Kleine Schriften und Predigten: Band 1 1800–1820 [Reprint 2019 ed.] 9783110822908, 9783110011876


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German Pages 482 [484] Year 1970

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Monologen 1800
Einleitung des Herausgebers
Titelblatt
Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde 1800
Einleitung des Herausgebers
Titelblatt
Predigten 1801
Einleitung des Herausgebers
Titelblatt
Die Weihnachtsfeier 1806
Einleitung des Herausgebers
Titelblatt
Predigten 1808. 1814. 1820
Einleitung des Herausgebers
Titelblatt Predigten Zweite Sammlung
Titelblatt Predigten Dritte Sammlung
Titelblatt Predigten Vierte Sammlung
Anhang: Am 24. Januar 1826 (Akademie-Abhandlung)
Anmerkungen des Herausgebers
Abkürzungen
Zeittafel
Synopse der Seitenzahlen
Personen- und Sachregister
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Kleine Schriften und Predigten: Band 1 1800–1820 [Reprint 2019 ed.]
 9783110822908, 9783110011876

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Friedrich Schleiermacher Kleine Schriften und Predigten I

Friedrich Schleiermacher Kleine Schriften und Predigten

Herausgegeben von Hayo Gerdes und Emanuel Hirsch

Band i

Walter de Gruyter & Co. Berlin 1970

Friedrich Schleiermacher Kleine Schriften und Predigten 1800-1820

Bearbeitet von Hayo Gerdes

Walter de Gruyter & Co. Berlin 1970

A r c h i v - N r . 30 01 701

© 1970 by Walter de G r u y t e r & Co.» vormals G . J . Göschen'sche Verlagshandlung • J . G u t t e n t a g , Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • K a r l J . Trübner • Veit & C o m p . , Berlin 30 P r i n t e d in G e r m a n y Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in f r e m d e Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: T h o r m a n n & Goetsch, Berlin

Inhaltsverzeichnis Einleitung des Herausgebers

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Monologen 1800

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Einleitung des Herausgebers

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Titelblatt Darbietung I. Die Reflexion II. Prüfungen III. Weltansicht IV. Aussicht V. Jugend und Alter

19 21 22 31 44 56 67

Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde 1800

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Einleitung des Herausgebers

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Titelblatt An * Zueignung an die Unverständigen Erster Brief. An Ernestine Zweiter Brief. An Dieselbe Dritter Brief. Ernestine an mich Versuch über die Schaamhafligkeit Vierter Brief. Von Karoline, Einlage in den vorigen Fünfter Brief. An Karoline Sechster Brief. An Eduard Siebenter Brief. Eleonore an midi Beilage Achter Brief. An Eleonore Neunter Brief. An Ernestine

83 85 88 90 95 101 108 120 125 131 136 142 147 153

Predigten 1801

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Einleitung des Herausgebers

159

Titelblatt 165 II. Die Kraft des Gebetes, in so fern es auf äußere Begebenheiten gerichtet ist 167 III. Einige Empfindungen des sterbenden Jesu, die auch wir uns für unsere letzten Augenblikke wünschen sollen . . . . 179

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Inhaltsverzeichnis

VII. Die Gerechtigkeit Gottes XII. Der Werth des öffentlichen Gottesdienstes

192 208

Die Weihnachtsfeier 1806 Einleitung des Herausgebers Titelblatt

223 225 229

Predigten 1808. 1814. 1820 Einleitung des Herausgebers Titelblatt Predigten Zweite Sammlung III. Wie sehr es die Würde des Menschen erhöht, wenn er mit ganzer Seele an der bürgerlichen Vereinigung hängt, der er angehört VIII. Wie das Edlere in der Welt sich aus dem Niedrigen entwickelt XII. Ueber die rechte Verehrung gegen das einheimische Große aus einer früheren Zeit Titelblatt Predigten Dritte Sammlung VI. Der wankelmüthige Sinn der Menschen als Quelle der Leiden des Erlösers VII. Das Zusammensein der Jünger unter sich und mit dem Erlöser, als Vorbild unseres vertrauten Lebens mit unseren Freunden IX. Daß der Mensch nur durch die neue Geburt in das Reich Gottes kommt Titelblatt Predigten Vierte Sammlung II. Ueber die Ehe. Zweite Predigt IV. Ueber die christliche Kinderzucht. Zweite Predigt IX. Ueber die christliche Wohlthätigkeit

275 277 283

360 377 379 391 407

Anhang: Am 24. Januar 1826 (Akademie-Abhandlung)

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Anmerkungen des Herausgebers

435

Abkürzungen

465

Zeittafel

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Synopse der Seitenzahlen

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Personen- und Sachregister

480

285 301 314 331 333

345

Einleitung Das gängige Bild des jungen Schleiermacher ist ganz wesentlich bestimmt durch seine „Reden über die Religion". Dies Bild täusdit. Zwar haben für die W i r k u n g s g e s c h i c h t e Schleiermachers die „Reden" allergrößte Bedeutung — fast größere Bedeutung als die „Glaubenslehre" —; für das Verständnis der Entwicklung des jungen Schleiermacher, und auch ihrem eigenen theologischen und philosophischen Gehalt nach, sind jedoch andere Frühschriften Schleiermachers und besonders seine frühen Predigten mindestens so wichtig. Zwei Ereignisse haben in der geistigen Geschichte des jungen Schleiermacher Epoche gemacht: Zunächst die Begegnung mit der Frühromantik in Gestalt vor allem Friedrich Sdilegels, dann aber, tiefgreifender noch, die aus der Liebeskatastrophe mit Eleonore Grunow erwachsene Umkehr zu tieferem Christusglauben und wahrhafter Berufserfüllung. Schleiermachers Verhältnis zur Romantik ist häufig beschrieben worden, am eindrucksvollsten von Dilthey in seiner großen Biographie. Es wäre ergänzend wohl nur darauf hinzuweisen, daß Friedrich Schlegel letzten Endes Schleiermacher nur zu seinem eigentümlichen Wesen e n t b u n d e n hat, weitergehende Einflüsse hat Schleiermacher ziemlich restlos wieder abgestreift (vgl. z.B. Anm. 16). Die „Lucinden-Briefe" (unten S. 77 ff.), mit denen Schleiermacher Friedrich Schlegel am nächsten steht, sind innerhalb des Gesamtwerks ganz isoliert geblieben. Ungleich größere Wirkung seitens der Romantik hat Novalis auf Schleiermacher ausgeübt. Man vergleiche dazu die Einleitung zur „Weihnachtsfeier", unten S.226f. Noch im letzten Jahrzehnt seines Lebens hat Schleiermacher dafür gesorgt, daß 4 der Geistlichen Lieder des Novalis in das neue Berliner Gesangbuch aufgenommen wurden (vgl. Anm. 156).

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Einleitung

In engem Zusammenhang mit Schleiermachers Berührung mit der Romantik steht seine Auseinandersetzung mit Fichte. Klarer als alle Genossen hat Schleiermacher einerseits die überlegene Dialektik Fichtes erkannt und anerkannt — die Erkenntnistheorie Fidites blieb für ihn unanfechtbar — , andrerseits aber auch die Wesensfremdheit Fichtes gegenüber dem romantischen Individualitätsgedanken empfunden: Schleiermachers persönlicher Bruch mit Fichte leitet die Trennung der Romantiker von Fichte ein. „Monologen" und „LucindenBriefe" sind dafür das deutlichste Zeugnis (vgl. z. B. Anm. 6. 13 f. 50). Im Gegensatz zu Schleiermachers romantischer Epoche ist die Zeit seiner „Bekehrung", von etwa 1802 bis 1805, bisher weniger beachtet worden. Gleichwohl sind diese Jahre für Schleiermachers spätere Entwicklung mindestens so bedeutsam gewesen wie die erste Berliner Zeit. Will man schon eine Wende in Schleiermachers theologischem Denken feststellen, so fällt diese eher in das Jahr 1805 als in das Jahr 1811. Schleiermacher kennt keine plötzliche Bekehrung nach Art des Halleschen Pietismus, deren Zeit der Bekehrte angeben könnte. Die Wiedergeburt ist für ihn ein in den einzelnen Momenten nicht demonstrierbarer Vorgang, der aber in seinem Ergebnis sehr wohl wahrnehmbar ist. A m nächsten kommen dem pietistischen Bekehrungserlebnis bei Schleiermacher die Augenblicke der Seligkeit, in welchen dem Gläubigen bewußt wird, daß ohne sein Zutun und Laufen, ja ohne sein Wissen, ein neuer Mensch in ihm Gestalt gewonnen hat. Bei Schleiermacher ist das etwa 1805, nach dem endgültigen Bruch mit Eleonore Grunow, der Fall gewesen. Gerade Schleiermachers Darstellung einer solchen eigentümlichen Bekehrungserfahrung, unter Polemik gegen die pietistische Bekehrungspraxis spricht davon deutlich genug (vgl. die Predigt über die Wiedergeburt, unten S. 360 ff., und die Auferstehungspredigt, diese Ausgabe, Band III, S. 259 ff.). Es fehlen aber auch die unmittelbaren Zeugnisse nicht: Noch am 20. April 1803 schreibt Schleiermacher an seinen Freund Georg Reimer: „Noch kann ich midi nicht eingewöhnen an meinen öden Platz unter den Trümmern aller meiner Hoffnungen, und eine herzliche Sehnsucht darunter begraben zu sein ist bei weitem mein stärkstes und liebstes G e f ü h l . . . Ja lieber Freund, das ist das rechte Gefühl der Vernichtung, wenn alles Leben und Thun nur noch erscheint, wie die seelenlosen Zuckungen eines Enthaupteten." (Br. I, 362 f. 364). Ähnliche Äußerungen über einen Sterbevorgang bis hin

Einleitung

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zur Gewißheit des dicht bevorstehenden physischen Endes finden sich in dem gesamten Briefwechsel Schleiermachers zwischen 1802 und 1804. Daneben spricht Schleiermacher aber schon sehr bald von der Freude und dem Leben, welches er in seinem Amt und darin im innigeren Anschluß an den Erlöser findet. Schon 1803 heißt es: „Es sind nun neun Jahre, als ich auch an einem Charfreitag meine erste Amtsführung antrat; mir ist seitdem dieser Beruf immer lieber geworden, auch in seiner unscheinbaren Gestalt und seinem nachtheiligen Verhältniß zum Geiste dieser Zeit, und ich glaube, wenn ich ihn aufgeben müßte, würde ich noch tiefer trauern als um Alles, was ich jezt verloren habe." (Br. I, 362). Am 4. August 1804 schreibt Schleiermacher an Charlotte von Kathen: „Wie schön schließen wir uns auch Alle in gleichem frommen Sinn an den liebenden und bildenden Christus an. Seit ich die Brüdergemeinde verließ, habe ich midi noch nicht wieder so meines Christensinns und Christenthums gefreut, und seine Kraft so lebendig um mich her verbreiten gesehn." (Br. I, 403 f.), und am 26. November 1805 an Ehrenfried von Willich: „ J a , lieber Bruder, ich fühle es recht tief, wie ich selbst eigentlich nichts mehr bin; aber ich bin das Organ so manches Schönen und Heiligen, der Brennpunkt, aus dem alle Freuden und Leiden meiner geliebten Freunde zurückstrahlen, und das achte ich in mir und deshalb lebe ich. Darum muß ich auch darnach trachten, daß der zwiefache Beruf, dem ich angehöre, nicht zerstört wird durch die Gefühle, die noch aus dem eignen Leben herüber reichen und es betrauern." (Br. II, 43). Die eindrucksvollste Darstellung seines inneren Zustandes nach der Gestaltwerdung des neuen Lebens in ihm gibt Schleiermacher jedoch in der Figur des „Joseph" in der „Weihnachtsfeier". Spiegeln sich in den 3 Reden Leonhards, Emsts und Eduards die Momente der Reflexion Schleiermachers über den christlichen Glauben, so zeigt Schleiermacher im „Joseph", welche Bedeutung dieser Glaube für seinen eigenen inneren Menschen gewonnen hat: „Ich fühle mich einheimisch und wie neugeboren in der besseren Welt, in der Schmerz und Klage keinen Sinn hat und keinen Raum. Mit frohem Auge schaue ich auf Alles, auch auf das tiefverwundende. Wie Christus keine Braut hatte als die Kirche, keine Kinder als seine Freunde, kein Haus als den Tempel und die Welt, und doch das Herz voll himmlischer Liebe und Freude: so scheine ich mir geboren auch darnach zu trachten." (unten S. 274). Die gesamte theologische Arbeit des reifen Schleiermacher hat ihren Quell in dieser „neuen Geburt". Unmittelbar deutlich wird das

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Einleitung

freilich nicht in den rein theologischen Schriften, sondern in den Predigten Schleiermachers. Diese sind deshalb der Kanon für die Interpretation des Schleiermacherschen Gesamtwerks, jedenfalls dort, wo es um die Fundamente der christlichen Lehre geht, und das heißt vor allem in der Christologie. Schon Dilthey schreibt: „Wer Schleiermachers Auffassung des christlichen Lebens und seines ganzen, unverletzten Inhaltes recht verstehen will, wird sich immer, sehr entgegen dem von denen, die über ihn schrieben, angewandten Verfahren, an seine Predigten zuerst wenden müssen, dieses edelste Muster diristlidier Beredtsamkeit seit Luther. Denn hier quillt ohne Hemmung, ohne Minderung der reiche Quell seines christlichen Gemütslebens; rein, voll, ganz. Uberall in seinen wissenschaftlichen Untersuchungen findet eine Abstraktion statt oder eine Zerlegung durch den Gedanken." (Dilthey 2 , 775.) Die vorliegende Ausgabe berücksichtigt deshalb neben den weniger zugänglichen Frühschriften Schleiermachers vor allem seine Predigten, wobei die Auswahl aus den verschiedenen Predigtsammlungen nicht erschöpfend sein kann, sondern nur einen ersten Eindruck der dort zutage tretenden Möglichkeiten Schleiermachers gibt, und zwar unter besonderer Berücksichtigung seiner Christusfrömmigkeit. Rechtschreibung und Zeichensetzung folgen den Erstdrucken. Offenbare Druckfehler der Erstdrucke wurden stillschweigend verbessert. Konjekturen des Herausgebers und der Vorherausgeber stehen in eckigen Klammern. Einleitungen und Anmerkungen geben die nötigsten Sacherläuterungen. Auf die Anmerkungen wird im Text mit durchlaufenden Hochziffern verwiesen. Die Seitenzahlen der einzelnen Stücke in den „Sämmtlichen Werken" sind in der Synopse am Schluß des Bandes aufzufinden, während die Seitenzahlen der Erstdrucke im Text angegeben sind.

Monologen 1800

Einleitung des Herausgebers. Schleiermachers „Monologen" sind Anfang Januar 1800 in Berlin bei Christian Sigismund Spener erschienen. Mit der 2. Auflage von 1810 übernahm sie Schleiermachers Freund und Verleger Georg Reimer in seinen Verlag der „Realschulbuchhandlung". Zu Schleiermachers Lebzeiten erschienen noch eine dritte (1821) und vierte Auflage (1829), so daß die „Monologen" mit den „Reden über die Religion" zu Lebzeiten Schleiermachers seine beiden erfolgreichsten Druckwerke waren. Während die Erstausgabe anonym erschien, unterschrieb Schleiermacher die Vorreden zur 2. und 3. Auflage mit seinem Namen (vgl. Anm. 1). In der vorliegenden Ausgabe wird der Text der Erstauflage von 1800 abgedruckt; die Seitenzahlen dieses Erstdrucks sind hier am oberen Seitenrand angegeben; im Text sind die Seitenanfänge durch Querstriche gekennzeichnet. Die „Sämmtlichen Werke" drucken 3. Abt., Bd. 1, S. 345—420, den Text der 4. Auflage ab. Die wichtigsten Abweichungen der 2. bzw. der beiden späteren Auflagen (diese unterscheiden sich nur unwesentlich voneinander) werden hier in den Anmerkungen mitgeteilt. Schleiermacher hat die „Monologen" im November 1799 innerhalb von knapp 4 Wochen niedergeschrieben; die fertiggestellten Teile des Manuskripts wanderten sofort in die Druckerei. Nach Schleiermachers eigener Aussage war der unmittelbare Anlaß für das Entstehen der „Monologen" der Wunsch, sich vor den Freunden durch Mitteilung seiner innersten Natur gegen Mißverständnisse zu rechtfertigen (vgl. Br. IV, 60 und 65 f.). In erster Linie galt dies wohl für die Freundschaft mit Friedrich Schlegel, in der es in der ersten Hälfte des Jahres 1799 die ersten Mißhelligkeiten gegeben hatte (vgl. Br. III, 1 1 7 , 120 und 123 f.). Zudem war im Mai 1799 Schlegels „Lucinde" erschienen, worin Schlegel in den Briefen an Antonio seinen Differenzen mit Schleiermacher literarischen Ausdruck gegeben

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Monologen 1800

hatte. Neben diesen vorwiegend persönlichen Gründen hat aber Schleiermacher zweifellos auch das Bedürfnis gehabt, sich entschieden von Fichte zu distanzieren. Er hatte Fichte im Juli 1799 durch Schlegel persönlich kennengelernt. Nach anfänglicher hochgespannter Erwartung seitens Schleiermachers war es zur heftigen gegenseitigen Abstoßung gekommen. Nicht zuletzt dürfte daran Fichtes sittliche Klarheit besonders in den Fragen von Liebe und Ehe einen starken Anteil haben. Schleiermacher fühlte sich dadurch in seiner damaligen durch die Frühromantik geprägten Haltung angegriffen. Jedenfalls spielt die Kritik an Fichtes Ehemoral in Schleiermachers Briefwechsel mit Henriette Herz eine wesentliche Rolle (vgl. z.B. Br. I, 344 und Dok. I I J ) . Bei der bleibenden Abhängigkeit gegenüber den Grundlagen des Fichteschen Systems sucht Schleiermacher fortan seine Eigentümlichkeit gegenüber Fichte zugespitzt und teilweise fast gereizt zur Geltung zu bringen. Die „Monologen" legen von beiden Seiten des Verhältnisses zu Fichte mindestens Zeugnis ab, wenn nicht doch der Bruch mit Fichte ein sehr wesentlicher Beweggrund für ihr Entstehen gewesen sein sollte. In der 2. Auflage ist dann die Distanz gegen Fichte noch schärfer durchgeführt (vgl. z. B. Anm. 6). Schleiermacher hat mit den „Monologen" insofern seinen Zweck erreicht, als Schlegel erklärte: „Du hast auch mir eine schöne Gabe gegeben, mit dem Ganzen zuerst und dann auch mit so vielem Einzelnen . . . Was ich zunächst auf mich bezogen habe, finde ich sehr würdig und sehr liebenswürdig; aber nicht sowohl dadurch als durch das Ganze oder auch den Geist anderer Stellen ist mir eigentlich das völlig gelöst, was mich in dem letzten Winter am empfindlichsten gekränkt hat. Ich verstehe es nun, wie es gemeynt war, und es ist nicht mehr." (Br. III, 165; vgl. auch Br. I, 277). Auch von Schlegel abgesehen war die Wirkung der „Monologen" groß. Schleiermacher schreibt selber in der Vorrede zur zweiten Ausgabe, daß das Büchlein ihm Freunde erworben habe, deren Besitz ihm sehr teuer sei. Das gilt besonders von Ehrenfried von Willich (vgl. Br. I, 277 und 280), und auch von anderen (vgl. Br. I, 299, 377 und Br. II, 1 j). Aber auch die auf Schleiermacher folgenden Generationen bis hin zum ersten Weltkrieg haben die „Monologen" besonders geschätzt, wie z. B. die ausführliche und begeisterte Darstellung Diltheys in seinem „Leben Schleiermachers" bezeugt. Diese Wirkung der „Monologen" dürfte darin ihren Grund haben, daß Schleiermacher hier den Grundgedanken der idealistischen Philosophie in einer von allen schwierigen Deduktionen befreiten, per-

Einleitung des Herausgebers

IJ

sönlich bestimmten und gemütshaft gefärbten Form darstellt. Er selber schreibt an Henriette Herz: „Nichts ist mir so unvermuthet entstanden. Als ich die Idee faßte, wollte ich eigentlich etwas ganz objektives machen, nicht ohne viel Polemik, und das subjektive sollte nur die Einkleidung sein. Aber im Entwerfen des Plans wuchs mir das subjektive so über den Kopf, daß auf einmal die Sache, wie sie jezt ist, vor mir stand. Die Polemik ist nur als Stimmung hie und da übrig, und das objektive liegt ziemlich versteckt nur für den Kenner da." (Br. I, 338); und an Brinkmann: „Es ist ein Versuch, den philosophischen Standpunct, wie es die Idealisten nennen, in's Leben überzutragen, und den Charakter darzustellen, der nach meiner Idee dieser Philosophie entspricht." (Br. IV, 55). Schleiermacher hat sich freilich von vornherein (und ausdrücklich in den Vorreden zur 2. und 3. Ausgabe; vgl. Anm. x) dagegen wehren müssen, daß die „Monologen" als unmittelbare Selbstdarstellung mißverstanden wurden; in einem Brief an Henriette von Willich aus dem Jahre 1808 heißt es: „Daran sind mir die Monologen schuld, in denen ich midi eben selbst idealisirt habe, und nun meinen die Guten, ich bin so. Nemlich, ich bin ja freilich so, es ist meine innerste Gesinnung, mein wahres Wesen, aber das Wesen kommt ja nie rein heraus in der Erscheinung, es ist immer getrübt in diesem armen Leben, und dies Getrübte steht nicht mit in den Monologen." (Br. II, 138). Seiner herrenhutischen Schwester gegenüber muß er sich gegen den Beinamen „der Erhabene" wehren (vgl. Br. I, 296). Ebenso wie die „Reden über die Religion" sind auch die „Monologen" neben allem anderen ein Dokument für die Überfremdung der eigenen inneren Art Schleiermachers durch die Überwältigung seitens der romantischen Genossen, insbesondere Friedrich Schlegels. Das drückt sich sogar im manirierten Stil der „Monologen" aus. Gegen kritische Einwände des Freundes Brinkmann entgegnet Schleiermacher: „Der Styl, glaubte ich, dürfe auf gar nichts ausgehen, sondern nur überall zeugen von dem Interesse an der Reflexion und von der Tiefe des Eindrucks, — da dies die beiden einzig möglichen Quellen eines Monologs sind. Hiernach habe ich mir mein Schema gebildet; wirklich geschrieben ist aber das Ganze so schnell, daß es eigentlich gar nicht in der Handschrift existirt hat, sondern ich es beinahe dem Sezer dictirt habe. Deshalb glaube ich auch um so weniger, daß eigentliche Verkünstelung darin sein kann. Mit dem Rhythmus ist es, je nachdem Du es nimmst, ärger oder auch nicht so arg als Du denkst. Aerger, insofern ich wirklich gewollt habe, was Du für schlecht er-

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Monologen 1800

kennst; nicht so arg, inwiefern die Bewußtlosigkeit doch eigentlich das Aergste ist. Ich wollte ein bestimmtes Silbenmaaß überall durdiklingen lassen: im zweiten und vierten Monolog den Jamben allein, im fünften den Daktylus und Anapäst, und im ersten und dritten hatte ich mir etwas Zusammengesezteres gedacht, worüber ich Dir jezt, weil das Buch nicht zur Hand ist, keine genauere Rechenschaft geben kann. Das gestehe ich Dir aber gern, daß der Jambe stärker gewesen ist als ich, und sich im zweiten und vierten Monolog etwas unbändig aufführt." (Br. IV, 67). Sogar Friedrich Schlegel hatte hier Bedenken: „Ich soll Dir auch über die Form und den Styl der Monologen etwas sagen? Nun die Form gehört für mich zu denen, die sich selbst durch ihre innere Consequenz hinlänglich constituiren, wenn sie auch in keine äußere sich fügen können und wollen. Die Schönheit des Gesagten und des Sagens würde denen, die Dich nicht schon kennen, unmittelbar einleuchten, wenn der Ausdruck hie und da schmuckloser und einfältiger wäre. In dieser Rücksicht wäre es wohl gut, wenn Du einmal Gelegenheit fändest etwas ganz trocken und geradeaus schreiben zu müssen." (Br. III, 177). Die schärfste Kritik endlich (sie schließt die „Reden" ein) kam vom Hofprediger Sack: „Eben so empörend ist mir die revolutionäre neue Sprache, die der ersten Regel alles vernünftigen Redens und Belehrens (der Verständlichkeit) zum Trotz, immer mit falscher Münze zahlt, sich in räthselhaftes Dunkel hüllt, und aus Furcht sich gemein auszudrücken schwülstig wird, gerade wie ein Mensch, der um nur größer als andre zu scheinen, auf Stelzen einhergeht." (Br. III, 279; vgl. Br. III, 392). Einige besonders krasse Verirrungen seiner romantischen Epoche hat Schleiermacher stillschweigend in der 2. Auflage korrigiert (vgl. z.B. Anm. 16), trotz seiner Erklärung in der Vorrede, daß er nur Kleinigkeiten im Ausdruck verbessert und einige Änderungen vorgenommen habe, welche „Undeutlichkeiten abhelfen und Mißverständnissen zuvorkommen" sollten (vgl. Anm. 1); dies gilt hingegen uneingeschränkt für die Änderungen der beiden späteren Auflagen. Als besonders einschneidend sei hier darauf hingewiesen, daß Schleiermacher in der 1. Auflage der Monologen unter Überspitzung der Polemik gegen seinen Lehrer Fichte den Begriff des „Gewissens", der in Fichtes Sittenlehre von 1798 eine so große Rolle spielt, aus dem Ideal der Menschlichkeit ausgeschieden hat, sicherlich hierbei von Schlegel verführt: Schon in der 2. Auflage hat Schleiermacher geändert, und später gibt er dem Gewissensbegriff eine entscheidende Stelle in seinem System (vgl. Anm. 16). Im übrigen hat Schleier-

Einleitung des Herausgebers

17

macher es dem aufmerksamen Leser überlassen, die Einseitigkeiten der „Monologen" (vgl. auch die Vorrede zur 3. Auflage, Anm. 1) aus den Schriften seiner Reifezeit selber zu korrigieren (vgl. z . B . Anm. 4, 16, 38 und 41 f.).

Monologen.

Eine Neujahrsgabe.

Berlin 1800. bei Christian Sigismund Spener.

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Darbietung.1

Keine köstlichere Gabe vermag der Mensch dem Menschen anzubieten, als was er im Innersten des Gemüthes zu sich selbst geredet hat: denn sie gewährt ihm das Größte was es giebt, in ein freies Wesen den offenen ungestörten Blik. Keine ist beständiger: denn nichts zerstört Dir den Genuß, den einmal Dir das Anschaun gewährt hat, und die innere Wahrheit sichert ihr Deine Liebe, daß Du sie gern wieder betrachtest. Keine bewahrst Du sicherer gegen fremde Lust und Tüke: denn sie ist nicht mit irgend einem Nebenwerk umgeben, daß etwa an | ders gebraucht und mißbraucht werden könnte, oder die sinnliche Begierde lokt. Wenn einer seitwärts steht, mit schiefem Blick das Kleinod ansieht, und ihm lächerliche Falten andichtet, die Dein grades Auge nicht findet: so möge der leere Spott Dir nicht die Freude rauben, wie er mich's nicht gereuen laßen wird, Dir mitgetheilt zu haben, was ich hatte. — Nimm hin die Gabe, der Du das Denken meines Geistes verstehen magst! Es begleite Dein Gesang das laute Spiel meiner Gefühle, und der Schlag2, der Dich durchdringt bei der Berührung meines Gemüthes, werde auch Deiner Lebenskraft ein erfrischender Reiz.

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I. Die Reflexion.* Auch die äußere Welt, mit ihren ewigsten Gesezen wie mit ihren flüchtigsten Erscheinungen, strahlt in tausend zarten und erhabenen Allegorien, wie ein magischer Spiegel, das Höchste und Innerste unsere Wesens auf uns zurük. Welche aber den lauten Aufforderungen ihres tiefsten Gefühles nicht horchen, welche die leisen Seufzer des gemißhandelten Geistes nicht vernehmen, an diesen gehen auch die wohlthätigen Bilder verloren, deren sanfter Reiz den stumpfen Sinn schärfen soll und spielend belehren. Selbst von dem, was die eigene Willkühr erdacht hat, und immer | wieder hervorbringen muß, mißverstehn sie die wahre Deutung, und die innerste Absicht. Wir durchschneiden die unendliche Linie der Zeit in gleichen Entfernungen, an willkührlich durch den leiditesten Schein bestimmten Punkten, die für das Leben ganz gleichgültig sind, nach denen nichts sich richten will, weil alles abgemeßene Schritte verschmäht, weder das Gebäude unserer Werke, noch der Kranz unserer Empfindungen, noch das Spiel unserer Schiksale; und dennoch meinen wir mit diesen Abschnitten etwas mehr als eine Erleichterung für den Zahlenbewahrer, oder ein Fest für den Meßkünstler; bei Jedem knüpft sich daran unvermeidlich der ernste Gedanke, daß eine Theilung des Lebens möglich sei. Aber Wenige dringen ein in die heilige4 Allegorie, und verstehen den Sinn dieser Verknüpfung, zu welcher die Natur sie auffordert. Der Mensch kennt nichts als sein Dasein in der Zeit, und dessen gleitenden Wandel | hinab von der sonnigen Höhe in die furchtbare Nacht der Vernichtung. Vorstellung und Empfindung abwechselnd entwikelnd und in einander verschlingend, so meint er, ziehe eine unsichtbare Hand den Faden seines Lebens fort, und drehe ihn jezt loser jezt fester zusammen, und weiter sei nichts. Je schneller ihre Folge, je reicher ihr Wechsel, je harmonischer und inniger ihre Ver-

I. D i e Reflexion

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bindung, desto herrlicher sei das bedeutende Kunstwerk vollendet, und könnten sie seinen ganzen Zusammenhang mechanisch erklären, so ständen sie auf dem Gipfel der Menschheit und des Selbstverständnißes. So nehmen sie den zurükgeworfenen Strahl ihrer Thätigkeit für ihr ganzes Thun, die äußeren Berührungspunkte ihrer Kraft mit dem was nicht sie ist für ihr innerstes Wesen, die Atmosphäre für die Welt selbst, um welche sie sich gebildet hat. Wie wollten sie die Aufforderung verstehn, welche in der Handlung liegt, der sie nun gedanken | los zusehn. Der Punkt, der eine Linie durchschneidet, ist nicht ein Theil von ihr: er bezieht sich auf das Unendliche eben so eigentlich und unmittelbarer, als auf sie, und überall in ihr kannst du einen solchen Punkt sezen. Der Moment, in dem du die Bahn des Lebens theilst und durchschneidest, soll kein Theil des zeitlichen Lebens sein: anders sollst du ihn ansehn, und deiner unmittelbaren Beziehungen mit dem Ewigen und Unendlichen dich bewußt werden; und überall wo du willst, kannst du einen solchen Moment haben. Dein freue ich mich, erhabene Andeutung der Gottheit in mir, schöne Einladung zu einem unsterblichen Dasein außerhalb des Gebietes der Zeit, und frei von ihren harten Gesezen! Die aber um den Beruf zu diesem höhern Leben nicht wißen, mitten im Strom der flüchtigen Gefühle und Gedanken, finden ihn auch dann nicht, wenn sie ohne zu wißen was sie thun, die Zeit meßen und das irdische Leben abthei | len. Wenn sie lieber nichts merkten von dem was ihnen gesagt werden soll, daß nicht ihr eitles Thun und Treiben so schmerzlich mein Gemüth ergriffe, wenn es der heiligen Einladung zu folgen strebt. Sie wollen doch auch einen Punkt haben, den sie nicht ansehen als flüchtige Gegenwart, nur daß sie nicht verstehn ihn als Ewigkeit zu behandeln. Oft auf einen Augenblik bisweilen auf eine Stunde, nun gar auf einen Tag sprechen sie sich los von der Verpflichtung, so emsig zu handeln, so eifrig Genuß und Erkenntniß anzustreben, wie auch der kleinste Theil des Lebens es von ihnen verlangt, wenn er sie erinnert, daß er eben so bald Vergangenheit sein wird, als er noch kürzlich Zukunft war. Dann ekelt es sie Neues wahrnehmen, oder genießen, wirken oder hervorbringen; sie sezen sich ans Ufer des Lebens, aber können nichts thun, als in die tanzende Welle lächelnd hinab weinen. Gleich wilden Barbaren, | die am Grabe des Vaters Weiber, Kinder, oder Sklaven morden, so schlachten sie am Grabe des Jahres den Tag, der in leeren Fantasien vergeht, ein vergebliches Opfer. Für den soll es kein Nachdenken und keine Betrachtung geben,

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Monologen 1800

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der das innere Wesen des Geistes nicht kennt; der soll nicht streben sich loszureißen von der Zeit, der auch in sich nichts kennt, als was ihr angehört: denn wohin sollte er ihrem Strome entsteigen, und was könnte er sich erstreben, als fruchtloses Leiden und Vernichtungsgefühl? Vergleichend wägt der Eine ab Genuß und Sorge der Vergangenheit, und will das Licht, das ihm aus der zurükgelegten Ferne noch nachschimmert, in ein einziges kleines Bild vereinigen, unter dem Brennpunkt der Erinnerung. Ein Anderer schauet an, was er gewirkt, den harten Kampf mit Welt und Schicksal ruft er gern zurück, und froh, daß es noch so geworden, sieht er hie und da auf dem neutralen Boden der gleichgültigen | Wirklichkeit ein Denkmal stehen, das er sich aus dem trägen Stoff herausgebildet, obwohl Alles weit hinter seinem Vorsaz zurük geblieben. Es forscht ein Dritter, was er wohl gelernt, und schreitet stolz im viel erweiterten und wolgefüllten Magazin der Kenntniße daher, erfreut, daß sich alles so in ihm zusammendrängt. O kindisches Beginnen der eiteln Einbildung! Es fehlt der Kummer, den die Fantasie gebildet, und den aufzubewahren das Gedächtniß sich geschämt; es fehlt der Beistand, den Welt und Schicksal selbst geleistet, die sie jezt nur feindlich begrüßen wollen; das Alte, was von dem Neuen verdrängt ward, die Gedanken, die sie unter dem Denken, die Vorstellungen, die sie unter dem Lernen verloren, werden nicht mit in Anschlag gebracht, und niemals ist die Rechnung richtig. Und wäre sie es, wie tief verwundets mich, daß Menschen denken mögen, dies sei Selbstbetrachtung, dies heiße sich erkennen. Wie | elend endet das hochgepriesene Geschäft! die Fantasie ergreift das treue Bildniß der vergangenen Zeit, mahlts mit schönern Umgebungen nicht sparsam in den leeren Raum der nächsten Zukunft, und sieht oft seufzend auf das erste noch zurük. So ist die lezte Frucht nur eitle Hofnung, daß Beßeres kommen werde, und die leere Klage, daß dahin sei, was so schön gewesen, und daß der Stoff des Lebens mehr und mehr von Tag zu Tag verrinnend der schönen Flamme bald das Ende zeige. So zeichnet die Zeit mit leeren Wünschen und mit eitlen Klagen brandmarkend schmerzlich ihre Sklaven, die entrinnen wollten, und madit den Schlechtesten dem Besten gleich, den sie eben so sicher sich wieder hascht. Wer statt der Thätigkeit des Geistes, die verborgen in seiner Tiefe sich regt, nur ihre äußere Erscheinung kennt und sieht, wer statt sich anzuschaun nur immer von fern und nahe her ein Bild des Lebens und seines Wechsels sich zusammen ] holt, der bleibt der Zeit und der Nothwendigkeit ein Sklave; was er sinnt und denkt, trägt ihren Stempel,

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ist ihr Eigenthum, und nie, auch wenn sich selbst er zu betrachten wähnt, darf er das heilige Gebiet der Freiheit betreten; denn in dem Bilde, was er sich von sich entwirft, wird er sich selbst zum äußern Gegenstande, wie alles andere ihm ist, alles ist darin durch äußere Verhältniße bestimmt. Wie es ihm erscheint, was er dabei sich denkt und fühlt, alles hängt ab vom Inhalte der Zeit, und von desjenigen Beschaffenheit, was ihn berührt hat. Wer mit thierischem Gemüthe nur den Genuß gesucht, dem scheint das Leben arm oder reich, nachdem der angenehmen Augenblike viel oder wenig verstrichen sind in gleicher Zeit, und dieses Bild betrachtet er mit Wohlgefallen oder nicht, je wie das Gute drin das erste oder lezte war. Wer Schönes bilden und genießen wollte, hängt ab vom Urtheil über sich, vom Boden auf | dem er stand, und von dem Stoff, den seiner Arbeit das Schiksal vorgelegt. So auch wer Gutes 5 zu wirken strebte. Es beugen alle sich dem Szepter der Nothwendigkeit, und seufzen unter dem Fluch der Zeit, die nichts bestehn läßt. Wie ihnen beim Leben, so ist mir zu Muthe, wenn mannigfaltiger Töne kunstreiche Harmonie dem Ohr vorbeigerollt und nun verhallt ist, mit dürftgem Nachklang sich die Fantasie zermartert, und die Seele dem nachseufzt, was nicht wiederkehrt. So freilich ist das Leben nur eine flüchtige Harmonie, aus der Berührung des Vergänglichen und des Ewigen entsprungen: aber es ist der Mensch ein bleibendes Werk, der Anschauung ein unvergänglicher Gegenstand. Nur sein innerstes Handeln, in dem sein wahres Wesen besteht, ist frei, und wenn ich dieses betrachte, fühle ich mich auf dem heiligen Boden der Freiheit, und fern von allen unwürdigen | Schranken. Auf mich selbst muß mein Auge gekehrt sein, um jeden Moment nicht nur verstreichen zu laßen als einen Theil der Zeit, sondern als Element der Ewigkeit ihn heraus zu greifen, und in ein höheres freieres Leben zu verwandeln. Nur für den giebts Freiheit und Unendlichkeit, der weiß was Welt ist und was Mensch, der klar das große Räthsel, wie beide zu scheiden sind, und wie sie in einander wirken, sich gelöst; ein Räthsel, in deßen alten Finsternißen tausend noch untergehn, und sklavisch, weil das eigne Licht verloschen, dem trügerischsten Scheine folgen müßen. Was sie Welt nennen, ist mir Mensch, was sie Mensch nennen, ist mir Welt. Welt ihnen stets das erste, und der Geist ein kleiner Gast nur auf der Welt, nicht sicher seines Orts und seiner Kräfte. Mir ist der Geist das erste und das einzige: denn was ich als Welt erkenne, ist sein schönstes Werk, sein selbstgeschaffener Spie | gel®. Es

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drüken sie mit Ehrfurcht und mit Furcht danieder, die unendlich großen und schweren Maßen des körperlichen Stoffes, zwischen denen sie sich so klein, so unbedeutend scheinen; mir ist das alles nur der große gemeinschaftliche Leib der Menschheit, wie der eigne Leib dem Einzelnen gehört, ihr angehörig, nur durch sie möglich und ihr mitgegeben, daß sie ihn beherrsche, sich durch ihn verkünde. Ihr freies Thun ist auf ihn hingerichtet, um alle seine Pulse zu fühlen, ihn zu bilden, alles in Organe zu verwandeln, und alle seine Theile mit der Gegenwart des königlichen Geistes zu zeichnen, zu beleben. Giebts einen Leib wol ohne Geist? ist nicht der Leib nur, weil und wann der Geist ihn braucht und seiner sich bewußt ist? Mein freies Thun ist jegliches Gefühl, das aus der Körperwelt hervorzudringen scheint, nichts ist Wirkung von ihr auf mich, das Wirken geht immer von mir auf sie7, sie ist nicht etwas von mir | verschiedenes, mir entgegengeseztes. Darum nenn ich sie auch nicht mit dem Namen Welt, dem hohen Worte, das Allgegenwart und Allmacht in sich schließt. Was Welt zu nennen ich würdige, ist nur die ewige Gemeinschaft der Geister, ihr Einfluß auf einander, ihr gegenseitig Bilden, die hohe Harmonie der Freiheit. Nur das unendliche All der Geister, sez ich mir dem Endlichen und Einzelnen entgegen. Dem nur verstatt idi zu verwandeln und zu bilden die Oberfläche meines Wesens, um auf midi einzuwirken. Hier, und nur hier ist der Nothwendigkeit Gebiet. Mein Thun ist frei, nicht so mein Wirken in der Welt8, das folget ewigen Gesezen. Es stößt die Freiheit an der Freiheit sich, und was geschieht, trägt der Beschränkung und Gemeinschaft Zeichen. Ja, du bist überall das erste, heiige Freiheit! du wohnst in mir, in Allen; N o t w e n d i g keit ist außer uns gesezt, ist der bestimmte Ton vom schönen | Zusammenstoß der Freiheit, der ihr Dasein verkündet. Mich kann ich nur als Freiheit anschaun; was nothwendig ist, ist nicht mein Thun, es ist sein Widerschein, es ist die Anschauung der Welt, die in der heiligen Gemeinschaft mit Allen ich erschaffen helfe. Ihr gehören die Werke, die auf gemeinschaftlichem Boden mit Andern ich erbaut: sie sind mein Antheil an der Schöpfung, die unsere inneren Gedanken darstellt*. Ihr gehören die Gefühle, die bald steigen und bald fallen; ihr die Bilder, die kommen und vergehn, und was sonst wechselnd ins Gemüth die Zeit bringt und hinweg nimmt: sie sind das Zeichen, daß Welt und Geist10 sich liebevoll begegnet, der Kuß der Freundschaft zwischen beiden, der sich anders immer wiederholt. Dies geht, der Tanz der Hören, melodisch und harmonisch nach dem Zeitmaaß; doch Freiheit spielt die Melodie und wählt die Tonart, und alle zar-

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ten Uebergänge sind ihr Werk. Sie ge | hen aus dem innern Handeln und aus dem eignen Sinn des Menschen selbst hervor. So bist du Freiheit mir in allem das ursprüngliche, daß erste und innerste. Wenn ich in midi zurükgeh, um dich anzuschaun, so ist mein Blik auch ausgewandert aus dem Gebiet der Zeit, und frei von der N o t w e n d i g k e i t Schranken; es weichet jedes drükende Gefühl der Sklaverei, es wird der Geist sein schöpferisches Wesen inne, das Licht der Gottheit geht mir auf, und scheucht die Nebel weit zurük, in denen jene Sklaven irrend wandern. Wie ich betrachtend mich erkennen und anschaun soll, hängt nicht mehr ab vom Schiksal oder Glük, noch auch davon, wie viel der frohen Stunden ich geerndtet, oder was zu Stande gekommen ist und feststeht durch mein Thun, und wie die äußere Darstellung dem Willen ist gelungen: das alles ist nur Welt, nicht ich. Es mochte das Handeln, welches ich betrachte, darauf gerichtet sein, | der Menschheit ihren großen Körper zu eignen, ihn zu nähren, die Organe ihm zu schärfen, oder mimisch und kunstreich ihn zu bilden zum Abdruk der Vernunft und des Gemüthes: wie ich ihn bei dem Geschäft zu meinem Dienst schon tüchtig fand, wie leicht zu bilden und zu beherrschen die rohe Maße durch des Geistes Macht, das ist ein Zeichen von der Herrschaft nur, die schon die Freiheit Aller über ihn geübt, ein Blik auf das, was noch zu thun verbleibt, und nicht ein Maaßstab meines Handelns; es ändert nicht die Anschauung von meiner That, das Bild von meinem ganzen Sein; mich fühl ich darum nicht beßer und nicht schlechter, ich finde mich nicht als den Sklaven, dem die Welt, die eiserne Nothwendigkeit bezeichnet, was er sein darf. Wie dem starken gesunden Geist der Schmerz die Herrschaft über seinen Leib nicht gleich entreißet: so fühl auch ich mich frei beseelend und regierend den rohen Stoff, gleich | viel ob Schmerz ob Freude folge. Es zeigen beide das innere Leben an, und inneres Leben ist des Geistes Werk und freie That. Und war mein Thun darauf gerichtet, die Menschheit in mir zu bestimmen, in irgend einer endlichen Gestalt und festen Zügen sie darzustellen, und so selbst werdend Welt zugleich zu bilden, indem ich der Gemeinschaft freier Geister ein eignes und freies Handeln darbot: es bleibt daßelbe dem darauf gewandten Blik, ob nun unmittelbar etwas daraus entstand, das gleich mir selbst als Welt begegnet, ob mein Handeln gleich dem Handeln eines Andern sich verband, ob nicht. Mein Thun war doch nicht leer, bin ich nur in mir selbst bestimmter und eigener geworden, so hab ich durch mein Werden auch Welt gebildet 11 , ob nun früher oder spät das Handeln eines Andern

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anders und neu auf meines trift und siditbare That vermählend stiftet. Nimmer kehr ich traurig von der Betrach | tung meiner selbst zurük, und singe dem gebrochenen Willen, dem überwundenen Entschluße Klagelieder, gleich denen welche nicht ins Innere dringen, und nur im Einzelnen und Aeußern sich selbst zu finden wähnen. Klar wie der Unterschied des Innern und Aeußern vor mir steht, weiß ich es, wer ich bin, und finde midi selbst im innern Handeln nur, im Aeußern nur die Welt, und beides weiß der Geist zu unterscheiden, nicht ungewiß wie Jene zwischen beiden schwankend in verwirrungsvoller Dunkelheit. So weiß ich auch, wo Freiheit ist zu suchen und ihr heiliges Gefühl, das dem sich stets verweigert, deßen Blik nur auf dem äußern Thun und Leben der Menschen weilet. Wie sehr er sich vertiefen mag in tausend Irrgängen der Betrachtung sinnend und denkend hin und her, und alles mag erreichen: den Begrif versagt sein Denken ihm. Er folgt nicht nur dem Winke | der N o t wendigkeit: in abergläubiger Weisheit in knechtischer Demuth muß er auch sie suchen, und sie glauben, wo er sie nicht sieht, und Freiheit scheint ihm nur ein Schleier über die verborgne und unbegrifne N o t wendigkeit betrügerisch gebreitet. So sieht der Sinnliche mit seinem äußern Thun und äußern Denken auch Alles einzeln nur und endlich. Er kann sich selbst nicht anders faßen als einen Inbegrif von flüchtigen Erscheinungen, da immer eine die andere aufhebt und zerstört, die nicht zusammen zu begreifen sind; ein volles Bild von seinem Wesen zerfließt in tausend Widersprüchen ihm. Wol widerspricht im äußern Wirken das Einzelne dem Einzelnen, das Wirken hebt Leiden auf, das Denken zerstört Empfindung, und das Anschauen dringt unthätige Ruhe dem Willen ab. Im Innern ist alles Eins, ein jedes Handeln ist Ergänzung nur zum andern, in jedem ist das andere auch enthalten. Drum hebt | auch weit über das Endliche, das in bestimmter Folge und festen Schranken sich übersehen läßt, die Selbstanschauung mich hinaus. Es giebt kein Handeln in mir, das ich vereinzelt recht betrachten, und keins, von dem ich sagen könnte, es sei ein Ganzes. Ein jedes Thun stellt mir mein ganzes Wesen dar, nichts ist getheilt, und jede Thätigkeit begleitet die andere; es findet die Betrachtung keine Schranken, muß immer unvollendet bleiben, wenn sie lebendig bleiben will. Mein ganzes Wesen kann ich wieder nicht vernehmen, ohne die Menschheit anzuschauen, und meinen Ort und Stand in ihrem Reich mir zu bestimmen; und die Menschheit, wer vermöchte sie zu denken, ohne sich mit dem Denken ins unermeßliche Gebiet und Wesen des reinen Geistes zu verlieren.

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Sie ist es also die hohe Selbstbetrachtung, und sie ist es allein, was mich in Stand sezt, die erhabene Forderung zu | erfüllen, daß der Mensch nicht sterblich nur im Reich der Zeit, auch im Gebiet der Ewigkeit unsterblich, nicht irdisch nur, auch göttlich soll sein Leben führen. Es fließt mein irdisch Thun im Strom der Zeit, es wandeln sich Erkenntniß und Gefühle, und ich vermag nicht eines fest zu halten; es fliegt vorbei der Sdiauplaz, den ich spielend mir gebildet, und auf der sichern Welle führt der Strom midi Neuem stets entgegen: so oft ich aber ins innere Selbst den Blik zurükwende, bin ich zugleich im Reich der Ewigkeit; ich schaue des Geistes Handeln 12 an, das keine Welt verwandeln, und keine Zeit zerstören kann, das selbst erst Welt und Zeit erschaft. Auch bedarf es nicht etwa der Stunde, die Jahre von Jahren trennt, um midi aufzufordern zum Genuß des Ewigen, und das Auge des Geistes zu weken, weldies schlafen kann, wenn auch das Herz schlägt, und die Glieder sich regen. Immer möchte das göttliche Leben | führen, wer es einmal gekostet hat: jegliches Thun soll begleiten der Blik in die Mysterien des Geistes, jeden Augenblick kann der Mensch außer der Zeit leben, zugleich in der höheren Welt. Es sagen zwar die Weisen13 selbst, mäßig sollest du dich mit Einem begnügen; Leben sei Eins, und im ursprünglichen und höchsten Denken sich verlieren ein Anderes; indem du getragen werdest von der Zeit geschäftig in der Welt, könnest du nicht zugleich ruhig dich anschauen in deiner innersten Tiefe. Es sagen die Künstler, indem du bildest und dichtest müße die Seele ganz verloren sein in das Werk, und dürfe nicht wißen was sie beginnt. Aber wage es mein Geist, troz der verständigen Warnung! eile entgegen deinem Ziele, das ein anderes vielleicht ist, als das ihre. Mehr kann der Mensch als er meint; aber auch dem Höchsten entgegenstrebend, erreicht er nur Einiges. Kann das heiligste innerste Den | ken des Weisen zugleich ein äußeres Handeln sein, hinaus in die Welt zur Mittheilung und Belehrung: warum soll denn nicht äußeres Handeln in der Welt, was es auch sei, zugleich sein können ein inneres Denken des Handelns? Ist das Schauen des Geistes in sich selbst die göttliche Quelle alles Bildens und Dichtens, und findet er nur in sich, was er darstellt im unsterblichen Werk: warum soll nicht bei allem Bilden und Dichten, das immer nur ihn darstellt, er auch zurükschauen in sich selbst? Theile nicht was ewig vereint ist, dein Wesen, das weder das Thun noch das Wißen um sein Thun entbehren mag, ohne sich zu zerstören! Bewege Alles in der Welt, und richte aus was du vermagst; gieb dich



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hin dem Gefühl deiner angebohrnen Schranken, bearbeite jedes Mittel der geistigen Gemeinschaft; stelle dar dein Eigentümliches", und zeichne mit deinem Geist alles was dich umgiebt; arbeite an den heiligen | Werken der Menschheit, ziehe an die befreundeten Geister: aber immer schaue in dich selbst, wiße was du thust, und in welcher Gestalt dein Handeln einhergeht. Der Gedanke, mit dem sie die Gottheit zu denken meinen, welche sie nimmer erreichen, hat doch für dich die Wahrheit einer schönen Allegorie auf das was der Mensch sein soll. Durch sein bloßes Sein erhält sich der Geist die Welt, und durch Freiheit giebt er sich die Thätigkeit, die immer ein und dieselbe sein wechselndes Handeln hervorbringt: aber unverrükt schaut er zugleich jene Thätigkeit an in diesem Handeln immer neu und immer dieselbe, und dies Anschaun ist Unsterblichkeit und ewiges Leben, denn es bedarf der Geist nichts als sich selbst, und es vergeht nicht die Betrachtung dem zurükbleibenden Gegenstand, noch stirbt der Gegenstand vor der überlebenden Betrachtung. So haben sie auch gedichtet die Unsterblichkeit, die sie allzugenügsam erst nach der Zeit | suchen statt neben der Zeit, und ihre Fabeln sind weiser als sie selbst. Es erscheint ja dem sinnlichen Menschen das innere Handeln nur als ein Schatten der äußeren That, und ins Reich der Schatten haben sie die Seele auf ewig gesezt, und gemeint, daß dort unten nur ein dürftiges Bild der frühern Thätigkeit ein dunkles Leben ihr friste: aber klarer als der Olymp ist das, was der dürftige Sinn verbannte in unterirdische Finsterniß, und das Reich der Schatten sei schon hier mir das Urbild der Wirklichkeit. Jenseit der zeitlichen Welt liegt ihnen ja die Gottheit, und die Gottheit anzuschaun und zu loben haben sie den Menschen nach dem Tode auf ewig befreit von den Schranken der Zeit: aber es schwebt schon jezt der Geist über der zeitlichen Welt, und ihn anzuschaun ist Ewigkeit und unsterblicher Gesänge himmlischer Genuß. Beginne darum schon jezt dein ewiges Leben in steter Selbstbetrachtung; sorge nicht um das, was | kommen wird, weine nicht um das, was vergeht: aber sorge dich selbst nicht zu verlieren, und weine, wenn du dahin treibst im Strome der Zeit, ohne den Himmel in dir zu tragen.

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II. Prüfungen. Es scheuen die Menschen in sich selbst zu sehn, und knechtisch erzittern Viele, wenn sie endlich länger nicht der Frage ausweichen können, was sie gethan, was sie geworden, wer sie sind. Aengstlich ist ihnen das Geschäft, und ungewiß der Ausgang. Sie meinen leichter könne ein Mensch den andern kennen, als sich selbst; sie glauben mit würdiger Bescheidenheit zu handeln, wenn sie nach der strengsten Untersuchung sich noch den Irrthum in der Rechnung vorbehalten. Doch ist es nur der Wille, der den Menschen vor sich selbst verbirgt; das Urtheil kann nicht irren, wenn er anders | den Blik nur wirklich auf sich wendet. Aber das ist es, was sie weder können noch mögen. Es halten das Leben und die Welt sie ganz gebunden, und absichtlich das Auge beschränket, um ja nidits anders wahrzunehmen, erbliken sie in ihnen nur den losen gauklerischen Widerschein von sich. Den Andern kann ich nur aus seinen Thaten kennen, denn ich schaue sein inneres Handeln niemals an. Was eigentlich er wollte kann ich unmittelbar nie wißen; nur die Thaten vergleich ich unter sich, und schließe daraus unsicher zurük, worauf die Handlung wol in ihm gerichtet war, und welcher Geist ihn trieb. O Schande wer sich selbst nur wie der Fremde den Fremden betrachtet! wer von seinem innern Handeln nichts weiß, und Wunder wie klug sich dünket, indem er nur den lezten aufs äußere Thun gerichteten Entschluß belausdiet, mit dem Gefühl das ihn begleitet, mit dem Begrif, der ihm unmittelbar voranging, ihn zu | sammenstellt! Wie will er je den Andern oder sich erkennen? was kann die schwankende Vermuthung leiten, beim Schluß vom Aeußern auf das Innere, dem der auf keinen entschiedenen Fall auf nichts unmittelbar Gewißes baut? Das sichere Vorgefühl des Irrthums erzeugt die Bangigkeit; die dunkele Ahndung, daß er selbstverschuldet sei, beengt das Herz; und unstät schweifen

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die Gedanken aus Furcht vor jenem kleinen Antheil des Selbstbewußtseins, den sie herabgewürdigt zum Zuchtmeister bei sich tragen, und ungern öfters hören müßen. Wol haben sie Ursach zu besorgen, wenn sie redlich das innere Thun, das ihrem Leben zum Grunde lag erforschten, sie möchten oft die Menschheit nicht darin erkennen, und das Gewißen, dieses Bewußtsein der Menschheit schwer verlezet sehn: denn wer sein leztes Handeln nicht betrachtet hat, kann auch nicht Bürgschaft | leisten, ob er beim nächsten noch bedenkt, daß er ihr angehöre, und ihrer werth sich zeiget. Den Faden des Selbstbewußtseins hat er einmal zerrißen, hat sich einmal nur der Vorstellung und dem Gefühl ergeben, das er mit dem Thiere theilt: wie kann er wißen, ob er nicht in plumpe Thierheit ist hinabgestürzt? Die Menschheit in sich zu betrachten, und, wenn man einmal sie gefunden, nie den Blik von ihr zu verwenden, ist das einzige sichere Mittel, von ihrem heiigen Boden nie sich zu verirren. Dis ist die innige und nothwendige, nur Thoren und Menschen trägen Sinnes unerklärte und geheimnißvolle Verbindung zwischen Thun und Schauen. Ein wahrhaft menschlich Handeln erzeugt das klare Bewußtsein der Menschheit in mir, und dies Bewußtsein läßt kein anderes als der Menschheit würdiges Handeln zu. Wer sich zu dieser Klarheit nie erheben kann, den treibt vergeblich dunkle Ahndung nur | umher; vergebens wird er erzogen und gewöhnt, und sinnt sich tausend Künsteleien aus, und faßt Entschlüße um sich gewaltsam in die Menschheit wieder hinein zu drängen: es öfnen sich die heiigen Schranken nicht, er bleibt auf ungeweihtem Boden, und kann nicht der gereizten Gottheit Verfolgungen entgehen, und dem schmähligen Gefühle der Verbannung aus dem Vaterlande. Eitler Tand ists immer und leeres Beginnen, im Reich der Freiheit Regeln geben und Versuche machen. Ein einziger freier Entschluß15 gehört dazu ein Mensch zu sein: wer den einmal gefaßt, wirds immer bleiben; wer aufhört es zu sein, ists nie gewesen. Mit stolzer Freude denk ich noch der Zeit, da ich die Menschheit fand, und wußte, daß ich nie mehr sie verlieren würde. Von innen kam die hohe Offenbarung durch keine Tugendlehren und kein System der Weisen hervorgebracht: das lange | Suchen, dem nicht dies nicht jene genügen wollten, krönte ein heller Augenblick; es löste die dunkeln Zweifel die Freiheit durch die That. Ich darf es sagen, daß ich nie seitdem mich selbst verlaßen. Was sie Gewißen nennen, kenne ich nicht mehr18; es straft mich kein Gefühl, es braucht mich keines zu mahnen. Auch streb ich nicht seitdem nach der und jener Tugend, und

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freue midi besonders dieser oder jener Handlung, wie Jene, denen nur im flüchtigen Leben einzeln und bisweilen ein zweifelhaftes Zeugniß der Vernunft erscheint. In stiller Ruhe, in wechselloser Einfalt führ ich ununterbrochen das Bewußtsein der ganzen Menschheit in mir. Gern und leichtes Herzens seh ich oft mein Handeln im Zusammenhang, und sicher, daß ich nirgend etwas, was die Menschheit verläugnen müßte, finden werde. Wenn dies das Einzige wäre, was ich von mir fordere: wie lange könnt ich mich zur Ruhe | begeben, und vollendet das Ende suchen! Denn unerschüttert fest steht die Gewißheit, und strafwürdige Feigheit, die mein Sinn nicht kennt, scheint mirs, wenn ich von langer Lebenszeit erst vollere Bestätigung erwarten, und bange zweifeln wollte, ob nicht doch etwas sich ereignen könnte, was im Stande wäre mich hinabzustürzen von der Höhe der Vernunft zur Thierheit. Aber Zweifel sind auch mir noch mitgegeben: es ist ein anderes und höheres Ziel mir aufgegangen, als jenes erreicht war, und bald stärker bald schwächer es im Auge habend weiß nicht immer die Selbstbetrachtung, auf welchem Wege ich mich ihm nähere, und auf welchem Punkte ich stehe, und schwankt im Urtheil. Doch wird es sicherer und bestätigt sich mehr, je öfter ich wiederkehre zur alten Untersuchung. Wär aber auch Gewißheit mir noch so fern, ich wollte doch nur schweigend suchen und nicht klagen: denn stärker als der Zweifel ist die Freude, | gefunden zu haben, was ich suchen soll, und dem gemeinen Wahn entronnen zu sein, der viele der Beßeren zeitlebens täuscht, und sie verhindert, zur rechten Höhe der Menschheit sich empor zu schwingen. Lange genügte es auch mir nur die Vernunft gefunden zu haben, und die Gleichheit des Einen Daseins als das Einzige und Höchste anbetend, glaubte ich es gebe nur Ein Rechtes für jeden Fall, es müße das Handeln in Allen daßelbe sein, und nur weil Jedem seine eigne Lage, sein eigner Ort gegeben sei, unterscheide sich Einer vom Andern. Nur in der Mannigfaltigkeit der äußern Thaten offenbare sich verschieden die Menschheit; der Mensch, der Einzelne sei nicht ein eigentümlich gebildet Wesen, sondern nur ein Element und überall derselbe 1 ". So treibts der Mensch! wenn er die unwürdige Einzelheit des sinnlichen thierischen Lebens verschmähend das Bewußtsein der allgemeinen Menschheit gewinnt, und vor | der Pflicht sich niederwirft, vermag er nicht sogleich auch zu der höhern Eigenheit der Bildung und der Sittlichkeit empor zu dringen, und die Natur, die sich die Freiheit selbst erwählt, zu sdiauen und zu verstehn. In unbestimmter Mitte schwebend erhalten sich die Meisten, und stellen wirklich nur im

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rohen Element die Menschheit dar, bloß weil sie den Gedanken des eignen höhern Daseins nicht gefaßt. Mich hat er ergriffen. Es beruhigte mich nicht das Gefühl der Freiheit allein; unnüz schien mir die Persönlichkeit und die Einheit des fließenden vergänglichen Bewußtseins in mir, und drängte mich etwas Höheres Sittliches zu suchen, deßen Bedeutung sie wäre. Es genügte mir nicht, die Menschheit in ungebildeten rohen Maßen anzuschaun, welche innerlich sich völlig gleich, nur äußerlich durch Reibung und Berührung vorübergehende flüchtige Phänomene bilden. So ist mir aufgegangen, was jezt | meine höchste Anschauung ist, es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles was aus ihrem Schooße hervorgehen kann. Der Gedanke allein hat mich empor gehoben und gesondert von dem Gemeinen und Ungebildeten das midi umgiebt, zu einem Werk der Gottheit, das einer besondern Gestalt und Bildung sich zu erfreuen hat; und die freie That, die ihn begleitete, hat um sich versammelt und innig verbunden zu einem eigenthümlichen Dasein die Elemente der menschlichen Natur. Hätt ich seitdem das Eigene in meinem Thun auch so unausgesezt betrachtet, wie ich das Menschliche drin immer angeschaut; wär ich jedes Handelns und Beschränkens, das Folge ist von jener freien That, mir eigens bewußt geworden, und | hätt ich unverrükt der weitern Bildung und jeder Aeußerung der Natur redit zugesehen: so könnt ich auch darüber keinen Zweifel tragen, welches Gebiet der Menschheit mir angehört, und wo von meiner Ausdehnung und meinen Schranken der gemeinschaftliche Grund zu suchen ist; den ganzen Inhalt meines Wesens müßt ich genau ermeßen, auf allen Punkten meine Grenzen kennen, und prophetisch wißen, was ich noch sein und werden kann. Allein nur schwer und spät gelangt der Mensch zum vollen Bewußtsein seiner Eigenthümlichkeit; nicht immer wagt ers drauf hinzusehn, und richtet lieber das Auge auf den Gemeinbesiz der Menschheit, den er so liebend und so dankbar fest hält; er zweifelt oft, ob er sich als ein eignes Wesen wieder aus ihm ausscheiden soll, aus Furcht zurükzusinken in die alte strafwürdige Beschränktheit auf den engen Kreis der äußeren Persönlichkeit, das Sinnliche | verwechselnd mit dem Geistigen, und spät erst lernt er recht das höchste Vorrecht schäzen und gebrauchen. So muß das unterbrochene Bewußtsein lange schwankend bleiben; das eigenste Bestreben der Natur wird oftmals nicht bemerkt, und

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wenn am deutlichsten sich ihre Schranken offenbaren, gleitet an der scharfen Eke das Auge allzuleicht vorbei, und hält da nur das Allgemeine fest, wo eben in der Verneinung sich das Eigne zeigt. Zufrieden darf idi damit sein, wie schon der Wille die Trägheit hat gezähmt, und wie die Uebung den Blik geschärft, dem wenig mehr entgeht. Wo ich jezt, was es sei, nach meinem Geist und Sinne handle, da stellt die Fantasie zum deutlichsten Beweise der freien Wahl17 noch tausend Arten vor, wie ohne der Menschheit Geseze zu verlezen anders gehandelt werden konnte, in anderm Geist und Sinn; ich denke midi in tausend Bildungen hinein, um desto deutlicher die eigne zu erbliken. | Doch weil noch nicht vollendet das Bild in allen Zügen vor mir steht, und weil noch nicht der immer ununterbrochene Zusammenhang des hellen Selbstbewußtseins mir seine Wahrheit bürgt, darf auch noch nicht in immer gleicher und ruhiger Haltung die Selbstbetrachtung gehn, absichtlich muß sie öfter sich das ganze Thun und Streben und die Geschichte meines Selbst vergegenwärtigen, darf der Freunde Meinung, die ich gern ins Innere schauen ließ, nicht überhören, wenn ihre Stimme von dem eignen Urteil abweicht. Zwar schein ich mir derselbe noch zu sein, der ich gewesen, als mein beßeres Leben anfing, nur fester und bestimmter. Wie sollt auch wohl der Mensch, nachdem er einmal zum unabhängigen und eigenen Dasein gelangt ist, mitten im Werden und sich Bilden plözlich eine andere Natur annehmen, eine andere Seite der Menschheit ergreifen, ohne die erste zur höchsten Vollkommenheit gebracht zu haben? | wie sollt ers wollen können? wie sollt es ihm begegnen, ohne daß ers wüßte? Entweder hab ich nie mich selbst verstanden, oder ich bin noch jezt der ich zu sein geglaubt, und jeder scheinbare Widerspruch muß mir, wenn die Betrachtung ihn gelöst, nur um so sicherer zeigen, wo und wie die lezten Enden meines Wesens verborgen und verbunden sind. Noch immer scheint der zwiefache Beruf der Menschen auf der Erde, mir die große Trennungslinie der verschiedenen Naturen anzudeuten. Zu sehr ists zweierlei die Menschheit in sich zu einer entschiedenen Gestalt zu bilden und in mannigfachem Handeln sie darzustellen, oder sie kunstreiche Werke verfertigend äußerlich so abzubilden, daß jeder erbliken muß, was einer zeigen wollte. Nur wer noch auf dem niedrigsten Gebiet im Vorhof der Eigenheit sich aufhält, und sich aus Furcht vor der Beschränkung nicht fest bestimmen will, kann beides vereinen wollen, um in | beidem Weniges zu

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leisten: wer Eines wirklich erreichen will, der muß das Andere sich versagen, erst am Ende der Laufbahn giebts einen Uebergang, nur der Vollkommenheit zugänglich, die selten der Mensch erreicht. Wie könnte mirs zweifelhaft erscheinen, welchen von beiden ich gewählt? so ganz entschieden vermied ich das zu suchen, was den Künstler macht, so sehnsuchtsvoll ergriff ich Alles, was der eigenen Bildung frommt, und ihre Bestimmung beschleunigt und befestigt. Es jagt der Künstler Allem nach, was Zeichen und Symbol der Menschheit werden kann; er wühlt den Schatz der Sprachen durch, das Chaos der Töne bildet er zur Welt; er sucht geheimen Sinn und Harmonie im schönen Farbenspiele der Natur; in jedem Werk das ihm sich darstellt, ergründet er den Eindruk aller Theile, des Ganzen Zusammensezung und Gesez, und freuet sich des kunstreichen Gefäßes mehr als des köstlichen Ge | haltes, den es darbeut. Dann bilden sich neue Gedanken zu neuen Werken in ihm, sie nähren heimlich sich im Gemüth und wachsen in stiller Verborgenheit gepflegt. Es rastet nimmer der Fleiß, es wechselt Entwurf und Ausführung, es beßert immer allmählig die Uebung unermüdet, das reifere Urtheil zügelt und bändigt die Fantasie: so geht die bildende Natur entgegen dem Ziele der Vollkommenheit. Mir aber hat dies Alles nur der Sinn erspäht, denn meinen Gedanken ist es fremd. Aus jedem Kunstwerk strahlet mir die Menschheit, die drinn abgebildet, weit heller hervor als des Bildners Kunst; nur mit Mühe ergreif ich diese in späterer Betrachtung, und erkenne ein wenig nur von ihrem Wesen. Ich lasse frei die freie Natur, und wie sie ihre schönen bedeutungsvollen Zeichen mir darbeut, weken sie Empfindung in mir und Gedanken, ohne daß es mich gewaltsam drängte sie anders und bestimmter zu eignem | Werke zu gestalten. Ich strebe nicht bis zur Vollendung den Stoff zu zwingen, dem ich meinen Sinn eindrüke; drum scheue ich Uebung, und wenn ich einmal in Handlung dargestellt, was in mir wohnt, liegt mirs nicht an, daß etwas schöner immer und faßlicher die That sich oft erneue. Die freie Muße ist meine liebe Göttin, da lernt der Mensch sich selbst begreifen und bestimmen, da gründet der Gedanke seine Macht, und herrscht dann leicht über Alles, wenn die Welt auch Thaten von ihm fordert. Drum darf ich auch nicht, wie der Künstler, einsam bilden; es troknen mir in der Einsamkeit die Säfte des Gemüths, es stoket der Gedanken Lauf; ich muß hinaus in mancherlei Gemeinschaft mit den andern Geistern zu schauen, was es für Menschheit giebt, und was davon mir fremde bleibt, was mein eigen werden kann, und immer fester

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durch Geben und Empfangen das eigne Wesen zu bestimmen. | Der ungestillte Durst es weiter stets zu bilden verstattet nicht der That, der Mittheilung des Innern auch äußere Vollendung zu geben; ich stelle die Handlung und die Rede hin in die Welt, es kümmert mich nicht, ob auch die Schauenden mit ihrem Sinn durchdringen durch die rauhe Schale, ob sie den innersten Gedanken, den eignen Geist auch in der unvollkommnern Darstellung glüklich finden. Mir bleibet nicht die Zeit, nicht Lust zu fragen; fort muß ich von der Stelle da ich stand, durch neues Thun und Denken im kurzen Leben noch das eigne Wesen, wenn es möglich, zu vollenden. Schon zweimal zu wiederholen haß ich, ein unkünstlerisch Gemüth. Drum mag ich alles gern in Gemeinschaft treiben: beim innern Denken, beim Anschaun, beim Aneignen des Fremden bedarf ich irgend eines geliebten Wesens Gegenwart, daß gleich an die innere That sich reihe die Mittheilung, und durch die süße und leichte | Gabe der Freundschaft ich mich leicht abfinde mit der Welt. So war es, so ist es, und noch bin ich so fern von meinem Ziele, daß ichs verrechne jemals hinüber zu kommen. Wohl hab ich Recht, was auch die Freunde sagen18, mich auszuschließen aus dem heiligen Gebiet der Künstler. Gern sag ich Allem ab, was sie mir liehen, wenn ich nur in dem Felde, wo ich mich hingestellt, mich weniger unvollendet finde als sie wähnen. Oefne dich mir noch einmal, Anschauung des weiten Gebietes der Menschheit, das die bewohnen, die nur sich selbst zu bilden, und ohne bleibend Werk hervorzubringen, in wechselreichem Thun sich darzustellen streben! Oefne dich noch einmal, und laß mich schauen ob mir ein eigner Platz gebührt, ob nicht; ob in mir ist was sich zusammenreimet, oder ob ein innerer Widerspruch verhindert, daß das Bild sich schließe, und bald als ein verunglükter | Entwurf mein eignes Wesen statt die Vollendung zu erreichen sich auflöst in ein leeres Nichts. O nein, ich darf nicht fürchten, es erhebt sich kein trauriges Gefühl im Innern des Bewußtseins! ich erkenne wie Alles ineinander greift ein wahres Ganzes zu bilden, ich fühle keinen fremden Bestandtheil der mich drükt, es fehlt mir kein Organ, kein edles Glied zum eignen Leben. Wer sich zu einem bestimmten Wesen bilden will, dem muß der Sinn geöfnet sein für Alles was er nicht ist. Auch hier im Gebiet der höchsten Sittlichkeit regiert dieselbe genaue Verbindung zwischen Thun und Schauen. N u r wenn der Mensch im gegenwärtgen Handeln sich seiner Eigenheit bewußt ist, kann er sicher sein, sie auch im Nächsten 1 ' nicht zu verlezen; und nur wenn er von sich beständig fordert die ganze Menschheit anzuschaun, und jeder



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andern Darstellung von ihr sidi und die seinige entgegen zu sezen, kann er das Bewußtsein seiner Eigenheit | erhalten: denn nur durch Entgegensezung wird das Einzelne erkannt. Die höchste Bedingung der eigenen Vollendung im bestimmten Kreise ist allgemeiner Sinn. Und dieser, wie könnt er wol bestehen ohne Liebe? Es müßte das furchtbare Mißverhältniß zwischen Geben und Empfangen bald das Gemüth im ersten Versuch sich so zu bilden zerrütten, und weit hinaus es treiben aus der Bahn, und den, der so ein eignes Wesen werden wollte, ganz zertrümmern, oder zur Gemeinheit ihn herunterstürzen. J a Liebe, du anziehende Kraft der Welt! Kein eignes Leben und keine Bildung ist möglich ohne dich, ohne dich müßt alles in gleichförmige rohe Maße zerfließen! Die weiter nichts zu sein begehren, bedürfen deiner nicht; ihnen genügt Gesez und Pflicht, gleichförmig Handeln und Gerechtigkeit. Ein unbrauchbares Kleinod war ihnen das heilige Gefühl: drum laßen sie auch das Wenige, was ihnen da | von gegeben ist, nur ungebaut verwildern; und das Heilige verkennend, werfen sie es sorglos mit ein in das gemeine Gut der Menschheit, das nach Einem Gesez verwaltet werden soll. Uns aber bist du das Erste wie das Lezte: Keine Bildung ohne Liebe, und ohne eigne Bildung keine Vollendung in der Liebe; Eins das Andere ergänzend wächst beides unzertrennlich fort. Vereint fühl idi in mir die beiden höchsten Bedingungen der Sittlichkeit! Ich habe Sinn und Liebe zu eigen mir gemacht, und immer höher steigen beide nodi, zum sichern Zeugniß, daß frisch und gesund das Leben sei, und daß noch fester die eigne Bildung werde. Was ists, wofür mein Sinn verschloßen wäre? Die welche Jeden gern zum Virtuosen und Künstler in der Wißenschaft erheben möchten, klagen genug, daß keine Beschränkung von mir zu gewinnen sei, daß jede Hofnung trüge, wenn es einmal scheint, als wollt ich alles Ernstes mich zu etwas | begeben: denn wenn ich eine Ansicht mir errungen, so eile nach gewohnter Weise der flüchtige Geist bald wieder zu andern Gegenständen fort. O möchten sie doch einmal mich in Ruhe laßen und begreifen, daß nicht anders meine Bestimmung ist, daß ich die Wißenschaft nicht bilden darf, weil ich mich selbst zu bilden gesonnen bin! Vergönnten sie mir doch den Sinn für Alles, was sie geschäftig thun und treiben, mir offen zu erhalten, und möchten sie, was durch das Anschaun ihres Thuns ich in mir bilde, doch auch für etwas achten, das ihrer Mühe werth gewesen sei. Sie zeugen durch ihre Klagen für mich: aber ihnen entgegen klagen Andere, die zwar verschiedener Natur, doch gleich mir in die Mitte der Menschheit einzudringen streben, es sei im Grunde beschränkt

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mein Sinn; ich vermocht es über mich gleichgültig vor vielem Heiligen vorüberzugehen, und durch eitle Streitsucht den unbefangenen tiefen | Blik mir zu verderben. Ja ich gehe vor Vielem noch vorüber; aber nicht gleichgültig; ich streite, ja: doch nur um unbefangen den Blik mir zu erhalten. So und nicht anders muß ich thun nach meiner Art, bestrebt gleichförmig mir den Sinn zu füllen und zu erweitern. Wo sich mir das Gefühl von etwas, das im Gebiet der Menschheit mir noch unbekannt ist, aufdringt, da ist mein Erstes zu streiten, nicht ob es sei, nur daß es nicht das, und das allein sei, wofür es der mir giebt, an dem ich es zuerst erblikte. Es fürchtet der spät erwachte Geist, erinnernd wie lange er fremdes Joch20 getragen, immer wieder aufs neue die Herrschaft fremder Meinung; und wo ein neuer Gegenstand ihm neues Leben zeigt, da rüstet er sich erst, die Waffen in der Hand, sich Freiheit zu erringen, um nicht in der Erziehung Sklaverei ein jedes wieder, wie das Erste, anzuheben. H a b ich die eigne Ansicht nur gewonnen, so ist die | Zeit des Streits vorüber, ich laße gern jede neben der meinigen bestehn, und der Sinn vollendet friedlich das Geschäft sich jede zu deuten, und in ihren Standpunkt einzudringen. So ist, was oft Beschränkung des Sinnes scheinen könnte, in mir nur seine erste Regung. Oft hat sie freilich sich äußern müßen, in dieser schönen Periode des Lebens, wo so vieles Neue midi berührt, wo manches mir im hellen Lichte erschien, was ich bisher nur dunkel geahndet, wofür ich nur den Raum mir leer gelaßen hatte! Oft hat sie feindlich die berühren müßen, die mir der neuen Einsicht Quelle waren. Gelaßen habe ich es angesehn, vertrauend, daß sie es verstehen würden, wenn auch in mich ihr Sinn erst tiefer dränge. So haben mich auch oft die Freunde nicht verstanden, wenn ich nicht streitend aber untheilnehmend ruhig vor dem vorüberging, was sie mit Wärme und frischem Ei | fer rasch umfaßten. Nicht Alles kann auf einmal der Sinn ergreifen, vergeblich ists in einer einzigen Handlung sein Geschäft vollenden wollen; unendlich geht es in zwiefacher Richtung immer fort, und Jeder muß seine Weise haben, wie er beides vereint, um so das Ganze zu vollbringen. Mir ists versagt, wenn etwas Neues das Gemüth berührt, mit heftgem Feuer gleich ins Innerste der Sache zu dringen, und bis zur Vollendung sie zu kennen. Ein solches Verfahren ziemt der Gleichmuth nicht, die zu der Harmonie von meinem Wesen der Grundton ist. Heraus aus meines Lebens Mitte würde es mich werfen, so mir etwas zu vereinzeln, und in dem Einen mich vertiefend würd idh das Andre mir entfremden, ohne Jenes doch als

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mein wahres Eigenthum zu haben21. Niederlegen muß ich erst jede neue Erwerbung im Innern des Gemüths, und dann das gewohnte Spiel des Lebens mit seinem mannigfaltigen Thun | forttreiben, daß sich mit dem Alten das Neue erst misdie, und Berührungspunkte gewinne mit Allem was schon in mir war. Nur so gelingt es mir durch Handeln mir22 eine tiefere und innigere Anschauung zu bereiten; es muß der Wechsel zwischen Betrachtung und Gebrauch gar oft sich wiederholen, ehe ich etwas ganz durchdrungen und ergründet zu haben mich erfreuen mag. So und nicht anders darf ich zu Werke gehn, wenn nicht mein inneres Wesen verlezt soll werden, weil in mir Selbstbildung und Thätigkeit des Sinnes in jeglichem Momente das Gleichgewicht sich halten müßen. So schreit ich denn langsam fort, und langes Leben kann mir gewährt sein, ehe ich Alles in gleichem Grad umfaßt: doch alles was ich umfaßt wird meinen Stempel tragen, und wieviel vom unendlichen Gebiet der Menschheit meine Sinne ergriffen hat, das wird in gleichem Maaß | auch in mir eigen gebildet und in mein Wesen übergegangen sein. O wie viel reicher ist es geworden! welches schöne Bewußtsein des innern Werthes, welch erhöhetes Gefühl des eignen Lebens und Daseins krönt mir die Selbstbetrachtung beim Blik auf den Gewinn so vieler guten Tage! Nicht war vergebens die stille Thätigkeit, die ungeschäftig müßges Leben von außen scheint: schön hat sie das innere Werk der Bildung gefördert. Es wäre nicht so weit gediehen bei verkehrtem Handeln und Treiben, das der eignen Natur nicht angemeßen, noch minder bei beschränktem Sinn. O Jammer, daß des Menschen inneres Wesen so mißkannt werden kann, von denen selbst, die wohl es überall zu kennen vermöchten und verdienten! daß doch auch ihrer so viele mit dem äußern Thun das innere Handeln verwechseln, dies wie jenes im Einzelnen aus abgerißenen Stüken zu erkennen meinen, und | wo Alles übereinstimmt Widersprüche ahnden! Ist denn der eigne Charakter meines Wesens so schwer zu finden? Versagt mir diese Schwierigkeit auf immer den liebsten Wunsch meines Herzens sich allen Würdigen mehr und mehr zu offenbaren? Ja, auch jezt, indem ich tief in mein Inneres schaue, bestätigt sich aufs neue mir, daß dies der Trieb sei der am stärksten mich bewegt. So ists, wie oft mir auch gesagt wird, ich sei verschloßen und stoße der Lieb und Freundschaft heiiges Anerbieten oft kalt zurük. Wohl dünkt michs niemals nöthig von dem was ich gethan, was mir geschehen ist, zu reden; zu unbedeutend acht ich Alles, was an mir Welt ist, als daß ich den damit verweilen sollte, den ich das Innere gern erkennen

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ließe. Auch red' ich davon nicht, was nur noch dunkel und ungebildet in mir liegt, und noch der Klarheit mangelt, die es erst zum Meinigen macht. Wie sollt ich eben das dem Freund | entgegen tragen, was mir noch nicht gehört? warum ihm dadurch, was ich schon wirklich bin, verbergen? wie sollt ich hoffen ohne Mißverstand das mitzutheilen, was ich selbst noch nicht verstehe? Das ist nicht Verschloßenheit und Mangel an Liebe: es ist nur heilige Ehrfurcht, ohne welche die Liebe nichts ist; es ist zarte Sorgfalt das Höchste nicht zu entweihn noch unnüz zu verstriken. So bald ich etwas Neues mir angeeignet, an Bildung und Selbstständigkeit hie oder dort gewonnen, eile ich nicht in Wort und That dem Freund es zu verkünden, daß er die Freude mit mir theile, und meines innern Lebens Wachsthum wahrnehmend selbst gewinne? Wie mich selbst lieb ich den Freund: sobald ich etwas für mein erkenne, gebe ichs ihm hin. So nehm ich freilidi auch an dem, was er thut und was ihm geschieht, nicht immer so großen Antheil, als die meisten die sich Freunde nennen. Sein äußeres Handeln, | wenn ich das Innere, aus dem es herfließt schon verstehe, und weiß daß es so sein muß, weil er so ist wie er ist, läßt mich so unbesorgt und ruhig. Es giebt meiner Liebe weder Nahrung noch Aufforderung, hat nichts mit ihr zu schaffen. Der Welt gehörts und unter der Nothwendigkeit Geseze muß es sich fügen mit Allem was draus folgt; und was nun folget, was dem Freund geschiehet, er wird es schon mit Freiheit seiner würdig zu behandeln wißen; das Andere kümmert mich nichts, ich sehe ruhig seinem Schicksal wie dem meinen zu. Wer achtet das für kalte Gleichgültigkeit? Es ist das helle Bewußtsein des Gegensazes zwischen Welt und Mensch, der Grund, worauf die Achtung gegen midi und das Gefühl der Freiheit ruht: soll ich dem Freund es weniger weihen als mir? Das ist es, deßen ich mich höchlich rühme, daß Lieb und Freundsdiaft immer so edlen Ursprungs in mir sind, mit keiner | gemeinen Empfindung je gemischt, nie der Gewohnheit, nie des weichen Sinnes Werk, immer der Freiheit reinste That, und auf das eigne Sein des Menschen allein gerichtet. Verschloßen war ich immer jenen gemeinen Gefühlen: nie hat mir Wohlthat Freundschaft abgelokt, nie Schönheit Liebe, nie hat das Mitleid mich so befangen, daß es dem Unglük Verdienst geliehen, und den Leidenden mir anders und beßer dargestellt. So war für wahre Liebe und Freundschaft freier Raum gelaßen dem Gemüth, und nimmer weicht die Sehnsucht ihn vollkommener stets und mannigfaltiger auszufüllen. Wo ich Anlage merke zur Eigentümlichkeit, weil Sinn und Liebe die hohen Bürgen

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da sind, da ist auch für mich ein Gegenstand der Liebe. Jedes eigne Wesen möcht idi mit Liebe umfaßen von der unbefangenen Jugend an in der die Freiheit keimet, bis zur reifsten Vollendung der Menschheit; jedes das ich so | erblike begrüß ich in mir mit der Liebe Gruß, wenn auch die That nur angedeutet bleibt, weil mehr nicht als ein flüchtiges Begegnen uns vergönnet wird. Auch meß ich nie nach irgend einem weltlichen Maaßstab, nach der äußern Ansicht des Menschen ihm Freundschaft zu. Es überflieget Welt und Zeit der Blik, und sucht die innere Größe des Menschen auf. Ob schon jezt sein Sinn viel oder wenig hat umfaßt, wie weit er in der eignen Bildung fortgerükt, wie viel er Werke gebildet oder sonst gethan, das darf mich nicht bestimmen, und leicht kann ich mich trösten, wenn es fehlt. Sein eigenthümlich Sein und das Verhältniß deßelben zur Menschheit, ist es, was ich suche: so viel ich jenes finde und dieses verstehe, so viel Liebe hab ich für ihn; allein so viel er midi versteht kann ich ihm freilich nur beweisen23. Ach oft ist sie mir unbegriffen zurükgekehrt! des Herzens Sprache wurde nicht vernommen gleich als war ich stumm | geblieben, und Jene meinten auch ich wäre stumm. In nahen Bahnen wandeln oft die Menschen, und kommen doch nicht einer in des andern Nähe; vergebens ruft der Ahndungsreiche und den nach freundlicher Begegnung verlangt: es horcht der Andere nicht. Oft kommen die Entgegengesetzten einander nah; es meint der Eine wohl es sei für immer, doch ists nur ein Moment; es reißt entgegengesezte Bewegung sie zurük, und keiner begreift wo ihm der Andere hingekommen. So ist es meiner Sehnsucht nach Liebe oft ergangen; wär es schmählig nicht, wenn sie nicht endlich sich gebildet hätte, die allzuleichte Hofnung geflohen wäre, und ahndungsreiche Weisheit eingekehrt? „So viel wird Der von dir verstehn, und Jener jenes; mit dieser Liebe magst du Den umfaßen, halte sie gegen Jenen doch zurük:" so ruft mir Mäßigung oft zu, und oft vergebens. Es läßt der | innere Drang des Herzens nicht der Klugheit Raum; viel weniger, daß die stolze Anmaßung ich hegte, den Menschen und ihrem Sinn für mich und meine Liebe Schranken zu sezen. Mehr seze ich immer voraus, versuche stets aufs neue, und werde der Habsucht gleich gestraft, oft im Versuch verlierend was ich hatte. Doch es kann nicht anders dem Menschen der sich eigen bildet ergehn, und daß es so mir geht ist nur der sicherste Beweis, daß ich mich eigen bilde. Nur ein solcher vereinigt in sich auf eigne Art verschiedene Elemente der Menschheit; mehr als Einer Welt gehört er an: wie könnte er in gleichförmiger Bahn mit einem Andern wandelnd, der auch ein Eigner ist,

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in seiner Nähe immer bleiben? Kometen gleich verbindet der Gebildete gar viele Weltsysteme, bewegt um manche Sonne sich. Jezt erblikt ihn freudig ein Gestirn, es strebt ihn zu erkennen und freundlich beugt er nähernd sich heran; dann siehts | ihn wieder in fernen Räumen, verändert scheint ihm die Gestalt, es zweifelt, ob er noch derselbe sei. Er aber kehret wieder im rasdien Lauf, begegnet ihm wieder mit Lieb und Freundschaft. Wo ist das schöne Ideal vollkommener Vereinigung? die Freundschaft, die gleich vollendet auf beiden Seiten ist? Nur wenn in gleichem Maaße Beiden Sinn und Liebe fast über alles Maaß hinaus gewachsen sind. Dann aber sind mit der Liebe zugleich auch sie vollendet, und es schlägt die Stunde — o Allen hat sie früher schon geschlagen! — der Unendlichkeit sich wieder zu geben, und in ihren Schooß zurükzukehren aus der Welt.

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III. Weltansicht. Das trübe Alter, meinen sie, dürfe nur den Klagen Raum vergönnen über die Welt: verzeihlich sei es, wenn lieber sich das Auge hinüberwende zur beßern Zeit des eignen Lebens in voller Stärke. Die fröhliche Jugend müße froh die Welt anlächeln, und nicht achtend des Mangelnden, was da ist nuzen, und der Hofnung süßen Täuschungen gern vertraun. Doch Wahrheit sehe nur der, die Welt zu richten verstehe nur der, welcher zwischen den beiden sich in sicherer Mitte glüklich halte, nicht eitel trauernd noch trüglich hoffend. Solche Ruh ist | nur der thörichte Uebergang von der Hofnung zur Verachtung; solche Weisheit nur der dumpfe Wiederhall der gern zurückgehaltenen Schritte, mit denen sie aus der Jugend ins Alter gleiten; diese Zufriedenheit ist nur verkehrter höflicher Betrug, der nicht die Welt, die ihn ja bald verläßt, zu schmähen scheinen will, noch weniger sich selbst auf einmal Unrecht geben; dies Lob ist Eitelkeit, die ihres Irrthums sich schämt, Vergeßenheit die nicht mehr weiß, was sie vor wenig Augenbliken begehrte, feiger Sinn dem, wenn es Mühe gelten soll, die Armuth lieber gnügt. Ich habe mir nicht geschmeichelt als ich jung war; so denk ich auch nicht jezt nicht jemals der Welt zu schmeicheln. Sie konnte den Nichts erwartenden nicht kränken: so werd auch ich sie nicht aus Rache verlezen. Ich habe wenig gethan um sie zu bilden: so hab ich auch kein Bedürfniß sie vortreflicher zu finden. Allein des schnöden Lobes ekelt mich, das ihr von | allen Seiten verschwendet wird, damit das Werk die Meister wieder lobe. Von Verbeßerung der Welt spricht das verkehrte Geschlecht so gern, um selbst für beßer zu gelten, und über seine Väter sich zu erheben. O stiege von der schönen Blüte der Menschheit wirklich schon der erste süße Duft empor; wären auf dem gemeinschaftlichen Boden in unge-

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meßener Zahl die Keime der eigenen Bildung über jede Verlezung hinaus gediehen; athmete und lebte Alles in heiiger Freiheit; umfaßte Alles mit Liebe sich, und trüge wunderbar vereinigt immer neue und wundervolle Früchte: sie könnten doch nicht glänzender den Zustand der Menschheit preisen. Als hätten ihrer gewaltigen Vernunft donnernde Stimmen die Ketten der Unwißenheit gesprengt; als hätten sie von der menschlichen Natur, die nur als dunkles kaum kennbares Nachtstück abgebildet war, nun endlich ein kunstreich Gemälde aufgestellt, wo geheimniß 1 volles Licht von oben Alles wunderbar erleuchtet, daß kein gesundes Auge mehr den ganzen Umriß oder einzelne Züge verfehlen könne; als hätte ihrer Weisheit Musik die rohe räuberische Eigensucht zum zahmen geselligen Hausthier umgeschaffen und Künste sie gelehrt: so reden sie von der heutgen Welt, und jeder kleine Zeitraum der verstrichen, soll reich an neuem Gut gewesen sein. Wie tief im Innern ich das Geschlecht verachte, daß so schaamlos als nie ein früheres gethan sich brüstet, den Glauben kaum an eine beßere Zukunft ertragen kann, und schnöde Jeden der ihr angehört, beschimpft, und nur darum dies Alles, weil das wahre Ziel der Menschheit, zu welchem es kaum einen Schritt gewagt, ihm unbekannt in dunkler Ferne liegt! J a , wem es gnügt, daß nur der Mensch die Körperwelt beherrsche; daß er alle ihre Kräfte erforsche, um zu seinem Dienst sie zu gebrauchen; daß nicht der Raum die | Stärke seines Geistes lähme, und schnell des Willens Wink an jedem Ort die Thätigkeit erzeuge, die er fordert; daß Alles sich bewähre als unter den Befehlen des Gedankens stehend, und überall des Geistes Gegenwart sich offenbare; daß jeder rohe Stoff beseelt erscheine, und im Gefühle solcher Herrschaft über ihren Körper die Menschheit sich ihres Lebens freue: wem das ihr leztes Ziel ist, der stimme mit ein in dieses laute Lob. Es mag mit Recht der Mensch sich dieser Herrschaft rühmen, wie ers nodi nie gekonnt; und wie viel ihm auch noch übrig sei, so viel ist nun gethan, daß er sich fühlen muß als Herr der Erde, daß ihm nichts unversuchtes bleiben darf auf seinem eigentümlichen Gebiet, und immer enger der Unmöglichkeit Begrif zusammen schwindet. Hier fühl ich die Gemeinschaft die mich mit Allen verbindet, in jedem Augenblick des Lebens als Ergänzung der eigenen Kraft. Ein jeder treibet sein bestimmt Ge | schäfl, vollendet des Einen Werk, den er nicht kannte, arbeitet dem Andern vor, der nichts von seinen Verdiensten um ihn weiß. So fördert über den ganzen Erdkreis sich der Menschen Werk, es fühlet Jeder fremder Kräfte Wirkung als eignes Leben, und wie

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elektrisch Feuer führt die kunstreiche Maschine dieser Gemeinschaft jede leise Bewegung des Einen durch eine Kette von Tausenden verstärkt zum Ziele, als wären sie Alle seine Glieder, und alles was sie je gethan, sein Werk im Augenblik vollbracht. Lebendger wohl und schöner noch wohnt in mir dies Gefühl des gemeinsam erhöhten Lebens, als in Jenen, die es so laut rühmen. Mich stört nicht täuschend ihre trübe Einbildung, daß es so ungleich die genießen, die doch Alle es erzeugen und erhalten helfen: durch Gedankenleere und Trägheit im Betrachten verlieren Alle, es fordert von Allen Gewohnheit ihren Abzug, und wo ich auch Beschränkung und | Kraft vergleichend berechne: idi finde überall dieselbe Formel, nur anders ausgedrükt, und gleiches Maaß von Leben verbreitet sich über Alle. Und doch auch so acht ich dies ganze Gefühl gering; nicht etwas beßer noch in dieser Art wünscht ich die Welt, es peinigt mich bis zur Vernichtung, daß dies das ganze Werk der Menschheit sein soll, darauf unheilig ihre heilige Kraft verschwendet. Es bleiben nicht bescheiden meine Forderungen stehn bei diesem beßern Verhältniß des Menschen zu der äußern Welt, und wär es auf den höchsten Gipfel der Vollendung schon gebracht! Ist denn der Mensch ein sinnlidi Wesen nur, daß auch das höchste Gefühl des Lebens, der Gesundheit und Stärke sein höchstes Gut sein dürfte? Genügts dem Geiste, daß er nur den Leib bewohne, fortsezend und vergrößernd ihn ausbilde, und herrschend seiner sich bewußt sei? Darauf geht ihr ganzes Streben, es gründet darauf sich ihr | ungemeßener Stolz. So hoch nur sind sie gestiegen im Bewußtsein der Menschheit, daß von der Sorge für das eigene körperliche Leben und Wolsein sie zur Sorge für das gleiche Wolbefinden Aller sich erheben. Das ist ihnen Tugend, Gerechtigkeit und Liebe; das ist über die niedere Eigensucht ihr großes Triumphgeschrei; das ist ihnen das Ende ihrer Weisheit; nur solche Ringe vermögen sie zu zerbrechen in der Kette der Unwißenheit, dazu soll Jeder helfen, es ist nur dazu jegliche Gemeinschaft eingeriditet. O des verkehrten Wesens, daß der Geist dem24 alle seine Kräfte für Andere widmen soll, was er für sich um beßern Preis verschmäht! O des verschrobenen Sinnes, dem in so niederm Gözendienste das Höchste gern zu opfern Tugend scheint! Beuge dich o Seele dem herben Schiksal, nur in dieser schlechten und finstern Zeit das Licht gesehn zu haben. Für dein Bestreben, für dein inneres Thun ist nichts | von einer solchen Welt zu hoffen! nicht als Erhöhung, immer nur als Beschränkung deiner Kraft wirst du deine Gemeinschaft mit ihr empfinden müßen. So geht es Allen

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die das Beßere kennen und wollen. Nach Liebe dürstet manches Menschen Herz, es schwebt ihm deutlich vor, wie der geartet müßte sein, mit dem er durch den Tausch des Denkens und Empfindens zur gegenseitigen Bildung und zum erhöhten Bewußtsein sich verbinden 25 könnte: doch wenn er nicht durch Zufall glüklich im engen Umkreis seines äußern Lebens ihn selbst entdekt, so seufzet jener wie er vergeblich im gleichen Wunsch das kurze Leben hin. Was hie und dort die Erde bringt beschreiben Tausende; wo irgend eine Sache deren ich bedarf zu finden sei, kann ich in einem Augenblik erfahren, im zweiten kann ich sie besizen: kein Mittel aber giebt es zu erkunden, wo irgend ein solch Gemüth zu finden sei, als mir zur Nahrung des innern | Lebens unentbehrlich ist; dazu giebts keine Gemeinschaft in der Welt, die Menschen die einander bedürfen, näher sich zu bringen, ist Keines Geschäft. Und wüßte der, aus deßen Herzen vergeblich sehnsuchtsvoll nach allen Seiten die Liebe strömt, wo ihm der Freund und die Geliebte wohnen: es feßelt ihn sein äußerer Stand, die Stelle die er in jener dürftigen Gemeinschaft einnimmt; und fester hängt der Mensch an diesen Banden, als an der mütterlichen Erde Stein und Pflanze. Des Schwarzen jammervolles Schiksal, der aus dem väterlichen Lande von den geliebten Herzen fortgerißen wird, zu niederm Dienst in unbekannter Ferne, täglich legts der Lauf der Welt auch Beßern auf, die zu den unbekannten Freunden in die ferne Heimath zu ziehn gehindert, in öder ihnen ewig fremder Nähe bei schlechtem Dienst ihr inneres Leben verschmachten müßen. Wol ist Manchem der Sinn geöfnet, um das innere | Wesen der Menschheit zu ergreifen, verständig ihre verschiedene Gestalten anzuschauen, und was gemeinsam ist zu finden; doch in öde Wildniß oder in unfruchtbare Ueppigkeit ist er gestellt, wo ewiges Einerlei des Geistes Verlangen keine Nahrung giebt; es kränkelt in sich gekehrt die Fantasie, es muß in träumerischem Irrthum sich der Geist verzehren, denn es leistet die Welt ihm keinen Beistand; Keinem ists Beruf mit Nahrungsstoff den Dürftgen zu versehen, oder in beßeres Klima liebreich ihn zu tragen. Wol Manchen drängt innerlich der Trieb kunstreiche Werke zu bilden, doch den Stoff zu sichten, und was unschiklich wäre sorgsam und ohne Schaden herauszusondern, oder wenn in schöner Einheit und Größe der Entwurf gemacht ist, auch die lezte Vollendung und Glätte jedem Theile zu geben, das ist ihm versagt: gewährt ihm Einer was ihm fehlt, bietet ihm Einer mit Freiheit seinen Vorrath, oder krönt | durch seine That das Unvollendete? Allein muß Jeder stehn und unternehmen was ihm nicht gelingt! der Dar-

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Stellung der Menschheit, dem Bilden schöner Werke fehlt die Gemeinschaft der Talente, die schon lange im äußeren Dienst der Menschheit gestiftet ist! nur schmerzlich fühlt der Künstler der Andern Dasein, wenn ihr Urtheil tadelt was seinem Genius fremd war, wenn das fremde und mangelnde des Schönen und Eignen Wirkung hemmt! So sucht vergebens der Mensch für das, was ihm das Größte ist, in der Gemeinschaft mit den Menschen Erleichterung und Hülfe; ja sie fordern ist Aergerniß und Thorheit den geliebten Söhnen dieser Zeit, und eine höhere mehr innige Gemeinschaft der Geister ahnden, und beschränktem Sinn und kleinen Vorurtheilen zum Troz sie fördern wollen, ist eitle Schwärmerei. Ungeschikte Begierde soll es sein nicht Armuth, was Schranken fühlen läßt, die so uns drüken, strafbare | Trägheit nicht Mangel an hülfreicher Gemeinschaft, was unzufrieden mit der Welt den Menschen macht, und seinen leeren Wünschen gebietet auf weitem Felde der Unmöglichkeit umherzuschweifen. Unmöglichkeiten nur für den, deßen Blik auf niederer Fläche der Gegenwart nur einen kleinen Horizont bestreicht. Wie müßt ich traurig verzweifeln, ob jemals ihrem Ziele die Menschheit näher kommen würde, wenn ich mit blöder Fantasie nur an dem Wirklichen und seinen nächsten Folgen haften dürfte. Es seufzet was zur beßern Welt gehört in düsterer Sklaverei! Was da ist von geistiger Gemeinschaft, ist herabgewürdigt zum Dienst der irdischen; nur dieser nüzlich wirkt es dem Geiste Beschränkung, thut dem inneren Leben Abbruch. Wenn der Freund dem Freunde die H a n d zum Bündniß reicht: es sollten Thaten draus hervor gehn, größer als jeder Einzelne; frei sollte Jeder Jeden gewähren laßen, wozu der | Geist ihn treibt, und nur sich hülfreich zeigen wo es Jenem fehlt, nicht seinem Gedanken den eignen unterschiebend. So fände Jeder im Andern Leben und Nahrung, und was er werden könnte, würd er ganz. Wie treiben sie es dagegen in der Welt? Zum irdischen Dienst ist Einer stets dem Andern gewärtig, bereit das eigne Wohlsein aufzuopfern; und Erkenntniß mitzutheilen, Gefühle mit zu leiden und zu lindern, ist das Höchste. Doch in der Freundschaft ist immer Feindschaft gegen die innere N a t u r ; sondern wollten sie des Freundes Fehler von seinem Wesen, und was in ihnen Fehler wäre, scheints auch in ihm. So muß jeder von seiner Eigenheit dem Andern opfern, bis beide sich selber ungleich nur einander ähnlich sind, wenn nicht ein fester Wille das Verderben aufhält, und lange zwischen Streit und Eintracht die Freundschaft kränkelt, oder plözlich abreißt. Verderben dem, der ein weich Gemüth be | sizt, wenn ihm ein Freund

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sich anhängt! Von neuem und kräftigem Leben träumt dem Armen, er freut der schönen Stunden sich, die ihm in süßer Mittheilung vergehn; und merkt nicht wie im verkehrten Wohlsein der Geist sich ausgiebt und verschuldet, bis gelähmt von allen Seiten und bedrängt sein inneres Leben sich verliert. So gehn der Beßern Viele umher, kaum noch zu kennen der Grundriß des eignen Wesens, beschnitten von der Freunde Hand, und überklebt mit fremdem Zusaz. Es bindet süße Liebe Mann und Frau, sie gehn den eignen Heerd sich zu erbaun2®. Wie eigne Wesen aus ihrer Liebe Schooß hervorgehn, so soll aus ihrer Naturen Harmonie ein neuer gemeinschaftlicher Wille sich erzeugen; das stille Haus mit seinen Geschäften, seinen Ordnungen und Freuden, soll als freie That sein Dasein bekunden. O Thränen, daß ich immer und überall das schönste Band der Menschheit so muß entheiligt | sehn! Ein Geheimniß bleibt ihnen was sie thun, wenn sie es knüpfen; Jeder hat und macht sich seinen Willen nach wie vor, abwechselnd herrscht der Eine und der Andere, und traurig rechnet in der Stille Jeder, ob der Gewinn wohl aufwiegt was er an baarer Freiheit gekostet hat; des Einen Schiksal wird der Andere endlich, und im Anschaun der kalten Nothwendigkeit erlischt der Liebe Gluth. Alle bringt so am Ende die gleiche Rechnung auf das gleiche Nichts. Es sollte jedes Haus der schöne Leib, das schöne Werk von einer eignen Seele sein, und eigne Gestalt und Züge haben, und Alle sind in stummer Einförmigkeit das öde Grab der Freiheit und des wahren Lebens. Macht sie ihn glüklich, lebt sie ganz für ihn? macht er sie glüklich, ist er ganz Gefälligkeit? Macht beide Nichts so glüklich, als wo Einer dem Andern sich aufopfern kann? O quäle mich nicht Bild des Jammers, der tief hinter ihrer Freude wohnt, des | nahen Todes der ihnen diesen lezten Schein des Lebens, sein gewohntes Gaukelspiel nur vormahlt! Wo sind vom Staat die alten Mährchen der Weisen? wo ist die Kraft die dieser höchste Grad des Daseins dem Menschen geben, das Bewußtsein das Jeder haben soll, ein Theil zu sein von seiner Vernunft und Fantasie und Stärke? Wo ist die Liebe zu diesem neuen selbstgeschafnen Dasein, die lieber das alte eigene Bewußtsein opfern als dieses verlieren will, die lieber das Leben wagt, als daß das Vaterland gemordet werde? Wo ist die Vorsicht, welche sorgsam wacht, daß auch Verführung ihm nicht nahe, und sein Gemüth verderbe? Wo ist der eigne Charakter jedes Staates, und wo die Werke, durch die er sich verkündet? So fern ist dies Geschlecht von jeder Ahndung, was diese Seite der Menschheit wohl bedeuten mag, daß sie von einem beßern Organismus des Staates27 träumen, wie von einem



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Ideal | des Menschen, daß wer im Staate lebt, es sei der neuen oder der alten einer, in seine Form gern Alle gießen möchte, daß der Weise in seinen Werken ein Muster für die Zukunft niederlegt, und hofft es werde doch einmal zu ihrem Heil die ganze Menschheit es als ein Symbol verehren; daß Alle glauben, der sei der beste Staat, den man am wenigsten empfindet, und der auch das Bedürfniß, daß er da sein müße, am wenigsten empfinden laße. Wer so das schönste Kunstwerk des Menschen, wodurch er auf die höchste Stufe sein Wesen stellen soll, nur als ein nothwendiges Uebel betrachtet, als ein unentbehrliches Maschinenwerk um seine Gebrechen zu verbergen, und unschädlicher zu machen, der muß ja das nur als Beschränkung fühlen, was ihm den höchsten Grad des Lebens zu gewähren bestimmt ist. O schnöde Quelle solcher großen Uebel, daß nur für äußere Gemeinschaft der Sin | nenwelt Sinn bei den Menschen zu finden ist, und daß nach dieser sie Alles meßen und modeln wollen. In der Gemeinschaft der Sinnen weit muß immer Beschränkung sein; es muß der Mensch, der seinen Leib durch äußeren Besiz fortsezen und vergrößern will, dem Andern ja auch den Raum vergönnen das Gleiche zu thun; wo Einer steht da ist des Andern Grenze, und nur darum dulden sie es gelaßen, weil sie doch die Welt nicht könnten allein besizen, weil sie doch des Andern Leib und Besiz auch brauchen können. Darauf ist Alles andere auch gerichtet: vermehrten äußern Besiz des Habens und des Wißens, Schuz und Hülfe gegen Schiksal und Unglük, vermehrte Kraft im Bündniß zur Beschränkung der Andern, das nur suchet und findet der Mensch von Heute in Freundschaft, Ehe und Vaterland; nicht Hülfe und Ergänzung der Kraft zur eignen Bildung, nicht Gewinn an neuem innerm Leben. Daran hindert | ihn jegliche Gemeinschaft die er eingeht vom ersten Bande der Erziehung an, wo schon der junge Geist, statt freien Spielraum zu gewinnen, und Welt und Menschheit in ihrem ganzen Umfang zu erbliken, nach fremden Gedanken beschränkt und früh zur langen Sklaverei des Lebens gewöhnt wird. O mitten im Reichthum beklagenswerthe Armuth! Hülfloser Kampf des Beßern, der die Sittlichkeit und Bildung sucht mit dieser Welt, die nur das Recht erkennt, statt Lebens nur todte Formeln bietet, statt freien Handelns nur Regel und Gewohnheit kennt, und hoher Weisheit sich rühmt, wenn irgend eine veraltete Form sie glücklich bei Seite schafft, und etwas Neues gebährt, was Leben scheint, und allzubald auch wieder Formel und todte Gewohnheit sein wird. Was könnte mich retten, wärst du nicht göttliche Fantasie, und gäbest mir der beßern Zukunft sichre Ahndung!

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III. Weltansicht

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| J a Bildung wird sich aus der Barbarei entwikeln, und Leben aus dem Todtenschlaf! da sind die Elemente des beßern Lebens. Nicht immer wird ihre höhere Kraft verborgen schlummern; es wekt der Geist sie früher oder später, der die Menschheit beseelt. Wie jezt die Bildung der Erde für den Menschen erhaben ist über jene wilde Herrschaft der Natur, da schüchtern der Mensch vor jeder Aeußerung ihrer Kräfte floh: nicht weiter kann doch die selge Zeit der wahren Gemeinschaft der Geister entfernt von diesen Kinderjahren der Menschheit sein. Nichts hätte der rohe Sklave der Natur geglaubt von solcher künftgen Herrschaft über sie, noch hätte er begriffen was die Seele des Sehers der davon geweißagt, so bei dieser Ahndung hob; denn es fehlte ihm an der Vorstellung sogar von solchem Zustand, nach dem er keine Sehnsucht fühlte: so begreift auch nicht der Mensch von heute, wenn Jemand ihm andere Zwecke vorhält, | von andern Verbindungen und einer andern Gemeinschaft der Menschen redet, er faßt nicht was man Beßeres und Höheres wollen könne, und fürchtet nicht, daß jemals etwas kommen werde, was seinen Stolz und seine träge Zufriedenheit so tief beschämen müßte. Wenn aus jenem Elend, das kaum die ersten Keime des beßern Zustandes auch dem durch den Erfolg gesdiärften Auge zeigt, dennoch das gegenwärtge hochgepriesne Heil hervorging: wie sollte nicht aus unserer verwirrten Unbildung, in der das Auge, welches schon sinkend der Nebel ganz nah umfließt, die ersten Elemente der beßern Welt erblikt, sie endlich selbst hervorgehn, das erhabene Reich der Bildung und der Sittlichkeit. Sie kommt! Was sollt ich zaghaft die Stunden zählen, welche noch verfließen, die Geschlechter, welche noch vergehn? Was kümmert mich die Zeit, die doch mein innres Leben nicht umfaßt? | Der Mensch gehört der Welt an, die er machen half, diese umfaßt das Ganze seines Wollens und Denkens, nur jenseit ihrer ist er ein Fremdling. Wer mit der Gegenwart zufrieden lebt und Anders nichts begehrt, der ist ein Zeitgenoße jener frühen Halbbarbaren, welche zu dieser Welt den ersten Grund gelegt; er lebt von ihrem Leben die Fortsezung, genießt zufrieden die Vollendung deßen, was sie gewollt, und das Beßere, was sie nicht umfaßen konnten, umfaßt auch er nicht. So bin ich der Denkart und dem Leben des jezigen Geschlechts ein Fremdling, ein prophetischer Bürger einer spätem Welt, zu ihr durch lebendige Fantasie und starken Glauben hingezogen, ihr angehörig jede That und jeglicher Gedanke. Gleichgültig läßt mich, was die Welt, die jezige, thut oder leidet; tief unter mir scheint sie mir klein, und leichten Blikes übersieht das Auge die großen verworr-

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nen Kreise ihrer Bahn. Aus | allen Erschütterungen im Gebiete des Lebens und der Wissenschaft, stets wieder auf denselben Punkt zurükkehrend, und die nemlidie Gestalt erhaltend, zeigt sie deutlich ihre Beschränkung und ihres Bestrebens geringen Umfang. Was aus ihr selbst hervorgeht kann sie nicht weiter bringen, bewegt sie immer nur im alten Kreise; und ich kann deßen midi nicht erfreun, es täuscht mich nidit mit leerer Erwartung jeder günstge Schein. Doch wo ich einen Funken des verborgenen Feuers sehe, das früh oder spät das Alte verzehren und die Welt erneuen wird, da fühl ich midi in Lieb und Hoffnung hingezogen zu dem süßen Zeichen der fernen Heimath. Auch wo ich stehe soll man in fremdem Licht die heiige Flamme brennen sehen, dem Verständgen ein Zeugniß von dem Geiste der da waltet. Es nahet sich in Liebe und Hoffnung jeder, der wie ich der Zukunft angehört, und durch jegliche Thät und Rede eines Jeden | schließt sich enger und erweitert sich das schöne freie Bündniß der Verschwornen für die beßere Zeit. Doch auch dies erschwert so viel sie kann die Welt, und hindert jedes Erkennen der befreundeten Gemüther, und trachtet die Saat der beßern Zukunft zu verderben. Die That, die aus den heiligsten Ideen entsprungen ist, giebt tausendfacher Deutung Raum; es muß geschehen, daß oft das reinste Handeln im Geist der Sittlichkeit verwechselt wird mit dem Sinne der Welt. Zu Viele schmüken sich mit falschem Schein des Beßern, als daß man Jedem, wo sich Beßeres ahnden läßt, vertrauen dürfte; schwergläubig weigert sich mit Recht dem ersten Schein der, welcher Brüder im Geiste sucht; so gehn sie oft einander unerkannt vorüber, weil des Vertrauens Kühnheit Zeit und Welt danieder drüken. So faße Muth und hoffe! Nicht du allein stehst eingewurzelt in den tiefen Boden der spät | erst Oberfläche wird, es keimet überall die Saat der Zukunft! Fahr immer fort zu spähen wo du kannst, noch Manchen wirst du finden, noch Manchen erkennen, den du lange verkannt. So wirst auch du von Manchen erkannt: der Welt zum Troz verschwindet endlich Miß traun und Argwohn, wenn immer das gleiche Handeln wiederkehrt und gleiche Ahndung das fromme Herz ermahnt. Nur kühn den Stempel des Geistes jeder Handlung eingeprägt, daß dich die Nahen finden; nur kühn hinaus geredet in die Welt des Herzens Meinung, daß dich die Fernen hören! Es dienet freilich der Zauber der Sprache auch nur der Welt nicht uns28. Sie hat genaue Zeichen und schönen Ueberfluß für Alles was im Sinn der Welt gedacht wird und gefühlt; sie ist der reinste Spiegel

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III. Weltansicht

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der Zeit, ein Kunstwerk, worinn ihr Geist sich zu erkennen giebt. Uns ist sie noch roh und ungebildet, ein schweres Mittel der Gemein | schaft. Wie lange hindert sie den Geist zuerst, daß er nicht kann zum Anschaun seiner selbst gelangen! Durch sie gehört er schon der Welt eh er sich findet, und muß sich langsam erst aus ihren Verstrikungen entwinden; und ist er dann troz alles Irrthums und verkehrten Wesens, das sie ihm angelernt zur Wahrheit hindurch gedrungen: wie ändert sie dann betrügerisch den Krieg, und hält ihn eng umschloßen, daß er Keinem sich mittheilen, keine Nahrung empfangen kann. Lange sucht er im vollen Ueberfluß ein unverdächtiges Zeichen zu finden, um unter seinem Schuz die innersten Gedanken abzusenden: es fangen gleich die Feinde ihn auf, fremde Deutung legen sie hinein, und vorsichtig zweifelt der Empfänger, wem es wol ursprünglich angehöre. Wohl manche Antwort kommt herüber aus der Ferne dem Einsamen, doch muß er zweifeln, ob sie das bedeuten soll was er faßt, ob Freundes Hand ob Feindes sie ge | schrieben. Daß doch die Sprache gemeines Gut ist für die Söhne des Geistes und für die Kinder der Welt! daß doch so lehrbegierig diese sich stellen nach der hohen Weisheit! Doch nein, gelingen soll es ihnen nicht, uns zu verwirren oder einzuschreken! Dies ist der große Kampf um die geheiligten Paniere der Menschheit, welche wir der beßern Zukunft den folgenden Geschlechtern erhalten müßen; der Kampf der alles entscheidet, aber auch das sichere Spiel, das über Zufall und Glük erhaben, nur durch Kraft des Geistes und wahre Kunst gewonnen wird. Es soll die Sitte der innern Eigentümlichkeit Gewand und Hülle sein, zart und bedeutungsvoll sich jeder edlen Gestalt anschmiegend, und ihrer Glieder Maaß verkündigend jede Bewegung schön begleiten. Nur dies schöne Kunstwerk mit Heiligkeit behandelt, nur es immer durchsichtiger und feiner gewebt, und immer dichter an sich es | gezogen: so wird der künstliche Betrug sein Ende finden müßen, so wird es bald sich offenbaren, wenn unheilige gemeine Natur in edler hoher Gestalt erscheinen will. Es sieht der Wißende bei jeder Regung das geheime Spiel der schlechten Glieder, nur lose liegt um den trügerischen leeren Raum das magische Gewand, und kenntlich entflattert es bei jedem raschen Schritte, und zeigt das innere Mißverhältniß an. So soll und wird der Sitte Beständigkeit und Ebenmaaß ein untrüglich Merkmahl von des Geistes innerm Wesen, und der geheime Gruß der Beßern werden. Abbilden soll die Sprache des Geistes innersten Gedanken, seine höchste Anschauung, seine geheimste Betrachtung des eignen Handels soll sie wiedergeben, und ihre wunderbare Musik soll

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deuten den Werth den er auf jedes legt, die eigne Stufenleiter seiner Liebe. Wohl können sie die Zeichen, die wir dem Höchsten widmeten mißbrauchen, und dem Heiligen, das sie | andeuten sollen ihre kleinlichen Gedanken unterschieben und ihre beschränkte Sinnesart: doch anders ist des Weitlings Tonart als des Geweihten; anders als dem Weisen reihen sich dem Sklaven der Zeit die Zeichen der Gedanken zu einer andern Melodie; etwas anders erhebt er zum Ursprünglichen, und leitet davon ab, was ihm ferner und unbekannter liegt. Es bilde nur jeder seine Sprache sich zum Eigenthum und zum kunstreichen Ganzen, daß Ableitung und Uebergang, Zusammenhang und Folge der Bauart seines Geistes genau entsprechen, und die Harmonie der Rede der Denkart Grundton, den Accent des Herzens wieder gebe. Dann giebts in der gemeinen noch eine heilige und geheime Sprache, die der Ungeweihte nicht deuten noch nahahmen kann, weil nur im Innern der Gesinnung der Schlüßel liegt zu ihren Charakteren; ein kurzer Gang nur aus dem | Spiele der Gedanken, ein paar Accorde nur aus seiner Rede werden ihn verrathen. O wenn nur so an Sitte und Rede sich die Weisen und Guten erkennen möchten, wäre die Verwirrung nur gelöst, gezogen die Scheidewand, käme zum Ausbruch erst die innere Fehde: so würde der Sieg auch nahn, aufgehn die schönre Sonne, denn auf die beßre Seite müßte sich neigen der jüngeren Geschlechter freies Urtheil und unbefangner Sinn. Verkündet doch nur bedeutungsvolle Bewegung des Geistes Dasein, Wunder nur bezeugen eines Götterbildes Ursprung. Und so müßte sichs offenbaren, daß es am Bewußtsein des innern Handelns fehle, wo schöne Einheit der Sitte mangelt, oder nur als kalte Verstellung da ist, als übertünchte Unförmlichkeit; daß der von eigner Bildung nichts weiß, noch je das innere der Menschheit in sich angeschaut hat, dem das feste Grundgestein der Sprache zu Tage gefördert aus dem | Innern in kleine Bruchstücke verwittert, dem der Rede Kraft, die tief das Innere ergreifen soll, in leere Unbedeutenheit und flache Schönheit sich auflöst, und ihre hohe Musik in müßige Schallkünstelei die nicht vermag des Geistes eignes Wesen darzustellen. Harmonisch in einfacher schöner Sitte leben kann kein Anderer, als wer die todten Formeln haßend eigne Bildung sudit und so der künftigen Welt gehört; ein wahrer Künstler der Sprache kann kein Anderer werden, als wer freien Blikes sich selbst betrachtet, und des innern Wesens der Menschheit sich bemächtigt hat. Aus dieser Gefühle stiller Allmacht, nicht aus frevelhafter Gewaltsamkeit vergeblichen Versuchen, muß endlich die Ehrfurcht vor

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III. Weltansicht

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dem Höchsten, der Anfang eines beßern Alters hervorgehn. Sie zu befördern sei mein Trachten in der Welt, womit ich meiner Schuld mich gegen sie entlade, und meinem Beruf genüge. So einiget sich meine | Kraft dem Wirken aller Auserwählten, und mein freies Handeln hilft die Menschheit fortbewegen auf der rechten Bahn zu ihrem Ziele.

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IV. Aussicht.

Ist es wahr, daß wir alle auf Erden abhängig wandeln, und ungewiß der Zukunft? daß ein dichter Schleier dem Menschen was er sein wird verbirgt, und daß des Schicksals blinde Macht, seis auch der höhern Vorsicht fremde Willkühr — beides gälte für midi hier gleich — mit unsern Entschlüßen wie mit unsern Wünschen spielt? O freilich, wenn Entschlüße nur Wünsche sind, so ist der Mensch des Zufalls Spiel! Wenn er nur im Wechsel flüchtiger Empfindungen und einzelner Gedanken, die die Wirklichkeit erzeugt, sich selbst zu finden weiß; wenn er im ungewißen Haben äußrer Gegenstände, im schwin| delnden Betrachten des ewgen Wirbels in dem er mit diesem Sein und Haben sich auch bewegt, sein ganzes Leben hindurch begriffen ist, und niemals tiefer in sein eignes Wesen dringt; wenn er von diesem oder jenem einzelnen Gefühl geleitet immer nur auf etwas Einzelnes und Aeußeres sieht, und das betreiben und besizen will, wie die Empfindung des Augenbliks gebietet: dann kann ihm das Schiksal feindselig rauben was er will und spielt mit seinen Entschlüßen, die ein Spiel zu sein verdienen; dann mag er klagen über Ungewißheit, denn nichts steht fest für ihn; dann erscheint ihm als ein dichter Schleier die eigne Blindheit, und dunkel muß es freilich sein, wo nicht das Licht der Freiheit scheint; dann muß es freilich29 für ihn das Höchste sein zu wißen, ob jener Wechsel der ihn beherrscht von Einem Willen über alle Willen abhängt, oder vom Zusammentreffen vieler Kräfte die neigungslose Wir | kung ist. Denn schreklich muß es den Menschen ergreifen, wenn er nimmer dazu gelangt sich selbst zu faßen; wenn jeder Lichtstral, der in die unendliche Verwirrung fällt, ihm klarer zeigt, er sei kein freies Wesen, sei eben nur ein Zahn in jenem großen Rade, das ewig kreisend sich, ihn und alles bewegt,

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I V . Aussicht

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und Hofnung, immer wieder aller Erfahrung allem Bewußtsein zum Troz erneute Hofnung auf höheres Erbarmen muß seine einzige Stüze sein. Willkommen mir, in jedem Augenblik, wo ich die Sklaven zittern sehe, aufs neue willkommen, geliebtes Bewußtsein der Freiheit! schöne Ruhe des klaren Sinnes, mit der ich heiter die Zukunft, wol wißend was sie ist und was sie bringt, mein freies Eigenthum, nicht meine Herrscherin begrüße. Mir verbirgt sie nichts, sie nähert sidi ohne Anmaßungen von Gewalt. Die Götter nur beherrscht ein Schiksal, die nichts in sich zu wirken haben, und die schlechtesten | der Sterblichen, die in sich nichts wirken wollen; nicht den Menschen, der auf sich selbst sein Handeln richtet wie sichs geziemt. Wo ist die Grenze meiner Kraft? wo denn finge sich an das fürchterliche fremde Gebiet? Unmöglichkeit liegt mir nur in der Beschränkung meiner Natur durch meiner Freiheit erste That 30 , nur was ich aufgegeben als ich bestimmte wer ich werden wollte, das nur kann ich nicht; nichts ist mir unmöglich als was jenen Willen, wie er einmal gesprochen hat, rükgängig machen müßte. Wem diese Beschränkung als fremde Gewalt erscheint, diese, die seines Daseins, seiner Freiheit, seines Willens Bedingung und Wesen ist, der ist mir wunderbar verwirrt. Und fühl ich mich in diesen Grenzen denn beschränkt? J a , wenn ich selbst auf dem Gebiet der Sittlichkeit und Bildung nur dies und jenes in jedem Augenblik bestimmt begehrte, wenn jemals irgend eine einzelne That das Ziel von mei | nem Wollen wäre; dann könnte sich mir dies Ziel wenn ichs ergreifen wollte weit aus den Augen rüken; dann find ich unter fremder Herrschaft mich; doch wenn ich auch darüber das Sdiiksal verklagte, verfehlt ich nur den eigentlichen Gegenstand der Schuld mich selbst. Aber niemals kann mir es so ergehn! Leb ich doch im Bewußtsein meiner ganzen Natur. Immer mehr zu werden was ich bin, das ist mein einziger Wille; jede Handlung ist eine besondere Entwiklung dieses Einen Willens; so gewiß ich immer handeln kann, kann ich auch immer auf diese Weise handeln, nichts kommt in die Reihe meiner Thaten, es sei denn so bestimmt. Begegne denn, was da wolle! So lang ich alles auf diesen ganzen Zwek beziehe, und jedes äußere Verhältniß, jede äußere Gestalt des Lebens mich gleichgültig läßt, und alle mir gleich werth sind, wenn sie nur meines Wesens Natur ausdrüken, und zu seiner innern Bildung, seinem | Wachsthum mir neuen Stoff aneignen; so lange des Geistes Auge auf dies Ganze allgegenwärtig gerichtet ist, ich jedes Einzelne nur in diesem Ganzen, und in diesem alles einzelne erblike, nie aus dem Be-

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wußtsein verliere, was ich unterbreche, und immer auch das noch will was ich nicht thue, und was ich thue auf alles was ich will beziehe: so lange beherrscht mein Wille das Geschik, und wendet Alles, was es bringen mag zu seinen Zweken mit Freiheit an. Nie kann solchem Wollen sein Gegenstand entzogen werden, und es verschwindet beim Denken eines solchen Willens der Begrif des Schiksals31. Woher entspringt denn jener Wechsel des Menschlichen, den sie so drükend fühlen, als eben aus der Gemeinschaft solcher Freiheit? So ist er also der Freiheit Werk und meines. Wie könnt ich ihn für Andre durch mein Thun bereiten helfen, wenn ich nicht auch für mich ihn von den Andern forderte? Ja, ich verlange | ihn laut! es komme die Zeit und bringe wie sie kann zum Handeln zum Bilden und Aeußern meines Wesens mir mannigfachen Stoff. Ich scheue nichts; gleich gilt mir die Ordnung, und alles was äußere Bedingung ist. Was aus der Menschen gemeinschaftlichem Handeln hervorgehen kann, soll alles an mir vorüber ziehn, mich regen und bewegen um von mir wieder bewegt zu werden, und in der Art wie ichs aufnehme und behandle will ich immer meine Freiheit finden, und äußernd bilden meine E i g e n t ü m lichkeit. Ists leere Täuschung etwa? Verbirgt sich hinter dies Gefühl der Freiheit die Ohnmacht? So deuten gemeine Seelen was sie nicht verstehn! Doch das leere Geschwäz der Selbsterniedrigung ist längst für midi verhallt, zwischen mir und ihnen richtet in jedem Augenblik die That. Sie klagen immer wenn sie die Zeit verstreichen sehen, und fürchten wenn sie kommt, und bleiben | ungebildet nach wie vor, bei allem Wechsel immer dieselbe gemeine Natur. Wo ist ein einzges Beispiel wo sie läugnen durften, daß sie anders was ihnen begegnete, behandeln konnten? So wäre mirs leicht sie mitten im Schmerz noch ärger zu zermalmen, und dem zerknirschten Sinn noch das Geständniß auszupreßen, daß nur innre Trägheit war, was sie als äußere Gewalt bejammern, oder daß sie nicht wollten, was sie nur gewollt zu haben scheinen möchten; und so die niedrige Beschränkung ihres eignen Bewußtseins und Willens ihnen zeigend, sie eben dadurch glauben zu lehren an Willen und Bewußtsein. Doch mögen sie es lernen oder nicht: daß nichts was mir begegnet der eignen Bildung Wachsthum zu hindern, und vom Ziel des Handelns mich zurükzutreiben vermag; der Glaube ist lebendig in mir durch die That. So bin ich seitdem meines Wesens sich die Vernunft bemächtiget, und | Freiheit und Selbstbewußtsein in mir wohnen, die wechselreichen Bahnen des Lebens durchgewandelt. Im schönen Ge-

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IV. Aussidit

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nuß der jugendlichen Freiheit hab ich die große That vollbracht, hinwegzuwerfen die falsche Maske, das lange mühsame Werk der frevelnden Erziehung, betrauern hab ich gelernt das kurze Leben der Meisten die sich wieder von neuen Ketten binden lassen, verachten gelernt das schnöde Bestreben der32 kraftlos Abgelebten, die auch die lezte Erinnerung an den kurzen Traum der Freiheit verloren haben, nicht wißen was der Jugend, in der sie eben erwacht, begegnet, und gern der alten Weise sie getreu erhielten. Im fremden Hause ging der Sinn mir auf für schönes gemeinschaftliches Dasein, idi sah wie Freiheit erst veredelt und recht gestaltet die zarten Geheimniße der Menschheit, die dem Ungeweihten immer dunkel bleiben, der sie nur als Bande der Natur verehrt33. Im buntesten Gewühl von | allen weltlichen Verschiedenheiten lernt ich den Schein vernichtend in jeder Tracht die gleiche Natur erkennen und die mancherlei Sprachen übertragen, die sie in jedem Kreise lernt. Im Anschaun der großen Gährungen, der stillen und der lauten, lernt ich den Sinn der Menschen verstehen, wie sie immer nur an der Schale haften; und in der stillen Einsamkeit die mir zu Theil ward, habe ich die innere Natur betrachtet, alle Zweke, die der Menschheit durch ihr Wesen aufgegeben sind, und alle Verrichtungen des Geistes in ihrer ewigen Einheit angeschaut, und in lebendger Anschauung gelernt das todte Wort der Schulen recht zu schäzen. Ich habe Freud und Schmerz empfunden, ich kenne jeden Gram und jedes Lächeln, und was giebts unter Allem, was mich betraf seitdem ich wirklich lebe, woraus ich meinem Wesen nicht Neues angeeignet, und Kraft gewonnen hätte, die das innre Leben nährt? | So sei denn die Vergangenheit mir Bürge der Zukunft; sie ist ja daßelbe, was kann sie mir anders thun wenn ich derselbe bin? Bestimmt und klar seh ich den Inhalt meines Lebens vor mir. Ich weiß worin mein Wesen schon fest in seiner Eigenthümlichkeit gebildet und abgeschloßen ist; durch gleichförmiges Handeln nach allen Seiten mit der ganzen Einheit und Fülle meiner Kraft werd ich mir dies erhalten. Wie sollt ich nicht des Neuen und Mannigfachen mich erfreun, wodurch sich neu und immer anders die Wahrheit meines Bewußtseins mir bestätigt. Bin ich meiner selbst so sicher, daß ich deßen nicht bedürfte? daß nicht Leid und Freude und was sonst die Welt als Wohl und Wehe bezeichnet mir gleich willkommen müßten sein, weil jedes auf eigne Weise diesen Zwek erfüllt und meines Wesens Verhältniße mir offenbart? Wenn ich nur dies erreiche, was kümmert mich glüklich sein! Ich weiß | auch was ich mir noch nicht zu eigen

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gemacht, ich kenne die Stellen, wo ich, noch in unbestimmter Allgemeinheit schwebend, seit langer Zeit den Mangel eigner Ansicht schmerzlich fühle. Dem Allen strebt schon lange Zeit die Kraft entgegen, und irgend wann werd ichs mit Thätigkeit und mit Betrachtung umfaßen, und innig verbinden mit Allem was schon in mir ist? Wißenschaften, ohne deren Kenntniß nie meine Ansicht der Welt vollendet werden kann, sind mir noch zu ergründen. Fremd sind mir noch viele Gestalten der Menschheit, Zeitalter und Völker giebts die ich nur erst wie jeder Andre kenne, in deren Denkart und Wesen sich nicht auf eigne Weise die Fantasie versetzt, die keinen bestimmten Plaz einnehmen in meiner Anschauung von den Entwiklungen des Geschlechts. Manche von den Thätigkeiten die in mein eignes Wesen nicht gehören, begreif ich nicht, und über ihre Verbin | düngen mit Allem was groß und schön ist in der Menschheit, fehlt mir das eigne Urtheil oft. Das Alles werd ich miteinander nach einander gewinnen; die schönste Aussicht breitet sich vor mir aus. Wie viele edle Naturen, die ganz von mir verschieden die Menschheit in sich bilden, kann ich in der Nähe betrachten! Von wieviel kenntnißreichen Menschen bin ich umgeben, die gastfrei oder eitel in schönen Gefäßen mir ihres Lebens goldne Früchte bieten, und die Gewächse ferner Zeiten und Zonen durch ihre Treue ins Vaterland verpflanzt. Kann mich das Schiksal feßeln, daß ich mich diesem Ziele nicht nähern darf? Kanns mir die Mittel der Bildung weigern, mich entfernen aus der leichten Gemeinschaft mit dem Thun des jezigen Geschlechtes, und mit der Vorwelt Monumenten? mich weit von der schönen Welt in der ich lebe hinaus in öde Wüsteneien schleudern, wo Kunde von der andern Mensch | heit zu erlangen vergeblich ist, wo in ewgem Einerlei mich die gemeine Natur von allen Seiten eng umschließt, und in der diken verdorbnen Luft, die sie bereitet, nichts schönes, nichts bestimmtes das Auge trift? Wol ist es Vielen so geschehen; doch mir kanns nicht begegnen: ich troze dem, was Tausende gebeugt. Nur durch Selbstverkauf geräth der Mensch in Sklaverei, und nur den, der sich selbst den Preis sezt und sich ausbietet, wagt das Schicksal anzufeilschen. Was lokt den Menschen unstätt von dem Orte weg wo seinem Geiste wohl ist? Was treibt ihn wol mit feiger Thorheit die schönsten Güter von sich zu werfen, wie die Waffen der Krieger auf der Flucht? Es ist der schnöde äußere Gewinn, es ist der Reiz der sinnlichen Begierde, den schon verdampft das alte Getränk nicht mehr befriedigt. Wie könnte meiner Verachtung solcher Schatten dies geschehen! Mit Fleiß und Mühe hab ich mir den Ort | errungen

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IV. Aussicht

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wo ich stehe, mir mit Bewußtsein und Anstrengung die eigne Welt gebildet, in der mein Geist gedeihen kann: wie sollte dies feste Band ein flüchtger Reiz der Furcht oder Hofnung lösen? wie sollte ein eitler Tand mich aus der Heimath loken, und aus dem Kreise der lieben Freunde? Doch diese Welt mir zu erhalten und immer genauer zu verbinden, ist nicht das Einzige was ich fordere: ich sehne mich nach einer neuen Welt. Manch neues Bündniß ist noch zu knüpfen, mancher noch unbekannten Liebe neu Gesez muß noch das Herz bewegen, daß sich zeige, wie sich dies in meinem Wesen zum Anderen fügt. In Freundschaft jeder Art hab ich gelebt; der Liebe süßes Glük hab ich mit heiigen Lippen gekostet, ich weiß was mir in beiden ziemt, und kenne meiner Schiklichkeit Gesez: noch aber muß die heiligste Verbindung auf eine neue Stufe des Lebens mich erheben, verschmelzen muß ich mich zu Einem Wesen 1 mit einer geliebten Seele, daß auch auf die schönste Weise meine Menschheit auf Menschheit wirke; daß ich wiße, wie das verklärte höhere Leben nach der Auferstehung der Freiheit sich in mir bildet, wie der alte Mensch die neue Welt beginnt. In Vaterrecht und Pflichten muß ich mich einweihn, daß auch die höchste Kraft, die gegen freie Wesen Freiheit übt, nicht in mir schlummre, daß ich zeige, wie wer an Freiheit glaubt, die junge Vernunft bewahrt und schüzt, und wie in diesem großen Problem die schönste Verwirrung des Eigenen und des Fremden der klare Geist zu lösen weiß. Ergreift mich hier nicht gerade beim liebsten Wunsch des Herzens das Schicksal? Wird sich hier die Welt nicht rächen für den Troz der Freiheit, für das übermüthige Verschmähen ihrer Macht? W o mag sie wohnen mit der das Band des Lebens zu knüpfen mir ziemt? Wer mag mir sagen, wohin ich wandern | muß um sie zu suchen? denn solch hohes Gut zu gewinnen ist kein Opfer zu theuer, keine Anstrengung zu groß! Und wenn ich sie nun finde unter fremden Gesez, das sie mir weigert; werd ich sie erlösen können 34 ? Und wenn ich sie gewonnen, hängts dann von meinem Willen ab, ob auch dem Gattenrecht der süße Vatername sich beigesellen wird? Hier steh ich an der Grenze meiner Willkühr durch fremde Freiheit, durch den Lauf der Welt, durch die Mysterien der Natur. Ich hoffe; viel vermag der Mensch, und manches Schwere erringt des Willens Kraft und ernstliches Bestreben. Doch wenn nun Hoffen und Bestreben Vergeblich ist; wenn Alles sich mir weigert: bin ich dann vom Schiksal hier besiegt? H a t es dann wirklich der Erhöhung meines innern Lebens sich widersezt, und meine Bildung zu beschränken vermocht

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durch seinen Eigensinn? Es hindert nicht der äußern That Unmöglichkeit das innere Handeln; und mehr | als mich und sie würd ich die Welt bedauern, die Welt, die wol ein schönes und seltnes Beispiel dann verlöre, eine Erscheinung aus der beßern Zukunft hieher verirrt, an der sie ihre todten Begriffe erwärmen und beleben könnte. Uns, so gewiß einander wir gehören, trägt doch auch unbekannt in unser schönes Paradies die Fantasie. Nicht vergeblich hab ich mancherlei Gestalten des weiblichen Gemüthes gesehn, und ihres stillen Lebens schöne Weisen mir bekannt gemacht. Je weiter ich noch selbst von seinen Grenzen stand, desto sorgsamer nur hab ich der Ehe heiliges Gebiet erforscht: ich weiß was Recht dort ist, was nicht; und alle möglichen Gestalten des Schiklichen hab ich mir ausgebildet, wie erst die späte freie Zukunft sie zeigen wird, und welche drunter mir geziemt, weiß ich genau. So kenn ich die auch unbekannt, mit der ich midi fürs Leben aufs innigste vereingen könnte, und in dem schönen Leben, | das wir führen würden, bin ich eingewohnt. Wie ich jezt traurend in öder Einsamkeit mir manches einrichten und beginnen, verschweigen, versagen und in mich verschließen muß, im Kleinen und Großen: es schwebt mir doch immer lebendig dabei vor, wie das in jenem Leben anders und beßer würde sein. So ists gewiß auch ihr, wo sie auch sein mag, die so geartet ist, daß sie mich lieben, daß ich ihr genügen könnte; gleiche Sehnsucht, die mehr als leeres Verlangen ist, enthebt auch sie wie mich der öden Wirklichkeit für die sie nicht gemacht ist, und wenn ein Zauberschlag uns plözlich zusammenführte, würde Nichts uns fremd sein, als wären wir alter süßer Gewohnheit verpflichtet, so anmuthig und leicht würden wir in der neuen Lebensweise wandeln. So fehlt uns also nicht, auch ohne jenen Zauberschlag, in uns das höhere Dasein; für dieses Leben und durch daßelbe sind wir doch gebildet, und nur die äußre Darstellung entgeht der Welt. | O wüßten doch die Menschen diese Götterkraft der Fantasie zu brauchen, die allein den Geist ins freie stellt, ihn über jede Gewalt und jede Beschränkung weit hinaus trägt, und ohne die des Mensdien Kreis so eng und ängstlich ist35! Wie Vieles berührt denn Jeden im kurzen Lauf des Lebens? Von wieviel Seiten müßte der Mensch nicht unbestimmt und ungebildet bleiben, wenn nur auf das Wenige, was ihn von außen wirklich anstößt, sein innres Handeln ginge? Aber so sinnlich sind sie in der Sittlichkeit, daß auch sie selbst nur da sich recht vertraun, wo ihnen die äußre Darstellung des Handelns Bürgschaft leistet für ihres Bewußtseins Wahrheit. Umsonst steht in der großen Gemeinschaft der Menschen der, der so sich selbst beschränkt!

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IV. Aussicht

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es hilft ihm nicht, daß ihm vergönnt ist ihr Thun und Leben anzuschaun; vergebens muß er sich über die träge Langsamkeit der Welt und über ihre matten Bewegungen beklagen. Er | wünscht sich immer neue Verhältniße, von außen immer andre Aufforderungen zum H a n deln, und neue Freunde nachdem die Alten was sie konnten auf sein Gemüth gewirkt, und allzulangsam weilt ihm überall das Leben. U n d wenns auch in beschleunigterem Lauf ihn tausend neue Wege führen wollte, könnte denn in der kurzen Spanne des Lebens sich die Unendlichkeit erschöpfen? Was Jene niemals sich erwünschen können, gewinne ich durch das innere Spiel der Fantasie. Sie ersezt mir was der Wirklichkeit gebricht; jedes Verhältniß, worin ich einen Andern erblike, madi ich mir durch sie zum eigenen; es bewegt sich innerlich der Geist, gestaltets seiner N a t u r gemäß, und bildet wie er handeln würde, im Urtheil vor. Auf gemeines Urtheil der Menschen über fremdes Sein und fremde That, das mit todten Buchstaben nach leeren Formeln berechnet wird, ist freilich kein Verlaß, und gar anders als sie vorher ge | urtheilt haben, handeln sie hernach. H a t aber, wie es sein muß, wo wahres Leben ist, ein inneres Handeln das Bilden der Fantasie begleitet, und ist das Urtheil dieses innern Handelns lautes Bewußtsein 38 : dann hat das angeschaute Fremde den Geist gebildet, eben als wär es auch in der Wirklichkeit sein Eigenes, als hätte er äußerlich gehandelt. So nehm idi wie bisher auch ferner kraft dieses innern Handelns von der ganzen Welt Besiz, und beßer nuz ich Alles in stillem Anschaun, als wenn jedes Bild in raschem Wechsel audi äußere That begleiten müßte. Tiefer prägt so sich jedes Verhältniß ein, bestimmter ergreifts der Geist, und reiner ist des eignen Wesens Abdruk im freien unbefangnen Urtheil. Was dann das äußere Leben wirklich bringt ist nur des frühern und reichern innern Bestätigung und Probe, und in das dürftige M a a ß von jenem ist nicht die Bildung des Geistes eingeschränkt. Ueber des Schiksals T r ä g | heit klag ich nicht mehr, als über seinen schnellen und krümmungsvollen L a u f . Ich weiß, daß nie mein äußeres Leben von allen Seiten das innere Wesen darstellen und vollenden wird. N i e wird es mir ein großes Verhältniß bieten, w o meine That das Wol und Weh von Tausenden entscheidet, und sichs äußerlich beweisen kann, wie Alles mir Nichts ist gegen ein einzges von den hohen und heiligen Idealen der Vernunft. N i e werd ich vielleicht in ofne Fehde mit der Welt gerathen, und zeigen können, wie wenig Alles, was ihr zu geben und zu nehmen vergönnt ist, meinen innern Frieden und die stille Einheit meines Wesens stört. Doch weiß ich in mir selbst, wie ich auch das behandeln würde, wie zu dem

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allen schon lange mein Gemüth bereitet und gebildet ist. So leb ich in stiller Verborgenheit doch auf dem großen thatenreichen Schauplaz der Welt. So ist der Bund mit der geliebten Seele schon dem Einsamen ge | stiftet, die schöne Gemeinschaft besteht, und ist der beßre Theil des Lebens37. So werd ich auch der Freunde Liebe die einzige theure Habe mir gewiß erhalten, was auch mir oder ihnen in Zukunft mag begegnen. Wol fürchten die Menschen, daß nicht lange die Freundschaft währe, wandelbar scheint ihnen das Gemüth, es könne der Freund sich ändern, mit der alten Gesinnung fliehe die alte Liebe, und Treue sei ein seltenes Gut. Sie haben Recht; es liebt ja, wenn sie über das Nüzliche hinaus noch etwas kennen, doch Einer vom Andern nur den leichten Schein der das Gemüth umfließt, die oder jene Tugend, die was sie eigentlich im Innern sei, sie nie erforschen; und wenn in den Verwirrungen des Lebens ihnen das zerfließt, so sdiämen sie sich nicht nach langen Jahren noch zu gestehn, sie haben am Menschen sich geirrt. Mir ist nicht schöne Gestalt noch was sonst im ersten Anblik das Herz der Menschen fängt ver| liehen: doch webt sich Jeder der mein Innres nicht durchschaut auch einen solchen Schein. Da wird das gute Herz geliebt das ich nicht möchte, das bescheidne Wesen das ich nicht habe, die Klugheit auch die ich von Herzen verachte. Ja solche Liebe hat mich schon oft verlaßen; auch gehört sie nicht zu jener Habe die mir theuer ist. Nur was ich selbst hervorgebracht und immer wieder aufs Neue mir erwerbe, ist für mich Besiz: wie könnt ich zu dem Meinen rechnen, was nur aus jenem Schein entsteht den ihr blödsichtig Auge dichtet. Rein weiß ich mich davon, daß ich sie nicht betrüge; aber warlich es soll die falsche Liebe mich auch nicht länger als ich es tragen mag verfolgen. Nur eine Aeußerung des innern Wesens, die sie nicht mißverstehen können, kostets mich; nur einmal sie grade hin auf das zu führen, was ich im Gemüth am köstlichsten bewahre, und was sie nicht dulden mögen: so bin ich ledig der Qual, daß | sie mich für den ihren halten, daß mich lieben, die midi haßen sollten. Gern geb ich ihnen die Freiheit wieder, die in falschem Schein befangen war. Die aber sind mir sicher, die wirklich mich, mein innres Wesen lieben wollen, und fest umschlingt sie das Gemüth, und wird sie nimmer laßen. Sie haben mich erkannt, sie schauen den Geist, und die ihn einmal lieben wie er ist, die müßen ihn immer wieder und immer tiefer lieben, je mehr er sich entwikelt und bildet37. Dieser Habe bin ich so gewiß als meines Seins; auch hab ich Keinen noch verloren, der mir je in Liebe theuer ward. Du der in frischer

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IV. Aussicht

Blüthe der Jugend, mitten im rasdien frohen Leben unsern Kreis verlaßen mußtest — ja, ich darf anreden das geliebte Bild das mir im Herzen wohnt, das mit dem Leben und der Liebe fortlebt, und mit dem Gram — nimmer hat dich mein Herz verlaßen; es hat dich mein Ge | danke fortgebildet, wie du dich selbst gebildet haben würdest, hättest du erlebt die neuen Flammen, die die Welt entzünden, es hat dein Denken mit dem Meinen sich vereint, und das Gespräch der Liebe zwischen uns, der Gemüther Wechselanschauung hört nimmer auf, und wirket fort auf mich als lebtest du neben mir wie sonst. Ihr Geliebten, die ihr wirklich, nur in der Ferne lebt, und oft von eurem Geist und Leben ein frisches Bild mir sendet, was kümmert uns der Raum? Wir waren lange bei einander und waren uns weniger gegenwärtig als wir jetzt sind: denn was ist Gegenwart als die Gemeinschaft der Geister? Was ich nicht sehe von Eurem Leben bild ich selbst, Ihr seid mir nahe bei allem in mir, um mich her, was Euren Geist lebendig berühren muß, und wenig Worte bestätigen mir alles oder leiten auf rechte Spur mich wo noch Irrthum möglich war. Ihr, die Ihr midi jezt umgebt in süßer Liebe, Ihr | wißt wie wenig die Lust mich quält die Erde zu durchwandeln; ich stehe fest an meinem Ort, und werde nicht verlaßen den schönen Besiz, in jedem Augenblik Gedanken und Leben mit Euch tauschen zu können; wo solche Gemeinschaft ist, da ist mein Paradies. Gebietet über Euch ein anderer Gedanke, wol: es giebt für Uns doch keine Entfernung — Aber Tod? Was ist denn Tod, als größere Entfernung? Düstrer Gedanke, der unerbittlich jedem Gedanken an Leben und Zukunft folgt! Wol kann ich sagen, daß die Freunde mir nicht sterben 38 ; ich nehm ihr Leben in mich auf, und ihre Wirkung auf midi geht niemals unter: mich aber tödtet ihr Sterben. Es ist das Leben der Freundschaft eine schöne Folge von Akkorden, der, wenn der Freund die Welt verläßt, der gemeinschaftliche Grundton abstirbt. Zwar innerlich hallt ihn ein langes Eccho ununterbrochen nach, und weiter geht die Musik: doch erstorben | ist die begleitende Harmonie in ihm, zu welcher ich der Grundton war, und die war mein, wie diese in mir sein ist. Mein Wirken in ihm hat aufgehört, es ist ein Theil des Lebens verloren. Durch Sterben tödtet jedes liebende Geschöpf, und wem der Freunde Viele gestorben sind, der stirbt zulezt den Tod von ihrer Hand, wenn ausgestoßen von aller Wirkung auf die, welche seine Welt gewesen, und in sidi selbst zurück gedrängt, der Geist sich selbst verzehrt. Zwiefach ist des Menschen nothwendiges Ende. Vergehen muß, wem so unwiederbringlich das Gleichgewicht zerstört ist zwi-

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sehen dem innern und äußern Leben. Vergehen müßte auch, wem es anders zerstört ist, wer, am Ziele der Vollendung seiner Eigenthümlichkeit angelangt, von der reichsten Welt umgeben, in sich nichts mehr zu handeln hätte; ein ganz vollendetes Wesen ist ein Gott, es könnte die Last des Lebens nicht ertragen, und hat nicht in der Welt der Menschheit | Raum. Nothwendig also ist der Tod, und dieser Nothwendigkeit midi näher zu bringen sei der Freiheit Werk, und sterben wollen können mein höchstes Ziel! Ganz und innig will ich die Freunde umfaßen und ihr ganzes Wesen ergreifen, daß jeder mich mit süßen Schmerzen tödten helfe, wenn er mich verläßt, und immer fertiger will ich mich bilden, daß auch so dem Sterben wollen immer näher die Seele komme. Aus beiden Elementen ist immer der Tod des Menschen zusammengesezt, und so werden nicht die Freunde alle mich verlaßen, noch werd ich jemals ganz der Vollendung Ziel erreichen. In schönem Ebenmaaß werd ich nach meines Wesens Natur mich ihm von allen Seiten nähern; dies Glück gewähren mir meine schöne Ruhe, und mein stilles gedankenvolles Leben. Es ist das höchste für ein Wesen wie meines, daß die innere Bildung auch übergeh in äußre Darstellung, denn durch Vollendung nähert jede Natur sich ih | rem Gegensaz. Der Gedanke in einem Werk der Kunst mein innres Wesen, und mit ihm die ganze Ansicht, die mir die Menschheit gab, zurükzulaßen, ist in mir die Ahndung des Todes. Wie ich mir der vollen Blüthe des Lebens bewußt zu werden anfing, keimte er auf, jetzt wächst er in mir täglich und nähert sich der Bestimmtheit. Unreif, ich weiß es, werd ich ihn aus freiem Entschluß aus meinem Innern lösen, ehe das Feuer des Lebens ausgebrannt ist; ließ ich ihn aber reifen und vollkommen werden das Werk: so müßte dann, so wie das treue Ebenbild erschiene in der Welt, mein Wesen selbst vergehn; es wäre vollendet39.

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V. Jugend und Alter. Wie der Uhren Schlag mir die Stunden, der Sonne Lauf mir die Jahre zuzählt, so leb ich — ich weiß es — immer näher dem Tode entgegen. Aber dem Alter auch? dem schwachen stumpferen Alter auch, worüber Alle so bitter klagen, wenn unvermerkt ihnen verschwunden ist die Lust der frohen Jugend, und der innern Gesundheit und Fülle übermüthiges Gefühl? Warum laßen sie verschwinden die goldene Zeit, und beugen dem selbstgewählten Joch seufzend den Naken? Auch ich glaubte schon einst, daß nicht länger dem Manne geziemten die Rechte der Jugend; leiser und be | dächtig wollte ich einhergehn, und durch der Entsagung weisen Entschluß mich bereiten zur trüberen Zeit. Aber es wollten nicht dem Geist die engeren Grenzen genügen, und es gereute mich bald des verkümmerten nüchternen Lebens. D a kehrte auf den ersten Ruf die freundliche Jugend zurük, und hält mich immer seitdem umfaßt mit sdiüzenden Armen. Jezt wenn ich wüßte, daß sie mir entflöhe wie die Zeiten entfliehen, ich stürzte midi lieber bald dem Tode freiwillig entgegen, daß nicht die Furcht vor dem sicheren Uebel mir jegliches Gute bitter vergällte, bis ich mir endlich doch durch unfähiges Dasein ein schlechteres Ende verdient. Doch ich weiß, daß es nicht also sein kann: denn es soll nicht. Wie? es dürfte das Leben des Geistes, das freie, das ungemeßne mir eher verrinnen als das irdische, das beim ersten Schlage des Herzens schon die Keime des Todes enthielt? Nicht immer | sollte mir mit der vollen gewohnten Kraft aufs Schöne gerichtet die Fantasie sein? Nicht immer so leicht der heitere Sinn, und so rasch zum Guten bewegt und liebevoll das Gemüth? Bange sollt ich horchen den Wellen der Zeit, und sehen müßen, wie sie mich abschliffen und ausholten, bis ich endlich zerfiele? Sprich doch Herz, wie viel Male dürft ich noch zählen,

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bis das Alles käme, die Zeit, die mir jezt eben verging bei dem Jammergedanken? Gleich wenig wären mir, wenn ichs abzählen könnte, Tausende oder Eins. Daß du ein Thor wärest zu weißsagen aus der Zeit auf die Kraft des Geistes, deßen Maaß jene nimmer sein kann! Durchwandeln doch die Gestirne nicht in gleicher Zeit daßelbe von ihrer Bahn, sondern ein höheres Maaß mußt du sudien um ihren Lauf zu verstehn: und der Geist sollte dürftigern Gesezen folgen als sie? Audi folgt er nicht. Frühe sucht Manchen das Alter heim, das | mürrische dürftige hofnungslose, und ein feindlicher Geist bricht ihm ab die Blüthe der Jugend, wenn sie kaum sich aufgethan; lange bleibt Andern der Muth, und das weiße Haupt hebt noch und schmükt Feuer des Auges und des Mundes freundliches Lächeln. Warum soll ich nicht länger noch, als der am längsten da stand in der Fülle des Lebens, mir im glüklichen Kampf abwehren den verborgenen Tod? Warum nicht ohne die Jahre zu zählen und des Körpers Verwittern zu sehen, durch des Willens Kraft festhalten bis an den lezten Athemzug die geliebte Göttin 40 ? Was denn soll diesen Unterschied machen, wenn es der Wille nicht ist? H a t etwa der Geist sein bestimmtes Maaß und Größe, daß er sich ausgeben kann und erschöpfen? N u z t sich ab seine Kraft durch die That, und verliert etwas bei jeder Bewegung? Die des Lebens sich lange freuen, sind es nur die Geizigen, welche wenig gehandelt haben? Dann | treffe Schande und Verachtung jedes frische und frohe Alter: denn Verachtung verdient wer Geiz übt in der Jugend. Wäre so des Menschen Loos und Maaß, möcht ich lieber zusammendrängen was der Geist vermag in engen Raum: kurz möchte ich leben um jung zu sein und frisch so lange es währt! Was hilfts die Stralen des Lichts dünn auszugießen über die große Fläche? es offenbart sich nicht die Kraft und richtet Nichts aus. Was hilft Haushalten mit dem Handeln, und Ausdehnen in die Länge, wenn du schwächen mußt den innern Gehalt, wenn doch am Ende nicht mehr ist was du gehabt hast? Lieber gespendet in wenig Jahren das Leben in glänzender Verschwendung, daß du dich freuen könnest deiner Kraft, und übersehen was du gewesen bist. Aber es ist nicht so unser Loos und Maaß; es vermag nicht solch sinnlicher Begrif in seinen Kreis zu bannen den Geist. Woran sollte sich brechen seine Gewalt? was | verliert er von seinem Wesen, wenn er handelt und sich mittheilt? was giebts das ihn verzehrt? Klarer und reicher fühl ich mich jezt nach jedem Handeln, stärker und gesunder: denn bei jeder That eigne ich etwas mir an von dem gemeinschaftlichen Nahrungsstoffe der Menschheit,

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V. Jugend und Alter

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und wachsend bestimmt sich genauer meine Gestalt. Ists nur so, weil ich jezt noch die Höhe des Lebens hinaufsteige? wol; aber wann kehrt sich denn plözlich um das schöne Verhältniß? wann fang ich an durch die That nicht zu werden sondern zu vergehen? und wie wird sich mir verkünden die große Verwandlung? Kommt sie, so muß ich sie erkennen, und erkenne ich sie, so wähle ich lieber den Tod, als in langem Elend anzuschaun an mir selbst der Menschheit nichtiges Wesen. Ein selbstgeschafnes Uebel ist das Verschwinden des Muthes und der Kraft; ein leeres Vorurtheil ist das Alter, die schnöde Frucht von dem tollen Wahn, daß der | Geist abhänge vom Körper! Aber ich kenne den Wahn, und es soll mir nicht seine schlechte Frucht das gesunde Leben vergiften. Bewohnt denn der Geist die Faser des Fleisches, oder ist er eins mit ihr, daß auch er ungelenk zur Mumie wird, wenn diese verknöchert? Dem Körper bleibe was sein ist. Stumpfen die Sinne sich ab; werden schwächer die Bilder von den Bildern der Welt: so muß wol auch stumpfer werden die Erinnerung, und schwächer manches Wohlgefallen und manche Lust. Aber ist dies das Leben des Geistes? dies die Jugend, deren Ewigkeit ich anbete? Wie lange wär ich schon des Alters Sklave, wenn dies den Geist zu schwächen vermöchte! Wie lange hätte ich schon der schönen Jugend das lezte Lebewol zugerufen! Aber was noch nie mich gestört hat im kräftigen Leben, soll es auch nimmer vermögen. Wozu denn haben Andere neben mir beßeren Leib und schärfere Sinne? werden sie ] mir nicht immer gewärtig sein zum liebreichen Dienste wie jezt? Daß ich trauren sollte über des Leibes Verfall wäre mein leztes! was kümmert er mich? Und welches Unglük wird es denn sein, wenn ich nun vergeße was gestern geschah? Sind eines Tages kleine Begebenheiten meine Welt? oder die Vorstellungen des Einzelnen und Wirklichen aus dem engen Kreise den des Körpers Gegenwart umfaßt, die ganze Sphäre meines innern Lebens? Wer also in niedrigem Sinn die höhere Bestimmung verkennt, wem die Jugend nur lieb war, weil sie das beßer gewährt, der klage mit Recht über das Elend des Alters! Aber wer wagt es zu behaupten, daß auch das Bewußtsein der großen heiligen Gedanken, die aus sich selbst der Geist erzeugt, abhänge vom Körper, und der Sinn für die wahre Welt von der äußeren Glieder Gebrauch? Brauch ich um anzuschaun die Menschheit das Auge, deßen Nerve sich | jezt schon abstumpft in der Mitte des Lebens? Oder muß, auf daß ich lieben könne, die es werth sind, das Blut, das jezt schon langsam fließt, sich in rascherem Lauf drängen durch die engen K a -



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näle? Oder hängt mir des Willens Kraft an der Stärke der Muskeln? am Mark der gewaltigen Knochen? oder der Muth am Gefühl der Gesundheit? Es betrügt ja doch die es haben; in kleinen Winkeln verbirgt sich der Tod, und springt auf einmal hervor und umfaßt sie mit spottendem Gelächter. Was schadets denn, wenn ich schon weiß, wo er wohnt? Oder vermags der wiederholte Schmerz, Vermögens die mancherlei Leiden niederzudriiken den Geist, daß er unfähig wird zu seinem innersten eigensten Handeln? Ihnen widerstehn ist ja auch sein Handeln, und auch sie rufen große Gedanken zur Anwendung hervor ins Bewußtsein. Dem Geist kann kein Uebel sein, was sein Handeln nur ändert. | Ja, ungeschwächt will ich ihn in die späteren Jahre bringen, nimmer soll der frische Lebensmuth mir vergehn; was midi jezt erfreut soll mich immer erfreun; stark soll mir bleiben der Wille und lebendig die Fantasie, und nichts soll mir entreißen den Zauberschlüßel, der die geheimnißvollen Thore der höhern Welt mir öfnet, und nimmer soll mir verlöschen das Feuer der Liebe. Ich will nicht sehn die gefürchteten Schwächen des Alters; kräftige Verachtung gelob ich mir gegen jedes Ungemach, welches das Ziel meines Daseins nicht trift, und ewige Jugend schwör ich mir selbst41. Doch verstoß ich auch nicht mit dem Schlechten das Gute? Ist denn das Alter, entgegengestellt der Jugend, nur Schwäche? Was verehren denn die Menschen an den greisen Häuptern, auch an denen die keine Spur haben von der ewigen Jugend, der schönsten Frucht der Freiheit? Ach oft ist es nichts, als daß die Luft die sie einath | meten und das Leben das sie führten wie ein Keller war, worin ein Leichnam sich lange erhält ohne die Verwesung zu sehen, und dann verehrt sie als heilige Leiber das Volk. Wie das Gewächs des Weinstocks ist ihnen der Geist: ist es auch schlechter Natur; es wird doch beßer, und höher geschäzt, wenn es alt wird. Aber nein! sie reden gar viel von den eigenen Tugenden der höheren Jahre, von der nüchternen Weisheit, von der kalten Besonnenheit, von der Fülle der Erfahrung, und von der bewunderungslosen gelaßenen Vollendung in der Kenntniß der bunten Welt. Nur der Menschheit vergängliche Blüthe sei die reizende Jugend; aber die reife Frucht sei das Alter, und was es dem Geiste bringt. Da sei erst aufs höchste geläutert durch Luft und Sonne, und in schöner bedeutender Gestalt vollendet und zum Genuß bereitet das Innerste der menschlichen Natur. O der nordischen Barbaren, die das schönere Kli | ma nicht kennen, wo zugleich glänzt die Frucht und die Blüthe, und in schönem Wetteifer sich immer beide vereini-

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V. J u g e n d und Alter

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gen! Ist die Welt so kalt und unfreundlich, daß sich der Geist nicht zu dieser höhern Schönheit und Vollendung erheben dürfte? Wol kann nicht Jeder Alles haben was schön und gut ist; aber unter die Menschen sind die Gaben vertheilt, nicht unter die Zeiten. Ein ander Gewächs ist Jeder; aber dies kann blühen und Früchte tragen immerdar. Was sich in Demselben vereinigen kann, das kann er auch Alles neben einander haben und erhalten, kann es und soll es auch. Wie kommt dem Menschen die besonnene Weisheit und die reife Erfahrung? wird sie ihm gegeben von oben herab, und ists höhere Bestimmung, daß er sie nicht eher erhält, als wenn er beweisen kann, daß seine Jugend verblüht ist? Ich fühle, wie ich sie jezt erwerbe; es ist das Treiben der Jugend und das frische Leben des Geistes, was | sie hervorbringt. Umschaun nach allen Seiten, aufnehmen Alles in den innersten Sinn, besiegen einzelner Gefühle Gewalt, daß nicht die Thräne, seis der Freude oder des Kummers, trübe das Auge des Geistes und verdunkle seine Bilder, rasch sich von einem zum andern bewegen, und unersättlich im Handeln auch fremdes Thun noch innerlich nachahmend abbilden; das ist das muntere Leben der Jugend, und das ist das Werden der Weisheit und der Erfahrung. J e beweglicher die Fantasie, je schneller die Thätigkeit des Geistes: desto eher wachsen und werden sie. Und wenn sie geworden sind, dann sollte dem Menschen nicht mehr ziemen das muntere Leben, das sie erzeugt hat? Sind sie denn je vollendet die hohen Tugenden? und wenn sie durch die Jugend und in ihr geworden sind, bedürfen sie nicht immer derselben Kraft um noch mehr zu werden und zu wachsen? Aber mit leerer Heuchelei betrügen sich die Menschen um | ihr schönstes Gut, und auf den tiefsten Grund der beschränktesten Unwißenheit ist die Heuchelei gebaut. Der Jugend Beweglichkeit, meinen sie, sei das Treiben deßen der noch sucht, und Suchen zieme nicht mehr dem, der am Ende des Lebens ist; er müße sich schmücken mit träger Ruhe, dem verehrten Symbol der Vollendung, mit der Leerheit des Herzens, dem Zeichen von der Fülle des Verstandes; so müße der Mensch einhergehn im Alter, daß er nicht, wenn er noch immer zu suchen scheine, unter dem Gelächter des Spottes über das eitle Unternehmen hinab steigen müße in den Tod. Nur wer Schlechtes und Gemeines sucht, dem sei es ein Ruhm Alles gefunden zu haben! Unendlich ist was ich erkennen und besizen will, und nur in einer unendlichen Reihe des Handelns kann ich mich selbst ganz bestimmen. Von mir soll nie weichen der Geist, der den Menschen vorwärts | treibt, und das Verlangen, das nie gesättigt von dem, was gewesen ist, immer Neuem

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entgegen geht. Das ist des Menschen Ruhm, zu wißen, daß unendlich sein Ziel ist, und doch nie still zu stehn im Lauf; zu wißen, daß eine Stelle kommt auf seinem Wege die ihn verschlingt, und doch an sich und um sich nichts zu ändern, wenn er sie sieht, und doch nicht zu verzögern den Schritt. Darum ziemt es dem Menschen immer in der sorglosen Heiterkeit der Jugend zu wandeln. Nie werd ich mich alt dünken, bis ich fertig bin; und nie werd ich fertig sein, weil ich weiß und will, was ich soll. Auch kann es nicht sein, daß das Schöne des Alters und der Jugend einander widerstrebe: denn nicht nur wächst in der Jugend weshalb sie das Alter rühmen; es nährt auch wieder das Alter der Jugend frisches Leben. Beßer gedeiht ja, wie Alle sagen, der junge Geist, wenn das reife Alter sich seiner annimmt: so verschönt sich auch | des Menschen eigne innere Jugend, wenn er schon errungen hat, was dem Geiste das Alter gewährt. Schneller übersieht was da ist der geübte Blik, leichter faßt Jeder wer schon viel ähnliches kennt, und wärmer muß die Liebe sein, die aus einem höhern Grade eigener Bildung hervorgeht. So soll mir bleiben der Jugend Kraft und Genuß bis ans Ende. Bis ans Ende will ich stärker werden und lebendiger durch jedes Handeln, und liebender durch jedes Bilden an mir selbst. Die Jugend will ich dem Alter vermählen, daß auch dies habe die Fülle und durchdrungen sei von der allbelebenden Wärme. Was ists denn worüber sie klagen im Alter? Es sind nicht die nothwendigen Folgen der Erfahrung der Weisheit und der Bildung. Macht der Schaz der bewahrten Gedanken stumpf des Menschen Sinn, daß ihn nicht reizt weder Neues noch Altes? Wird die Weisheit mit ihrem festen Wort zulezt banger Zweifel, der jedes | Handeln zurükhält? Ist die Bildung ein Verbrennungsgeschäft, das in todte Maße den Geist verwandelt? Was sie klagen ist nur, daß ihnen die Jugend fehlt. Und die Jugend warum fehlt sie ihnen? Weil in der Jugend ihnen das Alter gefehlt hat. Doppelt sei die Vermählung. Jezt schon sei im starken Gemüthe des Alters Kraft, daß sie Dir erhalte die Jugend, damit später die Jugend Dich schüze gegen des Alters Schwäche. Wie sie es theilen, soll gar nicht das Leben getheilt sein. Es erniedrigt sich selbst wer zuerst jung sein will, und dann alt, wer zuerst allein herrschen läßt, was sie den Sinn der Jugend nennen, und dann allein folgen, was ihnen der Geist des Alters scheint; es verträgt nicht das Leben diese Trennung seiner Elemente. Ein doppeltes Handeln des Geistes ist es, das vereint sein soll zu jeder Zeit; und das ist die Bildung und die Vollkommenheit, daß Beider sich

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V. Jugend und Alter

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immer inniger bewußt werde der Mensch | in ihrer Verschiedenheit, und daß er in Klarheit sondere eines jeden eignes Geschäft. Für die Pflanze ist das Höchste die Blüthe, die schöne Vollendung des eigenthümlichen Daseins; für die Welt ist das Höchste die Frucht, die Hülle für den Keim des künftigen Geschlechtes, das Geschenk was jedes eigene Wesen darbieten muß, daß die fremde N a t u r es mit sidi vereinigen möge. So ist auch für den Menschen das muntere Leben der Jugend das Höchste, und weh ihm, wenn es von ihm weicht: aber die Welt will, er soll alt sein, damit Früchte reifen, je eher je lieber. Also ordne dir das Leben einmal für immer. Was allzuspät die Menschen erst das Alter lehrt, wohin gewaltsam in ihren Feßeln die Zeit sie führt, das sei schon jezt aus des kräftigen Willens freier Wahl deine Weise in Allem was der Welt gehört. Wo die Blüthe des Lebens aus freiem Willen eine Frucht ansezt, da werde sie ein süßer Genuß der Welt, | und verborgen liege darin ein befruchteter Keim, der sich einst entwikelt zu eignem neuen Leben. Was du der Welt bietest, sei 4! Frucht. Opfere nicht den kleinsten Theil deines Wesens in falscher Großmuth! Laß dir kein Herz ausbrechen, kein Blättchen pflüken, weldies Nahrung dir einsaugt aus der umgebenden Welt! Treib audi nicht leeres Gewächs, ungestaltet und ungenießbar, wo etwa ein verderbliches Thierchen dich sticht; sondern Alles was nicht für dich selbst ist Wachsthum der Gestalt oder Bildung neuer Organe, das sei wahre Frucht, aus der innern Liebe des Geistes erzeugt, als freie That seines jugendlichen Lebens Denkmal. Wenn sie aber empfangen ist, tritt sie heraus aus dem Gebiet des innern Lebens, und dann werde sie weiter gebildet nach des äußern Handelns Gesez. Dann sei Klugheit um sie geschäftig und nüchterne Weisheit und kalte Besonnenheit, daß auch wirklich der Welt zu Gute komme, was | freigebig die Liebe ihr zugedacht hat. Dann wäge bedachtsam Mittel und Zwek, sorge und schaue umher mit weiser Furcht, halte zu Rath K r a f t und Arbeit, lege hoch an deine Mühe, und harre geduldig und unverdroßen des glüklichen Augenbliks. Wehe, wenn die Jugend in mir, die frische K r a f t die Alles zu Boden wirft, der leichte Sinn, der immer weiter will, sich je bemengte mit des Alters Geschäft, und mit schlechtem Erfolg auf dem fremden Gebiete des äußeren Thuns die Kraft verschwendete, die sie dem innern Leben entzöge! So mögen nur die untergehn, die das innere Handeln 4 * nicht kennen, und also mißverstehend den heiligen Trieb jugendlich sein wollen im äußeren Thun. Im Augenblik soll eine Frucht reifen, wie eine Blüthe sich entfaltet in einer Nacht; es drängt ein

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Entwurf den andern, und keiner gedeiht; und im raschen Wechsel widersprechender Mittel zerstört sich jedes angefangene Werk. Haben sie so in | vergeblichen Versuchen die schöne Hälfte des Lebens verschwendet, und nichts gewirkt und gethan, da Wirken und Thun ihr ganzer Zweck war: so verdammen sie den leichten Sinn und das rasche Leben, und es bleibt ihnen allein das Alter zurük, schwach und elend wie es sein muß, wo die Jugend verscheucht und verzehrt ist. Daß sie mir nicht auch fliehe, will ich sie nicht mißbrauchen; sie soll mir nicht dienen auf fremdem Gebiete zu ungebührlichem Geschäft; in den Grenzen ihres Reichs will ich sie halten, daß ihr kein Verderben nahe. D a aber soll sie mir walten jezt und immer in ungestörter Freiheit; und kein Gesez, welches nur dem äußeren Thun gebieten darf, soll mir das innere Leben beschränken. Alles Handeln in mir und auf midi, das der Welt nicht gehört, und nur mein eigenes Werden ist, trage ewig der Jugend Farbe, und gehe fort nur dem innern Triebe folgend in schöner sorgloser Freude. Laß dir | keine Ordnung gebieten, wenn du anschauen sollst oder begreifen, wenn in dich hineingehn oder aus dir heraus! lustig das fremde Gesez verschmäht und den Gedanken verscheucht, der in todten Buchstaben verzeichnen will des Lebens freien Wechsel. Laß dir nicht sagen, dies müße erst vollendet sein, dann jenes! Gehe weiter wenns dir gefällt mit leichtem Schritt: lebt doch Alles in dir und bleibt was du gehandelt hast, und findest es wieder wenn du zurük kommst. Laß dir nicht bange madien, was wol daraus werden möchte, wenn du jezt dies beginnst oder jenes! Wird immer Nichts als du: denn was du wollen kannst gehört auch in dich hinein. Wolle ja nicht mäßig sein im Handeln! Lebe frisch immer fort: keine Kraft geht verloren, als die du ungebraucht in dich zurükdrängst. Wolle ja nicht dies jezt, damit du hernach wollen könnest jenes! Schäme dich, freier Geist, wenn etwas in dir sollte dienen dem andern; | nichts darf Mittel sein in dir, ist ja Eins so viel werth als das Andere; drum was du wirst werde um sein selbst willen. Närrischer Betrug, daß du wollen solltest was du nicht willst! Laß dir nicht gebieten von der Welt, wenn und was du leisten solltest für sie! Verladie stolz die thöridite Anmaßung muthiger Jüngling, und leide nicht den Druk. Alles ist deine freie Gabe: denn in deinem innern Handeln muß aufgehn der Entschluß ihr etwas zu thun; und thue nichts als was dir in freier Liebe und Lust hervorgeht aus dem Innern des Gemüthes. Laß dir keine Grenzen sezen in deiner Liebe, nicht Maaß, nicht Art nicht Dauer! Ist sie doch dein Eigenthum: wer kann sie fordern? Ist doch

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V. Jugend und Alter

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ihr Gesez bloß in dir: wer hat etwas zu gebieten? Schäme dich fremder Meinung zu folgen in dem was das Heiligste ist! Schäme dich der falschen Schaam, daß sie nicht verstehen möchten, wenn du den Fragenden sagtest: darum liebe ich. Laß dich nicht | stören, was auch äußerlich geschehe, in des innern Lebens Fülle und Freude! Wer wollte vermischen was nicht zusammen gehört, und grämlich sein in sich selbst? Härme dich nicht, wenn du dies nicht sein kannst, und Jenes nicht thun! Wer wollte mit leerem Verlangen nach der Unmöglichkeit hinsehn, und mit habsüchtigem Auge nach fremdem Gut? So frei und frölich bewegt sich mein inneres Leben! Wenn und wie sollte wol Zeit und Schiksal mich andere Weisheit lehren? Der Welt laß ich ihr Recht: nach Ordnung und Weisheit, nach Besonnenheit und Maaß streb ich im äußern Thun. Warum sollt ich auch verschmähen was sich leicht und gern darbietet, und willig hervorgeht aus meinem innern Wesen und Handeln? Ohne Mühe gewinnt das Alles in reichem Maaße wer die Welt anschaut; aber durch das Anschaun seiner selbst gewinnt der Mensch, daß sich ihm nicht nähern ] darf Muthlosigkeit und Schwäche: denn dem Bewußtsein der innern Freiheit und ihres Handelns entsprießt ewige Jugend und Freude. Dies hab ich ergriffen und laße es nimmer, und so seh ich lächelnd schwinden der Augen Licht, und keimen das weiße Haar zwischen den blonden Loken. Nichts was geschehen kann mag mir das Herz beklemmen; frisch bleibt der Puls des innern Lebens bis an den Tod.

Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde 1800

Einleitung des Herausgebers Schleiermachers „Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde" sind in der ersten Junihälfte des Jahres 1800 in Lübeck und Leipzig bei Friedrich Bohn erschienen, und zwar wie alle Frühschriften Schleiermachers (abgesehen von den Predigten) ohne Nennung des Verfassers. In der vorliegenden Ausgabe wird der Text dieses Erstdrucks von 1800 wiedergegeben. Seine Seitenzahlen sind hier am oberen Seitenrand angegeben; im Text sind die Seitenanfänge durch Querstriche gekennzeichnet. Die „Sämmtlichen Werke" drucken die „Lucinden-Briefe" 3. Abt., Bd. I, Seite 421—jo6 ab. Weitere Auflagen sind erst nach Schleiermachers Tode erschienen, zuerst 1835 durch Karl Gutzkow. Schon im September und Dezember 1799 kann Friedrich Schlegel sich auf Äußerungen Schleiermachers beziehen, wonach dieser Lust hätte, etwas über die „Moralität der Lucinde" zu schreiben (Br. III, 1 2 1 . 1 3 7 ) . Anfang Januar 1800, d.h. gleich nach Abschluß der „Monologen" hat Schleiermacher dann die bestimmte Absicht zu einer Schrift über die „Lucinde" (Vgl. Br. III, 145). Abgesehen von den wiederholten Bitten Friedrich Schlegels haben ihn dazu die maßlosen und weithin verständnislosen Angriffe auf Sdilegels Roman veranlaßt. Diese trafen ja den ganzen Kreis der romantischen Genossen. Am 4. Januar 1800 schreibt Schleiermacher an Brinkmann: „Der Parteigeist verblendet die Menschen bis zur Raserei, und die Verletzung der Decenz, dieses höchst unbestimmte Verbrechen, dessen man bezüchtigen und loslassen kann wie und wen man will, läßt auch vernünftige Menschen alles Schöne und Vortreffliche in diesem Buch und seinen eigentühmlichen gewiß großen Geist übersehen... Uberhaupt ist bei den Meisten dieser Punkt nur Vorwand, um eine Brücke zu Schlegels Persönlichkeit zu finden, und bei Andern ist es Verdruß, daß sie für die Verletzung der Decenz nicht die Valuta in baarem Sinnenkizel empfangen haben, wie es doch hergebracht ist. Schon seit

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langer Zeit bin ich in Versuchung, etwas über die Lucinde zu schreiben, damit die Leute doch dieses recht und das Andere endlich auch einmal sehen, — es sind nur äußere Verhältnisse, die mich daran gehindert haben; ich hoffe aber noch eine gute Auskunft zu finden." (Br. IV, 54). Schleiermacher hat in Bezug auf seine „Lucinden-Briefe" besonders sorgfältige Vorkehrungen getroffen, um die Anonymität zu wahren. Es wurde ein auswärtiger Verleger gewählt, und die Manuskriptteile, die sofort nach Fertigstellung in die Druckerei wanderten, gingen durch die Hände Friedrich Schlegels, der auch die Verhandlungen mit dem Verleger führte. Ende März oder Anfang April 1800 hatte Schlegel die ersten Briefe in Händen, am 5. Mai bestätigt er den Empfang des Schlusses. Am 2. Juni schickt Dorothea die letzten Aushängebogen an Schleiermacher. Nadi eigener Aussage hat Schleiermacher in den „Lucinden-Briefen" „bei allen eingeführten Personen wirkliche im Sinn gehabt, und besonders ist die auffallendste, die Lenore, ganz genau eine wirkliche Frau". Er schreibt weiter an Willich: „Was unter diesem Namen gesagt wird, ist ganz ihr Gedachtes und großentheils auch ihre Worte" (Br. I, 274). Es handelt sich um Eleonore Grunow, und es dürfte auch dies zum Entstehen der „Lucinden-Briefe" beigetragen haben, daß Schleiermacher hier sein Verhältnis zu Eleonore in idealisierter Gestalt und seinen geheimen Wünschen entsprechend darstellen konnte (vgl. auch Anm. 34). Das Vorbild der „Ernestine" dürfte Henriette Herz gewesen sein. Sie war in jenen Jahren Schleiermachers nächste Bekannte und seine Hauptkorrespondentin. Überdies hat z . B . die Kritik an Fichtes Ehelehre eine Parallele in dem Briefwechsel zwischen Schleiermacher und Henriette Herz (vgl. Anm. 50). Nach Diltheys Vermutung ist als „Eduard" der Philologe Spalding dargestellt (Dilthey 543). Das erscheint jedoch unwahrscheinlich, da Schleiermacher erst 1803 in ein näheres Verhältnis zu ihm getreten ist. Er schreibt am 25. V. 1803 an Henriette Herz: „Denke Dir, daß ich neulich bei Gelegenheit, als mich Spalding fragte, ob ich ein Buch geschrieben, das man mir fälschlich zuschreibt, ihm die Luzindenbriefe bekannt habe; ich bin begierig, was er zu denen sagen w i r d . . . Idi bin so weit mit ihm, daß ich gern noch weiter kommen möchte, und mein Glaube an seinen Glauben an mich macht mich dreist." (Br. I, 365). Eher wäre bei „Eduard" an Alexander Graf zu Dohna zu denken, der zum engsten Freundeskreis der Herz/Schleiermacher gehörte, Schleiermacher ursprünglich bei Henriette Herz eingeführt

Einleitung des Herausgebers

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hatte, und dem die Eigenschaft des „Moderantismus" (vgl. unten S. 1 3 1 ) wohl zukommen dürfte. Ist die Vermutung Ernestine = Henriette Herz riditig, so legt sich für „Caroline" die jüngere Freundin der Herz, Rahel Levin, später verheiratete Varnhagen, nahe. Man darf jedoch nicht vergessen, daß es sicfh nur bei der Eleonore um ein wirkliches Porträt handelt. Schleiermacher selber ist sidi dessen bewußt gewesen, daß er mit seinen „Briefen" weit über den Inhalt der „Lucinde" selbst hinausgeht, ja, daß das Beste, was er gibt, gerade n i c h t in der „Lucinde" zu finden ist: „(Die Briefe) sind eigentlich mehr etwas über die Liebe als etwas über die Lucinde" schreibt er an Brinkmann (Br. IV, 74). Damit trifft sich das Urteil Fichtes, der über die „Lucinden-Briefe", ohne den Verfasser zu kennen, am 16. August 1800 an Friedrich Schlegel schreibt: „Der Verf. macht, scheint es mir, die Luc. zu sehr zu einem Lehrgedicht, das da diene zur Lehre, Ermahnung, Zucht in der Gerechtigkeit der Liebe. Das war wohl Ihre Absicht nicht." (Schulz II, 252). Schleiermachers „Lucinden-Briefe" sind auf diese Weise jedoch die klarste und durchdachteste Darstellung der in der Frühromantik sich von der Behauptung eines unbedingten Rechts der Individualität her entwickelnden und ihre Spitze gegen Fichtes Sittenlehre kehrenden Gedanken über Liebe und Ehe geworden. Zugleich zeigen sie klar die Konsequenzen des einseitigen Individualitätsgedarikens. Schleiermadier selber hat später die allgemeine sittliche Form der Ehe ü b e r den schwärmerischen Gedanken einer „Vollendung des Individuellen" gestellt. Man vergleiche die unten Seite 379 ff. abgedruckte Predigt über die Ehe, oder auch die entsprechenden, schon 1 8 1 2 niedergeschriebenen §§ in Schleiermachers „System der Sittenlehre", besonders folgende Sätze dort: „Unmittelbar vom ethischen aus müßte immer Vernunftthätigkeit vernichtet werden, wenn Mann und Frau sich trennen. Polygamie und trennbare Ehe sind im wesentlichen nicht unterschieden von vager Geschlechtsgemeinschaft." ( W III 5 , S. 258) und „Absolute Einzigkeit, Ideal der romantischen Liebe, setzt Vollendung des individuellen voraus. Nur durch diese, also in der Wirklichkeit gar nicht, wird die Deuterogamie ausgeschlossen." (a. a. O., S. 262). Audi hier wird deutlich, daß Schleiermacher während der Freundschaft mit Friedrich Schlegel in eine seiner Natur fremde Richtung gerissen worden ist. Das gilt auch rein ästhetisch von der Schleiermacher nicht gemäßen halb-dichterischen Form der Frühwerke, angefangen von den „Reden" bis hin noch zur äußeren Form der „Weihnachtsfeier".

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Vertraute Briefe über F. Schlegels Lucinde. 1800

Fast gleichzeitig mit den „Lucinden-Briefen", im Juli 1800, erschien eine Rezension der „Lucinde" durch Schleiermacher im „Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks", und zwar ebenfalls anonym. Hier wurde Schleiermacher selbst von den Freunden, sogar von den Schlegels, nicht erraten. Man hielt Fichte für den Verfasser, so daß Schleiermacher sich — mit einiger Empfindlichkeit — zu erkennen geben mußte (vgl. Br. III, 214). Die Anzeige Schleiermachers beschäftigt sich im wesentlichen mit der Verteidigung der künstlerischen Form der „Lucinde". Inhaltlich bedeutsam ist nur der Schluß: „Wie könnte es auch an Poesie fehlen, wo so viel Liebe ist! Durch die Liebe eben wird das Werk nicht nur poetisch, sondern auch religiös und moralisch. Religiös, weil sie überall auf dem Standpunkt gezeigt wird, von dem sie über das Leben hinaus in das Unendliche sieht; moralisch, indem sie von der Geliebten aus sich über die ganze Welt verbreitet und für Alle, wie für sich selbst, Freiheit von allen ungebührlichen Schranken und Vorurtheilen fordert. Wir gestehen, das Verhältniß der Poesie zur Moral nicht leicht anders w o so rein gefunden zu haben, als hier, wo keine von beiden der andern dient, aber jede in der andern lebt und sie verherrlicht." Die Rezension ist abgedruckt: Br. IV, S. 537—540. Die unmittelbare Wirkung der „Lucinden-Briefe" wurde von Schleiermacher selber zwiespältig beurteilt. Er schreibt an Willich: „Beinahe möchte ich mich darüber wundern, daß ich Ihnen die Briefe über die Luzinde so ohne alle üble Ahnung geschickt habe, da ich doch Ursach habe zu glauben, daß sie zwei von meinen Freunden von mir entfernt haben. (Der eine der beiden Freunde war Wedeke; vgl. Br. I, 276) Es ist der zarteste Gegenstand, über den geschrieben werden kann und wo die Mißverständnisse so sehr leicht sind und grade von den besten Menschen oft am schwerfälligsten genommen und zu einem Grunde von falschen Folgerungen gemacht werden." (Br. I, 274). Wohl im Hinblick auf die Entwicklung des Verhältnisses zu Eleonore Grunow schreibt Schleiermacher am 25. Mai 1803 an Henriette Herz: „Bei dieser Gelegenheit las ich sie (cf. die „Lucinden-Briefe") wieder, wie wurde mir dabei zu Muth." (Br. I, 365). Die bedeutendste Nachwirkung haben die „Lucinden-Briefe" vielleicht auf Sören Kierkegaard gehabt. Der von Emanuel Hirsch nachgewiesene Einfluß von Schlegels „Lucinde" auf Form und Gehalt von „Entweder/Oder" („Wege zu Kierkegaard", Berlin 1968, Seite 9 ff.) ist doch wohl ohne die Mitwirkung von Schleiermachers Briefen über die Lucinde nicht voll zu verstehen. (Vgl. auch Anm. $8).

Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde.

Lübeck und Leipzig, bei Friedrich Bohn, 1800.

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Air" Hier hast Du, weil Du es verlangst, was zwischen uns bei Gelegenheit der Lucinde hin und her geschrieben worden ist, nebst ein Paar Kleinigkeiten, welche gewissermaßen dazu gehören. Was Du eigentlich damit willst, magst Du selbst wissen. Ich gestehe Dir, da Du uns Alle samt und sonders kennst, begreife ich nicht was für eine wunderbare Begierde und Eil Du haben kannst, einige einzelne Gedanken, Mißverständnisse und Erörterungen über Gegenstände zu vernehmen, über welche Dir doch unsere Gesinnungen nicht fremd sind. Ein tüchtiges Urtheil, wie wir es über die Bücher fällen, die so vorkommen, wirst Du doch nicht erwarten? Du weißt ja, wie das der Frauen Sache überall nicht ist, und wie ich scheu und bedächtig und ehrerbietig mit Allem umgehe, was sich mir als ein eigen gebildetes Wesen ankündigt, sei es ein Mensch oder ein Gedanke oder ein gebildetes Werk, und wie | lange und unersättlich ich bei der Anschauung verweile, ehe ich mich an etwas wage, was einer Uebersicht oder einem Urtheil ähnlich ist. Und nun gar dieses Werk, welches wie eine Erscheinung aus einer künftigen Gott weiß wie weit noch entfernten Welt da steht! Gewiß, sie könnte eben so lange vollendet sein, als sie nun unvollendet ist, ehe ich es mir erlauben würde, in diesem Sinne etwas über die Composition und die Kunst darin überhaupt zu sagen, das heißt wirklich zu meinen. Verhielte sich auch der zweite Theil zu dem ersten nur wie die Rückseite einer Schaumünze oder das Gegenstück eines Gemäldes; so würde ich mir bis zur Vollendung Schweigen und Ungewißheit gebieten, wieviel Betrachtungen dieser Art sich mir auch aufdrängen, seitdem ich mit dem Geist und Charakter des Buchs reciit gesättigt bin, und seitdem Friedrich Schlegel seine Ansicht von der romantischen Poesie in so klaren Worten von sich gegeben hat45. Doch lieber Freund, dieses Aufschieben eines vollendeten Urtheils geht bei mir nicht nur auf die Composition, sondern

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auf Alles, und ich müßte zu meinem Unglück weniger hohe Begriffe von dem haben, was die Kritik eigentlich leisten kann und soll, wenn es anders wäre. Wo so ] viel Schönheit und Harmonie ist, da muß auch zwischen dem Stoff und der Form, zwischen dem Dargestellten und der Darstellung ein so inniger Zusammenhang obwalten, daß die Einheit des Werks der einzige sichere Schlüssel zum Verständniß auch des Einzelnen bleibt, und der einzige Standpunkt zur vollständigen Beantwortung mancher Fragen, was mit diesem und jenem gemeint oder warum gerade dieses und jenes dargestellt sei. Also suche Nichts, was ein fertiges Urtheil wäre, auch nicht über die Gesinnung und den Charakter; nur Variationen über das große Thema der Lucinde, wie sie einem Jeden von uns ziemten und natürlich waren, einzelne Hinweisungen auf die lichten Punkte, von denen Glanz und Klarheit über das Ganze ausströmt. Gedanken die denen des Buchs bald gleich laufen bald sich mehr oder weniger davon entfernen, und tausend Ausdrücke meiner Achtung und Liebe für das in seiner Art einzige Werk, für welches mir eben deshalb alle Beinamen, die ich hieher hätte setzen können, nicht recht sind. Das Alles kann wol einen Ramen um die Lucinde ausmachen, auf dessen Feldern mit flüchtiger Hand leichte Zeichnungen entworfen sind, deren Beziehung auf das Werk, das sie gern umgeben | möchten, sie allein zu etwas macht — weiter aber auch nichts. Warum ich mir die Mühe nehme, Dir so ausführlich ans Herz zu legen, was diese Briefe nicht sind? Nicht aus Koketterie oder dergleichen etwas; sondern weil ich aus verschiedenen Umständen auf die Vermuthung gerathen bin, als führest Du im Schilde, sie drucken zu lassen. Schlechthin habe ich nichts dagegen; das kannst Du leicht denken, da Du weißt, wie ich über diesen Punkt selten einen Willen habe, und die Entscheidung gern denen überlasse, die Veranlassung haben, etwas darüber zu wollen. Aber in so fern Du irgend eine Absicht bei diesem Einfall gehabt hast, wirst Du ihn hoffentlich, wenn Du Dir dies Alles recht überlegst, bald aufgeben. Etwa eine Vermittelung zwischen dem Werk und dem allgemeinen Geschrei dagegen zu stiften, oder gar die Leute zu bekehren und zu belehren, dazu sind diese Briefe ihrer Entstehungsart und Natur nach gar nicht geeignet, und es muß nothwendig die Denkart, die sich hier äußert und die Voraussetzungen welche durchleuchten uns Alle in gleiche Verdammniß werfen, wie die Lucinde selbst, ja in noch är | gere, weil wir in prosaischer Besonnenheit und Ruhe reden. Soll ich Dir noch etwas gestehen? Als ich Deinen Vorsatz zuerst ahndete, machte er mir viel Freude, und ich

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sezte midi hin, um zu den wirklich geschriebenen Briefen noch ein Paar hinzuzudichten, die ganz polemischer Natur sein sollten gegen die über die Lucinde, das heißt über die Liebe und Alles, was damit zusammenhängt, herrschende — soll ich sagen Denkart? Haarklein, und bis zum eigenen Eingeständniß der Dummheit wollte ich den Leuten beweisen, daß sie sich nichts Gesundes denken, bei allem was sie vorbringen: ich habe sie aber nicht zu Stande bringen können. Es war mir schlechthin unmöglich, mich in eine Gemeinschaft oder ein Gespräch mit so Gesinnten hinein zu versetzen; ja auch nur eine Veranlassung zu erfinden, wie ich hineingerathen sein könnte, und ich wußte nicht, wie ich mich dazu anstellen sollte, vernünftig mit Leuten zu reden, denen die einfachsten und natürlichsten Begriffe nicht beizubringen sind, die nichts, auch nicht an seiner rechten Stelle, verstehen, und für nichts, was nicht in ihnen ist, irgendwo eine Stelle zu finden wissen, kurz — von denen man eigentlich Nichts sagen müßte, um Alles gesagt zu haben. Daraus habe ich | denn geschlossen, daß nur mein böser Dämon mir dies als etwas Mögliches und Ausführbares vorspiegelt. Laß Dich warnen, lieber Freund, derselbe treibt auch in Dir sein Wesen. Vielleicht wirst Du sagen, diese Unfähigkeit habe ihren Grund nur in der Manier, wie ich mit solchen Menschen im mündlichen Gespräch verfahre, und die sich freilich schriftlich noch weit komischer ausnehmen müßte, als Sturz Dialog vermittelst des einzigen Wortes Monsieur46. Irre Dich aber nicht, es liegt in der Sache selbst; es giebt zwischen diesen entgegengesezten Denkarten keine Verständigung und keine Mittheilung, wie es denn auch nicht anders sein kann, da der Gegensatz nicht irgendwo an der Seite oder auf der Oberfläche, sondern im Mittelpunkte liegt. Willst Du aber ohne alle Absicht nur eine Stimme hören lassen über diese Sache, gleichviel, ob es auch eine in der Wüste sei, die zu nichts dient, als daß das Aergerniß ja nicht abreiße: wol, so sei es drum. Nur erlaube mir, auf diesen Fall für etwas zu sorgen, was Du gewiß vernachläßigt hättest, nemlich daß wir uns zuvor gehörig vorsehen und uns einigen Schutz und Anhalt verschaffen. Deshalb sende ich Dir, | und mache Dirs zur unerlaßlichtn Bedingung, an die Spitze zu stellen folgende

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Zueignung an die Unverständigen. Lieben Freunde und Mitbürger in der Welt und in der Litteratur! Was von unser einem irgendwo gedruckt, oder auch nur für mehr als Einen gesagt und geschrieben wird, es sei Großes oder Kleines, das bringen wir immer sehr gern Euch zur Ansicht und Prüfung dar. Nicht etwa wegen Eurer reinen Verehrung für Worte, Buchstaben ja alle einzelne Züge und Töne an sich; sondern eigentlich aus ungeheuchelter Achtung für die Euch eigenthümliche Vortreflichkeit, und zu Folge der ehrfurchtsvollen Gesinnungen, welche Euer hoher Beruf in der Welt uns einflößen muß. Bemerkt nur dabei die Unparteilichkeit und Offenheit, die uns eigen ist, und achtet sie ein wenig, wenn Ihr könnt. Denn, daß ich es offenherzig bekenne, | wenn ich mir den Zustand und Fortgang der Menschheit betrachte, so erscheint Ihr mir darin als das nothwendige Gegengewicht gegen die unruhige Reizbarkeit, den fortschreitenden Geist und die thätige Weisheit derjenigen, denen Euer auszeichnender Name nicht zukommt, und zugleich gegen die leichte Verführbarkeit des Neuerungssüchtigen Volkes, gleichsam als der hohe und nicht genug zu verehrende Senat der Erhalter. Von Anbeginn der Welt habt Ihr diese Funktion zur Zufriedenheit des menschlichen Geschlechtes versehen: denn Euch allein verdanken wir es, daß es in dieser ewigen Fortschreitung etwas stillstehendes und bleibendes giebt. Euch ist es gegeben, das bewegliche Leben ertödtend zu fesseln, und was sich ohne Euch immer weiter veredelt und fortgebildet hätte, die rohesten Anfänge der kindischen Vernunft und die ungeschickten Werke des Zufalls, in festen Zügen darzustellen. Sobald etwas dieser Art unter uns dem Besseren Platz gemacht hat, bereitet Ihr es für Euch zu einer ewig dauernden Mumie, und bewahrt es als ein heiliges Palladium. Nicht vergeb | lieh seid Ihr zu diesem Endzweck ausgerüstet mit jener großen Naturkraft, die keiner andern an Allgegenwart und Unbegreiflichkeit weicht, sich aber ganz besonders in Euch verherrlicht, durch Euren standhaften Widerwillen gegen Alles, was lebt und athmet. Zuerst wie billig vernichtet Ihr in Euch jede freie Bewegung, um durch Euer ganzes Leben und Sein den heiligen Dienst der ehernen Formeln, zu dem Ihr berufen seid, auszudrücken, und dann stellt Ihr Euch zum gerechten Verfolgungskriege gegen Alles außer Euch, was dawider angeht, gleich unpartheiisch es sei Scherz oder Ernst, Witz oder Enthusiasmus, Vernunft oder Lei-

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denschaft, und sprecht über Alles Euer verdammendes Urtheil. Vorzüglich aber habt Ihr in Absicht der Liebe eine Constitution zu vertheidigen, an der Jahrhunderte gearbeitet haben, die die reifste Frücht ist von dem schönen Bunde der Barbarei und der Verkünstelung, und der schon so viel Leben und Gedeihen geopfert ist, daß es wol thöricht wäre, nicht auch das wenige übrige noch hinzugeben, um sie aufrecht zu erhalten. Auch seid Ihr durch den reichlichen Besitz | aller ökonomischen Herrlichkeiten, die sie Euch sichert, ihre zuverläßigsten und unbestechlichsten Verfechter. Und so widme ich Euch im Vertrauen auf Euren heiligen Eifer diese Blätter, um Euch das frevelhafteste Buch zu bezeichnen und die gefährlichsten Anschläge zu enthüllen. Die Liebe soll auferstehen, ihre zerstückten Glieder soll ein neues Leben vereinigen und beseelen, daß sie froh und frei herrsche im Gemüth der Menschen und in ihren Werken, und die leeren Schatten vermeinter Tugenden verdränge. J a wol die gefährlichsten Anschläge! denn wenn es offenbar wird, daß dasjenige, was ihr für den Angel der Tugend ausgebt, weit außerhalb alles Sittlichen liegt, wenn dieser Zauber gelöst wird, wer will dann dem neuen Leben wehren, welches sich von hier aus verbreiten kann? So könnte es leicht dahin kommen, und dies sei das schmerzhafteste, woran ich Euch erinnern will, daß Eure Nachkommen, im Geist nemlich — denn fehlen wird es doch an ihnen niemals — in Allem, was sittlich ist, und wenn auch Euer Sinn zehnfach auf ihnen ruhen sollte, ganz andern Formeln zu huldigen ge | nöthigt seyn werden, als diejenigen sind, welche Ihr gern für alle Ewigkeiten geltend machen möchtet. Diese Zeit wollen wir herbeiführen, thut Ihr indessen dagegen, was Euch recht dünkt, und erlaubt, daß wir uns nichts darum kümmern. Es thut mir leid um Dich, daß diese Zueignung etwas lang und breit gerathen ist, indessen hoffe ich wirst Du auch das nicht unschicklich und das Ganze besser finden, als irgend eine Disputation. Was hilft auch das Argumentiren? Eine Gesinnung vertheidigt sich nur, indem sie als in sich bestehend und an alles Große und Schöne sich anschließend bewährt wird. Diesen Versuch laß uns überall im Leben und in der Kunst vor Aller Augen anstellen, und sie zu Zuschauern einladen. Und so gehabe Dich wol und thue, wie Du willst.

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Erster Brief An Ernestine. Wirst Du sehr böse seyn, daß ich so lange gezögert habe, und daß Du deshalb vielleicht nicht die erste in L. bist, welche die lang erwartete Lucinde erhält? Sieh, ich wollte sie doch gern erst gelesen haben, um sie mit ein Paar Worten begleiten zu können, und Du weißt, wie schwer ich das Ende vom Lesen finde, und den Anfang zum Schreiben. Den lezten habe ich noch bis diesen Augenblick nicht, und möchte am liebsten Nichts sagen, oder ohne Anfang und Ende, und ohne auffallenden äußeren Zusammenhang, wie die Lucinde selbst oft dasteht, über sie reden und commentiren oder vielmehr sie wiederholen und nachsingen; so bin idi bis ins | Innerste von ihr getroffen und durchdrungen. Vorbereiten möchte idi Dich aber wenn idi könnte, ein wenig, damit Du nicht durch allerlei ungehörige Gedanken gestört und desorientirt, das Buch vielleicht erst einmal ungeschickt und ohne Genuß lesen müßtest, um des Lesens würdig zu werden. Entschlage Dich nur vorläufig, ich bitte Dich, alles dessen, was man bei der Ueberschrift Roman zu denken gewohnt ist, aller Erwartungen, die Du dir nach Allem, was das Beste in dieser Gattung ist, gemacht haben kannst; ja wenn Du dir aus andern Werken und Aeußerungen des Verfassers etwa eine Vorstellung gebildet hättest, auch dieser, denn Du kannst Dir unmöglich die rechte gemacht haben. Es giebt nirgends eine bestimmte Vorbedeutung auf dieses Werk, und es ist, so wie überhaupt, so auch in Rücksicht auf den Verfasser etwas Ursprüngliches und fängt eine neue Periode seiner künstlerischen Existenz an. N u r eine auch von uns lange gefühlte Sehnsucht, ein inneres Bedürfniß des Geistes weiset darauf hin, und dieses bringe Dir vor allen Dingen wieder recht ins Bewußtsein und sprich es Dir recht deutlich

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Erster Brief. An Ernestine

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aus; dies ist die Weihe, die Du dir geben mußt. Erinnere Dich, wie wenig uns immer, wenn | wir es recht bedachten, Alles befriedigte, was über die Liebe als Reflexion gesagt und als Darstellung gedichtet ist, wie wir uns beklagten, daß man aus der Sinnlichkeit nichts zu machen weiß, als ein nothwendiges Uebel, das man nur aus Ergebung in den Willen Gottes und der Natur wegen erdulden muß, oder geistlose und unwürdige Libertinage, die sich rühmt einen thierischen Trieb etwa bis zur Höhe der Kochkunst hinauf verfeinert und humanisirt zu haben. Erinnere Dich, wie weh es uns immer that, uns am Ende des Spottes nicht erwehren zu können über diejenigen, die sich in ihren Darstellungen oder in ihrem Leben des geistigen Bestandteiles der Liebe recht vollständig bemächtigt zu haben glaubten, und dann doch nirgends verbergen konnten, daß sie damit nicht wußten woher noch wohin und von dem Eigentümlichen ihres Gefühls keine Rechenschaft zu geben im Stande waren: und nicht begreiflich machen konnten, warum sie sich am Ende in eine ordentliche fruchtbare Ehe retteten und nicht der Consequenz zu Liebe das Heldenstück begannen, in ihrer sublimen geistigen Gemeinschaft neben einander weg zu leben, ohne an etwas zu denken, wozu sie ihrer Versicherung nach in ihrem Gefühl | gar keine Veranlassung finden. Denke recht lebhaft daran, welche Sehnsucht uns diese Einseitigkeiten erregten, die göttliche Pflanze der Liebe einmal ganz in ihrer vollständigen Gestalt abgebildet zu sehn, und nicht in abgerißnen Blüthen und Blättern, an denen nichts von der Wurzel zu sehen ist, welche das Leben sichert, noch von dem Herzen, woraus sich neue Blüthen und Zweige entwickeln können — diese alte Sehnsucht mache Dir wieder recht lebendig, und Du wirst inne werden, daß das Buch ausdrücklich da ist, um sie zu befriedigen, und es wird Dir einen Genuß gewähren, den Dir nichts vorher geben konnte. Hier hast D u die Liebe ganz und aus einem Stück, das Geistigste und das Sinnlichste nicht nur in demselben Werk und in denselben Personen nebeneinander, sondern in jeder Aeußerung und in jedem Zuge aufs innigste verbunden. Es läßt sich hier Eins vom Andern nicht trennen; im Sinnlichsten siehst Du zugleich klar das Geistige, welches durch seine lebendige Gegenwart beurkundet, daß jenes wirklich ist wofür es sich ausgiebt, nemlich ein würdiges und wesentliches Element der Liebe; und eben so siehst Du durch den reinsten Ausdrude der geistigsten Stimmung und des erhaben | sten Gefühls hindurch das Herz höher schlagen, das Blut sich lebhafter bewegen, und das süße Feuer der Lust gedämpfter und milder durch alle Organe ein- und ausströmen. Kurz,

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so eins ist hier Alles, daß es ein Frevel ist, Angesichts dieser Dichtung die Bestandtheile der Liebe nur abgesondert zu nennen, und daß ich in diesem Augenblick schon den Genius derselben um Verzeihung bitte, es gethan zu haben. Und wie vollständig ist sie dargestellt! Vom leichtesten Gaukeln des Scherzes, von dem ausgelassenen Muthwillen, den der Uebermuth der Jugend und das Glück einer fast unverhofften Rettung erzeugt, bis zur heiligsten Anbetung der Menschheit und des Universums in der Geliebten, durch alles hindurch, was dazwischen liegt, das ruhige und heitre Dasein, das besonnene Streben nach gemeinsamem Leben und Wachsthum, und in allen Stimmungen, im tiefsten unsäglichsten Schmerz, im Enthusiasmus der Freude, und in der unendlichen Ruhe, in der sich die Liebe nur nach sich selbst sehnt, auch durch die Erinnerung, und mehr als Erinnerung der frühern Ahndungen und Versuche sich nur erhöht, und sich jede Zukunft, selbst die des Entsagens vor Augen stellen kann. Doch, ich wollte Dir ja nicht sagen, was du finden wirst, | sondern Dich nur auf die rechte Art empfänglich machen dafür; aber so geht es mir immer mit diesem Buch: es zieht midi unwiderstehlich tiefer und tiefer in sich hinein, so oft es mir vor dem Gemüthe schwebt. Nur das muß ich Dir sagen, daß Du Dir ja zu diesen Darstellungen der Liebe keine äußern Zurüstungen denkest. Das kleinste erotische Gedicht selbst in lyrischer Form, wie viel mehr denn jede, auch die beschränkteste Produktion von der romantischen Gattung hat weit mehr Neben- und Außenwerke als Du hier findest. Die Liebe ist dem Werk Alles in Allem, es hat nichts anders und bedarf nichts anders. Entschlage dich also ja aller Gedanken an eine große Menschenmasse oder an complicirte Verhältnisse und Begebenheiten, an alles Novellenartige, was in unsern Romanen so oft das wesentliche und immer die allzureichliche Draperie ist, welche die Figuren erst im Allgemeinen beinahe verbirgt, und sie dann noch einzeln als ein schweres Gewand unkenntlich macht. Du findest hier nichts, was den Schein erregen könnte, als sei es auf etwas anderes abgesehn, und als sollte die Liebe nur Theil oder Mittel oder wolhergebrachte Maschinerie sein. Es ist die einfachste Composition und die | Figuren sind so hervorgehoben und in so großem Maaßstabe, daß Du hinter ihnen und um sie her nichts siehst, und wenn Du erst in der Betrachtung bist, auch nichts vermissest. Dir kündige ich diesen Mangel an Umgebungen nur an, damit Du nicht das Gewöhnliche eine Zeitlang vergeblich suchest; Andern, die für den eigentlichen Gegenstand des Kunstwerkes keinen Sinn haben, könnte er Dürftigkeit scheinen. N u r Erwähnungsweise

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und außerhalb dem eigentlichen Zeitraum des Werkes kommen andere Menschen vor, und auch da ist nur ihr Verhältniß zur Liebe eigentlich geschildert, alles andere bloß mit wenigen Strichen angedeutet. Die bürgerliche Welt und die feine Gesellschaft sind so gut als gar nicht vorhanden, erstere wird möglichst vernichtet, letztere nur ein Paar mal flüchtig erwähnt und leicht gebraucht, dann aber sogleich wieder aus der Hand gelegt, und auf die Scene kommt eigentlich gar nichts als Julius und Lucinde. Schaue diesen Glauben recht lebendig an, daß die Liebe in ihrer innern Schönheit und Majestät hinreicht, um allein eine Dichtung auch von der größten Gattung zu beleben und würdig zu vollenden; und wenn er Dir auch nicht wie mir ein neues Zeichen ist von der | Wiederkehr eines großen und schönen Stils in der Kunst, so verehre wenigstens darin die tiefe Verehrung des Menschen, und liebe die schöne Simplicität des Werkes um so herzlicher, je weiter sie sich von der unwürdigen Sinnesart derer entfernt, die tausend Unbedeutendes um sich versammeln, weil das Innere des Menschen ihnen zu wenig dünkt, um genug daran zu haben, oder zu unheilig, um es zu berühren. Dabei fällt mir noch Eines ein. Du siehest hieraus, wie sehr das Gedicht im Widerstreit ist gegen Alles, was im Allgemeinen jetzt gesucht und dargestellt wird, und kennst aus andern Orten die polemische Stärke mit der der Verfasser sonst, wenn er sich in diesem Falle befindet, gegen die Masse des Zeitalters auftritt, diese suche hier ja nicht, und wolle nichts schlechterdings so deuten; du bringst dich sonst um den reinen Genuß des besten Humors, und des anmuthigsten Scherzes. Denn freilich ist sich der Dichter dieses Widerstreites bewußt, aber er läßt seinen Julius damit spielen ohne alle Bitterkeit und Verachtung und es herrscht überall die große Unschuld, die einem durch die eigne Kraft gebildeten und durch die Liebe vollendeten Gemüth | so natürlich ist. Also nicht die, welche von diesem und jenem nichts weiß oder wissen will, denn es wird wol von allen Verkehrtheiten geredet, die mit der Liebe getrieben werden, aber die, welche auf ihrem graden Wege von nichts außer sich besondere Notiz nimmt, und sich durch nichts bestimmen oder verstimmen läßt. Scherz und Muthwille ist alles, was das Bewußtsein dieses Widerstreits ausdrükt, und eben so alles, was den Schein annimmt, als wolle es ihn entschuldigen oder rechtfertigen. Was Julius der Freundin sagt, um ihrem Gefühl über manches Einzelne die rechte Richtung zu geben, das sagt der Verfasser der Welt gewiß ohne alle Absicht und in der gutmüthigsten Laune, und wenn er sie dadurch nur noch mehr ge-

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reizt hat — wie sie sich denn an dem Vergleich mit dem lieblidien Kinde47 gewiß nicht erbauen wird — so thut er das warlich in seiner Unschuld. Mir ist das aus einem Gesichtspunkt beinahe das größte in dem Werk. So unbefangen und leicht, so unbekümmert um alles, was geschehen kann, so ohne Rüksicht darauf zu nehmen, was das Herrschende und das Gedrükte ist in der Welt, sollte Jeder, der einmal in der Opposition ist und sein muß, sein Leben hinstellen, bei allem | innern Ernst und hoher Würde scherzend mit den Elementen der Unvernunft, wie dieses ernste, würdige und tugendhafte Werk thut. Und so lies es denn andächtig, und alle Götter werden gewiß mit dir sein.

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Zweiter Brief An Dieselbe. D a bin ich schön angekommen, wie es scheint, mit meiner Empfehlung und mit meinem Buche! Aber sage mir nur, was ist aus Dir geworden? Leopold ist nemlich bei mir gewesen und hat mir erzählt, wie er Dich oft und viel gesprochen in L, unter andern auch, wie Du die Lucinde bekommen und gesagt habest, Du würdest sie wol nicht lesen, denn Du möchtest kein Buch lesen, worüber mit Niemanden zu sprechen sei. Erst glaubte ich, das sei so eine von Deinen Manieren, aber da er mir vielerlei erzählte, was auf dasselbe hinauslief, mußte ich es endlich für Ernst nehmen, und nun verzeihe mir, daß ich Didi nicht begreifen kann. Du weißt, es ist mein alter Grundsatz, daß ein Mensch sich nicht umkehren | kann, sonst müßte ich aufrichtig glauben, Du seist seit kurzem eine Prüde geworden. Auf diesen Fall würde ich Dich bitten, Dich doch mit der nädisten Gelegenheit nach England einzuschiffen, wohin ich die ganze Gattung verweisen möchte. Uns ist sie hier, wo es sich auf manche Weise zum Terrorismus fürs alte Regime neigt48, gefährlicher als je, und dort fangen an die Originale zu aller der Delikatesse und Zartheit, die in den Romanen verbraucht wird, etwas abzugehn, so daß Du als Miß sehr willkommen sein würdest. Das ist es nun freilich nicht; aber was ist es denn? Du kannst doch nicht sagen, daß es über die Lucinde nichts zu reden giebt; wenn Du auch nur von dem ausgehst, was ich Dir geschrieben habe, so wirst Du doch zugeben müssen, daß es ein Buch sei, durch welches jeder, von welcher Sinnesart er auch sei, auf tausenderlei Art angeregt wird zur Billigung oder zum Tadel, gewiß wird auch Ach und Weh genug darüber geschrien werden, und die, welche es lieben und verstehen, werden also genug zu vertheidigen haben. Das scheint auch bei Euch schon der Fall zu sein, und Du, die ich immer meine

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Vertraute Briefe über F. Sdilegels Lucinde. 1800

muthige und kühne Schwester genannt habe, wolltest still schweigen? Erinnere Dich ] docli, ich bitte Dich, der schönen Zeiten, wo wir anfingen zu denken, wo unsere Freiheit sich entwikelte und unsere Gesinnung sich aus der umgebenden Gemeinheit heraushob. Hast Du den Grundsatz vergessen, der uns, als wir ihn gefunden hatten, so viel Kraft und Muth gab, als er ausdrükte, und den wir uns als den reinen Spiegel unserer Freiheit nicht oft genug vorhalten konnten? Treu bist Du ihm bis jezt geblieben unter mancherlei Versuchungen, und hast ihn in schwierigen Fällen vor aller Welt ausgeübt und bekannt. Woran kann es denn liegen, daß Du gerade hier eine Ausnahme machen willst. Schon damals rechneten wir die Liebe ganz vorzüglich unter die Dinge, an deren Existenz wir glaubten, und über die man also etwas denken müsse, und wir dachten damals, wie ich sehr wol weiß, daß Du noch denkst. Ist etwa in L. gar kein schiklicher Ort, um zu sagen, was Du denkst? Wenn der Unverstand oder die Bosheit sich laut machen, sollte eine edle Frau schweigen? Ich weiß doch aus andern, noch ganz neuen Beispielen, daß Du es nicht scheust Dich diesen entgegenzustellen, und daß Du Dich ganz allein mancher gekränkten Seele angenommen hast, die mit einigen heiligen Worten niedergestoßen wer | den sollte; ist denn ein Buch nicht eben so gut als ein Mensch in dieser Zeit, wo Beide gleich selten sind? Nicht gerechnet, daß aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, allemal ein Mensch dahinter stekt, und es eigentlich auf diesen unmittelbar losgeht, auch wenn man keinen Verfasser wüßte oder das Buch gar keinen hätte, hat es nicht eben so gut einen Geist und einen Charakter? Ueberdies kann ich mir recht gut denken, daß viele Menschen von denen, die Du nicht genug verachtest, um sie ihrem Schiksal zu überlassen, nicht recht wissen, was sie zu dieser Darstellung der ganzen Liebe denken oder sagen sollen. Wenn vom Sentimentalen allein die Rede ist, so wissen sie, daß es ihre Schuldigkeit ist, es zu preisen, und zu bewundern und unendlich schön und zart zu finden, und die feine Behandlung zu rühmen, wenn durch einzelne Stellen, die so recht dünn und geistig gewebt sind, hie und da etwas anderes durchscheint, und wenn vom Sinnlichen allein die Rede ist, so haben sie nun schon einen Uebersdilag, wieviel lüsterne Andeutungen oder verschleierte üppige Gemälde man den schönen Versen oder den übrigen Verdiensten verzeihen dürfe, und was offenbar frech und verwerflich ist4'. Aber mit einer solchen Ver | einigung wissen sie nicht umzugehn, und wissen nicht, wieviel freches sie dem Geistigen zu gut halten, oder wieviel Geistiges sie um des Frechen willen unwillig übersehen sollen. Und in

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Zweiter Brief. An Dieselbe

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dieser Rathlosigkeit auf wen sollen sie denn achten, als auf edle Frauen, deren Beruf doch einmal die Liebe ist, und die nothwendig etwas davon verstehen müssen? also auch Alle in deinem Kreise ganz besonders auf Dich, da es von der ganzen Welt anerkannt ist, daß D u von der Liebe etwas verstehst und als eine von den wenigen Auserwählten in einer wahren Ehe lebst? Auch würden sie gewiß Alle Dich fragen, wenn Du sie nicht durch solche kategorische Aussprüche, daß über die Sache nicht zu reden sei, ein für allemal abwiesest. Der arme Leopold scheint mir selbst unter diese Bedürftigen zu gehören, und hat sich garstig abgeführt gefunden durch jene Erklärung: Du hättest vielleicht ein gutes Werk an ihm verrichten können. Wie kannst Du also nur Deinen Beruf zum Reden verkennen? Er ist so entschieden, daß wenn Dich auch Niemand fragte und aufforderte, Du von selbst reden und die Andern auffodern müßtest, weil doch auf eine solche Veranlassung Jeder, der einen Gedanken und eine Meinung hat, sie weit | leichter äußern und zu Tage fördern kann, als wenn sie ganz aus freier Hand in troknen Worten verzeichnet und aus dem Innern herausgeholt werden soll. Du hast dies bei literarischen, moralischen und politischen Gegenständen gethan, die Dir bei weiten nicht so nahe lagen, als dieser, der noch dazu alles dreies ist, und mit denen wir Männer am Ende ohne Euch fertig werden können, welches hiebei schlechterdings unmöglich ist. Dies lezte wirst Du doch gewiß einsehen: denn wenn wir auch mit den deutlichsten Worten und den bündigsten Beweisen a priori in philosophischer Form und in Dichtungen direkt und indirekt zeigen, was die Liebe eigentlich ist, und daß sie überhaupt sein soll, und daß sie demnächst nothwendig grade dieses sein muß, so bleiben das alles leere Worte und kann nichts damit ausgerichtet werden, wenn wir nicht die Liebe in der Wirklichkeit aufzeigen können, und wie können wir das, wenn sich keine Frau auf unsern Aufruf zur Liebe bekennt, sondern Ihr Euch, daß ichs nur deutsch heraus sage, derselben schämt. So sieht es wenigstens aus. Ich nehme Dein Schweigen nicht so; aber was sollen die Leute davon denken? Nicht zum mindesten, daß Du Dich für die Liebe | nicht mehr interessirst, und ist es nicht schon ein Hochverrath, diesen Gedanken zu veranlassen? Andern würde ich Manches verzeihen um der menschlichen Ungeschiklichkeit willen, die doch nicht ganz allein ein Erbtheil der Männer ist, sondern auch bei Euch bisweilen zum Vorschein kommt. Ich kann mir denken, daß manche Frau, die es gern wollte, verlegen sein mag, wie sie über diesen Gegenstand und namentlich über dieses Buch reden soll, ohne sich der Ge-

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fahr auszusetzen, daß Unverständige sie eben nicht verstehen, Lästermäuler ihr den Sinn ihrer Rede verdrehen und rohe verderbte Männer von denen, die sich am meisten herausnehmen, einen Vorwand darin finden könnten, die Grenzen der guten Lebensart zu überschreiten. Von Dir kann ich aber das unmöglich annehmen, liebe Ernestine. Ich habe zwar lange nicht das Vergnügen gehabt Dich zu hören, aber ich besinne mich noch gar wol, welche Meisterin des Gespräches Du bist, und in solchen Künsten lernt man nicht zurück, am wenigsten in Deinen Verhältnissen. Eine Frau, welche diese Gabe hat, immer grade nicht mehr zu sagen als eben nöthig und schiklich ist, auf jede verfängliche Frage eine einlenkende und tüchtige Antwort zu geben, und mit | lustigen Wendungen, feinem Witz, und wo es nöthig, auch mit dem gehörigen Ansehn und genug Grandezze ein Gespräch das unschiklidi werden könnte, abzubrechen, was kann der wol begegnen, worüber sie auch immer spreche? Worauf soll ich also diesen Widerspruch schieben, in den Du Dich mit Dir selbst gesezt hast? Am Ende kann ich wirklich bei Nichts anderm stehen bleiben als bei der falschen Schaam, welche den meisten von Euch eigen ist. Ihr wißt eben, daß wir eurem Geschlecht im Allgemeinen das Talent zur Abstraktion absprechen, und also glaubt Ihr, wenn Ihr mit Männern oder vor Männern über diese Empfindungen redet, noch dazu auf Veranlassung eines Buches, wo die Liebe bis in ihre innersten Mysterien aufgesucht wird, so müßten wir nothwendig denken, daß eure Fantasie zugleich geschäftig sei, diese Empfindungen nachzuzeichnen, als könntet Ihr nicht aus euren Erfahrungen reden, ohne sie innerlich zu wiederholen, und dies ist eine Lage, in welche Ihr Euch gegen einen Mann, der an euren Gefühlen keinen eignen Antheil haben soll, nicht sezen mögt. Das klingt wie etwas, ist aber am Ende, von welcher Seite man es auch betrachte, gar nichts. Wie wollt Ihr denn das | hindern, daß ein Mann sich nicht Vorstellungen davon mache, wie diese und jene im Zustande des Liebens wol sein und wie Alles, was dazu gehört, sich in Jeder eigenthümlich gestalten möge? Dazu müßtet ihr ganz andere Mittel wählen; denn es giebt tausend Situationen, in denen Ihr ganz unbefangen seid, welche weit mehr zu solchen Reflexionen reizen, als ein Gespräch über die Angelegenheiten der Liebe, wo im Wechsel der Urtheile, im Bestreben die Vorstellungen des Anderen zu fassen und Gründe für die eignen aufzusuchen, dem Gemüth sehr bald keine Muße bleibt, diesem verborgenen Spiel eurer Fantasie aufzulauern. Ihr müßtet vielmehr zuerst aufhören eigenthümlich zu sein, damit man nicht in Versuchung geriethe, eure Eigenthümlichkeit

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in der Liebe auch aufsuchen zu wollen; demnächst müßtet Ihr Euch nie mit euren Männern oder Geliebten zeigen und euch nie bei der geringsten Zärtlichkeit belauschen lassen, und was das Gespräch anbelangt, so wäre das, was Ihr vermeiden müßtet, wenn Ihr von jener Meinung ausgeht, wahrhaft unendlich. Unsere Mistreß B., über deren ächtenglisches „Guter Gott, wie können Sie doch in Gegenwart der Mädchen von Strumpfbändern reden" wir so | oft unsäglich gelacht haben, wäre noch unvorsichtiger, und der geringste Maaßstab der Sittlichkeit wäre jene andere Engländerin, welche behauptete, es sei unkeusch, in einer vermischten Gesellschaft das Wort keusch auszusprechen, ja auch anständig habe schon etwas unanständiges. D u siehst, dies ist unmöglich, und in dem Maaß, als Ihr darauf ausgeht, ertödtet Ihr alle Mittheilung und alles was im Umgange reizend schön und sittlich ist. Aber wozu soll es denn auch verhindert werden, daß wir nicht, so gut es ein dritter eben wissen kann, erfahren, wie Jede von Euch die Liebe behandelt und sich darin verhält? Warum wollt Ihr mit eurem Gemüth weniger freigebig sein als mit eurer Gestalt? Und sollten nicht auch hier diejenigen, die Einiges ganz unbefangen zeigen, anderes dafür aber ernstlich verbergen, züchtiger sein als die, welche Alles nur halb verhüllen und absichtlich die Imagination auffordern? Ich gebe Euch ja zu, daß einiges verborgen bleiben soll, aber wenn Ihr es aufrichtig meint, versteht Ihr Euch schlecht auf die Männer und auf euren Vortheil, wenn Ihr es auf diesem Wege erreichen wollt. Ihr wißt ja, wie geneigt wir zur Abstraktion sind, ja daß ichs recht sage, wahre Sklaven derselben, | und wie uns ein Gegenstand für die Empfindung und die Fantasie sogleich entzogen wird, wenn man ihn uns für das Urtheil darbietet. Sprecht also unbefangen und in klaren Worten über die Liebe, so werdet Ihr uns am besten die Grenzen sagen können, welche schiklich und nothwendig sind, und welche sich eigentlich ohnedies jeder rechtliche Mann von selbst sagt. Für Euch wäre das am Ende auch am heilsamsten, welches ich deiner eignen Ueberlegung anheimstelle. Aber glaube nur nicht, daß ich nur so aus Nebenabsichten das Gespräch über die Liebe empfehle, damit Dies und Jenes dadurch verhütet oder erreicht werde; ich bleibe vielmehr dabei, es um sein selbst willen zu fordern. Die Liebe ist ein unendlicher Gegenstand für die Reflexion, und so soll auch ins Unendliche darüber nachgedacht werden, und Nachdenken findet nicht Statt ohne Mittheilung und zwar zwischen denen, welche ihrer Natur nach verschiedene Seiten derselben sehen. Es ist wol etwas sehr unfruchtbares, wenn Frauen unter einander von der Liebe

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reden, und Du wirst selbst wissen, an was für engen Grenzen sich das herumdreht, auch unter denen, die nicht gemein sind, und nicht wie die Meisten durch ihr ganzes Leben die Liebe | entheiligen; aber Männer und Frauen müssen unter einander davon reden, und da man dabei nicht von der Liebe dieses und jenes wirklichen Menschen ausgehn darf, die man nie ganz zu kennen glauben soll, so giebt es ja nichts schöneres dazu als die wahren und klaren Darstellungen eines begeisterten Dichters, an deren Ansicht sich auf eine natürliche Art die eigenthümliche Vorstellungsart eines Jeden ankrystallisirt. Und nun befehle ich Dir, kraft meiner brüderlichen Autorität und unseres alten gemeinschaftlichen Bundes, nicht etwa die Lucinde zu lesen — denn es fällt mir keinen Augenblick ein zu glauben, daß Du das nicht gethan habest — auch nicht mit mir darüber zu reden, denn das erwarte ich auch von selbst und bald, sondern mit keinem auch nur einigermaßen vernünftigen Menschen ein rechtliches Gespräch darüber zu scheuen, und Dich keiner Art von Engländerei hinzugeben, die Dir nothwendig höchst unnatürlich stehen muß.

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Dritter Brief E r n e s t i n e an mich. D u armer Mensch! ich weiß, es kann Deinem ökonomischen Geiste nichts ärgeres begegnen, als wenn D u inne wirst, daß D u Dir unnütze Mühe gegeben hast, und doch kann ich nicht umhin, Dir zu sagen, daß D u Dir Deine ganz[e] lezte Epistel gar füglich hättest ersparen können von dem Antrage zu der englischen Reise bis zu der Dissertation über die falsche Schaam. Wie D u zu dem ersten gekommen bist, weißt D u ja selbst nicht, und gestehst, es sei eine innere Unmöglichkeit, mich für eine Prüde zu halten, und was in der lezten steht, hast D u viel ordentlicher, klarer und anmuthiger in Deinem Versuch über die Schaamhaftigkeit gesagt. Hast D u gemeint, ich hätte den vergessen, da wir ihn doch, was die | Gedanken betrift, eigentlich gemeinschaftlich gemacht haben? U n d das war das lezte, wobei Deine Weisheit stehen blieb. Aber so seid Ihr! Wenn Euch etwas vorkommt, was nicht glatt durchgeht, so könnt Ihr nicht ganz einfältig dem Faden nachgehn, da sich denn das Knötchen gar leicht findet und auflöst, sondern Ihr macht große Zurüstungen und nehmt die verschiedenen Möglichkeiten auf, und da kommen denn statt des Rechten, welches Ihr überseht, so schöne Sachen heraus: erst viel unnütze Worte, und dann solche Meisterstücke von Klugheit wie der, daß D u dodi am Ende herausbringst, ich würde wol die Lucinde gelesen haben und auch so frei sein, Dir meine Meinung darüber zu sagen. Nun, das werde ich auch sogleich, nur muß ich Dich erst über das Uebrige auslachen und belehren. Es war wirklich sehr künstlich, nicht zu finden, warum ich hier mit Niemand über das Buch rede, besonders da D u doch darauf kamst, es müsse ein leidlich vernünftiger Mensch sein. Laß Dir klagen, daß es wirklich über diesen Punkt keinen hier giebt: Männer und Frauen sind gar erschreklich gemein, und erstere geber-

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den sich noch dazu höchst roh dabei. Ob der literarische Parteigeist, der so entsezlich wüthet, sich auch ihrer bemächtiget | hat, da doch diese Dinge sie gar nichts angehn, weiß ich nicht; am Ende ist aber wol zu der Blindheit, mit der sie geschlagen sind, und dem wunderbaren Abscheu, der sich in rohe Schimpfreden ergießt, Grund genug in ihrer eignen Verderbtheit, die eben wie die Gelbsucht allem ihre Farbe mittheilt. Denke Dir nur, daß die Frauen, und zwar die, welche gern für sehr frei und ein wenig ruchlos gehalten sein wollen, meinen, eine müsse sich vor der andern schämen, die Lucinde gelesen zu haben. Aus diesem Pröbchen kannst Du denn auf das Uebrige schliessen. Was soll ich nun machen? Mich hinstellen und große Reden halten? und wovon? Wenn ich ihnen das Geistige, Erhabene und Sittliche auch Zeile für Zeile zeigen wollte, sie sehen es nicht, weil das Sinnliche überall so nahe dabei steht, und diese chemische Vereinigung, wie Du es, glaube ich, genannt hast, thut auf die Verkehrten eine ganz verkehrte Wirkung, und es ist am Ende gar nidit einmal eine höflidie Lüge, sondern buchstäblich wahr, daß ich ihre Lucinde nicht gelesen habe. Lezthin kam einmal durch ein sehr ungeschiktes Ohngefähr die Rede darauf. Es war in einer ansehnlichen Gesellschaft; die kleine Mathilde, die Du kennst, stand mit ih | rer Arbeit im Fenster und es war eben eine von den Pausen, die von Euch gewöhnlidi sehr ungeschikt unterbrochen werden. Höre einmal, sagte ihr Bruder zu ihr, Du machst Dich doch da erstaunlich komisch. — Wie so? — Nun, weil Du so gewaltig unschuldig drein siehest, und Du weißt ja, daß das eine komische Situazion ist. Ei, sagte ich, um dem armen Mädchen aus der Verlegenheit zu helfen, da müßen Sie doch ein sehr schlechtes Auge haben, denn seitdem Sie zurück sind, ist es ihr bei ihrem Verstände unmöglich gewesen, nicht die männliche und weibliche Verderbtheit kennen zu lernen, und davon nichts zu wissen ist doch die eigentliche Unschuld. Darauf entstand denn ein großer Streit über den Sinn der Worte; aber von solcher Art, daß ich die gröbste Behandlung des zarten Gegenstandes erwarten mußte. Ich machte also der Sache ein Ende und sagte, ich wolle ihnen eine Unschuld zeigen, die sie gewiß dafür erkennen würden, und die doch ein auch nach ihren Begriffen höchst ehrbarer Dichter als eine höchst komisdie Situation nehme. Ich ließ mir den Voßischen Almanach geben, und las ihnen daraus das schöne Liedchen, das Du weißt, wodurch sie denn etwas perplex wurden, und mir ersparten, die Fortsetzung des Ge| sprächs ausdrüklich zu verbieten. Willst Du mir öfter solche Veranlassungen wünschen, über diese Gegenstände zu reden? Deinen Leo-

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pold aber hätte ich zum Vertrauten meiner Lektüre und meiner Gedanken machen müssen, den indiskreten jungen Menschen, und der so entsezlich neu ist? Es wird ihm wirklich schwer, die Worte zu verstehen, die wir so reden, denn es muß Alles hübsch kathedermäßig sein, und mit dem Zirkel gemessen. Dabei Hesse er sein Leben für Fidite's Ehetheorie50, und über die hätte ich also zuerst mit ihm disputiren müssen; das ist nichts für mich, und kommt mir beinahe eben so arg vor, als die Andern mit ihrem Wesen. Dafür habe ich lieber Karolinen gefragt, ob sie das Buch nicht lesen wollte; das närrische Mädchen will aber nicht, und will Dir seine Gründe selbst sagen, denn ich habe ihr gesagt, Du wünschtest sehr, daß wir es Alle lesen sollten. Ja, nun soll idi wol auf die Lucinde selbst kommen; wirds Dich aber nidit verdrießen, daß ich hier auch mit dem Widersprechen anfange? und zwar wird es gegen Dich eben so sehr als gegen das Buch gerichtet sein. Beinahe sollte es mir vorkommen, als wärst D u recht schlau ge | wesen, und hättest mich auf die schöne Seite von dem aufmerksam machen wollen, wogegen Du Einwendungen vermuthetest; wenigstens treffen die meinigen gerade Alles, was Du mir am meisten gelobt hast. Geht nicht die Liebe in dem Buche bei aller Vollständigkeit der Darstellung doch ein wenig gar zu sehr in sich selbst zurück? Ich wollte sie ginge auch hinauswärts in die Welt und richtete da etwas tüchtiges aus. So einiges von dem Ritter sollte der Leichtfertige doch an sich haben. Mir ist es schon recht, daß etwas geschieht gegen die moralisch sein wollende Weichlichkeit, die die Liebe immer nur auf der Oberfläche spielen läßt, aber man muß nicht in eine andere Weichlichkeit gerathen, die eben so arg ist, daß man Alles in sich zehren läßt, weil man nichts damit zu machen weiß, oder es sich nicht getraut. Wenn Herkules das Symbol sein soll von der Männlichkeit, die wir anbeten, so ist wahrlich die Kraft, womit er die Weiblichkeit umfaßt, nicht Alles darin, sondern seine Thaten gehören nothwendigerweise auch dazu. Wer nicht das seinige verrichten kann in der Welt, der soll auch nicht lieben, und die Liebe soll Niemanden daran hindern, sondern noch Lust und Eifer verdoppeln. Deshalb sollte sie auch, | meine ich, nicht dargestellt werden, ohne diesen ihren Einfluß, und es ist mir eben so zuwider, als es unserm seligen Vater war, wenn vom Glauben ohne die Werke geredet wurde. Das scheint mir nun in der Lucinde gar sehr zu fehlen, und darum finde ich die Liebe nicht vollständig dargestellt darinn, und vermisse die äußere Welt gar sehr, deren Abwesenheit Du so schön findest. Ver-

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stehe midi nur recht: ich will ja meinen Geliebten nicht auf Abentheuer ausschicken gegen die Heiden oder die Ungeheuer; aber der liebende Mann soll Alles, was er vorher gethan hat, anders thun, und er soll auch vieles thun, was er vorher gar nicht gethan hat. Was steht denn davon in der Lucinde? Julius hat immer ein Bischen gezeichnet — ich kann es nicht anders nennen, weil man gar zu wenig bestimmtes davon erfährt — das madit er nun freilich anders und etwas besser, das ist mir aber lange nicht genug, es offenbart sich darin die Kraft einer so innigen und vollkommenen Liebe viel zu wenig. Was soll er denn aber machen, wirst Du sagen, er hat ja einen entschiedenen Haß gegen alle bürgerlichen Verhältnisse? Nun, das ist es eben, was ich sage: diesen Haß dürfte er gar nicht mehr haben, seitdem er die Liebe [ gefunden hat. Wenigstens nicht in einer solchen Welt, wo die bürgerlichen Einrichtungen die Frauen so sehr erdrücken, da muß derjenige, dem sich ein Weib ergeben hat, schon aus Selbstvertheidigung in das bürgerliche Leben hineingehn und da wirken. Sonst weiß ich recht gut, daß dies nicht die einzige Art der menschlichen Thätigkeit ist, und ich hätte mir die andere, nemlich die Kunst, auch recht gern gefallen lassen, nur muß es zu etwas ordentlichem kommen, und nicht so erstaunlich nebenher behandelt sein. Jeder Dichter soll freilich seine Freiheit haben, sich Grenzen zu stecken, wie er will, nur darf doch darüber geurtheilt werden, ob diese Grenzen eine schöne Figur bilden, und ob sich das schiefe der Idee, die dabei zum Grunde gelegen hat, nicht darin zeigt. Mir scheint Liebe und Welt eben so unzertrennlich zu sein als Mensch und Welt im Leben und in der Darstellung, und wer sie in der lezten von einander scheiden will, versündigt sich. Verbunden hat man sie freilich bis jezt auch schlecht genug, und es ist lächerlich und widersinnig, wenn die alten romantischen Dichter aus Liebe und zur Verherrlichung der Liebe Heldenthaten verrichten lassen, die nicht in der geringsten Verbindung mit ihr stehen, aber es lag doch | die richtige Idee darin, daß die Liebe, wenn sie recht tief in den Menschen hineingegangen ist, auch wieder recht weit aus ihm herausgehen muß, und wer ihr das wehrt, der kommt mir vor, als schnürte er ihr den Hals zu, und liesse sie nach Luft schnappen, wie sie mir denn auch, wenn ich hieran denke, in der Lucinde hie und da asthmatisch genug vorkommt. Und was hier zu wenig ist, das scheint mir auf der andern Seite zu viel zu sein: die Lust an der Lust, das kann ich Dir nicht bergen, ist mir manchmal ein wenig gar zu laut; oder vielmehr etwas ungehörig, denn es ist nicht der Grad der Freude, was mir einen unangenehmen Eindruck

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Dritter Brief. Ernestine an midi

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macht, sondern ein eignes gewisses Etwas darin. Ich zweifle, daß mir in diesem Augenblick klare Worte zu Gebote stehen werden, um Dir zu beschreiben, was ich eigentlich meine; nimm nur mit etwas Verwirrung vorlieb, und bringe sie mir hübsch verständig und geduldig in Ordnung. Daß Julius, dem der Genuß gar nichts Neues sein kann, eines solchen Genießens desselben, und einer so lebendigen Freude darüber fähig ist, das ist mir sehr viel werth. Die Bezauberung eines Neulings ist etwas sehr zweideutiges, und kann ziemlidi gemeinen Ursprunges sein; darum kommt | es mir immer so abgeschmakt vor, daß auf die bewahrte Keuschheit in den meisten Romanen ein so großer Werth gelegt wird. — Dieser Enthusiasmus aber hat etwas sehr Schönes und Ehrwürdiges. Die Liebe in ihrem ganzen ungeteilten Wesen ist ihm neu, und dieser frische Reiz, dieses neue Leben verbreitet sich auch auf das, was ihm an und für sich bekannt genug ist, und man fühlt hierin bestimmter, als es durch Worte hätte gesagt werden können, wie das Sinnliche durch seine innige Verwebung in das Geistige ganz neue Eigenschaften erhält, und über alle Gefahr des Abstumpfens und Veraltens hinausgehoben wird. In sofern also kann mir die Freude davon nicht laut genug sein; aber sie muß auch immer auf jenes Verschmelzen mit dem Geistigen bezogen werden, sobald ihr diese Begleitung fehlt, und sie allein dasteht, ist mir jeder Ton zu laut. Absicht soll nirgends sein in dem Genuß der süßen Gaben der Liebe, weder irgend eine sträfliche Nebenabsicht, noch die an sich unschuldige Menschen hervorzubringen — denn auch diese ist anmaßend, weil man es doch eigentlich nicht kann, und zugleich niedrig und frevelhaft, weil dadurch etwas in der Liebe auf etwas Fremdes bezogen wird. Eben so wenig | aber gefällt es mir, wenn die Lust als Instinkt erscheint, der nicht weiß, was er will, oder als Begierde, die auf die unmittelbare Empfindung gerichtet ist. Der Gott muß in den Liebenden sein, ihre Umarmung ist eigentlich seine Umschließung, die sie in demselben Augenblicke gemeinschaftlich fühlen, und hernach auch wollen. Ich nehme in der Liebe keine Wollust an ohne diese Begeisterung und ohne das mystische, welches hieraus entsteht, und von dem, welches wir oft zusammen verachtet haben, gar sehr verschieden ist. Ist Dir das nicht deutlich genug, so lies nur die dithyrambische Fantasie 51 , wo ich dies höchst anschaulich und unübertreflich schön finde, gerade weil hier die freiste Lust, bei der an gar keinen Aberglauben, oder irgend eine Statthalterschaft Gottes auf Erden zu denken ist, mit der geistigen Anschauung der Liebe so innig Eins ist, viel mehr als in Treue und Scherz52, wo Beides eigentlich

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nur neben und um einander herum, nicht aber in einander ist. Dagegen leuchtet an andern Orten, nicht eben in großen Portionen, aber in einzelnen Stellen und Andeutungen so etwas hervor von einem Absondern und Zerlegen, welches im Gemüth vorgegangen ist, und dies ist eben, | was ich im Namen der Liebe verbitten möchte. Nichts Göttliches kann ohne Entweihung in seine Elemente von Geist und Fleisch, Willkühr und Natur zerlegt werden. Darum sind es eben wahre und ächte Mysterien, weil die Personen nicht anders können, als sie so zerlegen und sie also niemals sehen, wie sie sind. Auch hat nirgends ein Profet gewagt, seinen Gemüthszustand so zu anatomiren, und der Unglaube in ihm und Andern wäre die natürliche Folge davon gewesen; so ist es mit den Profeten der Liebe auch. Denke nicht, daß mir das nur so unrecht vorkommt, weil ich eben als Frau keinen Sinn habe für die Abstraction; nein, ich habe alle Achtung dafür, aber ich habe auch als Frau einen sehr feinen Takt dafür, mit deiner Erlaubniß, wohin sie gehört. Meinetwegen mögt ihr die Elemente der Liebe abgesondert betrachten, ich wünsche, daß recht viel Gutes dabei herauskommen möge; wenn Ihr nur wißt, daß Ihr alsdann spekulirt. Wollt Ihr aber dies Einzelne wieder darstellen, und den Darstellungen der Liebe einverleiben, so nimmt es sich allemal als etwas Fremdes unschiklich aus, und ich möchte fast wetten, daß es Allen anstößig sein wird, die etwas davon verstehen. Ueberlege Dir das recht und lies denn | die Reflexion 53 (die auch wol darüber reflektirt, daß sie nicht verstanden werden soll) und sieh Dir einige Stellen in dem ersten Briefe mit etwas mehr Auge an, als Ihr gewöhnlich zu thun pflegt, und frage Dich unter andern, ob Du Dir unter den Wuthbeschreibungen der Fantasie54 etwas anders denken kannst, als solche Zerlegungen und Zusammensetzungen daraus. Freilich ist es schlimm, daß gerade das, was so an der äußersten Grenze des Sittlichen und Schönen nur noch mit einem Fuße darauf zu stehen scheint, so vorzüglich unbestimmt gelassen ist. Ist das ein Uebermaaß von Unschuld, die nicht daran denkt, daß es noch einen Unterschied geben muß zwischen der Liebe überhaupt und der Liebe des Julius, und daß man den eben wissen will, wenn man mit der Liebe überhaupt in Richtigkeit ist? Man sollte es denken, weil immer von dem erstaunlich objektiven dieser Liebe die Rede ist. Es kann aber auch eine gewisse Ungeschiklichkeit sein, von der soliden Art, die man nicht mit bekennt; oder ein heimliches Bewußtsein, daß er auf einem fremden Boden steht, wo man sich lieber verstekt als zeigt. Gott weiß es, ich mag mir den Kopf nicht damit zerbrechen. Wäre aber

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von der hohen Ein | falt, die D u rühmst, etwas weniger da, und dagegen Einiges von der umgebenden Welt und der anderwärts eingeführten löblichen Ordnung, so könnte man sich eher helfen. Es giebt noch Mehreres, worin eine gewisse moralische Zweideutigkeit liegt, und was man aus Unbestimmtheit und Mangel des Aeußeren nicht recht anschauen und fassen kann, zum Beispiel die Behandlung früherer Verhältnisse und die Idee des Entsagens in dem göttlichen Duett 55 , das ich immer wieder mit Entzücken lese. Wunderlich genug ist es in dieser Rüksicht, daß Schlegel seinen Julius zum Mahler gemacht hat, denn ein Mahler, der so gar nicht ein Undulist sein kann, muß doch auch, wenn er sich selbst mahlt, etwas mehr auf die Contours halten; das Zerlegen indessen, was ich eigentlich meine, ist anderwärts sehr klar. Wie kann man, ich bitte Dich, den Sinn für die Lust ordentlich klassifiziren, und eine Theorie darüber ausspinnen! Ich verstehe nicht viel von Theorien, und glaube gern, daß diese ein schönes Stück Arbeit sein mag, nur anders wohin gehörig: denn etwas von Julius an Lucinden geschriebenes kann sie gewiß nicht sein. Darüber ist wohl weiter nichts zu sagen nöthig, man braucht nur die schöne Zeile | S. 6o56. zu lesen, die ich noch nie ohne Lachen gelesen habe: „Bei diesen aber ist schon ein großer Unterschied zu machen"; ich wenigstens sehe midi dann gleich zu einer akademischen Vorlesung eingeladen, ganz sittig auf dem Stuhle sitzen und zuhören. Audi die Zweideutigkeiten sdieinen mir eine gewaltsam herbeigezwängte und verfehlte Theorie zu sein, die keine kleine Beleidigung gegen die Liebe in sich faßt. So sieht mir die ganze Vertheidigung derselben aus, und auch fast alle, welche Beispielsweise vorkommen, denn von Herzen geht eigentlich keine einzige. Um Dir ein Pröbchen zu geben, daß ich mein Lesen nicht umsonst treibe, und nachgerade lerne einer Sache auf die Spur zu kommen, will ich Dir haarklein demonstriren, wie es damit zugegangen ist. Wenn man an die Allgemeinheit des Scherzes glaubt, und zu Allem die Ironie sucht, so entsteht freilich die Aufgabe, auch Scherz über die Liebe zu finden und zwar von und für die Liebenden selbst. A u f der andern Seite sind die „Elemente der Leidenschaft" einmal da, und mit denen kann man nichts anders machen als sie zu Scherz verarbeiten: ist deshalb der Scherz mit der Liebe, und der Scherz mit den „Elementen der Leiden | schaft"57 einerlei? Meinem Gefühle will das nicht eingehn. Ich glaube wol, daß ein Mann seiner Geliebten Zweideutigkeiten sagen darf, und daß sie sie anhören wird, wenn sie witzig sind; aber er behandelt sie dabei doch nicht als Geliebte, sondern als eine Person, von deren Geschlecht er nach Belieben

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abstrahiren und sich auch wieder daran wenden kann. Audi wird er sie eigentlich nicht an sie richten, sondern sie ihr nur erzählen. So scheint mirs, indeß ist mir weder der Scherz mit der Liebe, noch die Zweideutigkeit oft genug vorgekommen, und ich wollte wol, daß Du mir über Beides gelegentlich etwas gründliches sagtest. Ich habe Dir für heute, dächt' ich, genug gesagt; da kommt auch Karoline mit ihrem Briefchen, und ich will nur zusiegeln. Damit Du doch weißt, worauf sich Ernestine am Anfang dieses Briefes bezieht, und auch sonst besser verstehst, warum von Manchem gar nicht erst die Rede ist zwischen uns, so lege ich Dir den kleinen Aufsatz bei, an den sie mich erinnert hat. Du wirst ihm ansehen, daß er alt | ist, und ihm in dieser Rüksicht Manches verzeihen.

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Versuch über Schaamhaftigkeit.

Das Uebelste ist, daß schon vorläufig die Frage entsteht, ob es nicht sogar sdiaamlos sei, von der Schaamhaftigkeit zu reden, oder was Jemand darüber sagt anzuhören. So wunderbar diese Frage klingt, so entsteht sie in der That ganz natürlich: denn einem Jeden wird sein Gefühl sagen, daß es bei der Schaamhaftigkeit darauf ankomme, gewisse Vorstellungen, diejenigen nemlich, welche sich auf die Mysterien der Liebe beziehen, entweder gar nicht zu haben oder wenigstens nicht mitzutheilen, und dadurch in Andern zu erregen — denn welches von Beiden die Hauptsache sei, können wir vor der Hand noch unentschieden lassen, und man kann doch offenbar von dieser Tugend nicht reden, ohne auf ihren Inhalt hinzudeuten, und dies wiederum nicht ohne die | Vorstellungen selbst, welche darunter gehören und vermieden werden sollen, in sich und andern auf gewisse Weise wenigstens anzuregen. Auf der andern Seite wäre dieses Verbot widersinnig und abgeschmackt, weil dies alsdann die einzige Tugend wäre, welche aus Mangel an Luft ersticken und deshalb untergehen müßte, weil man ihrer edlen Flamme keinen Nahrungsstoff darreicht. Unter allen scheint auf den ersten Anblick diese Tugend am wenigsten dazu gemacht, von selbst zu gedeihen, weil diese Vorstellungen dem Menschen auf mehrere Weise sehr nahe liegen, und es ihm so natürlich ist, zu äußern, was in ihm vorgeht, daß eine ausgebreitete und trau-

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rige Erfahrung dazu gehört, ehe er sich selbst das Gesetz macht, schon die Gedanken als die entferntere Gelegenheitsursache der Sünde zu vermeiden, weshalb auch die Fehler gegen die Schaamhaftigkeit, wenn sie dem Mangel dieser Erfahrung und der Belehrung, welche sie ersetzen kann, zugeschrieben werden müssen, selbst wiederum zu einer sehr beliebten Tugend gehören. Dies ist, beiläufig gesagt, ein anderer schwieriger Punkt, der die Untersuchung sehr verwickelt macht. Eben so wenig ist das Beispiel allein hinreichend, die Menschen zu dieser Tugend anzuführen. Es | kann überall für sich selbst nicht viel ausrichten. Denn da jede Handlung sehr zusammengesezt ist, so muß man doch erst wissen, worauf man in dem vorgestellten Beispiel zu sehen, und wovon man zu abstrahiren hat, und der Begrif der Tugend, worauf es sich beziehen soll, muß also schon vorher gegeben sein, am wenigsten aber ist es bei einer so ganz negativen Tugend möglich, wobei es ursprünglich gar nichts zu sehen giebt. Belehrung über die Schaamhaftigkeit ist daher unumgänglich nothwendig, wenn es Schaamhaftigkeit überhaupt geben soll — und es würde gewiß mehr wahre und weniger falsche geben, wenn man das nicht aus Mißverstand unterliesse. — Sollte sich finden, daß die Schaamhaftigkeit nichts ist, so werden wir auch nicht gegen sie gehandelt haben, und sollte der Begrif, der sich am Ende findet, die Art wie die Untersuchung geführt worden ist tadeln, so ist dies eine Sünde, die wir ein für alle Male zum Besten der ganzen Welt begehen, und die uns deshalb verziehen werden muß. Es ist also hierüber weiter nichts vorzureden und die Untersuchung kann angehn. Vielleicht ist es am besten, sie bei diesem Widerspruch anzufangen, der doch einmal gekommen ist, und ein Recht hat, zu etwas gebraucht zu werden; es muß we| nigstens möglich sein, auch von hieraus der Sache aufs klare zu kommen. Soviel geht daraus hervor, daß es auf eine gewisse Art erlaubt sein muß, die Vorstellungen, welche die Schaamhaftigkeit äditet, zu haben, und daß also das Vermeiden nur in einem beschränkten Sinne zu verstehen ist. Diese große Wahrheit hätten wir freilich auch auf einem andern Wege finden können, wenn wir zum Beispiel daran gedacht hätten, daß die Mysterien der Liebe doch gewissermaßen ins Bewußtsein kommen müssen, wenn sie ausgeübt werden, und daß dieses gewissermaßen nothwendig ist, wäre es auch nur um der Schaamhaftigkeit selbst willen — welches hier unstreitig der beste Beweis ist — der es ja sonst bald genug an den Subjekten und mit diesen auch an den Objekten fehlen würde. Indeß wir haben sie nun einmal auf diesem Wege gefunden, der für eine Untersuchung wie die

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unsrige viel methodischer ist, und wollen nun darauf fortgehn. Wenn es also etwas erlaubtes hierin giebt, so kommt es darauf an, die Grenzlinie zwischen diesem und dem Verbotenen zu finden. Hiebei fällt man natürlich darauf, eine gewisse Analogie zu suchen zwischen der Schaamhaftigkeit und dem, was man in einem weiteren Sinne des | Wortes Schaam zu nennen pflegt: denn die Verwandtschaft ist unläugbar, man sehe nun auf die Beschaffenheit des Gefühls oder auf den allgemeinen Sprachgebrauch. Schaam, ich rede nun von diesem weiteren Sinne, ist das Gefühl des Unwillens darüber, daß etwas im Gemüth vorgegangen ist, es sei nun dieses Etwas seinem Wesen nach verdammlich oder nur seiner Beschaffenheit nach, denn sie bezieht sich nicht nur auf das Böse, sondern auch auf das Unvollkommene. Worauf hiebei der Unwille eigentlich gerichtet ist, sieht man sehr leicht, wenn man die Schaam mit der Reue vergleicht. Wo jene ist, kann diese auch sein; aber jene ist etwas höheres. Die Reue nemlich bleibt bei der Wirklichkeit dessen stehen, was geschehen ist, und sieht also auf den Zusammenhang und auf die Folgen; bei Einigen auf die äußeren, bei Andern auf die innern, welche das Gewissen hervorbringt. Die Schaam hingegen schließt nur von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit, und der Unwille geht darauf, daß es möglich war so zu handeln oder so zu denken, und daß im Gemüth ein Princip war, woraus dies hervorgehen konnte, oder eins fehlte, wodurch es hätte verhindert werden müssen. Daher ist die Schaam auch nie auf die bloße Vorstel | lung gerichtet; ich kann mir Alles Böse und Verächtliche, dessen ich mich schämen würde, denken und hin und her darüber reden, ohne mich im geringsten zu schämen. Ist dies nun bei der Schaamhaftigkeit eben so, und ist sie nur eine Anwendung jener Empfindungsart auf den angegebenen Gegenstand? Dies ist keinesweges der Fall, und so scheint jene Analogie, so nahe sie auch lag, zu gar nichts zu führen. Zuerst ist dabei schon gar nicht von einer Unvollkommenheit die Rede, sondern was die Schaamhaftigkeit verdammt, das verdammt sie nur um desto härter, je vollständiger es da ist. Dann unterscheidet sie auch gar nicht so, daß vorzustellen und zur Reflexion sich geben zu lassen erlaubt wäre, was zu thun oder ursprünglich selbst zu denken verboten ist. Eines Theils haben wir vorher schon zufällig gesehn, daß das Handeln mit den Objekten der Schaamhaftigkeit nicht ganz verboten werden kann; und wenn andern Theils Einige behaupten möchten, das Verbot gehe eigentlich auf das Vorstellen und Mittheilen der Vorstellung, und es in dieser Rüksicht für eine erhabene und preiswürdige Aufgabe halten, sich

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auch beim Handeln des Vorstellens und des begleitenden Bewußtseins der Gegenstände gänzlich zu entschlagen, so kann man | ihnen diesen tugendhaften Wunsch wol vergönnen; aber es steht ihnen doch entgegen, daß das Vorstellen ebenfalls nicht ganz untersagt werden kann, weil dies den Untergang mehrerer höchst nothwendiger Künste und Wissenschaften nach sich ziehen und die Existenz der Menschen auf eine andere Weise eben so sehr in Gefahr bringen würde, besonders in diesen verderbten Zeiten, als das Verbot des Handelns. Das Verbot kann also hier gar nicht darauf gehn, daß kein Princip vorhanden sein sollte, um diese Vorstellungen, auf welche Art es auch sei, hervorzubringen, und das Gefühl kann nicht ein Unwille sein über das Dasein dieses Princips; worin demnach die Schaamhaftigkeit von der Schaam gänzlich abweidit. Sie geht also nur, und zwar bedingterweise auf das wirkliche Vorkommen dieser Vorstellungen, und es fragt sich nur, welches diese Bedingung ist. In zweierlei kann sie nur gesucht werden, in einer innern Beschaffenheit derselben, welche schlechthin vermieden werden müßte, oder in einem gewissen äußern Zusammenhange, worin sie schlechthin vermieden werden müßten, oder in einer gewissen Begrenzung dieser beiden Sphären durch einander. Das erste versagt sich wieder, denn es giebt von der leisesten Andeutung bis zur genauesten Aus | führlichkeit, und von der kältesten Betrachtung bis zur lebhaftesten Empfindung nichts, was sidi nicht dem bloßen Gefühl, (welches man doch allein fragen muß, wenn das Raisonnement erst festgestellt werden soll) bisweilen als der Schaamhaftigkeit widerstreitend, und bisweilen als ihr nicht widerstreitend, ankündigte. Eben so geht es natürlicherweise mit dem zweiten, denn es giebt wol kein Verhältniß vom einsamen Gespräch mit dem unschuldigsten Jüngling oder Mädchen bis zur lautesten und vermischtesten Gesellschaft, vom Schlafgemach bis zur Kanzel, von der nachdenklichsten bis zur leidenschaftlichsten Stimmung, worin nicht irgend etwas aus diesem Gebiet erlaubt sein sollte. Aber auch anderes unschaamhaft, und so bleibt das dritte das Einzige, was wir versuchen müssen. Die Momente, worauf es ankommt, werde ich wol vorläufig schon berührt haben: denn da wir noch nicht wissen, ob mit der Schaamhaftigkeit mehr das Nichthaben, als das Nichtmittheilen gemeint ist, so müssen wir bei der Gesellschaft anfangen, wo beides verbunden ist, und da kann nur die Beschaffenheit der Menschen und ihre Stimmung in Betracht gezogen werden. Die erste am Ende auch nur um der lezten willen, und hier liegt also der große | Knoten, der gelöst werden soll, es soll vermieden werden irgend eine Wirkung auf

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die Stimmung und den Gemüthszustand der Menschen. Es ist nun ganz und gar keine Kunst mehr zu sehen, worauf es hinauswill: diese Vorstellungen nemlich hängen gar zu genau mit einem Triebe zusammen, dessen Allgewalt von den ältesten Zeiten an vergöttert worden ist, und die Besorgniß ist diese, daß es den Menschen nicht möglich sein möchte, wo auch diese Vorstellungen in Anregung gebracht werden, dem Uebergang auszuweichen, der sie von da zum Begehren führt, und daß also ihrem logischen oder praktischen Zustande auf einmal ein Ende gemacht werden, und sie dagegen in den der Begierde hineingerathen möchten. Daß es das sein müßte, habe ich freilich schon lange gesehen, und ich hätte es durch Divination im ersten Augenblick aussprechen können, wenn ich nicht auf dem sicheren Wege durch die Notwendigkeit der Untersuchung hätte hinkommen wollen. Wie ich aber leider sehe, habe ich diesen Vorsatz doch nicht ganz vollkommen ausgeführt und mich auch nun durch einen nur etwas kürzeren Sprung auf den rechten Fleck gestellt. Wie mag das zugegangen sein? sollte es etwa gar zu schwer gewesen sein, ohne ein solches Hülfsmit | tel dahin zu gelangen? Diese Frage kann ich nur zu meiner Rechtfertigung beantworten, indem ich eine andere in Anregung bringe, die mir schon lange heimlich zu schaffen gemacht hat. Es ist doch, man nehme es nun, wie man will, eine ganz sonderbare und einzige Sache, und widerstreitet allen gesunden Begriffen, daß eine Tugend in den Grenzen einer gewissen beschränkten Materie des Handelns, eines bestimmten Objekts eingeschlossen sein soll, und dies ist bei der Schaamhaftigkeit der Fall58. Was den Namen betrift, so ist die Sache häufig. Die Wohlthätigkeit, in dem Sinne, den der Sprachgebrauch fest stellt, geht auch auf ein bestimmtes Objekt, auf die Mittheilung der äußeren Güter, aber wenn man nun sieht, wodurch und auf welche Art denn eigentlich gefehlt wird, wenn man nicht wohlthätig ist, so sieht jeder, daß er durch jede Vernachläßigung fremden Wohlergehens aus Gefühllosigkeit und Eigennuz auch außer dem Gebiet des Eigenthums auf gleiche Weise fehlt. Nur von der Schaamhaftigkeit ist außerhalb des Stoffes, worauf sie sich bezieht, nichts Aehnliches anzutreffen. So ist es freilich kein Wunder, wenn eine rechtliche Untersuchung ohne eine kleine Nachhülfe den rechten Punkt nicht trift; dies ist nicht mög | lieh, wenn er nicht unter ein größeres Gebiet und eine noch mehr unter sich begreifende allgemeine Formel gehört, und aus dieser durch die gehörige Eintheilung gefunden werden kann. Ich wäre also gerechtfertigt, aber die Schaamhaftigkeit nicht: denn es ist und bleibt einmal unerlaubt so allein zu

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stehn, wenn man eine wirkliche Tugend sein will. Dasjenige, worauf sie dringt, ist eigentlich Achtung für den Gemüthszustand eines Andern, die uns hindern soll, ihn nicht gleichsam gewaltsamerweise zu unterbrechen; sollte es denn auf anderm Gebiet nicht auch ähnliche ungebührliche Eingriffe in die Freiheit geben? Es wäre doch sehr wunderbar und herabsetzend, wenn man sagen wollte, Alles übrige, was man appliciren kann, um einen Menschen aus einem Zustande in einen andern zu bewegen, sei nur ein Reiz, und es hänge von ihm ab, in wiefern er ihm folgen wolle oder nicht; dieses aber sei eine Naturnotwendigkeit! Dennoch scheint diese Ansicht Schuld daran zu sein, daß man so wenig Sinn hat für die Analoga der Schaamhaftigkeit. Ein Scherz von irgend einer andern Art zur unrechten Zeit angebracht, ein schneidender Witz mitten in eine ernsthafte Untersuchung, ein Keim zu irgend einer andern Leidenschaft in den stillen Fluß einer | ruhigen Stimmung hineingeworfen, scheint mir eben so ungebührlich zu sein und dasselbe Gefühl erregen zu müssen. Nur ein Mehr und Weniger kann dazwischen Statt finden, und die allgemeine Aufgabe der Schaamhaftigkeit bleibt also, jeden Menschen, in jeder Stimmung die einem eigen oder mehreren gemeinschaftlich ist, kennen zu lernen, um zu wissen, wo seine Freiheit am unbefestigtsten und verwundbarsten ist, um sie dort zu schonen. Aber soll denn der Zustand eines Menschen, er sei nun denkend oder handelnd oder empfindend, da doch diese Funktionen mit einander abwechseln müssen, nicht eben so gut durch eine äußere Anregung als unmittelbar von innen her in einen andern übergehen können? So scheint es, und es kann also auch nicht der Uebergang sein, was verwerflich ist, sondern die Unterbrechung, die nur durch die Einwilligung des andern, indem er sie mit Freiheit annimmt und ohne eigne Mißbilligung fortsetzt, ein Uebergang werden kann. Wenn ich einem Betrübten mitten in dem Lauf seines Schmerzes eine lustige Geschichte erzähle, so bin ich nicht zu tadeln, wenn ich ihn dadurch wirklich in eine fröhliche Stimmung versetze; nur wenn ich mich verrechnet hatte, und meine Bemühung fehlschlägt, bin ich | schaamlos gewesen. Hier, wie überall, wo es auf den Umgang mit Menschen ankommt, giebt es zwei Arten, wie man sie behandeln kann, nach allgemeinen Voraussetzungen oder nach einer besondern und sichern Kenntniß von jedem Einzelnen. Das erste ziemt nur denen, welche sich auf ihr eigenes Urtheil nicht verlassen können; das leztere ist freier, ziemt aber auch nur Freien, und man muß sich dazu jedesmal aufs neue durch die That selbst legitimiren. Ein allgemeiner und höherer Begrif ist also festge-

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stellt und dadurch der Schaamhaftigkeit ihr Anspruch auf den N a men einer Tugend gesichert, und ihr Charakter vorläufig bestimmt; nun können wir zu demjenigen Theile ihres Gebietes zurückkehren, wo sie allgemein anerkannt ist. Zuerst ist schon gewiß, daß weniger das Nichthaben, als das Nichtmittheilen gewisser Ideen gemeint ist; denn auf jenes läßt sich der eigentliche Begrif des Unsittlichen in der Schaamlosigkeit nicht anwenden. Man kann nicht sagen, daß ein Mensch Eingriffe in seine eigne Freiheit thut, und wenn Jemand nicht die Kraft hat, sich in einem gewissen Zustande zu erhalten, sondern in jedem Augenblick in Gefahr steht, durch eine herrschende Ideenverbindung herausgeworfen zu werden, so ist das | freilich ein großes Uebel, aber nicht schaamlos. Nur wenn ein Mensch einmal für diese Niedrigkeit bekannt ist oder den Ausdruck derselben überall in sich trägt, kann er, ohne sich absichtlich zu äußern, durch seine bloße Existenz anstößig werden, und den Eindruck der verlezten Schaamhaftigkeit hervorbringen, und dergleichen giebt es, und nicht unter den Schlechtesten. Nächstdem scheint man mir aber auch von dieser Schaamhaftigkeit eine gute Hälfte zu übersehen, weil man sich zu dem rechten Begrif nicht erhebt. Es ist sehr einseitig, wenn man nur das verdammen will, wenn der Zustand des Denkens oder der Ruhe überhaupt durch einen Reiz auf die Sinnlichkeit und das Begehren unterbrochen wird: der Zustand des Genusses und der herrschenden Sinnlichkeit hat auch sein Heiliges und fordert gleiche Achtung, und es muß ebenfalls schaamlos sein, ihn gewaltsam zu unterbrechen. Dies gehört auch ganz hieher: denn es geschieht durch dieselbigen Vorstellungen, die ihn, wenn man sie von einer andern Seite ins Auge faßt, oft zur unrechten Zeit herbeiführen. Von dieser Lücke aus läßt sich vielleicht das hellste Licht über die ganze Sache verbreiten, wenn man sie recht aufdekt. Jede Vorstellung läßt eine drei | fache Beziehung zu, wenn sie vor das Bewußtsein gebracht wird: sie kann zur Erkenntniß eines Gegenstandes verarbeitet werden, die Fantasie kann sie in Beziehung auf die Idee des Schönen bringen, und sie kann als Reiz an das Begehrungsvermögen gebracht werden. Die Vorstellungen, welche Objekte der Schaamhaftigkeit sind, sind in allen diesen Beziehungen gleich fruchtbar, aber auch ganz vorzüglich aus einer in die andere beweglich. Indessen ist es doch möglich, sie in jeder als das festzuhalten, was sie sind, und es ist klar, daß sie alsdann in den Zustand gehören, der ihnen analog ist, und in diesem wie jeder andere einzelne Gegenstand vorkommen können, und daß jede nur in dem entgegengesezten etwas fremdartiges, und der Schaamhaftigkeit zu-

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wider ist. Entgegengesezt sind sich aber nur der erste und lezte; die Beziehung auf das Schöne liegt in der Mitte zwischen Beiden, und in dieser Beziehung genommen muß Alles, was zur Liebe und ihren Geheimnissen gehört, überall vorkommen können, was nemlich die Schaamhafligkeit betrift. Denn eine solche Darstellung läßt das Gemüth, wenn es sich an der Anschauung des Schönen gesättiget hat, ganz frei und enthält in sich | nicht den geringsten bestimmten Reiz zum Uebergange weder in einen widrigen Begrif noch in ein leidenschaftliches Verlangen; und wo eins von beiden zur Unzeit geschieht, ist es ein lediglich genommenes Aergerniß,' das bloß in einer herrschenden Stimmung des Anschauenden seinen Grund haben kann. Wie kommt es, daß die gemeine Meinung dies nicht anerkennen will? Daß sie überhaupt einseitig ist, und von dieser Einseitigkeit nichts weiß, und also ihr eigenes Princip nicht kennt, ist wohl wahr und klar genug; aber es kann diesen Mißgrif nicht erklären. Wenn sie auch nur darauf berechnet ist, daß das trokne Leben und Geschäftführen, und das dazu so eben unumgänglich nöthige Denken das einzige n o t wendige und heilsame sein, und alles übrige nur als mehr oder weniger unentbehrliches Mittel, unvermeidliches Uebel oder verwerfliche Abweichung betrachtet werden soll; so folgt freilich, daß von dem Zustande der Leidenschaft und des Genusses gar nicht die Rede sein, und daß er wenigstens niemals das Bessere und Ernsthaftere unterbrechen soll; daß also aus den Unterhaltungen über das Leben jede Andeutung verbannt sein muß, mit der es darauf angesehen ist, das Verlangen zu wecken; aber | folgt auch, daß nur die trockensten Vorstellungen von den Geheimnissen der Liebe eben wie andere natürlichen Dinge mit der nöthigen Vorsicht und am rechten Orte gelegentlich als Gegenstände der Untersuchung und der Belehrung vorkommen dürfen? folgt auch, daß das Schöne mit seinem liebsten Gegenstande sich, wenn die gesellige Unterhaltung angeht, entfernen muß, wie die englischen Frauen, wenn der Wein aufgesezt wird? und daß es nichts anders wirken kann, als einen Anfall von Leidenschaft? Dies liegt nicht an der Einseitigkeit, sondern es liegt in der Abscheulichkeit der gemeinen Denkart. Am besten sieht man dies, wenn man die andere Seite der Schaamhaftigkeit betrachtet, und sieht, wie diejenigen es halten, die dieser fähig sind. Setzen wir also den Zustand des innern Lebens, der Liebe und des Bewußtseins davon als herrschend, so folgt zuerst, daß in diesem eben jene troknen objektiven Vorstellungen schaamlos sein müssen. Denn sie beziehn sich auf das animalische Leben, auf das ganze System desselben vom zartesten und wunder-

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barsten bis in das gröbste und unliebenswürdigste, und vor dieser physiologischen Ansicht zieht sich die Liebe scheu zurück, und kann nicht bestehen, wenn das | jenige isolirt und zum Mechanismus herabgewürdigt wird, was in ihr mit dem Höchsten verbunden ist. Diese also als einen Eingrif in ihr freies Spiel zu fühlen und entfernt zu halten, ist die Schaamhaftigkeit der Liebenden unter einander. Ihre und besonders der Frauen heiligste Sorge ist, daß der Dienst der großen Göttin nicht entweiht werde; was von der Liebe, dem Verlangen, dem Bewußtsein des Genusses eingegeben wird, gehört als schöne Umgebung zu ihrem Zustande; jede reizende Andeutung, jedes witzige Spiel, welches die Fantasie hervorbringt, ist in der Ordnung, und es giebt darin von wegen der Schaamhaftigkeit kein Uebermaaß und keine Grenze. Beiläufig ist doch zu merken, daß dies nur von denen gelten kann, die wirklich zu lieben verstehen: denn je weniger dies der Fall ist, desto weniger sind auch die Menschen, selbst wenn das, was sie Liebe nennen, ihr Gemüth erfüllt, empfänglich für das Schalkhafte, Reizende und wahrhaft Ueppige, desto mehr verliert sich der Sinn für diese Schaamhaftigkeit, und denjenigen, in denen nur die rohe Begierde wohnt, kalten Wüstlingen und gefühllosen Miethlinginnen sind selbst im Zustande der Leidenschaft die plumpsten Vorstellun | gen und Reflexionen über das Thierische, auf welches ihre Empfindung und ihr Streben sich bezieht, nicht unanstößig 58a . Diese Dinge also sind den wirklich Liebenden ein Gräuel: aber wie kommt es denn, daß sie es übrigens nicht machen wie jene Ruhigen, welche alles, was sie hören, auf dasjenige deuten und beziehen, was ihnen zuwider ist, damit sie nur über verlezte Schaamhaftigkeit klagen können? wie kommt es, daß sie nicht in jeder schönen Darstellung der Empfindung nur das körperliche und natürliche sehen, welches sie hassen, und in jeder Abbildung menschlicher Gestalten oder eines Moments der Liebe, das Thier und den Mechanismus seiner Naturbestimmung? daß sie vielmehr für jede schöne Darstellung der Liebe und ihrer Mysterien empfänglich sind, und selbst dergleichen nach dem Maaß ihrer Anlage hervorzubringen streben? Es kommt unstreitig daher, weil sie wirklich sich in dem Zustande befinden, in dem sie sagen, und weil also ein Bestreben in ihnen ist, diesen zu unterhalten, und ihm, was vorkommt und sie berührt, zu assimiliren, so daß sie nur da, wo das ihnen widerstrebende eindeutig und in seinem ganzen Gegensatz ihnen vorgelegt wird, es nicht verkennen können. | Was soll man also von denen halten, die in dem Zustande des ruhigen Denkens und Handelns zu sein vorgeben, und doch so unendlich

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reizbar sind, daß auf den kleinsten entfernten Anstoß von außen, Regungen der Leidenschaft in ihnen entstehen, und um desto schaamhafter zu sein glauben, je leichter sie überall etwas Verdächtiges finden? Nichts als daß sie sich in jenem Zustande eigentlich nicht befinden, daß ihre eigne rohe Begierde überall auf der Lauer liegt, und hervorspringt, sobald sich von fern etwas zeigt, was sie sich aneignen kann, und daß sie davon die Schuld gern auf dasjenige schieben möchten, was die höchst unschuldige Veranlassung dazu war. Gewöhnlich muß ihnen die liebe Unschuld zum Vorwande dienen: Jünglinge und Mäddien werden vorgestellt als noch nichts von Liebe wissend, aber doch von Sehnsucht, die jeden Augenblick auszubrechen droht, und den kleinsten Anlaß ergreift, um mit verbotenen Ahndungen zu spielen. D a s ist aber nichts. Wahre Jünglinge und Mädchen sind freilich das Ideal dieser Art von Schaamhaftigkeit, aber in ihnen gewinnt sie eine andere Gestalt. N u r was keinen andern Sinn haben kann, als Verlangen und Leidenschaft zu erwecken, muß sie verletzen; aber | warum sollten sie nicht die Liebe kennen dürfen, und die Natur, da sie beide überall sehen? warum sollten sie nicht desto unbefangener verstehen und genießen können, was darauf gedeutet oder davon gesagt wird, je weniger eben die Leidenschaft in ihnen selbst aufgeregt wird? Jene ängstliche und beschränkte Schaamhaftigkeit, die jezt der Charakter der Gesellschaft ist, hat ihren Grund nur in dem Bewußtsein einer großen und allgemeinen Verkehrtheit, und eines tiefen Verderbens. Was soll aber am Ende daraus werden? Es muß dieses, wenn man die Sache sich selbst überläßt, immer weiter um sich greifen; wenn man so ganz eigentlich J a g d macht auf das nichtschaamhafte, so wird man sich am Ende einbilden, in jedem Ideenkreise dergleichen zu finden, und es müßte am Ende alles Sprechen und alle Gesellschaft aufhören, man müßte die Geschlechter sondern, damit sie einander nicht erblicken, und das Mönchthum, wo nicht noch etwas ärgeres einführen. D a s ist nun nicht zu ertragen, und es wird daher der Gesellschaft ergehen wie unsern Frauen, die, wenn die Sittsamkeit sie immer enger bedrängt und es am Ende unschicklich ist, eine Fingerspitze zu weisen, wie aus Verzweiflung auf einmal rasch umkehren, und wieder | Nacken, Schultern und Busen den rauhen Lüften und den forschenden Augen Preis geben; oder wie den Raupen, die den alten Balg durch eine entschlossene Bewegung abwerfen. So wird es sein: wenn die Verderbtheit den höchsten Gipfel erreicht hat, und die rohen Triebe so herrschend geworden sind, und so reizbar und scharfsichtig, daß es nicht möglich ist, sie durch irgend etwas nicht anzure-

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gen, so plazt jener falsche Schein von selbst, und es wird sich darunter zeigen die junge Schaamlosigkeit mit dem Körper der Gesellschaft schon längst innig zusammengewachsen, als ihre wahre Haut, in der sie sich natürlich und leicht bewegt. Die völlige Verderbtheit, und die vollendete Bildung, durch welche man zur Unschuld zurükkehrt, machen beide der Schaamhaftigkeit ein Ende; durch jene stirbt mit der falschen auch die wahre ihrem Wesen nach, durch diese hört sie nur auf etwas zu sein, worauf eine besondere Aufmerksamkeit gewendet und ein eigner Werth gesezt wird, sie verliert sich in die allgemeine Gesinnung, unter der sie begriffen ist. Sollen wir uns jener Katastrophe aussezen, oder sollen wir den gesellschaftlichen Zustand diesem lezteren Ziele näher bringen? Vor der Hand kann das nur dadurch | geschehen, daß man den Menschen die Ehre thut, sie so zu behandeln, als wären sie etwas besser, um ein Gegengewicht gegen jenes Verfahren hervorzubringen, welches auf der Voraussezung ihrer Schlechtigkeit beruht. Man soll nicht annehmen, daß unter gesitteten Menschen jede etwas lebendige Vorstellung gleich durch die Fantasie zu einem Reizmittel für die Begierde umgebildet wird; man soll nicht glauben, daß sie unfähig sind, aus dem Schönen etwas besseres zu machen, als einen Uebergang zur wilden Lust; man soll nicht glauben, daß nur über diesen Gegenstand jeder schalkhafte Scherz und jede wizige Andeutung den eigentlichen Eindruck verfehlt, so daß der Reiz des Spieles verloren geht, und Jeder unvermeidlich bei dem Stoff stehen bleibt, mit welchem gespielt wird. Das erste, was nothwendig ist, um die Sache in diesen besseren Gang zu bringen, ist die Hülfe der Frauen; nicht nur weil Alles, wovon sie sich entfernen, roh werden muß, sondern auch weil von ihnen, in denen die Schaam als in ihrem schönsten Heiligthume wohnt, auf die hiebei immer vorzüglich gesehen wird, und in denen jede Verbindung zwischen dem Innern und Aeußern so viel zarter und feiner ist, der Beweis ausge| hen muß, daß es mit diesem verbotenen Verkehr der Vorstellungen und der Sinne so arg nicht ist, als die Meisten befürchten; sie sind es, die durch die That alles dasjenige heiligen müssen, was bis jezt durch falschen Wahn geächtet war. Nur wenn sie zeigen, daß es sie nicht verlezt, kann das Schöne und der Witz frei gegeben werden. Nächst ihnen ist das einzige, was den Menschen zu einer richtigen Anschauung von dieser Sache verhelfen kann, die Kunst, wenn sie dasjenige, was sein soll und darf, in ihren Werken hervorbringt. Die bildenden Künste können sich Momente der Liebe zu ihren Darstellungen wählen, und so beweisen, daß es auch hier eine Schönheit giebt, die den

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Gegenstand würdig ausdrückt und einhüllt, ohne das Gefühl zu verletzen und die Leidenschaft loszulassen. Besonders aber haben viele Gattungen der Poesie den eigensten und nächsten Beruf zu zeigen, wie sich innerhalb der Grenzen des Schönen die beiden entgegengesezten Arten der Schaamhaftigkeit vereinigen lassen. Die Poesie bringt den Menschen in Gesellschaft mit ihren Werken, er soll in ruhiger Betrachtung und freier Anschauung ihre Bildungen genießen, und sie darf also kein anderes und fremdes Verlangen in ihm absichtlich oder | ungeschikt erregen, welches diesen Genuß zerstören würde. Wenn nun auf der andern Seite für viele ihrer Werke die Liebe der höchse Gegenstand ist, von denen sie ganz durchdrungen sein sollen, so darf nichts fehlen, was denen natürlich und eigen ist, die in diesem Gefühl leben, und nichts kaltes und todtes dort dargestellt werden, was sie beleidigen könnte. Hier gilt es also das ganze schwierige Gebiet nach allen Seiten zu durchstreifen, ohne über seine Grenzen auszuweichen, und dadurch kann der eigentliche Umfang desselben am klarsten dargestellt werden. Dichtungen, die dies leisten, sind nicht nur an sich schön und wünschenswerth, sondern sie thun uns auch Noth, um durch ihr Beispiel den rechten Takt und Ton wieder herzustellen für dasjenige, was das zarteste und schönste ist in der Lebenskunst.

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Vierter Brief Von Karoline, Einlage in den vorigen. Haben Sie wirklich gewollt, daß ich die Lucinde auch lesen soll? Ich hoffe wenigstens nicht so ernstlich, daß ich fürchten müßte, Sie böse zu machen, wenn ich nicht folge. Ich habe mir fest vorgenommen, sie jezt nicht zu lesen. Schon von Anfang an hatte ich keine Lust dazu nach Allem, was ich davon hörte, und was Sie Schönes darüber an Ernestine schreiben — sie hat mirs Alles treulich vorgelesen — hat mich in meinem Vorsatz nur noch bestärkt. Zur Ziererei haben Sie mich nicht erzogen, und wissen auch gewiß, daß ich niemals mehr davon an mir haben werde, als jezt oder ehedem; darüber also rechtfertige ich mich nicht. Auch glauben Sie | wol nicht, daß mir jemals der Gedanke einfällt, als ob ein Buch, welches so beschaffen ist, daß ich es mit Vergnügen lesen kann, im Stande sein würde, mir die Sitten oder die Fantasie zu verderben oder sonst ein Unheil anzurichten. Es ist ja widersinnig, daß Jemand ein solches Buch sollte lieb gewinnen können, da sich ein Buch nicht verstellen oder einen wieder irre machen kann, wie ein Mensch; und noch weniger wird doch Jemand aus freien Stücken ein Buch zu Ende lesen, welches er nicht lieb hat? A m wenigsten konnte ich also so sdilimme Sachen von einem Werke fürchten, von dem Sie mit so viel Achtung reden, und das ich auch wol lieben würde, da ich dem Verfasser schon aus Ihren Erzählungen so gut bin. Aber eben deshalb möchte ich es mir gern aufsparen auf eine andere Zeit, wo ich besser im Stande sein werde, es zu genießen. Bin ich doch noch keine Frau, nicht einmal eins von den Mädchen, welche Sie immer Frauen nennen, die nur zufällig noch nicht geheirathet haben, sondern ein wahres und ächtes von der ersten Klasse, grade wie ich Sie vor dem Jahre verlassen habe. Wie soll ich also alle die Schönheiten verstehen, die Sie so vorzüglich an dem Buche lie-

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ben? O b die | Liebe hier in ihrer ganzen Vollendung erscheint, und ob in der Mischung des Geistigen und Sinnlichen so viel Wahrheit ist, als Sie rühmen, und was sonst noch in dieses Kapitel gehört, das kann idi ja eben so wenig beurtheilen, als die, welche Männer und Frauen geworden sind, ohne zu lieben, und nun so gewaltigen Anstoß an dem Buche nehmen. Würde ich also nicht im Grunde eine eben so unwürdige Leserin sein, wenn gleich keine so boshafte und lächerlidie? Oder soll ich über die Lucinde aus dem urtheilen, was ich wol in andern Büchern über die Liebe gelesen habe, und was so von ihren äußeren Erscheinungen im Leben zu sehen vergönnt wird? Das möchte mir noch übler gerathen; auch habe ich gar keine Neigung dazu. Ueber diese Dinge muß man seine eigne Ansicht aus seinem eignen Gefühl und seiner schönsten Erfahrung haben, sonst ists nidits damit, und bis dahin will ich mich nur gedulden. Ist doch die Lucinde kein so vergängliches Werk, daß in ein Paar Jahren nicht mehr die Rede davon sein sollte. Da ist Karl hier, der fängt jezt wieder an die Alten zu lesen, wie idi zu seinem Lobe sagen muß, und klagt gewaltig darüber, daß er so manchen treflichen Schriftsteller | auf der Schule hat lesen müssen zu einer Zeit, wo es ihm noch ganz an den nöthigen Sachkenntnissen fehlte, oder ihm der Sinn für Schönheiten mancher A r t noch nicht aufgegangen war. Und Angesichts dieses traurigen Beispiels sollte ich nun die Lucinde lesen, da es doch auch nur ein schülerhafter Versuch sein würde? Freilich, wie der arme Junge gequält worden sein mag, werde ichs nicht; und doch von Ihnen? O idi sehe schon, daß da der Rechenschaften, die ich würde geben sollen, und des hin und her Fragens kein Ende sein würde. Woher idi das so bestimmt weiß? Ja, sehen Sie; ich will Ihnen nur gestehen, ich habe ein wenig genascht; aber gar nicht so, wie Sie es nicht leiden können, sondern recht consequent, und Ernestine hat sich mir dazu hergegeben. Ich habe mir nemlich Alles von ihr vorlesen lassen, was von Mädchen in der Lucinde vorkommt, weil ich auf Ihr Zeugniß von mir hin behaupte, daß ich das verstehen muß, und schon über dieses Wenige habe ich so viel auf dem Herzen, daß ich lieber nicht erst damit anfangen möchte. D a ist zuerst die Geschichte mit der Lisette59 — denn Ernestine bestand darauf, daß ich diese als Mädchen sollte gelten lassen, und so sehr ich mich sonst dagegen | sträube, thut es mir doch diesmal nicht leid, nachgegeben zu haben. Ach, das ist eine herrlidie Gesdiichte, die einen großen Eindruck auf mich gemacht hat; und nicht nur die Geschichte, auch das Mädchen ist mir so sehr lieb, und das sollen Sie mir eben erklären, wie so? Es ist gar nicht bloß Rükwir-

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kung der Katastrophe; denn ich weiß noch genau, daß mir schon eben so zu Muthe war, ehe ich diese ahnden konnte. Auch nicht, was so hie und da durchblikt, daß sie eine Ahndung bekommt von dem, was ihr fehlt, und von dem Widrigen ihres Zustandes: denn wenn ich mir das so weiter ausmahle, wie es wol hie und da vorkommt, Lisette als eine büßende Magdalena, der ein edler und angenehmer Mann auf einmal zur Anschauung der Tugend verholfen hat, und dann ihr Bestreben sich aufzurichten, und seine Bereitwilligkeit ihr zu helfen, und ihre stille demüthige Liebe, und seine Uneinigkeit mit sich selbst, und wie es denn weiter aus einander geht, das hätte einen ganz andern Eindruck auf mich gemacht, und pflegt mir — Ihnen darf ich ja das wol sagen — neben aller Rührung gern ein wenig ekelhaft zu sein. Mitleiden ist es auch gar nicht: denn mit dieser übermäßig sinnlichen Natur ist sie wol nicht nur | vermöge eines traurigen Schiksals, sondern hintennach aus gutem Vorsatz und zu Folge ihres innersten Wesens das, was sie ist, ich müßte also mit ihrem innersten Wesen Mitleid haben, und das hieße ja sie verachten. Ich schätze sie im Gegentheil, und habe sie auch lieb, recht so, wie man ein CapriceGesicht hübsch findet, wo man an allen einzelnen Theilen viel auszusetzen hat, aber doch von dem Ganzen zu einem gewissen Wolgefallen und Interesse daran gezwungen wird; ja idi kann mir sogar denken, daß ich recht gern öfters hätte mit ihr sein mögen, wenn es ihr anders gelegen gewesen wäre, mit ihrem eignen Geschlecht umzugehn, woran ich jedoch zweifle. Besonders lieb wird sie mir immer wieder, wenn ich sie mit jenem andern ungenannten sehr gebildeten Mädchen60 vergleiche, die Julius Alles erlaubte bis auf das lezte, und sich dann etwas damit wußte, dies für thierisch und roh zu erklären. Dergleichen kenne ich einige, auch recht gebildete; aber ich habe einen unüberwindlichen Widerwillen gegen sie, und ich dächte, es wäre noch etwas ganz Anderes in ihr, was dem Julius mißfallen müßte, als bloß jenes Nicht vollenden wollen. Mir ist immer, als stäk hinter diesem Unterschied ein Be | trug, oder wenn es ehrlich damit gemeint ist, als wüßte man nicht, was man wollte, und das ist doch hierin besonders verächtlich. Kurz bald kommen sie mir vor, wie manquirte Hetären — aber von einer niedrigeren Gattung als Lisette — bald wie manquirte Prüden, und beides ist unausstehlich. Habe ich Recht: oder weiß ich vielleicht mit meiner Abneigung nicht was ich will? Doch das sind Alles nur Nebenfragen, die Hauptsache ist die zarte Louise' 1 , wie sie doch, Gott sei Dank, Julius selbst nennt; die ist ein Mädchen wie sichs gehört; auch habe ich sie mir lange nicht aus den Gedanken

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Vierter Brief. Von Karoline

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bringen können, und Ihre Weste ist vielleicht deshalb nicht so schön geworden, als ich wünschte. Ganz wüthend böse war ich Anfangs auf diesen Julius, und es half ihm nichts, daß er sich selbst über die ganze Geschichte verdammt: denn es bleibt immer noch soviel einzelnes drin, worüber er sich nicht verdammt. Nicht etwa, daß er hintennach glauben kann, sie sei böse gewesen, nicht ganz verführt zu sein; das halte ich ihm gern zu gut, was ist in so einem hintennach nicht zu verzeihen? Tausend andere Dinge, die meinen ganzen Stolz empörten, und gar nicht zu verzeihen sind. A m Ende habe ich mich | indeß damit beruhigt, daß er eben gar keine Kenntniß von Mädchen hat. Denken Sie, weil er mit ihr als Kind gespielt, und sie ihm damals gefallen hat, meint er, es würde ihm ganz wol behagen, wenn er sie sich jezt verführen könnte: als ob er aus dem, was sie damals war, auch nur den geringsten Schluß machen könnte auf das, was sie geworden sein mag; als ob nicht zwischen dem Kinde und dem Mädchen wenigstens ein eben so großer Unterschied wäre, als zwischen dem Mädchen und der Frau! Aber nein, auch das weiß er nicht. Und dann ist von dem Wie gar nicht die Frage, Gott bewahre! wer eine verführt hat, kann Alle verführen; als ob wir eine wären, wie die andere. Audi bei andern Gelegenheiten, wo nur von Mädchen die Rede ist, kommt dieser merkwürdige Unglaube zum Vorschein, als ob es keine Eigenheit unter ihnen gäbe? wenn kommt sie denn? ich hätte bald was gesagt! Und wie urtheilt er von dem lieben Mädchen. Zuerst, als sie sich weigert, meint er, es sei nur Achtung gegen ein fremdes Gebot gewesen; und dann, als sie sich hingiebt, meint er doch, sie müsse wol lange einer unbestimmten Sehnsucht in ihrer Fantasie nachgehangen haben. Wenn sie nur | ein fremdes Gebot zu überwinden hatte, so dächte ich, wären wol die Gegenwart und die Bitten des geliebten Jünglings ohne eine solche Vorbereitung genug gewesen: mußte diese erst so lange walten, so konnte er ihr wol die Ehre erzeigen, zu glauben, was sie abhielt, und ihr so schmerzlich und gewaltsam wieder kam, sei irgend ein eigenes Gefühl gewesen. Aber freilich er weis keines, das ein Mädchen warnen und zurükhalten könnte, als das Erlaubte! D a ß sie sich fragen mochte, ob er es auch werth sei, sich ihm ganz hinzugeben, ob seine Liebe gegen sie dieser Ergebung entsprechen, und sie rechtfertigen würde, das fällt ihm nicht ein; ihm, bei dem dieses Bedenken so wol gegründet war, da er sie unmittelbar nach dieser Katastrophe so ganz verlassen konnte, als ginge es ihn nichts an, was für ein Eindruck davon in ihrem Gemüthe zurükblieb. Und das hat mich noch zulezt am meisten aufgebracht. Wie? Ein

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Mann soll glauben, ein einziger Kuß, ein schüchterner Kuß, den eine Frau nur gewährt, sei eine Einwilligung in Alles, und verpflichte sie zu Allem; und er selbst glaubt sich durch Alles dieses nicht einmal soviel gebunden, daß er heilen müsse, was er so tief und schmerzlich verwundet hat? | Hier blikt ein ärgerer Geschlechtsdespotismus hindurch, als er mir jemals vorgekommen ist. Denn wenn wir erst, nachdem wir durch die Besiznahme der Männer gleichsam geadelt sind, Achtung und Aufmerksamkeit verdienen, so sind sie selbst es doch nur, was sie in uns achten, und es ist dies die allergewöhnlichste Denkungsart, nur ein klein wenig verlarvt. Wie kann man einen Menschen mit diesem fürchterlichen Männer-Egoismus, als den Helden einer wahren, ächten, und das ganze Gemüth durchdringenden Liebe aufstellen? Bei dem Allen sagt Ernestine, dieser Julius verstehe sehr viel von den Frauen, und es sei Alles sehr wahr und tief, was er von ihnen sage. Nun bitte ich Sie, wie ist es möglich, daß man einen Menschen dichten kann, der viel von Frauen versteht, und gar nichts, aber auch gar nichts von Mädchen. Mich soll wundern, wie mir sein Wesen mit den Frauen vorkommen wird, wenn ich erst eine bin, und es lese. Für jezt kann ich nichts thun, als ihm eine Tochter wünschen, so ist doch Hofnung, daß er sich in vierzehn oder fünfzehn Jahren in Rüksicht auf uns eines Bessern besinnt. So lange ich noch ein Mädchen bin, will ich mich an die Romane halten, wo | wir die Heldinnen sind, und worin das Entstehen der ersten Liebe in jungen Herzen, bis zur glüklichen Entwiklung, die Hauptsache ist; davon kann ich doch das Beste verstehen. Daß diese Alle leidlich schlecht sind, dafür können wir nichts. Uebrigens habe ich gar nichts gegen die Lucinde, und wünsche allen Frauen, für die sie doch eigentlich bestimmt ist, recht viel Glück dazu; das schadet ja dem Werth eines Buches nicht, wenn es gerade für uns nicht ist. Adieu! Sein Sie nur nicht böse, daß ein großer unbescheidener Brief geworden ist, was nur ein troziges kleines Zetteldien werden sollte; Sie kennen ja Ihre Karoline.

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Fünfter Brief. An

Karoline.

Da hast Du Dich ja einmal wieder recht ordentlidi ereifert, liebe Kleine, für die Ehre der Mädchen. Diese Unbill scheint Dir recht zu Herzen gegangen zu sein; und da es damit doch so arg nicht ist, könnte mir die Störung deiner frölichen Ruhe wol leid thun, wenn ich es nicht ganz billig fände, daß Du für Dein unbefugtes Naschen mit einigen unangenehmen Eindrücken bestraft wirst. Und Du nennst es gar consequent! Du mußt doch eben auch von der Idee ausgegangen sein, daß man sich aus der Lucinde, weil sie nicht so streng an dem Faden einer zusammenhängenden Geschichte fortläuft, nach Belieben etwas herauslesen könne, und da | mit muß man bei diesem Buche, wo Alles innerlich so sehr zusammenhängt, und jeder Theil wirklidi ein Theil ist, ganz besonders zu Schaden kommen. Darin aber liegt noch ein ganz eigener niedlicher Irrthum, daß Du so treuherzig glaubst, was über Euch vorkomme, müsse doch so gewissermaßen ein Ganzes für sich ausmachen! Hast Du denn nicht gleich, fast aus der ersten Stelle gesehen, daß der Verfasser der Lucinde der Meinung ist, in Euch Mädchen sei nichts, überhaupt nichts, klar und fertig, sondern Alles schwebe noch in einem reizenden Zauber dunkler Ahndungen, in einer anmuthigen Verwirrung, bis sich einmal am lezten Schöpfungstage das Licht von der Finsterniß auf eine andere Art als gewöhnlich scheidet? Auch kann Dir ja diese Ansicht von den Knospenjahren des zartesten Geschlechtes nicht fremd sein, Du mußt oft gehört haben, wie idi meine unwiderstehliche Neigung zu Euch mit dem Reiz dieses zusammengewickelten Lebens vertheidige, welches allen Anforderungen von außen widersteht, bis es sich oft in einer einzigen warmen thauigen Nacht nach seinen eignen innern Gesetzen entwickelt und zu bestimmten Formen ausbildet. Hättest Du nun das Buch Lu-

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cinde nur ein klein | wenig gekannt, so hättest Du leicht voraussehen können, daß überall, wo Mädchen unmittelbar dargestellt werden, diese negative Ansicht die herrschende sein würde, und würdest Dich also bequemt haben, das was der Dichter für die eigentlichen Bestandteile dieses schönen Chaos hält, in der Schilderung der Frauen aufzusuchen. Würdest Du denn zufrieden sein, wenn man Dir eine Knospe aufschnitte, und Dir alle die kleinen Blättchen vorzählte und zeigte? Das ist eben Eure Heiligkeit, daß man das nicht darf, und Ihr würdet sehr übel thun, sie Preis zu geben. Eine Knospe kann nur gezeichnet werden; wer wissen will, was darin ist, der sehe die Rose an. Versuche doch aber einmal, ob Du das Eigentümliche mitzeichnen kannst, wodurch sie sich als Rose von den übrigen unterscheiden wird, obgleich es in der That darin ist. Wie kannst Du nur sagen, daß dies in der Lucinde geläugnet wird? Ist nicht von Louisen und auch von jener andern, welche Du hassest, so viel angedeutet, daß man sieht, sie werden sich als ganz eigne Wesen ausbilden? Nur geschildert soll diese Eigenheit nicht werden, und die andern Romane, zu denen Du zurükkehren willst, hoffentlich aber nicht wirst, sind schon | deshalb profan und anmaßend, weil sie das wollen. Verlangst Du, man soll unter Euch verhältnißmäßig mehr Individualität annehmen, als unter den reifen Menschen? Oder kannst Du für diejenigen, in denen dergleichen nun einmal nicht anzutreffen ist, mehr von einem Manne verlangen, als daß er Anwandlungen habe, auch an ihrer Vollendung arbeiten zu wollen? Ich weiß in der That nicht, was für gegründete Beschwerden Ihr gegen die Lucinde führen könntet, und die Deinigen sind gar nichts. Wenn man nun dazu beitragen will, daß eine Knospe früher aufbreche, kann man etwas anderes thun, als ihr den Nahrungsstoff reichlicher zuführen, und sie in eine wärmere Temperatur bringen? und wenn dies bei Allen dasselbe sein muß, folgt daraus, daß nicht jede demohnerachtet etwas eigenes sein kann? Von hieraus wird Dir auch das, was Dich so vorzüglich aufgebracht hat, ganz anders erscheinen. Du wirst doch nicht läugnen, daß die ersten Regungen der Liebe sich als eine unbestimmte Sehnsucht verkündigen — ich kann Dich darüber auf Dein eigenes Bewußtsein verweisen — und daß sie sich eigentlich nur von der Höhe der ausgebildeten und vollendeten Liebe | hintennach für das erkennen lassen, was sie sind, das wird Dir, eben auch hintennach, noch klarer werden. Dies bis zur Klage einer Verletzung zu mißverstehen, als ob dabei nur von einem körperlichen Gefühle die Rede wäre, würde Dir gewiß nicht begegnet sein, wenn nicht Deine kleine Eitelkeit nur darauf aus-

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Fünfter Brief. An Karoline

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gegangen wäre, sich überall zu opponiren. Ueberlege Dir nur, liebes Kind, ob nicht alles Geistige im Menschen ebenfalls von einem instinktartigen, unbestimmten innern Treiben anfängt, und sich erst nach und nach durch Selbstthätigkeit und Uebung zu einem bestimmten Wollen und Bewußtsein und zu einer in sich vollendeten That herausarbeitet; und ehe es so weit gediehen ist, ist an eine bleibende Beziehung dieser innern Bewegungen auf bestimmte Gegenstände gar nicht zu denken. Warum soll es mit der Liebe anders sein, als mit allem übrigen? Soll etwa sie, die das Höchste im Menschen ist, gleich beim ersten Versuch von den leisesten Regungen bis zur bestimmtesten Vollendung in einer einzigen That gedeihen können? sollte sie leichter sein, als die einfache Kunst zu essen und zu trinken, die das Kind lange erst mit ungeschikten Objekten und in rohen Versudien ausübt, | die ganz ohne sein Verdienst nicht übel ablaufen? Audi in der Liebe muß es vorläufige Versuche geben, aus denen nichts Bleibendes entsteht, von denen aber jeder etwas beiträgt, um das Gefühl bestimmter und die Aussicht auf die Liebe größer und herrlicher zu machen. Bei diesen Versudien nun kann auch die Beziehung auf einen bestimmten Gegenstand nur etwas zufälliges, im Anfang oft nur eine Einbildung, und immer etwas höchst vergängliches sein, eben so vergänglich, als das Gefühl selbst, welches bald einem klareren und innigeren Platz macht. So findest Du es gewiß bei den reifsten und gebildetsten Menschen, die über ihre ersten Lieben als über ein kindisches und wunderliches Beginnen lächeln, und oft ganz gleichgültig neben den vermeinten Gegenständen derselben hinleben. Auch muß es der Natur der Sache nach so sein, und hier Treue fordern, und ein fortdauerndes Verhältniß stiften wollen, ist eine eben so schädliche als leere Einbildung. Merke Dir das, liebes Kind, Du wirst es braudien, um über Deine ersten merklicheren Anwandlungen von Leidenschaft und Liebe mit Dir selbst einig zu werden; und mache Dir ja kein solches Hirngespinst von der Heiligkeit einer ersten Empfindung, als beruhte nun | Alles darauf, daß daraus etwas ordentliches würde. Die Romane, die dieses beschützen, und zwischen denselben zwei Menschen die Liebe vom ersten rohen Anfang bis zur höchsten Vollendung sich in einem Strich fort ausbilden lassen, sind eben so verderblich als sie schlecht sind, und die, welche sie machen, verstehen insgesammt von der Liebe eben so wenig als von der Kunst, und schaden der Sittlichkeit und Freiheit der ersten eben so sehr, als der Wahrheit und Schönheit der leztern. Wie ist denn so etwas möglich? Wenn sich nun Deine noch mehr oder weniger unbestimmte Sehnsucht nach Liebe auf einen

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bestimmten Gegenstand richtet, so entstellt daraus nothwendig ein bestimmtes Verhältniß, indem es einen Punkt der größtmöglichen Annäherung giebt, und wenn ihr den nun erreicht habt und fühlt, daß es der rechte nicht ist, auf dem ihr bleiben könnt, was bleibt Euch dann übrig, als daß ihr euch eben wieder von einander entfernt? Nur nachdem ein solcher Versuch als Versuch vollendet, das heißt, abgebrochen worden, kann die Erinnerung daran und die Reflexion darüber zur näheren Bestimmung der Sehnsucht und des Gefühls würken, und so zu einem andern besseren | Versuch vorbereiten. Sollte es nun etwa eine Verbindlichkeit geben, diesen wieder mit demselben Subjekt anzustellen? Wo sollte denn die liegen? Ich für mein Theil finde das weit eher widernatürlich als die Ehen zwischen Bruder und Schwester. Laß Dir also darin die unbeschränkteste Freiheit, und sorge nur, einen reinen Sinn und ein zartes Gefühl dafür zu behalten, was ein Versuch ist, damit Du nicht einen solchen, der bestimmt ist Versuch zu bleiben, durch die Hingebung festhältst und sanktionirst, die ihrer Natur nach das Ende des schülerhaften Versuchens, und der Anfang eines Zustandes wahrer und dauernder Liebe sein soll. Einen solchen Mißgrif, der die Folge und die Ursach der unseligsten Täuschungen ist, halte für das schreklichste, was Dir begegnen kann, und wisse, dies heißt eigentlich sich verführen lassen. Denn wenn Du die wahre Liebe ergriffen hast, und Dich auf dem Punkt fühlst, von wo aus Du Dein Gemüth vollenden und Dein Leben schön und würdig bilden kannst, so wird Dir von selbst jede Zurükhaltung und jede Scheu vor dem lezten und schönsten Siegel der Vereinigung als Ziererei erscheinen. Das gefährlichste ist nur, daß auch jeder Versuch seiner Natur nach auf | diesen Punkt hinstrebt. Daß das so sein muß, kannst Du aus Deinem bischen Chemie begreifen. Der Sättigungspunkt ist nur durch Uebersättigung zu finden; nur durch das Bestreben einen noch höhern Grad der Vereinigung zu Stande zu bringen, läßt sich finden, welcher Grad in einem gegebenen Fall der höchst mögliche ist. Wenn Du gesund bleibst an Sinn und Gefühl, wird Dich gewiß, so oft sich ein Versuch zu lieben diesem Punkt nähert, eine heilige Scheu ergreifen, die etwas viel höheres ist, als die Gewalt eines fremden Gebots, oder was man gemeinhin Schaam und Zucht nennt; denn jene Scheu wird gewiß richtig unterscheiden, einen leeren Versuch von dem, was der Anfang eines schönen und gediegenen Lebens werden kann, weil sie nichts anders ist, als das Gefühl, welches aus der Vergleichung des gegenwärtigen Zustandes mit der Idee des Liebens entsteht. Das hat Dir wol auch vorgeschwebt, wenn gleich nur als

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Fünfter Brief. An Karoline

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dunkle Ahndung, in dem, was Du von dem Werthsein der Hingebung sagst; Dein Sinn war edler als Deine Worte. Damit Du nun dieses Gefühl bewahren und stärken kannst, mußt Du so viel wahre Liebe anschaun, als es nur giebt in der Welt um Dich | her, und nichts mit solcher Aufmerksamkeit und Andacht betrachten, als sie. Eben deshalb, nicht um zu urtheilen, liebes Mädchen, sondern um unbefangen anzuschauen, wollte ich auch, daß Du die Lucinde lesen solltest. Waren wir doch ganz von ihr abgekommen: aber das ist sehr natürlich, und die Liebe führt zum Glük eben so auf die Lucinde zurück, wie die Lucinde auf die Liebe hinführt. Ich sage Dir nun nichts weiter darüber, warum es ganz in der Ordnung ist, daß Julius die zarte Louise verlassen mußte, und was es eigentlich war, was Beide so heftig bewegte. Auch wirst Du selbst einsehn, daß von irgend einer Männer-Barbarei hier gar niclit die Rede ist, und daß ein Kuß von einer Frau, welche die Liebe von Angesicht zu Angesicht geschaut haben soll, allerdings etwas bedeutenderes und entscheidenderes sein muß, als die größte Annäherung eines Mädchens. Denn wo dieses nur ahnden kann, soll jene bestimmt wissen, ob sie mit einem Manne Eins werden und bleiben kann, und wo sie weiß, daß sie es nicht kann, soll sie auch nicht das kleinste Verhältniß der Art beginnen lassen. Diese Theorie entstand in Julius, wie es mit allen ächten Theorien geht, mit der | Praxis zugleich; und nachdem er eine solche Frau gefunden, und sich mit ihr auf den wahren Gipfel der Liebe erhoben hat, sollte es der Wahrheit nicht gemäß sein, daß er Euch Mädchen mit dem kleinen Stolz behandelt, den man im Gefühl einer neuen selbsterworbenen Würde, so gern gegen diejenigen zeigt, denen man so eben vorangeeilt ist? Du kannst immer auch darin, wenn Du unpartheiisch sein willst, den Dichter bewundern. Aber sage mir nur, wo hast Du denn das her, von der bindenden Kraft des Kusses? das geht ja über die sittsamen Grenzen, die Du Dir bei Deinem Lesen oder Vorlesenlassen gestekt hattest, weit genug hinaus: denn in dieser Stelle ist, soviel ich weiß, von Mädchen gar nicht die Rede, und die gottlose Ernestine hat Didi noch weiter aus Deiner Klausur hinausgelokt, als nur bis zur nahgelegenen Lisette. Nun dächte ich nähmst Du Dir auch Deine Freiheit ganz wieder, und läsest die Lucinde recht ordentlich, die ohnedies mehr als irgend ein anderes Buch ganz gelesen sein will. Deine Einwendung mit dem Urtheilen ist Dir ja schon benommen; Du sollst nicht urtheilen, sondern uns nur vorläufig glauben, daß das Liebe ist, was drin steht, und sie Dir | darauf ansehn. Mit dem Urtheilen kannst Du Dir hernach immer noch einen eignen Genuß madien, und es wird

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Dir nicht gehn wie Karin. Hast Du aber etwa noch andere Bedenklichkeiten im Hinterhalt, so laß die nur gut sein, ich stehe Dir für allen Schaden; und nimm mein Wort, daß Du noch immer mein erstes Kabinetstück bist, und daß ich Dich gar von Herzen lieb habe. Grüße Ernestine, und bitte sie, sich ein wenig zu gedulden; ich würde ihr nächstens recht ausführlich schreiben.

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Sechster Brief. An

Eduard.

D a s hatte ich wol gedacht, lieber Freund, daß Ihr wolmeinender Moderantismus — Sie wissen, daß ich das Wort zu Ehren bringen will, wenn ich Ihre Denkart so nenne — zu dem Buche auf den ersten Anblick gewaltig den K o p f schütteln würde. Lassen Sie midi vor der H a n d nur Alles übergehen, was über andere litterarische Gegenstände in Ihrem Briefe vorkommt, und mich zuerst hierüber recht ausreden; es liegt mir sehr am Herzen, denn es gehört zu den Zeichen der Zeit. Was Sie so in verlornen Worten von Unsittlichkeit sagen, verstehe ich überhaupt nicht, und nodi weniger in Ihnen und für den gegenwärtigen Fall. | Ich kenne gar keine Unsittlichkeit eines Kunstwerkes, als die, wenn es seine Schuldigkeit nicht thut, schön und vortreflich zu sein, oder wenn es aus seinen Grenzen hinausgeht, kurz wenn es nidits taugt. Worin sollte sie denn auch liegen? In der Unsittlichkeit der dargestellten Gesinnungen und Handlungen? Das ist doch bei andern Arten des Unsittlichen, die häufig durch alle Künste dargestellt worden sind, noch Niemand eingefallen; also wenn auch die Liebe, so wie sie hier vorkommt, etwas Unsittliches wäre — was Sie doch gewiß nicht meinen — so dürfte man das doch nicht sagen. Oder in dem Mangel der poetischen Gerechtigkeit, und wo diese im eigentlichsten Sinne nicht statt finden kann, weil es kein Strafamt zu verwalten giebt, in dem Mangel eines tüchtigen Urtheils, wodurch der Dichter gleichsam daneben schreibt: „Lieben Leute, glaubt nicht, daß ich das bin, oder daß Ihr es sein sollt; um Gottes willen hütet Euch, es ist ja das leibhaftige Laster" ? Das ist doch auf jeden Fall entweder sehr dumm oder sehr grob. Was giebt es denn nun noch? Ich weiß nichts weiter, als was ich vorher gesagt habe. Sie erinnern midi daran, daß ich oft gelegentlich äußerte, Wielands Sachen seien unsittlich 62 ,

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| und daß ich neulich gegen Jemand die Lucinde mit Wieland vertheidigt habe, als sei sie nicht schlimmer als etwas von ihm. Es ist möglich, daß ich das lezte gesagt habe, es muß aber zu Jemand gewesen sein, dem sich eben nichts bessers sagen ließ: denn übrigens ist wol der Unterschied so ungeheuer, daß an eine Vergleichung nicht zu denken ist. Sie sehen, ich nehme nicht zurück, was ich von Wieland gesagt habe; aber ich glaube mir dabei nicht zu widersprechen: seine erotischen Sachen sind unsittlich, weil sie schlecht sind. Er geht fast überall darauf aus, die Lust, die erste sinnliche Empfindung, zu beschreiben, die doch gar nichts Darstellbares ist, das geht aus den Grenzen eines Kunstwerkes heraus und taugt nicht. In diesem unglüklichen Bestreben verwandelt er sich denn aus einem Dichter in einen Redner, der unmittelbar Gemüthsbewegungen hervorbringen will, damit ihm der Leser von innen heraushelfe, und das ist eben schlecht. Finden Sie so etwas in der Lucinde? Da ist wahrlich nichts angefangen, was sich nicht ausführen läßt, und selbst an den schwierigsten Stellen sind die Grenzen des Darstellbaren mit großer Weisheit gehalten. Daher steht denn auch Alles, was ausgeführt ist, so | klar und vollständig da, daß Niemand sich beschweren darf, man nöthige ihn, etwas von dem seinigen hinzuzuthun. Am wenigsten sind sinnliche Empfindungen halb gezeichnet, wobei das natürliche Bestreben nachzuhelfen, so leicht in eine wirkliche Hervorbringung dieser Empfindungen ausartet. Und wieviel Ueberflüssiges finden Sie nicht bei solchen Gelegenheiten immer im Wieland und andern erotischen Dichtern seiner Art; ja der ganze Auftritt ist oft für den Zweck und Plan des Ganzen etwas Ueberflüssiges. Hier ist Alles, wie es sich für ein edles Kunstwerk ziemt, in einem einfachen hohen Stil, nur was nöthig ist, ohne alles Nebenwerk, und das Nöthige ist immer sehr nöthig. In dem übelberüchtigten Dialog sowol, als in dem, was am Ende der Lehrjahre von Julius und Lucindens Liebe vorkommt 63 , stehn gerade die unentbehrlichsten Züge zur Darstellung des individuellsten in diesen Menschen, das Innere sowol als das Aeußere, denn ich rechne das lezte auch gar sehr mit. Ich möchte wol wissen, wo Gemüth und Gestalt besser, und die lezte besonders reiner, und, daß ich so sage, plastischer dargestellt wären, als hier; oder wie beide in einem Werk, wo Alles auf die | Liebe bezogen wird, auf eine andere Weise hätten dargestellt werden können, als ebenfalls durch Beziehung auf die Liebe. Wer also dies als etwas Sittliches zugiebt, muß auch Alles übrige zugeben. Dagegen habe ich Nichts, daß man von der Beschaffenheit eines Kunstwerks einen Schluß auf die moralischen Ansichten und

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Ideen des Künstlers mache, und eben deshalb habe ich immer den Wieland für eine unedle Natur gehalten, weit mehr als etwa den Crebillon 64 , oder wen Sie sonst von dieser Art nennen wollen. Diese Leute ignoriren den geistigen Bestandtheil der Liebe gänzlich, sie geht bei ihnen immer nur von der Schönheit, oder vielmehr von dem Reiz der Gestalt aus, sie mahlen immer nur die Sinnlichkeit, und sind dabei ganz unbefangen. Auch sieht man aus ihren übrigen moralischen Tendenzen gar bald, was für eine Art von ehrlichen Leuten sie sind. Wielands Subjekte hingegen sind fast niemals rein sinnlich, sie müssen sich wenigstens immer etwas einbilden von andern Gefühlen, und sein bester Spaß ist, sie darüber auszulachen. Eben so kommt denen, die beim Geistigen anfangen, die Sinnlichkeit immer hinterwärts als eine Schwachheit und mit dem bösen Gewissen, daß | man glauben muß, man würde ihnen einen Dienst thun, wenn man sie combabisirte65, und ihnen Alles, auch die Fantasie mit, sauber einpakte, vorausgesezt nemlich, daß man es ihnen nicht unterm Galgen, sondern vor dem Altar wieder einhändigen, und in integrum restituiren könnte, die Fantasie ausgenommen, die immer verkehrt bleibet, und in Gottes Namen verbrannt werden mag. Kann wol ein Mensch, der selbst eine richtige Ansicht hat, immer und immer dieses verzwikte Wesen darstellen, wobei ihm selbst bang und weh zu Muthe sein muß? Dagegen in der Lucinde nichts ausgeschlossen aber Alles in Harmonie ist, und so wie es dasteht, den reinsten Sinn und die riditigste Denkart zum Grunde haben muß. Das kann es also nicht gewesen sein, was Sie meinen, und ich muß es allein auf das beziehen, was Sie von der Weisheit eines solchen Unternehmens sagen, und was eigentlich Ihr Moderantismus ist. Lieber Freund, da kann ich nun nichts thun, als Ihnen das Alte predigen, was vom Dichten eben so gut gelten muß, als vom Leben. Vorausgesezt, daß nur Alles an sich gut und schön ist, so muß jeder leben, wie ihm zu Muthe ist, und dichten, was ihm die | Götter eingeben. Das Talent des Mißverstandes ist gar unendlich, und es ist ja nicht möglich, dem auszuweichen. Wer darauf ausgeht, sich durch dies und jenes seinen Wirkungskreis nicht zu verderben, der wird bald gar keinen haben, und sich so lange hüten, etwas zu thun, bis ihm nichts mehr übrig bleibt. Darum ist es besser gerathen, die Sache umzukehren, und sich zu hüten, daß man nichts unterlasse; diese Maasregel vernichtet weder sich selbst, noch den Menschen. Ein jedes Kunstwerk, welches sich als ein solches fühlt, muß seiner Natur nach Anspruch auf die Ewigkeit machen, und eben deshalb muß es auch existiren wollen, sobald es existiren kann: denn

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was erst auf einen günstigen Moment wartet, zeiht sich selbst der Vergänglichkeit. Eine vorübergehende That thut wol, den Augenblick der größten Kraft abzuwarten; aber ein Werk? Es besteht ja, dieser Augenblick kommt doch zur rechten Zeit; warum soll Alles verloren gehn, was es vorher sein und ausrichten kann? Vorbereiten soll man erst? Nun ja, Kunstwerke selbst sollen nebenbei Vorbereitungen sein, sie sollen den Menschen den Sinn öfnen, um Ideen in ihr Gemüth und ihr Leben aufzunehmen: aber auf | sie soll man wieder erst vorbereiten? wodurch? durch Theorie? Wer kehrt sich denn an Theorie, wer nimmt sie ernsthaft heut zu Tage, und sucht eine Beziehung aufs Leben darin? Also womit soll man wieder auf die Theorie vorbereiten, und wo soll dieser Kreislauf der Präcautionen ein Ende nehmen? Nein, nein! Ein Kunstwerk enthält eine Anschauung, von dieser muß am Ende alles ausgehn, und also ist sie billig das erste, was dargeboten wird. Es kommt hier auf eine Synthesis an, diese läßt sich nicht demonstriren, man muß sie vormachen und vorzeigen; hat man das aber gethan, so kann man auch von allen Menschen fordern, daß sie sie verstehen sollen, in so fern ihnen nemlich die Elemente davon bekannt sind, und daran ist doch hier kein Zweifel. Sie sagen zwar, die Liebe als Fülle der Lebenskraft, als Blüthe der Sinnlichkeit, sei bei den Alten etwas Göttliches gewesen, bei uns sei sie ein Skandal; ist sie es aber wol aus einem andern Grunde, als weil wir sie immer dem intellektuellen, mystischen Bestandtheil der Liebe, der das höchste Produkt der modernen Kultur ist, entgegensetzen? Sollen wir denn gerade hier bei diesem Gegensatz stehen bleiben? Ueberall gehen wir ja dar | auf aus, die Ideen, welche aus der neuen Entwiklung der Menschheit hervorgegangen sind, mit demjenigen zu verbinden, was das Werk der früheren war; dies ist die Fortschreitung, die uns aufgegeben ist, und durch die allein wir überall zu etwas vollendeten kommen. Soll man nicht verlangen, daß die Menschen sie hier auch machen können sollen, in dieser einfachen Sache? Sie wissen ja doch von Leib und Geist, und der Identität beider, und das ist doch das ganze Geheimniß. Ist es aber nicht an der Zeit, daß dieses einmal entsiegelt werde, und daß die Widersprüche, die aus unserer Einseitigkeit entspringen, eben so gut ein Ende nehmen, als die aus Dürftigkeit und UnWürdigkeit, aus dem Einseitigen der Alten? Ja die Religion der Liebe und ihre Vergötterung war unvollkommen, und mußte deshalb untergehn, wie jeder andere Theil der alten Religion und Bildung. Nun aber die wahre himmlische Venus entdekt ist, sollen nicht die neuen Götter die alten verfolgen, die eben so wahr

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Sechster Brief. An Eduard

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sind als sie, sonst müßten wir verderben auf eine andere Art. Vielmehr sollen wir nun erst recht verstehen die Heiligkeit der Natur und der Sinnlichkeit, deshalb sind uns die | schönen Denkmäler der Alten erhalten worden, weil es soll wiederhergestellt werden, in einem weit höheren Sinn als ehedem, wie es der neuen schöneren Zeit würdig ist; die alte Lust und Freude und die Vermischung der Körper und des Lebens nicht mehr als das abgesonderte Werk einer eignen gewaltigen Gottheit; sondern Eins mit dem tiefsten und heiligsten Gefühl, mit der Verschmelzung und Vereinigung der Hälfte der Menschheit zu einem mystischen Ganzen. Wer nicht so in das Innere der Gottheit und der Menschheit hineinschauen, und die Mysterien dieser Religion nicht fassen kann, der ist nicht würdig ein Bürger der neuen Welt zu sein. Damit es aber jeder werde, der es werden kann, so lassen Sie es auch Priester und Liturgen dieser Religion geben, so bald und so viele es immer kann, und wehren Sie Keinem. Ich kenne keine Weisheit, wenn nicht Alles weise ist, was mit wahrer Thätigkeit auf das Gute und Schöne abzwekt. Ich weiß auch nicht, warum Sie Sich haben abschrecken lassen, das Buch mit Frauen zu lesen, wenn nur keine profane und unwürdige darunter ist, und man das Buch vorher kennt, um ihm nicht unrecht zu thun. Es ist ja Alles menschlich und göttlich | darin, ein magischer Duft von Heiligkeit kommt aus der innersten Tiefe desselben hervor, und durchweht den ganzen Tempel, und weiht Jeden ein, dessen Organ nicht in Verknöcherung übergegangen ist; und die Scherze, die ihn ebenfalls überall mit den zartesten Blumen der Weisheit spielend erfüllen, verkünden nur um so sicherer die Gegenwart der Göttin, deren treue Begleiter sie sind. Und unter dieser Bürgschaft sollten Frauen sich scheuen, den Priester der Göttin anzuhören? und eine andere, als nur die Ausgestoßenen, sollte vor Furcht zittern? Gehen Sie doch, das wäre ja unnatürlich; versuchen Sie es nur auf eine würdige Art, und mit Würdigen.

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Siebenter Brief. E l e o n o r e an mich. Es ist ordentlich hart von Dir, das Du mir so eilig und dringend Deine Lucinde abforderst, ehe ich selbst eine habe. Du weißt es wol nicht, Du böser geliebter Mann, wie innig wol mir immer gewesen ist, so oft ich mich in meiner stillen Einsamkeit vor diesen reinen und schönen Spiegel der Liebe hinstellen konnte, und in den zauberischen Bildern desselben bald Deine und meine Gestalt erblikte, und dann auch wieder alle andere Gestalten der Einen und ewigen Liebe, an denen allen ich mich herzlich erfreute, sie wenigstens in der Dichtung zu finden, da sie im Leben leider so selten erscheinen. Wenn ich | dann dachte, wie auch unsere Liebe ein Stoff ist für eine solche Welt der Dichtung, und auch in uns, wer es nur verstände, die ganze Liebe und das ganze Leben, ja ich darf es wol im Stolz meines Herzens sagen, die ganze Menschheit mit ihren unendlichen Geheimnissen anschauen könnte, wenn dann meine schwärmende Fantasie midi in die schöne Zukunft hineintrug, wo idi ganz nicht nur in Dir, sondern auch mit Dir leben werde, und mein treues Gedächtniß, das mir eine ganze Welt werth ist Dir jeden kleinsten Zug aus der Geschichte unserer Liebe, jedes einzelne Begegnen unserer Geister rein und lebendig wieder geben wird, und Du aus diesen Blumen einen eben so schönen Kranz winden wirst — o Friedrich! wer war seliger als ich. Und von dem geliebten Buche soll ich mich trennen? Doch Du forderst es zu einem schönen und würdigen Zweck, wie sollte ich dem nicht gern auch den liebsten Genuß aufopfern? Nimm es denn, und wenn Du wieder drin liesest, so lies alle meine Gedanken und Gefühle mit heraus, die ich Dir ja doch nicht sagen und kaum an deiner liebenden Brust in abgebrochenen Worten und ergänzenden Blicken und Thränen und Lächeln aushauchen könnte. Ob | wol Friedrich Schlegel,

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wenn er midi kennte, es der Mühe werth gehalten haben würde, mich eigen hinzustellen, mit dem Eindruck den sein Buch auf mich gemacht hat? Denn unter denen, die er seinen Julius aufführen läßt, bin ich nicht; ich müßte mich denn unter die allgemeine Rubrik derer stellen, die ihn hie und da besser verstehen, als er selbst, und das will ich nur im Uebermuth meines Herzens unbedenklich thun. Abgestoßen und beleidigt hat er mich eigentlich nirgends; am wenigsten da, wohin er wahrscheinlich bei dieser Stelle zielte. Nein, Deine Geliebte kann das Alles verstehn, und von deinem Geiste überall umgeben und durchdrungen, ohne falsche Schaam und ohne ein widerstrebendes Gefühl, bis in die geheimste Mitte der Sinnlichkeit folgen, wenn sie so schön und heilig behandelt wird; auch mag ich wol, daß davon geredet werde, denn warum nicht? Entzükt hat er mich oft, auch ohne die schönen Beziehungen auf uns, ohnerachtet ich mich ihrer fast überall nur mit Mühe enthalten konnte, wenn ich einmal dies und jenes oder das Ganze rein für sich, wie es da ist, genießen wollte. Und eben darum hätte ich es gern noch länger behalten, um mich in jeder Stimmung damit | zu beschäftigen, auch in der, wo ich am leichtesten von Dir und uns abstrahiren, und mich als reine unbefangene Zuschauerin in irgend eine Welt hineinstürzen kann — Du weißt schon, wenn das ist, wenn Du eben von mir gegangen bist, und ich am vollsten bin von Dir. Freilich weiß ich sie fast auswendig, und habe schon Manchem zu seiner großen Kränkung mit langen tüchtigen Stellen daraus gedient; aber das hilft mir Alles nidit; ich muß mit den Augen darauf ruhen können, um mich bei dem festzuhalten, und es recht hin und her zu besehen, worüber ich noch so viel zu fragen habe. Dessen ist warlich nicht wenig, und weil Du doch willst, ich soll Dir etwas über das Budi ausdrüklich sagen, so möcht' ich Dir am liebsten das vortragen. Aufgefallen ist mir besonders das gänzliche und bestimmte Abläugnen der Möglichkeit, daß es eine reine Freundschaft geben könne zwischen Männern und Frauen. Du weißt, daß ich aus eigner Erfahrung gar nicht darüber urtheilen kann; nicht einmal eine Freundin habe ich jemals gefunden, und für alle Männer, mit denen ich in nähere und besondere Verhältnisse gekommen bin, und deren waren nicht wenige, habe ich mehr oder weniger sinnliche | Gefühle gehegt, und ohnerachtet ich gerade diese mit der naivsten Natürlichkeit ihnen entgegentrug, konnte ich mich doch keinem ganz mit meinen innern Eigenheiten aufschließen und hingeben; nur Du bist mir Alles geworden, was mein Herz bedarf, Geliebter und Freund. Und darum sollst Du mich auch hierüber belehren, da überdies Dein Beispiel midi in

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der Scheu bestärkt, jene Behauptung deshalb zu unterschreiben, weil in meiner Erfahrung das Gegentheil davon nicht vorgekommen ist. Du hast ja eine Freundin, so sage mir doch, wie es zugegangen ist, daß sie Deine Freundin blieb, ohne Dir etwas anderes zu werden"6? So etwas, wofür ich Gott nicht genug danken kann, und was ich nicht eher glauben konnte, bis Du es mir selbst sagtest, möchte ich doch auch, wo möglich, gern verstehen. Indeß muß ich Dir nur sagen, es wird Dir leicht genug werden; denn wenn ich recht in mich hineingehe, kommt es mir vor, als würde mir jezt möglich sein, was mir noch nie möglich war. Ehe ich liebte, war mit jedem Wolgefallen an einem Manne, das mich ihm näher führte, auch ein Wunsch und ein Versuch ihn zu lieben verbunden; jezt fühle ich, daß ich ein | ganz reines Wolwollen empfinden könnte, wenn mir einer vorkäme, der es verdiente, und nicht nur Wolwollen, auch Vertrauen und ein gewisses Eröfnen meines Innern, was ich nicht anders als Freundschaft nennen könnte, nur daß sie zwischen den beiden Arten, die Julius in dem Briefe an Antonius aufstellt, in der Mitte stehen würde67. Ja ich kann mir jezt auch denken, daß ich eine Freundin haben könnte, wenn ich nur eine fände, auch das konnte ich sonst nicht. Sage mir Friedrich, finden wir denn mit der Liebe, und nur mit ihr, Alles andere? Ich meine uns Frauen: denn mit Eudi ist es anders; Du hattest ja die Freundschaft vor der Liebe gefunden, und Julius auch. Uns spricht aber dieser alles Talent zur Freundschaft ab, nicht nur mit Männern, sondern auch unter uns. Meine Erfahrung ist auch hier mit ihm; aber mein Gefühl nicht. Ich sollte denken, Friedrich, wem das Unendliche nicht zu groß ist, dem könnte auch das Beschränkte nicht zu klein sein, und so stellt doch Julius die Freundschaft der Liebe gegenüber, vorne wenigstens; denn hinten scheint er fast anderer Meinung zu sein. Wenn es nur darin liegen soll, daß die Freundschaft ganz geistig sein, und bestimmte | Grenzen haben muß, ich dächte, das wollte ich wol leisten. Im Grenzen finden und festhalten bin ich von jeher eine große Heldin gewesen. Bei allen meinen Versuchen zu lieben, die natürlich bei etwas Endlichem stehen bleiben mußten, war es mir immer fast im ersten Augenblick klar, daß es etwas Endliches war, und auch bestimmt, was ich wußte, wie weit Jeder mich verstand, und wie weit ich mit Jedem gehen könnte und würde; wieviel mehr würde es mir jezt klar sein, da durch die Liebe und durch Dich alle meine Ansichten und Einsichten soviel bestimmter und reiner geworden sind. Mit dem ganz Geistigen, da möchte ich auch lächeln, daß mir das eine Schwierigkeit sein sollte, jezt meine

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ich. Der Leib ist Dir ja ganz hingegeben, als Werkzeug und Organ der Liebe nemlich, und das ist untheilbar, und außerdem kann er nur noch gemeines Gut sein für alle, nemlich um daran die innere Anmuth zu schauen, die uns Allen gemein und Jeder eigentümlich sein soll. Weißt Du noch etwas drittes damit zu machen? Ich dächte, es könnte nicht einmal eine Anwandlung dazu entstehen, und ich habe nun gar keinen Sinn mehr für die Simultanliebe, wie Richter es nennt873, die ich | ehedem oft zu Malen tragen konnte, in sofern nemlich wirklich etwas ähnliches wie Liebe darin sein soll. Diese hätten mein Wesen zerstören können, wenn mir nicht immer das Bessere vorgeschwebt, und Du, der mir Alles sein kann, erschienen wärst. So wird das Unvollkommene von dem Vollkommenen vertrieben68. Aber desto besser dächte ich, und desto reiner könnte sich nun die wahre Freundschaft, die ja etwas ganz Anderes ist, neben die wahre Liebe hinstellen. Das sind so meine Gedanken durch einander; nun sage Du mir, was Recht ist darin. Noch mehr aber ist mir der schneidende Unterschied aufgefallen, den Julius macht zwischen der Liebe der Männer und der Frauen. Das könnte ich mir wol gefallen lassen, lieber Friedrich, daß bei uns Frauen die Liebe ursprünglich und bei Euch nur abgeleitet sein sollte"". Wie oft habe ich Dir aus dem innersten Herzen heraus gesagt, wenn Du irgend etwas an mir schön und gut findest, oder gar als etwas besonderes loben und bewundern wolltest, daß ich gar nichts könnte und wüßte als lieben; daß das meine einzige Kunst und mein einziges Verdienst ist, und immer sein soll. Was so das ganze Wesen des Menschen ausmacht, das muß | freilich ursprünglich in ihm sein, sonst wäre er ja gar nichts. Bei Euch ist das nicht so. Du Unendlicher kannst noch viel Anderes als lieben, und wenn gleich die Liebe sich in Alles verbreitet, und ich wenigstens sie in Allem sehe: so kommt doch nicht Alles nur aus der Liebe allein her. Friz, wenn wirklich Deine Liebe nur abgeleitet wäre aus der meinigen! meine die Quelle, und ich gewissermaßen die Schöpferin Alles dessen, was Liebe ist in Dir, und was ich so liebend und unersättlich anschaue und wieder in mich einsauge! Nein, diesen stolzen Gedanken kann deine Geliebte nicht ertragen, und wenn Julius so liebt wie Du, wird es ihm Lucinde niemals geglaubt haben. Auch muß es nicht so sein. Warum soll so einseitig eine Liebe abgeleitet sein von der andern? Jede ist Ursach und Wirkung der andern, so gewiß als jede Liebe zugleich Gegenliebe, und jede wahre Gegenliebe zugleich Liebe ist. Aber das war es nicht, was midi eigentlich verwirrt hat in Julius Theorie; sondern die Ungleichartigkeit, die er annimmt. Nur in uns soll die

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Liebe ein völlig durchgearbeitetes in allen seinen Theilen und Aeußerungen gleichartiges Gefühl sein, und in Euch nur ein rascher, beweglicher Wechsel aller | jener Bestandtheile. J e mehr ich darüber denke, desto weniger kann ich mir das denken; und hier ist nicht einmal meine Erfahrung auf seiner Seite. Nein die schöne Erfahrung, die Du mir täglich giebst, macht mir das Gegentheil zur lebendigsten Gewißheit. Es müßte nur in den frühesten Zeiten, wo noch nicht Alles in uns klar und fest war, ein Paarmal geschehen sein, daß ich bei Dir die Leidenschaft oder die Sinnlichkeit allein gesehen hätte, und auch von diesen möchte ich es nicht mit Gewißheit behaupten, weder von Dir, noch von mir; aber gewiß von mir eben so sehr als von Dir. Jezt würde es mich ängstigen, wenn ich nur fürchten dürfte, dies jemals zu finden: denn es würde mich aufs schmerzlichste aus meinem innigsten Gefühl und aus meiner klarsten Anschauung von Dir herauswerfen. Es ist aber nicht so. Wenn wir unser Sinnen und Denken und Handeln bis in seinen geheimsten Sitz verfolgen, und überall aufs neue die unendliche Uebereinstimmung unserer Geister antreffen, daß Du entzükt ausrufst: sind wir denn mehr als Ein Wesen, Leonore? Dann durchglüht uns auch gewiß am stärksten und göttlichsten das heilige Feuer der Liebe, und dann feierten wir am | liebsten ihre höchsten Mysterien. Und wenn Du, an meine Brust gelehnt, alle deine Freude an mir, und alle deine Sehnsucht nach dem schönen Leben, das wir im Auge haben, in der unmittelbaren Nähe meines Herzens aushauchst: dann fühlen wir auch beide am tiefsten, wie einig wir sind durch und durch, und mich durchzükt, wie ein göttlicher Blitz, der mich fast verzehrt, eine unendliche, zusammenhängende Reihe von gleichen Gedanken und Gefühlen, die vom höchsten Himmel bis in den Mittelpunkt der Erde reicht, und mir Vergangenheit und Zukunft, und Dich und mich und Alles erleuchtet und erklärt. Und Dir ist es auch so, ich fühle es und weiß es, wenn Du auch nichts sagst. Sieh nur, wenn in Dir die Liebe so ganz anders wäre, als in mir, wie könnte ich dann auf jede Frage in mir eine Antwort finden in Dir? wie könnte jeder Ton, den ich noch so leise angebe, in Dir ansprechen? wie könntest D u mich verstehen, wenn so viel Anderes in mir wäre, in einem solchen Augenblick, wo in Dir nur Sinnlichkeit oder Leidenschaft wäre. Laß midi keinen solchen erleben, lieber Mann, ich würde Dir nachgeben, ich würde auch aus mir verbannen für den Augenblick, | was nicht zugleich in Dir wäre: aber was für bittere Thränen würde ich weinen, und wie würde mein ganzes Leben nun einen Schmerz haben, der nicht mehr verginge! Doch was schwärme ich

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doch in Unmöglichkeiten! und wenn gleich hier die höchste Wissenschaft der Liebe ist, die ich irgend in einem Buche gefunden habe, das glaube ich ihm doch nicht. Vielmehr ist dies einer von den Punkten, wo idi Julius besser zu verstehen glaube, als er selbst. D a s ist nicht der Unterschied der Geschlechter, sondern der Grade; diese Sonderung der Elemente, wenn auch nur für einzelne Augenblicke, ist noch Unbildung und Schülerwesen. Julius soll also wol noch nicht so vollendet in der Liebe dargestellt werden, als Lucinde. Warum erfahren wir aber nidit, wie diese es wurde? warum ruht auf der Geschichte ihres Werdens ein solcher Schleier, da doch liebende Frauen früher und unbegränzter offen sind, als Männer. Auf ihre Lehrjahre hätte ich eine große Neugierde. Wird der zweite Theil sie enthalten 70 ? Werde ich recht haben, daß in diesem von dem, was den Unverständigen am anstößigsten ist, wenig vorkommen wird, aber viel frohes und freies Leben, wie es immer im Gefolge der Liebe ist? | Doch das müßte ich den Verfasser fragen, den ich nicht fragen kann. D u weißt, wie es mit meinem Schreiben ist: ich muß aufhören, und zwar diesen Augenblick. Geschwind will ich Dir noch ganz roh ein Blättchen Gedanken beilegen, wie sie mir beim Lesen aus der Feder geflossen sind. Adieu, mein süßes Leben, laß Dich bald wieder umarmen.

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Beilage. (Das Original von diesem Blatte kann ich nicht missen, und was ich Dir abschreibe ist bei weitem nicht Alles, sondern nur das, was sich noch am unmittelbarsten auf die Lucinde bezieht. Du kannst denken, daß Leonore, die so gern in sich und über sich spekulirt, aus Gelegenheit derselben Vieles gedacht und hingeworfen hat, was nur auf sie und mich geht. Damit mußt Du Dich gedulden, bis Du einmal herkommst.) Die sogenannte schönste Situation nimmt wol mit Recht nur einen ganz kleinen Raum ein in der dithyrambischen Fantasie, deren eigentli | ches Thema die Liebe selbst ist, ohne alle Situation; oder wenn man doch etwas Einzelnes will, der erhabene mystische Gedanke, der darin angegeben ist. Kann denn ein Scherz mit der Liebe, eine mimische Parodie das Höchste und Schönste sein? Der Stoff ist es freilich: denn in den höchsten Momenten der Liebe ist das Vertausdien des Bewußtseins, das gänzliche Hineinversetzen in den Andern das Höchste und Nothwendigste. Ganz läßt sich das aber nicht parodiren, sondern der Scherz muß, eben wie er es hier in der Nachbildung ist, von dem heiligsten Ernst durchdrungen sein. Und warum denkt man sich nicht das zarte Geheimniß, welches hier aufbewahrt ist, gerade so? Scherzen läßt sich doch mit den kleinen Eigenheiten und zufälligen Manieren, die aus dem hervorgehn, was in Jedem noch Ungebildetes und Unvollendetes ist, und dieser Scherz kann den höchsten Genuß umspielen, eben wie sein Gegenstand an demjenigen hängt, was eigentlich geliebt und angebetet wird. Das ist wol nicht wahr, daß die Liebe und die Schilderung derselben allein dieses Aergerniß | und diesen Haß angerichtet hat. Die Denkungsart ist es, der große und freie Stil des Guten und Schönen,

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diese für die kleinlichen Menschen riesenhafte und ungeheure Moral, auf der die Lucinde als auf ihrem ewigen Fundamente ruht, und die überall mittönt. Aber an diese wagen sie sich nicht: denn der Witz und die sogenannte Frechheit, von der sie recht gut wissen, was sie eigentlich ist, das sind Personen, mit denen sie sich aus guten Gründen nicht gern etwas zu schaffen machen. Es ist nur eine gemeine Maaßregel, daß sie ihre ganze Anklage gegen jenen Punkt richten, ein schlechter Kunstgriff; denn wenn man sich nun über die Liebe mit ihnen einlassen wollte, müßten sie doch auf jenen ihnen so furchtbaren Streit zurükkommen; da ist bei Gott keine Gnade. Solche einzelne Blitze, die bis in die innerste Tiefe hineingehn, merkt wol fast Niemand. Wie zum Beispiel das schöne Wort vom Witz: „er wuchs und dehnte sich, bis er nicht mehr war", und — „in mir glaubte ich ihn wieder zu finden, ein Stück meines Selbst, und | doch verschieden von mir" 71 . — Merke Dir nur ein für allemal, daß mir keiner entgeht, so voll auch das ganze Buch davon ist, und so sehr ich mich auch ins Ganze vergrabe. Jeder hat doch seine eigne Eitelkeit. Wir Frauen mögen gar zu gern Alles, was uns liebenswürdig vorkommt, an uns selbst für persönliche Eigenheit halten; die Männer nehmen gern das, was sie trotz aller Selbstzufriedenheit an sich belächeln müssen, für Charakter des Geschlechts. Es ist gar lieblich, wie Julius mit dieser Täuschung spielt. Der Muth, und besonders der, welcher dazu erfordert wird, ein Held oder ein Künstler zu werden, der lebendige und schaffende Enthusiasmus ist gewiß etwas Gemeinschaftliches in allen Männern, so gewiß als er ausschließend in ihnen ursprünglich, und in uns immer nur abgeleitet und angelernt ist. Aber wie ungebildet und ungeschikt er noch ist, das ist doch gewiß etwas persönliches. Die Ironie, die der Dichter hierüber mit seinem Helden treibt, kann nicht weiter gehn, und nicht würdiger sein, und hat mich unendlich amü | sirt. Wie höchst gebildet ist nicht die Persiflage der gemeinen Bücher- und Gesellschafts-Moral; aber so wie Enthusiasmus und Zorn gegen das Falsche und Unächte an die Reihe kommt, ist eine gar anmuthige Beimischung von etwas Härte und Unbildung gar nicht zu verkennen. Und indem Julius so seine innerste Persönlichkeit abdrukt, glaubt er selbst nur das allgemeine Costum der Männer nicht zu verletzen. Ich bitte Dich, habe doch auch etwas von dem Zorn, der in Julius sein soll, damit ich den Triumph haben kann, Dir ihn auszutreiben. Denn Zorn, wie gebildet

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er auch sei, ist doch immer eine Rohheit und Ungeschlachtheit des Muthes, die durch die Liebe hinweggenommen werden muß. Wie kann Julius nur am Ende einen Traktat mit der Eifersucht schließen72? auch nur mit solchen kleinen Anfällen von etwas Aehnlichem! Und wie kann einer Frau so etwas kommen, die es dahin gebracht hat, alles so groß und so nachlässig zu nehmen! Aber freilich, so lange die Liebe des Mannes noch in einem Wechsel ih | rer einzelnen Elemente besteht, kann auch die Eifersucht der Frau wol an ihrer Stelle sein. Wie schön ist das überall angedeutet und durchgeführt, daß der Mann durch die Liebe an Einheit gewinnt, an Beziehung Alles dessen, was in ihm ist, auf den wahren und höchsten Mittelpunkt, kurz an Klarheit des Charakters; die Frau dagegen an Selbstbewußtsein, an Ausdehnung, an Entwickelung aller geistigen Keime, an Berührung mit der ganzen Welt. Mir wenigstens scheint dies ein ganz allgemeines Verhältniß zu sein. Ihr bildet uns aus; aber wir befestigen Euch. Wunderlich kommt es immer heraus, wenn man das Umgekehrte annimmt; aber gar toll ist jede Darstellung, wo Männer und Frauen schon ganz vollendet und fertig die Liebe nur so finden, als eine Zugabe oder als den höchsten Gipfel der Glükseligkeit. Da muß es freilich Intriguen und Katastrophen geben; denn was sollte in dem Buche sonst stehn? Den armen Leuten scheint es eben auch im geistigen Sinne unzüdi | tig, zu zeigen, wie die Menschen durch die Liebe gemacht werden. Du kannst Dir denken, wie ich diese Lehrjahre begriffen habe73. Wie wunderschön und klar ist hier die Sehnsucht nach Liebe, die das Gemüth vernichten oder vollenden muß, und die Schmerzen, die ein Mensch, der zum höhern Leben bestimmt ist, zu leiden hat, ehe er geboren wird. Audi die, welche Manches Andere verstanden, haben das so gemein genommen, daß die Geliebte keinen Theil ihres Freundes dem Staat oder den Andern überlassen will; und es ist doch so klar. Aber es giebt eben keine Worte, welche eben und dürftig genug für sie wären. Ja, Friedrich werde Alles, was Du sein kannst, noch außerdem, daß Du der meinige bist, den Freunden und der Welt. Aber überlassen? Nein! ich muß Alles, was Du ihnen giebst, noch voll-

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ständiger haben, weil ich das Ganze habe; ich muß Dich überall verstehen, wenn | ich auch hie und da die Sachen nicht verstehe. Und auch das soll ein Ende nehmen, und einen Krieg soll es gar nicht geben zwischen der Liebe und dem heldenmäßigsten oder wissenschaftlichsten Leben. Gott sei Dank, ich weiß doch, daß es nichts ist mit dieser wunderlichen Ketzerei, die zwar nicht ausdrüklich behauptet, aber vernehmlich genug angedeutet ist, als ob das schöne Band der Liebe sich erst dann in das heiligere einer wahren Ehe verwandelte, wenn die Liebenden sich als Vater und Mutter begrüßen. Audi im Uebermaaß der schönsten und würdigsten Freude sollte Niemand so etwas sagen. Wie habe ich mich damit gequält, denn es liegt etwas in dem Gedanken. Aber als ich es mir aus tausend Ursachen wahrscheinlich gemacht hatte, und weinend vor dem heiligen Tempel stand, in den ich kaum hineinzugelangen hoffe, da fiel mir der köstliche Augenblick ein, und die schönen Thränen der Freude, die Du dabei weintest, als ich Dir sagte, daß, und wie ich Dich neben allen andern Lieben auch mit der einer zärtlichen Mutter liebte. Und mußt Du | midi nicht auch väterlich lieben, da ich ja Deine ewige Schülerin sein werde? und achtest Du nicht schon lange die äußerlichen Dinge mehr als sonst meinetwegen? und treibt es Dich nicht eben so die unsterblichen Früchte zu tragen, welche Geist und Willkühr bilden? Und nun weiß ich wie es ist. Es giebt freilich auch innerlich einen Unterschied zwischen Liebe und Ehe, und in der ersten einen Brautstand vor der lezten; aber in der Welt der Gefühle fängt nichts so grob an mit einer äußern Begebenheit oder einem sichtbaren Zeichen. Die erste Freude der Liebe weiß von gar keiner Sorge, das ist die bräutliche Ruhe, in der sie einander nur sehen in ihrer göttlichen Unverlezlichkeit und Unsterblichkeit. Wenn aber die äußere Welt ihnen wieder aufgeht, und jeder Acht hat für den Andern, daß sie ihn nicht unangenehm berühre, dann entstehen alle Gefühle, welche die Liebe zur Ehe machen, denn alle Sorge ist mütterlich und väterlich. Aber wie hinreissend und schön ist nicht diese Begeisterung von der höchsten Würde der Natur. Und doch wem das das einzige Heilige wäre in der Lucinde, das Einzige, wovon er zu reden wagte, der verdiente nicht es gelesen zu haben. Wer denselben Geist | nicht überall findet, hat ihn gewiß auch hier nicht entdekt. Der beklagt sich, nicht singen zu können, der dieses entzückende

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Duett gemacht hat74? Alles, was noch in mir lebt von Musik, hat es aufgeregt aus dem langen alten Schlummer. Es ist zu schön und zu heilig, um nur davon zu reden, und wenn ich es vorläse, würde michs verdriessen, wenn Jemand ein Wort darüber sagte. Aber wie ist der eine Ton hineingekommen, der mich so wunderbar stört? ich verstehe ihn nicht. Macht er nicht für Jeden einen Mißlaut mit dem Grundton, der die Ewigkeit der Liebe verkündigt? Ich meinte erst mit dem Duett dürfe der Theil wol schließen; aber nein, die Tändeleien sind dazu noch weit schöner75. Welche Stimmung! Das besänftigende Oel ist ausgegoßen über das stürmische Meer, und nun bewegt sich das Schifflein mit stiller Zuversicht in der heiligen Umgebung. Ich kann Dir nicht beschreiben, wie mir zu Muthe ist; ich fühle in mir selbst die Allgewalt der Liebe, die Gottheit des Men | sehen und die Schönheit des Lebens. Die Metamorphosen76 waren die erste Geschichte des liebenden Gemüths; dies ist seine lezte Vollendung. „Dem Rhythmus der Geselligkeit und Freundschaft folgen, und keine Harmonie der Liebe stören": giebt es eine höhere Weisheit und eine tiefere Religion? kann man klarer das Gesez aussprechen, nach dem wir das Leben abspielen sollen? Laß mich immer anbeten das köstliche Werk, und den Dichter einkleiden als Priester der Liebe und der Weisheit.

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Achter Brief. An Eleonore. Mir ist doch noch Niemand vorgekommen, der den wesentlichen Unterschied zwischen guten und schlechten Büchern, und daß er gar nicht nur im Grade besteht, so praktisch bewiese als Du. Andere Menschen suchen sich gewöhnlich dodi auch aus schlechten Büchern, wenn sie sich einmal mit ihnen abgeben müssen, irgend etwas heraus oder hineinzulesen, und unternehmen es ordentlich davon zu reden. Du hingegen brauchst sie immer nur zum Schimpf und Spott; aber für jedes ächte und schöne Werk der Kunst hast Du einen reinen Sinn. Und wie hat Dich dieses von allen Seiten ergriffen und angeregt, Du liebes Geschöpf, und was für ein köstliches | Geschenk hast Du mir gemacht, indem Du mir so manchen freien Blick vergönnst in die innersten Tiefen Deines schönen Gemüthes! Du hast mir die Unendlichkeit der Lucinde aufs neue bewiesen: denn so kann nur etwas afficiren, was nach innen zu unbegrenzt einen unerschöpflichen Reichthum von Gedanken und Gefühlen enthält. Nächstdem aber auch Deine eigne: denn das Neue, was ich in Dir entdecke, nimmt kein Ende, obgleich Nichts fremdes darin ist. Beinahe möchte ich darüber klagen, daß es mit der Entdeckung der Verschiedenheiten zwischen uns gar nicht fort will, die organischen ausgenommen, die wir von Anfang an kennen. In dem, was Du über die Lucinde sagst, habe ich eben auch keine gefunden; Du hast mir nicht einmal die Beantwortung Deiner Fragen übrig gelassen, sondern auch die selbst übernommen. Ueber das Räthsel von der Freundschaft kann ich nach meinem innersten Gefühl keine andere Auflösung geben als Du. Es ist eben so, daß Ihr nur mit der Liebe und durch sie alles Andere findet, und die Freundschaft gehört auch zu den Ausdehnungen und Bereicherungen, zu denen Ihr erst dann geschikt werdet. Vor der Liebe scheint

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mir eine Freundschaft zwischen Mann und Frau | etwas unnatürliches und ein leeres, ja sogar sträfliches Unternehmen: denn warum soll nicht bei denen, die doch mit Versuchen in der Liebe begriffen sind, alles, was sich von Natur dazu eignet, ein solcher Versuch werden? Ist es aber nicht ganz etwas Anderes, wenn irgendwo schon Liebe ist? Es giebt wol wenig männliche Naturen edler Art, und sie müssen sich in einem so außerordentlichen Zustande befinden als Julius, in denen Liebe aufkeimen könnte für eine Frau, die sie vom ersten Augenblick an schon als ein fremdes Gut ansehn; wie aber eine solche Liebe, noch als Liebe zurükbleiben kann, nachdem eine bessere und vollkommenere aufgegangen ist, die von der schönsten Gegenliebe genährt wird, das ist mir völlig unbegreiflich, und es giebt also für midi zwei Töne in dem schönen Duett, welche ich nicht fasse7'. Hast Du diesen überhört, oder klingt er Dir heller? Dagegen kann ich sehr gut begreifen, wie Freundschaft zwischen Männern und Frauen entstehen kann, welche schon lieben, und zwar nicht etwa nur in Ermangelung eines Besseren, sondern ganz von Natur, mit voller Zustimmung des Herzens und ohne einige geheime Wünsche. Das begreift nun wieder Julius | nicht. So sind die Grenzen des Einzelnen in diesem unendlichen Gebiet, welches Keiner ganz besizt, und wo es schon eine seltene Gabe ist, dasjenige nur zu erkennen und zu verstehen, was außerhalb des Eignen liegt. Glaube nicht, daß ich D i c h damit loben will; es ist nichts Dir fremdes, was Du hier verstehst, Dein Gefühl und Dein grader Blick überfliegt nur Deine Erfahrung. Gewiß könntest Du, nun Du liebst, Freundin eines Freundes sein, und ich hoffe, Du wirst es auch noch: denn Dein schönes Talent dazu darf nicht verloren gehn. Die vollkommene Symmetrie des Eigentümlichen, das beständige Zusammentreffen im Heiligsten und Schönsten von jedem Punkte aus, wirst Du bei keinem Andern finden und sollst es auch nicht; das bleibt mein Vorrecht, in so fern ich zugleich Dein vertrautester Freund bin. Als innige Theilnahme am Werden und Handeln eines Andern, als unbegrenzte Offenheit in Deinen Gedanken darüber, als zarten Einfluß auf Gefühl und Willen durch weise und freigebige Mittheilung, als beständiges Bestreben nicht eben das Wesen des Freundes durch das Deinige, sondern seinen Zustand seinem Wesen gemäß zu ergänzen — so denke ich mir die Freundschaft, | welche zwischen Dir und einem andern Manne möglich wäre, und würde sie nicht diesen Namen verdienen? Ganz gleich könnte sie freilich nicht sein, wenn er nicht auch liebt, und ganz vollendet nicht, wenn ich ihn nicht auch an midi ziehe und Alles Eins wird. Möglich muß auch ein

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Adner Brief. An Eleonore

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solches Glück sein: denn man kann es sich wirklich denken. Auch das ist wol in der Ordnung, daß Du noch keine Freundin gehabt hast, ehe Du liebtest: aber wie liebenswürdig öfnet sich jezt Dein Gemüth diesem Gefühl, welches mir zur schönsten Vorbedeutung wird für unsere Zukunft! Das sollst D u mir aus der innersten Tiefe der Weiblichkeit: entwickeln, sobald wir wieder mit Muße mit einander reden können. Das wußte ich, daß neben der Liebe audi die wahrhaftige und schöne Moral Dich entzücken, und daß Du große Freude haben würdest, so manches auch über das Leben Dir recht aus der Seele geschrieben zu finden. Und mit dieser Sittlichkeit habe ich doch schon oft hören müssen, wie ganz rechtliche und hübsche Leute meinten, der Julius sei doch ein unbedeutender Mensch, und die Verwirrung, die seiner Vol | lendung voranging, schien ihnen nur Mangel an Kraft und Thätigkeit und sträfliche Vernachlässigung seiner selbst und des Berufs. Der Mensch soll eben nicht Zeit haben, etwas zu suchen, am wenigsten sich selbst, und wenn er sich gefunden hat, begreifen sie auch nicht, warum er so ein Freudenfest anstellt, als habe er eine nüzliche Entdeckung gemacht. So schreibet sich allerdings ein guter Theil des Hasses von der Moral her, und auch die Besten haben nicht so viel Respekt vor der Poesie, daß sie die Ideen ihrer Aufmerksamkeit würdigen sollten, welche ein Kunstwerk darstellen will. Demnach denke ich, es soll auch von dieser Seite nicht ganz verloren sein. Wer nur wenigstens für Eins von Beiden Sinn mitbringt, für wahre Sittlichkeit oder wahre Liebe, dem kann nun in dieser Anschauung ihrer innigen und nothwendigen Verbindung der Sinn für das Andere aufgehn. So sind wir natürlicher Weise in unsern Gedanken ganz zusammengetroffen; wirst D u das als eine Verschiedenheit ansehn, daß ich Dir zu Deinen schönen Fantasieen das Gegenstück bringe, und ihr Ende ausspreche, da Du [ nur den Anfang angedeutet hast? Du vertiefst Dich in die unendliche Wechselwirkung unserer Gefühle, die dadurch einander immer ähnlicher werden müssen, daß jedes der Stoff ist für das Andere. Hier in der Mitte bleibst Du, und die ist der eigentliche Anfang, der Anfang der Wahrnehmung und der Reflexion; die beiden Enden lassen sich nicht ausdenken. Die innige Gemeinschaft wächst ununterbrochen, und der Stoff für sie geht niemals aus. Aber eben weil die Liebe die Gemeinschaft unseres Wesens ausmacht, muß sie in Jedem ihren Ursprung haben; ob man sie gleich nicht so weit verfolgen kann, weil, wie Du Eingeweihte ganz recht sagst, hier nichts mit einem sichtbaren Zeichen anfängt. Der Augenblik, da die

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Liebe zuerst ans Licht tritt, und Licht schafft aus dem innern Chaos, welches von nun an aufhört eines zu sein, ist eben so unerforschlich und unbegreiflich, als jedes andere Entstehen. Kennen wir doch beide den Zustand der Sehnsucht und des Liebenwollens, als das, was vor dem neuen Leben in uns war; und wie hast Du mir ihn geschildert, daß ich Dich noch immer dafür anbete! Aber wo hast Du das hergenommen in der Lucinde? gerade aus der geheimnißvollsten | und wunderbarsten Stelle, und im Grunde aus dem, wovor Du selbst erschrikst. Sagt denn Julius, daß die Liebe Euch angeboren und ursprünglich wäre, und nur in Euch zur Vollendung käme? oder redet er nur von ihrem sinnlichen Element? ich meine so, wie man es ansehen muß, nicht roh und für sich, sondern wie es sich durch Reflexion wieder ausscheiden läßt aus der Mischung des Ganzen, nicht ohne Spuren seiner Vereinigung mit dem Entgegengesezten. Daß Ihr nun hier die Quelle seid, und wir aus Euch schöpfen müssen, gründet sich bloß auf die Voraussetzung, daß die Liebe in Euch zu einem innigeren Ganzen gedeiht, daß Euch hierin natürlich ist, was für uns das höchste fast unerreichbare Ziel bleibt. Gott sei Dank, daß Du es läugnest, daß Du es trotz aller Erfahrungen, die man darüber haben mag, nicht auf unsere Natur zurükwirfst, und daß Du in mir diese Unvollendung nicht gefunden hast, deren sich Julius bewußt ist. Sei auch nicht bange, meine süße Freundin, ich sehe Dich immer ganz, und so kann nie Sinnlichkeit oder Leidenschaft allein in mir sein. — Denke nur wie viel geistige Erinnerungen bei uns an allem hängen, was die Liebe uns vergönnen kann, | und wie Du und ich der Erinnerung pflegen. Damit Du Dich aber nicht auf unser Eigentümliches zu verlassen brauchst, und aller zarten Sorge über mich enthoben werdest, will ich Dir sagen, wie ich über die ganze Sache denke, oder vielmehr, ich will unser gemeinschaftliches Denken ordentlich aussprechen. Die Liebe wächst ins Unendliche dem Grade nach, das erfahren wir, wie Du weißt, täglich; sie wächst ebenfalls ins Unendliche ihrem Wesen nach, indem ihre Bestandtheile sich immer inniger verbinden und eins werden, und das erfahren wir auch, liebe Eleonore, wenn gleich jezt nicht mehr so merklich, als in der Zeit, da Du erst zur Ruhe gebracht wardst. Nun giebt es also zwei Wege, in der Liebe zur Vollendung zu kommen, weil dies beiden Fortschritte doch nur selten oder nie gleichmäßig geschehen können. Einige haben von Natur einen hohen Grad von Sehnsucht nach diesem oder jenem Theil der Liebe, und so ist die Liebe auch gleich stark, so bald sie wirklich wird: aber ihre Elemente sind nicht auch in demselben Grade innig

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Achter Brief. A n Eleonore

mit einander verbunden, sie sind sich nur eines oder des andern bewußt, und die übrigen schlummern noch in dunklen Ahndungen. Jedes neue, welches sie finden, wird auch | bald mächtig, aber je stärker jedes für sich ist, desto langsamer verschmelzen sie in einander; also streiten sie um die Herrschaft und wechseln. So werden ohne Unterschied des Geschlechts alle heftige Naturen ihre Bahn vollenden, nicht ohne große Erschütterungen. Ist sie dieser Erschütterungen wegen die bedenklichere, so laß uns dafür gestehen, daß sie gewissermaßen die natürlichere ist: denn das menschliche Geschlecht selbst ist sie gegangen. Andere haben von Natur mehr ein zartes Gefühl für den wahren und höchsten Charakter der Liebe; was sie fühlen, ist das Bedürfniß, die verschiedenen Gefühle, die nur schwach und als Ahndung in ihnen vorhanden sind, aufs innigste zu verbinden. So wächst die Ahndung und die Hofnung mit dem Menschen selbst bis zum Finden des Gegenstandes. Dann ist die Liebe, nicht ihrer Unendlichkeit, aber doch ihrem wahren Wesen nach, gleich ganz da, nicht als etwas wunderbares — man weiß, daß sie sich lange geregt hat — aber als etwas Neues, nie gesehenes, anbetungswürdiges. Ihre einzige Unruhe ist nur, ob auch Alles so ist, wie sie meinen, und ob das Gefühl von der Uebereinstimmung ihres Bewußtseins mit ihrer Idee nicht eine Täuschung ist. | Darum sehen sie manchmal mit schüchternem Zagen oder schwerfälliger Bedenklichkeit den einzelnen Aeußerungen der Liebe zu, bis auch das Alles überwunden ist. Dann bleibt ihnen nichts übrig, als im schönsten Genuß und im freiesten Spiel ins Unendliche wachsen zu lassen, was die Götter ihnen gegeben haben. Trokne Worte sind es, in denen ich das Resultat Deiner zarten Beobachtungen über uns beide und meiner Gedanken Dir da mittheile, Du mußt sie verstehen und würdig ausbilden. Du weißt nun, was D u nicht zu besorgen hast, denn D u weißt, wohin wir gehören. Aber liebe Geliebte, Vollendung ist auch für die Liebe nur im Tode, und so werden jenen immer noch bisweilen die Elemente der Liebe als Wechsel erscheinen, und eine Frau, die selbst diesen Weg ging, oder den Geliebten ihn gehn sah, wird nicht davor erschrecken, sondern durch sich selbst den Zustand des Augenbliks ergänzen. Und Du leises nachdenkliches Gemüth, wirst noch lange den Probirstein nicht aus der Hand legen, und immer streichen und vergleichen, wenn von den unendlich vielen Erscheinungen der Liebe eine neue in uns aufgeht; und ich werde doch immer glauben und wissen, daß Du im K l a ren bist über | uns und Alles. Das ist das Prognostikon mehrerer Liebe; aber was für eins stellst D u ihr nach außen, in der Begeiste-

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Vertraute Briefe über F. Schlegels Lucinde. 1800

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rung, in welche die Lucinde Dich gesezt hat! Wir sollten unsre Geschichte und unsere Anschauungen zu einem Gegenstück verarbeiten? Dein Gedächtniß wäre dazu vortreflich; aber wo ist mir die Kunst? Betrachte nur, wie reich daran dieses Werk ist, und laß ihr Gerechtigkeit wiederfahren, in Absicht auf den Antheil, den sie hat an der großen Wirkung auf Dich. Es ist eine schöne Fantasie, und ich will Dich nicht darin stören; ich will nur aussprechen, daß sie zu denen gehört, welche Fantasie bleiben müssen. Die Liebe ist selten; aber Werke wie dieses müssen noch seltner sein. Denn ihnen muß wirklich gefühlte Liebe zum Grunde liegen, sonst würde ihnen der lebendige Hauch, die zarte Beweglichkeit und die strenge Richtigkeit fehlen, wodurch dieses für uns so reizend wird: aber nicht jeder Liebe folgt auch die Kunst, nicht jeder Pfeil, den der Sohn der Venus Urania abschießt, verwandelt sich in einen Griffel. Einen großen freien Stil des Denkens und Lebens haben wir uns selbst gebildet, und ein zartes bewegliches Herz haben uns die Götter gegeben. So laß | uns handelnd, wie wir bisher thaten, die schöne Vereinigung der Selbstständigkeit und der Liebe darstellen. Was von Poesie in uns ist, ist doch wol nur die unmittheilbare der Natur und des Herzens, die für uns immer die Quelle des Zartesten und Schönsten im Leben sein wird, aber sich doch weigert, in die Welt hinaus zu gehn. Pflege sie als mein liebstes Eigenthum in Dir, und wisse, daß ich bald wiederkomme, Momente mit Dir zu leben, welche verdienten, gedichtet zu werden.

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Neunter Brief. An

Ernestine.

Zürne nur nicht, liebe Schwester, daß ich Dir so unendlich lange nicht geschrieben habe. D a f ü r schicke ich Dir jezt das neueste Stück des Athenäums mit, welches so eben die Presse verläßt, und worin Du gar herrliche Sachen finden wirst 78 . Heute sage ich Dir nichts darüber, denn ich will nicht wieder Einleitungen zu deiner Lektüre machen; das reizt Didi nur, wie ich bemerkt habe, zur Polemik und nimmt Dir deine Unbefangenheit. N u r so viel, daß ich Dir die Stanzen an Heliodora, und die angestrichenen Stellen in den Ideen zur Beherzigung empfehle, um vorläufig inne zu werden, | wie unrecht D u in einer Deiner Haupteinwendungen gegen die Lucinde, wenigstens dem Verfasser, gethan hast, wenn Du anders, wie es scheint auch an ihn dachtest. D u mußt aus den Stanzen — die Dir hoffentlich auch in anderer Rüksicht merkwürdig sein werden — ersehen, wie groß er sich die Wirkungen der Liebe denkt, und was kann stärker und eigenthümlicher über ihre Kraft gesagt werden, als daß sich um eine liebende Frau, und nur um sie, eine Familie bildet, in dem tieferen Sinne, wie das heilige Wort hier genommen ist? Aber Du hast doch auch dem Buche sehr Unrecht gethan, wenn D u meinst, es sei zu wenig äußere Welt darin als Objekt der Thätigkeit. Sobald vom Leben die Rede ist, gebe ich Dir unbedingt recht, daß ein Mann, dem sich eine Frau ergab, sich aus der bürgerlichen Welt, wie schlecht sie auch ist, nicht ausschließen darf, und es fortdaurend zu wollen, wäre allerdings eine wunderliche Gesinnung; aber diese ist ja nirgends weder angepriesen noch ausgedrükt. Es ist nur abstrahirt von der bürgerlichen Welt und ihren Verhältnissen, und das ist doch, weil sie so sehr schlecht sind, in einem der Liebe geheiligten Kunstwerk schlechterdings nothwendig. Bilde | Dir doch nicht ein, daß alle Ver-

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wicklungen, Gemüthsbewegungen und Thaten, welche daraus hervor gehen können, im Stande wären, die Liebe zu erläutern oder zu verherrlichen, und daß es deshalb der Mühe lohnen könne, das Gemeine und Unwürdige mit auf den Schauplatz zu bringen, und mache Dir den Unterschied zwischen einem Roman und einer Novelle recht klar, um bestimmt zu wissen, was Du von jedem fodern darfst. Fast wäre ich in Versuchung, um ihn recht schneidend aufzustellen, Dir etwas sehr starkes zu sagen, Du mögtest mich aber zu sehr verketzern, und ich will es lieber darauf ankommen lassen, ob Du es selbst findest. Viel zu geringschätzig aber sprichst Du von dem, was die Liebe auf Julius Kunst gewirkt hat, und hast das Beste darin gewiß übersehen. Du mußt Dir diesen Gegenstand mehr entfremden, so wirst Du sehen, daß mit wenigen Worten viel gesagt ist. Und ohne Dich etwas mit der Kunst zu befassen und das Maaß Deines Sinnes dafür überall zur Hand zu haben kannst Du auch sonst gar vieles nicht verstehen. Es ist eine Eigenheit, die durch das ganze Buch hindurchgeht, daß der Verfasser in keiner Charakteristik, die mehr als angedeutet sein soll, zur Ruhe kommt, ohne zugleich die Werke, | die ein Jeder macht, von welcher Art sie auch sein mögen, zu schildern, und ist dies nicht eine ganze Seite eines Menschen, die sonst mit Stillschweigen übergangen wird? Deshalb muß auch Lucinde eine Künstlerin sein. Ich mache Dich hierauf nur aufmerksam, es muß Dir nun, wenn Du es verfolgst, von selbst eine Menge von neuen Ansichten geben. Freilich ist Dir und mir und gewiß den meisten Lesern das Verstehen dieses Elementes dadurch nicht wenig erschwert, daß gerade die bildende Kunst gewählt ist, für die es wenig Sinn unter uns giebt, und noch weniger Kenntnisse darin. Dies mag aber eine unumgängliche Nothwendigkeit gewesen sein, und wenigstens hat es große Vortheile gewährt. Bedenke nur das Eine, daß nun alle Poesie in Julius und alle Annäherung dazu schlechthin als Werk der Liebe anzusehen ist, und erwäge bei Dir selbst die Seltenheit dieser Vereinigung. Schon das wird Dich einsehen machen, daß er nicht füglich schon vor der Liebe die Poesie haben durfte. Wolltest Du etwa lieber, daß ihm Musik oder Mimik zugetheilt worden wäre? Die erste wäre gewiß eben so schwierig zu behandeln gewesen, und die lezte ist ja in der Wirklichkeit, über welche doch nicht profetisch hinausgegangen wer | den konnte, von Gemeinheit so dicht umgeben, daß auch ein großer Meister7" sie nur parodisch hat behandeln können, und daß ihre Einführung noch ärger gewesen wäre als das Versenken des Ganzen in die gemeine bürgerliche Welt. Und auch die gesellige Wirkung der Liebe ist ja nicht

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Neunter Brief. An Ernestine

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übergangen. Siehst Du denn nicht die gute Gesellschaft im Begriff gemacht zu werden? Fasse Deine Seele nur ein wenig in Geduld. Und siehst Du nicht den Unterschied in der Art wie jezt die Menschen auf Julius wirken und er auf sie? Das ist nur eine wunderliche Verwöhnung, daß Du die äußeren Begebenheiten alle mit haben willst, um die Lücken in der Charakteristik daraus zu ergänzen, eine Verwöhnung die nur aus der Schlechtigkeit der bisherigen Romane entstanden ist, und zu unnützen Spizfindigkeiten und leeren Untersuchungen führt, weil Begebenheiten allemal vieldeutig und unendlich sind. Wenn Du nun wüßtest, wie so und warum Julius bald hier ist und bald da, würden Dir nicht störende Fragen entstehn über das Sollen, und über das, was er möglicher Weise hätte thun können? worauf doch gar nichts ankommt. Ist Dir nicht der zweite Brief 80 unendlich mehr werth, als die tragischste Schilderung dieser gefährlichen Krank | heit? Hätte sich mit einer solchen dies reine aus einem Stück gegossene Gemälde des Eindrukes vereinigen lassen? und wäre es nicht ganz verkehrt, jene zu geben und dieses dem Leser zu überlassen? Es wäre Unrecht, wenn ich darüber noch ein Wort verlöre. Nur darauf muß ich Dich führen, daß Du überhaupt die Wirkung der Liebe zu sehr aus dem weiblichen und zu wenig aus dem männlichen Standpunkt angesehen hast. Du mußt sie mehr nach innen zu suchen. Daß die Verwirrung gelöst und in einem zerstörten Gemüth Harmonie und Ruhe hervorgebracht wird, das ist doch bei Gott das Größte und Würdigste, was die Liebe auf einen Mann wirken kann; das lies Dir doch ja recht heraus. Dies und das Werden der Poesie sind Haupt-Effekte, und Du wirst auch immer entsprechende Gegenstücke für jedes finden, und daraus vielleicht am besten die nothwendige Anordnung des Ganzen und den innern Zusammenhang der Theile erkennen; so wenigstens scheint es mir. Indeß läugne ich Dir nicht, daß auch ich Manches, was gar sehr nach innen zu geht, zu wenig angedeutet finde. Guido und Antonio stehn da, wie ein Paar Hieroglyphen in einer le | serlichen schönen Schrift81: man sieht ihnen an, daß sie nicht Schnörkel sind, aber man versteht sie nicht. Ich möchte es eine Unzüchtigkeit der Form nennen, die Fantasie so aufzuspannen und zu quälen. Auch sonst magst Du hie und da Recht haben, was zum Beispiel das Theoretisiren betrift. Nur gestehe doch ein, daß es so ist, wie es einem Künstler, dem alles Kunst werden muß, gar wohl ziemt, und daß sein Denken doch auch zu dem gehört, was dargestellt werden soll. Weißt Du das anders zu machen? Und nun laß in Gottes Namen diese polemischen

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Ansichten und Betrachtungen ruhen, die dodi immer nur auf dieses und jenes gehen und die Ansicht des Ganzen verhindern. Es ist wohl immer besser, sie zuerst abzumachen, als bis zulezt zu versparen; aber abgemacht laß sie nun auch sein, und genieße nicht etwa noch einmal, sondern immer wieder die hohe Schönheit und Poesie des vortreflichen und einzigen Werkes. Ich habe mich allem Streiten darüber schon längst entzogen, und es dem stillen unerschöpflichen Genuß und der einsamen andächtigen Betrachtung geweiht, für die es gemacht ist.

Predigten 1801

Einleitung des Herausgebers Schleiermachers „Predigten" (später „Predigten. Erste Sammlung") sind zur Ostermesse 1801 im „Verlage der Realschulbuchhandlung" (Georg Reimer) erschienen. Zu Schleiermachers Lebzeiten erschienen eine 2. (1806) und eine 3. Auflage (1816). In der vorliegenden Ausgabe wird der Text der 2. Auflage von 1806 abgedruckt. Die Seitenzahlen dieses Drucks sind hier am oberen Seitenrande angegeben; im Text sind die Seitenanfänge durch Querstriche gekennzeichnet. Die „Sämmtlichen Werke" drucken die erste Predigtsammlung Schleiermachers nach dem Text der 3. Auflage 2. Abt., Bd. I, Seite 1 — 1 8 4 ab. Die wichtigsten Abweichungen der 1. und 3. Auflage sind in den Anmerkungen verzeichnet. Schon Anfang 1795 hatte Schleiermacher — unter dem Ubersetzen der Predigten Blairs — erwogen, seine schriftstellerische Laufbahn mit einem Band Predigten zu beginnen (vgl. Br. III, 62 f.). Das hat sich zunächst zerschlagen. Immerhin erschien zugleich mit den „Reden", im Juli 1799 in Bambergers „Predigten protestantischer Gottesgelehrten" eine Predigt Schleiermachers über das Thema „Von der Gerechtigkeit als Grundlage des allgemeinen Wohlergehens", die erste Predigt, die Schleiermacher hat drucken lassen (vgl. Br. I, 219 f.). Die ungünstige Wirkung, welche „Reden", „Monologen" und „Lucinden-Briefe" samt Schleiermachers Mitarbeit am „Athenäum" auf die kirchlich-konservative Bekanntschaft Schleiermachers, besonders auch auf den Hofprediger Sack ausübten, hat Schleiermacher dann im Herbst 1800 veranlaßt, den Plan von 1795 wieder aufzunehmen (vgl. Br. I, 248 f.). Man könnte demnach die anonymen Schriften der romantischen Epoche Schleiermachers als „zwischeneingekommen" verstehen. Zwischen ein gekommen auch insofern, als die Predigten der Sammlung von 1801 zum großen Teil auf Entwürfe aus Schleier-

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Predigten. 1801

machers Landsberger Zeit, 1794—1796, zurückgehen. Schleiermacher schreibt in der den Predigten vorangedruckten Widmung an seinen Onkel Stubenrauch, der seit 1796 die Landsberger Pfarre innehatte: „Alle diese Predigten sind theils gelegentlich in andern hiesigen Kirchen gehalten worden, theils Früchte meines interimistischen Dienstes bei Ihrer Gemeine und in Potsdam." („Predigten", S. [VII]). Weiter heißt es dort: „Aber keine einzige erscheint auch ganz so, wie ich sie gesprochen habe" (a. a. O.). Schon in Schlobitten hatte Schleiermacher es sich angewöhnt, seine Predigten nur ihrem dialektischen Gerüst nach zu konzipieren und sie dann frei zu halten. Er schreibt am j . Mai 1793 an den Vater: „Ich habe nämlich schon seit einiger Zeit aufgehört meine Predigten wörtlich zu concipiren; ich mache eine vollständige Disposition, worin kein Gedanke und und kein Uebergang ausgelassen ist; die Diction aber schreibe ich nur bei solchen Stellen auf, die mir schwierig scheinen, bei den übrigen wird sie nur auf mannigfaltige Weise durchgedacht und dann höchstens die Art des Satzes bestimmt." (Br. I, 112). Schleiermacher hat diese Art der Predigtvorbereitung lebenslang beibehalten, später häufig auch dergestalt, daß er ohne jede schriftliche Aufzeichnung vorher nur im Kopf disponierte. Die Folge ist, daß wir keine von Schleiermacher so gehaltene Predigt besitzen. Alles, was er hat drucken lassen, ist nachträglich aufgeschrieben, aus dem Gedächtnis und allenfalls mit Hilfe der Disposition, soweit eine solche schriftlich vorlag, später aufgrund von Hörernachschriften (vgl. unten S. 278 f.). Die von Schleiermacher auf diese Weise niedergeschriebenen Predigten haben aber gegenüber den wirklich gehaltenen, wie Schleiermacher in der Widmung weiter sagt, „bedeutende Veränderungen erfahren" (a. a. O., S. [ V I I f.]). Schleiermacher rechtfertigt dies mit dem andersartigen Charakter einer gedruckten Rede: „Eine gedruckte Predigt d a r f . . . etwas länger s e i n . . . Sie d a r f . . . eine angestrengtere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen", endlich braucht sie „nicht auf eine so sehr gemischte Versammlung rechnen..., wie wir sie leider in unsern Kirchen haben". Schleiermacher denkt bei seinen gedruckten Predigten an „die gebildetsten Zuhörer", die er je gehabt hat. Man muß sich also die wirklich gehaltenen Predigten in Gedankengang und Diktion sehr viel einfacher vorstellen. Die „Predigten" Schleiermachers stehen nicht nur ihrer Entstehung, sondern auch ihrem Inhalt und ihrer sprachlichen Gestalt nach im Gegensatz zu seinen „romantischen" Schriften. Er erscheint in den „Predigten" als radikaler aufgeklärter Neologe: Das Wesentliche am

Einleitung des Herausgebers

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Neuen Testament ist ihm die an Jesu Lebensweg und Sterben beispielhaft und erschütternd aufleuchtende, tief menschliche Sittlichkeit. Auf diese Sittlichkeit hin, die Schleiermacher freilich ohne Gründung in der lebendigen religiösen Wirklichkeit Jesu nicht denken kann, werden alle Inhalte des Neuen Testaments mit virtuoser Verständigkeit interpretiert. Die Synthese mit dem eigentlich Religiösen, zu dessen reflektierter Darstellung Schleiermacher freilich in seiner romantischen Epoche die Grundlage gelegt hat, ist von ihm noch nicht vollzogen. Man vergleiche dazu insbesondere Schleiermachers letzte Predigt über das 4. Wort am Kreuz (WW II 2 , 399 fr.) mit der hier (unten S. 179 ff.) abgedruckten Auslegung. Dort versteht Schleiermadier das Wort — unter freilich kühner Umdeutung — als Ausdruck von Jesu Nichtachtung des Todes „in dem Bewußtsein der lebendigen Gemeinschaft, in welcher er mit seinem himmlischen Vater stand" (a.a.O., 403), und welche „die Seele auch mitten im Leiden durch das Bewußtsein Gottes und seiner Herrlichkeit" erfreut und stärkt (a.a.O., 406). „Zu der Ähnlichkeit mit diesem Zustande sollen wir uns auch erheben" (a. a. O., 409), weil dann, unter Uberwindung „der Sünde, unter der wir alle beschlossen sind" (a. a. O., 404) auch wir „immer mehr zu dem ruhigen und ungestörten Besitz der innigen Gemeinschaft" mit dem Vater kommen, „indem... er mit seinem Vater kommt Wohnung zu machen in unserm Herzen", (a. a. O., 404). In der Predigt von 1801 hingegen versteht Schleiermacher das 4. Wort am Kreuz als Ausdruck des „Schmerzes über unvollendete Thaten" (unten Seite 181). Die Predigt über „die Kraft des Gebets" zeigt deutlich den Ausgang Schleiermachers von der frommen Aufklärung (vgl. z.B. Anm. 95), ebenso die Predigt über den „Werth des öffentlichen Gottesdienstes" (unten Seite 208 ff.), in der Schleiermadier Belehrung, Ermunterung zum Guten und Belebung der religiösen Gefühle einander gleichordnet. In der Predigt über „die Gerechtigkeit Gottes" wieder findet sich eine besonders radikale Umdeutung des neutestamentlichen Textes neben Erwägungen zur dogmatischen Begriffsbildung, welche die grundsätzlichen Ausführungen in Schleiermachers Glaubenslehre vorwegnehmen (vgl. Anm. 1 1 3 ) . In scharfer Zuspitzung betont Schleiermacher auch jetzt schon (in der Widmung) den für ihn unaufhebbaren Gegensatz zwischen Gläubigen und Ungläubigen und die damit zusammenhängende Ablehnung der Gemeindepredigt als Missionspredigt: „Andern wird freilich manches wunderlich vorkommen; zum Beispiel, daß ich immer so rede als gäbe es noch Gemeinen der Gläubigen und eine christliche Kirche; als wäre

Predigten. 1801

die Religion noch ein Band, welches die Christen auf eine eigentümliche Art vereinigt. Es sieht allerdings nicht aus, als verhielte es sich so: aber ich sehe nicht, wie wir umhin können dies dennoch vorauszusetzen. Sollen unsere religiösen Zusammenkünfte eine Missionsanstalt sein, um die Menschen erst zu Christen zu machen: so müßten wir ohnedies ganz anders zu Werke gehen. Soll aber von ihrem Verhältniß zum Christenthum gar nicht die Rede sein: so sehe ich nicht ein, warum vom Christenthum die Rede ist. Vielleicht kommt auch die Sache dadurch wieder zu Stande, daß man sie voraussezt; wenigstens giebt es nichts verderblicheres für unsere religiösen Vorträge, als das Schwanken zwischen jenen beiden Ansichten, ob wir als zu Christen reden sollen, oder als zu Nichtchristen. Andere werden sich daran ärgern, daß der Unterschied zwischen sittlichen und unsittlichen Menschen, zwischen Frommen und Weltlichgesinnten so strenge genommen ist, wie es unter unsern Gottesgelehrten schon lange nicht mehr Mode sein will ihn zu behandeln: aber Sie wissen daß ich diesem Anstoß nicht abhelfen konnte, ohne dem was ich für das Wesentliche des Christenthums halte, untreu zu werden." (a. a. O., S. [ X — X I I ] ) . Es zeigt sich hier, daß Schleiermachers auch später scharf hervortretende und ihn von Luthers Frömmigkeit unterscheidende, keine eigentliche Anfechtung kennende Glaubenssicherheit (vgl. z.B. WW II 2 , 529: „eine Kluft ist zwischen uns befestiget, welche eigentlich durch keine räumliche Scheidung größer werden kann") zur Grundschicht seiner Frömmigkeit gehört (vgl. auch Anm. 269). Die Wirkung von Schleiermachers Predigten auf seine romantischen Freunde war zwiespältig. Schleiermacher hat selber empfunden, daß er ihnen hier fremd sein mußte und hat ihnen die „Predigten" nur ungern und zögernd zugänglich gemacht (vgl. z.B. Br. III, 273), während er sie sogleich an Sack schickte (Br. III, 281). A . W . Schlegel hat denn auch nur eine geistreich-spitzige Bemerkung für die „Predigten" übrig: „Da ich die Freunde hier so lebhaft mit der Lesung derselben beschäftigt fand, wollt' ich es, wie Eulenspiegel, doch auch selbst probiren. Allein es ist mir dabey natürlich ergangen wie einem Profanen; zu großem Aergerniß der andern habe ich geäußert, es müßten wohl romantische Predigten seyn, weil so viel Ironie darin wäre. — Die vortreffliche Predigt über den Text: der Faule stirbt über seinen Wünschen, denn seine Hände wollen nichts thun, scheint mir eine offenbare Personalität gegen Tieck, dem ich sie wohl vorlesen möchte." (Br. III, 291). Im Grunde treffen ja die „Predigten" Schleiermachers — wie er selber gewiß empfunden hat —

Einleitung des Herausgebers

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nicht nur Tieck, sondern die romantischen Genossen insgesamt. Immerhin hat Friedrich Schlegel erkannt, daß der Freund sich gerade in diesen Predigten in seinem wahren Wesen zeigte. Er schreibt an Schleiermacher: „Erst über Deine Predigten. Weißt Du wohl, daß ich sehr geneigt bin, sie für Dein bestes Werk zu halten, nämlich als Werk, und das gar nicht aus Widersetzlichkeit, sondern aus reiner Zuneigung. Sie sind so voll Ruhe, und frei von jedem Schein von Gezwungenheit." (Br. III, 292). Auch Schleiermacher selber hat später am Stil der „Predigten" nichts auszusetzen. Bei den Zweitauflagen seiner Frühschriften hat er an ihnen am wenigsten zu ändern gefunden (vgl. Br. I, 388; IV, 125). Die Auswahl der Predigten aus der ersten Sammlung versucht die oben angedeuteten Haupteigentümlichkeiten der frühen Predigten Schleiermachers an besonders bezeichnenden Beispielen zu belegen. Die Themen und Texte der übrigen Predigten seien hier angegeben: I. Die Aehnlichkeit der Zukunft mit der Vergangenheit. Am Neujahrstage. (Prediger Salomo 1,8.9). IV. Daß Vorzüge des Geistes ohne sittliche Gesinnungen keinen Werth haben. (1. Kor. 1 2 , 3 1 — 1 3 , 1 ) . V. Demüthigung vor Gott. Am allgemeinen Bettage. (Hiob 42, 1 3)V I . Wozu wir denen verpflichtet sind, die unsern Wandel beobachten. (1. Petri 3,15). V I I I . Das Leben und Ende des Trägen. (Sprüche Sal. 21,25). I X . Die schriftmäßige Einschränkung unserer Sorge für die Zukunft. (Matth. 6,34). X . Die Grenzen der Nachsicht. (1. Kor. 13,7). X I . Die Gemeinschaft des Menschen mit Gott. (Ap. Gesch. 17, 24—27).

Predigten von F. Schleiermacher.

Erste Sammlung. Zweite Auflage.

Berlin, im Verlage der Realschulbuchhandlung. 1806.

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II. Die Kraft des Gebetes, in so fern es auf äußere Begebenheiten gerichtet ist. Fromm sein und beten, das ist eigentlich eins und dasselbige. Alle Gedanken von einiger Wichtigkeit, die in uns entstehen, mit dem Gedanken an Gott in Verbindung bringen, bei allen Betrachtungen über die Welt sie immer als das Werk seiner Weisheit ansehen, alle unsere Entschlüsse vor Gott überlegen, damit wir sie in seinem Namen ausführen können, und selbst im fröhlichen Genuß des Lebens seines allsehenden Auges eingedenk sein, das ist das Beten ohne Unterlaß, wozu wir aufgefordert werden82, und eben das macht das Wesen der wahren Frömmigkeit aus. Daher kann unter uns über den Nuzen des Gebetes gar keine Frage sein; gewiß, gewiß haben wir ihn Alle erfahren. Wenn unsere Freuden oft unschuldig geblieben sind, wo Andere in das Gebiet der Sünde hinüberschweiften; wenn unser Urtheil von Demuth und Bescheidenheit geleitet war, wo | sonst Stolz und Uebermuth am leichtesten die Oberhand gewinnen; wenn wir bewahrt blieben auch vor dem Bösen, welches der menschliche Verstand sonst nur allzu bereitwillig entschuldigt: so war es die Kraft des Gebetes, die uns so wohlthätig beschüzt hat. Ob es aber außerdem noch eine andere Kraft in der Welt habe, das ist eine Frage die gar wohl aufgeworfen werden kann, und über die wir zur Gewißheit kommen müssen, wenn wir unser Gemüth nicht unnüzerweise beunruhigen sollen. Sollen wir alle unsere Gedanken mit dem Gedanken an Gott in Verbindung bringen, so dürfen und sollen wir auch eben so verfahren mit unsern Wünschen, daß sich dies oder jenes ereignen, oder von uns und Andern abgewendet werden möge. Wenn wir aber alsdann die Erfüllung dieser Wünsche für den Endzwekk des Gebetes halten, und was uns von der Erhörung desselben verheißen ist, hier-

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auf beziehn wollen; wenn wir entweder, wie Einige thun, diese Erhörung als ein ausschließendes und untrügliches Kennzeichen des göttlichen Wohlgefallens ansehn; oder wenn wir auch nur, wie bei sehr Vielen der Fall ist, glauben, daß durch unser Bitten irgend ein neues Gewicht in die Wageschale gelegt werde — gleichviel, was für Einschränkungen über die Beschaffenheit unseres Gemüthes, über die Vernunftmäßigkeit unseres Wunsches, über die Bescheidenheit unseres Herzens wir diesem Glauben beifügen: — so erfüllen wir unser Gemüth mit Erwartungen, deren gewöhnlich nichtiger Ausgang unserer Ruhe nachtheilig ist, ja wir können dadurch | in die peinlichste Ungewißheit über unser Verhältniß gegen Gott gerathen. Laßt uns in dieser Hinsicht über das Gebet mit einander nachdenken. Der Abschnitt der Leidensgeschichte, auf welchen wir unsere Aufmerksamkeit zu richten haben, giebt dazu eine besondere Veranlassung, indem er uns den Erlöser selbst in einem solchen Gebet begriffen zeigt. Von der Beschaffenheit und dem Erfolge desselben wollen wir ausgehn; und Ihr werdet mir gewiß darin im Voraus beistimmen, daß der Jünger nicht über seinen Meister ist, und daß wir von unserm Gebete nicht mehr erwarten können, als Christus davon erfuhr. Soll die Erhörung ein Zeichen der göttlichen Gnade sein: so mußte es demjenigen vorzüglich gegeben werden, an dem Gott einen so außerordentlichen Wohlgefallen hatte. Soll sie nur da Statt finden, wo die eigenen Kräfte des Menschen nicht hinreichen, und es einer besondern Hülfe bedarf: so wißt Ihr, wie gänzlich der Erlöser sich alles mensdilichen Beistandes entäußert hatte, und was für enge Grenzen ihm die Geseze stekkten, denen er in allen seinen Handlungen folgte. Soll es dabei auf die Wichtigkeit und Schuldlosigkeit des Wunsches ankommen: so kennt Ihr ihn dafür, daß sein Gemüth von Kleinigkeiten nicht ergriffen wurde, und daß er in allen Stükken versucht worden ist, gleich wie wir, ausgenommen die Sünde83. Können wir also auch den Schluß nicht im Voraus machen, was Christi Gebet bewirkt, das kann das unsrige auch bewirken, so steht doch gewiß der Saz fest, was sein Gebet nicht bewirken konnte, | das wird das unsrige auch nicht bewirken. Diese Gleichheit unseres Verhältnisses mit dem seinigen muß, wie auch die Untersuchung ausfalle, einen Jeden beruhigen, und ich bitte Euch daher um so zuversichtlicher um eine unbefangene und gefaßte Aufmerksamkeit.

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II. Die Kraft des Gebetes, gerichtet auf äußere Begebenheiten

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Text. Matth. 26, 36—46. Da kam Jesus mit ihnen zu einem Hofe, der hieß Gethsemane, und spradi zu seinen Jüngern: sezet Euch hie, bis daß ich dorthin gehe und bete. Und nahm zu sich Petrum und die zween Söhne Zebedäi, und fing an zu trauren und zu zagen. D a sprach Jesus zu ihnen: meine Seele ist betrübt bis in den Tod, bleibet hie und wachet mit mir. Und ging hin ein wenig, fiel nieder auf sein Angesicht, und betete, und sprach: Mein Vater, ists möglich, so gehe dieser Kelch von mir, doch nicht wie ich will, sondern wie D u willst. Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend, und sprach zu Petro: Könnet Ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und betet, daß Ihr nicht in Anfechtung fallet. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Zum andern Male aber ging er hin, betete und sprach: Mein Vater, ists nidit möglich, daß dieser | Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn, so geschehe Dein Wille. Und er kam und fand sie aber schlafend, und ihre Augen waren voll Schlafs, und er ließ sie und ging abermal hin und betete zum dritten Mal, und sprach dieselbigen Worte. D a kam er zu seinen Jüngern und spradi zu ihnen: Ach, wollt Ihr nun schlafen und ruhen? Siehe die Stunde ist hie, daß des Menschen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird. Stehet auf, lasset uns gehen: siehe er ist da, der mich verräth.

Wir sehen hier den Erlöser unmittelbar, ehe er in die Hände seiner Feinde fiel, in einer unruhigen und sorgenvollen Gemüthsstimmung. E r wußte, daß ein Anschlag gegen sein Leben gemacht worden, und jezt eben im Begriff war, ausgeführt zu werden. So bestimmt und so ruhig er auch sonst über das, was ihm bevorstand, mit seinen Jüngern geredet hatte, jezt da er den Kampf selbst antreten sollte, da in der größern Nähe alles bestimmter und stärker erschien, ward er von den verschiedenen Empfindungen, die eine solche Aussicht in ihm erregen mußte, in eine heftigere Bewegung gesezt, als wir sonst an ihm zu sehen gewohnt sind. E r suchte die Einsamkeit und floh sie wieder, vom Gebet kehrte er zu seinen Jüngern zurükk, die gar nicht in der Verfassung waren, ihm irgend Trost und Aufmunterung zu schaffen, und von ihnen wendete er sich wieder zum Gebet. In | einer solchen Lage pflegt selbst denen, die am weitesten von der wahren Frömmigkeit entfernt sind, der alte halbvergessene Gedanke an Gott wieder ins Gedächtniß zu kommen, und sie wenden sich an ihn um Hülfe und Rettung; in einer solchen Lage pflegen selbst diejenigen, welche den festesten Muth und die unbedingteste Ergebung in den göttlichen Willen haben, nicht ganz ohne Besorgniß und ohne Wünsche zu sein; und darum verwandelte sich auch das Gebet des Erlösers in

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diesem Falle in jenes den Menschen gewöhnliche Bitten um einen ihren Wünschen angemessenen Ausgang. Der Werth und die K r a f t eines solchen bitt e n d e n G e b e t e s ist es, was wir jezt mit einander beherzigen wollen. Ich werde dabei z u e r s t dem vorliegenden Falle genau nachgehn, um zu sehen, was er uns lehrt, und z w e i t e n s auf einige allgemeine Folgerungen aufmerksam madien, welche sich daraus ergeben. I. Zuerst also überzeuget Euch recht fest von der Befugniß, welche Ihr habt, auch Eure Wünsche über die wichtigern Ereignisse Eures Lebens Gott dem Herrn im Gebet vorzutragen. Es kann in den gegenwärtigen Zeiten nicht unnüz sein, uns in diesem Glauben zu stärken. Diejenigen, welche gern Alles, was zur Religion gehört, dadurch aus dem menschlichen Gemüth verbannen möchten, daß sie keiner Anwendung davon im Leben Raum geben, unterlassen nicht ein solches Gebet als eine Art von | Frevel gegen das höchste Wesen darzustellen. Es sei unehrerbietig, sagen sie, zu einer Zeit, wo man sich Gott auf eine besondere Weise vergegenwärtigt, einen aus der Beschränktheit unseres Verstandes und Herzens entspringenden Wunsch zu äußern über etwas, worüber doch sein Rathschluß längst entschieden hat; es sei ein allzuspäter Vorwiz, zu sagen, so möchte ich es gern, da wir doch bald erfahren werden, wie Er es gewollt hat. Laßt Euch dadurch nicht irre machen. Christus hat es gethan, also dürfen wir es audi thun. Es gehört mit zu den Vorrechten, die unserm Stande als Kinder Gottes anhängen. Das wäre eine sklavische Familie, wo es Kindern nicht vergönnt wäre, in der Gegenwart des weiseren Vaters ihre Wünsche zu äußern. Ist denn irgend Jemand fähig sie gleich zu unterdrükken? Können wir nun das nicht, so laßt sie uns immer aussprechen, wenn unser Herz uns dazu treibt: denn wenn wir sie auch in unser Inneres einschließen, ihm bleiben sie doch nicht verborgen. — Hört auch nicht darauf, wenn sie Euch sagen, ehe Ihr vor Gott tretet, müßtet Ihr doch erst Euer Gemüth gefaßt und Euer Herz beruhigt haben; es sei unziemlich in diesen unordentlichen Aufwallungen vor Ihm zu erscheinen, wo die Besorgniß vor Schmerz und Widerwärtigkeit, die Anhänglichkeit an irgend ein Gut, dessen Verlust uns bevorsteht, noch das Herz hin und her zieht, und der Ergebung in den heiligen Willen Gottes nicht Raum läßt. Wolltet ihr warten, bis diese den Sieg davon getragen hat, so würdet Ihr weder das Bedürf | niß noch die Neigung zu einem solchen Gebet mehr empfinden, und das Vorrecht dazu würde Euch vergeblich ver-

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II. Die Kraft des Gebetes, gerichtet auf äußere Begebenheiten

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liehen sein. Sind die Bewegungen Eures Gemüths sündliche Aufwallungen; hat das Feuer der Leidenschaften sie verursacht: so wird sich ohnehin der Gedanke an Gott, und das Gebet zu ihm nicht damit vertragen. Aber jene dem Menschen, wie ihn Gott erschaffen hat, so hödist natürliche Unruhe, die uns ergreift, wenn Verlust und Unglükk da sind, wenn Hemmung unserer Thätigkeit und Trennung von unsern Geliebten uns dröhn, diese soll uns nicht abhalten vor Gott zu treten: denn so nur unser Herz uns nicht verdammt, haben wir Freudigkeit zu Gott.!:") Christus, wie Ihr seht, ergriff nicht erst zuvor andere Maaßregeln, um diese in seiner heiligen Seele so seltene Bewegung zu unterdrükken; sondern eben das Gebet war seine Maaßregel; eben in dieser Unruhe wendete er sich flehend zu seinem himmlischen Vater; eben als seine Seele betrübt war bis in den Tod, verließ er seine Jünger, um beten zu gehen. Aber eben so aufrichtig, als ich Euch hiezu ermuntere, eben so ernstlich bitte ich Euch z w e i t e n s , ja nicht zu glauben, daß um Eures Gebetes willen dasjenige geschehen werde, was Ihr bittet. Die Worte Christi lassen keinen Zweifel übrig, daß er wirklich und ganz ernstlich um die Abwendung seines bevorstehenden Leidens gebeten habe, er bedient sich ganz derselben Worte, mit denen er immer davon | redet, und wir wissen aus dem Ausgange seiner Geschichte nur allzugut, daß ihm nicht gewillfahrt wurde. Was er jemals voraus gesagt und voraus gesehen hatte, das widerfuhr ihm auch; gerade so, wie er den Leidenskelch vor sich stehen sah in der Stunde seines Traurens und Zagens, mußte er ihn auch leeren bis auf den lezten Tropfen. Eine Wirkung, die sein Gebet nicht gehabt hat, wird und kann das unsrige auch nicht haben. Glaubet daher den Verheißungen nicht, welche Viele aus gewissen Worten der Schrift herleiten wollen, als ob Gott auch allemal gäbe, was im wahren Glauben und aus reinem Herzen von ihm erbeten wird84. Einen Glauben, der ein Vorzug und eine Ursache des göttlichen Wohlgefallens sein konnte, werdet Ihr Christo doch nicht absprechen, und in seinem kindlichen und unterwerfungsvollen Flehen werdet Ihr nichts finden, was eines reinen Herzens nicht würdig wäre. Ihm also hätte diese Erhörung zuerst wiederfahren müssen843; und die von ihm selbst ausgesprochenen Worte, Bittet, so wird Euch gegeben85, müssen demnach eine andere Bedeutung haben, da diese sich an Ihm, dem Anfänger und Vollender unseres Glaubens86, nicht bewährt hat. Wie sollte es auch zugehn, daß Gott * 1 Joh. 3 , 1 1 .

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um des Gebetes willen unsere Wünsche erfüllte? Meint Ihr, daß dies bei den Eurigen eher möglich wäre, als bei dem Wunsch des Erlösers, weil auf dessen Leiden und Tod in dem göttlichen Entwurf zur Beglükkung des Menschengeschlechts gerechnet war? Warlich in dem göttlichen Entwurf ist auf Alles ge | rechnet, und Alles ist Eins darin. Wonach Euer Herz auch verlange, ehe wird Himmel und Erde vergehen, ehe die geringste Kleinigkeit von demjenigen sich ändert, was in dem Rathe des Höchsten beschlossen ist87. — Oder meint Ihr, der Ewige könne zwar seinen Entschluß nicht ändern; aber so wie Alles, habe er auch das vorher gewußt, wenn und was seine frommen und geliebten Kinder von ihm bitten werden, und habe den Zusammenhang der Dinge so geordnet, daß mit ihrem Wunsch der Ausgang übereinstimme? Das heißt die göttliche Weisheit ehren, und doch den kindischen Einbildungen des Menschen schmeicheln wollen! So hoch hat es Gott nicht mit uns angelegt, daß unsere Wünsche Weissagungen sein sollen: aber auf etwas höheres gewiß als darauf, daß die Befriedigung derselben uns der schäzbarste Beweis seiner Gnade sein müßte. Dies ist freilich noch lange nidit die verkehrteste unter den Erfindungen, womit man die Religion ausgeschmükkt hat: aber es ist doch nur eine Erfindung des klügelnden Verstandes, nicht eine Wahrnehmung aus der Art, wie sich Gott in der Welt offenbaret. Es ist geringschäzig von Christo gedacht, daß er nicht auch hierin der Erstling gewesen sein sollte, und geringschäzig von den Menschen, daß, wenn Gott dies angeordnet hätte, man doch nur so selten Beispiele von erhörten Gebeten finden würde. Laßt uns also D r i t t e n s sehen, welches denn die Wirkung unseres Gebetes ist, wenn sie nicht in der Uebereinstimmung des Erfolges mit dem geäußerten Wunsche | gesucht werden darf? Es ist dieselbige, die es in Christo hervorbrachte. Betrachtet nur mit mir, was dabei in seinem Gemüthe vorging. Mit dem bestimmten Wunsche, daß sein Leiden von ihm abgewendet werden möchte, fing er an; aber sobald er den Gedanken faßte an den Vater im Himmel, zu dem er betete, mäßigte schon das bescheidene „ists möglich" diesen Wunsch. Als er darauf von den schlafenden Jüngern, einem Anblikk, der seinen Muth noch mehr niederschlagen und dem traurigen Gefühle der Verlassenheit noch einen neuen Zuwachs geben mußte, wiederum zum Gebet zurükkkehrte, beugte er schon seinen Wunsch bei dem Gedanken, daß der Wille seines Vaters ein anderer sein könnte. Diesem sich zu fügen und mit ihm freiwillig übereinzustimmen war ihm nun schon das größere; ja er hätte nicht gewollt, daß der Wille Gottes nicht gesche-

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II- Die Kraft des Gebetes, gerichtet auf äußere Begebenheiten

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hen wäre, hätte er auch alle Glükkseligkeit der Welt damit gewinnen können. Und als er zum dritten Mal gebetet hatte, war alle Besorgniß und alles Zagen verschwunden, er hatte keinen Wunsch mehr, sondern mit Worten, welche darauf abzwekkten, auch ihnen den Muth, den er selbst gewonnen hatte, mitzutheilen, erwekkte er seine Freunde aus dem Schlafe, und mit gelassenem Gemüth, mit frommer Tapferkeit ging er seinem Verräther entgegen. Sehet da, das ist die Wirkung, welche ein solches Gebet hervorbringen soll. Wir sollen aufhören mit Heftigkeit nach dem Besiz eines irdischen Gutes zu verlangen, oder die Abwendung eines Uebels zu wünschen; wir | sollen Muth bekommen, wenn es Gott beschlossen hat zu entbehren und zu dulden; wir sollen uns erheben aus der Ohnmacht, in welcher Furcht und Begierde den Menschen herabziehn, und sollen zum Gefühl und zum vollen Gebrauch unserer Kräfte gelangen, damit wir uns unter allen Umständen so betragen können, wie es Jedem geziemt, welcher bedenkt, daß er unter den Augen und dem Schuze des Höchsten lebt und handelt. Diese Wirkung aber muß auch das Gebet notwendigerweise hervorbringen, wenn es uns anders nicht an richtigen Vorstellungen von dem göttlichen Wesen gänzlich fehlt. Tragen wir einen Wunsch, daß dieses oder jenes sich in der Welt so ereignen möge, wie es für uns das beste zu sein scheint, Gott im Gebet vor, so müssen wir doch denken, daß wir ihn vortragen dem u n v e r ä n d e r l i c h e n Wesen, in welchem kein neuer Gedanke, kein neuer Entschluß entstehen kann, seitdem es zu sich selbst sprach: es ist alles gut, was ich gemacht habe88, Was damals beschlossen ward, wird geschehen: dieser Gedanke muß uns mit unwiderstehlicher Gewißheit vor Augen treten. „Und wenn nun beschlossen ist, was du fürchtest? wenn du nun herausgerissen werden sollst aus dem lieben Kreise deiner Thätigkeit? wenn du verlieren sollst den, an welchem dein Herz hängt? wenn auf dir ruhen bleiben soll die unverdiente Verläumdung?" — Unfehlbar werden wir diese Besorgniß zuerst zurükkweisen; nein, es kann nicht sein, es wird nicht | sein, es wäre zu hart, zu unväterlich! Aber der Gedanke, es kann nicht sein, wird uns ersterben, wenn wir bedenken, daß es der U n e r f o r s c h l i c h e ist, den unsere Hofnung auf diese Art beschränken will. Es kann wohl sein, es kann wohl sein, rufen uns tausend Beispiele zu von unverdienten und kaum erträglichen Leiden. Wenn es nun wäre, — seinen Willen können wir nicht beugen, — so bliebe uns nichts übrig, als den unsrigen übereinstimmend zu machen mit dem seinigen. Und daß dies geschehe, daß dies

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von Herzen geschehe, dazu ladet uns ein der Gedanke, daß es doch der A l l e i n w e i s e ist, dem wir unsern Wunsch vortragen wollten. Du denkst Dir etwas als heilsam und gut, und willst, daß Gott es solle geschehen lassen. Verstummt nicht dein Wunsch und deine Einsicht, sobald du an Ihn denkst? Wie weit übersiehst du dann die Folgen und den Zusammenhang der Ereignisse, wenn du auch nur bei deinem Wohlergehn stehen bleiben willst? Er kennt das Beste und das Ganze! mußt du deinen Wunsch entbehren nach dem von ihm geordneten Zusammenhang, so hast du in allem Guten, das du in der Welt siehst, den Ersaz dafür. So wird Mißtrauen in den eigenen Verstand gewekkt, Demuth, die sich nur als einen kleinen Theil des Ganzen ansieht, Wohlwollen, das mehr aus der Betrachtung der Welt als aus dem eigenen Wohlbefinden seine Zufriedenheit schöpfen will. Aber der Weise ist auch der G ü t i g e ; er wird dich nicht bloß um Anderer willen entbehren und leiden lassen. Er will, daß dem | Gerechten Alles zu seinem eignen Besten diene89. So entsteht Vertrauen, daß auch auf uns, ein wie kleiner Theil wir auch sind, Rücksicht genommen worden sei im Ganzen; so entsteht Ruhe, denn was uns auch begegne, es muß Gutes herauskommen; und so ruft endlich das stillgemachte und besänftigte Herz, Vater, es geschehe dein Wille. Sehen wir so dem gefürchteten Uebel erst mit Gelassenheit und Ergebung ins Auge, so tritt auch bald der Gedanke an die Absichten alles dessen, was geschieht, ins rechte Licht, und zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Der Betende muß sich bald daran erinnern, daß Alles was geschieht seinen Zwekk in uns selbst hat, der auf unsere Besserung und die Vermehrung des Guten in uns gerichtet ist. Er wird sich wieder bewußt, daß dieser Zwekk des Höchsten, den seine heftige Empfindung ihm auf eine kurze Zeit aus den Augen gerükkt hatte, doch auch sein eigner Zwekk ist. Wenn dazu alles ein Mittel sein kann und soll: warum soll er denn irgend etwas scheuen, was ihm begegnen mag? Wenn Glükk und Unglükk Veranlassung darbieten gute Gesinnungen zu äußern und zu befestigen; wenn es in beiden eine Art gibt, sich würdig und Gott wohlgefällig zu betragen: warum soll ihm nicht beides willkommen sein, wie es eben kommt aus der Hand Gottes und im Zusammenhang seiner Führungen? Nun steht das Herz auf dem Punkt, wo es stehen soll; nun giebt es einen andern Gegenstand, womit wir uns beschäftigen, als die Empfindungen die unserer war | ten, nemlich die Frage, Was wird von dir gefordert werden? was für Kräfte wirst du anwenden, was für einen Widerstand wirst du entgegen sezen, was für Uebereilungen wirst du

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vermeiden müssen? Und wenn wir dann finden, daß es immer nur auf dieselben Eigenschaften ankommt, die wir oft geübt, über die wir lange nachgedacht haben; daß das Ganze, was von uns geleistet werden soll, nur aus einzelnen Handlungen besteht, die wir oft schon mit gutem Erfolge verrichtet haben: dann kehrt das Bewußtsein der Kräfte in die verschüchterte Seele zurükk; dann fühlen wir uns stark genug den Weg zu wandeln, den Gott uns vorzeichnet, stark genug diejenigen aufzurichten, die über uns betrübt oder sonst muthloser sind als wir; und wenn der Augenblikk kommt, wo das Uebel eintritt, so sagen wir mit Ruhe und gefaßtem Sinne, Lasset uns aufstehn und ihm entgegen gehn. Das sind nach dem Beispiele des Erlösers die rechten Wirkungen eines solchen Gebetes. Ich hoffe, sie werden Euch Allen groß und wichtig genug erscheinen, und Ihr werdet dabei das Unmögliche und Wunderbare gern vergessen, was so Viele als die Hauptsache des Gebetes ansehen. Haltet Ihr es für besser, diejenigen, weldie Ihr zu erziehen habt, allerlei Uebel und Beschwerden ertragen zu lehren, als sie immer aufs sorgfältigste dafür zu bewahren: so lobet auch die göttliche Weisheit, welche uns im Gebet ein kräftiges Mittel zu jenem aber nicht zu diesem in die Hände gegeben hat. | Um Euch noch mehr Veranlassung zum Nachdenken über diesen wichtigen Gegenstand zu geben, laßt mich II. noch einige allgemeine Folgerungen hinzufügen, die wir aus dem, was das Beispiel Christi uns gelehrt hat, ziehen können. Erstlich. Wenn um unseres Gebetes willen in dem von Gott angeordneten Lauf der Dinge nichts geändert wird: so müssen wir auch auf zufällige, scheinbare Erhörungen desselben keinen besonderen Werth legen. Es vergeht selten eine geraume Zeit, daß nicht unserer Gesundheit, oder unserm äußerlichen Glükk, oder unsern Verhältnissen gegen die, welche uns die Liebsten auf der Welt sind, mancherlei Gefahren drohen, und ich hoffe, daß es Wenige unter uns giebt, welche nicht daraus einen Gegenstand ihres Gebetes machen. Hütet Euch aber, welchen Ausgang auch diese bedenklichen Umstände nehmen mögen, die Ursache davon in Eurem Gebete zu suchen, und in dem Grade, worin es Gott angenehm oder misfällig gewesen ist. Außerdem, daß dies Gottes unwürdig ist, wie wir schon gesehen haben, verdirbt es gänzlich euer Urtheil über euren und anderer Menschen Werth, und lehrt Euch dabei auf Dinge ein Gewicht legen, welche gar keines haben. Und doch muß auf eben diesem Urtheil, wenn ihr verständig und mit Euch selbst übereinstimmend denken

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wollt, ein großer Theil eurer Art zu leben und zu handeln beruhen. Dies | erstrekkt sich selbst auf unsere reinsten und würdigsten Wünsche, auf diejenigen nemlich, welche sich mit dem Gedeihen des Guten beschäftigen, entweder überhaupt oder dessen, wozu wir insbesondere Werkzeuge und Mitarbeiter sind. Freuet Euch, wenn Eure rechtschaffenen Unternehmungen einen guten Fortgang haben; freuet Euch, wenn Gott Euch zu unmittelbaren Werkzeugen bei der Vermehrung des Guten in der Welt braucht; freuet Euch, wenn Euch auch das vorzüglich gelingt, was lange Zeit hindurch der wichtigste Gegenstand eures Bestrebens, eurer Sorge, eures Gebetes gewesen ist: aber laßt Euch das nicht zu dem stolzen Glauben verleiten, als ob dies ein entscheidendes Zeichen von Gottes vorzüglichem Wohlgefallen an Eurem Gemüthszustande wäre. Mancher, dem nichts gelingt, und dessen Handeln in der Welt vergeblich zu sein scheint, meint es gewiß nicht nur eben so redlich, sondern thut auch eben so eifrig das seinige, und ist eben so innig von Rechtschaffenheit und Gottseligkeit durchdrungen. Dergleichen als einen Maaßstab des menschlichen Werthes anzusehn, ist eine gefährliche Unvollkommenheit in der Religion90, und eine von denen, für welche ganz besonders Christus der Mittler geworden ist zwischen Gott und uns. Sehet wie auch Ihm Alles zu mißlingen schien, und wie sich doch Gott seiner aufs herrlichste bedient hat! wie sein Gebet nicht erhört ward, und er doch in diesem Augenblikk, wie immer, derjenige war, an dem Gott Wohlgefallen hatte. | Zweitens werdet Ihr mir nun, hoffe ich, gewiß zugestehen, daß es kein anderes wahres Gebet giebt als jenes, welches ich am Anfang unserer Betrachtung geschildert habe, den Zustand nemlich, wo der lebendige Gedanke an Gott alle unsere anderen Gedanken, Empfindungen und Entschlüsse begleitet, läutert und heiliget. Alle andere Gestalten, welche das Gebet in einzelnen Fällen annimmt, müssen sich, wenn sie Gott wohlgefällig sein sollen, in diese eine höchste, das ganze Leben umfassende wiederum auflösen. Unser Dankgebet ist eine Vereinigung unsrer Freude über das, was sich ereignet hat, mit dem Gedanken an Gott, und es wird Ihm nur wohlgefällig sein, wenn es diese Freude heiliget und erhebt, wenn es das Mittel wird, unser Gemüth von dem irdischen Gegenstand auf das höhere hinzurichten. Bleibt es nur Dank, nur Freude über den neuen Besiz, den uns Gott verliehen hat: so hat unser Dankopfer vor Ihm keinen Werth. Eben so ist es mit unserm bittenden Gebet, es betreffe nun unsere eigenen Angelegenheiten, oder es sei brüderliche Fürbitte. Wenn es nicht dahin gedeiht, den Wunsch, der es hervorbrachte, zu mäßigen,

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die heftige Begierde in stille Ergebung, die ängstliche Erwartung in fromme Gelassenheit zu verwandeln: so war es gar kein wahres Gebet, und es ist ein sicheres Zeichen, daß wir dieses wahren Betens noch gar nicht fähig sind. Drittens will ich Euch nicht vorenthalten, daß es mir ein Zeichen größerer und aufrichtigerer Fröm | migkeit zu sein scheint, wenn dieses bittende Gebet in unserm Leben nur selten vorkommt, und auch dann unser Gemüth nicht lange beschäftiget. Denn woher kommt es wohl, daß unser Gebet die Gestalt der Bitte annimmt? Wenn wir etwas wünschen, was wir selbst nicht ins Werk richten können, und es gesellt sich zu diesem Wunsch der Gedanke an Gott: so fällt uns als Gegensaz unserer Ohnmacht zu allererst seine Allmacht ein, und wir möchten suchen sie uns geneigt zu machen; das ist die Bitte, so wie sie aus dem schwachen menschlichen Herzen hervorgeht. Hierbei liegt ein unvollkommener Gedanke an Gott zum Grunde. Dächten wir sogleich an dasjenige, was uns immer das Nächste sein soll, an seine Heiligkeit und Weisheit: so würde unser Wunsch sehr bald die Gestalt annehmen, durch welche alle Wünsche der Frommen sich auszeichnen sollen. Gewiß also, je geläufiger uns das wahre Beten ist, je öfter wir an Alles denken, was wir von Gott wahrnehmen können, um desto schneller wird diese heilsame Veränderung vor sich gehn. Die, welche sich rühmen, daß sie anhalten können im Gebet, daß sie nicht müde werden Gott zu bitten, er wolle dieses oder jenes herbeiführen, von denen ist der Geist der wahren Gottesfurcht noch fern. Von Christo wird uns mehrere Male gesagt, er habe sich in die Einsamkeit begeben und Nächte zugebracht im Gebet"; dann war es aber nicht die Furcht vor irgend einem Ereigniß, nicht die Theilnahme an irgend einer Begebenheit, was ihn zum Gebete trieb, | sondern das Bedürfniß seines Herzens sich einem frommen Nachdenken zu überlassen'2. Wo wir ihn dagegen bittend finden, da ist dies, wie hier, nur ein vorübergehender Zustand, und eben so auch nur ein seltener. Um unserer Betrachtung so Vieles im göttlichen Wesen, was zu unserer Beruhigung gereichen muß, zu verhüllen, bedarf es in der That einer heftigen Gemüthsbewegung, und die soll in unserm Leben eben auch nicht häufig vorkommen 93 . Seid Ihr von solchen bestürmt, nun so bittet, bis das wahre Gebet Euch des Bittens vergessen macht. Was aber diejenigen betrifft, welche sich rühmen, daß sie oft auf diese Art beten, daß sie täglich mehrere Male vor Gott erscheinen, ihn um Alles zu bitten, was entweder schon da ist, oder was sie selbst erwerben sollen, und für alle Kleinigkeiten zu danken, die zum mensch-

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liehen Leben gehören: so scheint mir, als ob sie sich über etwas rühmten, was von wenigem Werth ist. Mögen sie noch soviel sagen von der Andacht, mit der sie diese Gebete verrichten, ich glaube doch, daß keine wahre Frömmigkeit darin ist. Zu bestimmten Zeiten tragen sie ihre Nothdurft Gott vor; ihr Beten gehört, wie andere kleine Geschäfte, zur Ordnung des Tages, und unmittelbar von demselben gehen sie zu andern Geschäften und Vergnügungen, ohne daß eine Spur davon zurükkbleibt, so wie sie mitten aus der Sorge, der Arbeit und dem Scherze zum Gebet kommen, angefüllt und durchdrungen von eiteln irdischen Dingen. Deutet das wohl auf ein Herz, dem | der Umgang mit Gott geläufig ist? Wen das Gefühl der Abhängigkeit am meisten zum Gedanken an Gott erwekkt, der denkt gewiß sonst gar nicht an ihn, und der Geist des Christenthums fehlt ihm gänzlich. Mögen sie noch soviel Versicherungen geben von dem Segen für ihr Herz, den dieses Gebet ihnen bringt, es sind gewiß nur zufällige und vorübergehende Rührungen. Sprechen sie nicht immer dieselben bestimmten Worte? Beten sie nicht größtentheils mit fremden Gedanken? Wie wenig diese im Innern des Gemüthes wirken können, das wissen wir Alle. Es ist warlich kein Schade für die Religion94, wenn diese Gewohnheiten abnehmen. Nein, mit leichtem Herzen wollte ich sie alle verschwinden sehen diese Stundengebete und Formeln, wie rein sie auch sein mögen von abergläubischen Meinungen, und wieviel Bezug auch darin sein möge auf Sittlichkeit und Pflichterfüllung! Ein herzerhebender Gedanke an den Schöpfer, wenn unser Auge auf seine Werke gerichtet ist mitten unter den stillen Freuden, die wir aus seiner Schöpfung genießen95, ein den klügelnden Verstand niederschlagender Gedanke an den Beherrscher der Welt mitten unter dem Gespräch über die Schicksale und Unternehmungen der Menschen, ein Gefühl von dem, dessen Ebenbild sich in uns offenbaret, wenn wir uns von Liebe und Wohlwollen durchdrungen fühlen, mitten unter dem geselligen Genuß dieser menschlichen und schönen Empfindungen; wenn wir seine Wohlthaten genießen, ein frohes Gefühl seiner Lie | be; wenn wir Gutes wirken, ein dankbares Gefühl seines Beistandes; wenn wir über seine Gebote nachdenken, die große Hofnung, daß Er uns zu sich erheben will: Das ist das wahre Gebet, dessen Segnungen reichlich zu genießen ich uns Allen von Herzen wünsche.

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III. Einige Empfindungen des sterbenden Jesu, die auch wir uns für unsere letzten Augenblikke wünschen sollen. Am

Char£reitage.*)

Himmlischer Vater! Auf Alle, die sidi heute versammeln zur Todtenfeier des Heiligen, an dem Du Wohlgefallen hattest, sieh gnädig herab! Daß Keiner von dem Kreuze Deines Lieblinges sich entferne, ohne mit neuem lebendigem Glauben auszurufen, Warlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!96 Daß Keinem die Thräne der Rührung vertrokkne, bis er ergriffen ist von dem innigen Wunsche, sein Ende möge sein wie dieses Gerechten! 87 Die Empfindung einer heiligen Ehrfurcht | und Bewunderung, die einen Jeden ergreifen muß beim Andenken an den sterbenden Christus, o laß sie nicht unfruchtbar in diesen Mauern zurükkbleiben, laß sie uns Alle ins Leben hinaus begleiten, damit es Dir immer mehr geheiligt und dem seinigen ähnlicher werde, bis wir endlich auch im getrosten Hingange zu Dir ihm nachfolgen, Amen.

Ein wehmüthiges und gerührtes Herz, meine Brüder, seze ich bei uns Allen voraus in dieser Stunde, und an dieses allein will ich mich wenden. Laßt uns, ich bitte Euch, wenigstens jezt alle die besondern Vorstellungen bei Seite sezen, die ein Jeder von gewissen eigenthümlichen Wohlthaten und Segnungen des Todes Jesu haben mag. Ich ehre sie alle, wenn sie in einem Herzen wohnen, welches ich ehre; und es wäre traurig, wenn der heiligste der Tage damit hingebracht würde, Fragen aufzuwerfen, Meinungen zu sichten, Untersuchungen anzustellen, wodurch die Gemüther nicht zum Guten bewegt, und oft * In der Hof- und Garnisonkirche zu Potsdam bei der Abendmahlsfeier, an welcher S. Maj. der König theilnahm, gehalten."8

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gar von einander entfernt werden, indem sich Verschiedenheiten aufdecken, die doch immer Statt finden müssen9®. Nein, zu solchen Betrachtungen wollen wir uns vereinigen, die für uns Alle von gleicher Wichtigkeit und von gleichem Segen sein können, so gewiß als wir in Christo Alle den Anfänger unsers Glaubens verehren100, als sein Tod uns Allen ein Tod der Liebe und des Gehorsams ist, als wir Alle uns sein Leben bis an den Tod zum Vorbilde sezen, dem | wir nadifolgen wollen. Ja, sein Leben bis an den Tod, audi das Lezte nicht ausgeschlossen, was in seiner heiligen Seele vorging. Ob wir wie Er bis zum lezten Schlage des Herzens den vollen Gebrauch aller Kräfte unseres Geistes behalten werden, das ist etwas, worüber wir keinen Entschluß fassen können, es ist eine besondere Gnade Gottes, die von den Umständen abhängt, unter denen er das Ende unseres Lebens herbeiführt. Aber der lezte Schlag des Herzens ist auch nicht das Ende des Lebens, sondern dieses hört auf mit dem lezten Gedanken und Gefühl, das unser Geist in Verbindung mit seinem Körper hervorbringt, mit dem lezten Blikk, in welchem uns noch die umgebende Welt erscheint, mit dem lezten Bewußtsein unserer irdischen Verhältnisse; und ob wir dann diese Verhältnisse eben so behandeln, diese Welt eben so ansehn und über das vergangene Leben eben so denken werden, das kann lediglich die Frucht sein von einem eben so geführten Leben, und einem eben so gefaßten Gemüth. Darum laßt uns sterben lernen, indem wir Christum sterben sehen! Es ist nichts Geringes, was ich Euch zumuthe, indem ich Eudi hiezu auffordere; denn es ist mit dem Tode des Erlösers, wie es mit seinem Leben war: wer Glükk und Freude sucht, der fliehe nur die Aehnlichkeit mit Ihm; nur der suche sie, der um jeden Preis das Große und das Vollendete begehrt. Ein leichteres Ende, ein sanfteres Hinüberschlummern mag es leicht geben, als des Erlösers; aber keines das erhabener, | keines das eines frommen und tugendhaften Herzens würdiger wäre. Wer ein soldies begehrt, der sehe jezt mit mir auf die Vollendung des Heiligen Gottes.

Text. Marc. 1 j , 34—41. Und um die neunte Stunde rief Jesus laut und sprach: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen. Und etliche, die dabei stunden, da sie das hörten, sprachen sie: Siehe, er ruft den Elias. D a lief einer und füllete einen Schwamm mit Essig, und stekte ihn auf ein Rohr, und tränkte ihn, und spradi:

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III. Einige Empfindungen des sterbenden Jesu

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Halt, laß sehen, ob Elias komme und ihn herabnehme. Aber Jesus schrie laut und verschied. Und der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stükke von oben an bis unten aus. Der Hauptmann aber, der dabei stund, gegen ihm über, da er sah, daß er mit solchem Gesdirei verschied, sprach er: Warlidi, dieser ist Gottes Sohn gewesen. Und es waren auch Weiber da, die von ferne solches sdiaueten, unter welchen war Maria Magdalena und Maria Jakobi, und Joses Mutter und Salome.

Wenn idi uns wünsche zu sterben wie Christus, so will ich nicht auf diejenige Gemüthsverfassung hinweisen, die sich für einen Jeden, der den rechten Weg gewandelt ist, von selbst versteht. Daß nicht | Reue über ein verschwendetes Leben unser leztes zerknirschendes Gefühl sei; daß nicht allzuzärtliche Anhänglichkeit an die Freuden und Besizthümer dieser Welt den Abschied von derselben mehr als billig erschwere; daß kein banger Zweifel sich einmische in die kindlidie Ergebung gegen den, der uns in das Thal des Todes hineinführt: davon sei unter uns nicht die Rede. Es sind drei andere Umstände, auf welche ich als auf etwas sehr wünschenswerthes aufmerksam machen will, eben deshalb nemlich wünschenswerth, weil, um es Christo darin gleich zu thun, schon diejenige genaue und vollendete Aehnlichkeit mit Ihm erfordert wird, die unser Aller Ziel ist. Ich wünsche nemlich, daß wir Alle sterben mögen, E r s t l i c h mit demselben Schmerz über unvollendete Thaten, z w e i t e n s mit derselben Ruhe bei den ungleichen Urtheilen der Welt, und d r i t t e n s eben so umgeben von zärtlichen und treuen Freunden. Auf diese Umstände richtet jezt eure andächtige Aufmerksamkeit. I. Möchten wir Alle sterben mit demselben Schmerz über unvollendete Thaten, der sidi in dem traurigen Seufzer des Erlösers: mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen, so deutlich offenbaret 101 . Oder meint Ihr, das körperliche Leiden habe Ihm diesen Ausruf abgepreßt? Wie schwer auch das Gewicht desselben gewesen sein mag, wem es noch zu solchen Aeußerungen des Wohlwollens der Sorge und Theilnahme Kraft übrig ließ, wie Christus von seinem Kreuze herab von sich gab, dem konnte | es auch den so oft behaupteten Grundsaz nicht verdunkeln, daß Leiden eben so wenig ein Zeichen von dem Mißfallen des Höchsten sein könne, als Glükk ein Unterpfand seiner Gunst ist. Oder hing etwa Jesus an den Freuden des Lebens, daß die Nothwendigkeit, es so jung verlassen zu müssen, ihn niederbeugte? Oder war etwa seine Einbildungskraft auch angefüllt mit Vorstellungen von künftiger weltlicher Größe, daß er ge-

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kränkt gewesen wäre, diese nicht erreichen zu können? Aber seinen Beruf liebte er mit ganzem Gemüth; der Gedanke an das große Geschäft, dem er sein Leben gewidmet hatte, erfüllte auch jezt noch seine Seele. Wenn er nun überlegte, wie weit dieses noch von der Vollendung entfernt war; wie eigentlich noch keiner von seinen Jüngern seine Gesinnung rein aufgefaßt und seinen Entwurf durchschaut hatte, wie wenig sie auf Alles gefaßt waren, was jezt über sie hereinbrechen mußte, und wie leicht das Band, welches sie zusammenhielt, sich lösen konnte: dürften wir uns wohl wundern, wenn er gefragt hätte, mein Gott, mein Gott, warum hast D u Deine schüzende H a n d abgezogen von diesem Unternehmen? Aber so fragt er nicht; er wußte wie genau der Faden seiner Entwürfe in den Plan der Vorsehung verwebt war; er wünscht nur, daß ihm selbst bestimmt gewesen wäre, die große Angelegenheit noch weiter zu fördern, er fragt nur aus der Tiefe eines Herzens, das des Guten nicht genug thun kann, warum doch der Ewige Ihn nun dahin gehen lasse, um ohne seine Hülfe das große Werk fortzuführen; er | sah so deutlich, was er noch würde zu Stande gebracht haben, und der Höchste vergönnte ihm nicht, es zu thun. Eben diesen Wunsch und diesen Schmerz wünsche ich uns Allen in der lezten Stunde unseres Lebens. Es bedarf dazu nicht, daß wir wie Christus mitten in der Blüthe der Jahre aus einem großen Werk herausgerissen werden, es kann ein Jeder so fühlen, in welcher Lage er sich auch befinde. Seid Ihr Diener des Staats, Vorsteher gesellschaftlicher Einrichtungen: möchte es Euch schmerzen, daß Ihr nicht noch diesen Mißbrauch abstellen, und jene Verbesserung einführen könnt! Seid Ihr unabhängig und begütert: möchte es Euch schmerzen, daß Ihr nicht noch eine wohlthätige Anstalt in Gang bringen, oder dies und jenes thun könnt für die Unglükklichen, welche Ihr beschüzt! Seid Ihr Gelehrte und Weise: möchtet Ihr ungern eine lehrreiche Darstellung eurer Gedanken unterbrechen, oder Euch von einem neuen Felde der menschlichen Erkenntniß entfernen! Seid Ihr Künstler und Arbeiter: möchte es Euch weh thun, daß Ihr nicht noch einer Arbeit wenigstens die neue Vollkommenheit, die Ihr ausgedacht oder eingeübt habt, mitgeben sollt! Ihr Jünglinge, möchtet Ihr Euch sehnen die Grundsäze der Tugend und der Religion, die Euch theuer sind, auch nur eine kurze Zeit lang im eignen häuslichen Leben auszuüben und darzustellen! Ihr Männer, möchte es Euch das Herz brechen, nicht die | Erziehung Eurer Kinder vollenden, nicht die Jugend, die sich vertrauensvoll an Euch anschloß, noch weiter bringen

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zu können! Ihr Greise, möchte es Euch schmerzen nicht noch länger Euer wohlerworbenes Ansehn zum Besten eurer späten Nachkommen benuzen, und mit dem Rath eurer gereiften Weisheit, was um Euch her Gutes unternommen wird, unterstüzen zu können! Indem ich Euch dieses wünsche, meine Brüder, wünsche ich in der That nur, daß Ihr nie aufhören möget, Euren Beruf zu lieben und ihm euer ganzes Nachdenken, eure ganze Kraft zu widmen. Könnte es bei einer solchen Gesinnung im menschlichen Leben jemals einen Punkt geben, wo unsere Rechnung abgeschlossen und kein Geschäft im Gange wäre; ich wollte, um Euch jenen Schmerz zu sparen, gern wünschen, daß Ihr Alle in diesem Zeitpunkt sterben möchtet, ehe eine neue Reihe von Thätigkeiten anfange, die Ihr nicht mehr vollenden könntet: aber einen solchen Ruhepunkt werdet Ihr nicht finden. Es giebt keine Ruhe und keinen Stillstand in einem Pflicht und Beruf liebenden Gemüth. Jede Veränderung, welche der Lauf der Natur und der menschlichen Dinge mit sich bringt, bringt auch neue Aufgaben und neue Pflichten mit; indem Ihr beschäftigt seid Einem Verhältniß zu genügen, hat sich schon ein Anderes entsponnen. Und wäre auch das nicht, so bringt schon der gegenseitige Einfluß des Handelns und Ueberlegens eine unaufhaltsame Bewegung und immer neue Wünsche und Bestrebungen hervor. Jede Handlung erweitert und berichti | get unsere Einsichten über den Gegenstand, und jede verbesserte Einsicht treibt uns sie sogleich anzuwenden. Mitten in der Arbeit, in der unvollendeten Arbeit findet also der Tod einen Jeden, der das Leben recht gebraucht; und von dem schmerzlichen Gefühl, welches hieraus entsteht, kann nur der frei sein, der feigherzig vor seinen Pflichten flieht, und sich in müßigen Schatten verbirgt, wenn die Stimme des Berufs an ihn ergeht — ein solcher mag lebenssatt sterben, denn er hat den schönsten Reiz des Lebens nicht gekannt. Oder der Knechtischgesinnte, der sich mit einem leeren Scheine der Tugend begnügt, und kein höheres Ziel kennt, als nur dieses, nichts Strafbares gethan zu haben, — der mag, wenn anders seine Täuschung so lange anhält, auch den Tod gefühllos hinnehmen: denn die Zukunft, die ihm geraubt wird, hat ihn nicht durch den Reiz neuer Verdienste und Vollkommenheiten gelokkt, sondern ihm nur furchtbare Kämpfe mit neuen Versuchungen gezeigt. Aber, könnte Jemand sagen, eben so bleibt auch dem Sinnlichen und Irdischgesinnten, den eine Begierde zur andern treibt, immer noch ein ungestilltes Sehnen nach irgend einem Genuß: sind wir denn mit unserm Schmerz noch im Geringsten besser daran als dieser? Ob

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wir es sind! Wir können, was Jener nicht kann, Gott fragen, warum er uns diesem Schmerz dahingiebt, und er wird uns antworten. Audi Christus starb nicht mit dieser wehmüthigen Frage. Was daran von dem unschuldigen | Wunsche herrührt, daß das Gute gerade durch uns geschehen möge, das wird sich verlieren in den Gedanken, daß seine Gnade uns genügen müsse102; was Eifer ist für die Sache Gottes, das wird sich verwandeln in kindliches Vertrauen zu dem, der auch ohne uns Mittel und Wege zu seinem Ziele finden wird. Eine göttliche Ruhe löset also jenen Schmerz auf. Haben wir wirklich nur das Gute im Sinn: so befehlen wir Gott, indem wir ihm unsern Geist befehlen, getrost auch unsere Werke und unsere Entschlüsse; und was auch unvollendet geblieben sei, wir werden dennoch mit Recht sagen können: es ist vollbracht103. II. Möchten wir ferner Alle sterben mit ungetrübter Ruhe bei allen unbilligen und unvernünftigen Urtheilen, bei dem lieblosesten und feindseligsten Betragen der Menschen. So finden wir Christum. Mit dem unwürdigsten Spotte weideten sich seine Widersacher an den Qualen seiner lezten Augenblikke, und mißdeuteten aus Bosheit oder Unverstand seine klaren Worte, um sie belachen zu können; dennoch entfuhr Ihm auch nicht das leiseste Zeichen des Mißmuthes. Vielleicht scheint jene Begegnung der Menschen gerade das Bitterste in dem Leidenskelche dessen, der sich so große Verdienste um sie erworben hatte; aber ich muß dennoch sagen, auch dies ist ein Leiden, welches wir, so lange die Dinge in der Welt sich so verhalten wie jezt, ebenfalls, wenn gleich in einem geringem Maaße, werden zu ertragen haben, und wobei uns, wie es uns auch treffe, die Fassung des | Erlösers willkommen und wünschenswerth sein muß. Unvernünftige Urtheile sind etwas, was wir unvermeidlich über uns müssen ergehen lassen. Keiner steht so hoch, keiner so niedrig, den sie nicht erreichten. Und eine wahrhaft christliche und rechtschaffene Gesinnung — warum sollen wir uns das verhelen? — ist überall etwas so seltnes, daß die Menschen zu wenig Gelegenheit haben, sie recht zu beobachten um sie entdekken und unterscheiden zu lernen. Warum sollen sie also gerade das Unbekannte und Seltene voraus sezen, um das Betragen der Menschen daraus zu erklären? Sie begnügen sich lieber mit dem Unwahrscheinlichsten, sie denken sich lieber auf eine künstliche Art das Widersinnige aus. Ueberdies ist es gar nicht schwer, jede einzelne Aeußerung dieses christlichen Sinnes aus einem andern Grunde abzuleiten. Kommt dabei zufälligerweise etwas heraus, was einer von den gewöhnlichen Neigungen der Menschen angemessen

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ist: so ist die Erklärung bereit. Konnte nicht leicht eine solche Befriedigung dabei gesucht oder beabsichtiget werden: so war es die Eitelkeit, die sonderbar scheinen, die Heuchelei, die mit Tugend und Uneigennüzigkeit prahlen will, oder es lag irgend eine verborgene Absicht dabei zum Grunde, die auch der Scharfsinn eines Spähers bald entdekkt. Widerspricht dann eine Handlung, so erklärt, der anderen: so werden die Voraussezungen nur dreister, und der Spott ergießt sich muthwilliger über einen so zusammenhängenden Menschen. Er treibt die Teufel aus durch den Obersten der Teufel 104 , das ist so die Art, | wie die wahren Verehrer Gottes und seines Gesezes in den schwierigsten Fällen, wo sie am größten und edelsten gehandelt haben, von dem großen Haufen der Menschen beurtheilt werden. Ehe glauben sie, daß wir aus Haß wohlthun, daß wir aus Eigennuz die Güter der Erde gering achten, daß wir aus Ruhmsucht uns dem Gelächter der Welt aussezen105, ehe Alles, als daß sie etwas einer wahren und ungefärbten Tugend106 zuschreiben sollten. Müssen wir das während unseres Lebens reichlich genug erfahren: so wird es in den lezten Stunden desselben um so sicherer der Fall sein, je mehr unsern Wünschen angemessenes sich bei unserm Austritt aus dieser Welt vereinigt. Bleiben wir bis ans Ende rüstig und thätig in der Gesellschaft: so wird es auch ein Gegenstand der Aufmerksamkeit für Viele sein, wie wir denn abtreten vom Schauplaz. Sind wir bis ans Ende der Mittelpunkt eines kleinen Kreises geliebter und gleichgesinnter Seelen gewesen, bei denen unsere Gedanken, unsere Rathschläge, der Ausdrukk unserer Gesinnungen immer etwas galten: so werden auch Anderer Augen neugierig auf das Lager unseres Todes gerichtet sein. Und haben wir alsdann noch Kraft unser Inneres zu äußern, dann zeigt sich in diesen Stunden Alles, was sie nicht verstehen und nicht vereinigen können, recht nahe zusammengedrängt. Die fortdauernde Anhänglichkeit an die geliebten und mit Eifer betriebenen Geschäfte des Lebens, und die Freude, womit wir dem, was uns im bessern Reiche Christi bereitet ist, entgegen [ gehen; die Ruhe, mit der wir bereit sein werden, uns von Allem zu trennen, was nur zu unsern Umgebungen in dieser Welt, zu den Eigenthümlichkeiten des irdischen Zustandes gehört; die Ruhe, mit der wir selbst unsere Kräfte schwinden, unsere Sinne uns verlassen, und unsere Glieder unter der ersten Berührung der kalten Hand des Todes werden erstarren sehen, und dabei doch die fortgesezte lebhafte Theilnahme an Allem, was das Wohl unserer Freunde und Angehörigen, das Heil des Vaterlandes, die Ruhe der Gesellschaft, die Ausbreitung der Wahr-

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heit und den ungehinderten Fortgang des Guten in der Welt angeht, dies Alles zusammen, wie kann es ihnen anders als unbegreiflich sein? Dann werden sie, um nicht die Größe der Seele, wie sie es nennen, bewundern zu müssen, tadelsüchtig jede Schwachheit, vielleicht aus alter Zeit, sich ins Gedächtniß rufen, oder wenn ihnen das nicht zu Gebote steht, sich, wie sie es Christo machten, an Worte und Handlungen erinnern, die ganz denselben Geist athmeten, aber über welche sie schon lange ein verkehrtes, verdammendes Urtheil ausgesprochen haben; dann werden sie auch in den lezten Aeußerungen eines frommen, das Gesez Gottes ehrenden Herzens, den alten Stolz wieder finden, der ihnen längst ein Greuel war, die Schwärmerei, die sie längst verachteten, die Parteisucht, die sie immer gehaßt haben, die Scheinheiligkeit, die sie schon oft aufdekken mußten. Wehe uns, wenn dann diejenigen, welche uns lieben, sorgfältig die lezten harten und falschen Urtheile, die über uns | gefällt werden, vor uns verbergen müßten, um uns nicht auf eine schmerzhafte Art aus dem süßen Traume zu wekken, als ob die Menschen die wahre Gottseligkeit und die sittliche Stimmung des Gemüthes wenigstens kennen, und ehren, wenn sie auch selbst keinen Theil daran haben! wehe uns, wenn man uns dann noch hintergehen müßte über die Meinung der Menschen, damit nicht eine bittere Empfindung unsere lezten Stunden trübe! Es wäre ein Zeichen, daß wir die Menschen niemals erkannt haben, daß wir als Unschuldige aber auch sehr Unwissende zwischen ihnen hindurchgegangen sind, daß wir immer noch fortfahren würden, uns an ihnen zu irren, wenn uns längeres Leben beschieden wäre. Mit großem Recht also wünsche ich Allen für diesen Fall die Ruhe und die Gleichmüthigkeit des Erlösers, denn sie ist die Folge der reifsten Weisheit und der ächtesten Frömmigkeit. Wem selbst in den lezten Augenblikken die Blindheit, die in Lästerung und Verläumdung ausartet, wenn er sie wahrnehmen könnte, nicht das Herz zerreißen würde, der kennt seit lange her die thörichte Weisheit und das tiefe Verderben der Menschen. Wer auch dann nicht verleitet wird, das Gute, welches er ihnen erwiesen hat, unmuthig zu bereuen, der hat gewiß bei allen seinen Thaten nicht Menschengunst, nicht Lob, nicht Dankbarkeit im Auge gehabt, sondern allein den Willen des Höchsten. Wer auch dann noch Wohlwollen genug übrig behält, um zu sagen, Vater vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun107, dessen Liebe ist von der reinsten und göttlichsten Art. | III. Möchten wir Alle sterben, eben so umgeben von liebenden und leidenden Freunden, wie der Erlöser108. D a stand seine zärt-

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liehe Mutter und der Jünger, welchen er liebte, und zwischen beiden stiftete er noch einen innigen Bund der Sorgfalt und der Treue; da standen die Frauen, welche Ihm nachgefolgt waren, und gewiß noch Manche von seinen uns nicht so bekannten Verehrern. Welch ein Trost muß es Ihm gewesen sein, daß er noch auf Alle wohlthätig wirken konnte, und ihren Glauben und ihre Gesinnungen stärken durch Alles was sich an Ihm hohes und göttliches offenbarte. Aber auch schon ihre Treue und ihre Gegenwart muß Ihm die Leiden des Todes versüßt und sein Herz mit beruhigenden Gefühlen angefüllt haben. Wenn der Schmerz über die Unterbrechung seines Werks Ihm das Zeugniß gab, daß er seinen Posten würdig behauptet hatte; wenn Ihm seine Gleichmüthigkeit beim Spott seiner Feinde ein Beweis sein konnte, wie ädit und vollkommen seine Weisheit war: so war diese gegenseitige bis zum Tode ausharrende Liebe und Treue das beste Zeugniß, daß Er mit seinem liebevollen Herzen das höchste Glükk des Lebens in seinem ganzen Umfange genossen hatte. Und eben darum wünsche ich uns vor allen Dingen mit einer solchen Umgebung zu sterben, ja ich fordere es, soviel an uns ist, von einem Jeden. Sagt nicht, das hänge nicht von Euch ab, sondern von der freien Gnade Gottes, ob nicht schon vor Eurem Tode Euch die schönsten Bande der Natur aufgelöst sein werden, ob nicht Mancher unter Euch viel | leicht als der lezte übrig bleibt von Allen, die ihm angehören, ob nicht Viele unter Euch der Tod in einer weiten Entfernung von Eltern und Kindern, von Geschwistern und Verwandten antreffen wird. Ich bitte Euch, so ehrwürdig und beseligend auch diese Zuneigungen sind, welche die Natur selbst gestiftet hat, denket jezt nicht allein an sie. Es ist der Ordnung gemäß, daß der Tod hier schon manche Lükke gemacht hat, ehe er uns selbst von unserer Stelle hinwegreißt: aber, wenn auch Alle, welche uns durch die Bande des Blutes verwandt sind, um unser Sterbelager versammelt wären, den Trost, welchen alsdann die Gegenwart der Freundschaft gewährt, würden wir dennoch nicht empfinden, wenn sie nicht zugleich die Vertrauten unserer Gesinnungen sind, und das Innerste unseres Herzens verstehen. Sehet da, diese sind mir Mutter und Brüder, sagte Christus einst, und zeigte auf die Freunde seiner Wahl 109 ; eben solche waren es auch größtentheils, welche jezt als trauernde Freunde um sein Kreuz herstanden, und an eben solchen soll es Keinem unter uns fehlen, so lange wir noch auf Erden leben. Zweifelt nicht, ob auch Ihr dieses Glükk erreichen könnt; es wäre kein ungünstiges Geschikk, sondern ein trauriges Zeichen, daß Ihr die höchste Aufgabe des Le-

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bens nicht richtig gelös't habet. So feindselig wird die Welt nicht regiert, daß irgend Einem, der es bedarf und verdient, ein Freund vorenthalten würde, dem sein Herz sich öfnen kann. Die Kraft der menschlichen Natur gleichgestimmte Gemüther an sich zu ziehn ist so groß, | daß, wenn Ihr nur über irgend etwas richtiger und tiefer denkt, irgend etwas inniger und eigenthümlicher empfindet, und dies in euren Handlungen ausdrükkt, sich diejenigen gewiß hinzufinden werden, welche gerade dieses zu schäzen wissen oder Euch darin ähnlich sind, und nur auf Euer Bedürfniß Liebe und Freundschaft zu genießen, wird es ankommen, ob eine feste und dauerhafte Vereinigung der Gemüther zu Stande kommt, nur auf eurem Willen beruht es, ob Ihr auch im Tode noch die eigentümlichen Tröstungen genießen werdet, welche die Gegenwart treuer Freunde mit sich bringt. Fürchtet nicht, wenn Ihr sie gefunden habt, daß die Veränderlichkeit des menschlichen Herzens sie Euch rauben werde, diese erstrekkt sich nicht bis in diejenige Tiefe, worin wahre Freundschaft ihre Wurzeln schlägt. Sehet auf Christum, er verlor Keinen von den Seinigen, als nur das verlorne Schaf, auf daß die Schrift erfüllt würde 110 und überzeugt Euch, daß es überall in wahrer Freundschaft keine Unbeständigkeit, keine Untreue geben könne. Fürchtet nicht, daß doch der Tod auch diese Euch Alle hinwegraffen könne, ehe das Ziel eures eignen Lebens erreicht ist; denn jene Kraft des menschlichen Gemüthes hört nie auf, und nie kann es ihr ganz an Gegenständen fehlen, auf weldie sie sich richten könnte. Freilich wird nie ein Freund, den Ihr verloren habt, ganz ersezt werden, jede spätere Verbindung wird sich anders gestalten, als die frühere: aber innig und herzlich kann sie doch sein, und dann gewährt sie auch das frohe Bewußtsein, daß Ihr um | Eurer selbst willen Liebe und Achtung genießt, und auf das Innerste einer menschlichen Seele mit der Eurigen wirkt. Am wenigsten aber, ich bitte Euch, fürchtet die Verwüstungen, welche die Zeit in eurem eignen Gemüth anrichten könnte. Glaubt nicht, daß im Besiz zärtlicher Freunde zu sterben, ein Vorzug derer sei, welche, wie Christus, noch in der Blüthe des Lebens abgerufen werden. Was man auch sage, es liegt gewiß nicht in der Natur der menschlichen Seele im Alter auch gegen diese Freuden stumpf zu werden, die alten Verbindungen kälter zu behandeln, und neue ungern anzuknüpfen. Habt Ihr sie nur jemals richtig geschäzt, so werdet Ihr auch immer nach ihnen verlangen, und nie, auch im spätesten Alter nicht, werdet Ihr einsam stehen in der Welt; ja wüßtet Ihr auch, daß der morgende Tag Euch hinwegnehmen wird, Ihr würdet dennoch, wenn Euch

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heute ein Gemüth zuerst begegnete, das Ihr mit herzlicher Liebe umfassen könnt, Euch noch sehnen, seine Liebe zu gewinnen, und es mit Zärtlichkeit an Euch ziehn. Aber Ihr werdet sagen, wenn es auch möglich und wünschenswerth ist Freunde zu haben bis ans Ende des Lebens, sollten wir sie nicht wenigstens alsdann lieber von uns entfernen, als um uns her versammeln? Warum die bittern Empfindungen des Todes noch dadurch vermehren, daß wir mit Wehmuth und Sorge auf den Schmerz unserer Freunde sehen, und auf die bedenklichen Umstände, 1 in denen wir vielleicht einen und den andern zurükklassen? warum sollen wir uns gegenseitig durch Alles, was die Gegenwart lebhaftes hat, recht anschaulich machen, wie großen Verlust wir erleiden? Wir sehen Christus hat nicht so gedacht, er vertrieb seine Mutter und seinen Freund nicht von seinem Kreuze, sondern ließ sie gern Zeugen seines Todes sein. Dasselbe fordert auch von uns eine heilige Pflicht. Die schönste Wirksamkeit des Menschen sollen wir durch eigne Schuld auch nicht um einen Augenblikk zu früh abbrechen. Wir wissen nicht, was für wohlthätige Folgen die lezten Ergießungen der Liebe noch haben können; und wenn wir den Unsrigen nur zeigen, wie hoch noch im Tode die Kraft der Religion111 und der wahren Weisheit den Menschen erhebt: so wird es ein gesegneter Eindrukk sein. Aber auch um unserer selbst willen wünsche ich uns eben jenen Schmerz und jene Wehmuth: denn um diese Empfindungen nicht zu scheuen, muß uns eine gewisse Tapferkeit beseelen, die auf das ganze Leben des Menschen den wichtigsten Einfluß hat, und auch seinem Ende etwas Großes und Erhabenes giebt. Feigherzig und undankbar ist es, den lezten Genuß irgend eines Gutes sich deshalb zu versagen, weil wir daran denken müssen, daß es der lezte ist: denn dies führt dahin, alle Gaben Gottes von uns zu werfen, und schon frühzeitig unser Leben Alles Angenehmen zu berauben. Entsteht nicht das Gefühl der Vergänglichkeit aller irdischen Dinge noch in der frohen Jugend? Ueberfällt uns nicht oft unwillkührlich der Gedanke, daß | jede Freude die lezte sein kann, und sollen wir ihn nicht absichtlich oft festhalten und ins Auge fassen? aber stören und mißmuthig machen soll er ein tapferes Gemüth im lezten Augenblikk eben so wenig, als mitten in der Hofnung eines langen Lebens. Es ist unedel, jemals einen Schmerz zu scheuen, den nur die vortreflichsten Anlagen unseres Geistes möglich machen; mit einer so feigherzigen Gesinnung müßten wir das Beste in uns von Anfang an vernachlässigen, weil wir diesem Schmerz sonst immer ausgesezt sind: aber ein tapferes Gemüth wird sich noch

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im lezten Augenblikk durch das Bewußtsein, diese Anlagen gehabt und in sich ausgebildet zu haben, mehr gestärkt und erhaben fühlen, als auch der tiefste Schmerz es erschüttern und entkräften kann. Nach diesen reinsten Freuden des Lebens laßt uns also streben bis an den lezten Augenblikk! laßt uns jedes Band der Liebe und des Wohlwollens fest anziehn, und am festesten nicht etwa diejenigen, welche uns das lebhafteste Vergnügen gewähren, sondern das, welches durch wahre Vereinigung des Geistes das Höchste und Edelste in uns stärker und vollkommener machen soll. Wer könnte hiebei nicht an die Vereinigung denken, die ein Theil von uns jezt am Tisch des Herrn erneuern will, an den Bund der Bruderliebe und der treuen Nachfolge Jesu! J e mehr es uns werth ist, Mitglieder desselben zu sein, und je würdigere wir sind, desto gewisser werden wir in Allem, was wir jezt erwogen haben, Christo auch | bei unserm Tode ähnlich werden. Wir wissen, wie überall, wo Mehrere sich zu gleichem Endzwekke vereinigen, Lust und Eifer eines Jeden sich mehrt. Nehmen wir es also ernstlich mit der Gemeinschaft, in der wir mit Allen stehen, denen gleich uns die Förderung des großen Werkes Christi übertragen ist, auf denen gleich uns sein Geist ruht: wieviel mehr Veranlassung giebt uns das nicht zu allerlei Gutem! wieviel munterer können wir nicht das unternehmen, was auf unserm eigenen Wege liegt! wieviel Beruf finden wir nicht manches zu unterstüzen, was Andere angefangen haben. O, niemand ist fleißiger in guten Werken, als die wahren und eifrigen Mitglieder dieses Bundes! sie findet der Tod gewiß in mannigfaltiger Thätigkeit, sie sehen gewiß mit trauriger Sehnsucht beim Abschiede von dieser Welt auf das schöne Vermächtniß angefangener Thaten! — Ihr versprecht jezt aufs neue nach der uns gemeinschaftlichen Regel des Glaubens einherzugehn, Ihr bekennt Euch zu derselben öffentlich und mit lauter Stimme und so werdet Ihr freilich, je mehr Aufrichtigkeit und Ernst man in dieser Handlung bemerkt, um so weniger dem Spott entgehen können, dem die Verehrer der Religion ausgesezt sind: aber der aufmunternde Beifall der Brüder wird Euch entschädigen für das frevelhafte Urtheil der Welt, das Vorbild so Vieler, die geduldig getragen haben, was um des Glaubens willen zu leiden ist, wird euren Muth stärken. Und welches soll denn die Pflanzschule aufrichtiger und treuer Freunde sein, wenn es | nicht die Gemeine Christi ist, die Gesellschaft von Menschen, denen Uneigennüzigkeit und Wohlwollen, Theilnahme und hülfreiche Liebe natürliche Gesinnungen sind, unter denen jede Weisheit und jede Vollkommenheit vorhanden und zum Dienste eines Jeden bereit sein

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soll? So erneuert denn mit aufrichtigen und andächtigen Herzen diesen schönen Bund, und wir Alle wollen wünschen, daß der Erlöser, der ihn gestiftet hat, mit Wohlgefallen auf Euch herabsehen, und daß sein Geist reichlich auf Euch ruhen möge.

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VII. Die Gerechtigkeit Gottes.112 Wir können nicht anders als menschlicher Weise von Gott denken und reden. Was uns unsere Vernunft als nothwendige Eigenschaften des unendlichen Wesens vorhält, das kann sie nur aus der Vergleichung mit unserm eignen Wesen hernehmen; was wir im Lauf der Welt von der Handlungsweise desselben zu entdekken glauben, das können wir mit keinen andern Worten ausdrükken, als womit wir auch menschliche Vortreflichkeit zu bezeichnen gewohnt sind; und eben so weiß auch die Schrift nicht anders als in Gleichnissen und Bildern von dem Ewigen zu uns zu reden. Wir bescheiden uns zwar in Demuth, daß auf diese Weise alle unsre Erkenntniß von Gott sehr beschränkt, sehr verhüllt, und in jeder Rükksicht unvollkommen sein muß; aber wenn wir es demohnerachtet als ein heiliges Vorrecht erhalten wollen, so gut wir eben können uns das ewige Wesen genauer und lebendiger vorzustellen, so liegt uns um so mehr die Pflicht ob, | allen Fleiß anzuwenden, daß diese Erkenntniß nicht durch unsere Sdiuld noch mehr als nöthig verdunkelt und verunreiniget werde, und wir also dieses Vorrecht von selbst durch Mißbrauch verlieren. Laßt uns wohl zusehen, daß wir nicht Alles, was menschliche Vortreflichkeit ist, auf Gott übertragen wollen, weil Vieles davon sich lediglich auf das Verhältniß der Menschen gegen einander bezieht, welches ein ganz anderes ist, als das, worin Gott gegen seine Geschöpfe steht. Laßt uns alle Vorsicht gebrauchen in dasjenige, was sich uns als Eigenschaft des höchsten Wesens aufdringt, nichts einzumischen was offenbar aus der menschlichen Unvollkommenheit entspringt, und aufs genaueste mit ihr zusammenhängt. Es ist leicht diese Vorschriften zu geben, aber es ist schwer sie anzuwenden, selbst mit allen Hülfsmitteln, die uns zu Gebote stehen; und die Fehler, welche wir hierin begehen, sind

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die Quelle grade der gefährlichsten Irrthümer in der Religion, derjenigen nemlich, welche unmittelbar auf die Art wie wir in der Welt vor Gott wandeln einen nachtheiligen Einfluß haben. Wie viel menschliches und unwürdiges findet sich nicht in den Vorstellungen der meisten Christen von der Liebe und Weisheit, von der Geduld und Versöhnlichkeit Gottes, von seinem Wohlgefallen am Guten und Mißfallen am Bösen! und welche traurige Folgen, weldie Verderbniß des Gemüths und des Lebens entsteht nicht daraus, sobald wir versäumen, die Richtigkeit und den Werth dieser Vorstellungen | an dem untrüglichen Maaßstabe unseres Gewissens abzumessen! Hüten wir uns aber auch vor Folgen dieser Art, so bleibt es immer übel genug, wenn doch aus unwahren Vorstellungen von Gott eine unrichtige Ansicht der Welt sich bildet, eine irrige Vorstellung von der Art, wie Alles in derselben zusammengefügt und verbunden ist, und das wenigstens ist unvermeidlich. Gott und die Welt, seine Eigenschaften und seine Wege und Führungen, das sind Gedanken, die unmittelbar zusammen gehören, die sich unter einander entweder aufhellen und berichtigen, oder verwirren und verdunkeln113. In dieser Rükksicht will ich heute zu Euch von der göttlichen Gerechtigkeit reden. Dies ist ein Wort, welches in Jedermanns Munde ist, es enthält eine Forderung, die ganz allgemein an das höchste Wesen gemacht wird; so wie wir es uns als die Liebe denken, so soll es auch die Gerechtigkeit sein, und beides wollen wir aufs innigste in ihm vereiniget finden. Aber wie vieles läßt sich nun, wenn wir uns vor Irrthümern hüten wollen, von unsern Vorstellungen von Gerechtigkeit, wie sie sich im gesellschaftlichen Leben unter Menschen gebildet haben, auf Gott anwenden? Denken wir an die gewöhnlichsten Verhältnisse der Menschen unter einander: so erinnert es uns an Forderungen, welche gemacht werden, an bestimmte Pflichten, von denen uns nichts entbinden kann, und in Hinsicht auf welche wir das Urtheil Anderer anerkennen | müssen; es erinnert an eine gewisse Abstufung in unsern Verbindlichkeiten, daß man eher die einen erfüllen soll als die andern. Dies Alles läßt sich, wie Ihr leicht seht, auf Gott nicht anwenden. Was hätten wir von ihm zu fordern, die wir Geschöpfe seiner Hand sind? wie könnten wir Richter sein wollen über sein Thun? wie könnten wir irgend einen Unterschied von dieser Art machen da, wo Alles Wohlthat und Gnade ist? Stellen wir uns auf einen andern Punkt, in sofern ein Mensch über den andern richten darf, und einen Theil seines Geschikks in der Hand hat, so wie Gott über uns richtet, und Alles, was uns begegnet, aus seiner Hand kommt:

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so finden wir es gerecht, das Angenehme und Ehrenvolle den Menschen in demselben Verhältniß zuzutheilen, als sie das Gute vollbracht haben, und dagegen dem Uebelthäter unsere hülfreiche Liebe zu entziehen, und ihn mancherlei Unannehmlichkeiten auszusezen. Aber diese strafende Gerechtigkeit beruht ebenfalls auf einer gewissen Unvollkommenheit in unserer Art das menschliche Gemüth zu erkennen und auf dasselbe zu wirken, und wir müssen uns wohl vorsehen, daß in der Behauptung, Gott müsse seiner Natur nach auf eben die Art als wir das Gute belohnen und das Böse bestrafen, nicht etwa eine sehr verkehrte Anmaaßung sich verberge. Kommt es nur darauf an, daß die fernem Ausbrüche des Bösen, welches im Menschen ist, verhindert werden sollen, wie denn menschliche Strafen solche Abschrekkungen sind, | so stehen ja der Allmacht dazu die verschiedensten Wege offen; und wenn schon unter Menschen die Strafen in demselben Maaße gemildert werden, als man dafür sorgt, daß das Böse nicht erst vollbracht werden könne, wie wollten wir denn beurtheilen können, auf welche Art die göttliche Weisheit diese Angelegenheit behandeln werde. Kommt es darauf an, daß das Böse selbst aus dem Menschen durch Züchtigung hinweggenommen und das Gute durch Ermunterung in ihm befestiget werden soll: so kann sich ja die Allwissenheit noch weniger als wir darüber täuschen, wie unrein das Gute ist, was in Hofnung auf Lohn geschieht, und wie wenig derjenige gebessert ist, der sich nur durch Furcht" 4 von dem Bösen entwöhnt hat. Nicht als ob ich uns die Hofnung auf eine glükklichere Ewigkeit schmälern, oder als ob ich läugnen wollte, daß Gott Heil und Unglükk als Besserungsmittel gebraucht. Offenbar thut er dieses: aber wir können die Art, wie er es thut, so wenig bestimmen, daß dies nicht mehr eine Forderung an seine Gerechtigkeit ist, sondern daß wir es zu den Geheimnissen seiner Weisheit zählen müssen. Was bleibt uns also für die Gerechtigkeit Gottes übrig? Dasselbe, was wir auch unter Menschen von einem Herrn, einem Oberen, einem Gesezgeber gegen seine Untergebenen als Gerechtigkeit fordern: daß er sie nemlich Alle nach einerlei Grundsäzen behandle, und Jeder sich zu ihm das Gleiche zu versehen habe; daß wo es auf die Vertheilung von Vortheilen und Lasten oder | auf irgend etwas ankommt, was von ihm allein und nicht von ihnen abhängt, alle ohne Vorliebe und Laune zu gleichen Rechten gehen, und sich gleicher Sorgfalt und Berükksichtigung ihrer Freiheit und ihres Wohlergehens zu erfreuen haben. In dieser Gleichheit des Betragens nun besteht auch die göttliche Gerechtigkeit; aber sie ist dem größten Theile der Menschen ver-

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borgen. Die anscheinende Ungleichheit der menschlichen Schikksale, in so fern sie gar nicht ein Werk unserer eigenen Handlungen sind, verhindert sie an der Wahrnehmung derselben; wenn sie auch die Weisheit, mit der jene Verschiedenheiten angeordnet werden, einigermaaßen ahnden: so dringen sie doch nicht bis zu der Gerechtigkeit, welche dabei zum Grunde liegt. Für diese in dem angegebenen Sinne unsern Blikk zu schärfen, darauf soll unsere heutige Betrachtung gerichtet sein.

Text. Luk. 16, 1 9 — 3 1 . Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich mit Purpur und köstlichem Leinwand, und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Thüre voller Schweren, und begehrte sich zu sättigen von den Brosamen, die von des Reichen Tisdie fielen. Doch kamen die Hunde und lekkten ihm seine Schweren. Es begab sich | aber, daß der Arme starb und ward getragen von den Engeln in Abrahams Sdiooß. Der Reiche aber starb auch und ward begraben. Als er nun in der Hölle und in der Quaal war, hub er seine Augen auf und sah Abraham von ferne, und Lazarum in seinem Sdiooß, rief und sprach: Vater Abraham erbarme dich mein, und sende Lazarum, daß er das Aeußerste seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge: denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach: Gedenke Sohn, daß Du Dein Gutes empfangen hast in Deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen. Nun aber wird er getröstet, und Du wirst gepeiniget. Und über das Alles ist zwischen uns und Euch eine große Kluft befestiget, daß, die da wollten von hinnen hinabfahren zu Euch, können nicht, und auch nicht von dannen zu uns herüberfahren. Da sprach er: So bitte ich Dich Vater, daß Du ihn sendest in meines Vaters Haus: denn ich habe noch fünf Brüder, daß er ihnen bezeuge, auf daß sie nicht auch kommen an diesen Ort der Quaal. Abraham sprach zu ihm: sie haben Mosen und die Propheten, laß sie dieselbigen hören. Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern so Jemand von den Todten zu ihnen ginge, so würden sie | Buße thun. Er aber sprach: Hören sie Mosen und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, ob Jemand von den Todten auferstände. Diese Lehrgeschichte ist recht dazu gemacht, eine Betrachtung, wie die, welche wir angefangen haben, weiter zu führen. So wie alle Vorträge Christi von dieser A r t ist sie mitten aus dem Leben genommen, und stekkt mit wenigen treffenden Zügen unserm Nachdenken ein weites Feld aus. In den Schikksalen zweier Menschen legt sie uns Alles vor Augen, was in dem Laufe der Welt sich auf die göttliche Gerech-

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tigkeit bezieht: wir sehen e r s t l i c h d i e g r ö ß t e U n g l e i c h h e i t in A b s i c h t a u f ä u ß e r e s G l ü k k u n d Wohls t a n d , welche so oft den Menschen auf dem Schauplaz dieser Welt jene Eigenschaft des Höchsten verhüllt; wir sehen z w e i t e n s das verschiedene Schikksal der Menschen in d e m k ü n f t i g e n Z u s t a n d e , welches ein so wichtiger Gegenstand des Nachdenkens über dieselbe ist; wir werden d r i t t e n s auf d i e A n s p r ü c h e aufmerksam gemacht, welche die Menschen in A b s i c h t auf die V e r t h e i l u n g der nöthigen Hülfsmittel und Anleitungen zur Besserung an die Gerechtigkeit Gottes zu machen pflegen. Laßt uns sehen, wie überall auch dem Scheine der größten Ungleichheit die untadelhafteste Partheilosigkeit und Gleichförmigkeit zum Grunde liegt, und wie also die göttliche Gerechtigkeit sich in | Allem, was uns wichtig sein kann, einem jeden aufrichtigen Herzen deutlich offenbaret. I. Ungleicher kann das äußere Schikksal zweier Menschen wohl nicht sein, als derer, welche in unserm Text geschildert werden, und doch finden wir es oftmals in der Welt buchstäblich eben so. Der Eine verbringt seine Tage in einem beständigen Wohlleben, unter allen Bequemlichkeiten und allem Glanz des äußerlichen Glükkes, umgeben von dienstbaren Geschöpfen und schmeichlerischen Freunden, taumelnd von einem Feste, von einer Ergözlichkeit zur andern. Dicht neben ihm seufzt ein Anderer unter dem harten Joch des Elendes, welches Jener kaum dem Namen nach kennen würde, wenn sich dieser nicht an seine Thüre gelagert hätte; die hülfloseste Dürftigkeit, und dabei noch ein siecher Körper, das ist Alles, was einen Menschen unglükklich machen kann. Der Reiche hatte noch fünf Brüder, die eben so lebten wie er, also waren es wohl nicht selbsterworbene Güter, welche seine Glükkseligkeit begründeten, sondern sie waren ihm zugefallen durch seine Geburt. Den Armen lernen wir als einen Gutgesinnten kennen, weil der Reiche sich gar nicht über den jenem zu Theil gewordenen Vorzug beschwert, und auch das Siechthum, welches ihm beigelegt wird, pflegt sehr oft nur die Folge einer dürftigen Lebensart zu sein. Keiner von beiden war selbst der Urheber dieser großen Verschiedenheit; sie rührte von demjenigen her, der die Schikksale der Menschen | regiert, und so scheint es als könne die entschiedene Begünstigung des Einen und die karge Ausstattung des Andern keinen Gedanken an eine gleichförmige Behandlung zulassen. Was ich zu sagen habe, um diesen Schein zu widerlegen, ist etwas sehr bekanntes, das aber, so einfach und klar es auch ist, von jeher

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nur Wenige überzeugt hat, weil Alle, deren Gemüth dieser Gegenstand allzulebhaft bewegt, die Sache nur durch den Nebel der Leidenschaft und des Vorurtheiles sehen. Haltet Ihr Wohlbeiinden und Freude für das eigentliche und höchste Ziel des Menschen: so bleibt mir wenig Hofnung, Euch mit der Gerechtigkeit Gottes in diesem Stükk auszusöhnen. Aber alsdann wählet Euch auch einen andern Anführer Eures Glaubens 115 als Christum, einen von den berühmten Helden der irdischen Glükkseligkeit; dann folget auch einer andern Lehre, als der, welche sich nicht scheut, so oft es die Gelegenheit mit sich bringt, jede Aufopferung zu verlangen. Seid Ihr aber Christen, welche über diese Sache gelassen nachdenken können: so bitte ich Euch zu untersuchen, ob denn der, welcher herrlich lebt, auch wirklich soviel Freude hat als es scheint, und der Arme soviel Pein? Gehet doch hinein in das Haus des Reichen, und betrachtet sein Leben in der Nähe; Sehet ihn gedrükkt von dem Zwange, dem das gesellschaftliche Leben um desto weniger entgehen kann, je höher wir hinaufsteigen; sehet ihn erliegen unter so vielen Anstalten zum Ver | gnügen, welche er umsonst trift, denn Zeit und Gewohnheit haben den schönsten Reiz desselben abgestumpft, und er erblikkt fast nichts mehr darin, als die einförmige Wiederholung derselben Handlung; sehet auch ihn voll Mißmuth über seine vergeblichen Bemühungen und voll eben so vergeblicher Wünsche. Leget Euch nun auch zu dem Unglükklichen vor seine Thüre, und sehet wie diesem eben dasjenige zu Statten kommt, was Jenen herabsezt. Zeit und Gewohnheit, das sind die treuen Freunde, welche die Last des Elendes größtentheils von seinen Schultern nehmen. Seht wie zum Verwundern wenig er zu leiden scheint von dem, was Euch, wenn es Euch in diesem Augenblikk überfiele, unerträglich sein würde; wie das Unglükk den Werth geringfügiger Freuden, welche dazwischen Plaz finden, vergrößert; und wie Manches, was Ihr und viele Andere übersehen, sich für ihn in einen wichtigen Beitrag zur Zufriedenheit verwandelt; sezt aus diesem Standort die Vergleichung fort, und gesteht, daß er an seiner niedrigen Stelle vielleicht oft ruhiger und wahrhaft heiterer gewesen ist, als die drinnen unter dem Getümmel des Festes. Und etwa vermöge einer besondern Weisheit, welche ihm beiwohnte? — Das werden die Beispiele dieser Art, welche Ihr selbst gesehen habt, nicht beweisen — sondern nur vermöge der Natur der Sache, und der allgemeinen Eigenschaften des menschlichen Gemüthes. Zeigen nun die äußersten Enden des menschlichen Schikksals schon eine soldie Gleichheit: so wird sie in der Mitte gewiß noch siehe | rer zu finden sein;

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und wir werden bekennen müssen, daß das Maaß des Angenehmen im menschlichen Leben, und sein Uebergewicht über das Unangenehme nicht von Armuth und Reichthum, von hohem und niedrigem Stande abhängt, sondern in allen diesen Fällen ziemlich gleich sein wird, wenn nicht die eigne Weisheit oder Thorheit des Menschen den Ausschlag giebt, und dies ist Alles, was wir bedürfen, um die göttliche Gerechtigkeit zu erblikken. — Doch indem ich zu Christen rede, sollte ich am wenigsten bei den bloß sinnlichen Vorzügen des Reichthums und des höhern Standes stehen bleiben; es giebt andere, die auf die höhere Glükkseligkeit des Menschen einen bedeutenden Einfluß zu haben scheinen. Der eine wird erzogen in milden und freundlichen Sitten, welche die Quelle vieler Ungelegenheiten verstopfen, und alles Unvollkommene, selbst die Ausbrüche seiner Leidenschaften, welche Andern so oft gefährlich werden, sanfter und unschädlicher machen; ihm stehen die Freuden eines gebildeten Verstandes und eines verfeinerten Geschmakks offen. Ein anderer entbehrt dies Alles, er ist zur Unwissenheit, zur schlichten Einfalt verdammt, und kann von seinem ganzen Wesen eine gewisse Rohheit nicht abschleifen. Aber gesteht nur, daß für jenen mit den Veranlassungen zur Freude auch die Ursachen des Schmerzes sich mehren, mit den Bequemlichkeiten auch die Bedürfnisse und Entbehrungen, mit den geistigen Genüssen auch die Verlezbarkeit und Empfindlichkeit des Gemüths; zu jeder neuen Thüre, welche der Freude geöfnet wird, | schleicht ganz unbemerkt auch die Klage, der Mißmuth und die Beschwerde herein, und lassen dem Besizer ihre schön verzierten aber nicht weniger unangenehmen Gaben zurükk. Je weniger Zurüstungen dagegen zur Glükkseligkeit gemacht werden, je einfacher und ungekünstelter die Freuden des Lebens sind, desto weniger Beschwerden werden auch empfunden, und desto leichter werden diese wenigen ertragen. So werdet Ihr es finden, wenn Ihr die Lebensweise der verschiedenen Stände in der Gesellschaft und der verschiedenen Völker auf Erden vergleicht; alle äußere Umstände können zwar auf die Art und Gestalt der menschlichen Zufriedenheit einen Einfluß haben, aber nicht auf den Grad derselben. Die äußern Umstände, das werden die meisten vielleicht nach einer unpartheiischen Ueberlegung zugeben: aber die innern Verhältnisse, die eigenthümliche Mischung der Seelenkräfte, und die natürliche Beschaffenheit des Gemüthes? Ich weiß nicht, wie Ihr hierin etwas bloß natürliches aussondern wollt von dem, was der Mensch sich selbst erworben hat oder erwerben kann: aber wie Ihr auch diese Frage bei Euch entscheidet, für das, was

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man Glükkseligkeit nennt, möchte bei jedem Tausch wenig zu gewinnen sein. Wolltet Ihr reizbarer, empfindlicher sein: Ihr würdet lebhaftere Vergnügungen genießen, aber Ihr würdet auch Schmerzen kennen lernen, von denen Ihr jezt keine Vorstellung habt. Wünscht Ihr kälter und gleichgültiger zu sein: Ihr würdet Euch manches Leiden ersparen, aber auch an der Summe eurer | Freuden verlieren. Alles ist gleich unter der Sonne 116 , so muß derjenige ausrufen, der das menschliche Leben von allen Seiten aufmerksam betrachtet hat, Alles ist gleich bis auf dasjenige, was der Mensch selbst hinzuthut oder davon nimmt. Giebt es Menschen, welchen nur die Laufbahn angenehm erscheint, in der sie selbst wandeln und Andere, welchen die ganze Welt glükklich zu sein scheint, nur sie und ihres Gleichen nicht, so werden beide von ihrer Kurzsichtigkeit hintergangen. Wer einem Andern seine natürliche Gemüthsbeschaffenheit beneiden kann, giebt zu erkennen, daß er entweder die seinige nicht zu beherrschen, oder die fremde nicht zu beurtheilen versteht. I I . Doch diese Ungleichheiten in Absicht auf das irdische Wohlergehen dürfen uns, wie gesagt, bei der Frage über die göttliche Gerechtigkeit gar nicht die Hauptsache sein. Theils sollen uns überhaupt vorübergehende und abwechselnde Empfindungen nicht das wichtigste sein, theils ist die ganze Reihe derselben um ihrer geringen Dauer willen etwas sehr unbedeutendes. Es begab sich, daß der Arme starb, der Reiche aber starb auch, und dieses gemeinschaftliche Ende ebnet alle Ungleichheiten in dieser Hinsicht. Der Tod, ob er etwas früher oder später erscheint, macht dem scheinbaren Elend und der beneideten Herrlichkeit ein Ende. Laßt uns nun nach Anleitung unserer Geschichte auf einen wichtigern Punkt kommen, auf einen | Punkt, wo die Gerechtigkeit Gottes zwar nicht ganz geläugnet, aber dafür von den meisten sehr unrichtig gewürdiget wird. Was stellt sich uns dann jenseits des Grabes dar? Der Erlöser macht uns auch hier in der Geschichte, welcher wir folgen, auf die größte Verschiedenheit aufmerksam. Der Arme ward von den Engeln getragen in Abrahams Schooß, er lebte in der seligen Gemeinschaft höherer Geister und frommer Menschen; der Reiche war an dem Orte der Quaal. Hier ist nicht von einer bloß scheinbaren Verschiedenheit die Rede, wobei dennoch, wenn man die Sache von der rechten Seite ansieht, die Veranlassungen zur Zufriedenheit und zum Mißmuth ziemlich gleich vertheilt sind: sondern der Eine befindet sich durch Veranstaltung Gottes in dem wirklichen Genuß einer Glükkseligkeit, die ihm nichts rauben kann; auf den Andern dringen Qualen und unangenehme Empfindungen

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ein, deren er sich nicht zu erwehren im Stande ist. Was für eine Erklärung wird uns denn von dieser Verschiedenheit gegeben? Gedenke Sohn, sprach Abraham zu dem Reichen, daß Du Gutes empfangen hast in Deinem Leben, Lazarus hingegen hat Böses empfangen. Nun aber wird er getröstet, und Du wirst gepeiniget. Sollen wir dies so verstehen, als ob derjenige, der in diesem Leben glükklich gewesen ist, eben deshalb erwarten müßte, künftig ins Elend gestürzt zu werden, und dagegen der göttliche Rathschluß denjenigen, der hier leiden mußte, eben deshalb in einen seligen Zustand erheben würde? Dies ist ein Gedanke, der noch | unter manchen Christen Raum findet, und den ich besonders bei denen angetroffen habe, auf deren Boden die Freude eben nicht häufig hervorwächst; sie trösten sich unter den Leiden des Lebens mit dem Gedanken an die künftige Seligkeit, und gleichsam triumphirend halten sie denen, gegen welche sie sich des Neides nicht erwehren können, den Tod und die gewisse Erwartung eines bevorstehenden Elendes entgegen. Dies heißt aber sehr unwürdig von der Gerechtigkeit Gottes denken. Wenn es mir gelungen ist, Euch anschaulich zu machen, wovon ich sehr lebhaft überzeugt bin, daß die Möglichkeit glükklich zu sein, und der Grad, in dem wir es werden können, für uns Alle gleich groß ist, und daß jeder, der den Andern hierin beträchtlich voraneilt, oder beträchtlich hinter ihnen zurükkbleibt, dieses der Anwendung seiner Kräfte zuzuschreiben hat: so werdet Ihr nicht auf den Gedanken gerathen können, daß Gott dem Einen seine Geschikklichkeit die Verhältnisse des Lebens zu benuzen mit unabwendbarem Elende vergelten, und dem Andern die Nachlässigkeit in seinen eignen Angelegenheiten durch überschwengliche Glükkseligkeit lohnen werde. Je größer die Vorstellungen sind, die wir uns von der künftigen Glükkseligkeit machen, eine desto größere Ungerechtigkeit würde in einer solchen Einrichtung liegen, und man kann doch warlich auch in dieser Hinsicht sagen, daß die Leiden dieser Zeit jener Herrlichkeit nicht werth sind117. Auch ist dergleichen weder in der Schrift gelehrt, noch kann es mit der Vernunft und dem Wohl | der menschlichen Gesellschaft bestehen; ein solcher Glaube müßte nothwendig die Ordnung der Welt umkehren, indem er einen Jeden antreiben würde, in diesem Leben sich selbst zu vernachlässigen, das Elend geflissentlich aufzusuchen, Vergnügen und Freude aber, wo sie ihm begegneten, als das größte Uebel zu vermeiden. Eben so wenig aber sind wir berechtigt, obgleich es der erste Gedanke der Meisten gewesen sein mag, den Zustand des Glükks und

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des Elendes, der uns hier geschildert wird, als den Lohn der Tugend und des Lasters anzusehen. Der Reiche wird uns gar nicht als ein unverbesserlicher Lasterhafter vorgestellt: denn wir finden noch Achtung gegen die Tugend bei ihm, und Theilnahme an dem Wohlergehen Anderer; dies sind Funken des Guten, die noch belebt werden können, und welche die göttliche Barmherzigkeit gewiß nicht ganz wird verlöschen lassen. Auch führt Abraham ihn niclit auf das Böse, welches er gethan hat, als auf die Ursache seines gegenwärtigen Zustandes hin, und so laßt uns hierüber nicht mehr wissen wollen, als der Erlöser selbst einem Manne von großem Rufe der Frömmigkeit, und der in den Wohnungen der Seligen sich befand, in den Mund legt. In der That sollten wir uns hüten einen ewigen und unaussprechlichen Lohn für die Tugend, die in diesem Leben geübt worden ist, und eine unendliche Strafe für Verirrungen und Laster als etwas anzusehen, was von der göttlichen Gerechtigkeit zu erwarten wäre. | Wo bliebe denn die gleiche Behandlung, welche das Wesen dieser Gerechtigkeit ausmacht? H a t nicht auch der Tugendhafte eine Zeit aufzuweisen, ehe er sich von ganzem Herzen zum Herrn bekehrte, eine Zeit, da er aller Verirrungen und Laster, zu denen die Umstände und seine besondere Gemüthsbeschaffenheit ihn hinführen konnten, eben so fähig war als der Böse"8? Besteht nicht der ganze Unterschied zwischen beiden nur darin, daß das ganze Leben des leztern nodi innerhalb jener Zeit lag, die glükklicherweise nur einen Theil von dem Leben des ersteren ausgefüllt hat? Wollt Ihr daraus, daß der lezte allerdings mehr Ermunterungen zum Guten, mehr Aufforderungen des Gewissens und des göttlichen Geistes vernachlässiget und eine größere Zeit des Lebens verschwendet hat, den Schluß ziehen, daß er überhaupt der Besserung unfähig ist? Und wenn Ihr anders selbst tugendhaft119 seid, wenn Ihr die Ausübung des Guten120 höher schäzt als den Genuß des Vergnügens, was werdet Ihr Euch wohl lieber aus der Hand des Höchsten erbitten, eine Glükkseligkeit, die nichts wäre als Belohnung und Genuß, oder eine solche Veranstaltung, welche Euch in den Stand sezte, dem Ziele der Vollkommenheit noch näher zu kommen, und Gott noch ähnlicher und wohlgefälliger zu werden? Und dies führt uns darauf, was wir eigentlich in Absicht auf jeden künftigen Zustand von der göttlichen Gereditigkeit zu erwarten haben, dieses nemlich, daß er dem höchsten Bedürfniß eines Jeden, es sei nun der Uebergang vom Bösen zum Guten, oder die fernere Annäherung | zur Vollkommenheit, werde angemessen sein. Ob nun dieses durch angenehme oder unangenehme Verhält-

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nisse werde zu erreichen sein, müssen wir zwar lediglich der höchsten Weisheit überlassen: doch können wir einsehen, wie die Güte Gottes, die einem Jeden das Beste gönnt, sich gegen denjenigen, der am meisten im Guten befestiget ist, auch am freigebigsten werde beweisen können. Wir können aus der Aehnlichkeit mit diesem Leben wohl schließen, daß Beraubungen des Angenehmen und Unfälle allerlei Art ein wirksames Mittel sein können, den Menschen zur Besinnung darüber zu bringen, wie das Glükk und das Vergnügen, dem er sein Gewissen aufgeopfert hat, doch nicht sicher zu erlangen sei, ihm die Größe dieses Opfers recht fühlbar zu machen, und ihn also zur Vernunft und zum Gehorsam gegen Gott zurükkzuführen. Wir können uns erklären, daß derjenige, der es zu einer gewissen Stärke im Guten gebracht hat, auch der mancherlei Uebel, welche dem Rechtschaffnen in diesem Leben als Versuchungen und Prüfungen zugetheilt werden, am ehesten werde entrathen können, und geschikkt sein werde aus Allem, was ihm begegnen mag, sollten es auch ununterbrochene Freuden sein, Vortheil für seine Heiligung zu ziehen. Das ist es, was wir auch in den Beispielen unseres Textes sehen. Der Reiche hatte sich, wie es scheint, wenn er auch von offenbarer Lasterhaftigkeit frei war, doch nur zu sehr vom Vergnügen beherrschen lassen, und aus Schwachheit den größten Theil seines wahren Berufs vernachlässiget; es war also | sein Bedürfniß, entfernt von den Verführungen, denen er untergelegen hatte, auf eine andere Art zum Nachdenken gebracht zu werden, und seine sittlichen Kräfte zu üben; und schon diese Entfernung, dieses Unvermögen den Durst nach sinnlichen Freuden zu löschen, mußte ihm seinen Zustand anfänglich zu einem Orte der Q u a a l machen. Der Arme hatte Gelegenheit gehabt in der traurigen Muße der Dürftigkeit und des Siechthums allerlei gute Gesinnungen in sich zu erwekken; er hatte sie redlich benuzt, und konnte also in der Schule des Unglükks nichts weiter lernen. Hingegen hatte es ihm in seiner vorigen Lage an einem Wirkungskreise gefehlt, um Alles, was in ihm war, recht thätig und nüzlich zu machen, und dies ist sein Bedürfniß, welches durch die Versezung in einen glükklichen und thätigen Zustand gestillt wird. So ist also auch diejenige Verschiedenheit, welche in dem künftigen Zustande der Menschen Statt finden wird, nichts als eine Aeußerung der göttlichen Gerechtigkeit, die einem Jeden geben wird, nachdem er bedarf. III. Dies führt uns wiederum in dieses irdische Leben zurükk auf eine andere Frage, die ebenfalls die göttliche Gerechtigkeit betrift. Wenn nemlich die Beschaffenheit unseres künftigen Zustandes, es sei

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nun als Vergeltung oder als Besserungsmittel, doch von den Fortschritten abhängt, welche wir während dieses Lebens im Guten gemacht haben: so fragt sich, hat denn die Vorsehung uns Allen zu diesen Fortschritten gleiche Gelegenheit gegeben und gleichen Beistand | geleistet? Vertheilt sie auch dasjenige, was den Menschen zur Besserung dienlich sein kann, in diesem Leben mit derselben unparteiischen Gleichheit? Dies ist, wie wir Alle wissen, die große Klage der Menschen über die göttliche Gerechtigkeit; hier glaubt Jeder sich zurükkgesezt zu sehn gegen die, welche sich besser zeigen als er. Auch hierüber finden wir in unserer Geschichte einen befriedigenden A u f schluß. In der Bitte, welche der Reiche thut, um für die Bekehrung seiner hinterbliebenen Brüder zu sorgen, scheint der Vorwurf verstekkt zu liegen, daß er selbst während seines Lebens auf Erden hierin nur schlecht bedacht gewesen sei; er scheint zu glauben, daß man in einem Zustande, wo die Verführung so groß ist, der Billigkeit nach auch einer außerordentlichen Hülfe genießen sollte. Abraham aber, der von den Wegen des Höchsten besser unterrichtet sein mußte, weiset ihn mit seiner Klage zurükk zu den Hülfsmitteln, die damals einem Jeden zu Gebote standen. Eben so ist es mit den Beschwerden, welche unter uns geführt werden. Einige fühlen, daß ihre Jugend gänzlich vernachlässiget wurde, und sehen dagegen Andere sorgfältig und vernünftig auferzogen; Einige sind beständig den Verführungen der Bösen bloß gestellt, und sehen dagegen Andere gleichsam durch einen Wall von günstigen Umständen und guten Menschen gegen das Andringen der Bösen geschüzt, und dies scheint ihnen eine sehr ungleiche Veranstaltung Gottes zu ihrer Besserung zu sein: aber sie haben dennoch nicht Ursache sich zu beklagen; denn wir haben nicht nur | Alle als Christen die Schrift, und das darin enthaltene Wort Gottes, sondern auch Alle als Menschen die Stimme der Vernunft und die Rathschläge eigner und fremder Erfahrung. Der Antheil, den wir hieran haben, macht uns in der That Alle gleich, denn es kommt nur darauf an, wie wir ihn zu unserm Vortheil benuzen. Ihr beneidet den Einen um die sorgfältige Erziehung, welche er genossen hat: Sehet doch an tausend traurigen Beispielen wie wenig damit geholfen ist, wie schnell alles anscheinende Gute, welches auf diesem Wege in den Menschen gekommen ist, wiederum verfliegt, wofern er nicht, sobald er sich selbst überlassen wird, auf demselben Wege fortgeht und ihr Werk durch den fernem Gehorsam gegen seine eigene Vernunft bestätigt; seht an andern gewiß nicht seltenern und eben so lehrreichen Beispielen, wie sicher, und oft auch wie leicht, diejenigen,

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die von Eifer für das Gute beseelt sind, die Spuren einer vernachlässigten Jugend verwischen. Ihr klagt über die bösen Beispiele, von denen Ihr umgeben seid; ich sage Euch aber, wenn Ihr ein Ohr habt für die Stimme eures Gewissens, und ein Auge für das, was um Euch her vorgeht, so werden Euch alle bösen Beispiele nur lehrreich und warnend sein: fehlt es Euch daran, so werden alle dem Guten günstigen Umstände und Verbindungen vielleicht den Ausbruch eurer bösen Neigungen verhindern, aber das Innere eures Gemüthes, worauf Gott sieht, wird um nichts besser sein, denn Ihr werdet immer mit quälender Lüsternheit nach denen hinschielen, die jene Neigungen | befriedigen können. Ihr klagt über die Versuchungen der Armuth: ich sage Euch, der gemächlichere Zustand hat auch die seinigen, und mit demselben weichen und verführbaren Gemüthe würdet Ihr eben so geneigt worden sein ihnen nachzugeben als Ihr Euch jezt von den eurigen gedrükkt fühlt. Jeder von den verschiedenen Kreisen des gesellschaftlichen Lebens, jede denkbare Verbindung äußerer Umstände bietet Versuchungen dar und auch Hülfsmittel zur Besserung. Saget nicht, daß einige von jenen Euch wenigstens leichter und unschädlicher gewesen sein würden, es ist dieses nur eine Verkleinerung, weldie die Entfernung verursacht. Saget nicht, daß einige von diesen Euch heilsamer gewesen sein würden: denn sie enthalten alle auf gleiche Weise die einzige wahre Arzenei für das menschliche Gemüth, nur anders gestaltet und verkleidet. Was für außerordentliche Unterstüzungen Ihr Euch auch wünschen möget, es seien nun soldie, die Andern wirklich zu Theil werden, oder soldie, die nur eure Einbildungskraft Euch als etwas mögliches vormahlt, sie könnten Euch doch nichts anders gewähren als einen neuen Vortrag 121 von den längsterkannten Geboten der Vernunft und des Gewissens, eine neue Darstellung des innern Unterschiedes zwischen dem Guten und Bösen. Wünscht Ihr nun eine solche Wirkung auf euer Herz, die durch das hervorgebracht wird, was allen Belehrungen, allen Ermunterungen zum Guten gemein ist: so braucht Ihr nichts fremdes oder entferntes zu verlangen; was Ihr sucht ist nahe bei Euch vor euren Augen. | Wünscht Ihr eine solche Wirkung, die nur auf den begleitenden Umständen, auf den äußern Verhältnissen, auf dem Angenehmen oder Neuen der Einkleidung beruht: so seid versichert, dies ist nicht diejenige, die Euch selig machen würde. Höret Ihr Mosen und die Propheten nicht, so würdet Ihr auch nicht glauben, so Jemand von den Todten zu Euch käme. Auch hier also sehen wir bei aller Mannigfaltigkeit keine Vernachlässigung des Einen, keine Begünstigung des

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Andern, sondern die unpartheiische Gleichheit. Wir haben Alle Schrift, Vernunft und Beispiel; keiner hat etwas mehr, denn in der That kann die Allmacht selbst nichts weiter zu unserer Besserung beitragen. Ihr seht hieraus, und möchte sich dieses doch Euch Allen recht einschärfen, daß der Glaube an die göttliche Gerechtigkeit, und der Glaube an die Kraft und Unabhängigkeit des menschlichen Willens so genau mit einander zusammenhängen, daß der eine gleichsam nur die andere Seite des Andern ist. Wollt Ihr annehmen, daß der Unterschied, welcher nach Entfernung jenes falschen Scheines, der ihn unglaublich vergrößert, doch noch übrig bleibt in dem Wohlbefinden der Menschen eine nothwendige Folge ihres äußerlichen Zustandes, und nicht vielmehr größtentheils in der Beschaffenheit des Gemüthes gegründet ist; oder wollt Ihr zwar annehmen, daß der Eine ein Gemüth habe, mit dem er unter allen Umständen glükklich gewesen sein würde, und der Andere ein solches, das ihn allemal unglükklich gemacht hätte, daß aber [ Jeder das seinige aus der Hand Gottes so empfangen habe wie es ist, oder daß es durch das Zusammentreffen der Umstände so geworden sei, ohne daß er durch sein Nachdenken und seinen Willen das geringste daran ändern könne: so werdet Ihr die Vertheilung, welche Gott angeordnet hat, um so ungerechter finden, je mehr Werth Ihr auf Glükkseligkeit und Wohlbefinden legt. Wollt Ihr annehmen, daß auch die Achtung für das Gewissen und der Trieb zum Guten, worauf, wie wir gesehen haben, bei der Besserung des Menschen Alles ankommt, ebenfalls ein Werk der Erziehung und der äußern Lage ist: so müßt Ihr nicht nur den Schwachen und Unvollkommnen, Ihr müßt auch den Bösewicht und den Verruchten frei sprechen und alle Schuld auf Gott werfen; und seine Gerechtigkeit muß Euch etwas ganz fremdes und unbegreifliches sein. Begreift Ihr aber das Wesen dieser göttlichen Eigenschaft so, wie ich bemüht gewesen bin es Euch darzulegen: so muß alsdann auch euer Urtheil über die Einrichtung der Welt ganz anders ausfallen, als wir es bei den meisten Menschen finden. In dieser Mannigfaltigkeit des menschlichen Lebens, wenn dennoch die nöthige Gleichheit darin Statt findet, zeigt sich die göttliche Weisheit in ihrer ganzen Größe. Wir dürfen nicht erst auf eine Enthüllung derselben in der Zukunft hoffen, wir sehen sie jezt schon deutlich vor uns. Alle Vorstellungen von einem partheiischen Schikksal werden verbannt; und wir müssen die Regierung des Höchsten völlig freisprechen von jener Unvollkommenheit, die, aus welcher Ursache es auch sei, | etwas Unverständ-

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liches und nicht ebenmäßiges in ihren Werken lassen muß. Zugleich kann diese Einsicht in die göttliche Gerechtigkeit allein die Zufriedenheit mit unserm Zustande vollenden; sie benimmt uns nicht nur alle Veranlassung zum Neide, sondern sie löset auch eine andere Schwierigkeit, die für ein das Gute und die Gerechtigkeit liebendes Gemüth noch weit drükkender ist, sie beruhigt uns nemlich auch über die Vorzüge, welche wir vor Andern zu genießen scheinen. Wir Alle leben in dem Stande der Mittelmäßigkeit, und Viele unter unsern Brüdern stehen an Vermögen und Glükksgütern über uns; ich hoffe aber zu eurer christlichen Denkungsart, daß Ihr nicht auf diese allein seht, sondern auch auf die, warlich nicht geringe Anzahl derer, die noch unvermögender sind als Ihr, und in einem schweren Kampf mit allerlei drükkenden Umständen. Wäre nun der Unterschied des Wohlbefindens in der That so groß als er zu sein scheint, und wäre er lediglich eine Folge jener Umstände: welches unruhige und ängstliche Bewußtsein müßte Euch nicht den Genuß eines Vorzuges verbittern, zu dem Euch nichts berechtiget, den Ihr nur einer unerklärlichen Vorliebe des Himmels verdanken könntet! Warlich der Beglükkteste, in so fern er ein unverdorbenes und billiges Gemüth hätte, müßte der gequälteste sein. — Wir haben alle Antheil an den Belehrungen der Religion, wir genießen von Jugend auf einen besseren Unterricht, wir leben unter Gesezen und Verfassungen, die uns vom Bösen entfernen, in Verbindungen, die uns zu manchem Guten aufmuntern und es | uns erleichtern; wenn es wahr wäre, daß diejenigen, die einen oder den andern von diesen Vorzügen entbehren, auch den Beistand des Höchsten zum Guten in einem geringeren Grade genössen; wenn dasjenige, was wir für unsere eigne That halten, indem wir jene Anleitungen benuzen, doch im Grunde wiederum das Werk der Umstände wäre: wie wenig dürften wir uns dann über unsere Tugenden freuen, da wir sie nur als ein auf Kosten Anderer erlangtes Gut ansehen könnten! wie wenig dürften wir von ihnen auf unsern persönlichen Werth schließen, da sie nur das Werk einer höheren Gunst und Vorliebe wären! Nur, wenn wir wissen, daß wir Alle eine gleiche Ausstattung erhalten, und daß unser Wille, unsere Thätigkeit das übrige thun muß, können wir die geistigen Güter, die wir erwerben, ruhig und rechtmäßig genießen. — Die Schrift läßt uns, wenn wir treulich das Unsrige thun, nach diesem Leben einen glükklichen Zustand hoffen, zugleich zeigt sie uns, daß züchtigendes Unglükk derer wartet, die sich hier nicht wollten vom göttlichen Geiste regieren lassen; wenn jenes Gute uns nur als eine überschwengliche

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Belohnung für dasjenige dargereicht würde, was keinen Lohn verdient, und dieses Uebel nichts wäre als eine ewige überschwengliche Strafe für Fehler, die auch uns Begünstigten ehedem nicht fremd waren: mit welchem widerstrebenden Herzen würden wir eine Glükkseligkeit hinnehmen, die nur ein unbilliges Gnadengeschenk des Höchsten wäre! Ist aber das Loos, welches Jedem zu Theil wird, genau nach seinen Bedürfnissen | abgemessen: dann, und nur dann können wir das, was uns zu Theil wird, ruhig hinnehmen, überzeugt, daß Andere zu gleichem Endzwekk einer ganz andern Hülfe benöthiget sind. So können wir uns demnach ohne alle Bedenklichkeit selbst von Seiten unserer zartesten und uneigennüzigsten Gefühle der Leitung des Himmels überlassen, und der Weisheit und Liebe Gottes um so sicherer und fester vertrauen, weil wir wissen, daß er zugleich überall ein gerechter Gott ist.

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XII. Der Werth des öffentlichen Gottesdienstes. A m l e z t e n S o n n t a g e des J a h r e s . Durch Gottes Güte haben wir wiederum das Ende eines Jahres erreicht, und sind gewiß Alle mit dem Nachdenken über das Vergangene beschäftiget. In den Stunden, da wir uns hier zu unserer Erbauung vereinigen, soll dies Nachdenken, durch den Gedanken an Gott geheiligt, eine höhere Richtung bekommen; wir sollen Alles, was uns begegnet ist, als seine weise Fügung ansehen, und uns gewissenhaft fragen, ob wir auch als gute Haushalter alles Gute treu und weislich benuzt haben. Auch ich möchte, indem ich zum leztenmal in diesem Jahre mit Euch rede, das Meinige beitragen, um diesem wichtigen Geschäft hie und da nachzuhelfen, und möchte am liebsten auf dasjenige aufmerksam machen, was am leichtesten übersehen wird. Sowohl diejenigen göttlichen Wohlthaten, deren sich ein Jeder in seiner besondern Lage zu erfreuen | gehabt hat, unerwartete Begünstigungen in häuslichen und bürgerlichen Angelegenheiten, glükkliche Befreiung von mancherlei Besorgnissen und aus verwikkelten Umständen, als auch jene Vorzüge, die wir gemeinschaftlich vor andern Gegenden und Völkern voraus haben, das feste Bestehen einer wohlthätigen Verfassung und heilsamer Geseze, so daß keine Furcht vor innern Zerrüttungen den Genuß des uns beschiedenen Guten gestört hat, die Ruhe von außen, so daß kein verwüstender Krieg unsere Geschäftigkeit in jene stürmische Bewegung gesezt hat, welche Viele in Noth und Gefahr bringt, Manchen den Untergang bereitet und nur Wenigen eine glükkliche Fahrt beschleuniget; dies Alles bedenkt gewiß ein Jeder unter uns von selbst. Was sich auf das zeitliche Wohlergehen und die Annehmlichkeiten des Lebens bezieht, ist Jedem wichtig ge-

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nug, um seiner Aufmerksamkeit nicht zu entgehen, und es bleibt nur zu wünschen, daß an diese Erinnerungen sich auch Dankbarkeit gegen Gott, und solche heilsame Ueberlegungen, welche auf etwas Höheres als das Irdische gehen, mögen angeknüpft werden. Aber gerade diejenigen Wohlthaten, welche dieses höhere unmittelbar angehen, und auf unsere Förderung im Guten einen entschiedenen Einfluß haben, werden oft am leichtesten übersehen; selten geht ihnen ein für den Augenblikk dringend gefühltes Bedürfniß voran, und still und langsam ist ihre Wirkung, so daß sie nur bei einer genauem Ueberlegung dem aufmerksamen Auge sichtbar wird. Dies gilt vorzüglich von denjenigen Unterstüzungen im Guten und Erhe | bungen des Gemüthes, die uns von Zeit zu Zeit in unseren Versammlungen an diesem Orte sind zu Theil geworden. In dem Augenblikk, wo wir sie genossen, schienen sie uns — bisweilen wenigstens, wie ich hoffe — etwas Großes und Wichtiges; im Ganzen aber, wenn wir auf einen beträchtlichen Zeitraum zurükksehen, verlieren wir den Einfluß dieser schönen und heiligen Augenblikke aus dem Gesicht. So ist es daher nicht zu erwarten, daß Viele unter uns von selbst dieses zu einem besondern Gegenstande ihrer Dankbarkeit machen werden, daß ihnen auch in dem verflossenen Jahre immer vergönnt war an unsern christlichen Versammlungen Theil zu nehmen, daß kein Streit zwischen bürgerlichen und religiösen122 Einrichtungen ihnen Zwang anlegte, vielmehr der Stillstand aller öffentlichen Geschäfte an den heiligen Tagen sie einlud das Bedürfniß ihres Herzens zu befriedigen. Dennoch gehört diese Wohlthat nach meiner Ueberzeugung zu den größten und wichtigsten; und die Zeitläufte, in denen wir leben, die Denkungsart, die über diesen Gegenstand herrschend wird, die traurige Erfahrung, daß auch von denen, welche die Religion123 zu ehren und sich von ihr leiten zu lassen behaupten, so Viele unsere Versammlungen verlassen, als sei nichts darin für sie zu gewinnen, fordert mich auf, sie Euch besonders ans Herz zu legen. Erinnert Euch daher jezt mit mir an den sichtbaren Nuzen, den Ihr doch gewiß in einzelnen Fällen aus Eurer Gegenwart an den Orten der gemeinschaftlichen Andacht gezogen habt; überzeugt Euch, daß nicht ein zufälliger Um | stand, sondern die beständigen Einrichtungen dieser Zusammenkünfte, wie Ihr sie immer wieder gefunden hättet, die Ursache davon waren, und geht dann mit Euch zu Rathe, ob Ihr nicht Gott für die Gelegenheit dazu dankbar sein sollt, und ob Ihr sie nicht noch besser hättet benuzen können.

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Text. Ps. 26, 8. Herr idi habe lieb die Stätte deines Hauses, und den Ort, da Deine Ehre wohnet.

In den heiligen Schriften des alten Bundes, und vornemlich im Buche der Psalmen finden wir viele Aussprüche, welche eben wie dieser von der herzlichen Anhänglichkeit an die eingeführten Gottesdienste einen rührenden Beweis ablegen. Wolltet Ihr aber sagen, daß eben wegen des Unterschiedes der damals herrschenden Religionsbegriffe von den unsrigen diese Anhänglichkeit uns nicht mehr empfohlen werden könne; daß man damals geglaubt habe durch äußere Gebräuche das richtige Verhältniß des Menschen zu Gott zu erhalten, oder wieder einzurichten, jezt aber unsere Religion eine Religion des Herzens sei, die uns lehre, daß unser Verhältniß gegen Gott nur durdi unsere Gesinnungen bestimmt werde; wolltet Ihr sagen, daß in den heiligen Schriften andere Stellen vorkämen, welche bezeugen, daß mit Allem, was an den heiligen | Orten verrichtet zu werden pflegte, wenig gewonnen sei vor Gott: so mag es allerdings wahr sein, daß damals bei Vielen der Werthachtung des äußern Gottesdienstes mancherlei unrichtige Vorstellungen zum Grunde gelegen haben; ja es mag auch jezt noch nöthig sein Manche zu warnen, daß sie den Gebräuchen desselben keinen unabhängigen Werth beilegen. Allein um wieviel reiner und geistiger unsere Religion ist, um soviel vorzüglicher ist auch unser Gottesdienst, er hat keine bloß äußerlichen Gebräuche, Alles in ihm soll sein und kann auch sein ein Mittel eben jene Gesinnungen in uns zu beleben und zu befestigen, ein Mittel von einer ganz eigentümlichen Kraft und Wirksamkeit. Er leistet dieses in dreierlei Hinsicht: e r s t l i c h in sofern er eine Anstalt zu unserer Belehrung ist, z w e i t e n s in so fern er unsere guten Entschlüsse aufs Neue befestiget, d r i t t e n s in so fern durch ihn unsere religiösen Gefühle erneuert und gestärkt werden. I. Unsere religiösen Zusammenkünfte sind erstlich eine Anstalt zur Belehrung. Nur im Vorbeigehen will ich darauf hinweisen, daß für Viele, ich möchte sagen für alle Christen — mit Ausnahme der Wenigen, welche die Angelegenheiten der Kirche zum Gegenstande ihres besonderen Berufes gemacht haben — der öffentliche Gottesdienst die einzige Gelegenheit ist, ihre Kenntniß von manchem, was zur Geschichte und zur äußern Gestalt des Christenthums gehört, zu erwei-

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tern, ihr Verständniß mancher Lehrsäze und mancher Schriftstellen zu berichtigen. | Für etwas Unwichtiges kann dies nicht gehalten werden; Alles ist hier von Einfluß auf die Anordnung des Lebens, auf die Richtung des Verstandes. Soll die richtige Erkenntniß eben so nur auf Glauben angenommen, nur dem Strom einer unsichern Ueberlieferung überlassen bleiben, wie es mit den entgegengesezten Irrthümern geschieht? soll es gleichgültig sein, aus der wievielsten Hand und wie verunreinigt ein Jeder sie empfängt? Wir sehen es ja leider vor Augen, was für unselige Folgen es hat, wenn der Leichtsinn sich das Geschäft anmaßt, Vorurtheile auszurotten und das neue Licht der Wahrheit zu verbreiten, wenn gutmeinende unmündige Menschen die Bearbeitung ihres Verstandes so ungeschikkten Händen anvertrauen. Möchte doch Jeder die Berichtigung seines Glaubens hier suchen, und nicht in dem anmaßenden Geschwäz derer, welche sich im täglichen Leben ein unberufenes Geschäft daraus machen, nicht in den Büchern, deren richtiger Gebrauch gemeiniglich nicht ohne eine neue Belehrung möglich ist. Wer diese hier in den Vorträgen der Religionslehrer gesucht hat, ich darf es kühn sagen, der wird sie befriedigender gefunden haben als anderswo, anwendbarer auf seinen eignen Zustand, und alles wird mit einem größeren Eindrukk von der Heiligkeit der Wahrheit in sein Gemüth gekommen sein. Es ist dies keine Anmaßung besonderer Talente, sondern es liegt in der Natur dieser Vorträge, die an einen bestimmteren Kreis gerichtet und mit einer gewissen Feierlichkeit umgeben sind, welche an vorbereitete und zur Andacht schon gestimmte | Gemüther gelangen, und in welchen Alles auf Erbauung und Anwendung fürs Leben berechnet ist. Doch dies sei, wie gesagt, nur im Vorbeigehen. Diejenigen, welche genugsam erleuchtet zu sein glauben über Alles, was Erkenntniß in der Religion ist — und wer glaubt es nicht? — werden dodi sagen, daß sie hiezu unserer Versammlungen nicht mehr bedürfen, daß nur die Ununterrichteten zur Dankbarkeit für diesen Punkt müßten aufgefordert werden. Aber Einsicht, immer genauere Einsicht in die allgemeineren und wichtigsten Wahrheiten, richtigere Unterscheidung dessen, was in schwierigen Fällen Recht und Unrecht ist, innige Bekanntschaft mit dem Zustande des eignen Herzens, das ist das Wesentliche, was durch die Belehrungen ausgerichtet werden soll, die an diesem Orte ertheilt werden. D a ß hierüber wir Alle noch immer Belehrung bedürfen, leidet wohl keinen Zweifel. Wer unter uns sieht nicht auf manche Handlungen des vergangenen Jahres schon jezt mit dem Gedanken zurükk,

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daß er hie und dort das richtigere verfehlt habe, und es nun besser treffen würde? Wem erscheint nicht der Zustand, worin sich sein Gemüth bei manchen Gelegenheiten befand, schon jezt anders als eben damals? So hat also, wie wir sehen, das Bessere sich uns noch manchmal verborgen, so sind wir über uns selbst noch nicht immer so in Richtigkeit als es zu wünschen wäre. Wird nicht eben hier dieser menschlichen Unvollkommenheit Hülfe geleistet? werden nicht hier die schwierigen Fragen über Recht und Unrecht nach Anleitung der Schrift erörtert? wer | den hier nicht allgemeine Grundsäze eingeschärft, die uns, wenn wir sie uns gegenwärtig erhalten, überall am sichersten zu einer richtigen Entscheidung leiten? werden hier nicht nach der Weisheit und Erfahrung, die einem jeden Lehrer gegeben ist, die geheimsten Falten des menschlichen Herzens aufgedekkt? O gewiß ist jeder, der öfters hieher kam, auch oft gerade über dasjenige, dessen er bedurfte, belehrt von hinnen gegangen. Die wichtigsten Fragen über das richtige Verhalten stehen in einem so genauen Zusammenhange, und die Untersuchungen darüber kommen am Ende auf so wenige helle Punkte zurükk, die Fehler der Einzelnen haben so gemeinschaftliche Quellen an den herrschenden Meinungen und Sitten, die Veranlassungen bald über dies bald über jenes hieher gehörige zu reden ergeben sich von selbst, und für ein nachdenkendes Gemüth wird so oft durch beiläufige Bemerkungen Licht in eine Gegend des Herzens geworfen, welche von dem geraden Wege der Betrachtung ziemlich entfernt zu liegen schien, daß gewiß Jeder irgend etwas findet, was er zu seiner Belehrung nuzen kann. Diejenigen, welche es vernachlässigen dieses wichtige Bedürfniß hier zu befriedigen, sind freilich anderer Meinung. Sie halten es für zu unsicher, dasjenige, was gerade ihnen nöthig ist, an einem Orte zu suchen, wo nur aufs Gerathewohl und ins Allgemeine hin kann geredet werden. Sie meinen, wer nur einen oder den andern vortreflichen Menschen zu einem engen Freundschaftsbündniß gewonnen habe, daß er ihm mit seiner ruhigen Ueberlegung zu Hülfe komme, wenn er | selbst weniger aufgelegt ist zum Nachdenken, daß er ihm vorhalte, was er im Innern seines Herzens entdekkt, daß er mit ihm austausche alle seine Gedanken, der habe eine weit sichrere Quelle der Belehrung, die ihm gerade dann fließt, wenn er es bedarf, und ihm gerade das darreicht, was ihm heilsam ist. Wer sich in ruhigen Stunden nur zu dem Nachdenken erheben könne, wozu die Handlungen anderer Menschen einen Jeden genugsam veranlassen, der werde sich gewiß die Fertigkeit erwerben, in jedem Falle bald einzusehen, was das Beste ist.

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Herzlich wollte ich mich freuen, wenn alle diejenigen, die sich selbst zufrieden von der allgemeinen Verbindung der Christen ausschließen, in einer solchen engen Verbindung mit irgend einem Andern lebten; o, es ist etwas seltenes und heiliges um eine solche das Zunehmen in der Weisheit beabsichtigende Freundschaft, und die sie gefunden haben, besizen ein köstliches Kleinod! Herzlich wollte ich mich freuen, wenn Alle, die sich entschuldigen, daß ihre Geschäfte ihnen nicht zulassen an dem Orte der gemeinschaftlichen Andacht zu erscheinen, recht viel Muße fänden zu einem so gesegneten eignen Nachdenken! Es ist so schwierig, wenn man ganz in denselben Umgebungen bleibt, die die Geschäfte um uns her versammeln, und die uns an die täglichen Sorgen erinnern, alsdann die Seele anhaltend genug mit andern Gegenständen zu beschäftigen! Es ist schon so vortreflich, wenn der Mensch nur den Muth faßt, sein ganzes Innere vor den Richterstuhl des vom göttlichen Worte geleiteten Gewissens zu stellen, und die es | können, haben einen großen Ruhm. Aber dennoch behalten die Belehrungen, welche hier ertheilt werden, eine eigene Kraft, weil sie weniger Widerstand von der Eigenliebe zu besiegen haben, als die Vorhaltungen der Freundschaft, weil sie dem Herzen weniger Freiheit zu seinen Selbsttäuschungen gewähren, als das eigne Nachdenken. Woher kommt es doch, daß, wenn ein Freund sich bemüht den andern zu belehren, wo er Irrthum und Vorurtheil bei ihm zu finden glaubt, dennoch gewöhnlich ein Jeder auf seiner Meinung beharrt? Kommt es allemal daher, weil es nicht möglich ist die Wahrheit auszumitteln? weil die Vorstellungen eines Jeden gar zu genau mit seiner Denkungsart und seinem Charakter zusammenhängen? Bisweilen vielleicht: aber meistentheils gewiß daher, weil die Eigenliebe dessen, der im Unrecht ist, zu sehr gereizt wird. Euer Freund tritt vor Euch hin und sagt Euch, dies ist dein Vorurtheil, dies ist dein Irrthum, dies ist der Schein, der dich blendet; er sagt es Euch gewöhnlich zu einer Zeit, wo Ihr Euch eben ausdrükklich zu eurer Meinung bekannt habt, oder wo sie eben euer Betragen bestimmt hat, und Euch also besonders werth und besonders anschaulich ist. Werdet Ihr nicht alles mögliche aufbieten, um Euch in ihrem Besiz zu behaupten? werdet Ihr nicht erhizt vom Streit immer neue Waffen ergreifen, wenn die alten abgenuzt sind? immer im Zurükkziehen neue Verschanzungen aufwerfen? Oder Euer Freund will Euch den Zustand Eures Herzens besser aufdekken, als | Ihr ihn selbst kennt; er will Euch Leidenschaften zeigen, wo Ihr nur Beharrlichkeit bei euren Grundsäzen zu sehen glaubt, einen Fehltritt, wo Ihr alle Verbind-

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lichkeiten erfüllt zu haben meint: gewiß wenn Ihr nur erst Einen Einwurf gemacht habt, so wird die falsche Schaam Euch selten, ich will nicht sagen zum Eingeständniß, sondern nur zur Erkenntniß kommen lassen. Darum kann die Freundschaft nie behutsam genug zu Werke gehen, und je leiser ihre Winke sind, desto öfter wird der warnende Sinn derselben verkannt; je schonender sie auf das Innere des Herzens hindeutet, desto leichter wird sie mißverstanden, als wollte auch sie Fehler entschuldigen und Schwachheiten liebkosen. Hier im Gegentheil ertönt die Stimme der Vernunft zwar stärker und lauter, aber doch sanfter und lieblicher. Werden Vorurtheile und Irrthümer angefochten: es geschieht doch nicht in dem Augenblikk, wo euer Gemüth eben zu Gunsten derselben in Bewegung ist; es gilt auch keinen Streit, der Irrende wird nicht aufgefodert sich entweder zu vertheidigen oder überwunden zu bekennen, er kann ohne Ereiferung erwägen und prüfen, und ruhig zusehen, wie die Kraft der Wahrheit seine scheinbaren Gründe zu Boden wirft. Wird der Gang seiner Verirrungen und Leidenschaften geschildert: er darf doch nicht sizen zu dem Bilde, es wird ihm nicht besonders zugestellt und gesagt, „das bist D u " , und so wird er leichter eingestehen, daß dieser und jener Zug ihm gleicht, und in der Stille Anstalten treffen, um die verhaßte Aehnlichkeit zu vertilgen. | Woher kommt es doch, daß beim eignen Nachdenken die Vergleichung mit Andern allemal zu unserm Vortheil ausschlägt? daß die Betrachtung der religiösen Wahrheiten und der sittlichen Vorschriften, selbst wenn wir dabei die niedergeschriebenen Gedanken Anderer zum Leitfaden nehmen, selten die Gegend trift, wo unsere Irrthümer und unsere Fehler liegen? daß die Musterung unseres eigenen Lebens gewöhnlich in eine süße Selbstzufriedenheit endigt, und nur bei besondern Veranlassungen eine heilsame, fast immer späte Demüthigung hervorbringt? Alles dies kommt daher, weil das Herz ein troziges und verzagtes Ding ist*), voll Betruges, weil es mit heimlicher List den graden und ruhigen Gang des Verstandes unterbricht. Wie von selbst muß immer dasjenige Gute, welches wir schon errungen haben, oder dem überhaupt unsere Neigungen nicht widerstreiten, als das wichtigste hervortreten; unvermerkt nimmt das Nachdenken einen Umweg, um nicht auf unsere Fehler zu treffen, oder diese werden erst mit einer feinen Schminke überzogen, die ihnen die Gestalt irgend einer Vollkommenheit giebt; und eben so werden Irrthümer entweder * Jerem. 17, 9.

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gar nicht bemerkt, oder unter irgend einem schönen Titel in die Gesellschaft der Wahrheiten eingeführt. Hier hingegen sind alle diese Täuschungen schon deshalb nicht möglich, weil das Nachdenken der Hörenden einer fremden Leitung folgt. Hier werden gewiß die verstimmten Saiten, über welche Ihr mit leiser Hand | hinwegzugleiten gewohnt seid, nicht nur berührt, sondern stark angeschlagen; hier werden Gedanken und Ueberlegungen hervorgezogen, die Euer sich selbst überlassenes Nachdenken immer in den Hintergrund gestellt hätte; hier werdet Ihr zu solchen Ansichten geführt, auf welche sonst Euer Auge nicht leicht würde gefallen sein. Mögen die, welche sich von solchen selbstgemachten Täuschungen, von einem solchen verborgenen Spiel der Eigenliebe ganz frei wissen, behaupten, daß sie unserer Versammlungen nicht bedürfen. Ich denke, wir Alle werden an diese Schilderung so manche wohlthätige Erinnerung anknüpfen können an hier empfangene Belehrungen, die sich schon wirksam bewiesen haben zu unserer Besserung. II. Eben so hoffe ich werden sich unsere Versammlungen als ein kräftiges Mittel bewährt haben uns z u m G u t e n z u e r m u n t e r n , und unsern frommen Entschlüssen neue Kraft und neues Leben mitzutheilen. Gewiß haben wir Alle auch in dem nun vergangenen Jahre manchen schönen Augenblikk aufzuweisen, wo wir Gott und unserm Gewissen eine ausdauernde Treue gelobten, wo wir uns das Bild124 der menschlichen Vollkommenheit aufs neue vorhielten, und ganz durchdrungen waren von dem Willen ihm näher zu kommen: aber wir werden auch Alle erfahren haben, daß, wenn wir nun mit diesem Entschluß, wie sichs gebührt, in die Verhältnisse des Lebens hineingingen, um ihn dort auszuführen, dann die Geschäfte, die Sorgen und die Vergnügungen des Lebens, | mit denen wir uns einlassen mußten, uns nach und nach wiederum in eine Reihe von weltlichen Empfindungen und Wünschen verwikkelten, in denen das Bewußtsein und die Kraft jenes Entschlusses sich allmälich schwächte. Das ist unfehlbar die Geschichte aller Menschen, und darum müssen wir jene heiligen Gedanken und diesen frommen Entschluß immer wieder erneuern. Nun frage ich Euch, war wohl unter gleichen Umständen irgend eine andere Erneuerung des Gemüthes und des Willens lebendiger, fruchtbarer und dauerhafter, als die, wozu Ihr hier in dem zur gemeinschaftlichen Anbetung Gottes bestimmten Hause und mitten in der Gemeine des Erlösers aufgefodert wurdet? Es ist ja gutgearteten Menschen eigen Alles, was sich unmittelbar auf sie selbst bezieht, mit ungleich mehr Lust und Eifer zu betreiben, wenn sie es

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zugleich als eine gemeinschaftliche Angelegenheit ansehen können. Spare deinen Ueberfluß für die Leidenden, sorge für deine Gesundheit um deiner Kinder willen, erhalte die Munterkeit deines Geistes, um der Gesellschaft immer zu allen Diensten bereit zu sein: dergleichen sind für die bessern Menschen immer die kräftigsten Bewegungsgründe. So wird also auch der Entschluß der Besserung überhaupt am lebendigsten und kräftigsten sein, wenn er unter diesem Gesichtspunkte gefaßt wird, und wo geschähe das in einem größeren Sinne als hier? Freilich kann auch der Anblikk eures häuslichen Kreises Euch täglich im Guten bestärken; welchen Rang Ihr auch darin einnehmt, Gatten, Kinder, Hausgenossen, Vorgesezte fordern | viel Tugenden von Euch: aber es ist immer nur ein Theil eures Gemüthes, den sie in Anspruch nehmen, und es wird Euch bald vorkommen, als wären manche ihrer Forderungen schon durch einen gewissen Schein befriediget. Auch der Gedanke, daß Ihr ein Vaterland habt, dem Ihr Ehre machen sollt, dem Ihr mit euren Talenten und Gemüthskräften verpflichtet seid, kann ein mächtiger Antrieb sein: aber die bürgerliche Gesellschaft125 fordert doch nur Thaten, und eure innern Gesinnungen haben mit ihr wenig126 zu schaffen. Hier aber, hier findet Ihr eine Gesellschaft, die den innern Zustand eures ganzen Gemüthes für ihre Angelegenheit und eure Besserung für eine Annäherung zu ihrem gemeinschaftlichen Endzwekk erklärt. Hier findet Ihr Euch als Bürger im Reiche Gottes mit allen Heiligen und als Gottes Hausgenossen*), und das umfaßt Alles, was Ihr nur irgend leisten könnt. In eurem Hause, in eurem Beruf, in allem was Ihr verrichtet, sollt Ihr das Dasein dieses Reiches Gottes verkündigen, das Beste dieser göttlichen Familie fördern; und kommt Ihr dann hieher, wo sie sich sichtbar versammelt: so soll an Euch haften das Andenken an gute Werke, die Ihr verrichtet habt, an liebliche Lehren, die von Euch ausgegangen sind, an fromme Gesinnungen, die Ihr geäußert, an muthige Bekenntnisse des Glaubens, die Ihr abgelegt habt. Wenn Ihr hier den Gedanken an die höchste menschliche Vollkommenheit faßt: so wird Alles, was Ihr | dem zufolge thun und werden könnt, in Anspruch genommen für die Gemeine Christi; jeder gute Entschluß erscheint Euch als ein theures Gelübde, abgelegt in ihre und des Erlösers Hände. Dies ist die eigentliche Ursache des tiefen Gefühls, welches Euch hier so oft ergriff, dies die Quelle der schönen Wirkungen, die Euer Hiersein hervorgebracht hat. * Ephes. 2, 19.

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Vorzüglich aber sind diese Versammlungen dazu geeignet, uns, wenn wir sie aus dem wahren Gesichtspunkte betrachten, und mit dem rechten Sinn besuchen, in den brüderlichen Gesinnungen zu stärken, zu denen wir nicht Aufmunterung genug haben können. Ach, sie stumpfen sich nur allzuleicht ab an den Ungleichheiten, die in der Welt Statt finden, und durch das Betragen der meisten Menschen noch hervorragender gemacht werden, und dann bricht die alte, nie ganz unterdrükkte Selbstsucht aus in krampfhafte Bewegungen, die wenigstens manches Gefäß unseres Gemüthes den Gesinnungen der Liebe, die es überall durchdringen sollten, gänzlich verschließen. D a entsteht heimlicher Neid, der sich durch Härte und Kälte gegen diejenigen äußert, die sich ihrer günstigen Verhältnisse vielleicht zu überheben scheinen, Eifersucht des Standes, die keine kleine Verlezung des Schikklichen, komme sie von Höheren oder Niederen, ungeahndet lassen will, vermessener Eigendünkel, der um den Schein der Abhängigkeit zu vermeiden, sich lieber so sehr als möglich zurükkzieht, und nichts Gutes erweiset, damit er nicht wieder etwas anzunehmen genöthiget werde. Ueberall, wo | Ihr in der Welt hinseht, findet Ihr die Ungleichheiten, die das Herz so verstimmen, nur hier sind sie verbannt. Hier ist Keiner ein Reicher oder Armer, ein Herrschender oder Unterworfener, Alle sind nur Jünger Christi, nach Belehrung und Besserung verlangende Menschen; und denen, die zu dieser Gesinnung vereiniget sind, erscheinen Rang und Reichthum als zu geringfügige Gegenstände, um auf ihr Gefühl und ihr Betragen einen bedeutenden Einfluß zu haben. Hier kommen wir Alle zusammen, um Gnade von dem zu erflehen, der die Herzen erforscht, das gemeinschaftliche Gefühl dieses Bedürfnisses muß über jeden kleinlidien Unwillen siegen, tiefer als irgendwo muß uns das Wort ans Herz gehen, daß wir nicht eher mit unserer Bitte und Nachsicht hervortreten dürfen, bis auch wir das Wort der Vergebung von Herzen ausgesprochen haben, und so müssen wir Alle zu wahrer Versöhnlichkeit erweicht werden. Hier stellen wir uns Alle vor dem dar, gegen den wir Alle Staub sind; ein ehrfurchtsvoller Schauer bei dem lebendigen Gedanken an das allein heilige und weise Gesez Gottes bemeistert sich Aller, fromme Wünsche voll Demuth und Selbsterkenntniß drängen sich aus der Brust der verschiedensten Menschen hervor, und so verschwindet selbst der Unterschied, der dort den Besseren und den Verständigern auszeichnet, Alle verschwistern sich aufs neue als Gefährten auf demselben stürmischen Meere der Versuchungen, als Brüder in derselben natürlichen Gebrechlichkeit, und Alle werden geneigt einander

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die Hand zu reichen zur herzlichsten | Unterstüzung. O diese Erwärmung des in der kalten Welt nicht selten erstarrenden Herzens zu inniger Liebe, diese Erhebung von den künstlichen Anstalten, die uns auseinander drängen, zu einem höheren als dem bloß sinnlichen Gefühl unserer Gleichheit, werden wir oft als einen herrlichen Segen von hinnen gebracht haben. III. Laßt uns endlich noch darauf merken, wie unsere Gottesverehrungen auch zur B e l e b u n g und Erhöhung u n s e r e r r e l i g i ö s e n G e f ü h l e gesegnet gewesen sind. Es gehört hiezu doch gewiß noch etwas Anderes, als was wir bis jezt erwogen haben. Man kann sich auf der einen Seite eine Glaubenslehre zu eigen gemacht haben, die von Irrthümern und Vorurtheilen möglichst rein und gegen Mißdeutungen gesichert ist, und man kann auf der andern Seite eine sehr richtige Erkenntniß von den menschlichen Pflichten haben, und auf eine lobenswürdige Art sie zu erfüllen trachten, beides ohne ein von den Empfindungen der Religion beseeltes und höher gehobenes Herz. Täglich sehen wir solche aus kalten Begriffen zusammengesetzte Lehre von göttlichen Dingen und solche von aller Frömmigkeit entblößte Tugend vor uns; und aus eigener Erfahrung, seze ich voraus, kennen wir dagegen den seligen Zustand eines von frommen Gefühlen durchdrungenen und sich ihrer immer bewußten Herzens, eines Menschen, der gewohnt ist, Alles so anzusehen, wie es von Gott, der es ordnete gemeint war. Denen, welche diese Gemüthsverfassung nicht kennen möchten, kann | ich jezt keine ausführliche Beschreibung davon machen; ich rede nur mit denen, die mich verstehen. Diese erinnere ich daran, wie oft sowohl die Meinungen und Neigungen, die in uns hineingebracht wurden, ehe wir diesen Weg fanden, wieder erwachten und uns irre zu machen suchten, als auch wie oft die Denkungsart derer, welche Alles in der Welt nur auf ihre beschränkten Endzwekke beziehen, dahin arbeitete, uns aus dieser Stimmung heraus zu versezen, und wie oft es ihnen leider gelang, daß wir wurden wie sie, daß entweder die Beziehung auf Gott uns ganz verloren ging, oder wir urtheilten, was unserm leidenschaftlichen zerrütteten Gemüth erschien, sei seine Absicht mit den Ereignissen in der Welt. Erinnert Euch dankbar daran, wie oft Ihr mit einer unruhigen gereizten Seele, mit einem von der Welt gefangenen Sinn, mit einem vorwizig klügelnden Verstände herkamt, und wie Ihr hier eure Frömmigkeit, eure richtigere Würdigung der irdischen Dinge, eure treuere Ergebung in die Wege Gottes wieder gefunden habt. Die Betrachtungen, welche hier angestellt werden, können freilich nicht immer den Endzwekk

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haben unmittelbar auf unsere frommen Empfindungen zu wirken: aber wenn die Lehrer der Religion auch nur Irrthümer und Vorurtheile bestritten, wenn auch nur von einer richtigeren Ansicht menschlicher Verhältnisse die Rede war, und vielleicht nicht immer deutlich hervortrat wie sich auch diese nur auf die Religion gründete; wie sollte sich nicht dennoch Manches aus ihrem Innern hervorgedrängt haben, wodurch die | verstimmte Seele ihrer Verwirrung entrissen, und wieder auf die Höhe gestellt ward, wo sie sich sonst wohlbefand. Auch sage ich dies nicht mit einer gewissen Ruhmredigkeit zu Gunsten derer, welche die Lehrstühle der Religion einnehmen, als ob sie etwa um soviel frömmer wären; Nein, sie stellen Euch nur die bessere Stimmung dar, in der Ihr Euch sonst befandet, sie sind in den Verrichtungen ihres Amtes gleichsam das festgehaltene neubelebte Bild eures schöneren Lebens; sie geben Euch, — daß ich so sage — Euch selbst wieder127. Audi waren es gewiß nicht ihre Reden allein, denen Ihr diese wohlthätigen Wirkungen zuschreiben müßt, es war die heilige Stille, für welche diese Häuser eine Freistätte sind mitten im Getümmel der Welt, es war die Andacht Eurer Brüder, die sich Euch mittheilte, und alle besseren Gefühle nach und nach in Eure Seele zurükkrief. Ich berufe mich in dieser Hinsicht besonders darauf, wie oft und wodurch Ihr hier aufgerichtet und getröstet worden seid, wenn Kummer und Widerwärtigkeit Euch bestürmten. Ich glaube, daß ich Euch Alle zu diesem Zeugniß auffordern kann, wenn Ihr auch nur auf das vergangene Jahr zurükksehen wollt: denn wem sollte nicht in einem solchen Zeitraum der Wechsel menschlicher Dinge auch trübe und bittere Stunden gebracht haben. Wenn Ihr zu Hause unvermögend wäret die Ruhe und die Fassung Eures Gemüthes wieder zu finden; wenn umringt von Gegenständen, die Euch euer Unglükk immer vergegenwärtigten, das Uebel stärker war, als die Arzenei, die | erst aus dem Gedanken an Gott und die höhere Welt bereitet werden sollte; wenn vielleicht nur flüchtige Regungen der Frömmigkeit eure Seele durchblizten, nur abgebrochene Seufzer Euch gelangen, und der Schmerz, indem Ihr noch über die Gewalt klagtet, die er nur eben ausgeübt hatte, sogleich mit erneuerter Heftigkeit zurükkehrte, und schon vielfach gewüthet hatte, ehe der Balsam der Religion zu den innern Nerven eures Geistes hindurchdrang; wenn auch die Freundschaft vergeblich Euer Leiden theilte, ohne es mildern zu können, und umsonst das schwere Geschäft versuchte, durch alle Schmerzen hindurch, die sie verstärkt wieder erregen mußte, den Siz des Uebels zu untersuchen: schlug nur erst die Stunde, wo Ihr euren Kummer in

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diese heilige Mauern tragen konntet, so wurde der böse Geist zum Schweigen gebracht. Und wodurch? Es waren nidit allein die Worte, die Euch unmittelbar beruhigend ans Herz gesprochen wurden, oder der Zusammenhang und die Anordnung der ganzen Rede, die Euch erinnern mußte an den Muth, der den Frommen ziemt, an das Vertrauen, das der Gläubige seinem Gotte schuldig ist; sondern alles, was Ihr saht, vereinigte sich, um Licht in die dunkeln Gegenden eurer Seele zu tragen. Hier saht Ihr das Gesicht eines Leidenden sich nach und nach aufheitern bei frommen Betrachtungen, dort fandet Ihr Ruhe und Friede schon wieder eingekehrt bei einem Andern, den Ihr noch vor Kurzem unglükklich sähet; hier beschämte Euch die Zufriedenheit eines Siechen, dort die Heiterkeit | eines Dürftigen; hier saht Ihr einen bewährten Frommen, der seine Tugend und seinen Glauben unversehrt durch alle Stürme des Lebens hindurch gebracht hat, dort redete die Freude eines Erretteten, der dankbare Blikk eines Gebesserten Euch Glauben und Vertrauen ins Herz. So ergriff auch Euch die gemeinschaftliche Stimmung, der sich hier Alle nach und nach nähern; das Gebet der Brüder stärkte das Eurige, und unter den Dankliedern und Lobgesängen der Gemeine erbebten auch in eurer Seele wieder die dazu stimmenden Saiten. Dasselbe wird Euch oft begegnet sein in andern Fällen, wo nicht eben Unglükk und Noth, sondern ein anderer, vielleicht angenehmerer Einfluß irdischer Dinge Euer Gemüth so bewegte, daß es seine fromme Stimmung verlor. Möchte Euch nur die Ursach solcher heilsamen Veränderungen durch diese Auseinandersezung recht deutlich geworden sein! Es sind Wirkungen des gemeinschaftlichen Bekenntnisses der Religion, die auf keine andere Weise hervorgebracht werden können. Es wird jezt gar häufig gesagt, und nur zu bereitwillig geglaubt, daß wer sein Gemüth zu Gott erheben und den Gefühlen der Religion öfnen wolle, weit besser thun würde, wenn er sich entschlösse, sich dann und wann der Gesellschaft der Menschen zu entreißen und Stunden der Muße in der freien Natur unter den Werken Gottes hin [zu] bringen, als wenn er in finstern Gebäuden mit einigen andern, denen er nicht näher bekannt ist, einen eben so Unbekannten über diesen und jenen Theil der Religion reden hörte. Der Hoch | ste wohne ja doch nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind, und die unmittelbare Anschauung seiner Werke wirke weit kräftiger auf das Gemüth, als die schönsten Worte zu thun vermöchten. Gewiß wäre es sehr erfreulich,wenn diejenigen, die wir, nachdem sie eine Woche den Geschäften und den Sorgen des Lebens gewidmet haben, so zahlreich und frölich aus den Mauern

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unserer Städte hinausströmen sehen, wenn diese die "Wälder und die Gärten und die stillern ländlichen Wohnungen aufsuchten, um dort ihren Schöpfer zu finden, und sidi nicht auch dort wieder in bunten Kreisen zusammenfänden und ihren gewöhnlichen Vergnügungen oblägen! gewiß auch das würde manche gute Frucht bringen. Aber wie wunderlich ist es nicht, den Schöpfer allein in der Natur außer uns aufsuchen zu wollen welche nur so Wenige richtig verstehen, und zu der, ich darf es sagen, die Meisten nur durch einen dunkeln fast thierischen Zug getrieben werden, da doch Alles übereinstimmt, um uns zu sagen, daß der Mensch das Bild ist, welches ihm gleicht. Ist die Mannigfaltigkeit der menschlichen Natur, an die jede Gesellschaft Euch erinnert, nicht eben so groß, als die in den fremderen Geschöpfen der Erde, und verkündigt sie nicht lauter die Unendlichkeit des Höchsten? Ist die allmählige Entwikkelung des Göttlichen im Menschen nicht etwas eben so bewundernswürdiges als die Entwikkelung des Lebens und der Kraft in Bäumen und Gräsern? Und wo könnt Ihr das Alles ruhiger betrachten als hier? hier w o eben die Unbekanntesten sich vereinigen | in demselben Geist, hier wo Euch Alles an die merkwürdigsten Fortschritte des Menschen erinnert, hier w o seine Verwandschaft mit dem göttlichen Wesen Euch so nahe ins Auge tritt. Ihr, deren Bewußtsein mir die Wahrheit des Gesagten bezeugt, die Ihr diese verschiedenen Wohlthaten unserer öffentlichen Gottesverehrungen mehr oder minder genossen habt, es ist Euch sehr leicht gemacht, Euch dankbar dafür zu beweisen. Fahret nur fort das Gute zu genießen, welches Ihr kennt, schämt Euch nicht Euch dazu zu bekennen, und wo es eine Gelegenheit giebt, ein Zeugniß davon abzulegen, was sie Euch werth sind. Ihr aber, die Ihr sie bisher nicht geschäzt habt, findet Ihr dennoch die innere Wahrheit in meiner Rede, fängt es an Euch einzuleuchten, daß wohl das Gute, welches ich gerühmt habe, hier erreicht werden könne: so seid nicht zu sparsam, um dem Versuch bisweilen eine Stunde zu widmen; wir wollen eure bisherige Vernachlässigung, vielleicht auch euren Spott gern hingehen lassen mit den andern Verirrungen der vergangenen Zeit. Findet Ihr aber diese Wahrheit nicht: so laßt Euch ja nicht etwa zu einer mitleidigen Großmuth verleiten! überredet Euch nicht daß es doch heilsam sein könne, wenn Ihr des Beispiels wegen Euch bisweilen hier einfindet, um diejenigen anzulokken, die wirklich noch Nuzen hier schöpfen können. Dieser vermeintlichen Pflicht, die Euch nur ein lästiger Dienst wäre, entlassen wir Euch gern. Sollte sich auch die Anzahl derer, die sich hier zusammenfinden, | noch mehr verringern:

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nie komme Jemand hieher, der es nicht um sein selbst willen und aus freiem Triebe des Herzens thut. Folgt Ihr Eurem Sinn, und fördert das Gute in Euch auf eure Weise: wir wollen hier Gott ehren, und uns in der Nachfolge des Erlösers befestigen; Er wird auch ferner mitten unter uns sein, wie wenige auch in seinem Namen versammelt sein mögen128.

Die Weihnachtsfeier 1806

Einleitung des Herausgebers. Schleiermachers „Weihnachtsfeier" ist Anfang Januar 1806 in Halle bei Schimmelpfennig und Kompagnie erschienen. Zu Lebzeiten Schleiermachers, Anfang 1827, erschien eine zweite Auflage im Verlag seines Freundes Georg Reimer in Berlin. In der vorliegenden Ausgabe wird der Text der Erstauflage von 1806 abgedruckt. Die Seitenzahlen dieses Erstdrucks sind hier am oberen Seitenrand angegeben; im Text sind die Seitenanfänge durch Querstriche gekennzeichnet. Die „Sämmtlichen Werke" drucken 1. Abteilung, Band I, Seite 461 bis 525 den Text der 2. Auflage ab. Die wichtigsten Änderungen der 2. Auflage werden hier in den Anmerkungen mitgeteilt. Schleiermacher hat die „Weihnachtsfeier" im Dezember 1805 innerhalb von gut 14 Tagen niedergeschrieben und, wie bei fast all seinen Frühschriften, das Fertiggestellte sogleich in die Druckerei geschickt, den Schluß am Morgen des 24. Dezember (vgl. Br. II, 61). Schleiermacher selber spricht von einem plötzlichen Einfall „des Abends am Ofen, da wir eben aus Dülons Flötenkonzert kamen" (Br. IV, 122). Er hat ursprünglich seine Freunde zu Weihnachten mit dem Werk überraschen wollen, hat dann, als das Buch nicht rechtzeitig fertig wurde, immerhin sowohl in Halle wie in Berlin einige Exemplare anonym ausgeben lassen, um sich die Freude zu machen, sich von den Freunden erraten zu lassen (vgl. Br. IV, 122; Meisner II, jo f.). In der Form ist die „Weihnachtsfeier" das letzte halb-dichterische Werk Schleiermachers; insofern ein Abschiedsgruß an seine romantische Epoche. Die von Schleiermacher geäußerten Pläne zu einer ähnlichen Behandlung der andern Hauptfeste und zu Novellen (vgl. Br. II, jo.61; IV, 122) sind von ihm nicht mehr ausgeführt worden. Anteil an der Form hat jedoch auch das Vorbild der platonischen Dialoge, insbesondere des „Gastmahls", mit dessen Ubersetzung

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Die "Weihnachtsfeier. 1806

Schleiermacher eben beschäftigt war. Schleiermacher selber deutet den platonischen Einfluß nicht nur in Briefen (vgl. Br. II, 50), sondern auch in der „Weihnachtsfeier" selbst an (vgl. Anm. 159). D a ß Schleiermacher auch hier an der künstlerischen Form gescheitert ist, wurde schon von den ersten Lesern bemerkt. Gegen Henriette Herz muß Schleiermacher sich gegen den Vorwurf verteidigen, daß das Kind Sophie altklug geraten sei (Br. II, 50). Friedrich Schlegel schreibt: „Es scheint mir, Du hättest der Personen fast zu viel für ein so kurzes Ganzes. Hüte Dich auch im Styl nicht allzukünstlich zu werden." (Br. III, 421). Immerhin steht Schleiermachers Erzählkunst in den kurzen Skizzen der „Weihnachtsfeier" hoch über einem Werk wie Schlegels „Lucinde". Inhaltlich ist die „Weihnachtsfeier" eine Frucht der ersten glückhaften Dozententätigkeit Schleiermachers in Halle. Nach einer ihn selber nicht befriedigenden „Theologischen Fundamentallehre" im Wintersemester 1804/05 las Schleiermacher im Wintersemester 1805/06 zum erstenmal „Dogmatik". Es ergab sich ihm die Aufgabe, dem ihm gemüthaft gegenwärtigen christlichen Glauben, der sich aber in der überlieferten Lehrform nicht wiedererkannte, eine ihm angemessene, und der rücksichtslosen philosophischen Kritik standhaltende Reflexionsgestalt zu geben. Die „Weihnachtsfeier" ist die erste geniale Skizze einer Lösung dieser Aufgabe; eine Skizze, zu der Schleiermacher das Gemälde im Laufe seiner akademischen Wirksamkeit nur teilweise und bruchstückhaft ausgeführt hat. Mit dem „Gespräch" über die Bedeutung des Weihnachtsfestes ergreift Schleiermacher die Aufgabe an ihrer empfindlichsten Stelle, an welcher der reiche gemüthafte Inhalt von der kritischen Reflexion schlechterdings aufgelöst zu werden scheint. Insofern ist die Wahl gerade des Weihnachtsfestes kein Zufall, auch wenn Schleiermacher, wie schon gesagt, die Absicht ausspricht, die andern Feste auf ähnliche Weise zu behandeln. Diese Absicht ist dann später — mutatis mutandis — mit den beiden Sammlungen Festpredigten verwirklicht worden. Jedenfalls ist die „Weihnachtsfeier", in der Vollständigkeit der Skizze, allenfalls mit Ergänzung durch die „Festpredigten", ein klares Zeugnis dafür, daß die Christologie im Mittelpunkt der gesamten Denkarbeit Schleiermachers steht. Der bedeutsamste, über die Frühwerke Schleiermachers hinausführende Einfluß, der sich in der „Weihnachtsfeier" niederschlägt, ist der des Novalis (vgl. dazu: Em. Hirsch, Schleiermachers Christusglaube, Gütersloh 1968. Seite 14 ff.). Im Jahre 1802 war die von

Einleitung des Herausgebers

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Schlegel und Tieck veranstaltete Ausgabe seiner „Schriften" erschienen. Schleiermacher hat sie gründlich und mit einer bei ihm seltenen fast vorbehaltlosen Zustimmung, ja Begeisterung gelesen (vgl. z. B. Br. I, 309 f. 353 f. 366; Meisner II, 40; Br. I I I , 270. 336). Schleiermacher übernimmt von Novalis die symbolisch-„mythische" Ausdeutung der christlichen Uberlieferung und überwindet damit die aufgeklärte Dogmen- und Legendenkritik samt dem damit verbundenen Moralismus. Diese Aufnahme des Novalis drückt sich am unmittelbarsten im ersten Teil der „Weihnachtsfeier" mit den Erzählungen der Frauen aus, auch wenn Schleiermacher die gedanklich unklare Marienmystik des Novalis zu protestantisch bestimmter Geistigkeit läutert. Vor allem folgt aber Schleiermacher weder der Gleichgültigkeit des Novalis gegen den geschichtlichen Stoff überhaupt, noch begnügt er sich mit der allgemeinen dichterischen Vergegenwärtigung des „mythischen" Gehalts. Schon 1806 schreibt Schleiermacher über die „Weihnachtsfeier" an Henriette Herz: „Was er (cf. Johannes Müller) aber meint vom Verwandeln der Geschichte in Allegorie, ist mir ein sehr unliebes Mißverständnis, woran ich aber doch rein unschuldig zu sein hoffe." (Br. II, 58). In der 2. Auflage hat Schleiermacher sich dann bemüht, durch vorsichtige Änderungen dem Mißverständnis einer Mißachtung der Geschichte vorzubeugen (vgl. Anm. 1 6 1 ff.). Während Schleiermacher die Geschichtlichkeit der Gestalt Jesu in ihren wesentlichen Zügen als selbstverständlich voraussetzt — man darf hier nicht von der gegenwärtigen theologischen Lage aus über ihn urteilen — , ist die kritisch-reflektierende Durchdringung und Darstellung des christlichen Glaubengehalts und seine Beziehung auf das geistige Gesamtleben der Menschheit das Hauptthema der Denkarbeit Schleiermachers. In der „Weihnachtsfeier" entwerfen die 3 Reden des 2. Teils ein vorläufiges Gesamtbild dieser Arbeit. In der Verteilung auf die drei Redner drückt sich keine letzte Gegensätzlichkeit in der Sache aus; vielmehr stellt Schleiermacher in dem Zusammenklang der Äußerungen von geistig so verschiedenen Personen das unvermeidliche Auseinanderfahren der Reflexion dar. Nicht mehr die Reflexionsgestalt des christlichen Glaubens, etwa das formulierte Dogma oder Bekenntnis, kann die Einheit der Gläubigen tragen, sondern nur das Mitleben im christlichen Gesamtleben. Die 3 Reden als solche stellen also Momente in Schleiermachers eigener Christentumsauffassung dar. Das gilt auch von der 'Rede des Skeptikers Leonhard. Ohne wesentliche Bejahung der von ihm ausgesprochenen kritischen

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Einsichten fehlte ja dem weiterführenden theologischen Denken Schleiermachers das bewegende Motiv. Schleiermacher drückt das selber aus, wenn er in der 2. Auflage die Ausführungen Leonhards nicht etwa — dem Charakter der Figur entsprechend — radikalisiert, sondern seiner eigenen bleibenden Anschauung gemäß abmildert (vgl. Anm. 161 ff.). In der Rede des Ernst hat man schon immer Schleiermachers eigenen Standpunkt am ehesten zu finden gemeint (vgl. auch Dilthey 2 , 797). Aber gerade erst in der Rede Eduards vollendet sich die Darstellung Schleiermachers in der geschichtsphilosophisch unterbauten Synthese des Christlichen und des Humanen. Es entspricht nicht den Tatsachen, daß Schleiermacher, wie man unter Mißverständnis einer mißverständlichen Bemerkung Diltheys (Dilthey 2 , 794) noch heute behauptet, diesen Standpunkt „später nach der Kehre seines Denkens seit 1811 verworfen" habe. Schleiermacher hat zwar die von Novalis und Goethe übernommene und von ihm auf Christus übertragene Bezeichnung „Erdgeist" fallengelassen — sie tritt auch in der z. Auflage der „Weihnachtsfeier" zurück (vgl. Anm. 175 ff.) — ; das Gemeinte, Christus als Urbild und Vollendung der Erdgeschichte, erscheint aber auch in den späteren Predigten Schleiermachers (vgl. Anm. 175). Das Fehlen einer ausgeführten Geschichtsphilosophie bei Schleiermacher ist nicht das Ergebnis einer „Kehre" seines Denkens, sondern hat im wesentlichen darin seinen Grund, daß er wesentliche Teile seines Gesamtsystems, darunter eben auch die „Ethik", hat unvollendet lassen müssen. Gerade deshalb ist die „Weihnachtsfeier" ein für das Verständnis des Gesamtwerks unentbehrlicher Leitfaden, (vgl. auch Em. Hirsch, a. a. O., Seite 37 ff.).

Die Weihnachtsfeier Ein Gespräch.

Von Friedrich Schleiermacher.

Halle 1806, bei Schimmelpfennig und Kompagnie.

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Der freundliche Saal war festlich aufgeschmükkt, alle Fenster des Hauses hatten ihre Blumen an ihn abgetreten; aber die Vorhänge waren nicht herunter gelassen, damit der hereinleuchtende Schnee an die Jahrszeit erinnern möchte. Was von Kupferstichen und Gemälden sich auf das heilige Fest bezog, zierte die Wände, und ein Paar schöne Blätter dieser Art waren das Geschenk der Hausfrau an ihren Gatten. Die zahlreich und hoch gestellten durchscheinenden Lampen verbreiteten ein feierliches Licht, welches doch zugleich schalkhaft mit der Neugierde spielte. Denn die bekannten Dinge zeigte es deutlich genug; das Fremde aber und | Neue konnte nur langsam und bei genauer Betrachtung recht bestimmt wahrgenommen werden. So hatte es die heitere und verständige Ernestine angeordnet, damit nur allmählig die halb im Scherz halb ernsthaft aufgeregte Ungeduld sich befriedigte, und die bunten kleinen Gaben noch ein Weilchen von einem vergrößernden Schimmer umgeben blieben. Alle nämlich, die den eng verbundenen Kreis bildeten, Männer und Frauen, Jünglinge und Mädchen hatten es diesmal ihr übertragen, das, womit sie einander erfreuen wollten einem Jeden zusammenzustellen, und so was vereinzelt unscheinbar würde, zu einem stattlichen Ganzen zu ordnen. Nun hatte sie es vollbracht. Wie man in einem Wintergarten zwischen den immergrünen Stauden die kleinen Blüthen des Galanthus und der Viole noch unter dem Schnee oder unter der schir | menden Dekke des Mooses hervorholen muß: so war Jedem sein Gebiet durch Epheu, Myrthen und Amaranthen eingehegt, und das zierlichste lag unter weißen Dekken oder bunten Tüchern verhüllt, indeß die größeren Geschenke rund umher oder unter den Tafeln mußten aufgesucht werden. Die Namenszeichen fanden sich mit eßbaren Kleinigkeiten geschrieben auf den Dekken, und Jedem lag nun ob, zu den einzelnen Gaben den Geber aufzufinden. Die Gesellschaft wartete in den anstoßenden Zimmern, und die Ungeduld gab dem Scherz, der unterdeß getrieben wurde, einen leichten Stachel. Unter dem Vorwande zu errathen oder zu verrathen, wurden Gaben ersonnen, deren Beziehung

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auf kleine Fehler und Gewohnheiten, auf lustige Vorfälle und lächerliche Mißverständnisse oder Verlegenheiten nicht zu verkennen waren; und wem ein kleiner Streich dieser Art gespielt war, der säumte | nicht, ihn nach allen Seiten hin zu erwiedern. Nur die kleine Sofie ging in sich gekehrt mit den größten ihrer Schrittchen auf und ab, und war den muthwillig durch einander laufenden und redenden mit ihrer unruhigen Gleichförmigkeit fast eben so sehr im Wege, als diese ihr. Endlich fragte Anton sie mit verstellter Verdrießlichkeit, ob sie nicht jezt alle ihre Geschenke gern hingeben würde für ein Glas, welches ihr vergönnte, durch die verschlossnen Thüren zu schauen. — Wenigstens, sagte sie, thäte ich das eher als du. Denn du bist gewiß mehr eigennüzig als neugierig, und glaubst wol ohnedies, daß die Strahlen deiner wunderbaren Klugheit durch keine Thür aufgehalten werden. Und nun sezte sie sich in den dunkelsten Winkel, und wiegte das Köpfchen bedachtsam in den aufgestüzten Händen. Nicht lange so öffnete Ernestine die Thüre, an der sie angelehnt stehen blieb. AI | lein anstatt daß die muntere Schaar begierig, wie man erwarten sollte, zu den besezten Tafeln geeilt wäre, wendeten sich in der Mitte des Saales, wo man das Ganze überschauen konnte, alle Blikke auf sie. So schön war die Anordnung und ein so vollkommner Ausdrukk ihres Sinnes, daß unbewußt und nothwendig Gefühl und Auge zu ihr hingezogen wurden. Halb im Dunkel stand sie da, und gedachte sich unbemerkt an den geliebten Gestalten und an der leichten Freude zu ergözen: aber sie war es, an der sich alles zuerst ergözte. Als hätte man das übrige schon genossen, und als wäre sie die Geberin von Allem, so sammelte man sidi um sie her. Das Kind umfaßte ihre Knie und schaute sie mit den großen Augen an, ohne Lächeln aber unendlich lieblich; die Freundinnen umarmten sie; Eduard küßte ihr schönes heruntergeschlagenes Auge, und wie es Jedem geziemte, wurde ihr von Allen | die herzlichste Liebe und Andacht bezeugt. Sie mußte selbst das Zeichen geben zur Besiznehmung. — Wenn ich es Euch zu Dank bestellt habe, ihr Lieben! sagte sie, so vergeßt nur nicht über dem Rahmen das Bild, und bedenkt, daß ich nur den festlichen Tag und Eure fröhliche Liebe geehrt habe, deren Zeichen Ihr mir anvertrautet. Kommt nun, und sehe Jedes, was ihm beschert ist, und wer nicht verständig zu rathen weiß, lasse sich geduldig auslachen. — Auch fehlte es hieran nicht. Zwar die Frauen und Mädchen riefen mit großer Zuversicht zu einer jeglichen Gabe den Geber aus, so daß sich keiner verläugnen konnte, aber die Männer begingen viele Mißgriffe, und nichts war lustiger und verdrüßlicher, als

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wenn sie über ihre Vermuthung schon einen wizigen Einfall ausgestellt hatten, und dieser dann wie ein schlechter Wechsel mit Protest zurükkgeschikkt wurde. — Es muß sich wol ziemen, | sagte Leonhard, wenn gleich es uns mit Recht immer verdrießt, daß die Frauen in diesen lieblichen Kleinigkeiten uns so weit an Scharfsinn übertreffen. Denn wie ihre Gaben weit mehr als die unsrigen durch ihre Bedeutung die feinste Aufmerksamkeit verrathen, und wir diese schöne Frucht ihres Talentes genießen: so müssen wir uns auch jene andere Wirkung desselben gefallen lassen, wiewohl sie uns etwas in den Schatten stellt. — Zu gütig, entgegnete Friederike, es ist gar nicht so allein unser Talent; sondern, wenn es zu sagen erlaubt ist, eine gewisse Ungeschikktheit in Euch Männern kommt uns auch nicht wenig zu Hülfe. Ihr liebt gar sehr die geraden Wege, wie es auch den Machthabern geziemt, und Eure Bewegungen, wenn Ihr auch gar nichts damit zu sagen gemeint seid, sind doch von einer so verrätherischen Verständlichkeit, wie etwa auf dem Schachbrett die Entwürfe desjenigen, der | es nicht unterlassen kann die bedenklichen Steine des Gegners prüfend zu berühren, und mit unreifem Entschluß seine eigenen sechs mal zu heben, ehe er einmal zieht. — J a , ja! entgegnete Ernst ehrlich lächelnd und verstellt seufzend, es bleibt wol bei dem, was der alte Salomon sagt: den Mann hat Gott aufrichtig geschaffen, aber die Weiber suchen viel Künste129. — So habt Ihr doch den Trost, sprach Karoline, uns nicht verderbt zu haben durch die moderne Artigkeit. Vielleicht mag wol gar beides eben so ewig sein als nothwendig; und wenn etwa Eure ehrliche Einfalt die Bedingung unserer Schlauheit ist, so beruhiget Euch damit, daß vielleicht auf einer andern Seite unsere Beschränktheit sich eben so verhält zu Euren größeren Talenten. Indeß waren die Geschenke näher betrachtet worden, und zumal was eigne weibliche Arbeiten waren in Stikkerei und feiner | Nähkunst, wurde von ihnen allen mit Kunstverstand geprüft und gelobt. Sofie hatte zuerst nur einen flüchtigen Blikk auf ihre eigenen Schäze geworfen, und war gleich bald hier bald dort bei Allen umhergegangen, alles neugierig beschauend und eifrig rühmend, vor allen Dingen aber ansehnlidie Bruchstükke von den zerstörten Namenszeichen einbettelnd. Denn an Süßigkeiten aller Art ist sie unersättlich, und liebt große Vorräthe davon zu besizen, zumal wenn sie sie auf diese Weise zusammenbringen kann. Erst nachdem sie ihre Reidithümer mit einem solchen Magazin vermehrt hatte, fing sie an, ihre Geschenke genauer zu betrachten, und ging nun wieder zeigend und triumfirend mit jedem einzelnen Stükke besonders umher, gleich von jedem, wie es sich thun

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ließ, Gebrauch machend, um dadurch die Vortrefflichkeit der Gaben am sichersten zu beweisen. — Aber das Beste scheinst | Du gar nicht zu achten, erinnerte die Mutter. — O ja! einzige Mutter, sagte das Kind, ich habe nur noch nicht Herz dazu; denn ist es ein Buch, so hilft es mir nicht, ob ich hier hinein sehe: ich muß mich hernach in das Kämmerchen verschließen, um es dort auch zu genießen. H a t mir aber Jemand, denn Du bist es sicher nicht gewesen, einen ernsthaften Scherz gemacht mit Mustern und Anleitungen zu allerlei Strikken und Stikken und andern Herrlichkeiten: so verspreche ich Dir so gewiß ich kann, sie im neuen Jahre recht fleißig zu gebrauchen: aber nur jezt will ich es noch nicht wissen. — Schlecht gerathen, sprach der Vater, dergleichen ist es nicht, denn Du willst noch nicht verdienen so etwas zu besizen; aber es ist auch kein Buch, womit Du dich, um es seiner Bestimmung gemäß zu genießen, in die Kammer zurükkziehn könntest. — Nun zog sie es mit der größten Begierde hervor auf | die Gefahr einen großen Theil ihrer Vorräthe zu verschütten, rief mit einem lauten Schrei aus, Musik! und umherblätternd, o große Musik! Weihnachten für ein ganzes Leben! ihr sollt singen, Kinder, die herrlichsten Sachen. Nun las sie die Ueberschriften von größtentheils religiösen Komposizionen, alle in Bezug auf das liebliche Fest, lauter vorzügliche und zum Theil auch alte seltene Sachen. Sogleich lief sie nun zum Vater hin, um in leidenschaftlicher Dankbarkeit ihn mit Küssen zu überdekken. Bey der schon erwähnten Abneigung gegen weibliche Arbeiten, zeigt das Kind ein entschiedenes Talent zur Musik; aber auch eben so beschränkt als groß. Zwar ihr Sinn ist keinesweges beschränkt; sondern sie hat herzliche Freude an allem Schönen, auf jedem Gebiet dieser Kunst. Nur selbst ausüben mag sie nicht leicht etwas, als was im großen Kir | chenstil gesezt ist. Man darf es schon selten für ein Zeichen einer rein fröhlichen Stimmung halten, wenn sie halb laut ein leichtes lustiges Liedchen trillert. Geht sie aber ans Instrument, und sezt ihre Stimme, die sich zeitig zur Tiefe neigt, ordentlich in Bewegung: so ist es immer nur jene große Gattung. Hier weiß sie jedem Tone sein Redht anzuthun, jeder tritt mit kaum sich losreißender Liebe von dem Andern heraus, und steht dann doch selbstständig da in gemeßner Kraft, und räumt dann wieder, wie mit einem frommen Kusse, dem nächsten seine Stelle. Auch wenn sie allein zur Uebung singt, bezeigte sie so viel Achtung für die andern Stimmen, als ob sie ebenfalls gehört würden: und so sehr sie auch oft ergriffen ist, so stört doch nie eine Art von Uebermaaß den Wollaut des Ganzen. Man

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kann es kaum anders nennen, auch ganz abgesehen von den Gegenständen, als daß sie | mit Andacht singt, und jeden Ton mit demüthiger Liebe wartet und pflegt. Wie nun Weihnachten recht eigentlich das Kinderfest ist, und sie ganz besonders darin lebt: so konnte ihr kein lieberes Geschenk erscheinen, als eben dieses. Sie saß eine Weile in das Ansdiaun der Tonzeichen vertieft, griff die Töne auf dem Buch, und sang in sich hinein ohne Laut, aber mit sichtlicher Bewegung der Muskeln und mit lebhaften Geberden. Dann sprang sie plötzlich hinaus, kehrte aber bald zurück und sagte: Nun laßt aber alles Besehen und Besprechen, und kommt bey mir zu Gaste drüben. Ich habe schon alles angezündet; der Thee ist auch bald bereitet, und also ist jezt die bequemste Zeit. Ich durfte Euch nichts schenken, wie Ihr wißt und gesehen habt; aber auf ein Schauspiel Euch einzuladen, ist mir nicht verboten. Man hatte ihr nämlich | die Bedingung gemacht, sie sollte mit unter die Zahl der Schenkenden aufgenommen werden, sobald sie eine fehlerfreie zierliche Arbeit als erste Gabe darbringen könnte. Dies hatte sie noch nicht vermocht, aber sie wollte sich doch auf irgend eine Weise schadlos halten. Nun besizt sie eines von jenen kleinen künstlichen Spielwerken130, auf denen ursprünglich durch kleine bewegliche geschnizte Figuren unter angemessenen Umgebungen die Geschichte des Tages soll dargestellt seyn, die aber gewöhnlich so gut als ganz verdrängt wird, durch eine Menge von ungehörigen abgeschmackten Zuthaten, welche man anbringt, um dem einfältigen Mechanismus möglichst viel buntschekkige Verrichtungen zu geben, dies hatte sie gereinigt, in Stand gesetzt, hie und da verbessert, und es war nun in ihrer Kammer recht vortheilhaft aufgestellt und erleuchtet. Auf einer ziemlich großen Tafel waren mit leidli | chem Geschikk in freier Verwirrung und von wenigen Episoden unterbrochen viele wichtige Momente aus der äußeren Geschichte des Christenthums dargestellt. Durch einander sah man da die Taufe Christi, Golgatha und den Berg der Himmelfahrt, die Ausgießung des Geistes, die Zerstörung des Tempels und Christen die sich mit den Sarazenen um das heilige Grab schlagen, den Pabst auf einem feierlichen Zuge nach der Peterskirche, den Scheiterhaufen des Huß, und die Verbrennung der päbstlichen Bulle durch Luther131, die Taufe der Sachsen, die Missionarien in Grönland und unter den Negern, den Herrnhutischen Gottesakker und das Hallische Waisenhaus, welches der Verfertiger, wie es schien, als das lezte große Werk einer religiösen Begeisterung angesehen hatte. Mit besonderem Fleiß hatte die Kleine überall Feuer und Wasser behandelt, und die strei-

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tenden Ele | mente recht herausgehoben. Die Ströme flössen wirklich und das Feuer brannte, und sie wußte mit großer Vorsicht die leichte Flamme zu unterhalten und zu hüten. Unter allen diesen stark hervortretenden Gegenständen suchte man eine Zeitlang die Geburt selbst vergeblich; denn den Stern hatte sie weislich zu verstekken gesucht. Man mußte den Engeln und den Hirten nachgehn, die auch um ein Feuer versammelt waren, man öffnet eine Thüre ganz in der Wand des Bildwerkes, das Haus war nur als Dekoration aufgetragen, und man erblikkt in einem Gemach, das also eigentlich außerhalb liegt, die heilige Familie. Alles ist dunkel in der ärmlichen Hütte, nur ein verborgenes starkes Licht bestrahlt das Haupt des Kindes, und bildet einen Widerschein auf dem vorgebeugten Angesicht der Mutter. Gegen die wilden Flammen draußen verhielt sich dieser milde Glanz wirklich wie himmlisches | Feuer gegen das irdische. Auch pries Sofie dies selbst mit sichtlicher Zufriedenheit als ihr höchstes Kunststükk; sie dünkte sich dabei ein zweiter Correggio und machte ein großes Geheimniß aus der Veranstaltung. Nur, sagte sie, habe sie bis jezt noch vergeblich darauf gesonnen, audi einen Regenbogenschein hineinzubringen, weil doch, sprach sie, der Christ der rechte Bürge ist, daß Leben und Lust nie mehr untergehen werden in der Welt132. Sie kniete einige Augenblikke, das Köpfdien reichte nur eben auf den Tisch, vor ihrem Werk, unverwandt in das kleine Gemach hineinschauend. Plözlich ward sie gewahr, daß die Mutter grade hinter ihr stehe: sie wendete sich zu ihr ohne ihre Stellung zu ändern, und sagte innig bewegt, o Mutter! Du könntest eben so gut die glükliche Mutter des göttlichen Kindleins sein, und thut es Dir denn nicht weh, daß Du es nicht bist? Und ist es nicht deshalb, | daß die Mütter die Knaben lieber haben? Aber denke nur an die heiligen Frauen, welche Jesum begleiteten, und an Alles, was du mir von ihnen erzählt. Gewiß, ich will auch eine solche werden, wie du eine bist. Die gerührte Mutter hob sie auf und küßte sie. Die Andern betrachteten indeß einzeln dies und jenes. Besonders ernsthaft stand Anton davor. Er hatte seinen jüngeren Bruder neben sich, und zeigte diesem erklärend mit der weitschweifigen pathetischen Eitelkeit eines Cicerone, alles was er wußte. Der Kleine schien sehr aufzumerken, verstand aber gar nichts, und wollte immer zwischen durch in das Gewässer greifen und nach den Flammen, um sich zu überzeugen, ob sie auch wahrhaft wären und keine Täuschung. Während die Meisten noch hier beschäftigt waren, ließ Sofie nicht ab mit leisen Bitten beim Vater; er mußte sich mit Friederike und Karoline in das andere Zimmer | ziehn lassen,

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leztere sezte sich ans Klavier, und sie sangen zusammen das Chor: „Lasset uns ihn lieben", und den Choral: „Willkommen in dem Jammerthal", und noch einiges133 aus Reichardts trefflicher WeihnachtsCantilene, wo die Freude und das Gefühl der Errettung und die demüthige Anbetung so schön ausgedruckt ist134. Bald hatten sie Alle zu andächtigen Zuhörern, und als sie geendet hatten, geschah es, wie immer, daß religiöse Musik zuerst eine stille Befriedigung und Zurükgezogenheit des Gemüthes bewirkt. Es gab einige stumme Augenblikke, in denen aber Jeder wußte, daß eines Jeden Gemüth liebend auf die Uebrigen und auf etwas noch Höheres gerichtet war. Der Ruf zum Thee versammelte bald wieder Alle im Saale, nur Sofie blieb noch lange in emsiger Uebung am Klavier, und kam nur schnell und ohne große Theilnahme ab und zu, ihren Durst zu löschen. | Man ging auf und nieder, und beschäftigte sich noch einmal mit den Geschenken. Sie schienen nun erst, nachdem etwas anderes vorgegangen war, recht in den Besiz ihrer neuen Eigenthümer übergegangen zu sein, und konnten nun auch von den Gebern als etwas fremdes betrachtet und unbefangen gerühmt werden. Manches war vorher von Vielen übersehen worden, an manchen wurden nun erst noch besondere Vorzüge entdekkt. Wir haben aber auch diesmal, sagte Ernst, ein besonderes günstiges Jahr, um uns an unseren Gaben zu erfreuen. Manche bedeutende Veränderung steht bevor. Das niedliche Kinderzeug, womit Agnes so reichlich beschenkt ist, die schönen kleinen Kostbarkeiten für unsere künftige Einrichtung, meine gute Friederike, das Reisegeräth für Leonhardt, selbst die Schulbücher für deinen Anton, liebe Agnes, alles zeigt auf Fortschritte und schöne Ereignisse, | und macht uns die Freuden der Zukunft auf eine belebende Art gegenwärtig. Ist doch das Fest selbst die Verkündigung eines neuen Lebens für die Welt135, und so wird es uns natürlich am eindrükklichsten und erfreulichsten, wenn auch in unserm Leben sich etwas neues bedeutend regt. Ich schließe dich aufs neue wie ein Geschenk des heutigen Tages in meine Arme, du Geliebte! Als wärest du mir mit dem Erlöser zugleich izt eben gegeben, so ergreift midi ein wunderbares festliches Gefühl in hoher Freude. J a es kann mich schmerzen, daß nicht Alle hier, so wie wir, vor einer neuen Stufe des Lebens andächtig knien, daß Euch, geliebten Freunde, nichts Großes nahe liegt, was sich dem großen Gegenstand unmittelbar anheftete, und daß ich fürchte, wie unsre Gaben nur bedeutungslos erscheinen können gegen die Eurigen an uns, so sei auch euer Gemüthszustand zwar heiter und glükklich, aber | doch minder bewegt und erhöht und doch fast gleich-

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gültig im Vergleich mit dem unsrigen. — Gewiß du bist sehr gut, lieber Freund, sagte Eduard, aus deiner Begeisterung so theilnehmend auf uns herüberzusehn. Aber doch rükt eben die Begeisterung uns dir zu sehr in die Ferne. Bedenke nur, daß unser ruhiges Glück eben dasjenige ist, dem du entgegengehst, und daß jede ächte Begeisterung, auch die der Liebe, etwas nie Veraltendes und immer Erregbares ist. Oder kannst du dir Ernestinens Gefühl bey dem Ausdrukk kindlicher Andacht und tiefer Innigkeit in unserer Sofie als etwas Gleichgültiges, kannst du es ohne die lebendigste Thätigkeit der Fantasie denken, in welcher Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sich umschlingen? Sieh nur, wie sie im Innern bewegt ist, wie sie in einem Meere der reinsten Glükkseligkeit badet. — Ja, ich gestehe es gern, sagte Ernestine, ordentlich | entzükkt hat sie mich vorher mit ihren wenigen Worten. Aber ich thue ihr unrecht, die Worte allein könnten eher einem, der sie nicht kennt, als Affectation vorgekommen sein; es war ungetheilt die ganze Anschauung des Kindes. Das engelreine Gemüth that sich so herrlich auf, und wenn Ihr versteht, was ich meine, aber ich weiß es nicht anders auszudrükken, in der größten Unbefangenheit und Unbewußtheit lag ein so tiefer gründlicher Verstand des Gefühls, daß ich überschüttet wurde von der Fülle des Schönen und Liebenswürdigen, das nothwendig aus diesem Grunde emporwachsen muß. Warlich ich fühle es, daß sie in Einer Hinsicht nicht zu viel gesagt hat, als sie sagte, ich könnte wol auch die Mutter des angebeteten Kindes sein, weil ich in der Tochter, wie Maria in dem Sohne, die reine Offenbarung des Göttlichen recht demüthig verehren kann, ohne daß das rechte | Verhältniß des Kindes zur Mutter dadurch gestört würde. — Darüber sind wir wol Alle einverstanden, sagte Agnes, daß das sogenannte Verzärteln und Verziehen, das nur sich selbst zu Liebe geschieht, nicht den Kindern, um sich etwas Unangenehmes zu ersparen, nichts zu schaffen haben kann mit dem, was du meinst — Wir Frauen wol, erwiederte Ernestine, aber ob man es nicht den Männern doch bisweilen ausdrükklich vorhalten muß? Wenn ihre eigentliche Sorge angeht, zumal bei den Knaben, dann gilt es Tapferkeit und Tüchtigkeit, das Fortschreiten ist dann immer verbunden mit Anstrengung und Versagung, und oft mag es auch Noth thun, das vergrößernde Selbstgefühl niederzuhalten, und das könnte ihnen leicht eine unrichtige Ansicht geben, wenn sie sich nicht an unserm mütterlichen Thun und Sinn fleißig orientirten. — Ja wir erkennen es, sprach Eduard, wie Ihr | bestimmt seid und gemacht, die ersten reinen Keime zu pflegen und zu entwikkeln, ehe

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noch etwas Verderbliches heraustritt oder sich ansetzt. Den Frauen, die sich dem heiligen Dienst widmen, ziemt es überall, im Innern des Tempels zu wohnen als Vestalinnen, die des heiligen Feuers wachen. Wir dagegen ziehn außen herum in strenger Gestalt, üben Zucht und predigen Buße, oder heften den Pilgern das Kreuz an und umgürten sie mit dem Schwerdt, um ein verlornes Heiligthum zu suchen und wieder zu gewinnen. — Du bringst mich, unterbrach ihn Leonhardt, wieder auf meinen Gedanken, den ich schon im Fluß Eures Gespräches verloren hatte. Er betrifft Eure Sofie, und schwebt mir seit einiger Zeit schon öfters auf der Zunge, izt aber besonders lebhaft. Ihre kindliche Frömmigkeit rührt mich gewiß auch; aber mir schaudert auch nicht selten davor. Wie ihr Gefühl | herausbricht, sehe ich sie bisweilen schon im Geist an, wie eine Knospe die durch zu starken Trieb [sich] in sich selbst verzehrt, ehe sie sich aufschließt. Bei allem Heiligen, lieben Freunde! gebt diesem Gefühl nicht zu viel Nahrung. Oder könnt Ihr sie Euch nicht so lebhaft wie ich denken, mit verblühten Farben, vielleicht gar im Schleier mit unfruchtbarem Rosenkranzdienst vor einem Heiligenbilde knien, oder in dürftigem und kraftlosem Leben, eingehüllt in das zurükkstoßende Häubchen und in die anmuthslose Tracht vom freien und frohen Lebensgenuß ausgeschlossen in einem herrnhutischen Schwesternhause136? Es ist eine gefährliche Zeit, viel schöne weibliche Gemüther begeben sich in eine von diesen schnöden Verirrungen, die Familienbande zerreissen, und so wird auf jeden Fall die schönste Gestalt und das reichste Glükk der weiblichen Bestimmung verfehlt, der inneren Verschrobenheit, ohne die | so etwas gar nicht entstehen kann, nicht zu gedenken. Und das Kind, fürchte ich, hängt sehr nach dieser Seite. J a es wäre ein unersezlicher Verlust, wenn dies Gemüth und dieser Geist von dem Verderben einer Zeit ergriffen würden, in welcher wenig137 Frauen ihre Ehre unbefleckt138 behalten, wenn das wahr ist was Göthe sagt, daß immer ein Makel auf einer Person haftet, die ihre Ehe aufgelöst oder ihre Religion geändert hat139. Gesprochen soll werden über eine solche Besorgniß, wenn sie ein Freund hegt; aber nur einmal, und so mag es nicht unrecht sein, daß ich immer, ich weiß nicht wie, bis heute bin gehindert worden. — Ich gebe dir das Zeugniß, sagte Ernestine, daß du bist gehindert worden. Denn angemerkt habe ich dir dein besorgliches Gefühl schon mehr als ein Mal; und bei dieser Bestimmtheit wollte es auch gewiß schon in Worte Übergehn. Aber ich forderte es dir nicht | ab, weil ich hoffte, es sollte dir selbst verdächtig werden, wenn du das Kind mehr sähest und sein Inneres sich dir

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deutlicher entwikkelte. Sieh, lieber! ich berufe mich auf dich selbst. Gewiß ganz recht, seztest du voraus, es liege allemal eine innere Verschrobenheit zum Grunde, wo ein solcher Lebensweg eingeschlagen wird, wie du besorgst. Und wo ist diese leichter zu erkennen, als bei einem Kinde, bei dem man so wenig zweifelhaft sein kann, ob irgend etwas aus dem Innern hervorgegangen ist oder sich von außen angesetzt hat. Kannst du nun wol irgend etwas Verschrobenes in ihr aufzeigen, was über die Kindheit hinausginge? Oder irgend ein Mißverhältniß, wodurch ihre frommen Regungen sonst etwas unterdrükken was ihr geziemt? Ich weiß nicht anders, als daß sie dies völlig eben so behandelt, wie jedes Andere was ihr lieb und werth ist. So giebt sie sich jeder Be | wegung hin, bei jedem auch ganz kindischen Interesse wirst du sie als dieselbe finden, und sie treibt warlich mit diesem so wenig Eitelkeit wie mit jedem Andern. Auch fehlt es ihr an jeder Veranlassung dazu, und wird ihr, was uns betrifft, immer daran fehlen. Denn Niemand merkt hierauf besonders; und wenn sie freilich inne werden muß, wie billig, daß wir diese Gesinnung eben mit unter das Höchste rechnen, so wird doch von den einzelnen Regungen und ihrer Aeußerung niemals viel Aufhebens gemacht. Wir finden sie natürlich, und so ist auch in der That die Gesinnung ihr natürlich. Was so kommt, denken wir, kann man auch ungestört der Natur überlassen. — Und zwar um so sicherer, fuhr Eduard halb unterbrechend fort, je mehr es zu dem Schönsten und Edelsten gehört. Denn warlich, lieber Freund! es muß doch das Rechte von der Sache sein, das Innere, was die Kleine so er | greift, da sie gar keine Gelegenheit hat, sich an das bloß Aeußerliche zu hängen. Dies Weihnachtsspiel ist in wenigen Tagen bei Seite gestellt, und du weißt selbst recht gut, daß es gar nichts Förmliches Religiöses in unserm Kreise giebt, kein Gebet zu bestimmten Zeiten, keine eignen Andachtsstunden, sondern Alles nur wenn es uns so zu Muth ist140. Audi hört sie uns oft dergleichen sprechen, ja singen sogar, was doch so sehr ihre Lieblingssache ist, ohne sich an uns anzuschließen; alles recht nach der Kinder Weise und Art. Zur Kirche hat sie nicht einmal besondere Lust. Man singt ihr dort zu schlecht, und das Uebrige versteht sie nicht, und es macht ihr Langeweile. Wäre etwas Erzwungenes in ihrer Frömmigkeit, oder wäre sie geneigt nachzuäffen, oder sich von fremdem Ansehn leiten zu lassen: würde sie sich dann nicht zwingen, das sdiön zu finden und der Theilnahme werth, was wir so ausgezeich| net in Ehren halten? Denke ich nun dies in Harmonie mit ihrer übrigen Bildung so fortgehend: so sehe ich nicht ab, wie das römische

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Wesen oder auch das herrnhutische für sie jemals könnte anlokkend werden. Sie müßte in der That erst ihren eigentümlichen Geschmakk verlieren, der gar nicht diesen Charakter hat, und ihr fast dreistes Unterscheiden der Hauptsache in allen Dingen vom Schein und von der Umgebung. — Ich möchte es mir aber doch verbitten, sagte Karoline, ehe Leonhardt wieder das Wort nehmen konnte, daß Ihr das herrnhutische so mit dem katholischen zusammenstellt. Ich glaube man könnte darüber streiten, daß es in irgend einer Hinsicht dasselbe wäre; am wenigsten aber lasse ich beides unter dem schönen Titel der Verschrobenheit vereinigen. Ihr wißt, ich habe zwei Freundinnen dort, die gewiß nicht verschroben sind, sondern von eben so gradem Sinn und Ver | stand als von tiefer Frömmigkeit. — Liebe Kleine, antwortete Eduard lächelnd, bei Leonhardt mußt du es der Unwissenheit zu Gute halten, er spricht das so nach, wie man es bisweilen hört, und hat gewiß nie in einen herrnhutischen Ort gesehen, als um sich einen schönen Sattel zu kaufen, oder eine merkwürdige Fabrik zu besehen, oder sich die schönen Kinder des Schwesternhauses vorstellen zu lassen. Ich aber würde gewiß Unrecht haben, wenn ich so etwas im Allgemeinen zugestanden hätte. Allein bemerke nur gütigst, daß gar nicht von den Vorzügen oder dem Charakter der verschiedenen Kirchen die Rede war, sondern daß wir nur von Sofien sprechen, so muß dir die Zusammenstellung ganz unverdächtig erscheinen. Denn eben da du die Sache kennst, und unbeschadet deiner beiden Freundinnen, wirst du eingestehen, von einem Mädchen das seinen religiösen Sinn im Schooße seiner | Familie befriedigen kann, das eben weil es Unschuld und Unbefangenheit bewahrt hat, die Welt gar nicht so gefährlich findet, und dabei an eine fröliche Thätigkeit in einem freien Leben gewöhnt ist, läßt sich gar nicht ohne eine wunderliche Verirrung denken, daß es sich in ein klösterliches Schwesternhaus einsperren sollte. Auch möchte, was ich noch zu Leonhardt sagen wollte, wol von beiden Uebergängen auf gleiche Art gelten, wo nicht besondere Umstände das motivirten, was du beschüzest. Diese Proselyten nemlich, so viele ich ihrer kenne, sind gar nicht solche, die sich wie Sofie von Kindheit an zum Religiösen hingeneigt haben. Sondern wie man sagt, daß die gefallsüchtigen Weiber und die betrügerischen Staatsmänner in späteren Jahren oder nach gewissen Unfällen Frömmlinge werden; so sind diese wenigstens größtentheils solche, die, was sie vorher betrieben, Wissenschaft oder Kunst | oder Ehe, auf eine ganz weltliche Weise betrieben, und die Beziehung auf das Unendliche ganz übersahen. Geht ihnen nun diese irgendwie auf:

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so betragen sie sich doch dagegen wie die kleinen Kindlein, und greifen nach dem Glanz, es sei nun ein äußerer vergrößernder, oder ein innerliches Feuer, das durch eine andere Gewalt und durch die Dunkelheit seiner Umgebungen lokkt. Und so kann man auch sagen, daß in ihrer Buße immer etwas von der Sünde zurükbleibt, nemlich daß sie die Schuld ihrer vorigen Kälte und Verfinsterung auf die Kirche werfen wollen, der sie angehörten, als würde eben da das heilige Feuer nicht verwahrt, sondern nur ein kaltes Formelwesen getrieben mit leeren Worten und ausgeweideten eingedorrten Gebräudien. Du magst wol Recht haben, erwiederte Leonhardt, daß es sich mit Vielen grade so verhält; aber gewiß ist dies nicht die einzige | Quelle dieses Uebels. Unmittelbar von innen heraus scheint es in Vielen zu entstehen und so auch in der Kleinen. Es ist warlich wunderbar, daß ich und Andere, die ihr wol unter Euch Ungläubige nennt, Euch warnen und vor Euch predigen müssen, gegen den Unglauben. Aber freilich es ist der Unglaube an den Aberglauben, und Alles was daran hängt. Ich brauche dir wol nicht zu betheuern, Eduard, daß ich das Schöne der Religiosität ehre und liebe; aber sie muß ein Innerliches sein und bleiben. Wenn sie äußerlich hervortreten und eigentümliche Verhältnisse im Leben bilden will: so entsteht das verhaßteste daraus, der geistliche Stolz, der am Ende nichts anders ist, als der wunderlichste und verrükteste Aberglauben. Besinne dich Eduard, daß wir noch neulich davon redeten, und daß du unter dem ganzen sogenannten geistlichen Stande, den du ja weit und breit kennst von Amts wegen, | mit Mühe ein Paar Beispiele auftreiben konntest von solchen, die nicht dadurch waren verderbt worden. Denselben Rausch ziehen sich nun unter den Katholischen auch die Laien zu, durch ihre frommen Werke, die eben nur eine äußerliche Geltung haben. Und aus demselben Becher hat auch deine Kleine, wie es scheint, schon einen Zug gethan, der für ein Kind gar nicht schlecht ist. So gönne ihr denn und pflege diesen Ehrgeiz eine heilige Frau zu werden; aber wo will sie damit hin als ins Kloster oder zu den Schwestern? Denn wir Andern thun dergleichen nicht gut in der Welt. Nun gar die spielende Andacht mit dem Christkindlein, und die Anbetung des Heiligenscheins, den sie ihm selbst gemacht hat, ist das nicht der unverkennbarste Keim des Aberglaubens? Ist es nicht der baare Gözendienst? Seht, das ist es, lieben Freunde, was gewiß, wenn Ihr ihm nicht Einhalt thut, in etwas Unver | nünftiges enden wird. Aber weit entfernt ihm Einhalt zu thun, habe ich die deut-

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liebsten Spuren, daß Ihr dem Kinde sogar die Bibel gebt. Ich will hoffen, nicht ganz frei hin zum eignen Gebrauch; aber es sei, daß ihr darin leset in ihrer Gegenwart, oder daß die Mutter ihr daraus erzählt, immer gleichviel. Das Mythische muß ihre Fantasie lokken, und wunderliche sinnliche Bilder müssen sich festsezen, neben denen hernach kein gesunder Begriff Plaz nehmen kann; ein geheiligter Buchstabe steht auf dem Thron, in den die ungezügelte Willkühr, die das Kind gängelt, hineinlegt, was nie darin lag; das Mirakulöse nährt den Aberglauben unmittelbar; und der Unzusammenhang begünstigt jede Täuschung der eignen Schwärmerei und jeden Betrug eines angelernten Systems. Warlich, zu einer Zeit, wo sich die Prediger sogar rühmlich beeifern, auf der Kanzel die Bibel möglichst entbehrlich zu | machen, sie den Kindern wieder in die Hände geben, für die sie niemals gemacht war, dies ist das ärgste; und es wäre ihr, um sie mit ihren eignen Worten zu strafen, besser, daß ein Mühlstein an ihren Hals gebunden, und sie im Meer versenkt würde, da es am tiefsten ist, als daß sie den Kleinen zum Aergerniß gereichte.141 Wie soll es nun werden, wenn sie die heilige Geschichte mit den andern Feenmährchen in sich aufnimmt? Ob diese hernach eben so viel gelten als sie, oder sie eben so wenig als jene, beides ist gleich verderblich, zumal für das andere Geschlecht. Ein Knabe hilft sich eher heraus; und wäre es recht arg mit ihm geworden, so lasse man ihn nur ein Jahr Theologie studiren, das heilt ihn gewiß. Ich muß nur, sagte Eduard, nachdem er wol abgewartet, ob auch die Rede zu Ende wäre, unsern Leonhardt gegen Euch vertheidigen, die Ihr ihn noch nicht kennt, damit seine | Rede Euch nicht ruchloser erscheine, als sie war. Er ist eigentlich gar nicht so tief in den Unglauben versunken, und hat mit unsern Aufklärern, zu denen er sich gesellt, wenig gemein. Nur ist er noch nicht ganz auf dem Reinen mit sich selbst in dieser Sache, und mischt deshalb Scherz und Ernst immer so wunderlich, daß nicht Jeder beides soll sondern können. Wollten wir aber Alles für Ernst nehmen, so würde er uns gewiß nicht wenig auslachen. Ich will mich also lediglich an den Scherz halten, lieber Freund. Für den Ernst ist das vorhin gesagte genug. Laß dir daher erzählen, und erschrikk nicht zu sehr. Ja, das Mädchen hört wirklich Manches aus der Bibel recht genau, wie es dasteht. So war ihr auch Josef nur als der Pflegevater Christi vorgestellt worden; es ist wol schon ein Jahr und länger her, was ich jezt erzähle, und als ihr auf die Frage, wer denn sein rechter | Vater gewesen, die Mutter antwortete: Er habe keinen andern gehabt als Gott, meinte sie, Gott wäre

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ja ihr Vater auch, aber sie möchte mich deshalb nicht missen, und es gehöre das wol schon zum Leiden Christi, keinen rechten Vater zu haben, denn es sei eine gar herrliche Sache um einen solchen. Wobei sie mir liebkosete und mit meinen Lokken spielte. Du siehst daraus, wie streng sie schon auf die Dogmatik hält, und welche herrliche Anlage sie hat, für den Glauben an die unbefleckte Empfängniß zur Märtirin zu werden. Ja noch mehr, sie nimmt wirklich die heilige Geschichte in etwas wie ein Mährchen. Denn wie sie sich aus diesen die Idee ausbildet, wenn in einzelnen Momenten schon das Mädchen die Oberhand gewinnt über das Kind: so zweifelt sie auch wol bisweilen an dem Einzelnen und Faktischen in jener, und fragt, ob das auch buchstäblich so wahr wäre. Du | siehst, es ist arg genug, und sie ist nahe an der allegorischen Erklärung einiger Kirchenväter. — Der Scherz macht mir ordentlich Muth auch ein Wörtchen drein zu reden, sagte Karoline, und so möchte ich eingestehen, sie habe freilich den Heiligenschein um das Christkindlein gemacht, und sie werde bald selbst Kindlein und Mutter zeichnen, malen und wo möglich modelliren, allen heidnisch gesinnten Künstlern zum Troz und Aergerniß. Denn sie krizzelt schon jezt oft solche Skizzen beim Schreiben und Lesen, also schon halb gedankenlos, was offenbar nur um so ärger katholisch ist. Aber im Ernst lache ich nun doch wieder Leonhardt aus mit seiner Besorgniß, denn dadurch fällt nur wieder ein Bewegungsgrund weg. Oder sagt Ihr nicht, die Besten gingen deshalb zu jener Kirche, weil sie in Verein mit den Künsten getreten wäre? H a t sich nun Sofie diesen Verein schon gemacht | auf ihre eigne Weise, so wird sie kein Bedürfniß fühlen, sich an einen andern anzuschließen, der oft so wunderlich und geschmakklos auftritt. — Ei, sagte Leonhardt scheinbar heftig, wenn sogar die Mädchen mich verwirrt machen wollen, so muß ich es ja wol werden über und über. Und meinetwegen mag sie lieber katholisch werden mit ihrer Anwendung der Künste auf die Religion, denn ich mag das gar nicht. Ich bin als Christ sehr unkünstlerisch und als Künstler sehr unchristlich. Ich mag die steife Kirche nicht, die uns Schlegel in seinen steifen Stanzen geschildert hat" 2 , und auch die armen bettelnden erfrornen Künste nicht, die froh sind ein Unterkommen zu finden. Wenn diese nicht ewig jung, reich und unabhängig für sich leben, sich ihre eigne Welt bildend, wie sie sich die alte Mythologie unstreitig gebildet haben, so verlange ich keinen Theil an ihnen. Eben so die Religion, wie wir es | nehmen, kommt mir schwach vor und verdächtig, wenn sie sich erst auf die Künste stüzen will. — Sieh dich vor, Leonhardt, sagte Ernst, daß sie

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didi nicht zur Unzeit an deine eignen Worte erinnern. Hast du uns nicht neulich noch auseinander gesezt, daß Leben und Kunst eben so wenig ein Gegensaz wären, wie Leben und Wissenschaft, daß ein gebildetes Leben recht eigentlich ein Kunstwerk wäre, eine schöne Darstellung, die unmittelbarste Vereinigung des plastischen und musikalischen? Nun werden sie sagen, du wollest also auch nicht, daß das Leben bei der Religion unterkommen sollte, oder sich von ihr begeistern lassen, und sie sollte also nirgends sein als in Worten, wo ihr sie bisweilen braucht aus allerlei Ursachen. — Das wollen wir nicht sagen, entgegnete Ernestine. Es ist ohnehin des müßigen Streites längst genug, der uns Andere langeweilt, weil wir das reine Ver| gnügen am Streiten nicht theilen können. — Und wir sind ja offenbar einig, fügte Eduard hinzu, in diesem schönen Gedanken, der sich in unserm heutigen Leben so besonders ausdrükkt. Denn was ist die schöne Sitte der Wechselgeschenke anders, als reine Darstellung der religiösen Freude, die sich, wie Freude immer thut, in ungesuchtem Wohlmeinen, Geben und Dienen äußert, und hier noch besonders das große Geschenk, dessen wir uns Alle gleichmäßig erfreuen, durch kleine Gaben abbildet. Je reiner diese Gesinnung im Ganzen hervortritt, um desto mehr ist unser Sinn getroffen. Und um deswillen, liebe Ernestine, waren wir so ergözt von deiner Anordnung diesen Abend, weil du unsern Weihnachtssinn so recht ausgedrükkt; das Verjüngtsein, das Zurükgehn in das Gefühl der Kindheit, die heitre Freude an der neuen Welt, die wir dem gefeierten Kinde verdanken, das Alles lag in | dem dämmernden Sdiein, in der grünen blumigen Umgebung, in dem aufgehaltenen Verlangen. — J a gewiß, sagte K a roline, ist was wir in diesen Tagen fühlen so rein die fromme Freude an der Sache selbst, daß mir ordentlich leid that, was Ernst vorhin äußerte, sie könnte durch irgend frohe Begebenheiten oder Erwartungen des äußeren Lebens erhöht werden. Aber es war ihm wol auch nicht recht Ernst damit; und was er von der Bedeutsamkeit unserer kleinen Gaben sagte, das hat seinen Werth gar nicht in dem, worauf sie sich beziehen, sondern nur überhaupt darin, daß sie sich auf etwas beziehn, daß die Absicht zu erfreuen darin liegt, und der Beweis, wie bestimmt uns das Bild jedes lieben Freundes dabei vorgeschwebt. Mein Gefühl wenigstens unterscheidet sehr bestimmt jene höhere allgemeinere Freude von der lebhaftesten Theilnahme an dem, was Euch Allen, ihr lieben Freunde, | begegnet oder bevorsteht; und ich möchte eher sagen, diese wird durch jene erhöht. Wenn das Schöne und Erfreuliche zu einer Zeit vor uns steht, wo wir uns des Größten und

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Schönsten aufs innigste bewußt sind: so theilt sich dieses jenem mit, und in Beziehung auf das große Heil der Welt, bekommt alles Liebe und Gute eine größere Bedeutung. J a ich fühle es noch lebhaft, wie ich es schon einmal erlebt habe, daß auch neben dem tiefsten Schmerz jene Freude ungehindert in uns aufblüht, und daß sie ihn reiniget und besänftiget, ohne von ihm gestört zu werden, so ursprünglich ist sie, und unmittelbar in einem Unvergänglichen gegründet143. — Auch ich, sagte Eduard, der ich nach Emsts voriger Schätzung leicht der am wenigsten Beglükkte sein würde unter uns, fühle ein frohes Uebermaaß von reiner Heiterkeit in mir, das sich gewiß auf alles übertragen würde. Es ist eine Stimmung, in der ich das Schiksal her | ausfordern könnte, oder wenn das frevelhaft klingt, mich ihm wenigstens muthig stellen möchte auf jede Forderung; und eine solche freilich ist einem Jeden zu wünschen. Ich glaube aber das volle Bewußtseyn und den rechten Genuß derselben verdanke ich auch zum Theil unserer Kleinen, die uns vorhin zur Musik führte. Denn jedes schöne Gefühl tritt nur dann recht vollständig hervor, wenn wir den Ton dafür gefunden haben; nicht das Wort, dies kann immer nur ein mittelbarer Ausdrukk sein, nur ein plastisches Element, wenn ich so sagen darf, sondern den Ton im eigentlichen Sinne. Und grade dem religiösen Gefühl ist die Musik am nächsten verwandt. Man redet so viel darüber hin und her, wie man dem gemeinsamen Ausdrukk desselben wieder aufhelfen könnte; aber fast Niemand denkt daran, daß leicht das Beste dadurch geschehen möchte, wenn man den Ge | sang wieder in ein richtigeres Verhältniß sezte gegen das Wort. Was das Wort klar gemacht hat, muß der Ton lebendig machen, unmittelbar in das ganze innere Wesen als Harmonie übertragen und festhalten. — Auch wird wol Niemand läugnen, fügte Ernst hinzu, daß nur auf dem religiösen Gebiet die Musik ihre Vollendung erlangt. Die komische Gattung, die allein als reiner Gegensaz existirt, bestätigt dies eher als sie es widerlegt, und eine Oper kann man doch kaum machen, ohne eine religiöse Basis, und dasselbe möchte von jedem höheren Kunstwerk von Tönen gelten; denn in den untergeordneten Künsteleien wird niemand den Geist der Kunst suchen. — Diese nähere Verwandtschaft, sagte Eduard, liegt wol mit darin, daß nur in der unmittelbaren Beziehung auf das Höchste, auf die Religion, und eine bestimmte Gestalt derselben, die Musik ohne an ein einzelnes | Factum geknüpft zu werden, doch Gegebenes genug hat, um verständlich zu sein. Das Christenthum ist ein einziges Thema in unendlichen Variationen dargestellt, die aber auch ein inneres Gesez verbindet, und die unter

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bestimmte allgemeine Charaktere fallen. Es ist auch gewiß wahr, was Jemand gesagt hat, daß die Kirchenmusik nicht des Gesanges, wol aber der bestimmten Worte entbehren könnte. Ein Miserere, ein Gloria, ein Requiem, wozu sollen ihm die einzelnen Worte? es ist verständlich genug durch seinen Charakter; und Niemand wird sagen, es sei ihm etwas entgangen, wenn er die untergelegten Worte nicht vernommen hat. Darum müssen beide fest an einander halten, Christenthum und Musik, weil beide einander verklären und erheben. Vom Chor der Engel ward Jesus empfangen, und so begleiten wir ihn mit Tönen | und Gesang bis zum großen Hallelujah der Himmelfahrt. — Ja gewiß, sagte Friederike, der frömmste Ton ist es, der am sichersten ins Herz dringt. — Und die singende Frömmigkeit, fügte Karoline hinzu, ist es, die am herrlichsten und geradesten zum Himmel aufsteigt. Nichts Zufälliges, nichts Einzelnes hält beide auf. Ich erinnere mich bei dem, was Eduard sagt, an etwas ohnlängst Gelesenes; ihr werdet gleich rathen, wem es angehört. Nie über einzelne Begebenheiten, so lauten etwa die Worte, weint oder lacht die Musik, sondern immer nur über das Leben selbst. — Wir wollen in Jean Pauls Namen hinzusezen, sagte Eduard, die einzelnen Ereignisse wären für sie nur durchgehende Noten, ihr wahrer Inhalt aber die großen Akkorde des Gemüths, die wunderbar und in den verschiedensten Melodien wechselnd, sich immer doch in dieselbe Harmonie auflösen, | in der nur Dur und Moll zu unterscheiden ist, männliches und weibliches.1433 Seht, fiel Agnes ein, hier kommen wir wieder auf meine vorige Rede. Das Einzelne, das Persönliche, es sei nun Zukunft oder Gegenwart, Freude oder Leid, kann einem Gemüthe, das sich in frommen Stimmungen bewegt, so wenig geben oder nehmen, wie durchgehende Noten, die nur leichte Spuren zurüklassen, den Gang der Harmonie afficiren. — Höre Eduard, fiel Leonhardt hastig ein, es wird mir zu arg mit Eurer Ruhe und Ergebung, und dich muß ich darüber anklagen. Leidest du wol, fuhr er halb leise fort, daß Agnes dies sagen kann, sie, die in der schönsten und seligsten Hoffnung lebt? — Warum nicht? antwortete sie selbst. Ist nicht eben auch hier das Persönliche vergänglich? ist nicht ein Neugebornes den meisten Gefahren ausgesetzt? wie leicht wird die noch unste | te Flamme auch von dem leisesten Winde ausgeweht? Aber die Mutterliebe ist das Ewige in uns, der Grundakkord unseres Wesens. — Und so ist es dir gleichgültig, fragte Leonhardt, ob du dein Kind bilden kannst zu dem, was dir vorschwebt, oder ob es dir in der ersten dürftigen Periode des Lebens

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wieder entrissen wird? — Gleichgültig? entgegnete sie, wer sagt das? aber das innere Leben, die Haltung des Gemüthes wird nidit dadurch verlieren. Und glaubst du denn, die Liebe geht auf das, wozu wir die Kinder bilden können? Was können wir bilden? Nein, sie geht auf das Schöne und Göttliche, was wir in ihnen schon glauben, was jede Mutter aufsucht in jeder Bewegung, sobald sich nur die Seele des Kindes äußert. — Seht! Ihr Lieben, sagte Ernestine, mit diesem Sinn ist wieder jede Mutter eine Maria. Jede hat ein ewiges göttliches Kind, und sucht andächtig darin die Be | wegungen des höheren Geistes. Und in solche Liebe bringt kein Schiksal eine schmerzliche Zerstörung, noch auch keimt darin das verderbliche Unkraut der mütterlichen Eitelkeit. Mag der Alte weissagen, daß ein Schwerdt durch ihre Seele gehen wird; sie bewegt die Worte nur in ihrem Herzen144. Mögen die Engel sich freuen und die Weisen kommen und anbeten145; sie überhebt sich nicht, sondern bleibt immer in der andächtigen demüthigen Liebe. — Drükte sich nur nicht Alles so lieblich aus in Euch, daß man es nicht kann verlezen wollen, sprach Leonhardt, es wäre viel dagegen zu sagen. Sonst wenn das Alles so recht vorhielte, warlich Ihr wäret die Heldinnen dieser Zeit, ihr lieben idealistischen Schwärmerinnen mit eurer Verachtung des Einzelnen und Wirklichen, und man sollte bedauern, daß eure Gemeine nicht stärker ist, und daß Ihr nicht lauter tüchtige, schon waffenfähige, wehrhafte Söhne habt. | Ihr müßtet die rechten christlichen Spartanerinnen sein. Aber wenn auch das nicht ist, sehet Euch wol vor; es können Euch andere Prüfungen bereitet sein, daß Ihr sie bestehet. Die Anstalten sind schon gemacht. Ein großes Schiksal geht unschlüssig auf und ab in unserer Nähe, mit Schritten unter denen die Erde erbebt, und wir wissen nicht wie es uns mit ergreifen kann146. Daß sich dann nur nicht das Wirkliche mit stolzer Uebermacht für Eure demüthige Verachtung räche! — Lieber Freund, antwortete Ernst, die Frauen werden hierin wol schwerlich hinter uns zurükstehen. Und die ganze Probe ist, wie mich dünkt, nicht viel. Was uns aus der Ferne als ein großes Bild des Elendes erscheint, zerfällt in der Nähe in viele Kleinlichkeiten, das große Bild verschwindet und was den Einzelnen trifft, sind immer nur einige von diesen Kleinigkeiten, erleiditert durch die Aehnlichkeit mit allem rund | umher. Was uns bewegen muß in diesen Angelegenheiten, ist nicht das, was von Nähe und Ferne abhängt, aber grade das, was nicht in das Gebiet der Frauen fällt. Sofie war unterdeß größtentheils am Instrument gewesen, um sich

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mit ihren neuerworbenen Schäzen zu befreunden, von denen sie einen Theil noch nicht kannte, und auch von dem Bekannten Manches gern gleich als Eigenthum begrüßen wollte. Izt eben hörte man sie besonders laut aus einer Cantate einen Choral singen, „Der uns den Sohn gesdienkt zum ewgen Leben. Wie sollt uns der mit ihm nicht alles geben", an welchen sich eine prächtige Fuge anschloß. „Wenn ich nur dich habe, frage ich nichts nach Himmel und Erden." Als sie dies geendet, verschloß sie das Instrument und kam in den Saal zurük. Sieh da! sagte Leonhardt, der sie kommen sah, unsere kleine Prophetin! ich will doch gleich hören | in wiefern sie schon zu Euch gehört. Sage doch Kleine, redete er sie an, indem er ihr die Hand hinüber reichte, du bist doch gewiß lieber lustig als traurig. — Ich bin izt wol eben keines von beiden, antwortete sie. — Doch nicht lustig nach so viel schönen Geschenken? Das macht gewiß die ernsthafte Musik! Aber du hast nicht recht verstanden, was ich meinte, ich fragte, zum Ueberfluß freilich, welches von beiden du überhaupt lieber wärest, lustig oder traurig? — J a das ist schwer zu sagen, erwiederte sie, ich bin beides nicht außerordentlich gern; aber am liebsten wäre ich immer das, was ich jedesmal bin. — Das verstehe ich nun wieder nicht, kleine Sphinx, wie meinst du das? — N u n sagte sie, ich weiß weiter nicht, als daß bisweilen die Lustigkeit und die Traurigkeit so wunderlich durch einander gehn und sich streiten, und daß ich sehr gut fühle, was mir Mutter auch gesagt | hat, daß dann allemal etwas Verkehrtes oder Unrechtes drin ist, und daß ich es darum nicht mag. — Also, fragte er weiter, wenn du nur Eins von beiden ganz bist, so ist es dir einerlei ob fröhlich oder traurig. — Je bewahre, dann bin ich ja eben gern was ich bin, und was ich gern bin, ist mir ja nicht gleichgültig. Ach Mutter! fuhr sie fort, zu Ernestinen gewendet, hilf mir doch! er fragt mich so wunderlich aus, und ich verstehe gar nicht was er eigentlich will. Laß ihn lieber die Großen fragen, die werden ihn ja besser verstehn. — In der That, sagte Ernestine, ich glaube nicht Leonhardt, daß du viel weiter mit ihr kommen wirst; sie ist eben noch gar nicht in dem Geschikk des Vergleichens mit ihrem Leben. — Laß dich diesen Versuch nicht abschrekken, tröstete ihn Ernst lächelnd, es bleibt immer eine schöne Kunst das Katechisiren, und die man vor Gericht so gut braucht als irgendwo. Auch | lernt gewiß immer Einer etwas dabei, wenn es nicht ganz verkehrt angefangen wird. — Sollte sie aber kein Gefühl darüber haben, sagte Leonhardt, den spöttischen Ernst vermeidend zu Ernestinen gewendet, ob ihr wohler ist im lustigen Zustande oder im traurigen?

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— Wer weiß! entgegnete jene, was meinst du, Sofie? — Ich weiß es ja warlich nicht Mutter, es kann mir in beiden sehr wohl sein, und jezt ist mir außerordentlich wohl, ohne daß ich eins von beiden bin. Nur daß mir seine Fragen Angst machen, und daß ich es nicht aushalten kann, Alles was vorbei ist so zusammenzusuchen. Und damit küßte sie der Mutter die Hand und begab sich in das entgegengesezte Ende des Saales ins Dunkel, wo nur noch einige von den Lampen schimmerten, zu ihren Weihnachtsgeschenken. — Das hat sie uns doch deutlich gezeigt, sagte Karoline, halb leise, welches der Kindersinn ist, ohne | den man nicht ins Reich Gottes kommen kann147; eben dies, jede Stimmung und jedes Gefühl für sich hinnehmen und nur rein und ganz haben wollen. — Wohl, sprach Eduard, nur daß sie kein bloßes Kind ist, und dies also auch nicht der ganze Kindersinn, sondern sie ist ein Mädchen. — Nun ja, fuhr Karoline fort, es sollte auch nur für uns gelten, und ich wollte nur sagen, die Klagen die man so häufig hört von jüngern und altern, zumal auch an diesen Tagen der Kinderfreude, daß sie sich nun nicht mehr so freuen könnten wie in ihren Kinderjahren, rühren gewiß nicht von denen her, die eine solche Kindheit gehabt. Nur gestern noch mußte ich mich wundern über die Verwunderung von einigen, denen ich behauptete, ich wäre jezt noch eben so lebhafter Freude fähig, nur mehrerer. — Ja und die Arme, scherzte Leonhardt, wird manchmal eben von jener Art für eitel gehalten, wenn sie nichts | thut, als sich recht kindlich über etwas mädchenhaftes erfreuen. Aber laß es gut sein, schönes Kind, diese Widersacher sind dafür diejenigen, denen die Natur eine zweite Kindheit ans Ende des Lebens gesezt hat, damit ihnen doch, wenn sie dies Ziel erreichen, noch ein lezter Labetrunk aus dem Becher der Freude zu Theil werde, zum Schluß der langen, kläglichen, freudeleeren Zeit. — Dies ist wol ernsthafter und tragischer als scherzhaft, sagte Ernst. Ich wenigstens weiß kaum etwas Schauderhafteres, als wie der große Haufen der Menschen die ersten Gegenstände der kindischen Freude nothwendig verlieren muß, und wie sie, unfähig die höheren zu gewinnen, der schönen Entwikkelung des Lebens gedankenlos und von Langweil gequält — ich weiß nicht soll man sagen zuschauen oder beiwohnen, denn es ist alles zu viel für ihre reine Unthätigkeit — bis endlich aus dem Nichts wieder | eine zweite Kindheit entsteht, die sich aber zu der ersten verhält wie ein widriger Zwerg zu einem schönen lieblichen Kinde, oder wie das unstäte Flakkern einer verlöschenden Flamme zu dem um sich greifenden vielfach sich verwandelnden Schein einer eben entzündeten. — Nur

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gegen eines, sprach Agnes, möchte ich wieder eine Einwendung niederlegen. Müssen denn die ersten kindlichen Gegenstände der Freude verloren gehen, damit man die höheren gewinne? Sollte es nicht eine Art geben, diese zu gewinnen, ohne jene fahren zu lassen. Fängt denn das Leben mit einer reinen Täuschung an, in der gar keine Wahrheit ist, nichts Bleibendes? Wie meinst du es eigentlich? Fangen die Freuden des Menschen der zur Besinnung über sich und die Welt gekommen ist, der Gott gefunden hat, mit Streit und Krieg an, mit der Vertilgung nidit des Bösen, sondern des Schuldlosen? Denn so bezeichnen | wir doch immer das Kindliche oder auch das Kindische wenn ihr lieber wollt. Oder muß die Zeit mit, ich weiß nicht welchem Gift, die ersten ursprünglichen Freuden des Lebens schon vorher getödtet haben? Und der Uebergang aus dem einen Zustande in den andern ginge noch immer durch ein Nichts? — Ein Nichts kann man es wol nicht nennen, fiel Ernestine ein, aber es scheint doch und sie gestehen es auch selbst ein, daß die Männer, man möchte wol sagen die Besten am meisten, zwischen der Kindheit und ihrem bessern Dasein ein wunderliches wüstes Leben führen, leidenschaftlich und verworren. Es sieht aus wie eine Fortsezung ihrer Kindheit, deren Freuden auch eine heftige und zerstörende Natur zeigen; aber auch in ihrem unstäten Treiben wie ein unschlüßiges immer wechselndes Fahrenlassen und Ergreifenwollen, wovon wir nichts verstehen. Bei uns vereinigt sich beides unmerklich mit | einander. In dem was uns in den Spielen der Kindheit anzieht, liegt schon unser ganzes Leben, in jedem offenbart sich allmählig die höhere Bedeutung; und auch wenn wir Gott und die Welt nach unserer Weise verstehen, drükken wir unsere höchsten und süßesten Gefühle immer zugleich auch in jenen lieblichen Kleinigkeiten aus, in jenem milden Scheine, der uns zuerst mit der Welt befreundete. — So hätten, sagte Eduard, Männer und Frauen auch in der Entwikkelung des Geistigen, das doch in beiden dasselbe sein muß, ihre abgesonderte Weise, um sich durch gegenseitiges Erkennen auch hierin zu vereinigen. Ja es mag wol sein, und es spricht mich recht klar an, daß in uns der Gegensaz des Unbewußten und des Besonnenen stärker hervortritt, und sich während des Ueberganges in jenem unruhigen Streben, jenem leidenschaftlichen Kampf mit der Welt und sich selbst offenbart. | Dagegen in Eurem ruhigen und anmuthigen Wesen die Stätigkeit beider und ihre innere Einheit ans Licht tritt, und heiliger Ernst und liebliches Spiel überall Eins sind. — Allein, entgegnete Leonhardt scherzhaft lächelnd, so wären, wunderbar genug, wir Männer christlicher als die

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Frauen. Denn das Christenthum redet ja überall von einem Umkehren, einer Veränderung des Sinnes, einem Neuen wodurch das Alte soll ausgetrieben werden. Welches alles, wenn die vorige Rede wahr ist, Ihr Frauen, wenige Magdalenen abgerechnet, gar nicht nöthig hättet. — Aber Christus selbst, erwiederte Karoline, hat sich doch nicht bekehrt. Eben deshalb ist er auch immer der Schuzherr der Frauen gewesen, und während Ihr euch nur über ihn gestritten habt, haben wir ihn geliebt und verehrt. Oder was könntest du dagegen einwenden, wenn wir nun erst den rechten Sinn hineinlegten in das I abgebrauchte Sprichwort, daß wir immer Kinder bleiben. Dagegen ihr erst umkehren müßt, um es wieder zu werden? — Und was uns so nahe liegt, fügte Ernst hinzu, was ist die Feier der Kindheit Jesu anders als die deutliche Anerkennung der unmittelbaren Vereinigung des Göttlichen mit dem Kindlichen, bei welcher es also keines Umkehrens weiter bedarf. Auch hat schon Agnes dies vorher geäußert, als die allgemeine Ansicht aller Frauen, daß sie in ihren Kindern, wie die Kirche es in Christo thut, schon von der Geburt an das Göttliche voraussezen und es aufsuchen. — Ja eben dieses Fest, sagte Friederike, ist der nächste und beste Beweis, daß es sich mit uns wirklich so verhält, wie Ernestine vorher beschrieben hat. — Wie so? fragte Leonhardt. — Weil man hier, antwortete sie, in kleinen aber doch weder unkenntlichen noch vergessenen Abschnitten, der Natur unserer Freude nachgehn | kann, um zu sehen ob sie mehrere plözliche Verwandlungen erfahren hat. Man bedürfte kaum uns auf das Gewissen zu fragen; denn die Sache spricht selbst für sich. Es ist offenbar genug, daß überall Frauen und Mädchen die Seele dieser kleinen Feste sind, am meisten geschäftig dabei, aber auch am reinsten empfänglich und am höchsten erfreut. Wenn sie nur Euch überlassen wären, würden sie bald untergehn: durch uns allein werden sie zu einer ewigen Tradition. Könnten wir aber nicht die religiöse Freude auch allein haben? Und würden wir es nicht, wenn wir sie erst späterhin als etwas Neues gefunden hätten? Aber es hängt noch alles so zusammen wie in den früheren Jahren. Schon in der Kindheit legten wir diesen Geschenken eine besondere Bedeutung bei; sie waren uns mehr als das Nemliche zu einer andern Zeit gegeben. N u r daß es damals eine dunkle geheimnißvolle Ahndung | war, was seitdem allmählig klarer hervorgetreten ist, was uns aber immer noch am liebsten unter derselben Gestalt vor Augen tritt, und das gewohnte Symbol nicht will fahren lassen. Ja bei der Genauigkeit, mit welcher uns die kleinen schönen Momente des Lebens in der Erinnerung bleiben,

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könnte man stufenweise dies Hervortreten des Höheren nachweisen. — Warlich, sagte Leonhardt, lebhaft und gut ausgeführt, wie Ihr es könntet, müßte das eine schöne Reihe kleiner Gemälde geben, wenn Ihr uns Eure Weihnachtsfreuden mit ihren Merkwürdigkeiten beschreiben wolltet, und auch wer in den unmittelbaren Zwekk nicht mit besonderer Theilnahme einginge, würde sich daran erfreuen. — Wie artig er sagen will, daß es ihn langweilen würde, rief Karoline aus! — Freilich, sagte Ernestine, so wäre es zu kleinlich, audi für den der sich noch frauendienerischer anstellen wollte, wie für | den, der wirklich noch mehr Sinn für die Sache hätte. Aber wer einzeln etwas Merkwürdiges dieser Art zu erzählen weiß, in Bezug auf unsere Unterredung, der thue es, und schließe sich an einen solchen Zug aus meiner frühen Kindheit, den ich Euch erzählen will, wenn ihn auch vielleicht Einige schon kennen sollten. Friederike stand auf und sagte, Ihr wißt, ich pflege nicht so zu erzählen; ich will aber etwas anderes thun was euch Vergnügen macht, ich werde midi an das Instrument sezen und Eure Erzählungen fantasiren. So höret Ihr ja auch etwas von mir und mit Eurem feineren und höheren Ohre. Ernestine begann. Zu Hause waren dem fröhlichen Feste allerlei trübselige Umstände vorhergegangen, die sich nur kurz zuvor ziemlich glüklich aufgelöset hatten. Es war daher weniger und bei weitem nicht mit so viel Liebe und Fleiß als gewöhnlich für die Freude der ] Kinder gesorgt worden. Dies war eine günstige Veranlassung um einen Wunsch zu befriedigen, den ich schon ein Jahr früher aber vergeblich geäußert hatte. Damals nemlich wurden noch in den späten Abendstunden die sogenannten Christmetten gehalten und bis gegen Mitternacht unter abwechselnden Gesängen und Reden vor einer unstäten und nicht eben andächtigen Versammlung fortgesezt. Nach einigen Bedenklichkeiten durfte ich wolbegleitet mit dem Kammermädchen der Mutter zur Kirche fahren. Ich weiß mich nicht leicht einer so gelinden Witterung um diese Zeit zu erinnern als damals. Der Himmel war klar und doch der Abend fast lau. In der Gegend des fast schon verlöschenden Christmarktes trieben sich große Schaaren von Knaben umher mit den lezten Pfeifen, Pipvögeln und Schnurren, die um einen wolfeilen Preis losgeschlagen wurden, und liefen lärmend auf den We | gen zu den verschiedenen Kirchen hin und her. Erst ganz in der Nähe vernahm man die Orgel und wenige unordentlich begleitende Stimmen von Kindern und Alten. Ohnerachtet eines ziemlichen Aufwandes von Lampen und Kerzen, wollten doch die dunklen altersgrauen Pfeiler und Wände nicht hell werden, und ich

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konnte nur mit Mühe einzelne Gestalten herausfinden, die nichts erfreuliches hatten. Noch weniger konnte mir der Geistliche mit seiner quäkenden Stimme einige Theilnahme einflößen; und ich wollte eben ganz unbefriedigt meine Begleiterin bitten zurükzukehren, und sah mich nur noch einmal überall um. Da erblikte ich in einem offnen Stuhl, unter einem schönen alten Monument, eine Frau mit einem kleinen Kinde auf ihrem Schooß. Sie schien des Predigers, des Gesanges und alles um sie her wenig zu achten, sondern nur in ihren eigenen Gedanken tief versenkt zu sein, | und ihre Augen waren unverwandt auf das Kind gerichtet. Es zog midi unwiderstehlich zu ihr, und meine Begleiterin mußte midi hinführen. Hier hatte ich nun auf einmal das Heiligthum gefunden, das ich so lange vergeblich gesucht. Ich stand vor der edelsten Bildung die ich je gesehn. Einfach gekleidet war die Frau, ihr vornehmer großer Anstand machte den ofnen Stuhl zu einer verschlossenen Kapelle; Niemand hielt sich in der Nähe und dennoch schien sie auch midi nicht zu bemerken, da ich dicht vor ihr stand. Ihre Mine schien mir bald lächelnd bald schwermüthig, ihr Athem bald freudig zitternd bald frohe Seufzer schwer unterdrükkend, aber das Bleibende von dem Allen war freundliche Ruhe, liebende Andacht, und herrlich stralte diese aus dem großen schwarzen niedergesenkten Auge, das mir die Wimpern ganz verdekt hätten, wenn idi etwas größer gewesen wäre. | So schien mir auch das Kind ungemein lieblich, es regte sich lebendig aber still und schien mir in einem halb unbewußten Gespräch von Liebe und Sehnsucht mit der Mutter begriffen. Nun hatte ich lebendige Gestalten zu den schönen Bildern von Maria und dem Kinde; und ich vertiefte mich so in diese Fantasie, daß ich halb unwillkührlich das Gewand der Frau an mich zog, und sie mit bewegter sehr bittender Stimme fragte: darf ich wol dem lieblichen Kinde etwas schenken? und so leerte ich auch schon einige Händchen voll Näschereien, die ich zum Trost in aller etwanigen Noth mitgenommen, auf seine Bedekkungen aus; die Frau sah mich einen Augenblikk starr an, zog mich dann freundlich zu sich, küßte meine Stirn und sprach: „O ja, liebe Kleine, heute giebt ja Jedermann, und alles um eines Kindes willen." Ich küßte ihre um meinen Hals gelegte Hand und ein ausgestrektes Händchen | des Kleinen, und wollte schnell gehn; da sagte sie: warte, ich will dir auch etwas schenken; vielleicht kenne ich dich daran wieder. Sie suchte umher und zog aus ihren Haaren eine goldne Nadel mit einem grünen Stein, die sie an meinem Mantel befestigte. Ich küßte noch einmal ihr Gewand und verließ schnell die Kirche mit einem vollen über

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Alles seligen Gefühl. Es war Eduards älteste Schwester, die herrliche tragische Gestalt, die mehr als irgend Jemand auf mein Leben und mein inneres Sein gewirkt hat. Sie wurde bald die Freundin und Führerin meiner Jugend, und wiewol ich nichts als Schmerzen mit ihr zu theilen hatte, zähle ich doch meine Verbindung mit ihr zu den schönsten und wichtigsten Momenten meines Lebens. Auch Eduard stand damals als ein herangewachsener Knabe hinter ihr: aber ohne auch nur von mir bemerkt zu werden. — Friederike schien den Inhalt ge| kannt zu haben, so genau begleitete ihr Spiel die anmuthige Erzählung, und brachte jedes Einzelne gleich in Uebereinstimmung mit dem Totaleindrukk des Ganzen. Als Ernestine geendet, bog sie nach einigen fantastischen Gängen in eine schöne Kirchenmelodie ein. Sofie die sie errieth lief hin, um ihre Stimme hinzuzufügen, und sie sangen zusammen die schönen Verse von Novalis 148 Ich sehe dich in tausend Bildern, Maria, lieblich ausgedrükt; Doch keins von Allen kann dich schildern Wie meine Seele dich erblikt. Ich weiß nur, daß der Welt Getümmel Seitdem mir wie ein Traum verweht, Und ein unnennbar süßer Himmel Mir ewig im Gemüthe steht.

Mutter, sagte Sofie als sie zurükkam, jezt schwebt mir alles recht lebendig vor, was du mir je von Tante Kornelie erzählt hast, und | von dem schönen Jüngling den ich noch gesehen habe, und der so heldenmüthig und so vergeblich für die Freiheit gestorben ist. Aber laß midi die Bilder herholen; wir kennen sie wol alle, aber ich meine wir müssen sie jezt betrachten. — Die Mutter winkte zu, und das Kind holte zwei noch nicht gefaßte Gemälde von Ernestinens Pinsel. Beide stellten ihre Freundin vor und den Schmerzenssohn. Das eine, wie er zu ihr zurükkehrt aus der Schlacht, verwundet aber mit Ruhm bedekkt; das andere wie er Abschied von ihr nimmt, um als eins der lezten Opfer der blutdürstigsten Zeit zu fallen. Leonhardt unterbrach die schmerzlichen Erinnerungen, die sich nur in einzelnen wehmüthigen Worten Luft machten, indem er zu Agnes sagte: erzähle uns etwas anderes Kind, und mache uns dadurch von beidem los, von dem stechenden Schmerz, der gar nicht in un| sere Freude gehört, und von dem Mariendienst, in den uns die Mädchen dort eingesungen haben. — Nun wol, antwortete Agnes: so

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will ich etwas weniger Bedeutendes, vielleicht aber dafür recht Fröliches erzählen. Ihr wißt, vor dem Jahr waren wir an diesem Fest Alle zerstreut, und ich schon seit mehreren Wochen bei meinem Bruder, um Luisens erster Niederkunft hülfreich beizustehen. Der heilige Abend wurde auch dort nach unserer Sitte von versammelten Freunden und Freundinnen begangen. Luise war vollkommen hergestellt: dennoch hatte ich mir nicht nehmen lassen alles zu ordnen, und es herrschte eine solche Heiterkeit unter Allen, und so frisch aufgeregte Liebe, wie an diesem allgemeinen Freudentage sich unter guten Menschen überall einstellt; und wie sie sich unter Geschenken und Freudensbezeugungen in das muntere Gewand des Scherzes und der freien spielenden Kindlichkeit kleidet, | so war sie auch unter uns. Plözlich erschien im Saal die Wärterin mit ihrem Kleinen, ging beschauend um die Tische herum, und rief mehrere Male hintereinander halb scherzhaft, halb weinerlich: hat denn Niemand dem Kinde etwas geschenkt? Haben sie denn das Kind ganz vergessen? Wir versammelten uns bald um das kleine niedliche Geschöpf, und im Scherz und Ernst entsponnen sidi allerlei Reden darüber, wie man ihm bei aller Liebe noch keine Freude machen könne, und wie recht es wäre, daß wir Alles, was ihm eigentlich gehörte, der Mutter zugewendet hätten. Der Wärterin wurde nun Alles gezeigt und auch dem Kleinen vorgehalten, Müzchen, Strümpfchen, Kleider, Löffelchen, N ä p f chen; aber weder Glanz und Klang des edeln Metalls, noch die blendende oder durchsichtige Weiße der Zeuge schien seine Sinne zu rühren. J a so ist es, Kinder! sagte ich zu den Andern, er ist noch | ganz an seine Mutter gewiesen, und auch diese kann ihm heute noch nichts anders als das gleiche tägliche Gefühl der Befriedigung erregen. Sein Gefühl 149 ist noch mit dem ihrigen vereinigt, in ihr wohnt es und nur in ihr können wir es pflegen und erfreuen. — Aber wir sind doch Alle recht beschränkt gewesen, fing ein liebenswürdiges Mädchen an, daß wir nur so auf den gegenwärtigen Augenblik gedacht haben. Steht denn nicht das ganze Leben des Kindes vor der Mutter? Mit diesen Worten forderte sie mir meine Schlüssel ab, mehrere andere zerstreuten sich gleichfalls mit der Versicherung, bald wieder da zu sein, und Ferdinand redete ihnen zu, zu eilen; denn er habe auch noch etwas vor für den Kleinen. Ihr errathet wol nicht was? sagte er zu uns Zurükbleibenden. Ich will ihn gleich taufen, ich wüßte keinen schöneren Augenblikk dazu als diesen; besorget das Nöthige, ich will | auch wieder da sein wenn unsere Freunde zurükkehren. So schnell als möglich kleideten wir ihn in das niedlichste was unter den

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Geschenken vorhanden war, und wir hatten kaum geendet, als die Weggegangenen sich mit allerlei Gaben wieder einstellten. Scherz und Ernst war darin wunderlich gemischt, wie es bei jeder Vergegenwärtigung der Zukunft nicht anders sein kann. Zeuge zu Kleidungsstükken für seine Knabenjahre nicht nur, sondern gar für seinen Hochzeitstag; ein Zahnstocher und ein Uhrband mit dem Wunsch, daß man von ihm sagen möge, in besserem Sinne, was vom Churchill150, „wenn er am Uhrband spielt, wenn er in den Zähnen stochert kommt ein Gedicht heraus"; zierliches Papier worauf er den ersten Brief an ein geliebtes Mädchen schreiben sollte; Lehrbücher für die Anfangsgründe in allerlei Sprachen und Wissenschaften, auch eine Bibel, welche ihm eingehändigt werden sollte, | wenn ihm der erste Unterricht im Christenthum ertheilt würde; ja sein Oheim der gern Karikaturen macht, brachte sogar als das erste Erforderniß eines künftigen Zierboldes, wie er sich auf Kampisch151 ausdrükte, eine Brille, und ruhte nicht, sie mußte den großen hellen blauen Aeuglein vorgehalten werden. Viel wurde gelacht und gescherzt, aber Luise behauptete ganz ernsthaft, die Brille ausgenommen — denn er muste ja wol ihre und Ferdinands tüchtige Augen haben — sehe sie ihn doch nun ganz lebendig und mit bestimmter Gestalt und Zügen gewiß ächt profetisch, in allen den Zeiten und Verhältnissen vor sich, auf welche die Geschenke hindeuteten. Vergeblich nekte man sie damit, wie altfränkisch er sich wahrscheinlich ausnehmen würde, wenn er wirklich jedes Geschenk durch Gebrauch ehren wollte, und wie man besonders das Papier vor dem Gelbwerden hüten müsse. Endlich kamen wir überein, vor | allen den Geber der Bibel zu loben, die er doch am sichersten würde gebrauchen können. Ich machte sie auf den Schmukk des Kleinen aufmerksam; aber Niemand dachte an eine besondere Veranlassung, sondern nur daß er ihre Gaben auf recht würdige Weise in Empfang nehmen wollte. Alle waren daher nicht wenig verwundert, als Ferdinand in voller Amtskleidung hereintrat, und zugleich der Tisch mit dem Wasser gebracht wurde. Wundert Euch nicht zu sehr, lieben Freunde, sagte er. Bei Agnesens Bemerkung vorher, fiel mir sehr natürlich der Gedanke ein, den Knaben noch heute zu taufen. Ihr sollt sämmtlich Zeugen dabei sein, und auch dadurch Euch aufs neue als theilnehmende Freunde seines Lebens unterzeichnen. Ihr habt ihm Gaben dargebracht, fuhr er fort, nachdem er das Einzelne unter mancherlei fröhlichen Bemerkungen betrachtet hatte, die auf ein Leben hindeuten, wovon | er noch nichts weiß, wie Christo Gaben dargebracht wurden, die auf eine Herrlichkeit hindeuteten,

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wovon das Kind noch nichts wußte152. Laßt uns ihm nun auch das Schönste, Christum selbst, zueignen, wiewol es ihm izt noch keinen Genuß noch Freude gewähren kann. Nicht in der Mutter allein oder in mir wohnt jezt noch sein religiöses Gefühl, das in ihm noch nicht sein kann, sondern in uns Allen, und aus uns Allen muß er es sich dereinst zueignen153. So versammelte er uns um sich und fast unmittelbar aus dem Gespräch ging er zu der heiligen Handlung über. Mit einer leisen Anspielung auf die Worte: „Wer mag wehren, daß diese getauft werden" 154 , ergoß er sich darüber, wie eben dieß, daß ein christliches Kind von Liebe und Freude empfangen werde und immer umgeben bleibe, die Bürgschaft leiste, daß der Geist Gottes in ihm wohnen werde; wie das Geburtsfest der neuen Welt ein Tag | der Liebe und Freude sein müsse, und wie beides vereinigt recht dazu auserlesen sei, ein Kind der Liebe auch zur höheren Geburt des göttlichen Lebens einzuweihen. Als wir nun Alle dem Kinde die Hände auflegten, nach der dortigen guten alten Sitte, so war es als ob die Strahlen der himmlischen Liebe und Lust sich auf dem Haupt und Herzen des Kindes als einem neuen Brennpunkt vereinigten, und es war gewiß das gemeinschaftliche Gefühl, daß sie dort ein neues Leben entzünden, und so wiederum nach allen Seiten ausstrahlen würden. — Also wieder das Vorige, unterbrach Leonhardt, nur gleichsam ein umgekehrtes negatives Christkindlein, in welches der Heiligenschein einströmt, nicht aus. — Ganz herrlich hast du das getroffen, lieber Leonhardt, antwortete Agnes, ich konnte es so schön nicht sagen. Nur die Mutter, deren Liebe den ganzen Menschen im Kinde sieht, und diese Liebe | ist es eben, die ihr den englischen Gruß 155 zuruft, sieht auch den himmlischen Glanz schon ausströmen aus ihm, und nur auf ihrem profetischen Angesicht bildet sich der schöne Widerschein, den in unbewußtem kindlichen Sinn Sofie dargestellt hat. Und weshalb ich Euch grade diesen Abend wiedergegeben, das magst du nun auch besser und schöner sagen als ich es kann, oder auch überhaupt nur sagen. Denn ich weiß mit Worten nicht zu beschreiben, wie tief und innig ich damals fühlte, daß jede heitere Freude Religion ist, daß Liebe, Lust und Andacht Töne aus Einer vollkommnen Harmonie sind, die auf jede Weise einander folgen und zusammenschlagen können. Und wenn du es recht schön machen willst, so nimm dir nur vor zu spötteln; dann kommt dir das Wahre gewiß wider deinen Willen, wie vorher. — Warum sollte ich, antwortete Leonhardt. Du hast ja selbst angegeben, wie du es ausgedrükt | haben willst, nemlich nicht mit Worten, sondern in Musik. Aber Friederike hat nur

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selbst gehört, wie es scheint, und uns gar nichts zu hören gegeben, nicht einmal dein Symbol, wovon du jezt so entzükt bist, den einfachen Hauptakkord; wie mag das zugehn? — Ja! sagte Friederike, es ist leichter eine Geschichte wie die vorige unmittelbar zu begleiten; zumal wenn man etwas davon weiß, fügte sie lächelnd hinzu. Aber ich glaube überdies meine Kunst geht weniger verloren an Euch, wenn ich der Geschichte erst folge; und wenn du willst soll sie dir jezt gleich gespielt werden. Sie fantasirte mit eingewebter Melodie einiger heitern klaren Kirchenmelodien, die aber wenig mehr gehört werden, und sang dann, um wieder mit ihrem Lieblingsdichter zu enden, nach einer derselben zerstreute Strophen des Liedes: „Wo bleibst du Trost der ganzen Welt" 156 , diejenigen natürlich die dem weiblichen Sinn die ver | ständlichsten sein mußten. Und wo sie eine Lükke ließ, füllte sie sie mit Harmonien, weldie die innige Ruhe, die tiefe Lust ausdrükten, von der sie mit ergriffen war und die sie darstellen wollte. Nun wirst du aber, sagte Karoline, dir auch einen Uebergang bahnen zu den Tönen der Wehmuth, wenn Ihr anders nicht mit der reinen Freude endigen, sondern auch von mir eine Zeichnung haben wollt, in den Rahmen um dieses schöne Fest. Denn es ist mir so zu Muthe Euch zu erzählen, wie ich das Fest im vorigen Jahre beging, bei meiner theuern Charlotte. Freilich ist eigentlich nichts zu erzählen dabei, es ist nur ein Beitrag zu der Art wie Ihr Charlotten kennt aus andern Erzählungen und aus ihren Briefen, und Ihr müßt Eudi an Alles erinnern, was Ihr schon von ihr wißt. Dort ist unter den Erwachsenen die wizige Gewohnheit sich unerkannt zu be | schenken. Durch die größten Umwege und auf die sonderbarste Art läßt Jeder dem Andern seine Gabe zukommen, wo möglich sie selbst noch unter etwas minder bedeutendes verhüllt, so daß der Empfänger sich bisweilen schon gefreut oder gewundert und dodi das rechte noch nicht gefunden hat. Vielerlei muß also hier ersonnen werden, und das glüklich ausgedachte ist oft nicht ohne vielfältige und lange Vorbereitungen ins Werk zu richten. Charlotte aber hatte schon mehrere Wochen vorher das Leiden einer unerklärlichen nur um desto ängstlichem Krankheit ihres Lieblings, ihres jüngsten Kindes 157 . Der Arzt konnte lange Zeit so wenig Hofnung geben als nehmen; aber Schmerz und Unruhe raubten je länger je mehr dem kleinen Engel die Kräfte, und so war nichts anders als seine Auflösung zu erwarten. Unter Freunden und Freundinnen wurden alle Zurüstungen sie durch sinnreiche | Einfälle oder muthwilligen Scherz zu überraschen, mit inni-

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gern Bedauern unterbrochen; ja Niemand wollte es wagen, auch nur durch eine einfache Gabe, ihre Aufmerksamkeit von dem Gegenstand ihrer Liebe und ihres Schmerzens ablenken zu wollen; man verschob Alles auf eine günstigere Zeit. Fast unaufhörlich trug sie das Kind auf ihren Armen umher; keine Nacht legte sie sich ordentlich nieder, nur am Tage zu Zeiten, wenn das Kind ruhiger schien, und wenn sie es mir oder einer andern zuverläßigen Freundin übergeben konnte, vergönnte sie sich eine sparsame Ruhe. Indeß versäumte sie nicht die Angelegenheiten des Festes, so sehr wir sie oft baten, sich nicht durch den Kontrast ihrer Sorgen noch mehr zu erschöpfen. Selbst etwas zu arbeiten war ihr freilich unmöglich; aber sie sann und ordnete an; und oft überraschte mich aus ihrem tiefsten Schmerz heraus eine Frage, ob dies oder jenes besorgt | wäre, oder ein neuer Gedanke zu. einer kleinen Freude. Lustigkeit oder Muthwillen war freilich eigentlich in keinem, allein das ist auch nie in ihr. Nirgends aber wurde das Sinnige und Bedeutsame vermißt, die ruhige Anmuth die alle ihre Handlungen bezeichnet. Ich weiß noch, als ich ihr einmal fast mißbilligend meine Bewunderung äußerte, daß sie mir sagte: „Gutes Kind, es giebt keinen schöneren und auch keinen schiklicheren Rahmen um einen großen Schmerz, als eine Kette von kleinen Freuden, die man Andern bereitet. So ist dann alles in der Fassung, in der es zeitlebens bleiben kann, und warum sollte man nicht gleich in dieser sein wollen? In Allem was die Zeit verwischt, und das thut sie doch allem Heftigen und Einseitigen, ist auch etwas Unreines." Wenige Tage vor Weihnachten konnte man ihr einen innern Kampf anmerken. Sie fast allein hatte sich immer | noch nicht von dem hoffnungslosen Zustande des Kindes überzeugt. Izt hatte sie sein Aussehn und seine Schwäche besonders ergriffen. Das Bild des Todes stand auf einmal ganz bestimmt vor ihr. Tief in sich gekehrt ging sie wol eine Stunde mit allen Zeichen der innersten Bewegung, das Kind in dem Arme, auf und nieder. Dann sah sie es mit einem wehmüthig erheiterten Gesicht lange wie zum leztenmal an, beugte sich zu einem langen Kuß auf seine Stirne nieder, reichte mir dann gestärkt und muthig die Hand, und sagte: „Nun habe ich es überstanden, liebe Freundin. Ich habe den kleinen Engel dem Himmel wiedergegeben, von dem er gekommen ist; ich sehe nun ruhig seiner Auflösung entgegen, ruhig und gewiß; ja ich kann wünschen, ihn bald verscheiden zu sehen, damit die Zeichen des Schmerzens und der Zerstörung mir das Engelsbild nicht trüben, das sich tief und für immer mei | nem Gemüth eingeprägt hat." Am Morgen des Festabends versammelte

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sie die Kinder um sich und fragte sie, ob sie heute ihr Fest feiern wollten, es wäre alles bereitet und hinge ganz von ihnen ab; oder ob sie warten wollten, bis Eduard begraben und die erste Stille und der erste Schmerz vorüber wäre. Sie äußerten einmüthig, daß sie sich doch an nichts freuen könnten; aber der kleine Bruder lebe ja noch und werde ja nicht sterben. Nachmittag übergab mir Charlotte das Kind und legte sich zur Ruhe, und indem sie einen langen erquikkenden Schlaf schlief, aus dem ich mir vorgenommen hatte sie nicht zu wekken, was auch geschehen möchte, entstand in dem fast schon sterbenden Körper unter heftigen Krämpfen, die ich für die lezten hielt, eine Krisis, die dem herbeigeholten Arzt zugleich das Uebel und die Heilung verrieth. Nach einer Stunde befand sidi das Kind auffallend besser, und man sah | deutlich, daß es auf dem Wege der Genesung war. Eilig schmükten die Kinder das Zimmer und das Lager des Kleinen festlich aus. Die Mutter trat herein und glaubte, wir wollten ihr nur den Anblikk der Leiche verschönern. Das erste Lächeln des Kindes schimmerte ihr entgegen, als sie auf sein Lager blikkte; wie eine schon halb verstorbene Knospe, die sich nach einem wohlthätigen Regen wieder hebt und sich aufschließen will, so schien es ihr unter den Blumen hervor. Wenn es keine trügerische Hofnung ist, sagte sie, uns Alle umarmend, nachdem sie den Hergang vernommen hatte, so ist es eine andere Wiedergeburt, als die ich erwartet hatte. Ich hatte gehofft und gebetet, fuhr sie fort, daß das Kind sich in diesen festlichen Tagen aus dem irdischen Leben erheben möchte. Es rührte midi wehmüthig und versüßend, einen Engel zum Himmel zu senden, zu der Zeit, wo wir die Sendung des | größten auf die Erde feiern. Nun kommen mir beide zugleich unmittelbar von Gott geschenkt. Am Feste der Wiedergeburt der Welt wird mir der Liebling meines Herzens zu einem neuen Leben geboren. J a er lebt, es ist kein Zweifel daran, sagte sie, indem sie sich zu ihm überbog und doch kaum wagte ihn zu berühren, und seiner Hand ihre Lippe aufzudrücken. Er bleibt auch so ein Engel, sagte sie nach einer Weile, er ist geläutert durch die Schmerzen, er ist wie durch den Tod hindurchgedrungen und zu einem höheren Leben geheiligt158. Er ist mir ein besonderes Gnadengeschenk, ein himmlisches Kind, weil ich ihn schon dem Himmel geweiht hatte. — Karoline mußte noch manches genauer erzählen von dieser Geschichte sowohl, als von der herrlichen seltenen Frau, der sie mit einer besonders frommen Verehrung zugethan war. Leonhardt hörte mit einem ganz eigenen Interesse zu, und wurde fast verdrießlich, als | Ernst ihn fragte: Aber findest du nicht auch hier

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wieder das Vorige? gleichsam eine umgekehrte Maria, die mit dem tiefsten Mutterleiden, mit dem Stabatmater anfängt und mit der Freude an dem göttlichen Kinde endigt? — Oder auch nicht umgekehrt, sagte Ernestine. Denn Mariens Schmerz mußte doch verschwinden in dem Gefühl der göttlichen Größe und Herrlichkeit ihres Sohnes; so wie ihr auf der andern Seite von Anbeginn an bei ihrem Glauben und ihren Hofnungen Alles, was ihm äußerlich begegnete, nur als Leiden, als Entäußerung erscheinen konnte. Hier wurde das weitere Gespräch unterbrochen durch eine lustige Streifparthie von einigen Bekannten, die selbst keinem bestimmten Kreise angehörten, oder in unstetem Sinne ihre eigne Freude schneller erschöpft hatten, und nun umherzogen, um hie und da zu schauen, wie man sich erfreut und beschenkt hatte. Um | willkommnere Zuschauer zu seyn, und auch überall einen freundlichen Cicerone zu finden, kündigten sie sich als Weihnachtsknechte an, und theilten die auserlesensten Kleinigkeiten für den Gaumen unter Kinder und Mädchen aus. Sofie wurde schon mit dem gewöhnlichen Ceremoniel, daß erst nach ihrer Artigkeit gefragt wurde, verschont, und gab sich dafür sehr flink und gefällig her. Sie erneuerte schnell die Erleuchtung, und war eine eben so beredte Kastellanin, als neugierige Fragerin nach allem, was Jene schon anderwärts gesehen hätten. Indeß wurde eine flüchtige Mahlzeit herumgereicht, die Hinzugekommenen eilten weiter, und wollten sich durch einige von der Gesellschaft verstärken. Dies ließ aber Eduard nicht zu; sie mußten noch lange bei einander bleiben, und überdies wurde Josef noch ganz gewiß erwartet, dem versprochen worden, er solle sie noch Alle finden. | Als sie sich wieder zerstreuet hatten, sagte Ernst: Gut, wenn es denn beschlossen ist, daß wir noch die Nacht hier erwarten wollen im Gespräch und bei den Gläsern, so meine ich, wir sind den Frauen eine Erwiederung schuldig, damit sie auch um so williger bei uns bleiben. Zwar das Erzählen ist nicht die Gabe der Männer, und ich wüßte am wenigsten wie ich mir selbst so etwas anmuthen sollte. Aber was meint Ihr Freunde, wenn wir nach englischer Weise, um nicht zu sagen nach alter15", und die uns doch auch nicht ganz fremd ist, einen Gegenstand wählten, über welchen Jedem obläge etwas zu sagen. Und zwar einen solchen und so, daß wir dabei die Gegenwart der Frauen in keinem Sinne vergessen, sondern es für das Schönste achten, von ihnen verstanden und gelobt zu werden. Dem stimmten Alle bei, und die Frauen freuten sich, weil sie dergleichen lange nicht gehört hatten. — | Wohl, sprach Leonhardt, wenn Ihr mit solcher Theil-

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nähme in den Vorschlag eingehet, so solltet Ihr auch aufgeben, worüber wir zu reden haben, damit nicht unsere Ungeschiktheit etwas allzu Gleichgültiges ergreife. Wenn die Andern derselben Meinung sind, sagte Friederike, so wünsche ich nur es dir nicht allzusehr zum Verdruß zu thun, wenn ich das Fest selbst in Vorschlag bringe, welches uns hier versammelt hat. Hat es doch so viele Seiten, daß Jeder es verherrlichen kann, wie er am liebsten will. — Niemand sezte sich dagegen, und Ernestine meinte, jedes andere würde doch fremd seyn und gleichsam den Abend zerstören. — Wolan denn, sagte Leonhardt, nach unserer Gewohnheit werde ich, als der Jüngste, mich nicht weigern dürfen, auch der erste zu sein. Und ich bin es um so lieber, theils weil die unvollkommene Rede so am leichtesten von einer bessern verweht wird; | theils weil ich so am sichersten die Freude genieße, einem Andern den ersten Gedanken vorwegzunehmen. Zumal, sezte er lächelnd hinzu, Eure Anordnung die Anzahl der Mitredenden auf eine unsichtbare Weise verdoppelt. Denn Ihr werdet morgen die Kirchen schwerlich versäumen, und es würde uns doch mehr zum Verdruß gereichen, als jenen Männern zur Freude, Euch aber vielleicht am meisten zur Langeweile, wenn Ihr dort dasselbige wieder hörtet. Darum will ich mich auch von dieser Bahn so weit als möglich entfernen, und meine Rede so anheben: Verherrlichen und preisen kann man jedes auf eine zwiefache Weise; einmal, indem man es lobt oder seine Art und innere Natur als gut anerkennt, dann aber wiederum, indem man es rühmt oder seine Trefflichkeit und Vollkommenheit in seiner Art heraushebt. Das erste nun möge dahin gestellt oder Andern | überlassen bleiben, ein Fest überhaupt zu loben, in wiefern es gut sei, daß durch gewisse zu bestimmten Zeiten wiederkehrende Handlungen das Andenken großer Begebenheiten gesichert und erhalten werde. Sollen aber Feste sein, und ist der erste Ursprung des Christenthums für etwas Großes und Wichtiges zu achten: so kann Niemand läugnen, daß dieses Fest der Weihnacht ein bewundernswürdiges Fest ist; so vollkommen erreicht es seinen Zwekk, und unter so schwierigen Bedingungen. Denn wenn man sagen wollte, dies Andenken werde weit mehr durch die Schrift erhalten, und durch den Unterricht im Christenthum überhaupt, als durch das Fest, so möchte ich dieses läugnen. Nemlich wir Gebildetem zwar, so meine ich, hätten vielleicht an jenem genug, keinesweges aber der große Haufen des ungebildeten Volkes. Denn nicht zu gedenken der römischen Kirche, wo ihnen die Schrift wenig | oder nicht in die Hand gegeben wird, sondern nur auf die unsrigen

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Rüksicht genommen, so ist ja offenbar, wie wenig sie geneigt sind, die Bibel zu lesen, oder auch fähig, sie im Zusammenhang zu verstehen. Und was davon ihrem Gedächtniß eingeprägt wird beim Unterricht, das sind weit mehr die Beweise einzelner Säze, als die Geschichte; so wie wiederum aus der Geschichte auf diesem Wege weit mehr der Tod des Erlösers würde ins Andenken gebracht werden, als sein Leben und seine erste Erscheinung in der Welt. Wie viel mehr auch das Volk aus der Geschichte durch festliche Gebräuche erfährt, als durch die geschriebene Ueberlieferung, das erhellt aus Folgendem: Wieviel weiß nicht der gemeine Katholik von Heiligen, von denen er nie etwas gelesen, nur daher, weil ihre Festtage begangen werden, und verbindet mit der besondern Hülfe, die er von jedem fordert, auch einen bestimmten Be | griff von seiner Person; und wie vieles aus der Vorzeit erhielt sich nicht im Alterthum durch Feste, wovon Geschichtschreiber und Dichter wenig oder nichts sagen. J a so viel kräftiger ist die Handlung als das Wort, daß nicht selten aus festlichen Handlungen, deren wahre Bedeutung verloren gegangen, falsche Geschichten sind erdichtet worden, nie aber umgekehrt160. Wenn sich also das Volk so viel mehr an jene hält, als an diese: so müssen wir auch glauben, das Andenken an Christum werde in größerem Umfange durch das Fest erhalten, als durch die Schrift, nemlich grade unter dem Volke, welches, ehrlich und einfältig zu reden, eben so wenig Genuß von ihm hat, als Verstand. Was ich aber ferner gesagt, diese Erinnerung sei besonders schwierig zu erhalten gewesen, das meine ich so. J e mehr man überhaupt von einem Gegenstande weiß, um desto bestimmter und bedeutsamer läßt er sich | auch darstellen, und je nothwendiger er mit dem Gegenwärtigen zusammenhängt, um desto leichter wird jede Veranstaltung, welche an ihn erinnern soll. Dieses aber fehlt bei Christo 161 , wie es scheint, gar sehr. Denn das Christenthum will ich allerdings als eine starke und kräftige Gegenwart gelten lassen; aber wie wenig hängt doch Christus, die wirkliche Person, damit zusammen! Was nemlich von seiner Versöhnung gelehrt wird, nehme ich aus, wie denn auch dies mehr auf einen ewigen Rathschluß Gottes sich gründet, als auf eine bestimmte einzelne Thatsache, und deshalb nicht in einem bestimmten Moment gesagt, sondern mehr über die Zeitgeschichte162 hinausgehoben und mythisch183 gehalten werden sollte. Christus aber als Stifter des Christenthums, und dies ist doch der Gehalt seines Lebens und die einzige Beziehung, in welcher seine erste Erscheinung in der Zeit kann | gefeiert werden, hat nur eine dürftige Bedeutung. Denn

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wie Weniges kann man auf ihn selbst zurükführen, und wie bei weitem das Meiste ist andern und spätem Ursprungs! So sehr, daß wenn man sich als Glieder einer Reihe denkt Johannes den Vorläufer, Christus, die Apostel mit Einschluß des Spätlings 164 , dann die ersten Väter, man gestehen muß, das zweite stehe nicht in der Mitte zwischen dem ersten und dritten, sondern Christus dem Johannes weit näher als dem Paulus. Ja es bleibt zweideutig, ob überall nach seinem Willen eine abgesonderte Kirche sich bilden sollte, ohne welche unser Christenthum, und mithin auch unser Fest, der Gegenstand meiner Rede, sich gar nicht denken läßt. Und noch weit tiefer, der Zeit nach, fällt das Christenthum herunter, wenn man Acht hat auf das emsige Bestreben seiner Lebensbeschreiber, ihn an das alte K ö nigshaus des jüdischen Volkes anzu ] knüpfen, was doch, ob es sich so verhält oder nicht, ganz unbedeutend ist für den Stifter einer Weltreligion 1 ' 5 . D a ß also die Geburt und das wirkliche Vorhandenseyn Christi in der Geschichte gar wenig mit dem Christenthum selbst zusammenhängt, ist offenbar. D a ß wir aber fast allzuwenig von ihm wissen, ist eben so sicher. Denn schon zu der Zeit, da die ersten Nachrichten abgefaßt wurden, waren der Meinungen so mancherlei, daß jene Verfasser darauf Rücksicht scheinen genommen zu haben, w o durch sie gewissermaßen selbst wieder aus Zeugen und Berichterstattern in Parteien verwandelt werden. Ja man kann sagen, daß jede Nachricht und jede Behauptung die andere aufhebt. Denn die Auferstehung macht den Tod ungeschehen, welches ja nichts anders heißen kann, als die spätere Thatsache erklärt die Meinung für falsch, welche man von der frühern gefaßt hatte. Dagegen macht | wiederum die Himmelfahrt das Leben verdächtig 166 . Denn das Leben gehört dem Planeten an, und was sich von demselben trennen läßt, kann gar nicht in einem lebendigen Zusammenhang mit ihm gestanden haben. Eben so wenig bleibt übrig, wenn man die Meinung derer, die Christo einen wahren Leib, oder derer, die ihm eine wahre menschliche Seele absprechen, mit der Meinung derer zusammenstellt, welche ihm gegentheils die wahre Gottheit oder überhaupt das Uebermenschliche nicht beilegen wollen. Ja wenn man bedenkt, daß darüber gestritten wird, ob er noch jezt nur auf eine geistliche und göttliche, oder auch auf eine leibliche und sinnliche Weise gegenwärtig sei auf Erden: so kann man leicht beide Parteien darauf führen, ihr gemeinschaftlicher verborgener Sinn sei der, daß Christus ehedem nicht auf eine andere und eigentlichere A r t zugegen gewesen sei und gelebt habe auf Erden | und unter den Seinigen, als auch jezt noch. K u r z der

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erfahrungsmäßige geschichtliche Grund der Sache ist so schwach1'7, daß unser Fest dadurch um so mehr verherrlicht wird, und seine Kraft nahe an das oben Erwähnte gränzt, daß nemlich durch solche Gebräuche bisweilen die Geschichte selbst erst gemacht worden. Was aber dabei am meisten zu bewundern ist, und uns zum Vorbilde zugleich und zur Beschämung für vieles Andere dienen kann, ist dieses, daß offenbar das Fest selbst seine Geltung größtentheils dem Umstände verdankt, daß es in die Häuser eingeführt worden und unter die Kinder. Dort nemlich sollten wir Mehreres befestigen, was uns werth und heilig ist, und als Vorwurf und übles Zeichen ansehn, daß wir es nicht thun. Dieses also wenigstens wollen wir festhalten, wie es uns überliefert worden ist; und je weniger wir wissen, worin die wunderbare Kraft liegt, um desto weniger auch | nur das Mindeste daran ändern. Mir wenigstens ist auch das Kleinste davon bedeutungsvoll. Denn wie ein Kind der Hauptgegenstand desselben ist, so sind es auch hier die Kinder vornemlich, welche das Fest, und durch das Fest wiederum das Christenthum selbst heben und tragen. Und wie die Nacht die historische Wiege des Christenthums ist, so wird auch das Geburtsfest desselben in der Nacht begangen; und die Kerzen, mit denen es prangt, sind gleichsam der Stern über der Herberge und der Heiligenschein, ohne welchen man das Kind nicht finden würde in der Dunkelheit des Stalls, und in der sonst unbestirnten Nacht der Geschichte. Und wie es dunkel ist und zweifelhaft, was wir bekommen haben in Christi Person und von wem: so ist auch jene Sitte, die ich aus der leztern Erzählung kennen lernte, die schönste und am meisten symbolische Art der Weihnachtsgeschenke. Dies ist meine ehrliche Meinung, | auf welche ich Euch jezt auffordere die Gläser ertönen zu lassen und zu leeren, und für die ich Eures Beifalls so gewiß bin, daß ich hoffe, dadurch alles gut zu machen und abzuwaschen, was Euch etwa frevelhaft erschienen ist in meiner Rede. Nun begreife ich, sagte Friederike, warum er sich so wenig zur Wehre gesezt hat gegen unsere Aufgabe, der ungläubige Schalk, da er im Sinne hatte so ganz gegen ihren eigentlichen Sinn zu reden. Ich möchte darauf dringen, daß er in namhafte Strafe genommen würde; zumal ich die Aufgabe ausgesprochen habe, und man wol sagen kann, er habe mich lächerlich gemacht durch seine Art der Ausführung. — Du hast wol Recht, sagte Eduard, aber es möchte schwer sein, ihm beizukommen: denn er hat sich recht sachwalterisch vorgesehen durch seine Erklärung, und durch die Art, wie er das Herabsezende zusam| mengeflochten mit der Absicht des Erhebens, die er doch an die

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Spize stellen mußte. Sich sachwalterisch vorsehn, sagte Leonhardt, ist wol nichts Uebles, und warum soll ich nicht jede Gelegenheit wahrnehmen, midi in den erlaubten und anständigen Theilen meiner Kunst zu üben. Ueberdies durfte ich doch den Frauen nicht widersprechen, und sie konnten sich nichts besseres oder anderes versehen zu der Denkungsart, die ich offen genug bekenne. Allein sachwalterisch verfahren habe ich übrigens gar nicht, der ich nicht einmal die kleinste Gunstbewerbung an die Richterinnen angebracht in der Rede. — Auch das Zeugniß muß man dir geben, sagte Ernst, daß du uns Vieles erlassen, was noch wäre anzuführen gewesen, es sei nun, daß es dir nicht bei der Hand gewesen, oder daß du es unterlassen, um die Zeit zu schonen und um nicht zu gelehrt und unverständlich vor den Frauen zu reden. — Ich | meines Theils, sagte Ernestine, wollte ihn audi schon loben, wie redlich er darin Wort gehalten, was er versprach, sich möglichst von dem entfernt zu halten, was wir vielleicht Morgen an den öffentlichen Andachtsorten hören könnten. — Wolan denn, sagte Karoline, wenn es nicht möglich ist, ihn gradezu vor Gericht zu ziehn, so wird es darauf ankommen ihn zu widerlegen. Und wo ich nicht irre, steht es an dir, Ernst, zu reden, und die Ehre unserer Aufgabe zu retten. — Ich gedenke, sagte Ernst, das lezte zu thun, ohne das erste; und vermöchte auch meines Theils nicht beides mit einander zu verbinden. Sondern die Widerlegung würde mich abziehen zu andern Gegenständen, und ich könnte dann selbst straffällig werden. Auch ist dem an freies zusammenhangendes Reden Ungewöhntem nichts schwerer, als dabei der Gedankenreihe eines Andern zu folgen. | Was ich sagen will, hub er nun seine Rede an, davon wußte ich nicht zu unterscheiden ehe du sprachst, Leonhardt, ob es ein Loben wäre, oder ein Rühmen. Jezt aber weiß ich, daß es nach deiner Weise ein Rühmen ist. Denn auch ich will das Fest preisen als ein vortrefliches in seiner Art. Das Loben aber, daß die Art und der Begriff selbst auch etwas Gutes sei, will ich nicht, wie du es thatest, dahingestellt sein lassen, sondern vielmehr es voraussezen. Nur daß deine Erklärung eines Festes mir nicht genügt, wie sie denn überhaupt nur für dein Bedürfniß eingerichtet war, einseitig; meines aber ist ein anderes, und ich bedarf der anderen Seite. Du nemlich sähest nur darauf, daß jedes Fest ein Gedächtniß ist von irgend etwas; mir aber liegt daran, von was? Demnach sage ich, daß nur zu dessen Gedächtniß ein Fest gestiftet wird, durch dessen Vorstellung eine gewisse Gemüthsstimmung | und Gesinnung in den Menschen kann aufgeregt

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werden; und daß dieses in dem ganzen Gebiet einer solchen Anordnung und in einem lebhaften Grade erfolge, darin besteht eines jeden Festes VortrefFlichkeit. Die Stimmung aber, welche unser Fest hervorbringen soll, ist die Freude; und daß es diese weit verbreitet und lebhaft erreget, liegt so klar vor Augen, daß nichts darüber zu sagen wäre, als was Jeder selbst sieht. Nur dies eine ist die Schwierigkeit, welche ich zu beseitigen habe, daß man sagen könnte, es sei keinesweges das eigentliche und wesentliche des Festes, was diese Wirkung thut, sondern nur das Zufällige, nemlidi die Geschenke, welche gegeben und genommen werden. Wie unrichtig nun dieses ist, muß hier dodi gezeigt werden. Denn gebet den Kindern dasselbige zu einer andern Zeit: so werdet Ihr nicht den Schatten einer Weihnachtsfreude damit hervorlokken, bis Ihr et | wa auf den entgegengesezten Punkt kommt, nemlich den, wo ihr besonderes persönliches Fest gefeiert wird. Mit Recht glaube ich, nenne ich dies einen entgegengesezten Punkt, und gewiß wird Niemand läugnen, daß die Geburtstagsfreude einen ganz andern Charakter hat, als die Weihnachtsfreude, jene ganz die Innigkeit, die das Besdilossensein in einem bestimmten Verhältniß erzeugt, diese ganz das Feuer, die rasche Beweglichkeit eines weitverbreiteten allgemeinen Gefühls. Hieraus geht nun hervor, theils daß die Geschenke keinesweges das Erfreuende sind, sondern die Veranlassung. Theils auch, daß das Eigenthümliche der Weihnachtsfreude eben in dieser gänzlichen Allgemeinheit besteht. Durch einen großen Theil der Christenheit, so weit die schöne alte Sitte noch reicht, ist Jeder mit dem Zubereiten eines Geschenkes beschäftiget, dieses Bewußtsein ist eben der Zauber, | welcher sich Aller bemächtiget. Ein Geschenk gelegentlich aus einem gewöhnlichen Kaufladen hergeholt, oder in müßigen Stunden ohne weitere Beziehung gearbeitet, ist wenig oder nichts. Aber das gemeinsame Bereden, das Arbeiten in die Wette auf die bestimmte festliche Stunde, und draußen der Christmarkt, der sich in jedem Geschenk abspiegelt, die Erleuchtung, die wie schimmernde Sternchen auf der Erde umher glänzt in der Winternacht, daß der Himmel davon widerscheint, das giebt den Gaben ihren Werth. Und was so allgemein ist, kann niemals willkührlich ersonnen werden. Etwas Innerliches muß dabei zum Grunde liegen, sonst könnte es weder Wirkung thun, noch auch nur bestehen, wie wir ja an vielen neueren Versuchen zur Genüge gesehn haben. Dieses Innere aber kann nichts anderes sein, als eben der Grund aller Freude, die sich unter diesen Menschen hin und her be j wegt; denn aus Anderem könnte solche Wirkung nicht entstehen168. Auch ist es

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so in der That. Ich erinnere nur an die, welche ich zugleich deshalb anklage, daß sie die allgemeine Freude von diesem Fest wegverlegt haben auf Neujahr, auf den Punkt, in welchem der Wechsel und Gegensaz in der Zeit vorgestellt wird. Denn offenbar sind das die, welche der innern Haltung ermangelnd, nur in diesem Wechsel leben, nur in der Erneuerung des Vergänglichen sich freuen169. Dies also ist die Beziehung zwischen der Geburt des Erlösers und dem allgemeinen Freudenfest, daß es nemlich für Alle, welche nicht wie jene nur in dem Wechsel der Zeit leben, kein anderes Princip der Freude giebt, als die Erlösung; und von dieser wiederum muß für uns der erste Punkt sein, die Geburt eines göttlichen Kindes. Daher hat auch kein besonderes Fest mit diesem allgemeinen eine solche Aehnlichkeit, | als das der Kindertaufe, wenn man nicht ganz ohne Sinn dabei zu Werke geht. Und daher der besondere Reiz jener anmuthigen Erzählung, in welcher uns beides vereinigt erschien. J a , Leonhardt, wir mögen uns anstellen wir wir immer wollen, hier ist kein Entrinnen. Das Leben und die Freude der ursprünglichen Natur, wo jene Gegensäze gar nicht vorkommen, zwischen der Erscheinung und dem Wesen, der Zeit und der Ewigkeit, ist nicht die unsrige. Und dachten wir uns dieses in Einem, so dachten wir uns eben diesen als Erlöser, und er mußte uns anfangen als ein göttliches Kind. Wir selbst fangen dagegen im Zwiespalt an, und gelangen erst zur Uebereinstimmung durch die Erlösung, die eben nichts anders ist, als die Aufhebung jener Gegensäze, und eben deshalb nur von dem ausgehen kann, für den sie nicht erst durften aufgehoben werden. Gewiß, das wird Niemand | läugnen; dies ist die eigentliche Natur dieses Festes, daß wir uns des innersten Grundes und der unerschöpflichen Kraft des neuen ungetrübten Lebens bewußt werden, daß wir in dem ersten Keime desselben zugleich seine schönste Blüthe, seine höchste Vollendung anschauen. Wie unbewußt es auch in Vielen sei, in nichts anderes läßt sich das wunderbare Gefühl auflösen, als in diese zusammengedrängte Anschauung einer neuen Welt. Das ergreift einen Jeden, das170 wird in tausend Bildern auf die verschiedenste Weise dargestellt, als die aufgehende, wiederkehrende Sonne, als der Frühling des Geistes, als der König eines besseren Reiches, als der treueste Götterbote, als der lieblichste Friedensfürst. Und so komme ich doch dazu, Leonhardt, dich zu widerlegen, eben indem ich dir beistimme, und die verschiedenen Ansichten, von welchen wir ausgegangen sind, vergleichend zusammen | stelle. Mögen die historischen Spuren, die Sache so in einem niedrigen Sinne kritisch angesehen, noch so schwach sein; das Fest

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hängt nicht daran, sondern an der nothwendigen Idee eines Erlösers, und darum waren auch jene genug171. Die größte Krystallisation bedarf nur eines Kleinsten, um daran anzuschießen; was von innen herausbricht von dieser Freude, das bedarf nur der geringsten Veranlassung, um sich in einer bestimmten Gestalt hinzustellen. Wer also, wie du doch auch wolltest, das Christenthum für eine kräftige Gegenwart anerkennt, für die große Form des neuen Lebens, der heiliget dieses Fest, nicht wie man das Unverstandene nicht zu verlezen wagt, sondern indem er es vollkommen versteht, auch alles einzelne darin, die Geschenke und die Kinder, die Nacht und das Licht. Und mit dieser kleinen Verbesserung, von der ich wünsche, daß sie auch dir gefallen möge, | wiederhole ich deine Aufforderung, und wünsche oder vielmehr weissage dem schönen Feste auf ewig die frohe Kindlichkeit, mit der es uns jedesmal wiederkehrt, und Allen, die es feiern, die rechte Freude an dem wiedergefundenen höheren Leben, aus welcher allein alle seine Lieblichkeiten aufblühen. Ich muß dir abbitten Ernst, sagte Agnes. Ich hatte nemlich gefürchtet, ich würde dich gar nicht verstehn; dem ist aber nicht so gewesen, und du hast es recht schön bestätiget, daß wirklich das Religiöse das Wesen des Festes ist. Nur scheint es freilich nach dem, was vorhin ausgemacht wurde, als ob uns Frauen weniger Freude müsse zu Theil werden, weil jenes Unwesen sich weniger in uns offenbarte. Allein auch das kann ich mir wol zurecht legen. — Recht leicht, sagte Leonhardt. Man könnte eben nur kurz weg sagen, und es ist so | anschaulich als möglich, daß die Frauen für sich alles leicht ertragen, und nach wenigem Genuß streben, daß aber, wie ihr innerstes Leiden Mitleiden ist, so auch ihre Freude Mitfreude ist. Nur mögt Ihr sehen, wie Ihr mit der heiligen Autorität zurechtkommt, die Ihr niemals verlassen wollt, und die so offenbar die Frauen als die ersten Urheber alles Zwiespaltes und aller Erlösungsbedürftigkeit angiebt. Aber wenn ich Friederike wäre, ich wollte ihm doch den Krieg machen, daß er der Taufe so leichtsinnig, ohne Erwägung seiner eignen Umstände, den Vorrang eingeräumt vor der Trauung, die doch auch ein schönes und freudiges Sakrament sein soll, hoffe ich. — Antworte ihm nicht, Ernst, sagte Friederike, er hat sich schon selbst geantwortet. — Wie das? fragte Leonhardt. — Nun offenbar, entgegnete Ernestine, indem du von den eignen Umständen sprachst. Aber deinesgleichen | merkt es immer nicht, wenn Ihr das liebe Ich einmischt. Ernst unterschied das aber wohl, und wird dir gewiß sagen, daß jenes sich mehr der Geburtstagsfreude näherte, als der Weihnachtsfreude.

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— Oder, fügte Ernst hinzu, wenn du etwas Christliches dazu haben willst, daß es mehr Charfreitag und Ostern ist, als Weihnachten. Nun aber laßt uns das Vorige bei Seite stellen, und hören, was uns Eduard sagen wird. — Dieser fing darauf so an zu reden. Es ist schon von einem Besseren, als ich bin, bei einer ähnlichen Gelegenheit angemerkt worden, daß die Lezten am übelsten daran sind, wo über einen Gegenstand, welcher es sei, auf diese Weise geredet wird 172 . Und nicht etwa nur, als ob ihnen die Früheren wegnähmen, was zu sagen war, wiewol Ihr beiden auch in dieser Hinsicht Euch wenig um midi | bekümmert habt, daß Ihr etwa Einzelnes herausgenommen hättet, um mir anderes Einzelne übrig zu lassen — sondern vornemlich, weil den Hörenden von jeder Rede wieder eigne Nachklänge zurükbleiben, die also einen immer zunehmenden Widerstand bilden, den der Lezte am schwersten zu überwinden hat. Daher muß ich mich nach einer Hülfe umsehen, und was ich sagen will, an etwas Bekanntes und Liebes anlehnen, damit es leichteren Eingang finde. Wie nun Leonhardt sich überall auf die mythischen173 Lebensbeschreiber Christi bezog, und bei ihnen das Geschichtliche aufsuchte: so will ich midi an den mystischen halten, bei dem fast gar nichts Geschichtliches vorkommt, auch kein Weihnachten äußerlich, in dessen Gemüth aber eine ewige kindliche Weihnachtsfreude herrscht. Dieser giebt uns die geistige und höhere Ansicht unseres Festes. Er hebt aber so an, wie Ihr wißt: „Im | Anfange war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Wort ward Fleisch und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, als des eingebornen Sohnes vom Vater." 174 So sehe ich am liebsten den Gegenstand dieses Festes, nicht ein Kind so und so gestaltet und aussehend, von dieser oder jener geboren, da oder dort; sondern das Fleisch gewordene Wort, das Gott war und bei Gott. Das Fleisch aber ist, wie wir wissen, nichts anders, als die endliche beschränkte sinnliche Natur; das Wort dagegen ist der Gedanke, das Erkennen; und das Fleischwerden desselben ist also das Hervortreten dieses ursprünglichen und göttlichen in jener Gestalt. Was wir sonach feiern, ist nichts anders als wir selbst, wie wir insgesammt sind, oder die menschliche Natur, oder wie ihr es sonst nen | nen wollt, angesehen und erkannt aus dem göttlichen Princip. Warum wir aber Einen aufstellen müssen, in welchem sich die menschliche Natur allein so darstellen läßt, und warum grade diesen Einen, und auch bei ihm schon in die Geburt diese Einerleiheit des Göttlichen und Irdischen sezen,

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nicht als eine spätere Frucht des Lebens, das wird hieraus erhellen. Was ist der Mensch an sich anders, als der Erdgeist selbst, das Erkennen der Erde in seinem ewigen Sein und in seinem immer wechselnden Werden. So ist auch kein Verderben in ihm und kein Abfall, und kein Bedürfniß einer Erlösung. Der Einzelne aber, wie er sich anschließt an die andern Bildungen der Erde, und sein Erkennen in ihnen sucht, da doch ihr Erkennen allein in ihm wohnt, dieser ist das Werden allein, und ist im Abfall und Verderben, welches ist die Zwietracht und die Verwirrung, und er findet | seine Erlösung nur in dem Menschen an sich. Darin nemlidi, daß eben jene Einerleiheit des ewigen Seins und Werdens des Erdgeistes175 in ihm selbst aufgeht, daß er alles Werden und auch sich selbst nur in dem ewigen Sein betrachtet und liebt, und daß er, wie er als ein Werden erscheint, nichts anders sein will, als ein Gedanke des ewigen Seins, und in keinem andern ewigen Sein will gegründet sein, als in dem, welches einerlei ist mit dem immer wechselnden und wiederkehrenden Werden. Darum findet sich zwar in der Menschheit jene Einerleiheit des Seins und Werdens ewig, weil sie ewig als der Mensch an sich ist und wird; im Einzelnen aber muß sie, wie sie in ihm ist, auch werden als sein Gedanke, und als der Gedanke eines gemeinschaftlichen Thuns und Lebens, in welchem eben jenes Erkennen der Erde176 ist nicht nur, sondern auch wird. Nur wenn der Einzelne die Mensch | heit als eine lebendige Gemeinschaft der Einzelnen anschaut und erbaut, ihren Geist und Bewußtsein in sich trägt, und in ihr das abgesonderte Dasein verliert und wiederfindet, nur dann hat er das höhere Leben und den Frieden Gottes in sich. Diese Gemeinschaft aber, durch welche so der Mensch an sich dargestellt wird oder wiederhergestellt, ist die Kirche. Sie verhält sich also zu allem Uebrigen, was Menschliches um sie her und außer ihr wird, wie das Selbstbewußtsein der Menschheit in den Einzelnen zur Bewußtlosigkeit. Jeder also, in dem dieses Selbstbewußtsein aufgeht, kommt zur Kirche. Darum kann Niemand wahrhaft und lebendig die Wissenschaft in sich haben, der nicht selbst in der Kirche wäre, sondern ein solcher kann die Kirche nur äußerlich verläugnen, nicht innerlich. Wol aber können in der Kirche sein, die nicht die Wissenschaft in sich haben; denn sie können jenes höhere | Selbstbewußtsein in der Empfindung besizen, wenn auch nicht in der Erkenntniß. Welches eben der Fall bei den Frauen ist, und zugleich der Grund, warum sie sich um so inniger und ausschließender der Kirche anhängen. Diese Gemeinschaft nun ist als ein Werdendes auch ein Gewordenes, und als eine Gemeinschaft der Einzelnen ein durch

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Mittheilung derselben Gewordenes, und wir suchen also auch Einen Punkt, von dem diese Mittheilung ausgegangen, wiewol wir wissen, daß sie von einem Jeden wieder selbstthätig ausgehn muß, und der Mensch an sidi, sich in jedem Einzelnen gebären und gestalten. Jener aber, der als der Anfangspunkt der Kirche angesehn wird, als ihre Empfängniß, so wie die erste frei und selbstthätig ausbrechende Gemeinschaft der Empfindung gleichsam die Geburt der Kirche ist; jener muß als der Mensch an sich, als der Gottmensch schon geboren sein, er muß | das Selbsterkennen in sich tragen, und das Licht der Menschen sein von Anfang an. Denn wir zwar werden wiedergeboren durch den Geist der Kirche. Der Geist selbst aber geht nur aus vom Sohn, und dieser bedarf keiner Wiedergeburt, sondern ist ursprünglich aus Gott geboren. Das ist der Menschensohn schlechthin. Auf ihn war alles frühere Vorbedeutung, war auf ihn bezogen, und nur durch diese Beziehung gut und göttlich, und in ihm feiern wir nicht nur uns, sondern Alle, die da kommen werden. In Christo sehen wir also den Erdgeist177 zum Selbstbewußtsein in dem Einzelnen sich ursprünglich gestalten. Der Vater und die Brüder wohnen gleichmäßig in ihm, und sind Eins in ihm, Andacht und Liebe sind sein Wesen. Darum sieht jede Mutter, die es fühlt, daß sie einen Menschen geboren hat, und die es weiß durch eine himmlische Botschaft, daß der Geist der Kirche, der | heilige Geist in ihr wohnt, und die deshalb gleich ihr Kind im Herzen der Kirche darbringt, und dies als ein Recht fordert, eine solche sieht auch Christum in ihrem Kinde, und eben dies ist jenes unaussprechliche, alles lohnende Muttergefühl. Und eben so jeder von uns schaut in der Geburt Christi, seine eigene höhere Geburt an, durch die nun auch nichts anders in ihm lebt, als Andacht und Liebe, und auch in ihm der ewige Sohn Gottes erscheint. Darum bricht das Fest hervor, wie ein himmlisches Licht aus der Nadit. Darum ist es ein allgemeines Pulsiren der Freude in der ganzen wiedergebornen Welt, das nur die für eine Zeitlang kranken oder gelähmten Glieder nicht fühlen. Und eben dies ist die Herrlichkeit des Festes, die Ihr auch von mir wolltet preisen hören; aber wie ich sehe, sollte ich nicht der Lezte sein. Denn der langerwartete Freund ist ja nun auch da. | Josef nemlich, war während seiner Rede gekommen, und so leise er auch hereintrat und sich niedersezte, doch von ihm bemerkt worden. Keinesweges, sagte er, als ihn Eduard so aufrief: sondern du sollst gewiß der Lezte gewesen sein. Ich bin nicht gekommen Reden zu halten, sondern mich zu freuen mit Euch; und Ihr kommt mir, daß

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ich es ehrlich sage, wunderlich und fast thörigt vor, daß Ihr dergleichen treibt, wie schön es auch mag gewesen sein. Aber ich merke es schon, Euer schlechtes Princip ist wieder unter Euch; dieser Leonhardt, der denkende reflectirende, dialektische, überverständige Mensch, in den Ihr wahrscheinlich hineingeredet habt, denn für Euch hättet Ihr es gewiß nicht gebraucht, und wäret nicht darauf verfallen; ihm aber hilft es doch nicht. Und die armen Frauen haben sich das so müssen gefallen lassen. Bedenkt nur, welche schöne Töne sie Euch würden gesungen | haben, in denen alle Frömmigkeit Eurer Reden weit inniger gewohnt hätte, oder wie anmuthig aus dem Herzen voll Liebe und Freude sie mit Euch geplaudert hätten; was Euch anders würde behagt und erquikt haben, als sie diese feierlichen Reden. Ich meinestheils kann heute damit gar nicht dienen. Alle Formen sind mir zu steif, und alles Reden zu langweilig und kalt. Der sprachlose Gegenstand verlangt oder erzeugt auch mir eine sprachlose Freude, die meinige kann wie ein Kind nur lächeln und jauchzen. Alle Menschen sind mir heute Kinder, und sind mir eben darum so lieb. Die ernsthaften Falten sind einmal ausgeglättet, die Zahlen und die Sorgen stehen ihnen einmal nicht an der Stirn geschrieben, das Auge glänzt und lebt einmal, und es ist eine Ahndung eines schönen und anmuthigen Daseins in ihnen. Auch idi selbst bin ganz ein Kind geworden zu meinem Glükk. | Wie ein Kind den kindischen Schmerz erstikt, und die Seufzer zurükdrängt und die Thränen einsaugt, wenn ihm eine kindische Freude gemacht wird: so ist mir heute der lange tiefe unvergängliche Schmerz besänftiget, wie noch nie178. Ich fühle mich einheimisch und wie neugeboren in der besseren Welt, in der Schmerz und Klage keinen Sinn hat und keinen Raum. Mit frohem Auge schaue ich auf Alles, auch auf das tiefverwundende. Wie Christus keine Braut hatte als die Kirche, keine Kinder als seine Freunde, kein Haus als den Tempel und die Welt, und doch das Herz voll himmlischer Liebe und Freude: so scheine ich mir geboren auch darnach zu trachten. So bin ich umhergegangen den ganzen Abend, überall mit der herzlichsten Theilnahme an allen Kleinigkeiten und Spielen, und habe Alles geliebt und angelacht. Es war Ein langer liebkosender Kuß, den ich der Welt gab, | und jezt meine Freude mit Euch, sollte der lezte Drukk der Lippe sein. Ihr wißt, wie Ihr mir die Liebsten seid von Allen. Kommt denn, und das Kind vor allen Dingen mit, wenn es noch nicht schläft, und laßt mich Eure Herrlichkeiten sehn, und laßt uns heiter sein und etwas Frommes und Fröhliches singen.

Predigten

1808. 1814. 1820

Einleitung des Herausgebers. Die 2., 3. und 4. Sammlung der „Predigten" Schleiermachers sind sämtlich in Berlin im Vorlag Georg Reimers erschienen, und zwar die 2. Sammlung 1808, die 3. 1814 und die 4. 1820. Zu Lebzeiten Schleiermachers erschien von allen 3 Bänden eine 2. Auflage, nämlich 1820 (2. Sammlung), 1821 (3. Sammlung) und 1826 (4. Sammlung). In der vorliegenden Auswahl wird der Text der Erstauflagen von 1808, 1814 und 1820 abgedruckt. Die Seitenzahlen der Erstdrucke sind hier am oberen Seitenrande angegeben; im Text sind die Seitenanfänge durch Querstriche gekennzeichnet. Die „Sämmtlichen Werke" drukken 2. Abteilung, Band I, Seite 187 bis 692 die Texte der jeweils 2. Auflagen der drei Predigtsammlungen ab. Die wichtigsten Änderungen Schleiermachers in den 2. Auflagen werden hier in den Anmerkungen mitgeteilt. Alle drei Predigtsammlungen sind von Schleiermacher gewissermaßen zwischeneingeschoben. Nach einem Brief an Georg Reimer (Br. II, 69) hatte er schon 1805 die Absicht, der x. Predigtsammlung eine Sammlung Festpredigten folgen zu lassen (vgl. auch die Vorrede zur 2. Sammlung). Dies ist jedoch erst mit der 5. Sammlung 1826 geschehen. Die 2. bis 4. Sammlung verdanken demnach ihr Entstehen besonderen Anlässen. Bei der 2. Sammlung ist das die Beziehung auf die Zeitumstände der Jahre 1806 und 1807, welche bei Schleiermacher den Wunsch weckten, seine politischen Predigten gedruckt zu sehen. Schon am 12. Dezember 1806 schreibt er an Georg Reimer: „Wenn ich noch ein Paar Mal in dieser Zeit zum Predigen komme, dann ließe ich gern diese Predigten, die sich so ganz auf die gegenwärtige Zeit beziehen, zusammen drucken, weil ich sie wirklich für ein gutes Wort halte. Ich will auch gern dafür stehn und meinen Namen darauf setzen; allein gedruckt können sie wohl schwerlich werden in einer Stadt, die

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in französischem Besitz ist, und so werde ich es wohl aufgeben müssen, wenn es nicht etwa in Stralsund geschehen könnte. Nöthig und wünschenswerth scheint es mir mehr als je, zumal ich höre, wie schlechte Gesinnung in Berlin herrscht." (Br. II, 82). Ebenso wie bei der ersten Sammlung (vgl. oben Seite 160) hat Schleiermacher auch die Predigten der 2. Sammlung aufgrund von knappen Aufzeichnungen für den Druck bearbeitet. In der Vorrede (S. IV) heißt es: „Die ersten drei Predigten habe ich als Universitätsprediger in Halle gehalten . . . Nur eine Predigt aus der Zeit jener Amtsführung fehlt, von welcher ich nichts mehr in meinen Papieren finden konnte." Die Auswahl in der vorliegenden Ausgabe berücksichtigt diejenigen Predigten, welche — unabhängig vom einzelnen Anlaß — mehr die allgemeineren politischen Anschauungen Schleiermachers zur Geltung bringen. Das Erscheinen der 3. Predigtsammlung ist das Verdienst August Pischons, der von 1810 bis 18 I J Schleiermachers Hilfsprediger war. Im Februar 1 8 1 0 beklagt Schleiermacher sich: „Ich habe auch schon öfter an eine dritte Sammlung gehen wollen, immer aber die gar nicht unbedeutende Zeit nicht finden können, die ich brauche um aus sehr kurzen Entwürfen die Vorträge wieder herzustellen." (Br. IV, 178). Am 21. November 1 8 1 2 jedoch, an seinem Geburtstag, schreibt er an Gaß: „Pischon hat mich heute Morgen überrascht mit einem kleinen Bänddien überschrieben ,Predigten von Schleiermacher 1 8 1 2 ' . Es sind zwölf Predigten aus diesem Jahre, die er sehr sauber nachgeschrieben hat, so daß sie leicht zu drucken sein würden. Es ist mir eine sehr große Freude gewesen, und es steckt eine ungeheure Mühe darin." (Br. IV, 189). Diese Nachschriften Pischons, ergänzt durch einige andere Nachschriften aus dem Jahre 1 8 1 2 , bilden die Grundlage der 3. Sammlung. Schleiermacher hat jedoch auch hier, ebenso wie entsprechend bei der 1. und 2. Sammlung, die Nachschriften für den Druck recht erheblich umgearbeitet. Er schreibt in der Widmung an Pischon: „Sie werden freilich im Ganzen überall in Inhalt und Ton wiedererkennen was ich von Ihnen empfangen habe, auch vieles Einzelne ziemlich genau übereinstimmend finden; dabei aber auch mehr Veränderungen als Sie vielleicht erwarten. Und gar nicht nur solche die etwa einen Unterschied von dem ursprünglich gesprochenen aufheben sollen, der sich vielleicht in die Nachschriften könnte eingeschlichen haben, sondern weit mehr solche die mir nun wirklich unmöglich machen den Lesern die Versicherung zu geben, die Predigten sein so wie ich sie gehalten habe. Diese gründen sich im allgemeinen auf meine auch sonst schon ausgesprochene Ansicht, daß eine ge-

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druckte Predigt wol dürfe, ja bisweilen auch müsse anders lauten als eine gesprochene, theils in einzelnen Fällen auch darin, daß ich glaubte manches besser und einleuchtender stellen zu können als ich es fand." (3. Sammlung, S. III—V). Wenn also Schleiermacher seit der 3. Sammlung offenbar beim Druck seiner Predigtsammlungen stets auf Hörernachschriften zurückgegriffen hat (vgl. Br. IV, 214: „Es liegen schon sechs oder acht (Festpredigten) fertig da, aber es fehlen noch ebensoviele, und ich kann dabei wenig thun, wenn es nicht Leute giebt, die nachschreiben"; vgl. auch die Vorrede zur 4. Sammlung), so haben wir doch auch hier keineswegs eine Wiedergabe der so gehaltenen Predigten Schleiermachers, wie denn audi Schleiermacher selber in der Vorrede zur 3. Sammlung schreibt: „Nun ist es mir freilich schon begegnet, wenn die vorherigen Hörer nun Leser werden, daß sie klagen, das gedrukte gewähre ihnen nicht dieselbe Befriedigung, und ich muß auch jezt wol dasselbe besorgen, wenn es Einige giebt, die sich noch solche Erinnerungen von zwei Jahren her zurükrufen können. Allein ich konnte doch dieser Besorgniß nicht meine Ueberzeugung aufopfern, und will mich damit trösten, daß wenn ich auch hätte die Predigten ganz so wiederherstellen können, wie sie gesprochen wurden, diese Klage doch dieselbe würde geblieben sein." (3. Sammlung, S. V). Einen ungefähren Eindruck von der mündlichen Predigtweise Schleiermachers geben wohl nur die von Schleiermacher nur flüchtig durchgesehenen späteren Einzeldrucke und die nach seinem Tode erschienenen Nachschriften. Die hier gebotene Auswahl aus der 3. Sammlung beschränkt sich auf solche Predigten, welche für die theologischen Grundüberzeugungen Schleiermachers, insbesondere seine Christusfrömmigkeit, am aufschlußreichsten scheinen. Auch die Predigten der 4. Sammlung sind von Schleiermacher bearbeitete Nachschriften „einiger jungen Freunde" (Vorwort, S. IV). Nach seinem eigenen Eingeständnis entfernt sich hier die Druckgestalt besonders weit vom Ursprünglichen: „Sie mögen aber leidit, eben weil soviel Zeit dazwischen liegt, ihrer ursprünglichen Gestalt bei der lezten Bearbeitung minder ähnlich geblieben sein, als die meisten ihrer Vorgänger, zumal ich auch kein Bedenken getragen habe, kleine Zusäze und Erläuterungen wissentlich einzuschalten." (Vorrede, S. I V f.). Die zugrundeliegenden Predigten sind in Morgenandachten gehalten, die erste am 3 1 . Mai, die letzte spätestens Mitte August 1818. Wie aus der Vorrede und auch aus Br. IV, 355 hervorgeht, hat Schleiermacher sich auf Drängen der Hörer zum

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Druck entschlossen. In der Tat dürfte die 4. Predigtsammlung nach Form und Gehalt zum Vollkommensten gehören, was Schleiermacher hat drucken lassen. Dilthey nennt diese Sammlung „das schönste Buch über die christliche Familie, das wir Deutschen besitzen" (Dilthey2, 776). Unsere Auswahl bietet diejenigen Predigten, welche Schleiermachers Anschauungen über die häuslichen Verhältnisse am prägnantesten zur Geltung bringen. Die drei Predigtsammlungen insgesamt sind schon rein theologisch das weitaus Bedeutsamste, was Schleiermacher zwischen seinen theologischen Frühschriften und der 1. Auflage seiner Glaubenslehre hat drucken lassen. Sie sind damit ein wesentliches Zeugnis für das theologische Denken Schleiermachers in den ersten eineinhalb Jahrzehnten seiner akademischen Lehrtätigkeit, ganz abgesehen davon, daß er „durch das Verhältniß seiner Kanzel vortrage zu seinen Vorlesungen den Studirenden das Verhältniß der Spekulation und der Frömmigkeit recht anschaulich zu machen und sie so von beiden Orten zugleich zu erleuchten und zu erwärmen" hoffte (Br. II, 44), so daß in den Predigten ganz anders als in den abstrakt-dialektischen Entwicklungen der Glaubenslehre der lebendige Zusammenhang seiner christlichen Uberzeugung unmittelbar deutlich wird. Schleiermacher selber drückt das im Hinblick auf die 3. Predigtsammlung in einem Brief an Charlotte von Kathen so aus: „Wir sind wohl beide ganz die damaligen. Dir ist ebenso wenig für irgend etwas, was Dir sonst werth war, Sinn und Geschmack verloren gegangen, aber die Beziehung auf den E i n e n , der der Mittelpunkt ist von allem, ist wohl noch heller herausgetreten in uns beiden." (Br. II, 399). Soweit man der gegenwärtigen „eschatologischen" Modetheologie folgt, wird man freilich heute Schleiermacher die Verwebung christlicher Glaubensinnigkeit und humaner Idealität als schwere theologische Verirrung vorwerfen. Es ist jedoch die Frage, ob die sich religiös rechtfertigende Verneinung jeglicher sittlich-humanen Idealität nicht bestimmten heidnischen Religionsformen weit näher steht als Schleiermachers wahrhaft christlich durchformte Humanität. Gemessen am Neuen Testament und an der Reformation dürften hier jedenfalls b e i d e Lehrsysteme (wenn anders die heutige Theologie noch System hat) als einseitig erscheinen. Als Anhang zu Predigt Nr. X I I der 2. Sammlung wird hier Schleiermachers Akademierede vom 24. Januar 1826, zum Geburtstag Friedrichs des Großen, abgedruckt. Der Text folgt dem von Jonas veranstalteten Erstdruck in den „Sämmtlichen Werken", 3. A b -

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teilung, Band I I I , Seite 73—84. Die Seitenzahlen dieses Erstdrucks sind hier am oberen Seitenrande angegeben; im Text sind die Seitenanfänge durch Querstriche gekennzeichnet. Die Gedächtnisrede auf den großen König, in der Schleiermacher den Begriff des „großen Mannes" klärt, ist ein für das Verständnis der Christologie Schleiermachers ganz unentbehrlicher Text. Schleiermacher setzt hier die erdgeschichtliche Bedeutung des Erscheinens Christi mit dem Auftreten des „großen Mannes" in Beziehung, wobei Christus als die Wende der gesamten Menschheitsgeschichte dem nur partikulare Bedeutung habenden „großen Mann" als das Unbedingte entgegengestellt wird und doch an diesem Gegensatz begreifbar wird. Die Gedächtnisrede ist neben der „Weihnachtsfeier" die einzige Stelle, an der Schleiermacher seine geschichtsphilosophische Ansicht von der Bedeutung des Christentums programmatisch ausspricht. Sie tritt damit ergänzend neben die „Festpredigten" (vgl. Bd. 3 dieser Ausgabe, besonders S. 176 ff.).

Predigten von F. Schleiermacher Doctor der Theologie.

Zweite Sammlung.

Berlin, im Verlage der Realschulbuchhandlung, 1808.

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III. Wie sehr es die Würde des Menschen erhöht, wenn er mit ganzer Seele an der bürgerlichen Vereinigung hängt, der er angehört.179 Es ist schon seit geraumer Zeit eine gewiß nicht wenig gegründete Klage über Mangel an Gemeinsinn unter uns. Nicht nur daß sich etwa die Zahl der Lasterhaften mehrt, welche zum Widerstand gegen die Kraft der Sitte, der öffentlichen Meinung und wo möglich der Geseze mit einander verbunden sind; nicht nur daß der Eigennüzigen so viele sind, welche ohnerachtet es kein Band giebt das sie unter sich vereinigt, doch jeder für sich durch Trägheit durch Gleichgültigkeit durch Abwendung alles dessen, was einige Aufopferung heischen könnte, durch jede Art des heimlichen Krieges gegen das allgemeine Wohl denen, die es befördern wollen, im Wege stehn: sondern das ist das Uebel, daß auch unter den besseren selbst eine Denkungsart herrschend ist, bei welcher keine lebhafte Sorge für die gemeinsamen Angelegenheiten, keine eif | rige Theilnahme an den Schiksalen des Staates 180 stattfinden kann. Man hält den Staat 181 für eine kunstreiche Maschine, um von außen die Gewalt abzuhalten, und von innen den nachtheiligen Folgen fehlerhafter Neigungen entgegenzuarbeiten, die also nur zum Besten der Einzelnen da ist, damit deren besondere Thätigkeit ungestört fortgehn könne, wobei es denn zufällig sei und gleichgültig, ob mehrere oder wenigere, ob diese oder andere Menschen unter einen und denselben Staat 182 befaßt und von ihm beschüzt werden. N u r denjenigen, so meint man, denen das Wohl des Staates 183 unmittelbar anvertraut ist, gezieme es, an allem, was ihn betrifft einen lebhaften Antheil zu nehmen; für Alle Andere aber sei eine eifrige Vaterlandsliebe nur eine beschränkende Gesinnung. Denn es könne nicht das Beste sein, sich an dasjenige allein zu

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halten, und es für das Höchste anzusehen, was so scharf die Menschen trenne und immer neuen Unfrieden auf der Erde aussäe, der nur um so fester einwurzele, je mehr Jedes einzelne Mitglied eines Volkes von jener Empfindung beseelt sei. Vielmehr gezieme es uns übrigen, mit unserer besonderen Thätigkeit mit unserer höchsten Liebe das ganze Geschlecht der Menschen zu umfassen, und durch Weltbürgersinn uns über das beschränkende was in jedem Staat unvermeidlich ist184, zu erheben. So wirft man unbedachtsam die Sache selbst mit ihren Fehlern — denn die Selbstsucht und die Ungerechtigkeit der Staaten sind nicht minder verwerflich als die der Einzelnen — zusammen, und möchte um der lezten willen auch die | erste soviel als möglich aufgeben; man vergißt, daß eben die eifrigste Vaterlandsliebe diejenige wäre, die den Staat185 von diesen Gebrechen zu heilen suchte, welche durdi Unbekümmerniß der Besseren nur immer verderblicher um sich greifen; man vergißt, daß nur in den wenigsten Zweigen seiner Thätigkeit dem Menschen vergönnt ist, über die Gränzen seines Vaterlandes hinaus zu wirken, und daß er durch die deutlichsten Bestimmungen der Natur immer an dieses gewiesen bleibt; man vergißt, daß nach den Anordnungen des Höchsten, eben wie das Meer am schärfsten sondert und zugleich am wirksamsten vereiniget, so auch hier das trennende recht gebraucht das kräftigste Verbindungsmittel werden muß. Dies wird gewiß wahre Vaterlandsliebe; und ein verkehrtes Lob, das er sich nicht zueignen will, ist es, was so oft vorzüglich dem Glauben der Christen ertheilt wird, als ob er, indem die kirchliche Verbindung über die bürgerliche gesezt wird, den Eifer für leztere dämpfe und allmählig verschwinden mache. Laßt uns vielmehr sehen, wie er uns Anhänglichkeit und Diensteifer für das Vaterland empfiehlt, und laßt uns suchen ein Vorurtheil zu zerstreuen, das gewiß jezt mehr als je mit den verderblichsten Folgen droht. Text. Eph. 2, 19. So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen.

| Was hier der Apostel unmittelbar meint, betrifft allerdings nicht den Staat186 sondern die Kirche. Er wollte den Christen aus heidnischer Abstammung die Vorzüge zu Gemüthe führen deren sie sich erfreuten. Die meisten von ihnen hatten vorher schon mit der jüdischen Kirdie in Verbindung gestanden, allein nur auf eine unterge-

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ordnete Weise, nicht mit gleichen Rechten wie die, welche geborene Mitglieder des auserwählten Volkes waren. Die Christen aus den Juden wollten diesen Unterschied auch auf die christliche Kirche übertragen, und nur diejenigen für vollkommene Mitglieder gelten lassen, welche ganz der jüdischen Kirche waren einverleibt gewesen. Dagegen drang der Apostel überall, auch ohne einen solchen Uebergang, auf eine völlige Gleichheit aller Gläubigen, mochten sie aus den Juden oder mochten sie aus den Heiden sich gesammelt haben, und diese Gleichsezung ist es, auf welche er sie als etwas wichtiges und dankenswerthes aufmerksam machen will. Allein eben um zu bezeichnen, wieviel besser dadurdi ihr Zustand geworden sei bedient er sich solcher Ausdrükke, welche sich bei andern Völkern ausschließlich, und auch bei den Juden doch zugleich, auf die bürgerliche Vereinigung beziehen. Wir können also hieraus deutlich abnehmen, daß auch auf diesem Gebiet er es für weit vorzüglicher gehalten ein Bürger zu sein, der sich aller Rechte erfreut, der alle Verpflichtungen übernimmt und sich mit ganzer Seele dem Staat hingiebt als ein Gast und ein Fremdling. Wie aber diejenigen die dem bürgerlichen Verein nur halb angehören | wollen, in der Meinung sich über ihn und das was er leisten kann zu erheben, wie diese nur Gäste und Fremdlinge sind im Reiche Gottes, das wird sich uns zeigen, wenn wir, die Vergleichung zwischen beiden verfolgend nach dem Sinne des Apostels beherzigen w i e v i e l g r ö ß e r d i e W ü r d e d e s j e n i g e n i s t , der in der engsten V e r b i n d u n g mit einem V a t e r l a n d e lebt. Wir finden in den Worten des Apostels selbst, der die Christen glüklich preiset als Gottes Hausgenossen und als Bürger mit allen Heiligen, Veranlassung in einer doppelten Beziehung hievon zu reden, einmal i n B e z i e h u n g a u f u n s e r V e r h ä l t n i ß zu G o t t , und zweitens i n B e z i e h u n g a u f u n s e r V e r h ä l t niß zu unsern Brüdern. I. Indem der Apostel den Christen aus den Heiden zu Gemüthe führt, wie sie nur erst durch diese Gleichsezung mit denen aus den Juden wahrhaft G o t t e s H a u s g e n o s s e n würden: so versteht er freilich hier unter dem Hause Gottes zunächst die Gemeine der Christen. Diese sah er, mehr als viele Andere es thaten, immer durchaus als Eine an, indem er aufs kräftigste allen Spaltungen entgegenwirkte. Hiernach scheinen nun diese Worte um so weniger geschikt dasjenige wovon nur hier die Rede sein soll, einzuschärfen, als es wol niemals nur Eine bürgerliche Vereinigung unter den Menschen geben

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kann. Allein wir dürfen uns nur fragen, da nun doch die | christliche Kirche sich auf ähnliche Art, und gewiß nicht frevelhafter Weise, getheilt hat, und nicht mehr Eine sein kann, ob derselbige Apostel der so vielfältig die brüderliche Vereinigung anpreiset, der so dringend ermahnt die Versammlungen nicht zu verlassen, ob er nicht auch unter den jezigen Verhältnissen am meisten diejenigen als Gottes Hausgenossen rühmen würde, welche am eifrigsten und thätigsten irgend einer unter den verschiedenen Kirchengemeinschaften anhängen, welche ihnen eben die angemessenste ist. Warum soll nicht auch dasselbige von dem Verein unter bürgerlichen Gesezen gelten? Und wem fallen nicht von selbst auch in dieser Beziehung die Worte Christi ein, in meines Vaters Hause sind viele Wohnungen187? Auch wir wollen als das Hauswesen Gottes nur die Gesamtheit aller vernünftigen Wesen ansehn; aber in dieser finden sich fast überall beide Arten der Verbindungen, die kirchliche und die bürgerliche, und von beiden gilt dasselbe, daß sie sich auf das verschiedenste gestalten und theilen und doch auch wiederum Eins sind. Um diese Einheit Aller müssen wir freilich wissen und sie fühlen, aber sie wird eben dann am besten, ja sie wird nur dann bestehen, wenn jede dieser verschiedenen Vereinigungen alles zu werden trachtet was sie ihrer besonderen Natur nach sein kann und soll. Laßt uns also sehen, wie sich diejenigen gegen einander verhalten, welche dies anerkennen und darnach handeln, und diejenigen die mit Hintansezung des Vereins dem sie zunächst angehören nur unmittelbar im Ganzen und für das Ganze leben wollen. | Die Vereinigung zu einem gemeinen Wesen unter bestimmten Gesezen finden wir überall auf den höheren Stuften der menschlichen Bildung. Wenn ein Theil unseres Geschlechtes zuerst eine solche Vereinigung stiftet, so halten wir das für einen der größten Fortschritte die er machen kann; aber nie hat sich einer über dieselben erhaben gefühlt 188 , sondern wo ein solcher Verein aufgelöst ward, geschah dies immer nur im Folge großer Verwirrungen, und deutete auf den tiefsten Verfall. Auch läßt sich nicht denken, daß dies je eine zunehmende Vollkommenheit sein könnte. Gesellig ist der Mensch erschaffen, und einzeln nicht hinreichend das auszuführen, was er in sich und um sich her bilden soll; vielmehr kann man sagen mit einem je größeren Gegenstande er es zu thun hat, eine um so stärkere und ausgebreitetem Vereinigung der Kräfte erheischt er auch. Zu dieser gehört aber, daß die Glieder derselben sich untereinander verstehen und sich auf gewisse Weise kennen. Eben deshalb kann nie Eine solche Ver-

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einigung das ganze menschliche Geschlecht umfassen; sondern wie die Einrichtung selbst, so nothwendig ist auch durch die Natur des Menschen ihre Vielheit; denn sie beruht auf den geheimnißvollbleibenden Eigenthümlichkeiten, auf der verschiedenen Lebensweise, und auf der Sprache vorzüglich, welche ganz bestimmt jedes Volk von den übrigen absondert. Nur in wiefern mehrere solche Vereine in einer gewissen Gleichförmigkeit neben einander bestehen genießt das Ganze ein ruhiges Dasein. Wahrhafte Zerstörungen derselben finden wir immer | nur zu jenen merkwürdigen Zeiten, wo die wesentlichen Verhältnisse eines bedeutenden Theiles unsers Geschlechtes sich ändern oder umkehren sollen, wo eine gewisse Stufte der Bildung abgelebt ihr Ende erreichen soll, kurz wo ein großer Abschnitt in der Geschichte der Menschen nahe ist. Dies alles bezeugt uns hinlänglich, diese Mehrheit bürgerlicher Verbindungen gehören unter die wesentlichsten bleibendsten Ordnungen in dem Hause Gottes; und in dieser Voraussezung nun verhalten sich in der That die treuen acht Vaterlandsliebenden zu jenen ungläubig und unmuthig zurükgezogenen, oder flüchtig oben hinausfahrenden, wie Hausgenossen zu Gästen und Fremdlingen, man sehe nun auf die E i n s i c h t e n welche sie sich vom Hause Gottes erwarben oder auf die G e s c h ä f t e welche ihnen darin zu verrichten obliegen. Ein Fremdling ist derjenige, der überhaupt unstätt und heimatlos in der Welt umhergetrieben, oder für eine Zeitlang aus seinem eigentlichen Kreise entfernt, in eine ihm unbekannte Vereinigung von Menschen auf eine vorübergehende Art gastlich aufgenommen wird. Allein diese Verbindung ist immer eben so oberflächlich als sie vorübergehend ist, auch in Beziehung auf die Kenntniß, welche der Fremdling von dem inneren alles beseelenden Geiste des Hauses erlangt. Er wird zwar leicht im Allgemeinen erkennen in wiefern er edlerer Art ist oder niederer, in wiefern Liebe oder Strenge das Ganze regiert, in wiefern man den Sinn des Hausvaters versteht und seine Ge | böte beobachtet oder nicht, er wird erkennen welcher Grad von Thätigkeit und Zusammenstimmung sich beweise in der Unterwürfigkeit der Glieder unter das Haupt. Aber wie nun eben dieses Haupt sich die einzelnen Glieder gebildet habe jedes zu seiner eigenen Verrichtung, mit welcher Weisheit es die natürlichen Anlagen benuzt und entwikkelt, das wird dem Fremdlinge fremd bleiben. Das Ebenbild der Eltern in den Kindern, ihre gemeinschaftlichen Züge, entdekt der Fremdling leicht: aber wie auch ihre Eigenthümlichkeiten in ihrer gemeinschaftlichen Abstammung gegründet sind, wie eben

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diese vorzüglich durch die Ordnungen und die Lebensweise des Hauses gepflegt werden, dies einzusehen dazu gehört mehr als ein wenn auch noch so langes gastliches Verkehr. Der Fremdling wird an den Sitten des Hauses das eigenthümlichste und auffallendste leicht zuerst entdekken: allein wie und warum sie durch das Haupt der Familien nicht willkührlich sondern nothwendig so geordnet sind, wie sie auf das innerste des thätigen Lebens wohlthätig einwirken dies wird keiner verstehen so lange er Gast bleibt, und nicht etwan in ein näheres Verhältniß tritt, das ihn gewissermaßen zum Mitgliede der Familie macht. Ist nun die Vertheilung der Menschen in Völker und Staaten eine so wesentliche Ordnung in dem Hause Gottes wie sie uns Allen erscheint: so kann auch wer ihr nicht den rechten Werth beilegt, sondern sie nur für eine Nebensache ansieht, von der Art wie Gott sein großes Hauswesen regiert das meiste nicht verstehn. Er kann wol im Einzelnen die Spu | ren seiner Weisheit entdekken, und erkennen wie er die Menschen allmählig zur Tugend und überhaupt zur Aehnlichkeit mit ihm zu erheben sucht; er kann, wenn er einen besonderen Theil der menschlichen Bestimmung sich zum Augenmerk nimmt, diesen wol in allen seinen äußeren Schiksalen verfolgen: aber alles Große und der innere Zusammenhang in der Geschichte der Menschen muß ihm verborgen bleiben oder verworren erscheinen, weil eben das Größte am genauesten mit dieser Anordnung zusammenhängt. Wie eben durch diese Vertheilung der Menschen in so große Massen die einzelnen Züge der menschlichen Natur erst recht im Großen heraustreten; wie jedes Volk eine besondere Seite des göttlichen Ebenbildes darzustellen, durch seine besondere Einrichtung und durch seine Lage in der Welt bestimmt ist, jedes auf seine eigene Weise und in einem besonderen Gebiet die Rohheit der Natur zu bändigen und die Herrschaft der Vernunft zu befestigen strebet, wer das begreift, der muß auch jene Anordnung lieben, dem muß ja grade darin, daß er seinem Vaterlande angehört, seine größte Bestimmung in der Welt klar werden, dem müßten ja die kleinen Mißverständnisse, die aus dieser Absonderung entstehen, gegen die große Bedeutsamkeit derselben gänzlich verschwinden; und eben so gewiß wer zu dieser Gesinnung nicht gelangt ist, der kann auch jenes nicht begreifen, der ist von der klaren und großen Einsicht in das Hausregiment Gottes ausgeschlossen, und nichts als ein Fremdling der nur das Einzelne und das Aeußere begreifen kann. Denn warlich, wenn | in der sittlichen Welt nichts zu sehn wäre, als was man verstehen kann auch wenn man von diesen großen Vereinigungen der Menschen hin-

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wegsieht, nidits als was die Einzelnen darbieten insofern in ihnen der Stempel ihres Volkes verwischt ist: so würden wir überall nur das Kleinste sehen, was mit unbewafnetem Auge kaum richtig gesehen werden kann, nur die Bildungen des göttlichen Geistes in dem beschränkten Räume und den kleinen Zügen des einzelnen Lebens. Und wiewol Gott allerdings auch im Geringen erkannt werden kann: so können doch wir, deren Wissen überall Stükwerk ist, das Kleine in diesem Sinne nur verstehen, wenn wir das früher erkannte Große damit zusammendenken. Und wie uns der in der natürlichen Welt ein Fremdling dünkt, der zwar mit dem Kleinen und Einzelnen vertraut zu sein scheint, dem aber die großen allgemeinen Verhältnisse der Natur unbekannt sind: so ist auch in der sittlichen Welt in dem Hauswesen Gottes der gewiß nur ein Fremdling was seine Kenntniß anbetrifft, der über der Anmuth des Besonderen die Erhabenheit und Wichtigkeit des Großen verabsäumt. Aber nicht nur was seine Kenntniß von dem Hause Gottes, sondern auch was seine G e s c h ä f t e darifi betrifft, kann man einen solchen nicht für einen Hausgenossen ansehn, sondern nur für einen Fremdling. Fremdlinge haben sich in einem wohlgeordneten Hauswesen immer einer freundlichen Aufnahme zu erfreuen; aber die Liebe die man ihnen widmet ist nicht | ohne ein gewisses bedauerndes mitleidiges Gefühl darüber, daß es ihnen an einem eigentlichen Geschäftskreise fehlt. Sie werden eingeladen bei allerlei freudigen Gelegenheiten, sie nehmen Theil an den geselligen Vergnügungen des Hauses, helfen sie verschönern und sinnen zur Dankbarkeit dafür auf mancherlei kleine Dienstleistungen; aber an den eigentlichen Geschäften nehmen sie keinen Theil, wesentliche Dienste für den Wohlstand des Hauses werden ihnen weder angemuthet noch verstattet, vielweniger daß man sich an sie wendete in außerordentlichen Fällen von Gefahr oder Bedrängniß. Nicht anders scheinen diejenigen in der Welt daran zu sein, welche den schönen Trieb nicht in sich fühlen mit ganzer Seele dem Volke sich anzuschließen dem sie angehören. Sie genießen durch die Güte Gottes die Annehmlichkeiten des Lebens, die leicht aus kleinen Verhältnissen entspringen; sie tragen, wenn sie Talente besizen, das ihrige bei, um diese Freuden auch Andere genießen zu lassen; sie leisten, wenn sie sonst reditliche Menschen sind, der Gesellschaft, gleichviel wo sie sidi eben befinden, den Gehorsam, durch den die meisten Störungen verhütet werden, und den Einzelnen bei jeder Gelegenheit die Dienste, die der Einzelne darbringen kann;

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aber auf alle großen Angelegenheiten des Hauses Gottes sind sie ohne Einfluß und sie bleiben ihnen fremd. Denn alles Große erfordert auch eine größere Masse von Kräften, die der Mensch nur in der Vereinigung mit Andern findet, und die rechte Wurzel aller solcher Vereinigungen die ihnen allein Leben und Dauer | sichert, ist die gegenseitige Anhänglichkeit, das brüderliche Gefühl derer unter einander die Ein Volk bilden. Wessen Kurzsichtigkeit oder Hochmuth dieses zu klein ist, wer anstatt auf sein Volk und mit seinem Volke zu wirken sich weiter ausstrekt und es gleich auf das Ganze des menschlichen Geschlechtes anlegt, der wird in der That erniedriget anstatt erhöhet zu werden18'. Denn wer jene große Haltung jene mächtige Hülfe verschmäht, kann doch auf das Ganze unmittelbar nicht anders wirken, als indem er der Einzelne auf Einzelne wirkt. Was er mit seinen ihm eignen Kräften vermag, das und nicht mehr wird er ausrichten, was er durch einzelne vorübergehende Einflüsse auf die Empfindung Anderer erreichen kann, das wird sein Werk sein. Ihr seht, es kann nicht anders sein der Natur der Sache nach, aber fragt auch die Erfahrung, ob es anders ist. Die nun so mit weltbürgerlichem Sinne erfüllt auftreten, was haben sie wol hervorgebracht, als einzelne Verbesserungen in Dingen die zur Bequemlichkeit dienen, zum Erwerb, zur Sicherheit? was wirken sie selbst auf dem Wege, auf welchem der Mensch noch am weitesten reicht, durch mündliche und schriftliche Mittheilung ihrer Gesinnungen und Einsichten anderes, als eben froheren Genuß, vielleicht richtigeren Verstand, vielleicht ein feineres Gefühl in dem eng abgeschlossenen Kreise des häuslichen Lebens, so weit es eben durch das was der ganzen gesitteten Welt gemeinschaftlich ist, durch das allgemeine oberflächliche kann erregt werden? wem zeigen sie sich verwandter in ihrem ganzen Wesen, als | auf irgend eine geheime Art immer denen, die wegen eines unstäten Sinnes, wegen eines unüberwindlichen Mangels an Tüchtigkeit und Beharrlichkeit sich keines Vaterlandes erfreuen. Alle dagegen die Gott zu etwas großem berufen hat, nicht nur in denjenigen Dingen, welche unmittelbar dem Staat180 den Gewalthabern unter den Völkern obliegen in Zeiten der Ruhe wie des Krieges, sondern auch in denen die am wenigsten an diese Grenze gebunden zu sein scheinen, in dem Gebiete der Wissenschaften in den Angelegenheiten der Religion, sind immer solche gewesen, die von ganzem Herzen ihrem Vaterlande und ihrem Volke anhingen, und dieses fördern heilen stärken wollten, die die Verbindung liebten in welcher sie erhöhte Kraft, bereite Werkzeuge willige Freunde nothwendig finden

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mußten, die den eigentümlichen Sinn ihres Volkes auch in sich für das vortreflichste hielten. Und nicht nur die auserwählten Rüstzeuge Gottes, sondern alle, denen er nur irgend ein bedeutendes bestimmtes Geschäft auftragen soll, müssen so denken, ja eben das Beste, was beide verrichten, wird immer das sein, dem dieser gemeinsame Sinn aufgedrükt, was im eigenthümlichsten Geist ihres Volkes gedacht und gethan ist. Und nur diejenigen welche so die Ordnungen Gottes verstehen, welche so in ihnen leben, welche er so anstellen kann in seinem Hause, sind nicht nur Gäste sondern auch Hausgenossen. II. Denselben Unterschied nun werden wir auch finden, wenn wir auf das Verhältniß sehen, in wel | chem der Einzelne zu den ü b r i g e n M i t g e n o s s e n des Hauses Gottes steht, auch hier einen Gegensaz zwischen Gästen und Bürgern. Der Apostel will die enge Verbindung beschreiben, in welcher ohne allen Unterschied der Abstammung jeder Christ mit allen übrigen sich befinden soll. Wir wissen wie genau diese nicht nur gewünscht und vorgeschrieben wurde, sondern wie sie auch wirklich so in jenen Zeiten bestand, wie alle Empfindungen der genauesten Freundschaft, unwandelbares Vertrauen nemlich, zärtliche Anhänglichkeit, treue Theilnahme allen Christen unter einander gemein waren. Und indem Paulus diese beschreiben will, weiß er keine treffendere Bezeichnung als die, sie sollten nicht wie Fremdlinge mit den Heiligen sein, sondern wie Bürger. Er will beschreiben, wie Christen nicht gegen Alle, sondern unter einander gesinnt sein und zu Werke gehn sollten, und dies war die höchste und thätigste Liebe; also muß er auch das für die höchste Treue und die lebendigste Theilnahme gehalten haben, nicht was der Mensch gegen jeden Andern als derselben Gattung angehörig, sondern was er gegen die welche ihm die nächsten sind als Bürger ausübt. Laßt uns demnach sehen, wie dasjenige, was wir auch an dem brüderlichen Verein der Christen am werthesten achten und am meisten bewundern, nemlich die innige unwandelbare L i e b e , und die treue unermüdete T h e i l n a h m e an gemeinsamen Angelegenheiten dem Menschen zuerst und im Allgemeinen nur durch das bürgerliche Verhältniß möglich wird. | Um die L i e b e u n d T r e u e der Gäste und Fremdlinge ist es ein wunderlich Ding; auch wenn sie sich noch so wohl unter den Menschen befinden, sind sie selten mit ganzem Herzen da wo sie sind, weil sie doch wieviel man auch für sie thue an dem inneren Gehalt des Lebens eigentlich keinen Antheil nehmen. Alles was man ihnen mit zu genießen giebt, ist doch immer nur das oberflächliche, der Glanz

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von Fröhlichkeit und Liebenswürdigkeit der sich nach außen hin verbreitet. Die heiligsten Augenblikke im Innern der Familien, wo bei besonderen Veranlassungen die Herzen sich der Liebe aufs neue bewußt werden, wo an Schwachheiten des Einzelnen oder an bewiesener Kraft und Tugend Alle gerührten Theil nehmen, wo man sich zu Gefahren stärkt, wo man Schmerzen mit einander theilt, alle diese bleiben ihnen verborgen; und so haben sie nichts was ihr Herz tief bewegt und es mächtig ergreift, und so sie fester und inniger an Andere bindet. Daher bemerkt man an denen, welche lange Zeit Fremdlinge gewesen sind, daß sie sich mit leichten geringen Eindrükken begnügen, stärkerer Bewegungen des Gemüthes aber ungewohnt und vielleicht unfähig werden. Daher ist es im Ganzen so wahr was man von ihnen sagt, daß sie den Zugvögeln gleichen die im Frühling kommen, und gehen wenn der Winter naht, denn ihre Zuneigung ist nicht stark genug, um sie auch in trüben Zeiten fest zu halten. Gar sehr eben so ist es nun mit denen beschaffen, welchen es an bürgerlichem Sinn und Liebe zum Vaterlande fehlt. Sie sind eben deshalb | auch in diesem Sinne auf der ganzen Erde nur Gäste und Fremdlinge. Indem ihnen gerade jenes mittlere Gebiet verschlossen ist, welches alle Kräfte des Menschen in Anspruch nimmt und doch seinem Gefühl und seinem Verstand übersehlich ist: so haben sie für ihre Liebe nur das engste, die häuslichen Verbindungen nebst der vertrautesten Freundschaft, und das weiteste nemlich das allgemeine Gefühl für alles was Mensch heißt. Aber wie ist doch das leztere so unbestimmt und leer, wenn es nicht durch jenes vermittelt ist. Madien wir uns doch ja nicht, durch schöne Worte verführt hierüber eine Täuschung. Der Sache des menschlichen Geschlechtes dienen, die Beförderung der Tugend der Vernunft der Frömmigkeit im allgemeinen sich zum Wunsch und Ziel sezen, den Einzelnen in dem Maaß lieben als er hiezu beiträgt, das ist herrlich. Aber wie kann sich denn jenes allgemeine Gefühl als Liebe zeigen, als nur gegen diejenigen, die uns wirklich erscheinen, die in den Kreis unserer Thätigkeit fallen im Leben selbst? Umgeben uns nun die nicht am meisten und fordern uns auf, ihnen Beifall und Liebe zu schenken, die mit uns zu einem Volk gehören? Allein auch Andre, können wir sie wol ganz kennen und alles liebenswürdige an ihnen lieben, wenn wir nicht auch auf das wichtige Verhältniß achten was sie einem Volke eignet und mit einem Vaterlande verbindet? Ich weiß, hier eben erheben sich die Beschuldigungen, Vaterlandsliebe mache kurzsichtig, partheiisch, nähre Vorurtheile gegen andere Völker, und mache daß man denen gering-

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schäzig be | gegne, die ihnen angehören. Aber ist das nicht die Unvollkommenheit der Menschen und keinesweges der Fehler der Sache? Wollen wir die Schwachheiten der Liebenden der Liebe anrechnen, welche Liebe müßten wir dann nicht verdammen und zwar die stärkste und innigste am meisten! Dasselbe klagen ja die Ungläubigen gegen das Christenthum, und die in der Welt durch Unglükk oder Schuld Vereinzelten gegen die Familienliebe. Vielmehr laßt uns gestehen, wer nicht von dem Werthe des eigenen Volkes durchdrungen ist und mit Liebe daran hängt, der wird auch an einem Andern das nicht schäzen, wie schön und vollkommen er von dem Geiste seines Volkes durchdrungen ist, der kann auch nicht diese Liebe und Treue an einem Andern lieben. Und wer nicht von der Bestimmung seines eigenen Volkes erleuchtet ist, der kennt auch nicht so den eigenthümlichen Beruf anderer Völker und kann also nicht Freude haben an dem größten was überall in der großen Sache der Menschheit geschieht, und nicht die rechte Liebe zu denen, die am eifrigsten daran arbeiten. Darum beschränkt sich auch die allgemeine Liebe derer, welche keine Vaterlandsliebe kennen wollen, auf die gewöhnlichsten guten Eigenschaften, welche sich, wenn ich so sagen darf, im kleinen Dienste des Lebens äußern. Darum sind sie größtentheils so weichlich empfindsam gegen alle Kleinigkeiten welche sich da ereignen, und indem sie es schon für groß und herrlich halten, wenn sich Einer da stark und tüchtig zeigt, verlieren sie für ihre Bewunderung und Liebe das höhere Ziel aus den | Augen. Und sehen wir auf die engsten Kreise des Lebens, wieviel verlieren sie, abgeschnitten von dem Volkssinn und der Liebe zum Vaterlande! Wie wenig achtungswerth erscheint der Mann, der ohne diese Haltung mit seiner Thätigkeit herumschweift und doch immer nur kleines und beschränktes kann zu bezwekken scheinen, der sich, da er alles große auffassen und anstreben sollte, schon gegen das gleichgültig zeigt, was ihm am nächsten liegt! wie matt ist eine Freundschaft, welche nur auf persönlichen Aehnlichkeiten des Gemüthes und der Neigungen beruht, und nicht auf einem großen gemeinsamen Gefühl, um dessentwillen man auch das Leben selbst mit allen diesen gefälligen 181 Uebereinstimmungen aufopfern könnte! Wie verliert die Frau ihren größten Stolz, wenn sie nicht fühlt, daß sie auch dem Vaterlande Kinder gebärt und erzieht, daß ihr Hauswesen mit allen den Kleinigkeiten, die den größten Theil ihrer Zeit ausfüllen, einem größeren Ganzen angehört und in dem Bunde ihres Volkes seine Stelle einnimmt, daß dessen Sinn sich darin spiegelt, dessen Kräfte sich darin vereinigen

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und aufs Neue entwikkeln! Wie planlos und unsicher oder wie willkührlich und verkehrt muß die Erziehung sein der dieses Maaß des vaterländischen Geistes fehlt bei der Entwiklung der Kräfte, diese Aussicht auf vaterländische Thätigkeit bei dem Hinarbeiten auf eine künftige Bestimmung. Es bedarf gewiß nicht erst ausführlich das Gegenbild aufgestellt zu werden zu dieser Schilderung, um davon zu überzeugen, wie mächtig wahrer Volks- | und Bürgersinn nach allen Seiten hin wirkt, von dem Heiligthum der Ehe und der Freundschaft anfangend bis zu dem allgemeinsten flüchtigsten Verkehr der Menschen miteinander, um jede Art der Liebe zu erhöhen und fester zu gründen, und wie ohne ihn gerade in den schönsten Empfindungen, in den heiligsten Bewegungen des Gemüthes der Mensch nur ein Gast sein kann und ein Fremdling. Nehmt noch hinzu, wieviele kleine Störungen der Liebe in allen Verhältnissen des Lebens uns verschwinden, wenn wir vorzüglich auf dieses große unser Augenmerk gerichtet halten, wieviel Beleidigungen gegen uns selbst wir da, ohne daß wir sie erst verzeihen dürften, gleich vergessen können, wo uns diese gleiche Liebe entgegenkommt, und wie sehr uns also jeder andere Besiz der Liebe gesichert ist unter diesem Schuz, wie denn Treue in allen Verhältnissen immer da am besten gedeiht, wo die reinste Vaterlandsliebe herrscht; nehmt hinzu welches große Gebiet der Liebe derjenige gewinnt, der an seinem Volke hält, und welch ein unzerstörbares; denn was thut und giebt ein Volk nicht, damit es sein Leben rette: so muß Euch gewiß derjenige, der sich dieser Vorzüge begeben hat, oder dem der Sinn dafür fehlt in Absicht auf alles was Liebe heißt nicht einmal als ein Gast und Fremdling erscheinen, sondern als ein ganz dürftiger und beklagenswerther, der sich nur von den Brosamen nährt, die von der Reichen Tische fallen 1 ". Dasselbe gilt aber auch von der G e m e i n s c h a f t d e r T h a t e n , in welcher wir Alle, wenn | wir unser Leben wirklich ausfüllen und bereichern sollen mit Andern stehen müssen. Der Mensch ist durch und durch gesellig, und so eingerichtet daß er nirgends allein stehn kann. Wir müßten unser Leben thatenlos verträumen, wenn wir uns mit demjenigen begnügen wollten was wir allein ausrichten können. Denn wenn wir auch das eigenste recht genau betrachten, werden wir immer finden, daß fremde Kräfte mit darin geschäftig sind. Daher fühlen wir Alle das zwiefache Bedürfniß, Andere für unsere Thätigkeit mit zu gewinnen, und in dieselbe hineinzuziehen, und auch uns an Andere so anzuschließen, daß wir

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in dem was sie verrichten auch unsere Thätigkeit mit erblikken. Eine solche Verbindung, wird man sagen, findet jeder von Natur in seiner Familie, und außerdem wir noch besonders in unserer kirchlichen Gemeinschaft. In einer woleingerichteten Familie trägt jeder zu allem was geschieht etwas bei, wenn auch nur mittelbar dadurch, daß er an seinem Theil den Geist der Liebe der Heiterkeit der Ordnung erhält, in dem allein die Geschäfte eines jeden gedeihen können; und Jeder findet bei Allen Hülfe und Unterstüzung für das was ihm besonders obliegt. Und welches Feld thätiger Gemeinschaft eröfnet uns nicht unsere Verbindung mit der Gemeine der Christen. Durch den Glauben bringt jeder sein Opfer der Thätigkeit dar, und ist überzeugt, daß Alle gleichgesinnten seine Helfer und Mitarbeiter sind, weil sie Alle dasselbe Ziel vor Augen haben, und in demselben Geiste handeln; durch den Glauben eignet Jeder sich | an alles Schöne und Gottgefällige, was im ganzen Umfang der Kirche geschieht, denn er kann sich das Zeugniß geben, daß alles was er thut jenem vorbereitend und unterstüzend zu Hülfe kommt. Allein, meine Freunde, wenn wir nicht läugnen können, daß der enge Kreis des häuslichen Lebens die Bestimmung des Menschen nicht erfüllt, und bald selbst unschmakhaft und leer wird, wenn nicht aus demselben eine weiter in die Welt eingreifende Thätigkeit hervorgeht; wenn wir uns zwar jenes gläubigen Mitwirkens und Mitgenusses als Christen herzlich und selig erfreuen, aber uns doch nicht läugnen können, daß der Glaube sich nur durch das Schauen bewährt19®, und uns bald wo nicht leer doch wenigstens höchst unbefriedigend erscheinen müßte, wenn nicht eine äußere Gemeinschaft wirklichen Thuns, wirkliche Hülfsleistungen in bestimmten einzelnen Fällen uns jene innere und allgemeinere darstellte: so können wir nicht läugnen, daß uns diese beiden Verbindungen noch auf eine dritte hinweisen, und dies ist keine andere als die, in welcher ein Jeder mit seinem Volke steht. Ausgehend aus dem engen Gebiet ihres Hauses stiften die Männer den Bund des Rechtes, der Geseze, der gemeinsamen Thätigkeit: Alle im Geist vereinigend in Gott und Christo führt auch die Kirche einen Jeden der erst fragen wollte, an welche von seinen Brüdern, die ihm im Geist alle gleich nahe sind, er sich nun zunächst zu wenden hätte, um wirklich zu Stande zu bringen, was der Geist Gottes in seiner Brust ihm eingiebt, um nicht nur Herzen sondern auch Hände und alle | Kräfte zum gemeinsamen Werk zusammenzuthun, einen Jeden solchen würde sie zu denen hinführen, die mit ihm ein Volk ausmachen. Hierhin,

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würde sie sagen, bist du durch Gott selbst, der in den Veranstaltungen der Natur redet, gewiesen. Hier allein kannst du dich vollkommen verständlich machen, hier kannst du dich an ein gemeinsames Gefühl wenden, und an gemeinsame Vorstellungen, daß deine Gedanken sich deinen Brüdern empfehlen als solche welche zugleich die ihrigen sind. Hier kannst du deine Entwürfe, wenn sie wirklich das Gute und Schöne betreifen, weil es sich in Anderen eben so gestaltet wie in dir zur gemeinsamen Sache erheben. Hier findest du einen großen Kreis, den du aber, wenn es dir eifrig anliegt, mit allem was in demselben Gutes und Schlechtes im Großen vorgeht, wol überschauen und dich mit allen deinen Kräften jeder guten Sache anschließen jeder schlechten widersezen kannst; du findest ein dir entgegenkommendes gleiches Gefühl, und wirst gern aufgenommen als ein Berechtigter zu jeder Mitwirkung. Hier kannst du für das Gute wirken mit der vollen Kraft der Rede und der That, du kannst dich berufen auf die einwohnende gleiche Denkungsart, auf den angestammten Sinn derselben Vorfahren, die Alle verehren, auf die Bedeutung derselben Geseze denen alle unterworfen sind, auf tausend, Allen liebe und werthe, und in ihr Leben eingreifende Einrichtungen, welche alle denselben Sinn ausdrükken und denselben Zwekken dienen, auf die auch deine Absichten und deine Ermunterungen hin| auslaufen. J a wenn Jeder es für seinen Beruf halten muß, auch den Sinn für das Gute überhaupt in denen zu wekken, denen er noch fremd ist, und wen er kann unter dem Gehorsam des göttlichen Gesezes zu versammeln, woran läßt sich jede Forderung der Vernunft besser anknüpfen, wodurch das Gemüth für alles Höhere und Edlere besser bearbeiten, als indem man aufregt das Gefühl von Ehre und Schande von Anstand und Sitte, was sich in jedem Volke auf eine eigene Weise bildet und von jedem mit der Muttermilch gleichsam aufgenommen wird? Wie mancher Bürger weniger die allgemeinen Geseze in ihrer ursprünglichen Gestalt kennt, wol aber die besondern Ordnungen und Gebräuche seiner Zunft und seines Standes, in denen aber jene allemal mit enthalten sind, so auch mancher Mensch weniger die Geseze Gottes die Vorschriften der Vernunft in ihrer allgemeinen Gestalt, aber was gilt und hergebracht ist und redit und schön unter seinem Volke, das kennt er, dadurch läßt er sich nicht nur leiten, sondern auch zu einem höheren Bewußtsein am leichtesten erheben. Ja, meine Freunde, betrachten wir diese Vermehrung unserer Kräfte welche aus der treuen Verbindung mit dem Vaterlande entsteht,

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III. Erhöhung der Würde des Menschen

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übertäuben wir hier nicht durch verdrehte Klügeleien die Stimme der Natur: so müssen wir gestehen, nur der kann ununterbrochen in einer seinen Kräften angemessenen gottgefälligen Thätigkeit sein; nur der kann alle Pflichten erfüllen alle Rechte ausüben alle Vortheile benuzen und also einheimisch sein wie ein Bürger in dem | Reiche Gottes, der es treu mit dem Volke hält und meint dem ihn der Herr zugesellt hat. Wie verschwinden gegen ihn der Gast und der Fremdling mit ihrem unsichern unstäten Thun! wie arm müssen sie sich vorkommen an gehaltvollen guten Werken, von wie wenigem Einfluß mit vielleicht den herrlichsten Kräften auf ihre Brüder, wenn sie sehen wie der treue Bürger von seinem Vaterlande getragen und erhöht wird, wenn er durch wechselseitiges Geben und Empfangen alles mitgenießt in Lust und Freude, alles beweget mit Muth und Kraft, in allem mitlebt als ein regsamer geschäftiger liebender Theil des Ganzen. Darum laßt uns nicht Gäste und Fremdlinge sein, sondern Bürger mit den Heiligen! Es ist eine gemeine Rede, wiewol sie dem Himmel sei Dank noch jung ist und nur einer schlechten erschlafften Zeit angehört, daß die wissenschaftlich gebildeten am wenigsten ein Vaterland hätten. Sie mag von denen herrühren, welche meinen, daß nur die Noth des Geschäftes den Menschen an seine Stelle fesselt; aber auch so ist sie falsch, denn alle wären dann eben so lose bis auf die, welchen der Boden selbst ihre Arbeit ist und ihr Besiz. Aber nein, es ist nicht die Noth die ihn hält, sondern eine innere Lust und Liebe, ein angebornes gemeinsames Dasein, eine unzerstörbare Zusammenstimmung. Laß uns alles das unsrige thun, um diesen Irrthum zu vertilgen, laßt uns zeigen, daß mit der klaren Einsicht in alle Verhältnisse der Menschen die Liebe zum Vaterlande nicht abnimmt sondern zu. Fern von dem kleinlichen Hochmuth der dieses | Gefühl entehrt, laßt uns immer fühlen und bezeugen daß unser Wissen und Thun aus unserem Volk hervorgegangen sei, und ihm angehören. Auch in schlechten und unglüklichen Zeiten dies Gefühl und diese Ueberzeugung nicht zu verläugnen lehren uns die höchsten Vorbilder des Glaubens. Christus wollte nicht das Licht seiner Lehre zu andern Völkern tragen, bis es dem seinigen überall war dargeboten worden" 4 , und er ward nicht müde seinem Volke zu sagen was zu seinem Frieden diente, ohnerachtet er zulezt nur weinen konnte über dasselbe195. Paulus rühmt sich, auch nachdem es schon das Heil von sich gestoßen, nodi seines vaterländischen Eifers und seiner Schmerzen19". Aehnlich sind wir ihnen durch unsern Beruf. Denn wozu wir

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auch im Einzelnen bestimmt sein mögen, das liegt uns Allen ob, kraft der Stufe auf welcher wir stehen, von der Wahrheit zu zeugen, und uns zu erweisen als das belehrende, warnende strafende Gewissen unseres Volkes. So laßt uns ihnen denn auch ähnlich sein an frommer Liebe und Treue, an unerschütterlicher Festigkeit, an bescheidenem Sinn, an Nichtachtung eigener Noth und Gefahr 107 .

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Wie das Edlere in der Welt sich aus dem Niedrigen entwickelt.198 Wenn wir uns den Menschen, sowol einzeln als in den großen Verbindungen in denen er lebt, noch nicht in dem Zustande vollkommener Seligkeit denken, der das unerreichte Ziel unseres gemeinschaftlichen Bestrebens ist: so erscheint uns das, was in jenem Zustande Eins sein würde, getrennt, so stellt sich uns auf der einen Seite das Gute, was er thun soll, um jenen Zustand herbeiführen zu helfen, als eine Aufgabe dar, die er unter vielen Hindernissen und Schwierigkeiten zu lösen hat, wiewol auch nicht entblößt von Hülfe und Unterstüzung; auf der andern Seite aber die befriedigende Beschaffenheit seines Lebens, das Angenehme nicht als der Erwerb seines Fleißes in jenem Werk, sondern als eine Gabe 1 " die ihm wird, größer oder kleiner, wie es jedesmal der gemeinschaftliche Zustand der menschlichen Angelegenheiten mit sich bringt. So wie nun eigentlich das Böse darin besteht, wenn der Mensch um des Ange | nehmen willen das Gute unterdrükt oder fortwährend wissentlich vernachläßiget, und so den Genuß des Lebens als einen Raub ergreifen will; so ist es wiederum das Niedrige und Gemeine, wenn der Mensch jenen Unterschied zwischen der Art wie das Gute und wie das Angenehme wird, übersieht, wenn er lezteres zu seinem eigentlichen Gegenstande macht, und von dem ersteren meint, es müsse sich finden, wenn er es nur da wo es ihm als eine bestimmte gesellige Pflicht entgegentritt nicht offenbar befeindet und zurüksezt. Gewiß fühlen wir es alle, daß nur die überwiegende reine ganz hingegebene Liebe zum Guten das Edle ist in der menschlichen Natur; und wenn wir uns umsehn, wie doch und wo die Bestimmung des Menschen sich vor unsern Augen entfaltet, so richten wir unser Augenmerk nicht nur dahin wo der Krieg

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gegen das Böse geführt wird, sondern noch weit mehr sehen wir zu, ob wol jene viel weiter verbreitete gemeine Denkungsart sich allmählig verliere, und das wahrhaft Gute und Schöne an der Stelle derselben in dem Herzen der Menschen Raum gewinne. Immer ist dieses Heil des Herrn zu sehen ein sehnlicher Wunsch aller Besseren; aber er erhöht sich zu einer bangen Sehnsucht in solchen Zeiten, wo in furchtbaren Heeren die Folgen jenes niederen Sinnes hereinbrechen, wo der Mangel an heiliger und tapferer Liebe zum Guten eine Quelle des Elendes wird die reidilich strömt, wo es sich nun zeigt, wie durch das leichtsinnige Jagen nach den kleinen und flüchtigen Annehmlichkeiten des Lebens, die Menschen der | größten und wahresten Güter verlustig gehen. Wenn solcher Zeiten drükkendes Gefühl auch uns jezt beengt; wenn jene Sehnsucht mehr als sonst uns beunruhiget, und wir ungeduldiger, und wie es scheint unvermögender selbst wirksam zu sein der Hülfe des Herrn harren, so laßt zu unserer Beruhigung uns fleißig auf die Wege sehen welche Gott die Menschen zu führen pflegt; und dies sei auch jezt das Ziel unserer Betrachtung. Text. Evang. Joh. 2 , 1 — 1 1 . U n d am dritten T a g e w a r d eine Hochzeit zu C a n a in Galiläa, und die Mutter Jesu w a r da. Jesus aber und seine Jünger wurden auch auf die Hochzeit geladen. U n d da es an Wein gebrach, spricht die Mutter Jesu zu ihm, Sie haben nicht Wein. Jesus spricht zu ihr, W e i b w a s habe idi mit D i r zu schaffen? meine Stunde ist nodi nicht gekommen. Seine Mutter spricht zu den Dienern, W a s er euch saget, das thut. E s waren aber allda sechs steinerne Wasserkrüge gesezt nach der Weise der jüdischen Reinigung, und gingen je in einen z w e i oder drei M a a ß . Jesus spricht zu ihnen, Füllet die Wasserkrüge mit Wasser. U n d sie f ü l leten sie bis oben an. U n d er spricht zu ihnen, Schöpfet nun und bringet es dem Speisemeister; und sie brachten es. A l s aber der Speisemeister kostete den Wein der Wasser gewesen | w a r , und wußte nicht v o n wannen er kam, die Diener aber wußten es, die das Wasser gesdiöpft hatten, rufet der Speisemeister den Bräutigam, und spridit zu ihm, Jedermann gibt zuerst guten Wein, und wenn sie trunken geworden sind, alsdann den geringeren; D u hast den guten Wein bisher behalten. D a s ist das erste Zeichen so Jesus that, geschehen zu C a n a in Galiläa, und offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn.

Die Geschickten aus dem Leben Jesu, meine Freunde, treten eigentlich alle in der heiligen Schrift sehr demüthig auf; auch die in welchen die wunderbare Wirkung ins Auge fällt, erscheinen nur wie

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Handlungen, die auf das nächste Bedürfniß berechnet waren, ohne daß sie Anspruch darauf maciien, daß irgend eine andere höhere Beziehung darin sollte entdekt werden. Wenn man aber des Johannes Beschreibung von dem Leben unseres Herrn mit Aufmerksamkeit und Andacht lieset: so kann man sich des Gedankens kaum erwehren, daß er eine besondere Auswahl gemacht habe unter diesen einzelnen Zügen, und daß sein sinniges Gemüth sich darin gefallen, sie mit den Reden Jesu oder mit den großen Momenten seines Lebens in eine solche Verbindung zu sezen, daß eine besondere Deutung derselben sich fast aufdringt. So stellt er die vorgelesene Begebenheit zusammen mit der Nachricht von dem Antritte des Lehramtes unseres Herrn, und erwähnt ausdrüklich, es sei das | erste Zeichen gewesen, welches er gethan. Erwägen wir nun, wie oft Christus das Leben selbst einem Gastmahle vergleicht200, und wie der Wein, den er späterhin zum Symbol der Stärkung 201 erwählt, die Er den Seinigen darreicht202, auch hier dasjenige ist, was er wohlthätig mittheilt, indem er aus dem gemeinsten Getränk das edelste wunderbar hervorruft, eben wie von ihm alle Veredlung der Menschen und ihres Lebens ausgegangen ist, und was zu diesem Behuf nur je noch geschehen kann, sidi an ihn anschließt: so wird uns leicht diese merkwürdige Erzählung als ein Vorbild davon erscheinen wie unter der L e i t u n g G o t t e s s t a t t des G e m e i nen u n d N i e d r i g e n d a s E d l e r e in d e r m e n s c h lichen G e s e l l s c h a f t p f l e g t die O b e r h a n d zu gewinnen; und unter diesem Gesichtspunkt wollen wir sie jezt näher betrachten, indem wir dasjenige herausheben, was am meisten hierüber lehrreiche Winke zu enthalten scheint. I. Es war ein Hochzeit, heißt es, und C h r i s t u s u n d s e i n e J ü n g e r w a r e n a u c h g e l a d e n . Keinesweges wurde er von denen, welche zu dieser Feier versammelt waren, etwa für die Hauptperson oder für etwas ausgezeichnetes gehalten; er war noch nicht der in dem ganzen Volk berühmte Lehrer wie hernach, der vielgefeierte, auf welchen man | überall vor allem sah und hörte, sondern wahrscheinlich äußerer Verbindungen wegen war er mit eingeladen, und so war er eben mit den seinigen auch da. So ist es in der Welt noch immer meine Freunde. Diejenigen, welche am meisten von Liebe zu allem Guten und Vortreflichen durchdrungen sind, diejenigen, in denen sich jene göttlichen Kräfte am lebendigsten regen, durch deren Thätigkeit auch in Andern das

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Gute muß erwekt und so der geistigen Dürftigkeit des Lebens muß abgeholfen werden, genießen zwar ursprünglich selten einer ausgezeichneten Achtung in der Welt; aber wo nur das Gastmahl des Lebens gefeiert wird, da fehlen sie wenigstens nicht. Es sei nun, daß man nur hergebrachter Sitte und Ordnung wegen die Gemeinschaft mit ihnen nicht vermeiden kann, oder daß die Gäste die eigentlidi nur den Genuß des Lebens abschöpfen wollen, von Jenen ihrer Gaben wegen eine Erhöhung ihrer Freuden erwarten; kurz sie sind auch da. Daß es so im Allgemeinen, daß es so auch im Einzelnen sei, daran laßt uns fest glauben. Audi dort mag vielleicht Christus mit den Seinigen manchem der versammelten Gäste entgangen, von noch mehreren gar auf keine Weise unterschieden worden sein; und so geht es uns auch wol, daß wir bisweilen unsere Augen umhergehen lassen in einer großen Versammlung und uns fragen: Ist wol hier einer, der selbst von dem besseren Geist beseelt, den höheren Endzwekken des Lebens sich widmend, den Trieb in sich fühlt Andere ebenfalls dafür zu gewinnen, und von ihren kleinen nichtswürdigen"" Bestre | bungen zu etwas edlerem zu erheben? und daß wir dann keinen sehen204. So übel ist es aber nicht bestellt um die Welt. Die Christo angehören, die seine Stelle vertreten, und nur auf die Gelegenheit warten den Menschen das Bedürfniß nach einem höheren Dasein zu erwekken und ihnen von den Gütern desselben zu kosten zu geben, sie sind überall vertheilt, und die wirkende Kraft Gottes ist immer in ihnen. Unscheinbar kann sie sein, und kann lange Zeit unbemerkt bleiben, aber sie ist da. Laßt uns zurüksehn, meine Freunde, auf die Geschichte des menschlichen Geschlechtes, wie oft die schönsten Verbesserungen und Bereicherungen desselben vor Christo und nach ihm aus einem geringen nicht geachteten Anfang hervorgegangen sind, wie lange oft die Retter und Helfer verborgen geblieben sind und ihren großen Beruf in sich verschlossen getragen haben. Laßt uns vertrauen, es sei auch jezt, es sei überall so, wo uns die Wemuth überfällt darüber, daß der große Haufen der Menschen sich in den niederen Gegenden des Lebens genügen läßt. In den Seinigen fortlebend, deren größte Angelegenheit es ist die Menschen zu Ihm zu ziehen, ist Christus überall, eben so aufmerksam, eben so bereitwillig, und überall findet er früher oder später Gelegenheit, wenn auch nur Einigen, seine Wohlthaten zu spenden. Und das Vertrauen wird uns die Augen öfnen, daß wir überall auch ehe sie noch wirken können diejenigen herausfinden, die der Herr als seine Werkzeuge ausgerüstet hat. | II. U n d

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M u t t e r J e s u z u i h m , s i e h a b e n n i c h t W e i n . Wie die Frauen bei einem solchen Mahle selbst am wenigsten an den bereiteten Genüssen theilnehmen, aber am meisten geschäftig sind herbeizuschaffen, zu sorgen und Jedem den Genuß soviel möglich zu erhöhen; und wie auch hier die Mutter Jesu nicht von eigenem Bedürfniß getrieben, sondern nur von dem Verlangen den Anderen Gutes zuzuwenden, dem Erlöser den eintretenden Mangel bekannt machte: so wird auch im Laufe des Lebens das Herz derjenigen schon voraussehend von guten Wünschen bewegt, die für sich selbst am wenigsten den Genüssen ergeben, die Eitelkeit derselben einsehen, und den Zustand derer bedauren, welche die Quelle ohne je gesättiget zu sein erschöpfen. J a , meine Freunde, es ergehet denen die auf dem Gastmahle des Lebens nur genießen wollen überall wie hier, E s g e b r i c h t a n W e i n . Die Sinnlichkeit ist unersättlich, die Spenden des reichlichsten Gebers sind unzulänglich, und wie auf einem Gastmahl, je weiter hin desto mehr, zwar nicht wahrhaft genossen, denn der Reiz stumpft sich ab, und die wähligen Sinne verwerfen mehr als sie in sich aufnehmen, aber eben deshalb doch verbraucht und verschwendet wird, so auch im Leben der Genußsüchtigen wird die Befriedigung immer schwieriger. Zumal die edelsten Genüsse, bei denen noch am meisten die Seele selbst geschäftig, und in deren mehr geistiger Beschaffenheit sich noch die Spuren von der höheren Bestimmung | des Menschen erhalten, deren Untermischung mit den übrigen noch dem Gemüth seine Empfänglichkeit bewahrt und dem Ueberdruß vorbeugt, den das niedrig sinnliche allein weit eher herbeigeführt hätte, diese vorzüglich wenn sie nur Genüsse sind, nur des vorübergehenden Eindruks willen gesucht und geliebt, werden immer seltener und gehen zulezt ganz aus. Die Menschen müssen sich immer mehr herabstimmen, wenn sie diesem Wege folgen, und mit dem gröberen vorlieb nehmen, das ist die Nothwendigkeit, welcher die sinnliche Natur unterliegt. Sie selbst aber allmählich abgestumpft bemerken es nicht, sie sorgen auch nicht w o neuer Vorrath und neue Reizungen herkommen sollen, und betrachten leichtsinnig das Leben wie ein Gastmahl, w o es Andern obliegt alle ihre Wünsche zuvorkommend zu befriedigen. So versiegen ihnen unbemerkt die Quellen des Genusses, und sie nahen sich dem leersten und peinlichsten Zustande. Aber die zuschauenden, still hingehenden, selbst im höheren Leben des Geistes seligen und darum sorgsam zärtlichen Gemüther, diese sehen mit innigem Mitgefühl, welch ein dürftiges Ende es nehmen will mit ihren misleiteten Brüdern. So lange diese nur mit leichtem Sinne die unschuldigen

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Freuden des Lebens genießen, und, wenn auch nicht zu den tieferen Quellen des beseligenden Borns hinabsteigend, aus welchem der ewig nicht dursten lassende Trank sich ergießt, sich doch nicht ganz dem entziehen was der eigenthümlichen Natur des Menschen Kraft geben kann, sondern ihre andern Freuden dadurch würzen und erhö | hen, so bleiben sie zwar den edleren Seelen fremd und fern, wie zarten Frauen die Gemüthsstimmung derer, die zu den Freuden der Tafel und des Bechers vereinigt sind, fremd bleibt: aber Sorge und Schmerz bemächtigt sich des frommen Gemüthes erst, wenn es die Spuren des Besseren ganz verschwinden sieht in seinen Brüdern. Dann wendet es sich wie die Mutter Jesu klagend und fürbittend an den Herrn, dann hält es ihm den traurigen dürftigen Zustand derer vor, um derentwillen er doch gekommen ist, dann möchte es Ihn, der allein die Menschen erheben kann, von dem alle beseligende Kraft ausgeht, bewegen, ob denn nicht nun, da sie fast am Ende wären mit ihren irdischen Herrlichkeiten, die Stunde gekommen wäre, wo er ihr Herz aufschließen könne für die ewigen Güter, wo er ihnen den Schaz unvergänglicher Seligkeit öfnen könne. O meine Freunde, diese theilnehmenden Gefühle, wenn sie uns auch fast ängstigen, wie wir denn etwas ängstliches finden in der Anrede der Mutter Jesu, wollen wir doch nicht zu den Leiden, vielleicht gar zu den vergeblichen, des Lebens zählen. Denn sie bürgen uns dafür, daß wir reineres Herzens sind, daß wir den Ruf Gottes besser verstehen, daß wir in den Rath des Herrn hineingeschaut haben. Hüten wir uns vielmehr, daß wir dem verkehrten Treiben der Menschen um uns her nicht gleichgültig zusehen, und lassen nicht ab, unter Umständen, wo wir selbst nichts thun können, in frommer betender Fassung des Gemüthes ihr Heil zu erwägen, und zu harren, daß auch ihnen das Reich Gottes komme, und die Quelle | der Seligkeit sich öfne, über welche Christus zu gebieten hat. Audi diese Wünsche sind nicht vergeblich, auch sie müssen das ihrige beitragen, obgleich, als die Mutter Christi sie ihrem Sohne vortrug, III. Jesus zu ihr sprach, W e i b , w a s h a b e i c h m i t d i r z u s c h a f f e n ? meine S t u n d e ist noch nicht gekommen. Es gehört nicht in die Grenzen unserer Betrachtung, zu zeigen, daß diese Antwort nicht so hart ist, nicht so dem Verhältniß des Sohnes zur Mutter entgegen, als man anfänglich glaubt. Wir können dies gern annehmen, allein niemand wird doch läugnen, daß sie wirklich hart klingt, daß sie den so bescheiden vorgetragenen Wunsdi der

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VIII. Wie das Edlere sidi aus dem Niedrigen entwickelt

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Mutter nicht erfüllt, und sie für den Augenblikk wenigstens ihrem ängstlichen Gefühl überläßt. Wenn wir uns hieran halten, so werden wir nicht läugnen können, daß es uns nur zu oft eben so geht. Wir sehen einen Theil unserer Brüder immer tiefer in niedere Sinnlichkeit versinken; wir ahnden angstvoll wie immer unbefriedigender und gehaltloser ihr Leben werden muß; wir flehen für sie zu Gott mit inbrünstigem Herzen; oder indem wir bei uns selbst nachredinen, wie es nun unmöglich länger so gehen könne, sondern nothwendig, nachdem alles sinnliche erschöpft ist, die Gemüther für den geistigen Genuß müssen empfänglich werden, tragen wir eben dadurch unsern Wunsch so still und bescheiden wie Maria dem Herrn vor: und wie oft schallt uns nicht aus dem ungestört fortgehenden immer tiefe | ren Verfall, aus den immer wieder unfruchtbar zu uns zurükkehrenden brüderlichen Ermahnungen, aus der Unwirksamkeit des wenn auch noch so hellglänzenden Beispiels, aus der Vergeblichkeit aller äußeren Veranlassungen die traurige unserm Eifer und unserm Mitgefühl eben so hart dünkende Antwort zurükk, Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Laßt uns nur eben so wenig den Muth und den Glauben verlieren wie Maria ihn verlor. Sie wurde durch Christi Antwort nicht betroffen oder mürrisch gemacht, daß sie nun die Sache aufgegeben hätte; auch nidit aus ihrer hoffenden Gemüthsstimmung ward sie herausgesezt. So laßt uns auch nie die gute Sache aufgeben, oder irre werden in unserer Hofnung auf den Herrn, wenn auch oft lange Zeit unsere dringenden Wünsche für die Verbesserung der Menschen in unserer Nähe unerfüllt bleiben. Maria, ohneraclitet sie recht wohl wußte, und auch fest darauf beharrte, was sie im Ganzen von Christo zu erwarten hatte, beschied sich doch, daß sie seine Art zu Werke zu gehen noch nicht kannte, denn es war das erste Zeichen was er that. Müssen wir uns nicht eben so bescheiden, daß wir des Herrn Wege noch nicht kennen, daß wir immer Kinder bleiben in dieser Hinsicht, welche erwarten, was des Vaters Weisheit nicht erfüllen kann? Wir sehen auf das Nächste und werden davon bewegt, es verlezt uns die niedrige Weise der Menschen die uns umgeben, oder wir werden bewegt von ihrem ihnen unbewußten trostlosen Zustande, und so gelten freilich unsere Wünsche und | unsere Bemühungen zunächst ihnen, aber ist nicht gewöhnlich auch davon etwas darunter, daß wir von der eigenen Pein, die uns ihr Anblikk und das Leben mit ihnen verursacht, wollen befreit sein205? Die Schiksale der Menschen, aber auch die geistigen, werden von Gott nach einem allgemeinen Zusammen-

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hange geleitet, von dem dieses nächste Bedürfniß welches uns so stark ergreift, nur ein kleiner Theil ist. Laßt uns dann Hofnung behalten und harren, aber nicht unthätig, sondern immer fortfahrend in allem was uns selbst obliegen kann, um zu dem Zwekke zu gelangen, der uns so am Herzen liegt, und wie Maria that, welche zu den Dienern sprach: W a s e r e u c h s a g e t d a s t h u t , auch Andere um uns her, welche fähig sind bei dem Geschäft der Besserung und Beglükkung der Menschen Dienste zu leisten, aufmunternd, daß sie der Winke des Herrn gewärtig seien, und sie immer hinweisend auf die göttliche Kraft, die allein das Bessere in dem Menschen zum Leben bringen kann, welche gewiß da ist, gewiß auch schon immer die Richtung hat, die wir wünsdien, nur daß ihre Wirkungen noch nicht hervorbrechen. O meine Freunde, diese Beharrlichkeit, dieser unerschütterliche Glaube, diese durch kein Mißlingen zu tilgende Bereitwilligkeit immer wieder das unsrige zu thun zur Besserung der Mensdien, ist ja das einzige wodurch wir uns ein Verdienst um sie erwerben können das in etwas mehr besteht als in guten Wünschen, es ist ja das einzige, wodurch wir ein taugliches Werkzeug des Herrn werden können, der, wie er selbst um zu lehren | und zu heiligen menschliche Natur an sich genommen hat, so auch bei seinen verborgenen, heiligenden und beseligenden Wirkungen auf die Gemüther der Menschen sich immer menschlicher Kräfte bedient; wenn wir auch, was dann geschieht, nicht aus dem, was wir gethan haben, begreifen können, sondern es immer nur ihm und seiner wunderbaren göttlichen K r a f t zuschreiben müssen. Ihm sei also zu diesem Behuf immer alles was in uns ist geheiliget, und kein lieberes Geschäft als seinen Winken zu folgen! Dann können wir sicher sein, daß E r sich unserer auch bedienen wird hier und da um Andere zu einem besseren Leben zu erwekken und sie größere Herrlichkeiten genießen zu lassen als die, welche sie bald erschöpft haben würden. I V . Wenn nun aber unsere Wünsche erfüllt werden, wenn irgendwo, sei es im Großen oder Kleinen, der jämmerlichsten Noth der Menschen ein Ende gemacht wird, und statt der immer schlechter werdenden sinnlichen Genüsse ihnen die höheren Freuden des geistigen Lebens aufgehen: so verstehen wir davon, wie das geschieht, eben so wenig und es erscheint uns eben so wunderbar, wie uns diese Geschichte erscheinen muß. Wir sehen Maria, wir sehen Christum, wir sehen die Diener jeden auf seine Weise geschäftig, Maria bittend, empfehlend, vorbereitend, Christum anordnend, gebietend, die Diener eine äußere Handlung gehorsam vollziehend; aber wie, w o Was-

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ser eingeschöpft ward, Wein kann aus | geschenkt werden, wer wollte das begreifen? So ist es auch hier. Wir sind da als Fürbittende, Gutes wünschende, und, wenn wir nur wüßten wie, zur Bewirkung desselben gern bereite Gemüther; aber wir thun nichts in diesem entscheidenden Augenblikk, als was wir schon lange vorher nur vergeblich gethan haben. Andere sind mit uns zugleich da, nicht einmal von denselben Gesinnungen beseelt, nur denen dienend, welche bisher nichts anders als die Lust dieser Welt suchten, und auch nicht glaubend, daß sie etwas anderes thäten als nur wieder, wie immer, dieser Lust behülflich sein; und eben durch diese leitet der Herr irgend eine äußerliche Veränderung ein, aus welcher dann auf eine unbegreifliche Weise das hervorgeht was wir gewünscht hatten. O es ist eine verborgene wunderbare Handlung, wenn die Kraft Gottes so in das Leben der Menschen eintritt, ihnen plözlich statt des gewohnten niederen das höhere und göttliche darbietet, und oft mitten aus der Abstumpfung, in welche die Anhäufung sinnlicher Genüsse sie versezt hatte, ihnen die Empfänglichkeit für geistige Freuden mittheilt! Nach der Weise der jüdischen Reinigung standen die Krüge da, und des Wassers, was zu dieser bestimmt war, bediente sich Christus, um daraus den stärkenden neubelebenden Trank zu entwikkeln. Dies ist uns freilich ein bedeutender Wink über die Verfahrungsart des Höchsten. Wenn die Menschen, welche sich zum bloßen Genuß des Lebens vereinigt haben, noch unter der Zucht einer Sitte oder eines | Gesezes stehen, so haben sie auch Reinigungen bereit, bloße äußere Gebräuche, so wie sie sie nach ihrer Gesinnung ansehn und behandeln, ohne innern Gehalt und Geschmakk, die ihnen weder K r a f t geben noch Lust gewähren können, sondern womit sie sich nur ein anständiges Aeußeres geben, sich einen guten Ruf und ein gutes Zeugniß erhalten wollen bei der übrigen menschlichen Gesellschaft, es seien nun religiöse Uebungen, oder es seien pflichtmäßige wohlthätige aber nur um der Sitte und des Gebrauches willen verrichtete Handlungen. Wieviel besser sind nicht noch diejenigen daran, denen dies wenigstens in ihrer Erniedrigung bewahrt wird; denn wie oft bedient sich die göttliche Gnade grade dieser Mittel um ihnen zum höheren Bewußtsein zu verhelfen. Eben hiebei tritt nicht selten zuerst das lange verkannte oder unterdrükte Gefühl wieder in seine Rechte ein; was nur eine unbedeutende Unterbrechung gewohnter Zerstreuungen und Genüsse sein sollte, wird der Anfang eines ganz anderen und neuen Lebens, und wo sie es gar nicht erwarten mochten, in den verspotteten Gefühlen, in den als Aberglauben gering geschäzten Vor-

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Stellungen der Religion, finden sie mehr vortrefliches und seliges als sie je wagten zu wünschen. Wo aber freilich auch nicht mehr die heilige Scheu ist, die das Bedürfniß einflößt, sich, wenn auch nur äußerlich, zu reinigen, da sind es vielleicht die gewaltigeren Kämpfe des Gemüthes, da sind es die Fluthen des Leidens, welche sich in die Stärkung zum ewigen Leben verwandeln. | Bleibt aber auch immer etwas unbegreifliches in dieser Veränderung, wie ein lange Zeit nur der Sinnlichkeit hingegebenes Gemüth oft schnell besserer Ansichten, edlerer Thätigkeiten, höherer Genüsse fähig wird: so liegt doch die ganze Natur dieser Veränderung und ihre ersten Folgen klar genug vor Augen. Sie ist nemlich eine allgemeine Erneuerung und Erfrischung des Lebens, wie sie dem Erschöpften nur der köstlichste Trank gewähren kann. Höhere vorher nicht gekannte Kräfte wekt sie in dem Erschlafften, zu starken erfolgreichen und doch milden Thätigkeiten regt sie alle sein Vermögen auf, die nicht nur außer sich wirken, sondern auch als der erste Vorschmakk eines göttlichen Lebens zum reinsten Genuß in sich selbst zurükkehren. Und eben deshalb sind die nächsten Folgen dieser Veränderung ganz so wie in unserer Geschichte erzählt wird. Und als der Speisemeister den Wein kostete, der Wasser gewesen war, sprach er zum Bräutigam, Alle geben zuerst den guten Wein und dann den schlechten, du aber hast zuvor den schlechten gegeben. Alles vorherige, auch das beste, womit doch der angeführten Sitte gemäß auch dort gewiß war angefangen worden, erschien als schlecht im Vergleich mit dem was nun dargeboten wurde. Auch dem der dafür anerkannt war, sich am besten auf den Werth des Genusses zu verstehen, konnte der höhere Reiz, die größere innere Würde dieses, nicht auf demselbigen Wege wie die anderen entstandenen, nicht entgehen. So ist es, meine Freunde. Das Gefühl, welches aus einem auf das | göttliche und ewige sich richtenden Gemüth entsteht, welches die Bestrebungen sich Gott zu nähern und seinen Willen zu erfüllen begleitet, darf nur einmal gekostet sein, so erscheint jeder andere Genuß, sei er auch noch so schuldlos in den Augen der Gesellschaft, noch so genau von einer gewissen Bildung des Verstandes abhängig, wenn von diesem Gefühl nichts in ihm vorhanden ist, schaal und leer. Und darin liegt die tröstliche Gewißheit, daß wer einmal diese Seligkeit gekostet hat, nicht mehr von ihr lassen wird, sondern immer größern Reichthum hinnehmen aus der unerschöpflichen Quelle, immer mehr alles andere gering achten, sich von allem Gemeinen reinigen, und in einem Gott geweihten Leben allein Heil und Freude suchen wird.

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V. Von diesem Zeichen nun, welches uns so schön die ganze Wirksamkeit Christi, sein ganzes erlösendes Verhältniß zu dem gesunkenen Menschengeschlechte versinnlichet, wird gesagt, es sei das erste gewesen und seine Herrlichkeit habe sich darin offenbart, und seine Jünger haben an ihn geglaubt. Eben so, meine Freunde, offenbart sich seine Herrlichkeit immer noch. Es ist auch jezt Christus, es ist auch jezt die vereinigte Gewalt alles dessen, was durch ihn schon in der Welt gewirkt worden ist, wodurch immer noch Menschen der Gewalt des irdischen und sinnlichen entzogen zu einem höheren Leben und einer höheren Seligkeit gebildet werden. Wenn auch Viele nicht wissen, oder zu vergessen scheinen, woher alle | höheren Güter kommen, und auf welchem Wege die Menschen ihrer theilhaft werden. Alle diejenigen, die irgend als Werkzeuge sind gebraucht worden um den Menschen diese Güter auszuspenden, wissen es gewiß, daß sie zusammenhängen mit seiner Lehre und seiner Erlösung, und erkennen darin seine Herrlichkeit. Laßt uns nur das Gebot derselben recht fest in seinem ganzen Umfang ins Auge fassen. Nemlich nicht nur für die große Veränderung ist unsere Erzählung ein Sinnbild, durch welche der Mensch zuerst von dem Gemeinen zum Edleren, vom Sinnlichen zum Geistigen erhoben wird; sondern auch nach dieser vom ganzen Leben des Christen. Denn da wir weder auf einmal noch jemals ganz rein werden von der Sünde, sondern immer wieder die Sinnlichkeit mit ihren Reizen, immer wieder die alte Gewöhnung mit ihrer verborgenen Macht, immer wieder das Beispiel mit seiner unmerklichen Anstekkung auf uns wirkt, und in diesen Kämpfen, oder was noch gefährlicher ist, in dieser Vermischung, die uns nicht einmal als ein Kampf erscheint, allmählig die höhere Kraft und mit ihr auch der höhere Genuß abgestumpft wird: so kommen Zeiten, wo die Seele in den Betrachtungen und in der Handlungsweise, in welcher sie doch leben soll, sich nicht recht zu Hause fühlt, wo wir ohne Freude unsere Pflichten erfüllen, wo selbst die Liebe und die Andacht uns nicht wie sonst bewegen und beseligen, Zeiten wo Alle, die Theil an uns nehmen und uns beobachten können, auch in die fromme Klage sich ergießen möchten, d a ß es g e | b r i c h t . Dann ist es immer wieder die Kraft des Glaubens, die auf dieselbe wunderbare Weise uns stärkt und aufs neue belebt, es ist immer wieder Christus, dessen Herrlichkeit sich in der Nahrung unseres höheren Daseins offenbart. J a nicht nur das Leben der einzelnen Christen ist einer solchen sich immer wiederholenden Abnahme unterworfen, welche immer neue Stärkungen erfordert, in denen Christus sich

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verherrlicht, sondern wir finden dasselbe auch wenn wir auf das Leben ganzer Völker sehen, der Völker zumal, die den Namen Christi führen, und wenn sie auch nicht ganz aus wahren Verehrern desselben bestehen, doch durch das Christenthum gebildet und gereiniget worden sind. Alle Zeiten, in denen ein solches Volk wahrhaft kräftig lebt, wahrhaft große Thaten ausübt, große Geister in seiner Mitte erzeugt, Beispiele großer Tugenden aufstellt, und eine Lebensweise sich selbst bildet und ordnet, die es lange auf einer würdigen Bahn erhält, diese Zeiten sind immer solche, in denen der Glaube, die Frömmigkeit, und alles was in dieses Gebiet gehört, sich als große bewegende Kräfte beweisen, und auch auf den großen Haufen eine, wenn auch nicht ganz lautere, wenn auch nicht in dem innersten jedes einzelnen Gemüthes für immer sich festsezende, aber doch eine begeisternde und durch alles andere sich hindurch arbeitende Gewalt ausübten. Aber diese Begeisterung verraucht allmählig, die Söhne und Enkel gleichen schon nicht mehr den Vätern, die künftigen Geschlechter werden immer tiefer verflochten in die irdischen Dinge, es | kommen Zeiten der Erschlaffung, wo es an allem Hohen und geistigen leider fast gänzlich gebricht: und wenn dann wieder eine neue Kraft die fast erstorbene Masse durchdringen, wenn wieder eine neue heilige Glut das träge Blut rascher umhertreiben soll: nicht von denen kann dies ausgehen, welche das schon so schlecht bestellte Gastmahl des Lebens zu ordnen übernommen haben; sondern von denen, die einer reinen Lust an dem Willen Gottes fähig, die von der Kraft der Wahrheit begeistert, die um ihr Volk zu retten und zu erhöhen zu jeder Aufopferung bereit sind. Und ist das nicht der Geist Christi, ist er es nicht, dessen Herrlichkeit an solchen Wiederherstellungen sich offenbarte? Aber so oft auch alles dieses erfolgt, es geschieht doch nur wie in unserm Text geschrieben steht, U n d s e i n e J ü n g e r g l a u b t e n a n i h n . Andere haben immer eine andere Art alle Ereignisse in der Welt zu betrachten; sie suchen eher in allem Andern als in dem Christenthum und in frommer Erhebung überhaupt die Kraft, welche die Menschen veredelt, und sie, nachdem sie gesunken sind, wieder in die Höhe zieht. Es sind nur die von der Wahrheit seiner Lehre schon überzeugten, in die göttliche Kraft seines versöhnenden Daseins schon mit verflochtenen, die an ihn glauben. Aber wie damals alle Anderen, von welcher Art ihre Weisheit auch sein, und wie sie sich auch ihres Einflusses bedient haben mochten, nichts ausrichteten, um aus dem allgemeinen Verfall ein neues und schöneres Heil zu bilden, sondern

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V I I I . W i e das Edlere sich aus dem Niedrigen entwickelt

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nur die | Jünger Christi; so wird es auch jezt sein. Laßt uns an Ihn glauben, auf Ihn sehn, ob seine Stunde nicht kommt, und soviel wir können, aller Augen auch dahin richtend, auf ihn weisend als Herolde seiner Herrlichkeit seinem Dienst gewärtig sein. Am weitesten werden wir doch Alle von dem irdischen und falschen entfernen die wir zu ihm hinführen, und aus der alten geprüften Quelle wird am sichersten uns und unserm Volke Stärkung fließen und Erhebung über alles was niedrig ist.

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XII. Ueber die rechte Verehrung gegen das einheimische Große aus einer früheren Zeit. A m v i e r u n d z w a n z i g s t e n J a n u a r i8o8!0". Der vierundzwanzigste des ersten Monates war ehedem in diesen Ländern ein vielgefeierter Tag, an welchem die Bewohner derselben sich laut und froh einem eigentümlichen erhebenden Gefühl überließen. Er war das Geburtsfest des großen Königes, der eine lange Reihe von Jahren über uns geherrscht hat und noch immer der Stolz seines Volkes ist, eines Königes, auf den von dem ersten Augenblikk an wo er das Scepter ergriff bis an den lezten seines Lebens ganz Europa hinsah, bewundernd seinen durchdringenden Verstand im Großen, seine strenge und genaue Aufsicht im Einzelnen, seine rastlose Thätigkeit, seinen ausdauernden Muth, seinen schöpferischen und erhal | tenden Geist, und erwartend von seiner Einsicht und Entschlossenheit den Ausschlag in den wichtigsten Angelegenheiten, eines Königes, der eben so sehr durch weise Verwaltung sein Reich von innen kräftigte als durch Tapferkeit im Felde und durch richtige Benuzung der Umstände®07 es von außen sicherte und vergrößerte, so daß er es auf eine Stuffe der Macht und des Ansehns erhob, für welche es vorher nicht geeignet sdiien, und von welcher es in diesen neuesten Tagen so schnell ist wieder herabgestürzt worden, daß wir nicht abzusehen vermögen ob oder wann es sie wieder werde besteigen können. Eben deshalb, meine Freunde, weil eines Theils weder das feierliche Gedächtniß jenes großen Herrschers unter uns kann vertilgt sein, der zu viel dauernde Denkmäler seines Daseins in seinem Volke gestiftet hat als daß jemals Er selbst oder das was wir durch ihn ge-

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worden und unter ihm gewesen sind könnte vergessen werden, noch andern Theils irgend Jemand ohne Schmerz und Beschämung denken kann an den jähen Sturz den wir erlitten haben, eben deshalb kann es nicht anders sein, als daß die Bewegungen, welche der heutige Tag in uns hervorbringt, jene Wunden des Herzens wieder aufreißen, die wir gern heilen möchten durch Ruhe und Stille, und daß wir uns befangen finden in einem zerstörenden Zwiespalt von Gefühlen, indem wir nicht davon lassen können die großen Eigenschaften und die herrlichen Thaten jenes Helden uns lobpreisend zuzueignen, zugleich aber auch die leichte Zerstörbarkeit fast alles dessen was er unter | uns gewirkt hatte schmerzlich zu beklagen. Wohin aber haben wir uns zu wenden mit jeder Uneinigkeit in uns selbst, als zu den heilenden Quellen der Religion808? wo Schuz zu suchen wenn das Zeitliche mit seinen Widersprüchen uns aufzureiben droht als bei dem Ewigen? wo ist eine beruhigende und einigende Ansicht der Weltbegebenheiten zu gewinnen als durch die Beziehung auf Gott209 durch welche jeder scheinbare Widerspruch verschwinden und alles sich auflösen muß in Weisheit und Liebe. Auf diese Weise also laßt uns die Empfindungen heiligen und uns zum Segen wenden, welche, wenn sie uns leidenschaftlich bestürmen dürften, das Gleichgewicht unseres Gemüthes noch mehr stören und unsere Kräfte noch stärker aufreiben würden, und indem wir uns einer frommen Ansicht überlassen, werden wir gewiß dahin gelangen, daß wir jedes große und werthe Andenken bewahren können ohne eine Quelle vergeblicher Schmerzen daran zu besizen, und daß wir auch in die neueren betrübenden Wendungen unseres Schiksales uns fügen ohne uns etwa losreißen zu müssen von dem was sich edles und vortrefliches früher unter uns gebildet hat.

Text. Matth. 24, x. 2. U n d Jesus ging hinweg von dem Tempel, und seine Jünger traten zu ihm, daß sie ihm zeigten des Tempels Gebäu. Jesus aber sprach zu ihnen: Sehet ihr nicht das Alles? | Warlich ich sage Euch, es w i r d hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben der nicht zerbrochen werde.

Nachdem der Erlöser, bedauernd daß alle seine Aufforderungen an das Volk, sich zu einem reineren und vollkommneren Reiche Gottes zu einigen vergeblich gewesen, Unheil und Zerrüttung als unver-

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meidlich vorhergesagt, sehen wir ihn hier mit den Seinigen das Gebäude des Tempels betrachtend, jenes herrlichsten Denkmals der Größe seiner Nation, an welches, was sie nur von Reichthum und Kunst besaß, war gewendet worden, und an welchem sidi alles eigenthümliche ihrer Gesinnung ihres geselligen Zustandes und ihrer bürgerlichen Verfassung abspiegelte. Wahrscheinlich daß ihn die Jünger hiehergeführt, um ihm zu zeigen, was sie bei seinen traurigen Ahnungen tröstete, und wie doch alles Unglükk nur vorübergehend sein könne da eben an diesem Tempel als einem unzerstörbaren Heiligthum das Volk sich immer wieder vereinigen würde und an dieses Gebäudes Einrichtungen und begeisternder Kraft gleichsam eine Gewährleistung gegen alle Zerstörung besize. Aber der Erlöser sagte auch dieses Heiligthumes Zertrümmerung mit einer solchen Gewißheit vorher, daß wir ihn ansehn können als Einen der empfinden mußte grade wie wir, die wir eine ähnliche Zerstörung früherer Herrlichkeit und Größe schon erlebt haben, und er thut es mit einer Ruhe, welche bei dem Werth den dieser Tempel für ihn hatte, wie wir aus mehreren Auftrit | ten seines Lebens wissen, und bei der Liebe zu seinem Volke die wir an ihm kennen nur aus einem richtigen Zusammenstellen der Vergangenheit und Zukunft, nur aus einer höheren Ansicht aller menschlichen Dinge sich erklären läßt. Wir wollen also in der bestimmteren Beziehung, welche wir unserm heutigen Nachdenken schon gegeben haben, aus diesem Beispiele lernen. W i e w i r es a n z u s e h e n h a b e n , d a ß a u c h das G r o ß e , dessen w i r uns e r f r e u t e n w i e d e r v e r s c h w u n d e n ist. In allen menschlichen Dingen können wir zweierlei unterscheiden. Sie sind auf der einen Seite Irdisches, Zeitliches, und eben deshalb schon in ihrem Entstehen und Wachsen den Keim der Vergänglichkeit in sich tragend, welcher sie das bestimmte Maaß ihrer Dauer nicht überschreiten läßt. Sehen wir aber tiefer in ihr Inneres hinein, richten wir unsere Aufmerksamkeit weniger auf ihre äußere Gestalt und Erscheinung als auf ihr Wesen und ihren wahren Gehalt, so erblikken wir in allen menschlichen Dingen und in dem Größten am meisten — denn warlich nichts kann wahrhaft groß sein was nicht gut ist, weil ja die Größe eines jeglichen Dinges nur das Maaß sein kann seines wahren Seins und Wesens und ja nichts wahrhaft und wirklich ist als das Gute — zugleich unter dem Zeitlichen und Vergänglichen das Göttliche und Ewige. An diesem Unterschied uns haltend laßt uns denn Z u e r s t j e n e s V e r g ä n g l i c h e n i c h t länger

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g e l t e n d m a c h e n w o l l e n , n a c h d e m | es s e i n M a a ß e i n m a l e r f ü l l t hat. Z w e i t e n s a b e r a u c h dieses Bleibende und E w i g e immer verehren und auch in den f o l g e n d e n G e s t a l t e n d e r D i n g e f e s t z u h a l ten und d a r z u s t e l l e n suchen. I. Zuerst also wollen wir was vergangen ist, weil es vergänglich war, nicht noch über sein Maaß hinaus geltend machen. Auf mancherlei Weise äußert sich bei den Menschen, welche an etwas Großem Antheil gehabt, wenn dieses verschwunden ist, ein oft mehr leeres oft mehr verderbliches sehnsüchtiges Zurükblikken auf dasselbe und Zurükwünschen desselben, um so mehr als das äußere Verschwinden des Großen immer mit einem, wenn auch nur vorübergehenden, Zustande der Zerrüttung verbunden ist. Oft und bei den Meisten wol zunächst durch den leeren Gedanken als ob in der gegenwärtigen Noth d e r j e n i g e d e r e i n z i g e R e t t e r s e i n k ö n n t e , w e l c h e r zu s e i n e r Z e i t d e r erste B e g r ü n d e r der nun v e r g a n g e n e n G r ö ß e gew e s e n i s t . Gewiß hört auch unter uns der heutige Tag gar viele solche sonst wenigstens nicht so vernemlich geäußerte Wünsche, O wenn der große König noch da gewesen wäre: so würden wir diesen Zustand der Herabwürdigung nicht erfahren haben! Er hätte nicht so weit anwachsen lassen die Macht die uns erdrükt hat, seinem Adlerauge würden schon längst nicht unbemerkt geblieben sein die Fehler und Mißbräuche | ohne welche wir nicht so leicht wären zu überwinden gewesen; und sofern jezt noch Rettung und Wiedererhebung möglich wäre würde er sie noch durch die Kräfte seines gewaltigen Geistes herbeizuführen wissen. Ich will nicht erinnern wie verkehrt es überhaupt ist in dem wunderbar zusammenhängenden Wechsel menschlicher Dinge bestimmen zu wollen, wie das Eine sein würde wenn ein Anderes gewesen wäre; ich will nicht klagen, wie sich solche Gedanken wie dieser selten aussprechen lassen ohne von ungerechten Aeußerungen begleitet zu sein gegen einzelne Lebende; sondern nur darauf will ich aufmerksam machen, wie wenig ehrenvoll, ja ich darf wol sagen wie schimpflich es ist für ein ganzes Volk sein Wohlergehen seine Selbstständigkeit nur hoffen zu wollen von einem Einzelnen von Eines Kraft von Eines Art zu handeln. Warlich hierin beschämt uns jenes alte Volk dessen Unglükk Christus vorhersagte. Viele sahen es mit ihm voraus und fast keiner war schon seit langer Zeit ohne bange Besorgniß. Aber sie hoften nicht wie sie vertraut mit dem Wunderbaren wol ge-

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könnt hätten, daß David jener große König wiederkehren mödite der die Selbstständigkeit und Macht seines Volkes gegründet hatte, sondern nur auf einen Nachkommen desselben hoften sie nächst Gott; also auf einen freilich gleichen Stammes mit ihm und ihnen, aber der Zeit selbst angehörigen für die er Noth that. Und so wird gewiß jeder wohlthätige König aus früherer Zeit am besten geehrt. Denn war es nicht eine in dem Schooße seines Volkes entstandene und gepflegte Kraft | durch die er so großes auszurichten vermochte, o so ist der Stolz auf ihn ein leerer, und die Zeit der Herabwürdigung war schon die gepriesene selbst. War aber sein Geist so einheimisch unter seinem Volk; warum sollte es nicht vertrauen, daß er sich auch öfter erneuern würde unter ihm? Wie vielmehr noch wenn wie in unserm Falle der frühere Held und Herrscher vorzüglich darauf bedacht gewesen war nicht etwa nur allein zu glänzen durch seinen Geist und seine Talente, und alle Andern soweit als möglich zu überstrahlen, sondern soviel er nur irgend konnte alle geistigen Kräfte in seinem Volk auszubilden und durch die freieste Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten210 immer reifere Einsicht in sein eignes Wohl in demselben zu entwikkeln. So wären ja seine schönsten Bemühungen dennoch unfruchtbar geblieben, wenn wir nicht je länger je mehr im Stande wären uns selbst zu helfen in der Noth, und wir legten, indem wir ihn am schönsten zu preisen denken ein hartes Zeugniß ab gegen ihn und uns. In der That, solche leere Wünsche gleichen nicht wenig denen aus jener lehrreichen Erzählung des Erlösers, wo Einer, um seine Brüder aus dem bedauernswürdigsten Zustande des geistigen Elendes zu erretten auch wünschte ihnen einen Todten zu erwekken, der Stammvater aber seines Volkes ihm verneinend antwortete: laß sie Mosen hören und die Propheten211. Auch wir, meine Freunde, haben Mosen und die Propheten, die Belehrungen der Geschichte und des göttlichen Geistes, und wenn wir uns von diesen nicht leiten lassen, wenn | durch diese nicht während der Zeit der Prüfung und der Bedrängniß allerlei Gutes wie es die Umstände erfodern in uns selbst aufgeht: so würde vergebens auch der größte der Könige von den Todten wiederkehren um uns Heil zu bringen durch seine Herrschaft; denn er würde nicht im Stande sein uns die wir selbst todt wären zu beleben. Aber eben diese leeren Wünsche hindern uns nur auf die Stimme der Wahrheit, wie laut und vernehmlich sie uns auch ertöne, zu merken; und wie alles Schlechte sich immer unter sich vermehrt, so sind auch sie zugleich ein Erzeugniß der Trägheit und ein Beförderungs-

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mittel derselben, und nur um ihre Ungeschiktheit, ihren Mangel an Eifer, ihr laues Wesen wo möglich sich selbst zu verbergen, täuschen sich die Menschen, als würden sie und alles besser sein, wenn sie nur noch in Verbindung wären mit denen, welche ehedem die gemeinsamen Angelegenheiten leiteten. Als ob sie sich nicht dadurch für unmündig erklärten, und als ob Unmündige Richter darüber sein könnten, wer ihnen ein guter Vormund ist oder nicht. Und eine solche Wahrheit, welche ihnen unvernommen bleibt unter den Ausrufungen ihrer eitlen Wünsche ist vorzüglich audi die, daß wie ein jeder Mensch von Gott in eine bestimmte Zeit gesezt ist, so auch Jeder, den größten und kräftigsten nicht ausgenommen, sondern vielmehr ein solcher am meisten nur in dieser Zeit wirken konnte was er zu wirken verordnet war. Es gilt auch hier ganz strenge, was Gott verbunden hat soll der Mensch nicht scheiden212, noch in | seiner Einbildung ein leeres Spiel treiben mit den Ordnungen Gottes. In seine Zeit eben so sehr als in sein Volk ist jeder bedeutendste Mensch aufs innigste verwachsen, an ihr hat er sich genährt und geübt, in Beziehung auf sie hat er sich seine Fertigkeiten und Tugenden erworben, und eben so haben auch ihre Mängel und Beschränkungen soviel Einfluß auf ihn gehabt, daß Niemand einen solchen in seiner Treflichkeit recht verstehen und gehörig würdigen kann, wenn er ihn nicht immer in denen Verbindungen und Umständen betrachtet in welche ihn Gott gesetzt hatte, welches auch besonders, wie Jeder gestehen wird, mit dem großen Mann der Fall ist, den wir so gern213 den Unsrigen nennen, und der eben auch in jener Beziehung so häufig ist verkannt worden. So sei uns denn sein Andenken zu heilig um es auf eine so unverständige Art zu entweihen, und eben je mehr Großes Gott durch ihn gewirkt hat zu seiner Zeit, um desto sidierer laßt uns wissen, daß wir jezt anderer Werkzeuge Gottes bedürfen, und laßt uns besseres als leere und verkehrte Wünsche gewinnen durch die Betrachtung seines thatenreichen Lebens. Abgesehen aber auch von den einzelnen Menschen, welche Großes in einer früheren Zeit begründet haben, wünschen wenigstens Viele die äußeren E i n r i c h t u n g e n und die ganze Verf a s s u n g e i n e r g l ä n z e n d e n P e r i o d e z u r ü k r u f e n zu k ö n n e n , meinend daß in diesen die beglükkende und erhebende Kraft gewohnt habe. Wie oft hören wir nicht dergleichen unter uns! Wären wir | nur allem was jener große König angeordnet hatte buchstäblich treu geblieben, kehrten wir nur jezt wieder zurükk zu derselben Zucht und Vorschrift, so würde uns am ersten geholfen wer-

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den, meinen Viele. Aber auch das, meine Freunde, ist eine thörichte Meinung, und offenbar nicht übereinstimmend mit den Ordnungen Gottes. Denn es giebt nirgends eine Rükkehr in menschlichen Dingen, und nichts kommt so wieder wie es da gewesen ist, wie eifrig auch das Bestreben der Menschen darauf gerichtet sei. Erinnern wir uns nur an das Beispiel welches unser Text uns vorhält. Wie oft hat nicht das jüdische Volk diesen Wechsel erlebt von einem ansehnlichen Grade der Macht und des Ansehns bis zur tiefsten an Nichtigkeit gränzenden Erniedrigung, und wiewol es, so oft es sich erneuern konnte, immer wieder zurükkam auf dasselbe unter göttlichem Ansehn gegebene Gesez, so nahm doch seine Verfassung jedesmal eine veränderte Gestalt an, am meisten aber nachdem das Land und die Stadt Gottes von einem feindlichen Heere erobert und fast zerstört, und nicht die Streitbaren allein sondern der größte Theil des Volkes fortgeführt worden war in ferne Gegenden. So war auch der Tempel vor dem Jesus stand nicht mehr der den die urväterlichen Könige erbaut hatten, die Ordnungen des ihm angehörigen Priesterthums hatten verloren von ihrer ursprünglichen Gestalt, und es nahete die Zeit wo diese ganze alte Verfassung mit ihren ehrwürdigen Denkmälern ohne Wiederkehr sollte zerstört werden, so daß auch kein Stein auf dem andern ge | lassen würde. Wenn nun unter ganz veränderten Umständen so wenig Beständigkeit selbst solchen Gesezen und Ordnungen zu sichern war, welche des Vorzuges einer höheren unmittelbar göttlichen Einsezung sich erfreuend natürlich um so enger die Kräfte der Menschen zu seiner Erhaltung vereinigten, damit sie sich nicht sträflicher Vernachlässigung anvertrauten Gutes gegen den schuldig machten der am härtesten strafen kann: wie sollten wir uns wol schmeicheln, daß wir, was der Gewalt der Zeit erliegend eingestürzt ist, eben so wieder sollten aufbauen können! und unter wie veränderten Umständen! Wenn jener zerstörenden Kraft, welche nach einer langen Stille zuerst als ein über Einer Gegend furchtbar schwebendes Ungewitter ausbrach, und dann als ein schnell hineilender Sturm Verheerung über unsern ganzen Welttheil verbreitete, wenn ihr nichts widerstanden hat, und alles was aus den Trümmern allmählich aufsteht sich in einer neuen Gestalt erhebt: sollen wir glauben, daß wenn nur unser altes Gebäude noch ohne alle Veränderungen bestanden hätte, wir würden verschont geblieben sein? glauben, daß wir auch für die Zukunft nicht sicherer und anständiger wohnen könnten als wenn es ganz nach den alten Umrissen wieder errichtet würde? Wie widersprechend allem was wir vor Augen sehen! wie zuwider gewiß

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auch jedem nicht ganz verblendeten Verstand, jedem nicht ganz in Einseitigkeit verhärteten Gefühl! War lieh ehe sollten die Ereignisse der neuesten Zeit uns auf den Verdacht führen, ob wir nicht schon zu lange alles | gelassen hatten in seiner väterlichen Gestalt, ob nicht gar vielerseits bei uns das Aeußere überlebt hatte sein Inneres! eher sollten auch wir uns vorbereiten darauf, daß von jenem alten und seiner Zeit treflichen Gebäude bald kein Stein wird auf dem andern gelassen werden; wir sollten uns hüten, daß wir nicht etwa uns zum Verderben über sein beschiedenes Zeitmaaß hinaus festhalten wollen was nur ehedem ein Seegen sein konnte. Gewiß, meine Freunde, liegt in dieser Einsicht, je mehr sie wohl begründet ist, um desto weniger eine Undankbarkeit gegen die Ordnungen und Geseze der früheren Zeit. Diese wollen wir fern von uns halten, wir wollen eingestehen, daß wir weise und gut sind geführt worden, und wir können es beweisen durch die bewunderungswürdigen Werke und Thaten die aus jenen Ordnungen hervorgegangen sind. Aber wenn wir sehen, daß sie jezt mit der Blüthe zugleich, welche sie hervorgetrieben hatten abgestorben sind: so geschehe auch das ohne Klagen und übelgegründeten Mißmuth. Laßt uns nicht nach einem zu beschränkten Maaßstabe das Dasein eines Volkes abmessen, und nicht, indem wir nur mit dem vorigen blühenden Zustande die gegenwärtige Zerrüttung vergleichen, uns der Furcht wegen der Zukunft überlassen! Ein Volk ist ein ausdauerndes Gewächs in dem Garten Gottes, es überlebt manchen traurigen Winter, der es seiner Zierden beraubt, und oft wiederholt es seine Blüthen und Früchte. Und sehet ob uns nicht das Leben eines jeden Menschen etwas ähnliches | zeigt von dem was wir jezt im Großen erleiden. Wenn die Blüthe der Kindheit sich am schönsten aufgethan hatte, folgt nicht gewöhnlich darauf eine Zeit der Trägheit, der Erschlaffung? aber vergeblicherweise beunruhigten wir uns darüber, denn es war die Zeit wo körperlich und geistig die schönere Entwiklung des Jünglinges sich vorbereitete. Und wenn der Jüngling geblüht hat314, unterbricht nicht diese schöne Erscheinung eine Zeit, wo er unsicher und schwankend in der Welt auftritt, nicht recht zu wissen scheinend wie er sein Leben gestalten und in die mannigfachen Verhältnisse der Welt eingreifen soll, manches Gute vielleicht vergeblich versuchend und manchem gehaltlosen sich getäuscht hingebend? Aber mit Unrecht würden wir deshalb besorgen, jene Blüthe sei taub gewesen und falle nun fruchtlos ab; vielmehr wird in diesem unsdieinbaren und bedenklichen Zustande der Grund gelegt zu der Festigkeit des Urtheils und

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zu den sicheren Kraftäußerungen des Mannes. So tritt auch in den längeren geschichtlichen Lebenslauf eines Volkes leicht zwischen jede frühere und spätere Blüthe eine Zeit der Verwirrung und der Gefahr, die jedoch nur bestimmt ist zu einem vollendeteren Zustande den Uebergang zu bilden. Damit sie uns aber hiezu auch wirklich gereiche, so l a ß t u n s auch ja nicht eben durch jene v e r f e h l t e A n h ä n g l i c h k e i t an das V e r g a n g e n e z u r ü k g e h a l t e n werden d a s j e n i g e n i c h t g e r n und w i l l i g zu t h u n , w a s der | g e g e n w ä r t i g e Z u s t a n d der D i n g e v o n uns f o d e r t. Laßt mich nur Eines erwähnen, das gewiß Jedem jezt am Herzen liegen muß. Unser bisheriger Zustand zeichnete sich aus durch eine große Ungleichheit der einzelnen Theile und Mitglieder des Staates21®. Mit Unrecht dachten wir dabei nur an den Unterschied der höheren Stände von den niederen; es war vielmehr so in allen Ständen, von Lasten und Obliegenheiten war der Eine befreit die ein Anderer ihm ganz ähnlicher zu tragen hatte, mit Freiheiten und Begünstigungen der Eine versehen, welche Andern aus seiner Ordnung fehlten. Nicht als ob jemals die Willkühr Lasten aufgelegt oder den Einzelnen Begünstigungen ertheilt hätte zum Nachtheil der Uebrigen, wenigstens nicht seitdem wir in die Reihe der angesehenen und gebildeten Völker eingetreten waren, aber durch alte Gewohnheiten aus den frühesten Zeiten her bestanden diese Unterschiede. Gewiß kann es niemand Unrecht finden, wenn in dem gewöhnlichen Lauf der Dinge ein Jeder behält und vertheidiget was er besizt, ohne sich an die Einzelnen zu kehren, welche, sei es nun aus Eifersucht gegen einzelne Vorrechte oder aus guter Meinung daß es so heilsamer wäre, auf ausgleichende Neuerungen dringen wollten, und mit Unrecht würden wir es bloß den Verblendungen des Eigennuzes zusdireiben, wenn Viele dasjenige was für sie vortheilhaft war auch als nüzlidi für den Staat ansahen und darstellten. Anders freilich wird es, wenn der Widerwille gegen diese Ungleich | heiten und Vorrechte fast allgemein geworden ist, wenn traurige Erfahrungen endlich nicht unzweideutig die nachtheiligen Folgen derselben und der davon abhängigen Einrichtungen ins Licht sezen, wenn bei der Nothwendigkeit einer allgemeinen Erneuerung nicht nur einzelne Stimmen die sich aus dem Volk erheben, sondern auch der Verstand der an der Spize der Verwaltung steht auf diese Ungleichheiten und Vorrechte als auf das größte Hinderniß einer vollständigen und gedeihlichen Wieder-

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geburt hinweiset. Aber auch dann, meine Freunde, laßt uns nicht voreilig sein in gehässigen Beschuldigungen, wenn Viele noch wünschen, oder auch alles was in ihren Kräften steht anwenden, um die Nothwendigkeit solcher Aenderungen zu umgehen, nicht unbrüderlich alles der härtesten Selbstsucht Schuld geben, welche um nur die eigenen Vorzüge ungekränkt zu erhalten sich gewaltsam stemmt gegen jeden Versuch die Wohlfahrt des Ganzen wiederherzustellen und fester zu gründen. Bedenken wir vielmehr, wie stark überall die Anhänglichkeit an das Alte wirkt, wie viel kräftiger sie noch in denen sein muß, denen es mit seinen wohlthätigen Einflüssen so viel näher stand; und schreiben lieber alles auf die Rechnung von dieser21". Bedenken wir wie was den Einen nur als ein Erzeugniß finsterer Zeiten der gegenwärtigen und künftigen unwürdig erscheint, den Andern dagegen sich darstellt unter der heiligen Gestalt des alten Rechtes, als ein Denkmal von der Weisheit der Väter, gesdiäzt durdi die Erfahrung von Jahrhunderten während deren das Ganze sich wol | befand bei diesen Anstalten, durch die stille schweigende Billigung der weisesten Fürsten und Könige welche dies alles nicht nur so bestehen ließen, sondern sich dieser Einrichtungen vortreflich zu bedienen wußten in der weisesten und ruhmvollsten Regierung. Allein auch indem wir der Abgeneigtheit gegen Aenderungen auf diesem Gebiet einen solchen ohnstreitig edleren Ursprung zuschreiben, müssen wir sie doch für nicht minder gefährlich erklären. Es ist ein Uebel welches uns Allen droht, Jeder wird irgend etwas dieser Art haftend finden an seiner Stelle in der bürgerlichen Gesellschaft, und vielleicht nur zu geneigt sein sich das seinige vorbehalten zu wollen indem er Aufopferungen fordert von Andern. O laßt uns ja nicht den Unterschied der Zeiten übersehend uns desjenigen weigern, was die gegenwärtigen dringend von uns fodern, sondern gern und willig bringe Jeder dar was er aus der Fülle des Ganzen empfangen hat, damit alles übereinstimmend könne umgebildet werden zu dem neuen Gebäude dessen wir bedürfen. Eben bei unserer innigen Verehrung gegen die Weisheit und Größe unserer früheren Zeit möchte ich uns beschwören; denn diese legt uns ja die Pflicht auf zu sorgen, daß nicht was wir so hodi achten unverschuldet Verderben erzeuge indem wir es unnatürlich nöthigen sich selbst zu überleben. Eben bei der Heiligkeit des Rechtes möchte ich uns beschwören der Welt das Beispiel zu zeigen, wie am würdigsten das Recht sidi bildet durch die Uebereinstimmung Aller als die natürlichste Wirkung des vereinigten Verstandes und der vereinten | Kräfte, nicht immer nur

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aus dem ermüdenden Streit roher Gewalten. Wenn wir von innerlichen Zwistigkeiten beherrscht den günstigen Zeitpunkt verabsäumen den eben diese allgemeine Zerrüttung uns darbietet um uns auf eine neue Stuffe der Vollkommenheit zu erheben und für eine lange Zukunft hinaus ein besseres Dasein zu begründen: dann gewiß droht uns ein ärgerer Verlust als der schon erlittene, dann droht uns eine völlige Zerstörung, und wir gleichen ganz dem Bilde, welches unser Text uns darbietet. Daß kein Stein auf dem andern bleiben sollte an dem Tempel der damals stand, das konnte der Erlöser mit Ruhe ansehn, denn es konnte gar wol bestehen mit der gänzlichen Erneuerung seines Volkes die er herbeiführen wollte, und bei der es eines solchen Tempels nicht bedurfte. So können auch wir mit Ruhe zerfallen sehn, was Macht und Weisheit einer früheren Zeit für jene Zeit gebauet und erhalten hatte. Aber daß seine Zeitgenossen in Verstoktheit des Herzens die Zeichen jener Zeit nicht erkannten217, daß sie mit unverständigem Eifer an Sazungen hielten, die ihre rechte Bedeutung verloren hatten und in denen kein Heil mehr zu finden war, das erregte mehr als einmal seinen Unwillen; und daß sie, wie oft auch und laut von ihm aufgefordert und belehrt nicht bedenken wollten was zu ihrem Frieden diente218, das brachte ihn zum Weinen über die heilige Stadt seines Volkes und zu der in jedem ähnlichen Fall gewiß nur zu sicher erfüllt werdenden Weissagung, Euer Haus soll euch wüste gelassen werden219. | II. Wenn wir aber so auf der einen Seite die Vergänglichkeit aller menschlichen Dinge durch die That selbst auch in dem anerkennen was sich unter uns früherhin großes und vortrefliches gebildet hat; so laßt uns auf der andern Seite auch d a s b l e i b e n d e u n d u n v e r g ä n g l i c h e d a r i n v e r e h r e n , indem wir es uns durch nichts in der Welt entreißen lassen, und es in jeder künftigen Gestaltung unserer Angelegenheiten immer schöner und vollkommner darstellen. Denn so gewiß der König an den uns der heutige Tag besonders erinnert, und den wir gewohnt sind als den Mittelpunkt der Größe in der bisherigen Geschichte unseres Volkes anzusehn, so gewiß er ein großer König war und das Gebäude des Staates, welches er aufführte, der Geist in dem er es verwaltete, das Gepräge der Größe trug, so gewiß war auch Gutes darin, was bleibend sein muß und was wir nicht dürfen untergehen lassen. Und wer darf an jener Größe zweifeln der die schnellen Fortschritte in dem wahren Wohlergehen unseres Vaterlandes in sein Gedächtniß ruft, der sich erinnert wie ein

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fast allgemeiner, nicht um der Gewalt zu fröhnen erheuchelter, sondern freiwillig sich äußernder auch auswärtiger Beifall fast allen wesentlichen Einrichtungen unserer Verfassung folgte, wie viele davon ein Muster wurden für andere Staaten Deutschlands, nicht ein gewaltsam aufgedrungenes, sondern ein frei mit Ueberzeugung angenommenes. Solche Werkzeuge können nur da entstehen, wo nicht nur mit einer richtigen Kenntniß und Benuzung der Zeitumstände gehandelt | wird, sondern auch dem Geist und der wahren Bestimmung des Volkes gemäß. Jenes ist dasjenige, wodurch menschliche Einrichtungen und Werke für den Augenblikk gelingen und schnelle Wirkungen hervorbringen aber wodurch sie auch ihre Vergänglichkeit schon in sich tragen; dieses dasjenige wodurch sie sich dauernd erhalten, um deswillen sie geliebt und willig befolgt werden. Wenn wir also jenes in dem Maaß Preis geben als sich die Umstände auf welche sich Einzelnes bezog in unsern Gesezen und Ordnungen wesentlich geändert haben: so laßt uns dagegen auch dieses mit der größten Anstrengung fest halten, bedenkend daß jede menschliche Einrichtung inwiefern sie den Geist eines Volkes wesentlich und unverfälscht ausspricht, insofern eben so sehr ein göttliches Gesez und eine Offenbarung göttlicher Macht und Herrlichkeit ist wie jenes Gesez und jene Ordnungen denen das Volk des alten Bundes diesen Namen gab. Denn Gott ist es ja allein und unmittelbar der jedem Volk seinen bestimmten Beruf auf Erden anweiset, seinen besonderen Geist ihm einflößt um sich so durch jedes auf eine eigenthümliche Weise zu verherrlichen. O warlich es giebt keinen sträflicheren Frevel, keine verwerflichere Hintansezung göttlicher Ordnungen, keine hofnungslosere Herabwürdigung, als wenn ein Volk thörichter weise mit dem Vergänglichen zugleich auch das Bleibende wegwirft und entweder leichtsinnig verführt oder feigherzig erschrekt freiwillig sich in eine fremde Gestalt hineindrängt. Vielmehr dadurch laßt uns die entschlafenen Väter und Helden des Landes, dadurch | laßt uns die Geschichte und die Sazungen der Vergangenheit ehren, daß an den Geist an das innere Wesen derselben jede folgende Umbildung sich anschließe, und wir eben dadurch Eines mit ihnen bleiben und uns wahrhaft als ihre Nachkommen und Zöglinge erweisen. Wenn es wahr ist, wessen wir uns vorher erinnerten, daß jedes Volk mehrere Zeiten der Blüthe und des Fruchttragens durchlebt: so ist doch jede folgende aus der gleichen Natur desselben Stammes hervorgegangen der vorigen ähnlich, und es ist nur Ein und dasselbe Werk Gottes welches gefördert werden soll durch die ganze Entwiklung seines Daseins. Eben so sah auch

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der Erlöser, wenn gleich von dem Verfall der bestehenden Verfassung und von der Notwendigkeit eine neue zu gründen überzeugt, doch zugleich auch von dieser Seite das Gesez seines Volkes an, mehrmals erklärend er sei nicht gekommen es aufzulösen sondern es zu erfüllen220. Und er hat es auch erfüllt und zu seiner Vollendung gebracht. Denn da seine Abzwekkung war jene Gemeinschaft deren Mittelpunkt die Verehrung des Höchsten ist vorzubereiten, und die wesentlichen Züge derselben allmählig zu entwikkeln: so ist es zu seiner Vollendung gelangt, indem in dem Gebiet und durch den Dienst desselben die Gemeine Jesu gestiftet und ans Licht geboren ward; und die dies nicht als seinen Zwekk und seine Vollendung anerkennen wollten, weiheten sich dadurch selbst unvermeidlichem Untergang. Das sei also unsere Verehrung gegen alles Große im Bezirk unserer eigenen Vergangenheit, daß wir | mit andächtigem Sinn immer richtiger suchen das wesentliche darin zu scheiden von dem zufälligen, das was nur die Wirkung einer gewissen Zeit war von dem worin sich der Geist der Menschen und des Volkes selbst abspiegelt, daß wir dem Triebe unseres Herzens welches uns immer zu dem lezten in Liebe und Gehorsam hinziehen wird redlich folgen, damit wir das köstliche Erbtheil ruhmwürdiger Vorfahren getreulich bewahren, damit die Absicht Gottes mit unserm gemeinsamen Dasein immer heller ins Licht trete und sich immer herrlicher entwikle. Und wenn wir auf das Leben und die Thaten jenes großen Königes und der2203 glorwürdigsten seiner Ahnherrn sehen, wieviel trefliches wird uns nicht in die Augen leuchten, was wir nur seinem innern Wesen nach festhalten, nur wie es jedesmal die Zeit erfodert immer weiter bilden dürfen um sicher unserer Vorfahren würdig und unserer Bestimmung treu zu bleiben. Zuerst wie deutlich drükt sich nicht überall das Bestreben aus A r b e i t s a m k e i t u n d S p a r s a m k e i t zu herrschenden Tugenden unseres Volkes zu machen. Wie durch die Natur so auch durch die Veranstaltungen unserer Beherrscher sind wir immer vorzüglich gewiesen worden an unsern im Ganzen nicht eben zu reichlich begabten Boden, an ihm unsere bildende Kraft auszuüben daß er fruchtbarer werde und bewohnbarer. Wie haben sie sich immer dieser inneren Eroberungen vorzüglich beflissen, und auch221 nach jedem Zuwachs an äußerer Macht sie nicht etwa ruhen gelassen sondern mit erneuerten Kräften weiter getrie | ben! Wie wolgemeint und heilsam waren dabei die Ermunterungen, welche sie allen Künsten des Lebens gewährten, um solche Fortschritte zu begünstigen, daß wir in

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Absicht auf alle würdigen Bedürfnisse in einem gewissen Maaß selbstständig sein könnten und unabhängig, und unser Verkehr mit andern Völkern dadurch immer freier würde und edler. Wie wohlthätig das Beispiel von Mäßigung im Aufwände, von persönlicher Sparsamkeit und Genügsamkeit, um das richtige Gefühl immer lebendig zu erhalten daß unser gemeinsamer Wolstand sidi noch nicht dem Ueberfluß nähern, daß wir ihn noch nicht in unwesentlichen Dingen verschwenden sondern immer wieder zur Vermehrung unserer Kräfte anlegen müßten. Wenn wir nun an dieser väterlichen Weise und an jenem großen Beruf festhalten, wenn wir dabei thun was die jezigen Zeiten erfodern, da jezt alle bei dem wichtigen Geschäfte des Akkerbaues mitwirkenden Kräfte richtiger geschäzt werden, da Einsicht und Kunst, wenn man ihnen freien Spielraum vergönnt sich von allen Seiten zur Veredlung desselben vereinigen werden; o dann werden wir ja aufs Würdigste die Vorzeit ehren, dann wird man ja ihre Art und ihren Geist überall an uns wiedererkennen, und fern von üppiger Verweichlichung wird auch der alte Verstand und der alte Muth sich immer wieder erneuern können unter uns. Nicht minder aber erfreuten wir uns schon in jenen früheren glänzenden Zeiten des Ruhmes, daß überall bei uns in den Verhältnissen zwischen Obrigkeit und Untergebenen r e c h t l i c h e s W e s e n u n d w a h r e | B i e d e r k e i t fast mehr als irgend anders wo herrschte in Staaten von gleichem Umfang. Die parteiische Beugung des Rechtes, die freche Unterdrükkung des Geringeren, die verrätherische Zersplitterung öffentlicher Güter, die Ehrlosigkeit der Bestechung und des Unterschleifes, wo haben wol, ja wir dürfen es zuversichtlich fragen, wo haben diese verderblichen Uebel weniger geherrscht als bei uns? wo ist mehr Vertrauen gewesen theils unmittelbar in die Rechtschaffenheit der Mitbürger, theils in die Güte des Rechtsganges und der Geseze welche kein Unrecht auch nicht des Höchsten gegen den Niedrigsten würden unentdekt und ungeahnet lassen? so daß wenn auch wir noch etwas in dieser Hinsicht zu klagen fanden dies nur klein war und unbedeutend. Wolan denn laßt uns dieselbe Gesinnung auch jezt bewähren bei allem was es wird geben zu unternehmen anzuordnen sich gefallen zu lassen, daß überall feste Redlichkeit herrsche und wahrer Gemeinsinn, daß nicht ehrsüchtige List oder eigennüzige Ränke uns das Geschäft unserer bürgerlichen Wiedergeburt verunreinigen, daß sich keiner täusche wenn er den Andern in dieser großen Sache von reinem vaterländischen Eifer beseelt glaubt, daß so der Untergebene treu und redlich seiner Obrig-

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keit sich vertraue, und diese auch offen und unverstellt fodre, anordne, auflege was nothwendig ist zum gemeinen Wohl. Dann werden wir auch so der Gemüthsart unseres Volkes getreu bleiben und durch alle nothwendige Veränderungen wird sie sich immer mehr verherrlichen. Vergessen wir ferner nicht wie sehr als ein Grund | saz schon in der Regierung jenes großen Königes hervorragte, d a ß a l l e B ü r g e r g l e i c h s e i n m ü ß t e n v o r d e m G e s e z , wie laut er es sagte daß jeder Einzelne ihm nur werth wäre nach dem Maaß als er gehorsam und treu beitrüge durch seine Thätigkeit zum Wohl des Ganzen. Denken wir zurükk, wie sein Beispiel allmählich auch die öffentliche Meinung immer stärker nadi sich zog, wie die scharfe Trennung der verschiedenen Stände von einander die vorher noch obgewaltet hatte anfing sich zu verlieren, wie je länger je mehr der Mann ohne inneren Werth außer Stand gesezt wurde troz der äußeren Zeichen eines hohen Ranges sich geltend zu machen und auf eine Art zu erheben die ihm nicht gebührte, und wie dagegen zwanglosere, vertraulichere Annäherung möglich wurde zwischen Personen aus den verschiedensten Ständen, welche sich gegenseitige Achtung abzugewinnen wußten und sich anzogen durch ihre Talente222 oder ihre Denkungsart. Wenn wir es so weit gebracht haben zu einer Zeit wo die Gesellschaft noch weit mehreren Vorurtheilen hingegeben war, wo der äußere Glanz aller Art noch weit stärker blendete: was kann uns mehr obliegen, was mehr übereinstimmen mit jenem Geiste als wenn wir weiter gehend auf jenem Wege, in gleichem Verhältniß mit den Hülfsmitteln die sich uns nun darbieten, und aus Kraft derselbigen Gesinnung immer mehr das Aeußere auf seinen wahren Werth einschränken, immer mehr die Schäzung des Inneren geltend machen in der Gesellschaft, und von den Umständen geleitet solche Einrichtungen unter uns treffen und begünstigen | wodurch ein Jeder in Stand gesezt werde seinen ganzen innern Werth darzulegen durch nüzliche Thätigkeit jeder Art damit er anerkannt werde von der Gesellschaft? Warlich besser werden wir durch solche Fortschritte, und sollte auch darüber von dem Aeußeren eines noch älteren Gebäudes kein Stein auf dem andern bleiben, jene gepriesene Zeit und ihren Helden verehren, als wenn wir träge und nachläßig auf derselben Stufe stehen blieben auf welcher er uns verlassen hat. Eben so laßt uns fest halten an dem wahren schon in jenen Zeiten von uns her so laut verkündigten Grundsaz, daß vom Irrthum nie etwas Gutes noch weniger Besseres zu erwarten ist als von der

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Wahrheit, daß Vorurtheile und Aberglauben nicht die Mittel sein können um die Menschen bei dem was recht und heilsam ist festzuhalten und weiter im Guten zu führen, laßt uns fortfahren daher in dem r ü h m l i c h e n B e s t r e b e n r i c h t i g e E i n s i c h t e n in alles was dem Menschen werth und wichtig sein muß so weit als möglich z u v e r b r e i t e n , den Sinn für Wahrheit zu erwekken, das Vermögen der Erkenntniß zu stärken und zu beleben. Laßt uns ferner wakker sein und muthig, Jeder nachdem Gott ihm das Licht der Wahrheit angezündet hat hineinleuchtend in die dunklen Schlupfwinkel der Unwissenheit und des immer unheiligen Betruges. Und wenn, wie alles des Mißbrauchs fähig ist, und das Böse und Verkehrte sich immer mit einzuschleichen sucht unter der Verkleidung des Guten, audi hiermit Mißbrauch ist getrieben worden unter uns; wenn frevelnde | Gleichgültigkeit gegen frommen forschenden Ernst, wenn seichte Unfähigkeit das Gute und Heilige zu leiten22® sich nicht selten angemaßt haben zu belehren und Belehrungen zu leiten, und wir uns so zu entsündigen haben von Vergehungen einer früheren Zeit und wieder gut zu machen erlittenen Schaden: o so laßt uns nur um so mehr denselben Ernst und Eifer kehren gegen die Blinden welche der Blinden Leiter sein wollen224 und wie es doch überall leicht sein muß aufdekken ihren Mangel an Beruf, laßt uns nur zugleich unter uns immer mehr stärken und befestigen jedes fromme Gefühl, jede dem Menschen eingepflanzte heilige Ehrfurcht, damit Jeder bis er selbst auch genugsam erleuchtet ist habe was ihn schüzen könne gegen die Einwirkungen eines leichtsinnigen Unverstandes. Endlich aber, was uns hier am nächsten liegt, und uns fast als das größte erscheinen muß, laßt uns ja heilig bewahren und durch nichts in der Welt uns jemals entrissen werden die in jenen Zeiten so oft als ein Grundgesez unseres Vaterlandes ausgesprochene köstliche F r e i h e i t d e s G l a u b e n s u n d d e s G e w i s s e n s . O e s war warlich nicht, wie Manche wol geglaubt haben, nur Gleichgültigkeit gegen jede bestehende Art gemeinsamer Gottesverehrung weshalb jener große König so leicht und so unbeschränkt diese Freiheit bewilligte in seinem Reich; es war der Wunsch Unterthanen zu haben welche würdig wären beherrscht zu werden; es war eine laute und edle Anerkennung der Grenzen seiner Macht, es war ein seinem liebevollen Gemüth einwohnendes Gefühl davon, daß alles | was zur unmittelbaren Beschäftigung der Seele mit Gott gehört ein unzugängliches Heiligthum sein müsse für jede Willkühr und jede Gewalt. Wem audi irgend Frömmigkeit einen Werth hat als göttliche Kraft und

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Tugend, der muß ja fühlen daß der tiefste Verstand keinen kräftigeren Schuz für sie aussinnen könnte als diese Freiheit, indem sie225 sich nur da rein erhalten kann wo Niemand durch Geseze und öffentliche Einrichtungen muß in Versuchung geführt werden zu heucheln. Wem irgend die Liebe werth ist als die Quelle aller Tugenden als das vollkommene Band aller Kräfte, der muß ja einsehn daß es keine innigere und umfassendere Aeußerung, keine kräftigere Sicherstellung derselben giebt als dieses brüderliche Anerkennen dessen was einem Jedem das Heiligste ist. Darum war auch soviel Liebe zu dem Ganzen herrschend welches diese edle Freiheit sicherte, eine Liebe die noch in uns Allen lebt und am mächtigsten wieder erwachen wird wenn jemals jener Freiheit Gefahr drohen sollte. Denn ganz herabgewürdiget ist der Mensch dann, wenn ihm auch der Werth der Ueberzeugungen und der Empfindungen von göttlichen Dingen die sich in ihm bilden durch äußere Gewalt abgeläugnet und der segensreiche Umtausch derselben gehemmt wird, so daß er sich muß gebieten und anweisen lassen wo er Wahrheit finden soll und sittliche Kraft, ganz überwunden ist er dann, wenn er sich so anschmieden läßt an ein fremdes Joch daß sich auch das Herz nicht mehr in der ihm natürlichen Richtung aufschwingen darf zum Himmel, ganz arm und ausgesogen ist er dann, wenn er auch unvermögend | gemacht wird solche Nahrung des Herzens, solche Stärkung des Geistes und Befestigung im Guten sich zu verschaffen und in solcher Gesellschaft zu genießen wie er sie von jeher bewährt und heilsam gefunden hat. Sehet da, meine Freunde, die alten sichern Grundlagen unseres Wohlergehens die zu tief liegen und gleichsam Wurzel schlagen bei uns als daß die äußere Verheerung sie sollte zerstört haben. Mögen wir nur recht bedenken wie nothwendig sie zu unserm Frieden dienen, mögen wir sie nur immer ansehn als das heiligste was uns anvertraut ist um es zu pflegen und unvergänglich zu bewahren, mögen wir nur auf ihnen das neue Gebäude errichten in welchem wir wohnen werden: dann werden wir nicht Ursache haben zu klagen daß das alte den Stürmen der Zeit gewichen ist, dann werden wir der gepriesenen Vorfahren nicht unwürdig und ihnen nicht unähnlich sein bei aller äußeren Verschiedenheit unseres Zustandes; mit der Ruhe des Erlösers werden wir dem verschwundenen nach und dem kommenden entgegensehen, und indem sich ein neues Wohlergehen unter uns erhebt als Bürger werden wir uns auch zugleich bauen als seine Gemeine und Ihn preisen und verherrlichen als das Volk seines Eigenthums22' welches ihm geweiht bleibt bis ans Ende der Tage.

Predigten von F. Schleiermacher

D.G.G.D. u. O.O. Prof. an der Universität zu Berlin, Mitglied der Königl. Akademie der Wissenschaften und evang. ref. Prediger an der Dreifaltigkeitskirche.

Dritte Sammlung.

Berlin 1814, im Verlage der Realschulbuchhandlung.

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VI. Der wankelmüthige Sinn der Menschen als Quelle der Leiden des Erlösers. Wir haben in dieser Zeit schon an mehreren Beispielen gesehen, daß dasjenige, was eigentlich als das Leiden des Erlösers zu betrachten ist, nemlidi der Schmerz über die Sünde und über den Widerstand, welchen sie seinem göttlichen Wirken entgegensezte, nicht erst mit der Zeit beginnt, welche wir im engeren Sinne mit dem Namen seiner Leidenszeit bezeichnen; sondern ihn von Anfang seines irdischen und vorzüglich seines öffentlichen Lebens an immer begleitet hat. Dasselbige wollen wir auch heute noch an denen Begebenheiten näher erwägen, welche dem eigentlichen Leiden des Erlösers zunächst vorangingen. Soll nun eine Betrachtung dieser Art uns recht heilsam werden, so haben wir dabei eine zwiefache Rüksicht zu nehmen. Auf der einen Seite nemlich sind wir als Glieder an dem gottgeweiheten | Leibe der Kirche, woran Christus das Haupt ist227, berufen und auserwählt nach dem Maaße das Gott einem jeden ertheilt hat, Antheil zu nehmen an dem Werke Christi und es weiter zu führen; und so muß dann bei demselben Kriege gegen die Sünde auch derselbe Widerstand, den er erfuhr, uns begegnen, und der Schmerz Christi auch der unsrige werden; und wie Er sich eben hiebei in den Tagen seines irdischen Lebens erwiesen hat, so ist er das leuchtende Vorbild uns zur Nachahmung aufgestellt. Auf der andern Seite sind wir eingeladen, wie alle Mühseligen und Beladenen228, die Früchte seiner Erlösung zu genießen, und wir genießen sie in dem demüthigen Gefühl, daß wie sehr audi seine Kraft schon in uns Sdiwachen mächtig geworden ist22", die Sünde dennodi niemals ganz in uns ausgerottet wird. Was aber davon in uns übrig ist, das widersteht auch seinem Werk, das ist dieselbe Ursache des Leidens für ihn und die

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Seinigen; und so müssen dann diejenigen, welche in den Tagen seines irdischen Lebens ihm Schmerzen machten, uns vor Augen stehen als ein warnendes und schrekendes Beispiel, damit wir nicht die Hände in den Schooß legen und in uns gewähren lassen was ihnen ähnlich ist, vielmehr ein heiliger Haß230 gegen das Böse sich immer mehr in uns entzünde, und eben dadurch dem göttlichen Geiste immer mehr Raum geschafft werde in uns und durch uns. Das ist also die Richtung, welche unsre christliche Betrachtung heute nehmen soll. | Text. Matth. 2 1 , 1 0 — 1 6 . Und als er zu Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und sprach, Wer ist der? Das Volk aber sprach, Das ist der Jesus, der Prophet von Nazareth aus Galiläa. Und Jesus ging zum Tempel Gottes hinein, und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer im Tempel, und stieß um der Wechsler Tische und die Stühle der Taubenkrämer. Und sprach zu ihnen, es stehet geschrieben: Mein Haus soll ein Bethaus heißen, ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht. Und es gingen zu ihm Blinde und Lahme in den Tempel und er heilete sie. D a aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten sahen die Wunder die er that, und die Kinder im Tempel Schrein und sagen Hosianna dem Sohne Davids, wurden sie entrüstet, und sprachen zu ihm, Hörest du auch was diese sagen? Jesus sprach zu ihnen, J a habt ihr nie gelesen aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du Lob zugerichtet?

Diese Worte zeigen uns den Erlöser bei dem lezten Eintritt in die Hauptstadt seines Volkes, auf dem höchsten Gipfel seines Ansehns unter den Menschen, und auf dem höchsten Grade seiner Wirksamkeit; Er heißt nicht mehr nur Jesus der Profet, sondern seine Jünger und ihnen nach das Volk, | und ihnen nach die Kinder im Tempel riefen ihm zu, Hosiannah dem Sohne David, mit welchem Namen eben der erwartete Erretter des Volkes bezeichnet wurde. Wir sehen ihn im Tempel mit gleichsam obrigkeitlicher Gewalt schalten, wie es außer den bestehenden Obern nur demjenigen zukam der eine neue und höhere Ordnung göttlicher Dinge zu stiften berufen war. Aber wie bald, m. Fr., wie unerwartet bald sehen wir die ganze Lage der Dinge sich ändern! wie leicht ist das ganze Volk, das ihm nur eben zujauchzte, von ihm abgewendet! wie bald fanden wir den Herrn, dem nur eben alles zu Gebote zu stehen schien, gefangen und gebunden in den Händen seiner Feinde! wie bald den der nur eben als der Sohn Davids, der da kommt im Namen des Herrn, war ausgerufen worden, dargestellt und angeklagt als einen Uebelthäter! Wenn

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VI. Quelle der Leiden des Erlösers

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wir nach der Ursach fragen, so kommt uns freilich auf der einen Seite der unglükliche Jünger entgegen, der ihn verrieth, auf der andern die nur durch die Furcht vor dem begeisterten Volk zurükgehaltene Feindschaft der Oberen: allein wie hätten sie es wagen dürfen Hand an ihn zu legen, wie hätten Feindschaft und Verrätherei sich ihm nahen dürfen, wäre jene Begeisterung des Volkes weniger flüchtig gewesen, wäre nicht der wankelmüthige Sinn des großen Haufens ihnen zu Statten gekommen. Und diesen erkannte der Erlöser gewiß auch schon damals, da noch alle ihm Palmen streuten, ihn als Erretter begrüßten; wir merken diesen Stachel in seinem Herzen durch | alle seine Reden durch, und auch auf den höchsten Gipfel seines Ansehens begleitete ihn das Leiden seiner Seele. Dies sei es also der w a n k e l m ü t h i g e Sinn der Menschen als Q u e l l e des L e i d e n s u n s e r e s E r l ö s e r s , worüber ich und zwar in der schon angedeuteten Ordnung reden will, so nemlich daß wir Z u e r s t darauf achten, wie unser Erlöser sich dabei beträgt, und wie also auch wir zu handeln haben, Z w e i t e n s aber die welche unserm Erlöser dieses Leiden bereiteten, uns zum warnenden Beispiel vorstellen. I. Ja m. a. Fr. wir können und dürfen es uns nicht läugnen, die Lage derer welche das Gute zu fördern trachten, welchen es Ernst ist an dem Werk der Erlösung weiter zu arbeiten, ist noch immer dieselbe wie die des Erlösers selbst. Sie sind ein kleines Häuflein, jeder Einzelne schon, noch mehr aber wo sie vereint wirken möchten, von Feinden und Verräthern umstellt; viel Bewunderung kommt ihnen auf der andern Seite entgegen, viel Begeisterung erregt ihr Muth, ihre Hingebung, ihre Standhaftigkeit, aber oft im entscheidendsten Augenblik wird diese Begeisterung nicht Stich halten, werden sie sich verlassen und auf sich selbst zurükgebracht sehen. Unter diesen Verhältnissen also, von diesem wankelmüthigen Sinn umgeben, w a s k ö n n e n w i r l e r n e n a u s dem B e t r a g e n u n s e r e s E r l ö s e r s ? | Z u e r s t ; E r kannte den Wankelmuth der Menge, und l i e ß s i c h daher d u r c h i h r e w o h l w o l l e n d e n Gem ü t h s b e w e g u n g e n n i c h t t ä u s c h e n . Wer von uns, m. Fr. würde nicht an des Erlösers Stelle, wenn ihm an dem Fest, welches viele Tausende aus allen Gegenden des Landes in Jerusalem versammelte, ein solcher allgemeiner Beifall der Menge entgegengekommen wäre, wenn sich von allen Seiten soviel Bereitwilligkeit offenbart hätte seine Hülfe anzunehmen, soviel Eifer sich seiner Führung anzuvertrauen: wer würde nicht die schmeichelhaftesten Hofnungen in sich

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ausgebildet haben, die kein Erfolg gerechtfertiget hätte; wer würde sich nicht haben zu Entwürfen verleiten lassen, die in keinem Verhältniß gestanden hätten zu den wirklich vorhandenen und in Thätigkeit zu sezenden Kräften! Weit war davon der Erlöser entfernt. Wenn wir auch nicht finden, daß er laut über den eigentlichen Gehalt der Ehrenbezeugungen des Volkes seinen Verdacht geäußert und sie von sich gewiesen hätte: alle seine Reden zwischen diesem glänzenden Augenblik und seiner Gefangennehmung, von denen uns die Evangelisten einen so großen Reichthum aufbewahrt haben, zeigen deutlich, wie richtig er seine Lage würdigte. Wie viele Winke darüber, daß dennoch das Volk ihn verwerfen und von sich weisen würde, wie viel offene und verdekte Warnungen an die welche verführten und sich verführen ließen, wieviel Vertröstungen darauf, daß alles Gute, was er den Menschen zugedacht, doch erst auf die künftigen Gesdilech | ter sich verbreiten würde! J a audi die vorübergehende ängstliche Furchtsamkeit seiner Jünger sah er deutlich und weissagete, die Heerde würde sich zerstreuen wenn der Hirte geschlagen wäre 231 . Daher nun ließ er sich auch nicht verleiten auf diese Aeußerungen der herbeiströmenden zujauchzenden Menge irgend einen ins weite gehenden Entwurf zu bauen, kein offner Krieg gegen diejenigen, welche zu ihrer eigenen Verdammniß und zum Verderben des Volkes auf dem Stuhl Mosis saßen, kein Versuch dem Reich der Wahrheit eine öffentliche äußere Gestalt zu geben, und diese an die Stelle des veralteten erstorbenen Priesterthums zu sezen; sondern nur alle Vorkehrungen um es in seiner verborgenen Gestalt durch die bevorstehenden Stürme glüklich hindurchzubringen. — O m. Fr. möchten wir das von dem Erlöser lernen! denn nichts ist bitterer als vereitelte Hofnungen und Anschläge für das Gute, von denen wir doch hinten nach gestehen müssen, sie wären nicht so wohlbegründet gewesen als wir glaubten, und wir könnten ihren unglüklichen Ausgang wol vorhergesehen haben. Wir werden es aber nur lernen, wenn wir unsern Eifer für das Reich Gottes rein halten von allem sträflichen Leichtsinn, und der tiefste Ernst überall in unserm Leben waltet! wir werden es nur lernen, wenn an unserm Urtheil über den G e m ü t s zustand der Menschen die Eitelkeit gar keinen Theil hat, sondern wir um ihn zu würdigen immer in die verborgensten Falten und in die frühere Geschichte unseres eignen Herzens sehen. Z w e i | t e n s ließ aber der E r l ö s e r die ihm g ü n s t i g e n wenn g l e i c h f l ü c h t i g e n G e m ü t h s b e w e g u n g e n des Volk e s k e i n e s w e g e s u n b e n u z t . Wenn wir voraussezen müs-

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sen, der welcher nicht nöthig hatte, daß ihm jemand sagte was in einem Menschen sei232, habe auch in diesen begeisterten Zurufungen die Menge f ü r das erkannt was sie war: wie wenig hat ihn dies Gefühl in seiner gewohnten Art zu handeln gestört! Er scheute sich auch jezt nicht, wenn er gleich wußte, bald werde dasselbe Volk, was ihm jezt zujauchzte, ihm eben so durch die That widersprechen, wie seine offenbaren Feinde ihm immer widersprachen, er unterließ doch auch jezt nicht zu verstehen zu geben, er sei wirklich derjenige, der da kommen solle; würden diese nicht reden, spricht er, nach einer andern Erzählung, so würden die Steine schreien233. Was er gern längst gethan hätte, die schreienden Mißbräuche aus dem Tempel schaffen, das Haus seines Vaters reinigen: er fühlte daß er es nun konnte, er fühlte, daß diese Bewegungen, wie flüchtig sie auch waren, doch in diesem Augenblik jeden Widerstand gegen sein gebieterisches Ansehn unmöglich machten; und ob er gleich wußte, in wenigen Tagen würde auch dies alles wieder in die alte Unordnung zurüksinken, er versäumte doch nichts, was der Augenblik gestattete, und was auch nur auf eine kurze Zeit bewirkt zu haben seiner würdig war und ein Ausdruk seines Berufs. Auch das vergängliche verschmähte er nicht als Vorandeutung des künftigen, und suchte so auch aus den | flüchtigen Regungen jeden Vortheil zu ziehen den sie wirklich darboten. — Wir andern, m. Fr. wie wir uns zu leicht forttragen lassen zu ausschweifenden Hofnungen, wenn wir die Menschen besser sehen als sie sind: so sind wir auch zu sehr geneigt die Flügel sinken zu lassen, wenn wir merken, daß ihre guten Bewegungen nur flüchtige und ungründliche Aufwallungen sind. Es ekelt uns vor ihrem Lobe, ihrer Verehrung, ihrer Anhänglichkeit, wenn wir erfahren, wie sie in andern Augenbliken dasselbe auch denjenigen geben, die uns die fremdartigsten sind, mit deren Ansicht und Handlungsweise wir im vollen Widerspruch stehn. Es vergeht uns alle Freude an ihren frommen Rührungen, an ihrer Theilnahme für das Gute, wenn uns vor Augen steht, wie bald das234 verweht wird, oder wie leicht dieselbe Beweglichkeit des Gemüths sich auch auf die entgegengesezte Seite wenden läßt. J a weil wir nur das wahrhaft Gute, wie es aus der reinen Quelle fließt, wahrhaft lieben und ehren: so möchten wir lieber gar nichts mit ihnen gemein haben, und fürchten uns nur unser Werk zu befleken, wenn wir solche Zustände unbefestigter Menschen auch nur als Werkzeuge und Mittel brauchen für das was wir suchen. Möchten wir doch hierin ganz genau den Fußtapfen des Erlösers folgen. Der heilige Unwille über das wankelmüthige Wesen der Men-

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sehen war auch ihm nicht fremd, auch er zählte sie255 nicht zu den seinigen: aber er trug kein Bedenken ihre Stimmung zu benuzen, um selbst vermittelst derselben etwas | Gutes zu bewirken. In den Menschen selbst läßt sich freilich in einem solchen Zustand flüchtiger Rührung nichts gründen, und nichts was aus demselben hervorgeht, hat einen großen Werth als i h r e That. Aber warum soll es nicht einen haben, insofern es die unsrige ist, die aber ohne sie nicht hätte können verrichtet werden? Wenn wir ihnen einen Beitrag, eine Mitwirkung abdringen können zu einer guten Sache, die ja deswegen nicht die ihrige wird und nicht schlechter, sollen wir es versäumen? Vielmehr laßt uns die unsichere und kurze Hülfe um so rascher benuzen, und laßt uns bedenken, daß auch das ein Pfund ist das uns Gott anvertrauet hat, eine Kraft die wir gebrauchen sollen, ein jeder wo er angestellt ist im Weinberge des Herrn, um damit zu leisten soviel wir können. — Und dies wird uns um so leichter werden, wenn wir D r i t t e n s auch darin dem Erlöser ähnlich werden, daß wir s e l b s t in d i e s e n f l ü c h t i g e n R e g u n g e n d o c h den edlen und göttlichen U r s p r u n g nicht v e r k e n n e n . Denn dies bemerken wir ganz deutlich aus seinem Betragen. Darum duldete er ja und ließ sich gefallen den Zuruf, welcher ausdrükte wie seine höhere Würde, wenn auch nur auf einen Augenblik, die Gemüther bewegte. Darum widersezte er sich ihnen nicht mit jener düstern Strenge, mit der ein anderer ihnen vielleicht gesagt haben würde, sie wären nicht würdig ihm dies zuzurufen. Sondern als die Hohenpriester und Aeltesten kamen, und ihn bedenklich frag | ten, hörest du wol was diese sagen? oder nach einem andern Evangelisten ihm zuriefen, strafe doch deine Jünger und wehre dem Volke" 8 : so that er weder das eine noch das andere, vielmehr erkannte er auch dies für etwas Gutes, für ein Lob, das Gott und ihm dargebracht wurde, indem er auf die Schrift verwies, welche sagt, aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir ein Lob bereitet; und für etwas nothwendiges erkannte er es an, wenn er nach einem andern Evangelisten ihnen antwortete, Warlich wenn diese schwiegen, würden die Steine schreien837. — Und können wir wol anders m. th. Freunde als mit dem Erlöser auch in solchen flüchtigen Aufregungen der Menschen den Geist Gottes erkennen? Niemand kann Jesum einen Herrn heißen, sagt der Apostel, denn nur durch den heiligen Geist238, und dies Wort dürfen wir weder drehn noch deuteln. Jeder Eindruk also, wenn audi flüchtig, den die Worte oder die Gestalt des Erlösers

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hervorbringen, der in einem wahrhaften Gefühl die Knie der Menschen in den Staub beugt vor Ihm, jede wenn auch nur in dem Augenblik selbst aufrichtige Bezeigung ihrer Verehrung gegen ihn, wodurch sie gleidisam seinen in der Kirche aufgeschlagenen Thron verherrlichen, jedes Grauen, das sie in ihrem Innern überfällt bei dem Gedanken, es könne einmal seine von ihnen selbst so wenig unterstüzte Herrschaft auch rund um sie her ein Ende nehmen, jede Dienstleistung, jeder Beitrag den sie mit Zustimmung ihres Herzens zu dem zollen, was wir als Diener | und Knechte unseres Herrn, also in seinem Namen unternehmen, es ist alles ein Werk des göttlidien Geistes. Und wir sollten es nicht ehren und anerkennen? Sind seiner Aeußerungen zu viele und zu mannigfaltige, daß wir leicht einige entbehren oder vernachläßigen dürfen? Wenn es uns auch mit Recht schmerzt, daß nicht jede Regung dieses Geistes in dem Herzen der Menschen durchgreift und es erneut und heiligt: sollen wir uns deshalb weniger auch seines leisesten Anklopfens an menschlichen Gemüthern, auch der ersten Spuren eines noch nicht fortdauernden eigenen Lebens in ihnen erfreuen? Sollte uns nicht das flüchtige dieser Augenblike weniger niederschlagen, als es uns doch erheben muß, daß es sich regt in dem Herzen der Menschen? Wenn wir auch nicht immer wagen zu weissagen, daß solche Regungen auch in der Zukunft Frucht bringen und einen Augenblik veranlassen werden, da die Menschen in sich gehn und an ihre Brust schlagen und fragen, Was sollen wir thun daß wir selig werden"'" 0 ? — sollen wir nicht das rein genießen was unmittelbar in der Sache selbst liegt? Denn was beweiset wol mehr, wie tief der Keim des göttlichen in der menschlichen Natur liegt und eigentlich zum Wesen derselben gehört, und was kann uns daher rührender und erhabener sein, als eben die abgedrungenen frommen Anwandlungen verstokter oder leichtsinniger Menschen? Möchten wir alle so vom Erlöser lernen den natürlichen schmerzhaften Unwillen über den Wan | kelmuth der Menschen dadurch bändigen, daß wir alle Wirkungen Gottes zu erforschen bestrebt, und auf jedes gute Werk, das uns vorhanden kommt zu thun, mit ganzer Seele gerichtet sind. — Werden wir Ihm aber auch dann ganz ähnlich sein? Ihm, in welchem von dieser Gebrechlichkeit keine Spur war noch sein konnte? Erinnert euch nur, wie oft habt ihr gute und dem Grunde nach auch fromme Menschen dabei ergriffen, daß sie ihren wichtigsten Ueberzeugungen und Entschlüssen den Abschied gegeben; schaut um euch, wieviel Gutes bleibt liegen das kräftig und mit schö-

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nem Eifer begonnen ward: und ihr werdet nicht verkennen daß auch die Besseren nicht ganz frei sind von dieser verderblichen Schwachheit. Darum nun laßt uns II. D i e i n n e r e B e s c h a f f e n h e i t d e r e r , d i e d e n E r l ö s e r so w a n k e l m ü t h i g v e r l i e ß e n , und die Verantwortung, die sie sich zuzogen, u n s z u m w a r n e n d e n B e i spiel vorhalten. Wir haben freilich nicht Ursache vorauszusezen, daß viele von ebendenselben, welche den Einzug des Erlösers verherrlicht, die Hofnung des ganzen Volks laut auf ihn gewiesen, und seine kräftigen Maaßregeln im Tempel als seine zahlreiche Begleitung unterstüzt hatten, wenige Tage darauf, das kreuzige, kreuzige ihn angestimmt hätten; daß dieselben, die ihn so zuversichtlich als den Messias ausriefen, hernach seinen Tod als eines verworfenen Betrügers gefordert hätten; oder gar, daß ihnen die Hofnung | auf ein neues und besseres Reich Gottes überhaupt ganz verschwunden wäre, und sie eben deshalb den lieber ganz vertilgt gesehen hätten, auf dem diese Hofnung mit so entschiedener Vorliebe ruhte. Nein, so ganz wenden sich die Gesinnungen der Menschen selten um, und zumal nicht vom Guten und Wahren zurük zum Verkehrten und Bösen! So geht es auch gewiß keinem von uns, daß wir auf irgend eine Weise darüber könnten zweifelhaft gemacht werden, daß Christus der Grundstein unsers Glaubens und unserer Seligkeit sei, sein Bild und sein Wort das allgemeine Richtmaaß alles unseres Thuns. Aber eben wie jene wol nicht so geschwiegen hätten, daß wir nicht begreifen können wo die große Schaar der Bewunderer und Anhänger hin verschwunden sei, sondern ein großer und ernster Kampf sich würde erhoben haben, wenn sie nicht bedenklich geworden wären, ob wol auch Jesum zu unterstüzen wirklich das Mittel sei um jenes bessere Reich Gottes herbeizuführen, ob sie nicht ihre Hofnungen auf einen andern Zeitpunkt hinaussezen müßten: so sind auch wir nicht selten wankelmüthig im Einzelnen, und was wir mit der festesten Ueberzeugung für gut und recht, für nothwendig zum Heil des gegenwärtigen und künftigen Geschlechtes hielten, und alle unsere Kräfte daran zu sezen bereit waren, darüber werden wir nicht selten wieder unsicher, wenn der entscheidende Augenblik naht. Indem ich nun an dem Beispiel jenes vermischten Haufens zeigen möchte, woher das wankelmüthige Wesen entsteht, | denke ich daß mancher bei sich sagt, Aber woran sollen wir erst erkennen, und wer soll darüber richten, ob wenn uns so etwas begegnet, es Wankelmuth ist und nicht vielmehr eine spätere richtige Einsicht? Denn

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wie oft kommen wir erst durch den Zustand des Schwankens und nachdem wir uns abwechselnd zu dieser und jener Seite hingeneigt haben, zu einer festen Ueberzeugung! und wie oft übereilt sich nicht der Mensch mit seinen Entschlüssen, so daß es ein wahrer Fortschritt zum Besseren ist, wenn er von einer falschen Gewißheit nur erst zum Zweifel und zur Unsicherheit kommt! Allein diese Frage darf jene Betrachtung nicht unterbrechen, denn eben wie es mit solchen Veränderungen der Ueberzeugung zugeht, was ihnen in und außer uns vorangegangen ist, kann allein hierüber entscheiden. Das nur laßt uns zunächst nicht vergessen, daß wir uns eines großen Vorzugs erfreuen vor jenen Zeitgenossen Jesu, die wir uns als warnendes Beispiel vorhalten. Nemlich der vom Geiste Gottes regierte Christ wird nicht leicht über etwas wichtiges zu einem festen Entschlüsse bei sich kommen, als durch eben diesen Geist, welcher der Geist der Wahrheit ist; und wenn er etwas in einer leidenschaftlichen Bewegung des Gemüthes ergreift, so wird schon in demselben Augenblik ein Gefühl der Unsicherheit entstehn und immer wachsen; und es ist also bei ihm nicht leicht ein Fortschritt, wenn er von einer festen Ueberzeugung wieder zum Zweifel übergeht. Wenn uns nun aber, was auf jene Weise dem Herzen gewiß war, | wieder bedenklich wird, der feste Sinn wieder unstätt, woher kömmt das? Das laßt uns an jenen Menschen sehen, in denen sich das trozige und verzagte Herz241 abspiegelt. Zuerst m. F. was drükt das Zujauchzen jener Menge bei dem Einzüge Christi aus als die Hofnung er werde Israel erlösen. Sie glaubten, jezt oder bald sei die Zeit da, wo er öffentlich auftreten, sich als den Gesandten Gottes darstellen und beglaubigen werde, alles werde sich dann vor ihm beugen, und sie würden, ihn gleichsam erinnernd an die Art wie sie sich auch jezt schon zu ihm bekannt hatten, sich auch dann zu ihm bekennen, und sich von ihm nicht nur erlösen lassen aus aller Noth, sondern auch theilnehmen an aller Herrlichkeit seines Reiches. Nun aber erschien Christus selbst in der Noth, und wenn sie ihm getreu bleiben wollten, mußten sie sich aufgefordert fühlen, statt Hülfe und Rettung nur von ihm anzunehmen, ihm gleichsam erst selbst zu helfen, indem sie eine der Forderung des aufgebrachten Volkes entgegengesezte Stimme ertönen ließen. Sehet da m. Fr. wie es vielen Menschen nicht selten geht. Irgend eine vorausgesehene Unternehmung eines Einzelnen oder einer Gesellschaft2" erscheint uns wünschenswerth und hülfreich im höchsten Grade, nothwendig vielleicht um dasjenige vorzubereiten und zu unterstüzen, was uns selbst am meisten obliegt. Wir sehnen uns nach dem Augenblik

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wo sie in Wirklichkeit übergehen soll, wir empfangen die ersten Andeutungen davon mit Jubel | und Frohloken, wir sezen uns in Bereitschaft die gehofte Hülfe in unsern Nuzen zu verwenden, und uns dann der Sache selbst mit allen Kräften anzuschließen. Wenn aber inzwischen die Unternehmung selbst in Gefahr geräth, wenn diejenigen, auf die wir hoften, Schwierigkeiten und Anfechtungen finden, und selbst der Hülfe bedürftig erscheinen: dann werden wir bedenklich, und meinen in denjenigen, die selbst unserer Hülfe bedürften, könne ja wol die Kraft nicht sein die wir vorausgesezt, uns zu helfen; wir meinen, wir müßten uns geirrt haben, und freuen uns wol gar, daß wir noch zur rechten Zeit gewarnt werden und unsern Irrthum entdekken. Aber ist das nicht eine ganz wunderliche gegen die allgemeinste Erfahrung und gegen die ersten Gründe alles menschlichen Handelns streitende Denkungsart? Giebt es irgend eine Macht in menschlichen Dingen, als nur eben die Vereinigung menschlicher Kräfte? Giebt es irgend eine Hülfe und Unterstüzung, die nicht gegenseitig wäre? Kann jemand irgend wie, es sei aus Freundschaft oder durch Familienverbindung oder durch die öffentliche Gewalt Hülfe empfangen, wenn er nicht eben diese Gewalten selbst ununterbrochen auch seinerseits unterstüzt und erhält? Ist es also nicht die größte Thorheit, wenn wir, statt dasjenige, wovon wir Gutes erwarten, aus allen Kräften zu unterstüzen — wie eben die Freunde des Erlösers laut hätten zeigen sollen, die Stimme seiner Ankläger sei keinesweges die Stimme des ganzen Volks — statt dessen denken, was vielleicht unter | gehe wenn wir es nicht selbst unterstüzten, darin könne wol für uns keine Hülfe und Rettung liegen? Ist nicht der Erlöser eben deshalb in Knechtsgestalt aufgetreten245 und in allen Dingen versucht worden gleich als wir244, damit wir erkennen möchten, daß uns Gott alles nur auf menschliche Weise schenken will, das heißt von einem schwachen hülfsbedürftigen Anfang 245 emporwachsend? Aber freilich noch übler ist es, wenn der Wankelmuth z w e i t e n s daher entsteht, daß nur wir selbst grade es sind, die demjenigen, was wir für gut und vortreflich gehalten hatten, Hülfe leisten sollen; wenn die Sicherheit unserer Entschließungen sich dann verliert, wann vielleicht unter bedenklichen wenig versprechenden Umständen zur Ausführung soll geschritten werden, kurz wenn furchtsames Wesen und Feigherzigkeit die Quellen des Wankelmuthes sind. Das war gewiß der Fall bei vielen, die, als sie dem Erlöser ihr Hosiannah zuriefen, fest beschlossen hatten sich an ihn zu schließen und sein Schicksal zu theilen, die sich auch damals nicht schreken ließen durch die wohl-

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bekannte Feindschaft der meisten Angesehenen gegen ihn, sondern es sich schön und herrlich dachten diesen Kampf mit ihm zu bestehen; nun er aber wirklich eintrat, gingen sie hinter sich. Und wie oft sehen wir nicht dieselbe Erscheinung im Einzelnen bei Menschen welche das Gute erkannt haben! In der Ferne vermögen der Widerstand, die Kämpfe, die Aufopferungen sie nicht zu schrekken, kommt aber der Augenblik, dann ] sinken die Flügel, dann bemächtigt sich Angst und Besorgniß des schwachen Gemüthes, und anstatt ehrlich zu sich selbst zu sagen, Was du gewollt hast das bleibt das Rechte und Gute, nur du bist zu befangen, zu schwach, zu erbärmlich24" um es auszuführen, du hast dir zugetrauet was du nidit vermagst, anstatt dessen mißbraucht und betrügt das verzagte Herz den Verstand, und vergiftet die Ueberzeugung durch gehaltlose Vorspiegelungen, als ob das was man früher mit lebendigem Eifer gewollt hatte, weder so gut noch so nothwendig wäre als man damals geglaubt, als ob die wohlthätige Zeit nun erst die wahre Beschaffenheit der Sachen enthüllt hätte. O m. Fr. ich darf nicht erst sagen, welche tiefe Erniedrigung in diesem Zustande liegt, mit welchem an Verachtung gränzenden Mitleid edle und starke Seelen auf denselben herabsehn, und wie diese es bedauern oder sich Vorwürfe darüber machen, wenn sie vielleicht auf uns mehr als der Erlöser auf seine Zeitgenossen gerechnet hatten. Aber wie viel Schaam wir uns bereiten, wenn nun doch herrlich hinausgeführt wird wovon wir uns feigherzig zurükgezogen haben! wie viel Vorwürfe, wenn es eben wegen unserer feigen Wankelmüthigkeit unterbleibt! Denn freilich sollen wir nicht geizig darauf sein, daß alles Gute durch uns geschehe, und wir dürfen uns eben so lebendig freuen an dem was durch Gottes Gnade Andere thun: aber diese Freude gebührt nur denen, und in der That genießen sie auch nur die, welche selbst alles gethan | haben, was sie vermochten. Und freilich bleibt uns, wenn wir dasjenige verfehlen, was wir als ein großes Gut gewünscht hatten, der Trost, daß alles nur so am besten ist, wie der Herr es ordnet; aber dieser Trost gebührt nur denen und nur die genießen ihn wirklich, die alles daran gesezt haben um das zu erreichen was sie wünschten. Schaam und Verwirrung hingegen über die, welche sich sagen müssen, Wärest du fest geblieben, du könntest jezt auch unter denen sein die Gott danken, daß er sie hiezu247 gebraucht hat, nun aber hast du alles was an dir war gethan, damit es nicht geschehe. Und ein brennender und drükender Stachel muß in den Seelen derer haften, welche sich sagen müssen: daß Gott sich nun wieder nur aus dem Munde der Säuglinge wird ein Lob be-

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reiten, daß alles worauf du vielleicht mit vielen Tausenden gehofft hast wieder ausgesezt bleibt für das künftige Geschlecht, ja daß vielleicht nur die Steine reden von dem was im Werden war®48, indeß freie und fromme Menschen freudig Gott danken könnten wenn es wäre vollbracht worden, das ist deine Schuld. Denn so ist es, wo der wankelmüthige Sinn die Oberhand gewinnt, da arbeitet die kleine Zahl der Guten und Starken vergeblich für die Gegenwart, und nur die Unmündigen dürfen hoffen, welche Zeugen sind von der großen Verschuldung ohne sie zu theilen; wo zaghafte Bedenklichkeit hindert dem Ziel im rechten Augenblik schnell entgegen zu gehn, da bleibt von allem, was die Menschen bewegt von der Nähe des Großen und Gött | liehen empfanden, keine Frucht zurük wie von tauben Blüthen; aber Denkmäler der Zerstörung werden reden; denn wo die köstlichen Augenblike für das Reich Gottes versäumt werden, da bricht die Zerstörung ein, da folgen, wie auch damals, auf dem Fuß die Gerichte Gottes. J a m. Fr. die wankelmüthigen Seelen gleichen jenem Feigenbaum, von welchem bald nach unserm Text erzählt wird, daß der Erlöser, als er am folgenden Morgen aus Bethanien zur Stadt zurük kam, an ihn heranging um Früchte zu pflüken, aber nichts fand als Blätter"'. So auch sie! wie sehr sie auch durch die aufregende und begeisternde Nähe des Guten und Schönen gepflegt worden sind, sie haben immer nichts aufzuweisen, als den unfruchtbaren Schmuk schöner Empfindungen und viel versprechender Worte. Dem Erlöser aber ergrimmte sein Herz, und er sprach zu jenem, daß du alsbald verdorrest! Und was haben auch sie zu erwarten, zumal in einer so entscheidenden Zeit250, als daß die in leeren Aeußerungen sich erschöpfende Kraft sie ganz verläßt, und nur das äußere Leben zurükbleibt ein warnendes Denkmal. So trachte denn jeder, schaudernd vor diesen Folgen, dahin, daß das Herz fest werde, daß er bereit sei um jeden Preis bei dem zu bleiben, was er als wahr und recht erkannt hat. Und daß wir das vermögen, o laßt uns Reben sein an unserm Weinstok dem Herrn 251 , von seinem Geist seinem Dasein so durchdrungen, daß wir weit entfernt das | klingende Erz zu sein oder die tönende Schelle uns des lebendigen Glaubens erfreuen, der nichts danach fragt ob auch Berge müssen versezt werden252, und der lebendigen Liebe wovon uns der Herr die ewige Quelle ist, der auch an den schwachen Jüngern mit inniger Treue hing und sie untereinander verband, wie Er auch uns verbinden möge zur Treue im Leben und im Tode. Amen.

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VII. Das Zusammensein der Jünger unter sich und mit dem Erlöser, als Vorbild unseres vertrauten Lebens mit unseren Freunden.253 An dem neulidien Feste der Auferstehung unseres Erlösers m. a. Fr. richteten wir unsere Betrachtung auf das lezte verklärte Leben desselben auf dieser Erde" 4 , und darauf, wie auch wir könnten in diese Aehnlichkeit mit ihm gekleidet werden. Idi suchte damals zu zeigen, daß dieses theils da geschehe, wo wir zu seiner Verehrung und zur Anbetung seines und unseres Vaters vereinigt sind, theils auch da wo wir zurükgezogen von den Geschäften und Sorgen der Welt uns in der Stille mit denen, die uns die liebsten und nächsten sind, zusammen finden. Was nun dieses leztere betrift, so scheint es mir einer näheren Erwägung nodi besonders 1 werth. Denn wie haben die Zusammenkünfte der Menschen, auch derer welche sich durch eine höhere Richtung des Geistes und einen festeren Sinn von dem großen Haufen vortheilhaft unterscheiden, doch gewöhnlich eine so ganz andere Art und Weise! wie sehen wir so vieles darin was uns eher an alles andere als an jene lezten Tage des Erlösers erinnert, ja wie wenig mag es überall auch bei denen die sich nicht mit Unrecht seine Nadifolger nennen, gesellige Verhältnisse solcher Art geben! denn wie erscheint den meisten alles, was sich auf das geistige Leben des Menschen, auf seine höhere Bestimmung bezieht, als eine schwere Last und Sorge, von der man sich eben in den Stunden der geselligen Unterhaltung auf eine anmuthige Art befreien will! und wie fürchten die wenigen, denen solche Augenblike wohl wünschenswerth scheinen, daß doch nirgend die Gelegenheit sei diese Ansprüche geltend zu machen, ohne alles aus seinem gewohnten Geleise völlig herauszureißen. So ist es denn eine wichtige Betrachtung, zu sehen worauf es

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doch beruhe, daß unsere vertrauten geselligen Kreise kein solches den lezten Tagen des Erlösers mit seinen Jüngern gleichendes Leben darstellen. Es mag sich um so mehr schiken an unsere Osterbetrachtung diese anzuknüpfen, da wir jezt nodi mit unserer Andacht zunächst an jene Zeit zwischen der Auferstehung und Himmelfahrt des Erlösers gewiesen sind, an der wir in jeder Hinsicht das Vorbild finden, auf welches wir zu sehen haben. Denn so stand es mit den | Jüngern Jesu damals: ihre Stunde zu einer größeren Thätigkeit nach außen war noch nicht gekommen, der große Beruf für die Sache ihres Herrn zu reden, zu kämpfen, zu leben, zu sterben war ihnen noch nicht übertragen255, sie waren auf ein enges Leben unter sich besdiränkt bis auf die Stunde welche der Herr sich vorbehalten hatte. Aehnliche Zeiten nun, solche nemlich die nicht durch unsern auf äußere Thätigkeit gerichteten Beruf eingenommen werden, sind auch die in denen wir uns an liebe und werthe Menschen in vertrauter Geselligkeit anschließen. Lasset uns daher an dem schönen Vorbilde der Jünger unseres Herrn uns spiegeln, und sehen, wie auch dieser Theil des Lebens Gott wohlgefällig und des Geistes, den wir empfangen haben, würdig soll eingerichtet werden.

Text. Joh. 2 1 , 2 — 2 3 . Es waren bei einander Simon Petrus und Thomas und Nathanael von Kana und die Söhne Zebedäi und zween andre seiner Jünger. Spricht Simon Petrus zu ihnen, Idi will hin fischen gehen. Sie spradien zu ihm, So wollen wir mit dir gehen. Sie gingen hinaus und traten in das Schiff alsobald, und in derselben Nacht fingen sie nichts. D a es aber jezt Morgen ward, stand Jesus am U f e r ; aber die Jünger wußten es nicht daß es Jesus war. Spricht Jesus zu ihnen, Kin | der habt ihr nichts zu essen? Sie antworteten ihm, Nein. E r aber sprach zu ihnen, Werfet das N e z zur Rechten des Schiffes, so werdet ihr finden. D a warfen sie und konnten es nidit mehr ziehen vor der Menge der Fische. Da spricht der Jünger, welchen Jesus lieb hatte, zu Petro, Es ist der Herr. D a Simon Petrus hörte, daß es der Herr war, gürtete er das Hemde um sich, denn er war nakend, und warf sich in das Meer. Die andern Jünger aber kamen auf dem Schiff, denn sie waren nicht fern vom Lande, und zogen das N e z mit den Fischen. Als sie nun austraten auf das Land sahen sie Kohlen gelegt und Fische darauf und Brodt. Spricht Jesus zu ihnen, Bringt her von den Fischen die ihr jezt gefangen habt. Simon Petrus stieg hinein, und zog das N e z auf das Land voll großer Fische; und wiewol ihrer so viele waren, zerriß doch das N e z nicht. Spricht Jesus zu ihnen, Kommt und haltet das Mahl. Niemand aber unter den Jüngern durfte ihn fragen Wer bist du? Denn sie wußten es, daß es der Herr war. D a kommt Jesus und

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nimmt das Brodt und giebt es ihnen, desselben gleichen auch die Fische. D a sie nun das Mahl gehalten hatten spricht Jesus zu Simon Petro, Simon Johanna hast du mich lieber denn mich diese haben? Er spricht zu ihm, J a Herr du weißt, | daß ich dich lieb habe. Spricht er zu ihm Weide meine Lämmer. Spricht er zum andern Mal, Simon Johanna hast du midi lieb? Er spricht zu ihm, J a Herr du weißt daß ich didi lieb habe. Spricht er zu ihm Weide meine Schafe. Spricht er zum dritten Mal zu ihm, Simon Johanna hast du mich lieb? Petrus ward traurig daß Er zum dritten Mal zu ihm sagte hast du mich lieb, und sprach zu ihm, Herr du weißt alle Dinge, du weißt daß ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm Weide meine Schafe. Warlich warlidi ich sage dir, da du jünger warst, gürtetest du dich selbst, und wandeltest wo du hin wolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine H ä n d e ausstreken, und ein Anderer wird dich gürten und führen wo du nicht hin willst. D a s sagte er aber zu deuten, mit welchem Tode er Gott preisen würde. D a er aber das gesagt, spricht er zu ihm Folge mir nach. Petrus aber wandte sich um, und sah auch den Jünger folgen, welchen Jesus lieb hatte. D a Petrus diesen sah, spricht er zu Jesu, Herr was soll aber dieser? Jesus spricht zu ihm, So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was gehet es dich an? Folge du mir nach.

M. a. Fr. Es kann nicht daran gedacht werden diesen reichhaltigen Abschnitt aus der Geschichte der lezten Tage des Erlösers in einer Betrachtung 258 , | wie die unsrigen nur sein dürfen, zu erschöpfen. Meine Absidit ist nur, dasjenige, was wir in mancherlei zerstreuten Zügen finden, zusammenzustellen, um uns d a s Z u s a m m e n sein der J ü n g e r unter sich und mit dem Erlöser als das V o r b i l d unsers v e r t r a u t e n U m g a n g s unt e r e i n a n d e r vorzuhalten. Laßt uns dabei E r s t l i c h im Allgemeinen auf den Zustand achten, in dem wir die Jünger des Erlösers finden; Z w e i t e n s besonders auf die Richtung, die der Erlöser, als er unter ihnen erschien, ihrem Zusammensein gab. I. Indem wir zuerst auf d e n Z u s t a n d a c h t e n , i n d e m s i c h d i e J ü n g e r d a m a l s b e f a n d e n : so kann uns nicht entgehen Einmal, sie waren versammelt als h e r z l i c h v e r t r a u t e und auf das Höchste, was es f ü r den Menschen giebt, verbundene F r e u n d e . Denn darauf war auch damals ihr Zusammensein gerichtet. Sie waren nicht versammelt um jenes kleinen irdischen Geschäftes willen, welches sie nach der Erzählung unseres Textes trieben; denn sie waren schon bei einander, ehe es Petro einfiel zu den Andern zu sagen, Wir wollen fischen gehn. Sie hatten Jerusalem verlassen, und wir finden sie in jenen Gegenden Galiläas, wo sie oft

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mit ihrem Meister gewandelt waren, wo er lehrte und Zeichen that; wir finden sie an dem See, in dessen Nähe ihn die heiligen Bücher uns so oft zeigen bald von der Höhe der U f e r bald von den Schiffen die Jünger leh | rend und das Volk. Dahin hatten sie sich begeben um desto ruhiger und stiller, ungestört durch das Verkehr mit einer ihnen fremd gewordenen Welt, sich Seiner zu erinnern, der Hofnungen die er in ihnen erwekt, der Lehren die er ihnen mitgetheilt, des Geistes in dem er mit ihnen geredet hatte. Einen anderen Inhalt ihrer Gespräche haben wir wol nicht Ursach uns zu denken. Es war ein Leben wovon nicht viel Worte zu machen sind, nicht viel äußerlich geschaut und auch nicht viel gesagt werden kann, aber wie weht es uns an aus der einfachen schlichten Erzählung als ein Leben inniger herzlicher Liebe, als ein stiller seliger Genuß einer vergangenen schönen Zeit, als ein nicht unthätiges nicht vergebliches sondern den Sinn öfnendes und berichtigendes, das Handeln vorbildendes frohes Spiel 2 " mit den Hofnungen, welche die gehaltreichen verheissungsvollen Reden des Erlösers erregt hatten, ein Leben ganz darauf gerichtet das Bild des Erlösers festzuhalten, es immer heiliger und reiner aufzustellen im Gemüth, und darüber alles irdischen und vergänglichen zu vergessen. — Sollte es uns fehlen können an ähnlichen heilsamen und erquikenden Verbindungen, zumal in dieser für jedes menschliche Leben so reichen Zeit? Sollte nicht jeder Einige finden, mit denen er theure gesegnete Erfahrungen gemeinschaftlich belebt hat, die ihn näher umgeben haben in solchen bedeutenden Augenbliken, wo das Innere des Menschen sich auf eine entscheidende Weise offenbart, und die er eben so Gelegenheit gehabt hat zu beobachten, | so daß sie durch ein ernstes Schicksal gleichsam bestimmt scheinen zu engem gegenseitigem Vertrauen? Hat nicht in dieser Zeit, wo aller Augen mehr als je auf den großen Schauplaz der Weltbegebenheiten gerichtet sind, wo alle auch kleinere Angelegenheiten sich in jene großen verflechten, hat nicht jeder Hofnungen die sein ganzes Gemüth erfüllen und rege halten, auf welche sich alle seine Thätigkeiten beziehn, wie alles Thun der Jünger sich auf die Erwartung der Kraft aus der Höhe und auf die Wiederkunft ihres Herrn bezog, Hofnungen die eben so das Maaß seiner Selbstprüfung, das Ziel für seine Selbstbildung, kurz die Haltung seines ganzen Lebens in sich schließen? und sollte nicht jeder Einige kennen oder finden, die diese H o f nungen in derselben Gestalt wie sie ihm selbst eigenthümlich sind mit ihm theilen, mit denen also auf das genaueste verbunden er sich vorbereiten und stärken kann, damit er gewiß auf seiner Stelle sei und

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seiner Stelle würdig, wenn eine Zeit der Erfüllung kommt? Und sollten solche Verhältnisse nicht mehr lohnen, für das geistige Leben einen reicheren Genuß gewähren und eine schönere Frucht, als wenn wir uns nur, wenn es hoch kommt, unter Wiz und Scherz258 in flüchtigen Betrachtungen über die vergänglichsten Gegenstände, in dem Spiel mit oberflächlichen mehr zerstreuenden als kräftigen Empfindungen gefallen, und nur durch einen flüchtigen vorübergehenden geselligen Rausch das Gedränge der irdischen Noth und Sorge unterbrechen, oder wol | gar auch im vertrauteren Kreise uns nidit losmachen können von dem Einfluß der Lasten und der drükenden Geschäfte des irdischen Lebens, die das ganze Gemüth in Besiz genommen haben? Gewiß sowol jene sind zu bedauern, welche sich sagen müssen, daß ihre geselligen Freuden, wie glänzend sie audi für den Augenblik scheinen mögen, dodi allzuschnell verfliegend im Gemüth nichts zurüklassen, als daß sie abgespannt entweder ungern zu den Geschäften des Beruflebens zurükkehren, oder sich auf eine höchst untergeordnete Weise wieder auf diese freuen um sich nemlich zu erheben von den Anstrengungen des Vergnügens, als auch diese sind beklagenswerth, die selbst in den Stunden der Geschäflslosigkeit auf die Eine Seite des Nüzlichen gewendet des Innern ihres Daseins nie froh werden, und auch im vertrauteren Zusammensein sich nicht erlauben nach dem Frieden eines in sich gekehrten Gemüthes zu trachten. Aber laßt uns auch nicht zuviel fordern, sondern ferner bedenken, daß die Jünger Jesu nur i n k l e i n e r G e s e l l s c h a f t v e r s a m m e l t waren. Es waren nicht einmal die Eilf; sondern Johannes zählt nur auf Simon Petrus und sich und seinen Bruder, und Thomas mit Nathanael und noch zwei andere die er nicht nennt. Auch das gar nicht übergroße Häuflein also derer, die damals dasselbe Ziel vor Augen hatten und in dem gleichen Geiste lebten, theilte sich erst in mehrere engere Kreise, je nachdem Einige durch frühere Lebensverhältnisse | oder durch genauere Kenntniß die sie von einander hatten, oder durch bestimmtere Aehnlichkeit der Gemüther und der Ansichten fester unter sich zusammenhingen als mit den übrigen, und erst in diesen engeren Kreisen ging ihnen das schöne Leben der Geselligkeit recht herrlich auf. Und gewiß so muß es auch sein m. Fr. Unsere geselligen Kreise, das erkennen wir ja größtentheils an, leiden fast alle dadurch daß sie sich leicht überfüllen, wobei denn eine Einmischung solcher die weniger zusammengehören unvermeidlich ist. Je zahlreicher das Ganze, um desto weniger kann der Einzelne mit der

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Eigentümlichkeit seines Wesens für dasselbe leisten, um desto mehr kommt alles an auf die Formen, welche das Ganze zusammenhalten, auf die Sitte die es trägt. Auch solche größere Versammlungen mögen ihren Nuzen haben; aber der rechte volle Lebensgenuß kann nicht in ihnen entstehen. Eben so ist es auch, und zwar nur um so mehr wenn die Geselligkeit jene mehr innere Richtung nimmt, und aus der Tiefe des Gemüthes heraus die Menschen einander beleben und stärken sollen; da gewiß müssen wir uns auf eine geringe Anzahl beschränken. Die Gegenstände, auf deren Betrachtung das eigenthümliche eines solchen Zusammenseins beruht, die gegenseitige Eröfnung der Gemüther oft bis in die tiefsten verborgensten Falten des Herzens, die vertraute zwar aber zarte Beschauung dessen was in dem Einen oder dem Andern vorgeht oder vorgegangen ist, erfordert eine so innige Nähe, daß nur Wenige | daran Theil nehmen können. Denken wir uns einen größeren Kreis, so sind Alle schon weiter von einander entfernt, und diese Gegenstände gleichsam zu klein, um von allen eben so genau und eben so segensreich betrachtet zu werden; alle Austauschungen müssen sich gleich mehr im Allgemeinen halten, und es entsteht nur eine solche Betrachtung und Verherrlichung Gottes und dessen was von Gott ausgehend den Menschen erquikt und beseeligt, daß wir eben so gut gleich den großen Haufen der Frommen dazu einladen können. Und so war es gewiß auch damals, so oft nicht nur die eilf, sondern auch die Frauen die Jesum begleitet hatten und seine andern Verwandten zusammen waren, nicht anders als wenn auch gleich die ganze Schaar der Namen bei hundert und zwanzig sich vereinigte. Nur wenn es uns gelingt einen engen Kreis von vertrauten und wahrhafter Freundschaft empfänglichen Gemüthern um uns zu sammeln, können wir jene schönen Erfahrungen machen; nur in solcher Stille kann jemand geneigt sein sich selbst mehr aufzuschließen, und auch, was sonst wol immer in der innersten Schazkammer des Herzens verborgen geblieben wäre, hervorzureichen und eben so wieder zu empfangen. Aber laßt uns nicht vergessen, dies sei nur im Vorbeigehn gesagt, daß auch so und unter den günstigsten Umständen nicht jeder zu solchen vertrauten Ergießungen des Herzens geneigt ist, und daß wir, wie sehr sie uns auch Bedürfniß und Genuß sein mögen, doch nicht unbedingt nach der | Empfänglichkeit dafür den Werth der Menschen abmessen dürfen. Es giebt trefliche und große Menschen, denen dieser schöne Genuß eines engeren Zusammenseins nicht beschieden ist, welche nur gewohnt in das große der menschlichen Angelegenheit, sei es nun mit ihrer unmittelbaren Thätigkeit

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einzugreifen oder mit ihren Betrachtungen sich darin zu vertiefen, auch im menschlichen Gemüth nur auf das Große, auf den Geist des Lebens, auf die allgemeine Richtung der Kräfte sehen, ohne jenen Geschmack für das einzelne und kleine, für das was dem Augenblik seinen besondern Werth giebt zu theilen. Wenn wir von solchen mit Bedauern sagen, daß sie der Freundschaft im engsten Sinne des Wortes weniger fähig sind, so danke doch Gott jeder den er in die Nähe eines solchen führt; denn ihre Einwirkung hat doch auch auf jene vertrautern Verbindungen den vortheilhaftesten Einfluß; sie erregen und befruchten das Gemüth durch ihre großen Bewegungen und Ansichten, und hindern daß wir uns in den vertrauteren Kreisen nicht zu sehr in das Kleinliche, wozu diese sonst hinneigen, verlieren. Sollen nun aber jene vertrauten Stunden wirklich einen reinen und hohen Lebensgenuß gewähren: so gehört auch d a z u , d a ß w i r i n d e r S t i m m u n g s i n d u n s a l l e s großen und g u t e n , was Gott uns aus Gnaden wiederfahren läßt, r e c h t w e r t h z u a c h t e n 8 5 * . Was kann es größeres geben als so vertraut mit dem Erlöser gewesen sein und | solche Verheissungen von ihm empfangen zu haben als jene Jünger, und daß sie sich dieses Glükes, unbeschadet der Demuth, die der innerste Grund alles christlichen Sinnes bleibt, recht in freudiger Dankbarkeit bewußt waren, den Eindruk giebt uns theils schon der allgemeine Charakter unserer Erzählung, theils zeigt es sich eben so deutlich im Einzelnen. Der Evangelist Lukas erzählt uns aus den ersten Zeiten der Berufung der Jünger eine der in unserm Text ähnliche Geschichte, wie sie auch zusammen waren um zu fischen, und die Neze ausgeworfen aber nichts gefangen hatten, und Jesus sich zu ihnen gesellte und ihnen Anweisung gab, wie sie die Neze mit besserem Glük werfen sollten, und da, als sie einen reichen Zug gethan hatten, berichtet er, habe Petrus schaudernd und furchtsam ausgerufen, Herr gehe vor mir hinaus, ich bin ein sündiger Mensch280. Jezt geschieht es eben so; aber als der Jünger den Jesus lieb hatte dem Petrus leise zurief, Es ist der Herr, hat dieser nichts eiligeres zu thun, als sich zu gürten und ins Meer zu springen, um nur eher bei dem zu sein den er liebte und ehrte. Dort fühlte er, es sei zuviel für ihn, dem Erlöser so nahe zu stehn, hier betrachtet er es als etwas was ihm zukommt, und was er sich nicht zeitig genug zueignen kann. Das soll nun freilich und muß die natürliche Folge sein von unseren Fortschritten in der Bekanntschaft261 mit Gott und dem Erlöser, daß wir alles Gute und Schöne von Gottes Gnaden hinnehmen als unser Recht, als | das was uns wol gebührt, was freilich nichts

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anderes sagen will, als daß wir es durch Gnade recht zu gebrauchen und zu benuzen verstehen. Wem könnte auch wol einfallen daß es einen andern Anspruch oder ein anderes Verdienst des Menschen geben könnte vor Gott! Aber eben dieses ist auch die unerläßliche Bedingung jenes höheren Genusses. Unbefangene und erquikende Mittheilung kommt nur aus einem beruhigten Gemüth. Wie können wir uns Andern gern aufschließen, wenn wir uns nicht göttlicher Wohlthaten und Gnadenwirkungen bewußt sind, wenn wir ihnen nicht einen Tempel öffnen den Gottes Geist bewohnt, und in dem sich seine Größe spiegelt und seine Gnade verherrlicht? Warum wollen wir Andern unsere verborgensten Gedanken und Empfindungen mittheilen, wenn nicht damit sie sehen, wie ein von Gott erleuchtetes Gemüth unter verschiedenen Umständen die verschiedenen Verhältnisse des Lebens ansieht und behandelt? Warum wollen wir sie mit unsern Begebenheiten unterhalten oder mit unsern Hofnungen und Wünschen, wenn wir nicht voll guten Vertrauens in jeder Schikung Gottes ein Unterpfand finden, daß Er uns immer höherer Gaben theilhaflig machen will? Wenn wir nicht wie die Jünger die Zuversicht haben, daß wir nur neuen Offenbarungen seiner Liebe entgegengehn können? Denn wer nicht frohen zuversichtlichen Gemüthes ist, der kann in einen Kreis vertrauter Mittheilung nur aufgenommen werden, damit er selbst darin erquikt und ge | stärkt werde, und das sezt doch voraus daß die Anderen heitere und feste Gemüther sind, die ihn übertragen und erheben können. Und wer nur Fehler mitzutheilen hat, über die er selbst noch nicht getröstet ist, und ängstliche Besorgnisse, die er sich selbst nicht zu vertreiben vermag, der wird nur in sofern nicht schaden durch seine Mittheilung, als der herrschende bessere Geist der Andern ihn selbst allmählig umstimmt. Wenn nun unser höherer geselliger Genuß auf diese Weise begründet ist: so wird uns auch das nicht fehlen, was wir zulezt noch an der Stimmung der Jünger bemerken, d a ß e b e n d i e s e r G e n u ß und die B e s c h ä f t i g u n g mit ihrem i r d i s c h e n Beruf leicht und o h n e S t ö r u n g mit einander w e c h s e l t e n . Wie sie so bei einander waren sprach Petrus, Wollen wir nicht fischen gehn? und es war den andern recht; und als der Erlöser erschien und sie mit seiner Hülfe ihre Arbeit vollendet hatten, so ließen sie auch die Neze wieder ruhen, und waren ganz Ohr und Auge für ihn. Ein solcher leichter Wechsel zwischen der irdischen Berufsarbeit und dem Genuß der vertrauteren Freundschaft ist uns ebenfalls wünschenswerth und nothwendig. Denn wenn wir aus mißverstandener Liebe zur Arbeit

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uns nicht getrauen dem Herzen dieses höhere zu gewähren, oder hernach nur mit Ueberdruß und Geringschäzung, weil es nur irdische Dinge waren, zu den Geschäften zurükkehren: so ist freilidi das Leben zerrissen | und mit sich selbst in Widerspruch; und bei wie vielen Menschen ist dies nicht leider der Fall! Freilich scheint es, als ob die Jünger hierin einen großen Vorzug vor den meisten unter uns gehabt hätten. Ihr Geschäft war eines von jenen einfachen und geringfügigen, welche weder ein besonderes Geschik und eine große Ausrüstung des Geistes erfordern um dazu tüchtig zu sein, noch bei der Ausübung selbst eine gewisse Sammlung und Anstrengung, sondern welche das Gemüth mehr als andere freilassen. Petrus hatte gut sagen, Laßt uns fischen gehn, denn hatten sie vorher von Christo geredet so konnten sie das beim Fischen ungestört fortsezen. So trieben sie dieses Geschäft, bei dem der Erlöser die meisten von ihnen gefunden hatte als er sie berief, immer noch nebenbei, bis die Stunde kam, wo sie ausschließlich jenem höheren Geschäft für den Erlöser und seine Sache geweihet wurden. J a , und dies scheint ein zweiter Vorzug ihres Geschäftes, es erinnerte sie auf eine eigene Weise an diesen ihren höheren Beruf, anstatt ihr Gemüth von demselben zu entfernen. Denn als der Erlöser sie zuerst von diesem Geschäft hinwegrief, sprach er zu ihnen, Laßt eure Neze und folgt mir nach, ihr sollt Menschenfischer werden262. Gewiß hatten sie auch während ihres Wandels mit dem Erlöser auf dem heimathlidien See gefischt, und wenn sie es auch jezt thaten, so war ihnen das große Wort wol unvergessen, Ihr sollt Menschenfisdier sein, und sie blieben auch bei dem geringfügigen Geschäft ihres großen | und heiligen Berufs eingedenk. Aber, m. a. Fr., dieses lezte ist gewiß kein ausschließlicher Vorzug jener Jünger. Denn was hat der Erlöser nicht alles geheiliget zu Bildern der allgemeinen Geschäftigkeit, die uns allen in seinem Reiche obliegt! der Fürst und seine Verweser, der starke und gewapnete, der berechnende Kaufmann, der sorgsame Hausvater, die zärtliche Mutter, der treue Diener, der Sohn der seines Vaters Willen weiß, der fleißige Landmann, der stille Gärtner 283 , alles ist in diesen heiligen Kreis erquikender Bilder hineingezogen. So darf also auch keinem unter uns bei seinem irdischen Beruf die Richtung auf das Ewige verloren gehen; jeder wird, wenn ihm die Reden des Erlösers gegenwärtig sind, in seinem bürgerlichen Geschäft etwas ähnliches und verwandtes finden, das ihn an seinen Beruf im Reiche Gottes erinnert. J a vielmehr, wenn unsere Geschäfte nicht so bloß körperlich und den Geist frei lassend sind wie das Fischen der Jünger, so haben sie um desto mehr

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Predigten.

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eine unmittelbare Beziehung, sind selbst etwas, was in dem rechten Sinn und mit Treue gethan, zur Ehre Gottes verrichtet wird. Denn nicht nur den Reinen ist alles rein264, sondern auch den Geistigen ist alles geistig, und auch indem sie den scheinbar bloß irdischen Dingen nachgehn, ist ihr Wandel im Himmel265. Dieses vor Augen zu stellen, ist so oft der besondere Gegenstand und so unausgesezt der Geist unserer Unterhaltungen hier, daß ich es jezt nicht weiter auszuführen brauche. Je mehr sich uns nun im irdi | sehen Geschäft die Beziehung auf das göttlidie offenbart und wir uns darin untereinander ermuntern und erheben, um desto mehr werden wir auch verlangen nach den vertrauten Stunden, in denen das Geistige besonders hervortritt, und werden auch um so lieber zu jenen Geschäften zurükkehren, je würdiger sie uns erscheinen durch den Einfluß, den alles auf sie hat, was in solchen Stunden in unserm Gemüth ist aufgeregt worden. So werden wir vom vertrautesten Gespräch zum Fischen, und vom Fischen und vom Mahle kommend zu allem geschikt und aufgelegt sein, was die gemeinsame Liebe zum Erlöser großes und heiliges gewährt. — Und nun laßt uns II. Noch mit wenigem sehen, auf welche besondere Zweke der Erlöser bei seiner Erscheinung das Zusammensein der Jünger richtete. Wir halten uns dabei billig an das was uns am ausführlichsten berichtet ist, an das Gespräch des Erlösers mit Petrus, und da fällt gewiß jedem zuerst auf, das Bestreben Jesu s i c h m i t i h m z u v e r s t ä n d i g e n ü b e r s e i n e n F e h l t r i t t . Wenn wir gewohnt sind mit einem schmerzhaften Gefühl und gleichsam im Namen dieses Jüngers beschämt an die Handlung zu denken, auf welche das scheinbar zweifelhafte in den Fragen des Erlösers sich bezieht, und uns zu wundern, wie in einem solchen Verhältniß und so gewarnt, wenn auch in einer schwachen Stunde und im Drang unerwarteter Ereignisse Petrus so han | dein konnte: so laßt uns doch bedenken, wie auch wir gerade in den vertrautesten und innigsten Verhältnissen und wo wir aufs beste gewarnt sind, am öftersten fehlen. Denn gegen solche Menschen, die uns im geselligen Leben ferner stehen, oder in jenen allgemeineren Verhältnissen, wo das richtige Betragen durch Recht und Gesez oder durch Sitte und eingeführte Ordnung bestimmt ist, da wird derjenige nicht leicht fehlen, der seiner Gesinnung sicher und zur gehörigen Besonnenheit eingeübt ist, und je weniger einer mit ihm zu theilen hat, um desto untadeliger wird er vor ihm erscheinen. Dazu gehört nur ein mäßiger Grad von Redlichkeit, Milde und Selbstbeherrschung. Aber wie steht es mit unserem Betragen ge-

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VII. Zusammensein der Jünger unter sich

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gen die, weldie uns die nächsten und liebsten sind, welche das ganze Leben mit uns theilen? Ist es nicht so: die Fehler die jenen gar nicht sichtbar werden, die kennen diese sehr genau aus gar manchen unangenehmen, wol gar bittern Erfahrungen? Den unordentlichen Bewegungen, die wir wol unterdrüken, wenn sie in Gegenwart Anderer in uns aufsteigen wollen, denen lassen wir in dem innersten Kreise des häuslidien und freundschaftlichen Lebens nur zu oft ihren freien Lauf, und machen wenigstens eben so sehr an unsere nächsten Umgebungen den oft sehr unbilligen Anspruch, daß sie unsere Schwächen nicht unbedachterweise reizen sondern ihnen aus dem Wege gehn sollen, als an uns selbst den gerechten und nothwendigen, ihrer immer mehr Herr zu werden; kurz ist noch irgend | ein unbesiegtes Böse, ist noch eine ungebändigte Rohheit in uns, diese haben es zu genießen, und es fehlt gewiß gegen sie am wenigsten an mancherlei Fehltritten. — Freilich ist das eine Erlaubniß, die wir uns gegenseitig geben müssen; es giebt einen Antheil an menschlicher Schwäche und Gebrechlichkeit auch in dem reinsten und gottgefälligsten Leben; aber eben darum ist es auch ein so schöner und wichtiger Theil des Zusammenlebens in den vertrauteren Stunden, wo die Gemüther aufs innigste zusammenfließen und ganz von dem großen Zweke der Bildung des Lebens zur Ehre Gottes und des Erlösers erfüllt sind, sich über die vorgekommenen Fehltritte und Verirrungen zu verständigen. Darum laßt uns sehen wie der Erlöser dies mit seinem Jünger that. Bemerken wir nur vor allen Dingen, daß von einem eigentlichen Vergeben unter ihnen gar nicht die Rede war; vergeben war dem theuern Jünger alles schon im voraus, wenn sich in der Liebe nichts geändert hatte, und das ist es wonach der Erlöser menschlicherweise fragt; und da der Jünger sich getrost auf die Klarheit berufen konnte mit der sein Herr und Meister in sein Inneres sah, Du weißt alle Dinge Herr, Du weißt daß ich dich lieb habe, so war von seinem Fehltritt auch nicht weiter die Rede. So möge es denn auch unter uns sein, wenn sich in das vertraute Zusammensein eine störende Erinnerung eindrängt an das worin sich Einer schwach und fehlerhaft gezeigt hat, es sei nun daß er uns persönlich verlezt, oder daß er unsere Thätigkeit ge | stört und unsern Werken266 geschadet hat. Nicht sei die Rede davon, wie etwa bei den Kindern der Welt, um sich gegenseitig Vorwürfe zu machen und aufzuwiegen, oder um durch Schonung und Nachsicht gegen das was Andere gefehlt, einen Freibrief zu lösen für den nächsten Fehler der uns selbst vielleicht bald beschleicht, noch auch um die stolze Rolle dessen zu spielen, der auch

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Predigten. 1814

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ohne ähnliches selbst zu bedürfen vergiebt; sondern nur damit wir uns selbst beruhigen über den Zustand unseres Bruders, damit wir bessernd und heiligend auf ihn wirken, damit, wie alles den Gerechten zum Besten dienen soll267, dieses auch von den Fehlern unserer Brüder gelten möge. Denn daran zuerst muß uns gelegen sein, wenn wir merken unser Gefühl über seine Handlung sei ein ganz anderes als das seinige, und er sehe sie geringer an als wir, uns mit ihm zu verständigen, ob wir nicht etwas darin anders betrachten als es eigentlich war, was uns ja so leicht begegnet, vorzüglich wo wir selbst mit im Spiele sind, oder ob auch ihn vielleicht irgend ein Leichtsinn befangen hält, und er einer Anleitung bedarf um einzusehen, was eigentlidi verderbliches von ihm ausgegangen und woher es entstanden ist, was den in ihm schon herrschenden Geist des Guten auf Augenblike unwirksam zu machen vermag, was den schon glüklich gedämpften Fehlern und Leidenschaften des früheren Lebens einen vorübergehenden Vorschub gegeben hat. Daran muß uns liegen, wenn wir merken daß er sidi selbst ganz klar ist, ihn durch vertrautes Ent | gegenkommen zu vermögen, daß er uns nicht vorenthalte, was in der Geschichte seines Herzens für uns lehrreich sein kann, um früher merken zu lernen auf die leisen Regungen des Bösen, um die Gefahren zu entdekken, denen auch wir unterliegen könnten. Wo aber nichts lehrreiches zu erwarten ist, da treibe uns auch nie leere Neugierde, unserem Bruder ein ausführlicheres Bekenntniß abzudringen, so wenig der Erlöser dieses vom Petrus forderte. Das endlich muß uns eine theure Pflicht sein, wenn ein Bruder, der gefehlt hat, uns traurig und niedergeschlagen erscheint oder gar verzagt, daß wir auf alle Weise suchen ihn zum lebendigen Bewußtsein zu bringen von dem festen Grunde von Liebe und Treue, von Wahrheit und Glauben, der in ihm ist, und der auch durch seinen Fehltritt nicht kann erschüttert worden sein, wie auch dem Petrus durch die wiederholten Fragen des Herrn, ohnerachtet sie ihn betrübten, diese Zuversicht immer stärker und lebendiger wurde. — Dies sei also immer der Segen der vertrauten Verständigung über unsere Fehltritte. Unsere Gefühle und Urtheile darüber müssen sich ausgleichen und eines und dasselbe werden in allen; und Allen muß das Bewußtsein recht lebendig werden, daß denen, die Christum lieben, alles schon verziehen ist, daß in wahren Jüngern Jesu nichts Böses im Wachsthum begriffen ist, sondern alles im Verschwinden, daß wenn die alte Sünde sich audi noch regt, sie doch das geistige Leben nur in die Ferse stechen kann268, nicht tödtlich verlezen, | und daß wir immer troz der einzelnen Verirrungen und Fehler ja durch sie dem

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V I I . Zusammensein der Jünger unter sich

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näher kommen, der uns alle von der Erde zu seinem höheren Leben hinaufziehen will 2 ". Das z w e i t e , was wir aus dieser Unterhaltung des Erlösers sehen, ist, daß er dies Zusammensein mit den Seinigen dazu benuzt, sie a u f d i e Z u k u n f t , der sie entgegen gingen, n ä h e r v o r z u b e r e i t e n . Als der Erlöser zu Petrus sagte, Wenn du alt wirst, wirst du deine Hände ausstreken und ein anderer wird dich gürten und führen wo du nicht hin willst, verstanden die Jünger dies als eine Andeutung seines Todes; und als er von dem Jünger, den er lieb hatte, zu Petrus sagte, Was hindert es dich, so ich will daß er bleibe bis idi komme? verstanden sie es so, als ob dieser vor ihnen allen bestimmt sein sollte im irdischen Leben auszuharren, bis jene herrliche Wiedererscheinung des Erlösers, der sie entgegen sahen, sich vollenden werde. Mag nun der Erlöser es gerade so gemeint haben oder auch nicht, das ist hier nicht der Ort zu untersuchen, nur das bleibt wol gewiß, daß er beiden Winke geben wollte über das was ihnen bevorstand. So mag auch unser vertrautes Zusammenleben eine beständige Vorbereitung sein auf das was unserer nachher im Getümmel der Welt wartet, wenn wir unserm Berufe folgend ein jeder von seinem Plaze aus das Reich des Herrn fördern, was dann unsrer wartet erfreuliches auf der einen drükendes auf der andern Seite. Und womit sind auch die gewöhn | liebsten geselligen Unterhaltungen der Menschen nächst dem Tadel über das was schon geschehen ist, mehr angefüllt als mit Vermuthungen über das, was diesem und jenem begegnen wird, mit Vergleichungen der Aussichten und Schiksale der Einzelnen? Freilich oft um den verzehrenden Neid durch kleinliche Verunglimpfungen der Glüklichen zu nähren, oft um über die Ungleichheit der göttlichen Austheilungen zu klagen, oder auf der andern Seite um eigner und fremder Eitelkeit zu fröhnen, ein kleines Glük durch kleinliche Ausbreitung des Einzelnen groß scheinen zu machen, und ein großes auf das eigne Verdienst zurükzuführen. Dergleichen ist unvermeidlich, wenn man die Zukunft ganz auf irdische Weise nur nach dem Wohlbefinden schäzt, das sie gewähren mag. Aber ihr seht doch, wir dürfen270 gar nicht über den gewöhnlichen Inhalt freundschaftlicher Unterhaltungen hinausgehn; nur der Geist und Sinn derselben sei ein anderer. Denn ganz anders war es freilich unter den Jüngern des Erlösers. Als sie hörten, Einer unter ihnen solle die volle Offenbarung des göttlichen Reiches in seiner Herrlichkeit und Macht, wie sie sie sich dachten, erleben, und ein Anderer sollte Gott mit seinem Tode preisen, finden wir keine Spur, daß

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Predigten. 1814

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sie den einen als einen glüklichen beneidet hätten, oder daß ein weichmüthiger Schmerz über das traurige Loos des andern über sie gekommen wäre und die schöne Stunde getrübt hätte. Aber freilich sie sahen auch in jenem nicht das lange in Herrlichkeit und Freuden beschlie | ßende Leben, in diesem nicht den frühen oder den gewaltsamen Tod; sondern nur das Gottpreisen im Leben oder mit dem Tode. Und in keinem der beiden Jünger sahen die Anderen einen Nebenbuhler, den man gern Übertrift und ungern hinter ihm zurükbleibt, sondern einen Freund und Gefährten, mit dem sie alles fühlen und theilen würden was ihm begegnete. In diesem Geist wollen wir uns in unseren vertrauten Stunden auf das vorbereiten was uns bevorstehn mag. Ruht unser Auge auf unsern jüngeren Brüdern, denen es vorbehalten zu sein scheint die besseren Tage zu erleben, die wir nur duldend durch mißlingendes Thun und vergebliche Wünsche mehr herbeisehnen als befördern: was können wir anders als uns herzlich freuen, da wir ja doch mit ihnen Ein Leib sind, daß sie genießen werden was wir so schmerzlich entbehren, was anders als ihnen tief einzuprägen suchen, durch welche Schmerzen und Leiden ihre Freuden werden erkauft sein und welche Rechenschaft sie also davon abzulegen haben. Haben wir solche um uns, denen bestimmt zu sein scheint, ihr ganzes Leben hindurch den Kampf mit dem Bösen zu bestehn, im Dienst des Herrn zu leiden und sich abzumühen, und auf die eine oder die andere Art an den Wunden und Schmerzen dieses Berufs zu sterben: wie sollten wir nicht auch dies, wenigstens in solchen aufgeregten Stunden, als ein großes beneidenswerthes Loos fühlen, sie und uns gemeinschaftlich stärken zu allem was sie werden zu thun und zu leiden haben, sie erfüllen und beseligen | mit jener Freude am Herrn, die dann auch in den Tagen des Leidens selbst ihnen Frucht bringen und ihre beste Mitgabe sein wird in der Stunde des Todes. Dies ist der Segen m. Fr. der auf dem vertrauten Zusammenleben frommer Gemüther ruht. Vielfältige Regungen des göttlichen Geistes entstehn daraus, und für jede wird das Gefühl geschärft und belebt; vielfältig wird das große Werk der Heiligung dadurch gefördert, und unser Bewußtsein davon, wie es fortschreite und was ihm entgegenstehe, wird aufgeklärt; vielfältig müssen uns die großen Rathschlüsse Gottes mit den Geschlechtern der Menschen überhaupt und insbesondere mit dem Geschlecht dieser Tage näher vor Augen gestellt werden: und dankbare Anerkennung des Looses das uns geworden ist, gegenseitige Stärkung und Ermunterung den Kampf des Lebens mit neuer Kraft zu kämpfen, erhöhten Genuß des Guten

VII. Zusammensein der Jünger unter sidi

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das uns zu Theil wird, erhöhtes Gefühl unserer Kraft und unseres Muthes für das thatenreiche Leben in der Welt tragen wir davon. Das ist das unmittelbare Abbild des Lebens, von welchem geschrieben steht: Und es wird kein Leid mehr sein und kein Tod, keine Thränen und kein Geschrei der Schmerzen, denn das Alte ist vergangen27'. Amen.

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IX. Daß der Mensch nur durch die neue Geburt in das Reich Gottes kommt. Am Sonntage

Trinitatis2".

Als der Erlöser m. a. Fr. seinen Jüngern den Geist verhieß, der nach seiner Entfernung von der Erde in reichem Maaß über sie kommen sollte, sagte er ihnen, von dem meinigen wird er es nehmen und wird es euch geben, und eben darum wird er mich in euch und durch euch verklären" 3 . Von seiner Geburt bis zur Erfüllung dieser großen Verheißung ist jezt wieder der Kreis unserer christlichen Gedächtnißfeste durchlaufen; und ohne an eine besonders große Begebenheit aus den Zeiten der Gründung des Christenthums durch den allgemeinen Gebrauch der Kirche erinnert zu werden, liegt jezt für unsere christlichen Versammlungen eine lange Zeit ruhiger Betrachtung | vor uns. Was können wir uns für dieselbe besseres wünschen, als daß eben dieser Geist immer unter uns sein möge, der Christum verklärt, damit jede unserer andächtigen Betrachtungen uns ihn verherrliche, und so indem er in uns immer fester und lebendiger wird, er auch immer mehr durch uns verherrlichet werde. Es ist darum meine Absicht in dieser vor uns liegenden Zeit den eben angeführten Worten des Erlösers zu folgen; von dem seinigen wollen wir es nehmen, damit sein Geist uns immer mehr erleuchte und uns ihn verherrliche. Es sollen Worte sein, welche die Evangelisten uns als seine eigenen Worte aufbehalten haben, die soviel uns gegeben ist unmittelbarste Rede seines Mundes, an die wir unsere Betrachtungen in dieser Zeit anknüpfen wollen. Wenn denn wirklich sein Geist unter uns ist, wenn Christus durch Erwägung seiner Worte uns immer mehr verklärt wird, unser inneres mehr und mehr erleuch-

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Der Mensch kommt durch neue Geburt in das Reich Gottes

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tet von dem ewigen göttlichen Licht, das er vom Himmel gebracht hat, unser Herz immer mehr geläutert: dann werden wir, wenn die Gedächtnißzeit der Zukunft unseres Herrn kommt, mit neuer Freude und neuer Dankbarkeit zu dem schönen Kreise unserer christlichen Feste zurükkehren, und an seiner Geburt, seinem Leiden und seiner Verherrlichung aufs neue und mit noch reinerem Gemüth seiner noch würdiger anbetend theilnehmen. Womit aber können wir die Reihe der vor uns liegenden Betrachtungen besser eröfnen als mit | demjenigen, wodurch die eben abgeschlossene festliche Zeit und die vor uns liegende sich auf das engste verbinden? Der Erlöser hat das seinige gethan, an dessen Hauptmomente unsere kirchlichen Feste uns eben erinnern; er hat Fleisch und Blut an sich genommen, er ist gehorsam geworden bis zum Tode am Kreuz274, er hat sich tröstend und belehrend den Seinigen gezeigt, er hat nach seiner gänzlichen Entfernung von der Erde den verheißnen Geist herabgesendet, und seine Jünger ausgerüstet zu Werkzeugen um sein Reich zu gründen. Wie Er nun sein Lehramt überall damit begonnen die Menschen einzuladen zum Reich Gottes das nahe herbeikommen war: so fangen wir billig damit an uns zu fragen, Wie gelangen wir denn nun oder wie sind wir ursprünglich gelangt zu unserm Antheil an den Wohlthaten des Erlösers? wie breitet sich noch jezt das Reich Gottes weiter aus und pflanzt sich fort? Laßt uns eine merkwürdige Rede des Erlösers hören die dies ausdrükt, und sie zum Grunde unserer Betrachtung legen. Text. Joh. 3, 1—8. Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemos, ein Oberster unter den Juden. Der kam zu Jesu bei der Nacht und sprach zu ihm, Meister wir wissen daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen, denn niemand kann die Zeichen thun, die du thust, | es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm, Warlidi, warlich, ich sage dir, es sei denn daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemos spricht zu ihm, Wie kann ein Mensdi geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? Jesus antwortete, Warlidi, warlidi ich sage dir, es sei denn daß jemand geboren werde aus dem Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reidi Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch, und was vom Geist geboren wird, das ist Geist. Laß Didis nicht wundern, daß ich Dir gesagt habe, Ihr müsset von neuem geboren werden. Der Wind blaset w o er will und du hörest sein Sausen wol, aber du weißt nicht von wannen er kommt und wohin er fähret. Also ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist.

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Predigten.

1814

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In diesem ganzen Gespräch des Erlösers mit dem Nikodemos ist es sehr schwer den Zusammenhang genau aufzufassen, mehr als in den meisten andern Reden des Erlösers. Aber wir mögen nur bedenken wie es uns selbst ergeht, wenn wir unsere wichtigsten Gedanken mittheilen möchten, und dabei auf ein flüchtiges Gespräch beschränkt sind. Wir können dann nicht die gewohnte Mühe und Aufmerksamkeit darauf wenden unsere Reden so einzu | richten, daß der andere uns augenbliklich fasse, wir können uns nicht so ausbreiten daß ihm alle Beziehungen eines Gedankens mit den andern recht anschaulich werden; sondern wenn wir wissen, daß uns nur wenig Zeit vergönnt ist, fühlen wir uns gedrängt und streben nur das bedeutendste auszusprechen, in wenig Worten eine rechte Fülle von Gedanken einzuschließen und diese dem Hörer recht fest einzuprägen, damit er hernach genauer über den Inhalt nachdenken, und was ihm jezt entgeht, dann entdekken könne. In demselben Falle875 befand sich hier Christus. Er selbst war nur selten bei Gelegenheit der hohen Feste in der Hauptstadt, und jener konnte nur zur Nachtzeit zu ihm kommen. Daher eilt der Erlöser gleich dem wißbegierigen Mann die Hauptsachen mitzutheilen, daher springt das überfüllte Gespräch von einem großen Gedanken zum andern, und auch dem Johannes mag wol manches entgangen sein276, was uns hie und da die Verbindungen deutlicher hätte einsehn lassen. Und das erste unter allem wichtigen was unser Herr dem Nikodemos zu sagen hat, ist eben das, was uns unsere oben aufgestellte Frage beantwortet. Der Mensch muß von neuem geboren werden, sonst kann er das Reich Gottes nicht sehn. Ein Leben muß ertödtet werden und einem andern Plaz machen, das Leben des Fleisches dem Leben des Geistes, das ist die einzige Art wie jemand in das Reich Gottes kommen kann, die neue Geburt die einzige Weise, wie immer mehrere für dasselbe gewonnen | werden. Der wißbegierige Mann hat dagegen mancherlei Einwendungen, und der Erlöser hebt sie ihm auf eine Art, die ihm wol auch viel zu denken übrig ließ, und ihm andeutete, daß nur eine höhere eigene Erfahrung ihm zur vollen Klarheit verhelfen könne. Lasset uns denselben Gang gehn, indem wir erwägen daß nur d u r c h die neue G e b u r t aus dem G e i s t d e r M e n s c h in d a s R e i c h G o t t e s k o m m e . Wir wollen e r s t l i c h nach den Worten des Erlösers unsre gemeinschaftliche Einsicht hievon in ihrer einfachen Wahrheit uns deutlich machen, z w e i t e n s sehen was jezt wie damals die Meister in

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Der Mensch kommt durch neue Geburt in das Reich Gottes

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Israel gegen diese Lehre einzuwenden haben, und d r i t t e n s wie wir keine andere Auskunft und Belehrung darüber zu geben wissen als was der Erlöser auch dem Nikodemos sagte. I. Warlich, warlich, ich sage dir, es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, sonst kann er das Reich Gottes nicht sehen; das sind die Worte des Erlösers, und das ist auch wol recht erwogen immer die g e m e i n s c h a f t l i c h e Einsicht der Christen, ich meine der Glaube der Kirche gewesen. Es giebt freilich einen Sinn, in welchem man sagen kann, jeder sieht das Reich Gottes der nur geboren ist, wie er auch sei, und jeder ist mitten darin. Denn wie das Reich eines Menschen da ist wo sein Wille als Gesez gilt, wo er zu ordnen und zu gebieten hat, in diesem Sinne ist ja das Reich Gottes überall so gewiß als Gott allmächtig ist, | und alles lebendige ist darin. Aber wir alle reden auch eben wie der Erlöser von einem Reiche Gottes, in dem nicht jeder ist. Denn wie das Reich eines Fürsten der Erde doch nicht überall, wo äußerlich nach seinem Willen gehandelt wird, sondern nur da redit ist, wo sein Wille auch der wahre gemeinsame Wille derer ist, die ihm dienen und unter ihm leben, indem alle andern in einer heimlichen Feindschaft gegen ihn, wie sehr auch der äußere Schein das Gegentheil sage, begriffen sind: eben so ist auch das Reich Gottes in diesem engeren Sinne nur in denen, welche von einem gemeinsamen Geiste, der seinen Willen in ihrem Herzen verkündigt, getrieben werden. Diese mannigfaltigen Gaben, die immer zu demselben Zwek zusammenstimmen, weil sie aus demselben Geist hervorgehn, diese Früchte des Geistes, Liebe, Freude, Friede, Geduld, Glaube, Keuschheit" 7 ; diese mancherlei Aemter, die jezt von diesem, dann von jenem — denn nie fehlt ein Anderer, wenn Einer dahin ist — aber immer treu und tüchtig besezt sind unter dem Einen Herrn, diese freiwilligen, auf immer und auf Leben und Tod verbundenen Diener im Wort der Wahrheit in der Kraft Gottes durch Waffen der Gerechtigkeit278, diese Unbekannten und überall bekannt, diese Sterbenden die immer wieder aufleben, diese Armen die viel reich machen, diese Starken die nie eitler Ehre geizig sind, sich untereinander zu entrüsten und zu hassen, das ist das Reich Gottes279. Und in jedem Einzelnen ist es, wie die Schrift sagt, Friede und Freude im hei | ligen Geist280; der Friede Gottes, der auf die ewige Liebe und Weisheit vertrauend sich durch nichts irre machen läßt in dem Glauben daran, daß der Herr sich je länger je mehr in der Welt der Geister verherrlichen werde, der Friede Gottes, durch den es still wird und ruhig in dem sonst stürmischen Gemüth, durch den die irdischen Ge-

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Predigten.

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walten der Seele zur Ruhe gebracht sind, daß sie dem klaren Spiegel gleicht, in dem alle Gegenstände sich rein und richtig abbilden; das Reich Gottes in jedem Menschen ist Freude am heiligen Geist, die über alles irdische weit erhabene Freude an der Gemeinschaft der Menschen mit Gott, die Freude die keines andern Ereignisses bedarf, als daß wir immer wirksamer die Kraft Gottes in uns fühlen und immer weniger aus dem Bewußtsein verlieren den, in welchem wir leben weben und sind*81. Aber nicht alle Menschen leben in jener Verbindung und genießen dieses Friedens und dieser Freude. Wir kennen die große Menge derer, die aus dem Fleische geboren auch nur Fleisch sind. Sie haben zwar unter sich auch alle oder wenigstens ihrer viele denselben Zwek; aber weil das, was sie suchen, für jeden nur in seinem sinnlichen Dasein liegt, so bilden sie überall keine feste Gemeinschaft kaum gegen jenes höhere Reich Gottes, sie unter sich sind nur einzeln und vorübergehend verbunden, und keiner kann schon an und für sich das, was der andere thut oder genießt, auch als sein eigen und seinen Zwek befördernd ansehen. So haben sie auch keinen andern Frieden als indem die stürmischen Leidenschaften, die | sinnlichen Triebe, oder auch die sanften fröhlichen geselligen Neigungen der Seele befriediget werden und ihrem Tichten und Trachten hiernach sich kein äußeres Hinderniß entgegensezt, und keine andere Freude als wenn sie sich im vollen Besiz der Güter und Kräfte des Lebens befinden, aus denen jene Befriedigung hervorgeht, wenn sich ihnen neue Schäze dieser Art eröfnen, wenn sie sich im Vergleich mit andern überflüßig begabt finden, und also ihre Befriedigungen auf lange oder auf immer gesichert. Das ist gewiß daß diese nicht im Reiche Gottes sind, sondern fern von demselben leben ein reiches üppiges sich herrlich ausbreitendes Leben in seiner Art. Es kann sehr verfeinert werden und veredelt, aber auch die feinste edelste Sinnlichkeit bleibt doch nur Fleisch nicht Geist282. Wenn auch in ihrem ganzen Leben keine Handlung vorkäme, die nicht in dem Leben dessen, den der Geist Gottes treibt, auch vorkommen könnte: sobald der innere Grund nur dieser ist und kein anderer, sobald Wahrheit, Rechtschaffenheit, Liebe nur als Mittel angesehn werden zum Genuß, und nur in diesem, von welcher Art er auch sei, der Zwek liegt, sobald nicht der auf Gott und göttliche Ordnung gerichtete Sinn herrscht, so fühlen wir den Unterschied auf das allerbestimmteste. Aus irgend einer noch größern Erhöhung, Vervollkommung, äußerlichen Reinigung dieses Lebens283 kann jenes niemals hervorgehn; es ist aus Fleisch geboren und bleibt Fleisch, wenn auch zur höchsten Blüthe der Gesundheit

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und Schönheit entwikelt, es giebt | keinen Uebergang wie von dem roh sinnlichen zu dem zahmen gebändigten anmuthigen, so auch von diesem zu dem wahrhaft guten und heiligen. Sollen solche Menschen in das Reich Gottes kommen, so müssen sie dort ein ganz anderes neues Leben führen, und der Anfang eines neuen Lebens ist eine neue Geburt. Und fern sind wir gewiß alle von der Anmaßung zu glauben, diejenigen die so leben könnten eben deshalb, weil sie einmal so ausgebildet sind, zu dem neuen Leben gar nicht kommen, und es sei eine neue Geburt, wenn sie ihnen audi nöthig wäre, doch nicht möglich für sie, was einmal Fleisch geboren wäre das müsse auch für immer Fleisch bleiben. Denn daraus müßte ja folgen, was Geist ist, das sei auch schon ursprünglich aus dem Geist geboren; aber das ist keinesweges das Bewußtsein welches wir von uns selbst haben. Vielmehr sagt einem jeden von uns seine Erfahrung seine bestimmte Erinnerung, daß der Friede Gottes uns nicht ursprünglich und immer eingewohnt hat, sondern daß er uns geworden ist, daß das Fleisch früher in uns geherrscht hat als der Geist. Wenn wir auch nie eine Zeit grober Vergehungen, schändender Leidenschaften, erniedrigender Lüste gehabt haben: wir sind doch nidit von Unschuld und Reinheit des Herzens anfangend allmälig immer mehr zur Fülle der Kraft und Tugend eines gottgefälligen Lebens gekommen, sondern zwischen dem Anfang unsers Daseins und unserm gegenwärtigen Leben und Streben liegt dennoch eine Zeit wo die Lust die | herrschende Kraft war, wo sie empfing und die Sünde gebar. Wenn wir ehrlich sein wollen, es giebt eine Zeit, in welche wir mit dem Gefühl zurüksehen, daß wir uns scheinen andere Menschen geworden zu sein. Was damals unser innerstes Ich und Selbst war, das ist uns ein Fernes und Fremdes geworden, und das Gesez göttlicher Ordnung, was jezt durch Gottes Gnade das Gesez unseres Geistes284 geworden ist das wir lieben und üben, das war uns damals ein fernes und fremdes, wir wurden es nur inne als eine äußere, den freien Lauf unsers Lebens hemmende Gewalt, so wie uns izt die einzelnen Regungen des Fleisches und der Sünde eine solche Gewalt sind, die wir nicht zu unserm wahren285 Leben rechnen. Und so ist es denn wahr, das eine Leben hat aufgehört und das andere hat angefangen, der Anfang des neuen Lebens aber ist die neue Geburt; und es gilt allgemein, Wenn jemand in Christo ist, der ist eine neue Kreatur, das Alte ist vergangen, siehe es ist alles neu worden28". Wir können nicht anders sagen als dies ist nach unserer christlichen Ueberzeugung der Gang des ganzen menschlichen Geschlechtes und jedes Einzelnen. So scheidet im allgemeinen

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Predigten.

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Christus zwei Zeiten des menschlichen Geschlechts und ist die Wiedergeburt desselben; die christliche Zeit ist nicht die Fortsezung der jüdischen und heidnischen, sondern eine neue. So ist für jedes Volk die Erscheinung des Evangeliums in demselben seine Wiedergeburt, nidit nur eine Vervollkommung des vorigen, sondern wie die Geschichte lehrt, | geht vielmehr oft manches, was auch gut und schön war, erst unter, und die ganze Bildung das ganze Leben schlägt einen andern Weg ein. So ist fast jede große Weltbegebenheit ein Gericht über ein mächtig gewordenes Verderben und der Keim eines neuen Lebens in irgend einer Hinsicht, und nur da wo wir beides finden und in seinem Zusammensein verstehen, nur da finden und erkennen wir eine große Erscheinung. Und eben dasselbe gilt nun von dem Einzelnen; die Sünde muß irgendwo mächtig geworden sein, das Fleisch muß gelebt und geherrscht haben, damit die Gnade mächtig werde wenn der Geist zum Leben gelangt; jeder muß erst gekostet haben von dem verderblichen Leben, dann wird er durch die zweite That der göttlichen Allmacht und Liebe geboren aus dem Geiste und wird Geist. Von dieser Verwandlung haben wir alle als Christen ein unbezwingliches und unveräußerliches Bewußtsein; und wenn wir als Mitglieder unseres Bundes im engeren Sinne solche bewillkommen, die vorher demselben nicht angehörten, so sezen wir voraus, daß sie es geworden sind durch die neue Geburt die aus Gott ist. Dennoch m. Fr. ist eben dies auf der andern Seite eine harte Rede, eine vielbestrittene Lehre; und wie jener wißbegierige und wolmeinende Meister in Israel sich nicht darin finden konnte, sondern fragte, Wie mag solches zugehen? eben so haben auch jezt sehr viele unter den Christen, auch Meister in Israel, und darunter auch wißbegierige 1 und wohlmeinende gar viel einzuwenden gegen diese Forderung, daß der Mensch müsse von neuem geboren werden, und diese Einwendungen und Bedenklichkeiten laßt uns nun zweitens auch erwägen. II. Wenn Nikodemos dem Erlöser gegen den Saz, es sei denn daß jemand von neuem geboren werde, sonst kann er das Reich Gottes nicht sehen, die E i n w e n d u n g macht, Wie kann ein Mensch geboren werden wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und aufs neue geboren werden? so dürfen wir wol nicht glauben, dieser Mann der ein Oberster unter den Juden war, ein Meister in Israel, sei so einfältig gewesen daß er geglaubt, Jesus, den er für einen von Gott gesendeten Lehrer hielt, wollte jenes buchstäblich von der leiblichen Geburt verstanden wissen, oder daß er sich,

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wenn er dies glaubte, noch weiter mit dem würde eingelassen haben, der eine solche Behauptung vorgetragen. Vielmehr müssen wir schon aus den folgenden Worten des Erlösers, da er ihm auf seine nochmalige Frage: Wie mag solches zugehn? erwiedert, bist du ein Meister in Israel und weißest das nicht? schon aus diesen müssen wir schließen, daß ihm der Ausdruk der neuen Geburt muß bekannt gewesen sein. Und er konnte ja auch nicht fremd sein bei einem Volk, welches ein so großes Bestreben und eine so feste Hofnung hatte, seinen Glauben und seine Einrichtungen auszubreiten, und welches dabei allen Werth auf seine Abstammung | ausschließend legte. Es war ein Ruhm und ein Verdienst unter diesem Volk Fremde zur Theilnahme an seinem Gesez und an seinen Hofnungen zu bewegen, aber sie konnten dazu nur gelangen, indem sie auch Theil nahmen an seiner Abstammung, sie mußten Kinder Abrahams, und daher, so konnte und mußte man es öfters ausdrüken, von neuem geboren werden. Diese neue Geburt war denn auch der Anfang eines neuen Lebens, das nicht mehr nach der Sitte der heidnischen Väter, sondern nach der Weise des neuen Vaters geführt wurde, und nach dem späteren Gesez das alle seine ächten und vollbürtigen Kinder vereinigte. Aber dieses neue Leben war freilich nur ein Leben nach einem andern äußern Gesez, das man sich durch Gewöhnung immer mehr aneignete, sonst blieb alles im wesentlichen dasselbe; dieselbe Ehrfurcht, die sich ehedem unter viele vermeinte Götter vertheilte, wurde dem Einen wahren zugewendet, der doch schon hinter jenen vielen dunkel war geahndet worden, und dieselbe Tugend deren sich ein wohlgearteter Heide gewiß schon beflissen hatte, ehe er sich zum Judenthum hinneigte, hatte er auch in diesem zu üben und auszubilden. Die neue Geburt war also gleichsam nur eine neue Geburt aus einem andern Fleisch, und eine solche konnte Nikodemos begreifen, was Fleisch geboren war blieb Fleisdi, auch ohnerachtet dieser Veränderung. Da aber nun der Erlöser von allen die das Reich Gottes sehen wollten, auch von ihm und allen seinen Brüdern eine neue Ge | burt forderte: so schloß er wohl richtig, daß von einer andern inneren2" Veränderung die Rede sei, und eben indem er die Foderung als an ihn selbst gemacht ansah, fragte er bedenklich, Wie kann audi ein Mensdi neu geboren werden, wenn er alt ist? Wie der Mensdi, wenn er so lange Fleisch gewesen ist noch sollte können aus dem Geist geboren werden und von innen ein wirklich ganz neues Leben führen, das begriff er nicht. Gar sehr verwandt hiermit sind auch die Einwendungen der Men-

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sehen unserer Tage und zum Theil der heutigen Meister in Israel. Ihre Meinung geht dahin, der Mensch verändere sich freilich beständig während seines irdischen Lebens, der eine mehr der andere weniger, und bei dem einen sei diese Veränderung mehr ein wirkliches Fortschreiten vom Guten zum Besseren, bei dem anderen mehr nur ein Wechsel verschiedener Zustände deren Werth aber ziemlich derselbe sei. Fleisch und Geist zugleich sei jeder Mensch, so seien auf gleiche Weise alle von Gott ausgestattet, bei einigen gewinne durch jene Fortschritte der Geist immer mehr Gewalt über das Fleisch, und das seien die Guten; bei andern bleibe er lange unterdrükt, zeige sich nur selten in seiner Schönheit und Kraft, und der größte Theil des Lebens sei nur den mannigfaltigen Aeußerungen der Sinnlichkeit gewidmet in heimlichem oder offenbarem gewaltsamen Streit gegen den Geist, und das seien die Bösen, der größte Theil der Menschen aber seien solche, deren Leben in beständigen Schwankun | gen vergehe ohne ein entschiedenes Uebergewicht des einen oder des andern. Aber da und geschäftig sei der Geist doch in allen; sonst könnten sie nicht Menschen sein sondern wären Thiere. Wenn nun nach einem langen scheinbaren Widerstande, während dessen aber der Geist sich innerlich und verborgen genährt, er plözlich heraustrete mit verstärkter Gewalt, so erschiene dieses als eine besondre göttliche Mittheilung und Offenbarung; und wenn von einem solchen Punkt an eine bleibende größere Obermacht desselben über das Fleisch entstehe, so denke man sich dies als eine Verwandlung und man nenne es Bekehrung, Wiedergeburt: aber es sei doch nicht der Anfang eines neuen Lebens, sondern derselbe Geist sei schon immer in dem Menschen gewesen, und habe warnend, drohend, widerstehend, strafend, beschämend in ihm gelebt und gewirkt. Denn, sagen sie, wenn man sich denken soll, daß diese Kraft, welche den Menschen zu einem höheren und besseren Leben führt und welche man den Geist Gottes zu nennen pflegt, dem Menschen erst später mitgetheilt werde, wie könnte man noch sagen daß er derselbige sei der er vorher war, wenn ein ganz neuer Bestandtheil zu seinem Wesen hinzugekommen? und wenn Einige nur ihn erhalten und Andre wieder nicht, wie kann man sagen daß beide Wesen derselben Art sind und einerlei Natur theilhaftig? Und wenn der Mensch zu jenem höheren Leben, welches die Bedingung des göttlichen Wohlgefallens und seiner jezigen und künftigen Seligkeit ist, wenn | er zu diesem nur gelangen kann vermittelst einer solchen ihm von Gott besonders mitzutheilenden Kraft, und Gott diese Kraft Einigen früher mittheilt, daß sie zu einer höhe-

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ren Vollkommenheit dieses Lebens gelangen können, und Anderen später, und diesen ihn doch288 mittheilt, wieder Anderen aber gar nicht; wie verwandelt sich uns denn das Bild des göttlichen Wesens, in welchem wir die unendliche Gerechtigkeit und die unendliche Liebe vereint zu denken uns bestreben, wie verwandelt sich uns dieses in ein Bild ganz unbegreiflicher und eben deshalb furchtbarer Willkühr? Denn warum erbarmt er sich des Einen und überläßt den andern seinem Schiksal? ist der Mensch vorher nur aus dem Fleisch geboren und ganz Fleisch, so ist auch in keinem vorher etwas das ihn des Reiches Gottes fähiger oder geneigter dazu machte, und also ist kein Grund des Vorzuges in dem einen und der Zurüksezung in dem andern. Sollte man nun das als eine christliche Lehre ansehen, oder wol gar als eine solche durch die das ganze Christenthum erst recht verständlich wird, die uns doch unser lebendiges Gefühl von Gott, das doch die Quelle alles Guten in dem Menschen ist, auf solche Weise verwirrt? — Dazu fügen sie nun noch, es sei eine die Gewissen beschwerende und verwirrende Lehre, und um ihrentwillen werde an gar vielen Menschen alles was Gott ihnen thue so weit vergeblich, daß sie zu keiner rechten Ruhe und Freude des Lebens gelangten; und wenn dies nicht noch bei weit mehreren der | Fall sei, so käme es nur daher weil sie doch wieder nicht recht fest hielten an dieser Lehre. Denn wenn mitten in dem Leben des Menschen ein neues Leben angehn müsse: so müsse man ja auch zeigen und nachweisen können, wann und wie es angegangen sei. Bei den Geschöpfen deren Leben verschiedene Gestalten nach einander annimmt sei es auch so, man nehme wahr wie das eine ersterbe und wie das andere Leben hervorbreche, und eben so müsse man also auch wahrnehmen können wann das Fleisch sterbe und wann der Mensch geboren werde aus dem Geist. Daher bei den Freunden dieser Lehre auch natürlich ein Verlangen obwalte sich des Augenbliks dieser Verwandlung dieser neuen Geburt bestimmt bewußt zu werden; je mehr nun, wie das Leben überhaupt pflegt, auch dieses neue Leben aus schweren Kämpfen unter Thränen und Seufzen entstanden sei, desto sicherer könne jeder sein, daß er aus dem Geiste geboren ist; je weniger sich Ein Augenblik als Anfangspunkt dieses neuen Lebens von allen andern bestimmt unterscheidet, desto unsicherer scheint dann auch zu sein ob die neue Geburt wirklich vor sich gegangen, und alles was das neue Leben zu verkünden scheint, wird verdächtig, ob es nicht ein leerer Schein sei. Aber wie wenige Menschen289 kommen auf einem natürlichen Wege zu einem solchen ausgezeichneten Augenblik, der die beiden

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Hälften des Lebens merklich und gleichsam sichtbar scheidet? Wieviel hat daher jene Meinung immer hervorgebracht vergebliches Ringen nach einem | solchen Augenblik, an dem die Ueberzeugung von der göttlichen Gnade besonders hafte, und auf dessen Erinnerung das Gemüth mit voller Zuversicht ruhen könne! Wieviel unnüzen Besorgnissen können die besten Menschen, die allen Lehren des Christenthums gehorsamen, dieser Einen wegen ausgesezt sein, die zu erfüllen nicht in ihrer Macht steht; und wie viele Beispiele hat es nicht wirklich zu allen Zeiten gegeben, daß diese Zweifel an dem Leben der Menschen genagt, das innerste Mark des Geistes ausgesogen und nicht selten das Gemüth in gänzliche Verwirrung aufgelöset haben! Und das sollte eine Lehre sein geoffenbart von dem Gott, der nicht einmal den Tod des Sünders will, viel weniger des Gerechten? Das sollte die Lehre des menschenfreundlichen Erlösers sein, der gekommen war zu suchen das verlorne, als wäre er vielmehr gekommen die welche auf dem graden sichern Wege wandeln in grausenvolle Verwirrungen zu stürzen? Das sind die Einwendungen der Väter und vieler Meister in Israel gegen die Worte des Erlösers, daß der Mensch müsse von neuem geboren werden um in das Reich Gottes einzugehen. Und wenn wir sie nun fragen, was sie denn aus diesen Worten zu machen gedenken, wenn sie doch Christen sind und die Worte des Erlösers gelten lassen: so wird ihnen etwa übrig bleiben zu sagen, daß diese Worte zur nemlichen Zeit ihren guten Sinn gehabt haben, und daß der Mißverstand nur darin liege, wenn man sie auch auf die gegenwärtige Zeit | anwenden wolle. Denn damals, werden sie sagen, mußte jeder, auch der in dem schon eine Gewalt des geistigen gegründet war, um in das Reich Gottes durch Jesum einzugehn, eine so große Veränderung erleiden, daß sie wol als eine gänzliche Umwandlung konnte angesehen werden. Seine Vorstellung von Gott, von der doch alles gute Tichten und Trachten des Menschen ausgeht, mußte sich ändern, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der aber doch auch nicht fleischlich als ein Göze sondern geistig als die Quelle alles Guten gedacht ward, mußte sich ihm verwandeln in den allgemeinen Vater der Menschen, der nur will die ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten280, und auch die Herzen der Heiden reiniget durch den Glauben an den Sohn. Eben so mußte sich sein ganzes Bestreben von den Aeußerlidikeiten jenes trennenden Gesezes, das eben doch auch schon weil es der Lust auf alle Weise Abbruch that ein geistiges war, abwenden auf das allgemeine Gesez unter dem sich alle Menschen vereinigen

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können. Seine Liebe mußte sich verwandeln von der engherzigen Liebe zu den Stammesgenossen, die aber doch auch der Selbstsucht und dem Eigennuz entgegengesezt ein Werk des Geistes war, in diejenige Liebe, welche in allen Menschen auf gleiche Weise das Ebenbild Gottes umfaßt, und eben so mußten auch seine Hofnungen von weltlicher Macht und Größe, die aber doch die Macht und der Glanz der Gerechten sein sollte, sich umwandeln in die Hofnung auf ein291 ganz gei | stiges Reich Gottes. Jezt aber sei alles dieses keine Umwandlung, indem schon die ersten Anfänge des Geistigen in dem Menschen, der als Christ geboren und erzogen wird, keine andere Richtung erhalten als diese, eben diese Erkenntniß werde jedem von Jugend auf eingeflößt, zu diesen Gesinnungen werde ein jeder auf alle Weise aufgefordert, und so gewiß als jeder Mensch zugleich Fleisch und Geist geboren sei, eben so gewiß habe jeder Christ von Anfang an diesen Geist, der also nur allmählig zu wachsen brauche, damit der Mensdi werde ein Mensch Gottes zu jeglichem guten Werke geschikt. III. Was wollen wir nun hierauf entgegnen? ich weiß nichts anders als was auch Christus dem Nikodemos entgegnete, Laß dichs doch nicht wundern, daß ich dir sage Ihr müßt von neuem geboren werden. Der Wind bläset wo er will, und du erkennest sein Sausen wol aber du weißt nicht von wannen er kommt und wohin er fährt, und also ist jeglicher der aus dem Geiste geboren ist. So könnten wir diesen auch sagen, sie scheinen zwar die Werke des Geistes recht gut zu kennen aber nicht zu wissen von wannen sie kommen. Ihr meint, es sei damit gethan, daß die rechte Erkenntniß jezt allen eingeflößt wird von Jugend auf, und keiner nun von Gott und göttlichen Dingen schlechter und geringer denken kann als nach dem Maaß der christlichen Einsicht, daß zu den dem Evangelium gemäßen Gesinnungen jeder aufgefordert wird auf alle | Weise, daß weil diese Gesinnungen weit verbreitet sind und öffentlich bekannt werden, jeder der die öffentliche Meinung scheut, dem an der Achtung der Menschen gelegen ist, sich auch hütet ihnen durch sein Betragen ins Angesicht Hohn zu sprechen, und wenn er sich immerfort hütet auch natürlich immer ungewohnter wird und immer unfähiger ihnen gradezu entgegen zu handeln, daß weil diese Gesinnungen und Grundsäze in alle geselligen Einrichtungen und Ordnungen übergegangen sind, nun die Sinnlichkeit der Menschen von Kindheit auf gebändigt, das Fleisch gleichsam vergeistigt werde. Damit ohngefähr sollte es gethan sein? und wenn das immer weiter ginge, sollte, ohne daß es noch einer großen inneren Veränderung brauchte, der Mensch allmählig ein Gott wohlgefälliger

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und zu den Werken Gottes geschikter Mensch werden? Ueberseht ihr wirklich den ungeheuern Unterschied zwischen der höchsten Vollkommenheit, zu welcher es der Mensch von diesem Punkte aus bringen kann, und auch der unvollkommensten Tugend des Anfängers im wahren Glauben? Wir unsererseits können nicht anders als sagen, auf jenen wirkt zwar das Reich Gottes, aber dieser allein ist wahrhaft darin und hat es auch in sich. Was jener Böses vermeidet ist, hierauf gesehen, eben so gut als ob er es gethan hätte, und was er gutes thut muß ihm eben so gut vergeben werden wie das Böse, denn es kommt nicht aus dem Glauben. J a zwischen jenem und diesem ist eine eben so große Kluft befestiget als zwischen dem in Abrahams Schooß und | dem an dem Ort der Qual292. Denn es ist nur damit allein gethan, daß dasjenige was jezt, wie ihr sagt, jeder erkennt, wiewol diese allgemeine Erkenntniß auch eine sehr untergeordnete sein muß, so lange sie eine todte bleibt, daß das in dem Menschen ein lebendiger Trieb werde, sein eigener Trieb, das Wesen und die innerste Kraft seines Lebens, nicht ein Gesez das ihm von außen kömmt und das er scheut und ehrt, sondern eigne Lust und Liebe ohne die ihm nicht wohl ist. Das ist der Glaube, von dem es zwar heißt, er kommt aus der Predigt293, das heißt aber die Gnade Gottes wirkt ihn durch Wort und Leben derer in denen er schon ist, und nicht er entwikelt sich von selbst und natürlich aus der todten Erkenntniß. Von dieser zu jenem294 giebt es keinen allmähligen Uebergang: sondern es ist nicht anders als eine gänzliche Umwandlung und neue Geburt. Oder wird irgend sonst wo von selbst und allmählig das todte ein lebendiges, das fremde ein eigenes, die Scheu und Unlust an etwas nicht etwa Gewöhnung und Gleichgültigkeit, sondern Lust und Liebe? Und so ist doch der Unterschied den wir aufgezeigt haben, denn wenn sie sich auch berufen auf die Gefühle der Billigung des Guten, der Schaam und Reue über das Böse, die sich auch in der christlichen Gesellschaft ursprünglich und wie von selbst in den Menschen entwikeln, und wenn wir auch zugeben wollen, was viel seltener der Fall sein mag als man denkt, daß diese Gefühle ganz rein und ächt sind: so bleibt es doch dabei, daß der Wille ganz | leer ist von dem was das Gefühl billigt, und auf ein ganz anderes gerichtet, daß so gewiß es sein mag daß der Mensch das Böse nicht als Böses ursprünglich will, eben so gewiß auch das Gute nicht ursprünglich als Gutes gewollt wird, und daß, wie man leider an so vielen Menschen sieht, die Stärke und Beharrlichkeit dieses Gefühls auch in der längsten Zeit den Willen nicht umschafft, daß aber wol, wenn dieses

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nicht geschieht durch Gnade, auch das Gefühl selbst sich in seiner Schärfe und Reinheit nicht erhält, sondern sich allmählich wieder zu Gleichgültigkeit und Verstoktheit abstumpft. Und wenn sie sich darauf berufen, daß jeder Mensch selbst der böseste Augenblike hat, worin er sich zum Guten wirklich bewegt fühlt, und daß es also auch für ihn keiner neuen Geburt bedürfe, sondern nur des Festhaltens dieser Augenblike: so kennen wir freilich wol alle aus einer früheren Zeit diese ungenügenden flüchtigen Rührungen, in denen der neue Mensch allerdings sich vorahnden läßt, aber wir wissen auch daß wir uns dann nur wie von einer fremden Macht ergriffen fühlten, und fühlten, daß wir Andere sein würden wenn uns diese einheimisch würde und beständig beiwohnte, aber auch der lebhafteste Wunsch vermochte nicht dieses zu bewirken. Eben dieses nun, das Umbilden des Willens, der doch der Mittelpunkt des ganzen Daseins ist, das beständige Einwohnen dessen als Geist Gottes, was vorher nur von außen und vorübergehend als Kraft des Wortes und der Kirche das Gemüth bewegte, das ist | die neue Geburt, vor welcher auch mit allen jenen Vorzügen ausgestattet der Mensch jezt wie damals dodi nur Fleisch ist, und von der niemand behaupten wird, sie falle zusammen mit der leiblichen Geburt zum irdischen Leben; denn wer das von sich behauptete der stellte sich dem Sohne Gottes gleich, vielmehr haben wir alle einmal dieses Ruhms ermangelt den wir vor Gott haben sollen295. Leichter mag sie jezt sein als zu der Zeit da Jesus mit Nikodemos redete, und muß es sein, sonst wäre kein Zusammenhang in dem Werke Gottes; aber nothwendig ist sie eben so sehr um in das Reich Gottes einzugehn, und jeder muß um so mehr darauf verwiesen werden, als der Knecht, der immerfort seines Herrn Willen hört und schon eine mahnende Stimme in sich hat die ihn daran erinnert, und ihn doch niemals thut, desto größerer Geringschäzung werth ist zu der zwiefachen Strafe. Was aber jene Verwirrungen betrift, welche daraus entstehen sollen wenn man sich an diese Worte des Erlösers hält, daß der Mensch nur durch die neue Geburt in das Reich Gottes eingehe: so haben wir keine Ursache uns durch solche Vorspiegelungen irre machen zu lassen in unserm Glauben und unserm Gefühl. Ist wol eine unter den eigenthümlichen Lehren des Christenthums, von der nicht diejenigen die dem Christenthum abhold sind, oder die sich in das Wesen desselben nicht verstehen können, dasselbe behaupteten? Aber die Gläubigen werden nicht verwirrt, sondern nur diejenigen die die | Ausdrüke des Glaubens zu Klügeleien mißbrauchen wollen, die über das

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Gebiet des Menschen hinausgehn, diese werden in ihren eigenen Nezen gefangen. Sie fragen, wenn es so beschaffen sei mit dem Geiste Gottes, und Einige ihn hätten und Andere nicht, wie man dann sagen könne, daß die Menschen einerlei Natur hätten? Aber giebt es nidit in jeder höheren lebendigen Natur Kräfte und zwar die edelsten, die sich erst später entwikeln? Wenn nun bei Einzelnen diese Entwiklung ausbleibt: so sind diese unvollkommen ausgebildet und eben deshalb krank und durch Krankheit auf mancherlei Weise gezeichnet und mißgestaltet. Und das sagen wir gern von denen, welchen der Geist Gottes fehlt; denn ihn zu haben, gehört zur ursprünglichen Natur des Mensdien, der zum Ebenbilde Gottes geschaffen ist. Sie sagen wenn der Mensch nicht von neuem geboren worden, und dies nur geschehen könne durch Gnade: so erscheine es als eine bloße Willkühr in Gott, daß er Einigen diese Gnade erzeigt und Andern nicht. Ist das nicht das Geschöpf das thörichte Worte redet wider den der es gebildet hat, Worte die ihm zu hoch sind und die es nicht versteht 8 "? Wohl, ihr nehmt keinen Unterschied an zwischen Menschen die aufs neue geboren sind aus dem Geist und denen die nur Fleisch sind; seid ihr etwa dadurch, wenn ihr dodi einmal so klügeln wollt, überhoben Gott als willkührlich handelnd zu denken? Ihr sezt doch euer Wohlbefinden, eure Zufriedenheit in der Frömmigkeit, in der Tugend, in | der Ausbildung des Geistes? oder, wenn ihr sie auch in etwas geringerem sezen wolltet, es wäre immer dasselbe. Denn Einige sind doch frömmer und besser, haben mehr Tugend und Vollkommenheit, oder wenn ihr das lieber wollt, Glüksgüter, Annehmlichkeiten, Genüsse? Wenn ihr nun alle jene Vollkommenheiten, die ihr besizt, alle diese erfreulichen Zustände, in denen ihr euch befindet, zusammennehmt: wollt ihr wol so vermessen sein zu behaupten, daß ihr das alles selbst seid? daß ihr das viele euch ganz selbst gegeben habt, oder wenn ihr nur wenig habt, das mehrere euch selbst entzogen? Haben nicht die Fügungen Gottes einen großen Antheil an der Entwiklung eurer Kräfte, an der Bestimmung eures Zustandes? Und wenn ihr auf die innerste Natur eines jeden seht, und schon da den Einen reichlich begabt findet und den Andern sparsam: hat jeder die seinige selbst gemacht oder ist sie Gottes? Also es ist nicht die neue Geburt was sie verwirrt, sondern dieses, daß sie mit Gott rechten wollen wie gar der Mensch nicht mit ihm rechten kann! War lieh noch nie ist ein Gläubiger bedenklich geworden die göttliche Gnade immer aufs neue anzunehmen, oder ist irre geworden in ihrem frischen und rüstigen Gebrauch, weil er wol gesehen daß Andere diese Gnade noch nicht

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hatten wie wir! und nie hat ein Herz das sich aufrichtig nach derselben sehnte, je deswegen trübsinnig inne gehalten und aufgehört sie vom Himmel herabzuflehen, weil doch nicht alle sie gleichermaßen besizen! | Der Mensch der das Gute will, wird so nicht irre, sondern nur der leere Klügler wird zum Thoren, indem er sich weise dünkt297. Was kann dem schaden der dem Guten nachtrachtet? Nichts, auch nicht die tiefsten Geheimnisse des göttlichen Willens. Und so müsse auch niemand von uns m. Fr. sich dadurch irre madien lassen, daß wenn eine neue Geburt nothwendig wäre, auch jeder müsse wissen und nachweisen können, wann dieses Wunder der göttlichen Gnade ihm widerfahren sei! Worauf gründet sich nur diese Forderung, die freilich viele Christen welche zuviel aus ihren eigenen Erfahrungen schlössen, gemacht haben, und die manches ängstliche Gemüth verwirrt hat? Der Erlöser sagt nidits davon; vielmehr läßt er uns frei den Worten, Ihr erkennet sein Sausen wol, aber ihr wißt nicht von wannen er kommt, eine weitere Ausdehnung zu geben, in der sie nicht sowol einen Tadel enthalten als eine nothwendige Unwissenheit des Menschen aussprechen. Oder sollte es einerlei sein zu fordern, Ihr müßt von neuem geboren werden, und Ihr müßt wissen wann und wie ihr geboren seid? Wissen wir es von unserer leiblichen Geburt anders als durch Erzählungen, die uns über das was zwischen Gott und der Seele allein verhandelt wird, niemand geben kann? Verbirgt sidi nicht der Anfang jedes Lebens vom niedrigsten bis zum höchsten in das undurchdringliche Dunkel der göttlichen Schöpfung, und von der geheimnißvollsten Schöpfung des Geistes sollte nicht dasselbe gelten? Das neue Le | ben sollte sich nicht eben so unmerklich anknüpfen und entwikeln aus dem alten? J a gewiß auch diejenigen irren sich, die den Anfang desselben wirklich belauscht zu haben meinen, es sei daß sie eine von den vielen vorbereitenden Bewegungen des Gemüthes dafür halten, von denen doch noch kein zusammenhängendes Leben des Geistes unmittelbar ausging, oder daß sie das erste volle Bewußtsein desselben mit dem ersten Anfang verwechseln. Zu diesem Bewußtsein gelangt ein jeder von uns früher oder später, es offenbart sich in einzelnen Augenblikken eines überschwenglichen Gefühls, es bewährt sich in den Früchten des Geistes Liebe, Freude, Friede, Geduld; es ist das Zeugniß des Geistes Gottes in unseren Herzen daß wir Gottes Kinder sind8"8, und an diesem lassen wir uns genügen. Aber nie wollen wir uns so begnügen in dem Gefühl und der Gewißheit unsers eigenen Lebens im Reiche Gottes, daß nicht unser herzlichstes Bestreben wäre, auch

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Andere in dies neue Leben zu fördern. Und bei diesem liebevollen Bestreben wollen wir es auf nichts geringeres anlegen und ihnen nichts geringeres vorhalten als dies große Wort des Erlösers, damit das wenige was wir thun können, in reinem Sinne geschehe, und auch wir das Werk des göttlichen Geistes unterstüzen mögen. Amen.

Predigten von F. Schleiermacher

Vierte Sammlung.

Berlin 1820 Gedruckt und verlegt bei G. Reimer.

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II. Ueber die Ehe. Zweite Predigt. Was wir so eben gesungen haben, m. a. Fr., hat euch schon gezeigt, daß mir die Seele noch voll ist von dem wichtigen Gegenstande, der uns in der lezten Morgenandacht beschäftigte, und daß ich auch heute noch davon reden werde. Es geschieht aber mit einem wehmüthigen Gefühl, denn als ich mir überlegte, wie es denn wohl jezt unter uns steht mit der Ehe, schien mir als ob unsere christlichen Gemeinen sich diese Frage nicht ohne tiefe Beschämung beantworten könnten. Ich möchte nämlich gleich sagen, wenn dieser Quell wahrer Lebensfreuden unter uns ungetrübt flösse, so könnte es überall nidit so viel Mißvergnügen, Verdruß und Kummer in der Christenheit geben. Denn eine christliche Ehe, wie wir sie uns neulich gezeichnet haben, muß ein so ruhiges Gleichgewicht, eine so unerschütterliche Sicherheit in der Seele hervorrufen, daß auch was etwa andere Verhältnisse störendes und feindseliges her | beiführen, an einer so befestigten Seele gar bald seine Gewalt verlieren würde. Doch leider brauche ich midi nidit auf diese allgemeine Bemerkung allein zu beziehen. Denn wie oft ist es nicht deutlich zu sehen, wie oft wird es nicht geradehin eingestanden, daß das eheliche Leben selbst die unmittelbare Quelle der Unzufriedenheit ist. Und daß wir uns nur nicht mit falschen Trostgründen beschwichtigen, meinend etwa die Unzufriedenheit mache sich immer am meisten laut, das Glück hingegen ziehe sich am liebsten in die Stille zurück, und daher eben geschehe es, daß nicht leicht irgend ein Fall einer gestörten unglücklichen Ehe irgendwo innerhalb ihres geselligen Kreises verborgen bleibe, von den meisten glücklichen Ehen aber spräche niemand, und noch weniger wisse man in welchem Grade sie es seien. Kenneten wir aber alles eheliche Glück, so würden wir uns wundern, wie wenig Unzufriedene

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Predigten. 1820

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und Unglückliche es eigentlich verhältnißmäßig in diesem heiligen Stande gebe. Damit wie gesagt wollen wir uns nicht trösten. Denn wenn auch unser geistiges Wohlbefinden an und für sich als Genuß des Lebens betrachtet sich in die Stille zurückzieht, so kann und darf es sich doch in seiner Kraft nicht verbergen, und es giebt keinen sichreren Maaßstab für den Reichthum und die Fülle des Guten, als den wie wenig Böses daneben aufkommen kann. Auch das könnte ich nicht annehmen, wenn jemand sagte, wo viel Licht ist, da sei auch viel Schatten. Das Christenthum habe uns so sehr erleuchtet über die höhere Bedeutung dieses heiligen ] Bundes, und es errege dem gemäß so hohe Erwartungen, daß uns nun schon vieles als Unglück und Zerrüttung erscheine, wobei wir noch zufrieden seyn würden ja glücklich, wenn wir geringere Forderungen machten. Denn ich meine, wenn wir Recht hätten einen großen Theil des Mißvergnügens in diesem Stande auf Rechnung eines so geschärften Gefühls zu sezen: so müßte eben dieses geschärfte Gefühl sich auch am meisten kund geben bei dem Anblick jenes Mißvergnügens. Nun fehlt es freilich nicht an herzlicher Theilnahme, wo wir eine unglückliche Ehe sehen; aber die Menge der minder glücklichen und geistig unfruchtbaren wird doch mit mehr Gleichgültigkeit angesehen als einem christlich gereinigten und geschärften Gefühl geziemt und auf die tiefer liegenden Ursachen dieser Mängel wird nicht mit dem Ernst und der Strenge zurükgegangen, wie es wol geschehen müßte, wenn wir von der Heiligkeit dieses Verhältnisses recht durchdrungen wären. Am deutlichsten giebt sich das zu erkennen, m. g. Fr., wenn das Band, welches im Namen der Kirche geschürzt und von ihr gesegnet worden, wieder gelöst werden muß. Wie häufig wiederholen sich nicht noch diese traurigen Fälle! und wie gleichgültig werden sie nicht noch von Vielen angesehen, wie leichtsinnig behandelt, statt daß sie als gemeinsame Schuld mit tiefer Beschämung sollten gefühlt, und das sündliche darin von allen wahren Christen auf das strengste sollte gerügt werden. Wie nun hieraus | am klarsten hervorgeht, daß wir über diesen heiligen Gegenstand noch nicht denken und fühlen wie wir sollten: so möge auch unsere heutige Betrachtung hiebei vorzüglich verweilen. Text. Matth. 19, 8. Er sprach zu ihnen, Moses hat euch erlaubt zu scheiden von euren Weibern von eures Herzens Härtigkeit wegen; von Anbeginn aber ist es nicht also gewesen.

Dies sind Worte des Erlösers aus einem Gespräch durch die Frage

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II. Ueber die Ehe. Zweite Predigt

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der Pharisäer veranlaßt, ob es auch erlaubt sei, daß der Mann sich scheide von seinem Weibe aus irgend einer Ursache. Nachdem nun Christus sich unumwunden dagegen erklärt hatte, was Gott zusammengefügt, das solle der Mensch nicht scheiden, und nachdem ihm war eingewendet worden, Moses habe es doch erlaubt; so gab er die eben gelesene Antwort, begleitet von andern strengen Worten deren ihr euch wohl erinnern werdet. W o wir nun die Rede des Herrn so deutlich vor uns haben, da können wir nicht mehr zweifeln oder streiten, sondern müssen nur suchen, sie vollkommen zu verstehen, und eben dadurch sie unsern Herzen recht tief einzugraben. So machen wir es denn heute zum Gegenstand unserer Betrachtung: Was von der A u f l ö s u n g der Ehe u n t e r C h r i s t e n z u h a l t e n sei. | Wir halten uns dabei an die Worte des Erlösers, und fragen E r s t l i c h , welches sind denn die Ursachen, wodurch sie veranlaßt wird; und Z w e i t e n s , wie steht es um unsere Befugniß dazu. I. Wenn wir uns nun bei der ersten Frage, durch was für Ursachen die Auflösung der Ehe veranlaßt worden an unsere Erfahrung halten wollen, und an die Art wie dergleichen Fälle gewöhnlich dargestellt werden, so könnten wir so mannigfaltige anführen, daß der Sache kein Ende zu finden wäre; halten wir uns aber an die Worte Christi: so giebt dieser nur eine an, nämlich die Härtigkeit des Herzens. Freilich thut er dieses nur, indem er in den Sinn Mosis des alten jüdischen Gesezgebers eingeht, und man könnte zweifeln ob nicht zu unserer Zeit und in unsern ganz abweichenden Verhältnissen, mit Recht noch ganz andere und vielleicht eher zu entschuldigende oder gar zu rechtfertigende Gründe könnten angeführt werden. Allein es wird uns doch ziemen bei den Worten Christi stehen zu bleiben, und je mehr wir sie in Verbindung mit seinem Grundsaze betrachten, das was Gott zusammengefügt hat, der Mensch nicht scheiden solle, um desto deutlicher werden wir sehen, daß in jedem Falle einer solchen Scheidung die Härtigkeit des Herzens vorausgesezt werden muß. Zweierlei nämlich hat Gott unmittelbar zusammen | gefügt, die Glieder eines Hauswesens und die verschiedenen Hauswesen eines Volkes. Denn jeder Mensch wie er sich seiner bewußt wird, findet er sich in einem Hauswesen unter Eltern und Geschwistern, und das ist nicht sein Werk, sondern es ist von Gott; und jedes Hauswesen, welches sich einen Raum suchen will, wo es sich baue, findet ihn in der Mitte seines Volkes und unter dessen Schuz, und das ist auch nicht jedesmal

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besonders gemachtes Menschenwerk, sondern Ordnung und Einrichtung von Gott, wozu der Trieb in das menschliche Herz gepflanzt ist. Wenn also einer willkührlich sein ganzes Leben von dem seines Volkes trennt: muß nicht in seinem Herzen ein Mangel sein an Gefühl von dem Werthe dieses von Gott geordneten Zusammenhanges? und dieser Mangel ist eben eine Verhärtung des Herzens. Wenn Kinder sich freventlich von ihren Eltern trennen, wenn Geschwister gegen einander kalt werden und fremd, die Veranlassung sei welche sie wolle: werden wir nicht einstimmig sagen, Härtigkeit des Herzens müsse doch dabei zum Grunde liegen? Und wenn diejenigen sich von einander trennen, die Gott zusammengefügt hat, um in jenen beiden ewigen Ordnungen des Zusammenhanges das menschliche Geschlecht zu erhalten, die er zusammengefügt hat nach demselben Gesez wie die ersten Eltern aller: wenn diese sich trennen soll es anders sein? Das wird wol niemand behaupten wollen. Aber darin werden wir hoffent | lieh einig sein, daß, da alles was Gott durch die Sendung seines Sohnes an uns gethan hat, dahin abzweckt jede Härtigkeit des menschlichen Herzens zu erweichen, alles kalte wieder zu erwärmen, alles abgestorbene zu beleben, uns Christen es weit weniger zukommen kann uns etwas zu gestatten um der Härtigkeit des Herzens willen, und daß wir uns eines solchen Bedürfnisses wegen gar hart anklagen müssen. Laßt uns daher nur diese Härtigkeit des Herzens uns näher vor Augen bringen, um zu sehen wie alles, was bei uns die Trennung der Ehe vorzubereiten und einzuleiten pflegt, darauf zurückkomme. Und hier muß ich zuerst eine in der Gesellschaft weit verbreitete und unter allen Ständen nicht seltene Härtigkeit des Herzens als den ersten Grund vieler Unzufriedenheit im ehelichen Leben anklagen. Jede Ehe unter uns, der Ausnahmen sind wohl zu wenige um ihrer besonders zu gedenken, ruht auf einem Beruf in der bürgerlichen Gesellschaft, der für das Bestehen des Hauswesens Gewähr leistet; aber in beiden zusammengenommen soll auch der Mensch seine volle Befriedigung finden. Das thut auch jeder, der beides gehörig zu würdigen weiß. Wenn der Mann in seinem Berufe arbeitet, damit er habe um die Seinigen zu ernähren und dem Dürftigen mitzutheilen; wenn er den Ansprüchen, die das Gemeinwesen, dem er angehört, an seine Thätigkeit macht, genügt, und an der Anordnung des häuslichen | Lebens den ihm gebührenden Theil nimmt: so wird er wol selten nöthig haben noch andere Geschäfte299 aufzusuchen. Dasselbe gilt von der Frau, wenn sie die Kinder erziehen, und das Hauswesen, mit den Erweiterungen desselben die aus den natürlichen Verhältnissen

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entstehen, in Ordnung halten will. Aber nicht nur von Seiten der Thätigkeit sondern auch von Seiten des Lebensgenusses sollen beide Theile sich hiedurch befriedigt fühlen. Welche reiche Quelle von Freuden in dem Anschaun ihrer gegenseitigen Arbeiten, in den Ergießungen ihres Herzens darüber, in der Kenntniß, die jeder Theil von dem besondern Gebiete des andern nimmt, in dem gedeihlichen Leben mit ihren Kindern, und in dem Antheil den sie Anderen vergönnen an diesem häuslichen Glück. Müssen es nun nicht verhärtete Herzen sein, unempfänglich für diesen durch die N a t u r und die Einrichtungen der Gesellschaft ihnen angewiesenen Kreis von Beschäftigungen und Freuden, denen ihr Beruf eine Last wird, welcher sie sich möglichst zu entziehen suchen, und das häusliche Leben ein zu enger Kreis, in dem man sich, auch wie er durch Freunde und Angehörige erweitert wird, doch nicht ohne Ermüdung herumdreht, so daß einer oder beide noch andere Freuden und Erholungen suchen, die außer dem gemeinschaftlichen Kreise liegen, und die nicht beide mit einander theilen? Und wie natürlich entsteht nicht hieraus Gleichgültigkeit und Entfremdung! und wenn entwöhnt von einander jeder durdi den andern sich je länger je weniger befriedigt fühlt, wie geringer, an sich unbedeutender, Veranlassung bedarf es dann oft nur, um die Auflösung der innerlich schon zerstörten Ehe herbeizuführen. Aber wenn es auch bis dahin nicht kommt: so werden es größtentheils wol solche entartete Ehen sein, in denen sidi am meisten eine andere Härtigkeit des Herzens entwickelt, die wir nur zu oft an den Eltern wahrnehmen gegen ihre heranwachsenden Kinder 800 . Wenn nämlich die Jugend aus christlichen Ehen unverdorben selbst diesem heiligen Bündniß allmählig entgegenreift; wenn sie nach dem Worte Gottes unterrichtet ist und auf das Bessere achten lernt, was rund umher in der christlichen Gesellschaft geschieht; muß sidi nicht in ihr eine heilige Scheu entwickeln in Bezug auf diesen wichtigsten Schritt im Leben? wird sie nicht, je mehr sie sich ihrer selbst bewußt wird, um desto inbrünstiger Gott bitten, sie vorzüglich in dieser Hinsicht zu bewahren und zu leiten, daß sie nicht vom äußeren Schein geblendet ihr besseres Lebensglück muthwillig verscherze? J a gewiß ist das der natürliche Gang, auf dem auch Gottes Segen ruhen wird. Aber wie verhärtet müssen die Herzen solcher Eltern sein, welche den edelsten Keim aus den Seelen ihrer Kinder anstatt ihn zu pflegen und gegen Ausartung und Uebertreibung zu schüzen, vielmehr gewaltsam herausreißen oder frühzeitig darin ersticken und dafür ein giftiges Unkraut hineinpflanzen? U n d geschieht das nicht, wenn Eltern spöt-

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tisch oder ernsthaft lehren, es sei eine leere Schwärmerei, daß eine im | geistigen Sinn glükliche Ehe das menschliche Herz zufriedenstellen könne, wenn sie lehren? es komme dabei weit weniger auf eine Zusammenstimmung der Gemüther an, um einen innern, als auf eine Zusammenstimmung der Umstände um einen äußern Wohlstand zu begründen. O wieviel unglückliche und verderbliche Ehen, die theils selbst wieder ähnliche hervorbrachten, theils nach langen Leiden wieder aufgelöst wurden, sind nicht geschlossen worden durch solche Herzenshärtigkeit der Eltern, sei es nun daß diese es nur bei allgemeinen Anweisungen solcher Art bewenden ließen, oder daß sie durch bestimmte Ueberredungen mehr oder weniger gewaltsam eingewirkt haben301. Doch freilich nicht selten ist es auch nicht die unmittelbare Schuld der Eltern, sondern freiwillig rennt die Jugend in das Verderben einer ungesegneten haltungslosen Ehe hinein; dann aber ist es ihres eigenen Herzens Härtigkeit. Ist sie empfänglicher für das Geräusch und den Schimmer eitler Freuden als für den reicheren und höheren geistigen Genuß, hat sie mit schon angefüllten Ohren und mit verstocktem Troz das Wort Gottes, dem sie in der christlichen Kirche nicht entgehen konnte, angehört, und fast mit schwurloser Seele und unkeuschem Vorbehalt ihr Wort gegeben beim vollen Eintritt in die christliche Kirche: o dann sind so verhärtete Herzen wol reif, eben so verstockt auch das Wort Gottes zu hören an dem Altare, wo sie den heiligen Bund der Ehe schließen, und eben so treu [ los auch da zu schwören, was sie weder verstehen noch zu halten gemeint sind. Indeß wenn auch auf diese oder jene Weise eine Ehe ist geschlossen worden, die eigentlich nicht sollte geschlossen werden, oder wenn auch durch Verirrungen, welche immer in einem verhärteten Herzen gegründet sind, eine Ehe anfängt zu kränkeln und zu welken, welche vorher frisch zu grünen und zu blühen schien: so ist noch nicht alles verloren, wenn nicht eine neue Verhärtung des Herzens hinzukommt. Denn ehe, aus welchem Grunde es auch sei, der frevelhafte Wunsch sie aufzulösen entsteht und laut wird: wieviel Augenblicke müssen nicht kommen, wo die verirrten, aber noch nicht allen besseren Regungen abgestorbenen Herzen wehmüthig aufgeregt sind, und jeder Theil mehr geneigt seinen Antheil an dem sündlichen und verworrenen Zustande bußfertig zu bekennen als alle Schuld dem andern zuzuschieben. Wie oft führt nicht das kirchliche Leben solche Augenblicke herbei vornehmlich durch seine Sakramente und seine feierlichen Gedenktage! wie oft müssen sie sich entwickeln bei frohen häuslichen

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Festen! wie sehr wird die treue Liebe besorgter Freunde und Angehörigen darauf bedacht sein sie zu vervielfältigen! Wenn dann nur einmal in einem solchen Augenblicke einer seine Gleichgültigkeit und Bitterkeit überwindet, wie viel ist dann noch zu hoffen! wie bald wird durch Milde von der einen und Dankbarkeit von der andern Seite aufgeregt die | gesunkene gegenseitige Liebe sich wieder allmählig zu heben beginnen, und das aufgelockerte Band sich wieder fester schürzen. O wie manche Ehe mag nach so überstandenem Sturme, glücklicher und segensreicher geworden sein als sie vorher war! dagegen auf der andern Seite, wenn alle Mahnungen und Aufregungen, die Gott selbst in das Leben hineinlegt, vergeblich bleiben, wie sehr muß dann das Herz verhärtet sein, in selbstsüchtiger Ungeduld mit den Fehlern des andern, in selbstgefälliger Verblendung über die eigenen, in sträflicher Gleichgültigkeit gegen die übernommene Pflicht für die Seele des andern vor Gott zu stehen wie für die eigene, und in inneren so wenig als in äußeren Widerwärtigkeiten den Gatten zu verlassen! ja wie muß selbst die allgemeine Christenliebe, die uns gebietet jedem um so mehr mit geistiger Hülfe gewärtig zu sein je näher er uns gestellt ist, ja die allgemeine Menschenliebe, die uns Ruf und Ruhe unseres Nächsten zur Vorsorge empfielt verschwinden und das Herz in gänzlicher Lieblosigkeit verhärtet sein! Und sage Niemand es gebe Fälle, wo es nicht die Lieblosigkeit sondern die Liebe sei, welche den Wunsch eine unheilbar gewordene Ehe aufzulösen herbeiführt; denn das sind unverzeihliche Täuschungen, oder heuchlerische Vorwände302. Soll es die Liebe sein zu dem andern Theil, der etwa glücklicher werden könnte in einer andern Verbindung? Wenn jener der Kranke ist, wer könnte | ihn besser pflegen und heilen als du, wenn nur statt dieser falschen auf seine Glückseligkeit gerichteten Liebe die höhere christliche auf seine Heiligung gerichtete in dir wäre; diese aber fehlt dir aus Herzenshärtigkeit. Oder bist du selbst ganz oder zum Theil der Kranke303, wer giebt dir das Recht ihn seiner heiligen Pflicht, die du allein ihm nicht aufgelegt, sondern die er vor Gott übernommen hat, leichtsinnig zu entlassen? Ja nur mit verhärtetem Herzen kannst du glauben, dein Gatte könne glücklicher werden als eben durch dich geschehen würde, wofern du dich nur, wie euer Verhältniß es mit sich bringt, ihm wolltest hingeben um dich zu verbinden zu heilen und unter Gottes Beistand zu stärken. Anderes aber, wie man bisweilen hört ein Gemüth das die Zügel verloren hat und unwillig in einem älteren Bande seufzt, könne wieder glücklich werden, wenn man ihm gestatte eine

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frevelhafte Leidenschaft zu befriedigen, das übergehe ich hier, denn es ziemt uns nicht davon zu reden. — Dann aber soll es wieder die Liebe zu den Kindern sein, welche den Wunsch rechtfertiget eine Ehe aufzulösen, die ihnen nur Streit zeigt und üble Beispiele, wodurch sie immerfort verlezt würden, und nothwendig die Ehrfurcht verlieren müßten, die der erste Grundstein einer gedeihlichen Erziehung ist. Uebel genug freilich, aber woher kommt euch diese Liebe und Fürsorge so spät? Hättet ihr eher einander mit sorglicher Liebe auf die Pfänder eurer Liebe hingewiesen: o das am sichersten hätte | eure eigene erstorbene Liebe wieder beleben müssen, und nur indem sich euer Herz auch gegen euere Kinder verhärtete, konntet ihr bis so weit kommen. Fängt es in "Wahrheit an sich gegen sie zu erweichen, so wird euch auch gegen einander mild und weich werden, und ihr werdet lieber das verlassene Werk ihrer Bildung mit gemeinsamen Kräften aufs neue beginnen. Und daß sich das so verhält m. Gel.304 könnt ihr daran merken. Wenn nämlich Jemand noch weiter gehn wollte und sagen, es sei vorzüglich die Liebe zu Christo welche dazu rathe jede unwürdige Ehe lieber aufzulösen; denn die Ehe solle ja das Bild sein von Christo und der Gemeine, und deren gegenseitiger Liebe305, welche also das nicht mehr sein könne, die werde besser getrennt, als daß sie unheilig mitten unter heiligem stehe: darüber doch würdet ihr euch alle ereifern, und solchen zurufen, wenn früher Liebe zu Christo in ihnen gewesen wäre, so würden nach einzelnen Fehltritten des einen gegen den andern ihnen Augenblicke frommer Zerknirschung gekommen sein, deren Seegen ihren Bund aufs neue geheiliget hätte; und wenn sie auch das Haupt der Gemeine erst jezt anfingen wahrhaft zu lieben, so würden sie nidit durch lieblose Trennung denjenigen ehren wollen, der auch das geknikte Rohr nicht zerbrechen und das glimmende Tocht nicht auslöschen will308. So ist es demnach von allen Seiten Mangel an Liebe, es ist Härtigkeit des Herzens irgend einer Art, was den heiligen Bund der Ehe der | Auflösung fähig macht und diese vorbereitet; aber frevelhafte Gleichgültigkeit muß das Herz zuvor erfüllt haben, ehe wirklich Hand angelegt wird um das heilige Band zu trennen, und beide Theile müssen, sei es auch oft in sehr ungleichem Maaße, die Schuld theilen. Verhält es sich nun so, und sollte uns daher unter Christen nichts tiefer erschüttern, als die Auflösung des Bundes, der uns das Verhältniß zwischen Christo und seiner Gemeine darstellen soll: so scheint II. unsere zweite Frage: W a s w i r v o n d e r B e f u g n i ß

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z u r E h e s c h e i d u n g z u h a l t e n h a b e n ? sdion von selbst beantwortet. Denn Er hat uns diese Befugniß nicht gegeben; er sagt, wer sich von seinem Weibe scheidet, ist eben so anzusehn als bräche er die Ehe; denn was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Er entschuldigt nur den Moses, der die Auflösung der Ehe erlaubt, er habe es gethan wegen der Herzenshärtigkeit. Unter uns aber, die wir dem angehören, dem das Herz vor Liebe brach, soll es solche verhärtete Herzen nicht geben. Was folgt also, wenn es doch solche giebt? wenn doch bisweilen ein ängstliches Hülfsgeschrei ertönt, daß einer Qual, die nicht zu ertragen ist, ein Ende möge gemacht werden? Was anders, als daß wir307 geschehen lassen müssen, was wider des Herrn Willen geschieht, daß wir mit wenig Vertrauen auf einen glücklichen Erfolg abwarten und zusehen, ob wol der leidende Theil gesunden wird | und sich erholen, wenn er aus dem Zusammenhang mit dem andern befreit wird. Aber daß wir uns allemal von Herzen schämen, so oft ein solcher Fall sich ereignet, über den unvollkommnen Zustand unseres christlichen Gemeinwesens, daß wir uns auf das ernstlichste immer wieder verbinden, theils der Herzenshärtigkeit entgegen zu arbeiten und sie auszurotten, aus welcher entsteht, was so übel gethan ist vor dem Herrn, und vor allem bei der Jugend ihr vorzubauen durch Zucht und Vermahnung zum Herrn; theils aber aller derer die sidi in ähnlicher Gefahr befinden uns treulich anzunehmen mit brüderlicher Warnung und Rath aus Gottes Wort, mit Besänftigung und schiedsrichterlichem Wohlmeinen, damit es nicht audi mit ihnen bis dahin komme. Das folgt natürlich, und thun wir das Alle nach bestem Vermögen, so dürfen wir hoffen, daß immer seltener die traurigen Fälle, die eine Zeitlang so ungebührlich überhand genommen hatten, sich ereignen werden, und daß endlich gar nicht mehr von einer Nothwendigkeit die Rede sein wird, das eheliche Band aufzulösen. Und so hätte ich nichts weiter zu sagen, wenn es nicht auf der einen Seite Viele gäbe, die dies grade schätzen als eine größere Freiheit, der sich die Glieder unserer evangelischen Kirche erfreuen, daß diese nicht einzugreifen wagt in die Geheimnisse des häuslichen Lebens, daß sie diejenigen nicht gewaltsam hindert, welche das eheliche Band lösen und ein anderes knüpfen wollen; und wenn nicht auf der andern Seite von Andern eben dieses | unserer Kirche zum Vorwurf gemacht würde, daß sie die Ehe nicht so heilig und unverlezlich halte, wie der Herr es geboten. Hierüber nun muß ich meine Meinung noch sagen in wenigen Worten. Moses war für sein Volk nicht nur der Stifter des Gottesdienstes und der heiligen Ge-

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brauche, sondern auch seiner bürgerlichen Verfassung; und es war nur in der lezten Eigenschaft, daß er die Ehescheidung erlaubte um der Herzenshärtigkeit willen, welche er in der ersten Eigenschaft zu bekämpfen suchte. So verhält es sich auch bei uns. Die evangelische Kirche zwar ist in anderen Zeiten und Gegenden anders gestellt gegen die bürgerliche Gesellschaft; aber nirgends ist sie es eigentlich, welche das traurige Geschäft verrichtet das Eheband zu lösen; sondern dies geschieht durch eine von der Obrigkeit eingesezte und mit richterlicher Vollmacht ausgerüstete Behörde. Zu Hülfe gerufen wird die Kirche, oder wo das nicht geschähe würde sie freiwillig hinzutreten, um zu versuchen ob das Mißverhältniß sich nicht heben lasse, ob die Uneinigen nicht könnten versöhnt werden. Ist ihr Bemühen vergeblich, so schweigt sie und trauert; aber nur die weltliche Gewalt ist es welche trennt. Daß aber die Ehe der That nach getrennt wird, die ganze Gemeinschaft des Lebens aufgelöst, und jeder Theil bei dieser Trennung geschüzt gegen den andern, wenn er ihn in dem gewählten Zufluchtsort beunruhigen wollte, das geschieht in allen christlichen Kirchengemeinschaften nicht minder als in der unsrigen, und in der unseren nicht minder als in andern mit tiefem | Schmerz und mit dem innigen Wunsch, daß in der Trennung beide Theile gesunden, und wenn sie von ihrer geistigen Krankheit genesen sind, sich zu neuer Liebe vereinigen mögen. Allein freilich ist es ein anderes solche Trennung gestatten, und gestatten, daß die Getrennten mit Anderen einen neuen Bund der Ehe schließen können. Und hier können wir den Unterschied nicht läugnen; solche Verbindungen segnet die römisch-katholische Kirche nicht ein, die unsrige hingegen thut es. Aber indem sie es thut, gehorcht sie der Obrigkeit, und ein anderes ist gehorchen, ein anderes ist billigen. Sie gehorcht in dem Gefühl, es könne wol leicht ein Einzelner zu hart gestraft werden, dessen eheliches Leben mehr durch allgemeine oder fremde Schuld zerstört ward als durch eigene; sie gehorcht, damit nicht die selbstsüchtige Hartherzigkeit, die leidenschaftliche Wildheit verdorbene Menschen zu einer rohen Verbindung hintreibe, die aller göttlichen Ordnung und christlichen Sitte Hohn spricht. Und indem sie so nachgiebt um die rechten christlichen Ehen auch vor unwürdigen Umgebungen zu bewahren, ist sie sich innerlich bewußt, die Ehe nicht minder heilig zu halten als andere. Wenn aber jemand glauben wollte, diese Möglichkeit, daß einer der sich von seinem Weibe geschieden anderweitig wieder freien und eine Abgeschiedene sich freien lassen könne, gehöre mit zu den edeln Freiheiten unserer evangelischen Kirche, den sollte man für einen

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auswärtigen halten, denn er ist von dem Geiste dieser Kirche weiter entfernt als man es einem | Mitgliede derselben zutrauen darf. Er frage doch die Diener der Kirche, wenn sie im Falle sind eine solche Ehe einzusegnen, mit welcher Freudigkeit des Herzens sie denjenigen die Pflichten christlicher Eheleute vorhalten, die sich schon einmal von ihnen losgesagt haben? welchen Eindruck sie davon erwarten, wenn sie das Bild einer christlichen Ehe denen vorhalten, die es schon einmal durch Unbeständigkeit entweihet haben? mit welcher Zuversicht sie das Ja aus einem Munde hören, der es schon einmal in Nein verkehrt hat? mit welcher Hofnung sie den Wunsch, daß nichts sie scheiden möge als nach Gottes Willen der Tod, denjenigen aussprechen, die sich schon einmal mit frevelnder Willkühr selbst geschieden haben? Doch nicht sie allein, fraget alle die sich am meisten als theilnehmende Mitglieder der kirchlichen Gemeinschaft beweisen, wie wenig Glükweissagendes Mitgefühl sie solchen Bündnissen zuwenden können. Seht, wie schmerzlich das allgemeine Gefühl der Besseren über Leichtsinn klagt, wenn derjenige durch dessen eigene Verschuldung seine Ehe getrennt ist, sich der einsamen Buße entzieht um eine neue zu knüpfen, und wie sehr noch dieses Gefühl geschärft wird, wenn es noch in seiner Macht stände sich die verscherzte Liebe reuig wieder zu erbitten. Ja hat es eine Zeit gegeben, wo die öffentliche Meinung sich lauer und gleichgültiger zu äußern schien über diesen Gegenstand, so war das dieselbe Zeit, wo auch die kirchliche Theilnahme vernachläßigt war, und die Gemeinschaft nur lose | zusammenhing; und wo ihr noch ähnliches hört, da werdet ihr es von denen hören, die auch jezt noch unserer Gemeinschaft weniger angehören, und aus Gründen, die unserem Glauben ganz fremd sind. Freisprechen dürfen wir also mit Recht unsere Kirche von dem Vorwurf, daß sie solche neue Bündnisse billige und beschüze, und dürfen hoffen, daß je mehr der Sinn unter uns herrschend wird, der eigentlich der evangelische ist, und je mehr er seinen Einfluß auch auf diejenigen äußert, welche nach ihrem Gewissen die Geseze sowol anzuwenden und zu erklären als auch zu verbessern haben, desto mehr Scheu und Vorsicht werde sich auch zeigen in der gesezlichen Vergünstigung solcher Bündnisse. Denn gewiß, nicht erwünscht sind sie der evangelischen Kirche, sondern in den meisten Fällen schämt sich derselben unser frommer Sinn, und sie erscheinen uns auch nur als eine Sache der Noth um der Herzenshärtigkeit der Menschen willen, und wir wissen es sehr gut, daß der Kirche und der bürgerlichen Gesellschaft

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Wohl nur hervorgehen kann aus Ehen, welche in ihrem Anfang und Fortgang heilig gehalten sind und Gott wohlgefällig. Möchte nur die Stimme dieses ächt christlichen Gefühls niemals verstummen vor dem Leichtsinn, der sich hie und da noch laut madit, und ernste Erwägung des heiligen Gegenstandes jeden, der es mit dem Wort und dem Werk Christi redlich meint, zurükbringen von aller Theilnahme an jener leichtsin | nigen Ansicht, die gern alles was die Ehe betrifft nur behandeln möchte als eine bürgerliche Angelegenheit! Möchten wir nur mit vereinten Kräften auf alle Weise aller Art von Herzenshärtigkeit entgegenarbeiten, welche die Gottgefälligkeit der Ehe in ihrem Ursprung und ihrem Fortgange gefährdet! Damit alle Ehen, welche die christliche Kirche segnet im Himmel geschlossen seien, und es unter uns keine Macht der Sünde mehr gebe, welche sie zu trennen vermöge. Amen.

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IV. Ueber die christliche Kinderzucht. Zweite Predigt. Wenn wir m. a. Fr. unsere Kinder, wie wir auch in unsern heutigen Gesängen gethan haben, mit in unser Gebet einschließen: so geschieht dies wol niemals lediglich in der Absicht um ihr Leben und ihr irdisches Wohlergehen mit allem, wovon es abhängt, der gnädigen Fürsorge Gottes zu empfehlen; sondern weit mehr noch um Gedeihen von oben zu erflehen für die richtige und gottgefällige Entwicklung ihrer geistigen Kräfte. Dieses Gebet m. Gel. ruht dann auf der demüthigen Ueberzeugung, daß wenn unsere vielfältigen einen so großen Theil unseres Lebens ausfüllenden Bemühungen um unsere Jugend ihr wirklich so gedeihlich werden sollen, als unser Herz es wünscht, sie ein Gegenstand der Wirksamkeit des göttlichen Geistes sein muß; es ruht zugleich auf dem frohen Vertrauen, daß sie das auch wirklich ist. Eben dieses Vertrauen ist es ja, | vermöge dessen wir schon unsere Kinder in den ersten zarten Lebenstagen dem himmlischen Vater zur Aufnahme in die christliche Kirche, das heißt in die Gemeinschaft des göttlichen Geistes, durch das Sakrament der Taufe darbringen; und so oft wir an einer soldien Handlung theilnehmen, bekennen wir uns aufs neue zu jener Ueberzeugung und diesem Vertrauen. So sollten wir denn billig auch recht einträchtig sein in unserm Wirken auf die Jugend, von welcher Art es immer sei, und dieses wichtige Geschäft bei allen Christen eine und dieselbe Richtung nehmen. Denn ist der Geist Gottes in den Herzen unsrer Kinder geschäftig: was können wir anderes sein wollen als seine Werkzeuge. Für ihn allein und in seinem Namen nicht für uns können wir an ihnen arbeiten. Aus dem heranwachsenden Geschlecht etwas bilden wollen zum Lohne oder zum Ebenbilde des veraltenden, das wollen wir denen überlassen,

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die sich selbst die nächsten sind und die höchsten, weil ihnen der herrliche Glaube an einen göttlichen Geist, der in den Menschen geschäftig ist fehlt, und somit auch der Glaube an eine Fortschreitung in allem was die eigentliche Würde des Menschen ausmacht. Wir m. Gel. können nur etwas aus ihnen machen wollen zu Gottes Ehre; sie sind uns der herrlichste Theil des Weinberges an dem wir arbeiten sollen. Sie empfänglich zu machen für die göttlichen Einwirkungen des Geistes, der auch ihnen verheißen ist, indem wir auf der einen Seite zeitig alles | in ihnen zu dämpfen suchen, was dereinst ihm widerstehen und ihn betrüben könnte, auf der andern die Sehnsucht nach dem, was nur durch seinen Beistand gedeihen kann durch Wort und That in ihnen zu erregen bemüht sind; ihnen jedes menschliche Bild das ihnen nachahmungswürdig vorschwebt zu reinigen, und an jedem verwerflichen ihren Sinn zu schärfen, damit sie fähig werden das Bild des Erlösers aufzunehmen und festzuhalten: das ist das Wesen aller christlichen Kinderzucht, das muß das eigenthümliche sein in unserm Leben mit dem jungen Geschlecht, in aller Liebe und Sorgfalt die wir ihm widmen. Je weniger aber diese Liebe selbstisches an sich hat, je weniger dieses ganze Bestreben von dem Zuge der Natur allein ausgeht und abhängt, um desto mehr kann und soll beides uns allen gegen das ganze junge Geschlecht gemeinschaftlich sein. Alle ohne Unterschied können wir, wie der Herr sagt, die Kleinen aufnehmen in seinem Namen308, denn sie sind uns Allen immer vor Augen gestellt, wie er einst seinen Jüngern jenes Kind vorstellte; und wie es der herrlichste Seegen Gottes ist unmittelbar von ihm bedacht zu sein mit einem Theile des jungen Geschlechtes, so kann es auch für diejenigen, die nicht so bedacht sind, kein würdigeres Ziel geben als dieses große Werk auf jede Weise zu fördern, und nichts zu verschmähen, was ihnen davon zu Theil werden kann. In solchem brüderlichen Sinne laßt uns heute weiter über 1 diesen Gegenstand miteinander nachdenken. Wir bitten dazu Gott um seinen Segen. Text. Ephes. 6. 4. Ihr Väter reizet eure Kinder nicht zum Zorn, sondern ziehet sie auf in der Zucht und Vermahnung zum Herrn.

Mit derselben Vorschrift, m. a. Fr., die ich neulich aus einem andern Briefe des Apostels zum Gegenstand meines Vortrages gemacht hatte, finden wir hier eine andere verbunden. So wie jene erste alles aussprechen sollte, was wir nach des Apostels Meinung am sorgfäl-

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tigsten vermeiden müssen in der Erziehung der Kinder: so, möchte ich sagen, soll diese zweite, die Kinder aufzuziehen in der Zucht und Vermahnung zum Herrn, alles enthalten wovon der Apostel, glaubt daß es vorkommen müsse in unserm Leben mit der Jugend. Freilich wenn wir bedenken wie vielerlei es ist, worauf wir Fleiß und Mühe verwenden in der Bildung und Unterweisung der Jugend, und wie wir Alle ohne Ausnahme doch nicht darauf allein ausgehen, daß sie fromm und christlich gedeihe, sondern auch daß sie zu jedem weltlichen Geschäft, welches ihr vorhanden kommen kann, geschickt werde, und daß was irgend löblich ist und anmuthig von Gaben des menschlichen Geistes sich in ihr entwickle: so muß uns auch hier scheinen, was der Apostel sagt etwas einzelnes und unzurei | chendes zu sein. Aber gewiß hat er geglaubt nicht etwas einzelnes und zufällig herausgerissenes gesagt, sondern das Ganze getroffen zu haben. Aus diesem Gesichtspunkte laßt uns die Worte des Apostels betrachten, ob nicht dennodi die ganze Grundlage jeder gottgefälligen Leitung der Jugend darin verzeichnet ist. Aber so müssen wir sie dann betrachten, daß wir fragen was dann dazu gehört, damit alles was wir an der Jugend thun ihr auf der einen Seite zur Z u c h t gereiche auf der andern zur V e r m a h n u n g z u m H e r r n ? I. Was also gehört dazu und was ist damit gemeint, daß der unter uns aufwachsenden Jugend alles was wir an ihr thun was wir sie lehren, was wir ihr auflegen, was wir ihr geben und versagen, zur Zuclit gedeihen soll? Vor allen Dingen nun müssen wir wohl erwägen, was doch der Sinn des Ausdruckes sei, auf den hier alles ankommt. Zucht, m. 1. Fr., ist nicht etwa, obgleich wir im gemeinen Leben öfters so zu reden pflegen, dasselbe wie Strafe, sondern ganz etwas anderes. Denn die Strafe folgt auf den Ungehorsam, die Zucht aber sezt den Gehorsam voraus; die Strafe ist ein Leiden, die Zucht aber ein Thun; die Strafe verknüpft bald mehr bald minder willkührlich mit dem Unrechten und Tadelnswerthen etwas unangenehmes und bitteres; die Zucht aber legt auf, eine löbliche Anstrengung der Kräfte zum Leisten oder zum Entbehren, aus welcher von selbst eine innere Freude hervorgeht. | Und wie aus dem Gesez nie etwas besseres hervorgehen kann als die Erkenntniß der Sünde309, nicht aber die Kraft zum Guten; so kann auch aus der Strafe, deren Kraft auf der Furcht ruht oder auf der bittern Erfahrung, nie etwas anderes entstehn als ein äußeres Verhüten der Sünde, nicht aber eine Abwendung des Herzens vom Bösen. Denn dieses zum Guten hinzuneigen kann nur die Liebe bewirken, welche alle Furcht, und mit ihr alle

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Kraft der Strafe, austreiben soll310. Die Zucht aber, indem sie darauf abzweckt alle Erregungen des Gemüthes in Maaß und Besonnenheit zu erhalten und die niederen Triebe der Natur unter die Herrschaft der höheren zu zwingen, bewirkt eine heilsame Erkenntniß von der Kraft des Willens und eine Ahnung von Freiheit und innerer Ordnung. Das ist die Zucht; und so sehr ist sie etwas ganz anderes als die Strafe, daß, wie jeder leicht zugeben wird, je mehr wir noch der Strafe Spielraum vergönnen müssen bei unsern Kindern, zu einer Zeit wo sie schon einer Aufregung des Willens und einer Erweckung der Schaam fähig sind, um desto unverwerflicheres Zeugniß wir ablegen gegen uns selbst, daß wir es versehen und zu wenig gethan haben in der Zucht. Denn fühlten wir, daß wir sie recht aufzögen in der Zucht, daß sie also nach allen Seiten begriffen wären in der Uebung der Selbstherrschaft, und lenksam durch das edlere Gefühl der Schaam: so würden wir nicht nöthig finden die | Furcht zu Hülfe zu rufen um durch Ein sinnliches das Andere zu dämpfen. Und eben so werden wir auch erfahren haben, daß je mehr die Zucht Raum gewonnen hat um desto mehr muß die Strafe an Wirksamkeit verlieren, weil das junge Gemüth schon geübt ist sich nicht bestimmen zu lassen durch den Reiz der Lust oder Unlust. — Wie nun aber die Zucht auf der einen Seite der Strafe entgegengesezt ist, so auf der andern auch ist sie entfernt von jener unthätigen Ruhe mit welcher leider so viele glauben der freien Entwicklung der Jugend zusehen zu müssen, ohne zu bedenken daß Gott der Herr den Himmel zwar uns vor Augen gestellt hat um ihn zu beschauen, und uns der Segnungen, die aus seinen Kräften und deren Bewegungen uns zufließen, zu erfreuen, in die menschliche Welt auf dieser Erde aber uns nicht gesezt hat als Zuschauer, sondern als Herscher in seinem Namen, als seine Werkzeuge, durch welche er, indem jeder Stärkere den Schwächeren und am meisten das reife Alter die Jugend leitet und bearbeitet, dasjenige, was seine Gnade dem menschlichen Geschlecht zugedacht hat, an demselben erfüllen will. Diese Herrschaft und Bearbeitung wird ausgeübt durch die Zucht; sind wir aber unthätig, so hindern wir die göttlichen Verheißungen. Und wenn da, wo die Strafe vorherrscht, die Hoffnung gleichsam aufgegeben ist, als könne sich der Geist Gottes der jungen Gemüther bemächtigen, indem man ja, als gebe es nichts höheres, nur danach | trachtet, jede Seite der sinnlichen Natur durch eine andere im Zaum zu halten: so herrscht da, wo man sich begnügen will der Entwicklung der Jugend sorglos zuzusehn, eine falsche Hoffnung, welche nur gar zu leicht zu Schanden werden läßt' 11 . Denn

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entweder, wenn die Ermahnung die Stelle der Zucht vertreten soll, liegt dabei der leere Wahn zum Grunde, als könne das Wort alles thun, und es bedürfe nicht der That; oder, wenn die Sorglosigkeit nicht nur ohne That sein soll, sondern auch ohne Wort, liegt der verderbliche Wahn zum Grunde, als könne eine Wirksamkeit des göttlichen Geistes auf die Kinder beginnen, ohne daß er sich dazu der Eltern und Anderer als seiner Werkzeuge bediene, oder als könne das Gute geweckt werden und sich entwickeln von Natur ohne jenen Geist der in der Gemeine der Christen lebt und uns durch den Apostel zuruft unsere Kinder aufzuziehen in der Zucht. J e mehr wir also auf der einen Seite entfernt sind von jener eben so knechtischen als tirannischen Armseligkeit, welche sich mit dem begnügen will was durdi die Strafe zu erreichen ist; je mehr wir auf der andern uns frei halten von diesem verderblichen Wahn, der sich überhebt, als ob unsere Kinder in dem, worauf es uns am meisten ankommt, etwas werden könnten durdi sich selbst, um desto mehr müssen wir erkennen und fühlen was für ein Werth liegt in der Zucht. Aber wir werden sie nicht nur als etwas Besonderes für sich in einzelnen Fällen üben, so oft uns | an unsern Kindern ein Uebermaaß auffällt, welches gezügelt, oder eine Dürftigkeit, welcher aufgeholfen werden muß: sondern, wie der Apostel uns außer der Ermahnung nichts empfiehlt als in der Zudit unsere Kinder aufzuziehen; so wird unsere Erziehung erst dann die rechte sein, wenn alles was wir an unsern Kindern thun, und alle Thätigkeit die wir ihnen auflegen und gestatten, ihnen zur Zucht gereicht, und als Zucht und nichts anderes ihnen aufgelegt und gestattet wird. Das klingt vielleicht sonderbar und überstreng, aber es ist eben so wahr als es sich auch bei näherer Betrachtung milde zeigen wird und liebevoll. Denn wo gäbe es wol christliche Eltern, welche nicht trachteten, so weit es nur ihre Lage gestattet, ihre Kinder unterweisen zu lassen in allerlei nüzlidien Kenntnissen und sie üben zu lassen in allerlei löblichen Künsten und Fertigkeiten. Auch tadeln wir gewiß alle, die das vernadiläßigen, als solche, die sich schwer versündigen an ihren Kindern, und an dem Herrn, der sie ihnen anvertraut. Aber rühmen wir unbedingt alle die es thun? Ich denke nicht; denn wenn wir sehen, daß Eltern, oder die an ihrer Statt sind, dieses thun auf eine gedankenlose Weise wie es sich eben trifft, so entziehen wir, selbst wenn sie es gut getroffen haben, dodi ihnen selbst das Lob, und rühmen nur die allgemein geltende gute Sitte und Ordnung der sie gefolgt sind, ohne zu wissen warum. Und wenn wir sehen, daß sie überlegt und

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nach Gründen handeln, sind uns diese Gründe gleichgül | tig bei unserm Urtheil? Wenn Eltern ohne abzuwarten was für Neigungen und Fähigkeiten sich in ihren Kindern entwickeln werden, oder ohne diejenigen zu berücksichtigen, welche sich schon entwickelt haben, eigensinnig darauf beharren, sie auf dasjenige zu beschränken, was auf dem besonderen Lebenswege liegt den sie selbst eingeschlagen haben, und ihnen nur dieses einzuimpfen, damit sie ihnen selbst so ähnlich werden als möglich, klagen wir da nicht bitterlich über eine unchristliche Gewalt welche der Jugend geschieht? Und die Jugend selbst, wenn sie weit genug vorrükt, um die Handelsweise ihrer Erzieher zu verstehen, muß es ihr nicht zur Störung und zum Aergerniß gereichen, wenn sie fühlt wieviel Selbstsucht unter die Liebe ihrer Eltern und Versorger gemischt ist? — Oder wenn der Jugend schon durch die Art der Unterweisung und Uebung und durch die Gegenstände derselben ein bestimmter Lebensweg angewiesen wird, weil sich auf diesem lockende irdische Aussichten zeigen, weil mancherlei Gunst und Unterstützung diesen vor andern erleichtern und anmuthig machen kann, weil an seinem Ziele mehr als anderwärts Reichthum und Ehre winken; klagen wir nicht auch da über schwere Versündigungen einer ganz verblendeten Eigenmächtigkeit, die es darauf wagt um eines ungewissen irdischen Nuzens willen die Natur von dem abzuwenden, wozu sie Gott geschaffen hat, und durch Zwang zu verkrüppeln? und die Jugend selbst, muß sie nicht auch entweder verführt werden, dasjenige | wozu sie angehalten wird, an und für sich gleichgültig zu behandeln und gering zu halten, und nur den zeitlichen Gewinn für das Höchste zu achten, oder sie muß zum nicht mindern Schaden ihrer Seele Schiffbruch leiden an ihrer Ehrfurcht gegen diejenigen, denen sie doch folgen soll. — J a selbst wenn Eltern sorgfältig den Spuren der Naturgaben nachgehn, welche sich bei ihren Kindern entwickeln, aber dann alle Kräfte übermäßig anstrengen, um als gelte es nur im Wettlauf das Ziel so schnell als möglich zu erreichen, so die Freude zu haben, sei es auch auf Unkosten oft aller Lebensfreude ihrer Kinder und mit Dranwagung alles bleibenden Gedeihens, daß ihre Kinder der übrigen Jugend voranlaufen, damit ihre gute Erziehung glänze vor der Welt, man sehe nun auf die Strenge des Betragens ihrer Zöglinge oder auf die erworbenen Schäze der Kunst und Wissenschaft: wie thut uns das weh in der innersten Seele! wie jammert es uns, daß auch die edelsten Gaben so geleitet der Jugend nur gereichen können zum eiteln unlautern Wandel! Sehen wir nun auf alle diese Abwege, m. Gel., wie schwer müssen wir es nicht finden in

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dieser wichtigen Angelegenheit unser Gewissen rein zu erhalten! Und wie werden wir es allein unverlezt bewahren? Gewiß nur dann, wenn wir bei aller Unterweisung und Uebung der Jugend weder uns selbst ein irdisches Ziel stekken, noch auch ihre Aufmerksamkeit auf etwas Weltliches und Aeußeres hinlenken, welches dadurch erreicht werden soll; sondern abgesehen von allem an | dem Erfolge nur danach trachten, daß sie selbst sehe und erfahre, was für Hülfsmittel sie besizt, mit denen sie einst das Werk Gottes auf Erden wird treiben können, und daß diese Mittel in die Gewalt ihres Willens gebracht werden, indem sie sowol Trägheit und Zerstreuung überwinden, als leidenschaftliche Vertiefung in irgend etwas einzelnes beherrschen lernt. Was heißt aber das anders als dasselbe was auch der Apostel will? Denn so geleitet wird auch Unterweisung und Uebung aller Art der Jugend nur gereichen zur Zucht; und nur indem sie dadurch gezüchtiget wird, erwirbt sie ein wahres Gut, nämlich geschickt zu werden zu jedem Werke Gottes, das ihr auf ihrem Lebenswege vor Händen kommen kann zu thun. Aber höret noch weiter, wie weit das Gebiet der Zucht sich erstreckt! Auch bei dem Umgang, den wir unsern Kindern verstatten mit ihres Gleichen, auch bei den altersgemäßen Freuden, die wir ihnen gönnen, muß vornehmlich darauf gesehen werden, daß sie ihnen zur Zucht gereichen. Auch dieses scheint freilich vorzüglich hart, wenn sogar das Zucht werden soll, was zur Erholung und zum freien Spiele gemeint ist. Aber auferzogen werden sie doch auch durch den Umgang und durch das Spiel nicht minder als durch den Unterricht und die Uebung, und wenn also der Apostel darauf besteht, daß sie auferzogen werden sollen zur Zucht, so verwirft er auch für diesen Theil der Erziehung jeden andern Gesichtspunkt. Wollen wir nun nicht um uns sehen; und wenn wir | nicht läugnen können, daß gar oft auch bei dem besten Willen vieles versehen wird in dem Umgang und den Spielen der Kinder, so daß sie dadurch Schaden leiden an ihren Seelen, wollen wir nicht zusehn ob es nicht vielleicht eben daher kommt, weil man diesen Gesichtspunkt vernachläßigt, und aus einem anderen jenen wichtigen Gegenstand ordnet? Ich will von denen Eltern und Erziehern nicht reden, die den Umgang der Jugend lediglich nach äußeren und weltlichen Rücksichten bestimmen, wie schlecht das gewöhnlich geräth, wie sie dadurch bald steif und ungelenk werden, bald auf eine bedauernswerthe Art schmiegsam und biegsam, größtent e i l s aber die schöne Kindheit ihnen auf diese Weise freudenlos vergeht; vielmehr will ich nur an die erinnern, die recht sorgfältig und

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behutsam den Umgang der Kinder so wählen, daß sie lauter löbliche Beispiele vor sich sehen, aller Streit aber und leidenschaftliche Aufregung möglichst vermieden werde. Denn auch das gedeiht oft weit vom Ziele, indem die einen eitel werden und aufgebläht, die andern mißmuthig und verzagt, zur heilsamen Selbsterkenntniß aber keiner gelangt. Denken wir hingegen an nichts weiter als ganz einfach, daß ihr Umgang ihnen eben wie uns der unsrige zur Zucht gereichen soll, damit sie lernen Gemeinschaft halten auch mit Gemüthern, die von ihnen verschieden sind, und indem jeder hülfreich ist und nachgiebig, sich ein fröhliches Leben selbst hervorrufen, störende und feindselige Gemüthsbewegungen aber bändigen lernen: dann wird auch hier | am besten für sie gesorgt sein, sofern wir nur zugleich auf Maaß und Ordnung halten, Verführung aber, die ihre Kräfte übersteigen möchte, von ihnen entfernen. So auch wenn wir ihre Spiele aus dem Gesichtspunkt der Zucht betrachten, daß sie in denselben lernen alle die Kräfte gebrauchen und beherrschen, die in ihren Arbeiten am wenigsten in Anspruch genommen werden, dann werden sie den größten Gewinn davon haben und die meiste Freude, und am wenigsten wird dann Gefahr sein, daß sie vergnügungssüchtig werden, und indem ihnen die bloße Lust als Gegentheil der Anstrengung wohlgefällt arbeitsscheu und träge, oder gar, wenn ihre Erholung dem Müssiggang nahe kommt, gottvergessen und dem Bösen Raum gebend. So sehr m. Gel. scheint mir der Apostel recht zu haben darin, daß es für alle Thätigkeit der Jugend, die wir zu beaufsichten haben und zu ordnen, keiner andern Regel bedarf als der, daß ihnen alles zur Zucht gereiche. J e vollkommner unsere Erziehung sein soll, desto weniger muß vorkommen, was wir daher nicht zu leiten wüßten. Und je mehr das von selbst geschieht durch den ganzen Zusammenhang des gemeinsamen Lebens, ohne daß wir nöthig haben seinen natürlichen Gang zu ändern oder zu unterbrechen, um desto gottgefälliger312 ist gewiß das Werk unserer Liebe und Weisheit an der Jugend. II. Jedoch, m. a. Fr., wie eine herrliche Sache es auch sein mag unsere Kinder aufzuziehen | in der Zucht: was bleibt doch das Höchste so dadurch ausgerichtet werden kann? Daß dem Herrn der Weg bereitet wird, auf dem er einziehen, der Tempel geschmückt, in welchem er wohnen könne; daß aber der Herr einziehe um ihn zu bewohnen, dazu vermag die Zucht nichts beizutragen. Daß alle Kräfte des Menschen in dem Maaß, als sie dem Geiste Gottes im Menschen zu dienen vermögen, auch geübt und geschmeidig gemacht werden, daß sie ge-

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wöhnt werden nur auf den Ruf und die Freilassung einer höheren Kraft, die aus Eltern und Erziehern warnt und gebietet, sonst aber gar nicht sich zu regen, das ist das allerdings löbliche und trefliche Werk der Zucht. Allein wenn auch unsere Kinder noch so gut lernen in treuem Gehorsam die eigene Lust zähmen und dem elterlichen Willen sich fügen: was ist damit gewonnen, wenn nicht eine Zeit kommt, wo statt der gezähmten Lust des Fleisches die Freudigkeit des Geistes in ihnen erwacht; wo sie das Gute, wozu bisher unser Wille sie aufgerufen, aus eignem Willen thun und üben, das heißt wenn nicht der Geist Gottes wirklich kommt und Wohnung macht in ihrem Herzen31®. Denn dann erst hat die Sorge und Mühe der Erziehung ihren Zweck erreicht; dann erst sind die Kräfte, die wir aufgeregt und geübt haben, an ihren rechten Herrn gekommen; dann erst können wir uns daran freuen einst unsere Jugend als selbständige Glieder der christlichen Gesellschaft mit und neben uns wirken zu se | hen. Und daß keine Zucht dieses zu bewirken vermag, wissen wir wol alle. Aber, möchte man fragen, geht das nicht wie über das Gebiet der Zucht, so auch überall über das Gebiet aller menschlichen Einwirkung hinaus? Können wir dazu überhaupt etwas beitragen? Sagt der Herr nicht selbst der Geist wehe wo er wolle, und wir könnten nicht einmal erkennen, geschweige denn gebieten wohin er gehen solle814? J a meine Geliebten, die Wahrheit jener Worte Christi wollen wir auch in dieser Beziehung anerkennen, und somit unser Unvermögen freudig eingestehen, sowol damit alle Ehre allein Gottes sei, als auch zum traurigen Trost aller christlichen Eltern, denen Gott den Schmerz zugedacht hat, daß sie ihre Kinder nicht aus ihren erziehenden Händen unmittelbar als Tempel des göttlichen Geistes hervorgehen sehn, und deren Schmerz wir nidit noch den richtenden Vorwurf hinzufügen dürfen, als sei es ihre Schuld, daß ihre Kinder den Geist Gottes noch nicht empfangen hätten. Allein bei diesem Eingeständniß unseres Unvermögens laßt uns nicht vergessen, daß derselbe Erlöser, welcher sagt, der Geist wehe wo er wolle, dennoch seinen Jüngern befohlen hat hinzugehen und zu lehren alle Völker 315 ; und daß es eben dieses freie Wehen des göttlichen Geistes war, welches den Mund derer, auf die er von oben kam, öfnete, daß sie die großen Thaten Gottes priesen. Nämlich vor allen die an der menschlichen Seele, denn größere giebt es nicht. Dies also ist es was | auch wir vermögen, und was auch uns geboten ist, daß wir in dem täglichen Leben mit unserer Jugend die großen Thaten Gottes preisen, und somit jene Sehnsucht nach dem seligeren Zustande des Menschen, durch wel-

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che angelockt der göttliche Geist in das Herz der Menschen herabsteigt, in den jungen Gemüthern zu erregen suchen, und dies eben ist es, was der Apostel nennt sie aufziehen in der Vermahnung zum Herrn, welche Worte desselben wir jezt noch zu erwägen haben. Hier aber muß ich damit beginnen eine auch unter den wohlgesinnten weit verbreitete Meinung zu prüfen, welche leicht könnte in den Worten des Apostels eine Bestätigung finden wollen, wenn man nämlich sagte, Da er dieses, die Jugend aufziehn in der Vermahnung zum Herrn als das zweite nenne, nach jenem sie aufziehen in der Zucht: so sei er auch denen zugethan, welche meinen, man hüte sich billig der Jugend zu zeitig von göttlichen Dingen zu reden und sie dem Erlöser zuzuführen; sondern erst nach der Zucht, in jenen reiferen Jahren, wo diese schon solle ihr Werk vollendet haben, werde die Jugend empfänglich für die Vermahnung zum Herrn. Allein den Apostel müssen wir von dieser Meinung wol lossprechen. Denn in jenen ersten Anfängen der christlichen Welt, wo sie nicht nur überall ganz dicht vom heidnischen und jüdischen Wesen umgeben, sondern auch deren Widerspruch und Gegenwirken ausgesetzt war, hätte es oft geschehen müssen, wenn man die Vermah | nung zum Herrn bis auf jene Zeit verschoben hätte, daß das junge Gemüth dann schon tief in das unchristliche Wesen wäre verflochten gewesen. Aber gilt nicht dasselbe nur unter einer andern Gestalt von jeder Zeit, so lange es überhaupt noch einen Kampf giebt zwischen Licht und Finsterniß? Umgiebt uns nicht ungöttliches Wesen aller Art dicht genug von allen Seiten und sucht Raum zu gewinnen und die heiligen Ordnungen der christlichen Gemeinschaft zu stören? Ist der Feind eingeschlafen, welcher wachsam genug ist um während wir schlafen Unkraut unter den Waizen zu säen316? Und that er dies schon immer, was wird er nicht thun, wenn wir den Acker zwar bearbeiten, den Waizen zu säen aber unterlassen? wird er ihn dann nicht ganz mit Unkraut anfüllen, daß der gute Same keine Stelle mehr findet? Darum findet die Lehre des Apostels die Kinder aufzuziehen in der Ermahnung zum Herren ihre Stelle auch neben der Zucht, sobald wir gewahren, daß das Ungöttliche sich den jungen Gemüthern einschmeichelnd naht. Und mit Recht; denn weder können wir es gewähren lassen, noch wissen wir demselben etwas anderes entgegenzustellen, weil wir ja nur Eines kennen, worin Heil zu finden ist, nämlich die Kraft der Erlösung. Darum sobald die Zeit der Unwissenheit vorüber ist, sobald die Sünde sich regt und das Gesez Erkenntniß der Sünde gebracht hat, ziemt es uns auch der verirrenden Seele das Bedürfniß eines höheren

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Beistandes fühlbar zu machen, ihr Gott | nahe zu bringen, und die Liebe zu dem Erlöser, der die Quelle des Lebens und der Seligkeit ist, so wie die Liebe zu Gott, der uns den Sohn geschenkt hat, in ihr aufzuregen. Das aber ist die Vermahnung zum Herrn. — Aber weshalb wol mögen auch wohlgesinnte und fromme Christen jene Besorgniß hegen, die Jugend könne auch zu früh und zu ihrem Schaden ermahnt werden zum Herrn? Offenbar wol meinen sie, die Jugend könne noch nicht verstehen, was wir ihr sagen könnten von Gott und dem Erlöser, und daher werde sie sich entweder etwas verkehrtes und sinnliches daraus machen, wodurch denn theils das Heiligste herabgewürdigt werde und theils dem Unglauben Bahn gemacht, wenn sie späterhin die Nichtigkeit ihrer Vorstellungen einsehen, und doch meinen, dies sei dasselbe was sie gelehrt worden; oder es werde ihr unsere Lehre zum todten Buchstaben, den sie gedankenlos fest halte und nachspreche, und dadurch werde theils das Heilige entkräftet, theils das Verlangen darnach, welches sich späterhin entwickelt haben würde, im voraus abgestumpft. Allein laßt uns doch fragen, begreifen w i r denn Gott? vermögen wir denn den Erlöser zu umspannen und zu messen? Vermögen wir seinen geheimnißvollen Einfluß auf uns in bestimmten allgemeingültigen und allgemeinverständlichen Ausdrükken zu fassen? Und versagen wir uns deshalb Beschäftigung mit Gott und dem Erlöser, oder Gespräch und Belehrung über beide317? Und noch | mehr, wie wollten wir denn überhaupt die Unterweisung unserer Kinder beginnen und fortleiten, und wie gewaltsam müßten wir uns nidit allen ihren Anforderungen entziehen, wenn wir alles vermeiden wollten in der Lehre und im Gespräch, was sie noch nicht verstehen? Ist irgend etwas von dem, was sich ihnen zuerst darbietet und wovon wir ihre Aufmerksamkeit nicht abzulenken vermögen, ihnen begreiflicher als der Ewige? Können wol ihre ersten Vorstellungen auch von den Dingen dieser Welt genau und richtig sein, und gestalten sie sich nicht vielmehr alles nach ihrer eigenen kindlichen Weise? Aber dennoch zeigt der stetige Zusammenhang ihrer Entwikkelung, daß auch in dieser kindischen Weise schon der Keim der Wahrheit mit ergriffen war, der sich hernach immer kräftiger entfaltet und die kindische Hülle, die ihn mehr schüzte als verunstaltete zur rechten Zeit abwirft. So dürfen wir ja noch mehr hoffen, daß auch, wenn wir ihnen über den reden, der die Wahrheit selbst ist, ein lebendiger Keim der Wahrheit, wenn gleich unter dürftiger Hülle, in ihrer Seele haften werde; und wir haben demnach auch keine Ursache

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ihnen die Kunde von Gott und dem Erlöser zu entziehen. Aber gesezt auch wir wollten es, würden wir es denn können? Und müssen wir nicht sagen, Gott sei Dank daß wir es nicht können? denn es müßte ja dann, noch weit mehr als leider doch geschieht, aus unserm häuslichen und geselligen Leben davon, daß wir einem | Volk Gottes angehören und eine Gemeine der Gläubigen bilden, alle Spuren verschwunden sein. Nein, so kann dies auf keine Weise verborgen bleiben, daß nicht die Jugend zeitig genug hören sollte von Gott und dem Erlöser. Was aber die Besorgniß betrift daß zu frühe Lehre von Gott und göttlichen Dingen den Kindern nur zum todten Buchstaben werden möchte: so wäre sie freilich gegründet, wenn wir unsere Lehre nur darauf anlegen wollten eine Wißbegierde zu befriedigen die ihnen über diese wie über andere äußere Gegenstände entstanden wäre. Aber das wäre auch keine Vermahnung zum Herrn, denn Vermahnung hat immer einen Bezug auf das was der Mensch zu thun hat und abzuändern vorzüglich an sich selbst. Wenn wir also unsere Kinder bewegen wollen in ihrem Innern, dann vorzüglich will der Apostel, daß wir sie hinweisen sollen zum Herrn. Wenn wir sie ergreifen auf solchen Regungen von Freude oder Verdruß, welche an Sünde streifen, dann sollen wir sie aufmerksam machen auf den Unterschied des göttlichen und des ungöttlichen Wesens; und meint ihr nicht, daß ein Gemüth, in welchem auch das bessere sich schon geregt hat, ihn dann am besten verstehen wird? Wenn wir sie von, sei es auch noch halb kindischem, Uebermuth gehoben und von Mißmuth gedrückt fühlen, dann schon, wie viel mehr also wenn schon größere und ernstere Fügungen auch in ihr Leben eingreifen, können wir sie hinführen | auf die Abhängigkeit des Menschen von Gott, und auf die Seligkeit dessen, der, indem er nur den Willen Gottes zu erfüllen trachtet, auf der einen Seite bei allen menschlichen Widerwärtigkeiten den Trost festhält, daß ohne den Willen des Vaters, von dem nur gute Gaben kommen318, auch nicht ein Haar von seinem Haupte fallen kann 31 "; auf der andern Seite aber alle irdischen Güter nur gebraucht als anvertraute Gabe Gottes um sein Werk zu fördern; und meint ihr nicht daß sie das verstehen können, sobald sie nur etwas von Pflicht gefühlt und etwas von den Verwicklungen des Lebens gemerkt haben? Und wenn wir merken, daß sich in ihrem aufgeregten Herzen die streitenden Gedanken verklagen und entschuldigen, dann sollen wir sie aufmerksam machen auf das Gesez, welches Gott den Menschen in das Herz geschrieben320 und durch seinen Sohn offen-

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bart hat, und sie lehren die Stimme desselben zu unterscheiden; und meint ihr nicht, daß sie fähig sind diesen Leitstern ins Auge zu fassen, sobald die Ungewißheit und der Zwiespalt in ihnen selbst begonnen hat? — Aber nicht nur zu Gott sollen wir sie führen auf diese Weise, sondern eben so sehr auch zu dem Erlöser, aus dessen Fülle sie, wie wir, vom ersten Anfang an, alle Erkenntniß Gottes und alle Gemeinschaft mit Gott nehmen sollen. Das ist auch der unmittelbare Sinn der apostolischen Worte: denn der Herr ist Christus, und in der Vermahnung zu diesem ist die Vermahnung zu Gott nur | mit eingeschlossen, wie überall der Sohn den Vater voraussezt. Und wie der Erlöser selbst seinen Jüngern gebot, daß sie den Kleinen nicht wehren sollten321, und dabei zu erkennen gab, daß auch ihnen ein Segen zurückbleiben solle von seiner Gegenwart; so dürfen wir weder an unserm Recht noch an unserer Pflicht zweifeln auch unsere Jugend zeitig zu dem, der auch zu ihrem Heil gekommen ist, hinzuführen damit er sie segne. Hat er doch selbst seinem Vater gedankt daß er das Geheimniß welches die Weisen und die Volljährigen seiner Zeit nicht annehmen wollten, den Unmündigen offenbart habe, die ihn lobsingend, als den der da kommen sollte, begrüßten322. Wie sollte es auch nicht jenem zarten Alter, dessen Seele sich überall mit Bildern zu nähren sucht, auch vorzüglich geziemen Gott im Bilde zu suchen, den, von dem wir uns kein Bildniß selbst machen dürfen323, in dem Bilde an welches er selbst uns gewiesen, den Vater in dem Sohne zu sehn und zu ehren, und ihr frommes Verlangen unmittelbar und zunächst auf das menschliche Ebenbild des göttlichen Wesens auf den irdischen Abglanz der himmlischen Herrlichkeit hinzulenken! Wie sollte die Jugend nicht sobald sie anfängt Gutes und Böses in sich zu unterscheiden, das vollkommene sich abzufordern und die Unerreichbarkeit desselben zu ahnden, auch im Stande sein den in sich aufzunehmen, der von keiner Sünde wußte324! Wie sollte sie nicht von menschlicher Liebe getragen und durch sie lebend auch ge] neigt und fähig sein die Stimme der göttlichen Liebe in Christo zu vernehmen und ihr zu folgen! Wie sollte ihr nicht sobald sie anfängt die Last des Gesezes zu fühlen und die Knechtschaft der Sünde zu ahnden, zum Trost und zur Ermunterung derjenige gezeigt werden können, der allein vermag sie von beiden frei zu machen. Und wie, können wir anders als sie zu ihm führen sobald nur ihre Aufmerksamkeit rege wird, auf das was sie von ihm hören, so daß sie fragen, Wer ist der323? J a schon sobald sie aufmerksam werden auf

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uns und unser ganzes Leben, und anfangen das Innere und Geistige desselben zu bemerken und zu fragen, Woher ist das? Könnten wir da unsern Kindern den verläugnen, dessen Leben in uns alles das ist, was sie an uns ehren und lieben? Wollten wir irgend die Ehre an uns reißen, die ihm gebührt, wenn wir sie nicht um dasselbige zu werden zu dem hinweisen, der sich selbst gegeben hat, auf daß er ihm heiligte ein Volk das tüchtig wäre zu guten Werken326. J a laßt uns auch in dieser Hinsicht jene327 ängstliche Besorgniß beseitigen, und nicht nur die heranwachsende Jugend, sondern, wie der Apostel sagt, auch die Kinder aufziehn in der Vermahnung zum Herrn, fest vertrauend daß sobald die Sünde erkannt werden kann und gefühlt, und die Frucht des Geistes begehrt, es auch nicht mehr zu früh sein könne die Gnade zu zeigen und die Erlösung zu verkündigen. Aber so wie wir sahen, daß alles was wir unsern Kindern lehren und zu thun auflegen, ihnen | zur Zucht gereichen müßte, wenn dem ersten Wort des Apostels volle Genüge geschehen solle: so würden wir auch dem zweiten nur sehr unvollkommen nachleben, wenn wir es nur auf die Worte der Lehre, und nur auf diejenigen beschränkten, welche unmittelbar das göttliche zum Gegenstand haben; sondern alle Vermahnung soll eine Vermahnung zum Herrn sein, sonst würde gar bald die eine der andern widersprechen, und jede Art, wie wir auf ihr Inneres zu wirken und es zu bewegen suchen, ist eine Vermahnung. Darum, wollen wir in ihrem Herzen entzünden die Liebe zum Guten und Rechten, so laßt uns sie ja nicht auf die irdischen Segnungen desselben hinweisen; wollen wir sie warnen vor dem Bösen, das in ihrem Herzen zu keimen beginnt, laßt uns nicht reden von den Übeln Folgen, die es nach sich zieht: denn das wäre eine Vermahnung zu den Dingen dieser Welt, nicht eine Vermahnung zum Herrn, sondern was Gott ähnlich sei und wohlgefällig oder nicht, was dem Bunde und dem Gebot des Erlösers gemäß oder zuwider, das laßt uns sie lehren unterscheiden, so wird auch das eine Vermahnung zum Herrn. Und wenn wir nicht hindern können, daß sich je länger je mehr das ganze bunte Schauspiel des Lebens vor ihnen entfaltet mit allen Thorheiten und Schwächen der Menschen, so wie mit allem Guten und Edeln: so laßt uns dabei ihre Gedanken eher ablenken von dem Urtheil der Menschen, von dem Tadel oder der Bewunderung der Welt, damit wir sie nicht ermahnen zur Eitelkeit und | zum Augendienste vor Menschen. Sondern indem wir ihnen auf der einen Seite zeigen, wie schwer es ist zu beurtheilen, was in dem Menschen ist, laßt uns sie

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vermahnen zur alleinigen Furcht vor dem der allein zu richten versteht. Und indem wir sie auf der andern lehren von allem Bösen und Verkehrten, was ihnen nicht entgehen kann, die ersten Keime in ihrem eignen Herzen wieder erkennen, und oft fern von dem was am meisten glänzt in den Augen der Welt die verborgenen Tugenden der Jünger Christi aufsuchen: so laßt sie uns dadurch vermahnen zu dem Herrn, der ins Verborgene schauet, und Herzen und Nieren prüfet.32™ — Mehr aber als alle Worte muß unser ganzes Leben, mit ihnen in wahrer und treuer Liebe geführt, die kräftigste Ermahnung zum Herren sein, so gewiß als Gott die Liebe328, und eben deshalb audi Liebe die allgemeinste und vernehmlichste Offenbarung des ewigen Wesens ist. Wenn sie unsre Liebe überall fühlen nicht als einen Wiederschein der Selbstsucht, die Ergözung und Schmeichelei sucht, nicht als ein Spiel der Willkühr, die launisch vorzieht und hintanstellt, auch nicht als einen veränderlichen Trieb der sinnlichen Natur, der eben so leicht erkalten kann als in schwache Weichlichkeit ausarten, sondern als einen, sei es auch schwachen doch nicht allzutrüben und nie ganz unkenntlichen Abglanz der ewigen Liebe, und als im engsten Zusammenhang mit dem Dienste, den wir dem Erlöser als unserm Haupte geweiht haben: so wird das die kräftigste Ermahnung zum | Herrn werden, durch welche sie erst alle übrigen verstehen und lebendig in sich aufnehmen lernen. Auf diese Weise m. Gel. wird der Apostel Recht behalten, daß alles was wir an unsern Kindern thun können darauf zurükkommt sie aufzuziehen in der Zucht und in der Vermahnung zum Herrn. Wir aber werden auch hier sagen müssen, Selig sind die reines Herzens sind denn sie werden Gott schauen329! Denn nur dann wird unsern Kindern alles zur Zucht gereichen können und zur Vermahnung zum Herrn, wenn wir mit Beiseitsezung alles eiteln und ungöttlichen, das nur aus dem vergänglichen Wesen dieser Welt herrührt, nichts anderes suchen, als daß unsere Häuser Tempel des göttlichen Geistes werden, und der Segen Gottes reichlich unter uns wohne; wenn wir nicht aufhören jegliche Vermahnung zum Herrn, deren wir selbst noch bedürfen, in gläubige und gehorsame Herzen willig und mit Freuden aufzunehmen, damit wir uns immer noch stärken zu reiner Liebe und kräftiger Selbstbeherrschung, um uns das hohe Ziel daß unsere Jugend dem Herrn zugeführt werde, durch nichts verrücken zu lassen. So wir denn dieses fest ins Auge fassen und reines Herzens verfolgen, so werden wir auch in diesem Geschäfte Gottes und seiner Hülfe

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inne werden; und weit entfernt, daß auch die zärtlichste Sorge für unsere Kinder uns von dem Leben in Gott entferne, wird es sich uns hierin | am herrlichsten offenbaren. Denn wie wir selbst bilden und heiligen, werden auch wir geheiliget und gebildet werden, und so wird ein gottgefälliger Bau emporsteigen auf dem Grunde, den der Herr selbst gelegt hat und den keiner ungestraft verrücken darf. Amen.

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IX. Ueber die christliche Wohlthätigkeit. M. a. Z. Als ich neulich über die christliche Gastfreiheit zu euch redete, brachte ich in Erinnerung, wie ursprünglich die Gastfreiheit fast überall darauf beruht habe, daß diejenigen sich auf alle Weise in einem hülflosen Zustande befanden, welche von ihrer Heimath entfernt in die Fremde verschlagen waren. In jenen früheren Zeiten also war die Gastfreiheit, welche sich des heimathlosen, und die Wohlthätigkeit, welche sich des hülflosen annimmt, größtentheils dasselbe. Jezt sind beide sehr von einander getrennt; die gesellige Gastfreiheit kann von ihrem leiblichen Anfang grade auf ihr geistiges Ziel hineilen, die Wohlthätigkeit bleibt unmittelbar beim leiblichen stehen, und macht ganz andere Menschen zu ihrem Gegenstande. Allein verwandt sind doch beide auch jetzt noch. Denn jeder fühlt wohl, daß sofern der Gastfreiheit doch auch das leibliche unentbehrlich ist, jeder nur ein Recht hat gastfrei zu sein, sofern er es zugleich an der Wohlthätigkeit nicht fehlen läßt; und wer wohlthätig | wäre, aber gar nicht gastfrei, von dem würden wir doch zweifeln, ob seine Wohlthätigkeit die rechte sei. Und gleich natürlich geht auch die eine wie die andere aus dem christlichen Sinne eines wohlgeordneten Hauswesens hervor. Denn keins besteht dermalen für sich und durch sich allein: die Hülfsmittel des Lebens werden nur in dem allgemeinen Verkehr gefunden, und je vielseitiger sich dieses verbreitet, je größere Fülle von Hab und Gut die Herrschaft des Menschen über die Erde erzeugt, um desto größere Ungleichheit in dem äußeren Zustande der Menschen entsteht und erneuert sich überall, und in dieser Ungleichheit erzeugt sich ganz natürlich bei Allen, die noch irgend gerecht sein wollen, die Wohlthätigkeit. Gering ist verhältnißmäßig immer nur die Zahl derer, welche in Beziehung auf das äußere Leben

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vor andern so beglückt sind, daß ihr Wohlstand gegen alle Wechsel menschlicher Dinge gesichert erscheint; bei weitem die Meisten sind solche, die sich bald mehr zu haben dünken als andere, bald auch wiederum weniger als ihnen gebührt, die aber eben aus diesem schwankenden Bewußtsein am sichersten abnehmen können, daß sie haben was ihnen zusteht und in glücklicher Mitte leben. Denn gar viele giebt es hinter ihnen, von denen das Gefühl, daß sie in Absicht auf alle äußeren Güter des Lebens zu kurz gekommen sind, gar nicht weichen will. Und müssen wir nicht gestehen, daß ohne jenen zusammengesetzten und verwickelten Zustand der menschlichen Dinge, | aus dem uns der größte Theil der Annehmlichkeiten des Lebens entsteht, ein so großer Unterschied gar nicht statt finden könne? daß wenn wir nicht auf eine so erfreuliche Weise genug und übrig hätten, nicht so viele unserer Brüder zu wenig haben könnten? Da wurzelt also in der bloßen Gerechtigkeit das Bestreben zu helfen und auszugleichen; wir machen den göttlichen Segen im Aeußeren uns selbst dadurch genießbarer, daß wir das peinliche Gefühl derer lindern, welche durch dieselbe Verbindung der Menschen, durch die wir gesegnet worden sind, an ihrem Theile scheinen verkürzt worden zu sein. Daher ist nun diese Wohlthätigkeit nicht etwas zufälliges, sondern weil sie auf den unvermeidlichen Wirkungen des gemeinsamen Zustandes der Menschen beruht, ist sie etwas wesentliches. Darum finden sich auch mehrere Anweisungen darüber in der Schrift, und in der christlichen Kirche haben, seit dem ersten Anfange derselben, heilsame und nothwendige Ordnungen bestanden, nach denen sie ist ausgeübt worden330. Aber sie kann nur geübt werden und ihren Zweck erreichen, wenn in jedem christlichen Hausstande ein richtiger Sinn dafür sich bildet, und bei aller Vertheilung des Erworbenen auf die Werke der Wohlthätigkeit Bedacht genommen wird. Darum hat es mir nothwendig geschienen, zu unsern bisherigen Betrachtungen über das christliche Hauswesen auch noch eine über die christliche Wohlthätigkeit hinzuzufügen. | Text. Ephes. 4, 28. W e r gestohlen hat, der stehle nidit mehr, sondern arbeite und schaffe mit den H ä n d e n etwas Gutes, auf daß er habe zu geben dem Dürftigen.

Die Worte klingen theils sehr schlicht, theils sogar rauh, sie scheinen auf einen sehr unvollkommnen Zustand der christlichen Gemeinschaft hinzuweisen, welcher noch Warnungen nöthig macht, die uns

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jetzt 331 völlig überilüßig erscheinen. Sie machen auch gar wenig Aufhebens von der Sache, worauf es ankommt, und heben keine Bewegungsgründe dazu hervor; und so scheinen sie vielleicht auf keine Weise geeignet unsere Betrachtung über die christliche Wohlthätigkeit zu leiten. Allein m. Gel., gar wohlbedächtig und absichtlich habe ich, da es ja an andern in unsern heiligen Schriften nicht fehlte, gerade diese schlichten Worte gewählt, weil es mir weniger nöthig scheint, euch mit dringenden und beweglichen Aufforderungen zur Wohlthätigkeit zuzureden. Denn deren bedarf es in der That nicht, denn ihr seid beweglich genug in dieser Hinsicht, und sprecht leicht an, wenn euch jemand auffordert, so daß auch der Ruf eurer Wohlthätigkeit weit verbreitet ist. Allein demohngeachtet will es mir bedünken, als ob noch mancherlei unrichtiges sei in der unter uns gewöhnlichen und herrschenden Art der Wohlthätigkeit, wovon wir | uns noch losmachen müssen, und als ob es heilsam sein möchte, solche Ueberlegungen zu veranlassen, durch welche der Boden gereinigt werde, auf welchem dann eine Gott wohlgefällige und wahrhaft christliche Wohlthätigkeit gedeihen kann, und dazu scheinen mir die verlesenen Worte sich ganz vorzüglich zu eignen. I. Ich fange damit an, nach Anleitung unseres Textes die f a l s c h e U n t e r l a g e , auf welcher gar manche gepriesene Wohlthätigkeit ruht, hinwegzuräumen. Denn das haben jene rauh klingende Worte im Sinn, die manchen zarten Ohren mögen anstößig gewesen sein, Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr. Denn bleiben wir bei dem Buchstaben stehen, so sollte davon unter Christen gar nicht mehr die Rede sein; ja auch abgesehen von allem was die Frömmigkeit wirkt, theilen wir gewiß alle das Gefühl, daß schon bei einer gewissen Ausbildung des äußeren Lebens in der Gesellschaft solche Beeinträchtigungen der Gerechtigkeit nur begangen werden können von den rohesten, verworfensten Menschen, die wir gar nicht Ursach haben in unseren Versammlungen zu suchen. Aber m. Gel., laßt uns nicht bei dem troknen Buchstaben stehen bleiben, sondern dessen eingedenk sein, was wir schon in unserer Kindheit gehört haben als die richtige Auslegung des alten Gebotes332, worin derselbe Ausdruck vorkommt, wie damit nicht nur jene ausdrücklichen Verlezungen des Eigenthums gemeint | sind, welche sobald sie nachgewiesen sind, die Ahndung der bürgerlichen Gesellschaft nach sich ziehen, sondern alles was sich nur durch eine ausweichende zweideutige Auslegung jener allgemeinen Regeln rechtfertigen läßt, welche die Grundpfeiler der Treue und Gerechtigkeit sind. Jedes irgend bewußte Uebervortheilen, jede Hand-

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lungsweise, die, weil sie vortheilhaft ist, man sich scheut der strengsten eignen und öffentlichen Prüfung zu unterwerfen, jede Erwerbungsart, die nidit in jener wahren und höheren Gesezmäßigkeit begründet ist, welche fordert daß alles, was jeder für seinen eignen Vortheil thut, mit dem gemeinen Wohl und mit dem Wohl aller Einzelnen, die dabei betroffen sind, zusammenstimme, alles dieses ist schon Abweichung von der strengen Rechtschaffenheit in Verkehr und Geschäften und fällt unter die Warnung des Apostels. Es scheint freilich unfruchtbar m. Gel., nur solche allgemeine Ausdrücke aneinander zu reihen; aber es ist auch schwer und fast unendlich, ins Einzelne zu gehen. Indeß will ich eines und das andere wenigstens berühren, was einem solchen Mittelpunkt des geschäftigen Lebens wie unsere Stadt vorzüglich eignet. — Die Schrift selbst sagt, „Gott der Herr hat den Armen neben dem Reichen gemacht"333; und was auch wohlmeinende Menschen von Zeit zu Zeit geträumt und sich in mancherlei Gestalten ausgebildet haben von einer äußeren Gleichheit der Menschen, wir wissen es ist ein Traum den der Höchste nicht billigt, weil sich kein irgend entwickelter Zustand der mensch | liehen Gesellschaft damit verträgt. Denn könnte auch heute durch ein Wunder Gottes oder ein freiwilliges Zusammentreten der Menschen eine solche Gleichheit entstehn: so würde morgen schon die Ungleichheit wieder da sein, und zwar so, daß wir offenbar sähen, der Herr habe sie gemacht, nicht nur indem er den Einen vor dem Andern mit Verstand und Geschick in seinem Geschäft begabt hat, sondern auch durch jenen wechselreichen Einfluß der äußeren Natur auf die menschlichen Bestrebungen, den wir zwar immer mehr, aber nie ganz in unsere Gewalt bekommen, und durch jene allgemeine Verkettung der menschlichen Angelegenheiten, in der immer das kleine durch das große und das große durch das kleine auf eine nicht zu berechnende Weise bestimmt wird. Aber wenn wir nicht läugnen können, daß auf diese Weise immer aufs neue Gott der Herr selbst den Armen neben dem Reichen hinstellt: so müssen wir doch einsehen, es ist sein Wille, daß die Liebe diesen Gegensaz mäßigen soll; wir müssen einsehen, die belebendste Vertheilung menschlicher Kräfte sei nur da, wo dieser Gegensaz in gewissen Schranken gehalten wird, weil nur unter dieser Bedingung jeder alle menschlichen Pflichten erfüllen kann" 4 . Wenn aber der Reiche die Abhängigkeit von ihm, in welche die Unbemittelten früher oder später gerathen, nicht so gebraucht, daß ihnen selbst dadurch aufgeholfen wird, sondern so eigennüzig, daß er immer reicher wird, jene aber immer tiefer in die Dürftigkeit | versinken;

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wenn der Reiche denkt, damit ich nur immer reicher werde, mögen jene immer mehr und mehr arbeiten müssen mit ihren Händen und Gutes schaffen für mich; wenn sie auch bei aller Arbeit nicht gewinnen, um den Dürftigen selbst etwas mitzutheilen, ich will es sdion gut machen und den Dürftigen desto mehr geben; wenn ich nur reich werde, mögen sie auch so arm werden, daß sie wenig oder nichts mehr beitragen können zu den allgemeinen Bedürfnissen der Gesellschaft, ich will schon desto mehr auf mein Theil nehmen; mögen sie auch so arm werden, daß sie selbst die Pflicht nicht mehr erfüllen können, für die Erziehung ihrer Kinder zu sorgen, ich will sie schon erziehen lassen, ich kann das sogar wohlfeiler bestellen und besser: dann wird der Gegensaz zwischen den Reichen und Armen auf eine unnatürliche Weise überspannt, und der Reiche bestiehlt den Armen um den edelsten Theil seines Daseins. Ferner wieviele giebt es nicht, zumal an einem Ort wie der unsrige, die nicht nur mit Einzelnen in Verbindung stehn, sondern vielmehr ihr Geschäft auf mancherlei Weise treiben mit der Verwaltung des Ganzen335 und deren einzelnen Zweigen. Ich glaube dieser Gegenstand darf nur genannt werden, um zugleich die lockern Grundsäze in Erinnerung zu bringen, die in dieser Hinsicht gar manche sonst nicht verwerfliche Menschen befolgen. Aber wenn einer den übermäßigen Gewinn, den er am Ganzen336 macht, welches doch von allen Einzelnen muß gehalten werden, dadurch beschönigen | will, daß von keinem Einzelnen auch nur im mindesten gemerkt wird, was er deshalb dem Ganzen mehr thun und leisten muß, heißt das etwas anderes, als den Betrug durch die Heimlichkeit rechtfertigen wollen? und sollen wir die Unzufriedenheit und die Unordnung, die dadurch auf alle Weise hervorgebracht und unterhalten wird, auch nur in ihren äußeren Folgen angesehen, für nichts rechnen? Sehet da, m. Gel., dieses und alles ähnliche gehört mit unter das Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr! und nun laßt mich nicht mehr fragen, ob wir so weit hinaus sind über diese Ermahnung, als es auf den ersten Anblick schien. Aber das laßt uns zu Herzen nehmen, daß der Apostel diese Ermahnung vor die Aufforderung zur Wohlthätigkeit stellt, als ob er uns sagen wollte, Ehe ihr daran denkt wohlthätig zu sein, die Dürftigen zu unterstüzen, seid zuvor gerecht, leget alle auch die geheimste Ungerechtigkeit ab, welche eben am meisten Dürftige macht. Ja ich möchte noch mehr sagen, er wählt die gradesten, trokensten Worte, die ohne verlegene Beschämung gar nicht angehört werden könnten, als ob er sagen wollte, einer Gesellschaft aus welcher noch nicht alles Unrecht dieser

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Art verbannt ist, gereicht auch die freigebigste Wohlthätigkeit nicht zur Ehre sondern zur Schmach. Denn was sind solche Wohlthätige anders als, wie der Erlöser sagt, übertünchte Gräber 337 ; die Höhle des Raubes soll mit einem glänzenden Schimmer geschmückt werden und mit heiligen Zeichen verziert, und nach jeder solchen heuchlerischen That kehrt der böse Geist mit erneuter | Kraft zurück und freut sich seine Wohnung so betrügerisch geschmückt zu finden338; das Gewissen das eigne sowol als das gemeinsame, was wir die öffentliche Meinung nennen, soll beschwichtigt werden und irre geleitet, als ob das Böse ausgeglichen werden könne durch das gute Werk! Und was sind doch gewöhnlich die glänzendsten milden Gaben, im Vergleich mit dem Reichthum der auf ungerechtem Wege erworben ist? ein kaum zu nennender Theil desselben! Und der da viele in Armuth gebracht339 hat, um selbst desto reicher zu werden, wieviel weniger giebt er immer nicht nur dem innern Gehalt nach, sofern das Scherflein des Dürftigen mehr werth ist als das Pfund des Reichen, sondern wirklich auch dem äußeren Werth nach wieviel weniger, als die Vielen zusammen genommen würden gegeben haben, hätte jener ihnen nur etwas mehr Raum gelassen um sich frei zu bewegen! — Und daß nicht etwa jemand sage, gesezt auch es gebe Einzelne unter uns, mit deren Wohlthätigkeit es nicht viel besser stehe: so können wir übrigen uns das doch nicht zurechnen, und unsere Wohlthätigkeit bleibt in Ehren! Denn so ist es nicht; vielmehr ist das das Wesen des christlichen Lebens, daß, wie alles Verdienst gemeinschaftlich ist, so auch alle Schuld. Sollte nicht jeder, der gern wohlthätige Unternehmungen befördert, sich scheuen die Opfer derer anzunehmen, deren Reichthum auf irgend eine Weise befleckt ist? sollten sie sich nicht scheuen, demüthige und fröliche Geber in Gemeinschaft zu bringen mit verdächtigen Namen? Sollten wir uns nicht | scheuen, den Dürftigen zu allem, was sie drückt, auch noch den Unsegen des ungerechten Gutes zuzuführen, das auch mitgetheilt nicht gedeihen kann? J a laßt uns auf alle Weise streng sein gegen jede Wohlthätigkeit, die nicht die reinste und vorwurfsfreiste Gewissenhaftigkeit zur Grundlage hat. Wer da unrecht gethan hat, der lege es zuvor ab, damit nicht seine Wohlthätigkeit befleckt sei von seinem Unrecht. Hat er es aber abgelegt, dann möge er sagen, Und was ich unrecht erworben, das gebe ich zwiefältig den Armen340. II. Nachdem wir uns also verständiget haben über den einzigen Grund auf dem eine gottgefällige Wohlthätigkeit erbaut werden kann: so laßt uns nun in dem Licht unseres Textes auch den f a l s c h e n

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IX- Ueber die christliche Wohltätigkeit

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S c h i m m e r betrachten, mit dem nur gar zu oft die christliche Wohlthätigkeit umgeben wird, damit wir uns deshalb schämen. Was sagt der Apostel in unserm Text weiter? Jeder arbeite und schaffe mit den Händen etwas Gutes, damit er habe zu geben dem Dürfligen. Das klingt wahrlich gar nicht groß und prächtig, gar nicht als eine ganz besondere Tugend oder Seligkeit, wie doch gar oft die Wohlthätigkeit gewiß mehr zum Schaden als zum Nuzen vorgestellt wird. Denn diese Worte sagen doch von ihr nichts mehr und nichts weniger, als daß sie das richtige Maaß unserer Arbeit sei. So wenig wir uns nun der Arbeit, die wir mit unsern Händen schaffen, als sei sie etwas großes und herrliches besonders zu rüh | men pflegen: eben so wenig ist auch das etwas großes, wenn wir das richtige Maaß dieser Arbeit erfüllen; und weiter soll nach unserm Text die Wohlthätigkeit nichts bedeuten. Die Meinung nämlich ist die. Eben weil der widrigen Umstände wegen, oder wenn besondere Unglücksfälle eintreten, gar mancher auch beim besten Willen nicht so viel mit seiner Arbeit schaffen kann, als er mit den Seinigen braucht: so thut jeder zu wenig der nicht mehr erarbeiten will, als er selbst bedarf; sondern jeder soll bemüht sein mehr zu schaffen als er braucht, damit er etwas habe jenen Unvermögenden mitzutheilen. Und daß nur dies das richtige Maaß unserer Arbeit ist, wenigstens in dem Zustande des menschlichen Lebens der damals schon bestand und jetzt auch noch, das kann wol niemand läugnen. Denn wenn es uns gelingt, durch die Arbeit unserer Hände uns zu verschaffen, was zu unserm und der Unsrigen eigenen Leben gehört: so ist das freilich zunächst die Frucht unseres Fleißes; aber unser Fleiß vermag doch nur uns dieses zu verschaffen unter Voraussezung jener Leichtigkeit und Zuverläßigkeit des Verkehrs und der Mittheilung, die nur durch unsere bürgerliche Ordnung und die mannigfaltigsten öffentlichsten Sicherheitsanstalten möglich wird 3 ". Diese Anstalten also müssen erhalten werden, und schon dazu muß unser Fleiß, soll er nicht ganz vergeblich sein, mehr herbeischaffen als wir selbst unmittelbar für uns selbst braudien. Aber wenn der Armuth nicht abgeholfen wird, wenn die Zahl der Dürftigen überhand nimmt: so wird gar | bald die Sicherheit aller jener Verhältnisse, auf denen der Erfolg unseres Fleißes beruht, mehr oder weniger unmittelbar gefährdet werden. Indem wir also unserer Arbeit die Ausdehnung geben, daß wir auch etwas haben für die Dürftigen: so erfüllen wir nur das rechte Maaß derselben in den von Gott angeordneten Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft, wir thun nichts, als was bei richtiger Berechnung dieser schon

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die Rücksicht auf unsern eigenen dauernden Vortheil uns auflegt. Da ist also nichts weiter besonders zu rühmen, sondern wenn wir unterlassen haben, was uns hierin obliegt, so sind wir faule Knechte und haben uns vor der natürlichen Strafe zu fürchten, haben wir gethan was uns obliegt, haben wir uns bei steigender Noth angestrengt um immer mehr zu thun, so mögen wir uns hinstellen342, und wenn wir mit weichlichen Lobeserhebungen überhäuft werden, mögen wir in Wahrheit sagen, wir sind unnüze Knedite343, denn wir haben nur das uns zugewiesene Maaß menschlicher Arbeit erfüllt. Indem nun der Apostel uns die Wohlthätigkeit aus diesem einfachen und schlichten Gesichtspunkt darstellt, zeichnet er uns auch den Umfang derselben so bestimmt, daß wir gestehen müssen, eben so wenig als sie ein besonderer Ruhm ist, eben so wenig schließt sie audi eine vorzügliche Seligkeit und Zufriedenheit in sich, die sicäi nur ausgezeichnet Beglückte verschaffen können. Denn der Apostel führt die Wohlthätigkeit bis dicht an die Grenzen der Dürftigkeit selbst hinab. Auch diejenigen, welche mit ihren Händen arbeiten | müssen, sollen schaffen soviel sie können, nicht nur um nicht selbst in die immer drückende Lage zu kommen, daß sie nur durch die Hülfe Anderer bestehen können, sondern auch um selbst noch etwas denen zu geben, die schon in dieser Lage sind. Denn beides liegt nahe genug aneinander; wer gar nicht mehr mittheilen kann, der wird gar bald selbst der Mittheilung bedürfen. So ist denn die Wohlthätigkeit, von dieser Seite angesehen, wiederum nichts anders als das Maaß unserer Entfernung von der Dürftigkeit, weil die rechten Gegenstände der Wohlthätigkeit diejenigen sind, die selbst nicht mehr wohlthätig sein können; und also ist keine besondere Seligkeit darin zu sezen, daß, indem wir die Dürftigen erleichtern, wir fühlen, daß wir selbst nicht dürftig sind. Und bei allem Scheine von Ungleichheit, als ob diejenigen wenigstens, deren Wohlthätigkeit ins Große gehen kann, eine große Glückseligkeit voraus hätten, zeigt die genauere Betrachtung auch hier eine völlige Gleichheit. Derjenige, welcher unter ungünstigen Verhältnissen in das Leben eingetreten, und auf eine niedrige Stufe in der Gesellschaft gestellt ist, sich aber treu an das Wort des Apostels hält, und im Schweiß seines Angesichts so viel schafft, daß er nidit nur sich und die Seinigen ernährt, sondern, wie wir es auch allen angehenden Eheleuten, die ihren christlichen Hausstand miteinander beginnen, bei ihrer Einsegnung vorhalten, auch noch etwas, wie wenig es immer sei, erübriget, um es denen darzureichen, die ihr Leben unter noch drückenderen Verhältnissen führen | müssen, der

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kann sich doch gewiß eines großen Erfolges seiner Gaben nicht rühmen, sie sind nichts, womit er vor der Welt glänzen kann, sie sind nur eine dankbare Bescheinigung darüber, daß ihn Gott wenigstens auf dieser Stufe erhalten hat, und ein frohes Zeichen, wobei er sich seiner treuen pflichtmäßigen Anstrengung erinnert. Derjenige hingegen, welchen Gott so reichlich gesegnet hat, daß er scheint so gut als gar nicht arbeiten zu dürfen, und sich also ganz dem höheren geistigen Leben hingeben kann, der mag zwar sonst viel edle und reine Freuden voraus haben, und auch was die Wohlthätigkeit betrifft, hat er zwar gar viel zu vertheilen: aber es ist doch immer für den größeren Kreis, in den er gestellt ist, nicht mehr, als was jener in seinem kleineren bewirkt, nur daß, was er vertheilt, für ihn nicht ein frohes Zeichen seiner Anstrengung ist, denn er vertheilt nicht was seine eigenen Hände geschafft haben, sondern was andere; er ist nur die Vorrathskammer in der sich aus einem größeren Bezirke sammelt, was unter die Dürftigen soll vertheilt werden; und wenn er, ich will nicht sagen die Glückseligkeit, aber, das zufriedene Gefühl von jenem344 theilen will, so muß er mehr thun als geben, er muß sich der Ausführung wohlthätiger Unternehmungen, der beurtheilenden Aufsicht über die zweckmäßige Verwaltung und Vertheilung der Beisteuern Anderer unterziehen, dann erst kann er sich denen gleich stellen, welche gearbeitet haben, damit sie vermöchten etwas mitzutheilen, und dann kann auch er Zufriedenheit empfinden für seine | Mühe. Aber eine besondere Glückseligkeit ist eben so wenig dabei als ein besonderer Ruhm, sondern nur das wehmüthige Gefühl, daß die vorzüglich Begünstigten in der Gesellschaft es nur sein können, auf Kosten Anderer, und der Trost darüber, der darin liegt, daß sie, wie sie viel empfangen, auch den Lauf des Gebens reichlich und thätig befördern. So laßt uns denn unsere christliche Wohlthätigkeit von allem eiteln Gepränge frei halten; denn von dem falschen Schimmer von Ruhm und Glückseligkeit, womit sie oft wohlmeinend umgeben wird, bleibt bei näherer Betrachtung nidits übrig. Sie bleibt ein Werk der Noth und gewißermaßen der Schaam, wovon so wenig Aufhebens gemacht werden soll, als irgend die Sache gestattet. Zu schwelgen aber in süßlichen Empfindungen der Freude und Selbstbefriedigung, wenn sie im Stande waren durch milde Gaben die Noth der Brüder zu lindern, das wollen wir denen überlassen, welchen es noch an der rechten Erkenntniß davon fehlt, daß der Mensch eben so wenig durch Werke der Noth vor Gott gerecht werden kann als durch Werke des Gesezes, sondern nur durch den Glauben, aus dem alle guten Werke

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hervorgehen müssen. Laßt uns nicht vergessen, daß unter die Hauptpunkte, gegen welche die Verbesserer der Kirche ihren heiligen Eifer richteten, vorzüglich auch gehörte jener eitle Ruhm guter Werke, aus welchem eine Menge von ihrem Umfange nach bewundernswürdigen Stiftungen der Wohlthätigkeit hervorgegangen waren, die aber, wie ihnen nur ein | verkehrter Sinn zum Grunde lag, auch nur verderbliche Wirkungen hervorbrachten. Denn die Menschen scheuten sich nicht mehr auf die Stufe345 der Dürftigkeit hinabzusinken346, weil sich ihnen dann ein Schaz öffnete, aus dem sie auf die bequemste Weise alle ihre Bedürfnisse befriedigen konnten. So entstand denn der Arme neben dem Reichen nicht nach dem Gesez der göttlichen Ordnung, sondern nach dem der menschlichen Thorheit; und etwas ähnliches muß immer die Folge sein, wenn mit der Wohlthätigkeit Gepränge getrieben wird, und der Dürftige merkt, daß durch das Wohlthun die Eitelkeit der Geber befriediget wird. Darum, wenn wir wohlthun, sollen wir es nicht ausrufen auf den Gassen347, sondern unser Scherflein geben in demüthiger Stille. III. Und nachdem wir unsere Wohlthätigkeit auch auf diese rechte Gemüthsstimmung zurückgeführt haben, ist uns nur noch übrig, daß wir nach Anleitung unseres Textes auch vor der f a l s c h e n A u s ü b u n g der christlichen Wohlthätigkeit warnen. Der Apostel nämlich sagt: Jeder arbeite und schaffe mit den Händen etwas Gutes, damit er h a b e zu geben dem Dürftigen. Merket wol, er sagt nicht, damit er gebe dem Dürftigen, sondern damit er habe zu geben. Geben dem Dürftigen soll der Einzelne nicht, sondern das soll die Gemeine. Wer mehr erwirbt in seinem Gewerbe als er bedarf in seinem Hausstande, der gebe es der Gemeine, und die Gemeine vertheile. Glaubt nicht daß ich das auf ein willkührliche Weise hinein | künstle in unsern Text. Nein, sondern es war dies die ursprüngliche Ordnung in der christlichen Kirche, die also auch der Apostel, als er schrieb, gewiß im Sinne hatte. Alle der Wohlthätigkeit bestimmten Ersparnisse wurden der Gemeine dargebracht, und die Gemeine wählte unter den zuverläßigen kundigen Männern und Frauen, die auch über ihre Zeit genugsam schalten konnten, die Vertheiler der gemeinsamen Gaben349. Das war eine gute und schöne Ordnung, die man nicht hätte verlassen sollen. Denn der Geber konnte bei weitem nicht so leicht verführt werden zu einer verderblichen Eitelkeit. Wie nämlich der Mensch nicht leicht selbstgefällig wird, wenn er sich mit dem Gesez vergleicht, weil sich dem jeder zu tief untergeordnet fühlt, sondern wenn er sich mit dem und jenem Einzelnen vergleicht und

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sagen kann, ich danke Gott, daß ich nicht bin wie dieser349, dann gefällt er sich selbst: eben so erhebt sich nicht leicht einer wegen dessen was er dem Ganzen, was er der Gemeine darbringt, weil doch jeder fühlt, daß er sich dieser ganz und gar sdiuldig ist; sondern wenn er die einzelnen Menschen vor sich wandeln sieht, von denen er sagen kann, dem habe ich so und dem so geholfen, dann erhebt er sich. Dies kann aber nie geschehen, wenn alle Gaben der Gemeine dargebracht und von dieser vertheilt werden; sondern da geht es in der That wie der Erlöser will, daß die Rechte nicht wissen soll was die Linke gethan350. Denn das Vergessen dessen was wir selbst gethan haben kann ja niemand gebieten, wie denn was einer vergessen wollte, er am wenigsten | vergessen würde; wenn aber alle Gaben der Gemeine dargebracht werden und diese vertheilt, so weiß keiner was aus seiner Gabe geworden ist, keiner hat einen bestimmten Erfolg hervorgebracht dessen er sich rühmen könnte, sondern alle können sich nur gemeinschaftlich des gemeinsamen Werkes freuen. Aber auch für die Empfangenden war besser gesorgt auf jene Weise. Denn es ist ja ein viel peinlicheres Gefühl, Rettung und Hülfe einem Einzelnen zu verdanken, und sich sonach abhängig fühlen von einem glüdklichen Zusammentreffen, einem hülfreichen Zufall, einer günstigen Gemüthsstimmung. Der Gemeine ist sich doch jeder ganz schuldig, und es kann keinem drückend sein, von denselben vereinten Kräften auch das leibliche zu empfangen, denen er ohnedies alles geistige verdankt. — Wie es nun zugegangen ist, daß diese Ordnung aufgehört hat, so daß die Wohlthätigkeit der christlichen Gemeine nur noch ein dürftiges Schattenbild geblieben ist, das an den meisten Orten mehr zum Schein besteht, als daß es in irgend einem Verhältniß stände mit den Bedürfnissen der leidenden Gemeingenossen, die wesentliche Unterstüzung der Dürftigen aber ganz von den unzusammenhängenden Erweisungen Einzelne!- abhängig wurde, das können wir hier wol nicht auseinandersezen, desto leichter aber uns überzeugen, daß es so nicht gut ist, sondern daß dieses eben so gewiß eine falsche Ausübung der Wohlthätigkeit ist, als es der Anweisung des Apostels in unserm Text zuwiderläuft. Denn wie kann der Einzelne, wenn er genöthigt ist seine milden Gaben selbst | an Mann zu bringen, das gute Gewissen einer richtigen Anwendung bewahren, da er nie im Stande ist die einzelnen Ansprüche, die zufällig an ihn gemacht werden, mit der Summe des Uebels zu vergleichen, dem überhaupt abgeholfen werden soll? Weil nun keiner ein richtiges Maaß hat, so schwanken alle, mehr oder weniger, zwischen zwei ent-

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gegengesezten Fehlern. Der eine von seinen Geschäften gedrängt, vom weichherzigen Gefühl überwältigt, weiß keine bessere Regel als den zu befriedigen, der ihm jedesmal in den Weg kommt, und so wird er leicht hintergangen. Der andere gewohnt überall strenge Rechenschaft zu geben und zu fordern, mißtrauisch gemacht durch kränkende Erfahrungen, bekannt mit der Unwahrhaftigkeit derer die Hülfe bedürfen, weiset manchen, der nur mit gerechten Seufzern zurückgeht, von sich, weil er sich fürchtet von unwürdigen gemißbraucht zu werden und gern überall bei dem würdigsten anfangen möchte. Ist nicht jenes unverständig und schwach, und dieses hart und gefühllos? Neigt sich nicht jeder in den Erweisungen seiner Wohlthätigkeit bald auf die eine bald auf die andere Seite? Und können wir das für die richtige Ausübung einer christlichen Pflicht halten, was genau betrachtet immer nur als ein gemäßigter Fehler erscheint? Daher sind dann auch die Fehler leicht zu begreifen, die sich bei den Hilfsbedürftigen so häufig finden, und über die wir so viele Klagen hören. Sie entstehen aus den Fehlern der Helfenden oder werden wenigstens durch sie genährt. Denn unsere Wohlthätigkeit, wenn | sich jene Schwächen darin offenbaren, kann nicht den reinen Eindruck einer reinen christlichen Tugend machen; es fehlt also die Ehrfurcht, welche am sichersten alle Mißbräuche zurückhält, und so halten jene sich denn berechtigt die Schwächen, die wir ihnen zeigen, so gut es geht zu ihrem Vortheil zu benuzen. Ist aber die Seele nicht mehr als der Leib351? wenn durch das Wohlthun sittliche Schwachheiten, ja gröbere Sünden unterhalten und fortgepflanzt werden, wird dann nicht mehr geschadet als geholfen wird? Nun aber sind diese nachtheilige Folgen unvermeidlich, wo das meiste in dieser Sache auf der unzusammenhängenden und ungeordneten Wohlthätigkeit der Einzelnen beruht, und deshalb ist diese immer verwerflich, und jeder unter uns sollte gern der eiteln Freude seine Gaben selbst zu vertheilen und sich an den Früchten derselben zu freuen entsagen, damit die Wohlthätigkeit wieder ein gemeinsames Werk werde. Dieses ist sie nun freilich größtentheils, sowol bei uns als in andern christlichen Ländern und Orten, schon wieder geworden; aber ich darf mich nicht scheuen hier meine Meinung darüber auszusprechen, auch dieses nicht auf die rechte Art. Wie man nämlich bemerken mußte, daß bei jener falschen Ausübung der Wohlthätigkeit mehr Mißbräuche genährt wurden, als daß der Dürftigkeit wirklich wäre gesteuert worden, und man es nicht gleichgültig ansehen konnte, daß treue und wohlmeinende Glieder des Ganzen ihre Hülfsmittel ver-

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geblich verschwendeten, unnüze und faule aber im Vertrauen darauf ein unwürdiges Leben | hinschleppten: so nahm sich endlich die Obrigkeit der Sache an, und die Vertheilung der Wohlthätigkeit ward eine Angelegenheit des weltlichen Regiments in seinen verschiedenen Verzweigungen, wie sie früher eine Sache der kirchlichen Gemeine war. Diese Veränderung nun ist meines Erachtens nicht der Punkt auf dem wir stehen bleiben sollen, sie ist nicht etwas dessen wir uns rühmen könnten, sondern auch ihrer müssen wir uns noch in mancher Hinsicht schämen. Denn es ist schon schlimm genug, daß der gute Wille der Einzelnen in seinen Aufregungen 352 durch ein äußeres Gesez gebunden wird, da sich diese Aufregungen denen853, welche das A m t der Vertheilung haben, wenn sie dies kraft eines bürgerlichen Ansehens und obrigkeitlichen Auftrages verwalten, nicht so leicht ungezwungen mittheilen lassen, als wenn es Beauftragte der kirchlichen Gemeine sind, denen sich weit leichter und herzlicher jeder mittheilen wird, der gern einem Hilfsbedürftigen will geholfen wissen. Noch übler aber ist es, daß wie die Sachen einmal stehen, alles was im Namen der Obrigkeit in dieser A r t geschieht354, ein weitläuftiges Geschäft wird, w o dem Vertrauen wenig oder nichts kann eingeräumt werden, sondern den strengsten Formen muß man genügen, die genaueste Nachweisung muß überall möglich sein, zur pünktlichsten Rechenschaft alles im voraus angelegt und bereitet werden. Denn daß auf diesem Wege manches wohlthätige und heilsame gar sehr erschwert, ja oft lieber unterlassen wird, und daß das gemüthliche Vertrauen, welches wir als | christliche Gemeinglieder jeder den Bevollmächtigten seiner Gemeine so gern schenkten, und welches mit Gottes Hülfe die Erfahrung immer rechtfertigen würde, in diesen Angelegenheiten der christlichen Wohlthätigkeit schneller und vollständiger zum Ziel führte, das möchte wol niemand läugnen wollen. Darum ist auch diese Veränderung noch nicht das rechte, dessen wir uns rühmen können. Weswegen ich aber meine, daß wir uns ihrer sogar zu schämen haben, das ist dieses. Ich denke nämlich, das allgemeine Gefühl, daß die Wohlthätigkeit wieder müsse ein gemeinsames Werk werden, würde gleich die rechte Wendung genommen haben diese Sache auf ihre ursprüngliche Gestalt in der christlichen Kirche zurückzuführen, und die Obrigkeit würde gar nicht geeilt haben sie zu der ihrigen zu machen, wenn nur die christlichen Gemeinen da und sichtbar gewesen wären, wenn sie nur hätten hervortreten können als frische und lebendige Wesen, bekannt und bewährt dafür, daß sie wol fähig wären etwas bedeutendes tüchtig auszuführen. D a ß

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nun die christlichen Gemeinen als Vereinigung der Christen355 selbst untereinander zu allem, was sich auf die Angelegenheiten unseres Glaubens und des christlichen Lebens bezieht, großentheils, denn die rühmlichen Ausnahmen sind uns wohl Allen bekannt, so gut als verschwunden gewesen sind seit langer Zeit hier und an vielen andern Orten; daß das kirchliche Leben so fast gänzlich von dem bürgerlichen hat können verschlungen werden bei uns, da es doch anderer Orten noch blüht, das meine ich muß ein Gegenstand der Schaam für uns sein. | Wenn nun dieses zum Theil wenigstens die Schuld eines früheren Geschlechtes ist, so mögen wir uns desto mehr freuen, daß wir mit Gottes Hülfe berufen sind sie abzulösen. Denn es steht uns ja bevor, der Versuch wenigstens, unsere kirchliche Verbindung wieder enger zusammenzuziehen35®. Nicht lange hoffentlich, so werden die Hausväter unserer Kirchgemeinden aufgefordert werden sich zu versammeln, um diejenigen aus ihrer Mitte zu bestimmen, denen sie am liebsten mit uns Lehrern ihr Vertrauen schenken wollen in allen kirchlichen Angelegenheiten. Möge dann auch bald des Armenwesens in christlicher Liebe gedacht werden! mögen diese kirchlichen Vereine, wenn sie erst bestehen, sich immer mehr so gestalten, daß auch die Obrigkeit es bald am zweckmäßigsten finde die Sorge für die357 Dürftigen in die Hände zurückzugeben, in denen sie sich in der Christenheit ursprünglich befand. Dann würde am sichersten unsere Wohlthätigkeit nicht nur von aller Untugend und Eitelkeit, die sich so leicht beimischt, frei bleiben, sondern auch ihre Ausübung auf mancherlei Weise mehr gesichert und erleichtert werden358. Und jedem christlichen Hauswesen wird dann auch die Sorge geheiliget werden vom Ueberflüßigen abzuthun, damit wir desto mehr haben, was wir der Gemeine darbringen können als ein Opfer der Liebe und Dankbarkeit, damit sie, von der am liebsten auch jeder das leibliche empfängt, es darreiche den Dürftigen. So führt uns denn auf allen Seiten die Betrachtung alles dessen, was zur christlichen Gottseligkeit | im Hausstande gehört, auf den Zusammenhang jedes Hauswesens mit der Gemeine zurück. Wie wir sahen daß glücklicher Anfang und gottgefälliger Fortgang des Ehestandes darauf vorzüglich beruhe, daß der Segen der christlichen Gemeine in rechtem vollen Maaß darin walte, und die Erziehung der Kinder darauf, daß sie zu Gliedern der Gemeine des Herrn gebildet werden; wie wir sahen daß die Verhältnisse aller Glieder des christlichen Hauswesens nur bestehen können, wenn alle sich ansehn als

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Knechte und Freigelassene unseres Herrn: eben so führt uns auch dies lezte und gleichsam äußerlichste im christlichen Hausstande zu derselben Betrachtung zurück, daß auch in der Ausübung der christlichen Wohlthätigkeit keine Reinheit und Vollkommenheit zu finden ist, als nur in der lebendigen Verbindung jedes Einzelnen mit dem Ganzen. Laßt uns also hier, w o wir als Brüder und Schwestern in dem Einen Herrn und Meister erscheinen, hier wo der Tisch seines Mahles mit den heiligen Zeichen seiner Gemeinschaft unter uns aufgerichtet ist, immer aufs neue uns dazu vereinigen, daß jeder an seinem Ort im Hauswesen nicht sich allein, sondern der Gemeine des Herrn lebe, dem wir alle zur Ehre leben sollen und zur Freude, und welchem sammt seinem und unserm himmlischen Vater sei Ehre und Preis durch seinen heiligen Geist. Amen.

Anhang Am 24. Januar 1826 (Akademie-Abhandlung)

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Am 24. Januar 1826. Die Sitte, welche unter uns eingeführt ist, Friedrichs als des Erneuerers unsers Vereins359 jährlich am Tage seiner Geburt öffentlich zu gedenken, würde eine unangemessene Feier sein, wenn er selbst an dieser Erneuerung nicht mehr Antheil genommen hätte als die meisten Fürsten an den Verordnungen nehmen, die ihnen im Rathe der Staatsdiener vorbereitet zur Unterschrift vorgelegt werden. Aber bei allem Werthe, den Friedrich auf diese Angelegenheit legte, würde doch eine solche Feier eine lästige Verpflichtung sein, wenn abgerechnet diese Liebhaberei für die Wissenschaften der König ein dürftiger Gegenstand wäre für die Betrachtung und für die Darstellung. Allein wenn schon lange keiner mehr unter uns sein wird, der noch ihn und sein Zeitalter gesehen hat: so wird doch den Rednern dieses Tages der Stoff nicht mangeln, ohne daß sie sich weder in solche Einzelheiten verlieren dürften, die ihrer Natur nach immer kleinlich sind, noch auch einer gerathen fände auf die Rede eines früheren zurükkzukommen. Wenn aber dieses allerdings großen Männern zukommt unerschöpflich zu sein, so daß alles uns ergreift und in uns anklingt, was von ihnen gesagt wird, aber nach allem wir immer noch einen Ton in uns finden, der noch nicht angeschlagen wor | den ist: so gilt dasselbige auch von dem, was im allgemeinen über den Begriff und das eigenthümliche Wesen des großen Mannes mag gesagt werden. Jede nicht ganz ungeschikkte Hand von einem Auge geleitet, das nur irgend geübt ist auf das wahre zu sehen und in die Tiefe zu dringen, wird etwas treffendes und richtiges zeichnen; aber wie vieles auch schon mag aufgedekkt und ans Licht gezogen sein von den Vorzügen,

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welche eine Stelle erwerben unter den Lichtern und Heroen des Geschlechtes: immer noch wird der Eindrukk, den jeder solcher auf uns macht, nicht ganz wiedergegeben sein und zum klaren Verständniß erhoben. Jedes Kunstwerk höherer Gattung und so auch der Begriff eines solchen schließt eine Unendlichkeit in sich, aber auch durch dieses Merkmal wird es nicht begriffen. So auch, wovon hier die Rede ist, das größte Kunstwerk der geistigen Natur. Auch das also, was hier auf Veranlassung des heutigen Tages über diesen Gegenstand angedeutet werden soll, unterliegt demselben Geschikk, und kann nur höchstens ein weniges hinzufügen wollen zu dem vielen, was schon sonst und auch hier anderes und besseres von besseren ist gesagt worden. Wenn wir an den Helden dieses Tages zurükkdenken: so entgeht uns auch an ihm nicht das Loos wol aller, welche wir durch die Benennung großer Männer auszeichnen, daß er nämlich lebend wie er auf der einen Seite sehr zahlreiche und eifrige Verehrer und Bewunderer gehabt hat, so auch auf der andern Seite nicht minder ist gehaßt und angefeindet worden, nach seinem Tode aber seine ganze Gestalt mehr in den Hintergrund zurükkgetreten ist und die verehrungsvolle Bewunderung von ihrem Glänze nicht wenig scheint verloren zu haben360. Solche Ungleichheit des Urtheils möchten wir gern überall besonders aber in Beziehung auf diejenigen aufheben, welche am meisten die Gegenstände der Liebe und der Bewunderung sind. Der Gegensaz zwar unter den mitlebenden wissen wir ist unvermeidlich verbunden mit jener Schwäche, von der fast nur große Männer selbst eine Ausnahme machen, die meisten aber unterliegen dem, | daß ihr Urtheil sich selten zur reinen Objectivität läutert sondern mitbestimmt wird dadurch, ob ihre persönlichen Interessen verlezt erscheinen oder gepflegt, und diese Schwäche allmählig zu vertreiben vermag nur der steigende Einfluß wahrer Philosophie, welche, indem sie zu jedem gegebenen, und als solches nothwendigen, sein Gegenstükk aufsucht, auch am sichersten alle Einseitigkeiten unter einander verbrüdert. Aber jene andere Ungleichheit zwischen den mitlebenden und den Nachkommen giebt uns nur zu leicht den allerdings unerfreulichen Eindrukk, daß für bei weitem die meisten Menschen die Beziehungen, welche sie machen, eingeschlossen sind in den Kreis der lebendigen Ueberlieferung. "Was in der Kindheit einer Generation noch unmittelbar da war, was in den Erzählungen der Eltern die kindliche Fantasie aufregte, das ist eben dadurch für das Leben befestigt; alles andere aber, was schon weiter zurükkliegt, zieht sich in den engen

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Kreis der kundigen zurükk, welchen durch die schriftliche Ueberlieferung alle Zeitalter gleich nahe treten. Aber werden hier alle Eindrükke so aufbewahrt und für alle künftigen Zeiten erhalten, wie sie einst in dem lebendigen Bewußtsein der mitlebenden waren? Oder sind nicht vielmehr fast nur die großen Männer des klassischen Alterthums als einzig bevorrechtet glükklich zu preisen, welche in den Zeiten, wo sich das geistige Auge zuerst zu öffnen anfängt, der aufknospenden Fantasie dargestellt werden, alle anderen aber wenn auch ehedem noch so groß geachtet treten allmählig zurükk, je nachdem die geschichtlichen Massen sich häufen, wie auf dem ruhigen Wasserspiegel, wenn nadi einem glükklichen Wurf gewaltige Kreise sich bilden, die Spuren früherer Bewegungen bald gänzlich verschwinden, so daß fast nur am Anfang der größten und durchgreifendsten geschichtlichen Entwikklungen Gestalten stehen bleiben, welchen das Gepräge der Größe für alle Zeitalter unverlöschlich aufgedrükkt ist. Daß aber nur nicht, wenn dem so ist, wie es scheint, der Begriff des großen Mannes ganz zu zerfließen droht. Wenn die Nähe mit parteiischer Vorliebe färbt und indem sie glänzend er | heben will oft durch ein fremdes Licht entstellt: so dürfen wir nicht wagen alles groß zu nennen, was dafür gepriesen wird in den nächsten Geschlechtern. Wenn die Entfernung verschleiert und ausbleicht: so werden wir auf der einen Seite dem ohnerachtet nicht sagen dürfen, alles sei groß, was uns auch nach einer Reihe von Jahrhunderten noch so erscheint im Zauber der Darstellung, eben weil die Darstellung auch schmeichlerisch zaubert und uns wieder wie das Urtheil der Mitwelt in einen Kampf von Parteien reißt, auf der andern Seite aber doch vielleicht vieles zu bedauern haben, was nur die Entfernung unserer erhebenden Bewunderung entzieht, und manches, was mit Recht als groß empfunden wurde, da es war, werden wir nicht mehr anerkennen, nur weil es uns an Mitteln fehlt die Gestalt zu sondern aus den farblosen und namenlosen Schatten der Masse. Wenn aber dem Minos die Seelen nakkt dargestellt werden ohne alle Bekleidung der äußern Verhältnisse und Umstände, damit er sie gebiete an den Weg der gerechten oder der ungerechten, können sie dem zeitlosen gar nicht dargestellt werden ohne jenem veränderlichen Licht unterworfen zu sein, damit er groß und klein scheide und die wenigen hingeleite zur Tischgenossensdiaft der Götter? Worauf sieht er und wonach spricht er diesen Spruch? Wenn die Seele entkleidet sein muß, damit der Richter nichts anderes sehe als die Art und Weise des Handelns, um gut und böse

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zu scheiden: so wird hingegen seinem geweiheten Auge vieles sichtbar werden müssen, wenn er entscheiden soll über groß und klein, was sonst unsichtbar und verborgen bleibt. In dem geistigen Gebiet giebt es keine Größe, als Kraft, und es giebt keine Kraft, welcher die Wirkung fehlt, vielmehr Kraft und Wirkung sind einander immer gleich. Die ganze Atmosphäre der Seele muß dem Auge des Richters erscheinen, auf daß er sehe, wie weit ihr belebender Hauch sich erstrekkt hat und wie viele sich an ihr genährt haben und erfrischt. Hört eine geistige Erscheinung auf den Eindrukk der Größe zu machen, sobald sie anfängt sich im Gewühl der Masse zu ver | lieren: so ist gewiß diejenige nie groß gewesen, welche nie im Stande gewesen ist sich diesem Gewühl zu entreißen und den Beschauer zu einer ausschließlich ihr geweihten Betrachtung zu zwingen. Gerecht kann eine solche Seele gewesen sein und so weit ohne Tadel; sie kann in dem reinen Ebenmaaß ihrer Bestrebungen alle Elemente des schönen in sich vereinigen und dem Auge des Wohlwollens auch so erscheinen, jenem unerbittlichen aber ist sie doch das kleine. Wo aber finden wir das entgegengesezte? und lassen sich überhaupt hier feste Punkte aufstellen? Man ist geneigt genug diese Frage zu verneinen, und die Erfahrung drängt uns alle mächtig nach dieser Seite hin; das Bedürfniß aber und also auch die Forderung der Vernunft spricht sich aus in dem Worte eines alten weisen361, daß ja unmöglich groß und klein nur könne ein fließendes, sondern daß auch hier wie überall in den Begriffen müsse etwas festes sein. Ja es scheint sogar, als ob nach dieser Regel auch unsere Aufgabe zu behandeln nicht könne allzu schwierig sein, da wir ja schon in dem veränderlichen und fließenden selbst doch haben ein festes Element ergreifen können. Denn wenn wir sagen, der einzelne verliert sich unter der Masse, und ihn deswegen zum Kleinsein verdammen, nun so finden wir eben dadurch das Nichtverlieren, und dies führt auf eine Mannigfaltigkeit freilich von Verhältnissen zwischen dem einzelnen und der Masse, auf eine solche aber, der eine bestimmte Zahl zum Grunde liegt. Eingestanden wird wol von allen werden, daß auf dem geistigen Gebiete der Ausdrukk Masse nur in einem bestimmten und untergeordneten Sinne gebraucht wird. Wo wir eine Menge auf einander wirkendes durch einander wogendes einzelnes Leben sehen, in welcher aber weder eine wahrhaft organische Gestaltung hervortritt noch auch das einzelne sich als selbständiges sondert, das nennen wir Masse. Je mehr der einzelne hier nur ein Ort ist, wo die verschiedenen in der Gesammtheit waltenden Bewegungen sich begegnen sich kreuzen und brechen oder verdrängen,

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je nachdem die Weise ist, wie, und die Stärke, mit welcher sie zusammenstoßen, ohne daß in dem einzelnen selbst | ein den Erfolg regelndes Princip erscheint, um desto mehr erscheint er nur als ein Element der Masse. Denken wir uns nun das äußerste, fehlt die Eigenthümlichkeit ganz, und dieser innere Regulator, der der ganze Eine Factor des Lebens sein soll, ist Null: so ist nothwendig auch die ganze Erscheinung als Zahl zwar zählend aber als eigenes geistiges Leben betrachtet das unendlich oder absolut kleine, und von dieser gilt auch nicht, daß sie tugendhaft sein kann oder schön, denn wenn zufällig ohne Tadel so ist sie auch nothwendig ohne Lob, und spielten in dem gestaltlosen unstäten Flimmern auch lauter anmuthige Farben: so wäre doch keine Schönheit darin. Wo aber das eigenthümliche, der Charakter, nicht fehlt, und alle Einwirkungen selbstgemäß bestimmt, so daß man unterscheiden kann und als wesentlich zusammengehörig fassen was Moment eines solchen Lebens ist: da ist in den mannigfaltigsten Abstufungen, die wir aber alle als Eines zusammenfassen, das Verhältniß der Gegenseitigkeit zwischen dem einzelnen und der Gesammtheit, einer Gegenseitigkeit des Gebens und Empfangens des Bestimmens und Bestimmtwerdens, in freier Bewegung erscheinend aber doch nach ewigen Gesezen geordnet, nicht mehr das kleine und gemeine aber auch nicht das große sondern das gewöhnliche. Der allgemeine Ort, wo das bessere und das schlechtere neben einander wachsen, wo alle Tugenden und Trefflichkeiten gedeihen alle Talente blühen und Früchte tragen, ja wo auch das Genie glänzt — wenn ein Gewinn ist bei dem Gebrauch solcher durch die Umprägung zweideutig gewordener Münzen, deren oft wechselnden Curs niemand genau kennt — kurz alles gute und schöne ist hier zu finden, aber das große nicht. Sondern der große Mann zeigt sich uns erst diesem allen gegenüber nicht etwa als der schönste und kräftigste aus der Masse oder als der begünstigtste, zu dessen Förderung und Wachsthum alle Bewegungen, die dort vorgehen, oft auf das wunderbarste gelenkt werden, sondern der ist es, der nichts von ihr empfängt und ihr alles giebt. Freilich ist auch er nicht ohne die Gemeinschaft, und wie möchte einer ein großer | Mann sein ohne die ihn umgebende Welt in sich aufgenommen zu haben. Aber doch als das vollkommne Gegentheil müssen wir ihn stellen von dem, was wir als das schlechthin kleine gesezt haben in menschlichen Dingen. Das Empfangen und Insichaufnehmen, unentbehrlich in dem Rhythmus jedes Lebens, ist in dem seinigen immer nur daß ich so sage der schlechte Zeittheil, nur nothwendig um den guten zu heben, vorangehend damit dieser sei, ja

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selbst von diesem so beherrscht, daß der in jenen mit hineinklingt, so daß was er im buchstäblichen Sinne empfängt immer nur ein nichtseiendes ist, ein Chaos, das sich in ihm erst für ihn bildet und gestaltet kraft jenes inneren Regulators, der in ihm nicht Null ist sondern alles. Das wahre aber und wesentliche, wodurch er ist was er ist, das sind die eigenthümlichen Ausströmungen seines Wesens, die Idole des Epikuros862, die sich jeden Augenblikk von ihm losreißen in alles eindringen und alles in Bewegung sezen. Der große Mann ist nur der, welcher die Masse beseelt und begeistert, ganz herausgetreten aus dem Verhältniß der Gegenseitigkeit, er auf keine Weise ihr Werk, sie aber auf seine Weise das seinige. Wer aber meinen wollte unter dem Begeistern sei etwa zu verstehen, daß die Masse dadurch daß sie des großen Mannes Thaten und Wesen anschaut mit etwas größerem als gewöhnlich erfüllt und so über sich selbst erhoben werde, der bliebe bei etwas geringem stehen was auch schon jedes schöne Talent leistet; nur auf die Empfänglichkeit wirken ist zu wenig für den großen Mann. Denn Nachahmungen hervorbringen, durch Werke und Thaten ein lange fortwirkendes Urbild werden, durch sich selbst in irgend einem Zweige menschlichen Thuns neue Bahnen brechen, zu einer unerreichten Höhe sich erheben und dort aufgestellt sein als ein immer angestrebtes aber nie getroffenes Ziel — dies mag vielleicht mit zu dem gehören, was wir Genie zu nennen pflegen; aber so einseitig ist nicht das Wesen und Wirken des großen Mannes; und auf die lezte Art diejenigen beseelen, welche gleiches oder ähnliches hervorbringen, auf die erste Art aber die, welche es genießen | wollen, beweiset eben die Verwandtschaft mit beiden und das Leben mit ihnen an demselben gemeinsamen Ort. Der große Mann ist gesonderter von dem allen, nicht selbst in dieses mannigfaltige Leben verflochten, aber der Urheber desselben. Oft ist es ein solcher gewesen, der, wie ein göttlicher Hauch einer noch ursprünglich starren bewegungslosen Masse mitgetheilt, das mannigfaltige Leben in ihr erregt, wie ein himmlischer Funken hineingeworfen, alle diese schönen Lichter in ihr entzündet hat, öfter noch war es ein solcher, der eine durch widriges Geschikk gedrükkte und in sich zusammengesunkene Masse wieder erwekkt hat zu einer neuen und schöneren Periode ihres Daseins. Kurz der große Mann ist nur der, durch welchen in irgend einer Beziehung die Masse aufhört Masse zu sein, durch welchen sie erregt wird, daß sie sich sondere, daß Selbstgefühl an die Stelle eines träumerischen Schlummerlebens trete, nur der ist es, durch den sie so erregt kraft des ihm einwohnenden Gesezes sich zum organischen Gesammtieben

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entweder zuerst gestaltet oder auch sich nach einer Zeit des Verfalls und der Zerstörung neu entwikkelt. So wäre es also. Wo eine neue geschichtliche Entwikklung, wo ein neues oder erneutes gemeinsames Leben von Einem ausgeht, da und nur da ist ein großer Mann. Bisweilen erscheint er die freieste Gabe des Himmels ungeahndet und unbegehrt, öfter nach den heftigsten Bewegungen und langem Seufzen der hülflosen Kreatur383. Wenn wir aber sehen, daß an der Grenze zweier Zeitalter des alten überdrüssig und nach neuem ringend die geistige Kraft sich abmüht in Erscheinungen, die keinen Bestand gewinnen, ein vergängliches das andere drängend, wie in den Zeiträumen der noch unreifen Schöpfung, ehe fortbestehende Gattungen sidi bilden konnten: da kennen wir die Lösung. Die Masse ist nicht gewekkt genug um ihr neues Leben als ein gemeinsames Werk hervorzurufen; alles harrt eines schöpferischen Wesens, aber der große Mann will nicht erscheinen. Vor diesem segensreichen Bilde seltener göttlicher Werkzeuge stehen wir als nicht vor unseres gleichen. Es sind die Heroen | der Gattung, es ist jenes dämonische364 Geschlecht königlich und herrschend seiner Natur nach, das aber nur in einzelnen weit von einander entfernten Erscheinungen aus geheimnißvollen Zeugungen der Natur hervorgehend sich offenbart. Aber es ist unser Stolz, daß unsere Sprache uns übermenschliche Ausdrükke weigert. Ein großer Mann, größeres können wir nicht sagen; ein großer Geist, ein Held, das ist weniger; jeder besondere Name gehört auch nur einzelnen Beziehungen, alle Häufungen können nur Verringerungen sein. Etwas aber giebt uns die genauere Betrachtung der hehren Gestalt an die Hand, was uns derselben wieder näher bringt. Soll freilich Einer gedacht werden, in welchem die Kraft liegt in dem ganzen menschlichen Geschlecht aller Zonen und aller Zeiten ein neues Leben zu wekken, und das ganze in Einer alles umfassenden Organisation zu befreunden, der müßte alles menschliche Maaß überschreiten und er wäre zugleich der, welcher alle menschliche Größe vernichtet. Dieses Geheimniß aber, das in dem sich immer wieder erneuernden und immer wieder reinigenden Glauben von Millionen lebt, können wir hier nur erwähnen um es auszulassen aus unserer Betrachtung365. Alle großen Männer aber innerhalb des rein menschlichen Gebietes, wenn sie eine Masse beleben sollen und organisiren: so können sie auch nur einer bestimmten Masse angehören, innerhalb deren ihre eigenthümliche Wirkung beschlossen ist; denn sehr verschieden zwar ist das Maaß organischer Bildungen, aber gemessen und begrenzt sind alle. Und

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hier findet der zweite Theil des schon angeführten alten Wortes seine Bewährung und seine Anwendung. Nämlich an demselben Orte, wo Piaton behauptet, auch das große könne nicht bloß relativ verstanden werden, sondern etwas festes müsse in dem Begriffe gesezt sein, eben da stellt er auch eine Formel dafür auf; groß, sagt er, sei was den ganzen Umfang erfüllt, innerhalb dessen es in seiner Art noch Eines sein könne. In diesen Grenzen ist auch der große Mann nothwendig beschlossen; die Masse, auf die er wirkt, muß ein zusammengehöriges und in sich abgeschlossenes entweder schon gewesen | sein oder nun durch ihn werden, damit Einheit sein könne in dem Leben, das er in ihr erwekkt. Das Talent das Genie erfreuen sich einer äußerlichen Unendlichkeit ihrer Wirkungen. Das Bildwerk von seiner Heimath aus fernen Regionen zugetragen wird auch dort zur glükklichen Stunde den Sinn entwikkeln, den Geschmakk erwekken, und seine Wirkung ist dann dieselbe. Die Dichtung, nachdem sie eine verwandte Kunst erzeugt, läßt sich in fremde Sprachen übertragen, und die Wirkung im wesentlichen ist dieselbe. Der große Mann ist mit seiner eigenthümlichen Wirkung auf das ihm von der Natur angewiesene Gebiet beschränkt, er hat eine bestimmte Heimath, sei sie nun räumlich begrenzt oder durch einen geistigen Typus, welcher wo er sich auch finde dieser Gewalt unterliegt, außerhalb dessen sie aber ohne Wirkung bleibt. Doch nun ist es Zeit einer Frage zu horchen, die gewiß schon lange hat hervorbrechen wollen, ob nämlich nicht diese Rede den Ausdrukk, welchen sie erläutern will, ganz gegen den Gebrauch unserer Sprache und gegen das allgemeine Gefühl auf eine viel zu enge Weise beschränkt. Denn worauf deutet das zulezt gesagte, als daß es große Männer nur giebt im Staat und in der Kirche. Die räumlich begrenzte Heimath, in welcher der große Mann wirkt, ist die Volksthümlichkeit, und das organische Leben derselben ist das bürgerliche. Der geistige Typus, den wo er sich auch finde der große Mann sich aneignet, ist die religiöse Sinnesart, und diese wird zu einem organischen Gesammtieben wo es eine Kirche giebt, so daß auch das früher gesagte dazu stimmt, denn es giebt keine anderen Organisationen aus der Masse als diese. Also die Gründer und Wiederhersteller der Staaten, wo hiebei einzelne auf eine ausschließende Weise geherrscht haben und gewaltet, die Stifter und die Reiniger der Religionen, das sind die großen Männer. Zwei Arten derselben giebt es, seitdem Staat und Kirche mehr zur Besonnenheit gelangt sich von einander geschieden haben, und die leztere kein Reich sein will von dieser Welt;

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nur einartig zeigte sich der Begriff, so | lange noch beide theokratisch unter einander verworren waren. Die Kunst aber und die Wissenschaft mögen sich mit dem Talent begnügen oder dem Genie; wie herrlich sich auch ihre Kraft in einzelnen Günstlingen der Natur offenbart, das Gepräge der Größe vermag sie ihnen doch nicht aufzudrükken. Ich läugne es nicht, so scheint sich mir die Sache zu stellen. Aber sollte das wirklich gegen den Gebrauch der Sprache sein und gegen unser geheimstes Gefühl? Unser Friedrich war Tonkünstler und Dichter; aber wenn er beides gewesen wäre in der höchsten Meisterschaft, würden wir ohne Bedenken sagen, auch das wären Elemente seiner Größe, oder nicht vielmehr er wäre das gewesen noch neben dem großen Mann? Ich hätte mich zu dem lezten entschlossen, ja auch nur zu demselben, wenn sein Philosophiren sich zu dem wohlgeordnetsten und tiefsinnigsten System hätte gestalten können. Der große Mann ist nicht was er ist durch einzelne Werke und für einzelne Klassen; ja audi eine Schule zu stiften in der Kunst oder der Wissenschaft ist etwas weit unter seiner Aufgabe. Nicht eine Schule stiftet er sondern ein Zeitalter. Wenn man Recht hat in demselben Sinne von einem Zeitalter des Perikles oder des französischen Ludwig zu reden — ohne es zu bejahen seien dies nur erdichtete Beispiele — so waren dies auch Zeitalter der Kunst und der Wissenschaft, aber ohne daß der Schüler des Anaxagoras selbst wäre ein Philosoph gewesen oder der viel besungene Ludwig selbst ein Dichter. Ein Zeitalter Friedrichs hat es gewiß gegeben. Der Umfang, in welchem sein Geist belebend und organisirend wirkte, war nicht etwa sein Staat wie er ihn fand oder wie er ihn ließ — denn das ist einmal das deutsche Geschikk, daß die politischen Abtheilungen wechselnd sind und zufällig — sondern dasjenige Deutschland, welches wir ohne es geographisch zu nehmen oder gar einen immer mehr verschwindenden Parteigeist wekken zu wollen das nördliche nennen366. Mittelbar unmittelbar hat er hier alles belebt und gestaltet, ja selbst die Sprache, die sich hier in seinem Zeitalter bildete, und die Kunst und Wissenschaft in dieser Sprache, wiewol von ihm selbst nicht | geübt und wenig beachtet, gehört doch mit zu dem Werke seines Geistes. So ist sein Gedächtniß ein Theil unserer Selbsterkenntniß, seine geheim fortwirkende Kraft durchströmt noch alle unsere Bestrebungen. Das größte Maaß aber des großen Mannes, das Maaß, worin sich jenes übermenschliche spiegelt.. .367.

Anmerkungen des Herausgebers

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1 Sdileiermadier hat der zweiten und dritten Auflage der „Monologen" Vorreden mitgegeben. Diese lauten so:

„Vorrede zur zweiten Ausgabe. D a dies Büchlein vergriffen war, wollte ich nicht weigern, daß es wieder gedrukt würde. Denn theils bin ich ihm Dank schuldig, weil es edle Gemüther auf eine mir fast unerwartete Weise an sich gezogen und mir Freunde erworben hat deren Besiz mir sehr theuer ist; theils könnte auch die Weigerung fälschlich als Widerruf ausgelegt werden. Darum sei diesen Blättern mein Dank dadurch abgestattet, daß ich ihnen aufs neue das Leben friste, und zugleich durch die That die Erklärung abgelegt, daß noch immer alle darin geäußerten Gesinnungen so vollkommen die meinigen sind, wie nur irgend ein Bild aus früherer Zeit dem älteren Manne gleichen kann und darf. N u r bekenne ich dabei, daß ein solches aufzufrischen oder wol gar zu verbessern zu große Schwierigkeiten hat wegen der Gefahr durch unvermerkte Einmischung von Zügen aus späterer Zeit die innere Wahrheit zu trüben, oder durch Aenderungen welche willkührlidi scheinen könnten, freundliche Leser zu stören. Darum gebe ich es lieber mit allen Mängeln wieder die ich daran kenne, und habe außer Kleinigkeiten im Ausdrude nur einige bald nach der ersten Erscheinung angemerkte Aenderungen aufgenommen, welche Undeutlidikeiten abzuhelfen und Mißverständnissen zuvorzukommen schienen. Was also jemand nicht an dem Dargestellten, sondern an der Darstellung tadelt, das wolle er nicht mir dem jezigen, sondern noch immer dem damaligen zuschreiben. Wenn aber Andere sich in die Gesinnung selbst nicht finden, und von dem was sich auf die Idee eines Menschen bezieht das was von seiner Erscheinung gilt, nicht unterscheiden wollen oder können, denen sei unverwehrt, den ungesalzenen Spott wieder aufzuwärmen, der auch vor zehn Jahren hie und dort gehört wurde. Berlin im April 1 8 1 0 . Dr. Fr. Sdileiermadier." „Vorrede zur dritten Ausgabe. Auf obige Rechtfertigung beziehe ich mich auch bei diesem dritten Abdruck des Büchleins, und möchte nur noch ein paar Worte für diejenigen versuchen, welchen die Abzwedsung desselben wirklich sollte entgangen sein. Ein mir von langem her innig befreundeter Mann hat seitdem das gar sehr hiehergehörige treffende Wort gesagt, das erscheinende Leben eines jeden Menschen schwanke zwischen seinem Urbild und seinem Zerrbild. Nur die der ersten Richtung folgende Selbstbetrachtung kann etwas öffentlich mittheilbares enthalten; die andere verliert sich zu tief in die Dunkelheiten des einzelnen Lebens bis zu denen Punkten hin, die, wie auch sonst schon ein Weiser gesagt, der Mensdi am besten auch sich selbst verbirgt. Wer nun, wie hier versucht ward, diese verschweigend

Anmerkungen des Herausgebers

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jene mittheilt mit einem sichtbaren Bestreben vorzüglich die Oerter für die Verschiedenheit der Urbilder aufzusuchen, dessen Meinung wird wol ganz verkannt, wenn man ihm vorwirft, daß er nur sich selbst ins schöne sehe, und lächerlicher als ein geistiger Narciß die verliebten Worte, mit denen er sein eignes Bildniß angeredet, der Welt noch weit und breit verkünde. Eben jener Abzweckung ist es auch zuzuschreiben, daß hier die Selbstbetrachtung sich rein ethisch gestaltet, und das im engeren Sinne religiöse darin nirgend hervortritt. Doch wünschte ich nicht, daß hieraus die Ansicht einen Gewinn zöge, als ob die religiöse Selbstbetrachtung nur die entgegengesetzte Richtung nach dem Zerrbilde hin nehmen müßte. Vielmehr war es schon lange mein Vorsaz, auch diese einseitige Vorstellung durch die That zu widerlegen, und durch eine ähnliche Reihe religiöser Selbstgespräche dieses Büchlein zu ergänzen. Die Zeit aber hat es bis jetzt nicht gestattet. Berlin im December 1 8 2 1 . Sch." Die beiden Vorreden sind abgedruckt: WW 3 , Bd. I, Seite 347—349. Nach der 2. Auflage meint Schleiermacher die Analogie eines elektrischen Schlages. 3 In den späteren Auflagen heißt die Überschrift: „Betrachtung". 4 Die späteren Auflagen haben: „tiefsinnige Allegorie". Die Auszeichnung des Neujahrstages durch eine Betrachtung im Stil romantischer Lebensphilosophie ist von Schleiermacher später aufgegeben worden. Schon in der „Weihnachtsfeier" spricht er abwertend vom Neujahr (vgl. unten S. 269). In sämtlichen späteren Neujahrspredigten benutzt er das Fest nur als zufälligen Anlaß zu allgemeineren Betrachtungen, wie er es in seiner letzten Neujahrspredigt aus dem Jahre 1834 selber ausspricht: „Der heutige Tag, m. dir. Z., beruht eigentlich auf einer willkürlichen menschlichen Einrichtung. Der Jahreslauf freilich ist tief gegründet in der göttlichen Ordnung unserer Welt: aber daß wir an diesem Tage gerade das neue Jahr beginnen, das ist nur aus der N o t w e n d i g k e i t , daß es eine gemeinsame Verständigung über solchen Anfang der Zeit geben muß, ohne irgend einen bestimmten Grund entstanden." (WW 2 , Bd. III, S. 752) Vgl. auch diese Ausgabe, Bd. III, S. 376. 2

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2. Aufl.: „Wer wohltätig zu wirken strebte." ® 2. Aufl.: „Mir stellt der Geist, die Innenwelt, sich kühn der Außenwelt, dem Reich des Stoffs, der Dinge gegenüber." Vgl. Fichte, Über den Grund unsers Glauben (Werke V, 180): „Erblickt man die Sinnenwelt vom transzendentalen Gesichtspunkte aus, so verschwinden freilich alle diese Schwierigkeiten; es ist dann keine für sich bestehende Welt: in allem, was wir erblicken, erblicken wir bloss den Widerschein unsrer eignen inneren Tätigkeit." Man sieht hier deutlich, wie Schleiermacher sich in der 2. Auflage von Fichte distanziert und auf den Standpunkt einer kritischen Dialektik zurückgezogen hat. Um so eindrucksvoller erscheint in der 1. Auflage an dieser Stelle die Abhängigkeit von Fichte. 7 2. Aufl.: „. . . zu beleben. So ist mir die Erde der Schauplatz meines freien Thuns; und auch in jeglichem Gefühl, in denen auch, worin ich ihre und des großen Ganzen Gemeinschaft empfinde, die ganz die Außenwelt mir zuzumessen

Anmerkungen des Herausgebers

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scheint, ist freies Thun (spätere Aufl.: „freie innere Thätigkeit"). Nichts ist nur Wirkung von ihr auf mich, nein immer geht auch Wirkung von mir aus auf sie." 8 Spätere Auflagen: „in der Welt der Geister". 9 Vgl. Fichte, Sittenlehre (Werke I V , 99): „Durch diese notwendige Ansicht unserer Wirksamkeit entsteht uns die Welt überhaupt, und die Welt, als ein Mannigfaltiges." 10 Spätere Auflagen: „Geist und Geist". 11 2. Auflage: „. . . durch mein Werden auch dazu doch den Grund gelegt, daß anders als zuvor, sei's früher oder später, das Handeln . . ." 12 Spätere Auflagen: „des Geistes Leben". 13 Mit den „Weisen" meint Schleiermacher offensichtlich Fichte; vgl. Br. IV, $3: „Fichte . . . habe ich freilich kennengelernt: er hat mich aber nicht sehr affizirt. Philosophie und Leben sind bei ihm — wie er es auch als Theorie aufstellt — ganz getrennt, seine n a t ü r l i c h e D e n k a r t hat nichts Außerordentliches, und so fehlt ihm, so lange er sich auf dem g e m e i n e n S t a n d p u n c t befindet, Alles, was ihn für midi zu einem interessanten Gegenstand machen könnte . . . Das ist übrigens sehr schade, weil er eine ganz herrliche Gabe hat, sich klar zu machen, und der größte Dialektiker ist den ich kenne." 14

Nach Schleiermachers eigener Aussage ist die Darstellung der ethischen Bedeutung des individuell Eigentümlichen der (gegen Fichte gerichtete) Kerngedanke der „Monologen"; vgl. Br. I V , 59: „Das principium individui ist das Mystischste im Gebiet der Philosophie, und wo sich Alles so unmittelbar daran anknüpft, hat das Ganze allerdings ein mystisches Ansehen bekommen müssen." Jedoch hat zweifellos auch Schleiermachers Individualitäts-Ethik einen Anknüpfungspunkt bei Fichte; vgl. z. B. „Bestimmung des Gelehrten" (Werke V I , 3 1 4 ) : „Kein Individuum ist dem andern in Absicht seiner erwachten und entwickelten Fähigkeiten vollkommen gleich . . . Aber das höchste Gesetz der Menschheit und aller vernünftigen Wesen . . . fordert, daß in dem Individuum alle Anlagen gleichförmig entwickelt, alle Fähigkeiten zur höchstmöglichen Vollkommenheit ausgebildet werden — eine Forderung, deren Gegenstand das bloße Gesetz nicht realisieren kann, weil die Erfüllung derselben . . . nicht vom bloßen Gesetz, noch von unserm dadurch allerdings bestimmbaren Willen, sondern von der freien Naturwirkung abhängt." Vgl. auch Dilthey (Leben Schleiermachers II 2 , Hrsg. von Martin Redeker, Berlin 1966, S. 622): „Wenn nun aber aus diesem ethischen, subjektiven Idealismus das Prinzip der Individualität sich erhob, so lag auch dazu in Fichtes Philosophie ein Anstoß, ja, Fichte hatte die ersten Schritte getan. Gleich in seiner ersten ethischen Schrift, der Vorlesung über die Bestimmung des Gelehrten (1794), sehen wir ihn in dieser Richtung." 15 Vgl. Fichte, Sittenlehre (Werke I V , 222): „Wer bin ich denn eigentlich, d. i. was für ein Individuum? Und welches ist der Grund, daß ich d e r bin? Ich antworte: ich bin von dem Augenblicke an, da ich zum Bewußtsein gekommen, d e r j e n i g e , zu w e l c h e m ich m i c h m i t F r e i h e i t m a c h e , und b i n es d a r u m , w e i l i c h m i c h d a z u m a c h e . " 16

2. Aufl.: „ . . . k e n n e

ich so nicht mehr". Im wissenschaftlichen Tagebuch

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Anmerkungen des Herausgebers

Sdileiermadiers von 1799 heißt es: „Ein kleines Bruchstück von der göttlichen Reflexion haben sie Alle, und zum Schulmeister erniedrigt nennen sie es Gewissen." (Vgl. Dilthey, Denkmale der inneren Entwicklung Sdileiermadiers, Berlin 1870, S. 118.) Daß die Ablehnung des Gewissensbegriffs lediglich der durdi die Berührung mit der Frühromantik bestimmten Krisenzeit Sdileiermadiers angehört, zeigt sich — abgesehen von der Korrektur in der 2. Aufl. — audi daran, daß Schleiermacher später in der „Dialektik" den Gewissensbegriff an entscheidender Stelle aufnimmt; vgl. „Dialektik", W , Bd. IV, 2, S. 154: „Ebenso ist das Sein des Gewissens in uns ein Sein Gottes." Vgl. auch a. a. O., S. 523 f. 1 , 3 Schleiermadier referiert hier Fidite; vgl. z. B. Sittenlehre § 19 (Werke IV, 2 J 4 ff.) 17 Spätere Auflagen: „. . . Beweise der inneren Bestimmtheit". 16 Friedrich Schlegel hatte Sdileiermadier mehrfach dringend aufgefordert, sich auf dem Felde des Romans zu versuchen; vgl. Anm. 39. 19 Spätere Auflagen: „. . . im künftigen". 20 Schleiermacher spielt hier wahrscheinlich auf seine Erziehung in den Instituten der Brüdergemeinde an. 21 Sdileiermadier rechtfertigt sich hier gegenüber Friedrich Schlegel; vgl. Schlegels Brief an Schleiermacher, Br. III, 124: „Es ist immer ein und dasselbe, was idi über Dich zu klagen habe. Da ich zuletzt mit Dir über Dich sprach, sprach ich eben davon, von Deinem Voraussetzen des Nichts, von Deiner Zuversicht im Unglauben, von dem Mangel an Sinn und Liebe im E i n z e l n e n , der mich oft so geschmerzt hat. Ich kann den Grund davon freylich nicht in Deinem ursprünglichen Wesen suchen, sondern nur in einem zufälligen Misverhältniß und Misbrauch Deines Verstandes zu finden glauben." Vgl. auch Anm. 23. 22 Spätere Auflagen: „Nur so gelingt es mir, allmählich eine tiefere..." Zum Text der Erstauflage vgl. Fidite, Gerichtliche Verantwortungsschrift (Werke V, 261): „Gott . . . ist . . . kein Sein, sondern ein reines Handeln . . . , gleichwie auch ich, endliche Intelligenz, kein Sein, sondern ein reines Handeln bin". 23 Auch hier rechtfertigt Sdileiermadier sich offenbar gegen die Vorwürfe Friedrich Schlegels. Vgl. dessen briefliche Äußerungen, Br. III, 120 und 123 f.: „Daß Du sie (cf. Schlegels „Ideen") nicht so gleich frisch weg verstanden hast, nimmt midi nicht Wunder, besonders da Du meynst, man könne einige einzelne daraus verstehn, ohne das Ganze. Es ist schon viel und gut, daß Du sie nicht verstanden hast, und noch besser, daß Dir einiges, was Du schon klar glaubtest, wieder dunkel dadurch geworden ist. Es mag das nun in Dir, im Universum oder in mir seyn, so hast Du auf jeden Fall gewonnen: wenn anders jene frühzeitige Klarheit das böse Princip in Deinem Geiste ist." „Lieber Freund, wie wunderlich hast Du das aufgenommen, was idi Dir letzthin geschrieben; als ob ich fordern könnte, Du solltest die Ideen verstehen, oder unzufrieden darüber sei, daß Du sie nicht verstanden. Es ist mir ja eben nichts verhaßter als dieses ganze Verstandes und Misverstandes Wesen und Unwesen. Idi freue midi herzlich, wenn irgend einer den ich liebe oder achte, einigermaaßen ahndet was ich will oder sieht was ich bin. Du kannst leicht denken, ob ich in dem Falle bin,

Anmerkungen des Herausgebers

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diese Freude oft erwarten zu können. Ich erwarte es nie, und nehme es eben als eine Gabe des Himmels an, wenn die Liebe einmal einem das Yerständniß öffnet. Aber eins erwarte ich von jedem Freunde, weil ich es erwarten w i l l , daß was mit Liebe und Freude in bescheidner Hoffnung dargeboten wird, auch entweder gar nicht, oder in demselben Geiste und nicht im entgegengesetzten angenommen wird." 24

Verstehe: dem, „was er für sidi um besseren Preis verschmäht"; nämlidi das körperliche Leben und Wohlsein; diesem widmet der Geist sidi für andere. Vgl. S. 48. 45 2. Aufl.: „ . . . s i d i verbinden, wie die Geliebte, der er ganz sich geben und volles Leben bei ihr finden könnte;". 28 In Briefen an das Ehepaar Willich bezeichnet Sdileiermacher die hier folgenden Seiten als seine wahre Traurede. Vgl. Br. I, 405: „Ihr wißt, w o das Wesentliche meiner Traurede steht, in den Monologen." und Br. II, 7 : „Habe idi nicht ordentlich geweissagt von Euch in den Monologen? machst Du mir nicht meine eignen Empfindungen ganz neu und lebendig zur Wahrheit, Ehrenfried, wenn Du sagst, Dein Weib wäre Dir Tochter und Geliebte, Mädchen und Mutter?" 27

Spätere Auflagen: „Organismus der Gesellschaft". Spätere Auflagen: „ . . . auch mehr der Welt als uns." Schleiermacher hat auf diesen Absdmitt über die Sprache besonderen Wert gelegt. Vgl. den Brief an Brinkmann vom 9. Juni 1800 (Br. I V , 7 1 ) : „Die Stelle von der Spradie gehört unter die, auf welche ich einen vorzüglichen Werth lege (in Verbindung mit der Sitte; denn das scheint mir hier unzertrennlich zu sein), aber sie wird gewiß für Keinen außer mir so viel Wahrheit haben als für Didi, der Du auch ein solcher mensdienfreundlidier Sucher nach Menschen und Gedanken bist." Auch hier zeigt sich der Einfluß der Romantik auf Sdileiermadier. 28

29 2. Aufl.: „dann muß er freilich, wiewol vergeblidi, weil er beides nur wähnt, wie es nicht gedacht werden kann, sidi bestreben zu w i s s e n , . . . " 30 Vgl. Fichte, Sittenlehre, oben Anm. i j . 31 Vgl. Fidite, Grund unsers Glaubens (Werke V , 184): „Jene Welt geht ihren Gang ruhig fort, nach ihren ewigen Gesetzen, um der Freiheit eine Sphäre zu bilden; aber sie hat nicht den mindesten Einfluß auf Sittlichkeit oder Unsittlichkeit, nicht die geringste Gewalt über das freie Wesen. Selbständig und unabhängig schwebt dieses über aller Natur." 32 Spätere Auflagen: „ . . . der oft schon in der kräftigsten Lebenszeit kraftlos Abgelebten." 33 Schleiermacher bezieht sidi hier auf seine Hauslehrerzeit beim Grafen Dohna in Sdilobitten. Vgl. Br. I, 3 1 9 : „Die Kunst und die Frauen kannte idi nodi gar nicht. Für die letzteren ging mir der Sinn erst in dem häuslichen Cirkel in Preußen auf. Dieses Verdienst um midi hat Friederike mit in die Ewigkeit genommen, und es wird, hoffe ich, nidit das geringste sein, was ihr schönes Dasein gewirkt hat. Und nur durch die Kenntniß des weiblidien Gemüthes habe idi die des wahren menschlichen Werthes gewonnen." 34

Nach Ausweis zweier Briefe Dorothea Veits an Schleiermacher (Br. I I I , 179 f.) spricht Sdileiermacher hier und in dem ganzen Absatz bis S. 62 von seinem

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Anmerkungen des Herausgebers

Verhältnis zu Eleonore Grunow. Man versteht also den Absatz nur dann recht, wenn man an Stelle der „unbekannt Bekannten" (S. 62) Eleonore einsetzt. 35 Vgl. Fichte, Grundlage (Werke I, 402): „.. . und es ist hier zugleich ein Experiment mit dem wunderbaren Vermögen der produktiven Einbildungskraft in uns angestellt worden, welches in kurzem erklärt werden wird, ohne welches gar nichts im menschlichen Geist sich erklären läßt — und auf welches gar leicht der ganze Mechanismus des menschlichen Geistes sich gründen dürfte." 36 Auch dieser Satz der Erstauflage wird erst aus der Beziehung auf Eleonore Grunow voll verständlich (vgl. Anm. 34). Spätere Auflagen: „. . . der Phantasie geleitet; und ist so die vorgebildete That des gewohnten inneren Handelns reines Bewußtsein:" Vgl. Fichte, Grund unsers Glaubens (Werke V, 184): „Die Welt ist nichts weiter, als die nach begreiflichen Vernunftgesetzen versinnlichte Ansicht unsers eignen inneren Handelns, als blosser Intelligenz, innerhalb unbegreiflicher Schranken, in die wir nun einmal eingeschlossen sind, —" 37 Vgl. Anm. 34. 38 Vgl. Br. IV, 71: „Richter (Jean Paul) meinte damit weniger die Reden als die Monologen, die ihm Schlegel gegeben hat. Dieser schreibt mir, er habe darüber nicht unverständig und über manches sogar herzlich und mit Liebe gesprochen, besonders über die Stelle vom Sterben der Freunde. Die ist ihm freilich am analogsten, und ich dachte als ich sie niederschrieb daran, daß er sie lieben müßte." Die Urgestalt der Stelle vom Sterben der Freunde findet sich in einem Brief Schleiermachers an seine Schwester Charlotte vom 18.8.1797; v glI; S. 144: „Es ist doch im Menschen nicht so, wie in der Welt, wo jede Stelle besetzt wird, die sich erledigt. Wenn uns jemand stirbt, bleibt immer eine leere Stelle. Es fehlen uns Mitteilungen und Empfindungen, die so nicht wieder erregt werden, eine Saite unseres Wesens hat ihren Resonanzboden verloren, und das geht so fort, bis endlich das ganze Ding in die Polterkammer geworfen wird, aus welcher nur der große Musikmeister alle diese veralteten Instrumente zu einem himmlischen und ewigen Concert wieder hervorzieht und erneuert." Noch am gleichen Tag hat Schleiermacher diesen Gedanken in Form eines Aphorismus seinem wissenschaftlichen Tagebuch anvertraut; vgl. Dilthey, Denkmale, S. 89 f.: „Im Menschen ist es nicht wie in der Gesellschaft. In dieser wird jede erledigte Stelle sogleich wieder besetzt und die Organe der Gesellschaft bemerken die Verschiedenheit, welche daraus entsteht, nur selten. Dem Menschen stirbt mit jedem, der ihm abstirbt, ein Theil seines Wesens ab. Jede Aeußerung eines Menschen ist ein Akkord, für den der Grundton fehlt, wenn derjenige nicht mehr da ist, der ihn hervorlockt. Sie ist dann unverständlich oder stumm, und es bleibt im Gemüth nur die Erinnerung an Harmonien, die nicht mehr klingen. So sterben wir stückweise. Wem schon viele gestorben sind, der hat keine Harmonien mehr zu verlieren und wenn er nachstirbt, reißt er nur andern die Grundtöne ab zu ihren Akkorden. So sterben wenig bessere Menschen, aber jeder tödtet, indem er stirbt, nachdem er vielfach getödtet worden, so lange er lebte. Den 18. Aug. 1797. Veranlaßt durch einen Brief an Lotte." In einem Brief an die Schwester vom 13. 2. 1801 zitiert dann Schleiermacher die

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betreffende Stelle aus den inzwischen anonym erschienenen Monologen und schreibt dazu: „Was ich Dir einmal — ich glaube es war auch in jenem Capitelbriefe, dessen Du erwähnst — über das Verlieren von Freunden schrieb, darüber habe idi mir kürzlich eine mir redit aus der Seele gegriffene Stelle aus einem kleinen Büdilein ausgeschrieben. Idi bin in Versuchung, sie Dir herzusezen, ich habe Dir ohnedies lange nichts dergleichen mitgetheilt: . . ( B r . I, 263). Den Gedanken vom Sterben der Freunde hat Schleiermacher auch in seinen späteren Predigten zum Totensonntag aufgenommen, hat ihn dort jedoch scharf unter das christlich Erlaubte begrenzt. Vgl. z. B. WW 2 , Bd. 9, S. 255: „Wie sehr auch oft das Dahinscheiden unserer geliebten uns ergreifen mag; wie sehr auch mit ihrem Hintritt ihr Einfluß auf unser ganzes Leben verschwunden; wie sehr auch oft mit dem einzelnen das ganze Bild von der Zukunft, welches wir uns entworfen hatten, erloschen zu sein scheint und in dem ersten Gefühl des Schmerzes das Leben ohne Werth: laßt uns bedenken, daß wir kein Recht haben auch nur zu wünschen, daß wir denen folgen mögen die uns vorangegangen sind und deren Verlust wir beweinen, weil wir dem Herrn, dem wir angehören und der allein über uns zu schalten hat, zu leben haben." Oder WW2, Bd. 10, S. 669: „Jeder fühlt da nicht nur eine leere Stelle, die wieder zu ersezen ist, sondern er fühlt auch, daß ein Theil seines eigenen Lebens verloren geht, er fühlt es, wie, wenn solche Verluste sich häufen, alle Lust und Freude am Leben immer mehr versdiwinden muß. Wolan denn! m. F., wenn uns das begegnet, o, laßt uns bedenken, daß es nur Einen gibt, in welchem unsere ganze Liebe vereinigt ist, nur Einen, auf welchen alle wahre göttliche Kraft zurückweiset, wie sie von ihm ausgeht, nur Einen, aus welchem die menschliche Seele alles Leben schöpfen kann, weil die Fülle desselben, die in ihm liegt, unerschöpflich ist. Wir sind ergriffen von Christo Jesu . . . " Vgl. auch WW 2 , Bd. 2, 601 f. 39 Schleiermacher spielt an auf seine — von den romantischen Freunden geweckte und vielfach genährte — Absicht, seine Weltansicht in Romanform darzustellen. Vgl. z. B. den Brief an Henriette Herz vom 4. 7. 1799 (Br. I, 230): „Schlegel hat mir lezthin verschiedentlich demonstrirt, ich müßte einen Roman schreiben; meine religiösen Ideen über Liebe, Ehe und Freundschaft ließen sich nicht anders mittheilen und mitgetheilt sollten sie werden, also müßte ich den Roman auch schreiben können. Ich habe ihm gestanden, ich hätte es schon seit einiger Zeit als meinen Beruf gefühlt, ich zweifelte aber am Können, und das thue ich auch noch." Brief an die Schwester vom 27. 12.1800: „Idi möchte Dich beinahe bitten, auf diese näheren Erörterungen noch zehn Jahre zu warten, dann sollst Du sie in ihrem ganzen Zusammenhange in einem Roman finden, den ich einmal schreiben will und der alles enthalten soll, was idi vom Menschen und dem menschlichen Leben zu verstehen glaube." (Br. I, 2J2) 40

2. Aufl.: „Göttin der Jugend". Die „ewige Jugend" war Stichwort im Kreise der Berliner Frühromantiker schon vor den „Monologen" und ist auch später von Schleiermacher häufig in diesem Sinne gebraudit worden. Vgl. z. B. Br. I, 192: „Wozu wäre denn die ewige Jugend 41

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ewig, wenn es dabei auf Länge und Kürze ankäme" (9. 9. 1798). Ähnlich Br. I, 353; III, 89. 97; IV, 96. 240. Audi Schlegel benutzt das Stichwort in der „Lucinde". Später hat Schleiermacher stets die wesensmäßige Differenz zwischen den Lebensaltern und deren Recht betont. Vgl. z . B . WW 2 , Bd. 1, S. 615 f. (unten S. 394) oder WW", Bd. 4, S. 358: „Wir unterscheiden in dem Menschen an Leib und Seele eine große Mannidifaltigkeit von Kräften und von Vermögen, die jeder in verschiedenem Maße aber doch jeder alle besizt. Jede derselben hat ihre eigene Geschichte und ihre eigene Entwikkelung; in jeder unterscheiden wir das erste Erwachen gleichsam das kindliche Alter und dann die Zeit des Wachsthums und der Blüte, sowie die Zeit, w o sie ihre Früchte bringen soll in dem ganzen Zusammenhange des menschlichen Lebens." 42 Spätere Auflagen: „ . . . sei leicht sich ablösende Frucht." Im wissenschaftlichen Tagebuch Schleiermachers heißt es: „Die Blüthe ist die wahre Reife. Die Frucht ist nur die chaotische Hülle dessen was dem organischen Gewächs nicht mehr angehört." (Dilthey, Denkmale, S. 118.) D a ß Schleiermacher später nicht mehr so gedacht hat, zeigt z. B. das Predigtzitat Anm. 41. 43 Spätere Auflagen: „ . . . , die den ganzen Reichthum des Lebens nicht kennen, . . . " 44 Friedrich Schlegel hat das Manuskript der Lucinden-Briefe von Schleiermacher in einzelnen Teilen empfangen u n d h a t es zum Druck gebracht. Mit dem Adressaten der Zuschrift ist also Schlegel gemeint, trotz der Mystifikation auf S. 85. 45 Schleiermacher meint Schlegels „Gespräch über die Poesie", welches 1800 im 3. Band des „Athenäum" erschienen war. 46 Es handelt sich um den im 18. Jahrhundert hochgeschätzten Erzähler Helfrich Peter Sturz aus Darmstadt (1736—1779). 47 Schleiermacher bezieht sich auf den Abschnitt „Charakteristik der kleinen Wilhelmine" in Schlegels „Lucinde" (Schlegel 13—15). Schlegel stellt dort die unbefangene A r t eines zweijährigen Mädchens als Muster wahrer Schicklichkeit dar. Vgl. besonders S. 15: „ . . . diese Charakteristik soll ja nichts darstellen als ein Ideal, welches ich mir stets vor Augen halten will, um in diesem kleinen Kunstwerke schöner und zierlicher Lebensweisheit nie von der zarten Linie des Schicklichen zu verirren, und dir, damit du alle die Freiheiten und Frechheiten, die ich mir noch zu nehmen denke, im voraus verzeihst, oder doch von einem höhern Standpunkte beurteilen und würdigen kannst . . . U n d nun sieh! diese liebenswürdige Wilhelmine findet nicht selten ein unaussprechliches Vergnügen darin, auf dem Rücken liegend mit den Beinchen in die H ö h e zu gestikulieren, unbekümmert um ihren Rock und um das Urteil der Welt. Wenn das Wilhelmine tut, was darf ich nicht tun, da ich doch bei G o t t ! ein Mann bin, und nicht zarter zu sein brauche wie das zarteste weibliche Wesen?" 48

Schleiermacher meint hier wahrscheinlich die literarische Reaktion, welche Schlegels „Lucinde" zum Anlaß nahm, die gesamte Frühromantik zu verleumden. Vgl. auch den Brief an Brinkmann vom 4 . 1 . 1 8 0 0 (Br. IV, 54): „Hier in unserm Theile von Deutschland ist das Geschrei dagegen allgemein; der Partheigeist verblendet die Menschen bis zur Raserei, und die Verlezung der Decenz, dieses höchst

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unbestimmte Verbrechen, dessen man bezüchtigen und loslassen kann wie und wen man will, läßt auch vernünftige Menschen alles Schöne und Vortreffliche in diesem Buch und seinen eigentümlichen gewiß großen Geist übersehen... Überhaupt ist bei den Meisten dieser Punkt nur Vorwand, um eine Brücke zu Schlegels Persönlichkeit zu finden." 49 Schleiermachers Andeutung bezieht sidi vor allem auf Wieland; vgl. unten S. 1 3 1 f. und Br. I V , $4: „Wenn man die Leute an die Alten erinnert, und sich erbietet ihnen in ihrem Wieland und anderen verehrten Häuptern weit verführerische Dinge zu zeigen, so sind sie freilich in Verlegenheit." so Schleiermadier bezieht sidi auf Fichtes Ausführungen über die Ehe in der Sittenlehre von 1798 (Werke I V , 328 ff.). Fichte betont dort, daß der Geschlechtstrieb besonders des Weibes nur in der vollkommenen liebenden Hingebung an den Mann und damit allein in der Ehe sittlichen Charakter haben könne. Vgl. Werke IV, 330 f.: „Im bloßen Begriffe der Liebe ist der der Ehe, in der soeben angegebenen Bedeutung, enthalten, und sagen: ein sittliches Weib kann sich nur der Liebe geben, heißt zugleich sagen: sie kann sich nur unter Voraussetzung einer Ehe geben . . . Es geht aus diesen Sätzen hervor, daß die Befriedigung des Geschlechtstriebes nur in der Ehe . . . erlaubt, außer ihr aber beim Weibe gänzliche Wegwerfung ihres sittlichen Charakters, beim Manne Teilnahme an diesem Verbrechen, und Benutzung einer tierischen Neigung sei." Wie tief Schleiermacher und der Kreis der Frühromantiker sich hier getroffen fühlten, zeigt z. B. Schleiermachers briefliche Äußerung an Henriette Herz vom 2 6 . X . 1802: „Die Absicht überhaupt und das bewußte Bestreben, Männer an sich zu ziehen, liegt in der weiblichen Natur und gehört zu ihr (bei Mädchen ist es mehr Wunsch und Instinkt, bei Frauen mehr Wille und Absicht), nicht etwa als ein F e h l e r , sondern ganz nothwendig und wesentlich. Denn nur dadurch entgehen die Frauen der Erniedrigung, zu welcher sie Fichte verdammt, unthätig zu sein in dem ganzen Prozeß der Liebe vom ersten Anfang an." (Br. I, 344) 51 Schleiermacher meint den mit „Dithyrambische Fantasie über die schönste Situation" überschriebenen Abschnitt in der „Lucinde" (Schlegel 1 0 — 1 3 ) . Schlegel versucht dort auszudrücken, daß in der wahren, Sinnlichkeit und Geistigkeit vereinigenden Liebe die Beschränktheit des Männlichen und Weiblichen sich in das eigentlich Menschliche hinein aufhebt. Dies wird in der „schönsten Situation" symbolisiert: „ . . . so ist uns die witzigste unter den Gestalten und Situationen der Freude auch die schönste: wenn wir die Rollen vertauschen und mit kindischer Lust wetteifern, wer den anderen täuschender nachäffen kann, ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser gelingt, oder mir die anziehende Hingebung des Weibes. Aber weißt du wohl, daß dieses süße Spiel f ü r mich noch ganz andere Reize hat als seine eignen? Es ist auch nicht bloß die Wollust der Ermattung oder das Vorgefühl der Rache. Ich sehe hier eine wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit. Es liegt viel darin, und was darin liegt, steht gewiß nicht so schnell auf wie ich, wenn ich dir unterliege." M

Der Abschnitt „Treue und Scherz" in der „Lucinde" (Schlegel 29—35) besteht

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aus einem Zwiegespräch der Liebenden, welches vom rein sinnlichen Liebesspiel begleitet ist. 53 In dem Abschnitt „Eine Reflexion" (Schlegel 72—74) behauptet Schlegel in änigmatisdien Andeutungen die Allgegenwart und die alles Weltgeschehen bestimmende Bedeutung der Geschlechtlichkeit. Er selber läßt Lucinde einwenden: „Was sollen mir diese Anspielungen, die mit unverständlichem Verstand nicht an der Grenze, sondern bis in die Mitte der Sinnlichkeit nicht spielen sondern widersinnig streiten?" (Schlegel 74). 54 Schleiermacher bezieht sich hier auf folgende Stelle in dem ersten „Brief" des Julius an Lucinde (Schlegel 64): „Ach Liebe! glaube es nur, daß keine Frage in dir ohne Antwort in mir ist. Deine Liebe kann nicht ewiger sein als die meinige. — Köstlich ist aber deine schöne Eifersucht auf meine Fantasie und ihre Wutbeschreibungen. Das bezeichnet recht die Grenzenlosigkeit deiner Treue, läßt aber doch hoffen, daß deine Eifersucht nahe daran sei, in ihrem eignen Übermaß sich selbst zu vernichten. Es bedarf nun dieser Art von Fantasie — der geschriebenen — nicht mehr. Ich werde bald bei dir sein. Ich bin heiliger, ruhiger wie sonst. Ich kann dich im Geiste nur anblicken und stets vor dir stehn. Du fühlst alles ohne d a ß ich's sage, und glühst freudig halb den geliebten Mann halb das Kind im Herzen." Dieser „Brief" handelt von der werdenden Mutterschaft Lucindes. 55 Es handelt sich um das „Sehnsucht und Ruhe" überschriebene morgendliche Zwiegespräch zwischen Julius und Lucinde (Schlegel 78—80). Schleiermachers Bemerkung bezieht sich auf folgende Stelle: „ J u l i u s . Ach, daß das harte Licht den Schleier heben darf, der diese Flamme so verhüllte, daß der Sinne Scherz die heiße Seele kühlend lindern mochte! L u c i n d e . So wird einst ewig kalter ernster Tag des Lebens warme Nacht zerreißen, wenn Jugend flieht und wenn ich Dir entsage wie Du der großen Liebe größer einst entsagtest. J u l i u s . D a ß ich doch Dir die unbekannte Freundin zeigen dürfte und ihr das Wunder meines wunderbaren Glücks. L u c i n d e . Du liebst sie noch und wirst sie ewig mein auch ewig lieben. Das ist das große Wunder Deines wunderbaren Herzens. J u l i u s . Nicht wunderbarer als das Deine. Ich sehe Dich an meine Brust gelehnt mit Deines Guido Locke spielen; uns beide brüderlich vereint die würd'ge Stirn mit ew'gen Freudekränzen zieren. L u c i n d e . Laß ruhn in Nacht, reiß nicht ans Licht, was in des Herzens stiller Tiefe heilig blüht. J u l i u s . Wo mag des Lebens Woge mit dem W i l den scherzen, den zart Gefühl und wildes Schicksal heftig fortriß in die herbe Welt?" (Schlegel 79 f.). 56 Die Zeile steht im Anhang zur „Allegorie von der Frechheit" in folgendem Zusammenhang: „An wen sollte also wohl die Rhetorik der Liebe ihre Apologie der Natur und der Unschuld richten als an alle Frauen, in deren zarten Herzen das heilige Feuer der göttlichen Wollust tief verschlossen ruht, und nie ganz verlöschen kann, wenn es auch noch so sehr verwahrlost und verunreinigt wird? Nächstdem freilich auch an die Jünglinge, und an die Männer, die noch Jünglinge geblieben sind. Bei diesen ist aber schon ein großer Unterschied zu machen. Man könnte alle Jünglinge einteilen in solche, die das haben, was Diderot die Empfindung des Fleisches nennt, und in solche, die es nicht haben." (Schlegel 20 f.)

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Von den „Elementen der Leidenschaft" ist in dem Abschnitt „Treue und Scherz" (vgl. Anm. $2) die Rede. Vgl. Schlegel 35: „Die Gesellschaft ist ein Chaos, das nur durch Witz zu bilden und in Harmonie zu bringen ist; und wenn man nicht scherzt und tändelt mit den Elementen der Leidenschaft, so ballt sie sich in dicke Massen und verfinstert alles." 58

Die Unzulänglichkeit der Anschauung Schleiermachers von der Schamhaftigkeit wird besonders deutlich, wenn man mit Kierkegaards Ausführungen über die Scham im „Begriff Angst" vergleicht (Werke 1 1 . / 1 2 . Abt., Düsseldorf 1952, S. 68 ff.). Bei Kierkegaard ist die Scham nicht „in den Grenzen eines bestimmten Objekts eingeschlossen", sondern sie ist ein Grundphänomen des Menschseins; nämlich der Ausdruck für die Widerspruchseinheit des Menschenwesens in seiner Doppelung in Geist und Leib und zwar Leib in äußerster Zuspitzung als geschlechtliche Sonderung: „Die eigentliche Bedeutung der Scham ist, daß der Geist sich zu der äußersten Spitze der Synthesis gleichsam nicht zu bekennen vermag . . . Das Geschlechtliche ist der Ausdruck für jenen ungeheuren .Widerspruch', daß der unsterbliche Geist als Mann oder Weib (genus) bestimmt ist." Die einzige im Kreis der Freunde, die kritisch über Schleiermachers „Versuch über die Schamhaftigkeit" urteilte, und zwar ähnlich wie später Kierkegaard, war Dorothea Veit: „Die Andern sind sehr vom Versuch über die Schamhaftigkeit entzückt; ich will aber nicht zu schamhaft seyn Ihnen zu gestehen, daß ich ihn noch nicht so recht fort habe; es wird aber wohl noch kommen. Mir war es, als zögen Sie Discretion und Bescheidenheit mit hinein; Schamhaftigkeit habe idi mir immer als das Bewußtseyn der Blöße gedacht, das ganz natürliche Gefühl, wovon in der Bibel steht, daß es die Menschen durch den Fall erhielten mit dem Verstand zu gleicher Zeit. Also je mehr Verstand, desto mehr innerliche Schamhaftigkeit wegen des bekannten Bewußtseins, aber auf keinen Fall eine Tugend." (Br. III, 188 f.) 583 68

Druckfehler für „anstößig"?

Die Lisetten-Episode findet sich bei Schlegel innerhalb des — wesentlich autobiographischen — Abschnitts „Lehrjahre der Männlichkeit" (Schlegel 41—44). Es handelt sich um das wohl geschmackloseste Stück innerhalb der „Lucinde", nach Diltheys Urteil „wohl aus irgendeinem schlechten französischen Roman entlehnt" (Dilthey 2 , 535): Julius hat sich der „Edel"-Dirne Lisette angeschlossen, verläßt sie, als sie ihm „die Ehre der Vaterschaft ankündigt", worauf sie ihn rufen läßt, um sich in seiner Gegenwart zu entleiben: „Er fand sie fast entkleidet in dem schon dunkeln Cabinet, er sank in die geliebten Arme, mit denen sie ihn so heftig an sich riß wie sonst, aber sie sanken sogleich an ihm nieder. E r hörte einen tiefen stöhnenden Seufzer, es war der letzte; und da er sich ansah, w a r er mit Blut bedeckt. Voll Entsetzen sprang er auf und wollte fliehen. E r verweilte nur, um eine große Locke zu ergreifen, die neben dem gefärbten Messer auf dem Boden lag. Sie hatte dieselbe in einem Anfalle von begeisterter Verzweiflung kurz zuvor, ehe sie sich die vielen Wunden gab, von denen die meisten tödlich waren, abgeschnitten. Wahrscheinlich mit dem Gedanken, sich dadurch dem Tode und dem Verderben als Opfer zu weihen. Denn nach der Aussage des Knaben sprach sie dabei mit lauter Stimme die

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Worte: ,Lisette soll zu Grunde gehen, zu Grunde jetzt gleich: so will es das Schicksal, das eiserne'." (Schlegel 44.) 60 Der kurze Abschnitt mit dem „sehr gebildeten Mädchen" innerhalb der „Lehrjahre der Männlichkeit" lautet so: „Einem sehr gebildeten Mädchen gefiel er, weil er ihr seelenvolles Gespräch und ihren sdiönen Geist mit sichtbarer Innigkeit bewunderte, und ihr, ohne eine Schmeichelei auszusprechen, bloß durch die Art seines Umgangs huldigte, so gut, daß sie ihm nach und nach alles erlaubte, außer das letzte. U n d selbst diese Grenze setzte sie ihm nicht aus Kälte, nodi aus Vorsicht und Grundsatz: denn sie w a r reizbar genug, sie hatte eine starke Anlage zum Leichtsinn und lebte in den freiesten Verhältnissen. Es war weiblicher Stolz und Scheu vor dem, was sie für tierisch und roh hielt. So wenig nun ein solches Beginnen ohne Vollendung nach Julius Sinne war, und obgleich er über die kleine Einbildung des Mädchens lächeln mußte, wenn er bei diesem verkehrten und verkünstelten Wesen an das Schaffen und Wirken der allmächtigen Natur, an ihre ewigen Gesetze, an die Hoheit und Größe der Mutterwürde, und an die Schönheit des Mannes dachte, den in der Fülle der Gesundheit und Liebe die Begeisterung des Lebens ergreift, oder des Weibes, das sich ihr hingibt: so freute er sich doch bei dieser Gelegenheit zu sehn, daß er den Sinn für zarten und feinen Genuß noch nicht verloren habe." (Schlegel $2.) Nach Eichner (Schlegel X L I I ) spiegelt sich in diesem Stück die Beziehung zwischen Schlegel und Rahel Levin. 61 Bei der „zarten Louise" handelt es sich um das junge Mädchen, welches Julius zu Anfang der „Lehrjahre der Männlichkeit" beinahe verführt (Schlegel 37—39). Das Urbild dieser Gestalt ist Schlegels Jugendliebe Caroline Rehberg. 82 Vgl. Anm. 49. • 3 Der „übelberüchtigte Dialog" ist der „Treue und Scherz" überschriebene Abschnitt der „Lucinde"; vgl. Anm. 52. Die Stellen am Ende der „Lehrjahre" haben folgenden Wortlaut: „Sie waren nur wenige Tage allein, als sie sich ihm auf ewig ergab und ihm die Tiefe ihrer großen Seele öffnete, und alle Kraft, Natur und Heiligkeit, die in ihr war. Auch sie lebte lange in gewaltsamer Verschlossenheit, und nun brachen zwischen den Umarmungen in Strömen der Rede das zurückgedrängte Zutrauen und die Mitteilung mit einemmale hervor aus dem innersten Gemüt. In einer Nacht wechselten sie mehr als einmal heftig zu weinen und laut zu lachen. Sie waren ganz hingegeben und eins und doch war jeder ganz er selbst, mehr als sie es noch je gewesen waren, und jede Äußerung war voll vom tiefsten Gefühl und eigensten Wesen. Bald ergriff sie eine unendliche Begeisterung, bald tändelten und scherzten sie mutwillig und Amor war hier wirklich, was er so selten ist, ein fröhliches Kind . . . Julius fand in Lucindens Armen seine Jugend wieder. Die üppige Ausbildung ihres schönen Wuchses w a r f ü r die Wut seiner Liebe und seiner Sinne reizender, wie der frische Reiz der Brüste und der Spiegel eines jungfräulichen Leibes. Die hinreißende Kraft und Wärme ihrer Umschließung war mehr als mädchenhaft; sie hatte einen Anhauch von Begeisterung und Tiefe, den nur eine Mutter haben kann. Wenn er sie im Zauberschein einer milden Dämmerung hingegossen sah, konnte er nicht aufhören, die schwellenden Umrisse schmeichelnd zu berühren, und durch die zarte Hülle der ebnen Haut die warmen Ströme des feinsten Lebens

Anmerkungen des Herausgebers

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zu fühlen. Sein Auge indessen berauschte sich an der Farbe die sidi durch die Wirkung der Sdiatten vielfach zu verändern sdiien und doch immer eine und dieselbe blieb. Eine reine Mischung, wo nirgends Weiß oder Braun oder Rot allein abstach oder sich roh zeigte. Das alles war verschleiert und verschmolzen zu einem einzigen harmonischen Glanz von sanftem Leben. — Audi Julius war männlich schön, aber die Männlichkeit seiner Gestalt offenbarte sidi nidit in der hervorgedrängten Kraft der Muskeln. Vielmehr waren die Umrisse sanft, die Glieder voll und rund, doch war nirgends ein Uberfluß. In hellem Licht bildete die Oberfläche überall breite Massen und der glatte Körper sdiien dicht und fest wie Marmor, und in den Kämpfen der Liebe entwickelte sidi mit einemmale der ganze Reichtum seiner kräftigen Bildung." (Sdilegel J4 f.) 64 Claude Crebillon (1707—77), typischer Repräsentant der galanten Schriftstellern des 18. Jahrhunderts. Er erzählt u. a. in morgenländischer Maske von den Liebesgesdiiditen Ludwigs XV. 85 c o m b a b i s i r t e : Nadi Em. Hirsdis Vermutung Druckfehler f ü r „constabilirte". Wenn jemand landesverwiesen wurde, nahm der Constabler sein bewegliches Eigentum unter Beschlag, er „constabilierte" es. Der Betreffende wurde dann unter den Galgen geführt, erhielt den Teil des Eigentums, den er mitnehmen durfte, dort zurück, und wurde dann polizeilich an die Landesgrenze gebracht. •• Bei Sdileiermachers Freundin handelt es sich um Henriette Herz. Schleiermadier schreibt am 23. III. 1799 an seine Schwester über sein Verhältnis zur Herz folgendes: „Ich gehöre aber doch in anderer Rücksicht wesentlich zu ihrer Existenz, ich kann ihre Einsichten, ihre Ansichten, ihr Gemüt auf mancher Seite ergänzen, und so thut sie mir auch. Etwas Leidenschaftliches wird zwischen uns nie kommen, und da sind wir wol in Beziehung auf einander über die entschiedensten Proben hinweg. Nimm es nicht für Eigendünkel, daß ich darüber so gewiß spreche; es ist eine lange Erfahrung und eine sorgfältige Beobachtung, was midi dazu in Stand setzt, und ich glaube, wenn Du uns nur eine Stunde zusammen sähest, würdest Du dieselbe Überzeugung haben . . . Eine Frau eigentlich zur Freundin zu haben ist schon übler, und daß die Herz gerade eine Jüdin ist, gereicht gewiß vielen zum Anstoß; aber das ist eben eins von den jämmerlichsten Vorurtheilen. Gewacht habe ich bei ihr nur auf ausdrückliches Bitten ihres Mannes, als ihre weiblichen Freundinnen nicht mehr konnten, und ich finde darin nichts unter der männlichen Würde." (Meisner I, 136 f.) 87

Vgl. Sdilegel 77 f.: „Für mein Gefühl gibt's zwei Arten von Freundschaft. Die erste ist ganz äußerlich. Unersättlich eilt sie von Tat zu Tat und nimmt jeden würdigen Mann auf in den großen Bund vereinter Helden, schlingt den alten Knoten durch jede Jugend fester, und trachtet stets neue Brüder zu gewinnen; je mehr sie hat, je mehr begehrt sie . . . Die andere Freundschaft ist ganz innerlich. Eine wunderbare Symmetrie des Eigentümlichsten, als wenn es vorher bestimmt wäre, daß man sich überall ergänzen sollte. Alle Gedanken und Gefühle werden gesellig durch die gegenseitige Anregung und Ausbildung des Heiligsten. Und diese reingeistige Liebe, diese schöne Mystik des Umgangs schwebt nicht bloß als fernes Ziel vor einem vielleicht vergeblichen Streben. Nein, sie ist nur vollendet zu finden. Audi

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Anmerkungen des Herausgebers

hat da keine Täusdiung statt, wie bei jeder andern heroischen. Ob die Tugend eines Mannes Stich hält, muß die Tat lehren. Aber wer selbst in seinem Innern die Menschheit und die Welt fühlt und sieht, der wird nidit leicht allgemeinen Sinn und allgemeinen Geist da suchen können wo er nidit ist. Zu dieser Freundsdiaft ist nur fähig, wer in sich ganz ruhig wurde und in Demut die Göttlichkeit des andern zu ehren weiß. Haben die Götter einem Menschen eine solche Freundsdiaft gesdienkt, so kann er weiter nichts, als sie mit Sorge vor allem was äußerlich ist bewahren und das heilige Wesen schonen. Denn vergänglich ist die zarte Blüte." (Schlegel 77 f.) 67a

Im „Vorredner" zur „Unsichtbaren Loge" spricht Jean Paul von einem „Simultantempel", der zugleidi für Klopstock und Crebillon, f ü r Plato und Swift aufgerichtet wird. (Jean Paul, Sämtlidie Werke. Historisch-kritisdie Ausgabe. i . A b t . , 2. Bd., Weimar 1927. S. 19). • 8 Vgl 1 . Kor. 1 3 , 1 0 . •• Vgl. Schlegel 56: „Er erkannte nun wohl, daß die Liebe, die für die weibliche Seele ein unteilbares durchaus einfaches Gefühl ist, für den Mann nur ein Wechsel und eine Mischung von Leidenschaft, von Freundsdiaft und von Sinnlichkeit sein kann." 70 Trotz vielen Versprechen hat Schlegel für den 2. Teil der „Lucinde" nur eine Reihe zusammenhangloser Gedichte geschrieben. Zu einer wirklichen Erzählung war Sdilegel nidit fähig, das zeigen auch die wenigen chaotischen Entwürfe zum 2. Teil. 71 Eleonore zitiert hier einen Satz aus der „Allegorie von der Frechheit": „Alles verschwand nun, und auch der Witz wuchs und dehnte sich, bis er nicht mehr war. Nicht mehr vor und außer mir, wohl aber in mir glaubte ich ihn wieder zu finden; ein Stück meines Selbst und doch verschieden von mir, in sidi lebendig und selbständig." (Schlegel 19). 72 Es handelt sich um den Schluß des Dialogs „Treue und Scherz" (vgl. Anm. 52): „Wer ist wohl leidenschaftlicher, Julius! ich oder du? — Wir sind's beide genug. Ohne das möchte ich nicht leben. Und sieh! darum könnte ich mich mit der Eifersucht aussöhnen. Es ist alles in der Liebe: Freundsdiaft, schöner Umgang, Sinnlichkeit und audi Leidenschaft; und es muß alles darin sein, und eins das andere verstärken und lindern, beleben und erhöhen. — Laß dich umarmen, du Treuer! — Aber nur unter einer Bedingung kann ich dir die Eifersucht erlauben. Idi habe oft gefühlt, daß eine kleine Dosis von gebildetem, verfeinertem Zorn einen Mann nicht übel kleidet. Vielleicht ist's dir so mit der Eifersucht. — Getroffen! und also brauche ich sie nidit ganz abzuschwören. — Wenn sie sich nur immer so schön und so witzig äußerte wie heute bei dir! —Findest du das? Nun wenn du das nächstemal schön und witzig auffährst, werde idi dir's auch sagen und dich loben. — Sind wir nun nicht würdig, die beleidigten Götter zu versöhnen? — J a , wenn dein Diskurs ganz zu Ende ist, sonst sage noch das übrige. — " (Schlegel 35). 73

Vgl. Anm. 59—61. Es handelt sich um den Abschnitt „Sehnsucht und Ruhe; vgl. Anm. $$. 75 Die „Tändeleien der Phantasie" (Schlegel 81 f.) bilden nach dem Abschnitt „Sehnsucht und Ruhe" den Schluß von Schlegels „Lucinde". Der Schlegel-Herausgeber 74

Anmerkungen des Herausgebers

4Ji

Eichner äußert sich zu dem Stück so: „Noch galt es aber, die Schwierigkeit zu überwinden, daß es in einem Buch wie diesem, in dem es ja bis auf das Mittelstück so gut wie keine Handlung gab, unmöglich war, v o n der H a n d l u n g her einen Abschluß z u finden. Im Schlußabschnitt,,Tändeleien der Fantasie' ist dieses Problem sehr geschickt gelöst, indem der Roman in einer immer dünner und transparenter werdenden Prosa verschwebt und sich gleichsam in Nichts auflöst." (Schlegel X L V ) . 76

D e r Abschnitt „Metamorphosen" (Schlegel 59—61) folgt bei Schlegel auf die

„Lehrjahre der Männlichkeit". Schlegel stellt in den „Metamorphosen" die Liebe als eigentliche Schöpferin der wahren geistigen Mannigfaltigkeit der Welt dar. 77

V g l . Anm. JJ. Dorothea V e i t äußert sich über diese Stelle in einem Brief an

Schleiermacher so: „ D ü r f t e idi Eleonoren in Lucindens N a m e n und in ihrer Seele antworten, so würde ich sagen, über das was sie ein Mißton im Duett dünkt: eben weil der Grund auf der Ewigkeit der Liebe ruht, darum muß sie entsagen können ohne Furcht die Liebe zu zertrümmern. Sie muß entsagen wollen können, oder sie darf nicht besitzen wollen. — D e m zweiten Mißlaut den Friedrich will im Duett gefunden haben, w a g ich nidit in Julius N a m e n z u widersprechen, darüber hängt der undurchdringliche V o r h a n g der Individualität, den auch Lucinde wohl niemals hinwegzuheben vermochte, und aus heiliger Ehrfudit lieber zurücktrat." (Br. III, 189). 78

Es handelt sich um des „Dritten Bandes Erstes Stück", erschienen 1800. D i e

Stanzen „ A n Heliodora" (Schlegel 1J2 f.) sind zeitweise v o n Schlegel als Prolog zum 2. Teil der „Lucinde" gedacht gewesen. Sdileiermacher kann sich etwa auf die 4. und 6. Strophe berufen: „ D u warst mir Morgensonne, Heliodora! / A u s deinem Lichte sog ich neue G l u t ; / D u bist mir Lebensquelle, Heliodora! / Durch deren K r a f t der alte Schmerz nun ruht; / Blüh' auf, du Wunderblume, Heliodora! / Zur ew'gen Poesie hauch' ew'gen Mut. / Ich will nicht länger mit dem Schicksal rechten, / Z u

schönem K r a n z nur schöne Zweige

flechten. // Die

schwangre

Zu-

kunft rauscht mit mächt'gem Flügel, / Ich öffne meiner Lebensbahn die Schranken, / Schau in des klaren Geistes tiefsten Spiegel; / D a k ä m p f

ich, Werke

bildend

sonder Wanken, / Entreiße jeder Wissenschaft das Siegel, / Verkünd'ge Freunden heilige Gedanken, / U n d stifte allen Künsten einen Tempel, / Ich selbst v o n ihrem Bund ein neu Exempel." A u s Schlegels „Ideen", einer Fragmentensammlung, bezieht Sdileiermacher sich auf folgende beiden Fragmente: „ N u r um eine liebende Frau her kann sich eine Familie bilden" und „Willst du die Menschheit vollständig erblicken, so suche eine Familie. In der Familie werden die Gemüter organisch eins, und eben darum ist sie ganz Poesie." 79

Schleiermadier dürfte Goethe meinen mit dessen v o n der Frühromantik so

hoch geschätzten Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre". 80

Es handelt sidi um den zweiten Brief des Julius an Lucinde (Schlegel 6 8 —

71). Lucinde ist krank gewesen, und Julius schildert eine Traumvision, in welcher er den T o d der Geliebten erlebt. 81

Bei „ G u i d o " handelt es sich um den ehemaligen Liebhaber der Lucinde, wel-

cher in dem Abschnitt „Sehnsucht und Ruhe" völlig unmotiviert auftaucht. Nach Eidiner ist das Vorbild des „ G u i d o " ein Freund Dorotheas, der A n f a n g 1799 nach Amerika ausgewanderte Eduard d ' A l t o n (Schlegel L X I ) . Im 2. Teil der „Lucinde"

Anmerkungen des Herausgebers

452

(Vgl. Anm. 70) w a r dem „ G u i d o " eine größere Rolle zugedacht (vgl. Schlegel 8 6 — 88). Z u der Gestalt des „ A n t o n i o " vgl. oben S. 13. 82

V g l . 1. Thess. j , 17.

83

V g l . Hebr. 4, i j .

84

V g l . Matth. 17, 20 und 21, 21.

84a

V g l . zum ganzen Gedankengang z. B. M . Claudius in seinem 1778 erschiene-

nen Brief „ Ü b e r das G e b e t " : „ O b nun das Gebet

einer bewegten

Seele etwas ver-

mag und würken kann, oder ob der N e x u s Rerum dergleichen nicht gestattet, wie einige Herren Gelehrte meinen, darüber lasse ich mich in keinen Streit ein. Ich habe allen Respekt für den N e x u s Rerum, kann aber doch nicht umhin dabei an Simson zu denken, der den N e x u s der Torflügel unbeschädigt ließ und bekanntlich das ganze T o r auf den Berg trug. U n d kurz, Andres, ich glaube, daß der Regen w o h l kömmt wenn es dürre ist und daß der Hirsch nicht umsonst nach frischem Wasser schreie, wenn einer nur recht betet und recht gesinnt ist." (Claudius, Sämtliche Werke. München 1968. S. 164). Diese Claudius-Stelle w i r d noch v o n Paul Althaus in seiner „Christlichen Wahrheit" (5. Aufl., Gütersloh 1959, S. 323) gegen Schleiermacher geltend gemacht. 85

V g l . Matth. 7, 7.

89

V g l . Hebr. 12, 2.

87

V g l . Matth. 5 , 1 8 .

88

V g l . 1. Mose 1, 31.

80

V g l . Rom. 8, 28.

90

in der R e l i g i o n :

61

V g l . Luk. 6, 12; Matth. 14. 23; M a r k . 6, 46; Mark. 14, 32.

82

zu

überlassen:

3. Aufl. „des Glaubens". 3. A u f l . „einem ungestörten Genuß der Gemeinschaft

mit seinem V a t e r z u überlassen ohne einen bestimmten Wunsch, ohne eine eigentliche Forderung an ihn." 93

Schleiermacher steht hier im Gegensatz z u Luther, der das Gebet als höchsten

A f f e k t beschreibt. (Vgl. z. B. W A II, 82; L V I , 466 ff. und Tischreden N r . $392). Z u m Ganzen vgl. Gbl. 2 , § 147. 94

die

95

Wie nahe Schleiermacher hier noch der A u f k l ä r u n g steht, zeigt der Vergleich

Religion:

3. A u f l . „ D a s Christentum".

mit Lessings Satz in „Minna v o n Barnhelm", 2. Aufl., 7. A u f t r i t t : „ E i n einziger dankbarer Gedanke gen Himmel ist das vollkommenste Gebet". 96

V g l . Mark. 15, 39.

97

V g l . Matth. 27, 24.

98

A m 23. III. 1799 schreibt Schleiermacher an seine Schwester Charlotte: „ A n -

genehm ist mir's einmal v o r einem andern und sehr zahlreichen Auditorio meine Worte anbringen z u können. D e n n die Kirche ist hier immer ziemlich besezt, und das ist mir mehr werth, als die Ehre, die ich gestern gehabt habe, d a ß der K ö n i g aus meinen Händen das Abendmahl genommen hat, ob ich ihm gleich von Herzen gut bin." (Br. I, 211). D i e Predigt N r . III ist demnach am 22. M ä r z 1799 während der Vertretung Schleiermachers in Potsdam gehalten worden. 99

finden

müssen:

3. Aufl. „finden müssen, grade dann . . wenn man sich

A n m e r k u n g e n des Herausgebers

453

am innigsten vereinigen will". Sdileiermadier meint also v o r allem die unterschiedlichen A u f f a s s u n g e n v o m A b e n d m a h l . A u d i der K ö n i g k o n n t e m i t der Königin Luise nicht gemeinsam z u m A b e n d m a h l gehen, weil beide verschiedener Konfession w a r e n . 100

Vgl. H e b r . 12, 2. Vgl. M a r k . 15,34. 102 Vgl. 2. K o r . 1 2 , 9 . »•» Vgl. J o h . 9 30. 104 Vgl. M a r k . 3, 22. 105 Sdileiermadier k ö n n t e hier a n die Angriffe auf Friedrich Schlegel u n d die ganze frühromantische Schule denken. Vgl. A n m . 48. 101

i,

" « T u g e n d : 3. Aufl. „Gottseligkeit". 107 Vgl. L u k . 23, 34. 108 Vgl. J o h . I 9 , 2 j f . 109 Vgl. M a r k . 3, 34. Vgl. J o h . 1 7 , 12. 111 R e 1 i g i o n : 3. Aufl. „ F r ö m m i g k e i t " . 112 Sdileiermadier bezieht sich auf diese P r e d i g t in einem Brief a n H e n r i e t t e H e r z v o m 2. I I . 1807: „Die Schicksale der Menschen, liebe Jette, m u ß t du etwas im G r o ß e n ansehen. D a n n wirst D u in der jezigen Zeit nichts a n d e r s finden, als was uns die G e schichte überall darbietet, d a ß auf Erschlaffung Z e r s t ö r u n g u n d sterbender K a m p f folgt, w ä h r e n d dessen, w e n n auch n u r eine Schlechtigkeit gegen die andere streitet, die bildenden K r ä f t e des G u t e n u n d die Tüchtigkeit des menschlichen Geistes sich entwickeln. In der Geschichte w a l t e t überall derselbe Genius der Menschheit. D i e u n sichtbare H a n d der Vorsehung u n d das T h u n der Menschen selbst, ist eins u n d dasselbe. Sieht m a n z u sehr auf das Einzelne, so w i r d m a n schwindlig wegen der Kleinheit der Gegenstände. K a n n s t D u Dich aber dessen doch nicht enthalten, wie es die Weiber selten können, so fasse es n u r fest u n d D u wirst sehen, d a ß grade hier der Unterschied weit geringer ist, als er scheint, w e n n m a n Kleine m i t dem G r o ß e n v e r wechselt. W a s k a n n der Misere w o h l großes begegnen? Es ist w e n i g Unterschied in ihrem Schmerz u n d in ihren Freuden gegen sonst. J a , nicht n u r v o n der Misere gilt das, sondern v o n jedem Menschen. Mündlich wollte ich D i r das besser demonstriren. D u k a n n s t aber die G r u n d z ü g e d a v o n in einer v o n meinen P r e d i g t e n finden, v o n der Gerechtigkeit Gottes. Dieser M a ß s t a b ist allgemein f ü r alle Zeiten." (Br. II, 8 j ) . 113 Y g j Glaubenslehre 2 , § 30. 114

F u r c h t : 3. Aufl. „Furcht v o r der S t r a f e " . Vgl. H e b r . 12, 2. i n Vgl. P r e d i g e r 1, 9. 117 Vgl. R o m . 8 , 1 8 . 118 d e r B ö s e : 3. Aufl. „jeder a n d e r e " . « » t u g e n d h a f t : 3. Aufl. „ f r o m m u n d gut". 115

120 121 122 123

A u s ü b u n g d e s G u t e n : 3. Aufl. „Vollbringung des göttlichen Willens". V o r t r a g : 3. Aufl. „Ausdruck". r e l i g i ö s e n : 3. Aufl. „kirchlichen". d i e R e l i g i o n : 3. Aufl. „Das C h r i s t e n t u m " .

Anmerkungen des Herausgebers

4S4 124

B i l d : 3. Aufl. „Urbild". Durdi die Änderung gewinnt der Satz eine — ursprünglich wohl nicht gemeinte — Beziehung auf Christus. 125 d i e b ü r g e r l i c h e G e s e l l s c h a f t : 1 . Aufl. „das Vaterland". 128 i h r w e n i g : 1. Aufl. „ihm gar nichts". 187 Vgl. „Reden über die Religion", Urauflage, S. 182 f . : „der geübte Sinn der Gemeine begleite überall den seinigen, und wenn er zurückkehrt von seinen Wanderungen durchs Universum in sich selbst, so ist sein Herz und das eines jeden nur der gemeinschaftliche Schauplatz desselben Gefühls. Dann entgegnet ihm das laute Bekenntnis von der Übereinstimmung seiner Ansicht mit dem, was in ihnen ist." 128

Vgl. Matth. 18, 20. 12» Vgl, Prediger 7, 29. 1,0 Bei dem „Spielwerk" handelt es sich um eine sogenannte „Weihnachtskunst". Diese w a r ehemals in der Gegend des Erzgebirges sehr verbreitet. Durch Kerzenwärme, u. U. durch ein Schöpfwerk und herabfließendes Wasser werden eine Reihe von Figuren in Bewegung gesetzt. Schleiermacher läßt zugunsten der Absicht seiner Darstellung die tatsächlichen Möglichkeiten des Mechanismus ganz außer acht. 131

Die Verbrennung der Bulle durch Luther am 10. Dezember 1520 in Wittenberg vor dem Elstertor ist für Schleiermacher der wahre Beginn der Reformation, nicht der Thesenanschlag, der den klaren Bruch mit der Papstkirche noch nicht brachte. Schleiermacher hat später bedauert, daß der Reformationsgedenktag nicht mehr entsprechend zu verlegen sei. Es war ihm stets an unmißverständlicher Bezeugung des scharf antikatholischen Charakters der evangelischen Kirche gelegen. Man vergleiche seine Rede zur Säkularfeier der Reformation am 3 1 . X . 1 8 1 7 (WW 1 , V , S. 3 1 2 f.). 152

Vgl. 1 . Mose 9 , 1 2 ff.

"'einiges:

2. Aufl. „einiges andere".

134

Der Kapellmeister und Komponist Joh. Fr. Reichardt ( 1 7 J 2 — 1 8 1 4 ) bewohnte damals ein Haus auf dem Giebidienstein bei Halle. Hier traf sich bis zum Einbruch Napoleons das gebildete und kunstbegeisterte Halle. Auch Schleiermacher war gern- und vielgesehener Gast (vgl. Dilthey 2 , 734—744). Reichardt hat unter vielem anderen die „Weyhnachtskantilene" von Claudius (Berlin 1786) komponiert; vgl. Claudius, Sämtliche Werke, München 1968, S. 363—67. 135 Daß das Erscheinen Christi für Schleiermacher die Wende der gesamten Erdgeschichte bedeutet, wird, abgesehen von der Rede Eduards (unten S. 271 ff.), auch an seiner Gedenkrede auf Friedrich den Großen (unten S. 425 ff.) und in vielen seiner späteren Predigten deutlich. 133

Schleiermachers Schwester Charlotte ( 1 7 6 5 — 1 8 3 1 ) lebte, bis Schleiermadier sie 1 8 1 3 in seinen Berliner Haushalt aufnahm, in einem herrenhutischen Schwesternhaus. Schleiermacher stand ihr besonders nahe; er hat mit ihr besonders in den Unruhe-Jahren 1798—1804 einen umfangreichen Briefwechsel geführt. 137 138

w e n i g : 2. Aufl. „man möchte fast sagen wenig".

u n b e f 1 e c k t : 2. Aufl. „ganz unbefleckt". 130 Vgl. Goethe, Winckelmann, Abschnitt Katholizismus: „Es bleibt freilich jeder, der die Religion verändert, mit einer Art von Makel bespritzt . . . Bei einem Volke,

Anmerkungen des Herausgebers

455

einer Stadt, einem Fürsten, einem Freunde, einem Weibe festhalten, . . . das wird geschätzt." 140 In der „Weihnachtsfeier" ist Sdileiermacher gegenüber geprägten Formen von Gottesdienst und Frömmigkeit nodi äußerst skeptisch. Deshalb schildert er audi die h ä u s l i c h e Feier, nicht aber einen Gottesdienst. Später vertritt Sdileiermacher einen mehr vermittelnden Standpunkt; vgl. schon „Kurze Darstellung", i. Aufl. 1 8 1 1 , 3. Theil, 2. Abschnitt, §§ 8 — 1 1 (S. 86 f.): „8. Der Kleriker ist im Cultus theils Repräsentant der constituirten kirchlichen Autorität als Liturg, theils handelt er mit individueller Selbstthätigkeit als Prediger. 9. Beide Handlungsweisen sind eben so wenig außer einander als Freiheit und Gebundenheit des Cultus sich außereinander darstellen; sondern müssen überall in einander sein, nur in verschiedenem Verhältniß, und können nur nach Maaßgabe des Uebergewichtes der einen Function über die andere von einander gesondert werden. 10. Daher ist die doppelte Aufgabe zu lösen, wie und wodurch auch in den liturgischen Verrichtungen die individuelle Freiheit sich zu offenbaren habe, und wie und wodurch auch in den freien die liturgische Repräsentation. 1 1 . In der repräsentativen Thätigkeit muß das kirchlich bestimmte oder die Vergangenheit vorherrschen, in der individuellen hingegen das Bestreben nach Fortbildung oder die Zukunft." Vgl. auch diese Ausgabe, Bd. II, S. 259 f . 141

Vgl. Mark. 9,42. Es handelt sich um A . W. Schlegels Gedicht „Der Bund der Kirche mit den Künsten". 143 Auch in diesem Satz klingt Schleiermachers eigene „Bekehrungserfahrung" an. Vgl. die Einleitung des Herausgebers, oben S. 8 f. 1433 Schleiermacher ahmt hier den Stil Jean Pauls nach. Vgl. z. B. Jean Paul, Sämtliche Werke, 1. Abt., 2. Bd. (Weimar 1927), S. 2 1 : „Eine unsichtbare Hand legt den Stimmhammer an den Menschen und seine Kräfte — sie überschraubt, sie erschlafft Saiten — oft zersprengt sie die feinsten am ersten — nicht oft nimmt sie einen eilenden Dreiklang aus ihnen — endlich wenn sie alle Kräfte auf die Tonleiter der Melodie gehoben: so trägt sie die melodische Seele in ein höheres Konzert, und diese hat dann hienieden nur wenig getönet. — " 142

144

Vgl. Luk. 2, 34; Luk. 2 , 1 9 ; Luk. 2, 51. Vgl. Luk. 2 , 1 3 f . ; Matth. 2 , 1 1 . 14 * Schleiermacher bezieht sich auf diesen Satz in der „Vorerinnerung" zur zweiten Auflage: „Die Zeiten sind jetzt anders als vor nun beinahe einundzwanzig Jahren als dieses Büchlein zuerst erschien. Das große Schicksal, welches damals drohend einherschritt, hat seine Rolle ausgespielt, und in tausend kleine hat sich der große Kampf zersplittert. Die religiösen Verschiedenheiten, welche hier einander gegenübertreten, wenn sie auch allerdings dem Wesen nadi noch fortbestehen, haben doch Farbe und Ton bedeutend geändert, so daß wol das meiste hier nicht mehr dieselbe Wahrheit hat wie damals." (WW 1 , I, 463). 145

Unmittelbar vor Niederschrift der „Weihnachtsfeier" hatte Napoleon bei Austerlitz die Österreicher und Russen geschlagen (2. X I I . 180 j ) ; am 15. X I I . schlössen Preußen und Frankreich den für Preußen schmachvollen Vertrag zu Schönbrunn. Ober die damalige Stimmung unter den preußischen Patrioten unterrichtet das Schrei-

4*6

Anmerkungen des Herausgebers

ben des Freiherrn vom Stein an den Ober-Kammerpräsidenten v. Vincke: „Ew. usw. Unwille über die gegenwärtige Lage der öffentlichen Angelegenheiten wird sidi hoffentlich durch folgende Betrachtungen etwas mildern. Hätte eine große moralische und intellektuelle Kraft unseren Staat gelenkt, so würde sie die Koalition, ehe sie den Stoß, der sie bei Austerlitz traf, erlitten, zu dem großen Zwecke der Befreiung Europas von der französischen Ubermacht geleitet und nach ihm wieder aufgerichtet haben. Diese Kraft fehlte; ich kann dem, dem sie die Natur versagte, so wenig Vorwürfe machen, als Sie midi anklagen können, nicht Newton zu sein, ich erkenne hierin den Willen der Vorsehung, und es bleibt nichts übrig als Glaube und Ergebung." (Freiherr vom Stein, Staatsschriften. München 1921. S. 9). 147

Vgl. Mark. 10,15. 148 Ygj Novalis, Schriften, hrsg. von Kluckhohn und Samuel. 1. Bd., Darmstadt i960, S. 177. " » G e f ü h l : 2. Aufl. „Bewußtsein". 150 Es handelt sich um den englischen Satiriker Charles Churchill (1731—64), dessen Lebensbeschreibung 1804 erschienen war. Nach einem Brief Schleiermachers an Henriette Herz (Br. II, 50) verbirgt sich in dem Zitat aus Churchill eine persönliche Anspielung, aufgrund derer Schleiermacher als Verfasser meinte von der Herz erkannt werden zu können. Vgl. auch Anm. 157. 151 Von J. H . Campe (1746—1818), dem fruchtbaren Jugendschriftsteller und Bearbeiter des „Robinson", stammen viele, damals z. T. verlachte, heute weithin selbstverständliche Fremdwort-Verdeutschungen. 152 Vgl. Matth. 2,11. 153 In der „Glaubenslehre" 2 , § 138, I, erklärt Schleiermacher diesen Satz ganz nüchtern so, daß es Aufgabe der Kirche sei, die getauften Kinder „in Zusammenhang mit dem göttlichen Wort zu bringen und bis zur Enstehung des Glaubens darin zu erhalten". Der § 138 selbst lautet: „Die Kindertaufe ist nur eine vollständige Taufe, wenn man das nach vollendetem Unterricht hinzukommende Glaubensbekenntnis als den letzten dazu noch gehörigen Akt ansieht." In der 1. Auflage der „Glaubenslehre", § 15 j b lehnt Schleiermacher einen in den Kindern gewirkten Glauben ausdrücklich ab. 154 Vgl. Apg. 10,47. 165 Vgl. Luk. i, 28 ff. 156 Es handelt sich um das 12. der „Geistlichen Lieder" des Novalis (Schriften, S. 173 f.). In das von Schleiermacher mit herausgegebene Berliner Gesangbuch von 1829 sind vier der „Geistlichen Lieder " aufgenommen worden, wenn auch z. T. mit starken Veränderungen, nämlich: „Ich sag' es jedem, daß er lebt" (Nr. 227: „Hörts alle, hörts, daß Jesus lebt"); „Was wär ich ohne didi gewesen?" (Nr. JJ6); „Wenn alle untreu werden" (Nr. 557); „Wenn ich ihn nur habe" (Nr. 558: „Wenn ich nur den Heiland habe"). 157 Schleiermacher in einem Brief an Henriette Herz (Br. II, 50) selbst ausspricht, verwendet er in dieser Erzählung eine Episode aus dem Leben seiner Freundin Charlotte von Kathen, der Schwester seiner späteren Frau. Vgl. die Briefe an

Anmerkungen des Herausgebers

457

Frau von Kathen vom j . V. und 2. X I I . 180$ und vom 1 7 . 1 . 1806 (Br. II, 21.45 f-; Meisner II, 51 f.). 158

Vgl. Joh. j , 24. a l t e r : 2. Auflage „griechischer". Schleiermacher denkt an Piatos Gastmahl; vgl. Anm. 172. 160 Statt „nie aber umgekehrt" fügt Schleiermacher in der 2. Aufl. hier ein: „Eben so auch umgekehrt, wie wir ja solche Beispiele in der christlichen Kirche selbst haben, wenn man Fabeln ersonnen hat um das wunderbare noch mehr zu häufen: so sind diese erst recht geglaubt worden, wenn man ihnen Feste, wie Maria Himmelfahrt ein solches ist, geweihet hat." 159

1,1

bei C h r i s t o :

2. Aufl. „bei allem, was zur ersten Erscheinung Christi ge-

hört". 182

Z e i t g e s c h i c h t e : 2. Aufl. „zeitliche Geschichte des Erlösers". m y t h i s c h : 2. Aufl. „symbolisch". 164 Vgl. 1. Kor. i j , 8. 1,5 Dieser Satz ist ein Beleg für Schleiermachers Äußerung im 2. Sendschreiben an Lücke: „Diese Uberzeugung, daß das lebendige Christentum in seinem Fortgange gar keines Stützpunktes aus dem Judenthum bedürfe, ist in mir so alt, als mein religiöses Bewußtsein überhaupt." ( W , II, 620). Vgl. audi Randbemerkung zu „Glaubenslehre" 1 , § 2 2 (handschriftlich): „Auch der historische Zusammenhang hat seine Grenze", und „Einleitung ins Neue Testament" ( W , V I I I , S. 27): „Ein Zusammenhang zwischen den alttestamentlichen und den neutestamentlichen Geschichtsbüchern existirt nicht." 163

1,8 d a s L e b e n v e r d ä c h t i g : 2. Aufl. „gewissermaßen die Wahrheit seines Lebens verdächtig". 187 der erfahrungsmässige geschichtliche Grund der S a c h e i s t s o s c h w a c h : 2. Aufl.: „das erfahrungsmäßige und geschichtliche vom dem persönlichen Dasein Christi ist durch die Verschiedenheit der Meinungen und Lehren so schwankend geworden". 168 In der 2. Aufl. lautet der Satz so: „Dieser innere Grund aber kann kein anderer sein, als daß die Erscheinung des Erlösers die Quelle aller andern Freude in der christlichen Welt ist, weshalb nichts anderes verdienen kann eben so gefeiert zu werden." 169

Vgl. Anm. 4. d a s : 2. Aufl. „das und der Urheber derselben". 171 Mit der „Idee" des Erlösers ist für Schleiermacher die geschichtliche Wirklichkeit Jesu nicht etwa ausgeschlossen, sondern er setzt sie als selbstverständlich voraus; vgl. die Änderung in der 2. Aufl.: „das Fest hängt nicht daran, sondern wie an der Nothwendigkeit eines Erlösers, so an der Erfahrung eines gesteigerten Daseins, welches auf keinen andern Anfang als diesen zurückzuführen ist" und den Einschub nach dem nächsten Satz: „So ist es auch wirklich Christus gewesen, dessen Anziehungskräften diese neue Welt ihre Gestaltung verdankt". 170

172

In Piatos „Gastmahl" beklagt Sokrates sich mehrfach halb scherzend über die Schwierigkeit, als letzter Redner bestehen zu müssen.

Anmerkungen des Herausgebers

45« 173

m y t h i s c h e n : 2. Aufl. „mehr äußerlichen". Joh. i , i ff. 175 E r d g e i s t e s : i . Aufl. „Geistes, wie er sich auf diesem Weltkörper offenbaren kann". Der Gedanke von Christus als dem Urbild und Vollender der Erdgeschichte findet sich auch in Schleiermachers späteren Predigten, wenn auch unter Vermeidung des Begriffs „Erdgeist". Vgl. z. B. W , I I I , S. 124: „. . . der Erlöser der Welt . . . von Anbeginn an der einzige unmittelbare Gegenstand des göttlidien Wohlgefallens . . . im ganzen Umfang dieser irdischen und mensdilidien Welt". Vgl. auch WW 2 , II, 35. 515, und unten S. 4 3 1 . 174

m

Erkennen

der

Er d e :

2. Aufl. „unserm Weltkörper eignende Erken-

nen". 177

E r d g e i s t : 2. Aufl. „Geist nach Art und Weise unserer Erde". Nach einer ersten Absage im Juni 1803 (Vgl. Br. I, 367 f.) hatte Eleonore Grunow Anfang Oktober 1805 endgültig mit Schleiermadier gebrochen (vgl. Br. II, 38 f.). Im „Joseph" stellt Schleiermacher den in ihm in der Einigung mit Christus und den Seinen erwachenden neuen Menschen dar (vgl. die Einleitung des Hersg., oben S. 9). Schleiermadier ist sich damals dessen nicht bewußt gewesen, daß die Ehe mit einer geschiedenen Frau sein Leben zerstört hätte. E r hätte einen ähnlichen Weg gehen müssen wie Friedrich Schlegel, und dazu wäre er nach seiner seelischen und geistigen Eigentümlichkeit kaum fähig gewesen. Später hat er das selber erkannt. N a d i dem Bericht von Ludwig Jonas hat Schleiermadier 1 8 1 9 bei einem zufälligen Zusammentreffen mit Eleonore Grunow ihr die Hand gereicht und zu ihr gesagt: „Liebe Eleonore, Gott hat es doch gut mit uns gemacht." (Br. I, 138). 178

179

Die Predigt ist am 24. August 1806 in Halle gehalten. Vgl. Bauer 23. ff. S t a a t e s : 2. Aufl. „Gemeinwesens". 181 S t a a t : 2. Aufl. „bürgerlichen Verein". 182 e i n e n u n d d e n s e l b e n S t a a t : 2. Aufl. „ein und dasselbe Gesetz". 188 W o h 1 d e s S t a a t e s : 2. Aufl. „öffentliches Wohl". 184 i n j e d e m S t a a t u n v e r m e i d l i c h i s t : 2. Aufl. „jedes Gemeinwesen unvermeidlich mit sich führt". 185 d e n S t a a t : 2 . A u f l . „das Gemeinwesen". S t a a t : 2. Aufl. „bürgerlichen Verein". Die in den Anmerkungen 180—186 mitgeteilten Änderungen zeigen Schleiermachers wachsende Skepsis gegen die nach 181 $ ständig reaktionärer werdende preußische Staatsverwaltung und seine H o f f nung auf Verfassungsreform in Richtung auf Beteiligung des „bürgerlichen Vereins" (z. B. im Kirchenwesen der Synoden) an der Regierungsverantwortung. Vgl. auch diese Ausgabe, Bd. II, S. 170 f. 180

» 7 Joh. 14, 2. 188 2. Aufl. „aber nie hat es eine höhere Bildung gegeben, welche über diese Vereinigung wieder hinausging, sondern . . ." 181 Vgl. Luk. 1 4 , 1 1 . 190 d e m S t a a t : fehlt in der 2. Aufl. 191 g e f ä l l i g e n : 2. Aufl. „zufälligen". 192 Vgl. Luk. 16, 2 1 .

Anmerkungen des Herausgebers

4S9

193

V g l . 2. K o r . 5 , 7 .

1,4

V g l . Matth, i o , j f . ; i j , 24.

185

V g l . Luk. 1 9 , 4 1 f.

1M

V g l . Rom. 9, 1 ff.

197

G e f a h r : 2. Aufl. „ G e f a h r ; dann allein werden wir uns rühmen können

Gottes Hausgenossen zu sein und Bürger mit den Heiligen." 1,8

D i e Predigt ist die letzte der von Schleiermacher in H a l l e gehaltenen Predig-

ten, wahrscheinlich am 1 7 . 1 . 1807; vgl. Bauer 42 ff. 199

G a b e : 2. A u f l . „zufällige G a b e " .

200

V g l . z . B . L u k . 13,29.

201

Symbol

der

Stärkung:

2. Aufl. „Darreichungsmittel der k r ä f t i g -

sten geistigen Stärkung". 292

M a r k . 14, 23 ff.

203

nichtswürdigen:

294

Man fühlt sich hier an Schleiermachers harte Äußerungen über seine Amts-

2. Aufl. „unbedeutenden".

brüder in Stolp erinnert (vgl. diese Ausgabe, Bd. II, S. 18). D a s Folgende wäre dann eine Korrektur seiner damaligen Haltung. 205

befreit

sein?:

2. Aufl. „befreit sein? und ist es nicht gerade dieses, was

uns am meisten ungeduldig macht, daß w i r die rechte Stunde nicht gern erwarten mögen?" 206

D e r 2 4 . 1 . 1808 fiel auf einen Sonntag, den 3. Sonntag nach Epiphanias; vgl.

Bauer 109 ff. M

' U m s t ä n d e : 2. Aufl. „Umstände im Frieden".

298

der

209

G o 1 1 : 2. Aufl. „ G o t t und auf das Reich Gottes".

Religion:

210

die

freieste

legenheiten: Vgl. Anm.

2. Aufl. „des Christenthums". Theilnahme

an

den

öffentlichen

Ange-

2. A u f l . „den freiesten Gebrauch aller Quellen der Erkenntniß".

186.

211

V g l . L u k . 16, 29.

212

V g l . M a r k . 10,9.

213

so

g e r n : 2. A u f l . „mit gerechtem Stolz". Z u m ganzen Absdinitt v g l .

Anm. 367. 214

g e b 1ü h t hat:

215

V o r der Steinschen Verwaltungsreform und besonders v o r dem Inkrafttreten

2. Aufl. „aufgeblüht ist".

des Allgemeinen Preußisdien Landredits herrschte in Preußen eine fast undurchschaubare Mannigfaltigkeit der Rechtsverhältnisse; es gab z . B . auch erhebliche Rechtsund Verfassungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Provinzen. 216

dieser:

2. A u f l . „dieser unschuldigen und natürlichen

Anhänglichkeit".

Bekanntlich hat der Freiherr v o m Stein sehr viel härter über diese „Anhänglichkeit" geurteilt. 217

V g l . Matth. 16, 3.

218

V g l . L u k . 19,42.

219

V g l . Matth. 23, 38.

229

V g l . Matth, j , 17.

460

Anmerkungen des Herausgebers

d e r (conj.): 1. und 2. Aufl.: „des". u n d a u c h : 2. Aufl. „und vorzüglidi audi der große König hat sie". 2 2 2 T a 1 e n t e : 2. Aufl. „Geistesgaben". 223 U n f ä h i g k e i t d a s G u t e u n d H e i l i g e z u l e i t e n : 2. Aufl. „Unempfänglidikeit für alles Höhere und Heilige". 2 2 4 Vgl. Matth, 15, 14. 2 2 5 s i e : 2. Aufl. „die Frömmigkeit". 2 2 6 Vgl. 1. Petri 2, 9. 2 2 7 Vgl. Kol. i , 18. 2 2 8 Vgl. Matth. 11,28. 2 2 9 Vgl. 2. Kor. 12, 9. 2 3 0 H a ß : 2. Aufl. „Unwille". 2 3 1 Vgl. Mark. 14, 27. 2 3 2 Vgl. Joh. 2, 2 j . 233 Vgl. Luk. 19,40. 2203

221

d a s : 2. Aufl. „das durdi irgend etwas, das sie persönlich trifft". s i e : 2. Aufl. „diese wogende Menge in ihrer günstigsten Stimmung". 2 3 9 Vgl. Matth. 2 1 , 1 5 f. 2 3 7 Vgl. Luk. 19, 39 f. 2 3 8 Vgl. 1. Kor. 12, 3. 2 3 9 Vgl.Apg. 16,30. 240 w e r d e n ? — : 2. Aufl. „werden? — gesetzt auch wir ahneten das nidit:" Vgl. Jer. 17, 9. 242 G e s e l l s c h a f t : 2. Aufl. „Gemeinschaft". 2 4 3 Vgl. Phil. 2, 7. 2 4 4 Vgl. Hebr. 4 , 1 $ . 2 4 5 A n f a n g : 2. Aufl. „Anfang ganz allmählig". 246 e r b ä r m l i c h : 2. Aufl. „willenlos". 2 4 7 h i e z u : 2. Aufl. „zur Förderung des Guten". 2 4 8 w a r : 2. Aufl. „war, aber rükkgängig wurde". 2 4 9 Vgl. Matth. 21, 18 ff. 2 5 0 Die Predigt ist in der Passionszeit 1812 gehalten, zur Zeit da gegen die Hoffnungen der preußischen Patrioten Preußen mit Napoleon das Bündnis gegen Rußland sdiloß. 234

235

Vgl. Joh. 15, j . Vgl. 1. Kor. 13, 1 f. 253 j ) ¡ e p r e c l ¡ g t ¡ s t wahrscheinlich am 12. V. 1812, dem Sonntag Misericordias Domini gehalten; vgl. Bauer 86. 254 a u f d i e s e r E r d e : 2. Aufl. „unter seinen Jüngern". 255 n o c h n i c h t ü b e r t r a g e n : 2. Aufl. „zwar schon übertragen; aber antreten sollten sie ihn noch nicht". 259 B e t r a c h t u n g : 2. Aufl. „so kurzen Betrachtung". 2 3 7 S p i e 1 : 2. Aufl. „Spiel des Geistes". 2 5 8 S c h e r z : 2. Aufl. „Scherz — denn nur zu oft fehlen ja auch diese — " 251

252

Anmerkungen des Herausgebers

461

w e r t h z u a c h t e n : 2. Aufl. „innig und dankbar zu freuen". Vgl. Luk. 5, 8. 261 B e k a n n t s c h a f t : 2. Aufl. „Verbindung". 2 6 2 Vgl. Mark, i , 17. 2 6 3 Vgl. Matth. 2 5 , 1 4 ff.; Luk. 1 1 , 2 1 ; Matth. 1 3 , 45 f . ; Matth. 2 0 , 1 ff.; Joh. 1 6 , 2 1 ; Matth. 2 4 , 4 5 ; Matth. 2 1 , 28 f.; Mark. 4, 2 6 f f . ; Luk. 13, 19. 259

2eo

Vgl. Titus 1, I J . Vgl. Phil. 3, 20. 2 , ® u n s e r n W e r k e n : 2. Aufl. „unserm Wirken". 2 , 7 Vgl. Rom. 8, 28. 268 Vgl. J. Mose 3 , 1 5 . 2 6 9 Vgl. Joh. 1 2 , 32. In dem letzten Satz des Abschnitts zeigt sich besonders deutlich, daß Schleiermadier eine ernstere Anfechtung des Wiedergeborenen nicht kennt. Das „durch sie" in der drittletzten Zeile (2. Aufl. „sogar durch sie") bezieht sich auf die „einzelnen Verirrungen und Fehler". 264 2