Mystik und Lyrik [Reprint 2019 ed.] 9783486772821, 9783486772814

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German Pages 317 [320] Year 1941

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INHALT
I. TEIL: MYSTISCHE LYRIK
GELTUNGSBEREICH
GESTALTWANDEL
EINKLANG UND SCHEIDUNG
SPRACHE
WAHRHEIT UND WIRKLICHKEIT
II. TEIL: MYSTIK UND LYRIK
BILD UND ICH
MYSTIK UND DICHTUNG
MYSTIK UND MAGIE
DICHTER UND LESER
VERZEICHNIS DER NAMEN
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Mystik und Lyrik [Reprint 2019 ed.]
 9783486772821, 9783486772814

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E D G A R

H E D E R E R

MYSTIK UND

LYRIK

M Ö N C H E N U N D BERLIN

VERLAG V O N R . O L D E N B O U R G

Die Arbeit wurde als Habilitationsschrift von der Philosophischen Fakultät der Münchner Universität angenommen.

Copyright 1941 by R. Oldenbourg, MSnchen tmd Berlin Drudc von R. Oldenbourg, Mundien Printed in Germany

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I N H A L T I. Teil

MYSTISCHE

LYRIK

Geltungsbereich

Seite

9

Gestaltwandel: Im O s t e n Ägypten Indien Persien

35 36 36 39 56

Im W e s t e n Abendland und Christentum Ostkirche und Westkirche Italien Spanien In anderen Ländern

63 67 77 86 94 102

In D e u t s c h l a n d Mittelalter Vom Barock bis Herder Von Goethe bis Rilke

116 125 152 172

E i n k l a n g und Scheidung

200

Sprache

217

.

.

W a h r h e i t und W i r k l i c h k e i t

234

II. Teil

MYSTIK

UND

LYRIK

B i l d u n d Ich

255

M y s t i k und Dichtung

273

M y s t i k und Magie

278

D i d i t e r und L e s e r

296

I. T E I L

M Y S T I S C H E LYRIK

GELTUNGSBEREICH Man nennt oft alles Dunkle, Rätselhafte, alle Beziehungen des Menschen zur Welt, deren Ursprung und Ziel man nicht kennt und am Ende alles, was als unerkannt und unerklärlich gilt, mystisch. Soll dies Wort noch einen rechten Inhalt haben, so muß man es genauer umreißen, ohne ihm etwas von seiner Tiefe und der Vielfalt seiner Erscheinungen zu rauben: Ob der Mensch sich denkend oder fühlend in der Welt findet, die Schranken zwischen Ich und Welt können fallen. Einfühlung kann zur Einsfühlung, das Wissen von der Welt und den Dingen kann ein Wissen durch Vereinigung mit ihnen werden. Diese Einswerdung, das Vorher und das Nachher und das Unsagbare der Einigung selbst nennen wir mystisch. Mystik kann die Intuition des Denkers, das emphatische Erleben des Liebenden und des Künstlers oder sie kann religiöse Ekstase sein. Es gibt eine dunkle Triebmystik und eine helle Ideenmystik. Mystik kann nur zeitweise ein Einzelnes in der Welt ergreifen oder das Alleine, das Absolute, Gott zum Ziel aller Ziele machen. Ihr Gott kann ein namenloser oder genannter sein oder sie kann den Weg in die Selbstvergottung nehmen. Sie kann fern von allem Irdischen oder durch die Welt hindurch zu Gott führen. Sie kann ein unbedingtes Recht behaupten oder sich mit anderen Formen des Erkennens und Fühlens verflechten. Sie kann sich in einem stufenweisen Eindringen oder in einem plötzlichen Hingenommensein vollziehen: entscheidendes Kennzeichen bleibt, daß die Grenzen zwischen Ich und „Gegen-stand" getilgt werden. Stets geht es in mystischer Einigung, der „unio mystica", um etwas Ungewöhnliches, nicht allgemein Offenbares, um das verborgen Offenkundige eines Geheimnisses. Es scheint ein innerer Widerspruch, wenn mystisches Erleben einen Ausdrude sucht oder zu besitzen glaubt. Doch gelingt es ihm durch die Kraft der Dichtung Sprache zu gewinnen und auch das Unsägliche dem Nacherleben zu erschließen. Das, was über alle Sprache hinaus ist, wird gegenwärtig durch

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GELTUNGSBEREICH

Verwandlung in gleidinishafte Bilder oder durch den Abbau des Sagbaren, der in offenbarendem Schweigen endet. M a g die geheimnisvolle Einswerdung mit dem Höchsten und Letzten, mit Gott beschrieben werden oder die Einigung mit einem geliebten Menschen, mit der Natur, mit Tier und Pflanze und anderen Erscheinungen, denen das Leben unseres Geistes, unserer Seele und Sinne begegnet, immer geht es um etwas, das nur im Nacherleben und nicht jenseits oder diesseits der dichterischen Sprache zu ergreifen ist. Im Leben der Liebe gibt sich mystisches Erleben als Einswerdung und Verschmelzung mit dem Gegenüber aufs einfachste und deutlichste kund. Immer wieder weiß die Sprache der Liebenden davon zu reden, wie das eigene Leben ganz aufgegangen ist im Leben des anderen; nicht nur: „du bist mein und ich bin dein", sondern: „du bist ich und ich bin d u " : „Schweig du doch nur, du Hälfte meiner Brust! Denn was du weinst, ist Blut aus meinem Herzen" so spricht es Günther in seiner Abschiedsaria aus. In Hebbels „An eine edle Liebende" beißt es: „Du meinst in deiner Seele Dämmerweben, Dir sei das Tiefste so gelöst in Liebe, D a ß dir nicht Eignes zu bewahren bliebe, Drum willst du ganz und gar dich ihm ergeben." Günther spricht im Bewußtsein des Einsseins, aber er spricht nicht von der Einigung selbst, er läßt sie in seiner Aussage spüren, leibhaftig erleben, ähnlich wie die W o r t e der Droste an den Geliebten: „Doch du, das tiefversenkte Blut in meinem Herzen" (An Levin Sdiiicking) Hebbel hingegen macht die Vereinigung zum T h e m a , und sein Ausdruck ist unbestimmt: „Du meinst, dir 9ei"; er spricht von dem „Dämmerweben" der Seele, von dem eigentlich Unsagbaren der Einswerdung selbst, die sich unter dem "fifeiv", dem „Augenschließen" vollzieht. Gefühle der Angst und Seligkeit begleiten sie, „Wonneschauer", wie Eichendorff es in

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GELTUNGSBEREICH

einem einzigen Worte nennt. Aufgabe und Opfer des eigenen Ich geht ihr voraus: „So schauert vor der Lieb ein Herz Als wie vom Untergang bedroht. Denn, wo die Lieb erwachet, stirbt Das Ich, der dunkele Despot." (Rückert, Nach Dschelaleddin Rumi)

oder bei Hebbel: „Du tratst aus meinem Traume, Aus deinem trat ich hervor, Wir sterben, wenn sich eines Im andern ganz verlor." (Idi und Du)

Durch die Aufgabe des Ich beschränken sich zwei liebende Seelen in ein einziges Gefühl und erfahren dessen überirdische grenzenlose Fülle: „Vergebens hüllt die Nacht mit dunstbeladnen Flügeln Den Luftkreis ein; dies hemmt der Liebe Sehkraft nicht: Aus ihren Augen strahlt ein überirdisch Licht, Worin die Seelen selbst sich ineinander spiegeln. Nacht ist nicht Nadit für sie; Elysium Und Himmelreich ist alles um und um; Ihr Sonnenschein ergießet sich von innen, Und jeder Augenblick entfaltet neue Sinnen. Allmählich wiegt die Wonnetrunkenheit Das volle Herz in zauberischen Schlummer; Die Augen sinken zu, die Sinne werden stummer, Die Seele dünkt vom Leibe sich befreit, In Ein Gefühl beschränkt, so fest von ihm umschlungen! So inniglich von ihm durchatmet und durchdrungen! Beschränkt in Eins, in diesem Einen bloß Sich fühlend — aber oh! Dies Eins: wie grenzenlos!" (Wieland, Oberon, 5. Gesang)

Mystische Liebe durchglüht das Dunkel der Nacht, oder die Nacht selbst ist es, in der die Natur mit dem Menschen die Augen schließt zur Gnadenstunde der Einigung, wie in

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GELTUNGSBEREICH

Mörikes „Gesang zu Zweien in der Nacht" oder in des Novalis „Hymnen an die Nacht": „Himmlischer als jene blitzenden Sterne dünken uns die unendlichen Augen, die die Nacht in uns geöffnet. Weiter sehn sie, als die blassesten jener zahllosen Heere — unbedürftig des Lichts durchschaun sie die Tiefen eines liebenden Gemüts — was einen höheren Raum mit unsäglicher Wollust füllt. Preis der Weltkönigin, der hohen Verkünderin heiliger Welten, der Pflegerin seliger Liebe — sie sendet mir dich — zarte Geliebte — liebliche Sonne der Nacht, — nun wach ich — denn ich bin dein und mein — du hast die Nacht mir zum Leben verkündet — mich zum Menschen gemacht — zehre mit Geisterglut meinen Leib, daß ich luftig mit dir, inniger mich mische und dann ewig die Brautnadit währt." (Erste Hymne an die Nacht)

Nicht nur die Vereinigung mit dem geliebten Leben begibt sich in der Nacht und ihrer „zeit- und raumlosen Herrschaft", als „unendlicher Geheimnisse schweigender Bote" führt sie in neue Räume und Fernen: „In der Liebesnächte Kühlung, Die dich zeugte, wo du zeugtest, überfällt dich fremde Fühlung, Wenn die stille Kerze leuchtet. Nicht mehr bleibest du umfangen In der Finsternis Beschattung, Und dich reißet neu Verlangen Auf zu höherer Begattung." (Goethe, Selige Sehnsucht)

Die Nacht macht in uns die Kräfte frei zur Vereinigung mit den Dingen. In ihr öffnen sich die Tiefen der Vergangenheit und die Geheimnisse der Natur: „Du schwärmst, es schwärmt der Schöpfung Seele mit!" (Mörike, Gesang zu Zweien in der Nacht)

Die Nacht ist Befreierin von der überhelle des Tages, in der die Gegenstände ihren festen Umriß bewahren, von seiner

GELTUNGSBEREICH

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lauten Geschäftigkeit, die uns dem Herzen der Dinge abwendig macht; sie fördert in uns die mystischen Kräfte des Offenseins für die „fremde Fühlung". Wie mit dem geliebten Menschen, so weiß man sich mit der Schöpfung eins. Natur und Ich, Vergangenheit und Ich verschmelzen ineinander: „wenn kaum des Mondlichts weiße Füße spürt der Berg auf seinen wäldertiefen Sinnen: Stürzt stumm in meiner Seele Stein um Stein, die Tages über ihrer Wanderung leben; mit tiefern Stimmen meine Tiefen sdirein, und hellre Sterne meinem Geiste leben. Denn vor Bewußtheit löscht Bewußtsein aus; die Klugheit schleicht sich fort mit Knechtesgrüßen; die Weltgeschichte, ein verfallnes Haus sinnloser Märchen, schläft zu meinen Füßen. Ich werde selbst des Windes scheuer Hauch, der Wesen Seele, schwere Murmellieder der regen Wasser neben Fels und Strauch, und tauch als Stern in Wolken auf und nieder. Es rollt aus mir von niemand angestoßen, des wahren Lebens übersüße Flut, und jenseits ruhe ich von Klein' und Großen, fern alles Kampfes über bös und gut." (Hermann Stehr, Nachtstille)

In taghellem Bewußtsein und darum nur um so dringlicher weiß sich eine Droste selbst als Natur, in allen ihren Elementen. Sie lebt in der leisen Reibung eines Grashalmes; das Erdleben ihrer Umgebung ist ihr eigenes Leben, das Blut ihrer Adern fließt in den Flüssen und Meeren dieser Erde: ,„Wasser' spricht er, ,Welle gut, Hauchst so kühlig an den Strand. Du, der Erde köstlich Blut, Meinem Blute nah verwandt, Sendest deine blanken Wellen, Die jetzt kosend um mich schwellen, Durch der Mutter weites Reich, Börnlein, Strom und kleiner Teich.

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GELTUNGSBEREICH

Und an meiner Hütte gleidi Schlürf ich dein geläutert Gut, Und du wirst mein eignes Blut, Liebe Welle! heiige Flut!' — " (Wasser) Deutlich erfährt man, wie aus Nähe und Verwandtschaft Einigung und Einssein geworden ist. Die Angst der bewußtlosen Kreatur, der ihr naturoffenes Gemüt überall begegnet, fühlt sie als die ihrer unerlösten Seele. Das Werden und Vergehen der Natur ist wie ihr eigenes, „Matt bin ich, matt wie die Natur", „Im Blute Funken, Funk im Strauch". Nicht nur Einfühlung spricht hier, sondern echte Einsfühlung, in der die Grenzen von Ich und Ding aufgehoben werden; nidit Verlebendigung und Beseelung, sondern Begegnung von Leben zu Leben in liebender Einswerdung, so wie etwa Eberhard Karl Schmidt schon im 18. Jahrhundert für die Begegnung mit einer welkenden Rose die Worte findet: „Und lauschend dann in dir nicht Fülle nur des Lebens, Auch Spuren des Gefühles fand" um im selben Gedicht ein umfassendes Bekenntnis mystischer Einsfühlung mit dem Leben der Natur abzulegen: „Daß alles lebt, will Gott, daß leiser Wandelungen Hier Leben reift, dort Leben keimt, Von mir, dem Denker, an bis zu den Dämmerungen, Des Sinnes, den die Klippe träumt." (An eine welkende Rose)

„Dämmerungen des Sinnes, den die Klippe träumt." Ganz und gar ist die Begegnung selbst mit der leblosen Natur einverwandelt in das Leben des eigenen Ich. Audi das Reich der Vergangenheit öffnet sich mystischer Vereinigung. Die Toten sind uns nicht nur nahe, sondern sie wesen in unserem eigenen Leben fort: „Sieh, sie umschweben dich, Schaudernd, verlassen, Und wenn du dich erkaltend Ihnen verschließest, erstarren sie Bis hinein in das Tiefste." (Hebbel, Requiem)

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Leidenschaftlicher und leibhaftiger noch bei der Droste und wieder in Steigerung von liebender Annäherung zur Einswerdung in „Meine Toten", oder in „Grüße": „Ich möchte euch alle an mich schließen, Ich fühl euch alle um mich her, Ich möchte mich in euch ergießen Gleich siechem Bache in das Meer." (Grüße)

Novalis und Herder zeigen uns, wie der Weg in die Geheimnisse der Natur und die Tiefen der Zeiten kein anderer ist als der Weg in die Tiefen des eigenen Ich. Wahres Geschichtserleben erscheint als Innewerden und Offenbarung des eigenen Selbst. Das Vergangene wird Inhalt des eigenen Seins. Der Mensch weiß sidh mit dem Geschick der Menschen von Anbeginn geeint. Er nimmt an ihm teil als einer noch immer gegenwärtigen Wirklichkeit der eigenen Seele. Die Bilder der eigenen Seele und die mythischen Gestalten der Vergangenheit verschmelzen ineinander. Vergangenheit und Zukunft sind nur verschiedene Bezirke des eigenen Idi und gehen ineinander über, als „keimende Vergangenheit", wie Herder es nennt: „Mit Flammenzügen glänzt In der Seelen Abgründen der Vorwelt Bild Und schießt weitüber weissagend starkes Geschoß In's Herz der Zukunft!" (Herder, Der Genius der Zukunft)

In der fünften Hymne an die Nacht verwandelt Novalis das Reich der Geschichte, das er den gleichen geheimen Trieben wie das des eigenen Lebens unterworfen sieht — „medizinische Geschichtsbetrachtung" 1 ), wie er es in einem kühnen Wort nennt — in seelenmythische Bilder und Projektionen innerer Selbstsdiau. Alle Bewegungen der Zeiten führen ihn in ein Zugehen auf sich selbst, zur „Bemächtigung des transzendentalen Selbst"*). 0 Novalis, Ausgabe Kludchohn, Bd. II, S. 70. ») Novalis, Bd. II, S. 20.

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„Suchet einen, der mit Geist Sdhmedct und, was er ist, geneußt, Sudiet, der mit Gottesblick Alle Schöpfung strahlt zurück! — In sich, von sich. Und selbst sich In sich strahl' und väterlich Von sich strahl' und walte frei Und wie Gott ein Schöpfer sei! — " (Herder, Die Schöpfung)

Des Vergleiches mit Gott selbst bedarf Herder, um mit gewaltiger Geste das Einssein von Natur und Ich auszusagen, nicht anders, wie Novalis den Menschen den „Messias der Natur" nennt und auf alle Bemühung um Versenkung in das Leben der Natur die Antwort findet: „Einem gelang es — er hob den Schleier der Göttin zu Sais. Aber was sah er? Er sah — Wunder des Wunders—sich selbst." (Paralipomenon 2)

Der Geliebte, die Geschöpfe der Natur und der Geschichte und schließlich Natur und Geschichte selbst werden so Gegenstand der Einsfühlung oder sind vielmehr als „Gegenstand überwunden und ganz eingegangen in das eigene Ich. Es gibt kein zu betrachtendes Gegenüber mehr; es ist so viel in mir als ich in ihm, und es ist nur in dem Grade, als ich mit ihm eins geworden bin. Das Einswerden mit dem Gegenüber und das Gefühl des Einsseins ruht jedoch nur selten in sich; es geht auf in einer größeren Bewegung zu einem Höheren hin: „Und dich reißet neu Verlangen Auf zu höherer Begattung." Die Vereinigung mit dem Geliebten spielt im größeren Leben Gottes, das man erst durch die Vereinigung hindurch erfühlt: „Verschwiegen schauen sich zwei Seelen an Und schöpfen in der Gottheit reinstem Quell." (Herder, Fragment)

Im Anderen enthüllt sich ein Höheres, in dessen Bild er geformt ist. Schon im reinen Anschauen erspürt man seine Gegenwart:

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„Wenn ich von deinem Anschaun tief gestillt, Mich stumm an deinem heiigen Wert vergnüge, Dann hör ich recht die leisen Atemzüge Des Engels, welcher sich in dir verhüllt." (Mörike, An die Geliebte)

In der Einigung der irdischen Liebe wird der Mensch hinangezogen zu höherer Vermählung; die eine vollzieht sich in der anderen wie des Novalis berühmtes „Christus und Sophie", oder sie wird Aufschwung und Eröffnung in neue Welten: „aber was heilig durch der Liebe Berührung ward, rinnt aufgelöst in verborgenen Gängen in das jenseitige Gebiet, wo es, wie Düfte, sich mit entschlummerten Lieben mischt." (Vierte Hymne an die Nacht.) „Getrost das Leben schreitet Zum ewgen Leben hin, Von innrer Glut geweitet Verklärt sidi unser Sinn." (Novalis, Fünfte Hymne an die Nacht)

Die Vereinigung mit den Geschöpfen der Natur trägt zur Vereinigung mit ihrem Schöpfer empor; je höheren Stufen der Schöpfung der Mensch sich einbildet, um so mehr gewinnt er 9elbst an Wesen: „Immer tiefer, höher. Ich Bin's, in dem die Schöpfung sich Punktet, der in alles quillt, Und der alles in sich füllt! —" „— Bis zur letzten Schöpfung hin Fühlet, tastet, reicht mein Sinn! Aller Wesen Harmonie Mit mir — ja ich selbst bin sie!" (Herder, Die Schöpfung)

Der Mensch als Mikrokosmos, durch Einswerdung mit der Schöpfung zum Makrokosmos erweitert, geht ein ins Universum, das er in allen Teilen selbst ist. Nicht nur Vereinigung mit dem Schöpfer, sondern das Gefühl eigener Schöpferkraft, das Gefühl, selbst Schöpfer zu

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sein, erhebt sich aus der Vereinigung mit der Geliebten, immer höher empor im Selbstwerden des „Die dich zeugte, wo du zeugtest". „Und zu ungemeßnem Leben Ist Gefühl und Blick gekehrt. Sei 's Ergreifen, sei es Raffen, Wenn es nur sich faßt und hält! Allah braucht nicht mehr zu schaffen, Wir erschaffen seine Welt." (Goethe, Wiederfinden)

In allem Geschaffenen, mit dessen Kern er sich vereinigt, erfährt so der Mensdi einen geheimnisvollen Bezug zu einem Jenseitigen, ein übersidihinausweisen in immer höhere Ordnungen und Wesen, um am Ende dem Absoluten, Gott, zu begegnen als dem Inbegriff aller Werte und Wesen, in den sie hineinzielen. Wie das Reich der Natur, so tritt das Reich der Geschichte „himmelöffnend" entgegen und trägt „den Schlüssel zu den Wohnungen der Seligen". (Zweite Hymne an die Nacht.) Immer fallen in der unio von Welt und Ich Selbsterkenntnis und Welterkenntnis, Selbstbemächtigung und Weltbemächtigung zusammen. In der mystischen Vereinigung mit einem Einzelnen sind die mystischen Kräfte als solche freigeworden: „Keine Ferne macht dich schwierig"

(Selige Sehnsucht)

Im Augenschließen haben die Dinge ihren Umriß verloren, das Fernste und Nächste in Raum und Zeit gehen ineinander über, eine mystische Allvermischung hat Platz gegriffen: „Alles ist freundlich wohlwollend verbunden, Bietet sich tröstend und traurend die Hand, Sind durch die Nächte die Lichter gewunden, Alles ist ewig im Innern verwandt." (Brentano, Sprich ans der Ferne)

Durch diese Vermischung aller Wesen, diese Anarchie, die Novalis als „Zeugungselement aller Religion"1) bezeichnet, wird alles Ruhende und Feste in Fluß gebracht, „das Irdische *) Novalis, „Die Christenheit oder Europa".

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sdiwimmt obenauf" und mündet, „bis die willkommenste aller Stunden ihn in den Brunnen der Quelle zieht" 1 ), ins Jenseitige. Durch die Vereinigung mit dem Herzen eines Wesens, durdi Vereinigung mit der Schöpfung als Ganzes hindurch begegnet der Mensch Gott, als dem Alleinen, als Weltseele, als Ziel aller Ziele. Nidit als einem Ruhenden, Festen, Fremden findet er sich ihm gegenüber, sondern er sucht noch in seinen Grund einzudringen und auch noch mit ihm eins zu werden: „Keine Ferne macht dich schwierig, Kommst geflogen und gebannt, Und zuletzt, de« Lichts begierig, Bist du, Schmetterling, verbrannt." (Goethe, Selige Sehnsndit)

Im allgemeinen bleibt der Begriff der Mystik eingeschränkt auf die eschatologischen Erscheinungsformen, in denen ihr Gegenstand Ziel aller Ziele ist, sei es als letzter Erkenntnisgrund oder als religiös ergriffenes höchstes Gut. Die mystische Einstellung ist hier nicht ein Element der Erkenntnis oder Lebensführung, sondern Prinzip, das alle Bewegungen des Geistes und der Seele sammelt zur Einswerdung mit dem Höchsten und Letzten. Von religiöser Mystik sprechen wir mit Fug dann, wenn das Gegenüber „höchstes Gut" ist und wenn sich dabei ein eigentümliches, unverwechselbar religiöses Bewegtwerden kundgibt, ein Schauder und eine Beseligung, die allen anderen natürlichen Regungen unvergleichbar als „heilig"2) erfahren werden und mehr sind als das bloß Dämonische oder Unheimliche. In mystischer Dichtung wird der eigenartige, mit natürlichen Gefühlen nicht vergleichbare Charakter religiösen Erlebens, der sich von der rohesten bis zur geklärtesten Form deutlich abscheidet von anderen natürlichen Regungen, erhellt, indem dieses Erleben unmittelbar im Gemüte des Menschen erwacht und gleichzeitig seiner übermenschlichen Bedeutung gewahr wird. Das Erleben des Göttlichen zeigt sich entweder als etwas, das Vierte Hymne an die Nacht. *) Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige, Mönchen 1936.

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in den natürlichen Erregungen über diese hinausweist oder als ein verborgener unvergleichlicher Bereich von Gefühlsund Geistesbewegungen, der unabhängig ist von innerweltlichen Erfahrungen und unmittelbar aus dem bewegten Seelengrund heraus um Ausdruck ringt. Das Göttliche, mag es roh oder geklärt vorgestellt, in den Dingen oder jenseits von ihnen erlebt sein, ist als das „Andere" nicht durch die bloße Steigerung natürlicher Erregungen erreichbar und kann weder psychologisch abgeleitet noch als bare „Sublimierung" natürlicher Regungen entwertet werden. Noch die niedersten Stufen der Religion zielen auf dies Unvergleichliche des Religiösen. Mystische Erfahrung wahrt dem Göttlichen seine irrationale Tiefe und Bedeutung als das unheimlich Furchtbare und als das überschwänglich Beseligende auch im Bereich der hellen Ideenmystik, als das Geheimnis, das nie aufgeht in rationalen Bestimmungen oder in der bloßen Bedeutung des Guten und Wahren. Mystischem Erleben stellt sich wesensgemäß das Göttliche als lebendig wirkend dar. Gewinnt dieses Erleben in dichterischer Sprache Ausdruck, so wird das Irrationale und die Musikalität der Poesie Ausdrucksmittel für das Irrationale des Göttlichen, bleibt aber ein grundsätzlich anderes. Das „überhinaus" Gottes kann nur in Vergleichen im Medium des Ästhetischen erfaßt werden, durch negative Bestimmungen oder durch ein offenbarendes Verstummen. Ist der Gegenstand der Einswerdung letztes Ziel, so ist der ganze Lebenssinn des Menschen hingegeben an den einen großen Vorgang, sei es nun, daß die Einung mit Einzelnem in die Einung mit dem Letzten, Ganzen mündet, oder daß sich der Mensch unmittelbar zu diesem Letzten erhebt. So sehr das Erleben des Göttlichen aus innerweltlichem Erleben aufsteigen kann, es zeigt sich zuletzt als allem nur irdischen Bewegtwerden unvergleichbar. „Es bricht auf aus dem Seelengrunde, aus dem tiefsten Erkenntnisgrunde der Seele selber, zweifellos nicht vor und nicht ohne Anregung und Reizung durch weltliche und sinnliche Gegebenheiten und Erfahrnisse, sondern in diesen und zwischen diesen. Aber es entspringt nicht a u s ihnen, sondern nur durch sie. Sie sind Reiz und Veranlassung, daß es sich selber rege — sich rege und sich an-

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fänglich sogleich naiv und unmittelbar einflechte und einwebe in das Weltlich-Sinnliche selber, bis es dieses in allmählicher Läuterung von sich stößt und es sich sich selbst schlechthin entgegensetzt1)." Als Glaubensgegenstand kann das Göttliche der Anschauung des Menschen sozusagen vorgegeben sein, nur daß er sich nicht in der bloßen Anschauung beruhigt, sondern auf Vereinigung hindrängt, oder aber, daß er dieses Göttliche eben nirgends als in sich selbst findet. Immer hat er es nicht nur außer sich, sondern gleichzeitig in sich selbst. Er begnügt sich nicht, sich ihm in Liebe zu ergeben, sondern muß sich in es verwandeln: „Mensch, was du liebst, in das wirst du verwandelt werden." (Angelus Silesius.) Der Gegenstand als solcher ist hier gegeben, und das Mystische ist nicht eine besondere Erkenntnis quelle, sondern nur eine besondere Erkenntnisform, die der Identifikation, des Gleich- und Einswerdens. Das letzte Ziel kann vorher gegeben sein als persönlicher Gott oder kann erfahren werden als das „Eins in Allem". Man kann den Prozeß der religiösen Mystik etwa so formal umreißen: Der Mensch befindet sich in Beziehung zum Göttlichen; dies mag der geoffenbarte Gott, mag letzter und höchster Gegenstand einer begrifflich geklärten Weltanschauung oder nur dunkel und subjektiv geahntes Ziel aller Bewegungen des inneren Menschen sein; es drängt ihn, sich ihm in einem Grade zu nähern, einzuverwandeln, daß die Spannung von Subjekt und Objekt aufgehoben erscheint, oder aber: er ist von vornherein außerstande, diese Spannung wahrzunehmen. Die Bewegung kann mehr vom Subjekt ausgehen, die das Objekt in sich hineinnimmt, oder vom Objekt, indem das Subjekt gleichsam aufgezehrt wird. Der Vorgang als solcher kann sich mehr an die Kräfte des Willens, des Gefühls, der vitalen Erregung, der Erkenntnis des Menschen oder an die Gesamtheit seines inneren und äußeren Vermögens wenden. Sein Verhalten vor der Einigung kann ein passives Mitsichgeschehenlassen oder ein aktives Hineindrängen sein. Immer handelt es sich nicht nur um eine „religio", sondern um eine „unio", nicht um bloße meta») Rudolf Otto, Das Heilige, S. 138.

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physische Schau und Erkenntnis, sondern um ein Wissen durch Vereinigung. Die Zustände des "ftdeiv" begleiten den Vorgang. Entweder wird Verzicht auf alle Gegenständlichkeit der Welt geleistet, die zerstreuenden Kräfte der Phantasie werden ausgeschaltet, um alle Kraft zur unio mit dem Höchsten zu sammeln; — dies kann sich in einer stufenweis geübten Askese oder in einem einmaligen Akt vollziehen —, oder aber der Weg wird in mystischer Vereinigung mit einem Einzelnen oder durch ein Reich immer höherer Wesen hindurch zur Vereinigung mit dem Alleinen frei. Was dies Höchste, Alleine ist, bestimmt sich erst durch die unio selbst, oder seine Unbestimmbarkeit wird erfahren. Der Weg zur Einswerdung mit dem Göttlichen führt durch die Aufgabe des eigenen Ich hindurch. Es muß getilgt sein, um im Absoluten aufgehen zu können. Das Bewußtsein der Einung ist zumeist nur ein vorübergehendes. Der Mensch, muß dann immer wieder zurückkehren in seine kreatürlidie Vereinzelung, in die Vielheit der Dinge und erhebt sich aus ihnen zu neuer Vermählung mit dem Höchsten, oder aber er verbleibt in der endlichen Welt, die ihm nun in verklärender Beziehung zum Höchsten in jedem Punkte vom Unendlichen durchstrahlt erscheint. Abendländische Mystik kennt zumeist nicht wie die indische Mystik der Upanishaden das dauernde Versinken des Menschen ins Absolute und den dauernden Besitz des Zustandes der Erfüllung in der unio, sondern kehrt immer wieder zurück aus der Ekstase der Einigung in das demütige Gegenüber zu Gott in Gebet und weltverwandelndem Werk, aus mystischer Schau ins Gegenüber zur Welt in Entfaltung von Idee und Wissenschaft. Im Akte der Einigung kann — und dies gilt vor allem für die christliche Mystik — die Seele bei aller Durchtränktheit von ihrem göttlichen Urbild ihrer kreatürlidien „Andersheit" und Entferntheit von Gott inne werden. Im Innersten der Einigung öffnet sich eine neue Distanz, stellt sich ein neues Gegenüber zu Gott her, das den Menschen in die Bescheidung der Anbetung zurückweist. Nach christlicher Lehre bleibt auch in der unio mystica der Mensch Kreatur und Gott Schöpfer; und jede noch so große Ähnlich-

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keit, die der Mensch mit Gott erfährt, wird überragt durch die größere Unähnlidikeit mit dem im mystischen Aufstieg erfahrenen, wachsenden „überhinaus" Gottes. Beides findet sidi im Raum der Mystik: die titanische Dämonie der Selbstvergottung, das „sicut deus", und die Demut der Kreatur, „von Gott gehalten unter Gott". Ebensowenig wie eschatologische Mystik notwendig christlich sein muß, ebenso unwahr ist es, wenn man behauptet, Mystik müsse jeden Glaubensgegenstand als solchen auflösen. Kann es sich dodi lediglich um eine bestimmte Erkenntnisform handeln, die den Glaubensgegenstand eines historischen Weltbildes voraussetzt. Nicht jede, sondern nur eine bestimmte Richtung der Mystik „gebiert" erst den Gott, dem sich der Mensch einig weiß. Der Urgrund aller Dinge und das Ziel allen Strebens, mit dem der Mensch in mystischer Erfahrung eins zu werden sudit, fällt in der deutschen mystischen Lyrik vom Mittelalter über das Barock bis ins 18. Jahrhundert überwiegend zusammen mit dem geoffenbarten christlichen Gott. In der Gestalt Christi nimmt das Göttliche leibhafte Gegenwart an und zieht nicht nur die geistigen, sondern auch die leibseelisdien Kräfte zur Einsfühlung an und wird Gegenüber der minnenden Seele. Freilich sind hier keine klaren Grenzen zu ziehen, wie es schon der Titel der größten lyrischen Schöpfung mystischer Gottesminne im Mittelalter deutlich ausspricht: „Das f l i e ß e n d e Licht der Gottheit" Mechthilds von Magdeburg. In der Brautmystik des Mittelalters und der vorwiegend erotisch gefärbten Christusmystik des Barode werden die Wonnen der Vermählung und Verschmelzung mit dem Leben Christi zum Thema. Die Vereinigung liebender Menschen leiht der Vereinigung mit Christus Bild und Anschauung. Daneben, oder oft damit zusammen wird die „imitatio Christi", die leibseelische Nachfolge seines Leidens und Sterbens als Passionsmystik zum Inhalt lyrischer Dichtung: „Das Kreuz zu Golgatha kann dich nicht von dem Bösen, W o es nicht auch in dir wird aufgericht, erlösen." (Angelus Silesius)

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Mit dem Bekenntnis gleichen Leidenwollens und Erleidens geht das der unio zusammen: „O Jhesu Christe, ich gib midi dir, Din eigen wil ich ewic sin. Ze morgengab pit ich von dir, Negel mich in die wunden din1)." (Diu sele und got, Unbekannter Dichter von 1300)

Christus selbst führt den Menschen in die drei Gestalten Gottes ein: „zum Vater empor gehe idi hinüber, daß du nach Aussendung des heiligen Geistes auch im Sohne frohlocken mögest, solange du auf Erden weilst." „Ad patrem sursum transeo, ut emisso paraclito Exultes et in filio quamdiu es in saeculo2)." (Thomas von Kempen, Hymnus ad angelos et sanctos in caelo)

Das Geheimnis der dreifachen Gestalt Gottes, die dem Christen als mystische Einheit vor Augen steht, reizt gerade den mystischen Dichter zur Gestaltung, wobei die Dreiheit in der Einheit Gottes zum Grundriß der eigenen Seele wird. Im Gegensatz zur frühen mittelalterlichen Mystik setzt sich in der Gefolgschaft Meister Ekkeharts ein Gottesbegriff durch, der das Gewicht des Gotteserlebens mehr und mehr in die eigene Seele verlegt. Nicht das gnadenvolle Eingeschmolzenwerden, sondern die Geburt Gottes aus dem eigenen Seelengrunde steht nun im Mittelpunkt der mystischen Erfahrung. Einem verströmenden und sich verbrausenNürnberger Handschrift cent. VII. 19, abgedruckt bei Karl Bartsch, „Die Erlösung", 37. Band der Bibliothek der deutschen Nationalliteratur 1858, S. 214. Zu den mittelhochdeutschen Zitaten, die hier in der alten, oft verderbt überlieferten Sprachform erscheinen, sei auf die Sammlung „Sieben Jahrhunderte mystischer Dichtung" von Schulze Maizier, InselVerlag, hingewiesen, die die meisten hier angeführten Zitate teils in Angleidiungen ans Neuhochdeutsche, teils in reinen Übertragungen ins Neuhochdeutsche bringt. 2 ) M. Chevalier, Repertorium hymnologicum, Bd. I m 3475 (Ausgabe 1494), bei Ph. Wadcernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. I, S. 225; Schulze Maizier, S. 242.

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den Hineindrängen in Gottes Natur steht eine abgeschiedene, nur in den eigenen Seelengrund blickende Haltung gegenüber. Sind dort mehr die „Kräfte" der Seele, so wird hier das „Wesen" entscheidend; während dort Umriß und Gestalt eines geoffenbarten Gottes eindeutig erhalten bleiben, lösen sich hier in der abgeschiedenen Schau der „bloßen" Seele mehr und mehr Form und Bild Gottes bis zu dem viel besungenen „Nichts" auf, das doch in der Einigkeit mit ihm das Sein alles Seins ist. Diese beiden Gestalten mystischer Gotteserfahrung sind durch die ganzen Jahrhunderte christlicher Mystik erkennbar und haben in der mystischen Lyrik ihre Gestaltung gefunden. Auch hier gibt es keine reine Scheidung. Ist es ja gerade der mystischen Gotteserfahrung wesentlich, daß in ihr die Grenzen von subjektiv ergriffenem und objektiv gegebenem Gott aufgelöst werden. Ein Gott, der eben noch als namenlos und über allen Begriff bezeichnet wurde, gewinnt plötzlich mit dem Namen Christi Umriß, um gleich wieder aufzugehen in der grundlosen Flut der Verschmelzung mit seinem Wesen-. „ez ist also, daz es ist weder diz noch daz" . .. „O sele min, ge uz, got in sine al min iht in gotes niht, o sine in die gruntlosen fluot! Fliuh ich von dir, Du kumst ze mir; verliuse ich mich, so vinde ich dich, o überwesenlichez guot 1 )!" (Unbekannter Diditer)

so heißt es schon um 1250 in einem Dreifaltigkeitslied, das das Geheimnis der Trinität als „eine tiefe sunder grünt" bezeichnet. Die Beschreibung dieses Mysteriums „geschaffen >) Siehe Anm. S. 143.

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sin kam nie dahin" nennt am Ende das Wesen Gottes „weder diz nodi daz", nicht anders als Meister Ekkeharts: „des abgeschiedenen Herzens Gegenwurf ist weder dies noch das1)." Es läßt sich hier der eigentliche Gegenstand, „Gegenwurf" der mystischen unio, nicht nennen. Ein kleiner, aber in seinen Folgen ungeheurer Schritt kann den Mystiker zur Auflösung der Gestalt Gottes zu einem Nichts und zu Allem führen. Das Unaussprechliche seines Wesens: „Gott ist ein Geist, ein Feur, ein Wesen und ein Licht Und ist doch wiederum auch dieses alles nicht." (Angelas Silesius)

kann jeder Form und jedem Namen widersprechen, der Drang, sich mit ihm, so wie er in sich selber ist, zu vereinen, läßt kein Bild seiner Gestalt mehr zu, und Ekkeharts: „Wer Gott unter keinerlei Form sucht, der ergreift ihn so, wie er in sich selber ist"2), wird zum eigentlichen Bewegungselement der Einigung mit dem höchsten „Ist", das gleichzeitig ein „Nichts" ist. Dem vom Eros getragenen Streben zu Gott und dem Verschmelzen mit ihm steht hier ein metaphysisches Ergrübein und Gebären seines Wesens gegenüber. Bild und Gleichnis sind von vornherein gemieden, nicht nur weil sie dem Wesen Gottes nicht angemessen sind — das empfindet auch im Letzten die Sprache der Gottesminne —, sondern weil sie den Mystiker abziehen von seiner einzigen Aufgabe, die nicht mehr nur Vereinigung, sondern Geburt geworden ist. Selbstwerden, Selbsterkennen und Gotterkennen sind ein und dasselbe geworden. Beide Gestalten mystischer Erfahrung, Gottesgeburt und Gottesminne, sind indes nur grundsätzlich unterscheidbare Pole, zwischen denen die Bewegung hin und her geht, bald mehr der einen, bald mehr der anderen Form sich zuwendend. Des Angelus Silesius mystische Dichtungen etwa zeigen uns die mögliche Zweiseitigkeit mystischer Erfahrungen bei einem und demselben Dichter. Zeigt seine „Heilige Seelenlust oder ') Spamer, Mystische Texte, Meister Ekkehart, S. 114. *) Ekkeharts Schriften, herausgegeben von Ritter, Bd. I, S. 100.

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Geistliche Hirtenlieder der in ihren Jesum verliebten Psydie" bis in alle Entartungen sinnlich schwüler Vermischung von süßlidi verzärtelter Liebesallegorik mit dem Blut- und Wundenkultus der Passionsmystik die Merkmale geistlicher Christusminne, so ist der „Cherubinische Wandersmann" vorwiegend von Spekulationen erfüllt, die sich Gott als dem Fernsten und Nächsten nicht in erotischer Vermählung, sondern in metaphysischer Schau einzubilden streben. Spricht er dort mehr in Bekenntnissen, so hier mehr in Lehren, die in epigrammatischer Kürze den Übersinn mystischer Erkenntnis nahebringen. Behauptet dort Bild und Gleichnis seine verführerische Eigenwirkung, so hat hier auch das Bild keinen anderen Sinn, als eine Übersetzung und Überführung aller Begriffe und Anschauungen ins ganz und gar Unanschauliche, Bildlose und Unermeßliche zu fördern: „Gott ist noch mehr in mir, als wann das ganze Meer In einem kleinen Schwamm ganz und beisammen wär." (Angelus Silesius)

Deutlich läßt sich auch dies Widerspiel bei Heinrich Seuse verfolgen. Aus dem Widerstreit zwischen zeitlicher und göttlicher Minne erhebt die ewige Weisheit ihre Stimme: „Ach wipliches bildes inval, du verderbest vil und ane zal; noch witz noch kraft mag da gesigen, da hoert nit zuo, denn verre fliehen1)-" (Antwort der ewigen Weisheit)

um in abstrakter Spekulation das Ziel der „grundlosen" Minne zu zeigen: „Ein ussfluz der wisheit Ist das ewig wort in der gotheit In unbekanter wiselosekeit Staht ihr natürlidiü blossheit Ellü herzen han zuo ir ein jagen Und kan doch nieman nit dar uss gesagen')." (Von der göttlidien Minne) *) Ans „Seuses Deutsche Schriften", herausgegeben von Karl Bihlmeier, 1907, S. 3% ff.; Sdi. M., S. 169 ff. *) Ebenda.

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Nodi wird von einem Minnen gesprochen, aber sein Gegenwurf ist „Weiselosigkeit". Die Vereinigung mit dem Gegenüber ist ein „bloßes" Eindringen. „Von eim bloß entsinken in der gotheit" heißt ein Tauler zugeschriebenes Gedicht: „Gottheit, diu bist ein tief abgrunt, allen geisten unbekant" . . . „Formen und bilden bloß, da sich das biltlose bilt In seins selbst bilt grutz in dem ingusse und ußgeflusse, Da sint die dink mit unterscheit und in einikeit. — ' ) " (Von eim bloß entsinken in der gotheit)

„Der Sang der Bloßheit", ein anderes Tauler zugeschriebenes Gedicht, „Noch von eim ledig entsinken in der gotheit" (Tauler), „Grundelos einig sin" (Buch der Johannser), das große Gedicht „Die Feste Einzig-Ein" und viele andere Lieder unbekannter Dichter im 15. Jahrhundert sind Zeugnisse mystischer Gotterfahrung in fast gänzlich bildloser und abstrakter Sprache. Eine kühle Atmosphäre weltferner Abgeschiedenheit herrscht vor. Alles kreist um die schöpferische „Bloßheit" der Seele von allem Geschaffenen: „Ich wil von bloßheit singen neuwen sank, wan rechte luterheit ist on gedank, Gedanken mögen da nit sin, so ich verloren hab das min. Ich bin entworden, der zuomal entgeistet ist, der mag nit sorgen." (Von inwendiger Bloßheit und Gelassenheit uns selbst und aller Dinge)1)

Die Gottesminne ist aufgegangen in Bloßheit nicht nur von allem Begehren, sondern auch von allem Begreifen: 0 Folioausgabe von Taulers Werken, Köln 1543, BI. CCCXXXI; bei Wadternagel a. a. O., II, S. 306; Sdi. M., S. 178. 2 ) S. oben, Wackernagel, II, S. 305.

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„Diu minne het midi gefuret in ein verlornheit, Alda wart idi inkleidet al mit sinesheit1)." (Grandelos einig sein, Buch der Johannser)

Die Bilder mußten der Vernunft weidien, die Vernunft weidit dem Übersinn und geht ein ins Wissen vom nicht mehr Wißbaren. Kraft und einziges Ziel der Spradie wird es, das offenbarende Schweigen vor dem Unsagbaren zu erzwingen: „Daz einez, daz idi da meine, daz ist wortelos ein und ein vereinet da liuhtet bloz in bloz')." (Ekkehart, Vom überschall)

Damit, daß die Gestalt Gottes endgültig ihren Umriß verloren hat, zu „Nichts" wurde, kann sie gleichzeitig „Alles" werden. Sie west in allen Dingen und Erscheinungen. So wie der Liebende die Geliebte in allen Kreaturen erkennt: „In tausend Formen magst du dich verstecken Doch, Allerliebste, gleich erkenn ich dich;" (Goethe, Allgegenwärtige)

so ist audi Gott in allem gegenwärtig geworden. Nachdem man in der Abgeschiedenheit von allem Geschaffenen in das Mysterium der Einswerdung mit dem Alleinen eingegangen ist, findet man ihn überall wieder — man erlebt ihn, wie Meister Ekkehart lehrte, indem man an einen Stein stößt. Es geschieht das Wunder der „coincidentia oppositorum", des Zusammenfalls der Gegensätze — ein Grundelement aller mystischen Erkenntnis —, der namenlose Gott "ävarw/uos" ist gleichzeitig vielnamig, "noivwvv/jog" geworden: „In jenes Namen, der, so oft genannt, Dem Wesen nach blieb immer unbekannt: So weit das Ohr, so weit das Auge reicht, Du findest nur Bekanntes, das ihm gleicht," (Goethe, Prooemion) >) Aus Handschrift der Straßburger Stadtbibliothek A 98, B 162a ; Sch. M , S. 185 ff. *) Aus Franz Pfeiffer, Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, Bd. II, S. 517.

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Der Name, den man ihm gibt, wird gleichgültig: „Man kann den höchsten Gott mit allen Namen nennen, Man kann ihm wiederum nicht einen zuerkennen." (Angelus Silesius)

Das Erlebnis Gottes in allem Geschaffenen, das bei Ekkehart aus ursprünglich christlich-monotheistischer Anschauung kommt und zu ihr zurückstrebt, bleibt am wenigsten gebunden an eine bestimmte Weltanschauung oder ein positives Bekenntnis und kann dem Aufschwung aus unmittelbarer Daseinserfahrung entspringen: „Du bist die Zukunft, großes Morgenrot über den Ebenen der Ewigkeit. Du bist der Hahnsdirei nach der Nacht der Zeit, der Tau, die Morgenmette und die Maid, der fremde Mann, die Mutter und der Tod . . . " „Du bist der Dinge tiefer Inbegriff, der seines Wesens letztes Wort verschweigt und sich den andern immer anders zeigt: dem Schiff als Küste und dem Land als Schiff." (Rilke, Stundenbudi)

Als Pantheismus kann die Erfahrung Gottes in allen Dingen den Sinn einer bestimmten Weltanschauung annehmen, „als der Glaube an die Allfähigkeit alles Irdischen, Brot und Wein des ewigen Lebens zu werden 1 )", wie Novalis es nannte. Gerade die pantheistische Weltanschauung behält nur einen lebendigen Sinn, insoweit sie von mystischen Kräften erfüllt und getragen ist; denn der Glaube an die Allfähigkeit alles Irdischen, an den Gott in allen Dingen, das "2v xal näv" wird zur leeren Formel, wenn er sich nicht immer wieder in echter Einsfühlung bestätigt. Dieser pantheistische Glaube kann sich noch im Zusammenhang mit dem christlichen Wissen finden wie bei Ekkehart oder Herder, bei Angelus Silesius oder Novalis: *) Novalis, Die Christenheit oder Europa.

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„Er ist der Stern, Er ist die Sonn', Er ist des ew'gen Lebens Bronn, Aus Kraut und Stein und Meer und Lidit Schimmert sein kindlich Angesicht." (Novalis, Geistliche Lieder, VII)

Die ganze Natur wird hier „christusförmig". Die Anschauung des Menschen sammelt sich aber nicht mehr allein auf den persönlichen Gott, sondern sucht die Kräfte kosmischer Einsfühlung in Zusammenhang mit der Erfahrung Gottes zu bringen. Die ganze Schöpfung wird zum Ausdrucksfeld des göttlichen Wirkens, das zugleich als christlicher Glaubensgegenstand verbleibt: „Mittler, Schöpfer, Pfleger bist Du in Allem, Jesus Christ! — . , . . " „Eins in Allem, All' in Ein! Warst und bist und wirst du sein, Du, aus dem die Schöpfung quillt, Du in Allem, Gottes Bild!" (Herder, Die Sdiöpfang)

Eine reine Scheidung ist hier nicht möglich zwischen pantheistischer und monotheistischer Einstellung. Die pantheistische Einstellung kann sich jedoch wie vielfach im Weltbild des deutschen Idealismus verselbständigen. Immer ist in der mystischen Erfahrung das "b> xal näv", das Eins und Alles nicht etwas, das nur außerhalb des Menschen im Universum angeschaut und erfahren wird. Der Mensch selbst befindet sich mit ihm durch alle seine Kräfte nicht nur in Beziehung, sondern auch in Einigkeit. Jeder kleinsten Welteinheit, jeder Monade wohnt, wie Leibniz lehrte, die potientielle Energie inne, sich zum Universum zu erweitern: „Im Innern ist ein Universum a u c h ; . . . " (Goethe, Prooemion)

Der Urkraft, die der Mensch in sich und im Universum fühlt, gibt er den Namen „ G o t t " : „ . . . Daher der Völker löblicher Gebrauch, Daß jeglicher das Beste, was er kennt, Er Gott, ja seinen Gott b e n e n n t , . . . "

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Dieser Gott ist nidit nur äußerste Ursache und weltferne Gewalt: „ . . . Was wär ein Gott, der nur von außen stieße, Im Kreis das All am Finger laufen ließe! Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen." Das Eine, das sich in allem regt, zieht zur Vermählung empor, wir gehen in den letzten Grund des Universums ein, wir vermählen uns mit der „Weltseele": „Weltseele, komm, uns zu durchdringen!" (Goethe, Eins und alles)

Endliches und Unendliches sind nicht mehr zu trennen, das Alleben der Natur strömt in einem einzigen, unnennbaren Grund zusammen. Wir selbst finden uns in der Mitte dieser Bewegung: „ . . . Freue Dich, Schöpfung, und du, Menschenbild, Wirker Gottes, das sie füllt Und verwandelt! — Groß bist du Mittelpunkt in Gottes Ruh1!" (Herder, Die Sdiöpfung)

Die Elemente selbst vereinigen sich in einer einzigen Bewegung zum göttlichen Ursprung: „Und in Kreisen sich zu winden, Muß sich Feuer mit Luft verbinden; Das allein ist Feuers Sehnen, Sich zum Äther auszudehnen; Um den Ursprung auszufinden, Um sich fassend zu ergründen — Muß das Wesen sich entzünden." (Franz v. Baader, Feuer und Luft)

Der letzte Erkenntnisgrund öffnet sich und nimmt uns auf: „Mein Aug1 erhebt sich zu des ew'gen Himmels Wölbung, Zu dir, o glänzendes Gestirn der Nacht! Und aller Wünsche, aller Hoffnungen Vergessen strömt aus deiner Ewigkeit herab.

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Der Sinn verliert sich in dem Anschaun. Was mein ich nannte, schwindet. Ich gebe mich dem Unermeßlichen dahin. Ich bin in ihm, bin alles, bin nur es." (Hegel, Eleusis, An Hölderlin)

Durch die unio mit dem Alleben, dem Weltgeist steht jede Daseinserfahrung in Zusammenhang mit dem ganzen Kosmos: „Du trinkst das allgemeinste Leben, Nicht mehr den Tropfen, der dir floß," (Hebbel, Erleuditung)

Jede Bewegung des Daseins steht in der Unendlichkeit: „Du zählst nicht mehr, berechnest keine Zeit, Und jeder Schritt ist Unermeßlichkeit." (Goethe, Prooemion)

Im Kleinsten und im Größten, im Ich und im Universum regt sich nur e i n e Bewegung und mündet in die Ruhe Gottes: „Wenn im Unendlichen dasselbe Sich wiederholend ewig fließt, Das tausendfältige Gewölbe Sich kräftig ineinander schließt, Strömt Lebenslust aus allen Dingen, Dem kleinsten wie dem größten Stern, Und alles Drängen, alles Ringen Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn." (Goethe, Zahme Xenien, VII)

Mystische Gedichte haben oft über Jahrhunderte und Völker hinweg bis zu wörtlicher Übereinstimmung eine Ähnlichkeit, wie sie in keinem anderen Bereich dichterischer Gestaltung zu finden ist. Dennoch ist auch die mystische Lyrik angewiesen auf die Ausdrudcsmöglichkeiten einer bestimmten Zeit und gebunden an historische Weltbilder. Zeigt sich die mystische Erfahrung als eine bestimmte Erkenntnisform und nicht als eine selbständig wirkende Erkenntnisquelle, so ergibt sich daraus, daß die mystische Erfahrungsweise sich nur innerhalb eines historischen Weltbildes und nicht von

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vornherein jenseits davon auswirken kann, so sehr sie im Letzten und Einzelnen die Schranken eines fest umrissenen Weltbildes durdibredien und in ein Reidi gestalt- und zeitloser, von jedem Bild und Begriff befreiter Wesensversenkung münden kann. Selbst dann, wenn der Mystiker eine völlig bildlose Wesenssdiau erstrebt, kann er dies nur im Gegensatz und Widerstreit zu Bildern und Begriffen, die einmal seine eigenen waren oder die seiner Zeit, auch wenn sie nun nicht mehr die seinen sind. Audi der mystische Weg völliger Abgeschiedenheit, wie er sich etwa in der Folge Meister Ekkeharts im Mittelalter anbahnt, hat zum mindesten seinen Ausgangspunkt in Begriffen des christlich-mittelalterlichen Weltbildes. Der Weg in ein Reich zeitlos versunkener Mystik führt durch die Zeit, in der er beschritten wurde, hindurch. Die Ausdrudcsmöglichkeiten, die mystische Erfahrung in der Poesie findet, sind überdies in viel größerem Maße an die stilistischen und sprachlichen Voraussetzungen einer Zeit gebunden. Dabei zeigt sich, daß gerade die Mystik ihrerseits innerhalb der geistes- und seelengeschichtlichen Bewegungen einer Zeit der Sprache bestimmte Möglichkeiten abringt, die sich dann wieder in anderen Bereichen dichterischer Gestaltung auswirken. Wie etwa die Sprache mittelalterlicher Brautmystik ihren Ausdruck der weltlichen Minnepoesie entleiht, ebenso treibt die mystische Poesie von sich aus sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten hervor, die als besondere Fähigkeit der Aussage esoterischer Gehalte wieder auf jede andere lyrische Sprachgestaltung zurückwirken. Die dichterische Sprache mystischer Erfahrung, so unverrückbar und zeitlos ihr eigentlicher Inhalt sein mag, hat immer auch die Eigenart und die Ausdrucksmittel eines bestimmten Dichters und Volkes und einer bestimmten Zeit. Sie ergreift den besonderen Erlebnisgehalt und Glaubensgegenstand einer Weltanschauung, offenbart eine bestimmte Stufe der Selbstentfaltung des Religiösen und nimmt gleichsam den Wärmegrad und die Farbe an, die der Eros im einzelnen Erlebnis hat.

GESTA LT W A N D E L In der Geschichte religiöser Zeugnisse spricht viel dafür — denkt man etwa an die Literatur Indiens, Persiens oder des christlichen Mittelalters —, daß das Auftreten mystischer Gottes- und Welterfahrung Kennzeichen einer Spätstufe der Bewußtseinshaltung ist, der eine magische, Gott und Umwelt in Bildern beschwörende, in Riten und Dogmen gebundene vorausgeht. Die jüngsten Erfahrungen der Völkerkunde lehren uns jedoch, daß nicht an ein einfaches Nacheinander von urtümlich in Bildern begreifendem, in Bräudien beschwörendem und „ahmendem" Bewußtsein und einem durch mystische Entbildung der Bilder gewonnenen Wissen in Begriffen, an ein Nacheinander vom Schauen und Nachahmen zum Meinen und Bestimmen zu denken ist, sondern an ein Auf und Ab und ein dauerndes Gegeneinander. Für die Gleichzeitigkeit und Oberzeitlidikeit dieser Bewußtseinshaltungen ist der eindringlichste Beweis die dichterische Sprache. Der Dichter ist es, der aus einem Hingegebensein an das urtümliche Bild durch Auslegung und Deutung die erhellende Sprache des Mythos gewinnt, als die „Exegese des Symbols", wie Bachofen den Mythos nennt; er leiht, wenn die unmittelbare Anschauung der Bilder zu ermatten droht, der Umsetzung in reine Erkenntnis seine Kräfte; er ist es aber auch, der in Zeiten zunehmender Begrifflichkeit und Verwissenschaftlichung des Geistes die „Anschaulichkeit" der Begriffe, die urtümliche Fähigkeit des Schauens und die Leuchtkraft der Bilder bewahrt. In der Sprache eines und desselben Dichters können diese Epochen der Kultur — man denke etwa an das Sprachwerk Schillers — ineinanderfließen. Daraus wird dem Dichter die Gnade und Kraft, durch sein Wort den Menschen, alle historischen Bewußtseinseinlagen umgreifend, an den g a n z e n Menschen zu erinnern.

IM O S T E N Ägypten An drei Beispielen seien fürs erste drei Hauptstufen mystischer Erkenntnisform verdeutlicht: Wie mystische Erlebnisform sich noch ganz im Bereich des „homo magus" befinden kann, zeigt die älteste Literatur Ägyptens aus dem Beginn des 3. Jahrtausends vor Christus. In den sogenannten Pyramidentexten wird in wilder bildkräftiger Poesie das Los der seligen auserwählten Toten beschrieben, die nicht in das Vergessen der Unterwelt eingehen, sondern sich den Himmel erobern: "— Er ist zum Himmel gestürmt als Reiher, er hat den Himmel geküßt als Falke, er ist zum Himmel gesprungen als Heuschrecke —" Im Himmel lebt der Selige wie ein Gott; er fährt im Schiffe des Sonnengottes Re, dessen Speisen sind seine Speisen, wie dieser umkreist er den Himmel, die Bewohner der Unterwelt folgen ihm, die Götter des Himmels beugen sich ihm, die Göttinnen säugen ihn, und am Ende vollzieht sich leibhaft und genau die unio von Mensch und Göttern, der Tote frißt die Götter: „ . . . D e r Himmel bewölkt sich, die Sterne regnen; die Bogen bewegen sich, die Knochen des Erdgottes zittern wenn sie ihn sehen, wie er erscheint und beseelt ist als ein Gott, der von seinen Vätern lebt und von seinen Müttern i ß t . . . " „ . . . Er ist der Stier des Himmels, m i t . . . Herzen, der von dem Wesen jedes Gottes lebt, der ihre . . . glieder ißt, wenn sie auf der Insel Nesisi ihren Leib mit Zauber gefüllt haben... Er ist es, der ihren Zauber ißt und ihre Herrlichkeit verschluckt . . .

ÄGYPTEN

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Er gedeiht, und ihr Zauber ist in 9einem Leib, und sein Adel wird ihm nicht fortgenommen. Er hat den Verstand jedes Gottes verschluckt. Seine Lebenszeit ist die Ewigkeit und seine Grenze die unendliche Dauer in diesem seinem Adel eines „Will er J s, so tut er's; will er J s nicht, so tut er es nidit" — immer und ewiglich. Ihre Seele ist in seinem Leib, ihre Herrlichkeit ist bei ihm. Sein Überfluß an Speisen ist größer als der der Götter, und man feuert ihm mit ihren Knochen. — Er ist dieses, das aufgeht und aufgeht, verborgen ist und verborgen — Sein Lieblingssitz ist unter den Lebenden im Lande, immer und ewiglich 1 )." Solch blutig unmittelbare Form der unio mystica findet immer wieder in den die Milde der Gesittung durchbrechenden östlichen Mysterienkulten und in dionysischen Ekstasen ihre Wiederholung, in den wollüstigen Traumbildern und der kühnen atavistischen Psychologie romantischer Dichter ihre Erinnerung. „Alles Fressen ist ein Assimilationsprozeß 1 )", so kommentiert Novalis solche Vorgänge. „Was wir hier T o d nennen, ist eine Folge des absoluten Lebens, des Himmels — daher die unaufhörliche Zerstörung alles unvollkommenen Lebens —, diese fortwährende Verdauung, dieses unaufhörliche Bilden n e u e r F r e ß p u n k t e — neuer Mägen —, dieses beständige Fressen und Machen — Absolutes Leben — , absolutes Genießen. Jede soll zum Himmel werden*)." Den Übergang zu anderen späteren Aussageweisen des Mystischen, wie etwa bei den Persern, verdeutlicht es, wenn der gleiche Novalis „die Flamme das Gefräßige Kat J exodien" 4 ) nennt. Im gewaltigen Raum der ägyptischen religiösen Literatur vollzieht sich allmählich die Verwandlung der Vielheit der Götter in die Allheit eines Gottes. So gibt uns das große ägyptische Totenbuch der 18. bis 20. Dynastie einen Einblidc in die sich gegenseitig übergreifende Vielheit der Götterwelt mit den ') ) *) ) Kritik der Urteilskraft, I. Teil, 1. Absdin., § 49.

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Um sich dem fernsten und größten Geheimnis zu nähern, wagt sich der Dichter in die kühnsten Weisen der Vergegenständlichung vor, und dabei ist ein bestimmter Vorgang des „Umschlags" des Größten mit dem Kleinsten bezeichnend. Gott als Alles in Einem und Gott als das Eine in Allem sind die beiden Möglichkeiten, ihn zur Anschauung zu bringen. Neben dem „Gott gründt sich ohne Grund und mißt sich ohne M a ß " steht das: „Kein Stäublein ist so schlecht, kein Stüpfchen ist so klein Der Weise siehet Gott ganz herrlich drinne sein." (Angelus Silesius)

Entweder spricht der mystische Dichter von der Unfaßlichkeit Gottes und hebt ihn über jede Erfahrung, oder aber — und dies wird ihm eben nur in der Weise mystischer Erfahrung möglich, die ihn in die Geschaffenheiten als unendliche Gefäße Gottes zurückverweist — Gottes Dasein ist im Dasein auch der ranguntersten Wesen zu finden und enthalten. Aber nur in diesem Zusammenhang gewinnt das Gegenständliche der mystischen Lyrik mehr als den Charakter des bloßen Vergleichs, der Allegorie, und wird zum echten Symbol, in dem Wahrgenommenes und Gemeintes völlig eins sind: „In einem Senfkörnlein, so du's verstehen willst, Ist aller oberen und untern Dinge Bild." (Angelus Silesius)

Den gleichen Schwierigkeiten wie die Beschreibung vom Wesen und Walten Gottes als solchem begegnet die Beschreibung des mystischen Erlebens Gottes als Aufhebung der Spannung zwischen Mensch und Gott. Mag die Schilderung der unio die Form einer anstedcenden Suggestion annehmen oder einsame Selbstvergewisserung sein, mag sie in Schweigen oder Gebet münden oder Anlaß zu sinnlich farbiger Beschreibung der letzten Dinge werden, mag in ihr das ästhetische Vermögen getilgt oder freigegeben werden, mag sie als „Kontrafaktur" in ihrer gegebenen Form früher sein als der mystische Inhalt, dessen sie sich erst bemächtigt, oder mag sie sich von vornherein als unbeschreibbar jeder ästhetischen

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Erfassung entziehen und nur im Versagen der Sprache deutlich werden: immer bleibt die Schwierigkeit der Kundgabe eines Erlebnisses, das zwar genannt werden kann, aber im Nennen „fest-stellen" und vereinzeln muß, was nur als transzendierender Gehalt seine Wahrheit behält. Die Einigung mit Gott muß, mag sie sidh des nüchternen Ausdrucks der lehrhaften Richtung oder des zügellos symbolischen des emphatisch erlebenden Mystikers bedienen, diesen Gott als ein Objekt (als objectum) schildern, wenn sie seinen Namen nennt, und ihm damit einen festen Umriß geben, den er in der mystischen Einigung (als injectum), doch gar nicht mehr hat. Mit der Sprache steht der Mensch eben immer wieder außerhalb seines eigentlichen Erlebens; sein Erleben selbst besteht ja darin, daß der durch die Sprache erfaßte und erfaßbare Bedeutungsgehalt menschlichen Erlebens in unvergleichlicher Weise verlassen ist. Erst im verzichtenden Entraten von allem Sprechen wird das Eigentliche sichtbar: „ D a z einez, daz ich meine, daz ist wortelos Ein und ein vereinet da liuhtet bloz in bloz." (Ekkehart, Vom übersdiall)

„und der süße Herzensklang müsse bleiben, denn das vermag keine irdische Hand zu beschreiben." (Mechthild, Von der Klage der minnenden Seele)

„Doch sind es Bilder nur, Bis man's erfährt und tut: Ich laß die Bilder dar Und mich ins Wesen wende; Mein Leser tu es auch, Dies ist des Lesens Ende." (Tersteegen, Beschluß)

Auf dem Wege von sprachloser Versunkenheit zu beschreibender Kundgabe verliert der Dichter die einmalige Besonderheit seines Erlebens, weil er sich in den Bereich des allgemein Erlebbaren zurückbegeben muß: „der Buchstabe tötet und der Geist macht lebendig." Nicht nur, daß die Sprache zu arm und allgemein ist, um das Eigentliche zu sagen, sondern

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auch, daß sie nur zur N e n n u n g grundsätzlich anderer Erfahrungen geschaffen erscheint als mystischer, das ist die Q u a l des religiösen wie besonders des mystischen Dichters. K o m m t es dem Dichter darauf an, nicht nur Bezeichnungen von Dingen und Erlebnissen z u finden, sondern zugleich d a s L e b e n der Dinge selbst vorzuführen, so geht auch die Bemühung des mystisch religiösen Dichters darauf, nicht nur die rechte Bezeichnung Gottes zu finden, sondern gleichzeitig die Gewißheit seines Wirkens zu übermitteln, ihn in der Sprache Leben gewinnen zu lassen. Unterscheidet sich wahre Dichtung von der unwahren dadurch, daß in ihr Gott nicht nur genannt ist, sondern lebendige Gegenwart gewinnt, so kann d a f ü r , daß dieser G o t t wirklich G o t t ist, die Sprache an sich kein U n t e r p f a n d bieten. Letzter M a ß s t a b der Wahrheit kann nur die Frage nach der seelischen Wirklichkeit, der dichterischen K u n d g a b e , aber nicht die nach der religiösen Gewißheit des Dichters sein. D a s „ W i e " der K u n d g a b e gibt Zeugnis für die Ehrlichkeit und Sachgerechtigkeit der Auslegung mystischen Erlebens und seiner Wirklichkeit, nicht aber für die religiöse Heilsevidenz des Dichters selbst. Die Wahrheit eines mystischen Gedichts wird nicht im Widerspruch zu der Vollkommenheit der poetischen Gestaltung stehen können. Als Einklang von T h e m a und T o n fällt die Wahrheit eines Gedichtes zusammen mit seiner poetischen Vollkommenheit. Nicht in der unmittelbaren Ergreifung des göttlichen Geschenkes, sondern in der Auffindung der Beschwörungsformel für das eigene Erleben liegt die Aktivität des mystischen Dichters, der sich darin grundsätzlich vom radikalen Mystiker unterscheidet. Insofern es dem Dichter gelingt, sein Erleben in stimmungshaltige Sprachgestalt zu verwandeln, hat er seine Wahrheit verwirklicht. Nicht im G a n z e n seiner Lebensführung, sondern in der Vollkommenheit der Ausformung seines Erlebens im Kunstwerk hat er seinen M a ß s t a b . J e d e Frage, die über die Gestalt seiner Sprache hinaus will, greift ins Leere. J e poetisch vollkommener das mystische Gedicht ist, um so mehr bewirkt es beim Nacherlebenden eine echte mystische Bewegung, um so mehr kann jedoch der Dichter selbst die Richtung seines ursprünglichen Erlebens geändert

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und der dichterischen Geburt zugewendet haben. „Das ist die seltsame und paradoxale Natur der Poesie: E i n G e b e t , das nicht b e t e t , a b e r b e t e n macht1)-" „Was als menschliches Weltverhalten hinter einer Dichtung steht, oder was als Gesinnung in ihr beteuert wird, das ist völlig belanglos, sofern es nicht verwandelt ist in Sprachbewegung und Sprachgestalt. Die erste Frage, die der ästhetischen Redlichkeit, hat zu sein und zu bleiben: gestaltet oder nidit-gestaltet? beschworen oder nicht-beschworen? Wenn aber die Sprache gleichsam ja gesagt, wenn das Wunder der gültigen Bannung sich ereignet hat, dann allerdings gewinnt die verdichtete Wesenshaltung als solche Entscheidungskraft 2 )." Die Seinstiefe, die in einem Gedicht aufbricht, gewinnt nur Bedeutung, wenn dieses Aufbrechen sprachlich verwirklicht ist; dann allerdings, wenn einmal die Frage nach der Echtheit der Gestaltung nicht mehr laut wird, kann die Bedeutsamkeit des Inhaltes als solche für die Bewertung ins Gewicht fallen. Allgemeine Normen für die Echtheit der Gestaltung lassen sich nicht aufstellen. Sie ist dem Urteilsvermögen des in der dichterischen Sprachgestalt nacherlebenden Lesers anheimgestellt. Das vollkommene mystische Gedicht ist selten. Die an sich über jede Durchschnittlichkeit erhobene inhaltliche Bedeutung mystischer Lyrik ist sehr oft durch die Art der Gestaltung der Fragwürdigkeit überantwortet worden. Freilich muß man hier sehr vorsichtig in der Beantwortung der Frage, ob echt oder unecht, sein. Man ist leicht geneigt, die sinnliche Ausdrucksgewalt mystischer Lyrik als verräterisches Zeichen mangelnder Redlichkeit und Sachgerechtigkeit anzusehen. Das leidenschaftliche Erfassen des Geistigen und übersinnlichen muß jedoch gerade im Sinnlichsten den angemessenen Ausdruck finden. Entspringt doch auch unsere alltägliche Sprache weitgehend einem Gestaltungsvorgang, der sich nicht weit entfernt zeigt von der Ausdrucksform eines mystischen Gedichts. Wenn wir von „brennender Sehnsucht", „verzehrender Angst", „glühender Liebe", „heißem Verlangen" sprechen, wenn wir *) Henri Bremond, Mystik und Poesie, a. a. O., S. 222. ) Joh. Pfeiffer, Umgang mit Dichtung, a. a. O., S. 57.

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Worte wie „Inbrunst", „Entzücken" gebraudien, so liegt dem ja auch eine ursprüngliche Verbindung sinnlicher und abstrakter Bedeutungsinhalte zugrunde, die wir uns im einzelnen gar nicht mehr klarmachen. Gerade der mystischen Dichtung bleibt es vorbehalten, immer wieder das Metaphysische und Geistige sinnenhaft gegenwärtig zu machen und den Kreis der leibhaftigen Vergegenwärtigung des Unanschaulichen zu erweitern. Erst wenn diese schöpferische Kraft nicht mehr bis in die Umgangssprache hineinwirkt und andererseits die lebende, allen gemeine Sprache nicht mehr bis in die Sphäre religiöser Dichtung emporgetragen wird, fallen die esoterischen Gehalte mystischer Sprache und die des allgemein zugänglich werdenden Erlebens unvereinbar auseinander. Erst dann wird die Sprache mystischer Dichtung von vornherein in ihrer Echtheit und Ehrlichkeit bezweifelt und andererseits dem einfachen bindenden W o r t nicht mehr die Aussage für das Innerlichste und Erhabenste abgerungen. In diese Wechselbeziehung ist das Sprachvermögen der mystischen Dichtung in gleicher Weise wie die Ausdrudesfähigkeit der allgemeinen Sprache einbezogen. Die deutsche Sprache erweist sich als hervorragend geeignetes Organ zur Kundgabe mystischen Erlebens. Das Verdämmern und Entschweben der Sinne, die Stillegung des äußeren und die Befreiung des inneren Sinnes, das nächtlich Schaurige und das Unbegreifliche und Wunderbare, das überwirkliche und das rätselhaft Vertraute der begleitenden Zustände mystischer Erfahrung, das Metaphysische des Seins und der Bewegungen im Seeleninneren, das Heimlichste und Geheime des Herzens wie das Hintergründige, Fragwürdige, das unergründlich Tiefe und unerschöpflich Bedeutungsvolle der mystischen Ahnungen, Gesichte und Einblicke, das Schaudern und Beseligtsein durch die Gnade, Klang und Farbe der Erregungen in letzter Seinstiefe offenbar zu machen, ist besonders der deutschen Sprache gegeben, so wie es dem deutschen Gedichte besonders auferlegt ist, die Kräfte mystischer Welt- und Jenseitsergreifung zu bewahren und immer aufs neue zu befreien. Die deutsche, insbesondere die mittelhoch-

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deutsche Sprache zeigen sich in unvergleichlicher Weise fähig, die zartesten und feinsten Seelenregungen, die schwierigsten und differenziertesten geistigen Vorgänge, dunkle Tiefe und schwebende und verdämmernde Stimmungen und Zustände zum Ausdruck zu bringen. Mit dem Absinken des Mittelhochdeutschen, das zumal der mystischen Prosa und Poesie die Befreiung seiner innersten und zartesten Ausdruckskräfte verdankt, gingen Möglichkeiten unmittelbar bergender und bindender Sprachformen zur Kundgabe mystischer Einsichten und Erlebnisse für immer verloren. Man denke nur an eine so symbolhaltige und unmittelbar anschaulich werdende Sprachform wie das mittelhochdeutsche „Icht" und „Nicht". Der Umschlag äußerster Gegensätze, wie ihn die mystische Erkenntnis bewirkt, ist hier schon sprachlich in unauflösbarer Anschaulichkeit vorgegeben. Ein Scheffler greift diese Möglichkeit noch einmal auf, ohne sie zu der ursprünglichen Aussagekraft verdichten zu können. Goethe sagt mit den Worten des Satyros das gleiche in neuerWeise: „Wie im Unding das Urding erquoll." Um bisher ungenannte Seelenregungen zur Sprache zu bringen, mußte der Stoff der Sprache verwandelt, mußte der Geltungsbereich von Worten, die nur sinnliche Bedeutung hatten, ins Geistige erweitert werden. Unter dem Zwang zur Anschaulichmachung des Ubersinnlichen und Abstrakten entrang die spätmittelalterliche Mystik der deutschen Sprache wie kaum eine andere Seelen- und Geistesbewegung einen plötzlich und allseitig anschwellenden Reichtum an Wortbedeutungen. Die deutsche philosophische Sprache und ihr begriffliches Ausdrucksvermögen gewann aus dieser Zeit ihren eigentlichen und unverlierbaren Reichtum. Sprachliche Neuschöpfungen sind freilich in dieser Spätzeit kaum zu finden; um so größer ist der Bereich der Umbildungen und Verwandlungen des ererbten Sprachschatzes. Die Sprachgeschichte erweist sich auch hier als sicherer Wegweiser der Seelengeschichte. In dem Bestreben der Vergeistigung des Sinnlichen — die wesensgemäß Hand in Hand geht mit der Versinnlichung des Geistigen — nehmen Worte wie „begreifen",

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„einleuchten", „entdecken", „Eindruck" erst eine geistige Bedeutung an. W i e das Wort „Begriff" selbst, so entstehen in dieser Zeit die wichtigsten Worte zur Bezeichnung des Abstrakten, vornehmlich Abstrakta auf -„ung" und -„heit", wie „Wesenheit", „Eigenheit", „Wirklichkeit", „Empfindung", „Betrachtung", „Anschauung"; dem emphatischen Erleben verdanken wir die zahlreichen Wortbedeutungen zur Beschreibung des Unaussprechlichen und überwältigenden, die vielen Worte mit dem Präfix „un" und „über". Der W e g der „Ver-senkung" zur „Ge-lassenheit" und „Er-gebung", der innerlichen und innigen „Empfindung" Gottes, das Ergrübein seiner „übernatürlichen Eigenheit", die „Ent-zückung" in der „Vereinigung": um dies alles durchs Wort zu erlösen, mußten der Sprache erst die Worte entrungen werden. Manche dieser Worte wie etwa „Gelassenheit" sind dann wieder zerredet worden und abgesunken von der Höhe dringlicher und tiefinnerlicher religiöser Verlautbarung 1 ). Erneuerung und Bereicherung dieses Sprachschatzes bleibt dann auch immer an die Erinnerung dieser Seelenbewegungen geknüpft. In Predigten und Traktaten wurden im späten Mittelalter diese Worte dem Volk in unermüdlicher Wiederholung gleichsam eingehämmert und ihr esoterischer Bereich auf die Gemeinde erweitert. Der lyrischen Sprachgestalt mußte es vor allem vorbehalten sein, ihre Gefühlswärme und Unmittelbarkeit, ihre Anschaulichkeit — auch in bildloser Sprache — zu bewahren. Gerade die unmittelbare, bildlose Aussprache metaphysischer und ekstatischer Erlebnisse ist eine besondere Leistung der deutschen mystischen Lyrik, mag sie hinter der suggestiven Magie, dem „Reizen" durch Bilder und Klänge der romanischen Lyrik oft weit zurückstehen. Die Sprache der Poesie ist darauf aus, das, was sie aussagt, nicht nur zur Kenntnis zu bringen, sondern auch im Sprachleib selbst anschaubar zu machen. Der Logos ist nicht ohne das Melos, der Gehalt nicht ohne die Gestalt; eines ist im anderen. Das Gelingen der bannenden Beschwörung ist nahezu un' ) Vgl. Otto Zirker, Die Bereicherung des deutschen Wortschatzes durch die spätmittelalterliche Mystik, Jena 1923.

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abhängig von den in der Sprache an sich gegebenen Möglichkeiten. Diese sind nur der mehr oder weniger gefügige Stoff der Gestaltung. Auch das Lateinische wurde verwandelt und angeeignet von deutscher sprachschöpferischer Kraft. Der Genius schafft erst die neuen Möglichkeiten. An einem Grenzfall dichterischer Gestaltung, der „mystischen Lyrik", erkennt man deutlich die voraussetzungslose Schöpferkraft des dichterischen Genius, der auch das Unanschauliche anschaulich, das übervernünftige deutlich und das übersinnliche sichtbar machen kann und alles dies dem gesammelten und unvoreingenommenen Nacherleben zu wirkender Gegenwart bringt. Im Sinn von Rilkes „Und auch noch das Vernichtende wird W e l t " vermag der Dichter die „theologia negativa" in strahlend positive Kundgabe zu verwandeln. In mystischer Lyrik wird emphatisches Erleben und mystischer Geist in konkreter Einmaligkeit dem Nacherleben zugänglich und zwingt einzutauchen in diese außergewönliche Weise, in der Welt zu sein. W o Mystik und Apokalypse ist, da ist Lyrik. Epos und Erzählung setzt das Pathos der Distanz, irdische Kontinuität des Werdens voraus, während in mystischer Ekstase jede innerweltliche Entwicklung zusammengedrängt und die Zeit gleichsam angehalten und in einen dauernden zeitlosen Augenblick übersetzt erscheint. Die Welt des Dramas ist immer auch die Welt sittlicher Entscheidung und tragischer, das heißt handelnder Katharsis, während mystischer W e g an untragische Katharsis glaubt. Der Mystiker verläßt die Vertrautheit der Welt, erhebt sich aus sinnlicher in unanschauliche Schönheit und kehrt vielleicht in eine verklärte Welt zurück. Der Magier und Enthusiast verläßt die Spannung zwischen Ich und Welt nicht und dringt nicht durch die Form der Dinge hindurch. In einer Bemerkung zu Plotin drückt Goethe den Antagonismus beider Prinzipien so aus: „Man kann den Idealisten (das heißt hier Mystikern) nicht verargen, wenn sie so lebhaft auf Beherzigung des Einen dringen, woher alles entspringt, und worauf alles wieder zurückzuführen wäre. Denn freilich ist das belebende und ordnende Prinzip in der Erscheinung dergestalt bedrängt, daß es sich kaum zu retten weiß. Allein wir verkürzen uns auf der anderen Seite wieder, wenn wir das Formende und die höhere

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Form selbst in eine vor unserem äußeren und inneren Sinn verschwindende Einheit zurückdrängen." W i e der Geist und die Seele, so ist die Sprache in mystischer Lyrik auf die äußerste Probe gestellt und dem Abgleiten ausgesetzt. Sie gibt von etwas Kunde, das in einem reden und schweigen heißt. „Was sollen wir, nicht redend und nicht schweigend?" sagt Augustin. „Erhebet die redelose Stimme eurer Wonne und schüttet aus vor ihm die Fülle eurer Freuden!" Es ist die Stelle, wo sich aus einer Urnötigung der lyrische Laut erhebt und wo wiederum die Sprache verstummen muß vor dem unnennbaren Geheimnis. Die Sprache ist nirgends nötiger, um das Ungeheuerliche zu bannen, um die Gestalt des Menschen vor völliger Auflösung zu bewahren und ihn zu heilen von überwältigendem Ausgesetztsein. Sie ist nirgends gefährlicher als verführerische Zauberkraft, die das Heilige und Unsägliche ins Dämonische verwandelt und das Geheimnis an den Mißbrauch verrät, anstatt es zu bewahren. Sie hat die Gefahr zu meiden, das Unvergleichliche unangemessen zu verdeutlichen, das Unauslegbare im plumpen Denkbild zu vereinfachen. Zwischen den Gefahren des Sophismus und des Allegorismus findet das vollkommene mystische Gedicht seinen Weg. Je mehr und je dringlicher der Dichter nur seine Sache will, um so reiner wird auch sein Dichten sein, und je mehr er nur das Dichten will, um so mehr entzieht sich ihm das Letzte und Eigentliche seiner Sache. Schönheit ist hier das Anschaulichwerden innerer Bedeutung, der sich der rechte und zwingende Ton in den Mund legt. Sie wird sichtbar im lauten Jubel des übervollen Herzens und tief ergriffenen Geistes ebenso wie im Verstummen vor dem Unmaß des Andrängenden und der Entzückung als der Gebärde einer sich vor sich selbst verhüllenden Scham. Die Geburt selber und die Verwandlung des mystischen Erlebens in das Tun der Sprache ist unseren Blicken entzogen. Wir können nicht einmal unterscheiden, ob die Bilder mystischer Sprache ursprünglich mystischen Visionen oder erst der Aktivität des Dichters entstammen. W i r haben im Geborenen das Ziel. Metaphysische Wirklichkeit wird in dem Maße wirkend, als sie in den atmenden Leib der Sprache geboren

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ist. Erst in der Sprache wird der Liebesdrang des Mystikers für den Mitmenschen fruchtbar. Aus Liebe, und das heißt in fruchtbarer Überwindung seiner Scham, beginnt der Dichter zu singen, und in tiefstem Betretensein verhüllt er die Überfülle seines Herzens in der offenbarenden Gebärde des Verschweigens. — „Der Schleier ist für die Jungfrau, was der Geist für den Leib ist, ihr unentbehrliches Organ, dessen Falten die Buchstaben ihrer süßen Verkündigung sind; das unendliche Faltenspiel ist eine Chiffermusik, denn die Sprache ist der Jungfrau zu hölzern und zu frech, nur zum Gesang öffnen sich ihre Lippen 1 )."

*) Novalis, Die Christenheit oder Europa.

WAHRHEIT

UND

W I R K L I C H K E I T

Das Erlebnis der unio mystica ergreift mit so unmittelbarer Gewalt, daß der Dichter es oft nur durch Vergleich mit dem elementarsten Erleben irdischer Vereinigung zu beschreiben vermag. „Nachdenklicher circulus vitiosus menschlichen Bemühens, das des übermenschlichen habhaft werden möchte! Diese Mystiker, so deutlich auch unter ihrer erotischen Symbolik sehr menschliche Regungen hindurchschimmern mögen, haben es doch im Kernpunkt auf g e i s t l i c h e Realitäten abgesehen, daran ist kein Zweifel. Daß sie aber zur Darstellung der unio mystica kein Gleichnis lieber anwenden als das der liebeglühenden Umarmung, daß sie jenes abstrakteste, spirituellste aller Erlebnisse gerade durch das sinnlichste, konkreteste, leibhaftigste ausdrücken wollen und immer wieder in Situationen irdischer Minne schwelgen, wo sie doch ein Metaphysisches, nur durch radikale Entsinnlichung Erreichbares meinen, — das ist ein Problem, dessen Entwirrung man verständnisinniger und mit wacherem Sinn für eine der aktuellsten religiösen Aufgaben versuchen sollte, als es meistens geschieht 1 )." Wollte man angesichts der erotisch gefärbten oder zutiefst erotisch bewegten mystischen Lyrik nur von „Verdrängungen" des irdischen Liebestriebes reden — wie dies eine in mehr oder weniger betontem Zusammenhang mit der Psychoanalyse stehende und zur Erfassung metaphysischer Wirklichkeiten unfähige Psychologie vielfach versucht —, so würde man damit ihren Sinn und ihr eigentliches Ziel ebenso verfehlen wie die umfassende menschliche Ganzheit und Erlebnisweite, die sich gerade in ihr kundgibt. Mag man im einzelnen Spuren einer dies vor sich selbst nicht gestehenden und sich in geistlichem Gewände versteckenden sinnlichen Erregbarkeit, die sich ein falsches Ziel sucht, finden, man ' ) Schulze Maizier, Mystische Dichtung aus sieben Jahrhunderten, a. O., S. 20.

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kann in den großen Schöpfungen mystischer Lyrik das Wirken des Liebestriebes nur als echte Bewegung zu einem höchsten Ziel hin verstehen, als das Walten eines Triebes, der von allen menschlichen der umfassendste ist. Von elementarer Sinnlichkeit bis zu platonischer Ideenliebe und geistlicher Minne, von dunkler Trieb- und Rauschekstase bis zur hellen Ideenmystik, vom leidenschaftlichen Begehren bis zur segnenden Milde vollzieht sich in der mystischen Erfahrung ein lebendiger Ausgleich, eine stetige Verwandlung und Übersetzung, die L i e b e als einheitlichen Beweggrund durchscheinen läßt und all ihre Äußerungsformen ineins sammelt. Mag diese Liebe wie bei Herder, Goethe, Novalis kosmische Ausweitung erfahren, mag sie wie in der Christusminne alle Kräfte auf die leibhafte Gestalt Gottes sammeln, mag sie wie in der Mystik Ekkeharts oder des „Cherubinischen Wandersmanns" als Streben getilgt sein und einer wohlwollenden Gelassenheit weichen: all unsere Neigungen und Triebe sind in ihr einsgeworden und streben im Akte der unio zur Besitzergreifung ihres letzten Zieles. Aus dem Mysterium der Einigung kann sich eine höchste Sinngebung aller menschlichen Regungen erheben: „Alle unsere Neigungen scheinen nichts als angewandte Religion zu sein. Das Herz scheint gleichsam das religiöse Organ. Vielleicht ist das höhere Erzeugnis des produktiven Herzens nichts als der Himmel 1 )." Jede absolute Empfindung kann so zur Einigung mit dem Höchsten führen. Aus der mystischen Schau des Alleinen kann in die Welt der Mannigfaltigkeit ein verklärendes Licht fallen. Aus Weltenthobenheit wird Welterhebung; aus Entrücktheit beseligende Rüdekehr, aus der Nacht des "[xveiv" Durchleuchtung alles Irdischen. Alles Irdische kann nun „Brot und Wein des ewigen Lebens" werden. Aus letzter Abgeschiedenheit wird äußerste Weltoffenheit, aus Weltferne Weltseligkeit; das Viele mußte dem Einen weichen, um dann wieder in allem zu sein: „coincidentia oppositorum". Auch das Rangunterste und Sinnlichste kann in und nach der Einung aufgenommen werden in die Ergreifung des „summum bonum". Als „himmlische Wollust" ') Novalis, Ausgabe Kludchohn, III, 277.

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ist die irdische nicht verdrängt, sondern einbezogen in das Wirken aller Kräfte. Nietzsche hat unter Berufung auf Novalis diesen Vorgang ins Auge gefaßt, indem er davon spricht, daß der Seelenzustand des Heiligen sich aus Elementen zusammensetzt, „welche wir alle recht wohl kennen, nur daß sie sich unter dem Einfluß anderer als religiöser Vorstellungen anders gefärbt zeigen", ein Seelenzustand, den er bezeichnet als „eine seltene Art von Wollust, die er (der Heilige) begehrt, aber vielleicht jene Wollust, in der alle anderen in einen Knoten zusammengeschlungen sind" 1 )- Nicht „Verdrängung", sondern Sammlung der Neigungen bewirkt in diesem Sinne mystische Erfahrung. Liebe als Urgrund dieser Erfahrung drängt zur Einverwandlung in ein einmalig und unersetzlich Werthaftes. Sie hat die Kraft, die auseinanderfallenden Einzelheiten aller Erscheinungen in einen einheitlichen Bezug zu sammeln und die zerstreuten Kräfte und Neigungen in einen einzigen hinanziehenden Akt aufzunehmen. Sie ist Selbsterfüllung in Selbsthingabe. Liebe ist das Urmaß mystischer Erfahrung. Liebe schützt davor, daß aus der „docta ignorantia" und dem Streben zur „coincidentia oppositorum" leere Dialektik, aus dem Glauben an das „Icht" im „Nicht" glaubensloser Nihilismus wird, aus gläubiger Entrücktheit lüsterne Selbstberauschung, aus übersinnlicher Leidenschaft ein Abgleiten in sinnliche Selbstberauschung, aus lauterem Bekennen und religiösem Ernst darstellungssüchtige Selbstentäußerung und ästhetische Unverbindlichkeit. In heller Gewissenswachheit hat Novalis den in der echten Ekstase erfaßten jenseitigen W e r t und Inhalt von der liebeleeren Inhaltslosigkeit des sich selbst genießenden Rauches geschieden: „Es kann kein Rausch sein — oder ich wäre nicht Für diesen Stern geboren — nur so von ohngefähr In dieser tollen Welt zu nah an Meinen magnetischen Kreis gekommen . . . *) Menschliches, Allzumenschliches, Drittes Hauptstück § 142 „Das religiöse Leben".

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Soll ich getrennt sein ewig? — ist Vorgefühl Der künftigen Vereinigung, dessen, was W i r hier für unser schon erkannten, Aber nicht ganz besitzen konnten — Ist dies auch Rausch? so bliebe der Nüchternheit, Der Wahrheit nur die Maske, der T o n , und das Gefühl der Leere, des Verlustes U n d der vernichtigenden Entsagung. Du bist nicht Rausch — du Stimme des Genius, D u Anschaun dessen, was uns unsterblich macht, Und du Bewußtsein jenes Wertes, Der nur erst einzeln allhier erkannt wird." (Es kann kein Rausch sein)

Vielleicht mag man einwenden, daß es eine erhabene Selbsttäuschung ist, wenn der Gott, mit dem sich der Mensch vereinigt glaubt, vielfach doch nur der Inbegriff des Strebens dieses einzelnen Menschen ist, ein Gott, der so groß ist, wie ihn eben dieser Mensch fassen, und so geartet, wie er ihn wünschen k a n n : „Du gleichst dem Geist, den du begreifst." O h n e über die theologische Richtigkeit und die religiöse Heilsgewißheit mystischer Gotteserfahrung ein Urteil zu fällen, ist jedoch zu sagen, daß jedes Menschen Gott nur der G o t t ist, den er begreift, oder der Gott nach dem M a ß e des Ihn-nicht-mehr-Begreifenkönnens. Gerade die mystische Erfahrung läßt es nicht zu, um den bloßen Namen dessen zu streiten, dem sich der Mensch zu einigen strebt. W e n n ein Mensch Gott sagt, dann kann man ihm das Recht zu dieser Bezeichnung erst abstreiten, wenn er offensichtlich einen Götzen meint, das heißt einen toten Gott oder etwas, das er zum Letzten macht, was für i h n jedoch nicht das Letzte ist. W e n n der Mystiker von einer Einigung mit seinem Gotte spricht, so ist entscheidend für uns das Erlebnis als solches, als etwas Wirkliches und durch Mitteilung wirkend Gewordenes. Gerade mystische Lyrik kann alle subjektive Willkür getilgt erscheinen lassen, indem der Mensch seinen eigenen Maßstab durch das M a ß Gottes überwunden sieht.

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Die „Wahrheit" mystischer Dichtungen kann hier nur nach dem Maße ihrer sprachlichen Verwirklichung und nidit im Hinblick auf ihre religiöse Heilsevidenz befragt werden. O b das mystische Erleben des Dichters einer realen Vereinigung mit Gott oder nur einer Selbsttäuschung entspringt, die Frage nach der „objektiven" oder der metaphysischen Richtigkeit mystischer Erlebnisse kann uns hier nicht beschäftigen, sondern nur die Frage nach der dichterischen, das heißt sprachlich verwirklichten Wahrheit seelischer Wirklichkeiten, wie immer im religiösen Sinne das Heil des Menschen durch die mystische Erfahrung gewährleistet sein mag, welche psychologischen, philosophischen und theologischen Einwände immer zu Gunsten oder Ungunsten einer real vollziehbaren unio von Mensch und Gott sprechen mögen. Die Erfahrungen des mystischen Dichters waren als solche einmal wirklich. Indem sie in der Gestalt dichtender Rede dem Nacherleben nahegebracht sind, lassen sie sich vom Standpunkt einer anderen als der in der dichterischen Sprache nacherlebenden Wahrheitserfassung nicht widerlegen oder als ein Irrgarten von Täuschungen abtun. Darin, daß einmalige Bewegungen und Erschütterungen der Seele in gleicher Einmaligkeit nacherlebbar geworden sind, besteht die Wahrheit dichterischer Aussage. In dem Maße, wie Erleben und Kundgabe deutlich auseinanderfallen oder gar sich gegenseitig aufheben, ist diese Wahrheit zerstört. Trotz des vielfach fragwürdigen Ausdrucks, den mystisches Erleben in mystischer Dichtung gefunden hat, trotz des häufigen Abgleitens mystischer Dichtung in bloße Didaktik oder den Selbstgenuß psychologischer Erfahrungen, der kein eigentliches Ziel, sondern nur eine undurchsichtige, in sich selbst kreisende Bewegung erkennen läßt, trotz der zuweilen sich selbst auflösenden Ungesichertheit mystischer Erfahrungen, der Flüchtigkeit, Unvergleichbarkeit und Unfaßlichkeit, die der Mystiker oft in seinem eigenen Erleben findet, trotz des letztlich paradoxen Charakters der sprachlichen Verlautbarung läßt sich in einzelnen mystischen Gedichten und in der mystischen Lyrik im ganzen eine in jedem Falle seelisch wirkliche Bewegung erkennen, deren Ziel und Inhalt leugnen, sich der Nötigung dichterischer Sprache entziehen hieße.

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Durch die vielfach zeitgebundene S y m b o l i k und Allegorik mystischer Dichtungen hindurch, jenseits von mystisch ergriffenen, weltanschaulichen und dogmatischen Bindungen und W e l t b i l d e r n gilt es, das Mystische als eine Urfähigkeit des Menschen zu erfassen, die in dichterischer Sprache wechselnden und jeweilig historisch und individuell gebundenen Ausdruck, aber gleichzeitig überzeitlich geltende W i r k u n g gewonnen hat. In der mystischen Erfahrung ringt der Mensch um Befreiung der innersten Kräfte und um T e i l n a h m e an den höchsten Erkenntnissen. G e r a d e weil nur die höchste und äußerste „Spitze der S e e l e " erspüren und berühren kann, was das Hödhste und L e t z t e ist, gerade darum ist die mystisch erlebende Seele so vielen T r ü b u n g e n , Schwankungen und plötzlichem Sturz in Ö d e und Verzweiflung oder in Selbstberauschung ausgesetzt. W e i l das mystische Erleben so unaussprechlich ist, gelingt so selten die gültige dichterische G e staltung. D i e seelischen Verirrungen und das Versagen der künstlerischen Gestaltung in so vielen mystischen Gedichten gibt jedoch angesichts der menschlichen Eindeutigkeit und künstlerischen Vollkommenheit anderer wirklich wahrer und geglückter Gedichte kein Recht, die mystische Lyrik als grundsätzlich künstlerisch unvollendbar oder in ihrer Aussage notwendig zwiespältig zu bezeichnen. N u r grenzenloser Relativismus oder endgültige Befangenheit in unfrommem und ungläubigem Positivismus kann übersehen, daß in der mystischen Lyrik ein zutiefst schöpferisches und zeitlos gegenwärtiges Vermögen des Menschen rege ist, das ihn zu lösen weiß von der Roheit irdischer Befangenheit und seine Kräfte entbindet zur Ergreifung dessen, was das L e b e n im Innersten zusammenhält. Im einzelnen Fall ist echte mystische Ergriffenheit scharf zu scheiden von jener Pseudomystik, in der sich eine trübe und haltlose Ichbefangenheit auslebt und ein Gehäuse zur Selbstberauschung sucht. Z u weilen kann mystisches Leben zu einer bereitliegenden G e fühlskonvention und mit der mystischen Identitätsformel wie mit einem Kunstgriff geschaltet werden. Mystische Dichtung kann sogar bloßer Kunstübung eines konventionellen T h e m a s

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entspringen wie in so mancher mystischen Poesie des Barock. Immer bleibt Piatons „Viele schwingen den Thyrsos, aber nur über wenige ist wirklich der Gott gekommen" zu beachten. — „Die mystische Ekstase ist eine entscheidende Kraftund Gesundheitsprobe, die Feuerprobe des inneren Menschen, eine seelische Krisis, die ebendarum so ungeheure Gefahren birgt, weil sie eine ungeheure Genesung und Verjüngung herbeiführt, falls sie mutig und lauter zu Ende geführt wird. Eine haarscharfe und nur von der unverbrüchlichsten, unbestechlichsten geistigen Ehrlichkeit richtig eingehaltene Grenze trennt hier den narrenden Rausch von der echten metaphysischen Ergriffenheit, den schwärmerischen Obskurantismus und die höhere Scharlanterie von der beglückenden Offenbarung des innig-ewigen Zusammenhanges aller Dinge 1 )." Das Bleibende in den Anschauungsformen mystischer Lyrik sind nicht die Bilder selbst, sondern die Seelenbewegungen, die sie ins Leben riefen und mit Leben erfüllten. Man kann über alle religiösen und weltanschaulichen Gehalte mystischer Lyrik hinweg von einem einheitlichen mystischen Strom reden, der sich durch die Jahrhunderte hindurch erhalten hat und immer wieder der Welt- und Glaubensinhalte einer Zeit bemächtigen kann. Die Bilder und Gleichnisse, die Gehalte mögen vergehen, die Art, mystisch zu leben, das Diesseitige wie das Absolute mystisch zu ergreifen, jedoch dauert. Die Grenze mystischen Erlebens nennt Hölderlins W o r t : „Zwar leben die Götter, Aber über dem Haupt droben in anderer Welt. Endlos wirken sie da und scheinend wenig zu achten, O b wir leben, so sehr schonen die Himmlischen uns. Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen, Nur zuzeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch." (Brot und Wein)

O b man sich der Sprache mystischer Lyrik anheimgeben darf, ist Sache der einzelnen Existenz und ihrer geschichtlichen Schulze Maizier, Mystische Dichtung aus sieben Jahrhunderten, a. a. O., S. 47.

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Stunde. Mystische Lyrik birgt die große Gefahr der Verführung in einen Z u s t a n d der Entrüdkung und Steigerung des Empfindens, die nur den auf die D a u e r ohne Schaden läßt, der auch die rechte Verwandlung in der Rückkehr zu bestreiten vermag. Sie setzt zum mindesten die K r a f t zu Erfahrungen mangelnder Subjekt-Objekt-Spaltung voraus. Z u leicht begibt sich hier der Mensch in einen Raum, der ihm nicht zukommt, nimmt durch die Vorwegnahme einer Einigung mit dem Absoluten der Selbstgestaltung den Ernst und die Ausdauer und überliefert sich durch vorübergehende Ekstase und Berauschung einer Aushöhlung des Bewußtseins in langgedehnte Ö d e n , die einer plastischen Formung der Persönlichkeit keine K r a f t mehr läßt. Besondere Gefahren birgt mystischer Geist,der unter der Einschränkung G o e t h e s : „Sagt es niemand, nur den W e i s e n " steht, wenn er verallgemeinerndem Mißbrauch anheimfällt und zum Freibrief zügellos anarchischen Welttreibens wird. Mit guten Gründen hat sich angesichts der E x z e s s e mystischer Sekten und Volksbewegungen im ausgehenden Mittelalter Luther gegen die „Schwarmgeisterei" gewandt, das gemeindebildende W o r t festen Glaubens und die unausweichliche Entscheidung eines sittlichen Entweder-Oder aufgerufen. Nicht nur sittlichen Nihilismus, auch die L ä h m u n g jeglichen geschichtlichen Handelns kann mystische Bewegung im Gefolge haben. W i e die einzelne Existenz, so sind Völker und ganze Kulturen zuweilen vor die W a h l zwischen M y s t i k und Ethik, zwischen M y s t i k u n d geschichtliches Handeln gestellt. W a s abendländischer M y s t i k gegenüber indischer an U n bedingtheit mangeln m a g , dient in ihren größten Geistern der Rückwendung in die Wirklichkeit als einem Feld sittlicher Bewährung und geschichtlichen Wirkens. M y s t i k reinigt diese Wirklichkeit von allzu irdischem Gewühle, staut menschliche K r a f t in innerer Sammlung zu tieferem Einsatz an, entbindet erstarrte M o r a l zu freier sittlicher Entscheidung. S o groß die G e f a h r mystischen Erlebens ist, so kostbar ist die Frucht, die es tragen kann. Es kann abgleiten in anarchisches Genietreiben, anstatt der äußersten W ü r d e des Menschen innezuwerden. Es kann, mit Kierkegaard zu reden, zu der Sünde werden, „verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen".

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Der reine Mystiker wählt den Sinn seines Lebens radikal metaphysisch und nicht ethisch, und es kann geschehen, daß er ohne Rückkehr in die Welt der Wirklichkeit, und das heißt immer auch sittlicher Konflikte, sich selbst nicht wirklich wird. „Der Fehler des Mystikers ist, daß er in der Wahl nicht konkret wird für sich selbst und auch nicht für Gott", sagt Kierkegaard; „er wählt sich selbst abstrakt und ermangelt daher der Durchsichtigkeit1)." Sofern der Mystiker die Wirklichkeit als pure Vergänglichkeit und nicht als Feld wirkender Bewährung auffaßt, hat er keine Geschichte mehr und entzieht sich sittlicher Läuterung. — Darum ist auch Mystik solcher Art fern von Tragik und Drama. W o Drama ist, da ist auch Geschehen und sittliche Entscheidung, da wird der Mensch im Handeln konkret und in der Katharsis vor sidi selbst gebracht. W o Mystik nicht nur vorübergehend, sondern endgültig die Wirklichkeit und jedes unmittelbare Gegenüber zu ihr vernichtet, wo dem „Stirb" kein irdisches „Werde" folgt, kann der Mensch um den Besitz seiner eigenen Gestalt kommen, um den Sinn seines endlichen Geistes. „Das ist eben das Schöne an der Zeitlichkeit, daß darin der unendliche und der endliche Geist sich scheidet; und das ist zugleich die Größe des endlichen Geistes, daß ihm die Zeit als Kampfplatz angewiesen ist 2 )." Die Wirklichkeit ist nicht nur ein Feld der Prüfung und Versuchung, sondern auch der Erhöhung zu menschlicher Würde. „Das ist nämlich des Menschen ewige Würde, daß er eine Geschichte bekommen kann, das ist das Göttliche in ihm, daß er, wenn er will, dieser Geschichte selbst Kontinuität geben kann. Kontinuität bekommt meine Geschichte aber erst, wenn sie nicht bloß der Inbegriff dessen ist, was mir geschehen oder begegnet ist, sondern meine eigene Tat, so daß selbst das bloß zufällige Begebnis durch mich verwandelt und aus der Sphäre der Notwendigkeit in die der Freiheit überführt wird 3 )." So erhebt sich die Stimme des Ethikers gegen den Mystiker: des Ethikers, dem die Aufgabe, gegen den Mystiker, dem der Zustand wichtig ist. Äußerste Wach') Kierkegaard, Entweder-Oder, II.Teil, bei Eugen Diederichs, 1922, S. 212. ) S. oben, S. 214. 3 ) S. oben. a

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heit des Gewissens ist vor der Sprache mystischen Erlebens gefordert. So sehr Mystik auf der einen Seite der Gefahr aussetzt, „verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen", so sehr vermag sie den Menschen der anderen Gefahr zu entreißen, „verzweifelt nur man selbst sein zu wollen". Sie wagt alles daran, um alles zu gewinnen. Ihre Kraft ist es, das Starre zu entbinden, einer Entseelung, Verstumpfung und Verrohung des Lebens, Ängstlichkeit und Mittelmäßigkeit, falscher Werkheiligung, blinder Trieb- und Sachbefangenheit, ziellosem Tatendrang, erstarrtem Dogmatismus und moralischer Verengung zu begegnen, den Menschen zu begeistern und zu lösen von irdischer Bedrängnis, den Mut zu fordern, der jeder befreienden T a t vorausgehen muß. Nicht wo sie dauernde Entrückung, sondern wo sie Verwandlung will, hat für uns Abendländer Mystik ihren höchsten Wert. Es kommt uns nicht zu, die Wege etwa der indischen Mystik abzuurteilen. Nach Art und Geschichte unserer Kultur muß mystisches Prinzip sich immer wieder zur Aufgabe an der Wirklichkeit verpflichten, und abendländische Mystik zwingt uns in ihren höchsten Schöpfungen in keine Alternative zwischen Mystik und Ethik, Entsagung und Lebensgestaltung, W e g des Einzelnen und Dienst an der Gemeinde. O f t und gerade bei den größten Mystikern wird aus mystischem Erleben die Kraft zu aufopferndem Dienst an den Mitmenschen, wie es der Sinn des Karmel will. In deutscher Mystik, die mit Ekkehart den steilsten W e g der Abgeschiedenheit gegangen ist, wird der Adel der gottesebenbildlichen Persönlichkeit zur höchsten Gestalt erhöht, werden die Spannungen des Daseins bejaht, das Leben geheiligt und die T a t gerühmt. Weiß doch ein Ekkehart auf die Frage: „Warum lebst d u ? " die Antwort: „Meiner Treu, ich weiß es nicht — ich lebe gern!" Solch schlichtes J a und Amen zum Leben wird nicht in naiver und nicht in verzweifelter Diesseitigkeit. Derselbe Ekkehart entscheidet sich für die Tugend der Martha und läßt sie im Blick auf Maria sagen: „Herr, heiß sie aufstehn — ich wollte sie lieber nicht so in Verzückung sitzen sehen; ich wollte, sie lernte leben, daß sie es wesentlich besäße. Heiß sie aufstehen, daß sie vollkommen werde!" U n d

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an anderer Stelle: „ W ä r e der Mensch so in Verzückung, wie einst St. Paulus war, und wüßte einen siechen Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich achtete es weit besser, du ließest aus Liebe von der Verzückung und dientest dem Bedürftigen in größerer M i n n e 1 ) . " M u ß indisches Bewußtsein sich auf weiten Strecken dem verwandelnden Dienst an der Wirklichkeit in stärkerem M a ß e als abendländisches entziehen, im Höchsten und Letzten schenkt sich hier wie dort selbst nach der Tilgung des Eros als die teuerste Frucht aller religiösen Mysterien die große Milde der segnenden Liebe, in der das höchste Streben aller Religionen einander angenähert ist. Nicht wertblinde Unentschiedenheit, sondern ein aus letzter Erhabenheit entbundenes Wohlwollen und universales Wohlmeinen begegnet brüderlich allem Geschaffenen, verklärten Auges und mit offenen Händen das Leben grüßend. Im Mysterium der Einswerdung mit dem Göttlichen wächst das sichere Vertrauen, daß alle W e s e n und Erscheinungen zu ihrer Zeit dem Heil entgegenreifen, wächst eine beseligte Bejahung alles Daseienden, das es in inniger Gemeinsamkeit mit der Liebesfülle des eigenen Herzens mit sich in sich zu erlösen gilt. So hat auch des großen Gotamiden „fernhin wanderndes" Herz das Seiende bis zum Untersten hin in seinen Bereich gezogen und ihm über die Äonen hinweg aus seliger Erlöstheit seinen Gruß entboten: „Allen W e s e n wünsch ich Heil nach ihrer Art." In keiner Sprache deutlicher als der mystischen wird uns die beglückende Einsicht in die über Zeiten und Völker hinweg reichende Gemeinsamkeit des menschlichen Geistes und Herzens, eine Sprache, in der sich zugleich die W e g e , die der Geist und das Herz in den Kulturen zu gehen hat, aufs genaueste unterscheiden. Indem das Höchste, allen Menschen Gemeinsame bewußt wird, werden gerade die einzelnen Zeiten und Kulturen an ihre Eigenart und Aufgabe erinnert. Die innigste Verwandtschaft mit östlicher Mystik und zugleich die tiefste Unterscheidung des abendländischen vom indischen Geist offenbart sich in der Lehre Meister Ekkeharts. Die ') Reden der Unterscheidung.

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Philosophie des deutschen Idealismus, die Spekulationen zumal Hegels und Sdiellings, schaffen erneut wesentliche Bez ü g e ; erhellen deutlicher noch das Unterscheidende. Im späteren 19. Jahrhundert stellt zu der willensverneinenden Philosophie Schopenhauers mit ihrer ausdrücklichen Beziehung auf die Gedankenwelt Indiens Nietzsches Dionysosprinzip, „die ewige L u s t des W e r d e n s selbst z u sein", — das im G r u n d e indischem Erleben der Teilhabe an „ s h a k t i " , der zeugenden U r k r a f t , die sich durch alle Gestalten der Welten bewegt, unvergleichlich näher steht als irgendeiner griechischen Erlebnisweise — gleichsam den positiven, willensbejahenden Gegenpol dar. Auf die größte Fülle indischen Welterlebens, in dem ein hoher Einklang herrscht von Entformung und Entgestaltung der Welt ins Göttliche mit der Gestaltwerdung und Teilhabe an der weltentfaltenden göttlichen K r a f t , ein Einklang von „nirvana" und „ s a m s a r a " , gibt uns den rechten Blick Goethes „neuere M y s t i k " und Dialektik seines weltenweiten Herzens frei. In Gedichten wie „Weltseele", „Eins und Alles", „ D a u e r im W e c h s e l " , in Goethes Kraft, Verselbstung und Entselbstung, Bewegung aus der W e l t ins Absolute und Bewegung mit G o t t in die W e l t hinein zu erhabenem Gleichgewicht zu zwingen, in der Weite und Fülle seines kosmischen Allgefühls, das nicht anders als indisches Denken im Stande seiner höchsten Vollendung zu allen Erscheinungen der W e l t das „tat twam a s i " sagen kann, finden wir bis zu wörtlicher Übereinstimmung wieder, w a s einst vor allem in der W e l t der Upanishaden Sprache gewann. Goethe und die Upanishaden handeln gleicherweise vom Eins und Alles, v o m Menschen als „Teil und G a n z e s zugleich". Hier wie dort hat das innere H e r z „kleiner als des Hirsekorns Kern und doch weiter als Erde und L u f t r a u m " die Macht jeglichen W e s e n s Selbst und über alle Welt hinaus zu sein: „Ein Flügelschlag und hinter uns Ä o n e n . " Hier wie dort gewinnt der Mensch in der Einigung mit der Allseele mit Brahman als „des Weltalls großem Ruhepunkt" (Upanishaden) die höchste menschlich übermenschliche Fülle und W e i t e „im selgen Wechselblick — vom All ins All zurück" (Weltseele) ; hier wie dort ist der Mensch Bild und O r g a n der Verwandlung der ganzen Welt. U n d doch zeigt der Vergleich der

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Sprache der Upanishaden und der Goethes dringlicher als irgend sonst das Unterscheidende von indischem und abendländischem Geist: Dort das traumhaft entbundene und in keinem schicksalhaften Gegenüber zur Welt sich mehr bindende Schweben im Nirgends und überall, im Schein und über allen Schein hinaus; hier die immer neue faustische Rückkehr in die Welt als Feld tätiger Wirksamkeit. Vollzieht indische Mystik unter allen arischen Völkern die strengste Scheidung zwischen Metaphysik und geschichtlichem Prozeß, so kehrt abendländische Mystik als Prophetie immer wieder in das Reich der Geschichte zurück, findet in christlich abendländischem Geschichtsbewußtsein eine dauernde Durchdringung von irdischer Geschichte und Transzendenz statt. Geschichtliches Werden erscheint als Chiffre der Transzendenz. Im Mysterium des Übertritts der Geschichte ins Reich der Übergeschichte kommt geschichtliches Erinnern ans Ziel. Zumal deutsche Mythologie und deutsche Mystik spricht von einem geschichtlichen, ja zuweilen von einem tragischen Prozeß in Gott, der Urbeweger auch aller menschlichen Geschichte ist. Sie empfängt im Einleben in die „dunkele Natur in Gott", wie Jacob Boehme sagt, im Eindringen in den Prozeß derTheogonie und der himmlischen Geschichte ihre tiefste Bewegung zum Erleben auch des irdischen Geschehens und liest wiederum im Erleben der irdischen Geschichte die Geheimschrift Gottes. So öffnet sich in der lyrischen Geschichtsmetaphysik eines Herder und Hardenberg im Mysterium der Einheit von Ich und Geschichte die Sprache der Transzendenz, so weiß sich Schelling durch die Mythologie einer „Mitwisserschaft mit der Schöpfung" teilhaftig, erfährt Hegel im geschichtlichen Prozeß ein Selbstbewußtwerden des „objektiven Weltgeistes". Geschichtliches Werden und irdisches Geschehen ist so geheiligt. Es tilgen wollen, hieße eine Brücke ins Jenseits abbrechen. In der Tiefe ihrer Bewegung, der Helle ihrer Verklärung, der fruchtbaren Verbindung mit den Lebensvorgängen einer Kultur offenbart sich die Sprache der Mystik als Frucht der Liebe: Liebe, die hellsichtig ist, die sich nicht mit bloßer Sehnsucht und Schwärmerei verwechselt, die ihrer eigenen Grenze bewußt ist, die immer Wert und Wirkung will, die

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die irdischen an die himmlischen Dinge knüpft und sie damit nicht entwertet, sondern heiligt, die den Mut schafft, ins Unbekannte zu greifen, vom Rande her die Mitte des Lebens zu bestätigen und zu heilen. Liebender Mut und nicht haltlose Unruhe ist es, den gesicherten Besitz Gottes und die Gesichertheit der eigenen Menschengestalt daran zu wagen, um Neues, Gesichertes und erneut Ungekanntes zu suchen. Nicht das Kranke und Schwache, das Lebendige ist es, „das nach Flammentod sich sehnet". Wahres Wikingertum ist es, das deutsche Mystik auf ein offenes Meer des Geistes und der Seele hinaustreibt und der Seele die gefährlichsten Proben zumutet; das sie zwingt, in der höchsten Erhebung des tiefsten Sturzes gewärtig, die Grenzen des Menschenmöglichen abzuschreiten. Echte mystische Ekstase ist das genaue Gegenteil von stumpfem, leerem Brüten. Es ist äußerste Fülle des höchsten und letzten menschlich Erlebbaren. Echte mystische Ruhe ist nicht leere Regungslosigkeit, sondern Anstauung, Sammlung und Einkehr von Kraft und Bewegung, jene Ruhe, die auch der Künder des Faustischen nennt: „Und alles Drängen, alles Ringen ist ewige Ruh in Gott dem Herrn." Mystische „docta ignorantia" setzt den äußersten Mut zur Bewußtheit voraus. Nur wenn das „sacrificium intellectus" wie das „sacrificium phalli" echtes Opfer ist und nicht Zeichen von Impotenz, bildet sich neue Selbstwerdung, „in der Mittemächte Kühlung, die dich zeugte, wo du zeugtest". Nur wenn das Zerbrechen der Chiffre Gottes aus religiösem Drang geschieht und nicht aus verzehrendem Nihilismus, ereignet sich im Umschlag der mystischen Bewegung göttliche Durchleuchtung des Daseins. Im Wagnis des echten religiösen Erlebens kann sich das Seelenunterste mit dem Obersten und Hellsten verbinden, wird der Mensch auf die Spannung und ganze Weite des Menschseins, und das, was über den Menschen und seine Maße hinausweist, verpflichtet; wird eine Humanität gefordert, die auch die dunkelsten Triebe in ihre Gestaltung einbezieht. In mystischen Bezirken ist eine Stelle tiefster Ruhe, die einem sich blind überschlagenden Tatendrang Sammlung und Rieh-

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tung zu geben vermag, die die Verstrickung ins Leiden und, den „Knoten des Herzens" löst, die aber auch die große Stille vor dem Sturm gewaltiger Weltverwandlung schafft. Indem die mystische Praxis Sinneseindrücke und Gemütswallungen, die sich in unwillkürlicher Regung auswirken wollen, stillegt und zugunsten willkürlicher Verfügung nach innen zwingt, indem sie äußere triebhafte Reaktionen und später auch geistiges und seelisches Streben anhält, staut sie diese Kräfte zu einem einzigen Gesamterlebnis an, das sich zu übermenschlicher Fülle steigert und als eine in den letzten Tiefen erregte Bewegung zu schöpferischer, vom Geiste geleiteter Selbstverwirklichung drängt. Erst in der Lösung von unwillkürlicher unmittelbarer Bewegung stauen sich die Kräfte an, die eine tiefergreifende Verwandlung der irdischen Dinge zu leisten vermögen. In der Umsetzung unwillkürlichen Bewegtwerdens, auf einem W e g e von äußerer triebhafter Notwendigkeit zu schöpferischer innerer Freiheit schwillt eine Erschütterung und Erregung an, die als eine von Grund auf umgestaltende Kraft wiederum dem Leben entgegenstreben kann. Aus letzter Erhabenheit, im „Enthusiasmus", was ja ursprünglich nichts anderes heißt als „Gotterfülltheit", lösen sich Kräfte zu Taten und Handlungen, die sich wieder tief hinabsenken wollen ins Lebendige und Ursprüngliche. W a s an sich taten- und lebensfern scheint, bringt uns unmittelbar wieder an den Lebensgrund und drängt als ein Ergreifen aus Ergriffenheit zu lebendiger Erneuerung. Neben der unvergleichlichen Bedeutung, die der mystische Zustand für den haben wird, der sich in der Ekstase dem Göttlichen vermählt sieht und darum immer wieder nur diesem Einen und Einzigen zustrebt, hat mystisches Erleben seinen besonderen W e r t , wo es erneute Bindung mit dem Leben eingeht, wo es — man denke nur an Goethe — als Quelle des Lichts das ganze Universum durchleuchtet und als Quelle der Kraft das Dasein erneuert. Mystischer Geist dient der Erweckung und vertieften Innewerdung der Seele und auch der Erhaltung ihrer Kräfte. In mystischem Geist ist die abendländische Seele wach geworden und in demselben Geist sucht sie sich vor dem Schwin-

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den und Absterben ihrer K r ä f t e zu bewahren. Im mystischen Geist des Mittelalters wird abendländische Frömmigkeit mündig, öffnet sich der W e g zu der toleranten Offenheit des deutschen Idealismus und wird wiederum d a s religiöse O r g a n gegen alle Aufklärung lebendig erhalten. In seiner M y s t i k hat die Religion eines Volkes ihren unmittelbarsten, ungefärbten Ausdrudk gefunden. Hier ist der O r t , der jenseits von Konfessionen eine einzige Frömmigkeit durchscheinen läßt, der O r t , w o die unbeeinflußte Bewegung der Seele in ihrem Einmünden ins Jenseitige aufgespürt werden kann. Gegen restlose dogmatische Erstarrung und Rationalisierung des Gottesbegriffs wahrt M y s t i k die Bedeutung des Geheimnisses. Gegen begriffliche Verflachung und Scheingewißheit setzt sie die irrationale T i e f e des unsere Fassungskraft überschreitenden Gotteserlebens. D i e vorsichtige Antwort Fausts auf Gretchens Frage nach seinem G l a u b e n : „ W e r darf ihn nennen? U n d wer bekennen: Ich glaub ihn? W e r empfinden, U n d sich unterwinden Z u sagen: Ich glaub ihn nicht?" setzt die namenlose Fülle religiösen Bewegtwerdens gegen die flache Ausgelegtheit der N a m e n g e b u n g : „ G e f ü h l ist alles. N a m e ist Schall und Rauch, Umnebelnd Himmelsglut." D i e Reife des Entfaltetseins des Religiösen ist indes geradezu bedingt durch helle und klare Begriffe vom Göttlichen, in denen die T i e f e des religiösen Gefühls sich entfalten kann. D a s Göttliche, so sehr es unsere Fassungskraft überschreiten kann, als verborgen und unermeßlich, unterliegt doch unserem Begriffsvermögen; es ist ein „ a b s c o n d i t u m " , aber nicht ein „ i g n o t u m " . Die Klarheit der Begriffe muß die irrationale T i e f e des Numinosen nicht verdrängen. So macht es gerade die Klassizität der größten Zeugnisse christlich abendländischer M y s t i k aus, daß sie einen Ausgleich rationaler und irratio-

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naler Momente im Erfassen des Göttlichen schaffen; daß hier eine geheimnisvolle Tiefe in die festen Formen klarer Begriffe gefaßt ist, daß sich der Strom des Gefühls in sicheren Bahnen bewegen kann. So sehr hohe Mystik gegen eine Religion steht, die das Geheimnis fürchtet, so wenig muß sie die Helle des Geistes fürchten. Gegen eine endgültig entbilderte reine Geistesreligion ruft sie die Lebendigkeit Gottes auf und zieht die Formen magischer Vergegenwärtigung herbei. Gegen die Gefahr des Absinkens in niedere Magie wirkt sie für die Unfaßbarkeit des Göttlichen als Geist, „der wehet, wo er will. Du weißt nicht, von wannen er kommt, noch wohin er fährt." Gegen bloße Lehren eröffnet sie die religiösen Ingründe und Hintergründe, die nicht lehrbar, sondern nur erweckbar sind, wirbt sie für die „Ahnung" und den „Geist von Innen", der zu aller Offenbarung hinzukommen muß, für den inneren Sinn, der, wie Luther sagt, „verbo conformis" ist, und zwar aus eigenstem apriorischen Gefühl und Gewissen und nicht aus bloßem äußeren Belehrtsein. Die unvergleichliche Intensität religiösen Erlebens ist bei allen sonstigen Unterschieden in allen Religionen gleich. Von der rohesten Weise bis zur begrifflich geklärtesten zielt dies Erleben auf ein durch Steigerung des hiesig Erlebbaren nidit Ergreifbares, das von den niedersten bis zu den höchsten Formen der Selbstentfaltung des Religiösen das gleiche ist. Mystische Erfahrung wahrt dem Göttlichen seine Bedeutung des unheimlich Furchtbaren auch in der hellen Ideenmystik und läßt es mit urtümlicher Gewalt einbrechen. Auch auf der Stufe höchster Bildung behält es diese Bedeutung; es hat in höchster Form „sein Sinnverwirrendes verloren, aber nicht sein unsagbar Befangendes 1 )." Mystische Lyrik gibt uns davon Zeugnis, wie in allen Sphären das Göttliche als das „Ungeheure" mit „heiligem Schauder" erlebt wird, nach dem Wort Goethes: „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil. W i e auch die Welt ihm das Gefühl verteure, Ergriffen fühlt er tief das Ungeheure." Rudolf Otto, Das Heilige, S. 19.

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Zur äußersten Anspannung der Kräfte verpflichtend, tägliche Gefährdung und Bewährung fordernd, im rechten Falle Einfalt und Gesundheit schenkend, ringt Mystik unablässig um das lebendige unverstellte Wirken Gottes und wird dabei der höchsten Würde des Menschen inne. Wenn Religion, sei es in der Welt der Brahmanen, des Korans oder des Christentums, in Gesetzen zu erstarren, in niedere Magie zu sinken droht, übernimmt mystischer Geist die Reinigung des Göttlichen und entbindet die Quellkräfte religiöser Erneuerung. Mystische Verinnerlidiung, Läuterung und Aufschmelzung des Religiösen stehen um der Reinigung des Göttlichen willen Seite an Seite mit dem heiligen Zorn der Reformatoren. Auf schmalem, hohem Pfad dem Abgleiten in Rausch oder Quietismus ausgesetzt, bleibt der hohe mystische Geist eine stete Frage an den Alltag, stete Frage an den Geist der Kirchen, Erinnerung des alten Wahren und Eröffnung neuer freier Wege. Unbeirrt um das äußere Schicksal der Religionen bewahrt er in Völkern und Zeiten den Glauben in dem einfachen und unerschöpflichen Geheimnis: G o t t in u n s .

II. T E I L

MYS/riK U N D

LYRIK

BILD

UND

ICH

Wenn ein Dichter eine Rose besingt, so braucht das Thema, der Inhalt des Gedichtes nicht die mystische Einung mit der Rose zu sein, es kann die Freude an ihrer Schönheit sein, der Schmerz über ihr Sterben, und doch können die Worte, die sie beschreiben, der Intensität mystischen Erlebens entstammen: „Doch hat, du holde Wunderblume, Mein Herz voll süßen Bebens Dich mir gemalt zum Eigentume Ins Tiefste meines Lebens, Wohin der Tod, der Ruhebringer, Sich scheuen wird zu greifen, Wenn endlich seine sanften Finger Mein Welkes niederstreifen." (Lenau, An meine Rose)

Nicht um das mystische Verschmelzen mit der Rose geht es in Lenaus Gedicht, sondern um ein Drittes, ein Erlebnis, das jedoch das Leben der Rose ins eigene Leben einbezieht, um etwas beiden Gemeinsames, das bleiben wird, wenn das „Welke" niedergestreift ist: „O weilten wir in jenen Lüften W o keine Schranke wehrte, Daß ich mit deinen Zauberdüften Die Ewigkeiten nährte!" Welch kühner Ausdruck mystischer Einsfühlung: „Daß ich mit d e i n e n Zauberdüften die Ewigkeiten nährte"; und doch hat das Gedicht als Ganzes ein anderes Ziel als die Aussage der mystischen Einung. Man kann hier nicht von mystischer Lyrik sprechen als einer bestimmten Gattung, sondern nur von mystischer Erlebnisform als einem Element der dichterischen Erlebnisweise und damit des dichterischen Ausdrucks.

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ICH

Die Dinge leben in der Sprache der Lyrik nicht als ein „Es", sondern sind in den besonderen Zustand des Dichters einbezogen, sie sind zumindest ein „Du", wenn sie nicht mystischerweise in ein „Ich" verwandelt sind. Da, wo die Inhalte der Sprache nicht mehr als ein „Es" erscheinen, sondern wo sie eine einmalige und besondere Beziehung zu mir als ein „Du" annehmen, beginnt die eigentliche Macht der Dichtung, die „vis poetica" zu wirken. W e r erführe nicht das Unerreichbare der Ausdrucksfülle der dichterischen Sprache, wenn etwa Kant, aus der Darstellung des Begriffs der Pflicht als ein „Es", anhebt, in einer anderen Sprache von dieser Pflicht zu reden: „Pflicht Du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest.. - 1 )." Er sagt „Du" zu ihr, um augenblicklich eine Erschütterung auf uns zu übertragen, die nur von der Sprache der Dichtung ausgeht. Die Beziehung, die zwischen dem Dichter und dem Gegenständlichen besteht, kann sich nun bis zur Einswerdung, bis zur Identifikation steigern,—auch im Bereich des Abstrakten. Das Beschriebene hat dann nicht mehr den Charakter eines „Du", sondern schließlich den eines Ich: „Raum greift aus uns und übersetzt die Dinge: daß dir das Dasein eines Baums gelinge, wirf Innenraum um ihn, aus jenem Raum, der in dir west."

(Rilke, Späte Gedichte, Fragment)

Der Sprachgestalt des lyrischen Gedichtes ist es vorbehalten, dem „Ich"-Charakter von Dingen Ausdruck zu geben: „Was haben wir seit Anbeginn erfahren, als daß sich eins im anderen erkennt? Durch alle Wesen reicht der e i n e Raum: Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum." (Rilke, Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen) ' ) Bd. V, S. 86/87 der Akademieausgabe.

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Diese W o r t e Rilkes sagen, daß mystische Erfahrungen nicht nur der Beschreibung eines Gegenstandes zugrunde liegen, wenn sie sich deutlich als solche an der Sprache ablesen lassen, sondern alles, was der Dichter beschreibt, scheint ursprünglich einem mystischen Erlebnis zu entspringen, entsprechend einem W o r t des Novalis: „ D e r K ü n s t l e r m a c h t s i c h z u a l l e m , w a s er s i e h t u n d sein will1)-" „ D i e P o e s i e l ö s t f r e m d e s D a s e i n im e i g e n e n a u f 2 ) - " Auch um das Leben der Dinge freizulegen, scheint es nötig, einmal in ihnen gelebt zu haben. So hat Mörike in seinem Gedicht „Auf eine Lampe" W o r t e gefunden, die über alles Empfinden der Nähe und Vertrautheit hinaus aus einer völligen Einung mit dem schönen Gegenstande kommen, gerade um diesen Gegenstand ganz in sich und für sich und aus seinem letzten und innersten W e s e n heraus leben zu lassen. Erst wird die Lampe mit dem „ D u " der Vertrautheit angeredet, dann steigt bei ihrer Betrachtung ein Bedauern auf, daß sie nicht geachtet ist, wie es ihr gebührt als einem echten Kunstgebild, mehr noch, weil man es dem vertrauten „ D u " so wünscht, und dann fällt das erlösende W o r t , geboren aus der Vereinigung mit dem innersten Leben des Gegenstandes : „ W a s aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst." M i t keinem W o r t wird die Vereinigung an sich deutlich, und doch ist das, was gesagt wird, nur möglich, indem sich der Künstler zu dem machte, was er sah. Und dieses mystische Wissen, daß das Schöne in sich selber selig ist, liegt der lyrischen Kundgabe von Schönheitserlebnissen zugrunde, und auch gerade dann, wenn der Dichter die Dinge gleichsam zu sich selbst bringt. Das, was von den Dingen ausgesagt wird, kann nur durch „innere Anschauung" gewonnen sein, durch eine Einigung mit ihrem inneren Leben, um es dann ganz frei und sich selbst genügend darzustellen. Immer will jedenfalls die Schönheit eines Dinges erst entdeckt sein im Verkehr mit seinem eigenen Sein. Die innige ») Novalis, Ausgabe Kluckhohn II, S. 226. =) a. a. O., II, S. 327.

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Verbindung eines Subjektes mit dem schönen Objekt, der Einklang des Fühlens von Leben zu Leben gebiert gleichsam erst dessen Schönheit. Das Schönsein der Dinge ist vom eigenen Schönsein abhängig, genau wie das eigene Schönsein von der Schönheit der Dinge, wie es Goethe mit ebenso großer Einfachheit wie unendlichem Tiefsinn ausgesprochen hat: „Und wie mir's gefallen Gefall ich auch mir." Aber nicht nur das Schönsein der Dinge, sondern auch jegliche andere Bedeutung ihres Daseins ist im lyrischen Gedicht bestimmt von dem Sein des Dichters oder aber ihre Art, ihre Farbe, ihr bloßes Dasein bestimmt das des Dichters. Das, was von den Dingen gesagt ist, besitzt eine erhellende Bedeutung, die man Stimmung nennt. Diese Bedeutung der Dinge sagt uns zugleich etwas über das Gestimmtsein dessen, der von ihnen spricht. Das Bild, das der Dichter von einer Landschaft malt, ist Ausdruck seiner Seelenstimmung. Mag seine Beschreibung noch so „objektiv" sein, das, was er beschreibt, beschreibt gleichzeitig auch ihn. Die Gegenstände eines lyrischen Gedichtes können offensichtlich durchstrahlt sein von dem besonderen Gestimmtsein des Dichters; ihre Art und ihr Sein kann in stetem Bezug zu Art und Sein dessen, der sie nennt, stehen; sie sind dann deutlich als Stimmungsträger und Ausdrucksfelder der Seele erkenntlich; das Äußere der Welt und das Innere der Seele treffen sich in dem Gegenständlichen, dessen „Form" der mystische Durchdringungspunkt von Innen und Außen, Ich und Welt ist. Der Dichter ergreift hier das Äußere der Erscheinung als ein gerade noch Gegenständliches, das als Stimmung erweckendes Bild kurz aufleuchtet und wieder aufgesogen wird in die Tiefe seiner Seele, um neuen Bildern Platz zu machen oder aber in unmittelbare Äußerung von Gefühlen und Gedanken zu münden. Die Auflösung des eigenen Ich im fremden Dasein und des fremden Daseins im eigenen Ich, die Einheit von Gefühltem und Angeschautem, von Äußerem und Innerem, in dessen Durchdringungspunkt das Sichtbare steht, ist dann deutlich erkennbar, wie bei Trakl:

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„Sehr leise rührt des Abends lauer Flügel Ein Dach von dürrem Stroh, die schwarze Erde. Bald nisten Sterne in den müden Brauen; In kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden, Und Engel treten leise aus den blauen Augen der Liebenden, die sanfter leiden. Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen, Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden." (Der Herbst der Einsamen)

Aus dieser inneren Einheit des Allebens im „Weltinnenraum" wird die zuweilen völlig „un"- oder besser gesagt „über"logische Aneinanderreihung und jeden kausalen Zusammenhang überspringende Verbindung an sich sichtbar werdender Erscheinungen und Gegenstände im lyrischen Sprachgebilde möglich, die sogenannte „Traumlogik": Bilder kommen und Bilder gehen; das Fernste verbindet sich mit dem Nächsten und fließt mit ihm zusammen zu einem Dritten hin. Die Aufhebung von Raum und Zeit, die Vermischung der Sinneswahrnehmungen, die gegenseitige Vertauschung von Abstraktem und Konkretem, die Darstellung von Erlebnissen, deren Sinn und Zusammenhalt von keinem Verstände nachzurechnen, erfüllt sind von der geheimnisvollen Bedeutung der Bilder eines Traumes, haben hieraus ihre Entstehung: „O Stern und Blume, Geist und Kleid: Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit." (Brentano, Widmung)

Die Dinge brauchen aber nicht in stetem Bezug zum Sein des Dichters als Sprache seines ergriffenen Geistes und Herzens zu erscheinen. Das Erleben des Dichters kann völlig umgeformt und eingegangen sein in das selbständig wirkende Eigenleben von Bildern und Erscheinungen, indem die Unmittelbarkeit des Erlebens durch Gestaltung von Gestalten in eine gleichnishafte, sich selbst genügende Welt fremder Erscheinungen übersetzt ist, oder indem der Dichter in einem Maße dem Eindruck fremder Erscheinung hingegeben und einverleibt ist, daß die bloße Aussage seiner „Ein"drücke gleichzeitig die erhellende Aussage seiner eigenen Stimmung

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mitenthält. Das Letzte, das Äußerste, was der lyrische Dichter von sich auszusagen weiß, kann völlig einverwandelt sein in die Sprache reiner Gegenständlichkeit. Nicht nur die Gegenstände der realen Umwelt stehen im lyrischen Sprachgebilde im Bezug zum Ich des Dichters, sondern auch und vor allem die Gestalten seiner Phantasie stehen als Geburten der Seele in demselben einen mystischen „Weltinnenraum". Die Erscheinungen, Töne und Bilder der äußeren Umwelt zeigen sich als Metaphern der Seele des Dichters; sie beschreiben, heißt gleichzeitig Ausdruck seiner selbst geben: „Gondeln, Liditer, Musik — Trunken schwamm's in die Dämmrung hinaus . . . Meine Seele, ein Saitenspiel, Sang sich, unsichtbar berührt, Heimlich ein Gondellied dazu, Zitternd vor bunter Seligkeit. — Hörte jemand ihr zu?" (Nietzsche, Venedig)

O b die Rose, die der Dichter beschreibt, eine real erlebte war, oder ob sie nur als Gebilde der Phantasie vor dem Dichter stand, ist gleichgültig, immer ist ihre äußere Erscheinung Bild seiner inneren Anschauung und Ausdruck seines besonderen Gestimmtseins. Die Bewegungen der Seele drücken sich beispielsweise in der Lyrik des 18. Jahrhunderts in Formen aus, die mehr dem Reiche mythischer Gestalten entspringen, während in anderen Zeiten die Seele ihre Geheimschrift mehr im Leben der unmittelbaren Daseinserfahrung findet. Die Seele scheint zu bestimmten Zeiten mehr „in Form" zu sein als in anderen. Sie hat runde, umrissene Gestalten ihrer selbst, „Psyche", „Dämon", sie hat für das Unsagbare feste Namen, „die Götter", „der Äther", oder sie muß immer wieder in der Natur und der realen Umwelt Sprache und Bild des eigenen Ich und des Jenseits neu entdecken. Mag zwischen dem Ich und der Gestalt des Ich eine größere oder kleinere Distanz bestehen, immer ist die äußere Gegenständlichkeit im Grunde aus dem gleichen „ Innenraum " geboren, immer besteht der gleiche Bezug von Schöpfer und

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Geschöpf des lyrischen Kunstwerks, wie ihn Schiller in „Die Künstler" zu umfassender Aussage bringt: „Je reicher ihr den schnellen Blick vergnüget, In höhre schönre Ordnungen der Geist In e i n e m Zauberbund durchflieget, In e i n e m schwelgenden Genuß umkreist, Je weiter sich Gedanken und Gefühle Dem üppigeren Harmonienspiele, Dem reichern Strom der Schönheit aufgetan — Je schönre Glieder aus dem Weltenplan, Die jetzt verstümmelt seine Schöpfung schänden, Sieht er die hohen Formen dann vollenden, Je schönre Rätsel treten aus der Nacht, Je reicher wird die Welt, die er umschließet Je breiter strömt das Meer, mit dem er fließet, Je schwächer wird des Schicksals blinde Macht, Je höher streben seine Triebe, Je kleiner wird er selbst, je größer seine Liebe." Es handelt sich um eine Identifikation ähnlich wie die des Romandichters oder Dramatikers mit seinem Helden, um sagen zu können, was dieser tut und sagt, eine Erweiterung des Kreises der durchseelten und innerlich belebten Umwelt, die Hand in Hand geht mit einer Erweiterung des eigenen Ich. Es ist ein Durchbruch des inneren Sinnes durch die Welt der äußeren Erscheinungen. Wie der Dramatiker sich mit den Rollen seines Stückes einsfühlen muß, um sie als wahrhaft Lebende sprechen und handeln zu lassen, so muß sich der lyrische Dichter mit den Gegenständen seiner Aussage identifizieren, um in ihr Leben zu schauen und durch sie hindurch sich seiner selbst zu bemächtigen. Der Dichter bildet die Welt nicht nach herkömmlichen allgemeinen Bildern und Begriffen, sondern in einer unvermittelten Berührung mit ihrem Leben; vom Schein ihrer „objektiven" Wirklichkeit unberührt, sucht er sich in den Besitz der Dinge, so wie sie in sich selber sind, zu setzen, und geht dabei in seiner Aussage auf sein eigenes Ich zu oder in sein eigenes Ich zurück. Es bleiben zu unterscheiden: Mystische Erfahrungen als bestimmter Stoff lyrischer Gestaltung: die „mystische Lyrik";

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mystische Erfahrungen als Element des lyrischen Ausdrucks: „Ich-Charakter der Gegenstände"; und endlich: ein mystischer Zusamenhang zwischen dem Ich des Dichters und seiner wie immer dargestellten Gegenständlichkeit. Das, was an sich nicht unmittelbar als Zustand beschrieben werden kann, weil es nur als eine unklare Gemüts- und Bewußtseinserfüllung erlebt wird, kommt durch die dichterische Geburt zu klarem gegenständlichem Bewußtsein. Die unbewußte, unklare subjektive Stimmung im Erleben einer Landschaft wird so durch Dichtung verwandelt in die objektive, das heißt nacherlebbare Stimmung der „gestalteten" Landschaft. Die Weise der Gesaltung ist dabei Ausdruck des besonderen Erlebens des Gegenständlichen. Ein Gedicht gibt jedoch mit der Summe seiner Gegenständlichkeit und der Beschreibung der Eindrücke noch nicht das Ganze. Das konkrete Detail und der Sinn der Einzelaussage hat eine ansteckende Kraft, eine Richtung und einen Zug zu einem Ganzen, Eigentlichen hin, das nicht genannt wird, aber zu zwingender Gegenwart kommt. Das unklare Erleben, das bloße So-oder-So-Gestimmtsein ungeklärter Bewegungen der Seele wird durch Vergegenständlichung gebannt. Freilich hieße eine restlose Vergegenständlichung falscher Besitz oder T o d des ursprünglichen Erlebnisses. Das Besondere der dichterischen Aussage besteht darin, unklare Erlebnisse zu objektivieren und gleichzeitig das „Mehr" spüren zu lassen,das über jede Objektivation hinausweist und nur in dem „Ganzen" des Kunstwerks spürbar ist, das Schwebende und Undeutliche bei aller Anschaulichkeit, das Flüchtige und Besondere bei aller Deutlichkeit und Gültigkeit der Aussage zu erhalten: „Sprich, warum mit Geistersdinelle Wohl der Wind die Flügel rührt, Und woher die süße Quelle Die verborgnen Wasser führt? Banne du auf seiner Fährte Mir den Wind in vollem Lauf! Halte mit der Zaubergerte Du die süßen Quellen auf!" (Mörike, Frage und Antwort)

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Dadurdh, daß das unklare und flüchtige Erleben Gestalt gewinnt, ist es kein anderes geworden, es ist aber von anderen begreifbar geworden. Es bleibt erhalten in seiner schwebenden Ungeklärtheit, es wird nicht gedeutet oder gar durchschaut. Mit einem „als o b " gewinnt der Dichter die Anschaulichkeit einer Stimmung und läßt in sinnlichen Gestalten das Walten eines mystischen Zustandes erleben. Es sind Gestalten, die in dem Maße wirklich sind, als sie Ausdrucksfelder der innern Erfahrung sind. Bilder, die, an sich anschaulich geworden, nur dazu da sind, das Unsagbare zu bannen; Anschauungen, in denen Erlebnisse verwirklicht sind, die als solche nicht zu nennen wären und nur durch das erlösende Zauberwort des Dichters zu bleibender Gegenwart kommen, wie in Eichendorffs: „Es war, als hätt der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blütenschimmer Von ihm nun träumen müßt." (Mondnacht)

Das „als ob" dieses Vergleichs hat nichts Beliebiges; es birgt und bannt etwas nur so Sagbares und hält dennoch das Gemüt in freier Schwebe, es ist nicht das W o r t eines so oder so möglichen, sondern eines innerlich wahren und darum nur so möglichen Vergleichs, es offenbart ein einmaliges unvergleichliches Erlebnis in völliger Deutlichkeit und läßt dennoch der Flüchtigkeit der Stimmung offenen Raum. Es ist nicht an dem, als würde der lyrische Dichter seine Gedanken uncl Gefühle nur nachträglich in Bilder kleiden; seine Gedanken und Gefühle können schon ursprünglich in den Bildern sein und werden ihm erst durch die Bilder zugetragen, das heißt: er entdeckt sich in ihnen. Es handelt sich dabei nicht um schöne oder sinnvolle Gleichnisse oder gar Vergleiche, sondern um Bilder als Urformen des Erlebens, um Bilder, denen eine untrennbare Identität von Erlebnis und Anschauung zugrunde liegt. Kann man die Bilder eines Gedichtes als Urbilder der Seele begreifen, so wird es unmöglich, das Bild selbst von dem zu trennen, was es aussagt. In dem Bild ist alles enthalten, was

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der Dichter an Bedeutung, Stimmung und Sinn zur Aussage bringen kann und will. Jedes geringste Ereignis kann dem lyrischen Dichter bedeutsam werden als Ausdrudksfeld und Bedeutungsträger seines seelischen Zustandes: „Mit dem ersten Blick sah ich, daß er ein Diditer war, wenn an nichts anderem so daran, daß ein Ereignis, das, wenn es einem trivialen Menschen begegnete, in Ruhe und Frieden zu nichts geworden wäre, für ihn zu einem Weltereignis aufschwoll1) " ; oder wie es bei Rilke heißt: „Welche Verabredung, Größe hervorzurufen, geht durdi den kleinlichsten Alltag. Vorgänge so gleichgültig, daß sie nicht imstande wären, das nachgiebigste Schicksal um ein Zehntausendstel zu verschieben —, siehe: hier winken sie, und die göttliche Zeile tritt über sie fort ins Ewige 2 )." W i e jedes zufällige Ereignis unseres Lebens, so kann jedes Bild, das äußerlich aufgenommen wird, und audi jedes plötzlich in der Seele und Phantasie auftauchende, einen unerklärlichen, unendlichen und unauflösbaren Bedeutungsgehalt gewinnen, es kann zum umfassenden Organ der Aussage des eigenen Seins werden: „Jedes Willkürliche, Zufällige, Individuelle kann unser Weltorgan werden. Ein Gesicht, ein Stern, eine Gegend, ein alter Baum usw. kann Epoche in unserem Innern machen — dies ist der große Realismus des Fetischdienstes 8 )." Das Bild ist hier nicht nur Ausdrucksfeld von etwas, was vorher schon in uns war, sondern es macht erst etwas aus uns, es kann „Epodie in unserem Innern machen". Es ist nicht so, als suche mein Bewußtsein im Anschaulichen eines Bildes einen Ausdruck, sondern das Bild selbst, die zufällige Begebenheit vor meinen Augen, die Erscheinungen meiner Phantasie bringen midi erst vor midi selbst. Das Erlebnis wird mir mit dem Bild zugetragen, ist nur in ihm enthalten. Damit der lyrische Dichter in Bildern sein eigenes Sein gewinne, bedarf es der Entrücktheit vom reflektierenden Bewußtsein, bedarf es einer Ekstase, die die bildnerischen Kräfte ' ) Kierkegaard, Werke (ed. Diederidis), Bd. III, S. 207. *) Rilke, ü b e r den jungen Dichter. ») Novalis, Werke, Ausgabe Kludchohn, Bd. III, S. 348.

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sdienkt und in Bildern ergreifen läßt, was sich in begrifflicher Auslegung des Daseins nicht sagen ließe. Schon Piaton sagte, daß die W e r k e der Dichter nicht Erzeugnisse des überlegenden Kunstverstandes seien, daß Gott selbst der Künder sei und durch die entrückten Dichter als seine Dolmetscher zu uns rede: „ U n d ähnlich wie mit den Bacchantinnen, die nur in diesem Zustand aus den Strömen Milch und Honig schöpfen, nicht aber wenn sie bei voller Besinnung sind, steht es auch mit der Seele der Liederdichter, wie sie selbst versichern; denn bekanntlich sagen uns ja die Dichter, daß sie von honigströmenden Quellen aus wundersamen Gärten und Tälern ihre Lieder einsaugen und sie zu uns bringen, wie die Biene den Honig, fliegend so gut wie sie. U n d sie haben recht damit. Denn mit dem Dichter ist es ein eigen Ding: leichtbeschwingt und gottgeweiht wirft er die irdische Schwere von sich und ist nicht eher imstande zu dichten, als bis er von Begeisterung ergriffen und von Sinnen ist und aller ruhigen Vernunft b a r 1 ) . " U m die Bilder als etwas ursprünglich Eigenes, als Urbilder seiner selbst zu erleben, muß der Mensch aus der Begrenzung und Vereinzelung seines „Bewußt-Seins" herausgetreten sein. Die Geburt der dichterischen Bilder, beruhend auf einer mystischen Identität von eigenem Sein und fremder Erscheinung, wird erst in einem gesteigerten Zustand der Entrüdcung und Selbstvergessenheit möglich. Das Bild spricht nicht als „Gleichnis" des eigenen Innern, sondern als „Gleichheit" von Innen und Außen. Als „dionysischen Zustand" hat Nietzsche dieses gesteigerte Selbsterkennen und Selbstw erden in der Einsfühlung mit dem bildhaft Gegenständlichen beschrieben, jenen Zustand, von dem er sagt, „Der Geist ist dann ebenso in den Sinnen heimisch und zu Hause, wie die Sinnen in dem Geiste zu Hause und heimisch sind . . . bei solchen vollkommenen und wohlgeratenen Menschen werden zuletzt die allersinnlichsten Verrichtungen von einem Gleichnis-Rausche der höchsten Geistigkeit v e r k l ä r t 2 ) " ; in diesem „GleichnisRausch" sind die Zügel des bestimmenden Verstandes und ' ) Piaton, Jon 533/534, übersetzt von Otto Apelt in Meiner, Bibliothek, Bd. 172 a, Leipzig 1918, S. 112 ff. 2 ) Nietzsche, Gesamtausgabe, a . a . O . , Bd. 16, S. 388ff.

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des reflektierenden Denkens fahren gelassen. Das einzelne Bild und die einzelne Begebenheit schwillt zu unendlicher Bedeutung und Aussagekraft an. „Was dem Tagesauge einzelnes unter einzelnem war, steht von tellurischen und kosmischen Strömen umringt. Farben, Formen, Klänge, Geräusche, Düfte scheinen in ihm zum Pandömonium aller Bildelemente verschmolzen; und dennoch leuchtet es schimmernd und überklar, einem bald drohenden, bald verheißenden Antlitz ähnlich. Nicht gegenständlich verändert wurde die Wirklichkeit, mit der sich das Bild gebar, wohl aber wichen die Schranken, die von der Wirklichkeit selber trennen, dem — Gegenstand! Was immer in den Strahl des urbildlichen Schauens trat, es ist nicht mehr ein Ding unter a n d e r n Dingen, sondern es wurde zum Mittelpunkt der Welt. Es gilt von ihm, was Mephisto dem Adepten zuerkennt 1 ) : . . . „Wirf dich ins Meer, wo es am wildsten tobt, Und kaum betrittst du perlenreichen Grund, So bildet wallend sich ein herrlich Rund, Siehst auf und ab lichtgrüne schwanke Wellen Mit Purpursaum zur schönsten Wohnung schwellen, Um dich den Mittelpunkt. Bei j e d e m S c h r i t t , W o h i n d u g e h s t , g e h n d i e P a l ä s t e mit." Der Mensch löst sich auf in die Erscheinungen seiner urbildlichen Schau. Er erlebt im mystischen Gleichnisrausch eine unio des eigenen Ich mit seinem Abbild, Ebenbild und Traumbild: „Was bist du mehr als meiner Kerze Docht, Als meiner Lampe siedend Balsamöl, Was bist du mehr als meiner Sänfte Blut, Als meiner Mosaiken Hyazinthenpracht, Die unter meiner Sohle Tritt erglüht — Ich bin das Licht, das aus der Nacht dich saugt, Ich bin das Auge, das den Glanz dir heuchelt, Ich bin die Perle, die die Muschel füllt, Ich bin der Rausch, der diese Welt verjüngt, Ich bin das Leben —" (Schuler, Korybantisdier Dithyrambos) ') Klages, Vom kosmogonisdien Eros, Jena 1930, S. 123.

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Die Entrückung des Dichters in der unio von Ich und Bild besteht aber nicht lediglich in einem dunklen „dionysischen" Versunkensein in bloße Zuständlichkeit, sondern sie ist auch „Erhellung" und „Erschließung" des Lebensgrundes und Lebenssinnes. Es hieße den Sinn des Lebens in einem zweckund sinnbefreiten Nurdasein, in zielloser Ursprünglichkeit suchen, wollte man der Schau des Dichters nur den Inhalt eines dunkel benommenen Versunkenseins und nicht auch den der hellen Sinnergreifung und der Bemächtigung des transzendendierenden Selbst abgewinnen. Die Ekstase des bildergebärenden Dichters läßt sich nicht mit der erotischen Ekstase gleichsetzen. „Der große Realismus des Fetischdienstes", wie Novalis es nannte, ist eine besondere Form des Erkennens, die Begriffsform des magischen Bannes fremder Gegenständlichkeit als Ausdrudksfeld des eigenen Ich. Es ist eine Selbstbemächtigung durch die nahen und fernen Erscheinungen der Umwelt hindurch, die als identisch mit dem eigenen W e s e n begriffen und beschworen werden. Die präkausalen und prälogischen, urbildlich schauenden Kräfte des „homo magus" sind in der Bildgeburt des Dichters wieder freigeworden. Die „Schau" des Dichters übermittelt keine rationalen Erkenntnisse oder Einsichten, sie kann nur bewirken, daß man mit Hilfe der beschwörenden Zauberformel der dichterischen Sprache in die urtümliche Wirklichkeit und Bedeutsamkeit des Bildes seiner Seele einbezogen wird, daß man vermittels des Zustandes des sich in fremder Erscheinung selbst ergreifenden Dichters — wie es das W o r t noch in ursprünglicher Bedeutung meint — „im B i l d e i s t " . „Für den ,homo magus' trifft durchaus noch in heller Buchstäblichkeit zu, was Gottfried Kellers Grünem Heinrich von seiner verstorbenen Sippe, von seinen verschollenen Jugendgespielen träumte, mit der ebenso selbstverständlichen wie entrückenden Mystik der großen Dichtung. , W i r eilen und wir weilen / W i r weilen und wir eilen / Sind da und sind doch dort / U n d gehen bleibend fort' . . . W i r aber verstehen! ,Individuiertes Dasein und Hiersein', dem Augenschein nach unabänderlich geheftet an die Einmaligkeit von O r t und Stunde, entpuppt sich in Wahrheit als eine ,virtuelle Allgegenwart' , welche jedes andere Dasein und Hiersein magisch

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erreidien kann, wie umgekehrt jedem anderen Dasein und Hiersein erreichbar ist. Vollends dein Abbild aber, dein Ebenbild, Spiegelbild, Schattenbild, Traumbild — das bist auf jede Weise nur du selbst 1 )." Für die ebenso „selbstverständliche wie entrückende Mystik der großen Dichtung" gewinnt jegliches Dasein, jegliche einzelne Erscheinung „virtuelle Allgegenwart"; sie kann „Weltorgan" werden. In der selbstvergessenen Ekstase kann jede Erscheinung, jegliches Bild zum magischen Ausdrucksfeld der eigenen Seele werden. „Umflutet und durchspült von dem wirkträchtigen Fluidum" seiner selbst findet der Dichter in einem mystischen Strom, der das Fernste zum Nächsten macht, „keine Ferne macht dich schwierig", der das Fremde zum Eigenen macht und das Eigene ins Fremde fließen läßt, in die transzendierende Gestalt des eigenen Ich: „Wer einmal tief und durstig hat getrunken, Den zieht zu sich hinab die Wunderquelle, Daß er melodisch mitzieht selbst als Welle, Auf der die Welt sich bricht in tausend Funken. Es wächst sehnsüchtig, stürzt und leuchtet trunken Jauchzend im Innersten die heil'ge Quelle, Bald Bahn sich brechend durch die Kluft zur Helle, Bald Kühle rauschend, dann in Nacht versunken. So laß es ungeduldig brausen, drängen! Hoch schwebt der Dichter drauf in goldnem Nachen, Sich selber heilig opfernd in Gesängen. Die alten Felsen spalten sich mit Krachen, Von drüben grüßen schon verwandte Lieder, Zum ew'gen Meere führt er alle nieder." (Eichendorff, Der Dichter, IV)

Die urbildliche Schau des Dichters ist ein Erkennen, das nicht gegen den Geist wirkt, sondern mit und im Geist als liebende Einigung in dem umfassenden Sinne Goethes: „Denn das Leben ist die Liebe Und des Lebens Leben Geist." 0 Leopold Ziegler, Oberlieferung, Erstes Hauptstack, S. 33, Leipzig 1936.

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Es gibt dem Erkennen eine das ganze Sein ergreifende Bedeutung, es wird selbst zum Sein. M i t beschreibenden und erklärenden W o r t e n läßt sich jedoch der Vorgang und Inhalt der dichterischen Bildgeburt nicht erfassen: „Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. Audi Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn W i e du anfingst, wirst du bleiben, S o viel auch wirket die N o t U n d die Zucht, d a s m e i s t e n ä m l i c h V e r m a g die G e b u r t , U n d der Lichtstrahl, der Dem Neugebornen begegnet." (Hölderlin, Der Rhein)

„Die virtuelle Allgegenwart" aller Erscheinungen, aller Bilder äußerer Erfahrung, aller Bilder der Erinnerung und der Phantasie, als magischer Felder des Selbstwerdens und Selbsterkennens, die Erhellung des eigenen Ich im fremden Bild und die Geburt des Bildes aus dem eigenen Innenraum, dieser mystische Sachverhalt entzieht sich einer näheren Beschreibung eines „ W i e " und „ W a s " : „Der Gesang kaum darf es enthüllen." In seiner apokryphen Dichtung „In lieblicher Bläue blühet mit dem metallenen Dache der Kirchturm", die mit den W o r t e n endigt: „Leben ist T o d , und T o d ist auch ein L e b e n " , hat uns Hölderlin einen Blick in das Geheimnis der Bildgeburt und das mystische Ineinander von Bild, Ich und Sinn tun lassen. „Augen hat des Menschen Bild, hingegen Licht der Mond. Der König ö d i p u s hat ein Auge zu viel vielleicht", heißt es dort, und diese W o r t e mögen das Folgende erläutern, in dem zwar die Sprache vor der berstenden Fülle des Andrängenden und dem Unmaß an Ausdrucksgehalt ihre logische Fügung sprengt, dem nacherlebenden Mitvollzug aber noch eine ungeheure Bedeutung erschließt: . . . „ W e n n einer unter der Glocke dann herabgeht, jene Treppen, ein stilles Leben ist es, weil, wenn abgesondert so sehr die Gestalt ist, die Bildsamkeit herauskommt dann des Menschen. Die Fenster, daraus die Glocken tönen, sind wie T o r e an Schönheit. Nämlich weil noch der Natur nach

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sind die Tore, haben diese die Ähnlichkeit von Bäumen des Waldes. Reinheit aber ist auch Schönheit. Innen aus Verschiedenem entsteht ein ernster Geist. So sehr einfältig aber die Bilder, so sehr heilig sind die, daß man wirklich oft fürchtet, die zu beschreiben. Die Himmlischen aber, die immer gut sind, alles zumal, wie Reiche, haben diese Tugend und Freude. Der Mensch darf das nachahmen. Darf, wenn lauter Mühe das Leben; ein Mensch aufschauen und sagen: so will ich auch sein? J a " . . . . . . „Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde" . . . . . . „Auch eine Blume ist schön, weil sie blühet unter der Sonne. Es findet das Aug oft im Leben Wesen, die viel schöner noch zu nennen wären als die Blumen. O ! ich weiß das wohl! Denn zu bluten an Gestalt und Herz, und ganz nicht mehr zu sein, gefällt das Gott? Die Seele aber, wie ich glaube, muß rein bleiben, sonst reicht an das Mächtige mit Fittigen der Adler mit liebendem Gesänge und der Stimme so vieler Vögel. E s i s t d i e W e s e n h e i t , d i e G e s t a l t i s t ' s . Du schönes Bächlein, du scheinst rührend, indem du rollest so klar, wie das Auge der Gottheit durch die Milchstraße. Ich kenne dich wohl, aber Tränen quillen aus dem Auge. Ein heiteres Leben sehe ich in den Gestalten mich umblühender Schöpfung, weil ich es nicht unbillig vergleiche den einsamen Tauben auf dem Kirchhof. Das Lachen aber scheint mich zu grämen der Menschen, nämlich ich hab ein Herz" . . . Der Sinn des Lyrischen wird geradezu gefährdet, wenn das Bild bloßer Vergleich ist. Es fehlt ihm die Offenbarungskraft „als Wundergeburt unseres Schöpfer-Ich", wie Jean Paul sagt. „Die äußere Natur wird in jeder inneren eine andere, und diese Brotverwandlung des Göttlichen ist der geistige poetische Stoff, welcher seinen Körper selber baut 1 )." Unsinnig wäre es, in diesen Vorgang weiter eindringen zu wollen. „Der Mensch wohnt hier auf einer Geisterinsel, nichts ' ) J e a n Paul, Vorschule der Ästhetik, § 49, D e r bildliche W i t z , dessen Quelle.

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ist leblos und unbedeutend, Stimmen ohne Gestalten, Gestalten, welche schweigen, gehören vielleicht zusammen, und sie sollen ahnen; denn alles zeigt über die Geisterinsel hinaus in ein fremdes Meer. Diesem Gürtel der Venus und diesem Arm der Liebe, welcher Geist an Natur wie ein neugeborenes Kind an die Mutter heftet, verdanken wir nicht allein Gott, sondern auch die kleine poetische Blume, die Metapher 1 )." Das ichhaltige Bild ist „die Substanz der inneren Welt des Künstlers"' 2 )- Das menschliche Selbst und die äußere Welt fließen ineinander. Der Mythos ist nach Bachofen die „Exegese des Symbols", und „jede Metapher ist", wie Vico sagt, „ein kleiner Mythos". In der Metapher wird der Kreis des Geschaffenen Ausdrucksgefäß des menschlichen Geistes und als Mythos erhöht zum Gefäß des Göttlichen. „Aus der Einzigartigkeit subjektiver Gefühlsverwandlung wächst die Metapher herauf, sie erfährt ihre höchste Entfaltung, wo dies Subjektive ins übersubjektive sich zu erheben die Kraft hat, und sie verfällt, wo es nur noch Individuelles zu sagen gibt 3 )." In der durch das Auge des Dichters mythisch gewordenen Wirklichkeit gewinnt diese eine Ausdruckskraft, die ihr Transzendenz verleiht, und bleibt dennoch nicht anders als der Mythos selbst als Anschauliches gegen das übernatürliche abgeschlossen: „Und deines Geistes höchster Feuerflug hat schon am Gleichnis, hat am Bild genug." (Goethe, Prooemion)

Anschauen und Begreifen sind geeint durch das Bild. Dichterische Kraft wirkt mystischem Streben entgegen, indem es einer restlosen Auflösung des Mythos, einer mystischen Entbilderung Halt gebietet; sie zwingt, im Bild zu bleiben. Dichterisches Bilden lehrt denken, indem es als „Exegese des Symbols" urtümliches Nachbilden und „Ahmen" deutet und auslegt, und es lehrt noch und weiterhin in Bildern denken, wo es sich gegen bares begriffliches Denken behaupten muß. In der Jean Paul, Vorschule der Ästhetik § 49. ) Pongs, Das Bild in der Dichtung, Hamburg 1927, S. 16. 3 ) Pongs, s. o. S. IX. 2

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lyrischen Poetik eines Schiller, dem Fichte vorwirft, man könne nun einmal „mit der Einbildungskraft nicht denken", kommt diese, die ganze Geschichte des menschlichen Bewußtseins umfassende Aufgabe des Dichters nicht nur zu betrachtender Erörterung, sondern zugleich als Dichtung zu beispielhafter Lösung: „Daß dein Leben Gestalt, dein Gedanke Leben gewinne, Laß die belebende Kraft stets auch die bildende sein." (Dichtungskraft)

MYSTIK U N D

DICHTUNG

Die dichterische Intuition, so sehr sie sich auch in Analogie zu der des reinen Mystikers befinden mag, ist eine besondere, schon deshalb, weil der eigentliche Akt des Dichtens, das Wunder der Poesie, in der Geburt des Wortes und nicht in der realen Vereinigung mit dem Gegenüber ihr Ziel hat. Das Wunder dichterischer Erkenntnis restlos erklären wollen, hieße das Wunder leugnen. Etwas Geheimnisvolles damit klären, daß man es in ein anderes Geheimnis übersetzt, heißt nur, es doppelt verschleiern. Daß das mystische wie das poetische Erlebnis, durch keinerlei logische Anstrengung zu erklären, einer besonderen Gunst und Gnade entspringt, kann kaum bewiesen werden. Aufgewiesen kann werden, daß die mystische wie die poetische Erkenntnisform in einer bestimmten analogen Beziehung zueinander stehen, wobei vorausgesetzt ist, daß die mystische wie die poetische Erkenntnisform gegenüber der abstrakt urteilenden, der begrifflichen, ein selbstgenügsames Eigenleben beanspruchen können. Mystische Erkenntnisform (Identifikationswissen) und „poetische Logik", so wenig sie zu der Tätigkeit des urteilenden Verstandes, der Ratio an sich in Feindschaft stehen mögen, haben ein grundsätzlich anderes Ziel des Geistes als diese gemeinsam. Das „rerum cognoscere causas", das bestimmende abstrakte Urteilsvermögen, die begriffliche Welterfassung ist für sie in des Wortes eigentlicher Bedeutung gegenstandslos. Die mystische „docta ignorantia" wie die dichterische Erkenntnisweise hat ihr Ziel nicht in Ordnung, Bestimmung, Berechnung und Erklärung der Welt und ihrer logischen Gegebenheiten. Einem abstrahierenden Denken „über" die Dinge, einem kritischen Beherrschen des Lebens und seiner Gegenstände, wie sie wissenschaftliche Erkenntnis leistet, steht in

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der mystischen Erkenntnisweise ein liebendes Vereinigen mit dem Herzen der Dinge, so wie sie in sich selber sind, gegenüber und in der dichterischen ein „Haben", ein „Bergen", ein auslegendes „Treffen", das mit dem W o r t immerdar auch die Sache hat, das nur aus einem einmaligen Akt unmittelbar erfassender und umfassender Anschauung (Intuition) der Dinge, oder eben wiederum aus Vereinigung mit ihrem Wesen und Leben (Identifikationswissen) kommt. Was Goethe „Schauen" nannte, die plötzliche, umfassende, transkausale und translogische Intuition, die ebenfalls Voraussetzung des dichterischen Wortes sein kann, hat möglicherweise einen anderen psychologischen Vorgang als den der Identifikation zu seiner Voraussetzung. Die Aussage des einzelnen Gedichtes läßt uns nur selten erkennen, welcher psychische Zustand seiner Geburt vorhergegangen sein muß; sie ist jedoch in der Lage, uns eine besondere Erkenntnis zuzutragen, die dadurch möglich wurde, daß „wir in das Leben selbst der Dinge schauen". W i r machen uns nur selten klar, daß die Aussage eines Dichters, die uns geläufig geworden sein kann wie jede durchschnittliche andere Beobachtung, oft nur einem mystischen Akt der Identifikation entsprungen sein kann: etwa um sagen zu können: „die Wiesen träumen", oder noch einfachere Aussagen, wie „der Fuß des Berges", die ganz in die Umgangssprache eingegangen sind und doch ursprünglich die Intensität mystischer Einsfühlung voraussetzen. Das Wort eines lyrischen Gedichtes teilt uns nicht Ansichten mit oder Erklärungen der Dinge, die sich jenseits oder diesseits der dichterischen Sprache verallgemeinern ließen, sondern übermittelt uns mit den Dingen zugleich ihre Deutung, besser gesagt ihren Besitz. „Das nur der Poesie eigene Privilegium ist eine gewisse Macht, die sie hat, die Dinge zu deuten. Man verstehe darunter keineswegs die Fähigkeit, schwarz auf weiß eine Erklärung des Welträtsels zu liefern, sondern eine Macht, uns die Dinge derart vorzuführen, daß in uns ein wunderbar reiches Gefühl der Dinge und unserer Beziehungen zu ihnen erwacht, derart, daß dies Gefühl in uns an die Stelle der Dinge, die außerhalb unser sind, tritt

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und wir uns in Berührung mit der Natur selbst fühlen, mit dem Wesen der D i n g e . . . wir halten ihr Geheimnis in der Hand und die Harmonie zwischen ihnen und uns ist hergestellt . . . Die wissenschaftlichen Erklärungen des Alls geben uns nicht, wie dies die Poesie tut, das vertraute Gefühl der Berührung, des Besitzes 1 )-" Die Aussage des lyrischen Gedichtes braucht unseren Verstand nichts zu lehren und kann doch als Entdeckung, Offenbarung und Besitzergreifung eine Erkenntnis enthalten, eine Erkenntnis, die nicht in einem Wissen über die Dinge besteht, sondern in einem Wissen der Dinge. Das, was in der Aussage des Gedichtes dargestellt ist, ist auch immer wirkend im Sinne des Lebendigseins, seine Wirklichkeit ist nicht nur dargestellt, sondern sie ist lebendig da. Die Dinge sind in dem Wort des Dichters leibhaftig und lebendig beschworen, sie gewinnen wirkende Gegenwart, über die man nicht hinausfragen kann, und sie gewinnen sie nur durch das Zauberwort des Dichters, das sie zum Leben erweckt. Wie bei jeder Beschwörung, so beruht dieses Zauberwort auf völliger, untrennbarer Einheit von Inhalt und Form. Wenn mystische wie poetische Erkenntnis nicht ein urteilendes oder begriffliches Erfassen der Dinge, sondern unmittelbare Besitzergreifung und Vereinigung mit ihrem Leben sind, so bleibt diese Erkenntnis beim Mystiker sprachlose Selbstvergewisserung, beim Dichter verwandelt sie sich in bannende und beschwörende Aussage. Das dichterische Erkennen ist ein Treffen durch das Wort, das Haben einer Sache mit dem Wort. Die Dinge selbst scheinen dem Dichter das zum Leben erlösende und zu dauernder Gegenwart erweckende, das im mystischen Sinne „erkennende" Wort als Geschenk für die Vermählung mit ihnen in den Mund zu legen. Solange er als ein nur Betrachtender draußen und in sich verschlossen bleibt, findet der Dichter nicht die Zauberformel, mit der er die Dinge zum Leben erwecken kann. Erst wenn er sich ihnen innerlich erschließt und gleichzeitig in die Dinge hineinversenkt — Dinge *) C h a r l e s M a g n i n , „ C a u s e r i e s et méditations historiques et littéraires", Paris 1923, I, S. 313.

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im allgemeinsten Sinne als Begegnungen des inneren und äußeren Lebens — , dann ist sein Nennen zugleich ein Gebären und Beleben: „So ist der Mensch; nicht Anderes kanns; er fördert das Andere Freundlich und feindlich nur heilige Tiefen heraus; Denn der Karge verbargs; nun aber nennt er sein Liebstes, Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen, entstehn." (Hölderlin, Brot und Wein)

Aus dem Blick in das Leben der Dinge, aus dem Leben in dem Leben der Dinge gewinnt der Dichter das Zauberwort und ruft sie aus ihrem schlafbefangenen Dasein zu dauerndem Leben wach: „Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort Und die Welt hebt an zu singen Triffst du nur das Zauberwort." (Eidiendorff, Wünschelrute)

Es gibt keine Feindschaft zwischen Poesie und Vernunft. Nur wo diese nach dem „rerum cognoscere causas" strebt und ihre Bestimmung einer Sache eigentlich nur negativ, das heißt abgrenzend, „de-finierend" treffen kann, bewirkt jene ein Aneignen und Haben der Dinge, ein Berührtwerden mit ihrem Wertkern, eine Fühlung mit ihrem Wesen, einen befriedenden Besitz und eine erlösende und schlichtende Auslegung. Darum hat man treffend den Dichter den „positiven Phänomenologen" genannt; denn er ist der Einzige im Reiche des Geistes, dessen Aussage und Bestimmung schlechthin positiv ist, dadurch, „daß sie die Einbildungskraft in Freiheit setzt und innerhalb der Schranken eines gegebenen Begriffs, unter der unbegrenzten Mannigfaltigkeit möglicher damit zusammenstimmender Formen, diejenige darbietet, welche die Darstellung desselben mit einer Gedankenfülle verknüpft, der kein Sprachausdruck völlig adäquat ist" 1 ). In seinem psycho») Kant, Kritik der Urteilskraft, § 53.

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logisdien Grundriß dem Mystiker verwandt und in der Weise seines Erkennens immer wieder eine mystische Erkenntnisform ins Spiel ziehend, trennt den Dichter als den Nennenden von dem Mystiker als dem sprachlos Versunkenen am Ende eine Welt von Gegensätzen, was man als die Polarität von Mystik und Magie bezeichnen kann, in der sidi die Geburt des dichterischen Wortes vollzieht.

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„Magier und Mystiker sind nicht aus der Welt zu schaffende Urtypen des seelischen Lebens. Zwischen der Magie, die in der Sprachform als einem Werkzeug so viel als möglich, sogar Gott zu bannen strebt, und der Mystik, die alle Formen entwertet, zerbricht und verwirft, ist ein ewiges Hin und Her 1 )-" Der Dichter steht zwischen beiden Möglichkeiten, neigt bald mehr der einen, bald mehr der anderen zu. Er steht zwischen ihnen in seinem Verhältnis zur Sinnenwelt und Seelenwelt, in seiner sogenannten Weltanschauung, und er steht zwischen ihnen als Künstler, bei dem immer wieder der Mystiker gegen den Magier, der Magier gegen den Mystiker aufsteht. Das „ W a s " und das „Wie" seiner Gestaltung stehen gleicherweise in diesem Zwischenreich. Der Weise, in der sich der Mensch fühlend und erkennend in seiner Welt findet, kann eine vorwiegend rationale, mystische oder intuitive Einstellung zugrunde liegen. Eine rein rationale Einstellung kann niemals Inhalt eines lyrischen Sprachgebildes sein, weil die lyrische Aussage auf einem rational nicht aufweisbaren Verhältnis des Menschen zur Welt beruht, einem Verhältnis, in dem zwischen Subjekt und Objekt eine innige und besondere Beziehung besteht, die nicht in logischer Bestimmung, sondern in „Aneignung" der Dinge und Ideen ihr Ziel hat. Dies Aneignen kann nun ein enthusiastisches Erfassen oder ein mystisches Versenken sein. Die enthusiastische Einstellung sieht das Endliche im Unendlichen, jeder Gegenstand der Liebe, so sehr er sich in Beziehung zum Absoluten befinden mag, bleibt als „Gegen" stand erhalten. Ihr Erleben läßt sich ebensowenig wie das mystische in rationalen Kategorien erfassen. Während die radikale mystische Einstellung auf jedes Dasein, jede Einzelwahrnehmung und Gestalt verzichtet und selbst Gott noch ' ) Karl Vossler, Geist und Kultur in der Sprache, S. 4.

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als Gegenständliches, als „Gegenwurf", zu vernichten sucht, zeigt sich die enthusiastische Einstellung als ein Streben und Ergreifen, das etwas Individuelles, Gegenständliches sucht. D a s Göttliche wird hier in den Dingen und G o t t noch als Gegenstand, als „Gegenwurf" erfaßt. Sind doch im enthusiastischen Erleben die Grenzen und Ränder der Wirklichkeit erhalten, ist doch in ihm das Wirkliche und Daseiende und Gott als Gestalt bejaht und zu nennen, während im mystischen die Dinge transparent und offen werden und eigentlich nur ihr Nichtsein als selbständiges Gegenüber sagbar wird, ebenso wie zuweilen auch für Gott kein N a m e bleibt. Sieht man davon ab, daß die Beschwörung der Wirklichkeit im Gedicht diese Wirklichkeit, mag immer der Prozeß ihrer Hervorbringung ein mystischer gewesen sein, als noch gegenständliche und anschauliche schildern muß, so kann neben der Kundgabe der mystischen Lyrik ein Gedicht seine Richtung auf die Kundgabe der endgültigen Trennung zwischen Ich und Gegenstand nehmen. So heißt es in Hebbels Gedicht „An eine edle Liebende", das uns in seinem ersten Vers das Erleben der mystischen Einigung nahebrachte: „ O , tu es nicht! Es gibt ein Widerstreben, So rein von jedem selbstisch rohen Triebe, D a ß sich das Höchste still zu Nichts zerriebe, Erschlösse dies ihm nicht ein ewges Leben. U n d könntest du im Edelsten erglommen Auch deines Wesens Form vor ihm vernichten — Die Elemente bleiben, die sie waren!" Hebbel, der Dichter der mystischen Einswerdung, ist zugleich der Dichter der steten Spannung von Ich und Gegenüber. Der Mystiker Goethe ist gleichzeitig der magische Beschwörer des Gegenständlichen als eines Letzten, in dem er Genüge sucht: „Am farbigen Abglanz haben wir das L e b e n . " Gerade die innere Wahrheit von Goethes Lebens- und W e r k entfaltung liegt darin, daß er immer wieder den einen Standpunkt verlassen mußte und sich dem anderen zuwandte, um ganz er selbst zu werden. Sich versenkender Einsfühlung steht liebendes Anschauen und schöpferische Intuition, mystischem Erfülltsein enthusiastisches

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Ergreifen gegenüber. Mystische wie enthusiastische Haltung, mystische wie intuitive Welterfassung finden sich in L e b e n und W e r k eines und desselben Dichters zusammen. In der Polarität beider Möglichkeiten vollzieht sich sein L e b e n und findet dichterischen Ausdruck. Es gibt in der dichterischen Aussage weder den reinen M y s t i ker noch den reinen Realisten. M a n kann sie nur als Idealtypen auseinanderhalten. D i e poetische Sprache, insbesondere die lyrische, nimmt dem M y s t i k e r seine absolute Richtung durch das M e d i u m des Ästhetischen, des sinnlich Anschaulichen und dem Realisten durch Stimmungs- und Sinnbedeutung, die jeder dichterischen, vor allem aber der lyrischen Aussage zugrunde liegen. D e r Künstler sagt eben als „poetischer Realist" mehr aus als reine W a h r n e h m u n g der empirischen Realität und versucht andererseits als mystischer L y r i k e r Anschauungen eines gänzlich Unanschaulichen zu geben. D e r radikale M y s t i k e r schreitet durch die Dinge hindurch und sucht in ein Letztes, Ursprüngliches, aber gleichzeitig Gestaltloses einzudringen. D e r W e g führt durch die D i n g e hindurch oder fernab von den Dingen. D a s Ziel ist letztlich ohne N a m e n . Die Gestalten und W e s e n der W e l t , die Regungen der Seele und des Geistes werden durch-schaut, aus dem W e g e geschafft und aus den Sinnen geräumt. D a s Dasein ist kein eigentliches „ D a - S e i n " mehr, sondern ein dauerndes „ F e r n - S e i n " und „Darüber-hinaus-Sein". Außen und Innen der Erfahrung sind sich gleichgeworden. Alles Äußere ist aufgelöst, alles Innere, sofern es die Bedeutung des eigenen Ich hat, aufgegeben. W a s bleibt zu sagen: eigentlich nichts; denn der Abschied grüßt noch die Dinge, und die Vernichtung kostet noch den Sieg, und in beiden wären noch die Dinge und das Ich. Doch die mystische Erfahrung ist nicht Affektlosigkeit, ein dumpfes, leeres Brüten, sondern sie ist Erfülltsein, Leben im letzten und vollsten Sinne. Leben aus namenlosem Ursprung zu namenlosem Ziel. Es wäre das ganze Leben, und alles andere erschiene von hier aus leer und ziellos; aber es ist nie ganz zu erreichen, und wenn man es erreicht glaubt, nie zu halten, es ist wie Durchblick und flüchtige E r h e b u n g ; es bleibt als Ziel.

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D e r radikale Realist nimmt die Dinge in ihrer Begrenzung als ein Letztes. E r sucht sein L e b e n im Dasein mit den Dingen zu erschöpfen. Ein anderes Sein als das Dasein und die Forderung des naheliegend Notwendigen will er nicht kennen. D i e Dinge sind ihm so groß und so klein, wie sein Auge sie sieht, so wichtig, wie er sie gebrauchen kann und so wirklich, wie sie ihr Dasein vor seinem Dasein sichtbar und fühlbar behaupten. D a s Äußere der Erscheinung sieht er ohne Beziehung zu seinem Inneren, und sein Inneres empfängt keine Antwort und Bestätigung von außen als die Erfahrungen seiner Sinne. Er glaubt sich als den allein W a h r h a f t i g e n und Nüchternen und dennoch: sein Drang, aus dem bloßen Dasein einen Sinn zu machen und sich vor anderen Lebensformen Recht zu verschaffen, straft ihn Lügen. E r wehrt sich gegen das „ M e h r " und „Darüberhinaus" in seinen Erfahrungen und liefert mit dieser U n r u h e nur den Beweis, daß dieses auch da ist. W i e der M y s t i k e r faktisch in der W e l t der Dinge und G e schaffenheiten verbleiben muß, so m u ß der Realist immer wieder die Grenzen seines bloßen Daseins durchstoßen. D i e Dinge der sichtbaren W e l t behaupten ebenso ihren Anspruch wie die Kräfte der T r a n s z e n d e n z ihren Anruf. D e r Mensch kann sich ebensowenig unvermittelt und dauernd in die T r a n szendenz bergen wie er sich restlos im bloßen Dasein der Sichtbarkeit behaupten kann. D i e radikal mystische Einstellung wie die radikal realistische fände, wenn sie als solche einen Ausdruck suchte, keine Sprache. D i e mystische, weil sie keine Anschauung, die realistische, weil sie keine Bedeutung gewänne. D i e dichterische Aussage m u ß über den Sinn des bloßen Daseins der Dinge hinaus und findet keine W o r t e für das b l o ß e Nicht-Sein und Nichts-Sein der Dinge. Einen Ausdruck findet nur das Streben zu den Dingen hin und von den Dingen weg. Poetischer Realismus ist ebenso wie lyrische M y s t i k bei scheinbar noch so radikaler mystischer oder realistischer Gesinnung als Ausdruck gebannt in die Sphäre des W o r t e s , und das heißt der mystischen Gesinnung gegenüber: Gestalt, L e i b und Anschauung; der realistischen gegenüber: Sinn und Bedeutung. D e r Dichter kann die Geheimschrift der T r a n s z e n d e n z immer von neuem in der empirischen Wirklichkeit lesen („magischer

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oder poetischer Realismus") oder aber er kann ihre Sprache durch Gestaltung überlieferter Mythen zur Gegenwart bringen. Zumeist findet er in beiden Möglichkeiten seine Sprache: in der Konzeption mythischer Gestalten wie in der Darstellung einer Wirklichkeit, die die Transzendenz zum Durchscheinen bringt und teil hat an den Mächten, die im bloßen Dasein nicht zu erfassen sind. Das Wirkliche wird hier als wirklich gesehen, ist aber gleichzeitig mit einer gesteigerten Ausdrucksfülle begabt, die Transzendenz zum Sprechen bringt. Neben den Dichtern, die sich vorwiegend der Gestaltung der reinen Transzendenz in überlieferten, mythischen Vorstellungen zuwandten, wie ein Klopstock und Hölderlin, stehen andere wie Keller, die im sichtbaren Diesseits und dem Vergänglichen in Welt und Augenblick die Geheimschrift des Absoluten entziffern. Es ist möglich, daß im Schaffen eines und desselben Dichters, wie etwa bei Mörike, die Transzendenz sowohl in der Sprache mythischer Gestalten wie in der Sprache transparent gewordener Wirklichkeit redet. Sie ist in beiden Fällen Vergewisserung des Absoluten, die sich anschaulich zur Gegenwart bringt. W o die reine Kontemplation sprachlos wird vor dem Unsagbaren, da spricht die Kunst noch in positiven Offenbarungen durch die Sprache ihrer Chiffern, durch die Anschaulichkeit ihrer mythischen Gestalten und ihrer gesteigerten und transparent gewordenen Wirklichkeit. Gnade und Kraft des Dichters ist es, die Transzendenz in anschauliche Gegenständlichkeit zu bannen, und das ist zugleich ihre magische Gewalt. Der Dichter als der Nennende, als der „positive Phänomenologe", muß das Unsichtbare sichtbar machen, das Namenlose beschwören, das Jenseitige im Anschaulichen bannen und das Unsagbare im Sagbaren bergen. Das will nicht heißen, daß die dichterische Sprache — wie dies häufig behauptet wird — notwendig Bildersprache sein muß. Gerade die mystische Lyrik liefert uns Beispiele einer bildlosen Anschaulichkeit des Unanschaulichen. Ist es doch die auszeichnende Kraft dichtender Rede, den Menschen gleichsam Brust an Brust, unmittelbar fühlend und ergriffen mit dem sinnlich nicht Wahrnehmbaren zu stellen und dieses im weitesten Sinne leibhafte Anschaubarkeit gewinnen zu lassen wie in Goethes:

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„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis; D a s Unzulängliche hier wird's Ereignis, D a s Unbeschreibliche hier ist's getan . . . " D a s „Unzulängliche", das „Unbeschreibliche", rein abstrakte Inhalte, sind hier zu leibhaftiger und anschaulicher Gegenwart in unmittelbarer Aussage beschworen, um in der nächsten Zeile mythischer Gestalt Platz zu machen: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan." Entscheidend ist nicht, ob die Sprache bildhaft gegenständlich oder begrifflich ist, um dichterisch zu sein, sondern entscheidend ist, daß ihre Aussagen im eigentlichen Sinne „anschaulich" sind, daß sie Wirklichkeit beschwören und nicht nur Meinungen vortragen. „Beschwören" und „Bannen", das heißt: Magie. „Sichversenken" und „Eintauchen" heißt: Mystik. D a aber der Dichter anschaulich von der Transzendenz künden muß und nicht in sprachlosem Versunkensein in sie verharren kann, lebt er zwischen einer Wirklichkeit, die ihm immerdar mehr ist als bloße Wirklichkeit, und der Einswerdung mit der Transzendenz, aus der er sich immer wieder losreißen muß, um sich mitzuteilen, um Sprache zu gewinnen. „ W o die Chiffre nur ein Anfang ist, um sie bald zu vernichten und eins zu werden mit der Transzendenz, von der sie trennte, ist Mystik. — Doch wo in der Chiffre die Ewigkeit des Seins gelesen wird, die reine Kontemplation anhält vor dem Vollendeten, also die Spannung meiner vor dem Gegenstande bleibt und doch das Zeitdasein verlassen ist, da ist das Reich der Kunst als eine W e l t zwischen der zeitlos versunkenen Mystik und der faktischen Gegenwart der zeitlichen Existenz. Löst sich das Ich auf in das unterschiedslose Eine, gibt sich im Zeitdasein das Selbstsein hin angesichts der verborgenen Gottheit, so liest es im Kunstanschauen die Chiffreschrift des Seins 1 )." Dadurch, daß der Dichter die „Chiffre" als ein Letztes nimmt, über das man nicht hinausfragen kann, birgt er das Jenseitige im Diesseitigen und ist somit Magier, ein Beschwörender und ') Karl Jaspers, Philosophie, Bd. III, a. a. O., S. 193.

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Bannender. Damit, daß er über das empirische Diesseits, die bloße Wahrnehmung, hinaus will, schließt er sich dem Strom des Transzendierens, des Hinübergleitens ins Jenseitige an, ist er Mystiker. Zwischen „zeitlos versunkener Mystik" und „zeitlicher Existenz" liegt sein Reich, und diese Zwischenstellung ist seine Q u a l und seine Herrlichkeit. Durch das bannende und bergende Wort findet er seine Rechtfertigung vor sich selbst, indem er sich durch das Wort selbst erkennt, seine Rechtfertigung vor der Welt, indem er sein Leben anderen erschließt, seinen Stand vor der Transzendenz, indem sein Dichten seine Form der Religion ist; denn sein Wort — so haben die Dichter es immer wieder selbst gedeutet — verlangt Einlaß und Gehör im Jenseits, es „transzendiert" empor als einfachster und kürzester Gottesbeweis: „Was auch in dieser Luft und Art Für Töne lauten, Die wollen alle herauf. Viele verklingen da unten zuhauf; Andere mit Geistes Flug und Lauf, Wie das Flügelpferd des Propheten, Steigen empor und flöten Draußen am Tor." (Goethe, Westöstlidier Divan)

Nicht nur vor der Transzendenz befindet der Dichter sich in einem Zwischenreich, auch sein Verhältnis zur Außen- und Innenwelt steht dauernd in Spannung zwischen Mystik und Magie. Magie, das heißt sichtbare Beschwörung, bannende Vergegenwärtigung. Mystik, das heißt Zerbrechen der Formen im Transzendieren. Magie bannt die Gegenstände, Mystik setzt sie in Allbezug. Für den Magier ist die Form ein Letztes, Unauflösbares. Für den Mystiker hat alles LImriß und Form verloren. Der Magier sucht Halt und Genüge in der plastischen Vollkommenheit des Gegenständlichen und in der Ausformung und Vollendung harmonischer Gefühle und Ideen. Der Mystiker ist unfähig, im schönen Schein und in der vollendeten Wirklichkeit Befriedung zu finden, er kennt keine Ziele und diesseitigen Harmonien in Welt und Seele. Der Magier spiegelt die überirdische Vollkommenheit in irdischen

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Vollkommenheiten. Dem Mystiker ist alles unvollkommen und selbst der Name Gottes noch zu überwinden. Der Magier hält sich an den Reiz der Oberfläche, ist selig in schönen Gefühlen, sieht in der Schönheit das Wahre und Gute geborgen. Der Glanz der Erscheinungen und die Seligkeit seiner Gefühle verleihen ihm das Bewußtsein eigener Herrlichkeit und im Nennen und Beschreiben der Dinge, im leuchtenden Widerspiel der inneren und äußeren Welt durch seine Worte hat er sein Glück und seinen Sinn: „Mit dem Geschick in hoher Einigkeit, Gelassen hingestützt auf Grazien und Musen, Empfängt er das Geschoß, das ihn bedräut, Mit freundlich dargebotenem Busen Vom sanften Bogen der Notwendigkeit." (Schiller, Die Künstler)

Doch immer wieder drängt es den Dichter, auch hinter die Dinge und Erscheinungen zu blicken. Er hat am bloßen Ding und Namen nicht genug, er sucht in ihnen zu erfühlen, was sie im Innersten zusammenhält, die bloße Bezeichnung und Beschreibung dünkt ihm ohne Inhalt. Er wird genötigt, sie preiszugeben, weil sie seinem wahren und eigentlichen Erleben nidit mehr entsprechen, und er muß sich hingeben an das, was im Inneren der Erscheinungen west und lebt; und doch sieht er sich wieder auf die Sprache angewiesen, um seinem Erleben neue Namen zu geben. Das Mystische erweitert den Kreis der durchseelten und innerlidi belebten Umwelt, die der Dichter dann immer wieder magisch zu bannen strebt. Wie er auf innere „Anschauung" bedacht sein muß, so muß er es zuweilen auch auf die Erhaltung der äußeren Anschauung sein, damit das Gefäß seines Ausdruckes deutlich bleibe, damit mit der äußeren Deutlichkeit nicht auch die innere Wahrheit zerrinne. Vor allem aber, um Verwandlung zu schaffen und Gestaltwandel, der das Eine und Alleine in stets neuem Bezug erkennen läßt und damit stets neu zur Wirkung bringt und nicht in ungestaltetem Allgefühl sich verflüchtigen läßt. In immer neuen Gestalten und Bezügen, in immer neuen Vergegenständlichun-

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gen den Urgrund aller Dinge und Wesen aufleuchten zu lassen, in stets wechselnden Graden der Selbstvergewisserung den Weg und Sinn des Lebens zu erhellen und nicht im Genuß der Vollendung das Bewußtsein zu entleeren, immer wieder zurückzukehren aus der Schau des Alleinen in neue, verwandelte Gegenständlichkeit, immer wieder im Nächsten das Nächste unserer Seele zu ergreifen, die Welt der Dinge und flüchtigen Erscheinungen anzunehmen als Offenbarungen, die sich auf keinem anderen Wege finden ließen, dem Vorläufigen und Zufälligen einen Sinn abzulauschen, dem leisesten Reiz der Umwelt sich hinzugeben und in der vollendeten Gestalt von Natur und Kunst die Beglaubigung des Sinnes alles Lebens und Strebens zu finden, im Reich der Sinne das Walten des Übersinns zu erfahren, im reinen Anschauen seliges Genüge zu finden: das ist, nicht minder als mystische Versenkung, Sache des Dichters. Nicht als ein sich Versenkender, sondern als Verwandter und Bewahrer der Wirklichkeit wirkt er hier, als Beschwörender, der den Geist mit immer neuen Gewändern bekleidet; als ein durch die Sprache Erkennender, der unsere Ahnungen, Sehnsüchte und Gesichte in leibhafter Gestalt birgt und erlöst. Die Spannung zwischen Ich und Du um jeden Preis zu erhalten, damit dieses „Du" ein angeschautes und nicht nur ein erfühltes und ins eigene Wesen einbezogenes sei, ist die Tugend des Dichters als Magier: „O Magier, halt aus, halt aus, halt aus! Schaff Gleichgewicht. Steh ruhig auf der Waage, damit sie einerseits dich und das Haus und drüben jenes Angewachsne trage." (Rilke, Der Magier)

„Erschreckt im Innern durch das ferne Donnern des Gottes, von außen bestürzt durch ein unaufhaltsames Übermaß von Erscheinung, hat der gewaltig Behandelte eben nur Raum, auf dem Streifen zwischen beiden Welten dazustehn, bis ihm, auf einmal, ein unbeteiligtes kleines Geschehn seinen ungeheuren Zustand mit Unschuld überflutet. Dieses ist der Augenblick, der in die Waage, auf deren einer Schale sein von

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unendlichen Verantwortungen überladenes Herz ruht, zu erhaben beruhigter Gleiche, das große Gedicht legt 1 )-" D e r Mystiker Rilke steht dem Magier Rilke gegenüber, beide haben ihre Erfahrung zu sprachlicher Verdichtung gebracht; der Mystiker, indem er im Bewußtsein des Einsseins mit den Dingen, der Magier, indem er im Bewußtsein der Spannung von Ich und Gegenüber sprach: der Mystiker, der von dem e i n e n „Weltinnenraum", der Magier, der vom Gleidigewidit zwischen Hier und Dort redet: „Hier- und Dortsein, dich ergreife beides seltsam ohne Unterschied. Du trennst sonst das Weißsein von dem W e i ß des Kleides." (Rilke, Mehr nicht sollst du wissen)

Aber erst das Zusammenwirken mystischer wie magischer Einstellung machen diese wie jene Aussage möglich. Man kann es kaum im einzelnen wissen, und es ist vielleicht auch falsch, es wissen zu wollen, was im Grunde früher da ist, das Gegenständliche, in dem sich der Dichter als Form seiner Seele entdeckt, oder die Bewegung seiner Seele, die sich ein Ausdrucksfeld sucht. Ebenso wie es möglich ist, daß der Dichter sein gestaltloses Erleben, das er erst nur als unausgesprochene Stimmung in sich erlebt, dann in anschaulicher Gegenständlichkeit birgt, ebenso ist es auch möglich, daß er ursprünglich „formvoll" erlebt, daß das Gegenständliche ihm erst stimmungshaft bedeutsam wird und er es sich dann aneignet. M a n greift mit solchen Fragen hinter das Ziel der dichterischen Sprache und damit ins Leere; denn wie immer die Gegenständlichkeit eines Gedichtes als Anschauung eines innerlich Gemeinten gewonnen sein mag, sie ist in Goethes Sinn ein Urphänomen, etwas, das man wiederum nur anschauen, nicht etwas, hinter das man schauen kann. Inwieweit die Gegenständlichkeit eines Gedichts sich als mehr äußerlich angeschaute und anschauliche oder mehr als von innen her anschauliche darbietet, hängt von der mehr magisch oder mystisch gerichteten Einstellung des Dichters ab. M i t größerer ' ) Ober den jungen Dichter (Rilke).

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oder geringerer Abhängigkeit von der „äußeren" Erscheinung der W e s e n , um das eigene Innere auszusprechen, mit dem Grade der Selbständigkeit des Ich wie des Gegenüber, steht die Ausdrucksform des Gedichtes in Zusammenhang, was etwas anderes meint als die Bezeichnungen „Impressionismus" und „Expressionismus", die streng genommen vor der lyrischen Sprachgestalt sinnlos werden als radikale Verallgemeinerungen; denn wo gäbe es ein Gedicht, das mit einer Eindrudksschilderung nicht gleichzeitig Ausdruck gibt, und wie selten gibt es eine lyrische Bekenntnisform, die gänzlich auf äußere empirische Anschaulichkeit Verzicht zu leisten vermag. Lyrische Aussage heißt immer: Ausdruck geben. Mit Impressionismus und Expressionismus sind nur mögliche Ausdrucksformen, aber nicht zwei gegensätzliche Ziele der dichterischen Aussage bezeichnet. Rilke, dessen Lyrik in besonderem M a ß e das Dichten vom Dichten, gleichsam eine „lyrische Poetik" enthält — die Selbstrechtfertigung des eigenen Seins als Dichter gehört geradezu zu den naturgegebenen Inhalten lyrischer Aussage — hat immer wieder und immer anders sein Verhältnis zu der W e l t der äußeren Erscheinungen beschrieben und von dauerndem Ausgespanntsein zwischen mystischer und magischer, mystischer und enthusiastischer Anschauungsweise Kunde gegeben. V o r allem das In-der-Schwebe-Sein zwischen Innerem und Äußerem, die Unentschiedenheit vor dem Gegenständlichen als der Möglichkeit zur Aussage des eigenen Inneren kommt bei ihm zum Ausdruck: „Soll ich mich des Sturmmeers jetzt entsinnen oder Bild des Teichs in mir behüten oder, weil mir beide gleich entrinnen, Blüten denken — , jenes Gartens Blüten — ? Ach, wer kennt, was in ihm überwiegt. Mildheit, Schrecken? Blicke, Stimmen, Bücher?" (Späte Gedichte, Waldteidi)

Das Gegenständliche als das Mögliche ist noch ganz in der Schwebe gehalten, aber es ist gleichzeitig das Nötige, um zu sich selbst zu kommen:

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„Oh, ich habe zu der Welt kein Wesen, wenn sich nidit da draußen die Erscheinung, wie in leichter vorgefaßter Meinung, weither heiter in mich freut." Innere Selbstgewinnung und das Gewinnen einer erlösenden Anschauung sind das gleiche: „Wenn ich innig mich zusammenfaßte vor die unvereinlichsten Kontraste; weiter kam ich nicht; ich schaute an; blieb das Angeschaute sich entziehend, schaut ich unbedingter, sdiaute knieend, bis ich es in mich gewann." Anschauung ist hier das Letzte, und gegen dies magische Genügesuchen erhebt sich bald in einem anderen Gedicht mit dem bezeichnenden Titel „Wendung" der andere Rilke: „Denn des Anschauns, siehe, ist eine Grenze. Und die geschautere Welt will in der Liebe gedeihn. Werk des Gesichts ist getan, tue nun Herz-Werk an den Bildern in dir, jenen gefangenen. Denn du überwältigtest sie; aber nun kennst du sie nicht." Der Mystiker erhebt sich gegen den Magier, weil die magische Anschauung leer zu werden droht: „Siehe, innerer Mann, dein inneres Mädchen, dieses errungene aus tausend Naturen, dieses erst nur errungene, nie noch geliebte Geschöpf." Freilich sind „Werk des Gesichts" und „Herzwerk" am Ende und im Ganzen der Dichtung eines und beide verschlungen in die Geburt des Worts, des mythischen Wortes vor allem, das das Wirkliche und überwirkliche in die Einheit e i n e r Gestalt birgt, wie sie vor allem Hölderlins Werk aufgerichtet hat, Werk des Gesichts und Herzwerk, W o r t des Schauens

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und W o r t der Liebe in einem, jenes Hölderlin, den auch Rilke als den in gleicher Weise mit Liebe und Blick die Wirklichkeit umfassenden Beschwörer gerühmt hat: „aus den erfüllten Bildern stürzt der Geist zu plötzlich zu füllenden; Seen sind erst im Ewigen . . . Dir, du Herrlidier, war, dir war, du Beschwörer, ein ganzes Leben das dringende Bild, wenn du es aussprachst,... Du nur ziehst wie der Mond. Und unten hellt und verdunkelt deine nächtliche sich, die heilig erschrockene Landschaft, die du in Abschieden fühlst. Keiner gab sie erhabener hin, gab sie ans Ganze heiler zurück, unbedürftiger. So auch spieltest du heilig durch nicht mehr gerechnete Jahre mit dem unendlichen Glück, als wär es nicht innen, läge keinem gehörend im sanften Rasen der Erde umher, von göttlichen Kindern verlassen." (An Hölderlin)

Völliger Einklang und Zusammenfall von Geschautem und innerlich Gemeintem, erlösende Beschwörung der inneren Bewegung in äußerer Anschaulichkeit bei vollendeter Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit des Gegenständlichen, das überwirkliche im Wirklichen, das Innere im Äußeren, das Jenseitige im Diesseitigen — „Seen sind erst im Ewigen": das ist die Kraft des mythischen Worts. Hölderlin hat es zur äußersten Gewalt erhoben, mystische und magische Kräfte zu erhabenem Gleichgewicht zwingend. Er auch hat der unüberbrückbaren Spannung zwischen Ich und Gott den gewaltigsten Ausdruck gegeben: „Die Dienerinnen des Himmels Sind aber wunderbar, Wie alles Göttlichgeborne. Zum Traume wird's ihm, will es einer Beschleichen und straft den, der Ihm gleichen will mit Gewalt." (Die Wanderung)

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Hölderlin wehrt sich gegen jeden mystischen Annäherungsversuch an Gott und spricht für jene andere Form des Gotteserlebens, das immer im Bewußtsein der Entfernung zu Gott lebt, mag er noch so nahe sein: „Nah ist und schwer zu fassen der Gott." Mit diesen Eingangsworten zu der furchtbar gewaltigen Patmoshymne ist der unüberwindbaren Spannung zu Gott hin Namen gegeben, die dem anderen Wort, dem Mystikerwort Hölderlins, das Gleichgewicht hält: „An das Göttliche glauben die allein, die es selber sind."

(Menschenbeifall)

Man kann hier nicht von Widersprüchen reden, sondern nur von lebendigen Spannungen zwischen zwei Erlebnisformen, die beide wahr sind. Neben den mystischen Gottesbekenntnissen Goethes stehen sein „Prometheus" und sein „Parzenlied". In Rilkes Stundenbuch hat der Mystiker genau so das W o r t wie der Nichtmystiker, der von der unnahbaren Selbstgenügsamkeit Gottes redet: „Wer kann dich halten Gott? Denn du bist dein, von keines Eigentümers Hand gestört, so wie der noch nicht ausgereifte Wein, der immer süßer wird, sich selbst gehört." überblickt man die geistliche Lyrik in ihrer Gesamtheit, so findet man zu allen Zeiten entsprechend den Möglichkeiten jeglicher Gotteserfahrung sowohl mystische wie enthusiastische Formen religiösen Erlebens, Erlebnisse der Einigung mit Gott wie Erlebnisse der Spannung zwischen Mensch und Gott. Von dem Gott Ekkeharts und dem Schefflers, der nicht ist außer durch uns und in uns, bis zu den Bekenntnissen heilloser Gottesferne, ja Gottesverlassenheit, von der gnadesuchenden Anbetung seiner allmächtigen Dreieinigkeit bis zur prometheischen Selbstvergottung, von dem gläubigen Ergreifen in der Gestalt Christi bis zum Versinken in die Allgöttlichkeit und ihr namenloses Dasein reicht das Reich

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der deutschen religiösen Lyrik. Neben Gott stehen die Götter, und gerade in der religiösen Lyrik Deutschlands steht immer wieder neben dem als Christus gläubig gespriesenen der namenlose Gott. Gerade die deutsche Frömmigkeit gebiert die höchste Gestalt Gottes, wie sie ihr in der Offenbarung vorgegeben ist, stets aufs neue; immer wieder sucht und findet sie Gott als einen namenlosen in allen Wesen und Reichen. Ihre eigentümliche Schöpferkraft ist es, die Spannung zwischen geoffenbartem und aus eigener Wesenserfahrung geahntem und gefundenem Gott auszuhalten und zu befrieden; den einen Gott mit dem anderen zu verschmelzen, um die Überlieferung nicht nur anzunehmen, sondern von innen her neu zu finden wie in der Lyrik Klopstocks, Goethes, der Droste oder Hölderlins: „ W i r haben gedienet der Mutter Erd Und haben jüngst dem Sonnenlichte gedient, Unwissend, der Vater aber liebt Der über allen waltet Am meisten, daß gepfleget werde Der feste Buchstab, und Bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang." (Hölderlin, Patmos)

„Es gibt nur zwei wahre Religionen", sagt Goethe, „die eine die das Heilige, das in uns und um uns wohnt, ganz formlos, die andere, die es in der schönsten Form anerkennt und anbetet 1 )-" Mit diesen beiden äußersten Möglichkeiten sind eng verbunden die Möglichkeiten, dem religiösen Erleben Namen zu geben. Damit das Bestehende gut gedeutet werde, muß es immer wieder durch die Namenlosigkeit hindurch zu seinem höchsten Namen, durch die Gestaltlosigkeit hindurch zu seiner höchsten Gestalt geführt und ausgetragen werden. Nach dem alten Mystikerwort: „Der Buchstabe tötet, und der Geist macht lebendig" gilt es, eine Entleerung und Formalisierung des Göttlichen durch bloße Namengebung zu verhindern, nach Hölderlins letztem heißen Willen, den unMaximen und Reflexionen.

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genannten Gott in seiner höchsten Gestalt zu beschwören: „Daß gepfleget werde der feste Buchstab." Auch hier wieder die Spannung zwischen Mystik und Magie. Beide haben ihren gerechten und notwendigen Anspruch, und beiden genügen, heißt die Religion bewahren. Mystik: als lebendige Erneuerung Gottes von innen her und von den ranguntersten Wesen bis zu den höchsten hinauf, um den leeren Buchstabenglauben rein begrifflicher und nicht wirklicher Gotteserkenntnis, den Gott der bloßen Oberlieferung ohne eigentliche Aneignung und Innewerdung zu überwinden. Magie: als das Drängen auf Gestaltwerdung des religiösen Erlebens: „die geliebte Ahndung soll mit neuem Leibe bekleidet werden" 1 )? die Allfähigkeit des inneren Menschen sucht ein Gefäß ihrer Bewegungen, die strömende Liebe ein Bett, in das sie münden kann, die höchste Erkenntnis einen Namen, damit sie bewahrt bleibe, die Unruhe zu Gott eine Offenbarung, der sie sich anheimgeben kann. In stetem Widerspiel zwischen mystischer und magischer Gotteserfahrung spricht die religiöse und geistliche Lyrik ihre Erfahrungen aus, Erfahrungen des namenlosen wie des geoffenbarten Gottes. Dogma und Überlieferung blieben leer ohne mystische innere Erfüllung. Mystische Versenkung in die namenlose Allgöttlichkeit bliebe fruchtlos ohne magische Beschwörung, ohne verbindlichen, gemeinschaftsbildenden Ausdruck. Neben Gott als dem „ens a se" und „per se" steht der Gott, der ohne uns „nicht ein N u kann leben", neben dem christlichen Glaubensbekenntnis die pantheistische und selbst autotheistische Gotteserfahrung, und dies alles kann bei einem und demselben Dichter, ja in einem und demselben Gedicht beieinander stehen, weil es eben ineinander mündet. Neben Luthers „objektiven Bekenntnisliedern", Gerhardts gläubigem Gemeindegesang, Gryphius* männlichem Ertragen der peinvollen Spannung zwischen Mensch und Gott steht Schefflers mystische Gottesgeburt aus dem eigenen Seelengrundc, Tersteegens stilles Verlöschen in der Gottheit. Neben Klopstocks rühmenden Hymnen auf den allmächtigen fernen Messias, Hölderlins selbstfreier Beschwörung Gottes in my') Novalis, Die Christenheit oder Europa.

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thischer oder geoffenbarter Gestalt steht Herders und Goethes mystischer Pantheismus, Hardenbergs glühende Christusminne. Neben Goethes qualvoller Sehnsucht: „Könnt idi doch ausgefüllt einmal Von dir, o Ewger! werden — Ach, diese lange, tiefe Qual, Wie dauert sie auf Erden!" steht sein:

(Sehnsucht)

„Du zählst nicht mehr, berechnest keine Zeit, Und jeder Schritt ist Unermeßlichkeit." (Prooemion)

Neben Hardenbergs Kirchen- und Marienliedern stehen seine Hymnen an die Nacht, und in den Hymnen an die Nacht steht neben dem orgiastischen Versenken in die chthonischen Urmächte und neben der wollüstigen Brautmystik die mystische Ergreifung Christi als des geoffenbarten Gottes, neben dem „Glauben an Christus, seine Mutter und die Heiligen" der Glauben an die „Allfähigkeit alles Irdischen, Brot und Wein des ewigen Lebens zu sein" — „den Gläubigen sichtbar, als Wein und Brot verzehrt, als Geliebte umarmt, als Luft eingeatmet, als Wort und Gesang vernommen" 1 ). Schöpferische Leistung, besonders der deutschen Lyrik — in der wie bei keinem anderen europäischen Volke immer wieder die Beziehung des Menschen zum Absoluten jede andere überwältigt und das Menschsein fast ausschließlich und immer wieder neu unter die letzten, die religiösen Aspekte gestellt ist —, ist es, stets aufs neue ausgespannt in die Gegenkräfte mystischer und magischer Religionsform, dem namenlosen wie dem genannten Gott in gleicher Weise sein Leben zu erhalten. Im Leben der Zeiten wie des einzelnen Dichters vollzieht sich Geburt, Auflösung und Wiedergeburt der Gestalt Gottes: „So nötig es vielleicht ist, daß in gewissen Perioden alles in Fluß gebracht wird, um neue notwendige Mischungen hervorzubringen und eine neue, reinere Kristallisation zu veranlassen, so unentbehrlich ist es jedoch ebenfalls, ') Novalis, Die Christenheit oder Europa.

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diese Krisis zu mildern und die totale Zerfließung zu behindern, damit ein Stock übrig bleibe, ein Kern, an den die neue Masse anschließe und in neuen schönen Formen sich um ihn her bilde . . . Würde es nicht Unsinn sein, eine Krisis permanent zu machen und zu glauben, der Fieberzustand sei der echte gesunde Zustand, an dessen Erhaltung dem Menschen alles gelegen sein müßte? W e r möchte übrigens an seiner Notwendigkeit, an seiner wohltätigen Wirksamkeit zweifeln 1 ) ?" Das Prinzip des Mystischen führt „zu einem unendlich fortschreitenden Wandlungsprozeß der Seele, die sich immer wieder überwindet" 2 ). Das Prinzip der Magie findet je neue Vergegenständlichungen und Beschwörungsformeln. Beide Prinzipien behaupten ihren Anspruch, und erst in ihrem Zusammenwirken entsteht die Sprache der Lyrik, die so anschaulich wie innerlich durchseelt, so deutlich wie unendlich offen, so zwingend wie lösend, so mystisch wie magisch ist. Mystische und magische Welteinstellung sind zwei grundsätzlich verschiedene Inhalte lyrischer Sprachgestaltung. Mystik und Magie sind gleichzeitig zwei Prinzipien, unter deren Zusammenwirken erst jegliche lyrische Aussage möglich wird, wobei mit dem mystischen Prinzip das Verhältnis des Dichters zu seinem Gegenstand und mit dem magischen seine Fähigkeit zur Mitteilung bezeichnet ist. Jedoch nur theoretisch für einen Augenblick als Prinzipien zu unterscheiden, gehören beide untrennbar zur Geburt des dichterischen Wortes zusammen; Mystik ohne Magie wird sprachlos, Magie ohne Mystik bleibt leer.

2

Novalis, Fragment, Ausgabe Kludihohn, II, S. 52. ) Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, a. a. O., S. 447.

D I C H T E R

UND

LESER

W a s zwingt den Dichter, sich immer wieder aus mystischer Versenkung loszureißen? Nichts anderes als der Drang zum mitteilen. Daß er reden und sich mitteilen muß, das ist seine Qual und Seligkeit. Daß er Worte finden muß, weil er sein Erleben nicht für sich behalten kann, gibt seinem Dasein die eigene Richtung und Aufgabe. Um zu reden und Kunde zu geben, weiß er sich in die Welt gesandt, und das unterscheidet seine Aktivität von der des reinen Mystikers. Je mehr der Dichter seine Idee verwirklicht, um so mehr entfernt er sich von der eigentlichen Idee des Mystikers. Die Tugend des Dichters wird so zur Sünde des Mystikers, und der Sinn des Mystikers wird zur Qual für den Dichter. Der Dichter weiß, daß er mit dem W o r t die Richtung seines ursprünglichen Erlebens verlassen muß, so wie Goethe am W o r t gelitten hat, weil es vereinzelt und unvollkommen festlegt, so wie selbst Schiller das schmerzliche Mystikerwort gesprochen hat: „Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr." Damit, daß er die Richtung seines mystischen Erlebens verlassen muß, um seine Kraft der Geburt des Wortes zuzuwenden, büßt der Dichter die Fülle und Unmittelbarkeit seiner Erfahrungen ein: „Es ist unvergleichlich leichter, zu lieben, wenn man schweigt, als wenn man redet. Das Suchen nach Worten schadet der Regung des Herzens sehr, die hierdurch stets etwas verliert, wenn sie sich nicht für ihren Verlust durch den Gewinn, den andere daraus ziehen, entschädigt fühlt. Wenn man nichts anderes verlöre, als weniger zu lieben und mit mehr Zerstreuung und größerer Gefahr, so ist der Verlust groß, wenn man den Wert der Liebe kennt 1 )." Das Wort stellt sich gleichsam zwischen den Menschen und sein Erlebnis, und es kann geschehen, daß mit dem Wort der Mitteilung die Unmittelbarkeit des Erlebens geopfert ist, geHamon, Jean ( 1 6 1 8 — 1 6 8 7 ) , „Traité de Pieté", 1689, II, S. 467.

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opfert um den Preis der Selbstvergewisserung und vor allem, um andere teilhaben zu lassen an den Erschütterungen der eigenen Seele. D i e s O p f e r gibt dem Dichter seine sittliche Rechtfertigung. W e n n Kierkegaard einmal gesagt h a t : „Christlich betrachtet ist jede Dichterexistenz Sünde, die Sünde, d a ß man dichtet anstatt zu sein", so mag dieser Einwand sehr wohl auf einen bestimmten T y p des Dichters zutreffen, vor allem auf den sogenannten romantischen Dichter, der vielfach auf Kosten des eigentlichen Ernstes seiner Existenz seine W o r t e finden m a g ; verallgemeinern läßt sich dieser S a t z nicht; denn was ist am Ende das Sein des Dichters, wenn nicht eben sein Diditen. U n d dies ist sittlich gerechtfertigt, schon allein durch das O p f e r , durch das es entstand, und dadurch, d a ß der Dichter sein Erleben verwandelt hat in zeitlos wirkende Gestalt der Sprache, um andere teilnehmen zu lassen an den Bewegungen seiner Seele. In demselben Gedicht, in dem G o e t h e W a h r h e i t und W e r t als W o r t e des gleichen Begriffs bezeichnet hat, „ W a s fruchtbar ist, allein ist w a h r " , gibt er auch dem Dichter eine umfassende sittliche Rechtfertigung: „Denn edlen Seelen vorzufühlen, Ist wünschenswertester Beruf." (Vermächtnis)

Durch die Art seiner Mitteilung bewirkt der lyrische Dichter in jedem Gedicht nichts Geringeres als ein W u n d e r . Nicht nur, daß er sich durch seine Sprache unmittelbar oder durch die Dinge hindurch seiner selbst bemächtigt; er vereinigt gleichzeitig durch die Liebesgewalt seiner Aussage sein eigenes Ich mit dem Ich des Lesers. D a s ist die besondere Gewalt seiner Aussage, die "fiela divafiu;", d a ß er es dem Leser möglich macht, ja, d a ß er ihn dazu zwingt, einzutauchen in die einmalige Art seines Daseins und sich eins zu fühlen mit seinem eigenen Ich. Diese Beziehung zwischen dem Ich des Lesers und dem Ich des Dichters ist wiederum eine mystische, ist gleichsam eine „unio m y s t i c a " zweier W e s e n . Ist die Vereinigung zwischen beiden nicht vollzogen, ist der mystische Strom nicht übergegangen, so ist die Aussage des Dichters, wie tief immer ihr

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Gehalt, wie edel immer ihre Sprache sein mag, ohne die eigentliche Wahrheit und Wirklichkeit. Freilich setzt dies den rechten Leser voraus, den Leser, der die Hemmungen seines inneren Sinns durchbrochen hat und sein Ich der unio mit dem Dichter eröffnet, den Leser, der nicht auf den bloßen Inhalt oder die bloße Form der lyrischen Sprachgestalt starrt, sondern den Leser, der sich mit offenen Sinnen und offenem Herzen der niemals in Inhalt und Form zu zerreißenden Ganzheit des Gedichtes als einem Geschehen an seinem eigenen Ich überläßt. Noch die geringste Einzelheit des „Wie" der lyrischen Aussage gewinnt in dieser Beziehung Teilhabe an der eigentlichen Inhalts- und Bedeutungserschließung. An dem „Wie" und nur an dem „Wie" liegt es ja, daß der vereinigende Strom vom Erlebnis des Dichters zum Erlebnis des Lesers übergeht. Alles, was die Sprachform eines Gedichts ausmadit, Rhythmus, Ton und Wortwahl, alles, was man Stil nennt, hat den Sinn, eine vielleicht sanfte, aber im Grunde gewaltige unentrinnbare Nötigung auf den Leser auszuüben; ihm nicht nur Mitteilung von Stimmungen, Einsichten und Erschütterungen zu machen, sondern diese Erschütterungen auf ihn übergehen zu lassen. Die kleinste Veränderung an dem „Wie" eines Gedichtes, die geringste Veränderung oder nur die Umstellung eines Wortes, die Änderung eines Satzzeichens kann es bewirken, daß der Strom unterbrochen wird, daß sich zwischen dem Dichter und dem Leser eine Wand aufrichtet, die die lyrische Kundgabe zur bloßen Mitteilung entwertet. Gerade den vollkommensten Gedichten ist es eigentümlich, daß sie nicht die geringste Änderung zulassen. Der Leser kann durch das besondere „Wie", die besondere „Weise", schon völlig von der Stimmung und dem eigentlichen Sinn eines Gedichts ergriffen sein, ohne daß er noch im einzelnen einen inhaltlichen Sinn wahrgenommen hätte. Der bloße „Ton" kann ihm offenbart haben, worum es im Letzten geht, denn der Ton hat ihn schon vereinigt mit der Seelentiefe dessen, der zu singen anhebt. Das soll natürlich nicht heißen, daß ein Gedicht ohne Sinn für den Verstand sein könnte; aber dieser Sinn kann ganz und gar einverwandelt sein in das „Wie" — so wie man in Gedichten des umnachteten Holder-

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lin noch das Leben seines erhabenen Geistes spürt, in Gedichten, die scheinbar sinnlos in Klang und Bild die Erschütterungen einer ungeheuren Seinstiefe und nicht nur des leeren Wahnsinns offenbaren und zu bleibender Gegenwart bringen, oder wie die sinnliche Gewalt und die seelische Ausdruckskraft von Volksliedern, besonders mundartlichen, uns mit der Tiefe des Volkes selbst und dem vereinigt, was es heimlich bewegt und sich zusingt, ohne daß der sich oft in „blühendem Unsinn" auslebende bloße Inhalt ihrer Aussage einen besonders vernünftigen oder gar „bedeutenden" Sinn ergeben müßte. Durch keine Anstrengung zu ersetzende Gnadenkraft des Dichters ist es, das Zauberwort zu finden, durch das er unsre Seele mit der Tiefe seiner eigenen Seele vereinigt. Mit diesem Zauberwort zwingt er uns, nicht nur ihn anzuhören und Kenntnis zu nehmen von dem, was er mitteilt, sondern mit dabei zu sein bei dem, was er erlebt, er selbst zu sein. So heißt Lesen lyrischer Gedichte: Sich-vereinigen-lassen mit dem, der zu uns spricht — nicht mit seinem zufälligen privaten und historischen Ich, das in seiner Biographie niedergelegt ist und vielleicht hinter oder neben seinen Worten steht — sondern mit dem Ich seiner Worte und damit dabei sein in der Gnadenstunde der Geburt des Gedichts. Dieses Ich des Dichters braucht nicht ausdrücklich bekannt und genannt zu sein, es kann einen metaphorischen Ausdruck gefunden haben, es kann ganz anonym sein, es kann als fremde Gestalt reden, es braucht gar kein Ich zu sprechen, es können nur Stimmungen als solche mitgeteilt sein: immer steht dieses Ich als Schöpfer hinter den Worten, und die Worte wirklich verstehen, heißt sich mit ihrem Schöpfer vereinigen. So läßt sich die Sprache eines Gedichts im Letzten nicht verstehen, ohne daß man das Opfer mitvollzieht, durch das es Gestalt gewann, ohne daß man sich der Gnade erschließt, der es entsprang. Darum ist der beste Leser wohl der, der das Herz und den Geist eines Dichters hat, dem aber das fehlt, was erst den Dichter zum Dichter macht: das Wort, das bannende, erlösende, treffende und bergende Wort. Das rechte Lesen eines Gedichtes kann als mystischer Mitvollzug selbst zu einem schöpferischen Akt werden. Soweit die Erkenntnis des Dich-

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ters eine mystische, ein „ W i s s e n durch Vereinigung" ist, so weit wird die Erkenntnis des Lesers auch eine mystische. W a s alle vielleicht meinen und ahnen, gewinnt durch das W o r t des Dichters erst seine erlösende Formel und seine verbindliche Bedeutung. Im lyrischen W o r t „ent-dedkt" der Mensch seine eigenen Gefühle und Erkenntnisse, findet seine Ahnungen bestätigt und seine inneren Bewegungen gedeutet. Dies geschieht, indem er von dem Dichter, der sich durch seine Aussage der T i e f e seiner selbst bemächtigt hatte, mitgenommen wird in die gleiche T i e f e des Seins. Im Nacherleben und Mitleben der dichterischen Sprache schreitet der Leser auf die T i e f e seines eigenen Ich zu, bemächtigt er sich des Grundes seines eigenen W e s e n s und wird an die vielleicht verschütteten Möglichkeiten und seelischen K r ä f t e des eigenen Seins erinnert. Soviel Seinstiefe er im Ich des Dichters eröffnet sieht, soviel an T i e f e eröffnet er gleichzeitig in sich selbst. D a s W o r t eines lyrischen Gedichts läßt es nicht zu, daß man es nur hinnimmt wie eine durchschnittliche Verständigung. Es zwingt den Leser einzutauchen in die besondere Stimmung, die unvergleichliche Art in dieser W e l t zu sein, die sich hier kundgibt. D e m lyrischen W o r t eignet die ansteckende K r a f t einer Mitteilung, die entweder den H ö r e r in den Bann der dichterischen Erfahrung zieht oder aber nicht vernommen wird. D a r u m kann man sagen, daß die W i r k u n g eines lyrischen Gedichts entweder zwingend, das fremde Ich überwältigend ist, oder aber ausbleibt. Ein halbes Zustimmen, ein einschränkendes Für-Möglich-Halten gibt es hier nicht. Durch das Lesen eines Gedichts vollzieht sich ein echtes Erleben im vollen Sinn des W o r t e s , wenn anders es seinen Sinn verfehlt. D i e W a h r h e i t eines Gedichts bleibt unverwirklicht entweder dadurch, daß es dem Dichter nicht gelungen ist, den Strom seines Erlebens auf den Leser übergehen zu lassen, oder daß der Leser die Schleusen seines Ich nicht geöffnet hat, um den Strom zu empfangen, der mystischerweise gleichzeitig in die T i e f e n des dichterischen Ich und in die Seelentiefe des Lesenden führt. D i e W a h r h e i t und seelische Wirklichkeit eines Gedichts kann nur ihre W i r k u n g ausüben, wenn die Art, in der sie sich dar-

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bietet, vom Leser mit letzter Offenheit nicht nur des inneren Sinnes, sondern auch der äußeren Sinne vernommen wird. Nicht in den müßigen Stunden mangelnder Sammlung, sondern nur in der durch anhaltende Selbstzucht erworbenen Erschlossenheit des Herzens und des Geistes nicht minder wie der Sinne erfährt man die volle Wahrheit von Gedichten. Der unio, der Einswerdung von Dichter und Leser muß, wie in jeder „unio mystica" das "fiveiv" , das sich innerlich sammelnde Augenschließen vorangehen. Das bloße Interesse an der Form und der Klangschönheit eines Gedichtes muß in gleicher Weise wie das Interesse an dem bloßen Inhalt verabschiedet und getilgt sein, um die rechte Unmittelbarkeit dem Gedicht gegenüber als einem untrennbaren Ganzen zu gewinnen und sich von der Liebesgewalt seiner sanften, aber gewaltigen Nötigung ergreifen zu lassen. Die Schönheit eines Gedichts ist in diesem Sinne nichts anderes als die verführerische Gestalt, die es annehmen muß, um den Leser zur Besitzergreifung zu reizen. Darum ist auch die Wahrheit eines Gedichts nicht zu denken ohne seine Schönheit. Schönheit, das heißt freilich nicht immer Glätte der Form und Wohllaut des Klanges, sondern ganz allgemein: anschaulich werdende Gestalt innerer Bedeutung. Die Sprachform eines Gedichts ist schön, insofern sie bedeutsam ist, insofern sie etwas Gemeintes und Ausgesagtes durch die Gestalt der Aussage, das „Wie", leibhaftig und überwältigend zur Wirkung bringt. Schöne Form umfaßt den Begriff der „rauhen" wie der „glatten" Fügung. Die anziehende Kraft der Schönheit eines Gedichts geleitet uns in die Arme seiner Wahrheit, einer Wahrheit, die nicht nur „furchtbarer in des Reizes Hülle" 1 ), sondern auch fruchtbarer ist, eine Wahrheit, die nicht nur zum Gedicht flüchtet, um erträglicher, sondern auch um wirksam zu werden. ü b e r die Wahrheit eines Gedichts läßt sich nicht streiten, sie wird vernommen oder nicht. Ihre Anerkennung besteht darin, daß man, wie es der ursprüngliche Wortgebrauch noch deutlich macht, „auf sie hört". Die Wahrheit eines Gedichtes ist das erlösende W o r t für etwas, das wir meinten und 0 Schiller, Die Künstler.

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nicht sagen konnten. Sie ist Deutung von etwas, was wir sahen und nicht endgültig in seinem Sinn treffen konnten, weil uns das W o r t fehlte, das der Sache entsprach. Sie ist die Bestätigung unserer Ahnungen und zwingende Verdeutlichung unserer nur unklar bewußten Einsichten. Sie ist die Verlebendigung und Verewigung stetig wirkender und zugänglicher Möglichkeiten unseres Daseins. Sie ist Erhellung, Bekräftigung und Befreiung unseres eigenen Daseins und immer neue Beglaubigung des zeitlosen Seins im Dasein. Es ist die Wahrheit nicht begrifflicher, sondern wirklicher, das heißt in die Einmaligkeit meiner Existenz wirkender und nur in der Form meiner Existenz möglicher Erkenntnis. Darum ist das Gedicht auch angewiesen auf die Gnadenstunde seiner Wirkung, die sich dann ereignet, wenn der Leser sich in der unio mit dem Dichter einem fremden Dasein als erhellender Bestätigung seines eigenen Daseins anheimgibt. Durch die suggestive Magie des dichterischen Wortes wird ein Einmaliges in gleicher Einmaligkeit nacherlebbar. Die Sprache des Dichters belebt die durch geregeltes Gerede „festgestellten" Dinge durch neue Benennung und Auslegung. Sie sucht die durch Verschleiß und Mißbrauch leer gewordene Bedeutung unserer Worte mit neuen Inhalten zu füllen. Dem alltäglichen Gerede, das alles zu verstehen glaubt, und der Neugier, der nichts verschlossen scheint, tritt die Sprache des Dichters gegenüber, die nur neue Rätsel sieht und nur neue Wunder in staunendem Erkennen erlebt. Das Schauen und die Rede des Dichters wirkt der zunehmenden Bodenlosigkeit des alltäglichen Geredes entgegen. Dichtung ist Gründung und Stiftung neuen Seins inmitten einer neugierigen Alleswisserei und bodenlosen Scheingewißheit, inmitten einer scheinbar restlosen Ausgelegtheit des Daseins, die dabei nur trübe Leere bedeutet. Damit Dichtung neues Dasein gründen kann, muß sie sich von einem Verfallensein an die Welt lösen — was das gerade Gegenteil von leichtsinniger Unbesorgtheit ist — um den Weg zu neuem ursprünglicheren Leben anzubahnen. Sie muß sich in eine letzte Ungewißheit hinauswagen, um wirklich Sicheres zu bergen, sie muß das Vergehende als ver-

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gehend und vergänglich wissen, um das Bleibende stiften zu können-, . . . „ W a s bleibet aber, stiften die Dichter " . . . (Hölderlin, Andenken)

D a s Bleibende durch das W o r t zu stiften, die T r ü b e des alltäglichen Daseins zu durchstoßen, der Verwirrung und Vieldeutigkeit des „Geredes" die einfache, bindende und auf festem Grunde stehende dichterische Sprache zu entringen, dem Unsinn des Vergehens den noch so flüchtigen bleibenden Sinn abzugewinnen, dies ist die Aufgabe des Dichters und der Gewinn des Lesers. Das Bleibende gewinnen, heißt für den Dichter, das „Stirb und W e r d e " auf sich nehmen, um im Nennen zu gründen, was dem „trüben G a s t " der Erde unsichtbar ist. Dies „Stirb und W e r d e " mitzuvollziehen, ist Voraussetzung für den Leser, damit auch er sehe. Der Dichter kann uns nicht den T o d ersparen, der seiner Wiedergeburt vorausging. Damit wir dasselbe sehen und vernehmen, um innerlich zuzustimmen, müssen wir auch dasselbe erfahren haben. Es ist aber nicht nur ein Zustimmen, was uns der Dichter abnötigt, sondern ein „Einstimmen"; vor allem wenn man den Dichter versteht als den orphischen Sänger, nicht nur als den Nennenden und durch Sprache das Bleibende Stiftenden, sondern als den „Rühmenden" im Sinne von Rilkes: . . . „Einzig das Lied überm Land heiligt und feiert." (Sonette an Orpheus, I)

Abermals wird mit dem W o r t „Ein-stimmen" der mystische Bezug zwischen Dichter und Leser wachgerufen. Gilt es, sich dem Dichter zu einigen, um in seiner Art die W e l t zu betrachten, selbst die W e l t in neuem Lichte zu sehen, um in seiner Selbsterkenntnis den Grund des eigenen Ich zu gewinnen, um mit ihm im Nächsten und Fernsten das Nächste unserer Seele zu ergreifen, im Größten wie im Kleinsten die „Chiffre" des Jenseits zu lesen, mit ihm dem genannten oder namenlosen Gott zu begegnen, so gilt es auch den Aufschwung seiner Seele, der ihn reden heißt, mitzuvollziehen, um einstimmen zu können in die rühmende Beschreibung

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Gottes und der Welt. Nur im wirklich hingegebenen Einstimmen in sein rühmendes Lied und nicht im bloßen Zustimmen machen wir seinen Geist und das Ziel seiner Begeisterung zu unserem eigenen und bewahren den Wert, den er aus den Bewegungen der Zeiten und dem Walten der Natur, als „Liebling der Götter" und als „Stimme des Volkes" gegründet und gerühmt hat. Als „Liebling der Götter" und getreu ihren Winken und gleichzeitig als die geheimste und tiefste „Stimme des Volkes" zu sprechen, dies Mittleramt gibt dem prophetischen Dichter seinen festen Grund, seiner Sprache die geschichtliche Notwendigkeit. In der Sprache des Dichters, als „poeta vates", gewinnt der Nacherlebende die Gewißheit, im Atem prophetischer Eingebung zu stehen und gleichzeitig im Herzen seiner Gemeinde zu leben. Rechtes Lesen heißt darum am Ende den Ernst und die Notwendigkeit, mit der der Dichter in seine und in jede Zeit spricht, zu seinem eigenen machen. Es ist kein unverbindliches Tun, kein vorübergehendes Entrückt- und Begeistertsein, sondern hat den Ernst einer fortwirkenden Erschließung des eigenen und geschichtlichen Lebensgrundes, indem das eigene Sein dem dichterischen einverwandelt ist, dichterisch in dem umfassenden Sinne Hölderlins: „Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet Der Mensch auf dieser Erde." (In lieblicher Bläue wohnet)

„,Dichterisch wohnen' heißt: in der Gegenwart der Götter stehen und betroffen sein von der Wesensnähe der Dinge 1 )." Die Sprache des Dichters vernehmen, heißt die Stimme des eigenen Lebensgrundes und der eigenen Gemeinde, die in dieser Sprache vor sich selbst gebracht wird, vernehmen. Der wahrhaft die Sprache des prophetischen Dichters Nacherlebende muß sich bereithalten für die Aufgabe der Bewahrung der Überlieferung, „daß gepflegt werde der feste Buchstabe und das Bestehende gut gedeutet" (Hölderlin, Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, Aufsatz.

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Patmos) und für die Aufnahme der Götterwinke ins Kommende: „Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! Mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk, ins Lied Gehüllt, die himmlische Gabe zu reichen." . . . (Hölderlin, Wie wenn am Feiertage'1))

Der Mut, der den prophetischen Dichter in eine letzte Ungewißheit und furditbare Unmittelbarkeit vor dem Gott hinaustreibt, um die Winke und Gesetze zu empfangen, muß auf den gleichen Mut und die gleiche Bereitschaft im Leser stoßen, damit Dichtung als ein geschichtliches Wirken in übergeschichtlichem Auftrag erfahren werde, damit des Dichters Tat nicht umsonst sei und als bloße „Idee", als wirkungslose „Erhabenheit" hochgestellt und vielleicht verleugnet werde, sondern damit sie wiederum Tat werde: „Aber kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt, Aus Gedanken vielleicht geistig und reif die Tat? Folgt die Frucht, wie des Haines Dunklem Blatte, der stillen Schrift?" (An die Deutschen)

Es kann vor der geschichtlichen Stunde eine Sünde werden, zu lesen anstatt zu sein. Wird jedoch das Lesen wahrhafter Mitvollzug mit dem Sein eines Dichters, der im Dichten den Sinn und die Notwendigkeit geschichtlichen Seins hat, so ist Lesen nicht ein Entfliehen vor der Forderung des Tages, sondern Vollzug geschichtlichen Sinnes. Nicht nur Kenntnisnahme und flüchtige Erhebung bedeutet rechtes Lesen des „poeta vates", sondern Aufnahme eines weiter wirkenden Kraftstroms und innere Bereitung zum Vollzug eines Willens, der dem Winke der Götter folgt und in die Wirklichkeit der Zeiten einmündet. Was an sich dem handelnden Leben fernsteht, schließt, wenn wir es als ein freies Erlebnis, als Erschütterung unseres >) Hölderlin, W. W. Ausgabe Böhm II, S. 334.

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gesamten Seins erfahren und in den Willen aufnehmen, am unmittelbarsten an den Lebensstrom an. Es sammelt und befreit in uns die Kräfte erhebender Begeisterung, die allein eine gültige Umgestaltung des Daseins zu leisten vermögen. Die Einigung zwischen Dichter und Leser vollziehen, heißt hier den Grund eines Daseins gewinnen, das „dichterisch" ist im Sinne der Bezeugung, Innewerdung und Stiftung eines Seins, das von den Göttern empfangen und für die Gemeinde und in der Gemeinde gedeutet ist: „hinwandernd zwischen Himmel und Erde und unter den Völkern sind Gedanken des göttlichen Geistes. Still endend in der Seele des Dichters daß sie getroffen von Alters ruhn Unendlichen bekannt, von bangen Erinnerungen Erbebt in ihrer eigenen Tiefe Die Frucht in Liebe geboren Des Himmels und des Menschen Werk Der Gesang entspringt, damit e r z e u g e v o n b e i d e n . " (Hölderlin, Wie wenn am Feiertage)

Im Gesang reißt sich der poeta vates aus der Empfängnis der göttlichen Winke los, um sein Wissen durch Mitteilung wirksam zu machen, um seine mystische Einsicht in die Gewalt prophetischer Weissagung zu verwandeln. Durch sein W o r t gewinnt der Dichter den Bezug zu seiner Gemeinde. Nicht nur, daß er den Wink der Götter nicht für sich behalten kann und mitteilen muß, sein ganzes Bemühen geht darauf, verständlich zu werden, die Sprache des zwingenden Nennens, des Gründens und Rühmens zu reden und nicht nur die Sprache des Meinens. Das Wort des prophetischen Dichters ist die Stimme des Volkes im Angesicht des Ewigen. Es ist als die tiefere Stimme des Volkes, das dem platten Bescheidwissen und der Verwirrung abgerungene, bindend einfache und gesicherte Wort. Dies Wort hören und ergreifen, heißt die Kraft haben, durch die Verwirrung oberflächlicher Sprachverständigung hindurch die Schwere und Unerschöpflichkeit, die unendliche und verpflichtende Bedeutung einer eindeutigen und bindenden Kundgabe des Seins vernehmen.

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Groß freilich ist das Opfer, das gebracht werden muß, um den Wink der Götter verständlich zu machen. Das ganze Sein und Leben des Dichters muß dargebracht und geopfert werden, damit seine Schau anschaulich und fruchtbar werde für alle: „es muß bei Zeiten weg, durch wen der Geist geredet 1 ) " . . . (Hölderlin, Empedokles)

. . . „ d e r sprach oft zur Gottheit, aber dies habt ihr all vergessen, daß immer die Erstlinge Sterblichen nicht, daß sie den Göttern gehören. Gemeiner muß, alltäglicher muß die Frucht erst werden, dann wird sie den Sterblichen eigen 2 )." Die Aufnahme des unmittelbar zugreifenden und im Nennen bergenden Wortes, der tiefgründigen Einfachheit der hohen dichterischen Sprache bedarf der größten geistigen und seelischen Sammlung, der wahren „Bildung". Um den Ursprung wahrzunehmen, zu dem der Dichter zurückführt als dem selbstverständlichen, aber verschütteten Besitz aller, um die Erregung zu spüren, die das Kommende bereit macht, um des Dichters Sprache nicht nur als Stimme, sondern auch als Gewissen des eigenen Ich und der eigenen Gemeinde zu erfahren, heißt es im Lesen die Bereitschaft zum Bekennen, zum Zeugnis des Betroffenseins freimachen, heißt es am Ende sich selbst zum Lebensgefäß des Diditers machen. Nicht nur die vorübergehende Einigung des erkennenden oder fühlenden Ich mit dem Ich des Dichters, sondern die Einigung des ganzen Lebenssinnes mit dem des Dichters ist gefordert, damit sein Wort durch die unio mystica mit denen, die es in sich aufnehmen, das werde, wozu es ein Recht und die Kraft hat: Leben. Freilich hat nur die prophetische Stimme des poeta vates ein Recht, die Hingabe und den Einsatz unseres ganzen Lebenssinnes zu fordern, weil in ihr der gerechte Anspruch laut wird, nicht nur unser augenblickliches Erleben, sondern unser Schicksal zu ergreifen. Nur der Dichter, dessen Wort das ' ) Hölderlin, Ausgabe Hellingrath, III., 1 5 4 2

) Hölderlin, s. o., IV., 2 3 8 (Bruchstück).

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Gewicht schicksalhafter Notwendigkeit und geschichtlichen Anspruchs hat, kann und darf uns zur völligen Einigung mit seinem Wirken und W e s e n aufrufen. Gerade weil das Leben mit ihm Bekenntnis ablegen heißt, ist höchste Wachheit des Gewissens und Freiheit der Entscheidung gefordert, ehe man sich ihm anheimgibt. Die Dichtung, die Hölderlin „dies unschuldigste aller Geschäfte" 1 ) genannt hat, um zugleich die Sprache „der Güter gefährlichstes" 2 ) zu nennen, stellt den Menschen in ein unendliches Reich der widerstrebendsten und mannigfaltigsten Möglichkeiten des eigenen Ich. N u r wo der Mensch im Gedicht sein eigenes Schicksal ergreifen kann, gewinnt er einen festen Grund, der ihn der Unverbindlichkeit des Möglichen entzieht. Nur dann ist die Erhebung, die er in ihm erlebte, voll wirklich geworden, weil sie als Appell an die Gesamtheit seines Daseins wirkt, weil sie den Anspruch erhebt, seinem Leben fürderhin die Richtung zu geben. Die Einigung mit dem Dichter ist dann nicht flüchtige Vermählung, sondern ein vollkommener Bund. J e vollkommener der Bund, um so stetiger und tiefer die Wertbewahrung durch den Leser. Das Leben des Lesers hilft hier die Wirkung des Gedichts mit entscheiden. Des Lesers Sache ist es, zu leben, was er las, und damit auch dem W e r k des Dichters in die Wirklichkeit des Lebens zu verhelfen, in schicksalhafter Verbundenheit mit dem Anruf des Dichters zu vollziehen, was dieser schaute und für möglich hielt. W i e der Mystiker W e s e n und Wirken Gottes nicht mehr von seinem eigenen Wirken trennen kann, so vollbringt und verwirklicht der Leser W e s e n und Willen des Dichters durch sein Leben und durch die Bewegungen seines Ich, die durch das Ich des Dichters, mit dem er vereinigt ist, geleitet werden. Dichtung vermöchte nicht unmittelbar ins Wirkliche verwandelnd und handelnd einzugreifen, wenn nicht der Leser, der auf den Anruf des Dichters „Hörende" und den Ruf Vollstreckende das Mittleramt übernähme, durch sein Dasein das ' ) Brief an die Mutter, Januar 1799. -) „Aber in Hütten wohnet der Mensch."

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Wirken der Dichtung zur T a t werden zu lassen. Ebenso wie religiöse Dichtung noch nicht Gebet ist, sondern erst beten macht, so ist auch politische Dichtung im weitesten und engsten Sinne noch nicht politische Tat, sondern tatauslösende Erregung des Menschen. W i e religiöse Dichtung die Kräfte des Menschen sammelt und entbindet, um ins Gebet zu münden, so staut die Prophetie und der Anruf des poeta vates die Kräfte des Menschen in einem freien Gesamterlebnis an, das sich dann erst in politische T a t zu verwirklichen strebt. In höchster Weltenthobenheit und Freiheit von der Angst des Irdischen werden erst die Kräfte entbunden, die uns wieder am engsten ans Leben anschließen, aus äußerster Weltferne wird durch den mystischen Umschlag größte Weltnähe, aus scheinbar tatfremder Enthobenheit kommt erst die freie und reife Tat. In der unio mit dem Dichter sich losreißen von der Angst des Irdischen und an die Quellen des Lebens zurückführen lassen, aus der Verstrickung in die Welt vor die Augen Gottes und gleichzeitig in eine verklärte Welt zurückbringen lassen, heißt Lesen. Tat aber und Anbetung selbst sind etwas, zu dem der Dichter nur hinführen kann, was er auslösen und in die Wege leiten kann, was von uns erst zu leisten ist als das Leben dessen, was wir lasen. Der Dichter kann weder in schweigender Versenkung ins Gebet verharren, noch sich in wortloser Tat erfüllen. Seine Erfüllung liegt im Wort. J e poetisch vollkommener seine Worte sind, um so weniger sind sie eigentlich Gebet, um so mehr jedoch lösen sie im Leser das Gebet aus; je erhabener seine Worte sind, um so weiter haben sie sich vom eigentlichen Geschehen entfernt, um so mehr jedoch haben sie die Gewalt, Geschichte zu fördern und zu bewirken. Ein Ähnliches wie Dichtung nimmt sich Philosophie zum Vorsatz. Ebensowenig wie Dichtung sich in Philosophie übersetzen läßt, ebensowenig wird Philosophie durch Dichtung überflüssig. Was Dichtung sagt, läßt sich nicht in Philosophie ausdrücken, und das, was Philosophie erstrebt, ist nicht durch Dichtung zu leisten. Ich verstehe Dichtung zwar besser, indem ich philosophiere, aber ich kann Dichtung nicht in Philosophie auflösen. Ist das Sein im Philosophieren durch begriff-

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liehe Auslegung erhellt, so ist es in der Dichtung durch sinnbildliche Einmaligkeit anschaulich geworden. Wenn Philosophie, wie schon Kant sagte, nur als „Philosophieren" möglich ist, sich niemals zu einem Ganzen vollendet, so sehr sie sich zum System ausbilden mag, und immer offen bleibt im Hinblick auf ein nie erreichbares Ziel, so erreicht und vollendet Dichtung im einzelnen Werk ein Ganzes. Während im Philosophieren alles auf ein nie endgültig erreichbares Ganzes hinzielt, stehen im Diditen in sich vollendete Werke nebeneinander, die jeweils ihr Ziel erreichen. W o Dichtung die Geheimschrift der Transzendenz in konkreten Gestalten anschaulich macht, vermag Philosophie nur die Grenze des Wißbaren zu bestimmen oder die Sprache wirklicher und mythischer Anschauungen rational zu deuten. Während die Wahrheit der Philosophie angeeignet wird als etwas Verstandenes, so wird die Wahrheit der Dichtung angeeignet als etwas Erlebtes. Dies heißt für die Form beider Sprachen: Die Sprache der Philosophie appelliert an meine Erkenntnisfähigkeit und den Ernst meiner Existenz, die Sprache der Dichtung zieht mich in ihren Bann, und erst im Eintauchen in ihr Leben gewinne ich ihre Wahrheit. Spricht Philosophie mit dem Ernst und dem unmittelbaren Anspruch ihrer Wahrheit, so spricht Dichtung in der Anschaulichkeit ihrer Bedeutung, was ja nichts anderes heißt als Schönheit, in einem innigen Zusammenklang von Ernst und Spiel. Verpflichtet Philosophie unmittelbar durch ihre Aussage, so überwältigt Dichtung durch die zwingende Gestalt ihrer Sprache. Macht Philosophie einen unbedingten Anspruch unmittelbar geltend, so bleibt Dichtung neben dem Ernst ihrer Ansprache immer auch „selig in sich selbst". Ohne den Ernst einer aus wirklicher Seinstiefe kommenden Kundgabe wäre Dichtung ohne Notwendigkeit und innere Wahrheit, ohne die zweckentbundene Selbstgenügsamkeit eines Spiels wäre ihre Gestalt nicht mehr wirklich, wirklich im Sinne von wirkend, den Leser in Bann ziehend und sein Ich überwältigend. Im „Hinreißenden" des Spiels liegt die eigentliche Gewalt der dichterischen Sprache, die erst ihren Ernst fruchtbar macht:

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„Von ihrer Welt verstoßen, flüchte Die ernste Wahrheit zum Gedichte Und finde Schutz in der Kamönen Chor. In ihres Glanzes höchster Fülle, F u r c h t b a r e r in d e s R e i z e s H ü l l e , Erstehe sie in dem Gesänge Und räche sich mit Siegesklange An des Verfolgers feigem O h r . " (Schiller, Die Künstler)

Der Dichter will das „Sein" nicht ohne den rechten „Schein" erhellen. Er muß die Kräfte erst entbinden und lösen, um sie zu sammeln. Die Verzweiflung beschwichtigt noch durch die Kraft der Poesie, das Verhältnis macht sidi der Erinnerung wert, in jeder Frage ist Deutung, in jeder Vernichtung neue Gründung, und dies alles, weil es aus dem Munde des Dichters kommt: „Der Dichter einzig hat die Welt geeinigt, die weit in jedem auseinanderfällt. Das Schöne hat er unerhört bescheinigt, doch da er selbst noch feiert, was ihn peinigt, hat er unendlich den Ruin gereinigt. Und auch noch das Vernichtende wird Welt." (Rilke, Baudelaire)

Das Zusammenwirken von Ernst und Spiel in der Sprache des Dichters ist nicht Verzierung und Schmuck eines ernsten Inhaltes, sondern völlige gegenseitige Durchdringung. Die Seligkeit des Spiels ist nicht ohne die Notwendigkeit und innere Wahrheit eines Seins, der es entspringt. Die Wahrheit des Gedichts läßt sich nicht erfahren, ohne daß man mitspielt und sich in Schwebe bringen läßt, daß man leicht geworden ist und frei genug, den trüben Schleier irdischer Blindheit zu durchstoßen. — Nur wer das Inhaltliche eines Gedichtes in der gleichzeitig enthebenden und bewahrenden Gestalt seiner Sprache erfühlt, der vernimmt seine volle Wahrheit. Das Inhaltliche für sich selbst zu nehmen, hieße es zu bloßem intellektuellem Besitz machen, das Spiel um des bloßen Spieles willen suchen, hieße Wahrheit zur bloßen Möglichkeit, Notwendigkeit zur Willkür machen. Lesen hat, um es zu wieder-

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holen, den Sinn, sich das Gedicht als Einheit und G a n z e s so anzueignen, wie es in sich selbst ist, und damit seinen Z u s t a n d dem Z u s t a n d anzugleichen und einzugleidien, der Voraussetzung zur Gestaltwerdung des Gedichts war. Dichtung, d a s heißt Sprache einer Wahrheit, die nicht ohne ihre Schönheit, eines Lebensernstes, der nicht ohne die Seligkeit und Anspruchlosigkeit eines Spiels zu denken ist. D a s Erleben von Gedichten bedeutet ein täglich neues Glück, weil es die T i e f e unseres Seins nicht aufschließt, ohne Aussicht auf Erfüllung zu eröffnen, weil es eine Wahrheit nur darstellt als unsere eigene Wahrheit, weil es durch das W u n d e r der Poesie mit seiner Frage schon Antwort, mit seinem Zweifel schon Bestätigung, mit seinem Anspruch gleichzeitig die K r ä f t e der Erhebung und die Aussicht auf Erlösung darbietet, weil es entbunden von der N o t und Armseligkeit des Daseins selig in sich selbst ist. D a s Gedicht bereichert uns um noch ungeschaffene Welten und macht den Geist in uns frei, der aus Begeisterung stammt, durch Sprache leibhaft erlöst wird und sich wiederum tief einzusenken strebt in die Wurzeln des bewußtlos bildenden Lebens. E s nötigt dem Menschen keine fremden Erkenntnisse auf, sondern erinnert ihn an ihn selbst; es gibt ihm nicht eine zuverlässige und verpflichtende Deutung der Welträtsel, eine ein für allemal gültige Entzifferung der Geheimschrift des Jenseits an die H a n d , sondern läßt ihn in immer neuem Aufschwung bei immer neuem Lesen erfahren, w a s als etwas sicher Gewußtes und einmalig Festgestelltes nur unwahrer und unsicherer Besitz sein würde. D i e G n a d e des Dichters, „ z u sagen, was er leidet", setzt die Fähigkeit des Lesers voraus, zu leiden, w a s der Dichter sagt. D a m i t das W o r t des G e d i d i t s Antwort, Bestätigung, Erhebung und T r o s t werde, heißt es sich bereit machen zu seiner Empfängnis, heißt es mit der Durchbrechung des inneren Sinns und der äußeren Sinne sich von dem aus innerem D r a n g bewegten und in mitreißender Schönheit sichtbar werdenden Strom dichterischer Sprache tragen und führen lassen. Nicht nur das sich sammelnde Augenschließen, das "fiveiv" ist gefordert, auch die Ekstasis, die Selbstentledigung um der höheren und umfassenderen Selbstbemächtigung willen.

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W i e das Erleben des Mystikers abgleiten kann in frivolen Selbstgenuß gesteigerter Zustände, in eine inhalt- und ziellose Selbstberauschung, so kann auch das Kunsterleben zum bloßen Erlebnis und Lebensersatz mißbraucht werden und in lebensfremden und tatunfähigen Ästhetizismus entarten. Die Steigerung unserer Empfindungen, die Erhebung unseres Geistes und die Erregung unserer Phantasie im Erleben der Dichtung kann sich von der Wirklichkeit als dem Felde unseres Wirkens zu selbstgenügsamem Dasein abschließen. Die Bemächtigung unseres Ich hat dann kein eigentliches Ziel mehr, sondern kreist in sich selbst; die Erschütterungen unseres Seins werden genossen, anstatt daß sie zur Wirkung kommen; der Aufschwung unserer Seele wirkt nicht in unseren Lebenssinn, sondern wird Selbstzweck; der Ernst des zeitlichen Daseins ist verlassen nicht um der Verwandlung und Umgestaltung des Daseins willen, sondern aus Lebensohnmacht und Flucht vor entscheidender Selbstverwirklichung. Die Beseligung und Befriedigung durch das Kunsterleben enthebt mich dem zeitlichen Dasein und der Wirklichkeit meiner Existenz. Sie kann dazu verführen, midi Bewegungen des Gemütes hinzugeben, die mir nicht zukommen, die nicht meine eigenen sind. Gerade dann, wenn ich mich mit dem Ich des Dichters in ein mir fremdes Dasein hineinmime, ohne dabei mein eigenes Selbst zu ergreifen, dann gleitet der Kunstgenuß ab in willkürliche Entrückung und Entfernung meines Ich von seinem Grunde, seinem Schicksal, seiner Aufgabe und seinem transzendentalen Ziel. N u r wenn im Gedicht eine mir eigene Notwendigkeit und zugehörige Wirklichkeit, meine eigene Wahrheit und nicht ein beliebiges Fremdes ergriffen wird, entzieht sich die Seligkeit des Kunstgenießens der Unverbindlichkeit, wird sie W e g in neue Notwendigkeit des Daseins und nicht Verführung in einen Raum unendlicher freier Möglichkeiten; wird sie echte unio eines eigenen und fremden Erlebens, nicht nur ekstatische Entrückung ohne Gewinnung eines höheren Selbst. Nicht nur Entrückung, sondern auch Verwandlung ist im Lesen zu suchen, Verwandlung der Existenz als Selbstvergewisserung durch die Selbstvergessenheit im Erleben der Kunst hindurch. Das echte Erleben der Dichtung muß Frei-

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DICHTER U N D LESER

heit schaffen, nicht nur v o n der Dumpfheit, Undurchsichtigkeit und Not unseres Daseins, sondern auch z u r Verwandlung dieses Daseins, zur Umgestaltung der Wirklichkeit, zur Ergreifung eines zeitlosen Seins in dieser Wirklichkeit. Ohne Befreiung vom rohen Nurdasein kann sich wahres Leben ebensowenig entfalten wie im bloßen Schwelgen einer Vollendung, die nicht die meine ist, sondern nur Vorwegnahme von etwas, das zeitlebens vor mir und zu erstreben bleibt. Wenn Dichtung immer wieder zurückführt in meine faktische Existenz als ein Strom läuternder und verwandelnder Kräfte, dann ist sie dem Bereich der Beliebigkeit entzogen und hat ihr volles Leben durch die Verwirklichung im Leben anderer gewonnen. Im philosophierenden Bewußtsein angeeignet, in Wort und Tat zum Bekenntnis gebracht, Leben im Leben gewinnend, wird sie Möglichkeit, Gewissen und Kraftquelle neuen Daseins. Nur vorübergehend und nur in der Absicht, ihre volle Wirkung freizulegen, läßt sich Dichtung zum Gegenstand gelehrter Betrachtung machen. Am Ende und im Grunde jeder literaturwissenschaftlichen Betrachtung steht ausgesprochen oder unausgesprochen der Aufruf zu erneuter Aufnahme der unersetzlichen und unübersetzbaren dichterischen Sprache. Die rechte Beziehung zwischen dem Gedicht und dem Leser läßt sich wiederum nur als mystische vergegenwärtigen: Der Sinn eines Gedichts besteht nicht darin, Gegenstand einer Betrachtung, sondern Auge zu werden, durch das man in die Tiefe der Welt, in die Tiefe Gottes und des eigenen Ich blidct und die Schrift des Jenseits zu lesen vermag.

VERZEICHNIS DER N A M E N Abu Said 60 Anakreon 68 Angela von Foligno 86 Arnold Gottfried 159 f., 210, 215 Augustinus 63, 64, 69, 80—83, 93, 102, 232 Avicenna 57, 58 Baader 32 Badiofen 271 Balde 128 Basilius 73 Bérulle 102 Bernhard von Clairvaux 63, 85 Bettina 184 Bhartrihari 55 Blake 103, 154 Boehme 65, 69, 102, 116, 154 f., 246 Boethius 69, 83 f. Bossuet 102 Brentano 18, 180 f., 259 Bruno 65, 69 Buddha 48 ff., 244 Cabasilas 77 Calderón 97 Claudius 217 Clemens von Alexandrien 73, 77 Cusanus Nicolaus 65, 69, 116 Czepko 102, 161 Dach 155 Dante 86, 90, 91—94 Daumer 183 Dehmel 193 f. Diego de Estella 96 Dionysius vom Areopag 63, 69, 77, 78, 80 Donne 102 Dostojewski 104 Droste 10, 13 f., 15, 66, 67, 107, 108, 12t, 184 f., 202

Dschami 59 f. Dsdielaleddin Rumi 11, 57, 60 bis 62, 183 Ebner Margarete 129 Echnaton 38 Eidiendorff 10, 208, 263, 268, 276 Ekkehart 24, 26, 29, 34, 43, 49, 63, 66, 69, 74, 77, 102, 116 f., 118, 122 f., 124, 133, 141 ff., 165, 169, 214, 222, 225, 235, 243 f. Engelbirn 139 Ephraim 73 Fénélon 102 Ferrar 102 Fichte 118, 272 Fleming 155 Franck Sebastian 151 Frankenberg 119 Franz von Assisi 48, 86 f. François de Sales 102 George 124 Gerhardt 293 Gertrud von Helfta 129 Goethe 12, 18, 19, 29, 31 f., 33, 61, 62, 67, 76, 93, 106, 120, 121, 124, 125, 169, 171 172—177, 182, 183, 219, 229, 231, 235, 241, 245 f., 247, 248, 249, 250, 258, 268, 271, 279, 282 f., 284, 292, 294, 297 Gottfried von Straßburg 135 Gregor der Große 85 Gregor von Nazianz 77 Gregor von Nyssa 69, 77 Greiffenberg Katharina 184 Gryphius 293 Günderrode 184 Günther 10 Guyon 102

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VERZEICHNIS DER N A M E N

Hafte 57, 59, 62 Hamann 168, 182 Hebbel 10, 14, 33, 124, 186 f., 279 Hegel 33, 49, 50, 56, 117, 245 Heilsbronn, Mönch von 131 Herbert 102 Herder 15 f., 17, 30 f., 32, 61, 66, 93, 118, 120, 169—171, 182, 183, 204, 207, 209, 235, 246 Hermes Trismegistos 70 f. Herrera 97 Hesiod 69 Hildegard von Bingen 125—129, 184 Hoffmannswaldau 155 Hölderlin 124, 217, 240, 269 f., 276, 282, 289, 290—294, 298 f., 303, 304 f., 308 Holz 191 Homer 69 Hugo von St. Victor 74 Humboldt 50 Ignatius von Loyola 95 Isaak von Ninive 73 f. Jacopone da Todi 66, 87—91 Johannes Climacus 78 Juan de la Cruz 96, 97—101 Juan de los Angeles 96 Juliane von Norwich 102 Kant 118, 124, 225, 256, 276, 310 Katharina von Genua 87 Katharina von Siena 87 Keller 186, 267, 282 Kierkegaard 241 ff., 264, 297 Klopstodc 124, 282, 293 Knorr von Rosenroth 158 Kuhlmann 105, 160 f., 208, 209, 223 Lallemant 102 Lamartine 106 Laotse 221

Lauffenberg, Heinrich von 133 Law William 154 Lribniz 31, 118, 165 Lenau 186, 255 Liliencron 191 Luis de León 97 Luther 72, 151, 241, 250, 293 Magdalena von Pazzi 87 Makarius 78 Malaval 102 Manzoni 106 Maximus Confessor 78 Mechthild von Hackeborn 129 Mechthild von Magdeburg 23, 66, 86, 129—131, 215 f. Millay E. V. St. 113—115 Mörike 12, 17, 186, 257, 262 Müller Heinrich 158 Murner 133 Newmann 107 Nietzsche 66, 67, 107, 116, 117 f., 122 f., 124, 137, 174, 187—190, 192, 235, 245, 260, 265 Novalis 12, 15 f., 17, 30 f., 37, 66, 69, 89, 102 f., 120, 121, 124, 137, 143, 170, 178—180, 203, 207, 209, 233, 235, 236 f., 246, 257, 264, 267, 293, 294 f. Omar 57—59 Orígenes 77 Pascal 102 Paul Jean 270 f. Pedro del Alcantara 96 Pemán 110—113 Philippe Neri 87 Pico 65 Pindar 67 Platen 183, 186 Piaton 69, 74, 93, 96, 265 Plotin 42, 63, 69, 80 Poiret 102 Pseudo Makarius 73

VERZEICHNIS DER N A M E N Rhabanus Maurus 85 Rilke 30, 50, 66, 67, 125, 194 bis 199, 256, 264, 286 f., 288, 290, 291, 303, 311 Rimbaud 107 Rolle von Hampole 102 Rückert 11, 62, 183 f. R u y s b r o c k 63, 1 4 7 - 1 5 1 , 177 Sadi 56 Saint Martin 154 Sappho 68 Scheffler 23, 26 f., 30, 66, 102, 118 f., 120, 155, 157 f., 164 bis 165, 169, 192, 204, 212, 218, 220 f., 222, 224, 235 Schelling 118, 245, 246 Schiller 35, 220 f., 260, 272, 285, 296, 311 Schlegel August Wilhelm 50 Schlegel Friedrich 50, 182 Schopenhauer 53, 55, 118, 119, 245 Seuse 27, 63, 102, 141, 143 f., 204 Solojew 104 f. Spee 155—158 Stehr 13 Symeon 79 f. Synesius von Kyrene 74—77

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Talaputa 48 Tauler 28, 43, 63, 102, 141, 144, 147 Tersteegen 66, 120, 124, 165 bis 167, 204, 205, 207, 210, 216, 225, 293 Theresa 69, 95 f. Thomas von Aquin 63, 65, 85 Thomas von Celano 86 Thomas a Kempis 24 Tiedc 181 Tjutschew 103 ff. Traherne 102 Trake 285 f. Vaughan 102 Verlaine 106 Vico 271 Walther von der Vogelweide 134 Weigel 119 Whitman 107 f. Wordsworth 102 f. Xenophanes 68 Zesen 155 Zia Gök-Alp 109 f. Zinzendorf 167 f.

DEUTSCHE

GEDICHTE

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Dr. E D G A R H E D E R E R im Auftrag der Deutschen Akademie, München. Die Sammlung umfaßt in 36 Nummern mit 26 Einzelheften und 5 Doppelheften die Bändchen: 1. Dichter des Mittelalters - 2. Gerhardt - 3. Gryphius - 4. Angelus Silesius - 5. Dichter der Barockzeit - 6-/24. Dichter des 18. Jahrhunderts 7. Klopstock - 8. Claudius - 9. Goethe I - IO./II. Goethe II - 12./13. Schiller - 14./15. Hölderlin - 16. Novalis - 17. Brentano - 18. Uhland 19. Eichendorff - 20. Dichter der Freiheitskriege - 2i.Rückert - 22. Platen23. Droste-Hülshoff - 25. Lenau - 26. Mörike - 27. Hebbel - 28. Storm 29. Keller - 30. Meyer - 31. Fontane - 32. Nietzsche - 33. Liliencron 34. Dehmel - 35-/36. Volkslieder. - Jedes einzelne Heft ist zwei Bogen stark, enthält neben der Auswahl der Gedichte ein Bild des Dichters, einen kurzen biographischen Vermerk und ein Geleitwort. Einzelne Hefte 40 Pf., in zwei Leinenbänden zu je RM. 6.—, in rwei Kasseten zu je RM. 7.—. „Die Durchsicht des gesamten Werkes läßt erkennen, daß es hier dem Einsatz einer sich untereinander aufs beste ergänzenden, einfühlsamen Herausgeberschaft auf sehr glückliche Weise gelungen ist, in straffer Auswahl weniger Gedichte die einzelnen Dichterpersönlichkeiten als Gestalt erkennbar werden zu lassen und in dem Nebeneinander dieser Gestalten ein umfassendes Bild der Fülle und Größe deutscher Sprachschöpfung zu geben, wie es so einprägsam bisher keine unserer zahlreichen Gedichtsammlungen hat bieten können . . . Anlage, Aufbau und Durchgestaltung der Sammlung .Deutsche Gedichte' sind insgesamt, ergänzt durch die beigegebenen vorzüglich gedruckten Dichterbildnisse (fast alle nach zeitgenössischen Vorlagen wiedergegeben) und die vorangestellten knappen Charakteristiken, vorbehaltlos geeignet, nicht allein dem Ausländer, sondern auch breiten Kreisen im eigenen Lande und vor allem der Jugend das große und reiche Erbe deutscher Verskunst auf eine nicht lehrhafte, sondern unmittelbar erlebnismäßige Weise zu Herz und Gemüt zu führen". Stuttgarter Neues Tageblatt. „Vortrefflich als Geschenkwerk geeignet ist die zweibändige Sammlung „Deutsche Gedichte". Wenn auch die geistliche Dichtung und das Volkslied etwas zu kurz gekommen sind, so ist dies doch die würdigste Anthologie deutscher Lyrik, die wir gegenwärtig besitzen. Der Baumeister.

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