Literatentum, Magie und Mystik im Frühwerk Hugo von Hofmannsthals [Reprint 2018 ed.] 9783110822687, 9783110002201


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German Pages 140 [152] Year 1968

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Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
I. Age of Innocence
II. Literatur
III. Literatentum
IV. Magie
V. Mystik
Literaturverzeichnis
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Literatentum, Magie und Mystik im Frühwerk Hugo von Hofmannsthals [Reprint 2018 ed.]
 9783110822687, 9783110002201

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Manfred Hoppe Literatentum, Magie und Mystik im Frühwerk Hugo von Hofmannsthals

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker

Begründet von Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Neue Folge Herausgegeben von Hermann Kunisch Stefan Sonderegger und Thomas Finkenstaedt 28 (152)

Walter de Gruyter & Co vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. Berlin 1968

Literatentum, Magie und Mystik im Frühwerk Hugo von Hofmannsthals von

Manfred Hoppe

Walter de Gruyter & Co •ormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp.

Berlin 1968

Archiv-Nr. 433068/3

© Copyright 1968 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. — Printed in Geimany. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, auch auszugsweise» vorbehalten. Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin

Für meine Eltern in Dankbarkeit

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung I. Age of Innocence II. Literatur III. Literatentum Der Literat und sein Verhältnis zum Ich

1 10 20 66 75

Der Literat und sein Verhältnis zum Du

85

Zeit und Leben

90

IV. Magie V. Mystik Literaturverzeichnis

96 115 130

Vorbemerkung Während des Ersten Weltkrieges begann Hugo von Hofmannsthal mit einer Reihe von skizzierenden Aufzeichnungen autobiographischen Charakters, die er später unter dem Titel Ad me ipsum vereinigte. Dieser Versuch einer Selbstinterpretation und die darin verwendeten Schlüsselworte — Praeexistenz und Existenz, Mystik und Magie, das Allomatische, das Soziale — haben seit ihrer Publikation durch den mit Hofmannsthal befreundeten Literarhistoriker Walther Brecht eine bestimmende Wirkung auf den Teil der Forschung ausgeübt, der sich um die Deutung des hofmannsthalschen Werkes bemüht 1 . Das soll heißen, daß die repräsentativen Züge unseres Hofmannsthalbildes weitgehend vom Dichter selbst geformt sind. Es ist anzunehmen, daß Hofmannsthal bei der Wahl des Titels an das Motto ad se ipsum dachte, das Sören Kierkegaard seinen tagebuchartigen, Diapsalmata genannten Betrachtungen in Entweder/Oder hinzugefügt hat 2 . Ein Vergleich läßt das Eigentümliche der Aufzeichnungen Hofmannsthals deutlicher hervortreten. Der Gegenstand der kierkegaardschen Analyse ist nicht die Umwelt, so wenig wie deren Ergebnis für eine bestimmte Öffentlichkeit gedacht ist. Vielmehr wird sich Kierkegaard in seinen Untersuchungen selbst gegenständlich — er spricht ad se ipsum. Eine Beziehung zur Umwelt besteht lediglich in negativer Hinsicht; sie tritt nicht mehr als selbständiges Gegenüber in das Blickfeld des Beobachtenden, sondern ist nur noch als Reizfaktor neuer Gefühlsnuancen von Wichtigkeit. Das Anliegen des Künstlers ist es nicht mehr, die Korrespondenz von Außen und Innen darzustellen oder auch nur herzustellen: Alles Wesentliche geschieht im neutralisierten Raum der „Innerlichkeit" 3 . 1

2

3

Walther Brecht, Hugo von Hofmannsthals Ad me ipsum und seine Bedeutung, Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Frankfurt a. M., 1930, S. 319 ff. Daß Hofmannsthal zur Zeit der Niederschrift der Aufzeichnungen Kierkegaard wiedergelesen hat, bezeugen Notizen zum Schwierigen. Vergi. Michael Hamburger, Hofmannsthals Bibliothek, Euphorion Bd. LV, 1, 1961, S. 15—76. Vergi. Hans Staub, Laterna Magica, Studien zum Problem der Innerlichkeit in der Literatur, Zürcher Beiträge N r . 17, o. J., S. 9 — 1 8 . 1

Hoppe, Hofmannsthal

2

Vorbemerkung

Die Abänderung des Pronomens innerhalb des Mottos bei Hofmannsthal läßt zunächst vermuten, es geschehe in der Absicht, die Intimität und Subjektbezogenheit der Notizen noch deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Hofmannsthals Aufzeichnungen sind aber im Gegenteil nicht als Analyse oder private Seelenkunde gedacht, sie haben vielmehr eine synthetische Funktion. Die Abänderung zu Ad me ipsum ist viel eher als eine sehr bewußte Durchbrechung des neutralen Raumes der Innerlichkeit zu interpretieren; demonstrativ verweist sie eine anerkannte Umwelt auf ein Ich und dessen untrennbare Verknüpfung von Leben und Werk. Die Aufzeichnungen versuchen damit im Individuellen zu leisten, was Hofmannsthal auch im Allgemeinen angesichts der sich nähernden europäischen Katastrophe als seine Pflicht ansah: Der allgemeinen Auflösung äußerer Formen die Unzerstörbarkeit und Kontinuität des Geistigen entgegenzuhalten. Ad me ipsum ist der persönliche Beitrag Hofmannsthals zu seiner allgemein formulierten Forderung: „Alles im äußeren Zerklüftete muß hineingerissen werden ins eigene Innere und dort in eines gedichtet werden, damit außen Einheit werde, denn nur dem in sich Ganzen wird die Welt zur Einheit 4 ". Mögen sich zwei Prosaschriften wie Ad me ipsum und Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, aus dem die Äußerung Hofmannsthals stammt, inhaltlich und formal unterscheiden, sie gehören eng zusammen in ihrer Tendenz, die auf eine „konservative Revolution" 5 zielt, wenn dieses andere hofmannsthalsche Schlüsselwort heißen darf: Herübernahme der Vergangenheit in eine aus deren lebendigen Kräften sich nährende Gegenwart, die wiederum schöpferisch werden soll. Aber die Sprache wird zur Verräterin der tiefen Fragwürdigkeit, die diesem Versuche von Anfang an innewohnt und die sich in der angeführten Äußerung Hofmannsthals offenbart. Der Einheit, die im eigenen Innern in eines gedichtet werden soll, haftet das Stigma der Zweideutigkeit an. Während Hofmansthal hier unter „dichten" das Zusammenschließen eines zusammenhanglosen Mannigfaltigen zu einer Einheit verstanden haben möchte, erhebt sich zugleich die Frage, ob es sich nicht in diesem Falle um eine gedichtete Einheit im Sinne einer poetischen Fiktion handele. Die Größe des Anliegens, dem Hofmannsthal sich mit allen seinen Kräften bis zur völligen Erschöpfung verschrieb, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es eine Forderung blieb, der die Erfüllung in der Wirklichkeit versagt bleiben mußte 6 . 4 5 6

P IV, S. 411 f. ebd. S. 413. In die gleiche Richtung weisen die ebenfalls innerlich fragwürdigen Versudle, die Legende Österreichs künstlich zu schaffen. Vergl. P i l l , S. 292 ff.: Prinz Eugen der edle Ritter.

Vorbemerkung

3

Doch auch Ad me ipsum als der Versuch einer autobiographischen Skizze und Selbstinterpretation bleibt im Betonen wie im Verschweigen, im Druck der Linienführung letztlich eine Forderung, wie Hofmannsthal sich als Dichter und Mensch gesehen haben will. Er betont vor allem das ethische Moment des Werkes, verschwiegen wird die nie nachlassende Gefährdung durch das ästhetisch-artistische Moment. Das Resultat ist ein zwar einheitliches, aber harmonisiertes Bild des Dichters. So bedeutsam Ad me ipsum als Dokument auf dem Wege eines Dichters ist, der sich immer wieder den Forderungen seiner Zeit zu stellen suchte und unerbittlich Höchstes von sich verlangte — es kann nicht genug betont werden, daß diese Aufzeichnungen nicht die objektive Ausgangsbasis einer Interpretation sein können, daß sie vielmehr selbst der sorgfältigsten Interpretation bedürfen, in den oft vieldeutigen Einzelnotizen wie in der allgemeinen Tendenz. Ad me ipsum ist ein Teil des Gesamtwerks Hofmannsthals, es ist nicht der archimedische Punkt, von dem aus es in all seinen Verästelungen überschaubar wird 7 . Es ist notwendig, diesen Punkt so scharf hervorzuheben, weil sich der Einfluß der Selbstinterpretation am verhängnisvollsten auf die Deutung des Frühwerks ausgewirkt hat, mit dem sich die vorliegende Untersuchung vorwiegend zu befassen haben wird. Während Begriffe wie der des Sozialen oder des Allomatischen (die in einer menschlichen Bindung erfolgende gegenseitige Verwandlung), auf das Spätwerk angewandt, einen verhältnismäßig großen Teil der im Werk verborgenen Problematik zu erfassen vermögen, wirkt das Schlüsselwort, das Hofmannsthal zur Interpretation seines Jugendwerkes heranzieht, das der „Praeexistenz", eher verdunkelnd als klärend. Zwar rückt es dieses Jugendwerk unvermeidlich assoziativ in weiteste Zusammenhänge, die von den platonischen Dialogen über neuplatonische Systeme bis in d'ie Forschungen eines Konrad Burdach reichen8; aber die Helle des Begriffs nimmt ab, je weitere Räume er auszuleuchten hat, und schließlich bleibt nur noch ein Halblicht, in dem sich die Problematik des Frühwerks eher verbirgt als erklärt 9 . Sobald man sich auf die Interpretation des Früh7

Vergl. im Gegensatz dazu Walter Jens: „Ausgangspunkt jeder Interpretation, die sich mit dem Leben und Werk Hugo von Hofmannsthals beschäftigt, muß heute . . . mehr denn je das geheime Bordereau sein, ad me ipsum, das der Dichter v o m Jahre 1916 an führte und in dem er selbst eine grundlegende und systematische Analyse seiner Werke vornahm: sachlich, anschaulich und mit Hilfe von bestimmten Schlüsselworten, die ihm zur Dechiffrierung seiner dichterischen Problematik und zur nachträglichen Erhellung durchlebter Zeitabschnitte dienten." I n : Hofmannsthal und die Griechen, Tübingen 1955, S. 17.

8

Vergl. Brecht, Hochstift, S. 345 ff. Die unterschiedliche Relevanz der verwendeten Begriffe in Bezug auf das Jugendwerk und die spätere Produktion hat ihren Grund darin, daß in Ad

8

l*

4

Vorbemerkung

werks mit Hilfe des Schlüsselworts „Praeexistenz" einläßt, verbindet es sich zu einer vagen Einheit, die sich der von der „Existenz" bestimmten Dichtung als dem davon Unterschiedenen gegenüberstellt. Diese läßt man dann mit dem Chandos-Brief beginnen, wobei gerade dieses in der neueren Literaturwissenschaft so ungemein bedeutsam gewordene Dokument alles andere als ein Fixpunkt innerhalb der Entwicklung Hofmannsthals ist. So verhindern diese Begriffe aber, daß einer Forderung Genüge getan wird, die der Leser Hofmannsthals auch angesichts des Frühwerks zu stellen berechtigt ist — daß nämlich von der dramatischen Studie Gestern bis zu einem Werk wie Das Bergwerk zu Falun und darüber hinaus ein Weg aufzuweisen sein müsse, der schrittweise zurückgelegt wurde und dessen Schritte nachvollziehbar sein sollten. Nur so würde der berühmte Weg Hofmannsthals aus der Praeexistenz in die Existenz — die Begriffe in all ihrer Unbestimmtheit belassen — wirklich zu einem Weg und bliebe nicht ein unvermittelter Sprung von einem Zustand in einen anderen 10 . Gleichermaßen verwirrend hat sich in der Hofmannsthalforschung ein anderes Begriffspaar aus Ad me ipsum ausgewirkt, wenn es nicht charakterisierend, sondern interpretierend benutzt wurde — das von „Mystik" und „Magie". Das Wort „mystisch" zieht sich in fast gleichmäßiger Häufigkeit durch das gesamte, das rein dichterische Werk begleitende essayistische Schaffen Hofmannsthals, wozu wir hier auch die Aufzeichnungen und Entwürfe zählen und das durch die Briefsammlungen ergänzt wird. Hofmannsthals Gebrauch des Wortes ist schwankend; vorwiegend verwendet er es in dem Sinne von „geheimnisvoll" 11 . Der häufige Gebrauch von „mystisch" in dieser abgeschwächten Bedeutung ist charakteristisch für

10

11

me ipsum die Problematik formuliert wird, die in den gleichzeitigen Werken Die Frau ohne Schatten oder Der Schwierige gestaltet wird. Die Gleichzeitigkeit verbürgt die Angemessenheit der Begriffe. — Die Jugendproduktion aber wird in Ad me ipsum nicht mehr unter dem Gesichtswinkel der künstlerischen Bewältigung einer vorliegenden Aufgabe erlebt, vielmehr gilt es, ihre Problematik auf die gegenwärtige Lebensepoche auszurichten. Die Plötzlichkeit des Hinü'berwechselns betont hingegen Richard Alewyn in seinem Aufsatz „Hofmannsthals Wandlung". Der Entschluß dazu entspränge der allmählich wachsenden Erkenntnis der gefährlichen Zweideutigkeit des frühen Gnadenzustandes. „So hat er um die Jahrhundertwende mit einem plötzlichen Entschluß sein Jugendwerk mitten im Zuge abgebrochen — der , B r i e f des Lord Chandos gibt darüber Rechenschaft — um Leben und Dichten auf einer anderen Ebene mit anderen Mitteln wieder aufzunehmen." In: Uber Hugo von Hofmannsthal, Göttingen 1963 3 , S. 174. Vergl. z. B. aus den Semiramis-TLnfwxirleti die Aufzeichnung: „Anfang: Semiramis starr. Priester sie umkreisend, mystisch umschreitend." D III, S. 447. —• Zu den Bedeutungsschwankungen von „mystisch" vergl. Werner Metzeler, Ursprung und Krise von Hofmannsthals Mystik, München 1956, S. 1 8 — 2 3 .

5

Vorbemerkung zahlreiche zeitgenössische Autoren,

so für Leopold Andrian,

Richard

Beer-Hofmann, d'Annunzio, Jacobsen u. a. und weist zurück auf Baudelaire und die französischen Symbolisten. In Ad

me ipsum

allerdings scheint Hofmannsthal es in einem be-

stimmteren Sinne und als „Schlüsselwort" zu gebraudien. So heißt es dort u. a.: „Die Intro-version als Weg in die Existenz. (Der mystische W e g . ) 1 2 " . „Analogie mit Blakes M y s t i k 1 3 " . Die Präzisierung des Wortgebrauchs ist aber nur eine scheinbare. Hofmannsthal bezieht sich in den angeführten Aufzeichnungen auf zwei wesensmäßig völlig verschiedene Werke, die ihn beide interessiert und beeinflußt haben suchung Probleme

— auf Herbert Silberers 1914 veröffentlichte Unterder Mystik

Kassners Frühwerk Die Mystik,

und ihre

Symbolik14

die Künstler

und auf Rudolf

und das Leben

aus dem

Jahre 1900, also gleichzeitig auf die zu verschiedenen Zeiten erschienenen Werke eines Psychoanalytikers und eines Kulturphilosophen, die beide den Begriff „Mystik" völlig unterschiedlich benutzen 1 5 . Die Forschung ist dem Hinweis „mystisch" weitgehend gefolgt, ohne sich des Zitatcharakters des Wortes in Ad me ipsum immer bewußt zu bleiben. So sah Walther Brecht in den Dichtungen Hofmannsthals Zeugnisse „direkt-mystischen Seins und Denkens wie Dichtens" 1 6 . Die Basis dieser Dichtung ist für ihn „kein rein ästhetisches Erlebnis, vielmehr ein A, S. 215. A, S. 214. 1 4 Daß die Intro-version der „mystische Weg in die Existenz" sei, ist ohne die Kenntnis von Silberers Ausführungen unverständlich. Dort heißt es dazu: „Mythologisch gesprochen geht der Introversionsprozeß gut aus, wenn der Held den Drachen erlegt. Geschieht dies nidit, so tritt der ungünstige Fall ein: der Mann verliert sich. Meines Erachtens ist dieses SidiVerlieren in zwei Formen möglich, in einer aktiven und einer passiven. Im ganzen gäbe es also drei Ausgänge der Introversion. Die gute Lösung ist der Eintritt in das wahre mystische Werk, kurz gesagt, die Mystik; die schlechten Lösungen sind der aktive Weg der Zauberei und der passive der Schizophrenie (Introversionspsychose). In dem ersten Fall vollzieht sidi eine innere Sammlung, in den beiden anderen Fällen ein Sidi-Verlieren; im Falle der Zauberei verliert man sich an Leidenschaften, denen man magisch Befriedigung schaffen will, von den Gesetzen der Natur sich lossagend; im Fall der Geisteskrankheit tritt das Versinken in der .Trägheit" ein, ein seelischer Tod. Die drei Wege des Introvertierenden entsprechen ungefähr diesen drei Möglichkeiten des sonstigen Lebens: Arbeit (Sittlichkeit), Verbrechen, Selbstmord." S. 177 f. 1 5 Vergl. dazu Theodor Wieser, Der Malteser in Hofmannsthals Andreas, Euphorion, LI, 4, 1957, S. 409 ff. 1 6 Walther Brecht, Ober Hugo von Hofmannsthals Bergwerk zu Falun, Corona III, 2, 1932, S. 221. 12

13

6

Vorbemerkung

auf ästhetischem Wege eintretendes religiöses" 17 . — Ebenso spricht Karl J . Naef von dem Werk des Dichters, „dessen Grundlagen aber das echte mystische Erlebnis des All-Eins" bilde 18 . — Auch Werner Metzeler stellt fest, Hofmannsthals Mystik sei „ursprünglich, echt" 1 9 . Andere Hofmannsthalforscher (Richard Alewyn, Martin Stern) verwenden diesen Begriff vorsichtiger. Äußerst scharf hingegen äußert sich Michael Hamburger: „Dies läßt midi zu einer ärgerlichen Frage Stellung nehmen, die ich gern auf sich hätte beruhen lassen: ich meine die Frage nach Hofmannsthals Mystizismus in diesen frühen Jahren. Daß er ungewöhnliche Zustände der Verzückung erlebte, der Kommunion mit unbelebten Dingen, ganz ähnlich jenen, die Rilke in Vers und Prosa aufgezeichnet hat — Zustände selbst einer tranceartigen Entfremdung von seinem körperlichen Ich und Umgang mit Abwesenden und Toten — : dies beweist, daß er die Anlage zum Mystiker hatte; und sein inneres Interesse an der Dualität von Phänomen und Wesen, Zeit und Zeitlosigkeit, Wechsel und Konstanz, ist das Interesse des Mystikers. Doch er war ehrlich genug, zwischen Anlage und Berufung zu unterscheiden, zwischen den ,magischen' Gaben des Dichters und dem Mystiker, der sich nicht dem Zustand, sondern dem Gegenstand der Kommunion weiht 2 0 ". Und tatsächlich ist der Begriff „Mystik" in Bezug auf das Werk Hofmannsthals zunächst eher geeignet, Unklarheit zu stiften als klärend zu wirken. Es ist bezeichnend, daß selbst bei der Gruppe von Forschern, die dem Dichter ein den großen Mystikern der europäischen und außereuropäischen Geistesgeschichte gleichwertiges Erleben der mystischen Einigung zuschreiben, über das Wesen dieser unio mystica widersprechende Meinungen herrschen. Für Walther Brecht ist Hofmannsthal ein „mystisch-Religiöser" unter starker Betonung des christlich-katholischen Elements in ihm. „Die ,Momente der Erhöhung', die er als schauender Künstler hatte, waren die Momente jener . . . Identifikation des sinnlichen Welterlebnisses mit dem schon vorher in ihm vorhandenen, vorwegnehmenden, geistigen Erlebnis des Weltganzen: Die Momente der Identifikation = Momente der absoluten Klarheit, der erlebten Göttlichkeit des Irdischen 21 ". Wei17 18

19

20

21

Brecht, Hochstift, S. 336. Karl J. Naef, Hugo von Hofmannsthals Wesen und Werk, Zürich 1938, S. 22. Metzeler, Ursprung und Krise, S. 35. — Zu H e r m a n n Brochs stark auf die Problematik des eigenen Schaffens ausgerichtete Definition Hofmannsthals als Mystiker vergl. Hermann Broch, Hofmannsthal und seine Zeit, München 1964, S. 151. Michael Hamburger, Hugo von Hofmnnsthal. Zwei Studien. Göttingen. 1964, S.30. Brecht, Hochstift, S. 338.

Vorbemerkung

7

ter spricht Brecht davon, d a ß „die göttliche Selbstoffenbarung durchaus mystisch e r f a ß t " werde, „ u n d z w a r in eine Weise, die N a t u r m y s t i k u n d rein seelische O f f e n b a r u n g eigentümlich v e r b i n d e t 2 2 " . Jeder der v o n Brecht z u r E r k l ä r u n g herangezogenen Begriffe wie Weltganzes, Göttlichkeit, göttliche Selbstoffenbarung, N a t u r (Begriffe z u d e m , die aus so verschiedenen Bereichen wie d e m der Theologie, der Psychologie u n d der Geistesgeschichte h e r r ü h r e n ) ist, auf das W e r k H o f m a n n s t h a l angewandt, höchst f r a g - w ü r d i g e r A r t . Es ist H o f m a n n s t h a l nie B e d ü r f n i s gewesen, sein metaphysisches D i a g r a m m deutlich zu u m reißen, u n d es w ä r e z. B. schwierig, mit Sicherheit zu bestimmen, w a n n er sich des W o r t e s „Natur" in einem a n d e u t e n d - t r a d i t i o n e l l e n Sinne bedient, w a n n er es m i t einem i h m eigenen, v o n persönlichen Vorstellungen b e d i n g t e n G e h a l t e r f ü l l t . Jedenfalls ist festzuhalten, d a ß der Dichter der Beschreibung der als „mystisch" bezeichneten Z u s t ä n d e sehr viel m e h r Interesse entgegengebracht h a t als d e m Versuch, den Gegenstand zu bezeichnen, mit dem sich diese Vereinigung vollzieht. F ü r K a r l J. Naef ist der Gegenstand des mystischen Schauens „das Unendliche, Typische, A l l g e m e i n e 2 3 " . N a c h i h m „heben die mystischen M o m e n t e stets am Einzelding an, u n d dieses w i r d so z u m Durchgangsp u n k t ins reine S e i n 2 4 " . E r sieht H o f m a n n s t h a l i m Z u s a m m e n h a n g m i t der „mystischen T r a d i t i o n : die wirklichen D i n g e g e m a h n e n wie A b bilder an die U r b i l d e r , die v o n einem jenseitigen Bereich m e h r o d e r weniger b e w u ß t h e r ü b e r g e n o m m e n w u r d e n . D i e W e l t e r f a h r u n g erhält f ü r i h n den C h a r a k t e r der anamnesis, der platonischen W i e d e r e r i n n e r u n g 2 5 " . I m Gegensatz zu Brecht b e t o n t Naef hingegen: „Jedenfalls k a n n v o n einer christlichen M y s t i k nicht gesprochen werden 2 ®". Aber auch N a e f s Bestimmungen des in der K o m m u n i k a t i o n E r f a h r e n e n — das Unendliche, das reine Sein — v e r r a t e n Verlegenheit. Sie stehen denen Brechts an U n d e u t l i c h k e i t nicht nach. So v e r m a g auch der H i n w e l s auf den platonischen C h a r a k t e r der hofmannsthalschen W e l t e r f a h r u n g u n d dessen B e g r ü n d u n g in der „mystischen T r a d i t i o n " nicht z u überzeugen. D i e W i e d e r e r i n n e r u n g P i a t o n s u n d die unio mystica sind nicht gleichzusetzen, wie es hier nahegelegt w i r d 2 7 . 22 23 24 25 26 27

ebd. S. 343. Naef, Hugo von Hofmannsthals Wesen und Werk, S. 25. ebd. S. 82 f. ebd. S. 24. ebd. S. 26. Vergl. dazu Ernst Hoffmann, Piaton, Zürich 1950, S. 30: „Diesen Begriff der Einung mit dem Einen gibt es aber bei Piaton nicht nur nicht, sondern er wäre für Piaton ein Unbegriff. Wenn Piaton über Abwendung der Seele vom Irdischen und über Hinwendung, ja Flucht zum Göttlichen spricht, dabei auch den Ausdruck gebraucht, Verälhnlidiung mit Gott so

8

Vorbemerkung

Der Hinweis auf den Piatonismus Hofmannsthals ist in der Forschung allerdings häufig, und tatsächlich finden sich im Werk Hofmannsthals zahlreiche Aussagen, die eine solche Auffassung seiner Welterfahrung zu stützen scheinen. So schreibt Hofmannsthal z. B. im Buch der Freunde: „Die Ideen . . . sind ein Jenseitiges, das sich uns in höchsten blicken enthüllt und sich wieder entzieht 2 8 ."

Augen-

Trotzdem muß man sich fragen, was sich Hofmannsthal, ein Mensch des ausgehenden neunzehnten und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts und vertraut mit den Zweifeln beider, unter Wirklichkeit und Jenseitscharakter der Ideen vorgestellt haben soll. Es ist kaum anzunehmen, daß sie für ihn mehr als einen Gleichnischarakter im höchsten Sinn haben konnten 2 9 . Werner Metzeler bezeichnet den Inhalt der mystischen Einigung als die Erfahrung der „Identität von Innen und Außen, von Ich und NichtIch 3 0 ". So einleuchtend das auf den ersten Blick aussieht, so wenig vermag es in bezug auf den speziellen Fall Hofmannsthal zu befriedigen, denn Hofmannsthals Frage blieb es zeitlebens, wo das Ich aufhört und das Nicht-Ich beginnt, wo die geheimnisvolle Grenze zwischen Innen und Außen verläuft. Die Erfahrung der Einigung setzt aber die des Getrenntseins als Grunderlebnis voraus 3 !. Für Hermann Broch schließlich bedeutet die hofmannsthalsche Mystik „Erkenntnis" von Welt 3 2 . Es sollte deutlich geworden sein, daß auf diesem Wege kein rechtes Vorwärtskommen zu erwarten ist. Es scheint wenig ergiebig, die Interpretation des Frühwerks Hofmannsthals im Hinblick auf „Mystik" zu beginnen, solange man nicht weiß, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Jeder der zitierten Interpreten bringt seine persönliche Definiweit als möglich', so bedeutet dies ganz etwas anderes als mystische Ekstase und Einigung. Es bedeutet: menschliche Vervollkommnung auf Grund geläuterter Erkenntnis in der Richtung auf das göttlich Gute hin, aber niemals Rückkehr der Seele in ihren Ursprung." 2 8 A, S. 34. •2» Vergl. dagegen Brecht, Hochstift, S. 352: „Wie Hofmannsthals gesamtes dichterisches Lebenswerk ist auch das Ad me ipsum von einem modernpsychologistisdien Standpunkt aus in keiner Weise verständlich. Der Dichter stellt auch hier nicht Behauptungen auf, die er aus sich und seinen determinierten Voraussetzungen entwickelt, sondern er findet Wesenheiten, reale Sachverhalte, die als ,Ideen' bereits Existenz hatten und die er durch Denken-im-Werk gewissermaßen (abbildlich) wiederfindet." 3 0 Metzeler, Ursprung und Krise, S. 17. 81

32

Vergl. als einen der unzähligen Belege Das Gespräch S. 94 ff. Broch, Hofmannsthal und seine Zeit, S. 150 ff.

über

Gedichte,

P. II,

Vorbemerkung

9

tion von „Mystik" mit, keine ist allgemein -verbindlich. Auf kleinstem Raum spiegelt sich so die Ratlosigkeit wider, die den Zustand der MystikForschung im Großen zu bestimmen scheint 33 . Solange sich aber Theologie, Psychologie und Literaturwissenschaft nicht einigen können, auch nur für die ältere deutsche Mystik eine gemeinsame Definitionsgrundlage zu schaffen, ist es ein gleich sinnloses Unterfangen, für einen modernen Dichter wieHofmannsthal nach einer neuen suchen zu wollen, wie eine der älteren Definitionen auszuwählen und an sein Werk heranzutragen. Aber selbst wenn man mit einer verbindlichen Definition dessen, was Mystik sei, an die entsprechenden Aussagen des hofmannsthalschen Werks heranträte, so bliebe immer noch ungeklärt und verwirrend, wie sie neben den Gestalten und Partien stehen, die ebenso unverkennbar den Geist Hofmannsthals atmen und die ihm doch den Vorwurf des Ästheten und Artisten eingetragen haben. Offenkundig wird dieses Problem z. B. anläßlich des Chandos-Briefes, in dem mystisches Erleben in der Form eines der raffiniertesten Pastiches der deutschen Literatur vermittelt wird. Hofmannsthal gab selber zu, daß das artistische Moment der Hauptanlaß zur Verfassung dieses Briefes gewesen sei und daß er innerhalb einer Reihe von anderen Pastiches stehe, von denen das Gespräch zwischen Balzac und Hammer-Purgstall und der Hetären-Dialog in der Manier des Lukian ausgeführt, der Brief des letzten Contarin begonnen wurde, während die restlichen aufgeführten Titel Pläne blieben 34 . Selten gestellt, aber nicht weniger problematisch als die Frage nach dem Begriff Mystik und seiner Bedeutung für das hofmannsthalsche Werk ist die nach dem Inhalt und der Funktion des Begriffs Magie und nach dem inneren Zusammenhang dieser beiden Schlüsselworte. So drängt sich schließlich die Frage auf, ob es sich bei den Produktionen mystisch-magischen und ästhetisch-artistischen Charakters wirklich nur um ein Nebeneinander handelt, oder ob sie nicht vielmehr verschiedene, aber einander bedingende states eines beiden gemeinsam zugrundeliegenden Phänomens sind — so wie Hofmannsthal selbst in einer Aufzeichnung zu Ad me ipsum den Abenteuer aus Der Abenteurer und die Sängerin und den Wahnsinnigen aus dem Kleinen Welttheater als verschiedene states eines Geistes aufgefaßt hat 3 5 . Weiter wäre zu fragen, ob eine solche Erscheinung in der deutschen Literatur auf Hofmannsthal beschränkt bleibt oder ob sich geistesgeschichtliche Parallelen finden ließen. Dieser Frage ein Stück weit nachzugehen, ist die Absicht dieser Untersuchung zu Hofmannsthals Frühwerk. 33

34 35

Vergl. Joachim Seyppel, Mystik als Grenzphänomen und Existenzial. Ein Beitrag zur Überwindung ihrer Definitionen. DVS, 35. Jg., 1961, S. 153 ff. Vergl. Brief an Leopold Andrian, 16. Jan. 1903; B I I , S. 99. A, S. 223.

I. Age of Innocence Liebe vermag uns nur das Individuelle einzuflößen. Vor ihm und seiner Wirklichkeit bleiben alle logischen Konstruktionen unseres Geistes ohnmächtig; es ist unberechenbar. Gilt unsere Neigung einem Dichter, so ist es unser Bestreben, möglichst viele der ihm unverwechselbar eigenen Züge kennenzulernen, zu benennen und so der in ihm Gestalt gewordenen menschlichen Möglichkeit gerecht zu werden. Wir beschränken uns dabei nicht nur auf das dichterische Werk, sondern benutzen vielmehr jedes überlieferte Detail, das der Zufall dem Strom des Vergessens entrissen hat. So nämlich erfahren wir „vom Menschen in seinen Zeitverhältnissen . . . , inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Weltund Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abspiegelt 1 ". In einem verworrenerem Zustande deutet sich uns an, was dem vollendeten Werk seine Einheit geben wird — der das Ganze durchwaltende Rhythmus 2 . Die Lebensgeschichte des jungen Hugo von Hofmannsthal ist in Hinsicht auf in diesem Sinne „Charakteristisches" von zunächst bestürzender Unergiebigkeit: Er scheint zu Beginn schon ein Fertiger, vollendet und geschichtslos3. Über seine Kindheit und frühe Jugend bis zu seinem plötzlichen Ruhm sind wir nur allgemein unterrichtet. Unsere Kenntnisse genügen gerade, Herkunft, Milieu und Bildungsgang des Heranwachsenden zu umreißen. Fast will es scheinen, als habe die Natur selbst es darauf angelegt gehabt, hier einen Menschen zu schaffen, dessen Wesen sich keinem bestimmten Kontur fügen sollte. Herkunftsmäßig ist Hofmannsthal mit fast allen österreichischen Kronländern gleich innig verbunden. In ihm mischt sich oberitalienischer Patrizieradel, böhmisches Stadtjudentum und niederösterreichisch-schwäbisches Bauerntum zu beinahe gleichen Teilen. Die Stadt, in der er heranwuchs, war keineswegs geeignet, diesen Kontur 1 2 3

Goethe, Dichtung und Wahrheit, HA, S. 9. Vergi. Emil Staiger, Goethe, Bd. III. Züridi 1959, S. 467 ff. Vergi. Rudolf Borchardt, Erinnerungen. In: Helmut A. Fieditner, Hugo von Hofmannsthal, Die Gestalt des Dichters im Spiegel der Freunde. Wien 1949, S. 66.

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Age of Innocence

zu ziehen. Wien, die randvoll mit Vergangenheit gefüllte Metropole der sich auflösenden Donaumonarchie, hatte jede prägende K r a f t verloren außer der zur Verwischung alles Gegensätzlichen u n d lebte widerstandslos ihrem Ende entgegen, nur darauf bedacht, d a ß es in Schönheit geschehe. Leopold A n d r i a n , einer der engsten Freunde des jungen H o f mannsthal, hat den seelischen Zustand der Stadt, den morbiden Zauber, der diesen „ f a r b e n v o l l e n U n t e r g a n g " 4 durchwaltete, in seiner E r z ä h l u n g Der Garten der Erkenntnis b e w a h r t ; die andere Seite dieser „fröhlichen A p o k a l y p s e " 5 , den P r o z e ß durchgehender geistiger Zersetzung, schildert R o b e r t Musil im ersten Teil seines Roman-Torsos Der Mann ohne Eigenschaften. Versuchen w i r aber, H o f m a n n s t h a l s eigener Sphäre, in der er wurzelt, näherzukommen, so beginnt sich alles lautlos zu verschließen. D i e Gestalten der Eltern, sein Verhältnis zu ihnen, die A t m o s p h ä r e im Elternhaus, bestimmende Kindheitserlebnisse — all dies bleibt undeutlich und unfaßbar. H e r m a n n Broch h a t versucht, eine Analyse dieser f r ü h e n Zeit aus der geistigen Situation des Wiener Bürgertums u m 1880 heraus zu geben. Er sieht sie als so bestimmend f ü r die Entwicklung H o f m a n n s t h a l s an, d a ß er dessen ganze bezeugte Existenz als eine R e a k t i o n auf die ihm in diesem Geiste vermittelte Erziehung zu interpretieren w a g t . Für i h n ist „dieses ganze W e r k m i t seiner narzißtischen Zentralgestalt, die erstmalig in Der Tor und der Tod mit aller Klarheit a u f t r i t t , eine einzige Anklage, eine wissende A n k a g e gegen die ästhetisierende Bürgerlichkeit, in der er aufgewachsen u n d erzogen w o r d e n w a r , u n d der er bei allem Wissen um sie doch k a u m m e h r zu entgehen vermochte 6 ". A b e r so t r e f f e n d Brochs Analyse der soziologischen S t r u k t u r u n d ihrer Krisenlage ist, so wenig vermag er zu überzeugen, w e n n er daraus rückwirkend auf individuelle Verhaltensweisen H o f m a n n s t h a l s in ihr oder gar auf persönliche, bestimmte Erlebnisse schließt. So behauptet er ein aufgestautes Ressentiment H o f m a n n s t h a l s gegen den Vater als den Repräsentanten dieser ästhetisierenden Bürgerlichkeit, das sich schließlich in der Darstellung des Verhältnisses Sigismund-Julian im Turm Bahn gebrochen habe. Brochs These ist unbeweisbar, bei der erwähnten D ü r f t i g k e i t des biographischen Materials aber auch unwiderlegbar. M a n k a n n höchstens auf das Vertrauen hinweisen, das der junge H o f m a n n s thal dem Vater bei der Beilegung des Konflikts mit George bewies, u n d den herzlichen, offenen T o n der Briefe an die Eltern hervorheben. Jedenfalls aber ist die Darstellung Brochs ein Beispiel f ü r die Möglichkeit d e r 4

6 6

Stefan George, „Den Brüdern, An Leopold Andrian" (Der Lebens). Broch, Hugo von Hofmannsthal, S. 76. ebd. S. 105.

Teppich

des

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Bildung von Hypothesen aller Art, die durch die Abwesenheit von Fakten ermöglicht werden. So sind wir in dem Bemühen, uns die Strukturen der Einbildungskraft Hofmannsthals

in ersten

Umrissen

zu

vergegenwärtigen,

auf

wenige Hinweise angewiesen. — Olga Schnitzler berichtet aus der E r innerung: „Es scheint, daß es ihm schon sehr früh unentbehrlich war, die luftigen Geschöpfe seiner Phantasie zu Mittlern seines Umgangs mit den erdgebundenen Wesen ringsum zu machen. — Sein Vater erzählt uns lächelnd, wie der Knabe, zu dritt bei Tisch mit seinen Eltern, bei den häuslichen Mahlzeiten eine fiktive vierte Person einführt: einen Kardinal aus längst entschwundenen Zeiten. Mit diesem Schatten führt er nun Gespräche, richtet an ihn die Fragen, Gedanken und munteren Bemerkungen, die er den Eltern direkt nicht sagen m a g . . . Ein kindliches Gaukelspiel voll Bedeutung 7 ." Man wird diesen anekdotenhaft anmutenden Bericht nicht überinterpretieren wollen; auffallend aber ist die Neigung zum historischen Kostüm, die Vermischung von Gegenwart und Vergangenheit, die Aufspaltung des Ich in Rollen, die hier stattgefunden hat. Schein und Wirklichkeit gehen auf eine unmerkliche Weise ineinander über. Das Ich aber, das wir suchen und das dieses „Gaukelspiel" inszeniert, wird gerade in dieser seiner Inszenierung ungreifbar. Weiter in der Bedeutung geht eine von Hofmannsthal selbst mitgeteilte Jugenderinnerung, die in der Rede Der Dichter und diese Zeit enthalten war und später v o n ihm von der Veröffentlichung ausgeschlossen wurde: „Da ich ein Kind war, ich denke es wie heute, brachte ich meine Einbildung oft stundenlang nicht los von der Qual von Tieren, mißhandelten Pferden, eingesperrten Tieren, großen traurig blickenden Gefangenen, die immer herumgehen zwischen dem Gitter und der Wand. Und ich sann etwas aus, aber vergaß es später wieder völlig, von einem Tierbändiger, der seine Löwen tötet, ihnen vergiftetes Fleisch hinwirft. Es gcschah in einer solchen Sphäre des kinderhaften dumpfen, starken Fühlens, dies Aussinnen, es war auch nicht so deutlich, wie diese Worte er darstellen, es war nichts als ein dumpfer Schmerz und das mitleidige, halb grausende Ausmalen einer Situation, in der etwas Quälendes und etwas Erlösendes sich mischten 8 ." Das ist das gleiche Gefühl v o n „Wollust und Todesqual in gräßlicher Vermischung" 9 , das Hofmannsthal immer wieder den Gestalten seines Werkes zugeschrieben hat, die ihm am Herzen lagen: Andreas 7

8 9

Olga Schnitzler, Der junge Hofmannsthal. Neue Rundschau, 65. Jg., 1954, S. 518 f. Die neue Rundschau, XVIIIter Jahrgang der Freien Bühne, 1907, S. 268 f. E, S. 146.

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wird während und nach der Katastrophe auf dem Finazzerhof davon überfallen, Sigismund im Turm ist ihm ausgeliefert 10 , und nichts anderes treibt den Knaben Euseb in Dämmerung und nächtliches Gewitter durch die Nacht 1 1 . Was Hofmannsthal jeweils in den angeführten Stellen beschreibt, ist das Gefühl, das einen Zug seines Wesens begleitete, den er ebensooft als Gnade wie als Fluch empfunden hat: Zwang zur Identifikation. Die mitgeteilte Jugenderinnerung aber geht darüber noch einen Schritt hinaus: Das Mitleiden mit der gequälten Kreatur ist hier nicht durch ein wirkliches Geschehen hervorgerufen, „das Andere" ist kein objektives Gegenüber; vielmehr schafft die Phantasie sich den Gegenstand der Identifikation allererst selbst, um dann daran Gefühle zu entwickeln. Einmal in Gang gesetzt, entgleitet dieser Prozeß aber nur zu leicht der Aufsicht der zunächst bewußt steuernden Phantasie: Da sich alles im Räume der eigenen Innerlichkeit abspielt und das Korrektiv einer objektiven Umwelt fehlt, überwächst die eigene Schöpfung schließlich den Schöpfer, bekommt Wirklichkeitscharakter und erregt in dieser Steigerung Grauen. — Daß es sich hierbei um tatsächliche Kindheitserlebnisse Hofmannsthals handelt, bestätigen die Erinnerungen Olga Schnitzlers 12 . Ausführlichere Kenntnisse solcher inneren Vorgänge verdanken wir einer Reihe von Aufzeichnungen, die in der Hofmannsthalforschung bisher seltsamerweise wenig beachtet worden sind, obwohl sie den Zustand der Praeexistenz, den Hofmannsthal in Ad me ipsum einen glorreichen, aber gefährlichen Zustand genannt hat, wie kaum ein anderes Dokument nach der Seite des Gefährlichen hin zu erläutern vermögen Die Aufzeichnungen tragen den, betrachtet man den Inhalt, fast zynisch anmutenden Titel Age of Innocence und den Untertitel Stationen einer Entwicklung. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß es sich dabei um Skizzen zu einer Novelle handelt, die Hofmannsthal in den Briefen an Arthur Schnitzler als eine „psychologische Novelle 10 11

12

D III, S. 429 f. „Audi der Mord an dem Sperber ist so eine folternde Ungeduld, hinüberzukommen in das Andere." E, S. 253. O. Schnitzler, N R 65, 1954, S. 515. — Auffallend ähnlich sind Kindheitserlebnisse Ludwig Tiecks, wie er sie im William Lovell berichtet: „Aus meinen Kinderjahren fallen mir manche Tage ein, wo idi unaufhörlich etwas Greuliches und Entsetzliches denken mußte . . . wo es mich unwiderstehlich drängte, meine Gespielen zu ermorden . . . damals war ich gewiß unschuldig und unverdorben, und doch war diese Entsetzlichkeit in mir einheimisch — was war es denn nun, das mich trieb, und mit gräßlicher Hand in meinem Herzen wühlte? — Mein Wille und meine Empfindung sträubten sich dagegen, und doch gewährte mir dieser Zustand wieder innige Wollust." — Ludwig Tieck, Werke in vier Bänden, Bd. III, München 1963, S. 471.

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aus einem 12jährigen Kinderkopf" unter den literarischen Plänen erwähnt, die er in nächster Zeit auszuführen gedenke 1 3 . Es sind seltsame Spiele, die

das dort beschriebene Kind mit sich

selbst spielt. Es starrt in die Glut des Ofens, bis ihm die Augen tränen und die Stirn glüht. Dann wirft es sich schreiend auf den Teppich zurück, wie trunken. Es läuft in die Küche und schlägt in „bacchantischer Zerstörungslust" 1 4 mit einem Holzmesser auf einen Holzklotz. „An Frühlingsabenden aber, wenn er allein war und die Fenster offen, beugte er sich aus dem Fenster weitüber und hing lange, mit gepreßter Brust, die laue Luft im Haar, bis ihm schwindelte und vor dem Stürzen graute. Dann lief er zu seinem Bett und vergrub den Kopf in die Kissen, tiefeinwühlend, und Tücher und Dedien in erstickendem Knäuel darüber: vor seinen Augen strömte es dunkelrot, seine Schläfen hämmerten und nachbebende Angst schüttelte ihn. Aber ihm waren es heimliche Orgien und er liebte die Augenblicke, vor denen ihm graute." Diesen „heimlichen Orgien" liegt das gleiche Prinzip zugrunde, das die weiter oben angeführte Jugenderinnerung Hofmannsthals kennzeichnete: Die Erregung von Gefühlen um der Gefühle willen. Das hier beschriebene Kind gehört zu jenem Menschentyp, dessen Wesen Loris in dem Aufsatz Z » r Physiologie der modernen Liebe analysiert hatte; es sind Menschen, „qui aiment a sentir s e n t i r 1 5 " . So werden im Fortgang des Berichts auf verschiedenene A r t die verschiedensten Empfindungen hervorgerufen — Grauen, Angst, Ekel, Todesfurcht. „Dies alles betrieb er anfangs ohne bestimmten Zweck, aus unklar gefühltem Wohlgefallen an der Macht über sich selbst und weil er seine Empfindungen gleichsam auskostete, wie man eine Weinbeere erst ausschlürft und aussaugt und dann mit den Zähnen preßt und zerquetscht, bis dahin, wo ihre Süße herb und bitter wird." Es liegt im Wesen solcher „ausgekosteten" Erlebnisse, daß sie in der Wiederholung schal werden und die Phantasie gezwungen wird, zu stärkeren Stimulantien zu greifen. 13

14 15

Vergl. Hugo von Hofmannsthal-Arthur Schnitzler, Briefwechsel. Frankfurt a. M. 1964, S . l l . — Auf Grund des Briefwechsels kann nun auch Herbert Steiners Datierung der Prosafragmente als „kaum nach 1893 geschrieben" ( P I , S. 399) präzisiert werden: Die Skizzen entstanden 1891/ 92. — Eine Tagebucheintragung Schnitzlers bestätigt zudem den autobiographischen Charakter der Aufzeichnungen: „12.11.92: Loris las mir am Nachmittag eine psych.Studie vor,die ein Kind von 8 Jahren behandeln soll, aber nur ihn darstellt, wie er mit 8 Jahren durchmacht, was sonst Jünglinge von 16, die bedeutende Künstler oder Neurastheniker werden wollen." Briefwechsel, S. 326. P I , S. 128 ff. P I, S. 12.

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„Damals bekam er die historischen Erzählungen für die reifere Jugend in die Hand. Das antiquarische Detail, die exotischen Namen, die Titel, das Kostüm nahmen ihn sehr ein: er fing an, sich in Kostüm zu sehen und in kostümierten Redensarten zu denken. E r genoss das seltsame Glück, seine Umgebung zu stilisieren und das Gewöhnliche als Schauspiel zu genießen."

Auch auf dieser Stufe wird der Raum der Innerlichkeit, in dem sich die vorher geschilderten „Erlebnisse" abspielten, nicht verlassen. Statt sich mit einer beschränkenden Umwelt, dem „Gewöhnlichen", als einem wirklichen Gegenüber auseinanderzusetzen, umgeht das Ich diese und fühlt sich in bereits abgeleitetes Leben ein. Das antiquarische Detail, die exotischen Namen und das historische Kostüm genügen als Weltersatz. Es ist nicht zufällig, daß es historische Erzählungen sind, die sich als das Geeignetste anbieten, das Spiel mit der eigenen Subjektivität weiterzutreiben. Künstlerisch vorgeformt und zeitlich in die Vergangenheit entrückt, hat die Wirklichkeit so weitgehend das Fremde und Widerständige einer eigengesetzlichen Umwelt verloren. Ohne Schwierigkeiten kann sich die Phantasie ihrer bemächtigen. Folgerichtig nimmt aber die so gesättigte Einbildungskraft das Außen, wenn es in das Blickfeld tritt, nur wieder im Hinblick auf die Formen auf, die sie sich und denen sie sich anverwandelt hat. „Das Erwaiduen kaim über ihn und das Erstaunen über sidi selbst und das verwunderte Sich-leben-Zusehen. Da wurden die Gerüche lebendig und die Farben leuchtend; die Aufeinanderfolge des Alltäglichen wurde Ereignis und die Umgebung Bild."

Was vorher wie zufällig aufeinander folgte, wird nun, im Hinblick auf die selbstgeschaffene innere Wirklichkeit, zum „Bild" und zum „Ereignis", d. h. es fügt sich einem Sinnzusammenhang wie das Dargestellte auf einem Gemälde oder wie die Szene in einem dramatischen Ablauf. So wird das Alltägliche, das früher unbeachtet und schattenhaft vorüberglitt, „leuchtend". Dieses Leuchten ist der Widerschein der mit Farben und Formen erfüllten Innerlichkeit, erwächst nicht aus einer Begegnung mit dem Gegenüber. So aber löst sich das zu Bild und Ereignis erstarrende Lebendige von dem in unaufhörlichem Wandel begriffenen Grund los und stellt sich als Schein-Wand davor. Diese steht jetzt für das Leben selbst: In Bild und Ereignis wird es als Schauspiel ein der Innerlichkeit gefahrloses Gegenüber. Das Ich aber, von dem hier ständig die Rede ist, ist sich selbst in diesem Prozeß schon längst keine Einheit mehr. Im Vorgang der Identifikation hat es sich in zahllose kostümierte Rollen-Ichs vervielfältigt und sieht sich in diesen verschiedenen Rollen vor sich selbst agieren. Die nächste „Station der Entwicklung" wird nun sein, solche Rollen nicht mehr fertig aus der Kunst zu übernehmen, sondern sie selbst zu dichten, zu spielen und

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diesem Spiel gleichzeitig selbst zuzuschauen: Autor, Schauspieler und Zuschauer zugleich zu sein. „Er spielte und sah zu, fühlte die Schauer des Mordes und das Grauen des Opfers, weidete sich an seinen eigenen Qualen, brachte sich selbst Botschaft von sich selbst, weinte aus Rührung über seine eigene Stimme, verriet sich selbst die Geheimnisse seines Innern und erweiterte die Skala seiner Empfindlichkeiten, sein eigenes reiches Reich. So erlangte er die peinliche Geschicklichkeit, sich selbst als Objekt zu behandeln." Die Gegenwart verliert in solchen Aktionen ihren Wert, oder vielmehr, sie wird genausowenig wie ihre Entsprechung, die Umwelt, erfahren. Das Ich geht keinerlei Verbindung mit ihr ein, da es ihr immer nur in einer Rolle begegnet. So aber ergibt sich, durch die Verfügbarkeit der Rollen, die Möglichkeit, Gegenwart bereits im Hinblick auf die Vergangenheit, die sie einmal sein wird, zu erleben. Gegenwart, Umwelt und Rollen-Ich gehen eine Verbindung ein, die geplant und inszeniert werden kann 1 ®. Diese kostümierten Gegenwartspartikel fügen sich dem Rollenvorrat ein — sie assimilieren sich der Innerlichkeit und werden Erinnerung. „Mit acht Jahren fand er den größten Reiz an dem Duft halbvergessener Tage und tat manches nur mit dem dumpfen Instinkt, zukünftige hübsche Erinnerungen auszusäen. So gewöhnte er sich resigniert, den Wert und Reiz der Gegenwart erst von der Vergangenheit gewordenen zu erwarten." Es ist auffällig, wie Hofmannsthal sich hier in der Verwandlung der Gegenwart in „Erinnerung" Gedanken Kierkegaards annähert. So heißt es in den Stadien auf dem Lebensweg, die sich in einer Ausgabe von 1886 in Hofmannsthals Bibliothek fanden: „In einer Illusion hinleben, worin es beständig dämmert, niemals Tag wird, aus aller Illusion sich herausreflektieren und sie auf sich wirken lassen mit aller Macht der Illusion, obschon man ein Wissender ist. Das Vergangene zu sich zu zaubern ist nicht so schwierig, wie das Nächste von sich wegzuzaubern für die Erinnerung. Dies ist eigentlich die Kunst der Erinnerung und die Reflexion des zweiten Grades. Um eine Erinnerung sich zu bereiten, dazu gehört Bekanntschaft mit den Gegensätzen der Stimmungen, Situationen und Umgebungen 17 ." Wann Hofmannsthal Kierkegaard zu lesen begonnen hat, ist nicht mit Sicherheit festgestellt. Es ist aber wahrscheinlich, daß man seinen 16

17

Hier liegt der Grund zu einer Aufzeichnung im Buch der Freunde: „Alles Gelebte schmeckt sonderbar und gräßlich wie Brackwasser: Tod und Leben gemischt." A, S. 37. Sören Kierkegaard, Stadien auf dem Lebensweg, Jena 1886, S. 13.

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Einfluß bereits sehr früh ansetzen m u ß und daß er mit einzelnen Schriften schon auf das F r ü h werk Hofmannsthals eingewirkt h a t 1 8 . — Höhepunkt dieser Erlebnisse an und durch sich selbst aber ist es, wenn die Welt der Innerlichkeit sich selbst gegenständlich zu werden vermag. Das Mittel dazu ist der Spiegel. „Mit einem Schritte stand er vor dem Spiegel, und genoß den wohlbekannten Schauer des Erschreckens, als ihm seine eigene weiße Gestalt aus dem Halbdunkel entgegensprang. Dann spielte er vor dem Spiegel: das betende Kind (die Ofenfigur im Vorzimmer); den Kaiser Napoleon in Fontainebleau mit finsterer Stirne im Armsessel (der Kupferstich hängt in Papas Zimmer); dann der Wahnsinnige, den ihm das Fräulein einmal vorgemacht hatte, um ihn zu erschrecken, mit stieren, hervorstehenden Augen, wo man das Weiße unten sieht, und verzerrten Lippen. Den machte er immer zuletzt und zitterte jedesmal vor seiner eigenen Schöpfung 19 ." 18 19

M. Hamburger, Hofmannsthals Bibliothek, S. 15 ff. So ist auch der Vorgang strukturiert, den Hofmannsthal im Prolog zum Tod des Tizian beschrieben hat: „Ich stieg einmal die große Treppe nieder In unserm Schloß, da hängen alte Bilder Da blieb ich stehn bei des Infanten Bild — Er ist sehr jung und blaß und früh verstorben . . . Ich seh ihm ähnlich — sagen sie — und drum Lieb ich ihn auch und bleib dort immer stehn Und ziehe meinen Dolch und seh ihn an Und lächle trüb: denn so ist er gemalt: Traurig und lächelnd und mit einem Dolch . . . Und wenn es ringsum still und dämmrig ist, So träum idi dann, ich wäre der Infant, Der längst verstorbne traurige Infant. . . Da schreckt mich auf ein leises, leichtes Gehen, Und aus dem Erker tritt mein Freund, der Dichter. Und küßt mich seltsam lächelnd auf die Stirn Und sagt, und beinah ernst ist seine Stimme: 'Schauspieler deiner selbstgeschaffenen Träume, Ich weiß, mein Freund, daß sie dich Lügner nennen Und dich verachten, die dich nicht verstehen, Doch ich versteh dich, o mein Zwillingsbruder.'" GLD, S. 182 (Hervorhebung vom Verf.). Der Page kostümiert sich im Hinblick auf ein Kunstwerk, das Bild des toten Infanten. Der Dichter, wie der Page eines der Rollen-Ichs Hofmannsthals und darum wirklich des Pagen „Zwillingsbruder", übernimmt hier die Rolle des Spiegels. — Es ist weiterhin bezeichnend, daß auch hier das Erleben des Bildes nicht einer unmittelbaren Anschauung entspringt, sondern einer bereits vorgeformten künstlerischen Wirklichkeit entnommen wird, dem Gedicht. Der Infant in den Hymnen Stefan Georges (vergl. Briefwechsel George-Hofmannsthal S. 30). Dam entspricht auch die klangliche Nähe der Verse zu den Algabal-Gcdidaten Georges, ein Bezug, der durch 2

Hoppe, Hofmannsthal

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Je stärker sich aber die Phantasie anspannt, um solche Sensationen zu erregen, desto unerträglicher ist die Leere, die diesen Momenten folgt, in der mit der Rolle auch die dazugehörige Umweltskulisse zusammenfällt. In der Wiederholung meldet sich die Langeweile, der auf dem Grunde der Innerlichkeit wohnende démon ennui 2 0 . So führt der Weg eine „Station" weiter: Kierkegaard hatte für die vollkommene Bereitung der Erinnerung Bekanntschaft mit den Gegensätzen der Stimmungen, Situationen und Umgebungen verlangt. Damit tritt die Umwelt unter einem neuen Gesichtspunkt wieder in das Blickfeld. „Zum erstenmal bekam die Außenwelt für ihn ein selbständiges Interesse, die anderen Menschen, die gar keine Bekannten sind, und an denen man sonst immer nur vorübergeht... Er empfand plötzlich eine Sehnsucht danach, in fremde Zimmer hineinzuschauen und fremde Menschen fühlen zu fühlen. Die ,Anderen* hatten für ihn einen Sinn bekommen." Das ist aber nicht zu verwechseln mit einer sich anbahnenden Erkenntnis als Anerkenntnis der Umwelt, die geeignet wäre, den Bann der Innerlichkeit zu durchbrechen. Audi hier bleiben die „Anderen" Mittel, das Ich um neue Empfindungsmöglichkeiten zu bereichern, sich ihrer Erlebnisse und Erlebnisweisen zusätzlich zu den eigenen zu bemächtigen: Das ist der „Sinn", den die Anderen für ihn bekommen. Hofmannsthal hat diesen Zug, das Verlangen nach fremden Leben, nie verloren. Dieses Verlangen machte ihm das Böhme-Wort, das er seinen Gestalten so gern in den Mund legt, so wert: „So lüstert nu je eine Gestalt nach der a n d e r n 2 ! " .

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das direkte Zitat „o mein Zwillingsbruder" aus einem Brief Georges an Hofmannsthal bewußt verdeutlicht wird (vergl. Briefwechsel S. 13). Auch William Lovell, der sich immer mehr als nächster Geistesverwandter des in A%e of Innocence beschriebenen Menschentypus herauszustellen beginnt, kennt diese Momente der innerlichen Leere, „wenn man seiner Phantasie erlaubt, zu weit auszuschweifen, wenn man alle Regionen der schwärmenden Begeisterung durchfliegt — wir geraten endlich in ein Gebiet so exzentrischer Gefühle — indem wir gleichsam an die letzte Grenze alles Empfindbaren gekommen sind, und die Phantasie sich durdi hundertmalige Exaltationen erschöpft hat — daß die Seele endlich ermüdet zurückfällt; alles umher erscheint uns in einer schalen T r ü b h e i t . . . , wir suchen mißvergnügt den Rückweg nach jenen Extremen, aber die Bahn ist zugefallen, und so befällt uns endlich jene Leerheit der Seele, jene dumpfe Trägheit, die alle Federn unseres Wesens lahm macht." Tieck, Werke, Bd. III, S. 321 f. A, S. 108. — So schreibt auch R. Borchardt: „Ich glaube, er hat keine andere wirkliche Leidenschaft gekannt als die nach fremdem Schicksal." Fiedhtner, S. 75.

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Wir hatten zu Beginn unseres Kapitels einen auffälligen Mangel an „Charakteristischem" in der Biographie des jungen Hofmannsthal festgestellt. Wenn sich aber ein Charakter „in dem Strom der Welt" herausbildet, so wird dieser Mangel durch unsere Ausführungen vorläufig erklärt: Welt im Sinne des Wortes, wie Goethe es gebraucht, kommt an ihn gar nicht heran. Im Gegenteil, Hofmannsthal fühlte sich „in unmittelbarer Begegnung mit der Welt mehr gestört als bestätigt 2 2 ". So muß auch die Frage nach dem Rhythmus, der sich in dem Widerspiel von Individuum und Welt andeuten sollte, zunächst zurückgestellt werden. Ein in-dividuum zeigte sich im Verlaufe unserer Betrachtung gerade nicht, vielmehr scheint dieser Begriff durch die Aufspaltung des Idi in Rollenmomente selbst in Frage gestellt. Der nächste Sdrritt muß so sein zu fragen, wie sich Hofmannsthal in seinem Verhältnis zur Welt bis hin zu der dramatischen Studie Gestern darstellt, in der Richard Alewyn z. B. zum erstenmal einen unverwechselbar eigenen Ton Hofmannsthals feststellt 23 , und ob die vorhandenen Zeugnisse dem bisher Gewonnenen widersprechen oder es bestätigen. 22 23

O. Schnitzler, NR 65, 1954, S. 518. R. Alewyn, Hugo von Hofmannschal, S. 46.



II. Literatur Wir sind seit Goethe gewohnt, das persönlichste Bekenntnis eines Dichters in seiner Lyrik zu suchen. Hier findet die große Konfession, als die Goethe seine Dichtung insgesamt bezeichnet hat, am rückhaltlosesten statt. Daß Dichtung Bekenntnis sei, wurde geradezu ein Postulat der Theorie von der Dichtung: „Poesie ist Darstellung und Ausdruck des Lebens. Sie drückt das Erlebnis aus, und sie stellt die äußere Wirklichkeit dar 1 ."

Diese Bestimmung trifft für einen großen Teil der Dichtung des 19. Jahrhunderts, das man mit Recht das Jahrhundert Goethes genannt hat, zu und ist geeignet, Wesentliches an ihr zu verdeutlichen, auch dort, wo der erste Anschein dagegen zu sprechen scheint, wie z. B. in dem Werke C. F. Meyers. So ist es zunächst erstaunlich, wenn Hofmannsthal, „Erbe und Spätklassiker eines vielhundertjährigen Stils 2 ", sich mit Heftigkeit gegen diese Auffassung von der Dichtung verwahrt, die durch mißverstandene „gewisse Worte Goethes verschuldet" worden sei: „Ich glaube, daß der Begriff des Ganzen in der Kunst überhaupt verlorengegangen ist. Man hat N a t u r und Nachbildung zu einem unheimlichen Zwitterding zusammengesetzt, wie in den Panoramen und Kabinetten mit Wachsfiguren. Man hat den Begriff der Dichtung erniedrigt zu dem eines verzierten Bekenntnisses 3 ."

Er lehnt den Zusammenhang von Leben und Kunst, wie er sich in dem Begriff ,Erlebnisdichtung' ausdrückt, als Verfälschung ab: „Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens. Kein äußerliches Gesetz verbannt aus der Kunst alles Vernünfteln, alles Hadern mit dem Leben, jeden umittelbaren Bezug auf das Leben und jede direkte Nachahmung 1 2 3

Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Diditung, Göttingen 1965, S. 126. H u g o Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, H a m b u r g 1956, S. 8. P I , S. 262. — Es ist kein Zufall, daß Hofmannsthal in seinem Nachruf auf Wilhelm Dilthey (1911) mit keinem Wort auf dessen Versuch, das Wesen der Dichtung aus dem Begriffe des Erlebnisses zu verstehen, eingeht.

Literatur

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des Lebens, sondern die einfache Unmöglichkeit: diese schweren Dinge können dort ebensowenig leben als eine Kuh in den Wipfeln der Bäume 4 ." Diese Sätze, die sich in ihrer hochmütigen Diktion wie auch inhaltlich mit den programmatischen Äußerungen der Blätter für die Kunst berühren, weisen auf ein verborgenes P r o b l e m : H o f m a n n s t h a l m u ß t e in der Forderung, daß Dichtung „Erlebnis" sei und „Wirklichkeit" darstelle, seine eigene Lyrik in Frage gestellt sehen. D a ß er sich, in diesen Sätzen, für den Augenblick auf die Seite der „anderen K u n s t " 5 , der in Deutschland durch die frühen Dichtungen Stefan Georges vertretenen symbolistischen Poesie, schlug, löste das Problem allerdings nicht. T a t sächlich waren seine Gedichte der poesie pure so wenig zuzuzählen wie der Erlebnisdichtung der in der Nachfolge Goethes stehenden deutschen Dichter. E i n Blick auf die frühen Gedichte Hofmannsthals bis zur Fertigstellung von Gestern soll helfen, den Charakter dieser Dichtungen näher zu bestimmen.

D i e Arbeit an Gestern zieht sich bis Ende 1891 hin; im Oktober war die letzte Szene m i t dem entscheidenden Gespräch zwischen Andrea und A r l e t t e noch nicht geschrieben®. D a v o r und daneben entstand eine Gruppe v o n rund dreißig Gedichten, die z u m größten Teil erst aus dem Nachlaß bekannt geworden sind. Ü b e r den W e r t dieser Gedichte, die H o f m a n n s t h a l selbst der A u f nahme in eine Sammlung seiner frühen Gedichte nicht für wert bef a n d 7 , soll hier nicht geurteilt werden. Sie sind uns lediglich insofern bedeutsam, als sich m i t ihnen die im ersten Kapitel entworfenen S t r u k turen der Einbildungskraft Hofmannsthals auszufüllen beginnen 8 . 4 5

6 T

8

P I, S. 263 f. A, S. 94. — Auf das Programm der „anderen", symbolistischen Kunst verweist Hofmannsthal deutlich, wenn er schreibt: „Die Worte sind alles, die Worte, mit denen man Gesehenes und Gehörtes zu einem neuen Dasein hervorrufen und nach inspirierten Gesetzen als ein Bewegtes vorspiegeln kann." P I , S. 263. Vergl. Günther Erken, Hofmannsthal-Chronik, S. 246. Mit Ausnahme von drei Gedichten, die Hofmannsthal für eine Ausgabe seiner frühesten Schriften auswählte. Der Plan zu dieser Auswahl fand sich im Nachlaß des Grafen Kessler und stammt aus dem Jahre 1905. Es handelt sich um die Gedichte Für mich, Sünde des Lebens und Frage. Vergl. N R 73, 1962, S. 583 ff. Zur Analyse der frühesten Gedichte Hofmannsthals vergl. W. Rey, Die Drohung der Zeit in Hofmannsthals Frühwerk, Euphorion XLVIII/3,

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Literatur

Auf den. ersten Blick scheinen diese Gedichte den oben angeführten Ausführungen Hofmannsthals über den Zusammenhang v o n Leben und Kunst zu widersprechen. In fast allen Gedichten ist der Charakter der Äußerung subjektivistisch: Das Ich stellt sich entschieden in den Vordergrund: „Das längst Gewohnte, das alltäglich Gleiche, Mein Auge adelt mirs zum Zauberreiche: Es singt der Sturm sein grollend Lied für mich, Für mich erglüht die Rose, rauscht die E i c h e 9 . . „Was ihr so Stimmung nennt, das kenn ich nicht Und sdiweige still, wenn einer davon spricht 1 0 .. „Was singt in mir zu dieser Stund Und öffnet singend mir den Mund 11 " So gibt sich ein Teil dieser Gedichte sogar als ,Problemdiditung', worin das Ich sich in seiner Stellung zur Welt Klarheit zu verschaffen sucht 1 2 . Auch das Gedicht Sturmnacht13, das wir als Beispiel herausnehmen, scheint so durchaus in der Tradition des Erlebnisgedichtes des 19. Jahrhunderts zu stehen: „Die Sturmnacht hat uns vermählt In Brausen und Toben und Bangen: Was unsre Seelen sich lange verhehlt, Da ists uns aufgegangen. Ich las so tief in deinem Blick Beim Strahl vom Wetterleuchten: Idi las darin mein flammend Glück, In seinem Glanz, dem feuchten. Es warf der Wind dein duftges Haar Mir spielend um Stirn und Wangen, Es flüsterte lockend die Wellenschar Von heißem tiefem Verlangen. Die Lippen waren Ich hielt dich fest Mein Werben und Die hat der Wind

sich so nah, umschlungen; dein stammelnd Ja, verschlungen . .

S. 288 und K. Pestalozzi, Sprachskepsis und Sprachmagie im Werk des jungen Hofmannsthal, Zürich 1958, S. 43 ff. 9 GLD, S. 471. 1 0 GLD, S. 473. 1 1 GLD, S. 489. 1 2 Vergl. Was ist die Welt; Verse, auf eine Banknote geschrieh; Gedankenspuk; Sünde des Lebens; Sonette u. a. 1 3 GLD, S. 472.

Literatur

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Eine Briefstelle scheint zudem den autobiographischen Gehalt eines solchen Gedichtes zu unterstreichen: „Mit der N a t u r kann ich nicht immer was anfangen: nur starker Wind, Mondschein und ein großes Wasser machen midi immer glücklich 1 4 ". Trotzdem überzeugt das Gedicht den Leser nicht, es wirkt inszeniert. Der A u f w a n d , der mit N a t u r effekten getrieben wird, die übertriebene Gestik der Liebenden verrät, wie unsicher der Dichter dem Gehalt des Gedichtes gegenüber ist. Es wirkt theatralisch. Eine Anzahl v o n bewährten lyrischen Requisiten wird zusammengestellt, u m den Effekt ,Liebasgedicht' beim Leser hervorzurufen. Was hier an einem Gedicht hervortritt, läßt sich f ü r die frühesten Gedichte allgemein feststellen. Hinter ihnen steht nicht eine persönliche Erfahrung, die dichterischen Ausdruck verlangt; die ,Erfahrung' beschränkt sich vielmehr auf die Anregung durch eine vorgeprägte .lyrische Situation', die in Verse gebracht wird. Die als Stimulans wirkende Vorlage kann dabei den verschiedensten Bereichen entstammen, zumeist aber wird sie aus der Dichtung oder der bildenden Kunst kommen. H o f m a n n s t h a l bezeichnet das ,Charakteristische' dieser selbst, wenn er schreibt:

Gedichte

„Das Nichts, der Klang, der Duft, er wird zum Keim, Zum Lied, geziert mit flimmernd buntem Reim 1 6 ." Sie sind in ihrem Kern ein ,Nichts', auis flüchtigstem Anlaß entstandene Stimmungsbilder. Bezeichnenderweise können sie sich in einer Vielzahl v o n F o r m e n darstellen; Sonette, Ghaselen, Volksliedstrophen und antike Metren wechseln miteinander ab, ohne je notwendig aus dem Auszusagenden hervorgegangen zu sein. Die F o r m e n sind beliebig wie die Inhalte, die sich in ihnen ausdrücken. D a s Gleiche gilt v o n den Problemen, die in den Gedichten zur Sprache gebracht werden. Es sind die Probleme des Tages, die sich mit gleicher Häufigkeit in den Werken der Wiener Zeitgenossen Hofmannsthals oder in der zeitgenössischen französischen Literatur, die H o f m a n n s t h a l besprach, finden lassen: der Zweifel am Wahrheitsgehalt des Wortes, das Leiden am Ballast der Historie oder Gedanken über das Wesen des Dichterischen. Als solche werden sie aufgegriffen und in Verse gebracht. Auffallend ist nicht nur, welche Vielzahl v o n Formen der junge Hofmannsthal in seinen frühen Gedichten bereits meistert, sondern mehr noch, über welche Vielfalt v o n Tönen er zu verfügen weiß. 14 15

N R 73, 1962, S. 587. GLD, S. 473.

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Literatur

Auf die Einflüsse aus der deutschen, französischen und englischen Literatur auf das Frühwerk Hofmannsthals ist zur Genüge hingewiesen worden 1 6 . Aber so auffallend es ist, daß Hofmannsthal sich in verschiedensten fremden Tönen und Empfindungsweisen bewegt, so schwierig ist es in den meisten Fällen, dieses deutlich nachzuweisen. Der Grund dafür ist eine bestimmende Eigenschaft Hofmannsthals, die sich durch sein gesamtes dichterisches Schaffen hindurch verfolgen läßt: Hofmannsthal imitiert in den seltensten Fällen einen einzigen Dichter, sondern fühlt sich zunächst in einen bestimmten dichterischen Ton ein, den er dann mit einer immer wachen Freude am Spiel variiert, verflüchtigt oder konzentriert. Dabei hilft ihm ein immer mehr zunehmender Kunstverstand, der in seiner Stilsicherheit bereits in den frühen Hervorbringungen von 1893 an als einzigartig in der deutschen Literatur anzusehen ist. So wird Hofmannsthal in den seltensten Fällen mit dem Ton auch das Anliegen eines Dichters übernehmen, sondern aus einer ,Stilverdrehungsmanie'11 heraus Formen und Inhalte beliebig ineinanderspielen lassen. Diese ,Stilverdrebungsmanie', die später in den mythologischen Opern und noch im Turm ihre subtilsten Triumphe feiern wird 1 8 , ist bereits in den frühesten Gedichten feststellbar. Wir beschränken uns auf einen Hinweis auf das Gedicht Gedankenspuk aus dem Jahre 1890. "Wie auch Sünde des Lebens, das ihm in Ton und Inhalt ähnlich ist, steht es merkwürdig fremd im Werke Hofmannsthals. In freien Rhythmen, dem Versmaß des ,Originalgenies', drückt es die völlige Verzweiflung an dem Schicksal des modernen Menschen aus, der unter der Last der Geschichte nicht mehr zu atmen vermag: „Wir tragen im Innern . . . Die Toten dreier Jahrtausende, Ein Bacchanal von Gespenstern, Von andern ersonnen, von andern gezeugt, Fremde Parasiten, Anempfunden, Krank, vergiftet 1 9 .—"

Der Philosoph, in dessen Bann der junge Hofmannsthal hier wie die meisten ¡seiner intellektuellen Zeitgenossen steht, wird schon im 18 Vergl. Walter Perl, Das lyrische Jugendwerk H u g o von Hofmannsthals, Berlin 1936, S. 41 ff. 17

X8

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B I , S. 9 9 : „Die Odyssee hab' ich auch unendlich gern; besonders die Nausikaa-Gesdiichte, nur hab' ich die, sei nicht bös, mit meiner Stilverdrehungsmanie wieder ganz trecentistisch gobelinmäßig im Kopf." Mythos und Sage (D IV, S. 8) sind nichts anderes als die künstlichen R ä u me, in denen diese ,Stilverdrehungsmanie' möglich wird. GLD. S. 477 f.

Literatur

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Motto des Gedichts (,Könnten wir die Historie loswerden') genannt: Nietzsche 20 . Es sind Gedanken aus der zweiten der Unzeitgemäßen Betrachtungen, ,Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben', die hier in Verse gebracht werden. Bezeichnenderweise beschäftigt Hofmannsthal nur der Nachteil der Historie für das Leben, ja er beschränkt sich fast auf die Ausführung des von Nietzsche im Vorwort geäußerten Gedankens, „daß wir alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden und mindestens erkennen sollten, daß wir daran leiden 2 1 ". Die Generation Hofmannsthals hatte sich diese Erkenntnis seither gründlich angeeignet, ohne auch die von Nietzsche gegebenen Hinweise auf den Nutzen der geschichtlichen Überlieferung gleichermaßen in Betracht zu ziehen. Neben Nietzsche meint man Paul Bourget und Hermann Bahr herauszuhören und, wieder deutlicher, den Ibsen der Gespenster. So liegt es zunächst nahe, auch die Form des Gedichts mit Nietzsche in Verbindung z,u bringen. Es scheinen die freien Rhythmen der DionysosDithyramben zu sein, die hier angewendet werden. Nirgends aber vernimmt man bei genauerem Hinhören den verführerischen und zugleich qualvoll höhnischen Ton, der den Versen Nietzsches eignet. Hofmannsthals Gedicht erweckt trotz des erregten Versmaßes und der ausgesuchten Bilder, in denen sich die Agonie des modernen Menschen spiegeln soll, nichts als Langeweile. Seine Verzweiflung ist zu wohlgeordnet, als daß sie uns zu überzeugen vermöchte. Tatsächlich findet sich die als Vorbild dienende Form auch nicht bei Nietzsche, sondern in unmittelbarer Nähe Hofmannsthals. Es gehört zum Wesen Hofmannsthals, daß er äußeren Einflüssen gegenüber fast wehrlos war 2 2 ; Tagesereignisse vermochten ihn ebenso anzuregen wie große

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Obwohl Hofmannsthal den Einfluß Nietzsches später abzustreiten versucht hat, ist er aus dem Frühwerk nicht wegzudenken. Er ist nicht nur durch zahlreiche Selbstzeugnisse zu belegen („Wir erleben bei 3 Seiten Nietzsche viel mehr als bei allen Abenteuern unseres Lebens, Episoden und Agonien . . . " B I, S. 57.), sondern äussert sich auch im Werk selbst. So ist z. B. die Idee der Gerechtigkeit, die in den frühen Essays eine Zeitlang eine so hervorstechende Rolle spielt, unmittelbar aus der zweiten unzeitgemäßen Betrachtung übernommen. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Stuttgart 1955, S. 98. „So begabt er ist, eine ganze ferne Welt heraufzurufen noch mit ihren ungreifbarsten Düften und Dünsten, so empfindlich ist er für die Verlockung, einen Stoff aus einem Milieu in ein anderes zu transponieren . . . Die Wehrlosigkeit gegenüber solchen Versuchungen hat sich bei Hofmannsthal oft genug als eine Gefahr für die Vollendung eines Werkes erwiesen. Dafür ist die Silvia im ,Stern' ein Zeugnis, aber nicht weniger der Andreas selbst, der im theresianischen Rokoko gekeimt war und gleich-

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Literatur

Werke der Weltliteratur oder der bildenden K u n s t 2 3 . So hatte er im Salon der Frau von Wertheimstein den damals vielgelesenen Ferdinand von Saar kennengelernt, der in der Rhapsodie eine Form gefunden hatte, philosophische Themen in Versform vorzutragen. Es ist der Ton dieser Rhapsodien, in denen Hofmannsthal sich in Gedankenspuk Sünde sodie

wie auch in

des Lebens versucht. So lautet z. B. vergleichsweise Saars R h a p Erkenntnis: „Seit Ewigkeiten schon Werden ausgesprochen Worte der Wahrheit und Weisheit. Und seit Ewigkeiten auch Werden vernommen sie, Werden aufgeschrieben Und überliefert der Menschheit Als heil'ges Vermächtnis. Aber immer noch Herrsdien und walten Wahn und Torheit. Immer noch Erklärt ein neues Geschledit Den Irrtum der Vorgebornen, Blind jedoch für den eigenen Und taub für den Rufenden in der Wüste. Das bedenke, einsam ringender Geist, Und nicht vertröste dich, Kindisdi eitel, Auf das Verständnis der später Urteilenden. Erkenne vielmehr Des Daseins tiefe Sinnlosigkeit, Und erhabenen Gleichmuts schwebe, Lächelnd, Über Vergangenheit, Mitwelt und Nachwelt 24 ."

Solche philosophischen Rhapsodien sprachen den Geschmack der Zeit und das Wiener Publikum an. Hofmannsthal, immer bereit, sidi der erprobten Wirksamkeit einer künstlerischen F o r m zu bedienen, aktualisiert sie, indem er sie der altbackenen Philosopheme Saars entledigt und mit den

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wohl später ins franziscinische Biedermeier und am Ende noch einmal an die Westküste von Afrika hätte verpflanzt werden sollen." Alewyn, o. c. S. 132 f. So haben zu der Szene mit der Kindergemeinde im Turm die Jugendbünde anregend gewirkt; vergl. audi M. Hamburger, Hofmannsthals Bibliothek, S. 28. Ferdinand von Saars sämtliche Werke in zwölf Bänden. Hsg. von Jakob Minor. Leipzig o. J., Bd. 2, S. 123 f.

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Literatur

gewagten Gedanken Nietzsches auflädt — ein frühes, wenn auch noch unvollkommenes Beispiel seines sich herausbildenen künstlerischen Prinzips, der „Stilverdrehungsmanie".

Gedankenspuk und Sünde des Lebens sind die ersten Beispiele für die Grundtendenz in der Schaffensweise Hofmannsthals, heterogene Formen und Inhalte ineinanderspielen zu lassen und zu einem neuen Gebilde zu verschmelzen. Wie vollkommen ihm dies schließlich gelingen konnte, zeigt das Lied des Harlekins aus der Ariadne, eines der letzten Gedichte Hofmannsthal, von dem er u. a. im Jahre 1911 an Dora von Bodenhausen schreibt: „Sie fragten einmal oder zweimal, warum ich keine Gedichte mehr schriebe — ich weiß es ja nicht, Mädi — aber sind diese kleinen Lieder in der Ariadne, das Liedchen des Harlekins und der Zerbinetta und des Bacchus, nicht richtige kleine Gedichte von mir? oder fehlt Ihnen etwas an diesen2®?" Das Lied, mit dem Harlekin die in ihrem Schmerz erstarrte Ariadne zu trösten versucht, lautet: „Lieben, Hassen, H o f f e n , Zagen, Alle Lust und alle Qual, Alles kann ein Herz ertragen Einmal u m das andere Mal. Aber weder Lust nodi Schmerzen, Abgestorben auch der Pein, Das ist tödlich deinem Herzen, U n d so darfst du mir nidit sein! Mußt dich aus dem Dunkel heben, War es auch um neue Qual, Leben mußt du, liebes Leben, Leben noch dies eine Mal 2 6 !"

So wie das Gedicht jetzt dasteht, hatte Hofmannsthal allerdings recht, es als „richtiges kleines Gedicht" von sidi zu bezeichnen, obwohl die Briefempfängerin die Äußerung wahrscheinlich dahin mißverstehen mußte, es handele sich dabei um eine eigene, ,originale' Schöpfung H o f mannsthals. Hofmannsthal hatte recht, weil das Gedicht in seiner Rokokoanmut und seiner „leichtfertig tröstlichen" 27 Art tatsächlich seine Leistung ist und in der Aussage, obwohl im Munde Harlekins ironisch gebrochen, ein echtes Anliegen Hofmannsthals ausdrückt, das er in der Elektra als Problem gestellt und im Rosenkavalier in der Figur der Mar25

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H u g o von Hofmannsthal — Eberhard von Bodenhausen, Freundschaft, Düsseldorf 1953, S. 128. L III, S. 38 f. N R 71, 1960, S. 92.

Briefe

der

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Literatur

schallin als Gestalt „erledigt" 28 hat: Wie der Mensch, in die „Antinomie von Sein und Werden" 2 9 gestellt, zwischen Treue und Vergessen „in der richtigen Weis" 3 0 zu leben versuchen muß. Aber auch in einem anderen Sinn ist das Lied ein „richtiges" Gedicht Hofmannsthals, indem es die an Gedankenspuk exemplarisch aufgewiesene Verfahrensweise des dichterischen Prozesses bestätigt. Auch hier ging der Anreiz von einer literarischen Vorlage aus. Bei der Lektüre der Dramen und Gedichte von Lenz, die ihre Spuren schon früher in den Aufzeichnungen zu der Komödie Silvia im „Stern" hinterlassen hatte, stieß Hofmannsthal auf ein Gedicht, das seinen Intentionen bei der Führung der Ariadne-Handlung weitgehend entgegenkommen mußte: Unser H e r z Kleines Ding, um uns zu quälen Hier in diese Brust gelegt, Wüste mancher was er trägt, Würde wünsdien, thätst ihm fehlen. Deine Schläge, wie so selten Mischt sich Lust in sie hinein U n d wie sind sie schnell, mit Pein Jede Lust ihm zu vergelten. Dennoch, weder Lust noch Qualen W a r weit schröcklicher als das. Lieber schmelzt mein H e r z zu Glas, Meines Schicksals heiße Strahlen. Lieben, hassen, streben, zittern Hoffen, zagen bis ins Mark. Ach das Leben war ein Quark Thätest du es nicht verbittern 3 1 ."

Harlekin an dieser Stelle etwas in dieser Art sagen zu lassen, mußte Hofmannsthal gelegen sein, denn das Gedicht führt ein Thema fort, das Ariadne in ihrem Monolog bereits angetönt hatte in den Versen: „Zerstückelt Herz, willst ewig weiter schlagen 3 2 " „Ihr Schlaf ist rein, ihr Sinn ist klar, Ihr Herz ist lauter wie der Quell 3 3 " „Ich weiß, was gut ist, Wenn man es fernhält von dem armen H e r z e n 3 4 " 28 29 30 31

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P IV, S. 126. A, S. 217. L I, S. 432. Gedichte von J M. R . Lenz. Mit Benutzung des Nachlasses Wendelins von Maitzahn hsg. von Karl Weinhold, Berlin 1891, S. 111. L III, S. 36. L III, S. 37. L III, S. 38.

Literatur

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Das Gedicht antwortet ihr, die keine Verbindung mehr zwischen dem ungetrübten Herzen ihrer Kindheit und dem durch die Trennung von Theseus „zerstückelten" Herzen herzustellen weiß und die es „gut" findet, Erfahrungen dieser Art vom Herzen fernzuhalten, das heißt aber, auf das Leben zu verzichten. Die Übereinstimmungen der beiden Gedichte in Versmaß, Wortwahl und Aussage sind ohne weitere Erklärung deutlich. Trotzdem konnte Hofmannsthal das Gedicht, wie er es bei Lenz fand, nicht ohne weiteres als Zitat übernehmen. Lenz' Gedicht, obwohl der Form nach noch leicht der Aufklärung verbunden, atmet den Geist der Generation um 1770. Es ist eine Beschwörung des Herzens, das an die Stelle der Vernunft als Organ der Welterfahrung getreten ist. Im „heilig glühenden H e r z e n 3 5 " , das die Welt durchdringt, fallen die Schranken zwischen Innen und Außen, die die Aufklärung aufgerichtet hatte, dahin, und in seinen Regungen genießt das Individuum sich als unverwechselbares Ich, das „alles selbst vollendet 3 6 hat. So aber konnte sich Harlekin in dem stilistischen Rahmen, den Hofmannsthal im Entwurf zur Ariadne37 mit den Stichworten „im Poussin'schen Stil" und „durchaus edel, im Stil der Louis X I V - A n t i k e 3 8 " abgesteckt hatte, unmöglich äußern. Die lustige Gesellschaft hatte „die geistreiche Paraphrase des alten heroischen Stils" 3 9 nach der Buffo-Seite hin „in Callot's M a n i e r " 4 0 zu ergänzen. So können wir den seltsamen Vorgang beobachten, wie sich ein Gedicht des Sturm und Drang in den Stil des leicht entarteten Rokoko zurückverwandelt. Zunächst strafft Hofmannsthal den Bau des Gedichts. Aus den vier Strophen bei Lenz werden drei. Kraftwörter wie „Mark" und „Quark" werden getilgt, aber auch „Schicksal", von dessen Walten Harlekin nichts wissen kann. Die Verben werden nicht nur auf ein Minimum reduziert und dem Gedicht dadurch der leidenschaftlich bewegte Ton entzogen, sondern auch des individuellen Ausdrucks entkleidet und durch geläufigere ersetzt. Zeilensprünge werden vermieden, der Wirrwar des Gefühls in eine nach Versgruppen gesichtete Ordnung gebracht. Wo Lenz beschwört, wird nun argumentiert: Die erste Strophe spricht eine allgemeine, in der Gesellschaft gültige Erfahrung aus, die zweite warnt vor der Nichtbeachtung einer solchen Erfahrung und die dritte gibt den Hinweis, wie man sich in einer solchen Situation verhalten muß. Goethe, Prometheus, HA Bd. 1, S. 45. ebd. 3 7 NR 71, 1960, S. 91. 3 8 ebd. 3 9 Richard Strauss — Hugo von Hofmannsühal, Briefwechsel, Gesamtausgabe. 4 0 NR 71, 1960, S. 91. Hsg. von Willi Schuh, 1964 3 Zürich, S. 118. 35

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Wie Hofmannsthal es bei der Umformung zu vermeiden weiß, daß daraus ein langweilendes Lehrgedicht entsteht, das im Munde Harlekins ebenso unpassend klänge wie eine Feier des Herzens im Stile von Lenz, ist allerdings fast nicht mehr nachzuweisen. Auf zwei Züge sei dennoch hingewiesen. In der vierten Zeile der ersten Strophe „Einmal um das andere Mal" weicht Harlekin von der sonst regelmäßigen Folge von Hebung und Senkung ab, indem er nachlässig eine Senkung mehr einfließen läßt. Diese winzige Abweichung genügt, dem ganzen Gebilde einen Anflug von Leichtsinn zu geben. In dem Vers „Und so darfst du mir nicht sein" erweckt die Zusammenstellung der beiden unscheinbaren Wörter „du mir" eine genau berechnete Mischung von Empfindungen im Hörer: Indem Harlekin Ariadne in eine auch noch so lose Beziehung zu sich setzt, entsteht ein Eindruck, der sich aus Zärtlichkeit, täppischer Galanterie und leiser Frivolität unbeschreibbar zusammensetzt. Damit ist Hofmannsthal aber gelungen, was innerhalb des erwähnten stilistischen Rahmens nötig war — das Ganze in „Callot's Manier" hinüberzuspielen, in das Leichtfertige der commedia dell'arte. So gleicht das Lied vollkommen einem Gedicht des 18. Jahrhunderts, so vollkommen, daß es schwierig wäre, ihm ein echtes Gedicht der Zeit an die Seite zu stellen, ohne „Fehler" an letzterem zu entdecken. H o f mannsthals Gedicht ist von der „dreisten Perfektion" 4 1 , die Borchardt der Ariadne im Ganzen nachgerühmt hat. Wie beim theresianischen Wien im Rosenkavalier oder dem galanten Venedig in Cristinas Heimreise scheint das Kunstprodukt wirklicher als ein Zeugnis der Zeit selbst, denn: „In der Gegenwart, die uns umgibt, ist nicht weniger Fiktives als in der Vergangenheit, deren Abspiegelung wir Geschichte nennen. Indem wir das eine Fiktive durch das andere interpretieren, entsteht erst etwas, das der Mühe wert ist 4 2 ."

Wir kehren zu den frühesten Gedichten Hofmannsthals, von denen wir ausgegangen waren, zurück und halten fest: Eine Schwierigkeit, einem persönlichen Erlebnisgehalt in einem Gedicht Hofmansthals auf die Spur zu kommen, ist seine Neigung, sich hinter fremden Formen, Aussagen und Empfindungen wie hinter Masken zu verstecken. Dies muß betont werden, da man immer wieder in der Beschäftigung mit dem Werk Hofmannsthals dazu neigt, auch die Inhalte der frühen Gedichte als „echte" Aussagen des Dichters zu nehmen, d. h. als Aussagen, hinter 41

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Hugo von Hofmannsthal — Rudolf Bordiardt, Briefwechsel, Frankfurt am Main, 1954, S. 68. A, S. 36.

Literatur

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denen eine persönliche Erfahrung steht, die er der Mitteilung für wert erachtet 43 . Für sie gilt vielmehr weitgehend ein Satz aus den Blättern für die Kunst: „In der dichtung — wie in aller kunst-betätigung ist jeder der noch von der sucht ergriffen ist etwas ,sagenc etwas ,wirken' zu wollen nicht einmal wert in den vorhof der kunst einzutreten 4 4 ." Auch für Hofmannsthal ist die Mitteilung etwas Sekundäres und die Form Anreiz und Ziel der Dichtung. Allerdings, und das unterscheidet ihn von den Tendenzen des Blätter für die Kunst-Kreises, ist es immer eine bestimmte, bereits einmal realisierte, historisch gewordene Form, die ihn anregt und die es zu erfüllen gilt. So äußert er sich zu Leopold Andrian, der ihm daraus anscheinend einen Vorwurf gemacht hatte: „Aber wenn Du mich wieder heißen wolltest, diesen Gehalt direkt zu geben, so ginge für mich aller Anreiz zu dieser Arbeit verloren, — der starke Reiz für mich ist, vergangene Zeiten nicht ganz tot sein zu lassen, oder Fernes, Fremdes als nah verwandt spüren zu machen 4 5 ." Kompliziert wird die Situation dadurch, daß es selten so einfach wie in den angeführten Beispielen ist, die literarische Maske als solche zu identifizieren und so von einer persönlichen Aussage zu unterscheiden. Den einen Grund dafür fanden wir in Hofmannsthals ,Stilverdrehungsmanie'; ein anderer liegt darin, daß die Vorbilder, die Hofmannsthal in seinen frühen Produktionen als Vorbild dienten, oft schon selber nicht mehr über einen eigenen Ton verfügten, sondern in ihren Dichtungen gewollt oder ungewollt einen bereits bestehenden Stil nachahmten oder parodierten. Solcher Art ist der Einfluß Heines auf den jungen Hofmannsthal gewesen. Seiner Lektüre verdankt er nicht nur die Vermittlung bewährter romantischer Requisiten und Situationen in zahlreichen seiner frühesten Gedichte, sondern Heine steht auch als Vorbild hinter Versen, die zu den berühmtesten Hofmansthals zählen und den „typisch" hofmannsthalschen Ton zu haben scheinen. Heines Atta Troll beginnt: „Rings umragt von dunklen Bergen, Die sich trotzig übergipfeln, Und von wilden Wasserstürzen Eingelullet, wie ein Traumbild, Liegt im Tal das elegante Cauterets. Die weißen Häuschen Mit Baikonen; schöne Damen Stehn darauf und lachen herzlich. 43

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Vergl. Hilde Cohn, Loris — Die frühen Essays des jungen Hofmannsthal, PMLA Dec. 1948, S. 1294 ff. Bl. f. d. K., II. Folge, 4. Bd. — Zitiert nach: Stefan George, J age und Taten, Berlin 1925, S. 85. B II, S. 100.

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Literatur Herzlich lachend schaun sie nieder Auf den wimmelnd bunten Marktplatz, Wo da tanzen Bär und Bärin Bei des Dudelsackes Klängen. Atta Troll und seine Gattin, Die geheißen schwarze Mumma, Sind die Tänzer, und es jubeln Vor Bewundrung die Baskesen 46 ."

Das ist nicht nur im Versmaß, sondern bis in die T o n - N u a n c e hinein der Stil des Prologs zu dem Buch „Anatol" (1892). Hofmannsthal hat auch später den trochäischen Vierheber mit Meisterschaft gehandhabt, so in Der Kaiser und die Hexe. Ein Vergleich zeigt aber deutlich, wie sehr die Verse aus dem Prolog den Geist Heines atmen, während die Sprache in Kaiser und Hexe auf ein anderes stilistisches Vorbild hin konzipiert ist: Sie ist der Ahnfrau Grillparzers bis in die Sprachgebärde hinein nachgebildet. So heißt es in der Ahnfrau: „Ha, gethan! — Hab' ich's gethan? Kann die That die Schuld beweisen, Muß der Thäter Mörder sein? Weil die Hand, das blut'ge Eisen, Ist drum das Verbrechen mein? Ja, ich that's, fürwahr! ich that's! Aber zwischen Stoß und Wunde, Zwischen Mord und seinem Dolch, Zwischen Handlung und Erfolg Dehnt sich eine weite Kluft 4 7 . . I m Munde Jaromirs wie in dem des Kaisers Porphyrogenitus füllen die Trodiäen sich mit sonorem Klang, sie sind das metrische Äquivalent ihres zwar leidenschaftlich bewegten, aber edlen Wesens. Stoßartig treiben die Verse sich mit gleichen Einsätzen, Wiederaufnahmen und Wiederholungen vorwärts und schaffen so eine Bewegung, die nach einer Lösung der aufgestauten Spannung v e r l a n g t 4 8 : „Ist sie fort, für immer f o r t ? . . . Und die Sonne doch noch da? . . . Zwar nicht Tag, nicht schöner Tag, Vielmehr Nacht mit einer Sonne. Und idi tat es wirklich, tat es? Unsre Taten sind die Kinder Eines Rauchs 49 . . 46

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Heinrich Heine, Sämtliche Werke, hsg. von Hans Kaufmann, München 1964, Bd. II, S. 71. Die Ahnfrau, 5. Aufzug. Vergl. Walter Naumann, Grillparzer, Das diditerische Werk, Urban-Bücher Bd. 17, Stuttgart o. J., S. 7. GLD, S. 280.

Literatur

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In den Versen des Prologs hingegen wie in denen des Atta Troll wird die Widerstrebigkeit, die den trochäischen Vierhebern im Deutschen anhaftet, nicht in Bewegung umgesetzt, sondern vielmehr noch betont und gleichzeitig nachlässig überspielt. In dieser Mischung von gewollter Naivität und kosmopolitischer Eleganz entsteht jener Parlando-Ton, in den sich „Böser Dinge hübsche Formel, Glatte Worte, bunte Bilder" 5 0 so widerstandslos einfügen lassen. Ähnlich verhält es sich mit dem Einfluß Lenaus, den Hofmannsthal nach eigenem Zeugnis „mit 15, 16 leidenschaftlich gelesen hatte 5 !". Ihm huldigt er noch auf versteckte Weise, wenn er wie Lenau in der Ausgabe seiner Gedichte eine Gruppe unter dem Titel Gestalten zusammenfaßt. Selten aber ist dieser Einfluß so deutlich wie in den Anfangsversen von Der Tor und der Tod, in denen Lenaus allegorischer Traum Glauben. Wissen. Handeln, in Sprache und Situation des Sprechenden nachklingt: „Schon ist der Berge Purpurglut verglommen Und zitternd flieht des Tages letzter Strahl Der Nacht schon aus dem Wege. Sei willkommen, O Dunkelheit, im ernsten Eichental. — Hier zünd ich nachts mein Herz zum hellen Feuer Des Schmerzes an und starre stumm hinein; Und schwillt die Flamme, wird sie ungeheuer, Ich steh dabei und starre stumm hinein. Gelockt vom Scheine, schwirren dann in Scharen, Wie Mücken auf der Lüfte lauer Flut, Erinnerungen her aus fernen Jahren U n d werfen dürre Reiser in die Glut. Sie singen mir, ums Feuer dicht gekauert, Viel längst verklungne Melodien vor, Wie einst gejubelt ich und wie getrauert, U n d wie der Seele Frieden ich v e r l o r 5 2 . .

Wahrscheinlich bezieht sich auch eine Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1891: „Ein paar Szenen des I. Aktes von Anna53" auf den Versuch einer Dramatisierung eines Stoffes, den Lenau in seinem Versepos Anna gegeben hat. Er weist überraschende Ähnlichkeit mit der Trau ohne Schatten auf: Nicht nur der Kern der Handlung — eine junge Frau versucht, die eigene Schönheit vor dem Vergehen zu bewahren, indem sie ihre ungeborenen Kinder um den Preis ihres Schattens dahingibt — ist gleich, sondern die Ähnlichkeit erstreckt sich bis in die Nebenzüge; es sind sieben Ungeborene, die vor der Mutter klagen, die Versuchung tritt in der Gestalt eines alten Weibes an sie heran, der Geliebte wird 50 61 52 53

GLD, S. 44. Robert Boehringer, Mein Bild von Stefan George, München 1951, S. 210. Lenaus Werke, hsg. von Carl August von Bloedau, Berlin o. J., S. 50 f. A, S. 89 3

Hoppe, Hofmann sthal

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Literatur

wie der Kaiser des Märchens mit dem Jägerhandwerk in Beziehung gesetzt. Aber solche Hinweise auf Anklänge oder Motivübernahmen bestätigen wohl einen Einfluß, erklären ihn aber nicht. Das „leidenschaftliche" Interesse, das der junge Hofmannsthal an der Dichtung Lenaus nahm (wie schon vorher C. F. Meyer) und das uns heute kaum noch verständlich ist, entzündete sich wahrscheinlich an der Wesensverwandtschaft, die Hofmannsthals eigene frühe Dichtung mit der Lenaus verbindet. Wie der Dichter der Schilf- und Waldlieder neigt er dazu, Naturstimmungen und eigene Stimmungszustände aufeinander zu beziehen. Ein Gedicht Lenaus wie Herbstgefühl macht dies deutlich: „Der Buchenwald ist herbstlich schon gerötet, So wie ein Kranker, der sich neigt zum Sterben, Wenn flüchtig noch sich seine Wangen färben, Doch Rosen sind's, wobei kein Lied mehr flötet. Das Das Wie Den

Bächlein zieht und rieselt, kaum zu hören, Tal hinab, und seine Wellen gleiten, durch das Sterbgemach die Freunde schreiten, letzten Traum des Lebens nicht zu stören.

Ein trüber Wandrer findet hier Genossen, Es ist Natur, der audi die Freuden schwanden, Mit seiner ganzen Schwermut einverstanden, E r ist in ihre Klagen eingeschlossen 54 ."

Der herbstliche Wald ist wie ein Kranker, der Bach geht wie die Freunde durchs Sterbezimmer, die Natur ist schwermütig wie der Wandrer: Dieses ständige So-Wie, das Bestreben, Korrespondenzen herzustellen, sei es zwischen Natur und Mensdi, sei es wie in den Versepen (Savonarola, Die Albigenser) zwischen Vergangenheit und Gegenwart, mußte Hofmannsthal anziehen, denn auch er „liebte die Vergleiche" 55 . So berichtet Rudolf Kassner: „Wie ihn auch seine sehr früh, im Knabenalter begonnene, das ganze Leben anhaltende Beschäftigung mit Geschichte, das dauernd wache Interesse dafür, für mein Gefühl viel zu schnell zu Analogien mit gegenwärtigen Lagen, Zuständen, Verhältnissen verführte. Die Vergleiche waren dann gleich bei der Hand. So etwa: Ich verbringe jeden Sommer durch alle Jahre einige Wochen in Lautschin. Was ist daran Wunderliches?! Ihm aber fiel da gleich Grimm bei Madame d'Epinay ein. Ich vermöchte es gar nicht an der Hand aufzuzählen, was mir alles bei Betrachtung meiner Lage und Umstände früher eingefallen wäre als Grimm 5 6 ." 54 65 s