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German Pages 363 [372] Year 1984
Kurt Ruh Kleine Schriften II
Kurt Ruh
Kleine Schriften Band II Scholastik und Mystik im Spätmittelalter
Herausgegeben von Volker Mertens
w DE
Walter de Gruyter • Berlin • N e w York 1984
CI P-Kurztitelanfnähme
der Deutseben
Bibliothek
Ruh, Kurt: Kleine Schriften / Kurt Ruh. - Berlin ; New York : de Gruyter N E : Ruh, Kurt: [Sammlung] Bd. 2. Scholastik und Mystik im Spätmittelalter. 1984. ISBN 3-11-010150-5
© Copyright 1984 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Saladruck, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin
Inhalt Thomas von Aquin in mittelhochdeutscher Sprache (1951) 1 Die trinitarische Spekulation in deutscher Mystik und Scholastik (1953) 14 David von Augsburg und die Entstehung eines franziskanischen Schrifttums in deutscher Sprache (1955) 46 Eine neue Handschrift des 'Frankfurter' (1959) 68 Textkritik zum Mystikerlied'Granum Sinapis'(1964) 77 Altniederländische Mystik in deutschsprachiger Uberlieferung (1964) 94 Zur Grundlegung einer Geschichte der franziskanischen Mystik (1964) 118 Seuse Vita c. 52 und das Gedicht und die Glosse 'Vom Überschall' (1966) 145 Das 'Compendium Anticlaudiani' als Quelle des Prosa-Marienleb e n s ' D a Got der vater schuof Adam und Evam'(1969) Das Reimgebet des Nikolaus von Flüe (1970) Mystische Spekulation in Reimversen des H.Jahrhunderts (1973) . . 'Le miroir des simples ämes'der Marguerite Porete (1975) Beginenmystik. Hadewijch, Mechthild von Magdeburg, Marguerite Porete (1977) Votum für eine überlieferungskritische Editionspraxis (1978) Volkssprachliches über Häresien (1981) Deutsche Literatur im Benediktinerinnenkloster St. Andreas in Engelberg (1981) Deutsche Predigtbücher des Mittelalters (1981) Mystische Reimverse, einem Begarden in den Mund gelegt (1982) . . Meister Eckhart und die Spiritualität der Beginen (1982) Vorbemerkungen zu einer Geschichte der abendländischen Mystik im Mittelalter (1983)
169 176 184 212 237 250 255 275 296 318 327 337
Thomas von Aquin in mittelhochdeutscher Sprache Zu einer Textausgabe*
[Theologische Zeitschrift 7 (1951), S. 3 4 1 - 3 6 5 ] [ N u r mit Zögern und auf das Drängen von Freunden hin entschloß ich mich für die A u f n a h m e dieses Beitrags in die 'Kleinen Schriften'. Zur überschwenglichen Laudatio des Ubersetzers S. 12f. stehe ich schon längst nicht mehr. K.BERG hat dessen Leistung, z . T . auf Grund einer bereits 1943 erschienenen, mir unbekannt gebliebenen Arbeit von GABRIELE SCHIEB (masch. Diss. L e i p z i g ) s o w i e dank einer viel breiter gewordenen Basis von Texten, die zum Vergleich herangezogen werden konnten, sehr viel nüchterner beurteilt ('Der tugenden buch'. U n t e r s u c h u n g e n zu mittelhochdeutschen Prosatexten nach Werken des T h o m a s von A q u i n [ M T U 7], M ü n c h e n 1964, S. 53-59). Aber wissenschaftsgeschichtlich bleibt der Stellenwert der m h d . ' S u m m a theologiae' groß, und d a f ü r mag gerade mein Beitrag als spontane Ä u ß e r u n g zu einem editorischen Ereignis stehen. Auch hat er als mein Einstieg in die "deutsche Scholastik" zu gelten. Teil II mit Hinweisen auf andere Bearbeitungen von Schriften des Aquinaten (S. 356-365) habe ich unterdrückt, da diese Materialien alle in das oben erwähnte Buch von BERG eingegangen sind.]
I. E r s t z w e i J a h r e s i n d e s h e r , d a ß W O L F G A N G STAMMLER in e i n e m
das
weite Feld mittelalterlicher P r o s a s o u v e r ä n ü b e r b l i c k e n d e n und o r d n e n den A u f s a t z ' V o n mittelalterlicher d e u t s c h e r Prosa'1 sich z u f o l g e n d e n Feststellungen
veranlaßt
sah:
"Demgegenüber
(seil,
der
deutschen
M y s t i k u n d i h r e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n E r f o r s c h u n g ) ist d i e S c h o l a s t i k i n deut-1 scher Sprache ganz übersehen o d e r unwillig z u r ü c k g e d r ä n g t w o r d e n . D o c h ist e s n i c h t m e h r a n g ä n g i g , s i e z u v e r s c h w e i g e n , u n d i c h w i l l n o c h m a l s auf sie h i n g e w i e s e n h a b e n , auf d i e G e f a h r h i n , w i e d e r
kein
Echo zu finden."
* Middle High German Translation of the S u m m a Theologica by T h o m a s A q u i n a s , edited by B. Q . MORGAN and F. W . STROTHMANN (Stanford University Publications, Language and Literature, vol. VIII, 1), Stanford (California) 1950, 400 pp. 1
The Journal of English and Germanic P h i l o l o g y 48 (1949), S. 25-^4, I.e. S. 31.
2
Thomas von Aquin in mittelhochdeutscher Sprache
[342/343]
Die augenscheinlichen Hemmungen der Forschung, sich ernsthaft mit der "Scholastik in deutscher Sprache", oder wie wir in Analogie zur "deutschen M y s t i k " sagen dürfen: mit der "deutschen Scholastik", zu befassen, sind mannigfaltiger und verwickelter Natur. In erster und allgemeiner Linie scheinen sie jedoch in einem Komplex von Vorurteilen gegenüber der Scholastik als solcher zu gründen, die seit Humanismus und Aufklarung als eine dem deutschen Wesen fremde Geisteswelt betrachtet wurde 2 . Das ist auch in unsern Tagen, wo ernsthafte und unvoreingenommene historische und systematische Forschung das Dunkel der Vorurteile zu erhellen und das Schiefe der Allgemeinurteile auszurichten beginnt, wenigstens im allgemeinen Bewußtsein der Gebildeten nicht viel anders geworden.
Für alle, die sich mit dem Vorgang der Rezeption der (ihrer Form nach lateinischen) Scholastik durch die deutsche Sprache je näher befaßt haben und darin eine bedeutsame sprach- und mithin geistesgeschichtliche Tatsache erblicken, war die Edition der Stuttgarter Handschrift H B III 32, die eine mittelhochdeutsche Ubersetzung wichtiger Partien aus der 'Summa theologica' des Thomas von Aquin sowie einiger Quaestionen aus 'Opuscula' desselben Verfassers enthält, eine nicht geringe Überraschung. Daß sich jemand seit mehr als einem Jahrzehnt um diese Ubersetzung bemüht und ihre Herausgabe vorbereitet hat, damit glaubte niemand, zumal im Blick auf Kriegs- und Nachkriegsjahre, ernsthaft rechnen zu dürfen'; daß aber die Germanistik der Neuen Welt, die sich deutsche Philologen an-1 ders als in Kinderschuhen nicht so leicht vorstellen können, an solche Aufgaben herantreten würde, zog man schon gar nicht in Betracht. Genau dies ereignete sich: B. Q . MORGAN und F. W. STROTHMANN heißen die Gelehrten, die in schöner Gemeinschaftsarbeit diese Tat vollbracht haben. Man vergegenwärtige sich noch besonders: Es handelt sich um eine Textausgabe, gedruckt "Stanford (California) University Press" (eine Textausgabe mit englischer Einleitung und englischen Fußnoten), und man werde sich bewußt, daß damit der Bereich autochthoner deutscher Philologie und deutscher Verleger betreten ist! Schon diese äußeren Umstände sind außergewöhnlich und des Nachdenkens wert. Die Entdeckung dieses mittelhochdeutschen Thomas liegt schon ein Vierteljahrhundert zurück. Wir verdanken sie nicht einem Germanisten von Fach, sondern dem Theologen MARTIN GRABMANN ('Eine mhd. Übersetzung der Summa theologica des hlg. Thomas von Aquin' 4 ). Über 1
Vgl. M . GRABMANN, Mittelalterliches Geistesleben II, München 1936, S . 3 2 4 (wo H . v. SCHUBERT, Die Geschichte des deutschen Glaubens, zitiert wird); ebd. S . 6 3 f . Zur allgemeinen Beurteilung der Scholastik siehe: ders., Geschichte der scholastischen Methode
I, S. 1 ff., MAURICE DE WULF, Geschichte der mittelalterl.
Philosophie,
d e u t s c h e A u s g a b e v o n R U D O L F EISLER, S . 7 6 f. 3
Der zitierte STAMMLERsche Aufsatz, wo auch mit Nachdruck auf diese Ubersetzung hingewiesen wird, ist ein Beweis hierfür; s . u . S . 3 .
* Mittelalterliches Geistesleben I, München 1926, S. 4 3 2 - 4 3 9 .
Thomas-
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T h o m a s von Aquin in mittelhochdeutscher Sprache
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die Bedeutung dieser Übertragung war sich der Entdecker, wie die von ihm aufgeworfenen Fragen dartun, völlig im klaren, und er versäumte am Schluß seiner Ausführungen auch nicht, die zünftige Germanistik aus dem Busch zu klopfen 5 . Das ist ihm nun freilich nicht gelungen. Es blieb merkwürdig still um den deutschen Thomas. Ein Handbuch wie EHRISMANNS 'Geschichte der mittelhochdeutschen Literatur' führt dieses Werk, das zu den wichtigsten Büchern des späteren Mittelalters gehört, nur in einer unauffälligen Fußnote an'. Einzig STAMMLER ritt dafür eine Lanze: In der Textsammlung 'Prosa der deutschen Gotik' (Berlin 1933), wo er fünf Abschnitte aus der Stuttgarter Hs. veröffentlichte (Nr. 12, S. 19-21). Diese Proben schienen jedoch in erster Linie Befremden und Erstaunen ausgelöst zu haben 7 , was STAMMLER im eingangs zitierten Aufsatz zu einer kräftigen Apostrophe veranlaßte. In diesem Augenblick (1949) lag jedoch die MoRGAN-STROTHMANNsche Ausgabe mutmaßlich bereits unter der Presse. | So viel in Kürze zur Vorgeschichte der Edition. Jetzt darf man nur gespannt sein, ob die breite Front der Germanisten heute, angesichts einer vorzüglichen Ausgabe, anders - nämlich lebhafter - reagieren wird als a u f GRABMANNS u n d STAMMLERS H i n w e i s e .
Die "Preface" der Herausgeber ist recht knapp ausgefallen, und sie durfte knapp bleiben, weil die Editoren in Bälde eine Monographie in Aussicht stellen. Im wesentlichen befaßt sie sich mit der (technischen) Beschreibung der Handschrift und den Grundsätzen der Textgestaltung. Auf eine Charakterisierung der Sprache der Ubersetzung ist verzichtet worden. Wir hätten uns von ihr nähere und bestimmtere Hinweise auf die Heimat der Handschrift versprochen 8 . Denn es steht keineswegs fest (wie man der entsprechenden Bemerkung der Herausgeber [S. 5] unwillkürlich entnehmen wird), daß der Codex zu den ursprünglichen, d.h. mittelalterlichen Beständen der Weingartner Abtei gehört oder gar daß er dort entstanden ist: E r läßt sich nämlich im 17. Jahrhundert (1659) laut Eintrag auf dem 1. Blatt - in Weingarten nachweisen'. - Ebensowenig ist die Frage nach dem Verfasser gestellt oder wenigstens (da quellenmäßige Angaben nicht vorhanden sind) nach dessen geistiger Heimat. Dazu möchte ich hier nur den interessanten Umstand anmers
" E s wäre zu wünschen, daß auch von fachmännischer germanistischer Seite diese Thomasübersetzung nach der sprachlichen Seite geprüft würde" (S. 438).
4
Schlußband, S . 5 9 1 , A n m . 5.
7
Vgl. AfdA 54 (1935), S. 176 f.
' Die Sprache der H s . ist in außergewöhnlichem Maße frei von typisch mundartlichen Einschlägen. Sie ist so nicht auf den ersten Blick näher zu lokalisieren. Doch steht (auch ohne genauere Untersuchung) fest, daß der C o d e x im niederalemannischen oder dann im westlichen hochalemannischen Räume entstanden ist. * Vgl. auch KARL LÖFFLER, D i e Hss. des Klosters Weingarten, Zentralblatt für Bibliothekswesen 41 (1912), S. 88.
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T h o m a s von Aquin in mittelhochdeutscher Sprache
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ken, daß unser Verfasser, ein spekulativer Kopf, wie noch zu zeigen sein wird, die spekulative Mystik n i c h t kennt - denn er kennt ihre Sprache nicht. Diese hätte ihm einen stattlichen Bestand wichtiger scholastischer Termini in deutschem Sprachgewand anbieten können: unser Ubersetzer gebraucht aber keinen einzigen Eigenbegriff der Mystik Eckharts und seiner Zeitgenossen. Ich muß den Nachweis hier schuldig bleiben; wer die Sprache der Mystik kennt, wird schon nach kurzer Lektüre der deutschen Theologischen Summe sich von der Richtigkeit dieser Fest- | Stellung überzeugt sehen. - Damit ist aber die Frage aufgeworfen, o b unsere Übertragung wohl v o r der Entfaltung der dominikanischen Mystik, also, grob gesprochen, vor 1300 geschrieben worden ist oder ob diese den Ubersetzer nicht berührt hat: Eine Frage, die ohne minutiöse sprachliche Untersuchungen und ohne neues Material zur Überlieferung kaum zu entscheiden ist 10 . Gefühlsmäßig, d. h. nach dem Bilde, das sich mir aus dem Studium dieser Übersetzung immer bestimmter vom Verfasser aufgedrängt hat, neige ich zur letzteren Ansicht: unser Autor wirkte keinesfalls vor der spekulativen deutschen Mystik, ist vielmehr ein Zeitgenosse eines Eckhart oder dessen Nachfolger, allein er steht außerhalb der mystischen Bewegung. Das tönt ordentlich unwahrscheinlich, zumal er einem Stammgebiet der Mystik angehört. D o c h werden spätere Stellen dieses Rezensionsaufsatzes mein (gefühlsmäßiges) Urteil verständlicher machen. Im übrigen ist zu hoffen, daß die MORGAN-STROTHMANNsche Monographie diese Fragen aufwirft und sie so weit belichtet, als dies überhaupt auf Grund des vorhandenen Materials möglich ist. Die letzten drei Seiten der Einleitung widmen die verdienstvollen Herausgeber der sprachgeschichtlichen Bedeutung des Werkes. Sie erinnern zunächst mit vollem Recht an die Boethius-Übersetzungen N o t kers und sind der Ansicht, daß der mhd. Thomas-Übersetzung die gleiche, ja - wenigstens in semantischer Hinsicht - eine noch höhere Bedeutung zukommt, als wir sie der Notkerschen Übersetzungskunst zuerkennen. Weiter heißt es (in wörtlicher Übertragung): "Angesichts unserer Feststellungen glauben wir beweisen zu können, daß das moderne Deutsch, d. h. das philosophische und theoretische Deutsch, in einem bis anhin nicht für möglich gehaltenen Maße nichts anderes ist als eine verdeutschte F o r m des mittelalterlichen Lateins. Diese Tatsache hat man vollständig übersehen, denn kein Manuskript dieser Art wurde je vorher in so bedeutendem Umfange herausgegeben, und wie Grabmann bemerkt, ist es bis jetzt noch nicht gelungen, die 'sprachschöpferische Tätigkeit' eines Deutschen des H.Jahrhunderts | zu ermessen, der in seiner Muttersprache jene höchst abstrakten philosophischen Ideen, Für die Handschrift (die kein Autograph ist!) ist als terminus a q u o 1323 gegeben: das J a h r der Heiligsprechung des Aquinaten (im Initium steht: Sanctus
Thomas).
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[346/347]
welche das mittelalterliche Latein mit solch erstaunlicher Fertigkeit und Präzision auszudrücken verstand, zu formen sich anschickte" (S. 10). Hier, in der These von der mediaevalen Latinität der deutschen Philosophen- und Theologensprache, liegt das Schwergewicht nicht etwa nur der "Einleitung", sondern der Edition als solcher; das ist die neue Erkenntnis, die dieser neu erschlossene Text uns nahelegt. Eine wahrhaft erregende These! Erregend vor allem auch in dieser zugespitzten Form, wurde doch bis jetzt die an und für sich unbestrittene Latinität zahlreicher grammatikalischer Erscheinungen des Deutschen" im wesentlichen auf die Einwirkungen des Humanismus zurückgeführt 12 . Man wird jedoch, namentlich auch im Hinblick auf andere (ungedruckte) deutsche Ubersetzungen scholastischer Werke, der MoRGAN-STROTHMANNschen These grundsätzlich zustimmen müssen, wenn auch das Maß dieser scholastischen Komponente auf Grund der heutigen, völlig in den Anfängen steckenden Forschung noch keineswegs abzuschätzen ist. Die Hinweise und Beispiele, die die Herausgeber ihrer These beifügen, sind nun freilich eher dazu angetan, etwelche Bedenken aufkommen zu lassen. "Nehmen wir z. B. das lateinische Wort accipere. Im konkreten Gebrauch kommt es in mittelalterlichen Texten ziemlich häufig vor und verbindet die Bedeutungen 'to receive' und 'to accept' des modernen Englisch. So steht etwa Apk. Joh. 2, 17: ' . . . a new n a m e . . . which no man knoweth save he that receives ist.' In der Vulgata heißt die Stelle: ' . . . n o m e n novum scriptum, quod nemo seit, nisi qui aeeipit.' Anderseits steht l . K o r . 11, 24 'Take, eat: this is my body', in der Vulgata: 'Accipite et manducate.' Unser Manuskript übersetzt accipere im konkreten Gebrauch in den meisten Fällen mit nemen, gelegentlich mit empfangen. Soweit ist hier nichts Uberraschendes. Aber eigenartig ist es, wie das | deutsche Wort nemen mit oder ohne Vorsilbe, einfach weil es das einzig passende Verb für die Übersetzung von accipere ist, daneben auch alle anderen Bedeutungen von accipere, die in unserm Text vorkommen, angenommen hat. So etwa im Satze: 'si gratia aeeipiatur ipsa Dei voluntas', den unser Übersetzer folgendermaßen übertrug: 'unde wirt die gnade genomen alse der wille gotiz selber'; accipere bedeutet hier: 'ein gewisses Wort in einem gewissen Sinne auffassen'. Bis zum heutigen Tag wendet man im modernen Deutsch nehmen im genau gleichen Sinne an: 'etwas übel nehmen'. Im Satze: 'Si imago Trinitatis debet aeeipi in anima', den unser Text so auslegt: 'unde sol daz bilde der triveltigkeit genommen werden in der sele', bedeutet accipere: 'Etwas " Man denke an die in O . BEHAGHELS 'Deutscher Syntax' angeführten Fälle (s. im Register unter "Lateinischer Einfluß", Bd. IV, S. 307) und die zahlreichen Ubersetzungstermini in der Sprache der mittelalterlichen Mystik (überswanc: scintilla 11
animae,
geistert:
spirare,
gebundene
minne:
raptus,
Caritas lingans
Vgl. die Forschungen KONRAD BURDACHS und seiner Schule.
fiinkelm usw.).
der
sèle:
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Vorhandenes annehmen'. Bis heute gebraucht das moderne Deutsch annehmen im gleichen Sinne." Die Beurteilung solcher und ähnlicher Wendungen fällt nicht leicht. Allem zuvor muß einmal abgeklärt werden, ob die zur Diskussion stehende Bedeutung wirklich nur dem scholastischen (oder sagen wir allgemeiner: dem mittelalterlichen) Latein zukommt und nicht bereits dem klassischen. Es ist auch nicht nur die Wortbedeutung als solche ins Auge zu fassen, sondern auch - zumal wenn es sich um Verben handelt die Konstruktion. Denn es könnte sehr wohl die lexikographische Bedeutung eines lateinischen Wortes klassisch und mittelalterlich, die syntaktische Fügung jedoch nur mittelalterlich sein13; der deutsche Ubersetzer könnte diese Fügung übernehmen, womit also ein konstruktiver, nicht aber ein bedeutungsmäßiger Zusammenhang mit scholastischer Latinität gegeben wäre. Im Hinblick auf das deutsche Ubersetzungswort ist gleichfalls zu untersuchen, ob seine Bedeutung nicht schon alteingewurzelt ist. Handelt es sich aber um eine wirklich semantische Neubildung, so bleibt immer noch die Frage offen, ob sie auch weitergewirkt hat. - All diese Faktoren abzuklären, ist ein ziemlich mühsames Geschäft, und nicht immer wird man zu sichern Resultaten gelangen, aus dem einfachen | Grunde, weil oft die Wörterbücher versagen und weil wir über keine Sprachgeschichte verfügen, die uns hier Richtung und Weg zu weisen vermöchte. Faßt man bei der Beurteilung der oben angeführten Beispiele diese Gesichtspunkte ins Auge, so vermag namentlich das erste nicht zu bestehen. Wir stellen fest, daß accipere in vorliegender Bedeutung auch im klassischen latein gut zu belegen ist". Eine deutsche Wendung wie "etwas übel nehmen" kann also ebensogut auf klassisches (bzw. humanistisches) Latein zurückgehen. Der entsprechende Ausdruck lautet in malam partem accipere, bei Cicero finden wir: accipere in bonam partem, beneficium contumeliam acccipere,s. Aber auch das deutsche nehmen war schon längst vorbereitet, in diesem Sinne verwendet zu werden. Schon im Gotischen trägt niman die Bedeutung 'innerlich aufnehmen' (Mark. 4, 16; Joh. 17, 8); Notker kennt in sin neman (=
13
So - um nur ein Beispiel aus dem Wortfeld accipere secundum
quod,
anzuführen - die Fügung
accipere
die in unserm T e x t verschiedentlich vorkommt (72, 16; 298, 1 6 f . ; 298,
2 7 ; 300, 7 f . ; 308, 2 9 f . ) . 14
Schon in meinem Schulwörterbuch finde ich accipere
im Sinne von "auffassen, begreifen,
verstehen, in irgendeinem Sinne aufnehmen, auslegen". Belege im 'Thesaurus linguae latinae' I, 307 f. 15
Nachträglich stelle ich fest, daß die Wendung "für übel nehmen" gar nicht spezifisch nhd. ist. Ich finde sie bereits bei Tauler (VETTER 122, 6): und mmmet got sere und grösliche
für übel.
das der
getruwe
(LEXER hat keine Belege, das D W B nur neuhochdeut-
sche.) Das Beispiel ist also nicht gut gewählt.
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Thomas von Aquin in mittelhochdeutscher Sprache
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intelligere)lt. Es ist also in unserm Beispiel keineswegs nötig, Scholastiker-Latein zur Erklärung herbeizurufen. — Interessanter ist in diesem Falle die Konstruktion, die M O R G A N - S T R O T H M A N N leider nicht berücksichtigen. Die Passiv-Fügung ist spezifisch mittelalterlich. Was aber die mhd. Wendung betrifft, so gilt es zunächst zu präzisieren, daß (nach der Handschrift wie nach dem MoRGAN-STROTHMANNschen Text) alse zu streichen ist; die Stelle lautete richtigerweise: unde wirt die gnade genomen der wille gotiz selber. (M. a. W.: alse in der Zitation der "Preface" ist unwillkürliche Konjektur nach neuhochdeutscher Konstruktion!) Diese Fügung, nemen mit prädikativem Attribut in der Form eines bloßen Substantivs, ist nun recht ungewöhnlich und verdient unsere Aufmerksamkeit. Wir erwarten nämlich und wirt bi der gnade genommen der wille gotiz selber als der üblichen mhd. Wendung für nhd. 'man versteht darunter' (vgl. Tauler, V E T T E R 1 5 , 2 2 ; 2 5 , 8 ) . Die Frage ist demnach zunächst | eine textkritische: 1. Liegt ein Uberlieferungsfehler vor? Ist also die gnade zu ersetzen durch bi der gnade, oder wäre allenfalls M O R G A N - S T R O T H M A N N S "spontane" Konjektur alse der wille in Erwägung zu ziehen (die freilich im Mhd. kaum zu belegen ist)? 2. Oder hat unser Autor so ungewöhnlich übertragen, die "richtige" deutsche Konstruktion verpaßt? In diesem Falle müßten wir die Fügung stehen lassen. - Wir dürfen dieser letzteren Meinung sein: der Ubersetzer ist nämlich durch die lateinische Konstruktion zu seiner Wendung veranlaßt; er übersetzt wörtlich, und da dies bei ihm im Konstruktiven fast die Regel ist, so liegt kein Grund vor, die Stelle als nicht authentisch zu betrachten. - Es ist endlich noch anzumerken, daß vorliegende Fügung auch in unserer Ubersetzung einmalig ist; von einer Nachwirkung kann also nicht die Rede sein. Mit dem zweiten Beispiel steht es bedeutend besser: accipere im Sinne von '(hypothetisch) annehmen, setzen' scheint erst das mittelalterliche Latein zu kennen ('etwas Vorhandenes annehmen', wie M O R G A N STROHTMANN interpretieren, ist mißverständlich und unscharf). Wenn unser Übersetzer dieses accipere mit nemen wiedergibt, so hat er damit dem deutschen Verbum eine neue, spezifische Bedeutung zugelegt, die aus früherer Zeit nicht zu belegen ist. So weit ist die Sache in Ordnung. Die weitere Frage ist jedoch, ob dieses nemen mit dieser Bedeutung, zurückgehend auf mittellateinisches accipere, im Neuhochdeutschen weiterlebt. Die Herausgeber sagen: "Bis heute gebraucht das moderne Deutsch annehmen im gleichen Sinne." Gewiß - annehmen, nicht nehmen! Es ist meiner Ansicht nach in diesem Falle nicht ohne weiteres gestattet, Simplex und Kompositum zu vertauschen, es kann nicht grundlos eines an die Stelle des andern treten: jedenfalls müßte man diesen Übergang erklären (etwa durch die Fügung nemen... an). So ist " GRATF, Althochdeutscher Sprachschatz I, 1058.
Thomas von Aquin in mittelhochdeutscher Sprache
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auch dieses Beispiel durch den Wechsel mhd. nemen - nhd. annehmen nicht von wünschenswerter Sauberkeit. Es sind so ausgerechnet diese Standard-Beispiele nicht dazu angetan, moderne Bedeutungen von nehmen durch das scholastische accipere und seine Übernahme durch spätmittelalterliche Ubersetzer zu demonstrieren. Damit will ich nun | nicht grundsätzlich in Abrede stellen, daß die Bedeutungsstruktur von nehmen und Composita etwas mit accipere im mittellateinischen Gebrauche zu tun hat". - Es ist indessen angemessen, weitere Auseinandersetzungen auf diesem Felde zu vertagen, bis die fertigen und solid unterbauten Resultate der Monographie vorliegen. Wir wenden uns nun der Textausgabe selber zu. Sie war insofern sehr einfach, als unsere Ubersetzung nur aus einer einzigen und doch recht zuverlässigen" Handschrift bekannt ist. Die Herausgeber waren also von vornherein der Lesarten und ihrer Beurteilung enthoben, konnten das Manuskript als solches zum Abdruck bringen; wo aber der Text versagte, bot das lateinische Original Handhabe zur Korrektur. Diesen handschriftlichen Verderbnissen gegenüber verhielten sich die Herausgeber zurückhaltend: Sie nahmen in der Regel nur auf der Hand liegende Verbesserungen vor, etwa Ergänzungen ausgefallener Buchstaben und Wörter, Streichungen von Wiederholungen, Richtigstellung von augenscheinlichen Verschreibungen. Am sichern Leitfaden des lateinischen Textes hätte man freilich etwas mehr an Konjekturen wagen dürfen: so 192,25 menschen für dinges der Hs.; 300, 17 von niht wesen in wesen für von wesen in niht wesen; 298, 4 nützet für nützer; zu verbessern ist auch 314, 14 irrunge der Sabelliri (Sabellii: des Sabellius), zumal weiter oben der Name des Häretikers richtig überliefert ist; auch die kleinen Ausfälle 232, 4 und 248, 1 hätten ohne Schwierigkeiten ergänzt werden können. | Eine Konfrontierung mit der Handschrift, die ich anläßlich einer Bibliotheksreise in Stuttgart vornehmen konnte, läßt den edierten Text in recht günstigem Lichte erscheinen. Man stellt eine tadellose Sorgfalt der Abschrift fest; auch dort, wo Interpretation einsetzt - in der " Bemerkenswert scheint mir ein Fall wie der folgende: Thomas, Su. Th. I, q. 29, a. 3 ad 3: nomen ...
pro
'substantiae'...
communiter
accipitur apud nos pro essentia.
Dieses
accipitur
übersetzen wir wörtlich und richtig: "Der Name Substanz wird bei uns
gewöhnlich für Wesenheit genommen." Leider hat uns der Thomas-Übersetzer diesen Passus nicht beschert. Er hätte aber zweifelsohne übertragen: der name genomen
... für wesen.
wesenne,
so nemen
Auch die Eckhartsche Fügung: Als wir got nemen
wir in in siner vorburg
... in
Wirt dem
(PFEIFFER 269, 35 f.) ist neuhochdeutscher
Ausdrucksweise gemäß. 18
Die Herausgeber sind sie zu unterschätzen geneigt (S. 7 f.); wenn man Zahl und Art ihrer augenscheinlichen Verderbnisse mit denen anderer Hss. mit scholastischer Prosa in deutscher Sprache vergleicht (etwa mit den zahlreichen Hss., die Hugos von Straßburg 'Compendium theologicae veritatis' in deutscher Sprache überliefern), so verdient sie eine recht gute Zensur.
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Auflösung der Abkürzungen und in der Zeichensetzung wird man fast immer mit den Herausgebern einiggehen. Dem mhd. Text auf den linken Blattseiten ist der entsprechende lateinische zur Rechten beigegeben. Das war eine praktische Notwendigkeit, denn wem steht schon ein lateinischer Thomas zur Verfügung? Ohne ständigen Vergleich mit dem Original wird der Leser aber den Text nicht mit richtigem Gewinn studieren können, ja in manchen Fällen wird er ihn ganz einfach nicht verstehen". Der beigegebene lateinische Text - das sei sozusagen am Rande vermerkt - ist (im Gegensatz zum deutschen) nicht immer ganz einwandfrei; doch handelt es sich zumeist um harmlose Korrekturfahnenfehler 20 . Argerlich ist das folgende: Die Handschrift hat Foliierung, trotzdem verweisen die Herausgeber in ihrer Ausgabe immer auf (nicht oder doch nur imaginär existierende) Seitenzahlen. Das ist an und für sich belanglos und nur für denjenigen lästig, der den Text mit dem Manuskript vergleicht. Wenn es nur dies wäre, brauchte man des Umstandes kaum Erwähnung zu tun. Ein tückischer Zufall wollte es jedoch (wofür ohne jeden Zweifel wiederum der Korrekturleser verantwortlich zu machen ist''), daß " 1" zur z w e i t e n Seite (der Hs.) gesetzt wurde und so fort durch die ganze Ausgabe hindurch. Man hat demnach bei diesen Verweisen immer eine Stelle zu addieren - was man bei der Benutzung des Glossars und des Inhaltsverzeichnises ja nicht vergessen darf, denn sonst sucht man vergebens. Eine nun doch ziemlich fatale Angelegenheit, die dem Leser Bestürzung und Unmut bereitet, bis er sich entschlossen hat - nach erfolgter Einsicht in die Sachlage (die ihre beträchdiche Weile haben mag!)
sämtliche 422 | Verweise handschriftlich zu
korrigieren. (Gewisse Verweise in den Noten bleiben damit immer noch falsch, insofern sie nämlich erst n a c h der Drucklegung des Textes gemacht worden sind [ z . B . 221, A n m . 10].) - Merkwürdig ist auch, daß die Abgrenzung der Seiten der Handschrift - in der Ausgabe, nicht durchaus geschmackvoll und dem Auge angenehm, mit einem 1 mm dicken schwarzen Strich vollzogen - in den meisten Fällen ganz einfach unrichtig ist. O f t werden ein W o r t , mehrere Wörter, ja ganze Zeilen zur falschen Seite geschlagen. In einigen Fällen, so in der Abtrennung von S. 2/3, liegt Homöoteleuton vor, meistens jedoch - und das ist das Beunruhigende daran -
bleibt es völlig undurchsichtig, wie diese allcreinfachste
Geschichte der Welt nicht zum Stimmen gebracht werden konnte. Innerhalb der ersten 30 Seiten (auf weitere Prüfung habe ich gerne verzichtet) gilt das für 24 Fälle! Mit andern W o r t e n : der aufdringliche Strich, der die Seiten der H s . markieren soll, ist in 4 von 5 Fällen falsch gezogen! Das sind die kleinen Ärgernisse einer im großen gesehen hoch verdienstvollen und tadellosen Edition. Ihnen, nämlich den Ärgernissen, darf man vielleicht noch einige grobe grammatikalische Verstöße im Glossar beigesellen von der Sorte corpus
species
mysticus
und
mtelhgibile.
" Vgl. A. HÜBNER, AfdA 54 (1935), S. 176F.: " E s muß schon ein wahrer Hexenmeister sein, wer . . . den richtigen Sinn herausbringt." K
199, 53 necese, es Quodlibet
207, 33 p für q (aestio); VII (nicht VIII)
43, 65 K o m m a statt Punkt vor sicut; 323, 46 muß
heißen; 263, 51 keine Lücke ( . . . ) nach vera,
besteht eine solche 287, 60 nach praedestinatio 21
hingegen
usw.
Ihm möchte ich auch die lästigen Druckfehler des Inhaltsverzeichnisses zuschreiben; vgl. die beiden ph^ntpsievollen Angaben zu opusc. X X I I !
10
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Das Stichwort Glossar veranlaßt aber auch, uns seiner in rühmlichem Sinne zu erinnern. Es umfaßt auf 100 Spalten ein sehr ausführliches, im lateinisch-deutschen Teil sogar ziemlich vollständiges Verzeichnis des Vokabulars. Besonders wertvoll ist dabei die durchgängige und mit großer Sorgfalt unternommene Bedeutungsdifferenzierung. Man wird dieses Spezialwörterbuch scholastischer Begriffe auch mit Erfolg beim Studium anderer Werke der deutschen Scholastik und Mystik gebrauchen, ja es wird unentbehrlich sein, bis dieses ganze, zu einem erstaunlich großen Teil neue Wortmaterial in die Lexika aufgenommen ist. Und das wird gute Weile haben. Zu welchem Zwecke hat unser unbekannter Autor seine ThomasUbersetzung an die Hand genommen, G R A B M A N N berührt diese Frage22 und gibt die naheliegende Antwort: "für praktisch religiöse Zwecke, etwa zur theologischen Unterweisung von Frauenklöstern", muß aber sofort hinzufügen: "dagegen spricht freilich die Art und Weise der getroffenen Auswahl"23. Ein entscheidender Einwand! Es lohnt sich, die Auswahl ein wenig genauer zu betrachten. Hat unser Autor überhaupt nach Plan und System gearbeitet? G R A B M A N N glaubt im bejahenden Sinne antworten zu können: "Es sind diese Artikel unter Weglassung der Einwände und deren Lösungen so aus-1 gewählt, daß sie eine zusammenhängende Wiedergabe und Darlegung des Geankenganges dieses Hauptwerkes des Aquinaten bieten" (S. 432). Sieht man etwas näher hin, so stößt man nun freilich auf einige Merkwürdigkeiten, die alles andere als Zusammenhang und System in der Anordnung verraten: S. 261-264 (der Hs.)" wird die Gnadenlehre der 'Prima Secunda' plötzlich unterbrochen durch Artikel 7 und 8 des Opusculums X X I I ('Declaratio quadraginta duo quaestionum ad magistrum ordinis'). Es geht da um Fragen der Sterngeister, ihres Einflusses auf die sublunarische Körperwelt usw., also um Dinge, die kaum etwas mit der sacra doctrina, geschweige denn mit der Gnadenlehre im besonderen zu tun haben25. S. 397-401 entdeckt man dann Artikel 1-6 dieses Opusculums, worauf weitere Abschnitte aus der Gnadenlehre folgen. Diese wird uns also in drei verschiedenen Abschnitten vorgetragen, und zwar (abgesehen von einer kleinen Verschiebung der Quaestionen 111 und 112) in der Folge des lateinischen Originals. Hier wirkte sicher keine Planmäßigkeit, sondern es liegen zersetzende Eingriffe der Uberlieferung vor (vielleicht eine Lagenverschiebung beim Binden der Vorlage). Man darf an dieser Stelle füglich die Frage aufwerfen, ob eine kritische Ausgabe "
MORGAN/STROTHMANN lassen sich darauf nicht ein.
23
[Anm. 4], S . 437.
" Ich führe selbstverständlich die berichtigten Seitenzahlen an; im Text steht 2 6 0 - 2 6 3 . " Thomas selber sagt: Et ut breviter fadunt
ad doctrinam
fidei,
dicam,
sed sunt penitus
omnes physia
praedicti
articuli
vel parum
(opusc. X X I I , a. 7).
vel
nihil
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nicht hätte versuchen müssen, die ursprüngliche Anordnung wieder herzustellen. Die erwähnte Zerstückelung der Gnadenlehre und des Opusculums X X I I ist aber nicht die einzige Unstimmigkeit. Während die Quodlibeta IV, a. 6, 7 (S. 387 ff.) einigermaßen sinnvoll an die vorausgehende Trinitätslehre anschließen, gehören die folgenden Quodlibeta VIII, a. 16, 17 in völlig andere Zusammenhänge. (Ob die Verdammten nach dem Tage des Gerichts die Glorie der Heiligen zu sehen vermögen? Ob die Verworfenen die Verdammung ihrer Angehörigen wünschen?) Das anschließende Quodlibet VII a. 1 befaßt sich dann mit einer Frage der menschlichen Gotteserkenntnis (Ob irgendein kreatürlicher Verstand das göttliche Sein unmittelbar zu | schauen vermöge?). Auch hier herrscht, wie niemand wird bestreiten wollen, in der Anordnung Willkür und Zufall. Ebensowenig kann eine sinnvolle Erklärung geltend gemacht werden, warum S. 307 mitten in q. 16 der 'Prima' fünf Artikel der 93. Quaestio eingeschaltet werden, worauf der abgebrochene Faden mit q. 16 a. 5 wieder angeknüpft wird. Ahnlich verhält es sich mit der Folge I, q. 8,1 - q. 12,2—4,6,7 - q. 8,2 u. 3 - q. 12, 11. Es ist ferner die Frage, warum der Autor das Pferd am Schwänze aufzäumt, d. h. mit der 'Tertia' begann, hierauf zur 'Prima Secunda' überging, um sich zuletzt der 'Prima' zuzuwenden. Ich fasse zusammen: So wie uns der Text der Stuttgarter Hs. vorliegt, kann unmöglich von einer nach bestimmten Grundsätzen ausgewählten, planvoll zusammengestellten Übersetzung die Rede sein. Eine Analyse der engeren Maschen des Gewebes, die Auslassungen von Artikeln im Zusammenhang einer Quaestio, die Kürzungen innerhalb des respondeo dicendum, kann diese Feststellung nur bestätigen. Dabei dürfte einiges, besonders die oben angeführten Verschiebungen in der Anordnung, auf das Schuldkonto der Uberlieferung gebucht werden. Dies genauer festzustellen, wäre, wie schon angedeutet, Aufgabe der Textkritik gewesen. Was nun die Auswahl selbst betrifft - bis jetzt war von ihrer Anordnung die Rede - , so läßt sich mit begründeter Wahrscheinlichkeit dieses eine sagen, daß den Ubersetzer augenfällig ganz bestimmte Fragenkreise besonders interessiert haben: Es sind dies aus der 'Tertia' die Lehre von der Inkarnation und der hypostatischen Union, aus der 'Prima Secunda' die Gnadenlehre, aus der 'Prima' die Gotteslehre (unsere Gotteserkenntnis, der Wille Gottes, die Liebe Gottes, Praedestination und Mysterium der Trinität), kurz lauter Partien von höchst spekulativem Charakter. Anderseits fehlen die für die religiöse Praxis bedeutsamen Teile, d. h. die ganze 'Secunda Secundae', welche die Tugendlehre enthält, sowie die Sakramentenlehre der 'Tertia', völlig. Es mag sein, daß gewisse Partien verlorengegangen sind: der spekulativ gerichtete Grundzug der Auswahl bleibt eine feste Tatsache. Damit sind wir aber zur Frage nach der Zweckbestimmung der
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Übersetzung zurückgekehrt. Wir halten mit G R A B - | MANN, nur noch mit größerer Entschiedenheit, fest, daß die Art und Weise der getroffenen Auswahl gegen eine praktische Zielsetzung spricht. Und je mehr man durch intensive Lektüre das Ganze auf sich einwirken läßt, um so bestimmter und überwältigender formt sich der Eindruck: Kein Praktiker, kein Seelsorger, kein Verfechter der Laienbildung, sondern ein Spekulierer hat dieses Werk geschaffen. Es ist die eigenwillige Leistung eines Mannes, der, wie mir scheinen will, "hoch über Raum und Zeit", in geistiger Einsamkeit sich dieser Arbeit hingegeben hat: ad majorem Dei gloriam, nicht um Nonnen oder Laien thomistische Theologie zu vermitteln. Das gab es auch, ja die theologische Ubersetzungsliteratur unterwarf sich grundsätzlich dieser Zielsetzung. Unserm Autor sind jedoch solche verdienstlichen Bemühungen fremd. Er popularisiert keineswegs - auch eine Übersetzung im engern Sinne des Wortes vermag dies zu tun - , er möchte vielmehr die hohe thomistische Spekulation in ihrer ganzen Steilheit bewahren, ja noch höher ansetzen, sie abheben vom Faßbar-Verständlichen. Das ist - ich wiederhole es - ein Eindruck. In sorgfältiger Stilanalyse ließe es sich wohl begründen. Ich will hier nur noch flüchtig an die umständlich-gewichtigen Wortbildungen unseres Unbekannten erinnern (in abstracto: in der abgezogenheit; per respectum ad: übermitz daz gesihte; ad infinitum: bis in die unentlichkeit; opponi: gegenwirflich sin; conforman: gelich geformet werden; hyperdulia: übererbietunge; materia signata: unte dich i der materie usw.), an seine schweren, z . T . dem allgemeinen Sprachgebrauch entfremdeten Konjunktionen (übermitz, das in geradezu exzessiver Weise angewandt wird), an die sklavische Treue in der Begriffsübertragung, wodurch neue Lehnübersetzungen in Fülle geschaffen wurden, die sich z . T . höchst fremdartig und vom Gewöhnlichen distanzierend ausnehmen (Individuum: das unteilicb; potentia limitata: geziltü maht; visio intellectiva: das vernünftige gesibt; immediate: unmittilicb(en) [6 mal gegenüber einmaligem "üblichen" âne (sunder) mittel]), an die eigenwillige Diktion. Das alles schafft den Eindruck des aorgisch-Ursprünglichen. Bei aller Genauigkeit der Übersetzung sind wir so sehr weit entfernt von der Schlankheit und kühlen Faßbarkeit des thomistischen Lateins. | Somit dürfen wir wohl auch sagen: Vor uns liegt das Werk eines ausgesprochen "deutschen" Geistes, der spekulierend verdunkelt und letztlich in sich selber hineinredet. Ein Geistesverwandter der Mystiker, der die Mystik nicht kennt oder nicht kennen will2'. - Wie viele Namen spätmittelalterlicher Autoren, von denen uns dies und das urkundlich überliefert ist und die mit Sicherheit bestimmte Schriften verfaßt haben,
Vgl. oben S. 4.
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bleiben leerer Schall. Von unserm Übersetzer wissen wir an biographischen Daten nicht das geringste, aber er tritt uns aus seinem Werke als ausgeprägte, lebendige Persönlichkeit entgegen. Er gehört bestimmt zu den Großen des Zeitalters.
D i e trinitarische Spekulation in deutscher M y s t i k und Scholastik (Wolfgang Stammler zum 65. Geburtstag zugeeignet) [Zeitschrift für Deutsche Philologie 72 (1953), S. 24-53]
I. D i e kleine Studie, die ich unserm verehrten Jubilar widme, geht auf einen Vortrag zurück, den ich an der Jahresversammlung 1951 des Schweizerischen Gymnasiallehrervereins im Fachverband der Deutschlehrer gehalten habe. Sie ist gegenüber dem Referat sowohl gekürzt als auch ergänzt: gekürzt in den allgemeinen, einführenden Erörterungen, erweitert in der D u r c h f ü h r u n g der Hauptabschnitte, in Belegen und Hinweisen. E s handelt sich dabei nicht um eine beschreibende und beurteilende Darstellung der trinitarischen Spekulation als solcher, also um eine Entfaltung dessen, was man als " L e h r e " bezeichnen müßte. Eine solche A u f g a b e erübrigt sich oder entbehrt z u m mindesten höheren Reizes, da seit HEINRICH DENIFLE bekannt ist, daß uns die deutsche Mystik keine durchaus originelle Lehre von der Dreieinigkeit zu bieten vermag': sie ist in den G r u n d z ü g e n diejenige der lateinischen Scholastik, die ihrerseits auf Boethius und A u g u s t i n , sowie - in einer zweiten Entwicklungslinie auf den Pseudoareopagiten zurückgeht. Dasselbe gilt in noch ausgeprägterem Maße von der deutschen Scholastik, die, wenigstens soweit ich sie in diesem Rahmen erfasse, Ubersetzungsliteratur ist und als solche ohnehin keinen A n s p r u c h auf gedankliche Ursprünglichkeit erheben kann. U n s e r P r o b l e m ist vielmehr ein sprachliches, es ist die Frage nach dem U m f o r m u n g s p r o z e ß von der lateinischen in die deutsche Sprache und im engern Sinne eine F r a g e der Terminologie. Diese Frage nach dem Begriffsmaterial stellt sich auf dem Felde der Trinitätsspekulation in besonders interessanter Weise, und dies nicht einmal erst beim Versuch, die Geheimnisse der göttlichen Einheit in der Dreiheit der Personen mit anderem sprachlichen Material zu fassen, also im Ubertragungsvorgang, s o n d e r n bereits innerhalb der Entwicklung der christlich-lateinischen Theologie. D i e Ausgestaltung dieser "radix et matrix aller Glaubensleh' Archiv f. Lit.- u. Kirchengesch. d. M A s 2 (1886), S. 684 f.
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ren" 2 ist nämlich ein durchaus sprachlicher Vorgang, ist ein Ringen um das unmißverständliche Wort, ist im besten und fruchtbarsten Sinne ein "Kampf um Worte". Man lese z.B. die 39.Quaestio der Thomasischen 'Summa theologica' I, wo die zentrale Frage nach der Beziehung der Personen zur Wesenheit entwickelt wird, um sich deren Tatbestand recht eindrücklich ins Bewußtsein zu rücken. Dort ist auch ein höchst bedeutsamer Satz des Hieronymus zitiert: ex verbis inordinate prolatis incurritur haeresis (a. 7, obj. 1; | ebenso I, q. 31, a. 2, c.). Die Gefahr "ungeordneten Redens" droht nun allerdings in besonders ausgeprägter Weise beim Umformungsprozeß von einer Sprache in die andere. Es ist dies der Fall in der deutschen Mystik des Mittelalters, und man kann nicht behaupten, daß sie (im kirchlichen Sinne) immer ordinate gesprochen hat. Ich brauche nur an den Eckhart-Prozeß zu erinnern. Es ist nun freilich sofort hinzuzufügen, daß die Eckhartsche Trinitätslehre als solche nicht unter dieses Verdikt fällt. Die innertrinitarischen Vorgänge sind jedoch die Voraussetzung für die Sohnesgeburt in der (ungeschaffenen) menschlichen Seele und für die Schöpfungslehre und die damit verbundene Auffassung vom esse rerum, also jene Lehren, die im Sinne der kirchlichen Ankläger und deren moderner Anwälte (lies besonders D E N I F L E , welcher der Meinung ist, die Inquisitoren seien noch gnädig mit Eckhardt verfahren 3 ) eben nicht ordinate gesprochen waren. Die scholastische Lehre von der göttlichen Trinität ist also Grundlage und Voraussetzung aller entsprechenden deutschsprachigen Darstellungen, somit auch Grundlage und Voraussetzung unserer terminologischen Beobachtungen. Daher ist es nötig, besonders im Hinblick auf die termini technici, eine knappe Skizze der Trinitätsspekulation zu entwerfen, und zwar in dem Sinne, was man etwa als communis opinio der lateinisch-abendländischen Lehre bezeichnen darf. 1. Die dogmatische Trinitätsformel in knappster Form lautet: Einheit in der Dreiheit; Einheit der Natur, der Substanz, der Wesenheit in der Dreiheit der Personen: unitas substantiae et naturae in pluralitate personarum (Bonaventura, Breviloquium I, 2, 1). Die Trinitätsspekulation hat nun diese Einheit in der Dreiheit, resp. die Dreiheit in der Einheit zu ergründen 4 . Es ist westlich-lateinischer Theologie seit Anbeginn eigentümlich, die Einheit zu betonen, um von ihr aus die Vielheit der Personen zu begreifen (was sich geschichtlich aus der Kampfstellung des frühen Christentums gegen den Arianismus erklärt). Vater der abendlän2
A. STOHR, Die Trinitätslehre des heiligen Bonaventura (Münsterische Beiträge zur Theologie, H e f t 3), Münster 1923, S. 1.
3
Archiv [Anm. 1], S.684. Richard v. St. Viktor: Quomodo possit convenire unitas substantiae cum personarum pluralitate? (De trin. III, 1). Seuse: Wie [mag] der gotlicben personen drivaltekeit stan in eines wesenes einigkeit? (BIHLMEYER, S. 180, 7f.).
4
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dischen Trinitätsspekulation ist Augustin, dessen System auf der Analogie zwischen der menschlichen Seele und der Dreifaltigkeit beruht: die Seele ist imago trinitatis (psychologische Trinitätslehre). Thomas von Aquin hat ihr vermittels aristotelischer Begrifflichkeit die endgültige Form und terminologische Bestimmtheit gegeben. 2. Entsprechend den beiden Grundtätigkeiten der Seele, Erkennen und Wollen (Liebe), wird der Hervorgang des Sohnes aus dem Vater als Akt des Erkennens, der Ausgang des Hl. Geistes aus Vater und Sohn als Akt gegenseitiger Liebe gefaßt. So sind zwei "Prozessionen" ("Emanationen") zu unterscheiden: processio verbi und processio amoris. Erstere ist generatio (Zeugung), letztere spiratio (activa) (Hauchung). Daß die spiratio gleichermaßen vom Vater und vom Sohne ausgeht (Filioque), unterscheidet westlich-lateinische Auffassung wesentlich von der griechischen, die den Geist vom Vater durch den Sohn ausströmen läßt (a Patre per Filium). | 3. Wie unterscheiden sich die Personen voneinander? Nicht ihrem "Wesen", ihrer "Natur" nach - das würde ja die unitas naturae aufheben (arianische Ketzerei!) - , sondern durch die Relationen. Diese Beziehungen sind nicht nur "rational", d.h. gedacht, sondern real; die (thomistische) Begründung werden wir später in der Form eines deutschen Textes vernehmen. Solcher Relationen sind vier: paternitas, filiatio, spiratio, processio. Die paternitas spricht die Hinordnung des Vaters zum Sohne, die filiatio umgekehrt die Hinordnung des Sohnes zum Vater aus. In der spiratio ist die gemeinsame Beziehung des Vaters und des Sohnes zum Hl. Geist deshalb auch communis spiratio - , in processio (spiratio passiva) diejenige des Geistes zum Vater und Sohne gegeben. 4. Mit den Relationen hangen die proprietates und notiones zusammen, d. h. sie sind sachlich zum Teil mit den Relationen identisch. Die Proprietäten sind Eigentümlichkeiten der einzelnen Personen. Drei entsprechen den Relationen: paternitas, filiatio, processio sprechen nicht nur Hinordnungen, sondern persönliche Eigentümlichkeiten aus; spiratio {activa) fällt als Proprietät weg, da sie zwei Personen eigentümlich ist; hinzu tritt für den Vater die innascibilitas: der Vater ist ingenitus, non ab alio. Daß die innascibilitas anderseits keine Relation ist, erhellt von selber: eine Beziehung ist damit nicht ausgedrückt. Die Notionen endlich sind begriffliche Kennzeichen; sie bezeichnen abstrakt, was die Person konkret ist (siehe Thomas, S. th. I, 32, 2, c.). Daher sind unter diesem Gesichtspunkt Relationen und Proprietäten mitausgesagt. Es sind mithin deren fünf: paternitas, innascibilitas, filiatio, spiratio und processio. Es ist differenzierend beizufügen, daß in der Relationenlehre große und bezeichnende Unterschiede bei einzelnen Systemen vorliegen. Was ich oben darstellte, ist thomistisch; die Personen werden ausschließlich
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von den als real gedachten Relationen bestimmt. Richard von St. Viktor, wohl der originellste Denker des 12. Jahrhunderts, von dem (im Anschluß an den Pseudoareopagiten, z. T. auch an Anseimus' Gottesbegriff) eine zweite Linie trinitarischer Spekulation ausgeht oder abzweigt5, kennt den Begriff der relatio, der bereits bei Augustin angelegt ist, überhaupt nicht; er läßt vielmehr die Personenmehrheit und -dreiheit aus der plenitudo, der fruchtbaren Fülle der Gottheit, hervorgehen. Die großen Franziskaner-Theologen des 13. Jahrhunderts, Alexander und Bonaventura, schließen sich ihm darin an, verbinden jedoch den Gedanken der ausströmenden plenitudo mit dem Relationenbegriff. Ich darf dies hier nur andeuten, werden doch später deutsche Texte Gelegenheit bieten, etwas mehr Licht in diese Verhältnisse hineinzutragen. 5. Aus den Relationen ergeben sich auch die nomina propria der göttlichen Personen, deren Eigennamen. Es sind dies die besonderen Attribute der einzelnen Personen, und einer jeden kommen ihrer drei zu: der ersten Person: pater, principium (non de principio), ingenitum; der zweiten: filius, \ verbum, imago; der dritten: spiritus sanctus, amor (nexus), donum. Von diesen nomina propria unterscheiden sich die Appropriationen: sie bezeichnen Wesenseigenschaften, die an sich allen drei Personen gemeinsam sind, also der Gottheit schlechthin zukommen, die jedoch einer bestimmten Person im besonderen, ihrer Eigenart entsprechend, zugeschrieben werden dürfen (Thomas, S. th. I. 39, 7, c.). So ist beispielsweise sapientia eine Appropriation des Sohnes, insofern dieser aus dem Erkennen hervorgegangen, verbum ist; so sind aeternitas, potentia Appropriationen des Vaters, benevolentia des Hl. Geistes im Zusammenhang mit dem proprium der Gabe. Im ganzen sind es drei mal vier; wir werden sie jedoch, und mit ihnen die göttlichen Namen, in unserer Untersuchung nicht berücksichtigen, weil sie in terminologischer Hinsicht nicht eben interessant sind. Es ergeben sich so für unsere begriffskundlichen Beobachtungen drei Sachgruppen: 1. die Bezeichnungen für die Einheit Gottes, 2. für die göttlichen Hervorgänge, 3. für die Relationen, Proprietäten und Notionen. In der Darlegung dieses sprachlichen Materials erstrebe ich keine Vollständigkeit. Was ich im folgenden entwickle, bleibt seinem Wesen nach Skizze, deren Ausführung späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben muß. Immerhin werden die Begriffe und ihre Belege in einer Breite herangezogen, die notwendig ist, um Fehlurteile zu vermeiden. Ungedruckte T e x t e verwende ich (wenn ich von gelegentlichen Hinweisen auf handschriftliches Material absehe) nur in einem Fall: das ' C o m p e n d i u m theologicae veritatis' des H u g o Ripelin von Straßburg - es ist das beliebteste und verbreitetste Lehrbuch der
5
Vgl. STOHR [ A n m . 2 ] , S . 3 3 .
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Theologie im späteren Mittelalter* - in einer deutschen Übersetzung des 14. Jahrhunderts. Es sind mir davon nicht weniger als 17 Handschriften bekannt geworden 7 . Ich benutzte die Zürcher Hs. C. 33 a, nach der ich zitiere, und zur Korrektur zahlreicher schlecht überlieferter Stellen Cod. St. Georgen 77 der Karlsruher Landesbibliothek. Als zweiter Kronzeuge der deutschen Scholastik erscheint die Übersetzung der 'Summa theologica' des Thomas von Aquin aus der Stuttgarter Hs. H B III 32, die unlängst die amerikanischen Germanisten MORGAN und STROTHMANN durch eine Edition erschlossen haben". Ich habe in einem längeren Rezensionsaufsatz | Werk und Edition zu würdigen versucht und dabei die Gelegenheit benutzt, durch Hinweise auf weitere handschriftliche Quellen ein Bild von der Rezeption der thomisiischen Scholastik durch die deutsche Sprache zu skizzieren'. Es sei an dieser Stelle auch hervorgehoben, daß eines der großen Verdienste unseres verehrten Jubilars darin besteht, unermüdlich auf dieses bisher völlig im Argen liegende Feld unserer Wissenschaft hingewiesen zu haben 13 , und es ist nur zu hoffen, daß er uns bald die reife Frucht seiner diesbezüglichen Forschungen darzureichen vermöge. - Wenn ich im folgenden einfach von deutschen "Scholastikern" und deutscher "Scholastik" rede, so sind darunter die beiden erwähnten, wohl repräsentativsten Übersetzer, bzw. ihre Werke zu verstehen. Zur Scholastik ist auch der I.Traktat in PFEIFFERS Predigten und Traktate deutscher Mystiker zu zählen (ZfdA 8 [1851], S 422 ff.). Doch verwende ich ihn nur in wenigen Belegen. Die Texte der deutschen Mystik brauche ich nicht im einzelnen zu würdigen. Besonders ergiebig für die Trinitätsspekulationen sind: David von Augsburg, 'Von der Offenbarung und Erlösung des Menschengeschlechtes' (ZfdA 9 [1852], S 47 ff.), Seuse, 'Vita', Kap. 51, Frankos von Köln Predigt über Johannes 14, 6 (ZfdA 8 [1851], S. 243 ff.), Meister E c k h a r t , PFEIFFER N r . 5 4 " u n d JOSTES N r . 82 (I. Teil) 1 2 .
' Über Hugos 'Compendium' siehe L. PFLEGER, ZfkathTheol. 28 (1904), S. 429-440, M. GRABMANN, Mittelalterliches Geistesleben I (München 1926), S. 174 ff.; LANDGRAF, ZfkathTheol. 53 (1929), S. 106f.; L. REYPENS, Ons Geesteliik Erf. 1 (1927), S.294-97. [S. jetzt G. STEER, Hugo Ripelin von Straßburg. Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des 'Compendium Theologicae Veritatis' im deutschen Spätmittelalter (TuT. Würzburger Forschungen 2), Tübingen 1981. STEER kennt 56 mhd. Hss.] 7 Ich führe die nicht in STAMMLERS Verfasserlexikon angeführten Hss. auf: Brüssel, Königl. Bibl. 2873/74; Donaueschingen 239; St. Gallen, Vadiana 350; Stuttgart, Cod. theol. et phil. 2° 248; Wien, Nat. Bibl. 3084; ebd. 2824; Zürich, Car. C 90; ebd. C 33 a. !
Middle High German Translation of the Summa Theologica by Thomas Aquinas, Edited by B. Q. MORGAN and FR. W . STROTHMANN, Stanford University Publications, Language and Literature VIII, 1, Stanford 1950.
' Thomas von Aquin in mittelhochdeutscher Sprache, Theol. Zs. d. Theol. Fakultät d. Univ. Basel (1951), S. 341-365, jetzt in: K.R., Kleine Schriften, Bd. II, Berlin/New York 1984, S. 1-13. 10 Zuletzt im Aufsatz 'Von mittelalterlicher deutscher Prosa', The Journal of English and Germanic Philology 48 (1949), S. 31 ff. " W i r zitieren, ohne Berücksichtigung der Echtheitsfrage, den ganzen 2. Band von PFEIFFERS 'Deutsche Mystiker' unter dem Stichwort "Eckhart", da es im Rahmen dieser Arbeit nicht darauf ankommen kann, was dem Meister, was allenfalls seinen Schülern zuzuschreiben ist. 1J
Diese sehr umfangreiche Predigt, bisher nur aus einer Nürnberger Hs. bekannt ( =
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II. Wie baut die deutsche Sprache die innertrinitarische "Welt" auf? Ein Blick auf die deutsche Geistesgeschichte verrät uns, daß seit den Anfängen einer theologischen Begriffssprache in karolingischer und ottonischer Zeit ein halbes Jahrtausend verging, bis deutscher Geist fähig war, die Geheimnisse der göttlichen Dreifaltigkeit sprachlich zu bewältigen. Die althochdeutsche Zeit hatte eine deutsche Kirchensprache ausgebildet und Bezeichnungen für Gott, Heiland, Geist, Kirche, Bischof, Priester, taufen, beichten, heilig, demütig usw. Notker überträgt bereits sehr viele Abstrakta: deitas, divinatio, generatio, sacramentum, magnificentia, unitas, um einige wenige von vielen anzuführen, und bewältigt schwierigere philosophische und logische Schriften. Unser höchstes Interesse aber muß die Tat-1 sache erregen, daß Notker auch Boethius 'De trinitate'' 2 ' übertragen hat. Wie? Ich habe doch eben davon gesprochen, daß ein halbes Jahrtausend verging, bis die trinitarischen Geheimnisse in deutscher Sprache gefaßt wurden. Der Widerspruch schlichtet sich durch den Umstand, daß uns keine Spur von dieser Notkerschen Ubersetzung erhalten ist; und wenn der geniale St. Galler Mönch in jenem Brief an den Sittener Bischof" von dieser seiner Übertragung sagt, er hätte sie nur in aliquantis besorgt, so dürfen wir wohl auch annehmen, daß er an diesem großartigen Unterfangen gescheitert ist. Auch die geistliche Dichtung der frühmittelhochdeutschen Zeit hat sich dieses Gegenstandes noch nicht bemächtigt: sie ist praktisch-aszetisch, nicht spekulativ gerichtet. Dasselbe gilt von den Anfängen der deutschen Predigt. - Ansatzpunkte sind freilich da. So ist dem Dichter des 'St. Trudperter Hohenliedes' die Trinitätsformel wohl bekannt, ebenso die göttlichen Appropriationen, verbunden mit der augustinischen Trias der oberen Seelenkräfte". Allein von innertrinitarischen JOSTES), ist in ihrem ersten Teil (bis JOSTES 91, 17) auch in Berlin, germ. 4° 866, 23-29" erhalten. Diese Uberlieferung bietet besonderes Interesse, weil sie, nach dem Zeugnis der Schrift, bereits dem frühen 14. Jahrhundert angehört. DEGERING setzt die Hs. sogar ins 13. Jahrhundert. INGEBORG SCHRÖBLER vermutet mit guten Gründen, es handle sich um A u g u s t i n s 'De trinitate' (ZfdA 82 [1948], S.37ff.). " Gedruckt: J. GRIMM, Kleine Schriften Bd. V (Berlin 1871), S.190 f. " Die wichtigsten Belege führt EHRISMANN (II, S. 32) an. Die Deutung ist freilich verfehlt. Wenn die göttlichen Wesensmerkmale potentia, sapientia und bonitas (benevolentia) auf Vater, Sohn und Hl. Geist bezogen werden, so haben wir keineswegs an die abälardische Trinitätslehre zu denken (die als modalistisch 1121 und 1142 verurteilt worden ist), sondern an die gut kirchliche A p p r o p r i a t i o n e n l e h r e . Wir finden diese ausgebaut bei Thomas (S. th. I, 39, a. 7 u. 8) und Bonaventura (Brev. I, c. 6; De tripl. via III, 12), ihr Ansatzpunkt geht jedoch auf Augustin und Hilarius zurück (vgl. Augustin, De doctr. Christ, c. 5, PL 34, 21; D e trin. VI, 10; PL 42, 931). Siehe ferner Hugo v. St.
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Vorgängen, dem Kernstück der Dreifaltigkeitslehre, ist nirgends die Rede. |
Unter den großen Dichtern der Blütezeit hat Wolfram bekanntlich einen beachtlichen Zug zur Spekulation. Der trinitarische Gott ist ihm denn auch durchaus vertraut. Doch bleibt auch der Eschenbacher im Rahmen allgemeiner Formeln: den höhsten got al eine, des driva.lt ist gemeine und al geltche gurbort (P 817, 13 ff.; dazu Wh. 1, 2). Sofern ich nichts übersehe, war der Franziskanermönch David von Augsburg (gest. 1272), Novizenmeister, Freund und Gefährte Bertholds von Regensburg, der erste, der um eine deutschsprachige Darstellung des Trinitätsmysteriums gerungen hat: im Zusammenhang eines längeren Traktats (ZfdA 9, S. 1-67), dem der Herausgeber PFEIFFER den Titel 'Von der Offenbarung und Erlösung des Menschengeschlechtes' gegeben hat, und den PREGER als eine "freie Bearbeitung" des Anselmischen 'Cur Deus homo' glaubte nachweisen zu können15. Dieser "Nachweis" Viktor, De sacr. I, p. 2, c. 5: fides catholica ... assignavit potestatem Patrt, sapientiam Filio, Bonitäten Spintui sancto (PL 176, 208); ebd. I, p. 3, c. 26 (217f.); Petrus Lombardus, Sent, I, 34, 6 - 9 ; In epist. ad Rom. (PL 191, 1329). So ist das frühe Auftauchen der Appropriationenlehre im St. Trudperter Hohenlied und anderswo (Mechthild v. Magdeburg, MORELL S.22, 9-11) auch ohne den mit dem Geruch des Ketzerischen behafteten Abaelard zur Genüge zu erklären. Es ist denn auch an keiner Stelle des St. Trudperter H. L. die modalistische Deutung Abaelards nachzuweisen, auch wenn sich der Dichter, was ihm niemand verargen wird, an einigen Stellen dogmatisch nicht ganz einwandfrei ausdrückt (131, 11 f.; 130, 18f.). Eigenartig ist auch die ausgeprägte Hypostasierung dieser Begriffe. Das gilt jedoch nicht nur von den göttlichen Wesensmerkmalen, sondern von allen Begriffen und erklärt sich aus der aufspaltenden und isolierenden Allegorese. Hätte der Dichter etwas von der als häretisch erklärten abaelardischen Formel gewußt, würde er sich zweifelsohne hier und dort etwas vorsichtiger ausgedrückt haben. Gerade seine Unbefangenheit beweist, daß er von Abaelard nie etwas gehört hat! - Auch sonst spukt die abaelardische Trinitätsformel in unangemessener Weise in der germanistischen Literatur herum: siehe CURT KIRMSSE, Die Terminologie des Mystikers Johannes Tauler (Diss., Leipzig 1930), S. 32, Anm.3, wo der Ausspruch Taulers: so ist dervatter, das der sun ist in miigenheit, in wisheit und in minne (299) mit Abaelard in Beziehung gebracht wird. Entsprechende Stellen könnte ich zu Dutzenden aus der geistlichen Literatur des Mittelalters zitieren. - Über die verurteilten Sätze Abaelards siehe: Dictionaire de théologie catholique I (Paris 1909), p. 44 sq., wo sie im Wortlaut angeführt werden. Kernstellen: Introductio ad Theologiam I. c. 10 (PL 178, 991 ff.); Theol. christ. IV (ebd. 1259ff.); Expos, in epist. Pauli ad Rom. I (ebd. 804). Tract, de unitate et trinitate divina (der 1121 verurteilte Traktat), ed. REMIGIUS STÖLZLE, Freiburg i. Br. 1891, I, c. 2 (S.2f.), II, c. 4 (S.61). 15
Geschichte der deutschen Mystik I, S. 269 f. Sicher ist der Begriff "Bearbeitung" fehl am Ort. Es handelt sich um einige Anselmische Gedankengänge, in wenigen Fällen annähernd im Wortlaut übernommen. So urteilt auch E. LEMPP, David v. Augsburg, ZfKirchengesch. 19 (1899), S . 2 8 f . und D. STÖCKERL, David von Augsburg, München 1914, S.219.
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gilt jedoch keineswegs für die hier entwickelte Trinitätslehre, die bis jetzt merkwürdigerweise nicht die geringste Beachtung gefunden hat". Mit Unrecht: Hier liegen, einige Jahrzehnte vor der dominikanischen Mystik (der Traktat ist ins 3. Viertel des 13. Jahrhunderts zu setzen) die Anfänge spekulativen Denkens in deutscher Sprache. Nur mit Zögern und umständlich vorbereitend geht der Autor an diese neue Aufgabe heran: vergip uns güetliche, daz wir so baltliche getörren von dinen hoehsten tougen gedenken, fleht er am Schlüsse die Dreifaltigkeit an (51, 11 ff.), und schon vorher mußte er gestehen: uns gebristet worte, swd wir von götelicher natüre reden süllen (50, 21 f.). Das wird dann später zur fast formelhaften Wendung'7. Trotzdem erleben wir kein Stammeln: der wortgewaltige Franziskaner meistert seine Aufgabe in einwandfreier Begrifflichkeit, ja es eignet | seinen Ausführungen eine größere Klarheit als den meisten entsprechenden Darlegungen der deutschen Mystik des 14. Jahrhunderts. Auch hat der Davidsche Traktat den Vorteil einer gewissen systematischen Geschlossenheit: der Verfasser behandelt hier die Trinitätslehre sozusagen ex professo, während sie im Umkreis der dominikanischen Mystik kaum je zusammenhängend zur Darstellung gelangt'8. David von Augsburg verdient auch eine besondere Apostrophierung, weil sein Traktat der einzige nennenswerte Beitrag zur deutschsprachigen Trinitätslehre im 13. Jahrhundert bleibt. Mechthild von Magdeburg weiß zwar um das Mysterium der Dreiheit in der Einheit: So sihet sü einen ganzen got in drin personen und bekennet die drie personen in einem gotte ungeteilet ( R U H , S. 13, 16 ff.", M O R E L L 4, 29—31; ferner MORELL 107, 22 ff.); sie weiß um die göttlichen Approprietäten der almebtikeit, wisheit und miltekeit ( R U H 22, 9—11; M O R E L L 68,24—26); sie weiß vom brunnen der fliessenden drivaltekeit zu reden (RUH 13, 10; MORELL 4, 23; ferner MORELL 158, 26 f.), ja vom Wunder der Perichorese ( R U H 22, 6—8, M O R E L L 68, 22 f.): do lühteten die drie personen also schone in ein, das ir ieglicher dur den andern schein, und waren doch gantz in ein. Allein das steht isoliert. Das Mysterium des dreieinigen " Anselmisches Gedankengut scheint allerdings auch in den Abschnitten über die göttliche Dreifaltigkeit zu stecken: so geht die Stelle 49, 35 ff. ohne Zweifel auf A. zurück und zwar den 'Liber de fide Trinitatis et de incarnatione Verbi' (PL 158, 280). Siehe unten S. 30 und Anm.33. - STÖCKERL [Anm. 15], S. 109-115, gibt eine inhaltliche Analyse des Traktats, ohne der ausführlichen Darstellung der trinitarischen Geheimnisse mit einer Silbe Erwähnung zu tun. " Siehe Franko v. Köln, ZfdA 8, S.251, 9f. (gleicher Wortlaut!); Tauler, VETTER 114, 22 ff.; 298, 21 ff. " Am ehesten noch Eckhart, Pf. Nr. 54 und Seuse, Kap. 51 der 'Vita'. Eckhart erklärt im Sermo II, 2, 11, die Erörterungen über Einheit und Dreifaltigkeit gehörten an die theologischen Schulen (quia magts ad scholas pertinent). " Altdeutsche Mystik (Altdeutsche Übungstexte Bd. 11), Bern 1949.
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Gottes wird von der liebenden Seele, die sich als imago trinitatis versteht (MORELL 38, 9 f. 32) wohl poetisch umspielt, aber zur spekulativen Ergriindung kommt es nicht. Zu Beginn des 14.Jahrhunderts setzt dann mit den großen D o m i n i k a n e r n der Höhenflug mystischer Spekulation in der Volkssprache ein und damit auch trinitarischer Spekulation. Ebenso dürften die imponierenden Ubersetzungen scholastischer Meisterwerke der Dogmatik, die Thomas- und Hugoübertragung, in der 1. Hälfte des H.Jahrhunderts entstanden sein20. Wir haben zweifelsohne in diesen Jahrzehnten eine hohe Zeit sprachschöpferischer Kräfte zu erblicken; sie bedeuten für die deutsche Prosa, was die Zeit um 1200 für die deutsche Poesie. Und wiederum (wie in der Blütezeit mhd. Dichtung) ist es die Rezeption einer fremden Welt, die die eigenen Kräfte zur vollen Entfaltung bringt: diesmal die hochgespannte geistige Welt dominikanischer und franziskanischer Scholastik. Seit wir neben der deutschen Mystik auch die deutsche Scholastik mit ihrer völlig eigenständigen, d. h. von der Sondersprache der Mystiker unberührten21 Ubertragungsleistung zu sehen vermögen, dürfen wir diese Zeit mit noch größerer Entschiedenheit, als es bisher getan worden, als fruchtbare Hoch-Zeit hervorheben. Die deutsche Sprache - das ist die schönste Frucht - erobert sich die spekulativen Räume der Gottes- und Seelenwelt. Sie | schuf zwar keine feste, wissenschaftlichen Zwecken genügende Terminologie - das bleibt der deutschen Aufklärung vorbehalten - , blieb aber jederzeit ein Instrument, auf dem Gottsucher und krause Spekulierer vom Schlage Jakob Böhmes ihre Weisen zu spielen vermochten. Im späteren 14. und im 15. Jahrhundert nehmen die Erörterungen über die göttliche Einheit in der Dreiheit in der gesamten geistlichen Literatur eine wichtige Stelle ein. Man stößt in Handschriften immer wieder auf sie: In Cgm. 133, Bl. 6'-8" werden Eckhartstellen zusammengetragen (PETZET S.245), ebenso in St. Gallen, Stiftsbibl. Cod. 1015, S. 134-147 und Cod. 1067, 85 v -88 r t > (J. QUINT, Untersuchungen S.26 u. 28). Eckhartisch ist auch die kurze Betrachtung in St. Gallen 1033, ff. v r / v (ebd. S.44). In einer andern St. Galler Hs., Cod. 1908, im Rahmen einer Predigt über Johannes Evangelist, 113" ff., wird das Trinitätsgeheimnis ausführlich apologetisch abgewandelt, indem fünf ketzerische Ansichten mit Worten des Johannes-Prologs entkräftet werden. Populärer gehalten sind eine churcze vnterweysung vnd entschaidung von der gütlichen trimtatt in Gen. 19, 184-192" der Stadtbibliothek Schaffhausen und der geystliche meyenbulle der aller heyltgsten trinitat in Donaueschingen cod. 359, 103*-107' J ". Äußerst zahlreich sind sodann die Dreifaltigkeits-
20
Über die Entstehungszeit der Thomas-Übersetzung siehe Verf., Thomas v. Aquin in mhd. Sprache [Anm. 9], S. 345, bzw. S. 4.
21
Ebd. S. 344. Den genaueren Nachweis bringen z. T. die Ausführungen dieses Aufsatzes. Siehe ferner Marquard v. Lindau, Dreifaltigkeitspredigt. St. Gallen, Vadiana Cod. 350,
2,1
90"—95rb; G. I. LIEFTINCK, De middelnederlandsche Tauler-Handschriften, Groningen 1936, S. 217 ff.; Zürich, A. 173, 83r'v.
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gebete, oft Augustin, T h o m a s , Bonaventura und andern kirchlichen Vätern und Lehrern zugeschrieben. Man sieht aus all diesen Darstellungen, daß die deutschen Trinitätsbegriffe, um die im 13. und im beginnenden 14. Jahrhundert gerungen wurde, zur geläufigen und von jedermann spielbaren Klaviatur geworden sind.
III. Wir haben damit auch den zeitgeschichtlichen Rahmen für unsere terminologischen Beobachtungen entworfen und sind mithin unserm eigentlichen Gegenstande zu Leibe gerückt: Welches ist die Begriffssprache, die - im Anschluß an die lateinische Terminologie - die deutsche Mystik und Scholastik in der Entfaltung der trinitarischen Geheimnisse entwikkelt? - Wir folgen in unseren Ausführungen der weiter oben angeführten, aus dem Stoffe von selber sich ergebenden Gruppierung". Das Wortfeld, das | die Begriffe für G o t t e s E i n h e i t umfaßt, behandle ich nur insoweit, als sich diese Bezeichnungen auf die Dreiheit beziehen, entsprechend den Trinitätsformeln: unitas substantiae et naturae in pluralitate personarum (Bonaventura, Brev. I, 2, 1) oder: in trinitate personarum unitas essentiae est (Hugo v. Straßburg I, 10). Ich wähle als Ausgangspunkt einen Abschnitt aus Hugos 'Compendium' (I, 13). Die zitierte Stelle berührt sich inhaltlich mit Bonaventura, Brev. I, 4, 4, nur daß hier, offenbar im Anschluß an Richard von St. Viktor (De trin. IV, 22), die Begriffe communicabilis und incommunicabilis hinzutreten. Daß wir in diesen Rahmen auch den Personenbegriff einbeziehen, ergibt sich aus seinem inneren Zusammenhang mit Hypostase und damit dem Substanzbegriff. Das wird aus dem folgenden sogleich klar. Das zwüschen der persone vnd der wesung vnderschaid ist. Vnder den kriechen sind vier namen. Der ain haiset 'vsia\ der ander 'vsiosis', der drit 'yppostasis', der vierd 'prosopon'. Aber vnder der latinischen Zungen so glichen disen vier andren namen, da ist wesung, substancze, selbstandung vnd person, vnd vnder disen ist sölieh er vnder22
Zu den Zitationen: H u g o s v. Straßburg ' C o m p e n d i u m theologicae veritatis' kürze ich mit ' C o m p . ' ab; der lat. Text ist der PELTIER-Ausgabe Bonaventuras entnommen (VIII, 60-246). Die deutsche Theologische Summe des Thomas zitiere ich nach Seiten- und Zeilenzahl der MoRGAN/STROTHMANNschen Ausgabe, die lateinische, wie üblich, nach pars, quaestio und articulus (die r ö m . Zahl bedeutet den Teil, die erste irab. Zahl die Quaestio, die 2. den Artikel, beigefügte "c": corpus articuli). Bonaventura ist nach der Quaracchi-Edition, die Mystiker nach den maßgebenden Ausgaben zitiert; bei Eckhart wird ' Q . ' (QUINT) oder 'Pf.' (PFEIFFER) hinzugefügt. Die wiederholt benutzte Predigt Frankos v. Köln steht in Z f d A 8; ein Auszug davon ist JOSTES N r . 19. Beachte ferner: 'Par. an': 'Paradisus animae intelligentis', ed. PH. STRAUCH ( D T M 30), 'JOSTES': Meister Eckhart und seine Jünger (Collectanea Friburgensia IV), Freiburg i.d. Schweiz 1895.
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schaid: 'vsia' oder wesung ist als vil gesprochen als die natur der menschait. 'Vsiosis' oder substancze haiset das da hat die natur oder die vnderstandung der natur als der mensche. 'Yppostasis' oder selbstandung das haisset vnderschaidenlich vnd doch nit vnderschaiden mit gesunderter aigenschafft, als so man sprichet 'etlicher mentsch'. 'Prosopon' oder person haiset ain vnderschaiden ding mit gesunderter aigenschafft, vnd das gehört zu etlicher wirdikait als 'Petrus' ( f . 1 3 v l / b ) . Wir stellen zunächst folgende Wortgleichungen fest: gr. ovoia lat. essentia oiioicooig substantia tijtöoraoig subsistentia JiQÖotüJtov persona
dtsch. wesunge vnderstandung selbstandung person
(humanitas) (homo) (aliquis homo) (Petrus)
Daß die Beziehungen zwischen der griechischen und lateinischen Reihe in der theologiegeschichtlichen Wirklichkeit nicht so einfach liegen, können wir nur im Vorübergehen registrieren und den Wunsch aussprechen, daß diesen Begriffen und ihrer historischen Entfaltung einmal von berufener H a n d eine eingehende Studie gewidmet werde. W i r beschränken uns im wesentlichen auf die deutsche Reihe in ihren Bezügen zu den lateinischen Termini. wesunge ist der in der gesamten geistlichen Literatur übliche Ausdruck für essentia (natura). Er steht sozusagen zwischen wesen einerseits und Wesenheit, weslicheit andererseits. D a ß wesen f ü r das lateinische esse u n d essentia steht, ist bekannt, ebenso, was für Unklarheiten sich notwendigerweise aus diesem Zusam-1 menhang ergeben mußten. Immerhin steht fest, daß wesung in der Regel n u r essentia bedeutet, und zwar bei den Scholastikern ziemlich folgerichtig: ich finde beim Thomas-Ubersetzer keine, beim HugoUbersetzer im I.Teil (der Gotteslehre) nur e i n e Ausnahme (esse = wesunge 2"); gleichermaßen übertragen sie korrekt esse mit wesen (nur einmal S. th. 310, 19 essentia = wesen). Bei den Mystikern läßt sich diese Abgrenzung naturgemäß weniger gut vornehmen, da uns ein lateinischer Paralleltext nur ausnahmsweise zur Verfügung steht und es so schwer zu sagen ist, ob jeweils mit wesung esse oder essentia gemeint sei, zumal im Göttlichen beides zusammenfällt (Thomas S. th. I, 3, 4). Daß man wesen (esse) und wesunge (essentia) zu unterscheiden sich bemühte, verraten aber auch entsprechende Definitionen: in allen dingen, diu under gotte sint, so ist unterscheiden wesen und wesunge, unde gottes allein ist das eigin (nach dem, das S. Thomas und andere meistere sprechent), das er sin wesen si... wesunge ist eines iegliches dinges natüre, die an den dingen, die materje hant, in sich sliußet materje unde forme ... aber wesen ist ein würkunge, die got in gedrucket het eines ieglichen dinges natüre, ob mittens der diu natüre ist unde bestät. wesunge, die neme ich eines
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ieglichen dinges nätüre unde wesen ein bestan der natüren (ZfdA 8, S. 427, 3 ff.)". Die terminologische Scheidung wesen/wesunge (esse! essentia) ist also auch im Deutschen durchgeführt, bei den Scholastikern ziemlich rein, bei den Mystikern kann wohl wesen esse und essentia bedeuten, mit wesunge hingegen dürfte zumeist essentia gemeint sein. Auch wesen(t)heit (weslichkeit, wesentlich) steht für das lateinische essentia (z.B. Seuse 183, 1; 187, 5; bzw. Eckh. Q. 56, 2; Franko 249, 16.37; Seuse 188, 11; 189, 13; Tauler 239, 2; 352, 1; D I E F E N B A C H S Glossar 210c). Gegenüber wesunge bedeutet es einen weiteren Grad der Abstraktion, so wie wir heute in diesem Sinne 'Wesen' (das nhd. an die Stelle von mhd. wesunge getreten ist) und 'Wesenheit' gebrauchen. Wenn also wesunge mehr die W e s e n s a r t bedeutet, so wesen(t)heit, weslicheit den Wesens g r u n d . Da aber der Grund des Wesens das Sein ist (siehe obige Definition), so kann nicht überraschen, daß wesen(t)beit auch ens und entitas wiederzugeben vermag (S. th. 180, 5; 294, 4; Comp. 25 ri [ « » ] ; S. th. 264, 13 [entitas])". Recht verwickelt liegen die Termini im Bereiche der S u b s t a n z , da schon der lateinische Begriff substantia mehrdeutig ist. Thomas (I, 29,2, c.) | unterscheidet drei 'Namen': 1) subsistentia, 2) res naturae, 3) hypostasis-, Bonaventura gibt vier Bestimmungen der Substanz (Brev. I, 4, 4): 1) essentia (als communicabilis per modum abstractionis), 2) substantia (als communicabilis per modum concretionis), 3) hypostasis (als incommunicabilis und distinguibilis), 4) persona (als incommunicabilis und distincta). Diese Vieldeutigkeit liegt darin begründet, daß substantia nicht nur auf otioúooig, sondern auch auf ÚJiÓCTracug zurückgeht - dem im besonderen subsistentia entspricht - und daß mit tmócrcaoig ein sachlicher Bezug zu oúoía (essentia) sowie persona hergestellt war, wodurch der Substanzbegriff die ganze Bedeutungsskala von essentia bis persona zu umspannen vermochte. Im Deutschen sieht die Sache, was zunächst merkwürdig berühren mag, besser aus (sofern nicht das vieldeutige Fremdwort substancie
u
Siehe ferner JOSTES N r . 82, S. 85, 19ff.: Die gütlichen meister sprechen, daz man sol verstan in der gotheit wesen und wesüng... 2 * Ein lateinisch-deutsches Wörterbuch des 14. Jahrhunderts in St. Gallen, Stiftsbibliothek C o d . 1023 ['Vocahularium abstractum'] differenziert: ens: wesen, essentia: wesenlichait, esse: sin, existentia: selhstendkaü (S. 127). Es sei an dieser Stelle wieder einmal mit N a c h d r u c k auf die zahlreichen noch unausgewerteten handschriftlichen Wörterbücher hingewiesen (vgl. JOSTES, S. VIII f.). Sie sind von h o h e m Erkenntniswert für die theologische und philosophische Begriffssprache der letzten drei Jahrhunderte des deutschen Mittelalters. - Das St. Trudperter Hohelied hat für essentia die altertümlichen Formen wesenuste (10, 5) und wesende (130, 19; 131, 5. 10).
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gebraucht wird25), und zwar weil, wie wir sehen werden, mit sehr glücklichen Ubersetzungswörtern rein vom Sprachlichen her bedeutungsmäßige Differenzierungen erfolgen, während substantia, subsistentia und bypostasis, wurzelhaft betrachtet, dasselbe bedeuten und daher im differenzierenden Gebrauch der Definitionen bedürfen. Aus dem Hugo-Text gewinnen wir zunächst als deutsche Entsprechung für Substanz understandunge : substancze baiset das da bat die natur oder die vnderstandung der natur. Dieses Ubersetzungslehnwort kennt auch Seuse im Büchlein der Wahrheit, Kap. 4: Aber ellü andrú menschen (außer Christus) dú bant ir naturlich understandunge in irem natürlichen wesenne (334, 8 f.). Daß es später noch humanistisch orientierte Ubersetzer für Substanz verwenden - Johann von Neumarkt im 'Soliloquium'1'' - , zeigt, daß understandunge (auch understant und, als substantivierter Infinitiv, understán) allgemein gebräuchlich wurde. Konsequent steht understand(unge) für suppositum, da die Substanz ja (den Akzidentien) 'untergelegt' ist (S. th. 116, 23; 316, 10; Seuse 157,16; 162, 20; Tauler 348, 15). Das entsprechende Verbum understán (supponere, substare) finden wir bei Eckhart Q. 14, 5.8 und S. th. 94, 6,14. Für suppositum tritt auch häufig underwurf ein (Comp. 17vb; S. th. 22, 18; 42, 32; 46, 27; 316, 8), und da suppositum mit subjectum zusammenfällt, so gibt underwurf auch dieses wieder (S. th. 64, 21.23; 66, 3; 306, 20). selbestandunge (selbestaung) gebraucht der Thomas-Ubersetzer regelmäßig, wo bypostasis und subsistentia vorliegen, dasselbe gilt für den Hugo-Übersetzer (siehe im zitierten Text). Bei den Mystikern finde ich den Begriff nur bei Seuse im BdW, Kap. 4 (334, 7), wo er neben understandunge erscheint. Die Etymologie der angeführten Begriffe liegt auf der Hand; ihre Anwendung bestätigt sie durchaus: selbestandunge bezeichnet die Substanz, sofern sie für sich selbst besteht (und nicht in einem andern), entspricht also (im thomasischen Gebrauche) subsistentia (hypostasis); un- \ derstandunge bedeutet die Substanz, sofern sie als Träger (suppositum oder subjectum) einer allgemeinen Natur unterstellt ist. Wir könnten auch sagen, daß die Substanz mit selbestandunge inhaltlich, mit understandunge logisch-formal gefaßt wird27. - Gleichsam am Rande sei noch darauf hingewiesen, daß im oben (Anm. 24) angeführten Wörterbuch einer St. Galler Hs. unter substantia die selbestandunge entsprechenden Ausdrücke selbwesen (auch D I E F E N BACH 596 c ) und selbstendekait (S. 129) erscheinen. 25
So bezeichnet E c k h . (Pf. 79, 25) die majestät
als äaz
anderer Stelle (Pf. 183, 24 f.) ist Christus ein substancie 26
der substancie
gotes;
an
gotes.
Ausgabe v. J . KUVPPER (Vom Mittelalter zur Ref. V I , I, 1930) S. 156, 16 £.; beachte auch: consubstantialis:
17
wesen
mitvnderstendic
154, 9 f . 24; 158, 7; 159, 13.
Eine eigentümliche Zwitterform führt DIEFENBACHS Glossar an: (596 c ).
vnderweselichkeit
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Wir haben indes das Begriffsfeld für Substanz noch nicht abgeschritten. understöz (Eckh. Pf. 175, 23; 337, 8; 660, 19; 677, 14.21; 682, 31; Franko S.249, 27) und underschóz (Eckh. Pf. 388, 16.22) bezeichnen wie understandunge die Substanz als Träger, und in diesem Sinne sind alle angeführten Belege zu verstehen, understöz ist offensichtlich das, was 'unter etwas gestoßen' wird, nämlich als Träger und Stütze; underschoz besagt entsprechend das 'unter etwas Geschossene' und trifft sich bedeutungsmäßig genau mit unterwarf = subjectum, suppositum (siehe oben). Das Wort hat schon in früheren Mhd. die allgemeine Bedeutung 'Unterlage', 'Stütze' (LEXER II, 1799). - Gegenüber understandunge und selbstandunge fällt das Dynamische dieser Bezeichnungen auf, hinsichtlich des Gebrauchs, daß wir sie (als Substanzbezeichnungen) nur bei den Mystikern belegt finden. Andererseits kommt selbestandunge nur bei den Scholastikern (außer Seuse 334, 7) vor. Wir werden die selben und deutlichere Beobachtungen später im Zusammenhang der Emanationsbegriffe machen können: deutlichere, weil jene Bezeichnungen reicher belegt sind. Ausnahmsweise bezeichnet auch der spezifisch mystische Terminus istecheit, der in der Regel das abstrakte esse wiedergibt (Eckh. Q . 19, 1; 197,4; Pf. 162,38; 163,2; 319, 21; 580, 17; 583, 14; 589, 8; Seuse 186, 8; Tauler 74, 28; 156, 27) die Substanz: Ist min leben gotes wesen, só muoz daz gotes sin min sin und gotes istecheit min istecheit (Eckh. Q . 106, 2 f.). Dieser Satz gehört zu den diskriminierten; in der Rechtfertigungsschrift wird dieses istecheit mit quidditas wiedergegeben, also der Bestimmung der Substanz als essentia1'. Aber das ist ein Einzelfall. Zusammenfassend stellen wir fest, daß understandunge und understöz, underschoz (letztere nur mystisch) die Substanz als Träger (suppositum, subjectum) einer Natur bezeichnen, selbestandunge die Substanz als ein für sich Bestehendes (subsistentia, hypostasis). Für die logischen Termini suppositum, subjectum gilt auch unterwurf. Persona hat wie im Nhd. keine deutsche Bezeichnung erhalten. Beachtenswert sind jedoch die deutschsprachigen Definitionen. Hugound Thomasübersetzer bieten ihrer viele: Zunächst die klassische des Boethius (persona est rationalis naturae individua substantia PL 64, 1343): person | ist ain vngetailte substancie der redlichen natur (Comp. I, 13, f. 14 ri ); wan nihtes niht ist ein person denne ein unteillichü substancie der redelichen naturen (S. th. 24, 11 f.). Eine thomasische Definition, anonym als diffinitio magistralis (maisterlich... betütung) eingeführt, lautet beim Hugo-Ubersetzer: persone daz ist ain selbstandung vnderscheiden mit der aigenschafft, die etlicher wirdikait zu gehört (ebd. f. 21
Vgl. Thomas I, 29, 2 Uno modo dicitur substantia 'quidditas rei' quam significai diffinitio, secundum quod dicimus quod 'diffinitio significai substanliam rei'; quam quidem
substantiam
Graeci 'usiam' vocant, quod nos 'essentiam' dicere
possumus.
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14rb) (personas est hypostasis distincta proprietate ad dignitatem pertinente: Thomas, S. th. I, 40, 3, obj. 1). Ahnlich: Prosopon oder person haiset ain vndersckaiden ding mit gesunderter aigenschafft, vnd das gehört zu etlicher wirdikait (Comp. 13vb) (persona diat distinctum cum determinata proprietate ad dignitatem pertinente). Weitere thomasische Definitionen gibt der S. th.-Ubersetzer. Ich führe nur noch eine an: Ez ist zemerken, daz die persone bezeichent daz selbe daz, daz da volkomenest ist in aller der naturen, daz ist die selbestaung in der redelichen naturen (S. th. 310, 16 ff.) (Respondeo dicendum quod persona significat id quod est perfectissimum in tota natura, scilicet smbsistens in rationali natura (I, 29, 3, c.). Selbständig bemüht sich Franko von Köln um den Personenbegriff: waz ist persöne in der drivaltikeit? daz ist persone, daz sunderlich unde vernünfticlich beheldet sine eigenschaft, gesundert voneinander näh den persönen an ir underscheit (246, 35 ff.). Gegenüber den Definitionen des Boethius und Thomas, die alle auf dasselbe herauslaufen, nämlich auf die individuelle Substanz und die ihr zukommende dignitas, wird hier hervorgehoben, daß die Person ihre Eigenschaften beheldet, also nicht mitteilt. Wir dürfen hier die Richardsche Formel erkennen, die (im Hinblick auf die göttliche Person) die individua substantia des Boethius durch incommunicabilis existentia ersetzt (De trin. IV, c. 22, PL 196, 945). Später wird dieses behalten näher erläutert: die Personen haben mit keinem andern Gemeinsamkeit, si sint niht persönen aller dinge, alse daz wesen aller dinge wesen ist. des vermag der vater niht iemans persöne ze sin dan sin selbes (247, 17 ff.)". Abschließend stelle ich die vorgeführten Bezeichnungen für die göttliche Einheit zusammen, wobei ich die Hauptbedeutung durch Sperrdruck hervorhebe und nur gelegentlich auftretende Bedeutungen (wie wesunge für esse und istecheit für essentia) nicht berücksichtige. wesen esse essentia
wesunge essentia
understand(unge)
understöz substantia
selbesta(nd)unge
wesen(t)heit, weslicheit essentia, ens, entitas underschöz
als Träger (suppositum, subjectum) (selbwesen) (selbstendekeit)
substantia als ein für sich Bestehendes (subsistentia, hypostasis) \
n
Im bereits zweimal angeführten St. Galler Wörterbuch wird Person als am selbstendekait des wesendes (129) umschrieben. So auch in D I E F E N B A C H S Glossar 4 3 0 ' .
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An dieser Stelle fügen sich am besten die Bezeichnungen für lateinisch unitas und trinitas ein. Sie bieten nichts Besonderes, doch sei in Kürze eine Bestandesaufnahme der üblichen deutschen Termini gegeben. 1) unitas. Die ahd. Wörter einnissi, einmssa (GRAFF I, 331) leben im Mhd. nicht mehr fort. Notker hat einunga (De cons. III, 971 PIPER I, 199, 25), das im Ahd. sonst testamentum wiedergibt (GRAFF I, 333 f.); im Mhd. steht es in der Regel für die unitas spiritualis = unio (Eckh. Q. 119, 5; Pf. 392, 25; Par. an. 9, 8; 18, 7; 19, 2; Seuse 167, 29; 334, 5; Tauler 67, 13; 68, 7; 69, 12; 121, 28; 380, 25; S. th. 20, 11.24; 24, 25; Comp. 1 8 ^ usw.), gelegentlich aber doch auch für die göttliche unitas: Eckh. Q . 26, 8; 50, 4; JOSTES 33, 16; Par. an. 18, 14; S. th. 30, 14. Hauptbegriff für die unitas in trimtate im Mhd. ist aber einikeit: Das hüs gotes ist diu emicheit sines wesens (Eckh. Q. 314, 1 f.). Die Belege sind so häufig, daß ich auf weitere verzichten darf. - Inwiefern auch einvaltikeit für unitas steht, kann in Texten ohne lateinische Parallelen nur schwer entschieden werden. Es ist das Ubersetzungslehnwort für simplicitas, und der Thomas- und der Hugo-Ubersetzer kennen es jedenfalls nur in dieser Bedeutung. Daß es gelegentlich aber auch die unitas Gottes meint, legt schon die Parallele zu drivaltekeit nahe: Got, driveldich an der einveldicheide, emveldich an der driveldicheide Die Lilie, DTM XV, 62, 5); dü einveldige driveldicheit, du driveldige einveldicheit (Rede von den 15 Graden10). 2) trinitas. Während die ahd. Bezeichnungen drinissa, drinussida (GRATF V, 242) verloren gegangen sind, lebt ahd. dnfalt (GRAFF V, 241) im Mhd. weiter (LEXER I, 467), jedoch, wie mir scheinen will, nicht über das 13. Jahrhundert hinaus. David von Augsburg kennt es noch (ZfdA 9, 48, 10; 50, 30; 51, 16), hingegen wird es in der Mystik des 14. Jahrhunderts verdrängt durch drivaltikeit". Neben diesem Hauptbegriff für trinitas behauptet sich noch driheit (driekeit): Eckh. Pf. 516, 15; 517, 25.27; 644, 32; 653, 1; Seuse 184, 24; 185, 8.10.23; 186, 3; 189, 8.14; 330, 11; S. th. 312, 31. Der im Nhd. übliche Begriff ' D r e i e i n i g k e i t ' wird im D W B (II, 1376) erst mit Belegen aus dem 17.Jahrhundert angeführt; TRÜBNERS Deutsches Wörterbuch (II, 85) weist wenigstens das Adjektiv dreieinig im 15. Jahrhundert nach. Allein schon LEXER (I, 462) belegt drieinekeit aus der PFEiFFERschen Eckhartausgabe (157, 19; 520, 38), weiter finde ich das Wort bei JOSTES (49, 36). Es ist also Dreieinigkeit, das den satten Ausdruck für die Einheit Gottes in der Dreiheit bezeichnet - während drivaltikeit, driheit die Dreiheit betonen, und die Einheit nur logisch im Suffix ausgesprochen ist - , bereits im 14. Jahrhundert geprägt worden. Alle erwähnten deutschen Vokabeln für unitas und trinitas werden unterschiedslos von den Scholastikern und Mystikern gebraucht, was schon der Umstand erklärt, daß es sich bei diesen allgemeinsten Begriffen von Gottes Wesen um keine spezifisch theologischen, sondern um allgemein gebräuchliche Ausdrücke handelt. |
IV. Als besonders reichhaltig und interessant erweisen sich die d e u t s c h e n B e g r i f f e f ü r die i n n e r t r i n i t a r i s c h e n
JC
Vorgänge.
H i e r stellen
wir
Germania 6 (1861), S. 157; ähnlich J. B. SCHOEMANN, Germ. Studien 80 (Berlin 1930),
S. 3, Anm. 2. " Vereinzelt ist drivaltigung
(Comp. 7").
30
Die militärische Spekulation in deutscher Mystik und Scholastik
[39/40]
eine sehr reinliche Scheidung von deutscher Mystik und Scholastik fest, wie sie sich bei den Bezeichnungen f ü r Gottes Einheit im Falle von understöz, underschoz - selbestandunge bereits abzuzeichnen begonnen hatte. Als Ausgangspunkt wählen wir den in Kapitel II kurz gewürdigten Text Davids von Augsburg (ZfdA 9, S. 48 ff.): D e r Franziskaner läßt die innergöttlichen Emanationen aus Gottes Macht, Weisheit und G ü t e hervorgehen (potentia, sapientia, bonitas). Es sind dies göttliche Wesensmerkmale, welche auch als Appropriationen auf die einzelnen Personen bezogen werden können, und zwar nach dem Verhältnis zu den von diesen hervorgebrachten Werken". Diese Macht, Weisheit u n d G ü t e können, wie es göttlicher wirdekeit geziemt, nicht müezic bleiben, müssen sich üben - ein Gedanke, der unermüdlich wiederholt wird - , was jedoch nur an G o t t selber geschehen kann, und so k o m m t es z u m Gebären des Sohnes und zum Ausfluß ihrer beider Minne im H l . Geiste. Der vater ist der brunne unde der ursprunc des götelichen fluzzes; der sun ist alse daz rivier unde der back, der von dem brunnen fliuzet; der heilige geist ist alse der se, der von dem brunnen unde von dem riviere fliuzet (49, 35 ff.)". Es erscheinen hier die für mystisches D e n k e n so bezeichnenden Begriffe fluz, fliezen, ursprunc u n d , etwas später, giezen, ergiezen (als Substantiv und als Verbum). Es sind damit die göttlichen Ausgänge bezeichnet: emanatio, emanare, resp. processio, procedere. Wir finden dann diese Be-1 griffe und die verschiedensten Ableitungen davon ( ü z f l u z , üzfliezen, üzfliezunge, üzgeflozzenbeit, bzw. entgiezunge, entgozenheit) als eigentliche Leitwörter in der spekulativen Mystik der Dominikaner. Dazu treten - um " Siehe Thomas S. th. I, 39, 8; Bonaventura, Brev. I, 6, 5 und oben Anm. 14. " Die Stelle geht auf Anseimus zurück: 'Liber de fide Trinitatis et de incarnatione Verbi' c. 8 (PL 158, 280). Sie wird in Cod. St. Gallen 1908, im Rahmen einer Predigt über den Evangelisten Johannes (111-118') ausgezeichnet paraphrasiert: ein brunne, der entspringet; von dem brunnen flüsset ein bach, vnd dv zwei sament sich zvsamen, vnd wirt da ein se. Nv nement dv drü zv samene (114'), den brunnen vnd den bach vnd den se, vnd nemen sü mit einem namen, heisens ein rin, so ist der bach weder brunne noch der se, weder der se weder der brunne noch der bach, vnd sint doch allü drü mit ein ander niht wan ein rin. Vnd also zv glicher wise ist es öch in der heiligen driualtikeit: den vater vom himelnch mügen wir betüten bi dem brunnen; wan als der brunne ein vrsprunc ist der zweier wasser, also ist öch der vatter von himelrich ein ewiger vrsprunc, von dem der svsse bach, der ist der liebe sun, eweklich ist gevlossen; vnd der heilig geist, der ist bezeichnet bi dem se, wan reht alse der se vlusset beide von dem brunnen vnd von dem bach, also vlusset der heilic geist ewikhche von dem vater und von dem sun. Vnd alse der brunne niht ist weder der bach noch der se, noch der bach der brunne noch der se: also enist öch der vatter weder der sun noch der heilig geist, noch der sun weder der vater noch der heilic geist, noch der heilig geist weder der vatter noch der sun, vnd sint doch alle drie niht wan ein gotheit. Also öch dv drü wasser zv samene niht wan ein rin ist. Dieselbe Anselmus-Stelle verwendet Marquard von Lindau, Dreifaltigkeitspredigt, St. Gallen, Vadiana 351, 93*
[40/41]
Die trinitarische Spekulation in deutscher Mystik und Scholastik
31
gleich das ganze Begriffsfeld abzustecken - : üzbruch, üzsmelzen, üzblüejen, das besonders von der zweiten Emanation gebraucht wird, natüren; endlich üzganc {üzgangunge), fürganc (fürgangunge): Termini, die vom Thomas- und Hugo-Ubersetzer verwendet werden. - Alle diese Wörter sind lexikographisch als Synonyme zu betrachten; sie weisen jedoch, wenigstens gruppenweise, in ganz verschiedene geistesgeschichtliche Zusammenhänge und differenzieren sich so in der Weite der Begriffsbeziehungen aufs deutlichste. Wir fassen zuerst die beiden wichtigsten Begriffe der ganzen Gruppe, üzfluz und üzganc (einschließlich ihrer Nebenformen), näher ins Auge und stellen sofort fest: Der Thomas-Ubersetzer kennt n u r üzganc (298, 2; 300, 31; 304, 2; 312, 10ff.), üzgangunge (260, 14f.; 262, 2; 312, 8), gelegentlich fürgang(unge) (260, 13; 302, 27), und dieses üzgangunge) (fürgang[unge]) entspricht sachlich und wortbildungsmäßig dem processio seiner Quelle. Der Aquinate braucht nämlich als terminus technicus in seiner ganzen Trinitätslehre nur das mehr statische processio, nicht emanatioM, obschon er so mit seinen Begriffen ins Gedränge kommt, hat doch processio auch noch im besonderen die spiratio passiva zu bezeichnen. Hingegen verwendet der "Metaphysiker der christlichen Mystik"", Bonaventura, mit Vorliebe emanatio (vgl. Brev. I, 3), und diesem emanatio entsprechen (wiederum auch wortbildungsmäßig) üzfluz und Nebenformen. Diese aber sind, wie bereits oben angedeutet, Lieblingswörter der deutschen Mystiker, die anderseits üzganc im Sinne eines innertrinitarischen Vorganges kaum je verwenden*. Dagegen finden wir bei Hugo von Straßburg, der im Schnittpunkt thomistischer und franziskanischer Spekulation steht, processio und emanatio nebeneinander, und sein deutscher Übersetzer gibt in genauer Entsprechung von Fall zu Fall processio mit üzganc (üzgangunge) (Tl, 8", 24" ff.), emanatio mit üzfluz (5vb ff.), üzfliezunge (7V\ 1 l va ) wieder. Diese Scheidung ist außerordentlich deutlich: Thomas-S. th.-Übersetzer: processio-üzganc; Bonaventura-deutsche Mystiker: emanatioüzfluz. Sie entspricht den beiden großen Linien in der Trinitätsspekulation, die einerseits mit den Namen Augustin-Boethius-LombardusThomas, andererseits mit Dionysius Areopagita-Richard v. St. ViktorAlexander v. Hales-Bonaventura charakterisiert sind und die man nicht unrichtig als statische und dynamische Strömung bezeichnet hat37 (wobei allerdings das "statisch" sich erst | auf die in aristotelische Begriffsforemanatio Wird nur gelegentlich im umschreibenden oder dann in einem allgemeinen Sinne (S. th. I, 34, 2, c.; I, 27, 1, c.) verwendet. " J. BONNEFOY, Une Somme bonaventurienne de théologie mystique: Le De triplici via, Paris 1934, S. 25. 3
Br- w> K1] Dv weift nein Y 5 hir B, Z, hy Br] Es W, Er (W), K l , Y 6 vnd fehlt Y 7 formen ftat B, Z, Br, forme (W), K l ] form vnd ftat Y 10 vnbewegit B, N 1\ Be] vmbewegik {vmbewedik) Z, vnwegik
" « in kumeft korrigiert aus o, sieht wie a aus, aber verschieden vom " Darüber ßüt von der Hand Sudermanns. " In dieser Zusammenstellung sind die Abbreviaturen aufgelöst.
a des
Schreibers.
84
Textkritik zum Mystikerlied 'Granum Sinapis'
IV
V VI VII VIII
[176/177]
(vnwewegik) W, u nbewegig K 1, K2, N l b , (Be) ftn B, Z, Br, W] em K l , Y 2 werk B, Z, Br, W, K l ] weg Y 3 vor ftent lichkeit B, Z, Br, W, K l , Be"] verftentiklich K2, N l \ verftentlich N 1\ (Be) 7 vn meyk B, Br, vmmessig Z] vngemeffen W, K l , K 2 , vngemeffertlich N l , Be 9 noch (1) B, Z, Br, W, K l ] weder Y 7 na B, Z] ys nä Br, es nach W, Y, es nahe K l , (Be) 3 vnbenant B, Br, vmbenant Z] vngenant W, K l , Y 2 wirt (2) B, Z, Br, W, K 1 ] vnd Y 5 hör B, Z, Br, W, K 1 ] bor Y 6 la j c i i fehlt Y 3 min icht B, Z, W, K 1, meyn nicht Br] in ein icht Y 5 di... vlut (vult B) B, Z, Br, W, K 1] den ... flus Y
Dieser Zusammenstellung ist Folgendes zu entnehmen: 1. Y charakterisiert sich durch die Lesarten II 1/2/7us/gus, II 9 Dv weift nein, III 6 Schachmat, III 7 form vnd /tat, IV 2 weg, IV 3 verftentiklich, IV 9 weder zit, VI 10 vns fehlt, VII 2 vnd blind, VII 5 bor, VII 6 la 3cit fehlt, VIII 3 in ein icht, VIII 5 den ... flus. Auch II 6 ebenlich darf man dazu nehmen, da diese Form im Kommentar-Text B nur zufälligerweise durch g-Ausfall (ebenglich nochmals 29) entstanden ist und von da nicht weiter tradiert wurde. Von diesen Y-Lesarten darf keine den Anspruch auf Ursprünglichkeit erheben 20 : aus rhythmischen und inneren Gründen, wo die Verderbnis nicht schon auf der H a n d liegt. Die Lesart VIII 3 in ein icht kann man erklären: Mißverständnis aus einer Vorlage mit nhd. Diphthongen (*mein > in ein). 2. K l hat verschiedene Verderbnisse mit Y gemein: I 5 begin (2) fehlt, III 10 ein punct. Für die Hs., aus der K 1 geflossen ist - ich nenne sie *K 1 Y - , gilt aber auch schon II 8 ein wefen: K 1 hat, um einen Reim (mit meift) herzustellen, ein gaift daraus gemacht. In :;"K 1 Y stand ferner II 9 du wa3 nein, d. h. der Schreiber vergaß das wei5. K 1 übernahm es, *Y verbesserte den unverständlichen Text in du weift nein. 3. W läßt sich mit *K 1 Y auf einen Prototyp *W K 1 Y zurückführen: er hat IV 7 vngemef fen, VI 3 vngenant. Weiter hat er III 5 hir durch er (auf reif bezogen), woraus W (aber nicht im Kontext des lat. Kommentars!) Es machte. | ewinclich II 6 scheint der bairische Schreiber mit austauschbarem b/w aus ebinglich mißverstanden zu haben. 4. Aufs engste zusammen gehören B und Z. Sie haben den Fehler V 7,
" Nachträgliche Verbesserung (s. A n m . 15): 20
verftentlich"1.
Schon M. BINDSCHEDLER beurteilte, o h n e einen Einblick in die Filiationsverhältnisse gewonnen
zu haben, richtig "die N ü r n b e r g e r H s . [ N l ]
v e r d e r b t e " (S. 171).
. . . als die am
meisten
[177]
85
Textkritik zum Mystikerlied 'Granum Sirupis'
ausgefallenes zweites us (= ej), gemein. Z könnte sehr wohl unmittelbar von B abgeleitet werden (III 8 wunder aus wender und vlut aus vult waren ohne weiteres richtig zu stellen), doch zwingt das Verhältnis der Kommentartexte, sie beide auf eine gemeinsame Vorlage * B Z zurückzuführen, die dann für das fehlende us in V 7 verantwortlich zu machen ist. 5. Br hat Ursprüngliches mit B und Z bewahrt (III 5 hy [hir B , Z], IV 7 vnmessig, V I 3 vnbenant), ist aber wie keine andere Hs. durch Sonderlesarten ausgezeichnet. Es sind dies einerseits offensichtliche Verderbnisse (III 2 t ü f f e yrschrik, III 3 reif fehlt, IV 5 « / , IV 9 berg, VI I ff. ist, V I I I 2 gang, V I I I 5 Ding, V I I I 6 von myr dyr), anderseits jedoch vom Schreiber, wie es scheint, bewußt vorgenommene Veränderungen:
II 5 heyiger geist für 3«3e geift, VI 7 is flevst für blos", VIII 3/4 meyn
nicht [sink] in gotis icht. Ich denke, daß nicht e i n Schreiber, sei es Br selbst oder ein Vorgänger, für b e i d e Gruppen von Sonderlesarten zu stehen hat; die der zweiten Gruppe dürften jedoch auf e i n e Hand ( * B r ) zurückzuführen sein. 6. Die schwierigste Lesart des Textes steht gleich am Anfang: I 3 ist bzw. wa$ le da3 wort. Das Erstaunliche ist, daß der lat. Kommentator darüber diskutiert, warum der Autor des Liedes ist und nicht wie Johannes, 1,1 (In principio erat verbum) das Präteritum gesetzt habe
(Tertio quaeritur,
quare ponat auctor iste 'ist'
...
M.
BINDSCHEDLER
S . 4 6 , 11-20, BECH S . I I I , 48ff. 2 3 ), daß aber der deutsche Text selbst in allen Kommentarhss. was überliefert. Sicher ist dies: Dem Verfasser des Kommentars lag ein Text mit der Lesart ist zugrunde. Warum aber bieten die Kommentarhss. was im offenen Widerspruch zu den (von der selben Hand kopierten!) Ausführungen des Kommentators? Vielleicht, weil dieser zunächst erklärt, Johannes scheine das B e s s e r e gesetzt zu haben, um dann freilich auch das präsentische ist zu rechtfertigen. Jedenfalls waren durch den Kommentator b e i d e Lesarten theologisch gerechtfertigt, und ein Schreiber konnte sich so legitimiert fühlen, ein vorliegendes ist in was zu verändern". - Die Schreiber entschieden sich | Jl
Mit PIETSCH S. 365 hat sich M. BINDSCHEDLER für diese Lesart entschieden: zu Unrecht, wie QUINT AfdA 65 (1951/52), S. 134 f., überzeugend nachgewiesen hat.
" In W fehlt der betreffende Abschnitt. 2)
M. BINDSCHEDLER, die ebenfalls ist als ursprüngliche Lesart erkennt und in ihren Text einsetzt, meint S. 16, daß die frühe Änderung von ist, der "kühnsten, der am meisten 'eckh artischen' Wendung des Granum sinapis", in was mit Eckharts Verurteilung zusammenhängen könne. Ich denke jedoch nicht, daß die Abschreiber gerade d a r i n den Meister von Hohenheim erkannt haben sollten (von der Gottes Geburt von Ewigkeit zu Ewigkeit ist ja im ganzen Gedicht nicht die Rede): was auffiel, war die Abweichung
vom so lebhaft im Gedicht anklingenden
Johannes-Evangelium-
Anfang. - Zum theologischen Problem des zeitlosen erat konsultiere man Eckharts 'Expositio sancti Evangelii sec. Iohannem' c. 1, n. 8 (Meister Eckhart, Die lat. Werke III, S . 9 ) mit aufschlußreichen Parallelstellen des Herausgebers.
86
Textkritik zum Mystikerlied 'Granum Sinapis'
[178/179]
für die 'Johannes'-Lesart. W i r aber können uns nur für ist als ursprüngliche Lesart entscheiden: sie ist lectio difficilior. Jeder Schreiber konnte übrigens durch den Anklang an Joh, 1,1 ein ist durch was ersetzen, das Umgekehrte darf nur einem gewiegten Theologen zugemutet werden also dem Autor des lateinischen Kommentars! Dieser jedoch bezeugt gerade, daß er das ist vorgefunden hat. Wie erklärt sich nun aber die Lesart ist in Br? Zwei Möglichkeiten bieten sich an: 1. Wir leiten diese Hs. unmittelbar, wenn auch über Zwischenstufen (s.o.), vom Archetypus - er ist identisch mit der Vorlage des Kommentators - ab, denn die Hs., aus der * B Z und * W K 1 Y geflossen sind (*X), hatte bereits das was; 2. unterstellen wir, daß * B r bewußt was seiner Vorlage in ist geändert und damit die Originalfassung wieder hergestellt hat, und zwar auf Grund der Lektüre des lateinischen Kommentars, der ein ist voraussetzt und die präsentische Form trotz Johannes 1,1 gutheißt2'. In diesem Falle ist *Br von ":"X abzuleiten. Ein Entscheid zwischen beiden Möglichkeiten ist kaum zu fällen. 7. Um die Texte der Y-Gruppe, die auch den deutschen Kommentar überliefern", in ihrem Abhängigkeitsverhältnis zu bestimmen, haben wir nicht nur sämtliche, also auch die im Kontext stehenden GedichtLesarten, sondern auch die Kommentartexte selbst herangezogen. Trotzdem ergab sich keine | glatte Lösung. Der Y-Text wird am besten durch K 2 und N l b repräsentiert, während N l a und Be eine ganze Reihe von Sonderlesarten aufweisen. Auf Grund der sprachlichen Verhältnisse sollte man erwarten, daß die 24
Dafür lassen sich Gründe, wenn auch keine mit Stringenz, anführen. Auch die oben angeführten Sonderlesarten von Br, die auf bewußte Änderungen schließen lassen, scheinen unter dem Einfluß der Gedichtinterpretation des Kommentators entstanden zu sein: 1) II 5 heyiger geist für [penodo]
[auctor]
geist: s. M. BINDSCHEDLER S. 60,13 f.: in bac
agit de sancti spiritus ab utroque processione
secunda
und besonders 62, 25 f.:
sed haec omnia sunt in spintu sancto. 'Vluzet der vü' etc. 2) VI 7 is flevst für blos: Da sich b und v graphisch sehr ähnlich sehen, kann zunächst die Verderbnis blos >
vlos
angenommen werden mit anschließender bewußter, aber naheliegender Umsetzung ins Präsens. Doch auch diese Abänderung scheint durch den Kommentar inspiriert zu sein: ens autem
primum
influit
bonitates
suas unico influxu
super omnia
(S. 118, 17ff.), 3)
V I I I 3/4 meyn nicht in gotis icht für min icbt in gotis nicht: s. S. 148, 19 ff.: Non facile
concesserim
secundum
divinum
quodprivationem
superessentialitatem
vel tali nomine pnvationis,
scilicet
tarnen nihil,
innuit, posse vocari. Läßt sich an diesen Stellen wahrschein-
lich machen, daß * B r zugunsten der theologischen Interpretation des Kommentators den ursprünglichen Wortlaut des deutschen Gedichtes abgeändert hat, dann darf man dies auch von der Lesart ist/was 25
annehmen.
Titel und Initium (N 1 ): Dis ift cöclufion
ein andechtige
vn Jlos rede vber die er/ten:-
den anevang
des zeites• fvnder
betrachtüg
vber
In dem beginn• Daz beginn
mer vnd warlicher
in der gotlichen
die vordren bedevtet gepvrt.
acht
hie- nicht
[179/180]
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Textkritik zum Mystikerlied 'Granum Sinapis'
beiden niederalem. Hss. Be und K 2 sich von den Nürnberger Texten abheben: das ist ausgerechnet, nicht der Fall. Be und K 2 liegen am weitesten auseinander, und selbst die der selben Hs. angehörigen, wenn auch nicht vom selben Schreiber kopierten N 1-Texte sperren sich gegen eine unmittelbare Abhängigkeit. Die für die Filiation in erster Linie relevanten Lesarten sind vnbewegig III 10, verftent(ik)licb IV 3 und vngemeffen(lich) IV 7. K2 vnbewegig
Nl1 vnbewegig
Nlb vnbeweget
v'ftetiklich vngemeffen
verftentiklich vngemeffertlich (vngeme f f e n )
v'ftentlich vngemeJJenlich
Be vnbewe*" (vnbewegig) v'ftentlich vngemeflieh (vngemeffen)
Läßt man die N - T e x t e beisammen, wie es der Uberlieferungsstand nahelegt, sieht man sich gezwungen, verftentiklich und verftentlich als Doppellesart (im Gedicht und im Kommentar) für die Vorlage anzunehmen, aus der auch Be geflossen ist ( * N 1 Be). Wir setzen dafür nicht schon an, weil verftentlikeit nicht gleich in einer Hs. zwei verderbte Lesarten produziert haben wird, sondern verftentlich erst aus verftentiklich hervorgegangen sein dürfte 26 . * N 1 Be ist auch zu setzen, weil Be und N l b vngemeffen (aus * W K 1 Y ) im Kommentar erhalten haben: es ist der Text ihrer Vorlage. Da weiter N l b und N l a kaum unabhängig voneinander zu vngemeffenlich gekommen sind, hat N 1 J diese Lesart von N l b wie auch das fehlende selber II 10, das N l b im Kommentar hat, somit in der Vorlage noch vorhanden war. Anderseits müssen wir N T wegen verftentlich aus 1 Be hervorgehen lassen. Diese doppelte Bindung von N l 1 drängt sich jedoch schon aus dem Umstand auf, als a und b zu e i n e m Kodex gebunden wurden. Der N 2 - T e x t , der nur die letzte Strophe überliefert, gibt keine Kriterien zur Einordnung an die Hand. Er kann theoretisch von allen YTexten abgeleitet werden. Ich schließe ihn an * N 1 Be an. Man möchte sagen: In der Analyse der Y - T e x t e manifestiert sich das " E l e n d " der Textkritik, während die X - G r u p p e deren " G l a n z " zu bezeugen vermag. Das folgende Stemma faßt unsere Bemühungen zusammen. Die Hss., die den lat. und dt. Kommentar überliefern, sind mit dem Index K o bzw. d Ko | ausgestattet. Am liebsten hätte ich die Leitvarianten gleich neben die Hss. gesetzt; sie mußten wegen technischer Schwierigkeiten listenhaft gesetzt werden. " Ebenso wahrscheinlich ist verftentlich
> verftentiklich.
Für * Y ist jedoch
verftentik-
lich zu erschließen, weil die beiden Hss., die * Y mit Abstand am besten vertreten, diese Lesart aufweisen.
88
Textkritik zum Mystikerlied ' G r i n u m Sinapis'
Leitvarianten : Archetypus: I 3 *X I 3 'Br I 3 5 II VI 7 VIII 3/4 »BZ V 7 Z* I 10 •WK1Y III 5 IV 7 VI 3 *K 1 Y I 5 *WK1 Y II 8 II 9 III 10
ift •was
*Y
>ft heyiger geif t ts flevft meyn nicht.. icht us (2) fehlt wor er vngemeffen vngenant hegin (2) fehlt ein wefen du was "ein ein puna
1300
»NBe
[181/180]
II 1/2 flus/gus 9 Dv weift nein II 6 ebenlich II III 6 fchachmat 7 form vnd ftat III 2 weg IV IV 3 verftentiklich IV 9 weder zit VI 10 vns fehlt VII 2 vnd blind VII 5 bor VII 6 la jett fehlt VIII 3 in ein icht VIII 5 den.. .flus IV 3 verftentiklich/ verf[entlieh
• O y • Archetypus ^(Ko)
1325 X.
Br
.--glKo)
*BZ(K°>
1350
*WK1 YlK) 1375
1400 7 -27". Auch in einzelhafter Überlieferung, so München, Cgm. 229, R - 9 "
( v o n SOPHRONIUS CLASEN O . F . M . / J U L I U S VAN G U R P O . F . M . C A P . ,
Nachbo-
naventurianische Franziskusquellen in ndld. und dt. Hss. des Mittelalters, A. F. H. 49 [1956], S . 4 5 7 erwähnt, aber nicht bestimmt), Wien, Nova Ser. 3825, 114-125". Auch die Einzelstücke in St. Gallen, Stadtbibl. (Vadiana) 360, 146-149* gehören, wie ich Bonaventura deutsch, S. 241 noch nicht erkannte, dazu. - Die 'Heiligen Leben'-Fassung darf nicht verwechselt werden mit Übertragungen der 'Legenda aurea': in alemannischer Prosa überliefert in München,
Cgm. 6,
171"—173™, Heidelberg, Pal. germ.
144,
148 r b -152 r b , Luzern, Zentr. Bibl. 2° 31, 2 0 9 - 2 1 3 " , St.Gallen, Stiftsbibl.592, S . 2 2 1 - 2 3 6 (alle sog. Elsässer Fassung)" ndld. Fassung u.a. in Brüssel, Kgl. Bibl. 2559/2562, 1 4 8 - 1 5 4 " ; Paris, Nat. Bibl. Suppl. frans- 2947 (allem. 35), 245"-252" b .
126
Geschichte der franziskanischen Mystik
[259/251]
wir diesen Prozeß verfolgen 23 . Diese Tradition der 'Alten Legende' fehlt aber auch im oberdeutschen Sprachraum nicht ganz. Ich habe sie, abgesehen von zerstreuten Einzelstücken, zu einer imponierenden Sammlung vereinigt, in einer Münchener Hs., cgm. 381, aufgefunden24. In annähernd 150 Kapiteln werden hier das 'Speculum perfectionis'", und die 'Actus' ausgeschöpft, aber auch die einzigartige Dreigefährtenlegende 2 ', die sonst nördlich der Alpen kaum eine lateinische Tradition hat. Weitere Zeugnisse vom Wirken der vita mystica des Franziskus in deutschen Landen sind Franziskuspredigten. Sie lassen, wie kaum eine andere Quelle, das Bild des Heiligen fassen, wie es in deutschen Herzen lebte. Die, wenn ich richtig sehe, ältesten, in lateinisch-deutscher Sprachgestalt, stehen in der Hs. 705 der Grazer Universitätsbibliothek aus dem frühen 14. Jahrhundert. Die ersten vier (219rb—223Vi) haben das Textwort Vidi alterum angelum ascendentem ab ortu (Apok. 7, 2), das auch sonst auf Heilige | bezogen wird27, und lassen das Thema des alter Christus, das Petrus Olivi so großartig entwickelt hat28, wenigstens anklingen; die Engelnatur des Franziskus wird aufgezeigt 2 ', sein Dienst auf Erden entsprach den Ämtern der Engel in ihrer himmlischen Hierarchie (220 V1 ), seine Wundmale sind Siegel und Bulle des Herrn, dessen Bote er ist (221"). - Marquard von Lindau führt in einer Predigt zum Franziskustag aus K , wie in Franz das evangelische Leben aufleuchtet, vergleichbar der Lilie, die auf ihre sechs Blätter hin als sechs evangelische Vollkommenheiten ausgelegt wird. Als erste nennt der Prediger die
23
Siehe
Bonaventura
deutsch,
S. 217 ff.
und
CLASEN/JULIUS
V. GURP
(Anm. 22),
S. 4 3 4 - 4 8 2 . "
Darüber, noch mit ungenügenden Kenntnissen, Bonaventura deutsch, S. 247 f., CLASEN/ JULIUS V. GURP, S.457F. Mein zurzeit im Satz befindliches Textbuch zum franziskanischen Schrifttum im deutschen Mittelalter wird die schönsten Stücke daraus bekannt machen. [Zu diesem Textkomplex siehe jetzt RUH, VL -I 847 f. ('Franziskusbuch secundum
Fac
exemplar').]
" PAUL SABATIER/A. G. LITTLE, Le Speculum perfectionis ou Mémoires de frère Léon sur la seconde partie de la vie de Saint François d'Assise (British Society of Franciscan Studies 13, Manchester 1928). 24
"
'Actus' siehe Anm. 4, Dreigefährtenlegende Anm. 3. Auf Augustin in einer Predigt des Jordanus von Quedlinburg (siehe ROBRECHT LIEVENS, J . v. Q . in de Nederlanden, Gent 1958, S. 2 1 6 f . ) , auf Dominikus 2 Predigten Meister Gerards (siehe PH. STRAUCH, Kölner Klosterpredigten des 13. Jahrhunderts, N d . J b . 37 [ 1 9 1 1 ] N r . 31 und 32).
2!
S i e h e BENZ [ A n m . 2 ] , S. 2 0 3 ff.
" er het ouch weder volfuert.
fuit
menschleicher x
Considerate
fleisch
et immortalis svnden
noch gepem vt angelus
er nie erstarp
als der enget, per gratiam
wand
er des fleisches
non per naturam,
(220").
lilia, St. Gallen, Stadtbibl. 351, 1 2 8 ' - 1 2 9 " .
wand
gelitst
nicht
des
todes
[251/252]
G e s c h i c h t e der franziskanischen Mystik
127
freiwillige Armut. 'Selig sind die geistig Armen' übersetzt er treuherzigschlicht im Anschluß an den griechischen Text ((iaxägioi oi J I T Ü J X O C ) : Selig sind die bettlerman (\29"). - Brugman" feiert Franziskus als banierdrager des oversten conincs, als Gegenbild Luzifers in seinem Minnebrand und seiner Demut; er preist die grote godformicbeit ende gelijcheit, die hi hadde met Christo, seinen erleuchteten Verstand, das Erfüllen von Gottes Willen in seinen Werken. - Im Umkreis der Devotio moderna wird Franz vor allem als unerreichtes Exempel der Demut gefeiert: humilis sanctus Franciscus, die oetmoedige Franciscus nennt ihn die Tmitatio Christi'". Des Heiligen simplicitas hebt der Münsterer Fraterherr Johannes Veghe hervor: Want sunte franciscus en was nicht doctor noch en was oick nicht hoghe gheleert, | trotzdem erfaßte er die Heilige Schrift in vollkommener Weise und verstand sie klar und deutlich auszulegen". Ich kann dieses Thema nur andeuten. Es lohnte sich aber wohl der Versuch, das Franziskusbild und dessen Wandlungen in der deutschen Predigt zu verfolgen.
II. Franziskus hat keine mystischen Schriften hinterlasen, nur die Regel, das Testament, Worte der Ermahnungen, Gebete, den Sonnengesang: wenn trotzdem von ihm eine breite mystische Tradition ausgegangen ist, so war dies die Wirkung seines Lebens. Es fand seinen Niederschlag in einer Hagiographie, die, wenn ich recht sehe, in der Geschichte dieser Gattung eine bedeutsame Wendung darstellt". Diese ist charakterisiert: 1. durch die Ausrichtung des 'Lebens' auf einen übergeordneten Sinn: als vita mystica, als imitatio, als conformitas Christi, 2. durch starkes Hervortreten und spezifische Tönung des Seelischen. Die Legende wird zu einer der wichtigsten Quellen der Seelengeschichte. Das steht in einem weiten Zusammenhang, den ich nur andeuten kann: in jenem Aufschwung der menschlichen Seele, die wir im ganzen Abendland seit dem 12. Jahrhundert verfolgen können: in den Skulpturen der gotischen 31
Sermoenen van J a n B r u g m a n O . F. M . , eingeleid en bezorgd door P. GROOTENS S . J . (Studien en tekstuitgaven van O n s Geestelijk E r f 8), Tielt 1948, 22. Pr., S. 2 5 8 - 2 6 4 .
)2
I I I , c. 50.
" Predigten, hg. von FRANZ JOSTES, Halle 1883, S . 4 3 1 , 20 ff. - Wenig bedeutsam ist die Franziskus-Predigt im Heiligenleben von Hermann von Fritslar (FRANZ PFEIFFER, Deutsche M y s t i k e r des H . J a h r h u n d e r t s , Leipzig 1845), S. 213—216. M
Zum T h e m a , auch der folgenden Ausführungen, siehe JULIUS SCHVIETERING, Zur Autorschaft von Seuses Vita i n : Humanismus, Mystik und Kunst in der Welt des Mittelalters, hg. von JOSEF KOCH (Studien und T e x t e zur Geistesgeschichte des Mittelalters 3), Leiden/Köln 1953, S. 1 4 6 - 1 5 8 .
128
Geschichte der franziskanischen Mystik
[252/253/254]
Kathedralen, in den Hoheliedpredigten Bernhards von Clairvaux, in Abaelards, seines Gegenspielers, Briefwechsel mit Heloise, im höfischen Roman seit Chrestien de Troyes, in der lyrischen Kunst der Troubadours und der Minnesänger. Und nun wird auch wieder manifest, was seit Augustin im Schrein des Herzens bewahrt blieb: die persönlich bedingte und formulierte confessio. | Die deutsche Geisteswissenschaft weiß um den hervorragenden Anteil, den die deutsche Mystik in der Geschichte der biographischen Confessionen hat: Mechthilds von Magdeburg 'Buch vom fließenden Licht der Gottheit', Seuses 'Vita', Heinrichs von Nördlingen Briefe. Aber diese neue Sprachwerdung der Innerlichkeit ist nicht nur ein deutsches Phänomen, auch wenn sie, besonders bei Mechthild, ihre ganz besonderen Formen hervorgebracht hat. Sie findet ihre umfassenden Entsprechungen im italienischen Franziskanertum des 13. und H.Jahrhunderts - das bringt einem die schöne und umfassende Textsammlung von A R R I G O L E V A S T I , Mistici del duecento e del trecento (Milano-Roma 1935) zum Bewußtsein - , mehr: sie steht damit in unmittelbaren Zusammenhängen. Dies gilt vorab für Seuses 'Vita'. Sie bezeugt unbezweifelbar den Einfluß der Franziskuslegenden. Wenn diese Beziehung in der Seuse-Literatur noch nicht beachtet worden ist, so wohl deshalb nicht, weil Franziskus und Heinrich Seuse nicht nur verschiedenen Orden und Kulturkreisen angehören, sondern nach ihrer religiösen und seelischen Artung kaum zu vergleichen sind. Allein es geht hier nicht um eine Verwandtschaft der Individualitäten, sondern um das Gemeinsame ihrer Formung in den Viten. Die umstrittene Echtheitsfrage ist dabei belanglos. Sie ist in der Alternative: "Selbstzeugnis Seuses" oder "legendäre Verherrlichung eines Dritten", "Confessio" oder "Legende" ohnehin falsch gestellt". Denn die 'Vita', wie wir sie lesen, ist unbezweifelbar beides: sie ist Bekenntnis, aber gestaltet mit den Stilformen der Legende - und des höfischen Romans. Diese Typisierung oder Stilisierung kann von einem Dritten, aber auch von Seuse selber erfolgt sein. Das letzte legen Vergleiche mit Ulrichs von Lichtenstein 'Frauendienst' und Dantes 'Vita nuova' nahe. Das sind vom Dichter selbst geformte Viten, überhöht nach dem Vorbild des Artusromans bzw. nach dem Typus der provenzalischen Trovadors-Vidas. Was verknüpft Seuses 'Vita' mit der Franziskus-Hagiographie? Im allgemeinen: Die Deutung des Lebens als vita mystica unter dem Leitgedanken der imitatio bzw. der conformitas. Aber das Besondere ist entscheidend. Ich sehe es in den folgenden Parallelen: | 1. Franziskus vermählte sich im Sinne der deutenden Legende mit Frau Armut, Seuse mit der ewigen Weisheit. Der Eintritt in diegemahelschaft ist der, man möchte sagen, formale Beginn des geistlichen Lebens. "
SCHWIETERING [ A n m . 3 4 ] , S. 146.
[254/255]
Geschichte der franziskanischen M y s t i k
129
Franz schloß seinen Bund mit der Madonna Povertà, indem er auf Gut, soziale Stellung und Ehre verzichtete; Seuse hört den ersten Anruf der ewigen Weisheit, seines herzen keisrin (15, 17)* zu Beginn seines anvahenden lebens: Gib mir din herz, kind minsi (14, 23). Fortan ist er der Diener der ewigen Weisheit. 2. Siegel der unauflöslichen Gemeinschaft mit Christus sind die Wundmale, die Franz auf dem Alverna empfing. Seuse gräbt sich als ewiges minnezeichen den Namen 'Jesus' (JHS) in seine Brust ein, und er trägt ihn, wie Franziskus seine Stigmata, in der heinliche, daz in nie kein mensch gesah (16, 29). Wie verschieden immer die religiöse Wertung dieses 'Zeichens' sein mag - Franziskus empfing die Wundmale als ultimo sigillo in einem excessus mentis, Seuse prägt sich die Buchstaben J H S selber ein - : der hagiographische Sinn bleibt derselbe: die conformitas bzw. imitatio bedarf eines Siegels"'. 3. Das Thema der geistlichen Ritterschaft. Daß der Jüngling Franziskus von ritterlichem Ruhm und ritterlichen Taten träumte, erzählen alle Biographen. Im Traume fand er sich einst im Magazin seines Vaters, nun aber angefüllt mit strahlenden Schilden, mit Spießen, Schwertern und Harnischen, und eine Stimme ward ihm zuteil, daß "dies alles ihm und seinen Kriegern gehören solle". Erst auf dem Wege nach Apulien, wo er sich ritterlichen Ruhm zu holen gedachte, erfährt er in einem neuen Traumgesicht den wahren Sinn jenes Traumes: Gott wollte seine geistliche Ritterschaft. Er kehrt nach Assisi zurück und wartet auf den Aufruf zum "Kriegsdienst Christi" 37 . | Seuse erhält sein Aufgebot zur geistlichen Ritterschaft nach einer langen Vorbereitungszeit im Zeichen unerhört schwerer Askese. Ein Jüngling bringt ihm hübsche Ritterschuhe und ritterliche Kleider und spricht: bis riter! Du bist unz her kneht gesin, und got wil, daz du nu riter siest (55, 25 f.). - Daß diese Ritterschaft Beharrlichkeit im Leiden bis zum Ende bedeutet, wird ihm später in der Begegnung mit einem höfisch gekleideten Knappen, der sich aventürer nennt, auf einem Bodenseeschiff bewußt. Von diesem erfährt er, wie der Turnierreiter als Lohn einen goldenen Ring von der Hand der schönsten Frau erhalte; der Sieger aber sei nicht der, der beim ersten Anritt zu glänzen verstehe, nein, er muss den turnei us und us herten, und wurdi er geschlagen, daz im daz für zu den ogen us wüste und im das blut ze mund und nasen us brechi, daz muss er alles liden, sol er daz lob gewünnen (149, 22 ff.). * Zitiert nach H e i n r i c h Seuse, Deutsche Schriften, hg. von KARL BIHLMEYER, Stuttgart 1907. Vgl. auch die Brustspange, die die Braut H a d e w i j c h als Siegel göttlicher Einigkeit trägt: Vision X I I , 143 ff. C e l a n o , Vita p r i m a c. II, n. 5; Vita secunda c. 2, n. 6; Bonaventura, Legenda m a i o r c. 1, n. 3.
130
Geschichte der franziskanischen Mystik
[255/256]
Arebeit, N o t , Plage, Leiden erdulden, das ist der eigentliche Auftrag jeder Ritterschaft, der Inhalt weltlicher und geistlicher aventiure (Seuse spricht ausdrücklich von 'götlich künftig aventüre' 48, 26). Der Ritter erleidet diese arebeit nicht nur, er sucht sie auf. Die schwerste und höchste arebeit des geistlichen Ritters aber ist das Erdulden von Schmach und Niedrigkeit, ja er stellt seine Ehre im Dienste des göttlichen Herrn hintan. Das scheint weniger Analogie als Umkehrung zum weltlichen Rittertum zu sein: wenn wir jedoch an das Karrenabenteuer Lancelots" erinnern, haben wir die genaue Parallele. Lancelot zögert keinen Augenblick, den ehrlosen Karren des Zwergs zu besteigen, wenn es um die Ehre und das Leben der Königin geht. Er wird "stinkender Ritter" gescholten, ja mit Erdschollen beworfen wie ein Dieb auf dem Weg zum Galgen. Ahnliches gilt von Tristan, besonders in der Episode 'Tristan der Narr' 3 '. So war - wie wir schon wissen - der entscheidende Schritt des Franziskus zur Knechtschaft Gottes die Schmach völliger Nacktheit. Auf der apostolischen Wanderschaft erduldet er mit seinen Ge-1 fährten den Spott und die Härte der Menschen. Knaben werfen Steine nach ihnen, Erwachsene lachen über die Narren und treiben sie mit Scheltworten von den Türen" 0 . Die eindruckvollste Kristallisation schmachvollen Leidens, das im Sinne der Gottesknechtschaft "vollkommene Freude" ist, finden wir aber in einem berühmten 'Fioretto', das ein Gespräch mit Bruder Leo festhält: "Wenn wir, ganz durchnäßt vom Regen und von der Kälte durchschauert, von Straßenkot schmutzig und von Hunger gepeinigt, nach Santa Maria degli Angeli kommen, und wenn wir dann an der Pforte läuten und der Pförtner käme und spräche: 'Wer seid ihr?', und wenn er auf unser W o r t : 'Wir sind zwei deiner Brüder', uns anführe und spräche: 'Was? Zwei Landstreicher seid ihr und streift in der Welt herum und nehmt den Armen ihre Almosen weg!' — und er würde uns nicht aufmachen, sondern ließe uns stehen in Schnee, Wasser, Frost und Hunger bis in die Nacht hinein", und so ein zweites Mal. " U n d gesetzt, wir würden bei so übler Behandlung, mit hungrigem Magen, in der schmerzenden Kälte, mit Rücksicht auf den Einbruch der Nacht noch einmal klopfen und inständig unter Tränen bitten und rufen, man möchte uns doch auftun - und jener geriete in Wut und schriee: 'Die frechen Burschen, die unverschämten Kerle! Ich will euch heimleuchten!' und nun käme er mit dem Knüppel und packte uns an der Kapuze und schlüge uns, daß wir nur so in Dreck und Schnee herumtaumelten, und versetzte uns Streich über Streich - dann, wenn wir all die M
Crestien,
Roman
de la C h a r r e t t e , V . 3 4 5 f f . ; [ P r o s a - ] L a n c e l o t ,
hg. von
REINHOLD
KLUGE ( D T M 42), S. 6 0 4 , 11 ff. "
T r i s t a n als N a r r : Eilhart V . 8718 ff. und die beiden Fassungen Folie Tristan.
*
D r e i g e f ä h r t e n l e g e n d e [ A n m . 3], c . X .
[256/257]
Geschichte der franziskanischen Mystik
131
Unbill und Kränkung und Schläge mit Freuden trügen, im Gedanken, daß wir die Peinen Christi, des Hochgebenedeiten, mit aller Geduld ertragen und auf uns nehmen sollen: o Bruder Leo, . . . das ist die vollkommene Freude."" Seuse erfährt in seiner Weise die Schmach der Welt. Er wird des Diebstahls der wächsernen Ex-voto-Bilder in einer Kapelle beschuldigt (66, 3 ff.), des Betrugs mit einem blutenden Kruzifix (67, 5 ff.), der Ketzerei (68, 17ff.); in der Pestzeit wird er als angeblicher Brunnenvergifter verfolgt. Einmal brachte ein böses | Weib ihr uneheliches Kind zur Klosterpforte mit der Behauptung, Seuse sei dessen Vater (119, 1 ff.). In diesem ungehür weter dez Uderts (130, 1 f.) erfährt er die Wahrheit jenes Bildes, das ihm zu Beginn seiner 'Ritterschaft' beschieden war. Auf eine Stimme hin tu uf der celle venster, und lug und lern! (58, 5 ff.), hatte er im Kreuzgang einen Hund erblickt, der mit wunderlichen Gebärden ein zerschlissenes Fußtuch aufwarf und wieder schnappte, fallen ließ und wieder erfaßte, durchlöcherte und zerfetzte. Seuse erkannte: reht also
wirst du in diner bruder munde (58, 10 f.).
4. In den Franzikuslegenden wie in Seuses 'Vita' finden wir erstmals in der Geschichte der Hagiographie unverwechselbare, individuell gesehene, farbige und plastische Umwelt an Stelle des Goldgrundes der alten Legende. Die Städte Umbriens mit ihren Gassen, Plätzen, ihrer N o b i litä, ihren Bürgern, Bauern und Bettlern, das Land mit seinen Weinbergen, Olivengärten, seinen heißen, staubigen Straßen, die Einsamkeit des Monte Casale, wo Franziskus die drei Räuber bekehrte, die Christnacht im Walde von Greccio, die beschauliche Stille der Klausen von Forano (bei Ancona) und von Fönte C o l o m b o (bei Rieti): dies alles ist lebendige, atmende Folie der Franziskusgeschichte. Oder gar die großartige Szenerie des Alverna-Gebirges: greifbar nahe ist dem Leser des Franziskus Zelle auf der Felsenkanzel der Südseite, wir sehen die Felsen klaffen, die schwindligen Abgründe, wir hören den morgendlichen Schrei des Falken, der Franziskus zum Gebete mahnt, wir hören die dürren Zweige rascheln, wenn Bruder Leo sich der Klause naht. Die 'Vita' des deutschen Dominikaners Heinrich Seuse hat entsprechende Elemente einer sensiblen Umweltzeichnung. Wir blicken mit dem Diener der ewigen Weisheit aus der Zelle in den Innenhof des Inselklosters zu Konstanz, auf die strömenden Wasser des Rheines, wir begleiten ihn auf der Fahrt über den Bodensee, ein andermal im überschwemmten Elsaß. Ein Aufruhr der erregten Bevölkerung eines D o r fes, wo Seuse mit einem zweifelhaften Begleiter Herberge nimmt, die Erscheinung eines ungehüren geburs mit einem ruzzigen schoppen, der Weg mit einem zugleich beichtenden und drohenden Mörder auf schma"
Fioretti c. V I I I , ' A c t u s ' c. V I I ; zit. nach der Übersetzung von O . KARRER [ A n m . 3 ] , S. 362 f.
132
Geschichte der franziskanischen Mystik
[257/258/259]
lern Waldespfade: diese Züge heben sich scharf ab von der Konvention legendärer Szenenfolgen. | Die Wirkung der vita mystica des Franz von Assisi ließe sich an andern Beispielen nachweisen: etwa in den 'Revelationes' der Gertrud von Helfta 42 , die die Wundmale Christi innerlich empfindet, oder in der Lebensgeschichte der seligen Liutgart von Wittichen", die durch göttliche Stimmen zum Bau eines Klosters in wilder Schwarzwaldeinsamkeit aufgefordert wird. Eine eigentliche mystische Bewegung freilich konnte die FranziskusHagiographie nicht begründen, so sehr das Leben des Heiligen als Licht zu leuchten, als Fackel zu zünden vermochte: dazu war es zu einmalig und damit unwiederholbar. Erst die Umformung der gelebten Mystik des Heiligen in Meditation, in 'Lehre', in theologia mystica schuf Tradition in die Breite und in die Weite und - im Rahmen dieser Tradition - mystisches Leben. Es ist der Prozeß dieser Umformung, den wir im folgenden Abschnitt zu skizzieren haben.
III. Geschichtlich ist er zuerst faßbar im Weg von Franz zu seinem Orden. Das ist, zeitlich gesehen, ein außerordentlich kurzer Weg, ein Schritt nur, aber ein Schritt, der in eine andere Bahn überleitete. Das ergibt sich schon aus einem Vergleich der sog. 'ersten Regel' v . J . 1210 mit der 'Regula bullata' (der päpstlichen Bulle 'Solet annuere') v . J . 1223". In unserm Zusammenhang aber ist der Schritt von Franziskus zum Orden am schönsten aus der Tatsache heraus zu verstehen, daß der Orden gelehrte Studien in sein Programm aufnahm. Das geschah bekanntlich schon zu Lebzeiten des hl. Franz - gegen seinen innersten Willen, wie wir nicht nur aus dem Munde Bruder Leos und der (der franziskanischen Geschichtsschreibung suspekten) Spiritualen, sondern unmißverständlich aus | dem Geiste des Testaments des Stifters' 5 wissen. Zwischen 1219 und 1224 entstanden die Ordenschulen von Paris, Bologna und Oxford, 1230 erhält Deutschland sein erstes Studium generale in Magdeburg. Wenig mehr als 20 Jahre, nachdem Franziskus mit Bruder Bernhard von Quintavalle auf das Evangelium geschworen hatte, 1231, war ein Fran-
42
Siehe WILLIBORD LAMPEN O . F . M., D e spiritu S. Francisci in operibus S. Gertrudis Magnae, A . F . H . 19 (1926), S. 7 3 2 - 7 5 2 .
45
Vita des Pfr. Berthold von Bombach, hg. von F . J . MONE, Quellensammlung der
44
Seraphicae legislationis textus originales, Quaracchi 1897, S. 3 5 - 4 7 .
45
Opuscula [ A n m . 6], S. 7 7 - 8 2 .
Badischen Landesgeschichte 3 (Karlsruhe 1863), S. 4 3 8 - 4 6 8 .
[259/260]
133
Geschichte der franziskanischen Mystik
ziskaner, Alexander von Haies, Magister regens der Universität Paris. Ihm folgte 1248 Bonaventura von Bagnorea. Es ist klar, was der Schritt zur Wissenschaft für den Orden bedeutete: Wenn nicht eine Abkehr oder gar eine Verleugnung der Ideale des Stifters, so doch deren Umformung. Weiter: die Begründung einer Tradition, einer Ordenstheologie. Diese hat wohl die mächtigen religiösen Impulse des hl. Franziskus in sich aufgenommen, sie trat aber zugleich in die bestehenden Traditionen ein, in die großen Traditionen des christlichen Denkens: des Augustinismus, des christlichen Neuplatonismus, der beginnenden Scholastik. Das gilt für das franziskanische Denken schlechthin, es gilt im besonderen für die franziskanische Mystik. Die so genuinen, unverwechselbaren Formen der vita mystica des hl. Franz verbinden sich mit der Askese, der Meditation, der Gebetspraxis der Zisterzienser, der theologia mystica des Pseudo Dionysius Areopagita, der Stufenmystik der Viktoriner. Das Franziskanische konnte dabei diese mystischen Traditionen neu formen und beleben, aber auch in ihnen untergehen, im großen Strom verschwemmen. Beides läßt sich schon in der Frühzeit beobachten. Für diese Möglichkeiten je ein Beispiel. Zu den ersten Gefährten des Heiligen gehört Bruder Aegidius von Assisi. Sein Meister hat ihn, nach der Überlieferung des 'Speculum perfectionis', als einen Menschen bezeichnet, "dessen Gemüt in der Beschauung erhoben war bis zur höchsten Vollendung" 4 *, und dies bestätigt Bonaventura: quamquam esset idiota et simplex, ad excelsae contemplationis sublimatus est verticem". Von Aegidius sind nun einige schlichte W o r t e über mystisches Leben über-1 liefert, handelnd von den sieben Graden der Beschauung: In contemplatione sunt Septem gradus:
Ignis, unctio, ecstasis, contemplatio,
gustus, requies, gloria. Es folgt eine
kurze Erläuterung". - Es ist dies der einzige Ansatz der ersten Franziskaner-Generation zu einer theologia mystica, ein Ansatz, der uns gerade in seiner Anspruchslosigkeit die grundsätzliche Schriftferne der ersten Franziskaner bestätigt, die alle idiotae et simplices waren. Die Grade der contemplatio des Aegidius aber konnten tradiert, weiterentwickelt werden. In der Tat ist dies der Fall. Bonaventura verwendet sie in seinem Lukaskommentar, Giovanni della Verna und Iacopone da Todi haben sie abgewandelt". Bedeutsamer ist jedoch, daß sie Thomas Gallus (Vercel*
S p e c u l u m p e r f e c t i o n i s [ A n m . 2 5 ] c. 85.
"
L e g e n d a m a i o r c. I I I , n. 4 ; ähnlich C e l a n o , Vita prima n. 25.
4!
D i c t a Beati Aegidii Assisiensis ed. a P P . C o l l e g i i S. B o n a v e n t u r a e ( B i b l i o t h e c a franciscana ascética medii aevi I I I ) , 2 Q u a r a c c h i 1 9 3 9 , S. 4 8 - 5 0 .
4
' B o n a v e n t u r a , C o m m e n t a r i u s in L u c a m c. 9, n. 48 ( O p e r a o m n i a ,
Quaracchi-Edition
V I I , S . 2 3 1 ) ; G i o v a n n i della V e r n a , I gradi dell'anima, Mistici del d u e c e n t o e del t r e c e n t o a c u r a di ARRIGO LEVASTI, M i l a n o / R o m a
1 9 3 5 , S. 2 6 9 ; I a c o p o n e da T o d i ,
t r a t t a t o e detti a c u r a di FRANCA AGENO, F i r e n z e 1 9 5 3 , D e t t i I I I , S . 4 1 6 .
Laudi,
134
Geschichte der franziskanischen Mystik
[260/261]
lensis), und zwar schon zu Lebzeiten des Aegidius, mutmaßlich zu Beginn der 40er Jahre, zu einem mystischen Traktat ausbaut: 'De Septem gradibus contemplationis' 5 5 . Der Autor, regulierter Augustiner-Chorherr und großer Freund des jungen Ordens, steht nun kräftig in der Tradition der Mystik des Pseudo-Dionysius Areopagita (den er kommentiert hat) und der Viktoriner Hugo und Richard. Und er gehört weiter zu den Hohe-Lied-Kommentatoren und stellt sich mit dieser Auslegung in die Linie der Zisterzienser Bernhard und Wilhelm von St. Thierry 5 '. Ein imponierender Gelehrter, dessen Einfluß auf die | deutsche Mystik übrigens hoch anzuschlagen ist. Thomas Gallus hat nun die sieben Grade des Aegidius völlig mit den Traditionen verschmolzen, in denen er als Theologe stand. Die Seele bewegt sich, indem sie von Stufe zu Stufe steigt, zur höchsten visio, die nur Paulus im raptus beschieden war. Der Weg selber aber ist hierarchisch zu verstehen: ein Grad setzt den andern voraus. Das ist dionysische Tradition. Dazu tritt die Bildsprache des Hohen Liedes. Was von Aegidius zurückgeblieben ist, ist einzig das Schema. - Die Tradition läßt sich noch weiter verfolgen. Der Traktat des Vercellensis wird zu Beginn des 15. Jahrhunderts im R o o klooster bei Brüssel in kunstvolle lateinische Verse, die 'Theoria metrica' umgedichtet". E r findet aber auch, wie die ursprünglichen Worte des Aegidius", den Weg in die Volkssprache: Im 14. Jh. wurden die 'Septem gradus contemplationis' ins Alemannische übertragen, daneben existiert noch eine freie, ebenfalls alemannische Paraphrase". - Dies ist ein Beispiel, wie ein franziskanischer Keimling in der Erde außerfranziskanischer Traditionen sich zu einer Pflanze entwickelte, deren Herkunft kaum mehr erkennbar ist. Gegenbeispiel ist die Mystik Bonaventuras. Sie ist das schönste Zeugnis einer vom Geiste des Franziskus inspirierten und erneuerten Mystik. 50
Unter den Opera omnia Bonaventurae (PELTIER, Paris, s. Anm. 10) X I I , S. 183-186. Z u r V e r f a s s e r s c h a f t s f r a g e : D O M J . HUIJBEN O . S . B ,
in O G E
1 (1927), S . 4 0 5 f f . ;
Frage der verschiedenen Fassungen: Opera omnia S. Bonaventurae (Quar.)
zur
VIII,
S.CXIV. 51
Siehe HELMUT RIEDLINGER, Die Makellosigkeit der Kirche in den lateinischen H o h e liedkommentaren des Mittelalters (Beitr. z. Gesch. d. Philos. u. Theol. d. Mittelalters 3 8 / 3 ) , M ü n s t e r / W e s t f . 1 9 5 8 , S . 3 1 1 ff.
" DOM. J . HUIJBEN O . S. B . , Theoria metrica. Een latijnsch dichtwerk over de contemplatie, O G E 53
1 ( 1 9 2 7 ) , S. 3 9 6 - - Ì 2 8 ( m i t T e x t a u s g a b e ) .
Den sehr verbreiteten 'Güldenen woerden die broeder Egidius ghesproeken heeft' fehlt ' D e c o n t e m p l a t i o n e ' ( s i e h e P . BONAVENTURA K R U I T » AGEN O . F . M . , D e
middelneder-
landsche handschriften over het leven van Sint Francisus en zijn eerste gczellen. D e K a t h o l i e k 1 2 8 [ 1 9 0 5 ] , S . 1 6 3 ) . M h d . in C g m . 3 8 ! , 2 2 4 - 2 2 5 ' . 54
Siehe Bonaventura deutsch, S . 2 8 1 - 2 8 3 ; die Paraphrase auch in Fribourg, Min. Kloster C o d . 95, 148 - 1 5 0 ' . - Ich werde die Übersetzung wie auch diejenige von Aegidius ' D e contemplatione' im oben (Anm. 24) erwähnten Textbuch veröffentlichen.
[262/262/263]
G e s c h i c h t e der f r a n z i s k a n i s c h e n M y s t i k
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Ihre Summe, das 'Itinerarium mentis in D e u m ' " , bleibt die großartigste mystische Spekulation, die das Mittelalter vor Meister Eckhart hervorgebracht hat. Sie hat ihre theologischen Voraussetzungen wiederum in der mystischen Theologie des Areopagiten, | weiter im Denken Augustins, Bernhards und der Viktoriner; ihr Keim, ihr innerster Nerv, ihr Atem aber ist franziskanisch. D e r Doctor seraphicus berichtet im Vorwort, daß er, der siebente Nachfolger im Generalvikariat der Brüder, per omnia indignus, nach dem Beispiel des seligen Vaters Franziskus an dessen 33. Todestage, also am 3. O k t o b e r 1259, auf den Alvernerberg gestiegen sei; und dort fiel ihm das Wunder ins Gemüt, das der hl. Vater an diesem O r t erlebt hatte, die Erscheinung des geflügelten Seraphs. Da wurde es licht in seinen Gedanken: die Ekstase des Franziskus tritt ihm nahe als sechs mystische Schauungen, entsprechend den sechs Flügeln des Seraphs, sechs Erleuchtungen, "die mit den Geschöpfen beginnen und bis zu G o t t hinführen, zu dem man mit Fug und Recht nur durch den Gekreuzigten Eintritt hat" (n. 3). Bonaventura ist sich voll bewußt, daß er zwar dem Beispiel des seligen Vaters ( e x e m p l o beatissimi patris) folgt, aber in anderer Weise: jener in der Ekstase, er in der speculatio, d. i. auf dem Wege des Denkens. Das geht aus dem 'Hexaemeron' 5 * hervor, wo er sich und allen seinen Ordensbrüdern eine andere Stufe als dem hl. Franziskus zuweist: die Franziskaner stellt er zu den speculativi, Franziskus zu den ecstatici, und diese repräsentieren die höchste Stufe der Vollendeten. Bonaventura hält die vita ecstatica für eine Ausnahmeerscheinung, nur möglich unter besonderer Gnade. Der Orden, den Franziskus in seinem Leben und in seinem Denken vertrat, ist erst möglich, wenn Christus zum zweiten Mal erscheinen wird, Franziskus sollte ihn der Welt andeuten: er wird so zur 'Figur' künftiger Erscheinungen. Bonaventura weiß also um die grundsätzliche Kluft, die zwischen dem Stifter und dem Orden besteht (zu vergleichen mit der Kluft zwischen Christus und seiner Kirche) - um so erstaunlicher die Bemühungen vieler (nicht aller!) franziskanischer Forscher, etwa in der Armutsfrage oder der Frage der wissenschaftlichen Studien einen consensus zwischen dem Stifter und der Ordenswirklichkeit herstellen zu wollen". | Bonaventura bewältigt also im 'Itinerarium' spekulativ, was Franziskus in der Ekstase beschieden war.
-5 O p e r a o m n i a ( Q u a r . ) V , S. 2 9 3 - 3 1 6 ; T r i a o p u s c u l a 4 , Q u a r a c c h i 1 9 2 5 , S. 2 8 9 - 3 4 8 . Z u m F o l g e n d e n : ST. GILSON [ A n m . 16], S. l l O f f . 54 57
Opera omnia (Quar.) V, S . 4 4 0 f . HILARIN FELDER, G e s c h i c h t e der wissenschaftlichen Studien im F r a n z i s k a n e r o r d e n u m die M i t t e des 13. J a h r h u n d e r t s , F r e i b u r g i. B r . 1 9 0 4 .
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Geschichte der franziskanischen Mystik
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Der Aufstieg der Seele zu Gott in der Darstellung Bonaventuras ist eine Hierarchisierung der Seele, die jene Leiter wieder herstellt, die durch Adam zerbrochen wurde (c. IV, n. 2). Wenn Bonaventura diesen Weg, diese Rückkehr zur Gotteskindschaft, ein 'Itinerarium' nennt, so weiß er sich auch darin Franziskus verpflichtet. Indem sich dieser von der cupiditas, dem Wollen für sich, vom Besitz loslöste, wurde er zum Fremdling dieser Erde, sein Pilgerweg auf dieser Welt eine Wanderung zu Gott. Man denkt hier auch an die ergreifend-schlichte Geschichte des Bruders Giovanni dalla Penna, dem schon als Kind in einer Vision verkündet wurde, daß er eine "große Reise" vor sich hätte, an deren Ende er mit Christus vereinigt werden sollte, und wie er dann in echt franziskanischer Einfalt jede ihm auferlegte Reise im Dienste des Ordens als die vorausgesagte große Reise betrachtet 58 . Das 'Itinerarium' knüpft in seinem Stufenbau an die Mystik des Pseudo-Dionysius Areopagita und der Viktoriner an, ist aber durchdrungen von franziskanischem Geiste. Als erstes wendet sich die erleuchtete Seele dem Sinnenfälligen zu: Sie sucht und findet Gott in den Spuren (vestigia) der geschaffenen Welt, sie liest im Buch der Schöpfung. Augustinischer Gedanke, franziskanisches Grunderlebnis. Die Welt im Blick des Armen hört eben auf, Schauplatz des Teufels zu sein, sie kann zur Zeichensprache Gottes werden. Wenn der erblindete Franziskus Gott durch Sonne und Mond, Wind und Wasser, Feuer und Erde und deren "Früchten mit farbigen Blumen und Gras" gepriesen hatte, so folgt Bonaventura dem Verzückten auf dem Wege der speculatio: die Kreaturen sind Zeichenträger für das Unsichtbare in Gott. - Am innigsten aber tritt das Franziskanische in der Schlußbetrachtung hervor: De excessu mentali et mystico. Wie ist Ekstase möglich? Sie ist möglich, weil sich Christus als Mittler zwischen Gott und den Menschen gestellt hat mediator Dei et hominum (VII, 1) - , als Unterpfand einer Vereinigung der göttlichen Natur mit der menschlichen. M.a. W. die hypostatische Union ist Garant der unio mystica in excessu mentis. Das ist der | Sinn der Serapherscheinung des hl. Franz, der mystischen Kreuzigung auf dem Alverna. Bonaventura ist durch Franziskus zu einer christlichen Mystik gelangt, in der Christus nicht nur Weg und Pforte ist, sondern die Vollendung. Christus steht am Ende der via mystica, dort wo speculatio aufhört und die Ekstase beginnt. Es ist diese christologische Ausrichtung das eigentliche Signum der Mystik Bonaventuras - sie unterscheidet sich darin fundamental von der eckhartschen ontologisch begründeten Mystik und dieses Signum ist im genuinsten Sinne franziskanisch. Und so dürfen wir die spekulative Mystik des Bonaventura als eine
" Fioretti c. 45.
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wahrhaftige Vermählung des Geistes des Franziskus mit der mystischen Tradition verstehen. Unter den deutschsprachigen Mystikern war es in erster Linie Ruusbroec, der Bonaventura auf diesem Wege gefolgt ist. E r teilt mit ihm den konsequenten christologischen Aspekt seiner speculatio; auch nach ihm ist das gottschauende Leben Teilhabe an der hypostatischen Union Christi: die conformitas mit der Menschheit Christi wird im Gnadenstrahl der göttlichen sapientia zur "Einheit" unseres Wesens in seiner Gottheit". Mit dem Bezug auf die franziskanische Mystik Bonaventuras stellen wir Ruusbroec freilich in einen ungewohnten Zusammenhang, wird doch der Weise von Groenendaal, von der deutschen Forschung zumal, immer noch einseitig in der Nachfolge der deutschen Dominikanermystik gesehen. Es läßt sich aber nicht nur der strukturelle und geistige Einklang mit der mystischen Theologie des D o c t o r seraphicus aufzeigen, auch literarische Zusammenhänge mit dem Franziskanertum sind nachzuweisen. Das Kapitel "Christus als Vorbild" im 'Brulocht' nimmt die franziskanische Kritik an der bestehenden Kirche auf und erwägt im Blick auf Franziskus das Wesen der Stigmatisierung"; in den 'Seven sloten' preist er das Vorbild | des Franziskus und legt die siebenfältige Klausur der hl. Klara von Assisi aus"". Bonaventuras 'Itinerarium' leitete auch Seuse in seinen spekulativen Bemühungen, genauer: Wir können in den spekulativen Teilen seines Werkes eine Wendung von Meister Eckhart zu Bonaventura beobachten. Seuses 'Büchlein der Wahrheit', verfaßt nach seinem Studium in Köln, wo er Meister Eckhart hörte, war ein Versuch, Eckharts Spekulation von den Irrlehren der Begarden und Brüder des freien Geistes abzugrenzen; eine Verteidigung des Meisters und zugleich eine Distanzierung. Dieser Widerspruch geht jedoch tiefer: Es ist der Widerspruch eines religiösen Orthodoxen und Praktikers zu der intellektuellen Hochgespanntheit der Eckhartschen Spekulation. Diese stellte die vernünftecheit über den 'Willen' und damit über die Caritas, die speculatio über die unctio, die ontologische Metaphysik über die Christologie. Seuses Natur, bestimmt durch sein minneriches herz (11, 27), gehörte jedoch der praktischen Mystik, der Askese, der Seelsorge, der Gotteserfahrung (cognitio Dei experimentalis), auch wenn ihm spekulative Aufschwünge zuzeiten ein Bedürfnis sein mochten. Diese vor allem an " Siehe zum Thema: A. AMPE S. J . , De mystieke leer van Ruusbroec over den zieleopgang (Studien en tekstuitgaven van Ons Geestelijk Erf 13), Antwerpen 1957, S . 3 1 5 f f . ; dazu RUH, AfdA 71 (1958/59), S. 184-186. " Werken naar het standaardhandschrift van Groenendaal, uitgegeven door het Ruusbroec-Genootschap te Antwerpen, I (Antwerpen M944), S. 189ff., bes. 193. " Werken, III (M947), S . 8 3 und 101 ff.
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Bernhard orientierte Mystik fand ihren Niederschlag im viel gelesenen 'Büchlein der ewigen Weisheit' und im größern Teil der 'Vita'. Eine Rückkehr zur Spekulation wurde erst wieder möglich durch die Begegnung mit dem 'Itinerarium' Bonaventuras. Es enthält jene organische Verbindung, die Seuse erstrebte, die Verbindung von unctio und speculatio, Christologie mit Seinsmetaphysik, augustinischer und bernhardischer Tradition mit dem scholastischen Rationalismus. Für den Franziskaner Bonaventura - so sahen wir - ist die sichtbare Welt ein Spiegel, und die Spekulation besteht nicht zuletzt im Aufsuchen der Spuren Gottes in der Natur. Dieser Exemplarismus mußte es Seuse antun: Er fand in ihm den organischen spekulativen Uberbau zu seiner asketischen Welt und die Legitimation seines sensiblen Naturgefühls. Ich erinnere hier an eine berühmte Stelle der 'Vita', beginnend mit "Lug über dich und umb dich in dü vier ende der weit" | (172, 7 ff.). Diese Sätze stehengewiß kein Zufall - unmittelbar vor den Kernpartien der BonaventuraRezeption in den letzten Kapiteln der 'Vita'. Lange Abschnitte - das hat schon DENIFLE nachgewiesen, ohne jedoch die umfassendere Stellung Bonaventuras in der geistigen Welt Seuses zu erkennen - sind nichts anderes als Übersetzungen aus Bonaventuras Werk, andere freie Paraphrasen' 2 . Daß wir hier immer noch auf den Spuren des Franziskus sind, sei durch einen Hinweis angedeutet: Die innige Liebe und hohe Ehrfurcht vor allem Geschaffenen, die Franziskus erfüllte, war ja nicht ins Religiöse gewendete Welt- und Naturfreude, nicht nur ein menschlicher Zug, sie beruht auf der Wertung des Kreatürlichen als Zeichensprache Gottes. Franziskus lebte, so sagt GILSON einmal", in einem "Wald von Symbolen". Dem Wasser z . B . galt seine Liebe als dem Sinnbild der heiligen Buße und der Taufe. "Wenn er sich deshalb die Hände wusch", so heißt es im 'Speculum perfectionis'", "so wählte er stets einen Platz, wo das Wasser, wenn es herunterfiel, nicht unter die Füße der Menschen kam. Wenn er über Felsen schreiten mußte, ging er mit großer Vorsicht und Ehrfurcht, aus Liebe zu dem, der "der Fels" genannt wird. Dem Bruder, der das Holz für das Feuer spaltete, gab er die Weisung, er solle nie einen Baum völlig aushauen, sondern immer ein Stück des Stumpfes stehenlassen, aus Liebe zu jenem, der unser Heil am Holz des Kreuzes wirken wollte." Der Exemplarismus Bonaventuras und mit ihm Seuses hat in diesem urtümlichen Symbolismus des Franziskus seinen Ursprung. "
Siehe Anmerkungen in BIHLMEYERS Ausgabe S. 176ff.; Bonaventura deutsch, S. 3 0 7 f f . ; J . A. BIZET, Le mystique allemand Henri Suso et le déclin de la scolastique, Paris 1946, S. 325 ff.
" D e r hl. Bonaventura [Anm. 16], S. 107. M
SABATIER [ A n m . 2 5 ] c. 118; zit. nach O . KARRER [Anm. 3], S . 2 7 1 .
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Die Rezeption der mystisch-asketischen Schriften Bonaventuras - von ' D e triplici via', 'Soliloquium', 'Lignum vitae' und anderen - habe ich in 'Bonaventura deutsch' zur umfassenden Darstellung gebracht, so daß hier der bloße Hinweis genügen mag. In der Weite und Dichte ihrer Wirkung können sie nur mit der Rezeption augustinischer und bernhardischer Schriften verglichen werden. Sie | sind jedenfalls ein entscheidendes Ferment der franziskanischen Mystik in deutschen Landen, das bis in die Devotio moderna hinein zu verfolgen ist. Was für die Mystik Bonaventuras gilt, trifft für eine Reihe von Schriften zu, die gleichfalls im italienischen Franziskanertum entstanden sind und von dort als befruchtende Quellflüsse ins Deutsche eingebrochen sind: den 'Stimulus amoris' und die 'Meditationes vitae Christi'. D e r 'Stimulus amoris', Werk des Minoriten Jakobs von Mailand, Ende des 13. Jahrhunderts entstanden, später von unbekannter Hand erweitert 65 , ist ein hohes Lied der Christusnachfolge und Christusliebe. Auch hier findet eine Transformation statt: Gelebte conformitas wird zur Meditation: in der meditativen Vergegenwärtigung des Christuslebens, vor allem seiner Passion, vollzieht sich der mystische Aufschwung. Der literarische Anschluß an die Zisterzienser-Tradition ist so wenig zu übersehen wie bei Bonaventura, aber die freudige Glut franziskanischer Liebe durchzieht die Schrift wie ein heißer Atem. Ahnliches gilt von den 'Meditationes vitae Christi' eines italienischen Franziskaners, der nicht mit Sicherheit zu bestimmen ist. Vielleicht ist ihre Urform italienisch, jedenfalls überwiegt die italienische Überlieferung 66 . Hier ist die Glut eine mehr innige, ein schönes Zeugnis für das, was man "pietä francescana" genannt hat67. Im Lichte dieser pietas wird in den 'Meditationes' das Leben Christi | betrachtet, mit besonderer Zartheit und Unmittelbarkeit die Weihnachtsgeschichte. Das historische Ereignis der Weihnachtskrippe im Walde von Greccio vom 24. Dezember 12236* wiederholt sich in der Meditation. V o m 'Stimulus amoris' und den 'Meditationes' sind ganze Ströme mystischer Frömmigkeit ausgegangen. Ich weise nur auf die deutsche Mystik hin. Beide Werke wurden vielfach übersetzt, bearbeitet, einge" Stimulus amoris Fr. Iacobi Mediolanensis ed. a. PP. Collegii S. Bonaventura^ (Bibl. franc. asc. 3), Quaracchi 1949 (in der Literatur 'Stimulus minor'); die erweiterte Schrift in Opera omnia S. Bonaventurae ed. PELTIER XII, S. 631-703. Zur deutschprachigen Überlieferung: Bonaventura deutsch, S. 272 ff. "
O p e r a o m n i a S . B o n a v e n t u r a e d . P E L T I E R X I I , S . 5 0 9 - 6 3 0 ; P . COLUMBAN F I S C H E R , D i e
Meditationes vitae Christi, ihre handschriftliche Überlieferung und die Verfasserschaftsfrage, A . F . H . 25 (1932), S . 3 - 3 5 , 175-209, 305-348, 449-483; dazu kritisch: ARRIGO LEVASTI, Mistici del duecento e del trecento, Milano/Roma 1935, S. 997 f.; zur deutschsprachigen Überlieferung: Bonaventura deutsch, S. 269 ff. "
Fr. AGOSTINO GEMELLI O . F. M., II Francescanesimo, Milano '1956, S. 9 2 - 9 5 .
M
Celano, Vita prima c. X X X , n. 84-87.
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woben in Passionsgeschichten und Christusmeditationen. Eines der wirkungsvollsten Bücher des deutschen Mittelalters, die 'Vita Christi' Ludolfs von Sachsen, erweitert die 'Meditationes' zu einem Riesenwerk frommer Meditation. Der 'Stimulus amoris' wurde besonders fruchtbar im deutschen Südosten, wo ihn in der zweiten Hälfte des H.Jahrhunderts die Brünner Eremiten und ein andermal Johann von Neumarkt, der Hofkanzler Karls IV., ins Deutsche übertrugen. Das 15. Jahrhundert bringt neue Übertragungen hervor"'. Ein anderes besonders ausgeprägtes Wirkungszentrum sind die Niederlande. Halten wir an dieser Stelle einen Augenblick inne und schauen zurück! Wir stellten fest, daß vom Ordensvater, seinem glühenden Willen, ein Leben in der Christusconformitas zu leben, die stärksten Impulse zu mystischem Leben ausgegangen sind. In der zweiten Generation der Ordensfamilie, dem Zeitalter der franziskanischen Doctores, führt der Versuch, diese Impulse für das Vollkommenheitsleben eines bereits gewandelten Ordens fruchtbar zu machen, zu einem mystischen Schrifttum spekulativer und asketischer Prägung. In ihm vollzieht sich die Vermählung genuin franziskanischen Glaubenslebens mit der Tradition. Es ist - neben der unmittelbaren Wirkung des Franziskuslebens diese erste gewortete franziskanische Spiritualität, die die deutsche Mystik befruchtete. |
IV. Soviel ich sehe, wird die erste, von Italien ausgehende mystische Tradition der Franziskaner nicht vor Heinrich Seuse fruchtbar: sie bricht also mitten in den mystischen Strom der Predigerbrüder ein. - N u n gibt es aber bereits vor Eckhart, in der zweiten Hälfte des 13.Jahrhunderts, genauer: im 3. Viertel des Jahrhunderts, mystisches Schrifttum der Franziskaner in deutscher Sprache. Die Wiege dieses Schrifttums ist Augsburg, dessen Spiritus rector David von Augsburg. Die Umrisse dieses Schrifttums und die Probleme, die es uns stellt, habe ich in einem Beitrag der Jubiläumsschrift 'Augusta 955-1955' skizziert". Hier greife ich nur eine Frage auf, die dort noch nicht behandelt ist und die sich aus der Thematik dieses Beitrags ergibt: die Z u r Überlieferung in Bonaventura deutsch, S. 272 ff. hätte ich viele N a c h t r ä g e zu m a c h e n ; ich verspare sie auf den Überlieferungsband im R a h m e n des 'Franziskanischen Schrifttums' [ A n m . 2 4 ] . " David von Augsburg und die Entstehung eines franziskanischen Schrifttums in deuts c h e r S p r a c h e , ' A u g u s t a 9 5 5 - 1 9 5 5 ' , h g . v o n H E R M A N N R I N N , M ü n c h e n 1 9 5 5 , S. 7 1 - 8 2 ,
jetzt in: K . R . , Kleine Schriften, Bd. II. B e r l i n / N e w Y o r k 1984, S. 4 6 - 6 7 ; überarbeitet in Verba Vitae et Salutis 1959, S. 1-18.
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G e s c h i c h t e der franziskanischen M y s t i k
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Frage nach der franziskanischen Spiritualität des Augsburger Minoritenkreises. Daß dieser noch keine franziskanische mystische Tradition, d. h. ein franziskanisches Schrifttum, kennt, kann nicht überraschen: David ist Zeitgenosse Bonaventuras70. Wie dieser stand er vielmehr vor der Aufgabe, Tradition zu schaffen. Der historische Prozeß, den wir soeben in Italien beobachteten, wiederholt sich in deutschen Landen: auch hier ist die zweite Generation die Generation der wissenschaftlich Geschulten David und Berthold empfingen ihre Ausbildung mutmaßlich am Magdeburger Studium - , und Schulung heißt Anschluß an die Tradition. Was die Mystik und damit David betrifft, so sind in erster Linie Bernhard und Wilhelm von St. Thierry für ihn entscheidend geworden, daneben Gregor der Große, der zu den 'Vätern' der abendländischen Mystik gehört, und - in dogmatischen Fragen - Anselm von Canterbury. Welches aber ist der franziskanische Geisteshauch, der diese Tradition durchdrang, belebte, erneuerte? | Hier machen wir zunächst eine höchst überraschende, ja befremdliche Feststellung: die Augsburger Franziskaner berufen sich kaum je auf den Stifter ihres Ordens, nicht auf sein Leben, seine Armut, seine Demut, seine Wundmale, nicht auf seine Worte. Im 'Geistlicher Herzen Baumgarten' gibt es ein kurzes, unbedeutendes und zudem apokryphes Franziskuswort 7 '. Davids deutsche Schriften weisen kein einziges Mal auf Franziskus hin, die lateinischen selten. Nicht anders ist es bei Berthold. Zwar erinnert der Prediger am Franziskustag an den Ordensgründer72, aber er hält keine Predigt über ihn, sondern weist nur in der Einleitung auf den guoten sunt Franciscum hin, und zwar in einer verblüffend unpersönlichen Weise73. Wie erklärt sich diese eigentümliche Tatsache? Ich vermag keine durchschlagenden Gründe zu finden, aber der folgende Hinweis scheint mir erwägenswert. Es war in den Jahrzehnten Davids und Bertholds, als der Ordensstreit einsetzte, der Kampf der Anhänger einer strengen Observanz und der Conventualen, jener Streit, der später zur Trennung des Ordens führen sollte. Das war aber nicht zuletzt ein Streit um das n
B o n a v e n t u r a t 1274, David t 1 2 7 2 .
71
c. 140 ( C g m . 6 2 4 7 , 113 - 1 1 4 ' ; C g m . 2 1 0 , 48 v b ; Basel A I V 45, 5 6 * ) .
72
PFEIFFER/STROBL I ( W i e n 1 8 6 2 ) , Predigt N r . V , S . 6 5 .
"
I m lateinischen ' S e r m o in h o n o r e m S. F r a n c i s c i ' (HOETZL, Sermones ad religiosos X X , M o n a c h i i 1882, S. 1 - 6 ) erfüllt B e r t h o l d die A u f g a b e der Heiligenpredigt besser. D o c h ist auch hier Franziskus nur der 3. Predigtteil gewidmet, der von den Leiden derjenigen handelt, die mit C h r i s t u s am K r e u z e hangen. D a b e i bliebt Franziskus b l o ß e r Vertreter eines T y p u s ; biographische F a k t e n werden z w a r berührt ( W u n d m a l e , M o h a m m e d a n e r M i s s i o n , eine Anspielung auf ein W o r t des Sterbenden ( L e g . maior X I V , 1 ) ) , bleiben j e d o c h o h n e jene Plastik und farbiges Detail, die ein unmittelbares Verhältnis zu den Viten e r k e n n e n ließen.
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G e s c h i c h t e der f r a n z i s k a n i s c h e n M y s t i k
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Franziskusleben, der auch mit Bonaventuras 'Legenda maior' (1263), die streng offiziellen Charakter erhielt, nicht abgeschlossen war. Und so verstehen wir, daß sich vor allem dort, wo keine unmittelbare Franziskuserinnerung wie in Italien bestand, in dieser Zeit ein eindeutiges Franziskusbild kaum zu formen vermochte. - Und weiter: vielleicht war es einem so ernsthaften Manne wie David auch bewußt, so wie es einem Bonaventura bewußt war, daß der Orden des Stifters Ideal nicht zu erfüllen vermochte, auch beim aufrichtigsten Willen | nicht, daß ein außerordentlicher Abstand bestand und bestehen mußte zwischen Franz und seinem Orden. Dieses Bewußtsein, zusammen mit der bedenklichen Auseinandersetzung um das maßgebliche Franziskusleben, konnte sich als Befangenheit, konnte sich im Schweigen äußern. Ist nun das mystisch-asketische Schrifttum Davids und seines Kreises ohne franziskanische Spiritualität? Wir dürfen diese Frage mit Entschiedenheit verneinen. Wenn David (um uns auf ihn zu beschränken) Franziskus auch nicht nennt, so ist er doch von franziskanischem Geiste durchdrungen. Versuchen wir diesen genauer zu fassen. David hat wie Bonaventura das Leben des Stifters in Lehre umgesetzt. In der 3. 'Vorregel der Tugend' 74 spricht David vom spärlichen niezen der Dinge dieser Welt. Dise regel lêret uns unser hêrre Jésus Kristus, der
sô vil niht haben wolte der werlde, dâ er sin houbet geneigete. Die Welt
ist ein lästiger Lehensherr - ein müelich lêhnaere - , sie fordert täglich, schafft Sorge, Ängste, Mühsal. Selig hingegen die Armen des Geistes,
daz sint, die mit willen armen sint...,
die ir sorge an got lâzent: der sie
hat beschaffen, der wil sie besorgen. Das Höllenfeuer, fährt David fort 314, 20 ff.), ist auf der Erde; je mehr Material es findet, desto gieriger brennt es. W o aber keine Materie irdischer Begierde ist, da bleibt der Mensch vom Feuer unberührt wie die drei Jünglinge im Feuerofen. Das ist die herrliche Freiheit durch Besitzlosigkeit, die Franziskus vorgelebt hat. Wie Letten, sagt David ein andermal, klebt der Besitz am Menschen, er beschwert die Federn, die zum Himmel fliegen sollten (315, 23 f.). Die Armut Christi wird von David immer wieder betont: er war arm
an guote, an spise, an herberge, an urbor, an liuten, an kleidern ; ja sogar
des Gewandes wurde er am Kreuze beraubt (328, 23 ff.). Er war ein armer betelaere (341, 32). "Unterwegs" wurde er geboren, nicht in der Heimstätte (343, 4). Seine erste Herberge war ein gemeiner vichstal (343, 10). So sahen Christus erst des Franziskus Augen. | Armut ist aufs engste verbunden mit Demut. Diese ist das große Thema des II.Traktats, des 'Spiegels der Tugend'. Er setzt gleich ein:
Unser hêrre Jésus Kristus der hat sich selber gediemüetiget
dingen 74
ze allen
(325, 27f.). Er sprach: lernet von mir, wan ich senfte
bin
...
unde
FRANZ PFEIFFER, D e u t s c h e M y s t i k e r des 1 4 . J a h r h u n d e r t s I ( L e i p z i g 1 8 4 5 ) , S . 3 1 4 f .
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diemüetiges herzen ...: min joch ist senftsüeze7S und min bürde ist ringe (326, 16 ff.). Demut war des Herrn Waffe, die er auf dieser Erde führte, als er den Kampf für uns gegen den Teufel focht. Wer nun Christi Ritter sein will, der kämpfe mit dieser Waffe, der Waffe der Demut ( 3 1 9 , 2 2 f.). Dann schildert David die inner diemuot: Si ist senfte an den siten, stille an den worten, durnähtic an den werken, staete an der wârheit. Si ist dancnaeme aller guottaete ..., gedultic in ungemache (331, 13 ff.). Der reht diemüetic mensch ahtet sich selber swacher vor allen menschen unde joch vor aller krêatûre (331, 22 f.). Das Aufschauen zu Christus am Kreuz ist so ein Niederschauen. Das ist 'pietas franciscana', pietas im Sinne der Gabe des Hl. Geistes, die den Christen fähig macht, im Mitmenschen das Bild Gottes zu sehen - pietas vero attendit in proximo imaginem divinam7t - , als liebevolle Hinneigung zu dem, was unter uns und neben uns ist, zur unvernünftigen und zur vernünftigen Natur, als Sanftmut, Geduld, Barmherzigkeit. Es ist jener Zug des heiligen Franz", der sich am unmittelbarsten in seinen Söhnen verwirklichen konnte. In diesem Sinne sagt David: Alle armen, alle siechen, alle herzenliche beswaerten, alle jâmerige, alle sündaere, alle die imme vegeviwer sint, allen den jâmer der ist unde was unde noch künftic wirt in-der werlde, den samne allen in dînes herzen spital und erbarme dich dâ über (340, 13 ff.). Das ist echte Franziskusnachfolge. Dessen Weg zur Höhe hatte ja damit begonnen, daß er sich eines Aussätzigen, vor dem es ihm ekelte, erbarmte: er stieg vom Pferd, beschenkte ihn und gab ihm den Kuß des Friedens 78 . Imitatio | Christi ist Niederbeugen in Barmherzigkeit und Demut. Von da her verstehen wir auch, daß David und die franziskanische Bewegung überhaupt für die Devotio moderna so bedeutsam werden konnte". Ich habe, ausgehend vom Leben des Franz von Assisi, das ich mit der franziskanischen Hagiographie des 13.Jahrhunderts als vita mystica deutete, zu zeigen versucht, wie 1. dieses Leben und die Formen dieser Lebensbeschreibung im deutschen Sprachraum zu wirken vermochten, wie 2. die Vita des Heiligen in Lehre, Meditation, theologia mystica umgesetzt wurde: zuerst - in Italien - von Bonaventura, der, zusammen mit jüngeren italienischen Minoriten, eine Komponente ohnegleichen für die deutsche Spiritualität des 14. und 15. Jahrhunderts wurde, d a n n 75
senftsüeze
(m. W. nur an dieser Stelle) = suavis (Mt. 11, 30).
" Bonaventura, III. Sent. dist. 35, a. 1, q. 6, corp.; Bonaventura deutsch, S. 89. 77
Siehe Bonaventura, Legenda maior c. VI, n. 1 ff.
7!
Dreigefährtenlegende [Anm. 3], c . 4 ; Bonaventura, Legenda maior c. I, n . 5 ; Celano, Vita secunda n. 9.
™ MARCEL VILLER, Le 'Spéculum monachorum' et la Dévotion moderne, Rev. d'ascétique et d e m y s t i q u e 3 ( 1 9 2 2 ) , S . 4 5 - 5 6 ; CRISPINUS SMITS O . F . M . , D a v i d v a n A u g s b u r g en d e
invloed van zijn Profectus op de Moderne Devotie, Collectanea Franciscana Neerlandica 1927, S. 171-203.
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Geschichte der franziskanischen Mystik
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in Deutschland - von David von Augsburg und seinem Kreis in deutscher Sprache. Das sind Paradigmen, die reiche Abwandlungen erfahren werden: in Marquard von Lindau, Konrad Bömlin, Stephan Fridolin, in J a n Brugman, Hendrik Herp und vielen andern. Eine Darstellung des franziskanischen Beitrags im Strome der deutschen Mystik stößt auf beträchtliche Schwierigkeiten. Sie sind vornehmlich darin begründet, daß der größte Teil dieses Schrifttums noch ungedruckt ist. Weiter - das sollte durch meine Darstellung deutlich geworden sein - ist die franziskanische Spiritualität nicht nur in den franziskanischen Ordensvertretern lebendig, sondern sie ist auch in andern Orden - sowie in der Weltgeistlichkeit - wirksam. Das verriet uns exemplarisch die Gestalt Seuses. Schließlich ist umgekehrt - bei Bonaventura und David - festzustellen, daß sich das geistige Franziskanertum mit andern Traditionen verband: mit dem Augustinismus, der Mystik des Pseudo-Dionysius Areopagita und Bernhards von Clairvaux. Die späteren deutschen Franziskaner werden entsprechend Elemente der Eckhartschen Speku-1 lation oder der Taulerschen Predigt aufnehmen: das trifft z . B . für Marquard von Lindau zu. Dieses In- und Miteinander führt uns nochmals auf das VogelschauBild des Anfangs zurück: die deutsche Mystik, so sagte ich, stellt sich dar als Mündungslandschaft großer Ströme, als 'geistige Niederlande'. Sie in ihrem geschichtlichen Verlaufe zu verstehen, darf nur hoffen, wer die noch unvermischten Quellflüsse kennt.
Seuse Vita c. 52 und das Gedicht und die Glosse 'Vom Uberschall' [Seuse Studien, hg. von E. Filthaut, Köln 1966, S. 191-212]
Die weitgehenden textlichen Ubereinstimmungen zwischen Vita c. 52 und der Uberschall-g/Ô5e sind zuerst von D E N I F L E registriert worden 1 . Da er die Verfasserschaft Eckharts für Traktat XII ('Von dem überschalle') nicht bezweifelte, war für ihn Seuse der Nehmende, und dementsprechend kommentierte er die Stellen. Dasselbe gilt von PREG E R ! und BIHLMEYER 5 . SPAMER hingegen, der Eckhart Gedicht und glose mit Entschiedenheit abspricht, meint: "Das wahrscheinlichere scheint mir, daß die vita dem Verfasser der glossierung bekannt war" 4 . Die vorliegende Studie unternimmt es, das Verhältnis zu klären, wobei selbstverständlich (mit der gesamten neueren Eckhartforschung) vorausgesetzt wird, daß Eckhart nicht der Autor von Tr. XII ist: damit steht die Frage der Abhängigkeit völlig offen 5 . Ich verhehle nicht, daß ich mich schon längst für die Priorität Seuses glaubte entscheiden zu dürfen und daß mir um einen stringenten Nachweis nicht bange war. Was die Stringenz betrifft, so täuschte ich mich. Die Untersuchung, die nicht nur Lib. Pos. 121/122 und 124 mit weiteren Parallelstücken zu Vita c. 52', sondern vor allem das Gedicht 'Vom Uberschall' mit zu berücksichtigen hat, erwies sich als äußerst schwierig und ergab keine restlose Sicherheit. Niemand bedauert dies mehr als ich selbst. Trotzdem glaube ich auf die Darlegung meiner Bemühungen ' Vita c. 52 bei K. BIHLMEYER, Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, Stuttgart 1907, S. 184-190; bei H . S . DENIFLE, Die deutschen Schriften des sei. Heinrich Seuse, München 1880, S. 279-293; die Überschall-Glosse bei F. PFEIFFER, Meister Eckhart (Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, 2. Bd.), Göttingen 1857, S. 517-520. 2 3
4 5
Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter II, Leipzig 1881, S.406. S. 148*, A n m . 2 ; Fußnoten zu S. 184ff. Auch J.-A. BIZET, Henri Suso et le déclin de la scolastique, Paris 1946, S.264, A n m . 2 betrachtet 'Vom Überschall' als ursprünglich, ebenso S. SINGER, Die religiöse Lyrik des Mittelalters (Neujahrsblatt der Literarischen Gesellschaft Bern, N . F . H e f t 10), Bern 1933, S. 134 f. Zur Überlieferung der PFEiFFERschen Eckharttexte, PBB 34 (1909), [S. 307-420], S. 393. Daß die Vita zu den authentischen Schriften Seuses gehört, dürfte seit]. SCHTIETERING, Zur Autorschaft von Seuses Vita (Humanismus, Mystik und Kunst in der Welt des Mittelalters, hg. von J. KOCH, Leiden/Köln 1953), S. 146-158 nicht mehr in Frage gestellt werden.
' N a c h w e i s e b e i DENIFLE S. 2 8 0 f f . u n d BIHLMEYER S. 1 8 4 f f .
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S e u s e Vita und ' V o m Überschall'
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nicht verzichten zu dürfen. Das Beispiel zeigt, wie schwer es ist, auf dem Gebiet der mystischen Traktatliteratur Abhängigkeitsverhältnisse zu klären und sicheren Boden zu gewinnen.
I. D i e Texte Es erwies sich als unumgänglich, eine bessere Textgrundlage für Gedicht und g l ö s e zu gewinnen, als sie uns der PFEiFFERsche Text bietet. Vor allem das Gedicht er-1 scheint dort in einer höchst unbefriedigenden Form: Der Herausgeber hat nur den Schluß (517, 17ff.) als versgebunden erkannt oder gelten lassen. Nachdem P. R. BANZ7 das Stück als Gedicht in Langzeilen bestimmt hatte, versuchte S. SINGER8 eine "Herstellung": sie darf auf textkritische Verbindlichkeit keinen Anspruch erheben. Ich habe im Rahmen eines Oberseminars auf Grund einer breiteren Uberlieferung, als sie P F E I F F E R zur Verfügung stand', einen besseren Text zu erarbeiten versucht, muß ihn jedoch als vorläufig bezeichnen, da von den Möglichkeiten der Konjekturalkritik noch kein Gebrauch gemacht wurde. Was wir bieten, ist annäherungsweise der schon arg verderbte - Archetypus. Fest steht für diesen, nicht zuletzt durch die g l ö s e gesichert, der Bestand der Verse, was (sofern man an vierzeiligen Strophen festhalten will) dazu zwingt, Str. IV und X fragmentarisch, Str. XVII mit einer Plus-Zeile anzusetzen. Auf Varianten und damit eine textkritische Begründung muß ich hier verzichten. Angezeigt sei jedoch, daß sich in der Uberlieferung eine Gruppe KoB4Kai 10 ( = Y) scharf herausstellt, deren Sonderlesarten grundsätzlich 7
C h r i s t u s u n d die m i n n e n d e Seele (Germanistische Abhandlungen 29), Breslau 1908, S. 177, A n m . 1.
' Siehe o b e n A n m . 3. ' PFEIFFER stützte sich vor allem auf Einsiedeln 277 (E,). Dieser Text hat Z. 41-44 verloren u n d vertauscht Z. 53 f. mit 59 f. SINGER benutzte allem Anschein nach nur den PFEIFFER-Text, den er mit H i l f e der glöse zu verbessern suchte (siehe S. 135). 10
D i e Siglen sind diejenigen v o n QUINTS E c k h a r t - A u s g a b e ; neu h i n z u g e k o m m e n ist Br 7 ( j e d o c h v o n W . DOLCH, D i e Verbreitung oberländischer Mystikertexte im Niederländis c h e n , D i s s . L e i p z i g 1909, § 7 1 , S. 45 erwähnt und von C . C . DE BRUIN, Middelnederlands Geestelijk P r o z a , Z u t p h e n 1940, N r . 4 2 A , S . 9 9 f . abgedruckt). B 4 : Berlin, Staatsbibl. M s . germ 4° 191, 197 v -198"-200' B a , : B a s e l , U n i v . Bibl. C o d . B X I 10, 2 9 6 - 2 9 7 * Ba«: e b d . C o d . A V 41, 9 0 " - 9 2 T b B r , : B r ü s s e l , K ö n i g l . Bibl. C o d . 3088, 83 - 8 6 " E , : Einsiedeln, Stiftsbibl. C o d . 277, 2 1 4 , b - 2 1 5 A - 2 1 6 " 1 E r : E r l a n g e n , U n i v . Bibl. C o d . 575 (olim 719), 1 2 6 ^ - 1 2 7 ^ - 1 2 8 " K a , : K a r l s r u h e , L a n d e s b i b l . C o d . St. Peter 85, 1 1 0 r * - l l l r t > K o : K o b l e n z , Staatsarch. C o d . 43, 7 5 ' - 7 6 , - 7 9 "
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Seuse Vita und 'Vom Überschall'
147
als sekundär zu betrachen sind. Größeres Zutrauen verdient die Gruppe E r B r j N ] , von der auch Ei und Mz] (ein hoffnungslos verderberter Text!) nicht sehr weit entfernt sind. | Was die Partien der glose betrifft, die mit Vita c. 52 übereinstimmen, so gebe ich sie, unserer Aufgabe entsprechend, in einer Fassung, die der Vita am nächsten kommt. Das ist ein Text, der die PFEiFFERsche Redaktion in vielen Lesarten zu verbessern vermag. Dem Vita-Text am engsten verwandt ist Mai 1( sodann Er. Gedicht und glose überliefern die Hss. B 4 E 1 E r K o N 1 und St^ (verloren); das Gedicht allein KaiMzjBr;; die glöse allein: Ba 4 M 1 Mai 1 , dazu die Fragmente BajNsZj. Sprachlich gehören die Textzeugen überwiegend dem alem. Süden an; es sind nur einzelne Ausstrahlungen nach Nürnberg ( N ^ N 4 muß unmittelbar auf eine alem. Vorlage zurückgehen), nach dem westl. Mitteldeutschen (M|, Mzi) und nach den Niederlanden (Br;), zu beobachten. Zeitlich liegen die Hss. zwischen ca. 1370 und 1450, mit bemerkenswerter Konzentration um die Jahrhundertwende (B 4 Ba 1 Ba,ErKaiMiN 1 ). Der früheste Textzeuge ist E ^ es handelt sich um die Mechthild-von-Magdeburg-Hs., die nach 1380 aus dem Vermächtnis der Margareta zum goldenen Ring in den Besitz der Waldschwestern der Vorderen Au zu Einsiedeln gelangte". Mai] (um 1450) dürfte den jüngsten Text bieten.
M , : München, Staatsbibl. Cgm. 133, l ' - 6 v Mai,: Harburg (olim. Maihingen) Fürstl. Oettingen-Wallerstein'sche Bibl. Cod. III 1 4° 33, 1 7 5 - 1 7 9 " M z , : Mainz, Stadtbibl. Cod. 221, 2 7 - 2 9 ' N , : Nürnberg, Stadtbibl. Cod. Cent. IV 40, 3 6 " - 3 6 " - 3 8 " N 5 : ebd. cod. Cent. VI 56, 178 - 1 7 9 ' Str,: Straßburg, Stadtbibl. Cod. A 98, 1 5 9 - 1 6 0 " , 1 6 4 - 1 6 8 " Z 2 : Zürich, Zentralbibl. Cod. 127, S. 184-185.
Ein Satz aus der glöse ist in GREITHS Mosaiktraktat (Die deutsche Mystik im Predigeror-
den, Freiburg i. Br. 1861, S. 96-202) übergegangen: S. 128,2-5 = glöse 519,8-11. Er fehlt in der Kompositionstabelle bei JOSY SEITZ, Der Traktat des 'Unbekannten deutschen Mystikers' bei Greith, Diss. Zürich 1936. * Korrekturnachtrag: Bedauerlicherweise habe ich eine Überschall-g/öie-Hs. übersehen: Str,: Straßburg, Univ. u. Landesbibl. 2795 (L germ. 662), 2 5 2 - 2 5 8 ' v. J . 1440. Sie ist die Vorlage von Mai,! Nachweis durch J . QUINT, Meister Eckhart. Untersuchungen I: Neue Handschriftenfunde zur Überlieferung der deutschen Werke Meister Eckharts und seiner Schule, Stuttgart/Berlin 1940, S. 85 u. 94. 11
Siehe G. MOREL, Offenbarungen der Schwester Mechthild von Magdeburg, Regensburg 1869, S. X X . Wir sollten die Hs. nicht zu früh ansetzen: Die oberdeutsche Redaktion von Mechthilds Visionenbuch v.J. 1343/45 unter Heinrich von Nördlingen ist in E, "nicht durchweg konserviert" (H. NEUMANN, Beiträge zur Textgeschichte des 'Fließenden Lichts der Gottheit' und zur Lebensgeschichte Mechthilds von Magdeburg, Nachrichten der Ak. d. W. in Göttingen, phil.-hist. Kl. 1954, 3, S . 2 7 f . ) . Die eckhartischen
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Seus« Vita und 'Vom Überschall'
[193/194]
Von dem Überschal I
Wtere noch helle noch himelrich noch danne wolte ich minnen got, süezer vater, dich und din hohe nature, dar an diu driheit stat in einer einikeite da si ir vermügenheit ane hat.
II
5 Seht, nu mügent ir hoeren von der vinekeit, von der hohen nature der drier einikeit. doch sült ir bekennen waz got und gotheit si: daz hat ein underscheit. daz verstat diu sele min.
III
Die personen die sint got an ir personlicheit, 10 gotheit nach der nature in ir einikeit, und diu widerblaeze der hohen einikeit diu liuhtet in ir selbes wesen gar ane underscheit.
IV
Da hat si beslozzen alle in einikeit, und doch mit underscheide, die hohen personlicheit 15
V
Der rivier ist ursprunclich da einikeit in weset, daz einic ein ist durftelos, in im selben ez swebet in einre dunstren stilheit: ez kan nieman verstan, 20 wanne in sins selbesheit daz ist ez offenbar.
VI
Da ist daz lieht daz erste in der ursprunclicheit, daz den geist verleitet in die Verborgenheit uzer sime wesenne al blibend, ingezogen, versenket in das dunster: alda wirt er betrogen.
VII
25 Da wirt er entkleidet von liehtes dunsterheit, er verliuset beide in der abgrundlicheit, alda wirt in entfrömdet daz verborgen wesen, den geisten in der einikeit, und ist doch ir leben.
VIII
O gruntlos tiefe abgrunt, in diner tiefe ho, 30 in diner hoheit nider, wie mac daz sin also ? daz ist uns verborgen in diner tiefe grünt, doch seit uns sanctus Paulus, ez sül uns werden
IX
kunt.
In der kuntschaft ist der geist obe sin selbesheit, in hat an sich gezogen der drier einikeit. 35 da stirbet der geist al sterbende in dem wunder der gotheit, wanne er in der einikeit enhat kein underscheit.
Textstücke der Hs., also auch Tr. XII, sind von einer 2. Hand geschrieben. Ich glaube sie nicht vor 1370 ansetzen zu dürfen.
Scuse Vita und 'Vom Überschall'
[194^195]
X
Die underscheit verliesent iren namen
der personlicheit in der einikeit.
40
XI
Ez liuhtet uz der einikeit ein einvaltic lieht, in purheit des geistes da ist er worden niht an im selben, daz ist war, da ist gar entgan, alle sine krefte an blozheit bestan.
XII
45 Da der geist uf nihte in einikeit bestat, da verliuset er daz mitel von gotlicher art, da ist er entsunken der naturen sin, inwesende belibet ein kleines gensterlin,
XIII
daz 50 daz daz daz
XIV
sunder lieht und dunsterheit, der ist er beider los, materien und formen, ein gensterlin so bloz, 55 daz sunder sich ist sinde gar ane underscheit, und doch ein iht geschaffen an sines selbesheit.
XV
Daz mens, daz ich da meine daz ist wortelos, ein und ein vereinet, da liuhtet bloz gein bloz in deme umbegrifen der hohen einikeit, 60 diu alle dinc vemihtet an ir selbesheit.
XVI
XVII
da ist geschaffen iht von einem niht. wirt doch entzogen von sines nihtes iht. selbe niht ist blozheit in der personen wesen, den geist entgeistet: in einikeit er swebet, \
Da die zwei abgrunde in einer gelicheit sweben, gegeistet und entgeistet: daz ist ein hohes leben, da sich got entgeistet da ist dunsterheit in einer unbekanter bekanter einikeit. 65
Da ist si verborgen in siner stilheit tief. alle creaturen getracken niht daz iht. daz uns daz niht enblibet daz ist guot geval. also sült ir meinen, kinder, über al und ilen in daz hohste: daz ist der Uberschal.
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150
[195/196]
Scuse Vita und 'Vom Überschall'
Glose und Vita c. 52 I Ü G 517,23-518,6
I V I 85,5-22
Und daz du dis dest baz merkest, so ist ze wüssene, daz in dem bildrichen lieht der gStlichen einikeit ist ein inswebendü entsprunglichkeit der 5 persönlichen entgossenheit uss der almugenden ewigen gotheit; wan dü driheit Man sol minneti die driheit der personen ist in der einider personen in der einikeit der nature, und dü eini10 keit der nature unde die einikeit der nature in der driheit keit der nature in der driheit der personen. Dü einikeit hat der personen. Diu einikeit hat ir Wirklichkeit an der driheit ir würklicheit an der driheit unde diu driheit hat ir mugent- und dü driheit hat ire mugentheit an der einikeit, als sant 15 heit an der einikeit. Augustinus sprichet an dem buch von der drivaltikeit. I Ouch gehoeret eime edelen geiste zuo, daz er erkenne daz under20 scheit gotes unde gotheit, wie daz si, daz diu driheit der perso- Dü driheit der personen hat nen hat beslozzen die einikeit in beschlossen die einikeit in ir ir als ir naturlich wesen. Wanne als ire natürlich wesen, iegelich persone die einikeit ze25 male in sich beslozzen hat als ir naturlich wesen: dar umbe dar umbe ist ein iegelich persone got ist ein ieklichü person got, nach einvaltikeit der nature und na einvaltekeit der natur und an nature gotheit. Alsus ist es gotheit. Nu 30 liuhtet diu einikeit in der drilühtet dü einikeit in der driheit underscheidenlich nach heit nah underscheidenlicher reden. Aber der bloze widerslac wise, aber dü driheit nah dem der einikeit liuhtet in sich selinswebenden widerschlage lühben eigenlich sunder reden in tet in der einikeit 35 einikeit und doch einvalteclich einvalteklich, als si es als in ir beslozzen ist nach eini- in ire beschlossen hat einvalkeit. Mer: die persone behalteklich. tent ir eigenschaft nach reden an dem underscheide. Der vater ist Der vater ist
[196/197]
151
Seuse Vita und 'Vom Überschall'
40 ein ursprunc des suns, des ist der sun ein rivier, von dem vater ewiclich geflozzen nach der persone und inblibende nach dem wesenne. Der vater unde 45 der sun ursprungent iren geist. Alsus ist der geursprungete rivier mit dem ersten ursprunge ein ursprunc des heiligen geistes. Diu einikeit, diu da wesen ist
ein ursprung dez sunes; dez ist der sun ein uswal, von dem vater eweklich geflossen na der persone und inneblibende nah dem wesene. Der vater und der sun entgiessent iren geist.
50 des ersten Ursprunges - daz ist
des ersten Ursprunges, dü ist
Und du einikeit, dü da wesen ist
nach reden geseit —, diu ist ouchdaz selb wesen ire aller drier wesen des geursprungeten ri-
viers, der mit dem ersten ursprunge ist ein ursprunc 55 des heiligen geistes.
personen. |
II
IIa, b Ü G 518, 12-15/25-28
Da tragent sie beide ein eigenschaft in der ordenunge des eigentuoms. Wie diz si? Daz ist diu dunster stilheit, 60 die nieman kan verstan wanne der, in den ez liuhet: diu einikeit mit ir selbesheit...
V 186, 11-21
Disü blossü einikeit ist ein vinster stillheit und ein miissigü mussekeit, die nieman kan verstan wan der, in den da lühtet dü einikeit mit ir selbsheit. Uss der stillen miissikeit lühtet rehtü friheit ane alle bossheit [blosheit Py, wan dü gebirt sich 65 in entwordenr widergebomheit; da lühtet us verborgnü warheit ane alle falschheit, und dü gebirt sich in der entekunge der bedahten blossheit. Wan hie 70 [518,25] Da wirt der geist entkleidet von wirt der geist entkleidet von dem tinbem liehte, daz im na liehtes dunsterheit, daz ist almenschlicher wise gevolget halez daz, daz ime ie geoffenbaret wart in te nah offenbarunge dero Sachen, von dem wirt er da enplS75 liehtes wise: von dem wirt er zet, wan er vindet sich da einen da entbloezet, wan er sol da ein andern eigenlicher, denn er sich anderz vinden eigenlicher danne vor verstund in des vordren lieher hie verstet in liehtes wise.
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Seuse Vita und 'Vom Überschall'
tes wise, als Paulus sprach: "ich leb, nit me ich".
80
III Ü G 518,38-519,12
Eya, du grundeloser tiefer abgrunt allen creaturen unde dir selben gruntlich, in diner tiefe bistu hoch nach der einveltigen 85 weselicheit, diu unverdruclich ist, under al hocheit diner wesender macht bistu tief an deme inslage der einveltikeit dines grundes, der da ist verborgen allem 90 dem daz du selber niht enbist. Mer: aleine die, den du dich wilt gemeinen, die selben sülent dich mit dir bekennen. Alsus sprichet 95 sant Paulus: 'Wir sülent da erkennen, als wir erkant sin'. Dise bekantnisse hat der geist niht von sin selbesheit, wan diu einikeit ziuhet in in der driheit an 100 sich, daz ist an sine rehte naturlicher wonstat, da er wonet über ime selber in deme, daz in da gezogen hat. Da stirbet der geist al sterbende in dem wunder 105 der gotheit. Daz sterben des geistes lit dar an, daz er dehein underscheit hat an der einlicher weslicheit, mer: daz underscheit HO haltet er nach den personen der driheit. Diz offenbaret des geistes lebelicheit, daz er hat underscheit der personlicheit. 115
[197/198]
Va V 189,2-16
Und daz ist daz grundlos tiefes abgründ allen creaturen und im selber gruntlich; \
daz ist och verborgen allem dem, daz er selber nit ist, denn allein dien, den er sich wil gemeinden. Und die selben müssen in gelassen/ich suchen und in etlicher wise mit im selben bekennen, als du schrift seit: "wir sülen da bekennen, als wir erkant sien". Dis bekentnüs hat der geist nit von sin selbsheit, wan du einikeit zühet in in der driheit an sich, daz ist an sin rehten übernatürlichen wonenden stat, da er wonet über sich selb in dem, daz in da gezogen hat. Da stirbet der geist al lebende in den wundern der gotheit. Daz sterben dez geistes lit dar an, daz er underscheides nit war nimt in siner Vergangenheit an der eigenlichen weslichkeit, mer nah dem usschlag haltet er underscheid nah der personen driheit und lat ein ieklich ding underscheidenlich sin, daz es ist, als der diener underscheidenlich hat us geleit an dem bächlin der warheit.
[198/199]
153
Scuse Vita und 'Vom Überschill'
IV a Ü G 519, 12-27 Doch schinet uz der einikeit ein einveltic lieht, wart die drie persone liuhtent ein wesen als da drin lieht einen schin schinent. 120 Diz wiselose lieht wirt geliuhtet von den drin personen in die purheit des geistes. Von dem inblicke entsinket der geist ime selben und aller siner 125 selbesheit, er entsinket oucb der würklicheit siner krefte.
Vb V 189,16-22 Und merk noh ainen puncten: daz in der vordren entgangenheit schinet uss der einikeit ein ainvaltiges lieht, und dis wiseloses lieht wirt gelühtet von den drin personen in die luterkeit des geistes. Von dem inblike entsinket der geist im selben und aller siner selbsheit, er entsinket och \ der Wirklichkeit siner kreften und wirt entwürket und entgeistet. Und daz lit an dem inschlag,
Diz geschiht von deme inslage der blozheit des einvelti130 gen liehtes der einikeit, uf der er me stet danne uf sin selbesheit, da er uss sin selbsheit in daz fr¿md sinsheit vergangen und verlorn ist...
IV b
III V 187,11-23
[519,19] da der da kumt der geist uf nihte an einikeit stet. geist uf daz niht der einikeit. 135 Dar umbe heizet man die eini- Und du einikeit heisset dar umb keit ein niht, wanne der geist ein niht, wan der geist enkan enkan enkein wise vinden, enkein zitlich wise finden, waz si si, mer: der geist enwaz es sie; mer der geist enpfindet, daz er wirt enthalten pfindet wol, daz er wirt enthalten 140 von eime andern danne daz von einem andern, denn daz er selber ist. Dar umbe ist daz, er selber ist. Dar umb ist daz, daz in da enthaltet, eigenlicher daz in da enthaltet, eigenlicher iht danne niht; mer: ez ist doch iht denn niht; es ist dem dem geiste niht an der wise, geiste wol niht an der wise, 145 waz es si. Ez ist aber eigenlicher waz es sie. an ime sin danne sin sinnes eigentuom, wanne ez enlougenet sin selbes niht. Wanne der geist
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Seuse Vita und 'Vom Überschall'
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riehen dünsterheit na sin selbs eigenlicber hie unwüssentheit eigenlichen hie wonhaft wirt, so verliuret er alle wonhaft wirt, so verlúret er ellú mitel, mitel und alle sin eigenschaft, als sant Bernhart sprichet. 155 Und daz beschiht minr und me nah dem, als der geist in dem libe ald von dem libe uss im selb in daz vergangen ist. Und dú verlornheit sin selbs160 daz ist von der götlichen art, heit ist von der gótlichen art, diu ist ime aleine alliu dine. dú im neiswi ellú ding worden ist, als dú scrift seit. \ IV
V Ü G 519,30-520,3
V 188,3-17
Daz mac man da biprüefen, daz ... wan er [der geist] er ist ein iht geschaffen von ist ein iht, geschaffen uss niht, nihte. daz eweklich belibet; denne so vil sie geseit, daz in der Vergangenheit nah ire selbes ingenomenheit so enget ir daz zwivelich wunder in der verlornheit, da si entsezzet wirt des irsheit in dez 170 sinsheit na ir eigen unwüssentAleine heit. Wan na gemeiner red ze der geist si en geschaffen iht, sprechen, so wirt der geist mit dez doch wirt er getruket mit der götlichen liehtrichen wesens kraft kraft des götlichen wesens in 175 sin einikeit, diu niht is an ver- geruket über sine natürlich vernemunge einiger wise deheiner mugentheit in diss nihtes blossheit, creaturen. Diu einikeit, diu niht ist an wise deheiner creaturen, daz ist blozheit, wan si ist aller wan si ist aller 180 wise bloz von creaturen, mer: in wisen bloss von creaturen, mer in ir selben hat si ir wise eigelich ir selben hat si ir wise eigenlich nach weslicheit. Diz wiselose na ire weslichkeit. Disü wiselos wesen von creaturen daz ist wise ist wesen wesen der personen, die hant ez der personen; die habent es 185 beslozzen in einveltiger wise beschlossen in ainvaltiger wise nach rehter durchgrundelicheit na rehter durgrüntlichkeit als als ir nature. Diz bekentnisse ir nature. Dis bekentnüs, als
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Scuse Vita und 'Vom Überschall'
entgeistet den geist. Diu entgeistunge des geistes ist ein 190 entblcezunge aller wise der einikeit, die die persone beslozzen bant in rehter wise. Dar umbe swebet der geist in einikeit sunder lieht und dunsterheit. Sunder 195 lieht: daz ist nach der ungruntlicher wüzzentheit; sunder dunsterheit: daz ist nach dem darbende der eigenlicher nemlicheit. 200
155
geseit ist, entsezet den geist;
und daz geschiht in dem niht der einikeit na dez nihtes ungrüntlicher wüssentheit, darbende siner eigenlichen nemlichkeit; wan da verlürt er sich in ein sin selbs vermissen und in ein aller ding vergessen12. |
II. Das Gedicht von dem überschalle und das mystische Schrifttum Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der Überschall-Verfasser Grundgedanken der deutschen Mystik in seinen Strophen zu verdichten suchte. Eine bestimmte Quelle lag ihm, so viel wir sehen, nicht vor, aber er hatte Wendungen, Formeln, Bilder, Termini des deutschsprachigen mystischen Schrifttums im Kopf und griff nach ihnen nach Bedarf. Dies sei im folgenden nachgewiesen": 2 got minnen: Q V M 44,7; Pf ,s 635,3 f.; Tauler 48,32; gotminnende Q I 328, 1; 345,9; Par" 58,6; Seuse 29,19; 393,4; 487,14. 3, 6 hohe nature: JUNDT" 283,23; hShi der gothait Q I 246,11; Q V 293,5 f. (Var.); hoheit miner gStlichen natur Seuse 248,21. 1!
Dazu kommt noch eine kleine Übereinstimmung: Ü G 520, 24 ff. diu geistekeit der sêle ... si gescheiden von dem gewerbe niderer dinge: V 185, 31 f. (der geist blibet) ... abgescheiden ... von allem gewulk und gewerbe der nidren dingen.
" Die Belege sind mit dem unvermeidbaren Nachteil behaftet, daß nicht alle Textausgaben mit einem Wonregister versehen sind - vor allem fehlt ein solches zu PFEIFFER und JOSTES - und infolgedessen (auch hinsichtlich der unterschiedlichen Vollständigkeit der Glossare) ungleich ausgewertet werden können. Die Parallelen zur glose sind hier nicht aufgenommen: sie können als Kommentar des Gedichts nicht Quelle sein. Berücksichtigt sind nur Eckhart und sein Schülerkreis, Tauler, Seuse. = Meister Eckhart. Die deutschen Werke, hg. von J. QUINT, Bd. I und V, Stuttgart 1958 und 1963. 15 = Meister Eckhart, hg. von F. PFEIFFER, Göttingen 1857. " = Paradisus animae intelligentis, hg. von PH. STRAUCH (DTM 30), Berlin 1919. 17 = AUG. JUNDT, Historie du panthéisme populaire au moyen âge et au seizième siècle, Paris 1875, Appendice [Texte]. 14
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Scuse Vita und 'Vom ÜberschalP
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vermugenheit: Q I 16,2f.; Pf 314,10; 521,12f.; 670,23 f.; ZfdA 8", 247,9; 10; JOSTES" 2,21; Tauler" 166,19f.; 404,2F.; Seuse 92,28; 178,20; 188,9; 191,18 f.; 358,13; mugentheit Q I 50,3; Pf 384,16; 388,9ff.; 390,17; 672,14; ZfdA 8, 247,27ff.; 248,20; Par 35,27; 34f.; 36,8; Tauler 299,11; 403,16; Seuse 185,11; 223,28; 244,10; 245,7. 5 vinekeit: Seuse vinlich 224,4; 22; 323,26; 375,27; 409,9; 448,6. got und gotheit: Q I 134,9; Pf 180,15; 181,10; 12; Seuse 330,25. 8 9, 14, 37 personlicheit: Pf 388,10; 24;27f.; 580,32; 591,34; 672,15; 19; ZfdA 8, 247,34 f.; 35 f.; JOSTES 15,31; 50,31; 35; JUNDT 283,26; Seuse 191,27 f. 11 widerbloeze: nur hier. 12 in im selber liuhten: JOSTES 50,29; 104,24. 17 rivier (2.Person): Pf 181,3; 16; 670,16; JUNDT 272,23; in der gerivierten drivaltekait Seuse 179,32. 17 ursprunclich: Pf 313,36 ( = Par 126,10f.); 314,6f. (= Par 126,19); 514,40; Seuse 14,34. | 17 wesenen (swv): Q V 208,12. 18 einic ein: Q I 31,8; 43,2; 6; Pf 390,7; ZfdA 8, 245,30; JOSTES 32,25;
4
59,12;
Tauler
176,9;
Seuse
93,20;
106,35;
177,27;
225,16;
294,23; 313,1; 330,1; 477,18.
18 18
durftelos: JOSTES 53,28. in im selben sweben: Q V 25,2 F.; 111,6; Par 127,19; JOSTES 95,21; Seuse 350,27 f. 19 dunstre stilheit: Pf 670,28; vinster stillheit Seuse 186,11; 245,17; dùnsterheit 187,17 f. ; 189,23; stillu inswebende dunsterheit 330,14. 20,33, 56,60 selbesheit: JUNDT 283,12; 284,1; Seuse 23,10; 180,2; 182,27; 184,24; 185,2; 187,22; 189,7; 20; 22; 337,19; 339,11; 385,13; 389,4. 20 offenbar sin: ZfdA 8, 250,7f.; Seuse 85,20 f.; 88,19; 242,19; 473,5. 21 ursprunclicheit: ursprunclich Pf 313,36; 314,6f.; Seuse 14,34. 22 verleiten: JOSTES 32,35. 22 verborgenheit: Q I 382,5 ( = Pf 288,27); Pf 480,25; 33; Par 38,28; 42,32; 44,25; 28; 128,1; Tauler 8,2 (Var.); 33,29f.; 74,26; 101,4 (Var.); 186,17; 204,29; 249,11; 277,21; 27f.; 363,9; Seuse 206,15 f. 23 ingezogen: Q I 120,6; Tauler 169,23; Seuse 144,12; 352,11.
" = F. PFEIFFER, Predigten und Sprüche deutscher Mystiker I (Franke von Köin S.243-251), ZfdA 8 (1851), S.209^258. " = Meister Eckhan und seine Jünger, hg. von F. JOSTES, Freiburg (Schweiz) 1895. 20 = Die Predigten Taulers, hg. von F. VETTER (DTM 11), Berlin 1910.
Seuse Vita und 'Vom Überschall'
[202/203]
25
entkleiden:
157
Q I 152,7; 153,5; Pf 19,23; JOSTES 27,19; Seuse 186,17;
21.
25, 63 dunsterheit: siehe unter 19. 26 abgruntlicheit: Seuse 88,15; 188,21. 27 entfrömden: Q I 404,1; O V 278,7; Pf 80,12; 621,6; 11; JOSTES 23,35; 106,19; Seuse 161,11. 27 verborgen wesen: JOSTES 50,30; Par 75,10 f. 29 gruntlos tiefe abgrunt: Seuse 189,2; grundlos abgrtind 14,32. 30 hobeit (gotes): Q I 11,10; 237,4; 346,5; Q V 293,6; Seuse 205,2; 248,21. 31 der tiefi grünt: grundlose tieffi Q I 246,9f.; Seuse 185,28. 33 kuntschaft: JOSTES 46,33; ZfdA 8, 250,22; Seuse 228,14. 34 an sich ziehen: Q V 420,9; 428,2f.; Seuse 189,8. 35 der geist stirbet: diu sèle stirbet Pf 536,30; Seuse 189,10. 35 wunder der gotheit: Pf 536,31; Seuse 185,28 f.; 189,11. 41 einvaltic liebt: Pf 541,10; Seuse 189,17. 42 purheit: Pf 252,32; pur Tauler 15,21; 344,34; Seuse 451,2. 42f. niht werden an im selben: vernihten sin selbes Q V 292,7; 405,3; Pf 351,9; 601,3421. 43 entgan (inf. subst.): entgangenheit Seuse 94,27; 113,13; 168,16; 189,16f. 44, 51 blozheit: Q I 87,9; 200,16; 246,6; 282,2; Q V 32,8; 209,1; Pf 392,23; 525, 24; 635,8; 636,26; 28; Par 125,10f.; JOSTES 7,24, 53,14f.; 18; 20; 23; 25; | Tauler 26,20; 55,25; 108,14; 124,3; 145,21; 363,12; Seuse 174,7; 177,27; 186,16; 188,9; 245,8; 261,26; 328,17; 360,6; 400,5; 405,2. 47 entsinken der nature: Tauler 145,18; Seuse 340,10f.; entsinken sin selbes Pf 632,11; Tauler 155,29; 422,35f.; Seuse 17,3; 23,9f.; 94,10f.; 168,22; 189,19; 336,17f.; 357,17; 340,11 f. 48 inwesende beliben: inwesende, innebltbende Q V 46,8; inwesende Seuse 187,7; inneblibende Q I 16,6; 157,7f; 158,5; 415,14; Q V 9,19; Par 67,11; 20ff.; Tauler 299,6; Seuse 180,2; 184,23; 185,19; 30f.; 186,7; 191,28; 344,27. 49 ein geschaffenes iht von einem niht: Q I 14,1 f.; Pf 295,22 f.; Seuse 188,3 f. 50 entzogen werden (sin): Par 108,27; entzogenheit Seuse 127,34. 51 niht ist blozheit: JOSTES 53,10; Seuse 188,9. 51 derpersonen wesen: Seuse 188,11 f. 52 den geist entgeisten: JOSTES 60,11; 18; 2 6 F . ; Seuse 182,32F.; 189,19ff.; 193,25; den menschen entgeisten Seuse 182,14. 1
Siehe noch Trudperter Hohes Lied 4, 15 f.: so sin wir wordin ein nith. le nihte werden: siehe die Belege bei L. VÖLKER, Die Terminologie der mystischen Bereitschaft in Meister Eckharts deutschen Predigten und Traktaten, Diss. Tübingen 1964, S. 179 ff.
158 53 53
Scuse Vita und 'Vom Überschall'
[203/204]
62
dunsterheit: siehe zu 19. los (= ledic) in (werden): Tauler 39,23; 76,30; 425,1. frei von materien und formen: JOSTES 2 , 3 4 f. blozes gensterlin (ganster): Pf 670,38; 675,12; PREGER, 2 Wege22 170,9; 12; JOSTES 15,9; 11; 44,28. ein geschaffenes iht: siehe zu 49; ZfdA 8, 245, 33. mens: Pf 317,36; 318,2; 670,39; 675,13; JOSTES 15,9; 44,29; JUNDT 274,5. wortelos: Pf 578,34; 35; Seuse 305,7; 548,8. ein und ein vereinet: in ein vereinen Q V 33,4; geist mit geist vereinen Seuse 182,21 ff. bloz gein bloz: ploz in plozheit JOSTES 5 3 , 1 4 . bloz liuhten-.QV 276,2. umbegrifen (subst.): Pf 51,7; 667,26. alle dinc vernihten: Q I 273,1; Seuse 351,24f. zwei abgrunde: Tauler 176,9. in gelicheit sweben: JOSTES 6 0 , 2 6 . gegeistet: Pf 533,7; ZfdA 8 (Sterngassen) 256,11.
62
entgeistet:
54
54 56 57 57 58 58
58 59 60 61 61
63 66 69
69
P f 3 9 1 , 8 ; JOSTES 6 0 , 1 1 ; 1 8 ; 2 6 F . ; S e u s e 1 8 2 , 1 4 ;
183,1;
189,21. got entgeistet sich (ist entgeistet): Pf 670,30. trecken: Pf 385,40; Par 133,17; Seuse 425,16. ilen in daz hohste: komen in das hceheste Q I 232,1 f.; üfvliegen in daz haehste der gotheit Q V 4 3 3 , 8 ; Diu sele ilet üf über sich in got Pf I, 3 9 3 , 2 f . ; ein ufylen haben in daz gotlich wesen JOSTES 106,20. überschal: J U N D T 2 4 2 , 1 0 ; Seuse 1 1 2 , 4 . |
Wer ist der Verfasser des Gedichts? Bestimmt niemand, der gewohnt war, Verse und Reime zu dichten: das verrät uns fast jede Zeile. Man geht wohl kaum fehl, wenn man die Reimerei einer Nonne zuschreibt. Solche Nonnenverse sind mannigfaltig bezeugt 2 ': sie verraten die Wirkung der mystischen Predigt und Unterweisung, sind Spiegelungen hoher Mystik in schlichten Gemütern. Daß nun eine poetisch und 22
23
= W. PREGER, Traktat von zweierlei Wegen, ZHTh 34 (1864), S. 166-180, Eckhart zugeschrieben (= Franke von Köln, ZfdA 8, erweiten). JUNDT S. 281-284; A. SPAMER, Texte aus der deutschen Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts, Jena 1912, S. 175 ff.; KARL BARTSCH, Beiträge zur Quellenkunde der altdeutschen Literatur, Straßburg 1886, S. 316 ff.; JOSTES S. 53 usw. - Auffallend nahe steht unser Gedicht dem von J U N D T S. 283 f. mitgeteilten 'Ich will von der minne singen'. Man vergleiche V. 12-14: Si [die drei göttlichen Personen] lühtent m ir selbesheit, / Doch hant si in in beslozen / Alle drie ein einikeit mit Ü 12 f.: diu liuhtet m ir selbes wesen gar ane underscheit. / Da hat sie beslozzen alle in einikeit. - Man darf an Identität der Verfasserin denken.
[204/205]
Seuse Vita und 'Vom Überschall'
159
gedanklich bescheidene KJosterübung eine anspruchsvolle Glosse fand, ist erstaunlich. Ich möchte nicht annehmen, daß dieser Glossator vom Uberschall-Gedicht "inspiriert" worden ist (wie die 'Granum sinapis'Sequenz" zweifelsohne inspirierend wirken mußte): er stand der Autorin vielmehr nahe und erhöhte die wohl durch ihn selbst angeregte Leistung durch seinen Kommentar. Mit anderen Worten, ich möchte das Verhältnis von Seelsorger und Klosterfrau annehmen, das bekanntlich eine Grundgegebenheit der deutschen Mystik ist. Methodisch bedeutet dies, daß Gedicht und glóse im Hinblick auf die Verfasserschaft in eins zusammenfallen. Was der reimenden Klosterfrau an mystischem Gedankengut zu Gebote stand, darüber verfügte auch der Glossator. Es darf somit nicht verwundern, wenn Elemente des Gedichts und der Glosse auf dieselbe Quelle hinweisen. Das führt uns zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gedicht, glöse und Vita c. 52. III. Gedicht, glóse und Vita c. 52 Die Wortschatzuntersuchung zum Uberschall-Gedicht hat vielfache Parallelen zu Seuse, und nicht nur zu Vita c. 52, ergeben. Der interessanteste Fall ist der Titelbegriff Uberschal: Seuse 112,4, und der Kontext legt nahe, daß er an dieser Stelle seine semasiologische Ausformung gefunden hat. Der junge Diener der ewigen Weisheit stimmt in einer Verzückung auf Aufforderung der Gottesmutter in der Marienkapelle seines Klosters, die er mit einem Rosenkranz geschmückt hat, die Sequenz-Strophe ' O vernalis rosula' an, und zehand ire drie neis viere jungling des himelschen ingesindes, daz in dem kore stund, viengen an mit im ze singen, dar na du ander schar ellü sament widerstritz, und sungen so wol gemiitklich, daz es als stlsseklich erschal, als ob ellü seitenspil da erklungen; und den überschal mohte sin t&demlichü nature nit lenger liden, und kam wider zu im selbenDas erschal führte wohl zu der in der Sprache der Mystik so beliebten kataphatischen Bildung | überschal46 ; vielleicht Darüber zuletzt K. RUH, Textkritik zum Mystikerlied 'Granum sinapis', Festschrift Josef Quint, Bonn 1964, S. 169-185, jetzt in: K. R., Kleine Schriften, Bd. II., Berlin/ New York 1984, S. 77-93. " 21
111,29-112,5.
Dazu tritt ein überschal-Beleg aus J U N D T 2 4 2 , 1 0 . Er steht in einem Meister-Jünger Dialog, der bestimmt nach Seuse und dem Überschall-Gedicht anzusetzen ist. - Der für Seuse in Anspruch genommenen Neubildung steht der Umstand nicht entgegen, daß überschal auch außerhalb der mystischen Literatur und vor Seuse belegt ist: Wartburgkrieg, S I M R O C K Nr. 1 5 7 , 9 : Als aber die zwene ir iiberschalles werdent in getan (= Übermut); Heinrich von Neustadt, Apollonius 1 4 0 0 4 Sych bub freuden über schall (= Jubel).
160
Seuse V i t i und ' V o m Überschall'
[205]
auch das sonet vox jocunditatis der zitierten 'Alma redemptoris mater'Hymne". Daß Seuse den Begriff aus dem Gedicht gewonnen hat, darf als ausgeschlossen gelten. Er wurzelt dort keineswegs in der Gesamtthematik. Als Titel erscheint er nur in E,: sekundär, möchte ich meinen, aus dem Schlußvers hergeholt. Dort aber scheint sich Uberschal nur auf das ilert in daz hohste zu beziehen, den Aufschwung in das hohe leben (62), das sich die Verfasserin als paradiesischen Jubel vorstellt. Dies in offensichtlichem Widerspruch zu der stilheit tief (65). Eben diese überraschende Wendung aus der Stille und dunsterheit (63) der mystischen unio in den populäreren iubilus macht es wahrscheinlich, daß der überschal des Gedichts auf Seuses Vita zurückgeht. Trifft dies zu und bestätigen (wie ich annehmen möchte) unsere Belege die Verwendung der seusischen Terminologie durch die Autorin, so wird auch die These diskutabel, daß der Glossator Seuses Vita c. 52 und nicht umgekehrt Seuse die glöse benutzt hat". Zunächst darf zu Gunsten dieser These vermerkt werden, daß der Glossator nicht ohne Veranlassung zur Vita gegriffen hat. Die stark durch Seuse bestimmte Begriffs- und Bildsprache des Gedichts war ihm bekannt - er dürfte sie selbst, wenn wir mit der Beziehung SeelsorgerKlosterfrau das Richtige getroffen haben, vermittelt haben und nun stellte er fest, daß sich die Überschall-Verse mit Hilfe Vita c. 52 aufs schönste kommentieren lassen. In der Art der Benutzung von V müßte sich daher erweisen, daß der Glossator seine Vorlage auf das Gedicht ausrichtet. Wenn die Abweichungen zwischen V und ÜG sich in dieser Weise erklären lassen, so ist unserem Ansatz eine hohe Wahrscheinlichkeit nicht abzusprechen. Ergänzend tritt das negative Beweisverfahren hinzu: es ist auszuschließen bzw. unwahrscheinlich zu machen, daß Seuse die glöse ausgeschrieben hat. Aus der Synopse der Texte geht hervor, daß die Reihenfolge der einzelnen Parallelpartien dem Fortgang von U G und V nicht durchgehend entspricht (was als merkwürdiger Zufall angesehen werden müßte). Seuse hätte Ü G in der Reihenfolge I, II a, b, V (a, b)", III, IV a benützt. Dabei fällt auf, daß er (187,11) mit ÜG IV b mitten in einem Satz (519,19) einsetzt und sehr viel später (189,16) auf die unmittelbar
27
F . J . MONE, Lat. H y m n e n des Mittelalters II, Freiburg i. Br. 1854, N r . 4 8 3 , Vers 10 (S. 200).
"
SPAMER, P B B 34 (1909), S . 3 9 3 , hat für diese Vermutung keine Gründe vorgetragen. Seinem Gespür für Abhängigkeiten
darf hohe Relevanz zugebilligt werden:
kein
Mystikforscher hat intensiv als SPAMER die "Zersetzung und Vererbung" deutscher Mystikertexte untersucht. "
Die Aufgliederung in V a, b ist unnötig, da auch Ü G I l l / I V a ein zusammenhängendes Stück darstellen. Ein anfängliches Versehen ließ sich, da die Texte bereits gesetzt waren, nicht mehr korrigieren.
[205/206]
Seuse Vita und 'Vom Überschall'
161
vorangehende Partie (ÜG IV a) zurückgreift, um sie präzis bis zur Stelle zu benutzen, die er früher (187,11) ausschöpfte. Das ist nicht unmöglich, | aber auch nicht eben wahrscheinlich. - Nehmen wir hingegen den Glossator als Benützer von Vita c. 52 an, so ergibt sich, daß er nur die Partie V (a, b) nach vorne geholt hat: Anlaß gab das Stichwort daz grundlos tiefes abgründ (81 f.) zur Glossierung der Strophe VIII. Mehr ergibt die Analyse der im Rahmen der Parallelstellen aufgerufenen Autoritäten. Seuse zitiert Augustin (16), Paulus (79), Bernhard (154); einmal verweist er auf sein Büchlein der Wahrheit (113 ff.). Diese Angaben fehlen in Ü G . Hätte Seuse die glöse als Quelle vorgelegen, so müßte man ihm die Verifizierung der Zitate bzw., im Falle Paulus, das Zitat selbst zumuten. Diese Annahme macht für das bekannte PaulusZitat keine Schwierigkeit, wohl aber für Augustin und Bernhard. Umgekehrt hätte der Glossator bei der Benutzung der Vita nur dü schrift zu Paulus (95) präzisiert, den schon das Gedicht im selben Zusammenhang nennt (32). Die Augustinus-Zitation 519,1430 (bei PFEIFFER falsch interpungiert: sie bezieht sich auf den vorangehenden, nicht den nachfolgenden Satz) fehlt Mait Nj, und damit zwei der Vita nahestehenden Hss. Seuse als Entlehner müßte es mitten in einer Partie, die er vollständig auswertet, übersehen oder geflissentlich ausgelassen haben: das anzunehmen fällt schwer. Sehr viel wahrscheinlicher ist die Hinzufügung durch den Glossator; das Stichwort dazu war gegeben: einvaltic lieht (41). - Die Selbstzitation Seuses schließlich (113 ff.) wäre höchst befremdlich, sollte er der Bearbeiter der glose sein, weniger weil eine Tarnung vorläge (die man allenfalls begründen könnte), als daß das Stichwort für den Selbstverweis, üzslac", in der glose fehlt (ÜG 109). Daß umgekehrt der Glossator den Selbstverweis wegließ, liegt auf der Hand - er zitiert überhaupt keine Väter und Meister - ; üzslac läßt er fallen, weil ihm der Begriff als solcher nicht geläufig war: er verwendet ihn jedenfalls in der ganzen glose nicht. - Zusammenfassend darf gesagt werden, daß die Zitationen innerhalb der Textparallelen Ü G - V eindeutig für die Priorität Seuses sprechen". Grundsätzlich sind die Textparallelen ÜG—V, die Wendungen des Gedichts mit einschließen, am aufschlußreichsten, denn hier wird, nach w
die drie persone liuhtent ein wesen als da driu lieht einen schin schinent (117-119). Parallelstellen Pf 499, 26 f.; JOSTES 51, 1 ff. Dazu Mechthild v. Magdeburg, MOREL 68, 22 f. do lühteten die drie personen also schone in ein. De ir jeglicher dur den andern
schein, und wäre doch gantz in ein. Bild der Perichorese! Ich fand es nicht bei Augustin (ein ähnliches De unitate Trinitatis c. V, PL 42, 1160 f.), wohl aber bei Pseudodionysius Areopagita, De div. nom. c. II, § 4 (PG 3, 642 A/B), freilich nicht auf die göttlichen Personen, sondern auf die perfectiones generales bezogen. " BdW-Belege: 332,2f.; 335,14ff.; 346,1 f.; 14ff.; in der Vita außerdem 184,23; 193,10. Der Begriff geht auf Eckhart zurück: Q V 117,4 u. Anm. z. St. " Uber die Behandlung des Bernhard-Zitats siehe unten S. 164.
162
Scuse Vita und 'Vom Überschall'
[206/207]
unserer These, Seuse mit Seuse interpretiert. Sie seien im folgenden besprochen; doch lasse ich diejenigen 'Dreieckbeziehungen' beiseite, die die Priorität Seuses weder zu unterstützen noch in Frage zu stellen vermögen". | U9-14 Die personen die sint gotan irpersonlicheit, / gotheit nach der nature in ir einikeit, / und diu widerblceze der hohen einikeit / diu liuhtet in ir selbes wesen gar ane underscheit. / Da hat si heslozzen alle in einikeit, / und doch mit underscheide, die hohen personlicheit. V 21-23; Du driheit der personen hat beschlossen die einikeit in ir als 26-37 ire natürlich wesen, [26] dar umbe ist ein ieklichü person got, und (fehlt ÜG) na einvaltekeit der natur ist es {ist es: und an nature ÜG) gotheit. Nu {Alsus ÜG) lühtet du einikeit in der driheit nah underscheidenlicher wise (underscheidenlich nach reden ÜG), aber dü driheit nah dem inswebenden widerschlage lühtet {Aber der bloze widerslac der einikeit liuhtet in sich selben eigenlich sunder reden ÜG), in der (fehlt ÜG) einikeit einvalteklich {und doch einv. ÜG), als si es in ire beschlossen hat einvalteklich {als in ir beslozzen ist nach einikeit ÜG). Die Vergleichsstelle zeigt ab 26 beträchtliche Unterschiede zwischen V und ÜG, und zwar steht ÜG dem Ü-Text näher. Entweder hat ÜG V erweiternd oder Seuse ÜG kürzend modifiziert. Das erstere ist sehr viel wahrscheinlicher: ÜG richtet sich in der Benutzung von V nach dem zu kommentierenden Gedicht aus. Besonders deutlich wird dies beim Begriff widerslac. Er ist für Seuse gesichert (Büchl. d. Wahrheit 346,16), der ihn seinerseits von Eckhart kennt {Von dem edelen menschen Q V 117,4)M. ÜG hat ihn der widerbloeze von Ü angeglichen: der bloze widerslac, womit er zugleich ein Interpretament des seltenen Wortes (oder gar einer Neubildung?) bietet. - Seuse hingegen müßte den ÜGText kürzend geklärt haben; warum er bloze widerslac durch inswebenden widerschlag ersetzt haben soll, ist nicht erfindlich. Ü 17 V 39-50
Der rivier ist ursprunclich da einikeit in weset. Der vater ist ein ursprung dez sunes; dez ist der sun ein uswal {rivier ÜG) . . . [44] Der vater und der sun entgiessent {ursprungent ÜG) iren geist. [49] Und dü einikeit, dü da wesen ist des ersten Ursprunges...
» Es handelt sich um die Parallelen Ü 3 f.: ÜG/V 12-15; Ü 32: ÜG/V 94f.; ÜG/V 98f.; Ü 45 = Ü G / V 133f.; Ü 49 = Ü G / V 163 f.; Ü 50 = ÜG/V 172 ff. - Die ÜG-Abweichungen vom V-Text biete ich i. f. in Form von KJammeringaben in V. * Weitere Belege Q V Anm.48 z. St. (S. 133); siehe auch B I Z E T [Anm. 3], S.264 u. Anm. 2.
[207/208]
Scuse Vita und 'Vom Überschill'
163
Wiederum hätte Seuse als Nehmender gekürzt (warum 46-48?); weshalb er rivier durch uswal (21,27; 310,18; 330,7 [Var."]) ersetzt haben soll, wo ihm die trinitarische Metapher rivier bekannt war (in der gerivierten drivaltekait 179,32), ist schwer einzusehen; hingegen wäre entgiessen für urspringen verständlich, da er Ursprüngen nicht kennt oder verwendet. Anderseits ist leicht zu erklären, was den Glossator zum Ersatz von uswal und entgiessen veranlaßt hat: die Angleichung an Ü". | Ü25 V70-72
Da wirt er entkleidet von liehtes dunsterheit. Wan hie (Da ÜG) wirt der geist entkleidet von dem tinbern liehte (von liehtes dunsterheit ÜG).
Hier ist die Angleichung des Glossators an U vollkommen; tinber scheint er außerdem nicht zu kennen, während Seuse dunsterheit (siehe zu 69) und tinber (186,17; 374,10; 390,18; 446,15; 471,28; 478,17) vertraut sind. U29, 31 V81f.;89f.
O grünt los tiefe abgrunt... daz ist uns verborgen in diner tiefe grünt. Und daz ist daz grundlos tiefes abgründ (Eya,du grundeloser tiefer abgrunt UG) . . . [89] daz ist och (fehlt UG) verborgen allem dem, daz er (du UG) selber nit ist (enbist ÜG).
Die 2. Person und das Eya (= O) in ÜG lassen sich wieder als Textanpassung des Glossators beurteilen; freilich wäre auch einsichtig, warum Seuse das emphatische Element getilgt hätte. Nicht hingegen die Kürzungen Ü G 83-88, Wendungen, die Ü 29 f. in diner tiefe ho, / in diner hoher nider paraphrasieren. Seuse als "Plagiator" müßte überhaupt (das zeigt ein Blick auf unsere Synopse) höchst sorgfältig das ausgeklammert haben, was sich auf Ü bezieht. Ü35
da stirbet der geist al sterbende in dem wunder der gotheit. V103-105 Da stirbet der geist al lebende (al sterbende Ü G ) in d e n wundern (dem wunder ÜG) der gotheit. al lebende dürfte die ursprüngliche Formulierung sein: sterben sich selber ist leben in Gott. Ü36 wanne er in der einikeit enhat kein underscheit. V105-108 Daz sterben dez geistes lit dar an, daz er underscheides " Die Variante uswal fehlt bei B I H L M E Y E R . Siehe D E N I F L E [Anm. 1], S. 513, Anm. 5. * Bemerkenswert ist die Parallele in ZfdA 8, 249, 3-5 (Franke von Köln): Der vater ist ein ursprunc sins suns ... der vater unde der sun die ursprungent iren geist. O h n e die A n der Abhängigkeit bestimmen zu wollen, verrät sie, wie geläufig die trinitarische Bestimmung der processiones war.
164
Seusc Vita und ' V o m Überschill'
[208/209]
(dehein unterscheit Ü G ) nit war nimt (hat Ü G ) in siner Vergangenheit {in s. verg. fehlt Ü G ) an der eigenlichen (einlicher) weslichkeit. Auch hier springt die Angleichungsaufgabe von Ü G ins Auge. Vergangenheit = 'Verzückung'" scheint er nicht zu kennen (nur entgan Ü 4 3 ) : ein ganz spezifisches Seuse-Wort (64,21; 90,23; 101,8; 152,11; 159,16; 160,16; 17; 25; 161,1; 4; 12; 162,26; 188,5; 189,12; 193,26; 338,18). - Seuse als Nehmender müßte hier ergänzend präzisiert haben. Ü 4 1 f.
Er liuhtet uz der einikeit ein einvaltic lieht, / in purheit des geistes. V I 16-122 Und merk noh ainen puncten: daz in der vordren entgangenheit (bis | hierher fehlt Ü G ) schinet (Doch schinet Ü G ) «55 der einikeit ein ainvaltiges lieht (+ Ü G : wan die drie persone liuhtent ein wesen als da drin lieht einen schin schinent), und (fehlt U G ) dis wiseloses lieht wirt gelühtet von den drin personen in die luterkeit (purheit ÜG) des geistes. Die Stelle stand bereits bei der Besprechung der Zitate zur Diskussion: die Plusstelle Ü G ist das Augustinuszitat, das man besser als Zutat des Glossators betrachtet denn als Minusstelle Seuses, purheit wäre wiederum Anpassung von Ü G an das Gedicht. Ü46 da verliuset er daz mitel von gotlich er art. V152—162 . . . 5 0 verlüret er ellü mitel und alle sin eigenschaft, als sant Bernhart sprichet. Und daz heschiht minr und me nah dem, als der geist in dem libe ald von dem libe uss im selb in daz vergangen ist. Und dü verlornheit sin selbsheit (und alle bis selbsheit fehlt Ü G ) ist (daz ist Ü G ) von der g 6t lieh en art, dü (diu ist Ü G ) im neiswi (aleine Ü G ) ellü ding worden ist, als dü scrift seit (worden bis seit fehlt ÜG). Eine besonders beweiskräftige Stelle für die Priorität Seuses! Seuse benutzt hier Bernhard, De diligendo Deo n. 27/28 wie schon genauer und ausgedehnter BdW 336,7 ff. (genaue Nachweise in der Ausgabe DENIFLES S. 526 f.). Ü G bietet die Bernhard-Entlehnung nur in verstümmelter Form: und alle sin eigenschaft (153) nimmt das bekannte Bild
57
Das D W B X I I , !, 374 registriert 'Vergangenheit' als "ein verhältnismäßig junges w o r t " , "fehlt im m h d . und m n d " . Das gilt jedoch nur für die moderne Bedeutung 'das zeitlich Zurückliegende'. Siehe A. NICKLAS, Die Terminologie des Mystikers Heinrich Seuse, Königsberger Diss., 1914, S. 50 f.
[209/210]
Seuse Vita und 'Vom Überschall'
165
vom Wassertropfen im Wein 3 ' auf (De dilig. Deo n. 28: Quomodo stilla aquae modico, multo infusa vino, deficere a se tota videtur, num et saporem vini induit et colorem: verlüret ... alle sin eigenschaft); der folgende in Ü G fehlende Satz (155-158) hat seine Parallele in B d W 336,11 f. und konzentriert sich in verlornheit sin selbsheit (159f.): D e dilig. D e o n. 2 7 : Te ... perdere ... et omnino non sentire teipsum et a teipso exinaniri; als du scrift seit meint 1. Kor. 15,28 (ut sit Deus omnia in omnibus), das sublim im Bernhard-Text eingewoben ist (Alioquin quomodo omnia in omnibus erit Deus: n.28). Es ist hier kaum mehr möglich, sich Seuse als Ergänzer eines ungekennzeichneten und kaum mehr erkennbaren Bernhard-Anklangs vorzustellen: sein Verfahren grenzte an die Akribie eines Konjekturalkritikers! - Hingegen ist das Vorgehen des Glossators mit V als Quelle völlig durchsichtig: er kürzt hier, um verliuret er alle mitel und von der götlichen art, die in V weit auseinander liegen, entsprechend U zusammenzubringen. Als Resultat halten wir fest: Mit entschiedener Wahrscheinlichkeit läßt sich hinsichtlich der UG-V-Parallelen die Priorität Seuses erweisen. Damit sind aber auch die U-V-Parallelen auf Seuse zurückzuführen. Mit anderen Worten: Uberschall-Gedicht und Glosse setzen Vita c. 52 voraus. | I V . V i t a c. 52 und L i b e r P o s i t i o n u m Neben den Parallelen von Vita c. 52 zur Uberschall-g/ose haben DENIFLE und BIHLMEYER in ihren Ausgaben solche zum Liber positionum (Nr. 121/122 und 124 = Pf 668,35 ff.) verzeichnet. Es sind die folgenden: V 184,21; 185,6 bildriches lieht der gStlichen ainikeit = LP668,35; bildliches lieht 668,25; 30; 669,16; 2 0 f . V 184,23 weslichü stilheit = L P 6 6 8 , 3 8 ; 40; inwesende stilheit 669,31. V I 85,22-25
L P 669,37-39
Wie aber dü driheit ein sie, und dü driheit in der einikeit der natur ein sie, und doch dü driheit usser einikeit sie, daz mag man nit gewórten von dez tiefen grundes einvaltekeit.
Aber wie diu nature in der driheit ein si unde doch driheit üzen einekeit si, daz enmac man niht geworten von der einvaltikeit der ersten sache.
" Siehe Q V 269, 5 f.; weitere Belege Anm. 332 z. St. (S. 354). Dazu Mönch von Heilsbronn, hg. von J . F. L. T u . MERZDORF, Berlin 1870, Sieben Grade V. 1485 ff.; Par 56, 20 ff.
166
Scuse Vita und 'Vom Überschill'
[210/211]
V I 86,22-187,3
LP 668,38-669,5
Daz lúhtet sich eliti ding in ainvaltiger
Da liuhtet ez sich elliu dinc in einveltiger wise, niht daz es wise si keiner creatüre, mer: ez ist wise im selber in der selber weselicher stilheit. Da ist daz underscheit vergeistet der persönen
stillheit, und da wirt der blibender underscheid der personen nah sunderheit genomen verahtet in einvaltiger wiseloser wise. Wan als dú scrift seit: dú person des vaters allein genomen git nit selikeit, noh dú persone des sunes allein, noh dez heiligen geistes allein, mer die drie personen inhangende in einikeit dez wesens ist selikeit. Und dis ist wesen der personen natürlich und wesen gebend allen creaturen genedeklich; und dis hat aller dingen bild in ime beschlossen einvalteklich und weslich.
Seht, hie ist ez wesen der persöne und aller dinge: der persöne wesen ist ez nätiurlich, aber der creaturen genedeclich. Nil mer- \ kent als wie. Ez hat aller dinge bilde in ime beslozzen einvelticlich unde weselich.
V I 8 7 , 3 - 8 (anschließend)
LP 669,16-22
Wan sich nu dis bildrich lieht haltet wesen, so sind dú ding in ime na sin selbes wesentheit, und nút na inbildender zuvallikait;
Wan sich denne daz einveltic bilderiche lieht haldet wesen unde haldet sich ouch der nätüre, so frage ich, ob ez ieclichem eigenschaft trage oder niht? Nein ez, niht! Da enist niht me denne ein. Sin meistiu eigenschaft ist, daz es sich alleine liuhtet ime selber unde liuhtet sich alleine den persönen. Swenne sich aber daz bilderiche lieht alliu dinc liuhtet und allez
und wan es sich ellú ding lúhtet,
in der einveltiger wiseloser wise.
[211/212]
167
Seuse Vita und 'Vom Überschall'
dar umbe haltet es liehtes eigenschaft. Und alsus so lühtend ellü ding in dem wesene in einer inwesender stillheit nah des wesens einvaltekeit.
daz ez buhtet daz ist ez selber, seht, har umbe haltet ez liehtes eigenschaft.
Der Lib. Pos., wir wir ihn bei PFEIFFER lesen, ist eine Zusammenstellung des Herausgebers. Geschlossen in verschiedenen (fünf) Handschriften werden nur die Nummern 5,121-136, 138, 140, 141, 148.2 überliefert". Dazu gehören die für uns in Frage kommenden Stücke. Hier ist nun die Priorität Seuses auszuschließen! Es fällt auf, daß die V-LP-Parallelen nicht nur die g/ose-Parallelen nicht überschneiden, sondern unmittelbar an diese angeschlossen sind: VI85,22-25 nach I unserer Synopse, V 186,22-187,8 nach II und vor III. Es wäre nun doch ein arger Zufall, wenn der LP-Autor ausgerechnet diejenigen Partien von Vita c. 52 herangezogen hätte, die der Glossator ausgespart hat. So ist Seuse hier der Nehmende. Er zieht zunächst die beiden Begriffe bildrichesK lieht der götlichen einikeit (184,21; 185,6) und weslichü stilheit (184,23) einzeln zur Exposition seiner Antwort auf die Frage nach dem wa der blossen g&tlichen sunheit (184,20) heran, um dann später den Text im Zusammenhang auszuwerten. | Seuse benutzt also in Vita c. 52 LP 121/122 u. 124, wie er wiederum vom Glossator ausgeschrieben wurde. Das ist weiter nicht verwunderlich. Der sorgfältige Vergleich der Paralleltexte zeigt auch sofort, daß Seuse von seiner Quelle einen anderen Gebrauch macht als der Glossator von der Vita. Dieser schreibt ganze Textstücke ab und modifiziert sie lediglich nach Maßgabe des Uberschall-Gedichts, jener greift vornehmlich einzelne Begriffe und Wendungen auf, nie auch nur einen ganzen Satz. Der Versuch, das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Vita c. 52, Uberschall-Gedicht und -glöse und Lib. Pos. zu bestimmen, führt zu einer Schlußbemerkung grundsätzlicher Art.: Die Tradierung des mystischen Schrifttums in deutscher Sprache, das Meister Eckhart verpflichtet ist, erfolgte nicht nur und nicht einmal vorwiegend auf rein literarischem Wege, m. a. W. durch Vermittlung von Handschriften. Das gilt jedenfalls für die Zeit, da die Schülergeneration noch lebte. Die Beziehungen der Texte der nacheckartischen Mystik "
Siehe SPAMER, P B B
34 ( 1 9 0 9 ) , S. 4 0 8 - 4 1 8 ,
bes. 4 1 6 ; J . QUINT,
Meister
Eckhart.
U n t e r s u c h u n g e n I [ A n m . 10], S. 9 8 - 1 0 0 .
bildlich gehört zum Vita-Wortschatz, außer in Vita c. 52: 24,7; 103,15; 155,16; 183,8; 9; 197,15.
168
Scuse V i t a und ' V o m ÜberschaJP
[212]
sind, so viel ich sehe, derart verflochten, daß sich die Vorstellung eines gegenseitigen Nehmens und Gebens unmittelbar aufdrängt. Wir haben uns Kreise vorzustellen, die in regem Kontakt standen; vieles wurde mündlich, in Predigten, Kollationen, Diskussionen, vermittelt. Manches, was wir heute auf Grund der handschriftlichen Uberlieferung als "Abschrift", "Auszug" oder "Ausweitung" zu beurteilen geneigt sind, dürfte nach dem Gedächtnis festgehalten worden sein. So zweifle ich daran, daß Seuse der Text LP 121/122 in der Form vorgelegen hat, wie wir ihn lesen. Vollends scheint es ausgeschlossen, daß der Autorin des Überschall-Gedichts die 'Quellen' zur Hand waren, die wir ihr nachweisen können: außer Vita c.52 müßten es Stücke aus dem LP und aus JOSTES' Predigtsammlung gewesen sein (siehe Nachweise). Ich halte es auch für wahrscheinlich, daß der Glossator keine endgültige Vita-Hs. oder das 'Exemplar' benutzte, sondern einzelne ihm entliehene Blätter, wenn nicht Rohschrift auf Wachstafeln, deren Gebrauch uns gerade Seuse bezeugt (100,12 f.; 459,8 f.). Ja ich würde an Seuse als den Autor der Glosse denken, wenn nicht die letzte Partie (520,3-38) wäre, die keine Beziehungen mehr zur Vita oder überhaupt zu Seuse feststellen läßt41. Das wurde reiflich erwogen wie noch manches, das ohne sicheres Resultat blieb und deshalb verschwiegen werden darf. Untersuchungen wie die vorliegende versprechen keine schnellen und glänzenden Lösungen. Nur mit kleinen Schritten kann Terrain gewonnen werden; Rückschläge sind in Kauf zu nehmen. Es gilt hier für den Forscher, was sich der Diener der ewigen Weisheit vom aventürer auf dem Bodenseeschiff sagen lassen mußte (149,22 ff.): er (der wahre Ritter) muss den turnei us und us herten, und wurdi er geschlagen.... daz muss er alles liden, sol er daz lob gewinnen.
41
M i t A u s n a h m e der A n m . 12 mitgeteilten Parallele. Ü G 520, 2 0 - 2 4 hat eine Parallele JOSTES
60,18-21.
Das 'Compendium Anticlaudiani' als Quelle des Prosa-Marienlebens Da Got der Vater schuof Adam und Evam [ Z e i t s c h r i f t für d e u t s c h e s A l t e r t u m und d e u t s c h e L i t e r a t u r 98 ( 1 9 6 9 ) , S. 1 0 9 - 1 1 6 ]
Die vorstehende Edition des Compendium Anticlaudiani (C. Acl.) durch P. OCHSENBEIN gestattet mir, die Wirkung dieser Abbreviatio des 'Anticlaudianus' von Alanus ab Insulis in einem weiteren deutschen Literaturdenkmal des Spätmittelalters nachzuweisen. Es handelt sich um ein Marienleben in Prosa mit dem Initium Da got der vater schuof Adam und Evam (M. L.), das bisher nur wenige beiläufige Erwähnungen gefunden hat', jedoch als repräsentativstes deutsches Prosa-Marienleben eine Ausgabe und nähere Würdigung verdiente". Nach dem heutigen Stand des Wissens ist es in fast zwei Dutzend Handschriften | tradiert 2 , die alle dem 15. Jahrhundert angehören. Der Uberlieferungsbefund und die Benutzung der 'Revelationes' der hl. Birgitta von Schweden (sandt Brigida, 1391 kanonisiert) schränken die Entstehungszeit auf kurz vor oder kurz nach 1400 ein. Die Heimat des Verfassers ist auf Grund der geographischen Streuung der Handschriften in erster Linie in Süddeutschland zu suchen. Ein Autorname ist nicht überliefert.
1
H . VOLLMER, N e u e B e i t r ä g e z u r G e s c h i c h t e d e r d e u t s c h e n B i b e l im Mittelalter ( B i b e l u n d deutsche K u l t u r 8 ) , P o t s d a m 1 9 3 8 , S. 116 F.; K . RUH, Studien über H e i n r i c h von St. G a l l e n und den ' E x t e n d i t m a n u m ' - P a s s i o n s t r a k t a t , Z s . f. Schweiz. K i r c h e n g e s c h . 4 7 ( 1 9 5 3 ) , S. 2 2 8 , 2 5 4 ; d e r s . , B o n a v e n t u r a d e u t s c h , B e r n 1 9 5 6 , S . 3 6 , A n m . 8 ; W . STAMMLER, M i t t e l a l t e r l i c h e P r o s a in d e u t s c h e r S p r a c h e , i n : A u f r i ß I I , B e r l i n / B i e l e f e l d / M ü n chen
2
1 9 6 0 , Sp. 7 6 7 ; P . KESTING, Maria als B u c h , i n : W ü r z b u r g e r Prosastudien
I
( M e d i u m A e v u m . P h i l o l o g i s c h e Studien 13), M ü n c h e n 1 9 6 8 , S. 137 ff.; U . MONTAG, D a s W e r k d e r hl. B i r g i t t a von S c h w e d e n in o b e r d e u t s c h e r Ü b e r l i e f e r u n g ( M T U
18),
München 1968, S . 2 3 . Sie liegt h e u t e v o r m i t HARDO H I L G , D a s ' M a r i e n l e b e n ' des H e i n r i c h von St. G a l l e n . T e x t und U n t e r s u c h u n g ( M T U 7 5 ) , M ü n c h e n 1 9 8 1 . 2
A m vollständigsten z u s a m m e n g e s t e l l t bei KESTING, S. 137, A n m . 32. I r r t ü m l i c h ist die Z e i t a n g a b e zu F r e i b u r g i. B r . C o d . 1 8 9 : lies ' 1 5 . M J h . ' . E r g ä n z e n d zu KESTING: B e r l i n , S t a a t s b i b l . g e r m . 4° 1 5 8 9 , 1 - 1 3 1 ' ; ebd. M s . g e r m . 4° 1 5 9 5 , 1 - 1 3 3 ' (GISELA KORNRUMPF u n d P . - G . VÖLKER, D i e deutschen mittelalterlichen H s s . der U n i v . B i b l . M ü n c h e n , W i e s b a d e n 1 9 6 8 , S. 1 1 6 ) .
170
'Compendium Anticlaudiani'und das Prosa-Marienleben
[110/111]
Im C o d . 4° 478 der Univ. Bibl. München wird zum M. L. vom Schreiber Johannes Reytter aus Landshut bemerkt, daß in diesem Buch die Sieben Freuden und die Fünf Schmerzen der Maria enthalten seien Als sy gepredigt
geschrifft
Maister matheus vnd maister Hamrich
Heinrich
von
¡and
gallen'.
Mit matheus
haben
dy zwen maister
von berchmg
der
vnd der dritt
heyligen
maister
dürfte Matthaus von Krakau (um 1335-1410)
gemeint sein, dem u. a. zwei erbauliche Passionsdarstellungen zugeschrieben werden, die eine, wie es scheint, im Anschluß an die 'Revelationes' der Birgitta 4 , um deren Kanonisation Matthäus sich bemühte 5 . Ein Heinrich von Berching ist mir nicht bekannt. Heinrich von St. Gallen ist der Verfasser des beliebtesten deutschen Passionstraktats ( E x t e n d i t manum)
und eines Magnifikats in deutscher Sprache'. Zu diesen Werken weist das M. L.
nahe Beziehungen auf: zum Passionstraktat in der breiten Ausführung der Bethanienszene 7 und im mariologischen Einschlag schlechthin, zum 'Magnifikat' in der häufigen Berufung auf Simon von Cassia (Simon Fidati, um 1280-1348) und in der ganzen stilistischen Prägung*. Mit dem 'Magnifikat' weist das M. L. außerdem eine gemeinsame Überlieferung von nicht weniger als 10 Textzeugen auP. So erweist sich Johannes Reytter mit seinen Fingerzeigen als gut unterrichtet.
Das M. L. setzt ein mit dem biblischen Bericht vom Sündenfall der Stammeltern und knüpft daran die allegorische Erzählung von der Natur und den Tugenden, die in einem Kolloquium mit Gott Hilfe für die verderbte Menschheit erflehen. Der Verfasser beruft sich dabei auf die Autorität des Alanus ab Insulis: Nun schrybt der mayster Alanus in dem piichlin von der natur..., ein Hinweis, der zur Identifizierung mit 'De planctu naturae' des Alanus geführt hat10. Die Lektüre des C. Acl. macht indes deutlich, daß das piichlin von der natur nur das 'Compendium' meinen | kann. Der improvisierte Titel ist offensichtlich durch die Einleitung des C. Acl. angeregt worden (1 ff.), und der Textvergleich bestätigt vollends den Anticlaudianus-Auszug als Vorlage der Allegorie. In der folgenden schematischen Konfrontation der Texte beziehen sich die C . Acl.Verweise auf die Zeilenzählung OCHSENBEINS, die M. L.-Zitationen auf den am Schluß
3
KORNRUMPF/VÖLKER, S. 116.
' Siehe F. FRANKE, Mathäus von Krakau. Sein Leben, Charakter und seine Schriften zur Kirchenreform, Diss. Greifswald 1910, S. 120 f. S
MONTAG, S. 3 3 1 .
' K. RUH, D e r Passionstraktat des Heinrich v. St. Gallen, Diss. Zürich 1939, Thayngen 1940; die Ausgabe des 'Magnifikat' wird von W . K. LEGNER für 'Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters' vorbereitet [erschienen München 1973]. 7
Darüber RUH, Studien S. 247 ff.
« Ebd. S. 227 f. ' Augsburg, Staats- u. Kreisbibl. C o d . 4° 228; Berlin, Staatsbibl., Ms. germ. 2° 88; ebd., Ms. germ. 4° 1595; Dillingen, Kreis- und Studienbibl. Cod. 35; Innsbruck, Univ. Bibl. Cod. 178; München, Cgm. 5234; Cgm. 5271; Nürnberg, Stadtbibl. Cent V I , 61; Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter Cod. b I V 28; St. Gallen, Suftsbibl. Cod. 964. 10
KARIN SCHNEIDER, Die Hss. der Stadtbibliothek Nürnberg I, Wiesbaden 1965, S. 359 u. 449, mutmaßlich in freier Interpretation der unbestimmten Angabe STAMMLERS, Sp. 767.
[111/112]
'Compendium Anticlaudiani' und das Prosa-Marienleben
171
dieses Aufsatzes gebotenen Text. Ich wählte als Repräsentanten Cod. 4° 228 der Augsburger Kreis- und Stadtbibl. v. J. 1447" und zog zur Absicherung St. Gallen, Stiftsbibl. Cod. 964 und Cod. 1860 hinzu. Aus diesen beiden Hss. gewonnene Korrekturen erscheinen in Kursiv. Einige kleine orthographische Vereinfachungen wurden vorgenommen.
25-32: Die Natur reflektiert über die verderbte Menschheit und sucht Hilfe. 33-44: Vortrag der Natur im Tugendrat. Bitte um Hilfe. 33 Vnd bis 34 sprach. 34 Ir bis 37 gebrechen.
37 Nun bis 44 willen. 45—47: Zustimmung der Tugenden. 48-63: Die Vernunft schlägt die Weisheit als Botschafterin vor. 48 Vnd bis 57 mal. 57 Vnd bis 60 fürgelegt. 60 Nun bis 63 hegerung.
64—74: Die Weisheit lehnt wegen angeblichen Unvermögens ab. 75-84: Die Einigkeit greift vermittelnd ein. 85-90: Die Weisheit nimmt den Auftrag an. Die 7 Artes besorgen den Reisewagen. Die Ratio stellt 5 Sensus als Zugpferde. Die Weisheit gelangt an die Grenze des caelum empyreum. 91-97: Die Barmherzigkeit bemerkt die hilflose Situation der Weisheit und steht ihr bei. 98-116: Die Weisheit gelangt vor
C. Acl. 11 Natura bis 19 consumarci.
C. Acl. 31 Tunc surrexit Natura + 32 conceptum bis 33 modo. C. Acl. 33 O domine mee + 34 quod bis 35 f. commendavit + 37 sed bis 40 sunt. C. Acl. 41 in hiis bis 44 triumphalem + 60 cogitavi bis 61 formare. C. Acl. 67 Hiis bis 69 concepisti.
C. Acl. C. Acl. C. Acl. equetur mare. C. Acl.
95 tunc bis 101 causa. 106 Utile bis 107 laudo. 115 huiusmodi bis 116 ex+ 119 ÌI bis 120 consum121 Huic bis 126 honores.
C. Acl. 127 Statim surrexit Concordia + 132 Si bis 134 alia. C. Acl. 146 Hiis bis 150 artes + 151 istis bis 152 fabricent + 197 f. Racio bis hominis + 210 tunc bis 211 | conscendit + 259 Prudencia bis 271 valebat. C. Acl. 276 Ecce bis 283 pervenire.
C. Acl. 294 Quo bis Misericordia
" Ausführliche Beschreibung bei G. STEER, Scholastische Gnadenlehre in mhd. Sprache (MTU 14), München 1966, S. 91-95.
172
' C o m p e n d i u m Anticlaudiani' und das Prosa-Marienleben
Gott und trägt ihre Bitte vor. Versprechen Gottes. 1 1 7 - 1 2 0 : Rückkehr der Weisheit in den Rat der Tugenden.
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+ 296 cum bis 297 appropinquaret + 310 Accedem bis 312 est + 313 tu bis 319 infundatur. C . Acl. 326 Leta bis 328 festinarent.
D e r Textvergleich verrät, daß der Autor des M. L. seiner Vorlage, die er genau kennt, in freier Weise entnimmt, was ihm in seinem Zusammenhang dienlich erscheint. Er übergeht so alle Stellen, die für den Ablauf der Tugenden-Beratung und der anschließenden Intervention bei G o t t ohne Belang sind, z. B. die Beschreibungen vom Gewand der Tugenden, die Vorstellung der sieben Künste und der fünf Sinne, die verschiedenen Reiseetappen der Weisheit auf ihrer Fahrt zu Gott. Für den souveränen Gebrauch der Quelle spricht ferner die Konzentration längerer Textpassagen (vgl. M. L. 104-110: C. Acl. 146-275), wobei jedoch die Textabfolge der Vorlage gewahrt bleibt. Eigene Fülltexte ( z . B . die Rede der Einmütigkeit 92-103) weiß der Verfasser geschickt einzuordnen. E r versteht es darüber hinaus, die allegorische Erzählung des Alanus durch präziseren Bezug auf die Heilsgeschichte 12 organisch in den Gesamttext des Marienlebens einzubauen. Da got der vater schuff Adam vnd Euam, da beschüff er sy on allen brechen, gaistlichen vnd liplichen, vnd gab in die natur in iren fryen willen vnd erlaubt in alle frucht des paradiß zu essen, on die frucht ains baums: die verbot er in. Vnd stünden also in groser 5 fryhait vnd in vnschuld, aber sy belyben nicht lang darin; weren sy aber also bestanden, so weren sy on all mtf vnd arbait gegangen in das ewig leben. Vnd do des Lucifer der tüfel gewar ward, das sy die frölichen stat mit allen iren kindern solten besiezen, die er verloren het vnd all syn gesellen durch ir hoffart, do mocht er syn nit gelyden 10 von ayger boßhait wegen vnd verwandelt sich in ainer slangen gestalt vnd kam zu Eua vnd sprach zu ir: 'Sag mir, war vmb hat euch got verboten die lüstigen frucht der spys?' Da | hört sy zu der schlangen irs gesprechs mit lust, vnd die red geviel ir wol vnd antwürt ir vnd sprach: 'Villicht das wir icht sterben.' Da sprach die schlang: 'Nain, 15 mit nichtin nicht! Als pald ir die frucht eßt, so wert ir als die götter wissen vbel vnd gut.' Vnd pot ir den appfel. [ l v ] Als pald gryff sy dar nach vnd pais dar in mit lust vnd raicht in dem Adam, vnd er pais auch dar in: vnd in dem piß viel alles menschliches geschlecht in allen gebrechen vnd in groß schuld.
12
Dies trifft auch für ' G o t t e s Z u k u n f t ' Heinrichs von Neustadt zu. Mit dem thematischen R a h m ^ p M. L . 1 - 2 3 (Sündenverschuldung) und 147-171 (Erlösungsversprechen) ist zu vergleichen ' G o t t e s Z u k u n f t ' V . 351 ff. und 1217ff.
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' C o m p e n d i u m Anticlaudiaiii' und das Prosa-Marienleben
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Nun schrybt der mayster Alanus in dem püchlin von der natur vnd spricht: Da die natur bekant, das Adam vnd Eua also waren gefallen in also manigerlay gebrechen vnd doch bald waren kumen zu ainer waren rü über ir vngehorsam vnd namen an sich grosse büß vnd waren vmb gegeben mit allem gebrechen vnd waren begriffen mit hunger vnd mit durst, mit hicz vnd mit frost, mit mü vnd mit arbait vnd mit dem herten bittern tod: do die natur die gebrechen also an sach, vnd das sy in iren kindern, die sy von in geporen heten, das ist in allen menschen, ye lenger ye gröser worden, die got der natur gegeben het vnd enpfolhen on allen gebrechen, do gedacht die natur: 'Ach ewiger, ewiger got! Wie sol ich tun, das ich wider kummen möcht zu ainem uolkummen menschen, payde an üb vnd an sei?' Vnd gedacht: 'Ich vermag syn uon mir selber nicht vnd bin syn vnweys. Ich w'\\ recht gan in den rat aller tugende vnd wil sy bitten, [2T] das sy mir zu hilff kumen in disen sweren sachen.' Vnd hüb sich uff vnd kam in den rat der tugent vnd legt für ir gebrechen vnd sprach: 'Ir edeln tugent vnd ir künigin! Ich bin her zu üch kummen vnd klag ewch mein große vnfürsichtikait, das mir got het enpfolhen den menschen on allen gebrechen, den hab ich nicht behift vnd ist gefallen in grossen gebrechen. Nun beger ich hilff von ewch, das ir mir rat, wie ich wider kum zu ainem volkumen menschen an leib vnd an sei, wann ich daz on ewch nit vermag, wann ir seyt die do mechtig syn vor got, vnd er nichtz tut on ewren rat. Auch clag ich ewch, daz der mensch mit ain ander verdorben ist vnd ir, alle tugent, von im vertryben seyt vnd alle vntugent in im regnieren. Darumb tut ewr hilff dar zu vnd rat mir, wie wir wider kummen zu ainem volkumen menschen, da ir in regnierent nach ewrem willen.' Da antwurten die tugent all mit ain ander auß ainem mund vnd sprachen zu der natur: 'Gesegent sy die red deins munds, wann du hast wol gesprochen!' Vnd da stunt auff in dem rat der tugent dye vernunfft in aines schönes jünglings gestalt vnd dar vmb, wann in den alten leüten vnd in [2V] den jungen kinden ist die vernunfft nicht als volkumen als in den jünglingen. Vnd sy trug in irer hant dry Spiegel: der erst was glesin, da mit beweyset sy, das alle ding in dieser weit zerprechenlich syn als das glas; der ander spiegel was silberin, wann als das silber vnder andern gesmyden ist zu mal | gancz vnd vest vnd schön, also die tugent, die da besiezen ains menschen hercz volkumenlich, die werden nicht wann mit großer hertikait auß getryben; der dryt spiegel was fein lwter gold, dar in bedeüt sy dye claren gothait, die da ist clar vnd lauter von aller mal. Vnd die vernunfft hüb do an zü reden vnd hies die tugent all sehen in den spiegel vnd sprach: 'Ir lieben swester, ich hab wol vernomen die großen clag der natur, vnd
'Compendium Anticlaudiani' und das Prosa-Marienleben
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hat ir gebrechen gar weyßlichen fürgelegt. Nün gefeit mir wol, was wir ir dar zu helffen, das sy begert hat, vnd ist mein rat, daz wir dar zu beruffen dye wyßhait vnd fragen sy, wie wir dise sach stillen handein, das es der natur ge nach irer begerung.' Da wart berüfft die edel weyßhayt von den fügenden vnd behulffen ir die sach. Aber dy wyßhait ducht sich des vnwirdig vnd stund auff in dem ratt in ainer gestalt ains alten erwergen [3r] mans zu ainem zaichen, das die weyßhait kains r«ms oder hoffart gen got nicht begert, vnd sprach: 'Ir edeln tugent all gemain, ir müt mich an, das ich der natur ir sach süllen füren, so ist sy mir gar fremd vnd vnbegriffenlich, vnd darumb bit ich euch, das ir mich der botschafft über hebt, wann des die natur begert, das ist gar swer, wie man ain solichen volkummen menschen finden müg, der da sein süll ön allen gebrechen vnd das alle tugent volkumenlichen syn in im. Dar vmb gedenkt, wir wir die sach wyßlichen an gryffen, das wir sy pringen zu ainem guten end.' Da stund auff die erc, avontuere, was Minne bewirkt, hogher moet, bliscap, pine, die Macht der Minne, verswelghen, orewoet, storme der minnen. Deren Darstellung und angemessene Zitation erforderte eine ganze Abhandlung. Ich beschränke mich auf wenige Hinweise: dienst, der Minne dienen:
Stroph. Ged. 7,14; 8 , 3 1 3 ; 9,15; 18,10.22; 27,18 Doch
wij hare met sconen dienste zijn onderdan; raet; 31,61 met hoghen
dienste
28,65 dienen mit ghelove
sijn ondercLen;
In hogher
32,17; 33,12; 34,5.11; 68; 75ff. Aldus in
minnen dienste te sine In al hcer comen, in al hare gaen. Hare opheffen, hen al even
suete;
seien
minnen
hare nedersLen Si
Mengeldichten 1,24.77.141.151; 4,14 Met volcomennen
dienste
der
minnen; 4,18. werc der Minne: Stroph. Ged. 8,14.19.22 Die minne wilt werden,
hi werct groot
werc;
10,21 ; 13,63; 15,68; 19,62.83; 20,51 ; 23,73.104 Die m minnen wrachte
sterc werc Hi
worde
so mettien
72
werke
sterc"; 27,71; 30,27; 33,19 Als ane sine werken
wale scijnt; 33,54; 37,29
M a r g u e r i t e ist der A n s i c h t , d a ß w a h r e L i e b e keinen L o h n verlangt: c'est que eile
amast toujours loyalment
sans vouloir
556,23. Hadewijch hingegen: Minne
34,27), Die redenne ghelovet
avoir nul guerdon gheldet
emmer,
(Ame)
(544,17f.); vgl. auch 544,26; na acht
voren
ons grote lone, Maer minne heeft sehe
(Stroph. Ged.
te hant
gheloent
( 4 3 , 8 0 f . ) ; siehe n o c h S t r o p h . G e d . 8 , 2 f . , Brieven 7 , 1 8 f . und die A u s f ü h r u n g e n DE PAEPES [ A n m . 6 0 ] , S. 2 7 6 ff. n
Siehe RAYNOUARD, L e x i q u e R o m a n I V , 1 5 9 - 1 6 0 ; TOBLER/LOMMATZSCH, A l t f r a n z . W b . V, 1195-1201.
74
M a n b e a c h t e die S c h ü t t e l r e i m e ! Sie sind konstitutiv für die S t r o p h e n f o r m des G e d i c h t s , die je zwei Paare mit gleichem R e i m enthält. Lied 23 hat so mit seinen 11 S t r o p h e n 22
[385/386]
'Le miroir des simples âmes' der Marguerite Porete
235
Dus es minnen werc boven alghedreghen; 37,50; 38,42; 43,63.76 ff.; Mengeldichten 1,155; 9,5 Wildi beghinnen dat werc der minnen, So suldi ane dat werc beghinnen; auch der Minne daet: Stroph. Ged. 19,35; 25,54; 35,68. avontuere: Stroph. Ged. 1,22.30; 2,30 Die mint hi doghet swaer avontuere; 5,39; 6,88; 17,80; 22,16 Dat ghebod dat ic bekinne in minnen natuere Dat brinct minne sinne in avontuere; 32,39.70 In storme ende in avontuere; 36,58; 39,6.37; 41,50; 45,29 Ay, ic dole te swaer in davontuere; Mengeldichten 1,84.284. | hogher moet: Stroph. Ged. 2,13 minne..., die meneghen maect hoghen moet; 7,53 Si leven m hoghen moede; 12,45; 14,9; 16,68 Mijn hoghe moet Es dies wel vroet Dat minne met minnen orsaten sele; 36,103 Hoe minne maket minnen hoghen moet; Mengeldichten 8,18; 16,74. bliscap, blide: Stroph. Ged. 1,12 Om minne wilt wesen bilde; 2,60; 3,8; 4,10; 9,93; 20,41 Nuwe materie, bliscap, bloyen alle uren Sal gheweldeghe minne orsaten; 22,19; 30,2 Men moet in allen tide Der minnen wesen blide; Mengeldichten 1,278 Onse bliscap ende onse seelde; 6,24 Vroude, bliscap, suete rouwe; 9,53 Die mtnne gaf bliscap ende vrie weghe; 14,23. pine, pinen: Stroph. Ged. 2,61; 64 Dus hevet mi der Minnen pine verquolen; 3,51.60 Hi werdt bi minnen pine so coene; 4,39; 5,3 Die dore minne wdt doghen pine; 6,52 Dat ic soete mine pine ; 11,52.87 Ende ons minnen duncket pine; 12,40 suete pine; 18,6 Dat hi pine om hoghe minne; 22,22 Van Minnen claghic ghene pine; 58; 24,20 Die vander minnen pine hevet in leen; 25,50; 28,5; 29,3; 32,18 Die hogher minnen dienen sal, Hine mach ontsien ghene pine; 56; 57; 33,8 Vore minne, sine pine wert al ghewin; 9; 15; 18; 35,25; 36,80; 44,11; Mengeldichten 1,268 Die minnare die minne wilt verstaen Hi sal gherne pine ontfxn; 14,32.96 die sware pine die minne brinct inne. Bezeichnend ist, daß Hadewijch, wo es darum geht, Macht und Allgewalt der Minne zu schildern, den höfischen Sprachschatz zugunsten des mystischen verläßt, der über stärkere und bildhaftere Begriffe verfügt. Minne "verschlingt", ist "Sturm" und Ekstase, verswolghen in minnen: Stroph. Ged. 16,77 Si (minne) hevet verswolghen al minen sin; 26,36 Het wart al verswolghen in minnen; 30,75; Mengeldichten 3,113; 16,160 AI verslonden ende al verswolghen. - storm van minnen-. Stroph. Ged. 21,4; 26,86; 32,52 u.ö. orewoetn: Stroph. Ged. 7,42 Mi smelten mine sinne In minnen orewcede; 15,14; 19,94; 23,107; 24,30; 28,30; 31,52; 32,68; 44,14; Mengeldichten 15,4.40; 16,29; 79; 191. Auch bei Hadewijch gibt es zu der Minneerfahrung der hoghen minnen des edelen herten (Stroph. Ged. 21,3; 31,22; 32,3) eine Gegenwelt der Unerfahrenen und Unzuständigen. Die Sängerin nennt sie die vremden"', und sie werden definiert als die Unverständigen: Stroph. Ged. 16,95 f. Den vremden verstolen Diet wesen van minnen niet en verstaet, 12,59 Dat blift den vremden al ontwincket; 14,28 Dats den vremden oncont; 34,35 Het blift den vremden welverholen; s. ferner 4,16; 13, Str. IV; 15,38.57; 16,67; 18,26; 23,28;
Schüttelreime! Vergleichbares wurde bis jetzt in mittelalterlicher Dichtung nicht gefunden. Vgl. FR. R. SCHRÖDER, Zur Geschichte des Schüttelreims, GRM 43 (1962), S. 302-304; W. FR. BRAUN, Zur mittelalterlichen Vorgeschichte des Schüttelreims, G R M 44 ( 1 9 6 3 ) , S. 9 1 - 9 3 . 7S
Spezifisches Wort der niederländischen Mystik für Ekstase von Hadewijch und Beatrijs van Nazareth bis zu Ruusbroec; s. VERVIJS/VERDAM, Mndl. Wb. V, 1964-66; J. VAN MIERLO, De poezie van Hadewijch, in: Verslagen en Mededeelingen der Kon. Vlaamsche Acad. v. Taal- en Letterkunde 1931, S. 285-439, hier: 380-399.
" Siehe dazu DE PAEPE [Anm. 60], S. 202 ff.
236
' L e miroir des simples âmes' der Marguerite Porete
3 0 , 9 ; 31,44; 32,12.32; Str. V. dorpre
[386/387]
tritt nur einmal in Gegensatz zum höfisch Minnen-
den: Stroph. Ged. 27,40 Ende laet den edelen ouder dolen eilende, Darr jonghe noch nie minne
dorpre
en kinde\ sonst, Stroph. Ged. 9,25; 19,15; 27,51 konkret 'Bauer'.
Der Vergleich könnte fortgesetzt werden. Das vorgelegte Material dürfte indes genügen, um deutlich zu machen, daß zwar beide, Marguerite und Hadewijch in ihren 'Strophischen Gedichten', weniger in den 'Mengeldichten', sich in ungewöhnlich reichem Maße höfischer Terminologie bedienen, daß diese jedoch, bedingt durch grundsätzlich verschiedene Blickrichtung auf das Minnephänomen, recht unterschiedlich gelagert ist. Eine Ausnahme machen die Minnebezeichnungen, fine amour, fijne minne und verwandte Bestimmungen der vollkommenen Liebe, aber sie zwingen keineswegs zu der Annahme einer niederländischen Vorgeschichte des 'Miroir'. Sie sind durch die 'Europäisierung' der Liebeslyrik und höfischen Epik Allgemeingut geworden, sie standen jedem Autor, der über ein durchschnittliches Maß an literarischer Bildung ver- | fügte, zur unmittelbaren Verfügung. Das verraten geistliche Autoren wie Iacopone da Todi (+1306) in Italien, Mechthild von Magdeburg ( f 1282/83) in Norddeutschland und Heinrich Seuse ( + 1 3 6 6 ) im alemannischen Süden. Dasselbe gilt auch für den Bereich, den wir unberücksichtigt gelassen haben: die geistliche Liebessprache der lateinischen Mystik, vor allem die Hoheliedmystik. Im einzelnen möchte ich unmittelbaren Austausch niederländischer und nordfranzösischer Mystik nicht ausschließen, so etwa von Termini, wie sie AXTERS anführt 77 , sonder waromme = sans nulpourquoy (590,19; 592,6) und sonder middel = sans moyen (524,9). Aber der historische Tatbestand stimmt doch nachdenklich, daß niederländische und deutsche Mystik erst durch die Vermittlung lateinischer Ubersetzungen in die Romania einzudringen vermochten 78 . Wie immer sich die Abhängigkeiten zwischen Denkmälern europäischer Mystik darstellen mögen, ihre vergleichende Betrachtung ist Erfordernis zukünftiger Forschung. Mit dem 'Miroir' ist das bedeutendste Zeugnis französischer Mystik bekannt geworden; es im Kontext niederländisch-deutscher, englischer und italienischer Mystik zu sehen, dient nicht nur der Einsicht in die wie immer bedingten Gemeinsamkeiten der Sprachwerdung religiöser Erfahrungen, sondern auch und gerade der Erkenntnis der individuellen Gestalt. Daß dieses Werk einer genuinen französischen Beginenmystik trotz wiederholter Verurteilung die nationalen Grenzen überschritten hat und bis über das Mittelalter hinaus zumindest in drei Ländern wirksam blieb, ist geradezu eine Aufforderung, es als spezifisch französischen Beitrag für die Geschichte der mittelalterlichen Mystik in Anspruch zu nehmen. 71
AXTERS [ A n m . 4 9 ] , S. 2 1 0 .
™ Zur Hauptsache durch die Anm. 12 genannten Übersetzer.
Beginenmystik
H a d e w i j c h , M e c h t h i l d von Magdeburg, Marguerite P o r e t e [Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 106 (1977), S. 2 6 5 - 2 7 7 ]
Die hier vorgelegte Skizze ist mit wenigen Abstrichen und Zusätzen ein Vortrag, den ich im Februar dieses Jahres am Deutschen Seminar der Universität Zürich gehalten habe. Er h o b in seinem Inhalt auf Einführung und in der F o r m auf Darstellung ab, wandte sich also nicht an Spezialisten mystischen Schrifttums. Abgesehen von den Bedingtheiten dieser Vortragssituation, scheint es mir eine legitime und nachgerade sogar dringliche Aufgabe zu sein, die volkssprachliche Mystik aus dem Bereich spezieller, vielfach sogar punktueller Untersuchungen in die G e s c h i c h t e der Literatur(en) zurückzuführen 1 . Dazu möge der K o m p l e x 'Beginen- |mystik' ein Versuch sein. D e r besondere Ansatz ist komparatistisch, und er drängt sich durch verschiedene Ausformungen beginischer Spiritualität in den Niederlanden, in Deutschland und in Nordfrankreich geradezu auf, darf aber auch für sich in Anspruch nehmen, Besonderheit und Stellung einzelner Denkmäler im Kontext nationaler Literaturen schärfer zu konturieren. D e r Vortrag sei Ihnen, lieber H e r r M o h r , gewidmet in wiederholter und bewundernder Auseinandersetzung mit Ihrem Aufsatz 'Darbietungsformen der Mystik bei Mechthild von Magdeburg' 2 . E r machte evident, warum ' D a s Fließende Licht der Gottheit' nicht nur als schon immer gerühmte 'dichterische' Prosa, sondern als Modellfall von Formtypen in statu nascendi
zur Geschichte der Literatur gehört. Ihr Ansatz und Ihr W e g ermutigten mich zu
meinem Versuch.
1
D e r Historiker der deutschen Literatur des Mittelalters hat offensichtlich Schwierigkeiten, mystisches Schrifttum darzustellen, nicht weil er der eigenen Zuständigkeit mißtraut, sondern weil es an jeglicher zuverlässigen neueren Darstellung der 'Deutschen M y s t i k ' und noch m e h r an Aspekten und Perspektiven gebricht. Die maßgebliche Literaturgeschichte unserer Generation, diejenige H . DE BOORS, hat die Mystik in I I I / l , w o sie chronologisch und sachlich hingehört, ausgeklammert und dem ohnehin schwierigen Band I I I / 2 zugewiesen, den der Meister selbst nie ernsthaft zu schreiben gedachte. W i r haben denn auch immer noch auf ihn zu warten. H . RUPPRICHS Band I V / 1 , im Kapitel
"Religiöse
Unterweisungs-
und
Erbauungsliteratur
in
Prosa
und
Vers"
(S. 3 0 9 - 3 3 3 ) , zeugt zwar von einer gewachsenen Materialbasis, vermag aber keine Perspektiven einzubringen. U m solche habe ich mich, freilich in knappster F o r m , bemüht im Rahmen des N e u e n Handbuchs der Literaturwissenschaft des AthenaionVerlags (Bd. 8, 'Europäisches Spätmittelalter', [1978]): 'Geistliche Prosa des Spätmittelalters'. 2
In: Märchen, M y t h o s , Dichtung. Festschr. Friedrich von der Leyen, München 1963, S. 3 7 3 - 3 9 9 .
238
Beginenmystik
[266/267]
I.
Volkssprachliche Mystik beginnt im 13. Jahrhundert mit Frauenmystik, und zwar überall in Westeuropa mit Ausnahme Italiens, wo die (gelebte und gedeutete) Vita mystica des Franziskus von Assisi zur Zelle mystischen Schrifttums geworden ist'. Die herausragende Stellung der Frau in der Spiritualität des 13. Jahrhunderts fiel schon Zeitgenossen auf. Lamprecht von Regensburg schreibt in seiner geistlichen Versdichtung 'Die Tochter Sion' um 1250, v. 2838 ff. 4 : diu kunst5 ist bi unsern tagen in Brabant und in Baierlanden undern wiben üf gestanden, herre got, waz kunst ist daz, daz sich ein alt wip baz verstet dan witzige man? Lamprecht beantwortet diese Frage unverzüglich (v. 2844 ff.): mich dunket des, daz si daran: wirt ein wip ze gote guot, | ir senftez herze, ir ringer muot in einvaltigen sinnen si enzündet schierer binnen, daz ir gerunge begrifet die wisheit diu von himel slifet dan ein herter man tuo, der ungelenke ist darzuo. Der Autor findet also eine Erklärung in der psychischen Beschaffenheit der Frau. Ich wüßte keine andere und bessere. Z w e i A n m e r k u n g e n z u m zitierten T e x t : Lamprecht bezeugt M y s t i k e r i n n e n in Brabant und in B a y e r n . B r a b a n t überrascht nicht, wenn wir an H a d e w i j c h und Beatrijs von N a z a r e t h d e n k e n , wohl aber B a y e r n : die erste uns bekannte visionär begabte Frau in B a y e r n - Ö s t e r r e i c h , A g n e s B l a n n b e k i n ' , k o n n t e Lamprecht n o c h nicht k e n n e n . D a er selbst ein B a y e r ist, darf man indes seinem Zeugnis Vertrauen entgegenbringen. E s gab also im deutschen Südosten in der Mitte des 1 3 . J a h r h u n d e r t s spirituell begnadete
Frauen.
M e c h t h i l d v o n M a g d e b u r g im N o r d e n ist an Begnadung und B e g a b u n g , nicht aber als V i s i o n ä r i n in dieser Zeit singulär. ' Siehe K . RUH, Z u r Grundlegung einer G e s c h i c h t e der franziskanischen M y s t i k , in: RUH ( H g . ) , A l t d e u t s c h e und altniederländische M y s t i k (Wege der F o r s c h u n g 23), D a r m s t a d t 1 9 6 4 , S. 2 4 0 - 2 7 4 , jetzt in: K . R . , Kleine Schriften, B d . I L . B e r l i n / N e w Y o r k S.118-144. 4
H g . von K . WEINHOLD, Paderborn 1880.
5
G e m e i n t ist hier die Fähigkeit, sich über hohe geistliche Gegenstände zu äußern.
' Siehe jetzt Verfasserlexikon J I , Sp. 8 8 7 - 8 9 0 .
1984,
[267/268]
Beginenmystik
Lamprecht nennt die durch jene kunst
239
ausgezeichneten Frauen alt wip. Er irrt, wenn
wir von den Lebensdaten der uns bekannten mystisch-visionär begnadeten Frauen ausgehen. Marguerite Porete war nach allem, was wir über sie wissen, noch sehr jung, als sie als Ketzerin den Flammen überliefert wurde. Mechthild empfing mit zwölf Jahren zum ersten Mal den "gruoz
(Gnadenerweis - wie in der höfischen Minne) des Heiligen G e i s t e s " . Auch
H a d e w i j c h war jung, als sie ihre großen Visionen hatte und aufschrieb: aus dem 11. Brief geht hervor, daß sie 10 J a h r e alt war, wie sie "von der Minne bezwungen" wurde, in der 6. Vision gibt sie ihr Alter mit 19 Jahren an, in der 1. wird sie angesprochen " D u bist jung an J a h r e n " . Diese Belanglosigkeit ist erwähnenswert, weil generelle Charakterisierungen gerade der Hadewijch, etwa als Sibylle, sie auch in unserer Vorstellung als alt und weise erscheinen lassen. Weisheit ist hier indes bei großer Jugend.
II. Die größten, auch frühesten Mystikerinnen gehören dem Beginenstande an. Bei Mechthild und Marguerite ist dies zweifelsfrei, bei Hadewijch, von der keine Vita oder Urkunde zeugen, umstritten - zu Unrecht, wie ich meine. Beginen bildeten Gemeinschaften von Frauen, in der Regel geringer Zahl, ohne Annahme einer approbierten Klosterregel. Sie führten ein Leben im 'evangelischen' Geiste, versprachen Keuschheit, Gehorsam, Kirchgang u. dergl., jedoch ohne bindende Gelübde, und konnten jederzeit wieder ins Weltleben zurücktreten. Den Unterhalt bestritten sie zur Hauptsache mit Spinnen und Weben, Krankenpflege und Totenwache, sicherlich zumeist kümmerlich genug, z. T . zogen sie auch, den Barfüßern gleich, in den Straßen und im Land herum und | bettelten. Besonders dies brachte sie in Mißkredit der kirchlichen und weltlichen Behörden. N o c h mehr ihr vielfach bezeugter öffentlicher Missionseifer. Im Bericht des Franziskaners Simon von Tournai zu Händen des II. Konzils von Lyon i . J . 1274 über die kirchlichen Zustände in Nordfrankreich und Belgien, heißt es, unter den Beginen verbreite sich immer mehr die Sucht nach theologischen Spitzfindigkeiten und Neuigkeiten (subtilitates et novitates theologicae). Sie würden, unerfahren in der Auslegung der Hl. Schrift, diese in französischer Sprache lesen und auslegen, und dies in ihren Konvertikeln, in verborgenen Winkeln und auf öffentlichen Straßen (in conventiculis, in ergastulis, in plateis7). Am Schluß der 'Liste der Vollendeten', die Hadewijch im Geiste schaute (nach Vision 14), wird eine Begine genannt, "die Meister Robert ihrer wahrhaften Minne wegen tötete". Beide Zeugnisse wirken wie ein Kommentar zum Leben der Marguerite Porete. Sie sollen hier indes ganz allgemein die Gefährdung des Beginenstandes anzeigen: Beginen gerieten gerade als (in der Regel) theologisch Ungebildete leicht
7
Zitiert nach H . GRUNDMANN, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, Darmstadt M961, S. 338 A n m . 3 7 .
240
Beginenmystik
[268/269]
in häretische D e n k b a h n e n , und sie setzten sich, w i e bereits angedeutet, d u r c h ihre Lebensweise d e m Verdacht, dem Zugriff, den Verhören der Behörden aus. Es ist diese doppelte Gefährdung, die subjektive der Häresie, die objektive der Inquisition, die am Grunde des Beginenlebens haftet. Sie ist i m m e r w i e d e r gegenwärtig in den Schriften der H a d e w i j c h und der Mechthild, für M a r g u e r i t e bezeugen sie die Prozeßakten. Ich habe mich damit d e m eigentlichen Thema genähert. B e g i n e n m y stik soll vorgestellt w e r d e n in drei spezifischen A u s f o r m u n g e n : in den Visionen und Sendbriefen der niederländischen H a d e w i j c h , im niederdeutschen, aber alemannisch überlieferten 'Fließenden Licht der Gottheit' der Mechthild von M a g d e b u r g und im ' M i r o i r des simples ämes' der M a r g u e r i t e Porete. Es sind dies die H ö h e p u n k t e der Beginenmystik schlechthin w i e zugleich der jeweiligen volkssprachlichen Prosa. Zeitlich am frühesten liegt das W e r k Hadewijchs, zweites Viertel/Mitte des 1 3 . J a h r h u n d e r t s , Mechthilds Buch fällt ins dritte Viertel, Marguerites ' M i r o i r ' ist vor/um 1300 anzusetzen 8 .1
III. Die Lebensverhältnisse der H a d e w i j c h liegen völlig im dunkeln. Sie m u ß indes aus gutem H a u s e stammen, denn ihr Bildungsstand ist hervorragend. Sie beherrscht perfekt Terminologie und Formen der T r o u b a d o u r l y r i k (in den 'Strophischen Gedichten' und 'Mengeldichten', die hier nicht herangezogen w e r d e n ) : sie m u ß sie unmittelbar kennengelernt haben, konnte also französisch. Ebenso ungewöhnlich ist ihre theologische S c h u l u n g : nur aus Predigt oder Beichtigerbelehrung kann sie nicht erklärt w e r d e n . Kenntnis und Benutzung Bernhards von C l a i r v a u x , W i l h e l m s von St. T h i e r r y und Richards von St. Viktor (bzw. der diesem zu Unrecht zugeschriebenen C a n t i c a - C a n t i c o r u m - A u s l e g u n g ) sind nachgewiesen 9 , aber das Entscheidende liegt in der ungewöhnlichen ' Ich z i t i e r e ( u n d
ü b e r s e t z e ) nach f o l g e n d e n A u s g a b e n :
Hadewijch
nach JAN VAN
MIERLO, D e V i s i o e n e n I/II, L e u v e n / G e n t / M e c h e l e n 1924/25; Brieven I/II ( L e u v e n s e S t u d i e n en T e k s t u i t g a v e n ) , A n t w e r p e n / B r u s s e l / G e n t / L e u v e n [ 1 9 4 7 ] [ B d . II j e w e i l s die ' I n l e i d i n g ' ] ; P. GALL MOREL, O f f e n b a r u n g e n der S c h w e s t e r M e c h t h i l d von M a g d e b u r g o d e r D a s f l i e ß e n d e L i c h t d e r G o t t h e i t , R e g e n s b u r g 1869 ( N e u d r u c k : D a r m s t a d t 1 9 6 3 ) ; M a r g u e r i t e P o r e t e nach ROMANA GUARNIERI, II m o v i m e n t o del L i b e r o S p i r i t o . T e s t i i d o c u m e n t i , A r c h i v i o i t a l i a n o p e r la storia d e l l a pietà 4 (1965), S. 3 5 3 - 3 7 0 [ a l t f r a n z . T e x t S. 5 1 3 - 6 3 5 ] . * S i e h e JOHANNA MARIE SCHALIJ, R i c h a r d van St. V i c t o r en H a d e w i j c h s 10 J e brief, T i j d s c h r i f t v o o r n e d e r l a n d s e taal- en l e t t e r k u n d e 62 (1943), S. 2 1 9 - 2 2 8 ; VAN MIERI.O, B r i e v e n II, S. 2 1 - 5 1 ; P. VERDEYEN, D e invloed van W i l l e m van S a i n t - T h i e r r y H a d e w i j c h en R u u s b r o e c , O G E 51 (1977), S. 3 - 1 9 .
op
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Beginenmystik
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Exaktheit der theologischen Aussage und Begrifflichkeit. Hadewijchs Selbstbewußtsein ist dasjenige einer herrscherlichen Frau: Nochtan dat ic alle redene can van sinne alsoe mensche connen mach (17. Br., 118 f.). Die These liegt nahe, und ich wage sie, daß Hadewijch, ähnlich wie die berühmte Heloise ein Jahrhundert früher, ausgestattet mit seltenen Geistesgaben, eine umfassende Ausbildung durch Hauslehrer erhielt, ehe sie sich ins gefährdete Leben des Beginentums begab. Von Mechthild erfahren wir den Weg aus behütetem und gebildetem Elternhaus ins ungeschützte Beginenleben genau. Ihr Buch als Bekenntnis- (weniger Visionen-)buch enthält viel Persönlich-Biographisches, darunter exakte oder doch sicher zu deutende Angaben12. Mechthild bringt aus ihrem Elternhaus ständische und höfische Sitte mit; theologische Vorstellungen und Begriffe dürfte ihr der Dominikaner Heinrich von Halle, ihr geistlicher Vater und Berater, vermittelt haben. Nach eigener Aussage konnte sie kein Latein (MOREL 30,1; 56,37). Im vorgerückten Alter, von Krankheit geschwächt, zog sie sich, 1271, ins Zisterzienserinnenkloster Helfta zurück, wo sie unter der Äbtissin Gertrud von Helfta Mitschwester der jüngeren Gertrud (der Großen) und der Mechthild von Hackeborn wurde. Sie starb 1282/83. Marguerites Leben sammelt sich für uns in den Tagen ihres Inquisitionsprozesses". Ihr verketzertes Buch, der 'Miroir', spricht mit keinem | Wort von ihren Lebensverhältnissen - was bezeichnend ist (s. u.). Es wurde zwischen 1296 und 1306, wohl auf Grund einer vom Bischof von Cambrai bestellten Kommission, öffentlich in Valenciennes verbrannt. Trotz dieser Verurteilung fuhr Marguerite fort, das Buch und dessen Lehre zu verbreiten. Möglich ist, daß sie sich dazu ermutigt fand durch positive Gutachten von drei namhaften Theologen (die in einem Widmungsbrief der lateinischen Fassung des Buches zitiert werden). Es kam 1307 zur erneuten Anklage, und diesmal von keinem geringeren als Wilhelm von Paris, dem päpstlichen Generalinquisitor des Königreichs, Beichtvater des Königs und Hauptakteur des berüchtigten Templerprozesses. Mitangeklagt wurde ein Begleiter, Guiard de Cressonessart, als beginus in den Prozeßakten indiziert, der sich "Engel von Philadelphia" nach Apokalypse 3,7 nannte12. Im Pariser Kerker verweigerte MargueGrundlegend: H. NEUMANN, Beiträge zur Textgeschichte des 'Fließenden Lichts der Gottheit' und zur Lcbensgeschichte Mechthilds von Magdeburg, Nachrichten der Akad. d. Wissenschaften zu Göttingen, 1954/Heft 3, S. 2 7 - 8 0 (zit.), leicht gekürzt in: RUH (Hg.), Altdeutsche und altniederländische Mystik [Anm. 3], S. 175-239. " Grundlegend: R. GUARNIERI [Anm. 8]; zusammenfassend: RUH: 'Le miroir des simples ämes' der Marguerite Porete, in: Verbum et Signum. Festschr. Friedrich O h l y , München 1975, Bd. II, S. 3 6 5 - 3 8 7 ; hier S . 3 7 1 , jetzt in: K. R „ Kleine Schriften, Bd. II., Berlin/New York 1984, S. 2 1 2 - 2 3 6 , hier S . 2 1 8 f . " So ergänzend und berichtigend zu Anm. 27 (S. 371) meines 'Miroir'-Beitrages auf Grund von R . E. LERNER, An 'Angel of Philadelphia' in the Reign of Philip the Fair: The Gase
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rite wiederholt Rechtfertigung und Widerruf. Wie wichtig man den Fall nahm, beweist der Umstand, daß 21 hochberühmte Theologen um ein Gutachten gebeten wurden, u. a. Johannes von Gent und Nikolaus von Lyra. Das einstimmige Urteil auf Häresie erging am 11. April 1310, 15 Sätze wurden inkriminiert. Am 31. Mai wurde Marguerite in Gegenwart der weltlichen Behörden, kirchlichen Würdenträger und einer riesigen Volksmenge auf der Place de Grève verbrannt. Es kam zu bewegten Szenen. Chronisten berichten davon z . T . mit unverhüllter Sympathie für die Verurteilte. Kerker und Tod waren bestimmt auch Bedrohungen der Hadewijch und der Mechthild. Hadewijch wird geboten, "unter allen Menschen arm, elend und verachtet zu sein", "fremd, unbegreiflich, unselig" (Vis. 1, 292 ff.), sie deutet "Gefangenschaft" an (Br. 29, 13), sie erregt fremder Menschen "Verwunderung und Schrecken" (ebd. 25 f.). Sie spricht von "Verleumdung, Schande, Klagen, Einsamkeit, Herbergslosigkeit, Nacktheit und Mangel", denen der Mensch ausgesetzt ist, der sich dem Gebot der Minne unterwirft (Br. 18, 164 ff.). Mechthild spricht von Anfeindungen ihrer cristanpinger (christlichen Peinigern) (169,17) 13
und klagt: wie lange sol ich hie stari in der erden mines vleisches glich eime stekken oder einem male, da die lüte zu ISffent, werfent und schiessent, und lange miner eren hant geramet mit geswinder argheit (213, 13 ff.). Offensichtlich hatten jedoch Hadewijch wie Mechthild einflußreiche Beschützer in Familienmitgliedern und Beichtigern, während der allem Anschein nach joachimitisch orientierte "Engel von Philadelphia" Marguerite nur belasten konnte. |
IV. Zur Struktur und F o r m der Texte. Hadewijchs 'Brieven' sind das, was man im Spätmittelalter 'Sendbriefe' nannte, persönlich gehaltene Erörterungen bzw. Erfahrungen über religiöse Gegenstände, hier über Gottesminne, an wirkliche oder fiktive Adressaten; es kann kaum Zweifel geben, daß Hadewijch eine konkrete, ihre eigene Beginengemeinschaft angesprochen hat ( l i e u e ; lieue kint). Die 'Visionen' stellen in der Regel ein ihr in der Entrückung ("ich ward in den Geist entrückt", orewoet, 'Toben des Geistes') zuteil gewordenes 'Gesicht' in den Mittelpunkt. Als formales Grundmuster der Mitteilung läßt sich die Apokalypse erkennen ( " I c h sah", "ich hörte", "ich kam in den Geist"), jedoch mit dem
o f Guiard of Cressonessart, in: O r d e r and Innovation in the Middle Ages, ed. W . C . JORDAN et al., Princeton 1976, S. 3 4 3 - 3 6 4 , 5 2 9 - 5 4 0 (Anm.). 13
D a z u NEUMANN [ A n m . 10], S. 38 A n m . 38 (Lesarten).
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grundlegenden Unterschied, daß Hadewijch nicht wie Johannnes nur Berichterstatter, Medium ist, sondern Subjekt der Vision selbst. Mechthilds 'Fließendes Licht' ist zwar in sieben Bücher aufgegliedert, aber diesen Büchern kommt ein struktureller Charakter zu. Gerade weil es sich um nur äußerliche Einheiten handelt - NEUMANN nennt das 'Fließende Licht' "ein sehr fraulich unsystematisches W e r k " (S. 68) - , fühlte sich der Redaktor der lateinischen Fassung" bemüßigt, die einzelnen Kapitel systematisch zu Bucheinheiten zu gruppieren: Liber I wird zum Buch der Dreifaltigkeit und der Maria, liber II zum Buch der Engel und Heiligen, liber III zum Priesterbuch usw. Das ursprüngliche und einzige Gliederungsprinzip sind die einzelnen Kapitel, 267 an der Zahl. Viele davon umfassen nur wenige Zeilen oder Sätze, andere schwingen weit aus. Sie dürften zwar nicht in der vorliegenden Reihenfolge entstanden sein, besonders nicht innerhalb der Bücher I - V , aber als solche kleine und kleinste Einheiten 15 . M. a. W., die Kapitel sind die genetischen Zellen des Mechthildschen Bekenntnisbuches. In der additiv-genetischen Struktur von Kapitelfolgen entspricht der 'Miroir' der Marguerite dem 'Fließenden Licht'. Es sind 139 Kapitel, und dies kommt bei Berücksichtigung des wesentlich kleineren Umfangs des 'Miroir' auch der Größenordnung der einzelnen Kapitel des 'Fließenden Lichts' gleich. Aber Marguerite schrieb kein geistliches Bekenntnis- und Memoirenbuch sondern, wie schon der Titel - 'Miroir', 'Speculum' - und die durchgehende Hypostasierung von Seelenkräften und Tugenden zu Allegorien anzeigen, ein Lehrbuch der Liebesmystik. Sie will pädagogisch, missionarisch wirken, ist bewegt von Verkündigungseifer in ergastulii, in plateis (s. o.), während Mechthild nie von sich aus daran gedacht hat, ihre Aufzeichnungen einer Öffentlichkeit preiszugeben. | Was die sprachliche Form betrifft, so trennt Hadewijch präzis die Prosa der 'Briefe' und 'Visionen' von den Versen und Strophen ihrer Gedichte, die formal den Höhepunkt geistlicher und weltlicher Minnedichtung in den Niederlanden bedeuten. Die Ausnahme in Brief 17, der mit Reimversen beginnt, ist ein Sonderfall: Merkverse als Verständnishilfe des ungewöhnlich anspruchsvollen Inhalts des Briefes"; auch die eröffnenden Verse in Brief 19 haben eine besondere Funktion: es handelt sich um Ermahnungen zur Ausfahrt der Minne im epischen Bild der Aventüre. Bei Mechthild hingegen geht die Prosa immer wieder in 14
Revelationes Gertrudiana: et Mechthildiana; II,
opus
editum
Solesmensium
O.S.B,
monachorum cura, Pictavii et Parisiis 1877. Zu allen Fragen der Anlage und Genese s. NEUMANNS Abhandlung [ A n m . 10]. " Darüber A . BROUNTS, Hadewijchs eerste ontwerp van de wezensmystiek (Br. X V I I ) , Handelingen 2 6 der Koninklijke zuidnederlandse maatschappij voor t i l i - en letterkunde en geschiedenis (1972), S. 5—61.
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Beginenmystik
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R e i m v e r s e ü b e r , w o b e i die Prosa als solche "gleichsam potentielle E n e r g i e in sich trägt" 1 7 . A h n l i c h e s gilt für Marguerite. O b g l e i c h sie über eine perfekte T r o u b a d o u r - T e r m i n o l o g i e verfügt - fine amour ist einer ihrer Leitbegriffe - , läßt indes die G e s t a l t ihrer Verse, mit Ausnahme des Widmungsgedichts in vier S t r o p h e n (S. 5 2 0 ) , keine Spur der T r o u b a d o u r - F o r m k u n s t erkennen. M e i n e T h e s e ist, daß sie sich einer Sprache bedient, die sich in n o r d f r a n z ö s i s c h e n Beginenhäusern im Anschluß an die T r o u b a d o u r T e r m i n o l o g i e ausgebildet hat 18 .
V H ö c h s t reizvoll ist es, die gemeinsame Grundthematik der drei Beginen, die der G o t t e s m i n n e , in ihren individuellen Ausformungen zu b e o b achten. V o r a u s g e s c h i c k t sei, daß zwischen den Schriften der Hadewijch und der Mechthild so wenig eine unmittelbare Beziehung nachzuweisen ist wie Einflüsse der H a d e w i j c h auf den 'Miroir'".
D e r Vergleich braucht so keine Abhängigkeiten
zu berücksichtigen,
dem
U b e r e i n s t i m m e n d e n im D e n k a n s a t z und dessen Folgerungen k o m m t größeres G e w i c h t zu.
M y s t i s c h e n C h a r a k t e r hat die Gottesminne bei allen drei Beginen, insofern die M i n n e G o t t e s Wesen bestimmt und die Einheit der minnenden Seele mit der M i n n e G o t t e s Ziel und Erfüllung des geistlichen L e b e n s ist. B e i H a d e w i j c h vollzieht sich diese Einheit in der orewoet, die zu einem niederländischen Grundterminus für Ekstase wird, bei M e c h t hild im | v o m H o h e n l i e d her gewonnenen connubium spirituale ( 2 2 , 1 4 ff.), bei Marguerite als Transformation des Liebenden im G e b l i e b t e n : transformation de unité d'Amour (527,19f.; Transformation als F e u e r m e t a p h e r 585,11 f.). Bei allen dreien kann kein Zweifel darüber bestehen, daß diese M i n n e - u n i o Wesenseinheit bedeutet. H a d e w i j c h sagt im 17. B r i e f ( 1 0 7 f f . ) : Ende in die enicheit daer ic doen in
ghenomen
was ende verclaert,
daer verstondic
dit wesen, nämlich das
göttliche W e s e n ; die M i n n e , die sie erfährt, beschreibt sie als trinitarische S t r u k t u r G o t t e s : Mer in ghebrukene van Minnen es men god
worden
17
moghende
ende gherecht.
Ende dan es wille ende werc
ende
H . NEUMANN, M e c h t h i l d von Magdeburg und die mittelniederländische Frauenmystik, in: Medieval G e r m a n Studies presented to Frederick N o r m a n , Leeds 1965, S. 2 3 1 - 2 4 6 , hier 2 4 0 .
" Siehe RUH [ A n m . 11], S. 347. " Siehe NEUMANN [ A n m . 17] und FRANCES GOODAY, Mechthild of Magdeburg and H a d e w i j c h o f A n t w e r p : A comparison, O G E 48 (1974), S. 3 0 5 - 3 6 2 ; über die behauptete " p r é h i s t o i r e g e r m a n i q u e " des ' M i r o i r ' s. RUH [Anm. 11], S. 379 ff., bzw. S. 2 2 8 ff.
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Beginenmystik
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moghentheit euen gherecht. Dat sijn die drie persone in enen god (Br. 17, 96 ff.)". Mechthild erfährt jenes connubium als Verschmelzung ihrer Natur mit der göttlichen Natur: Fraw sele, ir sint so sere genaturt in mich, de zwischent vch und mir nithes nit mag sin (22,19 f.)". Marguerite nennt die jene transformacion de unité erfahrende Seele die "vernichtete" Seele, ame a(d)nientie (anima adnihilata in der lateinischen Fassung), vernichtet nämlich in ihrer Kreatürlichkeit. Sie berührt sich hier wie auch sonst mit Formulierungen Meister Eckharts". E s sei vermerkt, daß Wesenseinheit bzw. Wesenseinigung als häretisch galten. In einem Albertus Magnus zugeschriebenen Gutachten über Aussagen von Brüdern des Freien Geistes wird die Aussage quod anima sit sumpta de substantia als manichäische Ketzerei erklärt 23 ; ebenso wurden zwei die Wesensgleichheit betreffende Aussagen Eckharts in der päpstlichen Bulle 'In agro dominico' (Satz 10 und 11) verurteilt. Hadewijch kennt indes nicht nur die in der orewoet erfahrene Wesensminne, sondern eine Minne, die sie immer wieder mit cantate, ontfermberticheit umschreibt. Ich nenne sie Caritas-Minne. Strukturell hat sie im " W e r k " des Sohnes, in dessen Menschwerdung, ihren Grund. Diese | Caritas-Minne umfaßt und duldet alles, ist unermüdlich im Erbarmen, in der Bekehrung, in der Fürbitte, ist ein unablässiger Liebesdienst für den andern; ihr "Wille", heißt es Vis. 1,313, ist altoes vloyende van caritaten. In der Leidenschaft dieser Cdntei-Hingabe will Hadewijch selbst Seelen aus der Hölle befreit haben - was sie später widerruft". Sie
10
" I m G e n u ß (ghebruken
' f r u i t i o ' ) der M i n n e ist man G o t t g e w o r d e n in der M a c h t u n d in
d e r G e r e c h t i g k e i t . U n d so sind W i l l e , W e r k und M a c h t g e r e c h t . D a s sind die drei P e r s o n e n in e i n e m G o t t " . W i l l e , W e r k und M a c h t sind hier A p p r o p r i a t i o n e n ( W c s e n s m e r k m a l e ) d e r P e r s o n e n : W i l l e des H l . G e i s t e s , W e r k des S o h n e s , M a c h t des V a t e r s . Sie e n t s p r e c h e n bis auf das " W e r k " der theologischen T r a d i t i o n : potentia voluntas
(des H l . G e i s t e s ) , sapientia
(des V a t e r s ) ,
käme dem S o h n e zu. H a d e w i j c h e r s e t z t sie m i t
" W e r k " im H i n b l i c k auf die als L i e b e s w e r k verstandene M e n s c h w e r d u n g des S o h n e s . D a ß H a d e w i j c h auch die wijsheit
des soens
als A p p r o p r i a t i o n k e n n t , b e w e i s t B r i e f 3 0 ,
5 8 . - Ü b e r ' G e r e c h t i g k e i t ' bei H a d e w i j c h s. BROUNTS [ A n m . 16], S. 3 5 ff. :
genaturt,
part. praet. von natüren
geworden"
-
" i h r seid so sehr m e i n e N a t u r , mit m i r eins
ist hier s p o n t a n e N e u b i l d u n g , natüren
M y s t i k ' p r o c e d e r e ' , ' e m a n a r e ' . genaturt
bedeutet s o n s t in d e r S p r a c h e der
im Sinne M e c h t h i l d s hat n u r n o c h d e r v o m
' F l i e ß e n d e n L i c h t ' abhängige ' M i n n e s p i e g e l ' (hg. von K . BARTSCH, ' D i e E r l ö s u n g ' mit einer A u s w a h l
geistlicher
Dichtungen, Tübingen
1858,
S. 2 4 2 ff.), v. 9 6 5 ,
und
ein
a n o n y m e s m y s t i s c h e s T e x t s t ü c k einer D e n H a a g e r H s . (ndl.), s. K . BRETHAUER, Z f d A
92 (1963), S. 159: Got der zeyghet viy gar vor eynet vnd natturt dy zele mit got ist. -
H i n w e i s e bei RUH [ A n m . 11], S . 3 7 7 . Siehe W . PREGER, G e s c h i c h t e der deutschen M y s t i k im M i t t e l a l t e r I , L e i p z i g
1874,
A n h a n g I, S. 4 6 2 (Satz 7). D a r ü b e r a u s f ü h r l i c h A . BROUNTS, H a d e w i j c h en de ketterij naar het vijfde v i s i o e n , H a n d e l u n g e n 2 2 ( 1 9 6 8 ) , S. 1 5 - 7 8 , bes. S. 18 ff.
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Beginenmystik
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wird ihr einmal verboten (Br. 17,11 f.; 42 f.; 101), doch sie weiß, daß sie die Voraussetzung der Wesensminne ist, die nur in begnadeten Augenblicken erfahren werden kann. Auch für Mechthild steht der transitorische und gnadenhafte Charakter der Wesenseinigung fest. Und durchaus entsprechend mit Hadewijch verströmt sich das göttliche Licht, das mit der Minne eins ist, aber nicht neuplatonisch ins Viele, sondern christologisch in der Menschwerdung als Entäußerung 25 . Es ist also bei Hadewijch und Mechthild die Gottesminne dialektisch angelegt als Wesensminne und Christusminne, diese als werc des Sohnes bei Hadewijch, als Entäußerung des 'Lichtes' bei Mechthild. Der eine wie der andere theologische Gedanke scheint mir originär zu sein: originär natürlich auf dem Grunde des christlichen Neuplatonismus und des franziskanischen Gedankens der Entäußerung in der Armut und Demut der conformitas
Christi.
Anders Marguerite. Sie kennt zwar Weg und Aufstieg zu Gott, was sie aber immer und immer wieder formuliert, ist das Leben der vollkommenen Seele, die in die Natur der Gottheit eingegangen ist, der ante a(d)nientie. Es stellt sich dar als erreichter Status, in dem alles Wünschen, Wollen und Begehren erloschen ist, denn Gott, in dem das Wollen aufgehoben ist, weiß wessen die ame anientie bedarf (526,1 ff.; 527,4 ff. u.ö.). Dieser Unterschied ist entscheidend. Weniger als solcher als in den Konsequenzen, nämlich in der Beurteilung von Tugenden und kirchlichen Gnadenmitteln. Die Teilhabe der Minne, die Gott selbst ist, hat Auswirkungen auf das Tugendleben. Hadewijch schreibt: "Aber die 'gerechte' einige Natur, in der die Minne sich selbst liebt und vollkommen genießt ( v o l k o m e n e ghebrukenesse es) - also die Wesensminne - , weiß nicht von Tugend noch von Neigung zum Guten noch auch von einzelnen Werken, mögen sie noch so schön und von herrlicher Beschaffenheit s e i n . . . , denn im Genießen der Minne gab und gibt es kein ander Werk als das einige Genießen allein, in dem die einige gewaltige Gottheit mit der Minne eins ist" (Br. 17,67 ff.). Entsprechend weist Mechthild im berühmten 44. Kapitel des I. Buches in Erwartung des Bräutigams, der ihr ungemengeten win zu trinken geben wird, nacheinander alle Tugenden und Gnaden ab, | die ihr angeboten werden: die theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe, sodann Askese, Martyrium, die Weisheit der Apostel, ja selbst eine Gnade, die Mechthilds Namens- und Mitschwester, Mechthild von Hackeborn, und viele andere heilige Frauen als höchste Gunst empfangen haben, das Jesuskind zu wiegen und zu herzen: das alles bedeutet ihr nichts (20,30 ff.). Marguerite verabschiedet "
Siehe A . M . HAAS, Mechthild von Magdeburg - D i c h t u n g und M y s t i k , A m s t e r d a m e r B e i t r . 2 ( 1 9 7 2 ) , S. 1 0 5 - 1 5 6 , hier S. 115 ff.
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Beginenmystik
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die Tugenden und kirchlichen Gnadenmittel geradezu förmlich (526,6ff.). Die Tugenden machen nun, was die ame a(d)nientie will; diese ist maistresse der Tugenden (527,2), nicht mehr die Tugenden Meisterinnen der Seele. So weit herrscht Ubereinkunft. Aber: Hat bei Hadewijch und Mechthild die Wesensvereinigung in der Minne transitorischen Charakter, so auch das Heraustreten aus Tugendwerken und sakramentalen Heilsgütern. Sie sind nicht schlichtweg für die minnende Seele bedeutungslos geworden, nur in jenen seltenen und kurzen Erfahrungen der Wesenseinheit. Marguerite spricht es zwar nirgends aus, daß der Status der ame a(d)nientie ein dauerhafter Vollkommenheitszustand sei, aber dies teilt sich dem Leser unwillkürlich mit. Es fehlt auch nicht das gefährliche, man möchte fast sagen, das provozierende Stichwort der Freiheit. Die vernichtete, vom Kreatürlichen nicht mehr gefangene Seele ist nämlich in positiver Formulierung die freie Seele, ame franche, deren Befindlichkeiten immer wieder ins Wort gebracht werden. Mit dem Leben der ame franche ist der dogmatisch virulenteste Aspekt des 'Miroir' angesprochen. Es ist weit mehr als die ontologische Gleichheit der vernichteten Seele mit dem Göttlichen die in der Gotteseinheit erreichte Freiheit, die die Lebensform der ames a(d)nientie bestimmt. So steht sie denn auch in der Inquisitionspraxis ganz und gar im Vordergrund. Die kirchlichen Edikte gegen Begarden und Beginen richteten sich fast ausschließlich gegen diesen Freiheitsbegriff. So acht Punkte, die das Konzil zu Vienne formulierte, 'Errores Begardorum et Beguinarum de statu perfectionis' 2 '; sie stimmen z . T . wörtlich mit Anklagesätzen gegen Marguerite überein. Gleich deren erster greift den Kardinalpunkt auf: Quod anima adnihilata dat licentiam virtutibus nec est amplius in earum Servitute, quia non habet eas quoad usum, sed virtutes obedinnt ad nutum27, und der Magister Jacobus, der den Fall des 'Miroir' noch nach weit mehr als einem Jahrhundert, am 31. Juli 1439, vor die Konzilsväter in Basel zu bringen sich veranlaßt sah28, führte ihn als fünften Irrtum mit der Qualifikation auf: Item est error beguardorumn. Fast mit Not- | wendigkeit, muß man feststellen, endeten ein solches Buch und deren Verfasserin auf dem Scheiterhaufen. Aber auch: der Scheiterhaufen bezeugt die (subjektive) Wahrheit der Begine. Die Prozeßakten 10 machen deutlich, daß man nichts unversucht ließ, Mar26
DENZINGER/SCHÖNMETZER,
Enchiridion
symbolorum,
Freiburg
i.Br.
"1965,
Nr.
891-898. "
P. FREDERICQ, C o r p u s d o c u m e n t o r u m inquisitionis haereticae pravitatis neerlandicae II, Gent/s'Gravenhage 1896, S . 6 3 .
n
Siehe R . GUARNIERI [ A n m . 8], S. 4 7 4 ff.
"
E b d . , S. 6 5 2 .
M
FREDERICQ, C o r p u s . . . [ A n m . 2 7 ] , I, 1 8 8 9 , S. 1 5 5 - 1 6 0 ; I I , S. 6 3 - 6 5 ; N a c h t r ä g e bei LERNER [ A n m . 12], S. 3 5 9 - 3 6 4 .
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guerite zum Widerruf zu bewegen. Man wollte keineswegs das Schauspiel einer Ketzerverbrennung. Marguerite aber konnte nicht widerrufen, bekannte sich zur Wahrheit ihrer göttlichen Liebeserfahrung. So trifft für sie das Wort zu, das Hadewijch in der Liste der Vollendeten von einer unbekannten Begine gesprochen hat - ich interpoliere nur den Namen des Inquisitors, des meester robbaert, mit Meister Wilhelm (von Paris) - : "Eine Begine, die Meister Wilhelm ihrer wahrhaften Minne wegen tötete" (Lijst 14, 193 f.).
VI Die Faszination, die von den drei großen Beginen des 13. Jahrhunderts ausgeht, ist groß. Hadewijch schreibt eine Prosa, die alles, das Zarteste und Kühnste ihrer Erfahrungen, das Erhabenste kosmischer und prophetischer Bildwelt (was hier nicht angesprochen werden konnte) in einer Dichte und Prägnanz ins Wort brachte, die in ihrer Zeit und in der gesamten niederländischen Sprachkunst nichts Vergleichbares haben. Ebenso erstaunlich ist ihre intellektuelle Begabung, die Sicherheit in spekulativ-theologischen Aussagen, das Bewußtsein ihrer Außerordentlichkeit. In der letzten (14.) Vision, in der sie "tat wie Gott, der alle seine Werke seinem Vater überantwortete, von dem er sie hatte" (114 f.), vernimmt sie in der orewoet eine Stimme wie lauter Donner: "Stärkste aller Streiterinnen, die du alles überwunden und die verschlossene Allheit (geelheit, gheheelheit) aufgetan hast, die nie von Kreaturen geöffnet wurde . . . du Kühne, da du so kühn bist und dich nicht beugest, so heiße die Kühnste, und so ist es recht, daß du mich ganz erkennst" (171 ff.). So wird sie der Menschen "Bewunderung und Schrecken". Bei Mechthild beeindruckt vor allem die innocentia spiritualis. Sie äußert erotisch Gewagtes, aber auch Blasphemisches, theologisch Bedenkliches mit einer befreienden Unbefangenheit. Vieles sagt sie, als sei es zum ersten Male ausgesprochen. Was immer sie aufgenommen haben mag, es verbleibt im ganz Eigenen. Ihre religiöse Subjektivität hat, im Zeitalter der Hochscholastik, etwas geradezu Bestürzendes. Die Sprache, wie angeboren, ohne Bewußtsein ihrer 'Kunst', ist ihr unmittelbarer Reflex. Mechthild läßt uns ahnen - das Thema von Wolfgang M o h r —, wie poetische Formen, Poesie überhaupt, entstehen, bevor sie sich mit literarischen Traditionen und damit mit technischem Können
vermähl- | ten. Die nahtegal die mäs ie singen, wan ir nature spilet von minnen al (27,16 ff.). Marguerite hat die Wahrheit, die sie erfahren hat, in ein, man möchte fast sagen: pädagogisches, Lehrbuch gekleidet. Ihr Ich tritt völlig hinter der ame a(d)nientie, ame franche, amour zurück, die zu Sprecherrollen
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Beginenmystik
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werden. Unverkennbar ist die Nähe des Rosenromans, der Minnereden. Aber im 'Miroir' ist nicht wie dort eine etablierte Begriffswelt in ein neues, auf Didaxe ausgerichtetes System gebracht. Was Marguerite ins Lehrgemäße übertragen hat, ist wie bei Hadewijch und Mechthild cognitio dei experimentalis. Ein ganz Persönliches hat sie denn auch gleichsam für sich ausgespart. Es inspirierte noch zwei Jahrhunderte später eine andere Marguerite, die von Navarra, Königin, Geschichtenerzählerin, in ihren späten Jahren Religiosa. Ich meine den Loingprés, den 'Fernnahen', womit Marguerite, angeregt von der Candacis des Alexanderromans, ihren göttlichen Geliebten personifizierte. Wie jene Königin des Ostens sich ein Bild malen ließ vom fernen bewunderten und geliebten Helden, so holte Marguerite den fernen G o t t durch presentación (521,24) in ihre Nähe 31 . W o immer ame oder amour vom Loingprés sprechen, da vernehmen wir ganz persönlich Marguerite, "eine Begine, die Meister Wilhelm ihrer wahrhaften Minne wegen tötete".
11
Siehe RUH [ A n m . 11], S. 3 8 0 f.; Einfluß des 'Miroir' auf Margarete von Navarra S. 368 f., bzw. S. 2 1 6 .
V o t u m für eine überlieferungskritische Editionspraxis [Probleme der Edition mittel- und neulateinischer Texte, hg. von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn 1978, S. 35—40]
Dieses Votum erfolgte im Anschluß an das Einführungsreferat von HORST FUHRMANN. ES ist hier erweitert durch das Beispiel der 'Sieben Staffeln des Gebetes' Davids von Augsburg, weil es mir nicht tunlich erscheint, Prinzipien ohne jegliche Explikation zu formulieren. Wenn ich dabei auf eine eigene Ausgabe' zurückgegriffen habe, so nur, weil mir das Material völlig und bequem zur Verfügung stand. Diese Edition ist nach textkritischen Prinzipien eingerichtet, d.h. sie zielt auf den Autortext ab, der durch die Hs. Z l , vor allem durch die Bewahrung stilistischer Charakteristica Davids, am besten vertreten ist. Z 1 diente deshalb als Leithandschrift. Der Archetypus ergab sich durch kritische Konfrontation von (praktisch, da K 1 nur in Fragmenten überliefert ist, identisch mit Z 1 ) mit * Y 1. Zur Veranschaulichung wiederhole ich das Stemma (s. folg. Seite). ZI K1
Fl Sang 1 Sang 6 Be5 M9
: Zürich, Zentralbl. Cod. C 76, 149 v a -158 r b : Karlsruhe, Landesbibl. Cod. St. Peter 85, 42 v b -44 r b , 7 v b -8 r a , 13 r b / , a [ = K l ' ] (Fragmente) : St. Florian, Stiftsbibl. Cod. X I 123, 44 v -54 r : St. Gallen, Stiftsbibl. Cod. 1033, 57 r -65 r : ebd. Cod. 1066, 226 r b -231 v b : Berlin, Staatsbibl. der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Ms. germ. 4° 1596, 20 v -36 r : München, Staatsbibl. Cgm. 7264, 79 r b -82 r a
Die Frage ist, wie die Ausgabe nach überlieferungskritischen Prinzipien aussehen müßte, wobei die Ermessensfrage, ob im vorliegenden Fall textkritisch oder überlieferungskritisch vorgegangen werden soll, ausgeklammert sein soll. Grundsätzlich stellt sich diese Frage so: Die überlieferungskritische Ausgabe bietet sich bei Texten an, die durch ihren vielfachen Gebrauch mit unterschiedlicher Zweckbestimmung eine offene Uberlieferungsform aufweisen, d. h. zahlreichen Textmutationen ausgesetzt waren, ja z. T . in verschiedenen Redaktionen erscheinen. Die ' K. RUH (Hg.), David von Augsburg: Die sieben Staffeln des Gebetes in der deutschen Originalfassung (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 1), München 1965.
[35/36]
251
Votum für eine überlieferungskritische Editionspraxis Archetypus
1350
1400
1450 Sang 6
»Y4
M9 1500 Be 5
originäre Fassung | kann hier grundsätzlich nicht im Vordergrund wissenschaftlicher Bemühung stehen, und das gilt zumal dort, wo der Autor nicht bekannt ist bzw. kein historisches Interesse in Anspruch nehmen kann oder w o nicht der Autor-, sondern ein Gebrauchstext zur geschichtlichen Wirkung gekommen ist. Solche Kriterien stellen sich natürlich erst bei breiter Überlieferung ein. In dieser Hinsicht stehen die 'Sieben Staffeln' als Beispiel überlieferungskritischer Textbehandlung an der untersten Grenze. Auch dürfte nicht behauptet werden, der Autortext sei hier von sekundärem Interesse: David ist ein Autor mit Profil und individuellen Stilcharakteristika. Unser Beispiel hat demnach nur methodische Relevanz. E d i t i o n s z i e l einer überlieferungskritischen Edition ist ein 'historischer', d. h. nachweisbar gelesener Text - im Gegensatz zum R e k o n struktionstext der kritischen Ausgabe - , und dieser gelesene Text ist so
252
V o t u m f ü r eine ü b e r l i e f e n i n g s k r i t i s c h e E d i t i o n s p r a x i s
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darzustellen, daß er das gesamte Rezeptionsfeld des Denkmals zu erschließen vermag. Die entscheidenden P r i n z i p i e n einer überlieferungskritischen Edition sehe ich in folgendem: 1. Es gibt grundsätzlich keine 'guten' und 'schlechten' ('verdorbenen', 'minderwertigen') Textzeugen. Präziser: 'schlecht' kann sich nur noch auf mechanische Verderbnisse (Zeilensprünge, Fehllesungen des Schrei- | bers, Kakographie etc.) beziehen, nicht aber auf bewußt vorgen o m m e n e Textveränderungen wie Kürzung, Ergänzung, Wortersatz. 2. Alle Textzeugen sind gleichermaßen sorgfältig zu untersuchen und zu beschreiben. Dies gilt besonders im Hinblick auf Auftraggeber, Schreiber, Besitzer und deren Leserspuren. 3. Eine G r u p p i e r u n g der Textzeugen, nach Möglichkeit ein Stemma, ist als Vorstellungsmodell der genealogischen Entfaltung des Textes und für den Stellenwert der einzelnen Zeugen notwendig, zumindest empfehlenswert. Als Mittel der Rekonstruktion braucht das Stemma nicht in Anspruch genommen zu werden. 4. D e r Edition wird e i n e H s . zugrunde gelegt, und zwar in ihrer möglichst ungeschmälerten individuellen Gestalt. N u r die (sicher erkennbaren) mechanischen Fehler werden emendiert. Unabdingbar bewahrt bleiben m u ß die Orthographie der Handschrift: im Hinblick auf die Bedürfnisse der Sprachwissenschaftler. Eine Grenze ist nur durch die eingeschränkten technischen Möglichkeiten des Druckverfahrens gesetzt: so wird es nicht immer möglich sein, die oft sehr zahlreichen diakritischen Zeichen wiederzugeben. Das immer wieder beschworene Prinzip der 'Lesbarkeit' eines Textes unterstellt Leser, die sich nie mit solchen Denkmälern beschäftigen, und übersieht, wie schnell sich die G e w ö h n u n g auch an ungewohnte Druckbilder vollzieht. Der Graphienhorror vieler Editoren scheint mir auf der nachhaltigen Bindung an Praxis und Ideal unserer klassischen Ausgaben zu beruhen. Geringe sprachgeschichtliche Bedeutung k o m m t der G r o ß - und Kleinschreibung zu. Bekanntlich fällt schon die Unterscheidung schwer, da es in spätmittelhochdeutschen Texten häufig großgeschriebene Minuskeln gibt. Es kann so kein Schade sein, die übliche Regelung genereller Kleinschreibung mit Ausnahme von Eigennamen und Satzanfängen d u r c h z u f ü h r e n . Andererseits kann Großschreibung zu den Schreiberprinzipien der Textgliederung gehören. Die f ü r das Textverständnis erforderliche Interpunktion des Editors hätte darauf wie auf andere Gliederungszeichen zu achten. Die Unterschiede in der handschriftlichen Uberlieferung sind
2
Siehe u. a. W . BESCH, S c h r i f t z e i c h e n u n d Laut. M ö g l i c h k e i t e n der L a u t w e n b e s t i m m u n g an d e u t s c h e n H a n d s c h r i f t e n d e s späten Mittelalters, Z f d P h 80 (1961), S. 2 8 7 - 3 0 2 .
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Votum für eine überlieferungskritische Editionspraxis
253
hier beträchtlich. Wo sich Gliederungsprinzipien erkennen lassen, müßten sie die Grundlage der Interpungierung sein. | 5. Die Wahl der Leithandschrift fällt auf den Text, der die gebräuchlichste, d.h. wirkungsvollste Textgestalt ('Vulgata-Fassung') zu repräsentieren vermag. Im Falle der 'Sieben Staffeln' wäre dies F 1. Beginn: Got ist ein ewige anegen[ge] vnd ein volprachtes end alles gtites, von dem fleuföet vnd zu dem fleu^yt wider als daj volpracht wird. Verbessert wird die Schreibernachlässigkeit anegen statt anegenge. 6. Ein L e s a r t e n a p p a r a t A dokumentiert das Verhältnis der Leiths. zur Vulgatafassung und zur originalnächsten Fassung (genealogische Lesarten). 'Sieben Staffeln': F 1 im Verhältnis zu * Y 1 und *X. Wo *Y 1 und * X zusammenfallen, liegt der Archetypus bzw. das Original vor. Lesarten zum 1. Satz: 1 ewige] ewiges *Y 1 * X (ewige ist Individuallesart von F l ) ; vnd * Y l ] vnd ist * X (Die Fl-Lesart vnd ist gleich der Vulgatafassung; ::'X wiederholt die Kopula ist: als stilistisches Signum Davids handelt es sich um die Autorlesart); 2 wider nach vnd *Y 1 * X (die Stellung von wider ist Individuallesart von F l ) . 7. Ein L e s a r t e n a p p a r a t B, den man in der Regel nach dem Text bringen wird, bietet die Rezeptions-Lesarten in systematischer Darstellung: Zusätze, Auslassungen, Wortausfall, Formenersatz, Änderungen der Wortfolge etc. Ausgelassen werden die (sicher bestimmbaren) mechanischen Verderbnisse. Wo sich, bei kleineren Texten und eher schmaler Uberlieferung, die systematische Entfaltung nicht lohnt, wird man nach Gruppenlesarten vorgehen3. Unser kleiner Beispieltext gestattet nur die (übliche) Nennung nach Textfolge. 1 beginnen (anfang vnd begynnen M9) *Y4; volkomen (volkumens M 9) * Y 4; 2 giften Sang 6; von dem] won alles gät von jm Sang 1; von bis 104 gebettis fehlt Be; flehet (1)] außflewßet M 9 ; z« dem fehlt Sang 6; dem]im * Y 2 ; 3 alls gut vnd darumb alles da3 M 9 ; wird]vnd volkumen ist Sang 6. 8. Die ausgesparten mechanischen Verderbnisse werden (allenfalls) in der Beschreibung der jeweiligen Hs. kurz und generell charakterisiert. In diesen Zusammenhang gehören auch spezifische Darstellungsformen | des Schreibers wie Titel, Uberschriften, Schlußformeln, Abschnittsgliederung, Rubrizierung etc. 3
Vgl. dazu G . STEER (Hg.), K o n r a d von Megenberg, Von der sei. Eine Übertragung aus dem ' L i b e r de proprietatibus rerum' des Bartholomäus Prosadenkmäler des Mittelalters 2), M ü n c h e n 1966, S. 24 ff.
4
Die Ziffer bezieht sich auf den Zeilenindex der Ausgabe.
Anglicus (Kleine deutsche
254
V o t u m für eine überlieferungskritische Editionsprixis
[39/40]
9. Auf Grund der textlichen und kodikologischen Daten ist eine Überlieferungs-(Wirkungs-)geschichte des Textes möglich, die je nach Umfang und Bedeutung in der Einleitung zur Textausgabe oder auch, bei umfangreichen Werken, in einer besonderen Studie vorzustellen ist. Die Uberlieferungsgeschichte der 'Sieben Staffeln' ergäbe sich aus folgenden Daten: a) Keine Hs. stammt aus Augsburg oder Regensburg, dem engeren Wirkungsraum Davids und den Zentren franziskanischen Schrifttums im ausgehenden 13. Jahrhundert. b) In der Mitte des 14. Jahrhunderts gelangte der Text in originalna' h e r Gestalt in den alemannischen Westen (Hss. Z l und K l ) . c) Eine andere Fassung ( * Y ) fand über eine mitteldeutsche oder nordbairische Zwischenstufe einerseits noch im 14.Jahrhundert den Weg ins Mittelbairische (Hs. F l ) , andererseits, wenig später, ins Hochalemannische (Hss. Sang 1 und Sang 6; letztere ist als Bearbeitung anzusprechen). d) Die hochalemannische Version wurde für eine Kompilation mit der Paternosterparaphrase Davids 5 herangezogen, die in zwei verschiedenen Ausformungen des späten 15. Jahrhunderts, einer hochalemannischen (Be 5) und einer bairischen (M 9), vorliegt. e) Von den 7 Textzeugen lassen sich fast alle als Frauenklosterhandschriften nachweisen. Sang 6 stammt aus dem Benediktinerinnenkloster St. Wiborada in St. Gallen, Be 5 aus dem Augustinerinnenkloster Inzigkofen, M 9 aus dem Dominikanerinnenkloster Medingen, Z 1 befand sich im 15. Jahrhundert im Dominikanerinnenkloster Adelhausen bei Freiburg i. Br. und dürfte diesem aus Klosterbesitz zugegangen sein. Betreff Sang 1 kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß es einem der Frauenklöster der Stadt St. Gallen oder der näheren Umgebung entstammt. F 1 und K 1 weisen vom Handschriftentypus her auf eine moniale, zumindest monastische Provenienz. Die 'Sieben Staffeln' sind so als ausgesprochene Klosterlektüre ausgewiesen. | Die skizzierte Editionsweise, die im Detail auszuarbeiten und praktisch zu erproben wäre, darf die Bezeichnung 'historisch-kritisch' für sich beanspruchen. Sie ist 'historisch', indem sie einen in vorliegender Gestalt verbreiteten und gelesenen Text bietet und diesen, durch die Lesartenapparate und die Uberlieferungsgeschichte, in ihrer Gesamtrezeption vorstellt. Sie ist 'kritisch', indem sie zugleich den Bezug zum Autortext, so weit er sich fassen läßt, klarlegt.
S
S. FRANCIS MARY SCHWAB, David of Augsburg's 'Pater-noster' and the Authenticity of his G e r m a n W o r k s ( M T U 32), München 1971; s. S. 69 ff. und Stemma S. 87.
Volkssprachliches über Häresien [Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 110 (1981), S. 2 2 1 - 2 3 9 ]
I.
Ketzerartikel, die Inquisitoren und Theologen in lateinischer Sprache zusammenstellten, erscheinen nur ganz selten in der Volkssprache, obschon sie in der Regel von volkssprachlichen Häretikern herstammen. Das ist leicht zu erklären: Die Kirche, der die Bekämpfung des Irrglaubens auferlegt war, konnte kein Interesse daran haben, diesen den Laien zugänglich zu machen; er war ja nicht durchaus abstoßend, sondern auch von entschiedener Faszination - wie anders hätte er die Massen jahrhundertelang bewegen können! Erst wo die Gläubigen durch Häresien unmittelbar gefährdet und verunsichert waren, mochte es angemessen erscheinen, Irrlehren als solche in der Sprache der Laien zu nennen und damit erkennbar zu machen und vor ihnen zu warnen. So erklärte sich die gelegentliche (der Begriff soll hier wörtlich genommen werden) Formulierung von Häresie in der Predigt1, so die gleichfalls gelegentliche Übertragung von Listen ketzerischer Aussagen in die Sprache des Volkes, | selbst wenn ein besonderer Anlaß nicht genannt wird und aus dem Uberlieferungszusammenhang nicht hervorgeht. Aber auch diese Ubertragungen waren nicht unmittelbar zum Gebrauch des Laien gedacht, sondern dienten dem Priester, der sie in geeigneter Form zu vermitteln hatte: dies zeigt der fast regelhafte Umstand an, daß deutsche Häresiekataloge in lateinische Handschriften inseriert sind. Ich kann im folgenden die bisher umfangreichste deutsche irrung an dem gldben bekannt machen, die außerdem die Besonderheit hat, daß auch ihr Kontext durchaus deutsch ist. Zuerst gilt es aber die Thematik der volkssprachlichen Häresie (ich beschränke mich zuständigkeitshalber auf deutsche Texte) zum Zwecke ihrer Bekämpfung im bisher bekannten Umkreis abzustecken. Ein Sonderfall sind Stellungnahmen der Mystiker über häretische Aussagen. Die Vollkommenheitslehre, die aller mystischen Spiritualität 1
Als Beispiel diene Berthold von Regensburg, hg. von F. PFEIFFER (Bd. I) und J . STROBL (Bd. II), Wien 1862 u. 1880 (Neudruck K. RUH, Berlin 1965), vor allem Bd. I, Pr. X X V , S . 4 0 2 , 8 ff.; 406,9-37 sieben einzelne Ketzeraussagen; s. A. SCHÖNBACH, Das Wirken Bertholds von Regensburg gegen die Ketzer (Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt 3), W S B 147/5, 1904.
256
Volkssprachliches über Häresien
[222/223]
zugrunde liegt, wurde immer wieder, und zumal in häresiebedrohten Zeiten, als Irrlehre verdächtigt 2 , und so mußte auch das Bedürfnis entstehen, sie von dieser abzugrenzen. So führt Heinrich Seuse, der sich der sässen lere seines verurteilten heiligen maister Eghards verpflichtet fühlte ('Vita', BIHLMEYER', S . 9 9 , 10 ff.), im 'Büchlein der Wahrheit', c. V I (BIHLMEYER, S. 3 5 2 - 3 5 7 ) ein 'ideologiekritisches' Gespräch mit dem namelos wilden, der in lediger fribeit (352,24) lebt, und distanziert sich so von den Brüdern des freien Geistes. Dasselbe tut Ruusbroec im 2. Teil seines Büchleins 'Van X I I Beghinen', wenn er ketterijen in betrekking met het schouwende leven ins Wort bringt 4 . Jan van Leeuwen, im 'Boexken van Meester Eckarts leere daer hi in doelde', 'Van den tien gheboden gods', c. 26, 'Van vijfterhande bruederscap', c. 30 s , grenzt nicht nur ab, sondern gefällt sich in wortreicher Polemik gegen Meister Eckhart, die offensichtlich die posthume Verketzerung des Meisters zum eigentlichen Zwecke hat. Der Autor der 'Theologia deutsch'" nennt schon in der Titelei, die den Gegenstand des Traktats zu umschreiben hat, die vngerechten, falschen freyen geiste, dy der heiligen kirchen gar schedelich synt, die man irkennen soll neben den warhafftigen, gerechten gotis frundt; zu diesen bilden jene freyen geiste geradezu die häretische Kontrafraktur. Als Sonderfall kann auch die Information über Ketzerei betrachtet werden, die den niedrigen geistlichen und weltlichen Behörden als Rechts- und | Gerichtsinstanzen zugedacht war. Die volkssprachliche Form im Bereich des kanonischen Rechts erwies sich seit dem H . J a h r hundert, wenn nicht als notwendig, so doch als wünschenswert: für "schlichte Priester" nämlich, die in latein vielleicht als vil nicht verneinen als not wir, wie für Laienrichter. Das Zitat stammt aus der sehr erfolgreichen, in ca. hundert Textzeugen überlieferten 'Rechtssumme' Bruder Bertholds (von Freiburg)', einer souveränen Bearbeitung und ' B e z e i c h n e n d ist, d a ß selbst e i n e s o o r t h o d o x geartete P e r s ö n l i c h k e i t wie G e e r t G r o o t e , d e r seine S c h w e s t e r n w i e d e r h o l t v o r den Fallstricken der Irrlehren warnte, mit H a r t n ä k kigkeit als L o l l a r d e und B e g a r d e b e s c h i m p f t w u r d e ; s. D . KURZE, D i e festländischen L o l l a r d e n , A r c h . f. K i r c h e n g e s c h . 4 7 ( 1 9 6 5 ) , S. 5 9 f. ' K . BIHLMEYER ( H g . ) , H e i n r i c h Seuse. D e u t s c h e S c h r i f t e n , Stuttgart 1907. 4
J . VAN MIERLO / L . REYPENS ( H g g . ) , J a n van R u u s b r o e c : W e r k e n , B d . I V , T i e l t
2
1948,
S. 3 9 - 5 2 . S
T H . B . W . KOK, S. M . , J a n van Leeuwen en zijn w e r k j e tegen E c k h a r t [mit
einer
N e u a u s g a b e des ' B o e x k e n van M e e s t e r E c k a e r t s leere daer hi in d o e l d e ' ] , O G E
47
( 1 9 7 3 ) , S. 1 2 9 - 1 7 2 ; R . A . U B B I N K , D e receptie van M e i s t e r E c k h a r t in de N e d e r l a n d e n g e d u r e n d e de M i d d e l e e u w e n , Proefschrift Leiden 1 9 7 8 , S. 2 2 9 - 2 3 4 . 6 7
Z i l . nach d e r N e u a u s g a b e v o n W . VON HINTEN ( M T U 78), M ü n c h e n 1982. Z i t . nach der W ü r z b u r g e r A u s g a b e , hg. von G . STEER u. a. ( T e x t e u. T e x t g e s c h i c h t e 7), T ü b i n g e n (erscheint in K ü r z e ) . Z u m W e r k s. jetzt MARLIES HAMM/HELGARD ULMSCHNEIDER, D i e ' R e c h t s s u m m e ' B r u d e r B e r t h o l d s . U n t e r s u c h u n g e n I ( T e x t e u. T e x t g e -
[223/224]
257
Volkssprachliches über Häresien
Umformung der 'Summa confessorum' des Johannes von Freiburg in etwa 700 alphabetisch angeordneten Artikeln. Dieses Nachschlagewerk orientiert auch über die Ketzer®, indem bestimmt wird, was ein Ketzer ist und woran man ihn erkennt. Sie sind schlimmer als Juden und Heiden, weil sie den Glauben empfangen haben, aber ihn verkehren. Es folgen ausführliche Strafbestimmungen bis zur ewigen fancknuz und zum tod des fewrs. Ebenso wird der Sympathisanten und Beschirmer der Häretiker gedacht, die mit dem Bann belegt werden und, sofern es sich um Herren handelt, herschaft und wirdichait verlieren. - Selbstverständlich handeln auch die Landrechtsbücher über Ketzer, doch nur wie mit ihnen zu verfahren ist'. Die Glaubensunterweisung für Laien im Rahmen katechetischen Schrifttums, grundsätzlich unmittelbar lehrhaft-ermahnend, nicht apologetisch-argumentativ, gab in der Regel den Irrlehren keinen Raum oder doch nur beiläufig. Am wenigsten war Anlaß, ganze Listen häretischer Aussagen in die Sprache des Volkes zu übertragen und damit bekannt zu machen. Ein solcher Anlaß bestand, wenn die Häresie verbreitet und virulent war: dann galt es, die in der Seelsorge tätige Priesterschaft umfassend zu informieren, auch durch Übertragungen von Irrlehren, sei es, um wenig gebildeten Priestern entgegenzukommen; auch an Magistraten als Empfänger kann gedacht werden, war diesen doch die Durchführung des Strafvollzugs verurteilter Ketzer auferlegt. Eine solche Situation signalisiert, wie ich meine, die alemannische Übertragung der päpstlichen Bulle 'In agro dominico', die Meister Eckharts Häresie aufzuzeigen bestimmt war. Dieser deutsche Text wurde erst vor kurzem von PATSCHOVSKY bekannt gemacht10. Die Übersetzung steht am Schlüsse des Wolfenbütteler Cod. 311 Heimst., den der protestantische Professor und Kanzler der Universität Göttingen, | Johann Lorenz Mosheim (1694—1755) für seinen 'De Beghardis et Beguinabus commentarius' (posthum 1790 in Leipzig erschienen) ausgewertet hat, eine Schrift, die der Eckhart-Forschung wohl bekannt ist, bestimmt sie doch wesentlich das Eckhartbild des frühen 19. Jahrhunderts". Cod. 311 Heimst, enthält im 1.Teil ( l - 1 6 v ) ein böh-
schichte 1), Tübingen
1980; P.JOHANEK,
2
I Verfasserlexikon (1978),
Sp.807-813,
umreißt knapp den gegenwärtigen Forschungsstand. !
C 17-21.
° So Schwabenspiegel, hg. von F. L. A. FRH. VON LASSBERG, Tübingen 1840 (Neudruck Aalen 1961), §313 von den 10
ketzeren
A. PATSCHOVSKY, Straßburger Beginenverfolgungen im 14. Jh., Dt. Archiv 30 (1974), S. 56-198, S. 118-125 (zum Text), S. 195-198 (Ausgabe). Die folgenden Ausführungen über die Wolfenbütteler Hs. beruhen auf dieser grundlegenden Abhandlung.
" INGEBORG DEGENHARDT, Studien zum Wandel des Eckhartbildes, Leiden 1967, S. 86 ff.
258
Volkssprachliches über Häresien
[224/225]
misches Inquisitorenhandbuch, im 2.Teil ( 4 9 - 1 2 5 r ) ein "MendikantenDossier" aus Straßburg, das vor allem die Stellung der Bettelorden zu den Beginen dokumentiert. Die Straßburger Herkunft des gesamten Codex mit einer Entstehungszeit zwischen 1366-1374 ist gesichert, als Auftraggeber und Glossator der Handschrift wird der Physicus und Domkanoniker Heinrich von Sachsen wahrscheinlich gemacht. Als Expertenbuch ist der Cod. 311 Heimst, lateinisch verfaßt - mit Ausnahme des am Ende (125 r 7 r b ) stehenden Bullentextes und eines kurzen Schreibens über einen Basler Hostienfrevel v. J. 1374 (114 rb / vb ). Die Frage nach Anlaß und Zweck der Ubersetzung beantwortet PATSCHOVSKY mit einem Hinweis auf KOCH12. Dieser hatte aus der Aufforderung des Papstes Johannes X X I I . an den Kölner Erzbischof, die Bulle 'In agro dominico' in Köln, im Kölner Erzbistum und in der Kölner Kirchenprovinz feierlich zu publizieren (solemniter publicari), "damit durch eine derartige Publikation die Herzen der einfachen Leute (simplices), die sich leicht verführen lassen, und besonders diejenigen, denen derselbe Eckhart zu seinen Lebzeiten besagte Artikel gepredigt hat, von den in ihnen enthaltenen Irrlehren nicht angesteckt werden", eine niederrheinische Übertragung der Bulle abgeleitet, da nur so den "einfachen Leuten" die inkriminierten Sätze vermittelt werden konnten. PATSCHOVSKY möchte nun annehmen, der Straßburger Text sei ein Ausläufer jener sonst nicht erhaltenen offiziellen Kölner Ubersetzung. Das ist nicht auszuschließen, jedoch ist Vorsicht geboten. Das päpstliche Schreiben betont zwar die seelsorgerische Absicht der Veröffentlichung, was aber nicht bedeuten muß, daß die verurteilten Sätze den Gläubigen im Wortlaut und als Ganzes bekannt gegeben werden sollten. Die 'Publikation', so möchte ich meinen, war wohl eher in der Gestalt des authentischen lateinischen Bullentextes als in dessen deutscher Übertragung für die Geistlichkeit der Kirchenprovinz gedacht, von der man erwartete, daß sie davon in geeigneter Form, vor allem im Rahmen der Predigt, Gebrauch mache. Wichtig war, daß die "einfachen Leute", die Eckhart gehört und bewundert haben mochten, von der Verurteilung hörten und heilsam erschreckt wurden; der deutsche Wortlaut der als "häretisch" oder "übelklingend" verurteilten Sätze war, schon weil er Eckharts Lehre in originaler Sprache wiedergab, eher dazu angetan, die Erinnerung an den großen Prediger wachzuhalten als vor seiner Lehre zu | warnen. Auch dürfte es mittelalterlichen Kirchenfürsten nicht entgangen sein, daß die geballte Ladung häretischer Sätze eine vollkommen andere Wirkung erzeugt als einzelne solcher Sätze im Kontext etwa einer PATSCHOVSKY
[ A n m . 10],
S. 121 f.; J . KOCH,
Meister
Eckharts
Weiterwirken
im
deutschniederlandischen Raum im 14. und 15.Jh., in: La mystique rhénane. Colloque de Strasbourg 1 6 - 1 9 mai 1961 (Bibliothèque des Centres d'Études supérieures spécialisés), Paris 1963, S. 1 3 3 - 1 5 6 , bes. 136 f.
259
V o l k s s p r a c h l i c h e s über H ä r e s i e n
[225]
Predigt". Wenn diese Überlegungen richtig sind, ist die Wahrscheinlichkeit einer offiziellen Kölner Ubersetzung, von der KOCH bedauert, "daß wir davon nichts wissen", gering. Sie dürfte so auch nicht im Straßburger Text der Wolfenbütteler Handschrift vorliegen. PATSCHOVSKY glaubt in s e i n e m alemannischen Bullentext m i t t e l d e u t s c h e S p r a c h f o r m e n z u f i n d e n " . D a s darf b e z w e i f e l t w e r d e n : H ä u f i g fehlendes U m l a u t z e i c h e n - nicht D i p h t h o n g i e r u n g s z e i c h e n ! - ist M e r k m a l eines im D e u t s c h e n nicht g e ü b t e n S c h r e i b e r s , das i in u n b e t o n t e n Silben ist gut elsässisch; es verbleibt d u r c h g e s t r i c h e n e s vader dode.
v o r vatter
und
Spezifisch M u n d a r t l i c h e s fehlt. Indes bleibt es eine s e k u n d ä r e F r a g e , w o d e r T e x t
e n t s t a n d e n ist, kritisch zu b e l e u c h t e n w a r die T h e s e von einer offiziellen K ö l n e r Ü b e r s e t zung.
Der Wolfenbütteler Cod. 311 Heimst, als Sammlung zur Kenntnis und Beurteilung von Häresien und antihierarchischer Bewegungen erklärt fraglos von seinem Inhalt und seiner Zweckbestimmung her die Aufnahme der Bulle, die Eckharts Häresie dokumentieren sollte, aber noch nicht deren deutschen Text. Daß dem Sammler nur ein Übersetzungstext, nicht aber die amtliche Fassung zur Verfügung stand, ist nicht eben wahrscheinlich. Vielmehr ist anzunehmen, daß der aktuelle Anlaß des 'Dossiers', die Straßburger Beginen-Inquisitionen v . J . 1368/1369 und 1374, die Papst Urban V. initiiert hat is , die Übertragung diskriminierter Eckhartscher Sätze zum Zwecke von Verhör und Verfolgung gerade von Beginen, deren 'Affinität' zu häretisch verdächtiger mystischer Spekulation bekannt war, als geboten erscheinen ließ. Einen ähnlichen Kontext wie die Übersetzung der Meister-EckhartVerdammungsbulle kommt den deutschen Ketzerinformationen zu, die in der Wiener Handschrift Nat. Bibl. Cod. 2846 überliefert sind. Es sind kürzende Bearbeitungen aus dem inquisitorischen Sammelwerk des Passauer Anonymus (um 1260/66), wie schon zu Beginn dieses Jahrhunderts nachgewiesen wurde".
" U n r e a l i s t i s c h ist die generelle A n s i c h t W . STAMMLERS ( M i t t e l a l t e r l i c h e P r o s a in deuts c h e r S p r a c h e , in: D t . P h i l . i. A u f r i ß , ' I I , Sp. 757), d a ß d u r c h V e r d e u t s c h u n g K e t z e r a r t i k e l n die " b r e i t e M a s s e . . . v o r der u n g e h e u r e n G l a u b e n s g e f a h r
von
rechtzeitig
g e w a r n t w e r d e n " sollte. "
PATSCHOVSKY [ A n m . 1 0 ] , S . 1 2 2 m i t A n m . 1 7 2 .
15
D e r s . , S. 114—118; s. v o r allem das ' I n t e r r o g a t o r i u m
f ü r die S t r a ß b u r g e r
Beginen',
S. 1 8 2 - 1 8 4 . " H . HAUPT, E i n d e u t s c h e r T r a k t a t ü b e r die österreichischen W a l d e n s e r des 13. J h . s , Zs. f. K i r c h e n g e s c h .
2 3 ( 1 9 0 2 ) , S. 1 8 7 - 1 9 0 .
Ü b e r den P a s s a u c r A n o n y m u s
s. A . PAT-
SCHOVSKY, D e r Passauer A n o n y m u s . E i n S a m m e l w e r k ü b e r K e t z e r , J u d e n , A n t i c h r i s t aus der M i t t e des 1 3 . J h . s (Schriften der M G H 2 2 ) , Stuttgart 1 9 6 8 ; z u r W i e n e r H s . S. 1 3 - 1 5
( A n m . 54
zu
S. 13).
Die
hier
nach
A . BERGELER,
ZfdA
80
(1943/44),
S. 1 7 7 - 1 8 4 , vertretene T h e o r i e , d a ß als Ü b e r s e t z e r H e i n r i c h von M ü g e l n zu gelten habe, hat mit P . - G . V Ö L K E R , V o m A n t i c h r i s t . E i n e m h d . B e a r b e i t u n g des Passauer A n o n y -
260
Volkssprachliches über Häresien
[225/226]
D i e A u s z ü g e stehen fol. 1 3 7 ^ - 1 4 6 " der zweispaltig geschriebenen H s . Sie sind auf die W a l d e n s e r - H ä r e s i e a u s g e r i c h t e t : Ihre M i t t e bilden die 'Articuli h e r e s u m ' und der sog. ' W a l d e n s e r | T r a k t a t ' . E i n e A u f z ä h l u n g der einzelnen A b s c h n i t t e und ihr jeweiliger B e z u g z u m W e r k des P a s s a u e r A n o n y m u s findet sich PATSCHOVSKY, S. 14.
Ein Anlaß dieser Verdeutschung ist nicht zu erkennen. Es fehlt aber auch eine genaue Untersuchung der Wiener Hs., die zwar häufig, aber immer nur punktuell herangezogen wurde; auch PATSCHOVSKY macht sie ausdrücklich nicht zum Gegenstand seiner Untersuchung. STAMMLER" datiert die Verdeutschung, offensichtlich in falscher Interpretation des Titels von HAUPTS Beitrag [Anm. 16], ins 13. Jahrhundert. Die Überlieferung wäre so - Wien cod. 2846 stammt v.J. 1478 - zwei Jahrhunderte jünger als die Ubersetzung. Das darf als ausgeschlossen gelten. Im übrigen verunmöglicht gerade die Ungewißheit des Zeitpunkts der Entstehung eine nähere Fixierung des unmittelbaren Anlasses. Vermerkt sei nur, daß in Osterreich wie im benachbarten Böhmen/Mähren und in Ungarn die Waldenser im ganzen 14. und weit ins 15. Jahrhundert hinein bekämpft und verfolgt wurden". Die deutschsprachigen Listen von Ketzeraussagen sind in der Regel Ubersetzungen oder Bearbeitungen lateinischer Häresieakten. Gelegentlich mag aber doch, besonders in späterer Zeit mit gesteigerter volkssprachlicher Schriftlichkeit ein Verhör in deutscher Sprache aufgenommen und ad acta gebracht worden sein. Dazu sind wohl die Aussagen mit dem Titel 'Der glaub der Waldeser kezere' zu stellen, die im späten 15. oder frühen 16. Jahrhundert überliefert sind". N i c h t in u n s e r e n Z u s a m m e n h a n g , der häretischen ' G l a u b e n s a r t i k e l n ' gilt, w o h l a b e r in d e r e n literarisches U m f e l d g e h ö r e n die n o c h unveröffentlichten B e s t i m m u n g e n der H s . A u g . 1 1 6 , 3 5 6 - 3 5 7 ' der B a d . L a n d e s b i b l i o t h e k Karlsruhe (um 1400). Sie grenzen in z e h n P u n k t e n , die vs gottlichen
rehtbuchen
genomen
sint, den B e g i n e n - und Begardenstand von
O r d e n s l e u t e n a b ; es folgen m i t derselben B e r u f u n g auf kanonisches R e c h t , j e d o c h mit
m u s ( K l e i n e dt. P r o s a d e n k m ä l e r des M A s 6 ) , M ü n c h e n 1 9 7 0 , S. 10 ff., als u n b e w i e s e n zu gelten. " "
STAMMLER [ A n m . 13], S p . 7 5 7 . Siehe die z a h l r e i c h e n D o k u m e n t e die österreichischen W a l d e n s e r betreffend bei I. VON DÖLLINGER, B e i t r ä g e z u r S e k t e n g e s c h i c h t e des Mittelalters. I I . D o k u m e n t e v o r n e h m lich z u r G e s c h i c h t e der V a l d e s i e r und K a t h a r e r , M ü n c h e n 1890 ( N e u d r u c k D a r m s t a d t 1 9 6 8 ) ; d a z u G . E . FRIESS, Patarener, Begharden und W a l d e n s e r in Ö s t e r r e i c h w ä h r e n d des M i t t e l a l t e r s , Ö s t e r r . V j S . f. kath. T h e o l . 11 ( 1 8 7 2 ) , S. 2 0 9 - 2 7 2 [ D o k u m e n t e
ab
S . 2 4 9 ] ; H . H A U P T , W a l d e n s e r t h u m und Inquisition im südöstl. D e u t s c h l a n d bis zur Mitte
des
14. J h . s ,
2s.
f.
Geschichtswissenschaft
1 (1889),
S. 2 8 5 - 3 3 0 ;
3
(1890),
S. 3 3 7 - 4 1 1 . "
DÖLLINGER I I [ A n m . 18], N r . 6 8 , S. 701 f.; die H s . , Karlsruhe, L B , c o d . Karlsr. 3 4 9 , die DÖLLINGER n i c h t n e n n t , b e s t i m m t e A. PATSCHOVSKY, D t . A r c h i v . 2 5 ( 1 9 6 9 ) , S . 2 9 2 ; d o r t d e r zitierte T i t e l .
[226/227]
261
Volkssprachliches über Häresien
g e n a u e n Stellenangaben A n w e i s u n g e n über die eremitische L e b e n s w e i s e 2 0 . W a s die B e g i n e n - B e g a r d e n - V e r o r d n u n g e n betrifft, die hier allein interessieren, so liegen i h n e n o f f e n sichtlich die Beschlüsse des K o n z i l s von V i e n n e v . J . 1 3 1 1 / 1 2 ü b e r den z u g r u n d e , die 1 3 1 7 in die ' C l e m e n t i n e n ' eingegangen sind: 'Cum
Beginenstand
de quibusquam
mulieri-
bus' ( I I I , tit, 11, c. 1) J I . D a s D o k u m e n t als solches geht, w i e | LERNER f e s t s t e l l t e " , auf eine V e r o r d n u n g des Rates von S t r a ß b u r g ca. 1404 z u r ü c k , die d e r B a s l e r B e g i n e n V e r f o l g e r J o h a n n e s M u l b e r g ausgelöst h a t t e " . A u c h die U b e r s e t z u n g v o n F e l i x H e m m e r i i s ' C o n t r a validos m e n d i c a n t e s ' ( 1 4 3 8 ) d u r c h N i c l a s von W y l e v . J . 1464 ( T r a n s l a t z I X ) " vermittelt - mit einer s c h e i n b a r e n A u s n a h m e k e i n e H ä r e s i e n in der V o l k s s p r a c h e . E s geht in diesem Streitgespräch z w i s c h e m d e m A u t o r F e l i x und e i n e m Begarden u m freiwillige A r m u t und k i r c h l i c h e P f r ü n d e n ( 1 6 0 , 1 0 - 1 8 2 , 2 2 ) und u m die N a c h f o l g e C h r i s t i und Bettelei ( 1 8 2 , 2 3 - 1 9 4 , 1 3 ) . In d i e s e m Z u s a m m e n h a n g wird die A u s s a g e , daß C h r i s t u s gebettelt habe, als Irrglaube erklärt ( 1 9 2 , 3 7 ff.). E s ist dies b e k a n n t l i c h die E r k l ä r u n g J o h a n n e s X X I I .
im A r m u t s s t r e i t mit den
franziskanischen
Spiritualen in der B u l l e ' C u m inter n o n n u l l o s ' v o m 1 2 . 1 1 . 1 3 2 3 " . - N i c l a s v o n W y l e n e n n t nur einen p e r s ö n l i c h e n A n l a ß z u dieser Ü b e r t r a g u n g : D a n k g e g e n ü b e r d e m v e r s t o r b e n e n L e h r e r , der so viel für ihn getan h a b e ; er m ö g e auch vnder
den layen
vnd tütschen
(158,37)
nicht vergessen werden. A u c h die W i d m u n g an die M a r g a r e t h e v o n W ü r t t e m b e r g läßt k e i n e aktuelle M o t i v a t i o n z u r V e r b r e i t u n g des H e m m e r l i s c h e n D i a l o g s e r k e n n e n . N i c h t u m eigentliche H ä r e s i e n , sondern um A b e r g l a u b e n handelt es sich bei den acht P u n k t e n , die d e r A u g u s t i n e r l e k t o r W e r n h e r von F r i e d b e r g gepredigt u n d v o r d e m B i s c h o f von S p e y e r in H e i d e l b e r g am 11. F e b r . 1405 widerrufen h a t " . Sie in der V o l k s s p r a c h e bekannt
zu m a c h e n , k o n n t e im U n t e r s c h i e d z u faszinierenden
'Glaubenslehren'
der
H ä r e t i k e r v o n vornherein k e i n e B e d e n k e n auslösen.
M
in den göttlichen rehtbuchen XVI q. v Cui vere. Item xxvij q. ij Ij Ecce quod coniugati XIX q. iij econtra paulus de excessibus prelatorum ò vno infine et capitulum priuide verborum
significacione
Ii. vi ( 3 5 7 r ) . G e m e i n t sind B e s t i m m u n g e n des D e c r e t u m G r a -
tiani, ed. E . FRIEDBERG, i n : C o r p u s iuris C a n o n i c i I, G r a z 1 9 5 9 . J
' E d . FRIEDBERG [ A n m . 2 0 ] , I I , Sp. 1 1 6 9 .
22
R . E . LERNER, T h e H e r e s y o f t h e F r e e Spirit in the L a t e r M i d d l e A g e s , C a l i f o r n i a Press B e r k e l e y / L o s A n g e l e s / L o n d o n 1 9 7 2 , S. 104.
"
LERNER, A n m . 52, beruft sich auf Christian Wurstisens ' B a s l e r C h r o n i k ' , Basel 1 5 8 0 , S. 2 0 5 - 2 0 6 . D o r t stehen indes D i s p u t a t i o n s p u n k t e J o h a n n e s M u l b e r g s , die n u r in i h r e m allgemeinen Inhalt mit d e m K a r l s r u h e r T e x t ü b e r e i n s t i m m e n . D e r R e i c h e n a u e r K a t a l o g v o n A . HOLDER ( I L , N e u d r u c k W i e s b a d e n 1 9 7 1 , B i b l i o g r . N a c h t r ä g e , S. 7 1 8 ) identifiziert den T e x t mit ' H e i d e l b e r g e r B e g i n e n g u t a c h t e n v o n
1 4 0 5 ' . D a s ist i n s o f e r n
zu
LERNERS A n g a b e n nicht w i d e r s p r ü c h l i c h , als nach W u r s t i s e n s C h r o n i k ( S . 2 0 7 ) die M u l b e r g s c h e n Puncte Heidelberg
dem B i s c h o f von S p e y e r und dem
nach
der
Hohen
Schul
zu
vorgelegt und v o n diesen a p p r o b i e r t w u r d e n .
•'* H g . v o n A . VON KELLER, T r a n s l a t i o n e n von N i c l a s von W y l e ( S t L V 5 7 ) , S t u t t g a r t 1 8 6 1 , S. 1 5 7 - 1 9 7 . C . EUBEL, B u l l a r i u m F r a n c i s c a n u m V , N r . 5 1 8 (S. 2 5 6 - 2 5 9 ) . "
Ü b e r l i e f e r t in Basel, Ü B , c o d . A I V 2 4 , 1 5 2 - 1 5 3 ' ,
und W i e s b a d e n , L B , c o d .
35,
137 v —147"; den 4 . P u n k t , u n k i r c h l i c h e S e g e n s f o r m e n b e t r e f f e n d , hat W . WACKERNAGEL, ZfdA
4 (1844), S . 5 7 6 f . ,
nach der Basler H s . b e k a n n t g e m a c h t . D e r
Katalog
G . ZEDLER, D i e H a n d s c h r i f t e n der Nassauischen L a n d e s b i b l . zu W i e s b a d e n
von
(ZfBW,
B e i h e f t 6 3 ) , L e i p z i g 1 9 3 1 , S . 4 7 , hat irrtümlicherweise ( D r u c k f e h l e r ! ) das D a t u m 1450.
262
V o l k s s p r a c h l i c h e s über Häresien
[227/228]
II. Die Hs. der Zürcher Zentralbibliothek C 38 v.J. 1443, in Gänze geschrieben von frater Cunradus Nieß de Waise17, enthält fol. 54 v -56 v zwei Listen häretischer Sätze in hochalemannischer, genauer nordostschweizerischer Sprache, die meines Wissens noch nirgends vermerkt worden sind28. Es handelt | sich um die acht 'Errores Beguardorum et Beguinarum de statu perfectionis', die das Konzil von Vienne i.J. 1312 formuliert hat, die aber erst 1317 von Papst Johannes X X I I . veröffentlicht, d. h. in die Clementinen inseriert wurden29, sowie um Auszüge des Gutachtens, das Albertus Magnus aus Anlaß der Ketzerei im Schwäbischen Ries ( 1 2 7 0 - 1 2 7 3 ) verfaßt hat10, einschließlich der ' X X X articuli de heresi novi spiritus', die sich gleichfalls auf die Rieser Häresie beziehen
27
D i e s e n S c h r e i b e r v e r m o c h t e ich nicht zu identifizieren. Mit einiger Sicherheit dürfte er nicht dem Z ü r c h e r D o m i n i k a n e r k l o s t e r angehört haben; die Listen der Prioren und Brüder
bei
1230-1524.
MARTINA
WEHRLI-JOHNS
Mendikantentum
zwischen
(Geschichte Kirche,
des Z ü r c h e r Adel
und
Predigerkonvents.
Stadt,
Zürich
1980,
S. 2 3 1 - 2 6 2 ) weisen den N a m e n jedenfalls nicht auf. "
D e r K a t a l o g C . MOHLBERGS (Mittelalterliche Handschriften der Z e n t r a l - B i b l . Z ü r i c h I), Z ü r i c h 1 9 5 1 , S. 2 6 , ü b e r g e h t sie einschließlich der ganzen S a m m l u n g von Predigten, Traktaten
und
Betrachtungen
l ' - 7 6 \ die mit dem Stichwort
"Betrachtungen
und
P r e d i g t e n " a b g e d e c k t wird. - Z u N r . 4 des Katalogs: T r o t z der W a r n u n g von K . SCHORBACH (Studien ü b e r das deutsche V o l k s b u c h Lucidarius [ Q u F 74], Straßburg S . 2 6 7 f . ) — auf den sogar verwiesen wird - , es handle sich bei diesem Lucendanus tütsch
1894, in
nicht u m den ' L u c i d a r i u s ' sondern "die bekannte Auslegung der 10 G e b o t e "
[ e r g ä n z e : ' A u s z u g ' und ' Z e h n G e b o t e ' des Marquard von Lindau], lenkt MOHLBERG in den " B e r i c h t i g u n g e n und E r g ä n z u n g e n " , S. 352 b z w . 346 den B e n u t z e r abermals auf die falsche F ä h r t e ' L u c i d a r i u s ' . M
H . DENZINGER/ A . SCHÖNMETZER, Enchiridion S y m b o l o r u m definitionum et declarat i o n u m de rebus fidei et m o r u m , Freiburg i. Br. " 1 9 6 5 , N r . 8 9 1 - 8 9 9 ; s. E . MÜLLER O . F . M . , D a s K o n z i l von Vienne 1 3 1 1 - 1 3 1 2 . Seine Quellen und seine G e s c h i c h t e ( V o r r e f o r m a t o r i s c h e F o r s c h u n g e n 12), M ü n s t e r / W e s t f a l e n 1934, S. 5 7 7 - 5 8 7 . - M i t der V e r ö f f e n t l i c h u n g der ' E r r o r e s ' (offizieller Titel ' A d nostrum') in den C l e m e n t i n e n , in u n s e r e m T e x t (Z. 2 0 f.) k o r r e k t zitiert mit in dem
sübenden
buch
[des C o r p u s iuris
C a n o n i c i ] , gerieten die B e g i n e n generell in Häresieverdacht. w
' C o m p i l a t i o de n o v o spiritu', hg. von W . PREGER, Geschichte der deutschen M y s t i k im Mittelalter I, L e i p z i g 1 8 7 4 , S. 4 6 1 - 4 6 9 ; DÖLLINGER II [ A n m . 18], N r . 39 (S. 3 9 5 - 4 0 1 ) ; I. DE GUIBERT S. J . , D o c u m e n t a ecclesiastica Christianae perfectionis Studium spectantia, Romae
1 9 3 1 , S. 114—125 unter dem Titel ' D e t e r m i n a t i o magistri Alberti . . .
articulis inventae haeresis in Recia diocesis Augustensis'. -
super
D i e beste A n a l y s e und
E i n o r d n u n g in die geistigen Bewegungen der Zeit immer noch bei H . GRUNDMANN, R e l i g i ö s e B e w e g u n g e n im Mittelalter ( H i s t . Stud. 2 6 7 ) , 1935 ( N e u d r u c k mit einem A n h a n g : N e u e B e i t r ä g e z u r G e s c h i c h t e der religiösen Bewegungen im D a r m s t a d t 1 9 6 1 ) , S . 4 0 2 - 4 3 8 ; s. jetzt n o c h LERNER [ A n m . 22], S. 1 3 - 2 0 .
Mittelalter,
[228/229]
263
Volkssprachliches über Häresien
dürften". Es handelt sich also um Irrlehren aus Begarden-, Beginen- und Lollardenkreisen, nicht um "irgendeine dogmatisch-weltanschauliche Ketzerlehre" 3 2 . Ihr engster Zusammenhang mit dem mystischen Schrifttum, zumal der Beginenmystik, ist nie verkannt worden". D e r folgende Textabdruck hält sich eng an die Handschrift bis auf einige übliche Vereinfachungen: / = s, 3 (regelmäßig) = z, j im Anlaut für den Vokal = 1. Unsicherheiten bestehen in der Unterscheidung der diakritischen Zeichen ® und wie in der Trennung bzw. dem Zusammenschreiben bei Komposita. Kürzungen werden aufgelöst, die G r o ß und Kleinschreibung nach geltendem Usus geregelt. Die Interpunktion dient dem Verständnis. Sichere Fehler - es handelt sich nicht um ein Original 34 - wurden korrigiert. Ergänzungen des Herausgebers stehen in eckiger, Streichungen in spitzer Klammer, andere Eingriffe sind durch Kursivierung gekennzeichnet. Fol. 56 weist ein kartoffelförmiges Loch mit ca. 6 bzw. 7 cm Durchmesser auf, das erheblichen Textverlust bewirkte (Z. 120-132). Es hat seine Ursache in einem Klecks, der | während des Schreibens durch Ausguß von Tinte auf 56", gleich nach dem Titel des Folgetextes Von zwyflen dez geloben, entstanden ist - gleich, denn der folgende Text umgeht die Schadenstelle. Der Rubrikator hat diese dann mit rot schnörkelhaft umrandet. Herausgeschnitten hat sie sicher erst ein späterer Benutzer, der nicht daran dachte, daß so Text auf fol. 56' verloren ging, oder dem dies gleichgültig war. Durch diese Textkorruption bleibt Artikel 20 unbestimmbar. Die übrigen betroffenen Artikel (19,21-23) ließen sich identifizieren.
Die einzelnen Artikel sind bis auf wenige Ausnahmen in der Handschrift mit rotem Trennzeichen voneinander abgehoben. Entsprechend habe ich im Druck Absätze eingeführt. Die arabischen Ziffern beim Albertus-Magnus-Text verweisen auf den zugrunde liegenden lateinischen Text. Bei den 'Errores' stimmt die Zählung des Ubersetzungstextes mit derjenigen der Vorlage überein. Zwei Sätze der zweiten Liste, Artikel 3 und 4, stammen aus der Meister-Eckhart-Bulle 'In agro dominico' 35 , ein weiterer, Artikel 13, entspricht 'Errores' 4.
31
H g . v o n PREGER [ A n m . 3 0 ] , S. 4 6 9 - ^ 7 1 ; DÖLLINGER II [ A n m . 18], zu N r . 3 8 ( S . 3 9 3 f . ) u n d z u N r . 3 9 ( S . 4 0 1 f . ) ; DE G U I B E R T [ A n m . 3 0 ] , S . 1 2 5 - 1 2 7 .
52
"
GRUNDMANN [Anm.30], S.412; über Lollarden s. D.KURZE [Anm.2], S.48-76. Neben
GRUNDMANN
S. v o r
allem
ROMANA G U A R N I E R I ,
II m o v i m e n t o
del
Libero
Spirito. Testi e documenti (Storia della Pietä 4), Roma 1965, zu den hier vorgestellten 3
° Belege: WACKERNAGEL [ A n m . 9 ] , S.585, 7 7 f f . ; 595, 5 f „ 2 0 f f . ; STRAUCH [ A n m . 2 1 ] , S . 2 2 5 ; S.BECK [ A n m . 2 4 ] , S . 5 2 . 31
STRAUCH: " D e r Prediger lebt ganz in der mystischen T r a d i t i o n " , S . 2 2 3 .
290
Deutsche Literatur im Benediktinerinnenkloster Engelberg
[82/83]
immer nur punktuell erscheinen, eigentlich thematisch werden sie nie, noch haben sie einen systematischen Stellenwert in einer 'Lehre'. Man darf so auch die Verbindlichkeit dieser hochmystischen Elemente für die Leserschaft nicht hoch veranschlagen. Es ging dem Autor nicht in erster Linie um sie, aber er kannte und vermittelte sie - denen, die dafür empfänglich waren. Es genügte indes durchaus, bei den Freuden der himmlischen Wirtschaft zu verweilen. Ich will mit dieser Einschränkung der Verbindlichkeit der Mystik des Engelberger Predigers nicht mit M U S C H G diese Mystik als "fertig spielbares Register"' 2 , das keinen religiösen Erfahrungen mehr entsprach, abwerten. Die Sache wird sich so verhalten: Der Engelberger Prediger kennt und nennt die außerordentlichen Erfahrungen und Gnaden der Mystik, er hält sie indes nicht für entscheidend zum Heil (worin er mit allen Mystikern übereinstimmt), aber auch nicht zur Ausbildung der spezifisch monastischen Frömmigkeitsform. 2. Es gibt zu den mystischen Aufschwüngen des Predigers eine ausgesprochene Kehrseite, die etwa M U S C H G als "gedanklichen Zwiespalt" empfunden hat3': ich meine den populären und konventionellen 'Grund' der Predigten. Einmal (Sb 19) erklärt er, außer dem Evangelium und den Briefen der Apostel fände man bei Gregor, Hieronymus, Augustinus, Ambrosius und Beda allen den unterscheid (alle Unterweisung), des wir bedürffen zuo ewigem leben. Das ist nicht etwa eine Schutzbehauptung im Hinblick auf seine spekulativen Exkurse (die | immerhin viele Zeitgenossen in die Nähe der Häresie zu stellen bereit waren), sondern die Predigten selbst bewähren diesen Hinweis. Von den genannten Vätern wird besonders häufig Gregor zitiert (den er nicht nur aus Florilegien kennt; dessen Benedikt-Vita im 2. Buch der 'Dialogi' kennt er ausgezeichnet), dann folgt Augustin. Er verwendet aber auch die beliebten 'Altväter' (Vitaspatrum), ferner die geistliche Zeichensprache der Tierwelt des 'Physiologus', selbstverständlich Heiligenviten - immer wieder wird Maria Magdalena in ihrer Buße und Gottesliebe vorgestellt: ihr war übrigens, wenn auch nicht ihr allein, ein Nebenaltar im Andreaskirchlein geweiht. Sodann, um in der Katalogisierung fortzufahren: Apokryphes und Mirakelhaftes: die 15 Vorzeichen des Jüngsten Gerichts, die gleichfalls 15 Zeichen der Geburtsnacht Christi; ferner die beliebte Herzklosterund Hirschjagdallegorie; das alles ist nun Material der spätmittelalterlichen Predigt schlechthin und vermittelt handfeste Aszese und Erbauung. Das also, gleichsam die Popularebene der zeitgenössischen Predigt, verschmäht der Prediger keineswegs. Er scheint zu wissen, daß nicht allen dieselbe geistliche Kost zukommt bzw. bekömmlich ist. " Mystik, S. 312, 315. 33 Ebd., S. 314. » Ebd., S. 314.
[83/84]
Deutsche Literatur im Benediktinerinnenkloster Engelberg
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3. Aber wo ist nun die Mitte, das Proprium des Engelberger Predigers zu suchen? Damit sind wir beim 3. Besprechungspunkt angelangt. SIGISBERT BECK, Engelberger Benediktiner und Bibliothekar, hat in seiner Dissertation über den Engelberger Prediger vom Jahre 1952 dessen Ordenszugehörigkeit sehr zurückhaltend beurteilt. Er glaubt in ihm eher einen Weltgeistlichen als einen Ordensmann erkennen zu dürfen; die Empfängerinnen freilich sind nach P. SIGISBERT nicht nur als Ordensangehörige, sondern als Benediktinerinnen anzusprechen - völlig zu Recht, wie ich meine. P.SIGISBERT selbst hat das entsprechende Textmaterial zusammengetragen34. Wir konzentrieren uns auf zwei Predigten zum Benediktustag, dem 21. März, Sa 8 und 9. Die zweite ist die Fortsetzung der ersten, besser: es handelt sich um eine einzige Predigt, die aus Gründen ihrer Ausdehnung in zwei aufgegliedert wurde. Nachdem der Prediger einleitend und einstimmend im engeren Anschluß an Gregors des Großen Benedikt-Vita an einige Lebensumstände des Ordensgründers erinnert hat - auch später wird Gregors Benediktleben immer wieder herangezogen - , macht er das Ordensgelübde zum eigentlichen Thema. Es wird auf die drei Grundformen eines "übenden", "inwendigen" und "vollkommenen" Lebens bezogen, d. h. auf die von Gregor in den 'Moralia in Job' (XXIV 11, n. 28) formulierten habitus des geistlichen Fortgangs, die habitus der incipientes, der proficientes und der perfecti. (In der Verbindung mit den 'Wegen' des Pseudo-Dionysius Areopagita, der via purgativa, illuminativa, unitiva bildete sich die mystische triplex via, wie sie Bonaventura am vollkommensten ausgeformt hat.) | Auf der Basis des übenden Lebens wird das Gelübde äußerlich vollbracht: 1) im Verzicht auf weltliches Gut, so wie Benedikt nach seinem Studium in Rom in die Einsamkeit gegangen ist. Die Formulierung der Armut ist, entsprechend der Regel, zurückhaltend. Es gibt indes beim Engelberger, so etwa in Sb 2, sehr strenge Auslegungen der monastischen Armut. 2) wird das Gelübde vollzogen in der Aufgabe des eigenen Leibes, was positiv heißt: in der Bewahrung der Virginität. (In diesem Zusammenhang kommt die Klostergemeinschaft unmittelbar ins Wort: won alse wart dis kloster sunderlich angesehen, daß hie sönd sin gekrönt megde, die allein irern got vnd irem herren gemechelt sullent werden). 3) ist von der Aufgabe der Seele die Rede, d. i. der Aufgabe des Eigenwillens. In dieser Dreiheit des Verzichts, Aufgabe von Gut, Leib und Seele, sind, ohne daß es ausdrücklich gesagt wird, die Ordensgelübde Armut, Keuschheit und Gehorsam angesprochen. Sie gehören mithin der untersten Stufe in der Hierarchie des geistlichen Lebens an.
34
BECK, S. 119 ff.
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Die Stufen des inwendigen und vollkommenen Lebens werden in der zweiten Predigt behandelt. Das inwendige Leben wird als hohe Schule der Tugenden verstanden. Es will 1) consciencie rieh machen, "reich machen" durch Ü b u n g der Tugenden, wozu auch, und dies wird in einem besondern Punkt ausgeführt, die meditative Betrachtung von Christi Leiden gehört (wir erinnern uns an die Passion des Claus Schulmeister, die speziell dieser Aufgabe diente). 2) soll das inwendige Leben du Verständnis subtil machen, das (göttliche) Erkennungsvermögen schärfen. Aus der Ausführung geht hervor, daß hier ein Hineinwachsen ins Leben der Gnade verstanden wird. 3) soll auf dieser Stufe sich du reminiscentia mit got vereinen, reminiscentia wird mit angedenkenist wiedergegeben; gemeint ist die Besinnung auf das Eigentliche. Alle deine Gedanken, so sagt die Predigt, sollen auf G o t t ausgerichtet sein, wenn du dich zu ihm erhebst, neigt er sich zu dir herab und umfängt dich mit seiner Gnade wie Moses auf dem Berge Sinai. Das vollkommene Leben der 3. Stufe mit dem Ziel, ein mit got werden, ist keine Vita contemplativa sondern wiederum eine aufsteigende Trias mit 1) wirkent leben = Aufsteigen in Tugenden, 2) leiden in der Nachfolge Christi, wie dieser in Geduld, fröhlich, standhaft, 3) Liebe in den Formen der Caritas (mit holtschaft originell übertragen), dilectio, ardor amoris (wiedergegeben mit fürin minne). Diese drei Formen der Gottesliebe werden dem anfangenden, zunehmenden und vollkommenen Leben zugeordnet, was systembezogen heißt, daß die oberste Stufe alle Lebensformen in sich aufnimmt, so wie das E m p y r e u m bei Dante alle neun Himmelssphären umschließt. So könnte man mit dem Hierarchierungsprinzip äußerlichen Systembruch aufheben. Im übrigen sei nicht verschwiegen, daß das System in der dreifachen | Subdivision nicht völlig im Lote bleibt. Es kam indes dem Prediger weniger auf ein geschlossenes System des geistlichen Lebens an als auf ein reiches Angebot aszetischer und spiritueller Haltung. D e r Prediger schließt: Das wir nu disen minneclichen antheiz Volbringen mit disen drin dingen, als wir nu gehört han, das wir mit dem hochen himelfürsten vnserm heiligen vatter sant Benedict besittzen das himelschlich vatterland, das helfe vns der vater und der sun vnd der heilig geist. amen. Natürlich ist das System der drei Lebensformen, wie es die BenediktDoppelpredigt durchführt, der Benediktinerregel fremd. Der Verfasser hat sie als der zeitgenössischen Spiritualität sehr geläufig eingebracht. Er ersetzt damit das Stufensystem der Regel, das durch 12 Grade der D e m u t bestimmt ist (im 7., ausführlichsten Kapitel der Regel). Einiges daraus hat der Prediger übrigens in sein kompliziertes System eingebracht, so die Uberwindung des Eigenwillens (Stufe der Demut 1 und 2) u n d die Schweigsamkeit (9. Stufe). Im Höchsten aber treffen sich die Staffeln der D e m u t der Regel mit den aufsteigenden Lebensformen des
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Predigers. Die Staffeln der Demut steigen, wenn ich richtig sehe, von der Gottesfurcht zur Gottesliebe auf. "Hat der Mönch", so heißt es abschließend, "alle diese Stufen der Demut erstiegen, dann gelangt er alsbald zu jener Gottesliebe, die vollkommen ist und die Furcht vertreibt". Es hat so die Gottesliebe als höchste und alles umfassende Form des geistlichen Lebens in einer Benediktus-Predigt ihren durchaus richtigen Ort. Uber diese sozusagen interpretatorische Feststellung hinaus aber spricht der Prediger mit der Gottesliebe zugleich sein Hauptanliegen aus. Sie ist nicht nur der vollkommene Ausdruck eines Lebens in Gott, sondern sie begreift in sich auch alle Werte und Tugenden benediktinischer Frömmigkeit. Der Prediger bringt die Gottesliebe in all ihren Formen immer wieder ins Wort, öfters in den Worten des hl. Bernhard, den er unter allen Autoritäten am meisten zitiert, dreißigmal. Besonders eindrucksvoll ist das Thema Gottesminne in Sb 17 durchgeführt 35 , wo vollkommene Liebe als Liebe zu Gott um Gottes und seiner Güte willen formuliert wird. "Und gäbe es weder Hölle noch Himmel", so erklärt er emphatisch, so will diese Liebe Gott doch umfangen um dessen Liebe willen. Bei diesem Thema, das ich nicht mehr ausfalten kann, kommt der Prediger, so möchte ich sagen, ganz zu sich selbst. Er mag die Allerweltsthemen der zeitgenössischen Predigt in Allegorie und Emblematik zwar rhetorisch wirkungsvoll, aber doch der Routine verpflichtet, vorgetragen haben, er mag moderne Vorstellungen der dominikanischen Mystik mit eingeschränkter Verbindlichkeit, aber als Glanz-1 lichter, ins Wort gebracht haben: im Thema der Gottesliebe spricht sich der Seelenführer ganz aus und muß Herzen getroffen und bewegt haben. Ich komme zu einem Schlußwort, das die Frage der Zugehörigkeit neu zu stellen versucht: Ist der 'Engelberger Prediger' ein 'Engelberger'? Alle bisherigen Äußerungen über den 'Engelberger Prediger' treffen sich in der Vorstellung, es handle sich bei diesem Corpus um tatsächliche und in dieser Form gehaltene Ansprachen. Von dieser Vorstellung müssen wir Abstand nehmen. Fest steht - und das ist auch unbestritten - , daß Predigtbücher als Tischlektüre und zur privaten Erbauung in Klöstern, zumal Schwesternkonventen, Verwendung fanden. Das bezeugen auch die 'Engelberger-Prediger'-Hss. mit gelegentlichen Randeinträgen: Iis disi bredii (Sa 9V, 19r) v f f die kilbi liss disse bredigt (Sb 144v) in der kunft (im Advent) Iis disi bredii; die bredii Iis an dem maria magdalenen dag über disch (Sb 92r). Diesem Predigtgebrauch verdankt die Sammlung aber auch ihr Zustandekommen. Den Gesichtspunkt der Dokumentation gehaltener Predigten darf man, Ausnahmefälle (die es immer gibt) vorbehalten, ausschließen. Schriftlich fixiert im Hinblick auf die Predigttätigkeit wurden Dispositionen mit einigen Kernstellen; WACKERNAGEL, S. 5 9 0 - 5 9 2 .
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und zwar in lateinischer Sprache. Nicht viel anders sahen die Texte aus, die man weniger begabten Predigern zur Verfügung stellte: es sind mehr oder weniger ausführliche Dispositionen, ohne Rhetorik und Predigtexempel. Ausgeführte Predigten in deutscher Sprache als Predigten, die in allen Teilen einer gehaltenen Predigt entsprechen, sind g r u n d s ä t z l i c h Lesestücke (ich kenne, wenn ich darüber nachdenke, keine Ausnahmen). Trennt man so, wie es sich gehört, gehaltene Ansprachen von verschriftlichten Predigtbüchern, so kann man sich von der Vorstellung befreien, es müsse sich bei den 'Engelberger Predigten' um Predigten handeln, die in dieser Gestalt in Engelberg oder anderswo gehalten worden sind. "In Engelberg oder anderswo" formuliert die Ambivalenz der Herkunftsfrage. Der 'Engelberger' Prediger gilt als Persönlichkeit, die in Engelberg gepredigt hat. WACKERNAGEL sah in ihm einen Engelberger Mönch, ohne indes einen (regelmäßigen) Besucher auszuschließen, CRUEL den Beichtvater der Engelberger Nonnen. STRAUCH meinte, die Predigten seien an die "Engelberger Benediktinerinnen gerichtet", MUSCHG "vor Mönchen und Nonnen zugleich"". Genaueren Analysen, wie sie P. SIGISBERT BECK vornahm, entging es indes nicht, daß nicht alle Aussagen nahtlos zu den Frauen von St. Andreas passen. Er gelangt so in der sorgfältigen Abwägung aller Daten zum Schluß, daß als Wirkungsstätte des Engelberger Predigers "allgemein ein Benediktinerinnenkloster im Gebiet der heutigen Schweiz anzunehmen" sei". Zu diesem für Engelberg ent-1 täuschenden Ergebnis zwang indes nur die Vorstellung "Wirkungsstätte" und damit die Predigerfunktion. Dabei steht bei P. SIGISBERT der entscheidende Satz: " D i e vorliegende Sammlung kann recht wohl für das Engelberger Frauenkloster geschrieben worden sein, ohne daß die Predigten selbst diesem Konvent galten". Das ist genau richtig und ermöglicht folgende thesenhafte Konkretisierung: Ein Prediger mit Beziehungen zu den Engelberger Klosterfrauen schrieb für diese ein Corpus von Predigten zum Zwecke der Tischlesung und persönlichen Andacht, vielleicht in mehreren Schüben, d. h. in verschiedenen kleineren Predigtbüchern. Natürlich griff er dabei auf eigenes Predigtmaterial zurück, erweiterte es indes mit anderem (was ich hier nicht ausführen kann), und selbstverständlich bediente er sich seiner persönlichen Predigtweise. Bei dieser Redaktion mochte oder konnte er sich nicht ängstlich genau an die Adressatinnen halten, d.h. alles ausscheiden oder verändern, was den Engelberger Verhältnissen nicht genau entsprach. D e r Autor wollte ja nicht von vornherein ausschließen, daß das Werk auch andere Konvente erreichte. M . a . W. ein Buch, das für einen 34
WACKERNAGEL (bzw. M . RIEGER, Herausgeber der Sammlung), S. 436; R . CRUEL, Geschichte der deutschen Predigt, Detmold 1879, S. 399; STRAUCH, S. 1; MUSCHG, S. 311.
)7
BECK, S. 118.
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bestimmten Kreis, hier die Engelberger Nonnen, bestimmt ist, wird diese nicht so direkt und persönlich ansprechen, wie es ein Prediger in einer Ansprache tut. Und ebenso wird es ein Buch vermeiden, in seinen Aussagen den ganz besonderen Verhältnissen der Klostergemeinschaft gerecht zu werden, was ein Prediger in seinem Vortrag spontan tut. Es genügt die Berücksichtigung dieses fundamentalen Unterschieds von Predigtsprache und Predigtlesebuch, um die von S I G I S B E R T B E C K geäußerten Bedenken gegenstandslos zu machen, also etwa, daß gelegentlich von einer "Äbtissin" die Rede ist, wo man doch in Engelberg die Gnädige Mutter des Hauses "Meisterin" nannte (indes fehlt auch meisterinne keineswegs), oder daß es zwar drei Andreas-Predigten in der Sammlung gibt, ohne daß der Apostel indes, wie als Schutzpatron zu erwarten wäre, "besonders beachtet" würde38. Hier könnte man noch die eingeschränkte Beweiskraft des argumentum ex silentio in Anschlag bringen. Predigtbücher, wenigstens die erfolgreichen, werden vervielfältigt und das Eigentum vieler. So gelangte die Sammlung des Engelberger Predigers nach St. Gallen und von dort weit ins südwestdeutsche Land hinein. Es kann für mich indes keinen Zweifel geben, daß das Erstgeburtsrecht dieses schönen Predigtkorpus den Engelberger AndreasFrauen gehört. Darauf weist die Überlieferung, die wir nicht ohne Bedacht an den Anfang gestellt haben: Es müßte nun doch mit sehr merkwürdigen Dingen zugegangen sein, wenn eine Sammlung in vier Textzeugen, darunter den drei ältesten mit einem Textbestand von 89 Prozent im Engelberger Frauenkloster aufbewahrt wurde, aber keine Spur sich in einem andern Benediktinerinnenkloster der | Schweiz nachweisen läßt (und nur eine sekundäre Auswahl in Dominikanerinnenhäusern): und dieses Engelberger Frauenkloster sollte nicht als Bestimmungsort des Predigtbuches gelten dürfen. Wir meinen so mit bester Zuversicht, daß dem 'Engelberger Prediger' als Autor und Redaktor der Sammlung der Zuname 'Engelberger' mit vollem Recht zukommt. Nur neue, sensationelle Funde könnten dieses Resultat erschüttern.
" Ebd., S. 117 u. 116.
Deutsche Predigtbücher des Mittelalters [Beiträge zur Geschichte der Predigt, hg. von H e i m o Reinitzer, H a m b u r g 1981, S. 1 1 - 3 0 ]
Ich habe mein Thema* sehr großmaschig angekündigt, weil mir bewußt war, daß im Sinne der Veranstalter die deutsche Predigt des Mittelalters Gegenstand des Vortrags sein sollte, nicht irgendein Prediger oder irgend eine Sammlung, und seien sie noch so bedeutsam. Als exemplarisch für den Gegenstand schlechthin kann da nichts gelten. Doch erwies sich die Einschränkung auf einen bestimmten Zeitraum, Mitte des 13. bis Mitte des H.Jahrhunderts, als notwendig: er bringt die reichste Entfaltung der deutschen Predigt unter allen Aspekten, die für die Predigt konstitutiv sind, und hier gibt es auch Sammlungen, die für bestimmte Typen als repräsentativ gelten dürfen. Vorangestellt seien einige Punkte zur Predigt im Mittelalter insgemein (1-3) und zur deutschsprachigen im besonderen (4-6). 1. Der Stellenwert der Predigt im Rahmen der geistlichen Literatur des Mittelalters ist sehr bedeutend, und dies nach Zahl, Textzeugen und Wertschätzung sowie nach spirituellem und formalem Rang. Es sei nur daran erinnert, daß das zentrale literarische Werk einer Hauptgestalt des Hochmittelalters, Bernhards von Clairvaux, aus Predigtcorpora besteht. Als Blütezeit der mittelalterlichen Predigt hat indes die Zeit der neuen Orden nach 1200 zu gelten, also der Franziskaner und Dominikaner, die ja im Gegensatz zu den alten Orden in die Welt hineinwirken wollten, wozu die Predigt das herausragende Mittel ist. Die Dominikaner nannten sich offiziell Ordo fratrum praedicatorum, Orden der Predigerbrüder. 2. Der Prediger selbst, Verkünder des göttlichen Worts, war hochgeachtet und die Forderungen, die man an ihn stellte, ungemein streng. Den Maßstab, der wenigstens idealiter anzulegen war, setzte Gregor der Große mit seiner 'Regula pastoralis'1.
* D i e Vortragsform wurde beibehalten, schon weil manches allein durch sie und die k o n k r e t e Zuhörerschaft legitimiert erscheint. N u r die Anmerkungen habe ich zum N a c h w e i s und zur wissenschaftlichen Verwertung des Beitrags hinzugefügt. 1
P L 77, Sp. 1 3 - 1 2 8 , hier S p . 2 0 .
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D a wird die Gesinnung des Predigers mit Gottes- und Nächstenliebe unter dem Leitbild der Propheten Jeremias und Jesaia umschrieben, und seine 'Tugenden' entsprechend contemplando zu Gott und miserando zu den Menschen formuliert. Bezeichnend für das Ansehen und wohl auch die finanzielle Dotierung des Predigtamtes ist der Entscheid Geilers von Kaisersberg: er gab seine erste erfolgreiche Universitätslaufbahn (er brachte es in jungen Jahren bis zum Ree-1 tor) zugunsten des Predigtstuhls im Straßburger Münster auf2. Sicher spielte Neigung und Berufung bei diesem Entscheid mit, Tatsache aber ist, daß in dieser Zeit, im späten 15.Jahrhundert, generell der Predigtstuhl angesehener und attraktiver war als Lehre und Amter an einer Universität. 3. Den literarischen Charakter der Predigt - die Theologen formulierten und redigierten ihre Predigten ebenso sorgfältig wie die nur schriftlichen Genera theologischer Lehre - unterstreicht die breite Entfaltung der Ars praedicandi im Hoch- und Spätmittelalter. Doch soll die Predigttheorie in unserem Zusammenhang nicht thematisiert werden; sie hat auch für die volkssprachliche Predigt bei weitem nicht die selbe Bedeutung wie für den lateinischen Sermon. 4. Was die deutsche Predigt betrifft, so ist sie so alt wie die deutschsprachige Literatur als solche: schon vom Isidor-Übersetzer am Ausgang des 8. Jahrhunderts sind zwei kleine aus dem Latein übertragene Predigtstücke überliefert 3 . Mit dem 12. Jahrhundert verfügen wir dann über umfangreiche Predigtcorpora wie das 'Speculum ecclesiae' 4 , die Leipziger, die Oberaltaicher Sammlung, das Corpus des Predigers Konrad 5 . Den Höhepunkt erreicht dann die deutsche Predigt in der Zeit der volkssprachlichen Hochblüte der Bettelorden, zwischen 1250-1350. U m 1240 beginnt die Predigttätigkeit Bertholds von Regensburg, in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstehen die St. Georgener Predigten, am Ende die Schwarzwälder Predigten, die erste Hälfte des M.Jahrhunderts bringt mit Meister Eckhart, Johannes Tauler und vielen anderen die mystische Predigtweise hervor. Von 1350 an geht's ins Breite und Vielfältige: hier muß noch viel Heuristik geleistet werden. Die letzte
' Über Geiler von Kaysersberg jetzt HERBERT KRAUME, Verfasserlexikon 2 II (1980), Sp.1141-1152. ' S i e h e K A R I N M O R V A Y u n d DAGMAR G R U B E , B i b l i o g r a p h i e d e r d e u t s c h e n P r e d i g t d e s
Mittelalters ( M T U 47), München 1974, T 1 b, c (S. 1). '
MORVAY/GRUBE [ A n m . 3 ] , T 9 (S. 10).
s
Alle drei Sammlungen hg. von ANTON E. SCHÖNBACH, Altdeutsche Predigten I—III, Graz 1886, 1888, 1891; MORVAY/GRUBE [Anm.3], T 17 (S. 13-15), T 23 (S. 17f.), T 25 (S. 17-21).
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große Predigergestalt des deutschen Mittelalters ist der bereits genannte Geiler von Kaisersberg. 5. Zum Verständnis der deutschen Predigt des Mittelalters muß vor allem das Problem der Authentizität beachtet werden. Sie ist bereits durch die Tatsache eingeschränkt, daß wir es im Regelfall mit Abschriften (oft in großer Zahl und vielfältiger Gestalt) zu tun haben, doch gilt dies für das gesamte Schrifttum des Mittelalters: das Original bleibt immer die seltene Ausnahme. Unter den genannten Predigtsammlungen gibt es sie immerhin: die Sonntags- und Festtagspredigten des Schwarzwälder Predigers. Für die deutsche Predigt gelten über dies hinaus gattungsspezifische Modifikationen der Authentizität. Es gibt: a) vom Prediger selbst niedergeschriebene bzw. diktierte Predigten; als solche gilt Meister Eckharts Predigt 'Vom edlen Menschen', die dem 'Buch der göttlichen Tröstung* zugeordnet ist'; b) von fremder Hand aufgezeichnete, aber vom Prediger redigierte und damit beglaubigte Predigttexte; | c) von den Hörern nach dem Gedächtnis festgehaltene Niederschriften (so verschiedentlich bezeugt, aber keineswegs, wie vielfach behauptet wird, der Regelfall) 7 ; d) nach verschriftlichten lateinischen Predigten (in der Regel nicht vom Prediger selbst) verfertigte deutsche Texte. Uber diese Uberlieferungstypen hinaus gibt es interessante Sonderfälle. Einem werden wir begegnen. Der erstgenannte Fall a) gilt als Ausnahme, was indes aus Überlegungen, die ich sogleich folgen lasse, sehr zu bezweifeln ist. Die Ausnahme ist vielmehr Fall c). Fall b) ist in der Praxis kaum von a) zu unterscheiden, und bestimmt bilden a) und b) zusammen die Hauptmasse der uns überlieferten deutschen Predigten. Fall d) ist bis zum frühen ^ . J a h r hundert der häufigste, im Zeitalter der vorwiegend franziskanischen und dominikanischen Predigt war er seltener. Wenigstens kurz ist die Regelhaftigkeit der beiden erstgenannten Authentizitätsfälle zu begründen, da die opinio communis eine durchaus andere ist. Entscheidend ist der Gesichtspunkt der Verantwortung des Predigers in seinem kirchlichen Lehramt. Sie verbot es, von fremder Hand aufgezeichnete Predigttexte unkontrolliert den Laien (für die volkssprachliche Texte zumeist bestimmt waren) anzuvertrauen. Das gilt nicht zuletzt vom deutschen Predigtwerk Meister Eckharts, das nach der ' Siehe JOSEF QUINT ( H g . ) , M e i s t e r E c k h a r t s T r a k t a t e ( D i e d e u t s c h e W e r k e V ) , Stuttgart 1 9 6 3 , S. 107. 7
Beispiele bei
PAUL-GERHARD
VÖLKER,
Die
Überlieferungsformen
mittelalterlicher
d e u t s c h e r P r e d i g t e n , Z f d A 92 ( 1 9 6 3 ) , S . 2 1 2 - 2 2 7 , hier S . 2 1 7 f . ; auch z u m F o l g e n d e n ist d e r B e i t r a g VÖLKERS h e r a n z u z i e h e n .
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ziemlich einhelligen Forschungsmeinung mit einer einzigen Ausnahme, der soeben genannten Predigt 'Vom edlen Menschen', aus Nachschriften von Nonnen hervorgegangen sein soll, also als eigentlich authentisch überhaupt nicht gelten dürfte. (Glücklicherweise wurde es, von JOSEF QUINT, SO ediert, als wäre es authentisch; die differenzierte Echtheitsfrage wäre anders müßig). So hat sich J . KOCH bestürzt gefragt, warum Eckhart zu seiner Verteidigung die reichlich von den Inquisitoren herangezogenen deutschen Predigten nicht als unauthentische Äußerungen qualifiziert habe, und mußte, da er keine Antwort fand, zu der nun doch schon an sich fragwürdigen Meinung gelangen, Eckhart (zweimaliger Inhaber des angesehensten theologischen Lehrstuhls der Christenheit, der Pariser Lehrkanzel der Dominikaner) hätte sich so ungeschickt wie nur möglich, ja "kindisch" verteidigt®. Die richtige Antwort kann nur sein: Jene deutschen Predigten waren gar nicht unauthentisch und unautorisiert, keine Niederschriften, von denen Eckhart nichts wußte oder die er ungeprüft geduldet hätte. Er beanstandet mit keinem Wort die Verwendung seiner deutschen Predigten als Beweismaterial, einzig punktuell die lateinische Ubersetzung der inkriminierten deutschen Aussagen. Im übrigen würden sich auch die Inquisitoren gehütet haben, Material zu verwenden, das grundsätzlich als unauthentisch zu gelten hatte'. 6. Mit der graduell gestuften Authentizitätsfrage ist die Frage des gesprochenen Wortes verbunden. Predigtsprache sei lebendige, gesprochene Spra-1 che, an diese Gleichung wollten vor allem Sprachwissenschaftler glauben. Die Gleichung ist falsch. Für die oben erwähnten spezifischen Authentizitätstypen von Predigten trifft sie grundsätzlich nicht zu. Man überlege: Dem Prediger, der seine Ansprachen, die er in freier Rede oder nach Stichworten hielt, zu Pergament oder Papier brachte oder der die Niederschriften anderer Hand redigierte, konnte nicht am Wortlaut gelegen sein, nur an den Inhalten. Diese Verschriftlichungen haben ja eine neue Funktion und andere Adressaten als die gesprochenen Predigten: es waren Lesepredigten, bestimmt zum Vorlesen im Konvent bei Tisch oder zur erbaulichen Lektüre in der Zelle oder auch in der guten Bürgerstube. Dieselbe Funktion hatten natürlich auch
' JOSEF KOCH, Kritische Studien zum Leben Meister Eckharts. Arch. Frat. Praed. 29 (1959), S. 5 - 5 1 ; 30 (1960), S. 5-52, hier 30, S. 34, 39. 9
KOCH selbst betont, er "kenne keinen anderen Prozeß gegen einen Theologen des Mittelalters oder der N e u z e i t , in dem auf Grund eines so unzuverlässigen Materials eine Verurteilung erfolgt w ä r e " , in: 'Zur Einführung' zu 'Meister Eckhart der Prediger', hg. im A u f t r a g der Dominikaner-Provinz 'Teutonia', Freiburg/Basel/Wien 1960, S. 16; s. zu dieser Frage ausführlicher K . RUH, 'Meister Eckhart', Verfasserlexikon 2 II (1980), Sp. 331 f.
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die (seltenen) unautorisierten Niederschriften und die nach lateinischen Texten verfertigten Predigten. Was uns an deutschen Predigten überliefert ist, ist so grundsätzlich Lesepredigt, nicht das Kanzelwort, das im Wortlaut zu dokumentieren nur in Ausnahmefällen Anlaß sein mochte. D e r methodische Unterschied von gesprochener Kanzelrede und überlieferter Lesepredigt ist für das Verständnis der mittelalterlichen Predigt fundamental. Im übrigen gilt im Mittelalter so gut wie heute: man schreibt anders als man spricht, ja es gilt im Mittelalter sehr viel entschiedener als in unserer Gegenwart, da in jenem die Schriftkultur erst eine eingeschränkte Dominanz hatte. Mit der in der Forschung bemühten "gesprochenen Predigtsprache" sind in erster Linie die freiere syntaktische Fügung und die rednerischen Darbietungsformen gemeint. Selbstverständlich verhält es sich nun auch nicht so, daß die Verschriftlichung die besonderen Stilformen eines Predigers schlechthin verwischt hätte. Die Bildsprache etwa, deren Dichte, deren Inhalte, deren Formen (Metapher, Vergleich, Allegorie), deren Funktion (erhellend, exegetisierend, Zeichen für Unaussprechlichkeit, emotional), charakterisiert auch in den überlieferten Texten einen Prediger ziemlich genau und distinktiv. Mit anderen Worten: Die Predigt wurde vielmehr gerade deshalb literarisch, weil sie spezifische Formen der Wirkung, nämlich ihre Rhetorik, zur Verfügung stellte. In diesem (eingeschränkten) Sinne spiegeln unsere Lesepredigten immer noch gesprochene Predigtsprache. Dies muß als Vorspann und Einführung genügen. Im folgenden stelle ich einige deutsche Predigtbücher vor, die alle dem großen Jahrhundert der volkssprachigen Predigt, von 1250-1350, angehören und als repräsentativ gelten dürfen. Es handelt sich um 1. Das Predigtwerk des Franziskaners Berthold von Regensburg, 2. die Sonntags- und Festtagspredigten des Schwarzwälder Predigers, 3. die Sammlung des St. Georgener Predigers und 4. der dominikanische 'Paradisus animae intelligentis'. Ein Stichwort für die vier Sammlungen sei vorangestellt. Die Predigt Bertholds ist franziskanische B ü ß - und Sittenpredigt; die Sonntags- und Festtagspredigten des Schwarzwälders spiegeln anspruchsvolle Pfarreipredigt, der St. Georgener Prediger vermittelt spezifisch zisterziensische Spiritualität, bestimmt für den monastischen Be-1 reich, der 'Paradisus animae intelligentis' ist mystisch-spekulativ ausgerichtet und war gleichfalls für klösterlichen Gebrauch gedacht. Zur sprachlandschaftlichen Zuordnung: Bertholds Predigtcorpus ist bairisch, des Schwarzwälder Predigers alemannisch, des St. Georgener Predigers westmitteldeutsch, der 'Paradisus animae intelligentis' ostmitteldeutsch (des näheren thüringisch). Sie decken so sprachlich den ganzen hochdeutschen Raum ab; die Überlieferung greift im Falle des St. Georgener Predigers bis ins Niederländische aus. Da mir aus Zeitgründen geschlossene Analysen der vier Predigtwerke
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nicht erlaubt sind, bringe ich jeweils, nach einem kurzen Vorspann werkbestimmender Daten, eine einzige Perspektive zu eingehender Behandlung. Bei Berthold ist es die Predigtsprache, beim Schwarzwälder die Quellenbearbeitung, beim St. Georgener Thematik und Spiritualität, beim 'Paradisus animae intelligentis' Intentionen des Sammlers und Redaktors. Es sind dies alles Gesichtspunkte, die für jede mittelalterliche Predigtsammlung und deren Charakterisierung wichtig sind. 1. Berthold von Regensburg, um 1210 herum geboren, 1272 gestorben, begann nach den zahlreichen Zeugnissen seiner Predigttätigkeit 1240 seine Predigtreisen, die ihn vor allem im süddeutsch-österreichischen Raum, aber auch in Mähren, Böhmen und Schlesien herumführten. Drei Corpora deutscher Predigten 10 sind von ihm überliefert: X , Y , Z. Diese insgesamt ca. achtzig Predigten sind indes keine Wiedergaben von Predigten, die Berthold dem Volke gehalten hat, sondern Bearbeitungen, die nach Bertholds T o d wohl im Minoritenkloster Augsburg, dem Zentrum der literarisch wirkenden franziskanischen Bewegung in Süddeutschland", als Lesepredigten verfaßt worden sind: das ist also unser Authentizitätsfall d. Die Uberlieferung ist für die Sammlung Y ziemlich breit (8 Haupthandschriften, dazu sehr viel Streugut), am dichtesten, wie zu erwarten, in Süddeutschland, zumal im Bairisch-Österreichischen, sie reicht aber auch weit ins Mitteldeutsche hinein. Das spezielle Problem der deutschen Berthold-Predigten war von allem Anfang an die in den überlieferten Texten, wie es schien, "mit Händen faßbare" gesprochene Sprache. JAKOB GRIMM zweifelte keinen Augenblick an der Worttreue der Niederschrift und betont, "daß sie die eigenthümlichkeit des redners in Wendungen, ausdrücken und selbst im mundartischen (!) genau erfaßt haben wird" 12 . Seit ANTON EMANUEL SCHÖNBACH wissen wir zwar, daß die uns bekannten Sammlungen 10
A u s g a b e v o n FRANZ PFEIFFER ( B d . I ) und JOSEF STROBL ( B d . I I ) , W i e n 1 8 6 2 u n d 1 8 8 0 ;
Neudruck mit einer Bibliographie und einem überlieferungsgeschichtlichen Beitrag von K . RUH, Berlin 1965; DIETER RICHTER (Hg.), Deutsche Predigten (Überlieferungsgruppe *7.) (Kleine deutsche Prosadenkmäler d. MAs 5), München 1968; MORVAY/ GRUBE [ A n m . 3 ] , T 4 8 (S. 3 7 - 4 4 ) . 11
Dazu K. RUH, David von Augsburg und die Entstehung eines franziskanischen Schrifttums in deutscher Sprache, in: H. RINN (Hg.), Augusta 955-1955. Forschungen und Studien zur Kultur- und Wirtschaftsgeschichte Augsburgs, München 1955, S. 7 1 - 8 2 , überarbeitet in: Verba Vitae et Salutis 1959, 1/2, S. 1-18. Jetzt in: K. R.
Kleine
Schriften, Bd. II. Berlin/New York 1984, S. 4 6 - 6 7 . 12
JACOB GRIMM, Rezension über: Benhold des Franziskaners deutsche predigten aus der zweiten hälfte des dreizehnten jahrhunderts, theils vollständig, theils in auszügen hg. von
CHRISTIAN
FRIEDRICH
KLING,
Wiener Jahrbücher
der
Literatur
32
(1825),
S. 194-257, Wiederabdruck in: Kleinere Schriften Bd. 4, Berlin 1869, S. 2 9 6 - 3 6 0 , hier S. 3 5 2 .
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Bertholdischer Predigten erst nach Bertholds Tod nach lateinischen Predigten verfertigt worden sind", aber die Vorstellung einer gesprochenen Predigtsprache Bertholds blieb untilgbar. H A N S E G G E R S erklärt Bertholds überlieferte Predigten als "Spiegelung der Sprache des Alltags, wenn auch nicht die Alltagssprache selbst" und kann schlichtweg die Auffassung einer Bearbeitung nicht teilen". So weit hätte er sich nicht zu exponieren brauchen (denn der Bearbeitungstyp der Berthold-Sammlungen ist keine bloße These, sondern nachgewiesen), wenn auch | das Beharren nicht zwar auf der Alltagssprache, aber auf Bertholds wirklicher Predigtsprache verständlich ist. Inwiefern verständlich? In den überlieferten Texten läßt sich nämlich in breiter Weise feststellen: 1) der individuelle Wortschatz, 2) die individuellen Stilformen des Predigers. Zu 1): Ich erwähne nur die Laster- und Schmähnamen: nescher(in) 'Wollüstling', trüllerin(ne) 'Kupplerin' (glossiert als des tiuveh blasebalc), trühselerin 'Ehrabschneiderin', smetzer 'Schwätzer', taberner 'Wirtschäftler', bluottrinker 'Mörder', gilwerinne 'die ein gelbes Gebände trägt', 'Hure', leckespiz 'Lecke den Spießbraten', 'Fresser', triberin 'Zutreiberin', 'Kupplerin', hördeler 'Schätzeraffer'. Natürlich besagt ein einzelner dieser Ausdrücke gar nichts, aber es gibt sie zu Dutzenden, und sie kehren immer wieder. Daß hier Individualwortschatz, zum Teil sogar Eigenbildungen wie die vier letztgenannten Lästernamen vorliegen, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Noch eindrucksvoller ist die Individualrhetorik der Texte, und sie war es vor allem, die die Vorstellung einer original vermittelten Predigtsprache nie zum Verstummen brachte. Zu Hunderten lassen sich Anreden registrieren: ir frouwen, ir herren, ir herschaft, ir saeligen gotes kinder, ir priester, ir bischöve und ir andern preläten, ir reinen kristenliute (kristenmenschen), ir armen liute, vor allem aber erscheinen in der Anrede die oben zitierten Lasternamen, dazu du gitiger, ir ebrecher und ir meineider und ir manslahter und ir nescher und ir nescherin, ir itelmecherin, ir verwerin, du velscher, dü diep, du wuocherer usw., oft, d. h. zu Hunderten, verbunden mit der Verachtungformel pfi: pfi hövertinger, pfi tenzeler, pfi trenker und fräz, pfi dich, Adelheit, pfi du rehter niderlender,5, die Verwünschungsformel we armer sünder, we dü smetzer, dü schmeicher, dü vederleser, der Hinweisimperativ , seht, sich, se: nü seht, nü sich.
,J
A. E. SCHÖNBACH, Die Überlieferung der Werke Bertholds von Regensburg III (Wiener S i t z u n g s b e r i c h t e 1 9 0 6 ) , S. 1.
14
HANS EGGERS, D e u t s c h e S p r a c h g e s c h i c h t e II. D a s M i t t e l h o c h d e u t s c h e (rde.
191/192),
Reinbek bei H a m b u r g 1965, S. 175 (Zitat) u. 162. 15
'Niederländer' als Schmähwort wie später im Lande Bertholds die 'Preissen' und die 'Nordlichter'!
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Noch gezielter als die direkte Du-Anrede, die den einzelnen trifft, sind Anredeformeln wie Judas, wa sitzest dü vor mir? (515, 26), Symonitaria ('Wahrsagerin', zu Simon Magus), wa sitzest du da vor minen ougen? (528,30). Der ständigen, fast aggressiv zu nennenden Publikumsbezogenheit, die ich allein in der Anrede aufgewiesen habe, die indes etwa mit der rhetorischen Frage zu ergänzen wäre, entspricht die Predigerbezogenheit des Publikums: Berthold nimmt Fragen, Zweifel, Einwände seiner Zuhörer auf. 'Nü sage mir bruoder Berthold, wie smecket diu selbe sünde? Smecket sie als ein fülez äs?' Nein sie niht! 'Smecket sie als ein füler kaese?' Nein sie niht! 'Smecket sie als ein füler visch?' Nein sie niht! (178, 24ff.). 'Owe, bruder Berhtold, dü predigst sö griuliche von unrehtem guote, daz man rehte verzwiveln möhte' (166, 14 ff.). - 'Owe, bruoder Berhtold, wie suln wir da getuon unde wie suln wir uns da vor behüeten?' (194, 7 f.). - 'Wie, bruoder Berhtold, unde sol daz als gröziu sünde sin, der sine e buchet?' (205, 36 f.). Wir verstehen jetzt die Beharrlichkeit der Vertreter der These einer unmittelbaren Wiedergabe von Bertholds Volkspredigten in unseren Texten. Und | trotzdem ist am nachträglichen Bearbeitungs- und Ubersetzungscharakter dieser Texte nicht zu rütteln. Der Widerspruch läßt sich folgendermaßen auflösen: Jene Minoriten des Augsburger Konvents, die nach Bertholds Tod daran gingen, nach lateinischen Sermonen deutsche Predigttexte zu redigieren, wollten nicht nur irgendeinem Publikum Lesestoff zur Besserung und Buße vermitteln, sondern diesen in der Weise vermitteln, wie sie Berthold in seinen unvergeßlichen Ansprachen geübt hatte. Es muß angenommen werden, daß diese Redaktoren die Predigtweise Bertholds aufs beste kannten; sie mochten ihn auf seinen Missionsreisen begleitet haben. In einem Satz: Die Redaktoren der Predigten unter Bertholds Namen schöpften die Predigtthemen (zumeist auch den Predigtaufbau) aus dessen lateinischen Sermones (die zur Hauptsache als authentisch gelten dürfen) und die spezifische Predigtform aus der lebendigen Erinnerung an Bertholds Ansprachen". Es ist so von den Inhalten wie von der Form her alles gut Bertholdisch - ohne daß nur eine kleine Satzfolge so und nicht anders
"
E s w i d e r s p r i c h t dieser T h e s e n i c h t , w e n n viermal ein H ö r e r b e z u g zu A u g s b u r g hergestellt w i r d : hie ze Augesburc heizet
( 2 9 0 , 2). A u c h
(PFEIFFER, 7 9 , 10; 110, 8 ; 2 9 0 , 7 ) ; als disiu stat
das ist kein Z e u g n i s , daß die e n t s p r e c h e n d e n
Augesburc
Predigten
in
A u g s b u r g gehalten w o r d e n sind. B e z e i c h n e n d ist gerade, d a ß diese O r t s b e s t i m m u n g singulär ist; sie weist v i e l m e h r auf den O r t d e r R e d a k t i o n dieser Predigten hin. D e r d i r e k t e L e s e r b e z u g lag u m s o n ä h e r , als die z w e i ersten B e l e g e im Z u s a m m e n h a n g mit d e n O r t s h e i l i g e n St. A f r a und S t . U l r i c h s t e h e n .
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von Berthold gesprochen worden ist! Ich nenne diese Art der Authentizität eine Quasiauthentizität. Der Fall ist ungewöhnlich - und für uns ein Gewinn ohnegleichen. Hätten die Augsburger Redaktoren uns nicht die spezifische Predigtweise vermittelt, wäre uns Erfolg und Ruhm dieses Predigers, wie sie uns die Chronisten bezeugen, kaum verständlich. Berthold hielt Lehr- und Bußpredigten, war angetreten, um gegen den Teufel im Menschen zu kämpfen, sprach von christlichen Tugenden, die dem Menschen verloren gegangen sind, und noch viel mehr von Lastern, denen er sich in heilloser Weise verschrieben hat. Wie schwer es ist, in dieser Welt, in einem bestimmten Beruf und Lebenskreis, die christlichen Forderungen auch bei bestem Willen zu erfüllen, scheint Berthold kaum bedacht zu haben, von Gewissensnöten vermag er nicht zu befreien, er kennt wenig Trost, er schreckt den Sünder mit T o d , Gericht und Verdammnis. Seine Theologie war simpel, eine Verbots- und Abschreckungsethik. 'An sich' war die religiöse Substanz, die er vermittelte, dürftig, derjenigen Davids von Augsburg, seines Mitbruders und Gefährten, entschieden unterlegen, die Art aber, wie er vortrug, Stil, Tenor, Temperament, war alles: Das mochten auch die Redaktoren seiner deutschen Predigten erkannt haben, und deshalb versahen sie wohl die immer wieder neu variierten Tugend- und Lasterkataloge der Ansprachen so reich mit den persönlichen Redeformen des Predigers. 2. Der Schwarzwälder Prediger ist uns als Person nur in seinem Predigtwerk bekannt. Die Bezeichnung rührt daher, daß der neuzeitliche Erstbesitzer der zuerst bekannt gewordenen Handschrift der Sonntagsund Festtagspredigten
per a n n u m , FRANZ KARL GRIESHABER
(gest.
1866), die Sprache als "badisches Oberland", und das ist schwarzwäldisch, bestimmte und den Prediger danach benannte. Die spätere Forschung hat diesen sprachlichen A.nsatz bestätigt. Da zudem diese GRIESHABERsche H s . , heute cod. 460 der Freiburger Universitätsbibliothek, mirabile dictu - sich als Original, sicher als vom | Prediger korrigierte Reinschrift erwies, ist die Bezeichnung 'Schwarzwälder Prediger' sogar im Hinblick auf den Autor sachgerecht. GRIESHABER kannte nur eine, eben seine Originalhandschrift. Später wurden nicht weniger als zwei Dutzend weiterer Textzeugen bekannt, die fast alle einer sekundären Sonderredaktion angehören (Uberlieferungsgruppe X), nur zwei stellen sich in die Nähe der GRiESHABERschen Handschrift". Die Verbreitung erstreckt sich wie im Falle der Berthold" Zur Überlieferung s. GERHARD STAMM, Studien zum 'Schwarzwälder Prediger' (Medium Aevum 18), München 1969, S. 11-32; dazu ergänzend die Rezension DIETRICH SCHMIDTKES, P B B 92 (Tübingen 1970), S. 285-290, bes. S.286f.; MORVAY/GRUBE [Anm.3], T 6 2 (S. 56-58).
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sehen Predigten über das ganze süddeutsche Sprachgebiet, vom Elsaß bis ins Niederösterreichische und nach Böhmen. Der Glücksfall des Originals in der Hand des Editors und dessen Sorgfalt bedeuten, daß wir in einer Edition, die 135 Jahre alt ist (1844/46), über einen fast optimal zu nennenden Text verfügen". Die Entstehungszeit der GRiESHABERschen Handschrift und mithin der Sammlung selbst ist um, eher vor 1300 anzusetzen. Der Prediger dürfte Weltpriester gewesen sein. Jedenfalls deutet nichts mit einiger Stringenz auf eine bestimmte Ordenszugehörigkeit hin, auch nicht, daß er vor allem die 'Sermones de tempore' des Franziskaners Konrad von Sachsen benutzt hat: diese waren allbekannt und allbeliebt. Umgekehrt läßt sich der Ordensstand des Verfassers auch nicht ausschließen. Auch diese Predigten sind keine 'Kopien' gehaltener Ansprachen, wenn ihnen auch zweifelsohne solche, am ehesten vor einem städtischen Kirchenpublikum, zugrunde liegen mögen. Angelegt wurden sie zweifelsfrei als Mustersammlung für Prediger. In dieser Zweckbestimmung folgt die Sammlung den deutschen Predigtsammlungen des 12. Jahrhunderts, die noch kaum eine andere Funktion kannten, sowie ihrer Hauptquelle, den Sermones Konrads von Sachsen. Schon die ungewöhnlich häufige und breite Verwendung der lateinischen Zitation weist auf das angegebene Zielpublikum, vor allem aber die direkten Predigtanweisungen". In der späteren Uberlieferung dürfte dann auch diese Sammlung zum erbaulich-belehrenden Predigtbuch für Laien geworden sein; doch 1!
FRANZ KARL GRIESHABER (Hg.), Deutsche Predigten des 13.Jahrhunderts, 2 Bde., Stuttgart 1844/46; eine Auswahl mit sechs Predigten von GERHARD STAMM (Hg.), Predigten des 'Schwarzwälder Predigers' (Kleine deutsche Prosadenkmäler des MAs 12), München 1973. - Der Schwarzwälder Prediger hat auch noch ein Corpus von Heiligenpredigten hinterlassen, nicht die von GEORG BUCHWALD (Deutsche Heiligenpredigten nach Art des 'Schwarzwälder Predigers', Mitt. der Dt. Ges. zur Erforschung vaterl. Sprache und Altertümer in Leipzig 11 [1913-1920], Heft 1 [1913], S. 52-111, Heft 2 [1915], S. 7-55) für ihn in Anspruch genommenen (dazu kritisch STAMM [Anm. 17], S. 32-36), sondern eine Sammlung, auf die SCHMIDTKE [Anm. 17], S.287 aufmerksam gemacht und die WERNER WILLIAMS-KRAPP (ZfdA 107 [1978], S. 50-80) näher vorgestellt hat. Vorderhand sind 6 Textzeugen bekannt. Eine kleine Auswahl liegt j e t z t v o r v o n PETER SCHMITT/ULLA u n d WERNER WILLIAMS-KRAPP ( H g g . ) , F e s t - u n d
Heiligenpredigten des 'Schwarzwälder Predigers' (Kleine deutsche Prosadenkmäler des MAs 14), München [1982]. " Sie sind durchweg lateinisch, so z. B. in der 25. Sonntagspredigt nach Pfingsten (STAMM Nr. IV, Z. 233—237): Siplacet xx. post pentecosten in ultimo membro.
tibi hicplura
in sermone.
Domine
narrare de die iudieii. tunc quere in descende
ut sanes filium
meum. Et ibi
dominica inuenies
bona de die iudieii. Im Corpus der Heiligenpredigten [Anm. 18] ist in
der Stephanus-Predigt in bezug auf Num. 15, 32-36 zu lesen (SCHMITT/WILLIAMS Nr. 5, Z. 295-298); Hanc hystortam veneracionem. meinde.
debes predicare
rusticis quod diem dominicum
habeant
in
Der Prediger dachte also auch (gelegentlich?) an eine ländliche Hörerge-
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sind von der bisherigen Forschung noch keine diesbezüglichen Beobachtungen - sie müßten vor allem die Uberlieferungsgruppe X betreffen gemacht worden. Unsere besondere Frage an die Sonntags- und Festtagspredigten des Schwarzwälders zielt auf die Quellenverarbeitung. Die Quellen sind bekannt: Zur Hauptsache zog dieser Prediger die bereits erwähnten Sermones des Franziskaners Konrad von Sachsen, des langjährigen Provinzials der sächsischen Ordensprovinz, heran. Diese 'Sermones de tempore'20 sind sehr wahrscheinlich zwischen 1262 und 1272 entstanden: ein terminus a quo für die Schwarzwälder Predigten. Benützt wurde also, vom Prediger aus gesehen, ein neuzeitliches Standardwerk. Es hatte den ausgesprochenen Zweck, den Geistlichen eine Hilfe für ihre homiletische Praxis zu sein, war sehr verbreitet und beliebt. Konrad bot in dieser Sammlung - und das ist der Regelfall - keine ausformulierten Predigten an, sondern mehr nur Materialien zu solchen, die der Prediger in eine ihm und seinem Publikum gemäß erscheinende Form zu bringen hatte. Neben Konrad von Sachsen benützte der Schwarzwälder noch häufig die 'Legenda aurea' des Jacobus de Voragine, die 'Aurora' des Petrus | Riga und die 'Historia scholastica' des Petrus Comestor. Wir beschränken uns indes auf das Verhältnis zu Konrads Predigtwerk. Von fünfundfünfzig Predigten sind es nur zwei (die Oster- und Pfingstpredigt), die nicht auf Sermone Konrads zurückgehen; in der Regel stützt er sich auf einen einzigen Sermon, gelegentlich benützt er mehrere für eine Predigt. Das bot sich von selbst an, da Konrad in der Regel drei Sermones für jeden Sonntag zur Verfügung stellte, für die Feiertage die doppelte Zahl und mehr; das Maximum sind elf Pfingstpredigten. Der Schwarzwälder hält sich regelhaft, aber keineswegs regelmäßig oder gar sklavisch, an die Disposition seiner Vorlagepredigt. Es handelt sich immer, was die Predigtform betrifft, um Sermones, die ein Thema systematisch zur Entfaltung bringen, also um die scholastische Predigtweise, nicht um Homilien und damit um schlichte Perikopenerklärungen. Konkret heißt dies: Die Predigt beginnt mit einem Textspruch, der in der Regel der Perikope des betreffenden Sonntags entnommen ist, führt das Thema in einem Exordium ein, das aber fehlen kann und öfter fehlt, und entwickelt aus ihm eine zumeist viergliedrige Disposition. Diese wird etwa durch divisio gewonnen, d.h. das Thema wird in einzelne Teile zerlegt (Ubi est / qui natus est / rex Judaeorum). Oder das Thema wird durch Fragen (quid, qui, quantum, quando, ubi, quomodo) erschlossen. So etwa erweist sich die bonitas des guten Hirten (Io 10,
x
V o n ihnen gibt es keine moderne Ausgabe. (Pseudo-) B . Bonaventurae Sermones de tempore, vaenundantur I o d o c o Badio Ascensio, Parisiis 1521.
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11): in pascendo, in defendendo, in cognoscendo, in uniendo21. Bei Konrad am häufigsten ist indes das distinctiones-Prinzip. Es werden aus einem im Thema erkannten Allgemeinen einzelne Glieder spezifiziert. Ein Beispiel: Ecce offerebant ei paralyticum iacentem in lecto (Mt 9, 2): Der Allgemeinbegriff ist offerebant ei. Daraus wird distingiert: aegri offeruntur medico ad sanandum (die Kranken werden dem Arzt zur Heilung dargereicht), parvuli Episcopo ad confirmandum (die Kinder dem Bischof zur Firmung), rei iudici vel domino ad iudicandum (die Schuldigen dem Richter oder Herrn, damit sie gerichtet werden), sponsa sponso ad cohabitandum (die Braut dem Bräutigam, um ihm beizuwohnen)22. N u r der erste Fall aegri offeruntur medico ad sanandum entspricht unmittelbar dem Textwort, die übrigen Distinktionen hängen nur am Oberbegriff offere. In der Übernahme dieser distinctiones als Hauptpunkte der Predigt kann nun bereits ein Bearbeitungsprinzip des Schwarzwälders aufgezeigt werden. Das soeben vorgeführte Prinzip der vom Predigttext wegführenden Distinktionen schätzt er wenig, er bevorzugt entschieden Dispositionspunkte, die das Predigtwort als solches zu erklären vermögen. So übernimmt er ohne Abänderungen die vierfache Auslegung des guten Hirten: an dem färende {in pascendo), an dem schiermende (in defendendo), an dem erchennende (in cognoscendo), an dem samenende und an dem ferainberende (in uniendo). Wo er Distinktionen vorfindet, richtet er sie unmittelbar auf das Textwort aus, oder er holt passende Distinktionen aus Parallelpredigten Konrads. Also textworttreues Predigen, keine freischwebenden Predigtinhalte. Darin kehrt er im Grunde zur Homilie zurück, die grundsätzlich das Tagesevan- | gelium auslegt. Er bietet, wenn man so sagen darf, homiletische Darlegungen in scholastischer Dispositionsform. Was den modus dilatandi, die Formen der Erweiterung und Bereicherung, betrifft, so sind sie schon bei Konrad mehrheitlich durch Verankerung der Predigtausführungen im Bibelwort bestimmt. Beim Schwarzwälder ist dieses Verfahren noch ausgeprägter. Es gibt kaum eine Aussage, die nicht durch die Hl. Schrift bestätigt wird. Darin wie schon in der Konzentration auf das Textwort sind die Schwarzwälder Predigten so etwas wie ein frühes Modell der späteren evangelisch-protestantischen Predigt. Hier ist nun eines proprium des deutschen Predigers zu gedenken, das ihn nicht nur von Konrad, sondern auch von andern Pastoralpredigern abhebt: Der Schwarzwälder erzählt immer wieder biblische, vorwiegend alttestamentliche Geschichten, und dies nicht, oder doch nur beiläufig, 71
21
Nr. II der Auswahl von S T A M M [Anm. 18], S . 25-34; die Disposition gleich zu Beginn, Z. 5 f. Zu diesem Verfahren bei Konrad und dem Schwarzwälder s. S T A M M [Anm. 17], S. 59 ff.
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aus Erzählfreude, sondern zur Begründung von Glaubenswahrheiten und sittlichen Postulaten. Von dieser Funktion her nennt er diese Geschichten urkunden". Urkunde hat im Mittelhochdeutschen die Bedeutung 'Zeugnis, Unterpfand, Exempel, Präfiguration', der Schwarzwälder verleiht dem Wort die Sonderbedeutung: 'Biblisches Wahrheitszeugnis in Gestalt einer Geschichte'. In der bereits erwähnten Predigt vom guten Hirten wird jeder der Dispositionspunkte in pascendo, in defendendo, in cognoscendo, in uniendo mit 'Urkunden' erläutert: in pascendo, wie Moses seine Schafe, die Israeliten, in die Wüste führte, zur inwendigen Weide von Gottes Offenbarungen (brennender Dornbusch) und Gottes Trost; in defendendo wie David, der seines Vaters Herde hütete und vor Löwe, Bär und Wolf bewahrte; in cognoscendo wie Jacob, der dem Laban (der ist anders niht wan der tiefei) gesprenkelte Schafe ablistete; in uniendo wie Jonas, der ins Meer geworfen wurde und drei Tage im Bauche des Walfisches weilte: die Erlösungstat Christi, der die Herde seiner Schafe einigte. Aus diesen Angaben sollte auch hervorgehen, daß es nicht bei den Geschichten bleibt, sondern daß sie ausgedeutet werden. D e r Vergleich des deutschen Predigtwerks mit seiner Hauptquelle ist vor allem von methodischem Wert. Er erlaubt, Eigenständigkeit und Eigenart des Schwarzwälders präzise zu beschreiben. Es liegt hier das Modell einer schriftgerechten Predigtweise vor, entwickelt aus der Tätigkeit in einer städtischen Pfarrgemeinde, die gehobene Ansprüche stellte, und, in der vorliegenden Mustersammlung selbst, als Angebot für eine solche Gemeinde. Der Prediger weiß um die Schwächen und Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur, aber verzagen braucht keiner, denn Gott ist - so wird er immer wieder angesprochen - der
zarte got, der minnecliche got, der milte got, er ist erbarmherze,
almeh-
tig, stlze: nie bezeichnet ihn ein Epitheton als 'zornig' und 'gestreng'. D e r Gegensatz zu Berthold ist frappant. Theologiehistoriker mögen sich überlegen, wer wohl christkonformer gepredigt hat, der große Eiferer von Regensburg oder der sanfte Seelsorger aus dem Schwarzwald. Für uns ist die Feststellung wichtig, daß es solche Spannweiten in der Predigtweise des deutschen Mittelalters gegeben hat, und nicht im zeitlichen Nach-, sondern im Nebeneinander. [ 3. Der St. Georgener Prediger ist wie der Schwarzwälder nach einer Handschrift benannt: Cod. germ. 36 der Landesbibliothek Karlsruhe, die aus St. Georgen zu Villingen im Schwarzwald stammt; aber sie ist keineswegs dort entstanden, und noch weniger hat die Sammlung selbst etwas mit St. Georgen zu tun; immerhin ist diese Handschrift G die älteste (frühes 14. Jahrhundert). Leider wurde die Ausgabe KARL RIE"
Dazu ausführlich STAMM [Anra. 17], S. 109 ff. u.ö.
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DERS24 nicht nach ihr, sondern der umfangreichsten Handschrift A (Freiburg, Universitätsbibliothek cod. 46, v.J. 1387) konstituiert. Diese ordnet dem G-Bestand eine zweite Sammlung zu, die sicher mit den St. Georgener Predigten nichts zu tun hat: wir nennen diesen zweiten Autor oder Sammler heute 'Schweizer Prediger'". Außerdem nahm der A-Redaktor - er nennt sich Albrecht der Kolbe - tiefgreifende Änderungen im G - C o r p u s vor. Neben dem 'Glanz' der GRiESHABERschen Ausgabe, die auf dem Original beruht, steht hier das 'Elend' einer editorischen Fehlentscheidung". Wenn wir im folgenden vom St. Georgener Prediger sprechen, so meinen wir nur die G-Sammlung, das sind die Predigten 35-70 exkl. 67 der RiEDERschen Ausgabe, und diese in der Redaktion G (die der Herausgeber wenigstens in allen Abweichungen, wenn nötig im Paralleldruck, im Apparat verzeichnet). Die Uberlieferung ist nicht älter als das 14. Jahrhundert, doch gibt es ein Fragment, das um, ja vor 1250 datiert worden ist27. Es erlaubt indes kaum, die ganze Sammlung so früh anzusetzen, da offensichtlich einzelne Stücke älteren Datums in die Sammlung G inseriert worden sind. Es muß so vage bei einer chronologischen Einordnung in die zweite Hälfte des 13.Jahrhunderts bleiben. N o c h schwieriger fällt die Bestimmung der Herkunft. Die Uberlieferung (mit ca. dreißig Textzeugen, Einzelstücke und Gruppen mit weniger als fünf Predigten nicht gerechnet) streut so weit, daß sie keinen Anhaltspunkt geben kann: es gibt alemannische, bairische, mitteldeutsche, niederländische Texte, diese in einer besonderen Redaktion 2 '. A m wahrscheinlichsten ist westmitteldeutsche Herkunft, aber genauere Untersuchungen fehlen.
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