der
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Mensch? Was ist der natürliche Mensch, was ist der primitive Mensch im Gegensatz zu dem durch soziopolitische, kulturelle und ökonomische Kräfte geformten Menschen? Was ist sein natürliches Erbe aus seiner Vorzeit als menschliches Tiers oder Primat oder Primitiver im Gegensatz zu seiner jüngeren Geschichte eines zivilisierten oder sozialen Wesens? Keine dieser Wissenschaften stellte also die ganzheitliche Frage: Was ist der Mensch? Noch stellten sie die einzigartige Frage: Wer bin ich in meiner einzigartig menschlichen Essenz? […] Das sind nicht etwa kleinere oder persönlichere Fragen; sie sind größer und umfassender als diejenigen, welche die Wissenschaft stellte. Sie schließen einen weiteren Blick sowohl auf den Menschen als auch auf die Geschichte ein. Sie beinhalten das persönliche Sein des Menschen – meine persönliche Erfahrung und Kenntnis meiner selbst – genauso wie mein philosophisches und wissenschaftliches Wissen darüber, was ›der Mensch ist‹. […] Die Psychiatrie darf sich anderen Disziplinen – wie etwa der Philosophie, der Religion oder der Morallehre – nicht verschließen, denn diese sind ebenfalls mit dem Menschen und den Beziehungen zwischen Menschen beschäftigt.« 2 Den Aufsatz »Urdistanz und Beziehung« hatte Buber bereits im Jahr 1951 zuerst auf Englisch veröffentlicht. Im Rahmen seiner Washingtoner Vorträge im März 1957 bildete er nun den ersten seiner insgesamt drei Vorträge. Buber untersucht darin, was den Menschen zum Menschen macht. Distanz ist die ontologische Grundlage oder Vorbedingung für Beziehung; ohne die Urdistanz gibt es weder ein Ich noch ein Du. Distanz kann als solche nicht mit Ich-Es Beziehungen gleichgesetzt werden. Gelingt es jedoch nicht, eine Ich-Du Beziehung herzustellen, verdichtet und erhärtet sich die Distanz. Statt das dialogische Zusammenkommen mit dem anderen, dem potentiellen Du zu befördern, blockiert sie es. Heilung aus der Begegnung
Druckvorlage: Neue Schweizer Rundschau, N.F., 19. Jg., Heft 6, Oktober 1951, S. 382-386. MBB 866. Unter dem Titel »Geleitwort zu Hans Trübs gleichnamigem Buch« erschienen in: Hans Trüb, Heilung aus der Begegnung. Eine Auseinandersetzung mit der Psychologie C. G. Jungs, hrsg. von Ernst Michel und Arie Sborowitz, Stuttgart: Klett 1952. MBB 901. Wiederabdruck: Nachlese, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1965, S. 146-157. MBB 1270. Englisch in: Pointing the Way – Collected Essays,
2.
Leslie H. Farber, »Introduction« to Martin Buber, »The William Alanson White Memorial Lectures, Fourth Series«, in: Psychiatry, Jg. 20, Heft 2 (Mai 1957), S. 95 f. Übersetzung: Bernadette Grubner.
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übersetzt und hrsg. von Maurice Friedman, New York: Harper 1957. MBB 1045. Die Druckvorlage enhält gegenüber dem Wiederabdruck in Nachlese kleinere Abweichungen, die im Textapparat dokumentiert sind. Der Psychoanalytiker und Psychotherapeut Hans Trüb, der aus der Schule von C. G. Jung hervorgegangen war, war seit Mitte der zwanziger Jahre mit Buber befeundet. Unter dessen Einfluß entfernte er sich mehr und mehr von Jung und entwickelte die psychotherapeutische Methode der »Psychosynthese«, die er auch theoretisch zu fundieren suchte. Die theoretische Darlegung seiner Methode fand ihren Niederschlag auch in Trübs letztem Werk, Heilung aus Begegnung, erschien nach seinem Tod im Jahr 1951. Es war von Ernst Michel und Arie Sborowitz zu Ende geführt worden; sein Freund Martin Buber versah es mit einem Gleitwort. Bilder von Gut und Böse Auszug: II – Unser Ausgangspunkt; III – Das erste Stadium; IV – Das zweite Stadium; V – Das Böse und das Gute
Druckvorlage: Bilder von Gut und Böse, Köln: Hegner 1952. MBB 884. Auszug, S. 83-112. Aufgenommen in: Schriften zur Philosophie, Werke I. MBB 1193. Wiederabdruck: Bilder von Gut und Böse, Heidelberg: L. Schneider 1964. MBB 1246. Englisch: Images of Good and Evil, übersetzt von Michael Bullock, London: Routledge & K. Paul 1952. MBB 888. Spanisch: Imagenes del bien y del mal: Introducción, El árbol del conocimiento, Cain, in: Comentario, 1. Jg., Heft 1, Okt./Dez. 1953. S. 30-39. MBB 932. Hebräisch: Pnej Adam, Bechinot be’Anthropologia Philosophit, Jerusalem: Mossad Bialik 1962. MBB 1209. Italienisch: Immagini del bene e del male, übersetzt von Amerigo Guadagnin, Humana Civilitas 19, Milan: Edizioni di Communià 1965. MBB 1267. Japanisch in: Gottesfinsternis, übersetzt von Yoshinori Mitani et al., Tokyo: MisuzuShobo 1968. MBB 1312b. Holländisch: Beelden van goed en kwaad, übersetzt von F. de Miranda, Wassenaar: Servire 1975. MBB 1382. Im Vorwort von Bilder von Gut und Böse schreibt Buber: »In den von meinem unvergeßlichen Freund Paul Desjardins begründeten und geleiteten Entretiens de Pontigny ist im Sommer 1935, gelegentlich einer Diskussion über die Askese das Problem des Bösen erörtert worden. […] Ich nahm […] intensiv an der Aussprache teil, und der lebhafte Gedankenaustausch, insbesondere mit Nikolai Berdjajew und Ernesto Buonaiuti, die nun auch schon dahingegangen sind, hat mich zu erneutem Nachdenken über das, wie Berdjajew sagte, ›paradoxale‹ Problem
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veranlaßt. In den Entretiens des darauffolgenden Jahres, in einer nunmehr ausschließlich diesem Problem gewidmeten Dekade, habe ich meine Auffassung genauer dargelegt, wobei ich eine Vergleichung zweier historischer Anschauungen, der des alten Iran und der Israels, einbezog. Es ging mir vor allem darum, zu zeigen, daß Gut und Böse in ihrer anthropologischen […] Wirklichkeit, das heißt, im faktischen Lebenszusammenhang der menschlichen Person, nicht, wie man zu meinen pflegt, zwei strukturell gleichartige, nur eben polar entgegengesetzte, sondern zwei strukturell durchaus verschiedene Beschaffenheiten sind. Impossible de le résoudre, hatte Berdjajew von dem Problem gesagt, ni même de le poser de mainère rationnelle, parce qu’alors il disparaît. Und in unmittelbarem Anschluß an diese ›Unmöglichkeit‹ hatte er die Frage aufgeworfen, wo der Kampf gegen das Böse anzusetzen habe. Zur Antwort auf jenes Bedenken versuchte ich nun in meinem Vortrag, statt einer ›Lösung‹ des Problems des Bösen eine synthetische Beschreibung des geschehenden Bösen zu geben und damit zu helfen, es zu verstehen. Meine Antwort auf die Frage nach dem Ansatzpunkt des Kampfes konnte wesentlich knapper sein; sie lautete: Der Kampf muß in der eigenen Seele ansetzen – alles andere kann sich erst von da aus ergeben. […] Die Ausarbeitung meiner Antwort auf Berdjajews Hinweis auf die ›Unmöglichkeit der Lösung‹ konnte erst ein Jahrzehnt später erfolgen. Sie wird in diesem Buch gegeben.3 Das existentielle Mißtrauen zwischen Mensch und Mensch
Druckvorlage: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Weihnachtsausgabe 1953, Supplement S. 1. MBB 928. Es handelt sich hierbei um einen Auszug aus einer am 6. April 1952 in der Carnegie Hall in New York gehaltenen Rede. Ebenfalls erschienen unter dem Titel: »Hoffnung für diese Stunde«, in: Merkur, 6. Jg., Heft 8, August 1952, S. 711-118. MBB 902. Aufgenommen als: Hoffnung für diese Stunde, in: Hinweise – Gesammelte Essays [1909-1953], Zürich: Menasse 1953. MBB 919. »Hoffnung für diese Stunde« gehört zu den am häufigsten nachgedruckten Artikeln von Buber. Englisch: »Hope for This Hour«, übersetzt von Maurice Friedman, in: World Review, N.S. 46, Dezember 1952. S. 20-24. MBB 903. Hebräisch: »Te’udah we’je’ud, Kerech B, Am we’olam – ma’amarim al injanej hascha’a«, Jerusalem: Hasifria Hazionit 1961, S. 424. MBB 1182. Spanisch: »Esperanza para esta hora«, in: Donde 3.
M. Buber, Bilder von Gut und Böse, Köln: Hegner 1952, S. 9-11. (Im Original kursiv.)
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Estamos Hoy?, übersetzt von G. Bleiberg, Madrid: Tribuna de la Revista de Occidente 1962. S. 81-92. MBB 1200. Am 31. Oktober 1951 flog Buber von Israel nach New York. Als Gast des Jewish Theological Seminary of America hielt er in New York eine Reihe von Vorträgen. Anschließend bereiste er weitere Universitäten und Institutionen in den USA, darunter unter anderem in Los Angeles. Bubers Rundreise durch die Vereinigten Staaten endete mit einer Festrede, die er am 6. April 1952 in der Carnegie Hall in New York City hielt: die englische Fassung der hier abgedruckten Rede. Paul Tillich (1886-1965), sein alter Freund aus Frankfurt, stellte Buber an diesem Abend vor. Religion und Modernes Denken Auszug: Zweiter Abschnitt
Druckvorlage: Merkur, 6. Jg., Heft 2, Februar 1952, S. 101-120, Auszug S. 110-120. MBB 907. Die Schrift Religion und Modernes Denken wurde zu Kapitel 5 von Gottesfinsternis. Wiederabdruck in: Gottesfinsternis – Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie, Zürich: Menasse 1953. MBB 918. Aufgenommen in: Schriften zur Philosophie, Werke I, S. 550-574. MBB 1193. Englische Erstveröffentlichung der Aufsätze aus Gottesfinsternis: Eclipse of God – Studies in the Relation Between Religion and Philosophy, übersetzt von Maurice Friedman et al., New York: Harper 1952. MBB 887. Übersetzungen von Gottesfinsternis: Holländisch: Godsverduistering – Beschouwingen over de betrekking tussen religie en filosofie, übersetzt von K. H. Kroon, Utrecht: E. J. Bijleveld 1954. MBB 950. Italienisch: Eclissi di Dio – Considerazioni sul rapporte tra religione e filosofia, übersetzt von Ursula Schnabel, Humana Civilitas 9, Milan: Edizioni di Communità 1961. MBB 1160. Insgesamt hielt Buber mehr als siebzig Vorträge in den USA. Die wichtigsten davon versammelte er noch 1952 in in dem Band Eclipse of God – Studies in the Relation Between Religion and Philosophy und ein Jahr später auf Deutsch in Gottesfinsternis – Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie. Die zentralen Aussagen der dort versammelten Aufsätze bilden die Basis von »Religion and Modern Thinking« (»Religion und modernes Denken«). In »Ich und Du« schreibt Buber 1923: »Gewiß ist Gott ›der ganz Andere‹ ; aber er ist auch das ganz Selbe: das ganz Gegenwärtige. Gewiß ist er das Mysterium tremendum, das erscheint und niederwirft; aber er ist auch das Geheimnis des Selbstverständlichen, das mir näher ist als mein
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Ich«. Mit dieser Erklärung wollte er verdeutlichen, was ihm bei Karl Barth und Rudolf Otto als die allzu starke Betonung von Gottes Transzendenz erschien. Jetzt, fast dreißig Jahre später und nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, behauptete Buber, diejenigen, die Gott auf die Transzendenz einschränken, begrenzen ihn auf ungerechtfertigte Weise, aber andererseits diejenigen, die ihn zu etwas Immanentem machen, meinen etwas ganz anderes als Gott. All diejenigen, die Gott auf die Immanenz begrenzt haben, hätten damit zu »Gottesfinsternis« – zu der Abwesenheit Gottes – beigetragen. Deshalhb halte er es für drigend geboten, die Auffasung der Religion zu kritisieren, wie sie bei Sartre, Heidegger und Jung zu finden sei. Im Textteil wie im folgenden Teil des Kommentars wird Bubers Auseinandersetzung mit Jung zum Abdruck gebracht. Erwiderung an C. G. Jung
Druckvorlage: Merkur, 6. Jg., Heft 5, Mai 1952, S. 474-476. MBB 899. Der Text wurde unter dem Titel Replik auf eine Entgegenung C. G. Jungs in Gottesfinsternis aufgenommen. Zur Druckgeschichte von Gottesfinsternis siehe oben die Druckgeschichte zu Religion und Modernes Denken. Die Druckvorlage enhält gegenüber dem Wiederabdruck in Gottesfinsternis kleinere Abweichungen, die im Textapparat dokumentiert sind. Bubers Kritik an C. G. Jung in »Religion und Modernes Denken« hatte eine heftige Debatte zwischen beiden ausgelöst, die im Merkur im Frühjahr 1952 öffentlich ausgetragen wurde. Jung verfaßte seine Entgegnung auf Bubers Aufsatz »Religion und Modernes Denken« am 22. Februar 1952 als Brief an den Herausgeber des Merkur, und sie erschien dort in der Maiausgabe unter dem Titel »Religion und Psychologie«. Da die darauf folgende in diesem Band ebenfalls abgedruckte Replik Bubers direkt Stellung bezieht zu dem Artikel von C. G. Jung, »Religion und Psychologie«, wird im folgenden der Aufsatz Jungs – nach einem kurzen Überblick über die Druckgeschichte – hier vollständig abgedruckt: Religion und Psychologie: C. G. Jungs Antwort an Martin Buber
Druckvorlage: Religion und Psychologie, in: Merkur (Stuttgart), 6. Jg., Heft 5, Mai 1952, S. 467-473. Neu herausgegeben als »Antwort an Martin Buber«, in: C. G. Jung, Gesammelte Werke, Bd. 11. Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion. Anhang. 4.
M. Buber, Ich und Du, in: Das dialogische Prinzip, S. 80.
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Vor einiger Zeit hatten die Leser Ihrer Zeitschrift Gelegenheit, einen posthumen Aufsatz Graf Keyserlings 6 zu lesen, in welchem ich als »ungeistig« qualifiziert wurde. 7 Nun finde ich in der letzten Nummer einen Aufsatz Martin Bubers,8 welcher sich ebenfalls um meine Klassifikation bemüht. Ich bin seiner Darstellung insofern zu Dank verpflichtet, als sie mich aus dem Stande der Ungeistigkeit, in welchem mich Graf Keyserling dem deutschen Publikum vorgestellt hat, in die Sphäre der Geistigkeit hebt, wenn schon in jene des frühchristlichen Gnostizismus, welcher seitens der Theologen von jeher scheel angesehen wurde. Komischerweise fällt dieses Urteil zeitlich zusammen mit einer Meinungsäußerung aus maßgeblicher theologischer Quelle, die mich des Agnostizismus, also des geraden Gegenteils von »Gnostizismus«, bezichtigt. Wenn die Meinungen über einen Gegenstand dermaßen weit auseinandergehen, so besteht meines Erachtens der begründete Verdacht, daß keine derselben richtig sei, d. h. daß ein Mißverständnis vorliege. Warum wird der Frage, ob ich ein Gnostiker oder ein Agnostiker sei, so viel Aufmerksamkeit geschenkt? Warum wird nicht einfach gesagt, daß ich ein Psychiater bin, dem es in erster Linie daran gelegen ist, sein Erfahrungsmaterial darzustellen und zu deuten? Ich versuche ja, Tatsachen zu erforschen und dem Verständnis näher zu rücken. Darüber darf die Kritik nicht einfach hinweghuschen, um dann einzelne Stücke außerhalb ihres Zusammenhangs anzugreifen. Zur Stützung seiner Diagnose benützt Buber sogar eine von mir vor beinahe vierzig Jahren begangene Jugendsünde, die darin bestand, einmal ein Gedicht verbrochen zu haben.9 Ich habe darin gewisse psychologische Einsichten im »gnostischen« Stil aus5.
6.
7.
8. 9.
[Anm. der Redaktion des Merkur] Zu dem Aufsatz unseres Februarheftes »Religion und modernes Denken« von Martin Buber sandte uns Prof. Dr. C. G. Jung die folgende Zuschrift. Prof. Buber nahm seinerseits die darin vorgebrachten Einwände auf. Damit hat sich eine Auseinandersetzung über das zentrale Thema »Religion und Psychologie« ergeben, die uns so bedeutsam erscheint, daß wir es um der Sache willen für notwendig halten den Lesern des Aufsatzes von Martin Buber die beiden Zuschriften gleichzeitig vorzulegen. Hermann Keyserling, »Begegnungen mit der Psychoanalyse«, Merkur 4, Nr. 11 (Nov. 1950), S. 1151- 1168. Keyserling (1880-1946) zählt Jung zwar neben S. Freud und A. Adler zu den »drei großen Begründern der analytischen Psychologie«, kritisiert ihn aber vielfach und bringt ihn in Verbindung mit der Gnosis. »Erst spät wurde mir [Keyserling] klar, daß der Tiefenpsycholog ungeistig, ja zuweilen anti-geistig reagieren muß«, wenn er den »widersinnigen Analytiker-Versuch« unternehme, »indische oder chinesische oder tibetische Weisheit […] zu erklären.« Ebd., S. 1158. Religion und Modernes Denken, Merkur 6, Nr. 2 (Feb. 1952). Septem Sermones ad Mortuos, Privatdruck, 1916, Abgedruckt im Anhang zu C. G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedenken, hrsg. von Aniela Jaffé, Zürich 1962. Vgl. auch Jung, Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 657 f.
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gedrückt, weil ich damals begeistert die Gnostiker studierte. Mein Enthusiasmus gründete sich auf die Entdeckung, daß sie anscheinend die ersten Denker waren, die sich (auf ihre Art) mit den Inhalten des sogenannten kollektiven Unbewußten beschäftigten. Ich ließ damals das »Gedicht« unter einem Pseudonym drucken und verschenkte einige Exemplare an Bekannte, nicht ahnend, daß es in einem Ketzerprozeß einmal wider mich zeugen würde. Ich darf meinen Kritiker darauf hinweisen, daß ich nicht bloß als Gnostiker und dessen Gegenteil, sondern auch als Theist und Atheist, als Mystiker und als Materialist aufgefaßt worden bin. Ich will in dem Konzert so mannigfaltiger Meinungen dem, was ich von mir selber halte, kein zu großes Gewicht geben, sondern ein Urteil über mich aus anscheinend unverdächtiger Quelle, nämlich einem Leitartikel des British Medical Journal vom 9. Februar 1952, zitieren: »Facts first and Theories later is the key-note of Jung’s work. He is an empirical first and last.« Diese Ansicht findet meinen Beifall. Wer meine Arbeiten nicht kennt, wird sich gewiß die Frage vorlegen, woher es dann eigentlich komme, daß derart gegensätzliche Meinungen über ein und denselben Gegenstand entstehen können? Darauf ist zu antworten, daß sie samt und sonders von »Metaphysikern« erdacht sind, nämlich von Leuten, die aus irgendwelchen Gründen über unwißbare Dinge des Jenseits Bescheid zu wissen glauben. Ich habe nie gewagt zu behaupten, daß es derartige Dinge n i c h t gebe; ich habe aber auch nie gewagt, zu meinen, daß eine meiner Aussagen diese Dinge irgendwie berühre oder sie auch nur korrekt darstelle. Ich bezweifle, daß unsere Vorstellung mit der Natur der Dinge an sich identisch ist, und dies aus sehr naheliegenden naturwissenschaftlichen Gründen. Da nun in der empirischen Psychologie Vorstellungen von und Meinungen über metaphysische bzw. religiöse Gegenstände eine sehr große Rolle spielen, 10 so bin ich aus praktischen Gründen genötigt, entsprechende Begriffe zu handhaben. Dabei bin ich mir bewußt, daß ich es mit anthropomorphen Anschauungen zu tun habe und nicht mit wirklichen Göttern und Engeln, obschon dergleichen (archetypische) Bilder kraft ihrer spezifischen Energie sich so autonom benehmen, daß man sie metaphorisch als »psychische Dämonen« bezeichnen könnte. Diese Tatsache der Autonomie ist sehr ernst zu nehmen; erstens einmal vom theoretischen Standpunkt, indem sie die Dissoziabilität und faktische Dissoziation der Psyche ausdrückt; und zweitens praktisch, als sie die Grundlage 10. [Anm. Jung] Vgl. dazu die erleuchtende Darstellung bei G. Schmaltz, Östliche Weisheit und Westliche Psychotherapie, Stuttgart 1951.
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zur dialektischen Auseinandersetzung zwischen dem Ich und dem Unbewußten, einem Hauptstück der psychotherapeutischen Methode, bildet. Jedermann, der einige Kenntnis von der psychologischen Struktur einer Neurose hat, weiß, daß der pathogene Konflikt auf der Gegensatzposition des Unbewußten zum Bewußtsein beruht. Die sogenannten »Mächte des Unbewußten« sind keine willkürlich zu manipulierenden, intellektuellen Begriffe, sondern gefährliche Gegner, die in der Ökonomie der Persönlichkeit mitunter furchtbare Verwüstungen anrichten können. Sie sind alles, das man als ein seelisches »Gegenüber« je nachdem wünschen oder fürchten kann. Der Laie allerdings vermeint es mit einer dunklen Organkrankheit zu tun zu haben. Der Theologe, der dahinter den Teufel vermutet, steht aber der psychischen Wahrheit bedeutend näher. Ich fürchte, daß Buber aus begreiflicher Unkenntnis der psychiatrischen Erfahrung nicht versteht, was ich mit »Wirklichkeit der Seele« und mit dem dialektischen Prozeß der Individuation meine. Das Ich steht nämlich in erster Linie seelischen Mächten gegenüber, welche uralt geheiligte Namen tragen, um derentwillen sie von jeher mit metaphysischen Existenzen identifiziert werden. Die Analyse des Unbewußten hat schon längst das Vorhandensein dieser »Mächte« in Gestalt archetypischer Bilder nachgewiesen, die aber n i c h t m i t d e n e n t s p r e c h e n d e n D e n k b e g r i f f e n i d e n t i s c h s i n d . Man kann glauben, daß die Begriffe des Bewußtseins vermöge der Inspiration des Heiligen Geistes unmittelbare und korrekte Darstellungen ihres metaphysischen Gegenstandes seien. Diese Überzeugung ist natürlich nur dem möglich, der das Charisma des Glaubens besitzt. Dieses Besitztes kann ich mich leider nicht rühmen, weshalb ich mir auch nicht einbilde, daß ich, wenn ich über einen Erzengel etwas aussage, damit eine metaphysische Feststellung gemacht hätte. Vielmehr habe ich über etwas Erfahrbares, nämlich über eine der sehr fühlbaren »Mächte des Unbewußten« geurteilt. Letztere sind numinose typi bzw. unbewußte Inhalte, Vorgänge und Dynamismen. Diese typi sind, wenn man so sagen darf, immanent-transzendent. Da mein einziges Erkenntnismittel die Erfahrung ist, so kann ich diese Grenze nicht übershreiten und mir deshalb nicht vorstellen, daß ich mit meiner Beschreibung das Porträt eines wirklichen metaphysischen Erzengels getroffen hätte. Ich habe nur einen psychischen Faktor dargestellt, welchem allerdings ein bedeutender Einfluß auf das Bewußtsein zukommt. Er bildet kraft seiner Autonomie eine Gegenposition zum subjektiven Ich, indem er ein Stück der o b j e k t i v e n P s y c h e 11 darstellt. Man kann ihn daher als ein »Du« bezeichnen. Für dessen Wirklichkeit zeugen mir die 11. Jung nannte das kollektive Unbewußte auch die objektive Psyche.
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geradezu teuflischen Taten unserer Zeit, die sechs Millioner ermordeter Juden, die ungezählten Opfer der Sklavenschinderei in Rußland und die Erfindung der Atombombe, um einige Beispiele der düsteren Seite zu nennen. Ich habe andererseits aber auch Jenes gesehen, das mit den Worten Schönheit, Güte, Weisheit und Gnade ausgedrückt wird. Diese Erfahrungen von den Tiefen und Höhen der menschlichen Natur berechtigen zum metaphorischen Gebrauch des Terminus »Daimon«. 12 Man wollte nicht übersehen, daß ich mich mit jenen psychischen Phänomenen befasse, welche sich empirisch als die Grundlagen metaphysischer B e g r i f f e erweisen lassen, und daß, wenn ich z. B. »Gott« sage, ich mich überhaupt auf gar nichts anderes beziehen kann, als auf nachweisbare psychische Vorlagen, die nun allerdings von erschütternder Wirklichkeit sind. Wem dies unglaubwürdig vorkommen sollte, dem möchte ich einen nachdenklichen Gang durch eine Irrenanstalt empfehlen. Die »Wirklichkeit der Seele« ist meine Arbeitshypothese, und meine Haupttätigkeit besteht darin, ein Tatsachenmaterial zu sammeln, zu beschreiben und zu erklären. Ich habe weder ein System, noch eine allgemeine Theorie aufgestellt, sondern nur Hilfsbegriffe formuliert, die mir als Werkzeug dienen, wie dies in jeder Naturwissenschaft üblich ist. Wenn Buber meinen Empirismus als Gnostizismus mißversteht, so liegt ihm ob, zu beweisen, daß die Tatsachen, die ich beschreibe, nichts als Erfindungen sind. Wenn ihm dieser Beweis am empirischen Material gelingen sollte, dann bin ich in der Tat ein Gnostiker. Aber dann wird sich mein Kritiker in der unangenehmen Lage befinden, alle religiösen Erlebnisse überhaupt als Selbsttäuschungen abtun zu müssen. Vorderhand bin ich der Ansicht, daß Bubers Urteil irregeführt worden ist. Dies wird vor allem deutlich darin, daß er anscheinend nicht begreifen kann, inwiefern ein »autonomer seelischer Inhalt«, wie das Gottesbild, dem Ich gegenüber zu treten vermag, und daß einer derartigen Beziehung nichts an Lebendigkeit mangelt. Es ist gewiß nicht die Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft, festzustellen, inwiefern ein solcher seelischer Inhalt vom Dasein einer metaphysischen Gottheit bewirkt und bestimmt sei. Das ist Sache der Theologie, der Offenbarung und des Glaubens. Mein Kritiker scheint sich nicht bewußt zu sein, daß, wenn er selber von Gott spricht, er zunächst aus seinem Bewußtsein und sodann aus seiner unbewußten Voraussetzung aussagt. Von welchem metaphysischen Gott er spricht, weiß er nicht; ist er ein orthodoxer Jude, so spricht er von der Gottheit, welche 12. Das jungianische Daimonische ist mit Kreativität sowohl als auch mit negativen Reaktionen beschäftigt im Unterschied zum Demonischen, welches nur destruktiv ist.
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ihre im Jahre 1 erfolgte Inkarnation noch nicht offenbart hat. Ist er ein Christ, so weiß er um die Menschwerdung, von der Jahwe noch nichts vermuten läßt. Ich zweifle nicht an seiner Überzeugung, in lebendiger Beziehung zu einem göttlichen Du zu stehen, bin aber nach wie vor der Meinung, daß diese Beziehung zunächst zu einem autonomen seelischen Inhalt geht, welcher von ihm so und vom Papst anders definiert wird. Dabei erlaube ich mir nicht das geringste Urteil darüber, ob oder inwiefern es einem metaphysischen Gott gefallen hat, sich dem gläubigen Juden als denjenigen vor der Menschwerdung, den Kirchvätern als nachherigen Dreieinigen, den Protestanten als den alleinigen Erlöser ohne und dem jetzigen Papste als mit einer Corredemptrix zu offenbaren. Oder sollen wir daran zweifeln, daß die Vertreter anderer Observanzen, einschließlich des Islam, des Buddhismus, Hinduismus, Taoismus usw. nicht eben dieselbe lebendige Beziehung zu »Gott« bzw. zu Nirvana und Tao haben, wie Buber zu seinem ihm eigentümlichen Gottesbegriff? Es ist merkwürdig, daß er an meiner Behauptung, Gott könne nicht losgelöst vom Menschen existieren, Anstoß nimmt und sie für eine transzendente Aussage hält. Ich sage doch ausdrücklich, daß alles, schlechthin alles, was von »Gott« ausgesagt wird, menschliche Aussage, d. h. psychisch sei. Das Bild, das wir von Gott haben oder uns machen, ist doch nie »losgelöst vom Menschen«? Kann mir Buber angeben, wo Gott sein eigenes Bild, losgelöst vom Menschen, gemacht hat? Wie kann etwas derartiges konstatiert werden und von wem? Ich will hier einmal – ausnahmsweise – transzendent spekulieren bzw. »dichten«: Gott hat allerdings, ohne Mithilfe des Menschen ein unbegreiflich herrliches und zugleich unheimlich widerspruchsvolles Bild von sich selber gemacht und es dem Menschen als ein Archetypus, ein arcfftupon fw@ 13 ins Unbewußte gelegt, nicht damit die Theologen aller Zeiten und Zonen sich darüber in die Haare geraten, sondern, daß der nichtanmaßliche Mensch in der Stille seiner Seele auf ein ihm verwandtes, aus seiner eigenen seelischen Substanz erbautes Bild blicken mag, welches alles in sich hat, was er sich je über seine Götter oder über seinen Seelengrund ausdenken wird. Dieser Archetypus, dessen Vorhandensein nicht nur die Völkergeschichte, sondern auch die psychologische Erfahrung am einzelnen Individuum bestätigt, genügt mir vollkommen. Er ist so menschlich nahe und doch so fremd und anders und, wie alle Archetypen, von größter determinierender Wirkung, mit welcher Auseinandersetzung unbedingt angezeigt ist. Die dialektische Beziehung zu den autonomen Inhalten des
13. Griech., archétypon phos, archetypisches Licht.
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kollektiven Unbewußten bildet deshalb, wie gesagt, einen wesentlichen Teil der Therapie. Buber irrt sich in der Annahme, daß ich von einer »gnostischen Grundanschauung« ausgehend metaphysische Aussagen »bearbeite«. Man darf ein Ergebnis der Empirie nicht als eine philosophische Voraussetzung mißverstehen, denn es ist nicht deduktiv gewonnen, sondern aus einem klinischen Tatsachenmaterial abgeleitet. Ich möchte meinem Kritiker empfehlen, einmal Biographien von Geisteskranken zu lesen, wie z. B. J o h n C u s t a n c e : Wisdom, Madness and Folly (London 1951) oder D. P. S c h r e b e r : Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (Leipzig 1903), die gewiß nicht, so wenig wie ich, von gnostischen Voraussetzungen ausgegangen sind, oder die Analyse eines Mythenstoffes, wie z. B. die vortreffliche Arbeit seines Nachbarn in Tel Aviv, D r. E . N e u m a n n : Apuleius: Amor und Psyche (Zürich 1952). Meine Behauptung der Analogie und nahen Verwandschaft der Produkte des Unbewußten mit gewissen metaphysischen Vorstellungen gründet sich auf meine professionelle Erfahrung. Ich darf in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß ich eine ganze Anzahl von maßgebenden Theologen katholischer wie protestantischer Observanz kenne, welche meinen empirischen Standpunkt ohne weiteres verstehen. Ich habe daher keinen Anlaß, meine Darstellung für dermaßen irreführend zu halten, wie die Andeutungen Bubers es wollen glauben machen. Noch ein Mißverständnis, das mir öfters begegnet ist, möchte ich erwähnen. Es betrifft die merkwürdige Annahme, daß, wenn die Projektionen »zurückgezogen« würden, vom Objekt nichts mehr übrig bleibe. Wenn ich meine Fehlurteile über einen Menschen korrigiere, so habe ich diesen damit nicht negiert und zum Verschwinden gebracht; im Gegenteil, ich sehe ihn jetzt annähernd richtig, was einer Beziehung nur förderlich sein kann. Wenn ich nun der Ansicht bin, daß alle Aussagen über Gott aus der Seele in erster Linie hervorgehen und daher vom metaphysischen Wesen unterschieden werden müssen, so ist damit weder Gott geleugnet noch der Mensch an Stelle Gottes gesetzt. Es ist mir, offen gestanden, unsympathisch, denken zu müssen, daß jedesmal, wenn ein Redner die Bibel zitiert oder seine sonstigen religiösen Meinungen ventiliert, der metaphysische Gott selber durch ihn rede. Der Glaube ist gewiß eine großartige Sache, wenn man ihn besitzt, und das Glaubenswissen ist vielleicht viel vollkommener, als was wir mit unserer mühseligen und kurzatmigen Empirie je zustande bringen. Das Gebäude der christlichen Dogmatik z. B. steht zweifellos auf viel höherer Stufe als die etwas wilden Philosophoumena der Gnostiker. Die Dogmen sind pneumatische Strukturen von höchster Schönheit und einem bewundernswerten Sinn, um
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den ich mich in meiner Art gemüht habe. Daneben lassen sich unsere wissenschaftlichen Versuche, Modelle der »objektiven Psyche« herzustellen, überhaupt nicht sehen. Sie sind erd- und wirklichkeitsnah, widerspruchsvoll, unfertig, logisch und ästhetisch unbefriedigend. Naturwissenschaftliche Begriffe und vollends medizinisch-psychologische gehen nicht aus sauberen und wohlanständigen Denkprinzipien hervor, sondern ergeben sich aus der täglichen Arbeit in den Niederungen des banalen menschlichen Daseins und seiner Qual. Empirische Begriffe sind irrationaler Natur. Der Philosoph, der sie so kritisiert, wie wenn sie philosophische Begriffe wären, führt einen Kampf gegen Windmühlen und gerät, wie Buber mit dem Begriff des S e l b s t , in die größten Schwierigkeiten. Empirische Begriffe sind Namen für vorhandene Tatsachenkomplexe. Angesichts der furchtbaren Paradoxie unseres Daseins ist es begreiflich, wenn das Unbewußte ein entsprechend widerspruchsvolles Gottesbild enthält, welches mit der Schönheit, Erhabenheit und Reinheit des dogmatischen Gottesbegriffes nicht recht zusammenstimmen will. Der Gott Hiobs und des 89sten Psalmes ist allerdings etwas wirklichkeitsnaher und paßt in seinem Verhalten nicht übel zu dem Gottesbild des Unbewußten. Letzteres begünstigt freilich mit seiner Anthropos-Symbolik die Inkarnationsidee. Ich fühle mich nicht dafür verantwortlich, daß seit dem Alten Testament die Dogmengeschichte einige Fortschritte gemacht hat. Ich predige damit keine neue Religion, denn dazu müßte ich mich ja zum mindesten – nach althergebrachtem Gebrauch – auf eine göttliche Offenbarung berufen. Ich bin essentiell Arzt, der es mit der Krankheit des Menschen und seiner Zeit zu tun hat und auf Heilmittel bedacht ist, die der Wirklichkeit des Leidens entsprechen. Es steht nicht nur Buber, sondern jedem Theologen frei, in Umgehung meiner odiosen Psychologie meine Patienten mit dem »Wort« zu heilen. Ich heiße diesen Versuch mit offenen Armen willkommen. Da jedoch die geistliche cura animarum 14 nicht immer den gewünschten Erfolg zeigt, so haben vorderhand die Ärzte zu tun, die eben nichts Besseres zur Hand haben, als jene bescheidene »Gnosis«, welche die Empirie ihnen bietet. Oder weiß da einer meiner Kritiker besseren Rat? Man ist als Arzt in einer peinlichen Lage, denn man kann mit dem Wörtchen »sollte« leider gar nichts anfangen. Wir können von unseren Patienten keinen Glauben verlangen, den sie ablehnen, weil sie ihn nicht verstehen, oder der ihnen nicht zusagt, auch wenn wir ihn selber hätten. Wir sind auf die Heilungsmöglichkeiten angewiesen, welche in der Natur 14. Lat. Seelsorge, bezeichnet nach gregorianischer Terminologie die kirchliche Seelsorge.
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des Kranken vorhanden sind, gleichgültig ob die daraus hervorgehenden Anschauungen mit irgendwelchen bekannten Konfessionen oder Philosophien übereinstimmen oder nicht. Mein Tatsachenmaterial scheint von allem etwas zu enthalten, Primitives, Westliches und Östliches. Es gibt kaum ein Mythologem, das nicht gelegentlich angetönt wird, und keine Ketzerei, die nicht etwas von ihrer Absonderlichkeit beimischt. So muß wohl die kollektive Tiefenschicht der menschlichen Seele beschaffen sein. Darüber mag sich der glaubensfrohe Intellektualist und Rationalist wohl entsetzen und mich des ruchlosesten Elektizismus anklagen, wie wenn ich die Tatsachen der menschlichen Natur- und Geistesgeschichte erfunden und daraus ein widerliches theosophisches Gebräu hergestellt hätte. Wer einen Glauben besitzt oder philosophisch zu reden vorzieht, der braucht sich allerdings nicht mit Tatsachen abzumühen. Ein Arzt aber kommt um die schauervolle Wirklichkeit der menschlichen Natur nicht herum. Meine Formulierungen können von Vertretern überlieferter Systeme natürlich kaum richtig verstanden werden. So wäre ein Gnostiker mit mir keineswegs zufrieden, sondern würde mir den Mangel an einer Kosmogonie und die Stümperhaftigkeit meiner Gnosis in bezug auf die Ereignisse im Pleroma 15 vorwerfen. Ein Buddhist würde meine Verblendung durch die Maya 16 und ein Taoist meine Kompliziertheit beanstanden. Ein orthodoxer Christ vollends kann kaum anders als sich darüber aufhalten, mit welcher Unbekümmertheit und Respektlosigkeit ich durch den Himmel der dogmatischen Ideen navigiere. Ich muß aber meine unbarmherzigen Kritiker bitten, beachten zu wollen, daß ich von Ta t s a c h e n ausgehe, für welche ich Deutung suche. Elemente des Zwischenmenschlichen
Druckvorlage: Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1954, S. 255-283. MBB 951. Gleichzeitig in: Merkur, 8. Jg., Heft 2, Februar 1954, S. 112-127. MBB 958. Und: Neue Schweizer Rundschau, N.F. 21. Jg., Heft 10, Februar 1954, S. 593-608. Aufgenommen in: Schriften zur Philosophie, Werke I, S. 267-288. MBB 1193. Hebräisch: Bejn Adam Lechawero, Achsania, 1, 1955, S. 21-37. MBB 1010. Englisch: Elements of the Interhuman, übersetzt von Ronald Gregor Smith, Psychiatry, 20. Jg., Heft 2, Mai 1957, S. 105-113. MBB 15. Pleroma (griech., »Fülle«), bezeichnet in der gnostischen Lehre das Glanz- und Lichtmeer als Sitz der Gottheit, von wo alles Gute ausströmt. 16. Maya bedeutet Verblendung, Schein – Die Welt ist Maya. Im Buddhismus wird davon ausgegangen, daß die Realität primär eine Möglichkeit ist, um sich selbst geistig zu erfahren.
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1051. Italienisch in: Il Principio dialogico, übersetzt von Paolo Facchi und Ursula Schnabel, Milan: Edizioni di Communità 1959. MBB 1121. Französisch in: La Vie en dialogue, übersetzt von Jean Loewenson-Lavi, Paris: Aubier 1959. MBB 1122. Japanisch in: Schriften zum dialogischen Prinzip, übersetzt von Yoshihiro Taguchi, Tokyo: Misuzu-Shobo 1967. MBB 1298a. Dieser Aufsatz bildete ursprünglich den zweiten der drei Vorträge, die Buber im Rahmen der »Fourth William Alanson White Memorial Lectures« im März und April 1957 in Washington D.C. gehalten hatte. Der erste Vortrag war Bubers Text »Urdistanz und Beziehung.« Diesen, den zweiten Vortrag, hielt er am 30. März. Im Geleitwort von 1906 zum ersten Band der Gesellschaft, einer Reihe von sozialpsychologischen Monographien, die Buber damals herausgab, wandte er den Begriff »das Zwischenmenschliche« an. Dort bedeutet der Terminus »das Zusammenleben von Menschen in allen seinen Formen, Gebilden und Aktionen.« Und ferner heißt es dort: »die Anschaungsweise, die hier wirkt, ist die sozialpsychologische« 17 . Fünfzig Jahre danach in diesem Aufsatz unterscheidet Buber zwischen dem Zwischenmenschlichen und dem Sozialen. Der letzten Sphäre des menschlichen Zusammenlebens fehlen die Elemente des Dialogischen, die unmittelbare Beziehung zwischen Menschen. Zu diesem Aufsatz setzte Buber die folgende Nachbemerkung hinzu: »Nach Abschluß des Manuskriptes bin ich auf zwei Stellen in Alexander von Viller’s ›Briefen eines Unbekannten‹ aufmerksam gemacht worden, die mir merkürdig genug scheinen, um hier angeführt zu werden: ›Wiesenhaus, 27. Dezember 1877. Ich habe einen Aberglauben an den Zwischenmenschen. Ich bin es nicht, auch du nicht, aber zwischen uns entsteht einer, der mir Du heißt, dem Anderen ich bin. So hat jeder seinen Zwischenmenschen mit einem gegenseitigen Doppelnamen, und von all den hundert Zwischenmenschen, an denen jeder von uns mit fünfzig Prozent beteiligt ist, gleicht keiner dem andern. Der aber denkt, fühlt und spricht, das ist der Zwischenmensch, und ihm gehören die Gedanken; das macht uns frei.‹ ›Wiesenhaus, 28. Februar 1879. So, jetzt kommen wir uns auf den Trichter. Das ist Red und Antwort, lebendiger Gegenstand, Reibung, viel-
17. M. Buber, Vorwort, in: W. Sombart, Das Proletariat, Reihe Die Gesellschaft, Bd. 1, 1906, S. xii.
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leicht das Innere der Zeugung. Denn ich habe eine Vorstellung von einem Ding, nicht an sich, aber einem Ding an mich und an dich. Um einen Namen zu haben, einen Henkel, an dem man’s faßt, nenn ich’s den Zwischenmenschen. Der Zwischenmensch ist eine nur zwei bestimmten Menschen eigene und zugehörige Vorstellung vom Anderen. Das B zwischen A und C in ihrer Mitte. In dem Verhältnisse des A zu einem D E F kommt dieser Zwischemensch, obgleich immer dasselbe A, nie wieder vor, er gehört nur dem Verhältnis A bis C.‹« 18 Dem Gemeinschaftlichen folgen
Druckvorlage: Die Neue Rundschau, 67. Jg., Heft 4, 1956, S. 582-600. MBB 1029. Wiederabgedruckt in: Schriften zur Philosophie, Werke I, S. 454-474. MBB 1193. Logos. Zwei Reden, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1962, S. 31-72. MBB 1190. Hebräisch: »Ra’ui leilech achar haMeschutaf« (Dem Gemeinschaftlichen folgen), in: Pnei Adam, Bechinot be’Anthropologia Philosophit, Jerusalem: Mosad Bialik, 1962, S. 152-174. MBB 1209. Englisch: »What is common to all?«, in: The Knowledge of Man – Selected Essays (1965). MBB 1269. Ein Auszug des Kapitels über Aldous Huxley erschien hebräisch als »Ha-Adam ha-boreach« (Der Mensch auf der Flucht), in: Molad, Jg. 14, Nr. 100/102 (1956), S. 551-552. MBB 1038. Der Text erschien ebenfalls in MBW 6 mit einem ausführlichen Kommentar von Asher Biemann, auf den hier verwiesen wird. 19 Ursprünglich hatte Buber diesen Aufsatz im Juli 1956 als Vortrag an der Bayerischen Akademie der Schönen Künste gehalten. Im Frühjahr 1957 hielt er ihn auch in Washington an der School of Psychiatry auf Englisch, allerdings nicht in Rahmen seiner Vortragsreihe, der »William Alanson White Gedenkvorlesungen«. Dennoch bezieht er sich auf das Thema seines dritten Vortrages in dieser Reihe, nämlich auf »Schuld und Schuldgefühle«. Buber hatte »Dem Gemeinschaftlichen folgen« ursprünglich als Teil einer ausführlichen Arbeit über »träumen und wachen« geplant, und speziell über die Welten des Schizoiden. Sein Ausgangpunkt bildete dabei der Ausspruch von Heraklit: »Die Wachenden haben eine einzige und gemeinsame Welt.« 20 Das heißt, wir sollen dem Gemeinschaftlichen,
18. M. Buber, Das dialogische Prinzip, S. 298. (Im Original kursiv.) 19. Siehe MBW 6, S. 172-178. 20. Siehe in diesem Band, oben S. 106.
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an dem wir als Wachende teilnehmen, folgen. Buber entwickelt die Bedeutung dieses Satzes weiter. Das »Wir«, das einen gemeinsamen Kosmos bildet, den die Menschen zusammen bauen, entsteht durch einen gemeinsamen Logos, das Gespräch, in dem die Menschen ihre eigenen Erfahrungen mitbringen, um eine gemeinsame Welt zu erleben. »In unserem Zeitalter«, behauptet Buber, »in dem der wahre Sinn jedes Wortes von Wahn und Lüge umstellt ist und die Urabsicht des Menschenblicks vom Mißtrauen erstickt wird, kommt es entscheidend darauf an, die Unverfälschtheit der Sprache und der Wir-Existenz wiederzufinden.«22 Ohne das Wir wird die Menschheit nicht überleben. Schuld und Schuldgefühle
Druckvorlage: Merkur, 11. Jg., Heft 8, August 1957, S. 705-729. MBB 1069. Wiederabdruck: Schuld und Schuldgefühle, Heidelberg: L. Schneider 1958. MBB 1091. Aufgenommen in: Schriften zur Philosophie, Werke I, S. 475-502. MBB 1193. Englisch: Guilt and Guilt Feelings, übersetzt von Maurice Friedman, Psychiatry, 20. Jg., Heft 2, Mai 1957, S. 114-129. MBB 1052. Hebräisch: Aschma we’rigschei aschma, Moled, 19. Jg., Heft 161-162, Dezember 1961, S. 617-629. MBB 1184. Schwedisch: Skuld och skuldkänsla, übersetzt von Monica Engström, Stockholm: Bonnier 1965. MBB 1271. Norwegisch: Skyld og skyldfølelse, übersetzt von Bente Halmer, Oslo: Minerva 1967. MBB 1300. Japanisch: Beiträge zu einer philsophischen Anthropologie, übersetzt von Minoru Inaba, Tokyo: Misuzu-Shobo 1969. MBB 1326. Die Druckvorlage enhält gegenüber dem Wiederabdruck im Verlag L. Schneider kleinere Abweichungen, die im Textapparat dokumentiert sind. Dieser Aufsatz war der dritte und letzte Vortrag aus den »Vierten William Alanson White Gedenkvorlesungen«. Buber trifft hier eine Unterscheidung zwischen Existentialschuld und neurotischer Schuld als Idealtypen zweier Phänomene, die im Alltag häufig vermischt auftreten. Letztere, die neurotische Schuld, ist identisch mit den Tabus, von denen Freud und andere sprechen, seien es kulturelle oder solche, die infolge des Ödipuskomplexes internalisiert werden. Diese Art von »Schuld« wird ins Unbewußte verdrängt, während sich der Begriff der Existentialschuld auf einen Typ von Schuld bezieht, der zwar eingestanden wird, für den man sich 21. Zu Bubers Heraklit-Interpretation siehe auch Paul Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 160 f. 22. Siehe in diesem Band, oben S. 125.
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aber nicht persönlich verantwortlich fühlt. Buber zufolge muß man solche »Schuld« jedoch als Verletzung akzeptieren, die man der menschlichen Seinsordnung zufügt. Man kann diese »objektive« Schuld nicht richtig verstehen, solange man das Individuum in der üblichen Weise als von der Gesellschaft Unterschiedenes auffaßt. So stellt Buber die in der westlichen Kultur vorherrschende Tendenz fest, daß Individuen sich »frei« von Schuld fühlen, wenn diese durch soziale Tabus auferlegt wird; die Existentialschuld wird als ungerechtfertigte Einschränkung der persönlichen Freiheit zurückgewiesen. Ein Aufsatz, der für das Verständnis von »Schuld und Schuldgefühle« grundlegend ist, ist daher »Dem Gemeinschaftlichen folgen«.23 Die objektive Ordnung, die man verletzt, ist nichts anderes als die menschliche Welt, die auf menschlicher Sinnrede aufgebaut ist; Buber spricht davon in dem Text »Dem Gemeinschaftlichen folgen«. Existentialschuld ist daher die Folge einer Verletzung des Menschlichen und ebenso eine Verletzung, die man der Authentizität der eigenen persönlichen Existenz zufügt. Aus diesem Grund ist Existentialschuld nicht etwa ein Phänomen, das in einer bestimmten Gesellschaft oder Religion auftritt, noch handelt es sich um platonische Ideen, die einer Person von außen auferlegt werden, sondern um die Bedeutung zwischenmenschlicher Existenz selbst. Aus dieser Perspektive mißbilligte Buber die vorherrschenden Psychotherapieformen, da diese eine gleichgültige oder sogar negative Sicht auf den ontischen Charakter von Schuld vertraten. Für Freud sind Schuldgefühle die Konsequenz der Angst vor Strafe, die kindliche Furcht vor dem Liebesverlust oder sogar ein pervertiertes Bedürfnis nach Strafe. Jung zufolge kann es Schuld im ontologischen Sinn nur im Verhältnis zu einem selbst geben – als Versagen im Individuationsprozeß – aber nicht als Realität der Beziehung eines Selbst mit der Außenwelt. Buber legt den Psychotherapeuten daher nahe, auf Existentialschuld und die konkreten Situationen zu achten, aus denen diese hervorgeht. Nachwort zu Ich und Du Auszug: Fünfter Abschnitt
Druckvorlage: Ich und Du, Heidelberg, Lambert Schneider, 1958, S. 153156. MBB 1086. Aufgenommen unter dem Titel Zur Geschichte des dialogischen Prinzips in: Schriften zur Philosophie, Werke I, S. 161-170. MBB 1193. Der neuen Ausgabe von Ich und Du aus dem Jahr 1958 fügte Buber ein Nachwort hinzu. Es bezieht sich auf die Enstehungsgeschichte des dia23. Siehe in diesem Band, S. 106-126.
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Briefwechsel
logischen Prinzips und Bubers Schrift Ich und Du. Abschnitt 5 dieses Nachworts, der hier abgedruckt ist, handelt von der Beduetung des dialogischen Prinzip für die Psychotherapie. Es stellt eine Zummenfassung von Bubers psychologischer Lehre dar. Philosophische Befragungen Auszug: Psychologie und Psychotherapie
Deutscher Erstdruck. Druckvorlage für die Antworten Martin Bubers: Typoskript und Manuskript, MBA Arc. Ms. Var. 350/85. Für die Fragen: Übersetzung Judith Buber Agassi. Die Gespräche wurden abgedruckt in: Philosophical Interrogations of Martin Buber, John Wild, Jean Wahl [et. al], eingeleitet und hrsg. von Sydney und Beatrice Rome, New York: Holt, Rinehart & Winston 1964, S. 58-61. MBB 1257. Auf den Vorschlag des amerikanischen Philosophen Paul Weiss (19012002), dem Begründer und Herausgeber der Review of Metaphysics, organisierten Sydney und Beatrice Rome die Befragung von sieben »lebenden« Philosophen: Brand Blanshard (1892-1987), Martin Buber, Charles Hartshorne (1897-2000), Paul Tillich, Jean Wahl (1888-1974), Paul Weiss und John Wild (1902-1972). Jede Befragung wurde durch einen Wissenschaftler angeleitet, der mit dem Denken des Philosophen, den er befragen sollte, gut vertraut war. Maurice Friedman leitete die Befragung Bubers, an der knapp fünfzig Wissenschaftler teilnahmen. Jeder von ihnen nahm auf einen anderen Aspekt von Bubers Denken Bezug. Die vorliegenden zwei Befragungen beziehen sich auf Bubers Ansichten über Psychotherapie und Schuldgefühle.
Briefwechsel Briefwechsel mit Hans Trüb
1. Buber an Trüb, 18. Okt. 1923, BII, Brief Nr. 140, S. 172. 2. Buber an Trüb, 14. Aug. 1925, BII, Brief Nr. 195, S. 235. 3. Trüb an Buber, 3. Feb. 1926, BII, Brief Nr. 203, S. 242-44. 4. Buber an Trüb, 2. Okt. 1928, BII, Brief Nr. 286, S. 322-23. 5. Trüb an Buber, 5. Okt. 1928, BII, Brief Nr. 287, S. 323-24. 6. Buber an Trüb, 30. Sept. 1935, BII, Brief Nr. 515, S. 573-74. 7. Buber an Trüb, 7. Juni 1936, Arc. Ms. Var. 350/138. 8. Buber an Trüb, 30. Juni 1936, BII, Brief Nr. 535, S. 596. 9. Trüb an Buber, 17. Juni 1936, BII, Brief Nr. 536, S. 597.
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Kommentar
10. Buber an Trüb, 25. Juni 1936, BII, Brief Nr. 538, S. 598. 11. Buber an Trüb, 31. Okt. 1936, BII, Brief Nr. 554, S. 615. 12. Trüb an Buber, 3. Nov. 1936, BII, Brief Nr. 555, S. 616–18. 13. Buber an Trüb, 7. Nov. 1936, BII, Brief Nr. 556, S. 618-19. 14. Buber an Trüb, 4. Aug. 1946, BIII, Brief Nr. 91, S. 113-15. 15. Buber an Trüb, 27. Aug. 1946, BIII, Brief Nr. 94, S. 117-19. 16. Buber an Trüb, 9. Sept. 1946, BIII, Brief Nr. 95, S. 119-20. 17. Trüb an Buber, 10. Okt. 1948, BIII, Brief Nr. 144, S. 183. 18. Trüb an Buber, 2. Okt. 1949, BIII, Brief Nr. 171, S. 213-14. Zu Hans Trüb siehe die Einleitung in diesen Band sowie den Kommentar zu »Heilung aus der Begegnung« 24 . Briefwechsel mit Hermann Menachem Gerson, Ronald Gregor Smith, Rudolf Pannwitz und Ernst Michel
19. Buber an Gerson, 30. Aug. 1928, BII, Brief Nr. 285, S. 322. 20. Buber an Gerson, 23. Apr. 1937, BII, Brief Nr. 577, S. 644-45. 21. Buber an Ronald Gregor Smith, 28. Dez. 1936, BII, Brief Nr. 564, S. 628-29. 22. Buber an Rudolf Pannwitz, 1. Jan. 1937, BII, Brief Nr. 565, S. 629-31. 23. Buber an Ernst Michel, 23. Sept. 1949, BIII, Brief Nr. 170, S. 211-13. Hermann Menachem Gerson stand seit Ende 1926 mit Buber in engem persönlichen Kontakt. Er wanderte 1934 nach Palästina aus, gründete dort den Kibbuz Hasorea und wandte sich 1938 der marxistischen Hashomer Hazair Bewegung zu. Dies bedeutete die Abwendung von Bubers religiösem Sozialismus und seinem dialogischen Prinzip und hatte eine zeitweilige persönliche Entfremdung zwischen beiden zur Folge. Der Theologe Ronald Gregor Smith besorgte die erste Übersetzung von Ich und Du ins Englische (Edinburgh 1937). Nach dem Zweiten Weltkrieg übersetzte er einige weitere Schriften Bubers, u. a. 1951 »Urdistanz und Beziehung«. Rudolf Pannwitz hatte schon 1909 für Bubers Monographien-Reihe Die Gesellschaft einen Beitrag unter dem Titel Die Erziehung verfaßt. Seine Wurzeln als Schriftsteller und Kulturphilosoph lagen bei Friedrich Nietzsche und Stefan George. Der Soziologe Ernst Michel hatte nach seiner Entlassung im Jahr 1933 als Professor an der Universität Frankfurt 1938 eine Ausbildung zum Psy24. In diesem Band, S. 14 f. und S. 262 f.
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chotherapeuten begonnen und danach eine Praxis für »persönliche Psychotherapie« eröffnet, die vom Geiste des dialogischen Denkens Bubers geleitet war. Seit 1946 veröffentlichte er zudem regelmäßig über Psychotherapie. Briefwechsel mit Ludwig Binswanger
24. Binswanger an Buber, 7. Feb. 1933, BII, Brief Nr. 408, S. 462. 25. Buber an Binswanger, 23. Okt. 1936, BII, Brief Nr. 552, S. 613-14. 26. Binswanger an Buber, 17. Nov. 1936, BII, Brief Nr. 558, S. 620-21. 27. Buber an Binswanger, 4. Juni 1946, BIII, Brief Nr. 84, S. 103-4. 28. Binswanger an Buber, 10. Jan. 1952, BIII, Brief Nr. 246, S. 303. 29. Binswanger an Buber, 8. Okt. 1957, BIII, Brief Nr. 374, S. 438-39. 30. Binswanger an Buber, 8. Mai 1962, BIII, Brief Nr. 483, S. 546-47. 31. Buber an Binswanger, 14. Mai 1962, BIII, Brief Nr. 484, S. 547 Der Schweizer Psychiater Ludwig Binswanger entwickelte unter dem Einfluß von Dilthey, Husserl und Heidegger eine eigene Methode der psychotherapeutischen Behandlung, die »Daseinsanalyse« oder »existentielle Analyse«. Für seine Therapie war auch Bubers Forderung der dialogischen Begegnung zwischen Artz und Patient von Bedeutung. Briefwechsel mit Maurice Friedman und Leslie H. Farber
32. Buber an Friedman, 30. Jan. 1956, BIII, Brief Nr. 345, S. 405-6. Englischer Originalbrief: Arc. Ms. Var. 350/217a/419. 33. Buber an Friedman, 2. März 1956, BIII, Brief Nr. 349, S. 408-9. Englischer Originalbrief: Arc. Ms. Var. 350/217a/423. 34. Farber an Buber, 13. März 1956, BIII, Brief Nr. 351, S. 410-12. Englischer Originalbrief: The Letters of Martin Buber: A Life of Dialogue, 1996, Brief Nr. 654, S. 595-97. 35. Buber an Farber, 1. Apr. 1956, BIII, Brief Nr. 353, S. 413. Englischer Originalbrief: The Letters of Martin Buber: A Life of Dialogue, 1996, Brief Nr. 655, S. 597. 36. Farber an Buber, 9. Apr. 1956, BIII, Brief Nr. 354, S. 413-15. Englischer Originalbrief: The Letters of Martin Buber: A Life of Dialogue, 1996, Brief Nr. 656, S. 597-99. 37. Buber an Farber, 1. Sept. 1956, BIII, Brief Nr. 357, S. 417-19. Englischer Originalbrief: The Letters of Martin Buber: A Life of Dialogue, 1996, Brief Nr. 659, S. 600-601. 38. Farber an Buber, 25. Okt. 1956, BIII, Brief Nr. 358, S. 419-21. Eng-
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Kommentar
lischer Originalbrief: The Letters of Martin Buber: A Life of Dialogue, 1996, Brief Nr. 660, S. 601-2. 39. Farber an Buber, 29. Dez. 1956, BIII, Brief Nr. 363, S. 425. Englischer Originalbrief: Arc. Ms. Var. 350/227d/6. Maurice Friedman ist Professor emeritus der Religionswissenschaft, Philosophie und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der San Diego State Universität in Kalifornien. Er stand seit 1950 in persönlicher Beziehung und ständigem Briefwechsel mit Buber, unterstützte Buber bei der Organisation seiner Vorlesungsreise in den Vereinigten Staaten, und trug vor allem durch zahlreiche Aufsätze und Einleitungen in die von ihm Übersetzten Schirften wesentlich zur Kenntnis und zum Verständnis Bubers in den USA bei. Der Washingtoner Psychologe und Psychoanalytiker Leslie H. Farber, der zur Zeit seines Briefwechsels mit Buber Vorsitzender der Fakultät der School of Psychiatry war, verfaßte eine kritische Studie unter dem Titel »Buber und Psychotherapie«, die 1963 in dem von Maurice Friedman und Paul A. Schilpp herausgegebenen Band Martin Buber – Philosophen des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1963, erschien. Briefwechsel zwischen Robert C. Smith, Martin Buber und C. G. Jung
Die Briefe von Robert C. Smith an Buber und an C. G. Jung und deren Entgegnungen an Smith wurden im Original alle auf Englisch verfaßt und sind im MBA in Jerusalem verwahrt, Arc. Ms. Var. 350/741 b. Auszüge der drei Briefe von Smith an Buber und der drei Entgegnungen Bubers an Smith wurden in der Review of Existential Psychology and Psychiatry 6. Jg., Heft 3, Herbst 1966, veröffentlicht. Buber erließ Smith die Genehmigung, aus dem Briefwechsel zu zitieren und dessen Inhalte zu veröffentlichen, Jung lehnte dies seinerseits jedoch ab. Zwei Briefe von Jung an Robert C. Smith wurden später im zweiten Band (1951–61) der C. G. Jung Letters, Bollingen Series XCV, Princeton: Princeton Univ. Press 1975, S. 570–73 und S. 583–84, veröffentlicht. Von dem dritten Brief wurde eine kurze Zusammenfassung erstellt. Alle hier abgedruckten Briefe zwischen Smith, Buber und Jung wurde von Anna-Nina Widmer 2005 aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. 40. Smith an Buber, 14. Mai 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 1 41. Buber an Smith, 2. Juni 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: I1. 42. Smith an Jung, 10. Juni 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 2. 43. Jung an Smith, 29. Juni 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 5. 44. Smith an Buber, 7. Juli 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 6.
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Dialoge
45. Smith an Jung, 8. Juli 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 3. 46. Smith an Buber, 24. Juli 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 7. 47. Smith an Jung, 24. Juli 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 4. Zusammenfassung: Jung an Smith, 2. Aug. 1960. Arc. Ms. Var. 350/ 741 b: 4. 48. Smith an Jung, 9. Aug. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b. 49. Buber an Smith, 11. Aug. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: I2. 50. Jung an Smith, 16. Aug. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b. 51. Smith an Buber, 21. Aug. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 8. 52. Buber an Smith, 29. Aug. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: I3. 53. Smith an Buber, 21. Sept. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 9. 54. Smith an Buber, 11. Nov. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 11. 55. Buber an Smith, 13. Nov. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: I4. 56. Buber an Smith, 4. Jan. 1961. Arc. Ms. Var. 350/741 b: I5. 57. Smith an Buber, 16. Juni 1961. Arc. Ms. Var. 350/741 b: I3. Robert C. Smith schrieb eine Doktorarbeit über Buber und Jung. In diesem Zusammenhang führte er den Briefwechsel mit beiden.25
Dialoge Das Unbewußte
Druckvorlage: Das Unbewußte, in: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 158–189. MBB 1270. Zu den Übersetzungen von Nachlese siehe die Druckgeschichte zu »Von der Verseelung der Welt«. 26 Notizen von einem Seminar an der School of Psychiatry in Washington (1957). Dieser Text basiert auf den Notizen, die Maurice Friedman von einem Seminar angefertigt hat, das Buber während seines Aufenhaltes an der Washingtoner School of Psychiatry im Jahr 1957 abgehalten hatte. 27 Die meistens der Teilnehmer des Seminars waren entweder Mitglieder der Fakultät der School of Pyschiatry oder des Sanatorium Chestnut Lodge, Rockville, Maryland.
25. Vgl. die Einleitung in diesem Band, S. 21. 26. In diesem Band, S. 259. 27. Siehe auch die Einleitung in diesen Band, S. 22.
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Kommentar
Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers
Deutscher Erstdruck. Übersetzung aus dem Amerikansichen von AnnaNina Widmer, 2004, auf der Grundlage von: Kenneth, N. Cissner und Rob Anderson (Hrsg.), Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers 18 April 1957. Albany State University of New York Press, 1997. Im April 1957 besuchte Buber die University of Michigan, wo er unter anderem am 18. April an einem Dialog mit dem amerikanischen Psychologen Carl R. Rogers teilnahm. Rogers hatte in der Psychotherapie die sog. »non-directive« oder »client-centered« Methode entwickelt. Das Gespräch, das vor 400 Zuhörer stattfand, brachte sowohl die Parallelen wie die bedeutendsten Unterschiede ihrer Auffassungen von der Psychotherapie zum Ausdruck. Maurice Friedman war der Moderator des Dialogs. Thema des Gespräches waren die Möglichkeiten der Psychotherapie. Während Buber die Meinung vertrat, daß das Verhältnis des Arztes zum Patienten nie auf voller Gegenseitigkeit beruhen könne, daß der Arzt den Patienten »umfassen« müsse, ist Rogers Grundbegriff der der »Akzeptanz«. Danach muß der Arzt den Patienten als ein einmaliges Wesen von unbezweifelbarem Wert »annehmen« (»akzeptieren«) und wird erst durch die volle Gegenseitigkeit der Beziehung bis in jene Schichten des Kranken (Patienten) durchdringen, in denen noch Positives und Aufbauendes zu finden ist.
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Abkürzungsverzeichnis B I-III
MBA MBB
MBW Werke I-III
Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, 3 Bde., hrsg. und eingel. von Grete Schaeder, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1972-75. Bd. I: 1897-1918 (1972), Bd. II: 1918-1938 (1973), Bd. III: 1938-1965 (1975). Martin Buber-Archiv, Jüdische National- und Universitätsbibliothek Jerusalem. Martin Buber. Eine Bibliographie seiner Schriften, 1897-1978, zusammengestellt von Margot Cohn und Rafael Buber, Jerusalem: Magnes Press, Hebräische Universität und München/New York et al.: K. G. Saur 1980. Martin Buber Werkausgabe, hrsg. v. Paul Mendes-Flohr und P. Schäfer, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2001-. Martin Buber, Werke, 3 Bde., München: Kösel Verlag und Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1962-64. Erster Band Schriften zur Philosophie. (1962), Zweiter Band: Schriften zur Bibel. (1964), Dritter Band: Schriften zum Chassidismus. (1963).
Hebräische Bibel Gen Ez Hos Ps
Genesis Ezechiel Hosea Psalm(en)
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Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Quellenverzeichnis 2. Literaturverzeichnis 2.1 Bibliographien 2.2 In den Band aufgenommene Schriften Martin Bubers 2.3 Verwendete Werke Martin Bubers 2.4 Verwendete Literatur
1. Quellenverzeichnis Aus dem Martin Buber Archiv der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem sind folgende unveröffentlichte Manuskripte verwendet worden: Arc. Ms. Var. 350/84h Arc. Ms. Var. 350/85
Von der Verseelung der Welt, Typoskript. Philosophische Befragungen, Bubers Antworten, handschriftlich. Arc. Ms. Var. 350/227d: 6 Farber an Buber, 29. Dez. 1956, engl. Originalbrief. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 1 Smith an Buber, 14. Mai 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: I1 Buber an Smith, 2. Juni 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 2 Smith an Jung, 10. Juni 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 5 Jung an Smith, 29. Juni 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 6 Smith an Buber, 7. Juli 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 3 Smith an Jung, 8. Juli 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 7 Smith an Buber, 24. Juli 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 4 Smith an Jung, 24. Juli 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 4 Jung an Smith, 2. Aug. 1960, Zusammenfassung Arc. Ms. Var. 350/741 b Smith an Jung, 9. Aug. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: I2 Buber an Smith, 11. Aug. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b Jung an Smith, 16. Aug. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b Smith an Buber, 21. Aug. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: I3 Buber an Smith, 29. Aug. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 9 Smith an Buber, 21. Sept. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: 11 Smith an Buber, 11. Nov. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: I4 Buber an Smith, 13. Nov. 1960. Arc. Ms. Var. 350/741 b: I5 Buber an Smith, 4. Jan. 1961. Arc. Ms. Var. 350/741 b: I3 Smith an Buber, 16. Juni 1961.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
2. Literaturverzeichnis 2.1 Bibliographien Martin Buber. Eine Bibliographie seiner Schriften, 1897-1978, zusammengestellt von Margot Cohn und Rafael Buber, Jerusalem: Magnes Press, Hebräische Universität und München/New York et al.: K. G. Saur 1980.
2.2 In den Band aufgenommene Schriften Martin Bubers Bilder von Gut und Böse (Auszug), Köln: Hegner, 1952, S. 83-112. Elemente des Zwischenmenschlichen, in: Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1954, S. 255-284. Erwiderung an C. G. Jung, in: Merkur, 6. Jg., Heft 5, Mai 1952, S. 474-476. Das existentielle Mißtrauen zwischen Mensch und Mensch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Weihnachtsausgabe 1953, Supplement S. 1. Dem Gemeinschaftlichen folgen, in: Neue Rundschau, 67. Jg., Heft 4, Okt./Dez. 1956. S. 933-943. Heilung aus der Begegnung, in: Neue Schweizer Rundschau, N.F., Jg. 19 (1951), Nr. 6, S. 382-386. Nachwort zu Ich und Du (Auszug), in: Ich und Du, Heidelberg: Lambert Schneider, 1958, S. 153-156. Das Problem des Menschen (Auszug), in: Dialogisches Leben, Zürich: Gregor Müller Verlag 1947, S. 443-447. Religion und Modernes Denken (Auszug), in: Merkur, 6. Jg., Heft 2, Februar. 1952, S 110-120. Schuld und Schuldgefühle, in: Merkur, 11. Jg., Heft 8, August 1957, S. 705-729. Das Unbewußte, in: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 158–189. Urdistanz und Beziehung, in: Studia Philosophica – Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft, Separatum Bd. 10, Basel: Verlag für Recht und Gesellschaft 1950, S. 7-19. Von der Verseelung der Welt, in: Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 146-157. Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre (Auszug), Den Haag: Pulvis Viarum 1948, S. 30-36.
2.3 Verwendete Werke Martin Bubers Between Man and Man, übers. von Ronald Gregor Smith, London: Routledge & K. Paul 1947.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, 3 Bde, hrsg. von Grete Schaeder u. a., Heidelberg: Lambert Schneider 1972-1975. Das dialogische Prinzip, 4. Aufl. Heidelberg: Lambert Schneider 1979. Dialogisches Leben, Zürich: G. Müller 1947. Die chassidische Botschaft, Heidelberg: Lambert Schneider 1952. Die Erzählungen der Chassidim, Zürich: Manesse Verlag 1949. Die Frage an den Einzelnen, Berlin: Schocken 1936. Gottesfinsternis, Zürich: Menasse 1953. Martin Buber and Carl Rogers, in: Martin Buber und Maurice S. Friedman (Hrsg.), The Knowledge of Man. Selected Essays, New York: Harper & Row 1965. Logos. Zwei Reden, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1962. Moses, Zürich: Gregor Müller 1948. Nachlese, Heidelberg: L. Schneider 1965. Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers, übers. und hrsg. von Christoph J. Schmidt, in: Integrative Therapie, 3. Jg., 1992, S. 245-260. Reden und Gleichnisse des Tschuang Tse, Leipzig: Insel-Verlag 1910. The Martin Buber-Carl Rogers Dialogue: A New Transcript with Commentary, hrsg. von Kenneth N. Cissna und Rob Anderson, Albany State University of New York Press 1997. Über das Erzieherische, in: MBW 8, S. 136-154. Vorwort, in: W. Sombart: Das Proletariat, Reihe Die Gesellschaft, Bd. 1, hrsg. von M. Buber, Frankfurt a. M.: Rütten & Löning 1906. Werke, 3 Bde., München: Lambert Schneider 1962. Das Wort, das gesprochen wird, in: Wort und Wirklichkeit – Sechste Folge des Jahrbuches Gestalt und Gedanke, hrsg. von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München: R. Oldenbourg 1960, S. 15-31. Zwiesprache, Berlin: Schocken 1932.
2.4 Verwendete Literatur Der Fall Suzanne Urban, in: Schweizer Archiv für Psychiatrie und Neurologie, Band 69, 1952, Heft 1/ 2. Agus, Jacob B., Modern Philosophies of Judaism. A Study of Recent Jewish Philosophies of Religion, New York 1941. Amiel, Henri-Frédéric, Tagebücher, übers. von Rosa Schapire, München und Leipzig 1905. Andreas-Salomé, Lou, Die Erotik, Reihe Die Gesellschaft, Bd. 33, hrsg. von M. Buber, Frankfurt a. M. 1909. Anshen, Ruth Nanda (Hrsg.), A Believing Humanism: My Testament 1902–1965, New York 1967. Binswanger, Ludwig, Freuds Auffassung des Menschen im Lichte der Anthropologie,
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Glossar a Agnostizismus: lateinisiert, griech. nicht wissen; bezeichnet eine philosophische Ansicht, die insb. die Grenzen des menschlichen Wissens betont und die Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz eines Gottes für irrelevant hält. Archetypus, Archetyp: griech. Urbild, Urform; bezeichnet bei Platon die Wesenheit oder Idee, an der die sinnlich wahrnehmbaren Dinge teilhaben. C. G. Jung benutzte diesen Begriff für die von ihm im kollektiven Unbewußten angenommenen Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster. Gnostische, das, Gnosis, die: griech. Erkenntnis; mystisch-philosophische Weltanschauung der neuplatonischen Schule bes. des ersten Jh. v. Chr., die meist dualistisch zwischen Gottheit und Materie unterscheidet, sich von der Schau Gottes Einsicht in die Welt des Übersinnlichen erhofft und sich durch starke Leibfeindlichkeit auszeichnete; Einfluß auf die spätere Entwicklung der christl. und jüd. Mystik. Hashomer Hazair: hebr. der junge Wächter; ursprünglich 1913/14 in Polen gegründete jüd.-zionist. Jugendbewegung; neben der dt. Jugendbewegung u. den Wandervögeln auch von Robert Baden-Powells Pfadfinderritualen beeinflußt. Ihre Ideologie war eine Kombination aus Zionismus und Ideen von Marx und Freud. In Palästina organisierten sie sich als die Kibbutz-Arzi Föderation. Kabbala: hebr. Tradition; Bezeichnung der jüd. Mystik des Mittelalters und der frühen Neuzeit, die sich durch theurgische Praktiken sowie Spekulationen über das innere Wesen Gottes und die Schöpfung der Welt auszeichnet; Buchstabendeutungen, -permutationen und Zahlenkombinationen stellen ihre wichtigsten hermeneutischen Techniken dar, die aus jedem Zeichen den verborgenen Sinn freilegen sollen; ihre Anhänger werden Kabbalisten genannt. Noumenon: griech. das Gedachte; bezeichnet in der Regel eine unerkennbare, sinnlich nicht wahrnehmbare Realität; bei I. Kant das Ding-an-sich, in der Theologie auch für Gott. Ödipuskomplex: von S. Freud geprägter Begriff, der die Gesamtheit der Liebes- und Todeswünsche des Kindes gegen seine Eltern bezeichnet; als Neid- und Eifersuchtserlebnis und in Verbindung mit einer Kastrationsdrohung wird er nach Freud in der kindlichen genitalen Phase zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr durchlaufen und spielt eine grundlegende Rolle bei der Strukturierung der Persönlichkeit. Parthenogenese: griech. Jungfrau und Geburt, Jungfrauenzeugung; bezeichnet eingeschlechtliche Fortpflanzung durch unbefruchtete Eier. Pneuma: griech. Atem, Geist, Seele; im Neuen Testament für Heiliger Geist.
a.
Sofern der Begriff in den Schriften Bubers vorkommt, wird dessen Schreibweise übernommen. Alle anderen im Glossar angeführten hebräischen Begriffe folgen der für die MBW festgelegten Umschrift.
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Glossar
Schechina: hebr. Einwohnung [Gottes]; in der rabb. Literatur die Gegenwart Gottes im Volke Israel, insbesondere im Heiligtum; in der Kabbala wird sie zum zentralen Symbol der Exilssituation. Solipsismus: lat. das Selbst allein; bezeichnet einen philosophischen Standpunkt, nach dem nur das eigene Ich wirklich ist; Schopenhauer faßte die Außenwelt als reine Vorstellung des betrachtenden Subjekts auf, das als Voraussetzung für ein Objekt gilt. Über-Ich: nach S. Freuds späteren Überlegungen zum psychischen Apparat die Instanz, die aus der Verinnerlichung elterlicher Forderungen und Verbote gebildet wird und die ähnlich einem Zensor oder Richter die Funktion des Gewissens, der Selbstbeobachtung und der Idealbildung repräsentiert. Upanishaden: um 500 v. Chr. entstandene Schriften der relig. Tradition Indiens, teilweise mystischen Inhalts, die neben dem brahmanischen Opferkult auch die individuelle Askese als Erlösungsweg beschreibt.
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Stellenregister 1. Bibelstellen 1.1 Hebräische Bibel (Altes Testament) Gen 1,2 61 32,23 126 Ez 11,19 36,26
175 175
Hos 5,15
126
Ps 38,4 82 89
41 149 273
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Stellenregister
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Sachregister Absolute, das 114, 129, 200 Abwehrmechanismus 231 Adam 64 Agnostizismus 267 Agus 195 Amersfoort 14 f., 159 f. Analyse 35, 37, 60, 80, 130, 136, 138, 165, 175, 183, 193-196, 200, 232, 269, 272, 281 –, Beziehungs- 161 –, inhaltlich-psychologische 161 Analytik 165 f. Analytismus 35 Anaximander von Milet, Über die Natur 164 Andere 24, 34, 52, 82 f., 92, 163, 167, 251, 275 f. Angst 72, 111, 129, 138, 202, 278 Anthropologe 24, 155 Anthropologie 17, 19, 23, 38, 179, 185 f., 188, 192, 260 f., 277 Archetypen 77, 83, 88, 186, 220, 271 Arzt 16 f., 35, 54 f., 128, 132 f., 135-138, 154, 157, 163, 179, 182, 184, 189, 227, 232, 273, 284 –, Seelen- 129, 133 Ästhetik 29, 33 Atman 112 Authentizität 95, 103, 154, 278 Balthasars, Hans Urs von, Einsame Zwiesprache: Martin Buber 211 Bayerische Akademie der Schönen Künste 215, 276 Begegnung 16-19, 22, 24, 43, 51, 54, 56, 76, 78, 91, 99, 101, 113, 133, 159, 161, 168 f., 172, 174 f., 196, 220, 227, 232, 263, 280 f. Bewußtsein 34, 47, 57, 71, 75, 78-82, 88, 92, 112, 116, 119 f., 130, 135, 151, 156, 161, 193, 217, 221 f., 224, 234, 252, 269 f. Bildmenschen 94 Binswanger, Ludwig, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins 17, 171, 180, 183 Biologie 43 Bleuler, Eugen, Lehrbuch der Psychiatrie 167 Brahman 112 Buße 56, 113, 164
Buber, Martin –, Bilder von Gut und Böse 18 f., 59, 141, 181, 263 f. –, Das existentielle Mißtrauen zwischen Mensch und Mensch 14, 18, 24, 70, 264 –, Das Problem des Menschen 18 f., 37, 123, 259 –, Das Unbewußte 22, 26, 191, 217, 283 –, Dem Gemeinschaftlichen folgen 18 f., 24, 106, 170, 183, 276, 278 –, Der Weg des Menschen 13, 18 f., 39, 260 –, Dialogisches Leben 50, 259 –, Die Lehre Schelers 18, 37, 259 –, Eclipse of God 194, 265 –, Elemente des Zwischenmenschlichen 18 f., 90, 191, 274 –, Elements of Between Man and Man 192 –, Glauben und Wiedergeburt 159 –, Gog und Magog 190 –, Gottesfinsternis 19, 194, 263, 265 f. –, Heilung aus der Begegnung 18 f., 24, 54, 133, 159, 174 f., 262, 280 –, Ich und Du 14, 18, 35 f., 176, 179, 187, 192, 214, 259, 265 f., 278 –, Moses 13 –, Nachlese 12, 15, 159, 191, 215, 259, 262 f., 283 –, Nachwort zu Ich und Du 18 f., 23, 153, 278 –, Religion und Modernes Denken 16, 19, 74, 265-267 –, Schuld und Schuldgefühle 14, 18 f., 127, 156 f., 170, 175, 182 f., 191, 276 f. –, Über das Erzieherische 153 –, Urdistanz und Beziehung 18 f., 42, 139, 186, 188, 191-193, 261 f., 275, 280 Buddhismus 190, 271, 274 Chicago 187, 236 f. China 108 Chinesen 120 Christ 240, 271, 274 Christus 83 f.
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300 Corredemptrix 271 Custance, John, Wisdom, Madness and Folly 272 Dialog 16-18, 20, 23 f., 70, 104, 125, 142, 156, 164, 183 f., 205, 213, 215, 217, 228, 236 f., 245, 247, 251, 258, 277, 283 f. Die Gesellschaft 11 f., 90, 275, 280 Die Kreatur 17, 162 Dostojewskij, Fjodor, Die Dämonen 142-144, 146, 150, 183 Dritte Internationale Pädagogische Konferenz 15, 160 Du, eingeborenes 35, 172, 259 Dynamik 32, 34, 43, 59, 103, 125, 233 Einzelheit 32 f., 238 Einzelmensch 110 Empirismus 270 Engadin 175 Entelechie 102 Eranos-Konferenz 15 Erotik 34 Erster Weltkrieg 239 Erzieher 100, 153 f., 235 Ethik 11, 29, 59 Evans-Wentz, Walter, Das tibetanische Totenbuch »Bardo Thödol« 77 Existenzphilosophie 17, 115 Expressionismus 34 Farber, Leslie, Martin Buber and Psychiatry 187, 190 Fatalismus 96 Freud, Sigmund –, Das Ich und das Es 56, 59 –, Das Ökonomische Problem des Masochismus 130 –, Der Mann Moses und die monotheistische Religion 13 –, Die Zukunft einer Illusion 12 –, Über eine Weltanschauung 129 Gandria 160 Gegenübertragung 189 Gemeinschaft 26, 36, 38, 132, 139, 179, 224 Gemeinschaftlichkeit 107, 113, 115, 117, 119, 233 Gespräch, echte 15, 50, 72, 97, 102-104 Gewissen 54, 60, 81 f., 130, 138-142, 148, 152 –, Person- 140
Sachregister Glauben 20, 25, 34, 36, 78, 87-89, 113, 138, 141, 159, 177 f., 195 f., 199 f., 204 f., 208, 213, 234, 269 f., 273 Gnosis 84, 88 f., 149, 197, 199, 208, 267, 273 f. Gnostiker 196, 199, 205, 210, 267 f., 270, 272, 274 Gnostizismus 16, 25, 201, 267, 270 Gott 16, 25, 31, 33 f., 36, 61, 63, 69, 75 f., 78-80, 83-89, 126, 131, 138, 141 f., 149, 178, 195-204, 206, 213, 215, 233 f., 265 f., 270-272 Grieche 108, 164 Hakibbutz Ha’arzi 13 Hashomer Hazair 13, 280 Hazorea 13 Heidegger, Martin –, Holzwege 85 –, Nietzsche 183 –, Sein und Zeit 115 Heidelberg 15-17, 35, 160, 183, 191, 259, 261-263, 274, 276-278, 283 Heilen 182, 205, 243 Heilung 14, 24 f., 36, 38, 40, 57, 81, 129, 132, 135 f., 177, 208, 232 f., 235 Heppenheim 159, 162-167, 169, 175 f., 179 Hinduismus 271 Hiob 273 Hypnose 22, 222, 229 Ichhaftigkeit 32 Inder 120 Individualismus 114 f. Individuation 32, 36, 50, 79, 82 f., 102, 130, 164, 177, 205, 209, 211, 258, 269 Individuität 98 Individuum 40 f., 64, 77, 100, 128, 164, 201, 237, 246, 249 f., 252-254, 256-258, 271, 278 Introjektion 139, 209, 231 Islam 202, 271 Israel 22, 39, 126, 214, 240, 264 f. Jahwe 271 James, William, The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy 177 Jerusalem 11 f., 17, 154, 170 f., 173, 177, 180, 184-186, 188, 191, 196, 214 f., 260, 263 f., 276, 282 Jude, Juden 142, 240, 270 f. Jugendbewegung 34, 295
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Sachregister Jung, Carl Gustav –, Das Wandlungssymbol in der Messe 84 –, Der Geist der Psychologie 77 f., 82 –, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten 75 –, Psychologie und Alchemie 77 –, Psychologie und Religion 74, 80, 85 –, Psychologische Typen 75 –, Seelenprobleme der Gegenwart 78 –, Wandlungen und Symbole der Libido 203 –, Wirklichkeit der Seele 81, 269 f. Jung, Kerényi, Einführung in das Wesen der Mythologie 75, 173 Kafka, Franz –, Das Schloß 148 f. –, Der Prozeß 142, 145, 147 f., 183 –, Tagebücher 146-149 Kain 64 Kalter Krieg 14, 24 Kasuistik 174 Kerényi, Karl, Einführung in das Wesen der Mythologie 75, 173 Keyserling, Hermann, Begegnungen mit der Psychoanalyse 267 Kollektivismus 114 Komplementärtheorie 230 Komplex 13 f., 24, 39, 71, 176, 201, 203 Kosmologismus 30 f. Kosmos 37, 63, 106-108, 110, 113-115, 117, 122-124, 126, 145, 223, 277 –, gemeinschaftlicher 106 f., 113, 122, 124 f., 223 Kunst 48, 55, 57, 118 f., 129, 187, 226 Künstler 34, 118 f. Lapis philosophorum 201 Leib 38, 54, 118, 179, 224, 231, 233 Leibnitz, Nouveaux Essais 217 f. Libido 61, 186 Literat 114 Literatur 27, 56, 65, 179, 181, 230 Logos 107, 110, 113-115, 117, 120-124, 126, 183, 276 f. Magie 48, 119 Mandala-Analyse 80 Manie 184 Masochismus 130 Melancholie 184 Merkur 19, 182, 195, 264
301 Meskalin 115-117, 119 Messias 44 Metaphysik 77, 101 f., 179, 206, 209, 218 Mißtrauen 14, 24, 38, 70-72, 118, 126, 277 Michel, Ernst, Zur anthropologischen Deutung der Hysterie 177 Moses 13 Mutualität 19, 23 f., 153 f., 184 Mystiker 79, 116, 118 f., 130, 268 Mythen 11, 64, 149, 173 Narzißmus 189 Naturalismus 129 Neumann, Dr. E., Apuleius, Amor und Psyche 272 Neurologe 17, 177 Neurose 57, 134, 140, 189, 269 Niebuhr, Reinhold, The Self and the Dramas of History 214 Nikolaj Stawrogin 142-144, 146, 148, 150, 183 Noumenon, Noumena 203, 210 Ödipus-Komplex 14, 24, 57, 60, 176, 201, 277 Offenbarung 31, 69, 74, 87, 270, 273 Okzident 106, 113 Ontologie 15, 101, 159, 205 f., 209, 213 Ontologismus 31 Orient 80, 113 f. Paranoiker 180, 246, 248 Pathologie 37 Patient 16 f., 22, 24-26, 35, 55, 57, 127 f., 132 f., 136-138, 151, 154, 156 f., 161 f., 169, 182, 189, 208 f., 225-233, 235, 237, 245, 247, 273, 281, 284 Personation 164 Philip, Howard, Jung and the Problem of Evil 199 Philosophie 18, 29, 31, 114, 121, 129, 164, 170, 176, 183, 187, 194, 201 f., 205, 218 f., 236, 259, 262 f., 265, 274, 276-278, 282 –, dialogische 15, 20 Physiologe 221 Prinzip, kosmologisches 164 Projektion 56, 69, 80, 84, 127, 130, 164, 231, 272 Propagandist 99 f. Psyche 57, 76, 82, 125, 130, 133, 176, 197, 202, 205, 209, 215, 221, 268 f., 273 Psyche. Eine Zeitschrift für Tiefenpsycholo-
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302 gie und Menschenkunde in Forschung und Praxis 17 Psychoanalyse 12 f., 17, 20, 27, 56, 129, 175 f., 185, 187, 220, 252, 261 Psychoanalytiker 14, 16, 129, 134, 151, 220, 263, 282 Psychologe 11, 17, 21, 25, 74, 86, 114, 127 f., 132, 135, 155, 170, 191 f., 202, 220, 229, 231, 237, 282, 284 Psychologie 11 f., 15 f., 18 f., 21-23, 26, 35 f., 38, 60 f., 74-79, 127, 129, 155, 159, 176, 188, 191, 200 f., 205, 218, 220, 251, 266, 268, 273 –, analytische 220, 267 –, komplexe 176 Psychologischer Klub Zürich 14, 17, 29, 159, 161, 259 Psychologismus 15, 29-31, 33-36, 58 Psychose 170, 189, 224 f. Psychosynthese 176, 263 Psychotherapeut 11, 14, 19, 22, 25, 54 f., 57 f., 128, 131, 135 f., 154, 173, 177, 202, 228, 231, 238, 263, 278, 281 Psychotherapie 11, 15 f., 18-20, 22-27, 35, 88, 127-129, 136, 153, 155, 174, 187, 190, 236, 238, 254, 268, 279, 281 f., 284 Realphantasie 51, 98, 102 Religiosität 36 Review of Metaphysics 279 Romantik 96, 190 Rückhaltlosigkeit 103 f. Sadismus 130 Satan 67, 84, 89 Sborowitz, Arie, Beziehung und Bestimmung 17, 171 Schechina 172 Schizophrene 25, 118, 167, 180, 189 f., 224 f., 234, 246 f. Schizophrenie 22, 25, 117, 187, 189, 202, 226, 234, 246 Schmerz 52, 171, 250 School of Psychiatry 19 f., 22, 26, 170, 185, 204, 215, 217, 261, 276, 282 f. Schreber, D. P., Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken 272 Schuld 14, 18 f., 24-27, 56 f., 84, 127-132, 134, 136 f., 140-142, 144, 147, 150-152, 156 f., 164, 170, 175, 182 f., 191, 194, 258, 276 f. –, -gefühle 13 f., 24, 26 f., 56, 127 f., 130,
Sachregister 132 f., 135, 139, 150, 156 f., 175, 182, 277-279 –, -problem 130, 142 –, Existential- 131-134, 137-140, 147 f., 151 f., 157, 277 f. –, Wesens- 134, 137, 151 f. Seele 13, 24, 26, 29-35, 37, 40, 48, 51, 56 f., 60-62, 64, 68 f., 75-83, 87, 91, 93, 95, 99, 115, 121, 125, 129 f., 141, 147, 151, 154, 163, 170-173, 175, 177, 185, 217-222, 224, 229, 231, 233, 252, 254, 264, 271 f., 274 Sozialismus 280 Soziologie 12, 74, 92, 261 Spinoza 197, 199 Sublimierung 19, 37, 115, 260 Sühne 24, 56, 65, 135, 152 Symbolik 83 f., 165, 273 Tao Te King 109 Taoismus 271 Technik 47, 49 Teschuwa 36, 65 Theologie 20, 176, 187, 270 Traum 19, 22, 26, 63, 108-112, 133, 170, 181, 193, 195, 197, 201, 222-226, 230, 234, 267 Traumtheorie 187, 191, 226 Triebverzicht 130 Trüb, Hans –, Heilung aus der Begegnung 16, 54, 262 –, Individuation, Schuld und Entscheidung. 176 –, Psychosynthese als seelisch-geistiger Heilungsprozeß 165, 176 –, Vom Selbst zur Welt 173 Tschechow, Anton, Der Kirschgarten 96 Über-Ich 56, 59, 130, 140, 142 Übertragung 22, 26, 77, 98, 228 f., 231 f. Unbewußte, das 19, 22, 24, 26, 37, 55, 57, 76 f., 80, 84, 86 f., 98, 130, 135, 137, 151, 170, 172, 175, 186 f., 190 f., 193, 196 f., 201 f., 204, 212, 214 f., 217-220, 222, 224, 226-228, 231-233, 251, 268 f., 271-273, 277, 283 Union Theological Seminary 194 Upanischaden 110 f., 113, 120 Urdistanz 46, 262 Urhebertrieb 118 Urmißtrauen 70
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Sachregister Verantwortung 36, 108, 125, 137, 140, 160 f., 166, 224, 229 Verdrängung 19, 22, 37, 56, 132, 222, 228, 260 Versöhnung 38, 73, 141 Vitalismus 219
Wesensmensch 94 f. Wilhelm, Richard, Das Geheimnis der goldenen Blüte 74, 82
Washington 20, 22, 26, 127, 170, 185-187, 189 f., 192 f., 197, 204, 212, 215, 217, 261, 275 f., 283 Weizsäcker, Viktor von –, Ärztliche Fragen 136 –, Der Arzt und die Kranke 17 –, Die Schmerzen 17 –, Krankengeschichte 17 Weltbund für Erneuerung der Erziehung 15, 160
zoroastrisch 64, 67 Zürich 15, 17 f., 160, 163, 165, 167, 173 f., 182, 184, 200, 209, 238 Zurvan 84 Zweiter Weltkrieg 16, 187, 190, 240, 266, 280 Zwischenmenschliche, das 90-95, 99, 101-104, 156, 231, 275
Yima 66 f. Yin und Yang 109
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Personenregister Agus, Jacob Bernard, (1911-1986): amerikanischer Prof., erforschte insb. die Polarität von Denken und Erfahrung, Glauben u. Vernunft in der jüdischen Geistesgeschichte. 195 Amiel, Henri-Frédéric (1821-1881): schweizer. französischsprachiger Philosoph und Schriftsteller. 33 Anaximander von Milet (ca. 610-540 v. Chr.), ionischer Naturphilosoph; seine nur in Bruchstücken erhaltene Schrift Über die Natur war das erste philosophische Werk der Griechen. 164 Andreas-salomé, Lou (1861-1937): dt.-russ. Schriftstellerin u. Psychoanalytikerin; verfaßte 1910 den Band Die Erotik für Bubers Reihe Die Gesellschaft; ab 1912 Schülerin Sigmund Freuds. 12 Aristoteles (384-322 v. Chr.): griech. Philosoph; Begründer der abendländischen wiss. Philosophie. 102 Baader, Johannes (1875-1955): dt. Architekt, Schriftsteller u. Dadaist; u. a. mit Raoul Hausmann befreundet; veranstaltete Christus-Happenings u. nannte sich »Oberdada«. 234 Baal Schem Tow, hebr. Meister des guten Namens, eig. Israel ben Elieser (17001760): Begründer der chassidischen Bewegung. 39, 41 Baldwin, Rev. Dewitt (1898-1958): amerik. methodistischer Priester u. Religionslehrer. 236 Balthasar, Hans Urs von (1905-1988): schweizer. kath. Theologe; 1988 Ernennung zum Kardinal. 211 f. Blanshard, Brand (1892-1987): amerik. Philosoph; vertrat einen an den epistemologischen Idealismus angelehnten Rationalismus; ab 1944 Prof. f. Philosophie an der Yale University. Beneke, Friedrich Eduard (1798-1854): dt. Philosoph; ab 1820 Dozent in Berlin, ab 1832 Prof.; gehört zu den Begründern der neueren Psychologie; stand der Hegelschen spekulativen Dialektik kritisch gegenüber und vertrat den Standpunkt eines philosophischen, kritischen Empirismus. 77 Berdjajew, Nikolai Alexandrowitsch (1874-1948): russ. Philosoph u. Publizist; vertrat zunächst marxistische Vorstellungen; 1922 Auswanderung nach Paris, wo er einen von Dostojewskij inspirierten christlichen Existenzialismus entwickelte. 263 f. Bernstein, Eduard (1850-1932): Kantianer u. »revisionistischer« Sozialist in Berlin; betonte die Wirksamkeit auch des Ideologischen in der Geschichte. 12 Binswanger, Ludwig (1881-1966): Schweizer Psychiater; von 1910-1956 Leiter des Sanatoriums »Bellevue« in Kreuzlingen/Bodensee; seine Methode psychotherapeutischer Behandlung nannte er »existentielle Analyse«; beeinflußt von Dilthey, Husserl und Heidegger; nahm Bubers Forderung nach einer dialogischen Begegnung zwischen Arzt und Patient auf. 17, 20, 27, 179-184, 224, 281
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Personenregister
Bjerre, Poul (1876-1964): schwed. Psychiater; führte Freuds Psychoanalyse in Schweden ein, distanzierte sich jedoch später von dessen Betonung des Unbewußten und der Sexualität. 104 Blanshard, Brand 279 Bleuler, Eugen (1857-1939): schweizer. Psychiater und Prof. an der Univ. Zürich; bekannt geworden v. a. durch seine Beschreibung der Schizophrenie (1911: Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien), prägte 1911 auch den Begriff »Autismus«; Autor des Lehrbuch[s] der Psychiatrie, Berlin 1916. 167, 238 Blumenfeld, Walter (1882-1967): dt. Psychologe; emigrierte 1935 nach Peru, wo er eine Professur an der Universidad Nacional Mayor de San Marcos in Lima übernahm und die wissenschaftliche Psychologie in Peru begründete. 155 Bohr, Niels (1885-1962): dän. Physiker; entwickelte das nach ihm benannte Atommodell, forschte im Bereich der Quantenmechanik; 1922 Auszeichnung mit dem Nobelpreises für Physik. 203, 230 Borel, Henri (1869-1933): holländ. Schriftsteller, Mitglied des Forte-Kreises; veröffentlichte u. a. über chin. Weisheiten. 104 Buonaiuti, Ernesto (1881-1946): kath. Theologe; bedeutendster Vertreter des italienischen Modernismus. 263 Carus, Carl Gustav (1789-1869): dt. Mediziner, Arzt und Prof. der Medizin in Dresden; u. a. von Schelling beeinflußter Pantheist; zählt zu den Begründern der vergleichenden Psychologie; sein Hauptwerk Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele erschien 1846. 218 f., 222 Clark, Robert: Lebensdaten sowie weitere biographische Daten nicht zu ermitteln. 198 Clemens von Alexandria (um 150-250): griech. Theologe u. Kirchenschriftsteller; versuchte, nicht-christliche gnostische Elemente durch eine Synthese von christl. Offenbarungsglauben u. griech. Philosophie aufzunehmen u. unschädlich zu machen. 205 Custance, John B., Pseud., bürgerl. Name unbekannt (geb. 1900): Bankier, Geheimagent, manisch depressiv; besuchte viele versch. Anstalten, wo er u. a. Schocktherapie erfuhr; bekannt für seinen Patientenbericht Wisdom, Madness and Folly 1951; gilt als früher Kämpfer für Patientenschutz. 272 David von Lelow, Rabbi (lebte im 19. Jh.): poln. chassidischer Rabbiner. 39 Desjardins, Paul (1859-1940): franz. Philosoph u. Schriftsteller; Modernist, ergriff 1892 Partei für Dreyfus; bekannt für die Décades de Pontigny, eine säkularisierte Abtei, wohin er zwischen 1910 und 1939 verschiedene Intellektuelle aus Frankreich zum geistigen Austausch einlud. 263 Diamond, Malcolm (1924-1997): amerik. Prof. für Religion an der Univ. Princeton. 205, 207 f. Dilthey, Wilhelm (1833-1911): dt. Philosoph, Geistes- und Literaturgeschichtler; 1867 Prof. der Philosophie an der Univ. Basel, 1882 an der Univ. Berlin; Lehrer Bubers. 220, 281
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Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch (1821-1881): russ. Schriftsteller. 142-144, 146 f. Einstein, Albert (1879-1955): dt.-jüd. Physiker; begründete die Relativitätstheorie 1905; 1921 Auszeichnung mit dem Nobelpreis für Physik; 1932 Emigration in die USA. 230 Fordham, Michael Scott Montague (1905-1995): engl. Psychiater und jungianischer Analyst; Mitherausgeber der Collective Works of C. G. Jung. Farber, Leslie H. (1912-1981): Psychologe und Psychoanalytiker an der School of Psychiatry in Washington D.C. u. am Austen Riggs Zentrum, Stockbridge, Mass.; zur Zeit seines Briefwechsels mit Buber war er Vorsitzender der Fakultät an der Schule für Psychiatrie. 20, 25, 185 f., 188 f., 191-193, 204, 222, 224, 228 f., 261 f., 281 f. Farber, Marjorie (Lebensdaten sowie weitere biographische Daten nicht zu ermitteln): Teilnehmerin am Seminar »Das Unbewußte«. 224 Fichte, Johann Gottlieb (1762-1814): dt. Philosoph des Idealismus. 77 Flechsig, Paul (1847-1929): dt. Arzt u. Psychiater; zählt zu den bedeutendsten Begründern der anatomischen Hirnforschung. 11, 238 Fordham, Michael Scott Montague 199 Freud, Sigmund (1856-1940): österr. Mediziner; Begründer der Psychoanalyse; 1938 Emigration nach England. 12-15, 18-20, 22, 24 f., 37 f., 71, 79, 128-130, 147, 179, 185-187, 191, 208, 219-223, 228 f., 260, 277 f. Friedman, Maurice S. (geb. 1921): amerik. Religions- und Kulturphilosoph und Schriftsteller, Prof. em. der Religionswissenschaft, Philosophie u. Vergleichenden Literaturwissenschaft an der San Diego State Univ. in Kalifornien; übersetzte u. editierte zahlreiche Werke Bubers. 15, 20, 22 f., 156, 185 f., 188, 191, 194, 204, 220, 231-233, 236, 240, 247-249, 254 f., 257-259, 263-265, 277, 279, 281-284 Fries, Jakob Friedrich (1773-1843): dt. Philosoph; ab 1805 Prof. in Heidelberg, 1816 in Jena; vertrat gegenüber der Spekulation Schellings u. a. den Standpunkt des von der Erfahrung ausgehenden, Wissen und Glauben scharf unterscheidenden Kritizismus und eine »philosophischen Anthropologie«. 77 Fromm, Erich (1900-1980): dt. Psychologe und Sozialphilosoph; 1934 Emigration in die USA. 189 Fromm-Reichmann, Frieda (1889-1957): dt.-amerik. Ärztin, Psychologin u. Psychoanalytikerin; gründete 1929 mit E. Fromm das Frankfurter Institut für Psychoanalyse; 1933 Emigration in die USA, Lehrtätigkeit an der Washington School of Psychiatrie. 189 f. Gerson, Herman Menachem (1908-1984): Pädagoge und Schriftsteller; gründete die zionistische Jugendbewegung Werkleute; 1934 Auswanderung nach Palästina u. Gründung des Kibbutz Hasorea, schloß sich 1938 der Marxistischen Hashomer Hazair Bewegung an, damit Abwendung von Bubers religiösem Sozialismus, später Tätigkeit am Lehrerseminar der Kibbutzim Oranim und Leiter des dortigen Forschungsinstituts. 12 f., 20, 175, 280
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Personenregister
Gutkind, Erich (1877-1965): dt.-jüd. Schriftsteller; lebte in Berlin u. war Mitglied des Forte-Kreises. 104 Hamann, Johann Georg (1730-1788): dt. Philosoph und Sprachdenker der Aufklärung. Hartmann, Eduard von (1842-1906): dt. Schriftsteller u. Philosoph; sein Hauptwerk, die Philosophie des Unbewußten (1869), erweckte großes Aufsehen. 218 f. Hartshorne, Charles (1897-2000): amerik. Philosoph u. Theologe; Begründer der Prozeßphilosophie u. -theologie; lehrte u. a. in Chicago u. Austin. 279 Hausmann, Raoul (1886-1971): österr.-dt. Künstler, Schriftsteller u. Dadaist; 1919 Mitgründer der Zeitschrift Der Dada. 234 Heidegger, Martin (1889-1976): dt. Philosoph, der Existenzphilosophie zugerechnet; Hauptwerk Sein und Zeit (1927), 1928 Nachfolger ! Edmund Husserls auf dem Lehrstuhl für Philosophie an der Univ. Freiburg. 74, 85, 115, 123, 180, 183, 266, 281 Heinze, Max (1835-1906): dt. Prof. für Philosophie an d. Univ. Leipzig. 11 Heraklit von Ephesos (um 500 v. Chr.): griech. Philosoph. 106-110, 113-115, 120123, 126, 183, 223, 276 f. Hölderlin, Friedrich (1770-1843): dt. Dichter, Übersetzer u. Verfasser philosophischer Aufsätze; um die Jahrhundertwende wiederentdeckt durch ! Wilhelm Dilthey und Norbert v. Hellingrath. 126 Howe, Reuel L. (1905-1985): amerik. Theologe u. Pädagoge; Prof. der Theologie am Virginia Theological Seminary in Alexandria, Virginia. 188 Husserl, Edmund (1859-1938): dt. Philosoph und Begründer der modernen Phänomenologie. 281 Huxley, Aldous (1894-1963): brit. Schriftsteller u. Philosoph; berühmt durch seine Reiseberichte, Romane u. Experimente mit Rauschzuständen. 115-119, 276 James, William (1842-1910): amerik. Psychologe u. Philosoph; ab 1876 Prof. für Psychologie an der Harvard Univ.; Mitbegründer des philosophischen Pragmatismus, der u. a. behavioristische Elemente vorwegnahm. 177 Jizchak von Worki, Rabbi (1779-1848): poln. chassidischer Rabbiner, wirkte um 1840 in Lublin, Schüler des ! Simcha Bunim von Pschis’cha. 39, 261 Jonas, Hans (1903-1993): dt.-jüd. Philosoph; verband in seinen Schriften u. a. die spätantike Gnosis mit existenzphilosophischen Fragen. 197, 199 Jung, Carl Gustav (1875-1961): schweizer. Psychologe u. Psychiater; Prof. in Zürich, später ausschließlich als Arzt u. Forscher tätig; zunächst Schüler u. Mitarbeiter S. Freuds, verwarf jedoch dessen Konzept frühkindlicher Sexualität u. entwickelte eine eigene, tiefenpsychologische Richtung. 14-22, 24 f., 54, 61, 74-89, 129 f., 160, 164-166, 171, 173, 176, 194-201, 204-214, 216, 219-221, 258, 262 f., 266-269, 278, 282 f. Jung, Emma (1882-1955): schweizer. Psychoanalytikerin, ab 1903 mit C. G. Jung verheiratet. 15
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Kafka, Franz (1983-1924): österr. Schriftsteller, stand dem Prager Kreis um Max Brod, Felix Weltsch und Franz Werfel nahe. 145-149, 182 f. Kant, Immanuel (1724-1804): dt. Philosoph; Erneuerer der Metaphysik durch Verbindung skeptischer und idealistischer Denktraditionen; Begründer der klassischen dt. Philosophie. 76, 101, 203, 213, 215, 218, 260 Kerényi, Karl (1897-1973): österr. Philologe u. Religionswissenschaftler; gründete mit C. G. Jung zusammen 1933 die Eranos-Tagungen in Ascona, ab 1948 Forschungsleiter des C. G. Jung-Institutes in Basel. 75, 173 Key, Ellen (1849-1926): schwed. Schriftstellerin u. Reformpädagogin. 12 Keyserling, Herman Graf (1880-1946): dt. Philosoph; u. a. von Plato, Kant u. der Romantik beeinflußt, vertrat eine idealistische, teleologisch-organische Weltanschauung. 267 Kierkegaard, Sören (1813-1855): dän. Philosoph; Anreger der modernen Existenzphilosophie und der dt. prot. Theologie nach dem Ersten Weltkrieg. 123, 164, 179 f., 182 Kranz, Walter (1884-1960): dt. Altphilologe. 106, 114, 121, 126 Kroner, Richard (1884-1974): dt. Theologe u. Philosoph; ab 1924 Prof. in Dresden, 1938 Emigration in die USA u. Prof. am Union Theological Seminary, New York. 194, 206, 213 Landauer, Gustav (1870-1919): dt. Schriftsteller u. anarchistischer Theoretiker; bedeutender Repräsentant der wilhelminischen Gegenkultur, aktive Teilnahme an der Münchner Räterepublik 1918,Ermordung durch gegenrevolutionäre Milizionäre. 11, 91, 104, 239 Laotse, bei Buber auch Lao-tse oder Laotze (4. od. 3. Jhd. v. Chr.): chin. Philosoph; Stifter des Taoismus. 109 f., 120 Lehmann, Rudolf (1887-1969): dt. Ethnologe und Religionswissenschaftler an d. Univ. Leipzig. 11 Leibniz Gottfried Wilhelm (1646-1716): dt. Philosoph des Rationalismus u. universaler Wissenschaftler. 78, 217 f. Marx, Karl (1818-1883): Journalist, Philosoph u. Kritiker der pol. Ökonomie; veröffentlichte 1867 sein Hauptwerk Das Kapital; gründete die Internationale Arbeiter-Assoziation. 14, 24, 71, 221 Mauthner, Fritz (1849-1923): dt. Philosoph u. Romanschriftsteller; vertrat einen sprachkritischen Skeptizismus verbunden mit einer evolutionistischen Auffassung des Erkennens und Seelenlebens. 11 Mead, George Herbert (1863-1931): Prof. der Philosophie an der Univ. Chicago. 187 Meister Eckhart (um 1260-1328): dt. Theologe und Mystiker; sein Werk wurde um die Jahrhundertwende von Repräsentanten der wilhelminischen Gegenkultur wie ! Gustav Landauer wiederentdeckt. 83 Michel, Ernst (1889-1964): dt. Soziologe, engagiert in der Sozial- und Kulturpolitik, führende Persönlichkeit des progressiven Katholizismus; von 1922 bis 1933
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Lektor an der von ! Eugen Rosenstock-Huessy in Frankfurt gegründeten »Akademie der Arbeit«; von 1931 bis 1933 Prof. an der Univ. Frankfurt; eröffnete eine Praxis für »persönliche Psychotherapie«, die von Bubers dialogischem Denken beeinflußt war. 16, 20, 54, 175, 177, 262 f., 280 Mollegen, Albert Theodore (1906-1984): amerk. Priester u. Hochschullehrer; ab 1943 Vizepräsident der Washington School of Psychiatry; Teilnehmer am Seminar »Das Unbewußte«. 223 Mühsam, Erich Kurt (1878-1934): dt. Schriftsteller u. anarchistischer Aktivist; aktive Teilnahme an der Münchner Räterepublik u. Festungshaft nach deren Niederschlagung; 1934 von Nationalsozialisten im KZ Oranienburg ermordet. 91 Nelkin, (Lebensdaten sowie weitere biographische Daten nicht zu ermitteln): Teilnehmer am Seminar »Das Unbewußte«. 232 Neumann, Dr. Erich (1905-1960): dt.-jüd. Psychoanalytiker; studierte Philosophie u. Medizin in Berlin; 1933 Emigration nach Zürich u. Studium bei C. G. Jung; bekannt für seine Formulierung einer kohärenten Theorie der weiblichen Entwicklung in: Apuleius. Amor und Psyche, 1952. 272 Niebuhr, Reinhold (1892-1971): amerik. prot. Theologe u. Sozialkritiker; lehrte am Union Theological Seminary, New York. 214 Nietzsche, Friedrich (1844-1900): dt. Philosoph; übte starken Einfluß auf die Lebensphilosophie u. den Ästhetizismus der Jahrhundertwende aus. 85, 280 Nikolaus v. Cues, (1401-1464): dt. kath. Theologe und Philosoph; vereinte in seinem Denken Mystik u. Rationalismus; 1448 Kardinal. 197, 218 Norlind, Ernst (1877-1953): schwed. Schriftsteller; Mitglied des Forte-Kreises. 104 Novalis, Pseud. von Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg (17721801): dt. Dichter u. Philosoph der Frühromantik. 218 Pannwitz, Rudolf (1881-1969): dt. Schriftsteller u. Kulturphilosoph; veröffentlichte in Bubers Serie Die Gesellschaft die Schrift Die Erziehung. 20, 166, 175 f., 280 Paulsen, Friedrich (1846-1908): dt. Philosoph u. Prof. für Pädagogik; bekannt als Reformpädagoge. 11 Philip, Howard Littleton: Lebensdaten sowie weitere biographische Daten nicht zu ermitteln. 199 Platon (um 428-348 v. Chr.): griech. Philosoph; Begründer der abendländischen Metaphysik. 125, 278 Plotin (ca. 204-270): griech. Philosoph; bedeutendster Vertreter des Neuplatonismus. 217 f. Plutarch (um 45-125): griech. Schriftsteller. 106 Prudentius, Aurelius P. Clemens (ca. 348-405): einer der bedeutendster christl. lat. Dichter der Antike. 67 Rang, Florens Christian (1864-11924): dt. prot. Theologe, Schriftsteller u. Politiker; u. a. mit W. Benjamin u. H. Hofmannsthal befreundet. 104 Reinhardt, Karl (1886-1958): dt. Altphilologe. 121 Rilke, Rainer Maria (1875-1926): österr. Dichter. 34
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Rioch, David McKenzie (1900-1985): amerik. Psychiater u. Neurologe; galt als einer der Pioniere der Neuropsychiatrie. 227, 233, 235 Rioch, Margaret (1907-1996): amerik. Psychologin u. Analytikerin; Prof. für Psychologie; Teilnehmerin an Bubers Seminar »Das Unbewußte«. 190 f., 224, 229, 235 Rogers, Carl (1902-1987): amerik. Psychologe u. Psychotherapeut; Prof. für Psychologie an der Univ. of Wisconsin; begründete die Person-zentrierte Therapie. 20, 23, 25, 170, 236 f., 239-254, 256-258, 284 Rosenstock-huessy, Eugen (1888-1973): dt. Sprachphilosoph, Rechtshistoriker und Soziologe; Calvinist jüd. Herkunft; Gründer der »Akademie der Arbeit« in Frankfurt; Privatdozent der Rechtswissenschaft an der Universität Leipzig, wo er 1913 Franz Rosenzweig begegnet; 1916 Briefwechsel mit Rosenzweig über Judentum und Christentum; 1923-34 Prof. in Breslau, dann Emigration in die USA. Rycoff (Lebensdaten sowie weitere biographische Daten nicht zu ermitteln): Teilnehmer an Bubers Seminar »Das Unbewußte«. 231 f. Sartre, Jean-Paul (1905-1980): franz. Philosoph u. Schriftsteller. 74, 96, 266 Sborowitz, Arie (1899-1986): Psychotherapeut; 1929 Einwanderung nach Palästina, Studium u. Praxis als Psychotherapeut; hatte mit einer neuen Theorie in diesem Bereich in Europa mehr Erfolg, veröffentlichte 1956 Die Lehren von Martin Buber und C. G. Jung in ihrem Verhältnis zueinander. 17, 54, 173 f., 181, 262 f. Scheler, Max (1874-1928): dt. Soziologe u. Philosoph; Begründer d. Wissenssoziologie. 18 f., 37 f., 260 Scholem, Gerhard Gershom (1897-1982): dt.-isr. Religionshistoriker; in seiner Jugend von Buber beeinflußt; nahm später eine kritische Distanz zu ihm ein; Freund W. Benjamins; Begründer der wiss. Erforschung der jüd. Mystik; 1923 Emigration nach Palästina; 1925 Dozent für Judaistik, ab 1933 Prof. für Jüdische Mystik an der Hebräischen Univ. Jerusalem. 182 Schreber, Daniel Paul (1842-1911): dt. Jurist, Gerichtspräsident u. Schriftsteller; berichtet über längeren Klinikaufenthalt wg. Dementia Paranoides in Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken 1903; sein Buch wurde u. a. von S. Freud u. E. Canetti eingehend analysiert. 272 Schumann, Friedrich (1863-1940): dt. Psychologe, lehrte u. a. als Univ.assistent in Berlin. 11 Simcha Bunim von Pschis’cha, Rabbi (gest. 1827): poln. chassidischer Oberrabbiner. 41 Simmel, Georg (1858-1918): Philosoph u. Soziologe; 1909 Prof. für Philosophie u. Soziologie an der Univ. Berlin; seit 1913 an der Univ. Straßburg; Lehrer und Förderer Bubers. 11 Smith, Robert C. (Lebensdaten nicht zu ermitteln): amerik. protest. Geistlicher; Studium an der Temple University. 16, 21, 79, 194, 196, 198, 200, 204-216, 282 f. Smith, Ronald Gregor (1913-1968): Prof. der Theologie in Glasgow, verfaßte Beiträge für verschiedene theologische und philosophische Zeitschriften; erster eng-
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lischer Übersetzer von Ich und Du (1937) und nach dem Zweiten Weltkrieg von weiteren Werken Bubers. 20, 175 f., 226, 259, 261, 274, 280, 282 f. Sombart, Werner (1863-1941): dt. Soziologe und Ökonom; ab 1917 Prof. für polit. Ökonomie in Berlin; Verfasser der kontroversen Schriften Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) u. Die Zukunft der Juden (1912). 11, 275 Spinoza, Baruch (1632-1677): niederl. Philosoph; wurde wegen seiner Religionskritik 1656 von der seph.-jüd. Gemeinde Amsterdam verbannt. 196 Stirner, Max, Pseudonym für Kaspar Schmidt, (1806-1856): Philosoph u. Vertreter eines solipsistischen Anarchismus. 180 Stoehr, Adolf (1855-1921): österr. Psychologe u. Philosoph; ab 1906 Prof. für Philosophie an d. Univ. Wien; vertrat die Auffassung, daß die Logik sich auf die Psychologie gründe. 11 Sullivan, Harry Stack (1892-1949): amerik. Psychiater u. Hochschullehrer. 187190, 192, 230 Tillich, Paul (1886-1965): dt. prot. Theologe; emigrierte 1933 in die Vereinigten Staaten u. lehrte bis 1955 am Union Theological Seminary in New York; Vertreter des religiösen Sozialismus. 190, 265, 279 Tönnies, Ferdinand (1855-1936): dt. Philosoph u. Soziologe; Prof. in Kiel; vertrat einen (von Schopenhauer beeinflußten) kritischen Voluntarismus, der Wille sei das Treibende im Psychischen, auch im Denken. 12 Trüb, Hans (1889-1949): Psychoanalytiker u. Psychotherapeut aus der Schule C. G. Jungs; seit Mitte der zwanziger Jahre ein enger Freund Bubers; unter Bubers Einfluß löste er sich zunehmend von Jung u. entwickelte eine eigene therapeutische Methode; sein letztes Werk, Heilung aus der Begegnung, wurde posthum 1951 mit einem Vorwort von Buber veröffentlicht. 14-17, 19 f., 54, 58, 133, 159 f., 162-167, 169-171, 173-176, 262 f., 279 f. Tschechow, Anton Pawlowitsch (1860-1904): russ. Dramatiker, Novellist, Mediziner. 96 Tschuangtse (ca. 350-300 v. Chr.): chin. Dichter u. Philosoph. 109 Tucker (Lebensdaten sowie weitere biographische Daten nicht ermittelt): Teilnehmer am Seminar »Das Unbewußte«. 221 f. Uexküll, Jakob Johann v. (1864-1944): baltischer Biologe; gilt als Begründer einer neueren Umwelttheorie, die sowohl die Psychologie als auch die Verhaltensforschung beeinflusst hat. 43 Van Eeden, Frederik (1860-1932): niederländ. Arzt, Psychologe u. Schriftsteller; u. a. Mitglied des Forte-Kreises, gründete die sozial-reformerische Kommune »Walden«. 104 Wahl, Jean (1888-1974): franz. Philosoph; zählt zu denjenigen, die die Hegelsche Philosophie in den 30er Jahren in Frankreich einführten; bis 1967 Prof. an der Sorbonne. 279 Weber, Max (1864-1920): dt. Soziologe, Sozialpolitiker und Nationalökonom; Prof. in Berlin, Wien und München. 74
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Personenregister
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Weigert, Edith Vowinckel (1894-1982): dt. Psychoanalytikerin; lernte bei Bonhoeffer, 1935 Emigration über die Türkei in die USA, wo sie praktisch u. theoretisch tätig war. 219, 223, 226, 230 Weigert, Wolfgang (geb. 1932): amerik. Psychotherapeut; Sohn von E. V. Weigert. 233 Weiss, Paul (1901-2002): amerik. Philosoph; bekannt geworden v.a. durch seine Studien in Metaphysik, Begründer und Herausgeber der Review of Metaphysics. 279 Weizsäcker, Viktor von (1886-1957): dt. Mediziner; ab 1930 Prof. für Neurologie an der Univ. Heidelberg; Mitbegründer der Psychosomatik; 1926-1929 mit Martin Buber und Josef Wittig Herausgeber der Zeitschrift Die Kreatur. 17, 135 White, William Alanson (1870-1937): amerik. Psychiater, Superintendent des St. Elisabeth-Krankenhauses in Washington. 186, 189, 261 f., 275-277 Wild, John Daniel (1902-1972): amerik. Philsoph; beschäftigte sich insb. mit Phänomenologie u. Existentialismus; lehrte u. a. an der Harvard University. 279 Wittig, Josef (1879-1949): dt. Theologe, Heimatforscher u. Schriftsteller; Mitherausgeber der Kreatur. 17 Wundt, Wilhelm (1832-1920): dt. Physiologe u. Philosoph; gründete 1879 das weltweit erste Institut für experimentelle Psychologie in Leipzig. 11, 238