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German Pages 253 [256] Year 1973
Deutsche Texte
Herausgegeben von GOTTHART WUNBERG
26
Lyrik der Gründerzeit Ausgewählt, eingeleitet und herausgegeben von GÜNTHER MAHAL
Max Niemeyer Verlag Tübingen
ISBN 3-484-19025-6 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1973 Satz und Druck: Büdierdrudc Wcnzlaff, Kempten Alle Redite vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es audi nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed Germany.
Inhaltsverzeichnis
EINFÜHRUNG
Ι
GEDICHTE
37
Krieg und Sieg
37
Gruß dem Großen
69
Mythos und Geschichte
81
Heimat und Geselligkeit
103
Holdes Bescheiden Natur und N a d i t
113 127
Herbst und Grab
153
Liebesfreude, Liebesleid
175
Künstlertum
197
Kritische Stimmen
215
QUELLEN
230
DIE AUTOREN UND IHRE GEDICHTE
232
LITERATUR
238
REGISTER
243
V
Einführung
Bis vor kurzem war man gewöhnt, beim Stidiwort »Gründerzeit« aufdringliche Vordergrundsphänomene zu assoziieren: den architektonischen Bombast von Versicherungspalästen und kulturellen Demonstrationsbauten, die unübersehbar martialische Häßlichkeit von überdimensionalen Denkmälern, das laute Protzertum einer allzu schnell reich gewordenen Industrie-Bourgeoisie: die hybride Selbstfeier einer siegreichen Nation. Die Tatsache, daß um 1870, zu Beginn also der beiden gründerzeitlichen Jahrzehnte, der Begriff »Kitsch« aufkam, 1 erbrachte gleichsam die bestätigende Gegenprobe für das ohnehin fertige Verdikt: die Zeit von 1870 bis 1890 stellte sich dar als stilvermengendes, stil-eklektisches »Wert-Vakuum«,2 das seine Leere zu kaschieren suchte mit oft weit - zeitlich wie räumlidi hergeholtem Kulturgut. Denn gotischer Zinnenzierat an Fabriken und Bahnhöfen wetteifert mit schwülstiger Harems-Exotik um Wirkung und Eindruck; der griechischen Klassik entlehnte Karyatiden tragen winzige Balköndien an den Renaissance-Fassaden der Bürgerhäuser; auf den blattgoldverzierten Studifriesen der Opernhäuser wechseln Mäandermuster mit Zopfstilfiguren; Damenmode und bürgerliches Mobiliar bevorzugen »Altteutsdies«;3 des zweiten Ludwigs oberbayrische Königsschlösser verwirklichen mit ihrer Zuckerbäckerarchitektur auf Kosten eines bankrotten Staatshaushalts eine dem Märchenbuch entstammende Vorstellung des Mittelalters. Zur Schau gestellter Reichtum einer geschmacksunsicheren oder 1
2
s
Z u BegrifTsentstehung und -Wandlung des Terminus »Kitsch« vgl. Ludwig Giesz, Phänomenologie des Kitsches. Ein Beitrag zur anthropologischen Ästhetik. Heidelberg i960. Zur selben Zeit tauchte erstmals der Begriff »Schlager« auf, zunächst auf die Bedeutung >zündende Operettenmelodie< beschränkt - dieses Genre der »leiditen Muse« hatte in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Blütezeit. Hermann Broch, Hofmannsthal und seine Zeit. Eine Studie. Mit einem Nachwort von Hannah Arendt. ( = Piper-Bücherei 194). München 1964,
S- 39·
Vgl. dazu die vielfältigen Beispiele in Julius Stindes Romantrilogie >Die I
ganz und gar geschmacklosen Bildungsphilisterei, offenkundig epigonaler Manierismus einer ausschließlich nach rückwärts orientierten Spätzeit - so lauteten die Befunde für eine Epoche, der man mit unterschiedlichen Etikettierungen nahezukommen versucht hatte: das »Zeitalter Bismarcks«,4 die Anfangsphase des Zweiten Kaiserreichs, die »Nachbiedermeier-Vorjugendstil-Epoche«, 5 war eine »Blütezeit von Museen« und Denkmälern,® überhaupt die Zeit des Historismus, kulturkritisch benannt eine Epoche der »Philisterkirchen« ; 7 die »Periode Fontanes« 8 erschien als »Plüsch- und Troddelzeit«, 9 als »die Periode des Eklektizismus, die des falschen Barocks, der falschen Renaissance, der falschen Gotik«, 1 0 als »Maskenzeit par excellence«, 11 als »Backhendlzeit«, 12 als »Das pompöse Zeitalter«. 13 Wenn in der vorliegenden Anthologie lyrische Texte jener zwei Jahrzehnte vorgestellt werden sollen, Texte, die einst massenhaft verbreitet waren, heute aber kaum mehr bekannt und oft nur mit F a m i l i e Buchholz. A u s dem L e b e n d e r Hauptstadt.< Berlin 1884®. [ N e u a u s g a b e ] R a s t a t t 1958. 4
V g l . W a l t e r Bussmann, D a s Z e i t a l t e r Bismarcks. D r i t t e , durchgesehene u n d e r g ä n z t e A u f l a g e . ( = S o n d e r d r u c k aus Brandt/Meyer/Just, H a n d buch der deutschen Geschichte, B a n d I I I , A b s c h n i t t 3) K o n s t a n z 1957.
5
H a n s J ü r g e n Hansen (Hrsg.), D a s p o m p ö s e Z e i t a l t e r . Z w i s c h e n B i e d e r m e i e r u n d Jugendstil. K u n s t , A r c h i t e k t u r u n d K u n s t h a n d w e r k in d e r z w e i t e n H ä l f t e des 19. Jahrhunderts. U n t e r M i t a r b e i t v o n H a n n s T h e o d o r F l e m m i n g , H a n s Lehenbruch [u. a.] hrsg. v o n H . J. H . - O l d e n b u r g / H a m b u r g 1970, S. 5.
6
H a n s K r a m e r , Deutsche K u l t u r zwischen 1 8 7 1 u n d 1918. M i t 189 A b b i l d u n g e n und ι F a r b t a f e l . ( = H a n d b u c h der Kulturgeschichte. 1. A b t e i l u n g : Z e i t a l t e r deutscher K u l t u r ) F r a n k f u r t 1 9 7 1 , S. 199.
7
J u l i u s B a b , Fortinbras oder d e r K a m p f des 19. Jahrhunderts m i t d e m G e i s t e der R o m a n t i k . Sechs R e d e n . 3. A u f l a g e . B e r l i n 1 9 2 1 , S. 144. E r n s t H e i l b o r n , Zwischen z w e i R e v o l u t i o n e n . B a n d 2 : D e r G e i s t d e r B i s m a r c k z e i t ( 1 8 4 8 - 1 9 1 9 ) . B e r l i n 1929, S. 226.
8
9
F r i t z N ö t z o l d , Wie einst im M a i . S c h m a c h t f e t z e n hauptsächlich aus d e r P l ü s c h - u n d T r o d d e l z e i t . M i t L i e b e g e s a m m e l t und F r e u d e hrsg. v o n F . N . ( = d t v 394) München 1966.
10
H e r m a n n Broch (vgl. A n m . 2), S. j . E r n s t Bloch, D a s P r i n z i p H o f f n u n g . Wissenschaftliche S o n d e r a u s g a b e in 3 B ä n d e n . F r a n k f u r t 1969. B a n d 1, S. 439.
11
H e r m a n n Broch (vgl. A n m . 2), S. 49. is V g l . A n m . 5. 12
2
Mühe zugänglich sind, dann ist mit vollem Bedacht »Gründerzeit« als Epochenbezeichnung gewählt; denn dieser Terminus kennzeichnet wohl am konnotationsreidisten den gemeinten Zeitraum: nidit nur der enorme wirtschaftliche Aufschwung kommt damit in den Blick, sondern auch die spezifische Mentalität jener Jahre, welche die Voraussetzung (und vice versa audi wieder das Ergebnis) des Stils oder Un-Stils bildet, den spätere Zeiten immer wieder mit markanten Negativformeln gekennzeichnet haben. Allerdings mehren sich in den letzten Jahren die Anzeichen für ein nicht mehr ausschließlich negatives Interesse an der »Gründerzeit«, was allein der derzeitigen Nostalgie-Welle zuzurechnen kurzsichtig wäre: so werden die Romane der Marlitt und Ludwig Ganghofers neu aufgelegt und in Fernseh-Verfilmungen gezeigt; die Lagerräume der Museen werden immer mehr auf Gemälde jener Jahre hin entrümpelt; die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden erzielt 1972 mit ihrer Makart-Retrospektive hohe Besucherzahlen; alte und neue Filme über Ludwig II. laufen in den Kinos (Helmut Käutner, Hans Jürgen Syberberg, Luchino Visconti) ; 1 4 satirische und Familien-Zeitschriften erscheinen faksimiliert wieder; über Bayreuth wird neu diskutiert; die documenta 1972 beschäftigt sich in ihrem Beiheft mit dem »Kitsch« vor hundert Jahren; aus England und den U S A wird vom revival viktorianischer Interieurs berichtet; Wolfgang Georg Fischers Roman >WohnungenRealismus< zu einem Strang unter anderen. Und solche stilpluralistischen Konzepte sollte man ruhig weiterführen und vielleicht noch mehr >Stilsdiichten< in den Realismus hineinsdiieben, um ein etwas differenzierteres Bild dieser immer noch zu homogen gesehenen Epodie zu bekommen. Ein solcher Vorstoß würde nicht nur einer epochengeschichtlichen Klärung dienen, sondern vielleicht auch jene Frage beantworten, warum der deutsche Realismus - jedenfalls im Vergleich zum französischen, russischen und englischen - so schmal ausgefallen ist, wie Erich Auerbach in seinem Mimesis-Buch behauptet.«19 Ein neu eingeführter Terminus der Literaturgeschichte hat sich zu rechtfertigen, hat inhaltlich gerade dann Homogenität zu erweisen, wenn dadurch die nur scheinbare Homogenität eines bisherigen Epochenbegriffs aufgedeckt werden soll. Und in der Tat haben die Arbeiten Hermands20 sowohl Existenz wie Konsistenz eines einheitlichen Lebensgefühls und eines durchgängigen Stil- und Aussagewillens belegt, der über die eigentlichen Gründerjahre bis zum Wirtschaftskrach von 1873 hinaus die Gesamtheit kultureller Phänomene beherrscht, der in Architektur wie Historiographie, in Musik wie Malerei, in wissenschaftlichen Monographien wie auch im Bereich der »schönen« Literatur das Bild dieser zwei Jahrzehnte nach dem deutsch-französischen Krieg und der Reichsgründung prägt. Die hervorstechenden Züge sind nach Hermand die Hinwendung zur großen Gestalt, deren Überhöhung zum autonomen und abso19 20
Jost Hermand in: Realism (vgl. Anm. 17), S. 107. Richard Hamann/Jost Hermand, Gründerzeit. ( = Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart Band 1) München 1 9 7 1 . - J . H., Z u r Literatur der Gründerzeit. In: D V j s 4 1 , 1967, S. 2 0 2 - 3 2 . - J . H., Hauke Haien. Kritik oder Ideal des gründerzeitlichen Übermenschen? In: Wirkendes Wort 1 j , 1965, S. 4 0 - j o .
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luten Übermenschen, seine Heroisierung, Mythisierung und Statuarisierung, die Feier seiner Größe und Macht, selbst und gerade seiner Gewalt; die dramatische Zuordnung antipodisdier Figuren, ihre Kontrastierung und gegenseitige Monumentalisierung; die Hinwendung zur idealtypisch verklärten »ewigen Natur« und zur Historie, in der einzelne herausragende Männer die Geschichte machen; die Steigerung zum Tragischen hin, einem nicht mehr metaphysisch Tragischen freilich; der Kult der Form, der prunkvollen, hypertrophisch-barocken Dekoration, der plastischen, überdimensionalen Yordergrundsgestalt vor bedeutungssteigerndem Hintergrund. Alles in allem : ein Nicht-Belassen der normalen Maßstäbe, eine oft sogar maßlose Potenzierung, eine vitalistische oder aristokratischherrenhafte Zuspitzung, ein ständiges Suchen nach dem Bedeutenden, Hervorragenden, Einmaligen, nach novellistisch-konfliktgeladenen Situationen, nach katastrophenschwangeren Augenblicken der Entscheidung, denen eben nur der große Einzelne sich gewachsen zeigen kann. Diese wenigen Bemerkungen machen schon deutlich, daß solche Züge nicht ins Bild eines Realismus passen, der beschrieben wird mit dem distanzierten, um Objektivität bemühten Erfassen der Wirklichkeit, mit Läuterung und Verklärung, mit Gelassenheit und Humor als dichterischer Einbildungskraft, mit Belassen der real gegebenen Maßstäbe, gar mit heiterem Darüberstehen.
Wenn nun der Begriff »Gründerzeit« im Unterschied zu anderen, aus der Kunstgeschichte übernommenen Termini - etwa Naturalismus, Impressionismus, Symbolismus, Jugendstil oder Expressionismus - eine nationalökonomische Phasenbezeichnung auf die Literatur überträgt, so ist es geboten, gerade im Bereich realhistorischer Daten den Nachweis epochaler Homogenität zu erbringen. - Dies sei nicht mißverstanden als neuerdings obligate Pflichtübung, als Kotau vor methodischen Ansätzen marxistischer Literaturbetrachtung, wo nach dreimaliger Nennung des Zauberworts »Basis« prätendiert wird, an der Spitze literaturwissenschaftlicher Avantgarde mitzumarschieren, und wo ohne alle differenzierende Vermittlung Zusammenhänge dort zueinander gezwungen werden, wo es passen soll; es geschieht vielmehr im Blick auf die Dokumente gründerzeitlicher Lyrik, die in der vorliegenden Anthologie vereinigt sind, und deren Autoren, abgesehen von Gelegenheitsgedichten aus aktu8
ellem Anlaß, den Konnex zwisdien historischen Gegebenheiten und ästhetischen Produkten nicht nur leugneten, sondern mit ihren Gedichten ganz bewußt einen Raum politischer, sozialer und historischzeitgenössischer Exterritorialität schaffen wollten, ein Reich der Schönheit, über der eigenen Zeit und im letzten gegen sie, ein Refugium des überzeitlichen Schönen, in das zu flüchten im Grunde eben dodi sehr eng mit der zeitgeschichtlichen Situation zusammenhing. Das in zwei große Gruppierungen, in Nord und Süd zerfallene kleindeutsche Reich verdankte seine schließliche Einheit der durch Bismarck schlau provozierten Kriegserklärung Frankreichs und dem Gewinn der entscheidenden Schlachten gegen den transrhenischen Nachbarn, der als »Erz-« und »Erbfeind« das damals einzige emotional Gemeinsame war, auf das die deutschen Kriegsgegner von 1866 sich 1870 einigen konnten. Kaiserproklamation, Vorfriede von Versailles und Friede in Frankfurt waren Voraussetzungen zur Gründung des Deutschen Reiches mit seiner dem Norddeutschen Bund entlehnten Verfassung, mit dem erblichen Kaisertum der preußischen Könige und der Alleinverantwortlichkeit des Reichskanzlers nicht dem Parlament, sondern nur dem Kaiser gegenüber. Fünf Milliarden französische Francs fließen innerhalb dreier Jahre als Reparationszahlungen auf den deutschen Kapitalmarkt, wo ein unglaubliches Spekulationsfieber ausbricht - »Geldsackmentalität« hat es Raabe in seiner 1873 ersdiienenen Erzählung >Christoph Pechlin< genannt - , w o während anderthalb Jahren zweieinhalb mal so viele Aktiengesellschaften gegründet werden als in den 80 Jahren zuvor, ermöglicht durch die Aufhebung des Konzessionszwangs; wo eine »Epidemie entfesselter Geldgier« 21 um sich greift, wo an den Börsen der Schwindel blüht, bis, ausgehend vom Wiener »Großen Krach« am 9. Mai 1873, auch in Deutschland eine Wirtschaftskrise entsteht, die als »Große Depression« in die Geschichte eingegangen ist. Bismarck, der wichtigste und mächtigste Mann in Deutschland, ist von Anfang an bemüht, die positiven Kriegsergebnisse weiträumig 21
Bruno Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte. Band 3 : Von der Französischen Revolution bis zum ersten Weltkrieg. In Verbindung mit Karl Erich Born, Max Braubach, Theodor Schieder und Wilhelm Treue hrsg. von Herbert Grundmann. i960. Achte, vollständig neubearbeitete Auflage. Dritter Nachdruck 1965. Stuttgart 1965, S. 399.
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zu sidiern; er erklärt das Reidi für »saturiert« und schafft ein ausgeklügeltes und vielfach abgesichertes Bündnissystem, dessen K r ö nung der »Rückversidierungsvertrag« mit Rußland darstellt, 1887 abgeschlossen, nach Bismarcks Entlassung 1890 aber nicht wieder erneuert. - Zwei als reichsfeindlidi angesehene Gruppierungen, die »internationalistische« Sozialdemokratie und die »ultramontane« katholische Kirche, werden durch den Kulturkampf und die Sozialistengesetze in ihrer öffentlichen und organisatorischen Arbeit zwar äußerst beschnitten, können aber nicht zur Wirkungslosigkeit gebracht werden. Das Zentrum und die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands gewinnen trotz gesetzlicher Besdiränkungen und propagandistischer Diffamierungen an Stimmen und werden im Lauf der Jahre zu wichtigen Parteien, während die konservativen und liberalen Fraktionen immer mehr erodieren und als jeweils wechselnde Regierungsparteien zerschlissen und von ihrem weltanschaulichen Ausgangspunkt entfernt werden. 22 1879 wird in einem gewissen Ausgleich mit der katholischen Kirche ein Teil der Kulturkampfgesetze zurückgenommen oder abgemildert; einen weltweit vorbildlichen Versuch sozialer Gesetzgebung unternimmt Bismarck seit 1881. Krieg und Sieg hatten eine Welle nationaler und bisweilen peinlich-chauvinistischer Hochstimmung ausgelöst; das Gefühl des »wir sind wieder wer« kulminiert in Bismarcks Reichstagsrede vom 6. Februar 1888 mit den berühmten Worten »Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts auf dieser Welt«. - Im vorwiegend liberal ausgerichteten und von der neuen Einheit faszinierten Bürgertum macht sich aber bald eine spürbare Politikmüdigkeit breit, die im Stichwort »Reichsverdrossenheit« ihren Ausdruck findet; analog zur erklärten Saturiertheit des Staates entsteht immer mehr die Neigung, die letztlich doch nur von dem einen großen Mann gemachte Politik Politik sein zu lassen und sich lieber den kleinen und privaten Dingen zuzuwenden, den Problemchen, wie sie etwa die 1870 in 270 000 Exemplaren erscheinende »Gartenlaube« präsentierte 88 die größten Tageszeitungen brachten es auf 20000 - : dem Hunger22
23
V g l . das hinten S. 2 2 3 abgedruckte Gedidit Herweghs >Den Reichstäglern< sowie die Untersuchung v o n Friedrich C . Seil, D i e Tragödie des deutschen Liberalismus. Stuttgart 1 9 J 3 . D i e seit 1 8 5 3 bestehende »Gartenlaube« brachte es i 8 j j auf 3$ 0 0 0 Exemplare, i 8 6 0 auf 8 6 0 0 0 , 1 8 7 0 auf 2 7 0 0 0 0 , 1 8 7 6 auf 4 0 0 0 0 0 .
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lohn der Volksschullehrer, Überlegungen über »Menschliche Erbschaften aus dem Thierreidie«, Fragen der Frauenemanzipation, neuen Sportarten, etwa dem bestaunten Damen-Fahrradfahren, gesundheitlichen Ratschlägen, aufsehenerregenden Erfindungen, Familienthemen, Modebetrachtungen, Zimmereinrichtungen, Klatsch. Das, was sich hier ausdrückte und was von anderen Magazinen und »Familienblättern« in ähnlicher Weise verbreitet wurde, entsprach natürlich einer der heutigen »Regenbogenpresse« vergleichbaren Ebene, stilistisch vor allem; doch hilft es im Sinne der einleitenden Bemerkungen wenig, diese recht einheitliche Stilebene als bloßen »Kitsch« abzutun. Denn hier lag, lesersoziologisch gesehen, in Themenauswahl wie Darbietungsweise, das Interesse des großen Publikums, hier wurde den Bedürfnissen audi des gebildeten Bürgertums entsprochen, weit eher als in den wenig gelesenen Romanen und Novellen der großen Realisten. Und sehr weit entfernt vom Stil der »Gartenlaube« - deren Haus-Poeten Albert Träger die Brüder Hart in ihren »Kritischen Waffengängen« exemplarisch aufs Korn nahmen - waren auch viele der lyrischen Produkte nicht, die in diesen Jahren in riesiger Zahl auf den Markt kamen; 24 vermutlich existiert keine andere Zeitspanne innerhalb des deutschen Buchgeschäfts, wo auch nur annähernd so viel Lyrik ihre Käufer gefunden hätte! Neben den Gedichtbänden, Anthologien, lyrischen »Hausschätzen« und Balladensammlungen erfreuten sich Versepen und -novellen besonderer Gunst. - Solche hier aufzunehmen, hätte den vorgesehenen Rahmen gesprengt, selbst wenn man sich auf einzelne Abschnitte jener oft voluminösen Opera beschränkt hätte. - Das bekannteste Werk dieses Genres war Scheffels >Trompeter von SäckingenLieder des Mirza Schaffy< von 1851 Exotik simulierende Lyrismen, die bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein Attraktivität behielten, die gleichfalls erst nach 1870 in die hohen Zahlen kamen und während des ersten Weltkriegs, 1 9 1 7 , die stolze Höhe der 264. Auflage erreichten. Die Beispiele ließen sich mehren. Was damit angedeutet sein soll, ist der nochmalige Hinweis auf die infolge solcher Daten signifikante Problematik epochaler Zuordnungen: für die Frage der Epochenkonsistenz sind nicht allein die Erscheinungsjahre einzelner Werke von Bedeutung, sondern mehr noch deren Rezeption. Chronologische »Daten deutscher Dichtung« sind ohne Zweifel wertvolle Hilfsmittel; über die jeweils synchron betrachtete Literaturwirklichkeit sagen sie noch wenig. 28 Neben den oben schon angeführten Gründen erhält die vorliegende Anthologie ihre Legitimierung aus weiteren Aspekten der 25
26
Vgl. Fritz Burwick, Die Kunsttheorie des Münchner Dichterkreises. Diss. Greifswald 1932. - Vgl. Heinrich Sdiimmöller, Paul Heyse als Lyriker. Eine psychologisch-ästhetische Untersuchung. Diss. Münster 1922. Herbert A . und Elisabeth Frenzel, Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte. 2 Bände. ( = dtv 28, 54) München 1962.
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derzeitigen Forsdiungssituation : bisher stehen Hermands Beiträge, wenn idi recht sehe, allein da; Textsammlungen und einlässige Interpretationen fehlen nodi, auch für den Bereich der Epik und Dramatik. Auffallend ist, daß Hermand auf die Lyrik jener Jahre allenfalls am Rande zu sprechen kommt; und das wohl nicht ohne Vorbedacht — denn für die dritte Gattung neben Epos und Drama, die man ehrfürchtig und exklusiv mit »Poesie« oder schlechthin »Dichtung« zu bezeichnen pflegte, für die Lyrik, die somit eine deutlich hervorgehobene Stellung genoß, trifft ein Großteil seiner Aussagen keineswegs zu; es wird zu prüfen sein, ob der neu vorgeschlagene Begriff »Gründerzeit« als eine eigenständige Stilschicht des ausklingenden Realismus damit an Gültigkeit einbüßt oder gewinnt. Ein weiteres: immer mehr begreift man die naturalistische Bewegung der späten 8oer Jahre als Beginn der »Moderne«, des »Zwanzigsten Jahrhunderts«. Verschiedene programmatische Textsammlungen der »Jüngstdeutschen«27 belegen nachdrücklich die Auseinandersetzung mit Autoren, die heute in der »offiziellen« Literaturgeschichtsschreibung großteils vergessen und die eben jene zu ihrer Zeit gefeierten und hochgerühmten Dichter sind, welche die Literaturwirklichkeit der 70er und 80er Jahre prägen. Gerade im »Kampf« gegen die gründerzeitlichen Lyriker nimmt der Frühnaturalismus als seinerseits auf die Lyrik kaprizierte Protestbewegung seinen Ausgang, entwickelt er Gegenpositionen und erste eigenständige Konturen: die »Modernen Dichter-Charaktere« von 188$ verstehen sich als Generalabrechnung mit den lyrischen Produktionen der Gründer, nidit etwa mit denen der Realisten, die - schon ihrer Unbekanntheit wegen - im Selbstfindungs- und Abgrenzungsprozeß der »literarischen Revolution« kaum eine Rolle spielen. Ein drittes : an der Lyrik der Gründerzeit wird eindrucksvoll die längst postulierte, aber noch selten an Textzeugnissen belegte fließende Grenze zwischen »hoher« und »Trivialliteratur« dokumentiert. An ihren Texten kann exemplarisch die Frage der literarischen 27
Erich Ruprecht (Hrsg.), Literarische Manifeste des Naturalismus 1880 bis 1892. ( = Epochen der deutsdien Literatur. Materialienband) Stuttgart 1962. - Gotthart Wunberg (Hrsg.), Die literarische Moderne. D o kumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Ausgewählt und mit einem Nachwort hrsg. von G . W . ( = Athenäum Paperbacks Germanistik 8) Frankfurt am Main 1 9 7 1 .
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»Qualität« neu gestellt werden, die bislang häufig durch die Didiotomisierung in »echte« Kunst hier und »Kitsch« da verdrängt wurde. Die Kitsch-Diskussion hat es sich häufig allzu leicht gemacht dadurch, daß zum Beispiel aus großen episdien Werken einige winzige Stellen herausgepickt wurden, die - gerade ihrer Kontextlosigkeit wegen - leicht der Lächerlidikeit anheimfallen mußten. Ackerknechts These vom Kitsch als »kulturellem Übergangs wert« erhält durch die lyrischen Texte der Gründerzeit neben der intellektuellen Unterscheidung - verkürzt referiert: je nach Bildungsstand verändert sidi das Urteil über »Kunst« und »Kitsch« - eine weitere, historische und soziologische Dimension: dem liberalen bis konservativen Bürgertum der 70er und 80er Jahre erscheint das als »hohe« Literatur und als Inbegriff dichterischer Kunst, was schon die Generation der Naturalisten »die Tyrannei der Modedichterlinge und Poesiefabrikanten«, »die spekulative Madie und das Unkraut des Dilettantismus« nennt.28 Ein weiterer Aspekt, der eine solche Textedition sinnvoll macht, ist damit angesprochen: die rezeptionsästhetisdie Komponente. Ebenso, wie die Leserschaft dieser Jahrzehnte ihre Autoren kannte, hodischätzte, ihre Verbreitung förderte - die goldgeprägten Einbände der Gedichtbände taten ein übriges, lyrische Bücher zu repräsentativen Geschenken werden zu lassen - , ebenso kannten die Autoren und zumal die damals durch großzügiges Mäzenatentum erst möglichen Nur-Autoren ihr Publikum, wußten sie, was »man« zu lesen wünschte, schrieben sie im Blick auf einen ihnen und sich selbst treuen Konsumentenkreis, hatten sie mit diesem Publikum ein genau beschreibbares Literaturideal gemeinsam, dessen Ewigkeitsanspruch vorerst unbestritten war. Die Geibel und Heyse, Bodenstedt und Grosse, sie hatten neben anderen Diditerkollegen »ihr Ohr am Leser« ; was diesen Lesern »Kunst« bedeutete, welche Erwartungen sie an Literatur stellten, welcher Themenkanon »gängig« war, das bezogen sie in ihren Produktionsprozeß mit ein. Ihre Kennzeichnung als »Opportunisten« durch Ernst Alker findet hier ihre Begründung.29 st 28
29
Heinrich und Julius Hart, Graf Schadc als Dichter [Auszug in:] Ruprecht (vgl. Anm. 27), S. 36. Ernst Alker, Die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert ( 1 8 3 2 - 1 9 1 4 ) . ( = Kröners Taschenausgabe Band 339) Stuttgart 1961. - S. 4 0 1 ® . : »Eklektiker, Epigonen, Opportunisten, Synkretisten«.
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Wie schon erwähnt : das von Jost Hermand bearbeitete und wesentlich um literarische Daten ergänzte Gründerzeit-Buch von Richard Hamann hat - allerdings nur für Epik und Dramatik - belegen können, daß die wirtschaftliche Expansion aufgrund der französischen Reparationszahlungen und das damit verbundene und oft hybrid kraftmeierische Nationalgefühl der neuen Großmacht Deutsches Reich, daß also ökonomisches wie staatliches Selbst- und Machtbewußtsein nach dem errungenen Sieg über das »welsche Babylon« 30 ihre sehr genauen Entsprechungen fanden in Literatur wie Architektur, in öffentlichem Repräsentationsstil wie bourgeoisem Habitus; daß bildende Kunst wie Wissenschaft einen Zug zum Pompös-Statuarischen zeigten, zum großflächig Plakativen, zum kraftvoll Erhobenen und Erhabenen, zum Monumentalisierten und Distanzierten, zur bedeutenden Physiognomie, zur unverwechselbaren Eindeutigkeit und Einmaligkeit, einen Drang zur Größe, einen Zwang zur Pose. In der Tat bieten sich lückenlose Zusammenhänge an zwischen der ökonomischen Explosion, zwischen einer hektischen Industrialisierung und kapitalistischen Konzentrierung einerseits, andererseits all jenem, was nur dann zu Recht unter dem Titel Überbau-Phänomene zusammengefaßt wird, wenn als unentbehrliche Zwischeninstanz, als erklärendes Mittel beider Phänomenreihen die Mentalität der Gründer erkannt und beschrieben ist. - Bei Hamann/Hermand fehlt diese sozialpsychologische Komponente weitgehend, kommt allein der säbelrasselnde und waffenklirrende Aspekt jener Mentalität in den Blick; deshalb »passen« auch vornehmlich epische und dramatische Zeugnisse in ihr Konzept. Wenn jedoch die ganz deutliche Ambivalenz der Gründermentalität gesehen wird, wenn als Pendant zur lärmend-pompösen Außenfassade die Innenstruktur beachtet wird, eine Innenstruktur mit dem allenthalben erkennbaren Zug zum Intimen, Privaten, Versteckten, Einfachen; wenn also der Revers der Medaille sich als notwendiges Gegenstück zur aus Epik und Dramatik bekannten Schauseite erweist, das leise Verhaltene der Lyrik jener Jahre den Begriff einer literarischen »Gründerzeit« entscheidend mit konstituiert - erst dann kann sich der aus der N a tionalökonomie übernommene Begriff als vollends tragfähig herausstellen. Freilich tauchen auch in den Gedichten dieser Jahre mächtige, so30 So Redwitz-vgl. das hinten S. y8 ίΤ. auszugsweise abgedruckte >Lied vom neuen deutschen Reich*.
IJ
gar blutrünstige Gestalten auf (eine Vorliebe für Nero etwa ist unverkennbar), werden historische Statuetten präsentiert, gibt es den berauscht-berausdienden Hymnus auf die große nationale Vergangenheit und Gegenwart, gibt es - besonders in den während des Kriegs erschienenen Gediditen - grellen Hurrapatriotismus und chauvinistische Welschenschelte, gibt es das versifizierte Selbstlob, den stolzen Toast auf eigene Macht und Größe; freilich wird auch hier zuweilen einem Historismus gehuldigt, der über die Fakten verächtlich hinweggeht zugunsten einer ins Allegorische oder Archetypische gewandten Verehrung geschichtlicher Figuren; auch in manchen gründerzeitlichen Gedichten entlarvt sich Intoleranz Minoritäten gegenüber - wenn Bismarck seine Hiebe führt gegen Katholiken und Sozialdemokraten, finden sich im Troß genügend »staatstreue« Barden. - Kurzum: auch die »Poesie« kennt das Stolze und Statuarische, das Ruhmbesessene und Gigantomachische, das Tönende und Drohende. Doch den Großteil der Gedichte kennzeichnet - für die Epik wäre hier an die beiden Erfolgsbücher von Heinrich Seidel (>Leberecht HühnchenDie Familie BuchholzWunderhornDreizehnlinden< — steckt ein hohes Maß an Einsicht, die sich freilich audi wider seinen Schreiber richtet: in der Tat er52 Hermann Brodi (vgl. Anni. 2), S. 8. es In: Friedrich Wilhelm Weber, Gedichte. [ 1 8 8 1 ] Vierzehnte Auflage. Paderborn 1892, S. 165. - Vgl. die ähnliche Formulierung von: Otto Julius Bierbaum, Liliencron. Zweite Auflage. München und Leipzig 1910, S. 37: »der deutsche Parnaß war abgeplattet zu einer Gänseblumenwiese voll Gesdinatter«.
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scheint das Bild der deutschen Literatur dieser Jahre und insbesondere das der gründerzeitlichen Lyrik als »platt«, sowohl, was seine Qualität angeht, als audi, was neben der Produktionsquantität die heute kaum mehr vorstellbare Breitenwirkung betrifft. Das »Grundrecht eines jeden Deutschen«, »lyrische Gedichte« zu schreiben,54 wurde von allzuvielen ausgeübt, die allenfalls technische Versiertheit aufzuweisen hatten, aber oft nur das Niveau gereimter Gästebuch-Einträge und rhythmischer Lebenskunde erreichten, wie sie die Poesie-Alben eben eingesegneter Bürgerstöchter zierte. Trotz Webers nur zu berechtigter Kritik sdieuten sich der Verleger Carl Rühle und sein Herausgeber Max Moltke aber keineswegs, anfangs der 8oer Jahre unter dem Titel »Neuer deutscher Parnaß« zum lyrischen Sammeln zu blasen - 1882 erschien die so zustande gekommene Anthologie dann unter dem unfreiwillig komischen Untertitel »Silberblicke aus der Lyrik unserer Tage«. 55 - Den Großteil der Verseschmiede stellten völlig unbekannte und gleichermaßen unbedarfte Autoren, von denen man außerhalb dieser Anthologie keine weiteren Zugehörigkeitsbeweise zum »Neuen deutschen Parnaß« erhielt; mit von der Partie waren aber auch ein paar Münchner Idealisten aus dem »Krokodil«, einige also der »biederen Jubelgreise mit dem Podagra ihrer Berühmtheit«58 samt ihrer Jüngerschaft: Geibel und Heyse, Bodenstedt und Dahn, Grosse, Lingg und Haushofer. Außer Dahn und Haushofer waren dieselben Poeten neben zehn anderen auch im »Neuen Münchner Dichterbuch« vertreten, das ebenfalls 1S82 erschien, herausgegeben von Heyse - 20 Jahre zuvor hatte Geibel »Ein Münchner Dichterbuch« ediert, damals noch unter Ausschluß von Mundartdichtungen und unter wesentlich peniblerer 54
M a x N o r d a u , Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit. Vierte A u f l a g e . Leipzig 1 8 8 3 , S. V I I .
55
M a x Moltke (Hrsg.), N e u e r deutscher Parnaß. Silberblicke aus der L y rik unserer Tage. Leipzig 1 8 8 2 . - D e r Hrsg. berichtet kurioserweise im V o r w o r t , der A u f r u f zu seiner Anthologie habe die Vorschrift enthalten, »daß Gedichte, welche die >Liebe< zum Gegenstande haben, v o n der Sammlung ausgeschlossen bleiben sollten« (S. V I ) . D o d i w a r das - wie ein Blidc in die Anthologie zeigt - offensichtlich undurchführbar . . .
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Hermann Bahr, Z u r Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1 8 8 7 - 1 9 0 4 . Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von G o t t hart Wunberg. ( = Sprache und Literatur 46) Stuttgart, Berlin, K ö l n , Mainz 1968, S . 4 1 .
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Kontrolle der eingereichten Beiträge als das jetzt veröffentlichte Schlußzeugnis des längst überlebten Diditerkreises. In München regierte nun anstelle des wißbegierigen Mäzens der Diditer und Wissenschaftler, Maximilian II., dessen seine D e k a d e n z kultivierender Enkel L u d w i g II., der Geibels Weggang veranlaßt hatte und nun den Aufstieg Richard Wagners förderte, seines »angebeteten Freundes«. 57 Das Jahr 1876 hatte die Eröffnung des Bayreuther Festspielhauses gebracht, das zusammen mit dem keineswegs bohèmehaft provisorischen Haus Wahnfried dem messianischen K ü n d e r des »Gesamtkunstwerks« zum festen Domizil wurde. Pomp, Bombast und D r a perievermögen der Gründerzeit fanden hier Kristallisationspunkt und bleibende Wallfahrtsstätte zugleich; der Bayreuther » O l y m p des Scheins«, 58 den Hamann/Hermand als G r u n d z u g unserer Epoche beschrieben haben, gab sich laut, beifallsgewiß und geschäftstüchtig. A u ß e r Z w e i f e l : wie die Künstler, Raumausstatter, Modistinnen, Architekten oder Kunsthandwerker waren auch die gründerzeitlidien L y r i k e r raffinierte Inszenatoren, wirkungsbewußte A r r a n geure, virtuose Drapierer, kenntnisreiche Kostümierer, effektvolle Dekorateure. Oft, allerdings, waren sie nur dies. Es ist, als ob die Künstler und Poeten jener Jahre in einen imaginären Theaterfundus eingedrungen wären, um dort wahllos all das mitgehen zu lasen, was glitzerte und blendete, all das, was in den Auktionskatalogen der Kulturhistorie als schön und teuer ausgezeichnet w a r ; als ob sie einen riesigen Vorratskeller geplündert hätten, der die Kostüme, Stile, ästhetischen Versatzstücke sämtlicher bisheriger Kunstepochen barg. Zurück aus solchen Arsenalen eines g a n z unmarxistischen Überbaus machten sie sich wenig Mühe, das Zusammengeraffte zu sichten und z u sortieren: das allem Vorgefundenen Gemeinsame w a r ja das beliebig dehnbar »Schöne«, und Schönes - ein naheliegender K u r z schluß - paßte nun mal zueinander. Makarts Atelier in der Wiener »Gußhausrealität« dokumentierte, jedermann nadimittags f ü r eine Stunde gegen Entgelt zugänglich und vielbesucht als ein idealer O r t des »guten« Geschmacks, dieses zusammengebrachte Kunterbunt höchst eindrücklidi. M a n »gerieth«, w i e ein Zeitgenosse schildert, »auch hier v o m Hundertsten ins T a u 57 58
In: Rupert Hacker (Hrsg.), Ludwig II. (vgl. Anm. 14), S. 165. Hamann/Hermand (vgl. Anm. 20), S. 182.
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sendste und schienen sich alle Zeitalter und Völker ein kosmopolitisches wie synchronistisches Stelldichein gegeben zu haben.« 59 Andere Zeitgenossen und vor allem spätere Beurteiler haben für das Tohuwabohu der Stile und Zeiten schärfere Worte gefunden. Das friedliche Nebeneinander vermochte nicht lange zu blenden: es war ein Paradies ohne den Stand der - künstlerischen - Unschuld, eher ein luxuriöses Herbarium eines besessenen Sammler-Monomanen. Makarts Atelier erhielt vorbildliche Prägekraft: ihm nachgebildet wurde die gründerzeitliche »gute Stube« 60 mit ihrem Dämmer, ihrer Farbenpracht, den exotischen Beute-Artikeln, der musealen Atmosphäre, dem Andenken-Vertiko, mit ihrem Natur-Einbezug durdi Topfpflanzen und Makarts-Buketts, das »schöne Heim« also des wohlhabenden und selbstzufriedenen Bürgertums. Innenarchitekten, Kunst- und Kulturhistoriker oder Soziologen finden hier genauso aufschlußreiches Untersudiungsmaterial wie Psychologen und Psychoanalytiker. Daß in soldi anmaßender Intimität, in derartiger Fluchtburg-Aura die »Poesie« der Gründer geliebt und verehrt wurde, daß in solche Wohnungen der intellektualistisdi-materialistische Naturalismus keinen Eingang finden konnte, wird nicht verwundern. *
Überblickt man die in dieser Einführung nur skizzenhaft angedeuteten Übereinstimmungen im gesamten Bereich der gründerzeitlichen »Kultur«, die gehaltliche Kohärenz also, die beim Salon des Bürgerhauses anfängt und bis zu den architektonischen Großaufträgen reicht, die Übereinstimmung vom kleinsten lyrischen Prodüktlein bis zu den Leinwandschinken eines Makart, von dessen Wald-und-Wiesen-Bukett bis zum Gesamtkunstwerk Wagners und dem seltsamen Gebräu aus Schopenhauerscher Weltflucht und Nietzschescher Darwinrezeption, dann muß man - wohl oder übel - von »Stil« sprechen, wie ihn Hermann Broch äußerst anspruchsvoll definiert und gerade für unsere Epoche hatte ausschließen wollen: »Stil ist etwas, das alle Lebensäußerungen einer Epoche in gleicher Weise durchzieht.« 61 - Und es tut dem gleichsam nur von »höherer Warte« 58
Robert Stiassny in: Makart (vgl. Anm.40), S . 2 0 7 . eo Vgl. Ernst Bloch (vgl. Anm. 1 1 ) , S. 438 f. 61 Hermann Broch, Zerfall der Werte. In: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. Der dritte Roman: 1 9 1 8 . Huguenau oder die Sadilidikeit. Sonderausgabe. Zürich o.J., S. 470.
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aus Abbruch, daß es sich um einen »Stil der Stillosigkeit« handelt, wie es Egon Friedeil in seiner »Kulturgeschichte der Neuzeit« formuliert hat. 82 Ein solcher Stil der Stillosigkeit läßt sich nicht allein in der Aufweichung und Überdehnung des Pauschalbegriffs »das ewig Schöne« aufweisen. Audi im Genrebild, so überaus bezeichnend für unsere Epoche,63 finden sich die heterogensten Elemente; im Baustil der Zeit ein Sammelsurium der Richtungen; im Historismus-Positivismus ein nicht-wertendes, oft blindwütiges Zusammentragen von Fakten höchst unterschiedlicher Aussagekraft; in der Modephilosophie eines Eduard von Hartmann ein sorgloses Beieinander von weltflüchtigen Pessimismen und hoffnungsträchtigem Fortschrittsglauben; in den Moralvorstellungen eine seltsame Mixtur aus öffentlichem und privatem Kodex - noch Heinrich Mann hat das satirisch demonstriert. Der Grundzug der Epoche also, die so oft und so ausdauernd vom »guten Geschmack« sprach, die ihn gepachtet zu haben vermeinte, erweist sich als offenkundige Gesdimacksunsicherheit, als Maßstabslosigkeit, als im Sammeltrieb nach historischen Fakten wie nach »schönen« Objekten der Vergangenheit gleichermaßen erkennbare Urteilsverlassenheit. Heterogenität zeigt sich allenthalben, freilich zusammengemixt zu eigenartig verschwommener Einheitlichkeit: häusliche Dämmer-Atmosphäre einerseits, auf der anderen Seite der Pleinairismus der Paraden, Siegesalleen und Mammut-Monumente; einerseits die äußere Titelsucht (der Hinweis auf den Kommerzienrat Treibel genügt), andererseits verschwiegenes Familienleben mit dem bezeichnend-verräterischen Wortungetüm »Haustochter«, Glück im trauten Heim, das durch gelegentliche Partys oder Landpartien nur unterbrochen, nicht aber durchbrochen wird; finanzielles Protzentum hier, posierende Idealität dort (wieder ist Fontanes >Frau Jenny Treibel< zu nennen) ; Heyses und Meyers statuarisch entrückte Kraftgestalten neben Heinrich Seidels minimalistisch-glücklichem >Leberecht HühnthenGrünen Heinrich< mit Heyses titanischen Novellenhelden), so zieht sich die Lyrik der Gründerzeit aus der Realität in eine harmonisierte Wunschwelt zurück, in ein pläsierlidies Niemandsland ferner Zeiten und Zonen, in dem Tagträume ablenken vom rauhen Trott der Arbeitswelt. Beidesmal wird aber - und darin treffen sich die Gattungen - gleicherweise die eigene Zeit, die eigene Wirklichkeit verlassen; beidesmal wird Literatur betrachtet als Fluchtraum, 66
Hans Robert Jauß (Hrsg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. ( = Poetik und Hermeneutik Band III). München 1968. 31
als Ort heroischer oder biedermeierlicher Projektionen, als gesuchte Ablenkung von dem, was »tagsüber« bedrängt. Heroisch-Aufgeschwollenes - Potenziertes, Mythisiertes, Dämonisiertes - und Biedermeierlich-Krähwinkliges - fern aller Größe, Öffentlichkeit, Geschichtsmächtigkeit - gehören in dieser epochalen »Stilschicht« zusammen, bilden entsprechend der von der Zeitwirklichkeit geforderten Ambivalenz Avers und Revers derselben Medaille. Literarische »Gründerzeit« erhält als neuer literaturgesdiiditlicher Terminus erst aus diesem Zusammenspiel - aus diesem nur scheinbaren Gegenspiel - seine Legitimierung. Die gründerzeitliche Lyrik, zunächst unvereinbar scheinend mit den aus Epik und Dramatik gewonnenen Erkenntnissen, erbringt für diese einen neuen, den Gesamtepochenbegriff endgültig konstituierenden Ansatz des Erkenntnisinteresses. *
Nach aller Kritik an den lyrischen Texten der Gründerzeit: wie steht es mit deren Berechtigung? Reproduziert nicht das wertend Gesagte wiederum das eingangs problematisierte Modell einer fortschrittsorientierten Ästhetik? Bildet es also ein nochmaliges Echo auf die erzürnten Verwerfungen der Naturalisten? Solche Fragen sind leichter gestellt als beantwortet. Und ich will eine Reihe von Antworten versuchen, die - um sie als tentativ, als diskussionsbedürftig auszuweisen - gleichfalls in Frageform gekleidet sind, die vielleicht aber gerade in dieser Form Näherungswerte an gültige Aussagen eher ermöglichen. Zunächst: war es wirklich nur Flucht, billiges Ausweichen von einer radikal veränderten und sich immer weiter, immer schneller verändernden Umwelt, welche die gründerzeitlichen Lyriker zu den alten Themen und Formen greifen ließ und welche alle Realien ausklammerte, die den neuen Alltag prägten? Oder war es mehr oder weniger verzweifeltes Festhalten an den herkömmlichen Gehalten und Gestalten, weil allein sie als Garanten erschienen für all das, was durch die »seelenlose« Technik, Naturwissenschaft, Industrie, durch Politik und Geschäftsleben vorenthalten, was also im gesamten Bereich der Öffentlichkeit an individual- wie gruppenpsychischen Frustrationen erzeugt wurde? Wurde in diesem Sinne die »Poesie« zur »seelischen Anstalt«, die Lyrik also zum verifizierten Refugium jener Wertbereiche, die man gefährdet sehen mußte in einer Epoche, hinter deren glänzender 32
Fassade sich Kulturpessimismus breit machte,67 in welcher Gott für tot erklärt wurde? Und mußten nicht deshalb Stoffe und Formen aus zurückliegenden Zeiten zusammengetragen werden, aus Zeiten, die noch nicht angekränkelt schienen, Zeiten, die sinnerfüllt schienen im Glauben an einen autonom sidi entscheidenden Menschen, Zeiten vor Darwin und Haeckel, vor Comte und Taine, vor Feuerbach und Strauss? Erklärten sich die zunächst geschmacksunsicher oder gar geschmacklos scheinenden Synkretismen nicht aus der expliziten Unterstellung, daß im Vergleich zur eigenen, viel zu kompliziert gewordenen Zeit sich alle zurückliegenden Epochen gleichermaßen beneidenswert ausnahmen in ihrer Identität von Realität und Idealität; daß im Vergleich zum kaiserlichen Industrie-Deutschland alle kontemporären Exotismen — der Orient, Indien, der Kaukasus etwa - dem Suchen nach Natürlichkeit und Schönheit näher waren, Landschaften, die Palmen hatten statt rauchender Schlote und von Hektik erfüllter Börsen? War es anders als konsequent, die Formverfeinerung bis hin zum abgefeimt Artifiziellen in den Vordergrund zu stellen, wenn vergangene »große« Epochen das mögliche Themenspektrum bereits besetzt und vorbildlich gestaltet hatten, jenes Spektrum, das für Kunst zuzulassen man bereit war, außerhalb dessen die »Unkunst« der aufkommenden Naturalisten-Generation begann? Und war es wirklich pure Epigonalität, wenn man sich auch im Formalen an verehrte Muster anlehnte 68 — oder nicht viel eher demütige Referenz vor nicht wieder erreichbaren Kunstleistungen »guter alter« Zeiten? Bedeutete das Selbstverständnis der gründerzeitlichen Autoren, ein »priesterlich Geschlecht« zu sein, tatsächlich nur euphemisdi verkappte Arroganz - oder sprach aus diesem Titel nicht audi Ehrfurcht vor einem Amt, das auszufüllen die Selbstverleugnung rückwärtsgewandter Orientierung verlangte, den Verzicht auf eigene 67
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Vgl. Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. Bern, Stuttgart, Wien 1963. Epigonenbewußtsein w a r jedenfalls sehr selten. Scheffel spricht in seinem Brief an Heyse vom 29. April 1861 vom »eigenthümlichen epigonischen haut gout, der uns allen mit Schidksalsnothwendigkeit anhaftet« in: Joseph Victor von Scheffel und Paul Heyse, Briefwechsel. Für den Deutschen Scheffelbund hrsg. von Conrad Höfer. Karlsruhe 193a, S. 60.
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Originalität; einem Amt, das nicht mehr des »Dichters« bedurfte, sondern des regelkundigen, dem »Schönen« verpflichteten »Künstlers«, der im Ton der »Meister« sang? War die hemmungslos scheinende Produktion von Versen - der Zeitgenosse Storm hatte selbst den größten Poeten allenfalls sechs gelungene Gedichte zugestanden (Brief an Keller vom 15. Juli 1878) - nicht ein verquälter, aber angesichts des prosaischen Alltags und der materialistischen Kunstprosa der Naturalisten - Zolas Romane waren zum Teil schon bekannt! - nur zu verständlicher Versuch, das qualitativ kaum mehr Schaffbare auf quantitativem Weg zustande zu bringen? Wurden durdi den quantitativen Überhang häufig schlechter Qualität nicht all jene zu eigener Produktion ermutigt, die zu anderen Zeiten ihre Autorenschaft höchstens im Familien- oder Freundeskreis unter »Beweis« gestellt hätten? Läßt sich die Verführung unterschätzen, die vom eifrig wie nie kaufenden Publikum auf die Reimlieferanten ausging? Anders und nachprüfbarer gefragt: läßt sich eine perfektere Bedienung des damaligen »Erwartungshorizonts« denken? Entsprach nicht die vom Ästhetischen her begründete Rückwärtsgewandtheit der Autoren dem vom Alltag her begründeten Regreß der Bürger in unwerktäglich-weihevolle Stimmungen, in den artifiziellen Anti-Alltag der eingängigen Verse? Kamen also nicht beide am Literaturbetrieb beteiligte Seiten voll auf ihre Kosten? Trafen sich die jeweiligen Interessen nicht mit gutem Grund an Orten und zu Zeiten der Verklärung? War die wütende Attacke der Naturalisten gegen die »Lyriker à la mode« 69 nicht ein allzu laut inszeniertes Scheingefecht, in dem durch die ausführliche verbale Brandmarkung des poetologisch nun Inkriminierten abgelenkt werden sollte von der eigenen Aporie, gültige »naturalistische« Gedidite zu schaffen? 70 Und standen, um eine Bemerkung eingangs dieser Überlegungen nochmals aufzunehmen, Verachtung und Verdammung der gründerzeitlichen Lyrik 89
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Heinrich und Julius Hart, Ein Lyriker à la mode. In: H. u. J. H., Kritische Waffengänge. Drittes Heft. Leipzig 1882. Photographisdier Reprint, hrsg. von Mark Boulby. New York und London 1969, S. 52-68. Vgl. Günther Mahal, Wirklich eine Revolution der Lyrik? Überlegungen zur literaturgesdiichtlidien Einordnung der Anthologie >Moderne Dichter-Charaktere