Philosophie und Mystik – Theorie oder Lebensform? 9783495820476, 9783495490556


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Inhalt
Vorwort
Rolf Darge: Theorie als Lebensform. Pierre Hadots Sicht der Philosophie als spirituelle Übung
I. Antike Philosophie als spirituelle Übung
II. Untergang und Wiederbelebung der Philosophie als spiritueller Übung
III. Der Wandel des Selbstverständnisses der Philosophie an der mittelalterlichen Universität
IV. Boethius von Dacien und das Ideal der Philosophie als Lebensform
V. Schluss
Philosophie: theoretische Wissenschaft oder kontemplative Lebensform?
Wolfgang Speyer: Die Einheit von theoretischem Denken und kontemplativer Lebensform in der griechischen Frühzeit
1. Einleitung: Von der Einheit des menschlichen Bewusstseins ›im Anfang‹
2. Zum Wandel in der myth-historischen und der frühen geschichtlichen Zeit der griechischen Kultur
3. Zur Einheit von Theorie und Praxis bei den ›Sieben Weisen‹ und den frühen religiösen Philosophen
4. Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie
Paul D. Hellmeier OP: Der »Lesemeister« als »Lebemeister«. Spekulation und Praxis bei Meister Eckhart
Zur Einführung: Spekulation und Praxis im Spiegel von Meister Eckharts Leben und Werkgestalt
1. Einteilung der Wissenschaften
2. Aufhebung der Spekulation und Aufhebung der Reflexion auf Praxis
3. Erprobung von Meister Eckharts mystischer Lebenslehre anhand der Themen Ataraxie und Freundschaft
Johannes Herzgsell SJ: Meditative Exerzitien am Beginn der Neuzeit
Einleitung
Die Absicht und das Ziel der »Meditationen« Descartes’ und der »Geistlichen Übungen« des Ignatius von Loyola
Die Struktur der »Meditationen« Descartes’ und der »Geistlichen Übungen« des Ignatius von Loyola
Die Erste Meditation
Die Zweite Meditation
Die Dritte Meditation
Die Vierte Meditation
Die Fünfte Meditation
Die Sechste Meditation
Schlussbemerkung
Literatur
Lioba Fau OSB: Berkeleys Immaterialismus als philosophische Lebensform – ein Selbstversuch
1. Motivation
2. Wie man lesen kann
3. Wissenschaft und Gottes Gegenwart
3.1 Ohne Materie auskommen
3.2 Gottes Herrlichkeit sehen
3.3 Im Buch der Natur lesen
4. Den Glauben an Gottes Gegenwart einüben
5. Glücklich werden
Literaturhinweise
Abt Johannes Schaber OSB: Die Philosophie als Lebensform im Kontext antiker Anthropotechnik und monastischer Theologie nach Jean Leclercq, Pierre Hadot und Peter Sloterdijk
I. Der antike Ausgangspunkt: Philosophie als Liebe zur Weisheit und als Diskurs (Pierre Hadot)
II. Von der antiken Philosophie als gelebter Weisheit im Mönchtum zur kritischen Wissenschaft der Scholastik an den Universitäten im Mittelalter (Jean Leclercq)
III. Pierre Hadots These von der Verschiebung der philosophischen Praxis zur wissenschaftlichen Theorie im mittelalterlichen Christentum
IV. Peter Sloterdijk: Das Phänomen des bios theoretikós bzw. des epoché-fähigen Menschen
V. Peter Sloterdijk: Die Philosophie als Anthropotechnik
VI. Die Philosophie als Lebensform im Kontext antiker Anthropotechnik und monastischer Theologie
Peter Sloterdijk: Von der Anthropotechnik zurück zur monastischen Theologie
Theologia mystica: Erfahrung oder Theorie?
Christian Schäfer: Cognitio experimentalis
1. Die Affekttheorie in den Schriften Anselms
2. Der Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Affekt im Proslogion
3. Fazit: Affekt und Methode
Literatur:
Isabelle Mandrella: Die Mystikerinnen des Mittelalters. Philosophierende Frauen zwischen Intellekt und Affekt
I.
II.
III.
IV.
V.
William J. Hoye: Was bedeutet »erkenntnisloser Aufstieg«?
Der Brief der Benediktiner am Tegernsee
Die vorläufige Antwort des Cusanus
Geläufige Deutungen der mystischen Theologie im 15. Jahrhundert
Die Auslegung der Glaubensautorität Pseudo-Dionysius Areopagita
Der wichtigste Gegner: Bonaventura
Der zweite, endgültige Brief
Johann Kreuzer: Transzendentaler Abgrund
Martin Thurner: Pathos und Mathesis.
Einleitung: »Erfahrung« ist das Zauberwort
1. Dionysius Areopagita: Der Logos am Ursprung der Mystik
1.1 Mathesis: Theoretisches Erkennen als Setzung von Differenz
1.2 Pathos: Affektives Erleben als überwältigende Einswerdung
1.3 Göttliches im Neutrum Plural
2. Mathesis und Pathos als Spannungseinheit?
2.1 Pathos als Ursprung des Denkens
2.2 Denken als notwendige Form des Pathos
2.3 Die dionysische Gegenprobe
Fazit: Mystische Theologie ist Philosophie beim Wort genommen
Autorenverzeichnis
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Philosophie und Mystik – Theorie oder Lebensform?
 9783495820476, 9783495490556

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Johannes Schaber Martin Thurner (Hg.)

Philosophie und Mystik – Theorie oder Lebensform?

B

https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

Johannes Schaber Martin Thurner (Hg.) Philosophie und Mystik – Theorie oder Lebensform?

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

Johannes Schaber Martin Thurner (Hg.)

Philosophie und Mystik – Theorie oder Lebensform?

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

Johannes Schaber / Martin Thurner (Eds.) Philosophy and Mysticism – Theory or a Way of Life? In his book »Philosophy as a Way of Life« Pierre Hadot (1922 – 2010) argues that until the beginnings of high medieval scholasticism philosophy does not aim to be a precise science with a claim to systematic coherence and objectivity. Rather, philosophy used to aim for a psychological-pedagogic influence on our way of life: »The philosophy of the Hellenistic and Roman epochs presents itself as a way of life, an art of living and a way of being.« Its task was to transform the human being intending to help him to achieve happiness. The early Christendom as well as medieval monasticism was built on that foundation and understood spiritual life as philosophia. Through the praxis of spiritual exercises in Christ philosophia abandons the old human being and brings about the new human being (cf. Eph. 4,22–24). In mysticism, which is explicitly the content and focus of thinking since Dionysius the Areopagite (ca. 500 AD), the tension between theory and praxis accelerates. By definition mysticism is an awe-inspiring experience that involves all affects. But exactly this experience is the content of rational reflection already in pre-Christian Greek philosophy. That is why the notion of a theologia mystica oscillates between immediate experience and systematic theory.

The Editors: Johannes Schaber OSB is the Abbot of the Benedictine Abby St Alexander and Theodore in Ottobeuren. Prof Dr Martin Thurner teaches at the Martin-Grabmann-Research Institute of Medieval Theology and Philosophy at the Catholic-Theological Faculty of the University of Munich.

https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

Johannes Schaber / Martin Thurner (Hg.) Philosophie und Mystik – Theorie oder Lebensform? In seinem Werk »Philosophie als Lebensform« vertritt Pierre Hadot (1922–2010) die These, dass die Philosophie bis zu Beginn der hochmittelalterlichen Scholastik nicht primär Wissenschaft mit Anspruch auf systematische Stimmigkeit und Objektivität sei, sondern auf einen psychologisch-pädagogischen Effekt für die Lebenspraxis abziele: »Die Philosophie der hellenistischen und römischen Epoche stellt sich als eine Lebensweise, eine Lebenskunst und eine Seinsweise dar.« Es geht darum, das Sein des Menschen zu verwandeln und ihm zum Glück zu verhelfen. Das frühe Christentum sowie das mittelalterliche Mönchtum knüpften daran an und verstanden das spirituelle Leben als philosophia, die durch die Praxis geistiger Übungen in Christus den alten Menschen ablegt und den neuen anzieht (vgl. Eph 4,22–24). In der Mystik, die seit Dionysius Areopagita (ca. 500 n. Chr.) zu einem expliziten Inhalt des Denkens wird, spitzt sich dieses Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis zu. Per definitionem ist Mystik eine überwältigende Erfahrung, die alle Affekte involviert. Aber genau diese Erfahrung wird schon in der vorchristlichen griechischen Philosophie zum Inhalt einer rationalen Reflexion. Dementsprechend oszilliert der Begriff einer theologia mystica zwischen unmittelbarem Erleben und systematischer Theorie.

Die Herausgeber: Johannes Schaber OSB ist Abt der Benediktinerabtei St. Alexander und Theodor in Ottobeuren. Prof. Dr. Martin Thurner lehrt am Martin-Grabmann-Forschungsinstitut für Mittelalterliche Theologie und Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München.

https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

Gefördert durch die Pfarrer-Elz-Stiftung der KatholischTheologischen Fakultät der Universität München und die Salzburger Äbtekonferenz.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Wasserspeicher, Alcázar, Sevilla © Verlag Karl Alber Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49055-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82047-6

https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Theorie als Lebensform. Pierre Hadots Sicht der Philosophie als spirituelle Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Darge

11

Philosophie: theoretische Wissenschaft oder kontemplative Lebensform? Die Einheit von theoretischem Denken und kontemplativer Lebensform in der griechischen Frühzeit . . . . . . . . . . . . Wolfgang Speyer

39

Der »Lesemeister« als »Lebemeister«. Spekulation und Praxis bei Meister Eckhart Paul D. Hellmeier OP

57

. . . . . . . . . .

Meditative Exerzitien am Beginn der Neuzeit. Cartesische Philosophie und ignatianische Spiritualität im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Herzgsell SJ Berkeleys Immaterialismus als philosophische Lebensform – ein Selbstversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lioba Fau OSB

81

103

7 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

Inhalt

Die Philosophie als Lebensform im Kontext antiker Anthropotechnik und monastischer Theologie nach Jean Leclercq, Pierre Hadot und Peter Sloterdijk . . . . . . . . Abt Johannes Schaber OSB Von der Anthropotechnik zurück zur monastischen Theologie . Peter Sloterdijk

121

147

Theologia mystica: Erfahrung oder Theorie? Cognitio experimentalis. Affekt und Rationalität bei Anselm von Canterbury Christian Schäfer

. . . . . . 155

Die Mystikerinnen des Mittelalters. Philosophierende Frauen zwischen Intellekt und Affekt . . . . . Isabelle Mandrella Was bedeutet »erkenntnisloser Aufstieg«? Nikolaus von Kues zu den Fragen der Mönche von Tegernsee William J. Hoye

175

. 193

Transzendentaler Abgrund: Mystikbegeisterung und Mystikkritik in der Philosophie des Deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johann Kreuzer

215

Pathos und Mathesis: Mystische Theologie als Form ursprünglichen Philosophierens . Martin Thurner

232

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

8 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

Vorwort

In seinem Werk »Philosophie als Lebensform« vertritt Pierre Hadot (1922–2010) die These, dass die Philosophie bis zu Beginn der hochmittelalterlichen Scholastik nicht primär Wissenschaft mit Anspruch auf systematische Stimmigkeit und Objektivität sei, sondern auf einen psychologisch-pädagogischen Effekt für die Lebenspraxis abziele: »Die Philosophie der hellenistischen und römischen Epoche stellt sich als eine Lebensweise, eine Lebenskunst und eine Seinsweise dar.« Es geht darum, das Sein des Menschen zu verwandeln und ihm zum Glück zu verhelfen. Das frühe Christentum sowie das mittelalterliche Mönchtum knüpften daran an und verstanden das spirituelle Leben als philosophia, die durch die Praxis geistiger Übungen in Christus den alten Menschen ablegt und den neuen anzieht (vgl. Eph 4,22–24). In der Mystik, die seit Dionysius Areopagita (ca. 500 n. Chr.) zu einem expliziten Inhalt des Denkens wird, spitzt sich dieses Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis zu. Per definitionem ist Mystik eine überwältigende Erfahrung, die alle Affekte involviert. Aber genau diese Erfahrung wird schon in der vorchristlichen griechischen Philosophie zum Inhalt einer rationalen Reflexion. Dementsprechend oszilliert der Begriff einer theologia mystica zwischen unmittelbarem Erleben und systematischer Theorie. Wenn Philosophie ihrem Begriff und ihrer Genese nach Lebensweise und Wahrheitserkenntnis verbindet, so stellt sich die Frage nach der systematischen Begründung und den konkreten (historischen) Ausprägungen dieses Selbstverständnisses. Den damit zusammenhängenden Themenstellungen widmeten sich zwei Tagungen, die von der »Sectio philosophica« der »Bayerischen Benediktinerakademie« und dem »Martin-Grabmann-Forschungsinstitut für Mittelalterliche Theologie und Philosophie« der Universität München veranstaltet wurden (in der Benediktinerinnenabtei Venio, München, 10.–11. 6. 2016 und 5.–6. 5. 2017).

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Vorwort

Allen, die am Zustandekommen der Tagungen und der Publikation mitgewirkt haben, sei gedankt, insbesondere den Schwestern der Abtei Venio und Äbtissin Prof. Dr. Carmen Tatschmurat für die großzügige Gastfreundschaft, Herrn Dominik Fröhlich M.A. (München) für die fachkundige Redaktion der Beiträge sowie Herrn Lukas Trabert und Frau Simone Markovic vom Verlag Karl Alber für die effiziente verlegerische Betreuung des Bandes – und nicht zuletzt der Pfarrer-Elz-Stiftung der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München und der Salzburger Äbtekonferenz für einen beträchtlichen finanziellen Zuschuss zur Durchführung von Tagung und Drucklegung. Mögen die Beiträge des Buches zu einer Neubesinnung auf die Philosophie als Einheit von Leben und Erkenntnis anregen! München, im Oktober 2018 Abt Johannes Schaber OSB (Abtei Ottobeuren)

Martin Thurner (Universität München)

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Theorie als Lebensform Pierre Hadots Sicht der Philosophie als spirituelle Übung Rolf Darge

Das Glück bildet ein Kernthema der philosophischen Forschung; es wird gegenwärtig in unzähligen Studien nach neuesten Erkenntnissen der psychologischen, neuro-biologischen, genetischen und soziologischen Glücksforschung diskutiert. In der älteren europäischen Philosophie bildet es nicht nur ein Kernthema, sondern überhaupt den Mittelpunkt des philosophischen Interesses. »Vor der Kantischen Philosophie ist«, wie Hegel zutreffend feststellt, »das allgemeine Prinzip die Glückseligkeitslehre gewesen«. 1 Das philosophische Anliegen geht dabei jedoch über den rationalen Diskurs und die darin zu gewinnende Einsicht in das Wesen und die Bedingungen des Glücks hinaus; es gilt in erster Linie der Philosophie selbst als einer Lebensweise, in der der Mensch sein Glück erlangt. Dieser Zug der älteren und insbesondere der antiken griechischen und römischen Philosophie ist neuerdings von dem großen französischen Gelehrten und Philosophen Pierre Hadot in Erinnerung gerufen und dem rein wissenschaftlich ausgerichteten Philosophiekonzept späterer Zeiten gegenübergestellt worden. 2 Pierre G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Sämtliche Werke, ed. H. Glockner XVIII, Stuttgart 1965, 147; Bd. 3, ed. H. Glockner XIX, 556 u. 590. 2 Cf. vor allem: P. Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991; Ders., Qu’est-ce que la philosophie antique? Paris 1995 – in dt. Übersetzung: Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie? übers. von H. Pollmeier, Frankfurt a. M. 1999; Ders., La philosophie come manière de vivre. Entretiens avec J. Carlier et A. I. Davidson, Paris 2001; Ders., Exercices spirituels et philosophie antique, nouvelle éd. Paris 2002. Eine ähnliche Auffassung vertritt J. Domanski in Ders., La philosophie, théorie ou manière de vivre? Les controverses de l’Antiquité à la Renaissance, Fribourg 1996. Einen sehr guten Zugang zu Persönlichkeit und Denken Pierre Hadots bietet M. Goarzin in einer auf Youtube aubrufbaren Reihe von Gesprächen über Pierre Hadot mit Ph. Hoffmann, dem Schüler und Nachfolger Hadots auf dessen Lehrstuhl an der École Pratique des Hautes Etudes in Paris [die Folge beginnt mit: www.youtube.com/watch?v=zxSfN7Y4q0M]. 1

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Rolf Darge

Hadot, der im April 2010 im Alter von 88 Jahren verstorben ist, lehrte von 1964 bis 1985 an der Pariser École Pratique des Hautes Études (EPHE); sein Forschungsfeld bildete hier zunächst die lateinische Patristik mit Schwerpunkten bei Ambrosius und Augustinus; 1971 richtete er seinen Lehrstuhl neu aus auf »Theologie und Mystik des hellenistischen Griechenland und der Spätantike«. 1982 wurde er auf den Lehrstuhl für Geschichte des hellenistischen und römischen Denkens am Collège de France, der angesehensten akademischen Institution Frankreichs, berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1991 forschte und lehrte. Seine international hochgeschätzten Forschungen münden in die Forderung, das antike Ideal der Philosophie als Lebensform in der Gegenwart wiederzubeleben: »Müsste man nicht dringend den antiken Begriff des ›Philosophen‹ wiederentdecken, jenes Philosophen, der lebt und wählt, und ohne den der Begriff der Philosophie keinen Sinn hätte? Könnte man den Philosophen nicht – gemäß der Vorstellung, die in der Antike durchgängig vorhanden war – als einen Menschen definieren, der ein philosophisches Leben führt, statt als einen Professor oder einen Schriftsteller, der einen philosophischen Diskurs entwickelt?« 3 Das Anliegen, zu zeigen, dass Philosophie vor allem in einer bewusst gewählten Lebensweise besteht, treibt Hadot schon früh um. Es erwächst aus einer Spannung, die er als junger Seminarist im Priesterseminar von Reims erlebt – sein streng katholisch geprägter Bildungsweg führte ihn, wie seine beiden Brüder, zur Priesterweihe (1944), nahm später aber eine Wende: 1952 gab Hadot das Priesteramt auf und trat aus der Kirche aus. Im Priesterseminar – wo Hadot auch eine gründliche Ausbildung in den alten Sprachen erhält, die sein Interesse an der Antike weckt – begegnet ihm Philosophie in Gestalt der modernen Scholastik, die das Denken des Thomas von Aquin wiederzubeleben und als geschlossenes intellektuelles System darzustellen sucht; zugleich wird Philosophie außerhalb des Seminars, wie Hadot auch wahrnimmt, von den Vertretern der französischen Lebensphilosophie (Henri Bergson) und des französischen Existentialismus (Albert Camus, Jean-Paul Sartre) als Existenzform praktiziert. 4 Vom intellektualistischen Philosophiekonzept des Neuthomismus trennt ihn die Erfahrung, dass Lebensentscheidungen eher P. Hadot, Wege zur Weisheit [s. Anm. 2], 315. Siehe dazu P. Hadot, La philosophie comme manière de vivre [s. Anm. 2], bes. 29– 49.

3 4

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Theorie als Lebensform

nicht in der logischen Konsequenz eines systematischen Diskurses getroffen werden, sondern diesem vielmehr voraus- und zugrunde liegen; vom nicht-christlichen Existentialismus, dessen Grundeinstellung gegenüber dem Wirklichen durch »Ekel (la nausée)« oder den Gedanken der Sinnlosigkeit geprägt ist, trennt ihn die eigene existentielle Grundhaltung gegenüber dem Wirklichen: Staunen und Bewunderung. Aus der Erfahrung dieser Spannung erwächst seine Grundintuition: der rationale philosophische Diskurs beruht auf einer existentiellen Wahl (choix de vie) und expliziert diese. Diese Einsicht sucht Hadot nun zu vertiefen und zu vermitteln; unter dieser Zielsetzung wird er in den 50er Jahren der erste Übersetzer und Kommentator Ludwig Wittgensteins in französischer Sprache. Systematisch arbeitet er seine These dann aber vor allem im Hinblick auf neuplatonische und stoische Philosophen der griechischen und römischen Spätantike heraus, die den Zusammenhang zwischen existentieller Wahl und rationalem Diskurs ausdrücklich thematisieren und den Charakter der Philosophie als »spirituelle Übung« (exercice spirituel) nachdrücklich zur Geltung bringen. Das Adjektiv ›spirituell‹ zeigt dabei – im Unterschied zu den Adjektiven ›intellektuell‹ und ›rational‹, die eine rein mentale Qualität ausdrücken – einen ganzheitlichen und lebensorientierenden Charakter an; eine Übung ist in diesem Sinne ›spirituell‹, wenn sie den Menschen als leiblich-seelische Einheit betrifft und seinen Lebensvollzug nicht nur im Hinblick auf Gegenstände der theoretischen Betrachtung, sondern auch und vor allem im Bereich des praktischen Überlegens, Entscheidens und Handelns ausrichtet – und zwar auf ein durch und in dieser Tätigkeit zu erreichendes letztes Ziel. 5 Seine Veröffentlichungen befassen sich zunächst mit dem spätantiken römischen Plotin- und Porphyrius-Übersetzer Marius Victorinus, dann auch direkt mit Plotin und Porphyrios – schließlich mit Ambrosius und mit 5 Der Wahl des Ausdrucks ›spirituel‹ liegt Hadots Auffassung zugrunde, dass zwischen den lebensorientierenden Übungen der antiken Philosophenschulen und den christlichen Exerzitien in den Klöstern Kontinuität und ein innerer Zusammenhang besteht. Dabei drückt aber ›spirituel‹ nicht explizit eine religiöse Orientierung aus. Die Übersetzung mit ›geistlich‹, das im Deutschen eine religiöse Konnotation hat, erscheint daher nicht passend. Deshalb wird Hadots Ausdruck ›exercice spirituel‹ im Deutschen regelmäßig mit ›geistige Übung‹ wiedergegeben (vgl. etwa H. Pollmeier: Pierre Hadot, Wege zur Weisheit [s. Anm. 2], 209 ff.: »Die geistigen Übungen«). Diese Übertragung erscheint jedoch auch nicht recht angemessen, da sie die durch ›spirituel‹ markierte Differenz zu einer Übung, die allein auf intellektuelle oder diskursiv-rationale Kompetenzen zielt, nicht zum Ausdruck bringt.

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Rolf Darge

der stoischen Philosophie, insbesondere Marc Aurel; nicht unerheblich wird seine Forschungsperspektive dabei durch die Studien Ilsetraut Martens zur antiken Tradition der geistlichen Leitung geprägt; die deutsche Philosophiehistorikerin begegnet Hadot erstmals Anfang der 60er Jahr auf einem Kongress zur mittelalterlichen Philosophie in Köln und wird 1966 in Berlin seine (zweite) Frau. Die Erträge seiner Forschung erscheinen zusammengefasst in einem Buch, das ich hier zugrunde lege: Qu’est-ce que la philosophie antique? Paris 1995, in deutscher Übersetzung Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie? Berlin 1999. Das Thema der philosophischen Lebensform beschäftigt Hadot bis an sein Lebensende; noch im Alter von 86 Jahren veröffentlicht er eine Studie zu Goethe, die dessen Wirken unter dem Motiv der Daseinsfreude (joie d’être-là) deutet und in die Tradition der spirituellen Übungen einordnet. 6 Meine Darstellung geht im Folgenden in zwei Schritten vor: Zuerst werden Hadots historische Thesen zusammengefasst. In einem zweiten Schritt folgt dann eine kritische Würdigung, die sich auf drei Punkte bezieht: auf (1.) Hadots Erklärung der Auflösung des antiken Philosophieideals – (2.) sein Verständnis mittelalterlicher Denker, die das antike Philosophieideal wieder aufnehmen – und (3.) sein Anliegen, Philosophie in der Gegenwart als Lebensform neu zu beleben.

I.

Antike Philosophie als spirituelle Übung

Hadots Forschungen lassen sich in ihrem historischen Teil auf zwei allgemeine Thesen zurückführen. Die eine besagt, dass die Philosophie in der Antike vor allem eine existentielle Dimension hat. Sie bildet hier weniger ein Denksystem als vor allem eine Lebensform. Diese schließt zwar auch einen philosophischen Diskurs ein, aber nur an zweiter Stelle. Sie konstituiert sich in erster Linie durch eine existentielle Wahl, eine Entscheidung für eine bestimmte Lebensweise in einer philosophischen Schule mit gemeinsamen spirituellen Übungen, die das ganze Leben der Schulmitglieder prägen. Zu diesen tritt der Diskurs als ein ergänzendes irreduzibles Moment hinzu. Er rechtfertigt die gewählte Lebensform, indem er ihre weltanschaulichen Implikationen entfaltet und erklärt. Demnach hat die praktische VerP. Hadot, N’oublie pas de vivre. Goethe et la tradition des exercices spirituels, Paris 2006.

6

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Theorie als Lebensform

nunft den Primat gegenüber der theoretischen. 7 Die philosophische Schule ist ein Ort, an dem man in Gemeinschaft Weisheit, Bildung im umfassenden Sinne sucht – eine Transformation des ganzen inneren Menschen, und zwar um ein besseres Leben zu führen – sei dieses ein kontemplatives, das bis hin zur mystischen Vereinigung mit dem Göttlichen führt, oder sei dies ein aktiv-politisches, das sich der Mitgestaltung des Staats widmet. In der hellenistischen Epoche – also vom Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. bis zum Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. – entstehen und bestehen in Athen: Die Platonische Akademie, das Aristotelische Lykeion, der Epikureische Garten, die von Zenon gegründete Stoa. Diese Schulen bleiben fast drei Jahrhunderte lebendig. Später entstehen weitere Schulen u. a. in Alexandrien (Ammonios Saccas), Rom (Plotin) und Syrien (Jamblichos). 8 In allen diesen Schulen sind Askesepraktiken institutionalisiert (askêsis: Übung) 9, die der üblichen Praxis der Körperkultur in den Gymnasien entsprechen: Wie der Athlet seinem Körper durch Training eine optimale Gestalt, Kraft, Gewandtheit und Schnelligkeit verleiht, entwickelt der Philosoph durch spirituelle Übungen seine Seelenstärke, intellektuelle und sittliche Bestform, Vortrefflichkeit oder »Tugend«. In beiden Fällen ist das Ziel der Übungen der autarke, freie und starke Mensch – im philosophischen Kontext die Gestalt des Weisen. Diese wird von den verschiedenen Schulen bei allen Unterschieden durchaus ähnlich vorgestellt. Dementsprechend besteht auch zwischen den Übungen der verschiedenen Schulen eine gewisse Ähnlichkeit. Sie lassen sich letztlich auf zwei entgegengesetzte und einander ergänzende Bewegungen zurückführen. 10 Die eine besteht in einer Konzentration, in der sich das Ich aus seinen vielfältigen und wechselnden Engagements in der sinnlichen Sphäre und aus seinen Bindungen an die äußeren Dinge, darunter auch an den Körper, zurücknimmt und sich auf sich selbst zurückzieht. Die andere in einer Erweiterung, in der das Ich seinen individuellen und subjektiven Standpunkt überwindet und eine universale, kosmische Perspektive einnimmt – idealerweise dadurch, dass es sich mit dem göttlichen Intellekt oder dem göttlichen Logos, der den ganzen Kosmos durchherrscht, vereint. Vgl. P. Hadot, Wege zur Weisheit [s. Anm. 2], bes. 16–21. Vgl. ebd. Kap. V-VIII, 75–200. 9 Vgl. ebd. Kap. IX, 201–270. 10 Vgl. ebd. 221–255. 7 8

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Rolf Darge

Bei der ersten Bewegung spielen zwei Übungen eine zentrale Rolle: Die eine besteht in der bewussten Hinkehr zum eigenen Tod. Bereits Platon bestimmt im Phaidon die Philosophie als Übung im Sterben; der Philosoph übt das Sterben – d. h. die Trennung von Seele und Leib –, indem er sich im Zuge seiner Bemühung, sich zum reinen Denken der wahren, unveränderlichen Wirklichkeit – der Ideen – zu erheben, von der Anhänglichkeit an sinnliche Wahrnehmungen und aus seiner Befangenheit (»Gefangenschaft«) in subjektiven Vorstellungen und selbstbezogenen Leidenschaften und Interessen freimacht. 11 Die andere Übung schließt daran an. Sie besteht in der radikalen Konzentration auf den gegenwärtigen Moment und (damit) der Trennung von unvernünftigen Leidenschaften, die mit dem Gedanken an Vergangenes (das nicht zu ändern ist) oder Zukünftiges (sofern es unserer Gestaltung entzogen ist) verbunden sind: vergeblichem Bedauern, sinnlosem Fürchten oder Hoffen. Die Übungen führen zu einer beständigen Haltung der Aufmerksamkeit auf sich selbst (prosoche) und Wachsamkeit. Dazu gehört auch die regelmäßige Selbstprüfung, in der sich die Seele über ihre Fehler auf dem Weg zur Weisheit Rechenschaft gibt und je nach Bedarf neue Vorsätze fasst. Die Tradition der christlichen Spiritualität übernimmt die Übungen aus den antiken Philosophenschulen und führt sie im Sinne des Lebens gemäß dem Mensch gewordenen göttlichen Logos weiter; die letztere Übung heißt nun »Gewissenserforschung«. Die zweite Bewegung – die Ausdehnung des Ich – erfolgt in Übungen, die darauf zielen, sich als einen winzigen Punkt mit kurzer Dauer im Ganzen des Seins zu erfassen, der jedoch zu Großem fähig ist – nämlich dazu, sich auf den gesamten Raum hin zu erweitern und in einer geistigen universalen Schau die Totalität der Wirklichkeit zu erfassen. Der Sicht auf das Ganze entspringt eine Haltung der Gelassenheit gegenüber den menschlichen Angelegenheiten, Distanz gegenüber den eigenen Affekten und menschlichen Konventionen, Objektivität gegenüber den Dingen. Die Sorgen und Ängste des täglichen Lebens, die Gier nach Luxus, Macht, gesellschaftlichem Status und politischer Ehre erscheinen in dieser Sicht, die in gewisser Weise die Übung im Sterben fortsetzt, lächerlich. 12 Obwohl sich der Diskurs prinzipiell unreduzierbar zum Leben verhält, kann er doch selbst auch – als Dialog mit dem anderen (vgl. 11 12

Vgl. Platon, Phaidon 64a-67e. Vgl. P. Hadot, Wege zur Weisheit [s. Anm. 2], 235–255.

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Theorie als Lebensform

Platons Dialoge) oder sich selbst, oder auch als sorgfältige, möglichst adäquate Auslegung eines autoritativen Textes innerhalb der Schule – eine Form der Übung in der philosophischen Lebensweise sein; als unmittelbarer Ausdruck einer existentiellen Entscheidung hat er immer auch direkt oder indirekt eine bildende, psychagogische und therapeutische Funktion. 13 Von den vier großen Schulrichtungen bleiben in der Spätantike – ab dem 3./4. Jahrhundert n. Chr. – nur zwei übrig, der Aristotelismus und der Neuplatonismus, der aristotelisches und platonisches Denken zusammenführt. Sie knüpfen an die alte, durch Platon vermittelte sokratische Tradition des Philosophierens an und pflegen ein durchaus elitäres Selbstverständnis: Das Leben des Geistes in der Schule ist auf das letzte Ziel der Vergöttlichung ausgerichtet; es vollendet sich in einer intellektuellen Schau (theôria), die auf den höchsten Gegenstand, den göttlichen Intellekt gerichtet ist und dessen innere Aktivität, die Selbstbetrachtung – »das Denken des Denkens« (Metaphysik XII, c. 9) mitvollzieht. Dabei wird – in beiden Schulrichtungen – angenommen, dass der Philosoph zu diesem Akt gelangt, indem der oder zumindest ein göttlicher Intellekt in ihm aktiv wirkt; denn Gleiches wird nur durch Gleiches erkannt. Das Leben des Philosophen ist dementsprechend darauf gerichtet, das eigene empirische Ich zu überwinden und zur Identität mit diesem Intellekt zu gelangen. Damit wird das wahre Ich erreicht – und höchstes Leben, nämlich reine intellektuelle Aktualität, das höchste dem Menschen mögliche Glück. Der aristotelische Weg wird in den neuplatonischen Schulen im Anschluss an Plotin, Pophyrius, Proklos noch überboten. Diesen zufolge mündet das philosophische Leben in einen letzten, schweigend vollzogenen mystischen Akt, in dem der Philosoph auch noch das reine Denken und seinen Gegenstand, den göttlichen Nous/Logos, der das Seiende (die Vielheit der Ideen) in sich fasst, transzendiert und sich mit dem überseienden Einen vereint (henôsis). 14

13 14

Vgl. ebd. 205. Vgl. ebd. 105–107, 191–200.

17 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

Rolf Darge

II.

Untergang und Wiederbelebung der Philosophie als spiritueller Übung

Das antike Verständnis der Philosophie als Lebensform gerät in der Neuzeit fast ganz in Vergessenheit. Forschung und Lehre konzentrieren sich nun darauf, philosophische Systeme zu analysieren, zu konstruieren oder zu rekonstruieren. Dabei wird nicht bestritten, dass der theoretische Diskurs praktische Konsequenzen bis hin zur existentiellen Entscheidung für ein bestimmtes Lebensziel und eine entsprechende Lebensweise haben kann. Aber diese Folgen werden nicht als wesentlich zugehörig zur Philosophie angesehen; die existentielle Wahl gilt nicht mehr als konstituierendes Moment des philosophischen Akts, sondern als eine Folge, die sich beiläufig zu ihm verhält. Wie ist dies zu erklären? Hadots zweite Hauptthese erklärt die Veränderung mit dem Aufstieg des Christentums und der Gründung von Universitäten. Seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. versteht sich das Christentum im Anschluss an Philons Logos-Deutung selbst als Philosophie im antiken Sinne – nämlich als eine Lebensform, die auf einer existentiellen Entscheidung oder Bekehrung zu einem Leben des Geistes beruht; das Leben des Geistes wird nun als ein Leben gemäß dem göttlichen Logos gedeutet, der in Christus Mensch geworden ist (vgl. den Prolog des Johannesevangeliums), also als ein Leben in der Nachfolge Christi. Seinem Selbstverständnis nach bringt das Christentum so das Projekt der antiken Philosophie zur Vollendung. Aus dieser übernimmt und integriert es nicht nur die Lehrinhalte, Lehrformen und Lehrstufen, sondern auch das Programm der spirituellen Übungen, die das Leben des Philosophen auszeichnen. »Christliche Philosophie« meint deshalb in der Spätantike und im frühen Mittelalter in erster Linie eine Lebensform, nämlich die des Mönchs. 15 Innerhalb des Christentums vollzieht sich dann aber im Zuge der Gründung von Universitäten eine Trennung zwischen Lebensweise und philosophischem Diskurs. An der mittelalterlichen Universität tritt die Philosophie in die Funktion eines bloßen Begriffsrahmens theologischer Erörterungen. Insoweit sie an der Artes-Fakultät instiVgl. ebd. 273–289; siehe dazu auch J. Leclerq, »Pour l’histoire de l’expression ›philosophie chrérienne‹«, in: Mélanges de science religieuse 9 (1952), 221–226; H. Schmidinger, Art. Philosophie, christliche; in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Darmstadt 1989, 886–898.

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tutionalisiert ist, findet sie sich auf die Auslegung autoritativer Texte – seit der Mitte des 13. Jh. auf die Kommentierung des inzwischen fast vollständig bekannten Corpus aristotelicum – reduziert; unter diesen Bedingungen verschließt sich der Zugang zum antiken Philosophieverständnis. 16 Es gibt jedoch Ausnahmen. Aus den aristotelischen Schriften entdecken Magistri der Pariser Artistenfakultät das antike Ideal wieder und eignen es sich an. Als Hauptzeugnis dieser Bewegung betrachtet Hadot die in ihrer Zeit verbreitete Schrift des Boethius von Dacien Über das höchste Gute oder über das Leben des Philosophen (De summo bono seu de vita philosophi). 17 Dabei geht er von deren vorherrschender Deutung in der philosophischen Mittelalterforschung aus. In dieser erregte der kleine, um 1270 verfasste Traktat bei seiner Auffindung durch Martin Grabmann vor etwa 90 Jahren großes Aufsehen. Er gilt heute als Manifest eines radikalen heterodoxen Aristotelismus und Intellektuellen-Aristokratismus, der das höchste Gut oder das Glück des Menschen im Anschluss an Aristoteles’ Lehre über die Eudaimonia der theoretischen Lebensform einfachhin in die Philosophie setzt. 18 Diese Deutung bestätigt im WeVgl. ebd. 291–299. De summo bono, Boethii Daci Opera VI, ii, Opuscula, ed. N. G. Green-Pedersen, Hauniae 1976, 369–377. 18 Cf. M. Grabmann, »Neu aufgefundene Werke des Siger von Brabant und Boethius von Dacien«, Sitzungsberichte der Bay. Akad. der Wiss., Philos.-philolog. und historische Klasse, Jg. 1924, 2. Abh., München 1924; bes. 32–34, 47 ff. – Ders., »Die Opuscula De summo bono sive de vita philosophi und De sompniis des Boethius von Dacien«, in: Ders., Mittelalterliches Geistesleben. Abhandlungen zur Geschichte der Scholastik und Mystik Bd. 2, München 1936, bes. 200 f.; – P. Mandonnet, »Note complémentaire sur Boèce de Dacie«, in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 22 (1933), 246–250; – G. Wieland, Ethica-Scientia practica. Die Anfänge der philosophischen Ethik im 13. Jahrhundert, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, neue Folge Bd. 21, Münster 1981, bes. 213–220; – L. Bianchi, »La felicità intellettuale come professione nella Parigi del Duecento«, in: Rivista di Filosofia 78 (1987), 181–199; – A. de Libera, »Faculté des arts ou Faculté de philosophie? Sur l’idee de philosophie et l’idéal philosophique au XIIIe siècle«, in: O. Weijers/L. Holtz (edd.), L’enseignement des disciplines à la Faculté des arts (Paris et Oxford, XIIIe–Xve siècles), Actes du colloque international Paris 18–20 mai 1995, Studia artistarum Bd. 4, Turnhout 1997, 429–444, bes. 438–444. – Zwar betonen F. Van Steenberghen (Ders., Die Philosophie im 13. Jahrhundert, ed. von M. Roesle, München 1977, 379 f., 385–387) und R. Hissete (Ders., Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277, Louvain 1977, 16–18) die Vereinbarkeit des boethianischen Philosophieideals mit dem christlichen Glauben – A. Celano vertritt sogar die Auffassung, dass das boethianische Glücksverständnis direkt dem beatitudo-Traktat der Summa theo16 17

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sentlichen die Lektüre des Bischofs von Paris Etienne Tempier, der im Jahre 1277 mit Blick auf Boethius von Dacien den Satz »Es gibt keine ausgezeichnetere Verfassung, als sich der Philosophie zu widmen« offiziell verurteilte. 19 Der verurteilte Satz findet sich nicht wörtlich bei Boethius, wohl aber finden sich in dessen Schrift Formulierungen, die einen ähnlichen Gedanken ausdrücken: »Wenn der Mensch in dieser Tätigkeit ist« – gemeint ist ein Leben des Geistes, das alle seelischen Kräfte der Tätigkeit des Intellekts unterordnet und sich schließlich zur intellektuellen Betrachtung des göttlichen Intellekts aufschwingt – »dann ist er in der besten Verfassung, die dem Menschen möglich ist. Und das sind die Philosophen, die ihr Leben in das Studium der Weisheit logiae des Thomas von Aquin entnommen ist (Ders., »Boethius of Dacia: On the highest good«, in: Traditio 43, 199–214, bes. 211–214); dennoch bleibt die Einschätzung von De summo bono als Manifest eines radikalen ethischen Aristotelismus oder Intellektuellen-Aristokratismus in der mediaevistischen Forschung vorherrschend; vgl. K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart 1995, 360–362; – P. Schulthess/R. Imbach, Die Philosophie im lateinischen Mittelalter, Zürich-Düsseldorf 1996, 201; – C. Steel, »Medieval Philosophy: an Impossible Project? Thomas Aquinas and the ›Averroistic‹ Ideal of Happiness«, in: J. Aertsen/A. Speer (Hg.), Was ist Philosophie im Mittelalter? Akten des X. Internationalen Kongresses für mittelalterliche Philosophie der S.I.E.P.M. 25. bis 30. August 1997 in Erfurt, Berlin 1998, 154–174, bes. 154–157, 170–174; – D. Piché, La condamnation Parisienne de 1277, Paris 1999, bes. 243–261; – J. Aertsen, »Mittelalterliche Philosophie: ein unmögliches Projekt? Zur Wende des Philosophieverständnisses im 13. Jahrhundert«, in: J. Aertsen/A. Speer, Geistesleben im 13. Jahrhundert, Berlin 2000, 12–27, bes. 13 f. u. 26 f.; – A. Speer, »Philosophie als Lebensform? Zum Verhältnis von Philosophie und Weisheit im Mittelalter«, in: Tijdschrift voor Filosofie 62 (2000), 3–25; – L. Bianchi weist A. Celanos theologisch-thomistisch harmonisierende Deutung der boethianischen Glückskonzeption als unhaltbar zurück; cf. L. Bianchi, »Felicità terrena e beatitudine ultraterrena. Boezio di Dacia e l’articulo 157 censurato da Tempier«, in: P. Bakker (ed.), Chemins de la pensée médiévale. Etudes offertes à Zénon Kaluza, Textes et études du Moyen Age 20, Turnhout 2002, 193–214, bes. 206–214. S. dazu auch R. Darge, »Wie kann die Philosophie uns glücklich machen? Boethius von Dacien und das antike Philoosphieideal«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 51 (2004), 5–26. 19 Vgl. R. Hissette, Enquête [s. Anm. 18], 16–18. – Nach Auffassung Th. Ricklins (Ders., »Von den ›beatiores Philosophi‹ zum ›optimus status hominis‹. Zur Entradikalisierung der radikalen Aristoteliker«, in: J. Aertsen/A. Speer, Geistesleben im 13. Jahrhundert [s. Anm. 18], 217–230) bildet die Art und Weise, wie die Hauptaussage von De summo bono im Pariser Syllabus wiedergegeben wird, »nur eine ihrer möglichen Lektüren« (ebd., 219); damit ist im Sinne des Interpreten aber »nicht gesagt, daß die für den Syllabus verantwortliche Kommission der Mentalität von De summo bono nicht gerecht geworden ist« (ebd. 218).

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setzen« 20. Die Überlegungen schließen mit der Folgerung: »Dies ist das Leben des Philosophen und wer es nicht hat, hat nicht das richtige Leben. ›Philosoph‹ nenne ich aber jeden Menschen, der gemäß der rechten Ordnung der Natur lebt und der das beste und letzte Ziel des menschlichen Lebens erreicht hat.« 21 Hadot versteht diese Ausführungen so wie der Bischof von Paris, bewertet sie aber anders; denn ihm geht es darum, das antike Philosophieideal in der Gegenwart neu zu beleben. 22 Unter diesem Anliegen erscheint Boethius als ein Vorbild – als paradigmatischer Repräsentant einer Reihe von Denkern im universitären Milieu, die »der existentiellen und lebendigen Dimension der antiken Philosophie treu […] blieben« 23. Ist Boethius der existentiellen und lebendigen Dimension der antiken Philosophie treu geblieben? Mit dieser Frage leite ich zur kritischen Beurteilung der Perspektiven Hadots über. Gegen Hadots Sicht sollen hier drei Behauptungen begründet werden: Erstens: Das antike Ideal der Philosophie als existentieller Wahl wird im Mittelalter nicht erneuert – jedenfalls nicht von Boethius von Dacien, den Hadot als Kronzeugen dieser Erneuerung anführt, auch wenn der Dänische Logiker und Sprachphilosoph Formulierungen verwendet, die diese Auffassung nahelegen. Zweitens: Der Grund dafür liegt nicht im Christentum als solchem und auch nicht in der Universität als solcher, sondern in einem Wandel des Selbstverständnisses der Philosophie im Zuge der Einführung einer im Vergleich zur Philosophie neuen Wissenschaft an der Universität, der Offenbarungstheologie. Daraus ergibt sich schließlich, drittens, eine Folgerung im Hinblick auf Hadots Anliegen, das antike Ideal der Philosophie als Lebensform in der Gegenwart neu zu beleben. Ich beginne mit der Begründung der zweiten These. Vgl. De summo bono [s. Anm. 17], 373: »sic operationes omnium virtutum inferiorum quae sunt in homine sunt propter operationes virtutis supremae, quae est intellectus. Et inter operationes virtutis intellectivae, si aliqua est optima et perfectissima, omnes naturaliter sunt propter illam. Et cum homo est in illa operatione, est in optimo statu qui est homini possibilis.« 21 Ebd. 377: »Haec est vita philosophi, quam quicumque non habuerit non habet rectam vitam. Philosophum autem voco omnem hominem viventem secundum rectum ordinem natura, et qui acquisivit optimum et ultimum finem vitae humanae.« 22 Siehe oben (Einleitung mit Anm. 3). 23 P. Hadot, Wege zur Weisheit [s. Anm. 2], 300. 20

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III. Der Wandel des Selbstverständnisses der Philosophie an der mittelalterlichen Universität Der 1277 offiziell verurteilte Lehrsatz, es gebe keine ausgezeichnetere Verfassung für den Menschen, als sich der Philosophie zu widmen, erscheint vor dem Hintergrund der christlichen Denktradition nicht anstößig und nicht einmal ungewöhnlich; die Auffassung, dass das philosophische Leben auf die Vollendung des Menschen, also letztlich das Glück gerichtet ist, gehört zu den selbstverständlichen Grundüberzeugungen der christlicher Denker von der alexandrinischen Philosophenschule des 3. Jahrhunderts bis zu den Schulen von Chartres und St. Victor im 12. Jahrhundert. Sie kommt etwa in der Feststellung des Augustinus in seinem Werk »Über den Gottesstaat (De civitate Dei)« zum Ausdruck: »Der Mensch hat keinen anderen Grund, zu philosophieren, als den, glückselig zu sein. Was aber glückselig macht, ist gerade das höchste Gute; folglich ist das höchste Gute der einzige Grund des Philosophierens.« 24 Dieses Verständnis vermittelt insbesondere auch die große Philosophietradition, die an den »Lehrmeister des Mittelalters« 25 anknüpft – den römischen Philosophen und Staatsmann Boethius, den Theoderich wegen Hochverrats einkerkern und im Jahre 526 hinrichten ließ. Diese Tradition findet in Hadots Darstellung keine Berücksichtigung 26; Hadot nennt Boethius nur einmal in einem Nebensatz unter anderen Autoren, welche Texte griechischer Philosophen ins Lateinische übersetzten und kommentierten. Dieser ist jedoch in mittelalterlicher Sicht nicht nur Übersetzer und Kommentator, sondern auch und vor allem ein herausragender Denker; noch im 12. Jahrhundert würdigt Petrus Abaelardus ihn als »den größten Philosophen der Lateiner« 27. Überdies ist Boethius, wie Abaelardus auch Augustinus, De civitate Dei XIX, 1 (CSEL 40, 2), ed. E. Hoffmann, Wien 1900: »nulla est homini causa philosophandi, nisi ut beatus sit; quod autem beatum facit, ipse est finis boni; nulla est igitur causa philosophandi, nisi finis boni.« 25 F. Sassen, »Boethius – Lehrmeister des Mittelalters«, in: M. Fuhrmann/J. Gruber (Hg.), Boethius, Darmstadt 1984, 82–124. 26 S. auch J. Aertsen, »Mittelalterliche Philosophie: ein unmögliches Projekt?« [s. Anm. 18], 15–18. 27 Petrus Abaelardus, Theologia scholarium, I, 25 (Opera theologica III, CC CM, 13), eds. E. M. Buytaert, C. J. Mews, Turnhout 1987, 404: »Restat denique ad maximum Latinorum philosophorum, Boetium scilicet, descendere«. S. dazu F. Sassen, »Boethius – Lehrmeister des Mittelalters«, in: M. Fuhrmann, J. Gruber (Hg.), Boethius, Darmstadt 1984, 82–124. Die philosophische Originalität seines Denkens und dessen maß24

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hervorhebt 28, ein überzeugter Christ, der eine Reihe bedeutender theologischer Abhandlungen, darunter einen Traktat Über die Dreifaltigkeit verfasst hat. Dennoch schreibt Boethius im Kerker angesichts seiner bevorstehenden Hinrichtung nicht über den Trost des Glaubens, sondern »Über den Trost der Philosophie« (De consolatione philosophiae). Die Trostschrift gehört zu den am meisten verbreiteten Werken des Mittelalters und wird insbesondere in monastischen Kreisen (bis heute) als Erbauungsschrift gelesen. 29 Mit diesem Werk hat Boethius das Selbstverständnis der mittelalterlichen Philosophen bis in das 12. Jahrhundert maßgeblich geprägt. Es ist eine persönliche Stellungnahme, zugleich aber auch eine Zusammenschau der antiken (neuplatonischen) Philosophie; auch angesichts des Todes bleibt der »Lehrmeister des Mittelalters« seinem Lebensziel verpflichtet, die griechische Philosophie nach Rom zu übertragen. Seine Schrift zielt auf eine Therapie im Medium der Philosophie, welche die verloren gegangene geistig-seelische Gesundheit des Menschen herbeiführt. Die Philosophie erscheint in ihr allegorisch in Gestalt einer Ärztin. Sie stellt dem Patienten – Boethius, der im Kerker (der »Höhle« im Sinne des platonischen Höhlengleichnisses) sitzt und mit seinem Schicksal hadert, – eine Diagnose und ruft ihm zum Zweck der Heilung seine wahre Natur und das letzte Ziel aller Dinge in Erinnerung (anamnêsis-Motiv). 30 Zu Beginn des 3. Buchs entscheidet »Frau Phigebliche Bedeutung für die mittelalterliche Philosophie werden in der neueren Forschung nachdrücklich hervorgehoben; vgl. etwa M. Hoenen (Hg.), Boethius in the Middle Ages, Leiden 1997; J. Marenbon, Boethius, Oxford 2003; Ders. (Hg.): The Cambridge companion to Boethius, Cambridge 2009; R. Glei/N. Kaminski/F. Lebsanft, Boethius Christianus? Transformation der Consolatio Philosophiae in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2010; J. Gruber, Boethius, Stuttgart 2011; N. H. Kaylor, A companion to Boethius in the Middle Ages, Leiden 2012; L. Sturlese, Die Philosophie im Mittelalter: von Boethius bis Cusanus, München 2013. 28 Petrus Abaelardus, Theologia scholarium I, 25 [s. Anm. 27], 404: »diligenter sanctae Trinitatis fidem Symmacho socero ac patricio scribendo edisserens, de unitate quoque personae Christi ac diversitate naturarum quae in Christo sunt […] ad Joannem diaconum […] scribendo contra Eutichem et Nestorium, optime disputavit, fidemque nostram, et suam ne in aliquo vacillaret, tam de divinitate quam de divinitatis incarnatione tractando inexpugnabiliter astruxit.« 29 Siehe dazu P. Courcelle, La consolation de philosophie dans la tradition littéraire, Paris 1967; R. Glei et al.: Boethius Christianus? [s. Anm. 27]; J. Gruber: Kommentar zu Boethius, De consolatione philosophiae, 2. Aufl. Berlin 2006. 30 Vgl. De consolatione philosophiae, I, 6. Prosa, Ed. G. Weinberger, CSEL 67, Wien – Leipzig 1934, 18 f.: »Iam scio, inquit, morbi tui aliam vel maximam causam; quid ipse

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losophie«, sie wolle Boethius nun zu seinem »wahren Glück« führen. 31 Damit wendet sie sich dem zu, was im Sinne Hadots das zentrale Anliegen der antiken Philosophenschulen ist. Im Anschluss an diese Tradition nimmt Boethius an, dass alles Streben des Menschen letztlich auf ein einziges Ziel gerichtet ist, nämlich auf das Glück; es ist »das höchste Gut, das alle anderen Güter enthält.« 32 Auf dem Weg über stark platonisch geprägte Überlegungen identifiziert die »Ärztin Philosophie« dieses höchste Gut mit Gott: »Da sich nichts denken lässt, was besser wäre als Gott, wer könnte da zweifeln, dass dasjenige, worüberhinaus es nichts Besseres gibt, gut sei?« 33 Denn wäre Gott nicht so beschaffen, so könnte er nicht der Ursprung aller Dinge sein. Das höchste Gut und das wahre Glück müssen deshalb in Gott gelegen sein; oder richtiger gesagt: sie sind Gott selbst. 34 Daraus zieht Boethius den Schluss: Da die Menschen durch Erlangen des Glücks glücklich werden, das Glück aber die Gottheit selber ist, so ist klar, dass sie durch Erlangen der Gottheit glücklich werden. Jeder glückliche Mensch ist daher Gott. Freilich gibt es von Natur nur einen einzigen Gott; jedoch hindert nichts, dass es durch Teilhabe mehrere gibt. 35 Die Überlegungen bringen das neuplatonische Philosophieideal zum Ausdruck, das die Vergöttlichung des Menschen durch Philosophie vorsieht. 36 sis, nosse desisti. Quare plenissime vel aegritudinis tuae rationem vel aditum reconciliandae sospitatis inveni. Nam quoniam tui oblivione confunderis, et exulem te t exspoliatum prpriis bonis esse doluisti. Quoniam vero, qui sit rerum finis, ignoras, nequam homines atque nefarios potentes felicesque arbitraris.« 31 Ebd. III, 1. Prosa [s. Anm. 30], 46: Sed quod tu te audiendi cupidum dicis, quanto ardore flagrares si quonam te ducere aggrediamur agnosceres! – Quonam? inquam. – Ad veram, inquit, felicitatem, quam tuus quoque somniat animus, sed occupato ad imagines visu ipsam illam non potest intueri.« 32 Ebd. III, 2. Prosa [s. Anm. 30], 47: »omnium summum bonorum cunctaque inter se bona continens.« 33 Ebd. III, 10. Prosa [s. Anm. 30], 65: »Nam cum nihil deo melius excogitari queat, id, quo melius nihil est, bonum esse quis dubitet? 34 Ebd. 66: »Atqui et beatitudinem et deum summum bonum esse collegimus, quare ipsam necesse est summam esse beatitudinem, quae sit summa divinitas.« 35 Ebd. 66–67: »Nam quoniam beatitudinis adeptione fiunt homines beati, beatitudo vero est ipsa divinitas, divinitatis adeptione beatos fieri manifestum est. Sed uti iustitiae adeptione iusti, sapientiae sapientes fiunt, ita divinitatem adeptos deos fierisimili ratione necesse est. Omnis igitur beatus deus, sed natura quidem unus; participatione vero nihil prohibet esse quam plurimos.« 36 Siehe dazu D. Roloff, Gottähnlichkeit, Vergöttlichung und Erhöhung zu seligem Leben, Berlin 1970; W. Beierwaltes, Proklos, 2. Aufl. Frankfurt a. M., 1979, bes. 294– 305, 385–390.

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Dabei unterscheidet Boethius gar nicht zwischen einem auf Offenbarung und einem allein auf Vernunft gegründeten Diskurs. Sein Interesse ist nicht auf die Trennung zwischen einer offenbarungstheologischen und einer philosophischen Erkenntnis gerichtet, sondern auf die Einheit beider. Dies wird in der bereits genannten theologischen Abhandlung deutlich. Sie ist durch Augustinus inspiriert und zielt auf eine Begründung der Trinitätslehre, die Boethius an anderer Stelle als »die Burg unserer Religion« charakterisiert. 37 Die Argumente sollen dabei, wie Boethius hervorhebt, »aus den innersten Disziplinen der Philosophie« entnommen sein. 38 Eine wissenschaftstheoretische Reflexion, die er seiner Abhandlung voranstellt, gibt näheren Aufschluss über das Philosophiekonzept, das Boethius dabei zugrunde legt. Die Überlegung geht von der Aristotelischen Einteilung der theoretischen Philosophie in Naturphilosophie, Mathematik und Theologie aus. 39 Eigentümlicher Gegenstand der Theologie ist die unstoffliche göttliche Substanz. 40 Weil Theologie diejenige Form betrachtet, die reine Form ist und allein im eigentlichen Sinne das ist, was sie ist 41, ist sie in der Ordnung der Wissenschaften die höchste Disziplin – nämlich die »Erste Philosophie«. 42 Bei Boethius erhält somit die Erste Philosophie oder philosophische Theologie eine neue Aufgabe, an die Aristoteles nie gedacht hat: die rationale Auslegung der göttlichen Dreifaltigkeit. Sein methodischer Ansatz geht von der Einheit einer auf Offenbarung und einer auf Vernunft gegründeten Erkenntnis aus. Auf das Philosophieverständnis der folgenden Zeit übt Boethius einen nachhaltigen Einfluss aus; seine Trostschrift wie auch seine Trinitätsschrift werden bis in das 12. Jahrhundert, das Chenu die aetas

Boethius, De fide catholica/Über den katholischen Glauben. In: Boethius, Die theologischen Traktate: lat.-dt, übers., eingeleit. u. mit Anm. vers. von Michael Elsässer, Hamburg 1988, 49. 38 Boethius, De Trintate/Über die Trinität. In: Die theologischen Traktate [s. Anm. 37], 2–3: »[…] ex intimis sumpta philosophiae disciplinis«. 39 Aristoteles, Metaphysik VI, cap. 1, 1026a 19. Grch.-dt. in der Übers. von H. Bonitz hrsg. von H. Seidl, 2. verb. Aufl. Hamburg 1982, 253. 40 Boethius, De Trintate/Über die Trinität [s. Anm. 38], 6–8: »cum tres sint speculativae partes, naturalis […], mathematica […], theologica, sine motu abstracta atque separabilis (nam dei substantia et materia et motu caret) […].« 41 Ebd.: »Sed divina substantia sine materia forma est atque ideo unum et est id quod est. Reliqua enim non sunt id quod sunt.« 42 Vgl. Aristoteles, Metaphysik VI, cap. 1, 1026a10–25 [s. Anm. 39], 253–255. 37

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Boetiana nennt, intensiv rezipiert und kommentiert. 43 Bis in dieses »Boethianische Zeitalter« gilt das Interesse der mittelalterlichen Denker nicht der Abgrenzung einer auf Offenbarung und einer allein auf Vernunft gegründeten Erkenntnis, sondern der Einheit beider. 44 In Anbetracht des Umstands, dass Boethius’ Verständnis der Philosophie als derjenigen Lebensform, die den Menschen zu seinem letzten und wahren Glück bei dem dreifaltigen Gott führt, bis in das 12. Jahrhundert wirkt, erscheint Hadots Sicht auf den Theoretisierungsprozess der Philosophie im Mittelalter als zu pauschal: Das Ideal der Philosophie als Lebensform gerät im Mittelalter nicht, wie Hadot annimmt, in Vergessenheit; und es ist nicht der Aufstieg des Christentums, der, wie Hadot annimmt, den Theoretisierungsprozess der Philosophie bewirkt. Im Hinblick auf das 13. Jahrhundert erscheint es mir angemessener, statt von einer »Wiederentdeckung« (Hadot) von einem »Wandel« des Ideals der Philosophie als Lebensform zu sprechen. Das 13. Jahrhundert bringt eine Wende. Durch Übersetzungen werden die aristotelische Wissenschaftslehre, die Metaphysik, die Nikomachische Ethik, die Politik, die naturwissenschaftlichen Untersuchungen des Aristoteles sowie auch die Schriften bedeutender arabischer Denker (Avicenna, Averroes) zugänglich. Es entsteht ein neuer Fragehorizont, in dem das neuplatonisch-christlich inspirierte Philosophiekonzept des Boethius, insoweit es von einer selbstverständlichen Einheit von philosophischem und offenbarungstheologischem Diskurs ausgeht, allgemein an Interesse verliert. Die Wende zeigt sich im Kommentar des Thomas zu Boethius’ Abhandlung Über die Dreifaltigkeit (um 1258). Philosophi und theologi werden darin anhand ihrer Vorgehensweisen unterschieden und einander gegenüberstellt: »Die Philosophen, die der Reihenfolge der natürlichen Erkenntnis folgen, ordnen die Wissenschaft von den Geschöpfen der Wissenschaft vom Göttlichen vor, das heißt die Naturphilosophie der Metaphysik. Bei den Theologen verfährt man jedoch umgekehrt, so dass die Betrachtung des Schöpfers der Betrachtung

43 M.-D. Chenu, La théologie au douzième siècle, Paris 1957, 274–278; siehe dazu auch P. Courcelle, La consolation de philosophie dans la tradition littéraire [s. Anm. 29]; F. Sassen, Boethius [s. Anm. 25]; M. Hoenen, Boethius in the Middle Ages, Leiden-New York-Köln, 1997; J. Marenbon, Boethius, Oxford 2003, bes. 164–182. 44 Vgl. auch J. Aertsen, »Mittelalterliche Philosophie: ein unmögliches Projekt?« [s. Anm. 18], 18.

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der Geschöpfe vorangeht.« 45 Dieser theologischen Ordnung sei Boethius in seinen Schriften zu den Glaubensgegenständen gefolgt, indem er mit der Untersuchung des höchsten Ursprungs aller Dinge, der göttlichen Trinität, beginnt. Thomas betrachtet Boethius also als Theologen – obwohl dieser in jenen Schriften die aristotelische Einteilung der theoretischen Philosophie zugrunde legt. In der neuen Sichtweise, die Philosophie und Offenbarungstheologie trennt, kann der Urheber jener Schriften nicht länger als Philosoph gelten. Den Hintergrund dafür bildet eine grundlegende Innovation des 13. Jahrhunderts; sie besteht darin, dass die christliche Theologie an den neugegründeten Universitäten als eine von der Philosophie verschiedene wissenschaftliche Disziplin eingeführt wird. Im frühen 13. Jahrhundert erfolgt, wie Georg Wieland feststellt, eine »Wendung zur Theorie«. 46 Dies scheint Hadots These vom Theoretisierungsprozess im Mittelalter zu bestätigen. Der Prozess hat jedoch seinen Grund nicht im Christentum. Denn die für die Scholastik charakteristische Wendung zur Theorie vollzieht sich zuerst im Bereich der Naturwissenschaften und der Medizin. 47 Die Begründung der christlichen Theologie als scientia im Kanon der universitären Fächer ist selbst ein Ergebnis dieser Tendenz zur Verwissenschaftlichung, die durch die Rezeption der aristotelischen Wissenschaftslehre noch verstärkt wird. 48 Die Einführung dieser neuen Wissenschaft führt – indirekt – zu Thomas von Aquin, Expositio super librum Boethii De trinitate, Prolog, lat.-dt., übers. und eingeleitet von P. Hoffmann in Verb. mit H. Schrödter, Freiburg i. B. 2006, 26–27: »Philosophi enim, qui naturalis cognitionis ordinem sequuntur, praeordinant scientiam de creaturis scientiae divinae, scilicet naturalem metaphysicae. Sed apud theologos proceditur e converso, ut creatoris consideratio considerationem praeveniat creaturae.« 46 G. Wieland, Ethica – Scientia practica [s. Anm. 18], 61. 47 Vgl. Ebd. 60–73. 48 Siehe dazu U. Köpf, Die Anfänge der theologischen Wissenschaftstheorie, Tübingen 1974; Georg Wieland, »Theologie zwischen Weisheit und Wissenschaft«, in: I. Craemer-Ruegenberg, Andreas Speer (Hg.), Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter, Miscellanea Mediaevalia 22,2, Berlin-New York 1994, 517–527; R. Heinzmann, »Die Entwicklung der Theologie zur Wissenschaft«, in: G. Wieland (Hg.), Aufbruch – Wandel – Erneuerung. Beiträge zur »Renaissance« des 12. Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 123–138; R. Darge, »Scholastik, Transformation eines Wissenschaftsmodells vom Mittelalter zur frühen Neuzeit«, in: Th. Kühtreiber/G. Schlichta (Hg.), Kontinuitäten. Umbrüche, Zäsuren. Die Konstruktion von Epochen in Mittelalter und früher Neuzeit in interdisziplinärer Sichtung, Heidelberg 2016, 265–288. 45

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einer Veränderung innerhalb des Ideals der Philosophie als Lebensform, in deren Folge es im Kontext mittelalterlicher Lebensentwürfe eine neue Stellung erhält. Sie führt zunächst zu einer Selbstbegrenzung der Philosophie. Denn nur so wird im aristotelisch geprägten Wissenschaftsrahmen ein Ort frei, an dem die Offenbarungstheologie als neue Disziplin eingeführt und begründet werden kann. Dieser Ort kann nicht mit den Mitteln der erst zu legitimierenden Disziplin geschaffen werden. Er ist nur so zu gewinnen, dass die als letztbegründende Disziplin bereits etablierte Philosophie sich selbst durch eine methodologische und erkenntniskritische Besinnung von ihrem traditionellen Anspruch trennt, als Lebensform gemäß dem Geist oder dem Logos zur Betrachtung des Göttlichen – und damit den Menschen zur Vergöttlichung oder zu seinem letzten Glück in Gott zu führen; gerade so wird ein Freiraum eröffnet für die Begründung der Notwendigkeit christlicher Offenbarung und einer mit deren Deutung befassten Wissenschaft. Die Transformation betrifft deshalb in erster Linie die höchste theoretische philosophische Disziplin, die Erste Philosophie oder Metaphysik, weil diese ihrem klassischen Selbstverständnis nach Theologie ist. Als »Theologie« wurde sie ja auch von Boethius (dem Römer) im Traktat Über die Dreifaltigkeit verstanden; seinem Verständnis folgen alle lateinischen Autoren bis zum Ende des 12. Jahrhunderts. Nun aber, im 13. Jahrhundert, gibt die Metaphysik den Anspruch auf, Theorie des Göttlichen zu sein; denn, so erklärt etwa Thomas in seinem Kommentar zu Boethius’ Schrift Über die Dreifaltigkeit: q. 6, a. 4: »durch keine theoretische Wissenschaft können wir von irgendeiner getrennten [d. h. unstofflichen] Substanz wissen, was sie ist« 49. Die Metaphysik wandelt sich von der Theologie zur Ontologie – von einer Theorie eines bestimmten Seienden, des Göttlichen, zur Theorie des Seienden im allgemeinen. Ludger Honnefelder hat diese Transformation den »zweiten Anfang der Metaphysik« genannt. 50 49 Thomas von Aquin, Super Boetium De trinitate q. 6, a. 4c, ed. Leon. 50, 170b: »Quiditas […] substantiarum separatarum non potest cognosci per ea que a sensibus accipimus […]; et ideo per nullam scientiam speculatiuam potest sciri de aliqua substantia separata quid est.« 50 L. Honnefelder, »Der zweite Anfang der Metaphysik«, in: J. Beckmann/L. Honnefelder/G. Schrimpf/G. Wieland (Hg.), Philosophie im Mittelalter, Hamburg 1987, 165–186.

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Die ihr zugrunde liegende erkenntniskritische Reflexion bindet das philosophische Vorgehen streng an die Prinzipien und Kriterien demonstrativer Wissenschaft, welche die neu entdeckten aristotelischen Analytiken formulieren und grenzt es gegenüber dem auf Glaubensannahmen gegründeten theologischen Diskurs ab. Diese Reflexion wird in Paris sowohl an der Theologischen Fakultät (etwa von Albertus Magnus und Thomas von Aquin) wie auch – und zwar mit besonderer Intensität – an der Artistenfakultät geführt, die inzwischen zur Philosophischen Fakultät geworden ist: hier werden die Studienanfänger sechs Jahre lang in aristotelischer Logik und Philosophie unterrichtet. 51 Einer der bedeutendsten unter den Logikern und Sprachanalytikern der Artistenfakultät, die sich um eine methodisch-kritische Schärfung und Begrenzung des philosophischen Diskurses bemühen, ist der von Hadot hervorgehobene Boethius von Dacien. Ich wende mich nun der Frage zu, ob Boethius, wie Hadot annimmt, »der existentiellen und lebendigen Dimension der antiken Philosophie treu … [ge]blieben« 52 ist.

IV. Boethius von Dacien und das Ideal der Philosophie als Lebensform Der zentrale Gedanke in Boethius’ Traktat Über das höchste Gute oder das Leben des Philosophen ist der Gedanke der Identität des dem Menschen möglichen Glücks mit der Philosophie. Er bildet in den Überlegungen die Mitte, die Anfang und Ende zusammenschließt; durch sie führt die Untersuchung, die formal als eine Erörterung des menschlichen Guten beginnt, zu einem Schluss auf die Bedeutung der Philosophie: »Dies ist das Leben des Philosophen; und wer es nicht hat, hat nicht das richtige Leben« 53. Darin zeigt sich das besondere Anliegen des Boethius. Es geht ihm darum, den natürlichen Eigenwert der Philosophie zur Geltung zu bringen. Dabei versteht sich der philosophische Akt jedoch – anders als in E. Isenmann: Art Universitas, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München 1997, 1247–1248; F. Tinnefeld.: Art. Universität, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München 1997, 1249–1256; E. Wolgast: Art. Universität, in: TRE Bd. 34, Berlin u. a. 2002, 354–380. 52 Siehe oben P. Hadot, Wege zur Weisheit [s. Anm. 2], 300. 53 De summo bono [s. Anm. 17], 377: »Haec est vita philosophi, quam quicumque non habuerit non habet rectam vitam.« 51

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der ganzen vorausgehenden antiken und mittelalterlichen Philosophietradition – nicht mehr als Ausdruck einer existentiellen Entscheidung, die einfachhin auf das letzte Ziel des Menschen gerichtet ist. Denn Boethius formuliert das philosophische Lebensideal in einem neuen Kontext, nämlich unter den Bedingungen einer strengen Trennung von Philosophie und Theologie – d. h. unter einer methodischen Einschränkung, die eine prinzipielle Absage an den traditionellen Anspruch der Philosophie bedeutet, den Menschen zu seinem letzten Ziel zu führen. Diese Einschränkung wird im Traktat an zwei Stellen deutlich: Zum einen unterscheidet Boethius vor einem christlichen Hintergrund ausdrücklich ein zweifaches Glück: ein Glück nach diesem Leben, das jetzt nur in der Weise des Glaubens erkennbar ist – und ein philosophisch einholbares Glück dieses Lebens, das auf jenes wie das Abbild auf das Urbild hingeordnet ist; deshalb sei derjenige, der in ihm »vollkommener« (perfectior) ist, dem jenseitigen Glück näher (propinquior). 54 Demnach bleibt nur das philosophische Leben letztlich dem Glück zugeordnet, das Gegenstand der christlichen Hoffnung ist. Dafür spricht auch – das ist das zweite Indiz für eine methodische Beschränkung des philosophischen Akts – die Schlussformel des Traktats, welche den höchsten Gegenstand der philosophischen Betrachtung und Liebe mit dem Gott identifiziert, den die Christen anbeten: »Das erste Prinzip aber, von dem die Rede war, ist der gelobte und erhabene Gott, der gelobt sei von Ewigkeit zu Ewigkeit.« 55 Noch stärker drückt sich Boethius in der Schlussformel eines anderen philosophischen Traktats – Über die Ewigkeit der Welt (De aeternitaEbd. 372: »Qui enim perfectio est in beatitudine, quam in hac vita homini possibilis esse per rationem scimus, ipse propinquior est beatitudini quam in vita futura per fidem expectamus.« – L. Bianchi betont zurecht die streng philosophische, auf natürliche Lebenserfüllung ausgerichtete Sicht des Boethius; das im Glauben angenommene Glück des zukünftigen Lebens hat darin nur die Funktion eines ›Grenz-Begriffs‹ (idea-limite) und ›unbedingten Kriteriums‹ (criterio assoluto), nach dem die Adäquatheit des Begriffs des natürlichen Glücks zu bemessen ist; L. Bianchi, »Felicità terrena e beatitudine ultraterrena« [s. Anm. 18], 212. Im vorliegenden Zusammenhang erscheint jedoch bedeutungsvoll, dass Boethius die im Glauben angenommene Glückseligkeit des jenseitigen Lebens überhaupt als Maßstab oder ›Leitidee‹ anerkennt; daran wird deutlich, dass seine Reflexion einen Horizont voraussetzt, der den des antiken – insbesondere den des aristotelischen Denkens, wonach die Philosophie von der menschlichen Glückseligkeit einfachhin handelt, prinzipiell überschreitet. 55 De summo bono [s. Anm. 53], 377: »Primum autem principium, de quo sermo factus est, est deus gloriosus et sublimis, qui est benedictus in saecula saeculorum.« 54

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te mundi) – aus, den er etwa zu derselben Zeit (um 1270) verfasst. Die Formel lässt keinen Zweifel daran, dass er den Offenbarungsinhalt und insbesondere die im Glauben anzunehmende übernatürliche Bestimmung des Menschen als für die Praxis verbindlich anerkennt: »Diesem Gesetz Christi mache jeden Christen gläubig anhangen, wie es sich gebührt, der Urheber ebendieses Gesetzes, der glorreiche Christus, der Gott ist, gepriesen in alle Ewigkeit.« 56 Es besteht kein Grund für die Annahme, dass Boethius hier nicht meint, was er sagt. Demnach kann die existentielle Entscheidung, durch die der Mensch seinem Leben im Ganzen die Richtung auf das einfachhin letzte Ziel gibt, nach Boethius nicht Teil des philosophischen Akts sein. Dies lässt sich anhand einiger Überlegungen zum Verhältnis von Glauben und Wissen bestätigen, die er in der Schrift Über die Ewigkeit der Welt entwickelt. Diesen Überlegungen zufolge kann es keinen Widerspruch zwischen philosophischer Einsicht und Glaubenswahrheit geben. Diese Auffassung ist im 13. Jahrhundert geläufig; sie wird mit Nachdruck auch von Theologen wie Albert und Thomas auf der Grundlage von Glaubensannahmen vertreten – deren Überlegungen gehen davon aus, dass der Urheber der Offenbarung mit dem Schöpfer der menschlichen Vernunft identisch ist und sich in seinem Tun nicht widerspricht. 57 Das Neue in Boethius’ Begründung liegt darin, dass sie den Glauben nicht voraussetzt. Ihr zufolge kann philosophische Erkenntnis dem Glauben nicht widersprechen, da sie sich formal auf einen anderen Gegenstandsbereich bezieht und andere Erkenntnisprinzipien zugrunde legt. Den Gegenstandsbereich der philosophischen Untersuchung bildet das Seiende überhaupt, insoweit es wissbar ist. Wissbar ist etwas, insoweit es auf für uns evidente Grundsätze zurückführbar ist. Was nicht aus derartigen Prinzipien ableitbar ist, fällt deshalb – insoweit – nicht unter die philosophische Erörterung. Dem Offenbarungsinhalt aber, insoweit er im strengen Sinne zu Glaubendes (credibile) ist, ist es gerade eigentümlich, nicht für uns

De aeternitate mundi, Boetii Daci Opera VI, ii, Opuscula, ed. N. G. Green Pedersen, Hauniae 1976, 335–366; 366: »Huic legi Christi quemlibet christianum adhaerere et credere secundum quod oportet faciat auctor eiusdem legis Christus gloriosus qui est deus benedictus in saecula saeculorum. Amen.« – Dt. Übers.: P. Nickl, Bonaventura, Thomas von Aquin, Boethius von Dacien Über die Ewigkeit der Welt, mit einer Einleit. von R. Schönberger, Übers. und Anm. von P. Nickl, Frankfurt a. M. 2000, 171. 57 Vgl. etwa Thomas von Aquin, Summa contra gentiles I, cap. 7 und 8. 56

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aus evidenten Prinzipien einsehbar zu sein. Er liegt daher formal außerhalb der Objektsphäre des philosophischen Denkens. 58 Dies schließt eine gelegentliche Spannung zwischen einer philosophischen Schlussfolgerung und einer Glaubensannahme nicht aus, da einiges des zu Glaubenden der Erfahrungswirklichkeit angehört, um deren Erklärung sich die Philosophie bemüht. So verhält sich etwa der Bericht über die Auferweckung des toten Lazarus inkongruent zu der naturphilosophisch begründeten Auffassung, dass ein Toter nicht unmittelbar ins Leben zurückkehren kann. Eine solche Spannung bedeutet aber keinen direkten Widerspruch, der dazu zwingt, entweder die Philosophie oder den Glauben aufzugeben; denn die philosophische Folgerung ist aus natürlichen Ursachen und Gründen abgeleitet und reicht daher in ihrem Geltungsanspruch nicht weiter, als deren Wirkkraft. Sie schließt nicht aus, dass sich der Sachverhalt im Einzelfall durch Einwirkung einer höheren Ursache, welche die Natur im Ganzen schöpferisch begründet, anders verhalten kann. 59 Von diesem Standpunkt aus weist Boethius mit polemischer Schärfe die Auffassung zurück, ein Christ könne als solcher kein Philosoph sein, da er durch seinen Glauben gezwungen sei, die Prinzipien der Philosophie zu zerstören. 60 Die schlechte Pointe dieser Position liegt aus seiner Sicht darin, dass sie im Namen des Glaubens das Eigenrecht und die Eigenständigkeit der Philosophie aufhebt. Boethius reagiert damit auf eine Tendenz konservativer Theologen, die zu dieser Zeit in Paris das überkommene Vgl. De aeternitate mundi [s. Anm. 56], 335–336: »sententia philosophorum […] in nullo contradicit christianae fidei nisi apud non intelligentes; sententia enim philosophorum innititur demonstrationibus et ceteris rationibus possibilibus in rebus de quibus loquuntur; fides autem im multis innititur miraculis et non rationibus; quod enim tenetur propter hoc quod per rationes conclusum est, non est fides, sed scientia«; ibid. 347: »sicut […] philosophia docet ens, sic partes philosophiae docent partis entis […] Ergo philosophus omnem quaestionem per rationem disputabilem habet determinare; omnis enim quaestio disputabilis per rationes cadit in aliqua parte entis«, vgl. auch 364–366. 59 Ebd. 365: »christianus concedit conclusionem per rationes philosophicas conclusam non posse aliter se habere per illa per quae concluditur. Et si concludatur per causas naturales, quod mortuum non redibit vivum immediate idem numero, hoc concedit non posse aliter se habere per causas naturales per quas concluditur; concedit tamen hoc posse se aliter habere per causam superiorem quae est causa totius naturae et totius entis causati.« 60 Ebd.: »nec valet quod dicunt quidam maligni […] dicunt enim quod christianus secundum quod huiusmodi non potest esse philosophus, quia ex lege sua cogitur destruere principia philosophiae.« 58

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augustinische Ideal einer christlichen Einheitswissenschaft (sapientia christiana) neu beleben. Die Tendenz ist darauf gerichtet, den Wert einer nur um des Wissens willen betriebenen philosophischen Forschung zu bestreiten (Laster der Neugierde/curiositas) und die Theologie zum alleinigen inneren Sinn und Maßstab des philosophischen Akts zu erheben. Über die Zurückführung der Künste auf die Theologie (De reductione artium ad theologiam) lautet der bezeichnende Titel einer Schrift des großen franziskanischen Theologen und Ordensleiters Bonaventura, die von den Herausgebern der kritischen Ausgabe auf das Jahr 1269/70 datiert wird. An die Adresse jener Theologen und wohl nicht zuletzt an die des Bischofs von Paris ist die provozierende Aufforderung gerichtet, die Boethius unmittelbar anschließt: »Wenn aber jemand, ob Würdenträger oder nicht, so Hohes nicht verstehen kann, dann gehorche er dem Weisen und glaube dem christlichen Gesetz.« 61 Bereits Albert und Thomas treten für eine unabhängige Philosophie ein. Das Neue bei Boethius besteht darin, dass dieser das, was jene von einem weltoffenen theologischen Standpunkt aus einräumen, vom Standpunkt der Vernunft aus zum Programm erhebt und – im Gegenzug zu einem theologischen Integralismus – radikal im Sinne eines Totalanspruchs der Philosophie auf den Bereich des Wissbaren einfordert. 62 Dieser Anspruch bedeutet jedoch keinen totalen Erklärungsanspruch; denn mit ihm tritt die Philosophie im Sinne des Boethius zugleich unter die Bedingung einer von ihr selbst zu leistenden VerEbd. 366: »si autem aliquis, in dignitate constitutus sive non, tam ardua non possit intellegere, tunc obediat sapienti et credat legi christianae.« Zur zeitgenössischen Kontroverse über den Status der Philosophie siehe A. Zimmermann (Hg.), Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im 13. Jahrhundert, Berlin; New York 1976 (Miscellanea Mediaevalia 10); – R. Imbach, »L’averroïsme latin du XIIIe siècle«, in: R. Imbach/A. Maierù (Hg.), Gli studi di filosofia medievale fra otto e novecento. Contributo a un bilancio storiografico, Atti del convegno internazionale Roma, 21–23 settembre 1989, Rom 1991, 191–208; – Ders., Laien in der Philosophie des Mittelalters, Amsterdam 1989, bes. 150–164; – J. Aertsen/K. Emery/A. Speer (Hg.), Nach der Verurteilung von 1277. Philosophie und Theologie an der Universität von Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Studien und Texte, Miscellanea Mediaevalia 28, Berlin-New York 2001. 62 Siehe dazu P. Wilpert, »Boethius von Dacien – Die Autonomie des Philosophen«, in: P. Wilpert (Hg.), Beiträge zum Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Menschen, Miscellanea Mediaevalia 3, Berlin 1963, 135–152; – H. Schrödter, »Boethius von Dacien und die Autonomie des Wissens«, in: Theologie und Philosophie 47 (1972), 16– 35. 61

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nunftkritik, die zu einer prinzipiellen Beschränkung des Geltungsanspruchs ihrer Aussagen führt. Von Glaubenswahrheiten wird im philosophischen Diskurs in der Weise einer methodischen Abstraktion abgesehen, die jene nicht ausschließt. Aufgrund dieser prinzipiellen methodischen Beschränkung des philosophischen Diskurses wird in dem Traktat Über das höchste Gute nicht nach dem höchsten Guten für den Menschen einfachhin gefragt, sondern präzise nach dem höchsten Guten, das »dem Menschen möglich« ist. Der Zusammenhang wird anhand einer Stelle in der Schrift Über die Ewigkeit der Welt, an der Boethius die Bedeutung von ›möglich‹ erläutert, direkt fassbar: »Wenn ein Philosoph sagt, etwas sei möglich […] heißt das soviel wie ›es ist möglich […] aus Gründen, die vom Menschen erforschbar sind‹. Denn sobald jemand auf Vernunftgründe verzichtet, hört er auf, Philosoph zu sein, und auch die Philosophie stützt sich nicht auf Offenbarungen und Wunder.« 63 Entsprechend bestimmt Boethius das Untersuchungsziel im Traktat Über das höchste Gute: »Was dieses höchste Gut ist, das dem Menschen möglich ist, dies lasst uns mittels der Vernunft erforschen.« 64 Die Beschränkung der Untersuchung auf das aus natürlicher Kraft erreichbare Gute bedeutet demnach nur eine methodische Abstraktion, die ein höchstes Gutes, das dem Menschen durch Gnade zuteil wird, nicht ausschließt; die Verbindlichkeit des übernatürlichen Ziels für das Handeln wird in ihr nicht bestritten, sondern – wie der Hinweis auf das Glück des jenseitigen Lebens und die Schlussformel des Traktats anzeigen – ausdrücklich anerkannt.

V.

Schluss

Daraus ergeben sich Folgerungen: Zum einen ergibt sich, dass Boethius – wenn er auch Elemente der aristotelischen Lehre über die Eudaimonia des theoretischen Lebens aufnimmt – das antike Ideal der De aeternitate mundi [s. Anm. 56], 364: »philosophum dicere aliquid esse possibile vel impossibile, hoc est illud: dicere esse possibile vel impossibile per rationes investigabiles ab homine. Statim enim quando aliquis dimittit rationes, cessat esse philosophus, nec innititur philosophia revelationibus et miraculis.« – Dt. Übers. nach P. Nickl [s. Anm. 56], 167. 64 De summo bono [s. Anm. 53], 369: »Quid autem sit hoc summum bonum, quod est homini possibile, per rationem investigemus.« 63

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Philosophie als Lebensform nicht erneuert. Vielmehr entwickelt er das Ideal eines philosophischen Lebens in einem neuen Kontext, in dem die Philosophie infolge der Einführung der christlichen Theologie als Wissenschaft unter die Bedingung einer methodischen Beschränkung tritt. In deren Folge verzichtet sie auf den traditionellen Anspruch, das letzte Ziel des Menschen verbindlich auszulegen und den Menschen zu diesem Ziel zu führen. Ein philosophischer Akt aber, der von vornherein und prinzipiell unter der Bedingung einer Abstraktion geführt wird, bei der der Philosophierende von dem absieht, was er für sein Leben als letzthin verbindliches Ziel und Richtnorm versteht und anerkennt, kann nicht als unmittelbarer Ausdruck einer existentiellen Lebenswahl verstanden werden, wie Hadot es für die Philosophie fordert. Unter der Bedingung der methodischen Trennung von Philosophie und christlicher Theologie wäre der philosophische Akt nur dann Ausdruck einer existentiellen Wahl, wenn entweder (a) das geoffenbarte übernatürliche Ziel in dem philosophisch ausweisbaren höchsten Guten, das der Mensch aus eigener natürlicher Kraft zu erreichen vermag, eingeschlossen ist – oder aber (b) die Abstraktion von Glaubensinhalten – also auch von der übernatürlichen Bestimmung des Menschen – zugleich deren Ausschluss bedeuten würde. Wie gezeigt wurde, nimmt Boethius weder das eine noch das andere an: Das jetzt nur in der Weise des Glaubens erkennbare Glück nach diesem Leben bildet aus seiner Sicht zwar das Urbild, worauf das philosophisch einholbare Glücks dieses Lebens hingeordnet ist, ist aber in diesem nicht eingeschlossen. Ebenso wenig bedeutet, wie die Schlussformeln der Traktate anzeigen, die methodische Abstraktion im Sinne des Christen Boethius den Ausschluss jenes Glücks. Sein Modell eines philosophischen Lebens impliziert also keine existentielle Wahl im eigentlichen und strengen Sinne. Heute bildet – anders als in den mittelalterlichen Schulen – die methodische Trennung von Philosophie und Offenbarungstheologie eine Selbstverständlichkeit. Hinter sie kann, wie Hadot auch weiß, im öffentlichen wissenschaftlichen Diskurs nicht mehr zurückgegangen werden. Vor diesem Hintergrund erscheint sein Anliegen, die existentielle Dimension der Philosophie in der Gegenwart wieder zu beleben, in einem neuen Licht. Die Philosophie als existentielle Wahl und Lebensform zu erneuern bedeutet nun – unter den Bedingungen dieser Trennung – nämlich, die Abstraktion von christlichen Glaubensannahmen und Zielvorstellungen auch existentiell zu vollziehen, 35 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

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sie also von einer methodischen Abstraktion in einen realen Ausschluss zu verwandeln. Vielleicht würde Pierre Hadot, der 1952 aus der Kirche ausgetreten ist, dieser Folgerung nicht widersprechen.

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Philosophie: theoretische Wissenschaft oder kontemplative Lebensform?

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Die Einheit von theoretischem Denken und kontemplativer Lebensform in der griechischen Frühzeit Wolfgang Speyer

»Phi[losophie]. Ursprünglich ist Wissen und Thun vermischt – dann trennen sie sich und am Ziel sollen sie wieder vereinigt und cooperierend, harmonisch, aber nicht vermischt seyn«. Novalis 1

1.

Einleitung: Von der Einheit des menschlichen Bewusstseins ›im Anfang‹

Der seelische und geistige Weg, den die Menschheit von ihren Anfängen bis heute genommen hat, ähnelt dem Weg des Kleinkindes zum Erwachsensein. Wie das gerade geborene Kind noch fast gänzlich mit der Mutter verbunden ist und mit ihr eine Einheit bildet, so waren auch die frühen Menschen mit der sie umgebenden ›Mutter Natur‹ einheitlich verbunden. Dieses Verbundensein ›im Anfang‹ der Selbstfindung des Menschen war weit stärker als die sich erst langsam durchsetzende Trennung des zu sich selbst erwachenden Menschen und der ihn umgebenden Welt. Eine lange Geschichte liegt hinter der heutigen Vorstellung von dem Subjekt Mensch, das dem Objekt Welt gegenübersteht. Der Mensch erwachte schrittweise aus der anfänglichen unio magica und gelangte erst in den letzten zehntausend Jahren nach dieser frühesten Epoche, die viele Jahrhunderttausende von Jahren gedauert hat, zu der im engeren Sinne geschichtlichen Epoche. Wesentlich für deren Entstehen waren die Zähmung wilder Tiere zu Haustieren und die Züchtung von Pflanzen und Bäumen für Acker- und Gartenbau. Ein weiterer Schritt in die geschichtliche Epoche war der Wandel der mündlichen Überlieferung in eine schriftliche in den beiden Flusskulturen Ägypten und Babylon und H. J. Maehl (Hrsg.), Novalis, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk (München 1978, Ndr. Darmstadt 1999) 478 (›Das allgemeine Brouillon‹).

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deren Einflussgebiet. Dass der Mensch in der Frühzeit der Jäger und Sammler die Welt noch weitgehend aperspektivisch erlebt hat, beweist die relative Geschichtslosigkeit dieser Epoche, die weit statischer erscheint als die geschichtliche, deren Veränderung mit fortschreitender Zeit bis heute immer schneller erfolgt ist und erlebt wird. Der einzelne Mensch war deshalb auch in der Frühzeit infolge der unio magica mit seiner Gemeinschaft viel tiefer verknüpft. So prägte das kollektive Erleben damals das individuelle Erleben viel stärker. Dieser Weg, den die Menschheit in ihrem Bewusstsein genommen hat, ist der Weg von einer Perspektive eines Kleinkindes zu der eines Erwachsenen. Wie die vielen Erscheinungen dieser Welt miteinander verwandt sind und genealogisch betrachtet auf eine Einheit ›im Anfang‹ zurückgehen, die sich erst nach und nach in eine Vielheit differenziert hat, so ist auch das menschliche Bewusstsein als Subjekt erst allmählich gegenüber der später als Objekt wahrgenommenen Welt gleichsam wie der mythische babylonische Oannes aus einem Ozean aufgetaucht 2. Das im menschlichen Selbst bewusst gewordene Empfinden, Wahrnehmen und Denken ist mit einem Erwachen vergleichbar, das eine neue Epoche im Universum eingeleitet hat, nämlich die Epoche des bewussten Menschen mit seiner Kultur gegenüber dem Unbewusstsein des Universums, griechisch gesprochen des göttlichen Kosmos oder der Physis/Natur, jüdisch-christlich gesprochen der Schöpfung. Das ursprüngliche ganzheitliche Erleben und Erfahren war magisch-religiös bestimmt; denn der Mensch erlebte sich und die Wirklichkeit, in der er lebte, vom Walten und Wirken dämonischgöttlicher Mächte und Kräfte erfüllt. Betrachten wir den Weg, den das menschliche Bewusstsein von seinen Anfängen genommen hat, so war es zugleich auch der Weg von einer relativen Fremdbestimmung durch diese Mächte zu einer relativen Selbstbestimmung, also der Weg von Passivität zu Aktivität. Noch bei Homer fühlen sich die Menschen in ihren Entscheidungen weitgehend durch die dämo-

2 W. Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte (Frankfurt a. M. 1985); Ders., Art. Hen (ἕν): Reallexikon für Antike und Christentum (= RAC) 14 (1988) 445–472. – Nach der babylonischen Kosmogonie erscheint die Gestalt des Offenbarers Oannes aus den formlosen Urwassern des Meeres; Beros(s)os: FGrHist 680 F 1, 4; J. Oelsner, Art. Oannes: Der Neue Pauly 8 (2000) 1079.

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Die Einheit von theoretischem Denken und kontemplativer Lebensform

nisch-göttlichen Mächte bestimmt, also fremdbestimmt 3. Dieser Weg einer Emanzipation führte zu einer größeren Freiheit, allerdings in den Grenzen, in denen der Mensch steht, da er zugleich Teil der Natur ist und andererseits dem Wirklichkeitsganzen gegenübersteht, also sich in einer paradoxalen Struktur vorfindet. Das sich in der Wirklichkeit zeigende Dämonisch-Göttliche oder Heilige umfasste die später seit dem myth-historischen Zeitalter und seit der geschichtlichen Epoche auftretenden Bereiche des Wahren, Guten und Schönen, aber auch die ihres Gegenteils und bildete insofern eine den Menschen übersteigende Einheit, in die dieser aber als Teil der Welt selbst eingebunden und antwortgebend war. Deshalb konnte es in der frühen geschichtlichen Epoche noch nicht zu dem kommen, was wir die theoretische und die kontemplative Lebensform und ihr Ziel nennen: die mystische Einung mit dem Göttlichen. In gleicher Weise bildeten damals Theorie und Praxis eine Einheit. Diese gleichsam statische Einheit, die das mythische Zeitalter gänzlich bestimmt hat, änderte sich und führte zu dem myth-historischen Zeitalter der frühen Hochkulturen mit Einschluss der griechischen. Die Gründe, die zu diesem Wandel des Bewusstseins geführt haben, waren unter anderem die Entstehung von Ackerbau und Viehzucht. Beides regte zu einem höheren geistigen und sittlichen Bewusstsein an. Deshalb konnte die Antike die Göttin Demeter und ihre Tochter Persephone als diejenigen bezeichnen, die das tierische Leben der Vorzeit, den βίος θηριώδης, konkretisiert im Essen rohen Fleisches, der Omophagie, beendet haben 4. Stattdessen sollen sie die Gebote des 3 A. Lesky, Art. Homeros: Pauly/Wissowa, Suppl.-Bd. 11 (1968) 687–846, bes. 735– 740; J. Stallmach, Ate. Zur Frage des Selbst- und Weltverständnisses des frühgriechischen Menschen = Beiträge zur klassischen Philologie 18 (Meisenheim a. Glan 1968). 4 Zum ›tierischen Leben‹ Lucretius, de rerum natura 5,932: vulgivago vitam tractabant more ferarum; Horatius, saturae 1, 3, 109: more ferarum; Cicero, de inventione 1, 2: nam fuit quoddam tempus [vielleicht zu verbessern in quondam] cum in agris homines passim bestiarum modo vagabantur et sibi victu fero vitam propagabant … ; anders Cicero, pro Sestio 91; vgl. Plato, Protagoras 320 c 9; Vitruvius, de architectura 2, 1, 1: homines vetere more ut ferae. Bei Cicero, de inventione 1, 2 soll ein namenlos bleibender Einzelner, quidam magnus videlicet vir et sapiens, mit Hilfe der erwachenden Vernunft und der Rede die Menschen aus einem halbtierischen zu einem menschlichen Leben geführt haben; W. Spoerri, Späthellenistische Berichte über Welt, Kultur und Götter (Basel 1959) 152 f.: ›Der tierähnliche Zustand der Menschheit‹. – Zur Omophagie J. Haussleiter, Der Vegetarismus im Altertum = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 24 (Gießen 1935) 88–92.

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Ackerbaus und der Mysterien geschenkt haben und so hießen sie Thesmophoro 5. Eine ähnliche Wirkung, wie sie Demeter und Persephone ausgeübt haben sollen, schrieben einzelne Griechen auch dem ›göttlichen‹ Dichter-Sänger-Propheten Orpheus zu 6. Dazu trat die Mischung zwischen den Vorvätern der Griechen, die aus dem Norden bzw. dem Osten in die mediterrane Welt eingedrungen waren, und der älteren Bevölkerung des Mittelmeeres, die durch das Mutterrecht charakterisiert war 7. Die Verbindung zwischen den beiden Kulturen dürfte wesentlich die Neuartigkeit der neu entstandenen griechischen Kultur ausgelöst haben.

2.

Zum Wandel in der myth-historischen und der frühen geschichtlichen Zeit der griechischen Kultur

In der relativ kurzen myth-historischen Epoche, die in die Hochkulturen des Alten Orientes, Griechenlands und Roms sowie deren Tochterkulten bis in die Gegenwart geführt hat, lockerte sich mehr und mehr die Einheit von Heiligem und Profanem, die das frühere Empfinden, Wahrnehmen und Denken geprägt hatte 8. Bewusstseinsgeschichtlich erfolgte nunmehr der Übergang vom intuitiven BildIsocrates, paneg. 28; Diodorus, bibl. hist. 5, 5, 2 f.; Schol. in Lucian. dialog. meretr. 2, 1 (276, 22 f. 25–28 Rabe); M. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, Bd. 1 = Handbuch der Altertumswissenschaft 5, 2, 1 3(München 1967) 461–466; H. Petersmann, Altgriechischer Mutterkult: Matronen und verwandte Gottheiten = Beihefte der Bonner Jahrbücher 44 (Köln 1982) 171–199, bes. 190 f.: ›Die göttlichen Mütter als θεσμοφόρω und Spenderinnen der Fruchtbarkeit‹ ; R. Parker: Art. Thesmophoria: Der Neue Pauly 12, 1 (2002) 440 f.; A. B. Stallsmith, The Name of Demeter Thesmophoros: Greek, Roman and Byzantine Studies 48 (2008) 115–131. – Noch Friedrich Schiller hat in seinem Gedicht ›Das Eleusische Fest‹ Demeter in antiker Weise gestaltet. 6 F. Graf, Eleusis und die orphische Dichtung Athens in vorhellenistischer Zeit = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 33 (Berlin 1974) 34–37. 7 E. Kornemann, Art. Mutterrecht: Pauly/Wissowa Suppl.-Bd. 6 (1935) 557–571. 8 M. Eliade, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (München 1917, zuletzt ebd. 1991); vgl. C. Colpe (Hrsg.), Die Diskussion um das ›Heilige‹ = Wege der Forschung 305 (Darmstadt 1977); A. Dihle, Art. Heilig: RAC 14 (1988) 1–63; A. Paus, Art. Heilig, das Heilige I. Religionswissenschaftlich: Lexikon für Theologie und Kirche 4 3(1995) 1267 f.; W. Gantke, Art. Heilig, das Heilige II. Religionsphilosophisch: ebd. 1268–1271; Th. A. Idinopulos / E. A. Yonan (Hrsg.), The sacred and its scholars = Studies in the History of Religion 73 (Leiden 1996). 5

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denken des Mythos, der das mythische Zeitalter charakterisiert, zum diskursiven Begriffsdenken des Logos, der die geschichtliche Epoche auszeichnet. Hauptquellen für diesen Übergang sind neben dem Lehrdichter Hesiod (vor 700 v. Chr. vermutlich in Askra in Böotien) die nur fragmentarisch erhaltenen Zeugnisse der Alten Orphik, die den mythischen Dichtern Orpheus, Musaios und Linos zugeschrieben wurden 9. Dazu kommen die Zeugnisse über die ›Sieben Weisen‹ und ihre Aussprüche und über die religiösen Philosophen aus dem späten 7. bis zum Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr. Wenn Thales aus Milet (um 640 – um 562 v. Chr.) folgenden Satz formuliert haben soll: »Die Welt ist voll von Göttern«, so ist dieser Satz eine Abstraktion für noch unbewusst gebliebene Empfindungen und Vorstellungen des kollektiven Empfindens seiner Zeit und der vorangehenden Epoche 10. Die meisten Menschen in der Zeit von Thales fühlten sich noch weitgehend abhängig von den Göttern Homers und den vielfach nicht differenziert aufgefassten Geistern und Dämonen, zu denen auch die Toten gehörten. So wenig magisches von religiösem Tun anfänglich zu unterscheiden ist, so wenig sind auch Dämon und Gottheit im mythischen Zeitalter voneinander trennbar. Das magisch-religiöse Handeln in Mythos und Ritus, also die Antwort des Menschen auf das ihm sich in den Welterscheinungen des Himmels und der Erde offenbarende und ihn bestimmende Dämonisch-Göttliche, war gleichermaßen von Einheit bestimmt. Der Mensch als Empfindender, Wahrnehmender, Denkender und Deutender war zugleich auch Handelnder. Die menschliche Hand ist der sprechende Ausdruck des menschlichen Geistes, ähnlich wie seine Zunge. Denken/Deuten/ Sprechen und Handeln gehören in den Vor- und Frühkulturen zusammen wie Mythos und Ritus. Wenn wir den Entwicklungsgang der griechischen Philosophie von ihren Anfängen bis in das 5. Jahrhundert verfolgen, so beobachten wir im 5. Jahrhundert eine Wende, die von der Empfindung, Wahrnehmung, Erkenntnis und Deutung der Außenwelt durch den Menschen zu einer wachsenden Empfindung, Wahrnehmung, Erkenntnis und Deutung seiner Innenwelt geführt hat. Als geistiger Repräsentant für diesen geistesgeschichtlichen Wandel darf Sokrates A. Bernabé (Hrsg.), Musaeus, Linus, Epimenides … = Poetae Epici Graeci. Testimonia et Fragmenta 2, 3 (München 2007). 10 Thales bei Aristot. de anim. 1, 5, 411 a 7 f. = Vorsokratiker 11 A 22 (Diels/Kranz); vgl. Plato, de legibus 10, 899 b. 9

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gelten 11. Zunächst entdeckte der Mensch die Übermacht, die Gesetzmäßigkeit, die Schönheit, aber auch die Furchtbarkeit der sinnenhaften Erscheinungen der Wirklichkeit, wobei vor allem die himmlischen Erscheinungen ihn beeindruckt haben werden. Dies ließ ihn zu der Erkenntnis der göttlichen Mächte, der einen Gottheit oder der vielen göttlichen Mächte des Himmels und der Erde gelangen. Erst auf einer späteren Stufe fand er den Weg aus der fast vollständigen Fremdbestimmung durch das Dämonisch-Göttliche zu seiner Selbstbestimmung. So entdeckte er sich immer mehr als Subjekt in Fühlen, Denken und Wollen 12. Der seelische und geistige Weg führte ihn von der Objektivität der Außenwelt zur Subjektivität der Innenwelt, von der sinnenhaften, bildhaften zur abstrakten Vorstellung. Deshalb stehen auch die kosmo- und theo- sowie anthropogonischen Fragmente der griechischen Mythologen eines Hesiod und der Alten Orphik zeitlich vor denen, die über den Menschen und sein Lebensziel, also über seine Lebensformen, Auskunft geben 13. Aufgrund dieser Überlegung können die erhaltenen Fragmente der frühen griechischen Mythologen, Theologen und Philosophen in eine gewisse zeitliche Abfolge gebracht werden; denn die Aussagen über das Werden des Kosmos gehen den Aussagen über den Menschen und sein Lebensziel zeitlich voraus. Auch eine Erlösungsbedürftigkeit und Erlösungssehnsucht konnte es nur in einer bereits subjektiv fortgeschrittenen Epoche geben. Insofern konnte auch die Unterscheidung von Theorie und Praxis, von Erkennen und gelebtem Leben und deren Verhältnis zueinander erst in der Epoche einer beginnenden Subjektivierung, also in der Zeit des 7. bis zum 5. Jahrhundert v. Chr., in Griechenland entstehen 14. Im Gegensatz zu der Geisteswelt Indiens und Chinas er11 Cic. Tusc. 5, 10: Socrates autem primus philosophiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit et in domus etiam introduxit et coegit de vita et moribus rebusque bonis et malis quaerere. 12 Zu dieser Dreiteilung, die sich auch in der Sprache einen Ausdruck geschaffen hat, E. Struck, Bedeutungslehre. Grundzüge einer lateinischen und griechischen Semasiologie mit deutschen, französischen und englischen Parallelen 2(Stuttgart 1954, Ndr. Darmstadt 1972). 13 H. Schwabl, Art. Weltschöpfung: Pauly/Wissowa Suppl.-Bd. 9 (1962) 1433–1582, bes. 1467–1469. 14 B. Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen 3(Hamburg 1955, Ndr. Göttingen 2011) 401–411: ›Theorie und Praxis‹. Mit diesem Gegensatz ist der Gegensatz von Wort und Tat verwandt; vgl. noch Rom. 15, 18; H. D. Kemper, Rat und Tat. Studien zur Darstellung eines anti-

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scheint gerade dieser Gegensatz von Theorie und Praxis als ein Spezifikum des griechischen und damit des späteren europäischen Geistes, der die Weltkulturen bis heute beherrscht 15. In der myth-historischen und frühgeschichtlichen Epoche vermochten sich nicht alle Menschen in gleicher Weise als Wahrnehmende, Empfindende, Denkende, Deutende, Sprechende und Handelnde zu äußern. Vielmehr wiesen einzelne Menschen, die sich dazu von höheren Mächten berufen fühlten, den Weg aus der unio magica hinaus. Diese waren die ›göttlichen‹ und ›heiligen‹ Menschen mit ihren magisch-religiösen charismatischen Gaben, wie Kardiognosie, Praekognition, Telekinese, Glossolalie u. a., die sie im Blick auf sich selbst und auf ihre Gemeinschaft ausgeübt haben. Auch im Fall dieser führenden geistigen Persönlichkeiten herrschte die Einheit vor der Differenzierung ihrer Tätigkeiten; denn der frühe ›göttliche‹ Mensch war zugleich Priesterkönig, religiöser Gesetzgeber, Seher, Dichter-Sänger-Prophet, Arzt-Seher, Lehrer und Richter 16. Mögen anfänglich auch die leiblich Stärksten ähnlich wie bei den Herdentieren die Aufgabe der Führung übernommen haben, so traten diesen körperlich »Ausgezeichneten« – man denke an Herakles und viele andere frühe griechische Heroen! – bald jene Menschen als Rivalen an die Seite, die aufgrund ihrer seelischen und geistigen Gaben ihre Überlegenheit erweisen konnten. Nicht zufällig verkörpern die Helden der Ilias wie die Helden einer Frühkultur überhaupt weithin den Typos des leiblich Starken, während der Held der zeitlich späteren Odyssee, Odysseus, vor allem seine rationalen Kräfte einsetzt und durch sie seine Überlegenheit ausspielt, wie unter anderem die Auseinandersetzung mit dem ihm körperlich weit überlegenen Riesen Polyphem beweist. Dass Odysseus als Meister der List und des Truges, also verstandesmäßig gegebener Möglichkeiten in vielen thetischen Begriffspaares in der klassischen Periode der griechischen Literatur, Diss. Bonn (1960); ebd. zur Vereinigung in der Tragödie (S. 37–39) und bei Platon (S. 54– 58). 15 Snell, Entdeckung a. O. 401–403. – Die Wirkungsgeschichte dieser altgriechischen Vorstellung gehört zum europäischen Einfluss auf die Kulturen der Erde, so bis nach China: Mao Tsetung, Vier philosophische Monographien 2(Peking 1968, Ndr. 1971) 1–25: ›Über die Praxis. Über den Zusammenhang von Erkenntnis und Praxis, von Wissen und Handeln‹. 16 W. Speyer, Das Hervortreten des Einzelnen in den Anfängen der antiken Mittelmeerkulturen. Zum Person-Sein und zur ›Personifikation‹ : St. Beyerle (Hrsg.), Die Erfindung des Menschen. Person und Persönlichkeit in ihren lebensweltlichen Kontexten = Theologie – Kultur – Hermeneutik 21 (Leipzig 2016) 245–266.

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Szenen des gleichnamigen Epos erscheint, weist auf Ionien, das Herkunftsland der griechischen Philosophie, hin 17. Insofern beginnt die Vorgeschichte der in Ionien entstandenen Philosophie als einer theoretischen Geisteshaltung bereits wetterleuchtend in der Ilias, ausgeformter aber in der Odyssee. Denken und Handeln erscheinen dabei als Einheit und als ein Akt, entsprechend zum ursprünglichen magisch-religiösen Handeln in der im Kult antreffbaren Verbindung von Wort und Handlung, von Mythos oder Hieros Logos und Ritus 18. Wie das Wort, die Sprache, Ausdruck der Gedanken ist, so ist das Handeln Ausdruck des Willens. Als drittes Vermögen der Seele ist das Fühlen zu nennen. Die Seele verfügt über diese drei Kräfte und bildet aus ihnen eine Einheit. Die Verbindung von Fühlen und Denken beansprucht noch Hugo von Hofmannsthal für den Dichter, wenn er sagt: »Er sieht und fühlt; sein Erkennen hat die Betonung des Fühlens, sein Fühlen die Scharfsichtigkeit des Erkennens«. Die Einheit ist bei ihm insofern betont, als im Dichter alle Erscheinungen und alle Elemente der Zeit zusammenkommen und von ihm verknüpft werden 19.

3.

Zur Einheit von Theorie und Praxis bei den ›Sieben Weisen‹ und den frühen religiösen Philosophen

Eine Bestätigung für die Einheit von Theorie und Praxis in der griechischen Frühzeit bietet Dikaiarchos (um 375/350 – um 285 v. Chr.), ein Schüler des Aristoteles. Er sah diese Einheit bei den ›Sieben Weisen‹, deren Namen in unserer Überlieferung variieren und zu denen auch der mythische Sänger Orpheus gezählt wurde, verwirklicht und stellte diese Einheit gegen das Auseinanderfallen von Theorie und Praxis in seiner eigenen Zeit 20. Tatsächlich zerbrach diese Einheit geG. Nightingale, Der listenreiche Odysseus. Zwischen Genialität und Normalität: J. Klopf / M. Gabriel / M. Frass (Hrsg.), Trickster – Troll – Trug = Salzburger Kulturwissenschaftliche Dialoge, Bd. 4 (Salzburg 2016) 119–151. 18 C. Colpe, Art. Heilige Schriften: RAC 14 (1988) 184–223; R. Baumgarten, Heiliges Wort und Heilige Schrift bei den Griechen = ScriptOralia 110 (Tübingen 1998) 70–121 zum orphischen Schrifttum; 144–170 zum pythagoreischen Schrifttum. 19 H. v. Hofmannsthal, Der Dichter und diese Zeit. Ein Vortrag: Die neue Rundschau 1 (1907) 257–276, bes. 266 f. 20 Dikaiarchos, frg. 31: F. Wehrli, Die Schule des Aristoteles, Bd. 1 2(Basel 1967) 19. 51 f.; B. Snell, Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie (σοφία, γνώμη, σύνεσις, ἱστορία, μάθημα, ἐπιστήμη) = Philologische 17

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gen Ende des 5. Jahrhunderts. Euripides verlegte die Trennung sogar in das Zeitalter der Heroen. In seiner Tragödie ›Antiope‹ lässt er Amphion, der sich im Gesang und im Spiel der von Hermes geschenkten Leier übt, und Zetos, der die Rinder weidet, als Repräsentanten der theoretischen und der praktischen Lebensform auftreten und gegeneinander streiten 21. Als die mündliche Überlieferung bei den Griechen im 7. Jahrhundert v. Chr. durch die Schriftlichkeit verdrängt wurde, lösten der weise und der religiöse Denker als Führer in eine stärker geschichtlich geprägte Kultur den Dichter-Sänger-Propheten der myth-historischen Epoche, der die seelische und geistige Welt als ein Ganzes repräsentierte, ab. Wie die fragmentarisch erhaltenen antiken Quellen angeben, standen diese frühen griechischen Denker aus Ionien und aus Unteritalien dem älteren Typus des magisch-religiösen und charismatischen Menschen noch nahe. So wird von einer Reihe der vorsokratischen Philosophen berichtet, dass sie unter anderem durch ihre magisch-religiösen Kräfte Einfluss auf die Witterung ausgeübt haben sollen. Genannt werden Epimenides aus Kreta (5., 6. oder 7. Jh. v. Chr.), Pythagoras aus Samos (um 570 – nach 510 v. Chr.), Empedokles aus Akragas (um 495 v. Chr. – um 435 v. Chr.) und Demokrit von Abdera in Thrakien (460/459 – um 371 v. Chr.) 22. Der noch antreffbare Zusammenhang zwischen dem herausragenden homo religiosus und dem frühen Denker ist bei diesen Persönlichkeiten ebenso zu erkennen wie die Einheit von Denken und Handeln. Diese Einheit zeigt sich nicht nur in der engen Verbindung von Magie/Religion und Denken sowie Handeln in dem einzelnen religiösen Philosophen, sondern diese Einheit entspricht zu dieser Zeit der Einheit des Denkens und des diesem entsprechenden Handelns. Der frühgriechische religiöse Philosoph erlebte und sah bei seiner Betrachtung der Welt und ihrer geistigen Zusammenhänge die Einheit Untersuchungen 29 (Berlin 1924) 1–20, bes. 1 f.: ›Σοφία‹. Noch Lukian von Samosata klagt über jene Philosophen, die anders reden und anders handeln (piscator 30–33. 37). – Den Auseinanderfall von vita contemplativa und vita activa zeigt auch die nur bei Lukas 10, 38–42 überlieferte Evangelien-Perikope: ›Jesus bei Martha und Maria‹. 21 Euripides, Antiope frg. 182 b – 203 (Trag. Graec. Frg. 5, 1 Kannicht). 22 E. Pfeiffer, Studien zum antiken Sternglauben = Stoicheia 2 (Leipzig 1916) 93– 103; W. Fiedler, Antiker Wetterzauber = Würzburger Studien zur Altertumswissenschaft 1 (Stuttgart 1931) 17–23: ›Der Weise als Wetterzauberer‹ ; ferner vgl. A. Speyer-Sallinger, Die Macht des Herrschers über die Segenskraft der Natur = Grazer Beiträge, Suppl. 16 (Salzburg, Horn 2013) 172–191.

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von Heiligem und Profanem. Für ihn war die ›Physis/Natura‹, ein Begriff, der die wohl ältere griechische Vorstellung des ›göttlichen Kosmos‹ variierend abgelöst hat 23, eben einen Zusammenfall von Heiligem, von Magisch-Religiösem, von Dämonisch-Göttlichem und von Profanem. Die bereits auch naturwissenschaftlich aufgefassten Elemente der Welt sind für diese frühen Philosophen aber nicht nur physikalische, sondern zugleich auch dämonisch-göttliche Größen. Die Einheit von Theologie und Philosophie, von Natur- und Geisteswissenschaft ist auf dieser Stufe eines beginnenden begrifflich-diskursiven Denkens noch ganz vorhanden 24. Deshalb konnte es auf dieser frühen Stufe der Reflexion auch noch keinen Auseinanderfall von Theorie und Praxis geben. Theorie, griechisch θεωρία, ist zunächst das Schauen, das Sehen, also der erste der menschlichen Sinne 25. Dieses Sehen ist immer zugleich ein seelisches, also ein empfindendes, und ein geistiges Sehen. Es liegt also keine Übertragung vom sinnenhaften Bereich auf den geistigen und seelischen Bereich vor, sondern bei diesem Vorgang geht es um ein Ineinander und Miteinander dieser Bereiche. Die θεωρία oder lateinisch contemplatio betrifft zunächst die Erscheinungen des Himmels und der Erde, dann aber auch die mystische Schau, wie sie vor allem in den Mysterien von Eleusis geübt wurde 26. Diese war eine Schau des äußeren und des inneren Auges der Mysten. Damit H. Patzer, Physis. Grundlegung zu einer Geschichte des Wortes = Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt 30, 6 (Stuttgart 1993). 24 F. Kattenbusch, Die Entstehung einer christlichen Theologie. Zur Geschichte der Ausdrücke θεολογία, θεολογεῖν, θεολόγος: Zeitschrift für Theologie und Kirche, N.F. 11 (1930, Ndr. = Libelli 69, Darmstadt 1962) 161–205. 25 F. Boll, Vita contemplativa = Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 1920, 8 (Heidelberg 1920) 6; zum lat. contemplatio ebd. 6 f.: H. Jacobson, Art. contemplabilis eqs: Thes. Ling. Lat. 4 (1906/09) 646–652, bes. 650. Bemerkenswert ist, dass contemplatio, contemplari den religiösen Begriff templum enthält, wobei templum in der Auguralsprache einen am Himmel begrenzten sakralen Bereich bezeichnet; A. Lumpe, Art. Kontemplation: RAC 21 (2006) 485–498. 26 Der höchste Mystengrad hieß ›der Schauende‹, ἐπόπτης; E. Fascher, Art. Epoptie: RAC 5 (1962) 973–983, bes. 977–979; Ch. Auffahrth, Art. Mysterien (Mysterienkulte): RAC 25 (2013) 422–471, bes. 428–430: ›Die Mysterien von Eleusis als Modell‹, der aber Fascher nicht berücksichtigt; vgl. W. Speyer, Religionsgeschichtliche Studien = Collectanea 15 (Hildesheim 1995) 56–74. 192 f.: ›Einblicke in die Mysterien von Eleusis‹ ; Ders., Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld, Bd. 3 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 213 (Tübingen 2007) 103–119, bes. 113–117: ›Zu den antiken Mysterienkulten‹. 23

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verweist die θεωρία auf eine Stufung in einer Einheit, da es das Himmlische nur im Verhältnis zum Irdischen gibt und umgekehrt. Entsprechend zu dieser Einheit und Unterschiedenheit von Himmel und Erde stehen die Einheit und die Unterschiedenheit von Seelischem, Geistigem und Leiblichem und von seelischer, geistiger und sinnenhafter Wahrnehmung. Die θεωρία bezieht sich auf das Universum, das die Griechen als ›göttlichen Kosmos‹ aufgefasst haben. Sie erfassten diesen als ein Ineinander von Wahrem, Gutem, Schönem und Heiligem, also als eine Einheit, eine Ganzheit und ein Sinngefüge, das über diese vier Aspekte verfügte und den Menschen auf vierfache Weise ansprach, nämlich auf eine dialektische, eine ethische, eine ästhetische und eine theologische Weise. So konnte zwischen Kosmos und Mensch ein Dialog entstehen, der ganzheitlich bestimmt war und in seiner idealen Gestalt Intuition und Diskursivität, Identität und Differenz miteinander verband und aussöhnte. Sehr nachdrücklich ist dies bei Heraklit (um 520 – 460 v. Chr.), Parmenides (um 520/515 – 460/455 v. Chr.) und Platon (428/427 – 348/347 v. Chr.) gelungen. Diese θεωρία zeichnet die Griechen als Betrachter fremder Völker aus. Sie traten nicht nur als Kolonisten und als Handeltreibende wie die Phönizier in den Ländern des Mittelmeeres auf, sondern auch als Beobachter 27. Wie Herodot bemerkt, sei der Gesetzgeber Solon (wohl um 640 v. Chr. – vermutlich um 560 v. Chr.) um des Sehens, der Theoria, und damit der Forschung willen nach Ägypten zum Pharao Amasis und nach Sardes zu König Kroisos gereist. Dabei verbindet König Kroisos im Blick auf Solon den Begriff der Theorie mit dem der Philosophie 28. Die erhaltene griechische Literatur beginnt mit der Darstellung von Wanderungen und Reisen. Sie berichtet über die Griechen vor Troja, über die Rück- und Irrfahrten der von dort heimkehrenden Helden und über die Reisen der homerischen Sänger. Von zahlreichen Weisen, Philosophen und Geschichtsschreibern wird berichtet, dass sie in die Länder des Vorderen Orients und nach Ägypten gereist seien, um diese, ihre Bewohner und deren Denken genauer kennen zu lernen 29. W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld, Bd. 2 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 116 (Tübingen 1999) 231–243. 284 f.: ›Die Griechen und die Fremdvölker. Kulturbegegnungen und Wege zur gegenseitigen Verständigung‹ ; A. Dihle, Die Griechen und die Fremden (München 1994). 28 Herodot 1, 30, 1 f. 29 Th. Hopfner, Orient und griechische Philosophie = Der Alte Orient 4 (Leipzig 27

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Denken und Lebensvollzug bildeten in der griechischen Frühzeit eine Einheit. Bestimmte Menschen, die ›göttlichen‹ Menschen, fühlten und wussten sich von einer höheren Macht berufen, auf die Gemeinschaft, in der sie standen und die sie mittrug, zugehen zu müssen. Dies gilt bereits für die homerischen Sänger, für den göttlichen Dichter-Sänger-Propheten und sodann für den sich inspiriert fühlenden Lehrdichter Hesiod: Sie verwiesen durch ihren Anruf der Musen, dass ihr Werk vornehmlich ein Geschenk einer höheren übermenschlichen Macht sei 30. In dieser Traditionslinie stehen die ältesten frühgriechischen religiösen Philosophen, man denke an Parmenides und seine Auffahrt zur ›Göttin‹, die ihn über das ›Ist‹ und das ›Nicht-Ist‹ belehrt 31. Die Individualisierung vollzog sich seit dem Zeitalter der Schriftlichkeit in Griechenland und seiner Inselwelt, einem Land, das aufgrund seiner differenzierten geographischen Struktur der Differenzierung im Denken entgegenkam, mit großen Schritten. Trotzdem bildeten sich sehr schnell Schulen des Denkens, also philosophische Schulen, die zugleich zu Schulen eines sittlichen Handelns wurden. So bildeten sich sehr bald die bis in die Gegenwart hinein zu beobachtenden verschiedenen und gegensätzlichen Lebensformen 32. Als solche begegnen die theoretische, die praktische, die hedonistische Lebensform und auch gemischte Lebensformen. Diese wurden nicht nur gelebt, sondern auch zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit bedacht, begründet und auch kritisiert. Als die älteste erschließbare reflektierte Lebensform dürfte die orphische anzusehen sein. Die Alte Orphik hat einen bedeutsamen Schritt in Richtung auf das Begriffsdenken gesetzt, wie unter anderem ihr Bedenken des Eingott-Glaubens beweist 33. Zugleich hat sie 1925) 1–9 mit zu einschränkender Darstellung; vgl. A.-J. Festugière, La révélation d’Hermès Trismégiste 1 3(Paris 1950) 19–44, bes. 23–26; W. Speyer, Art. Barbar I: RAC Suppl. Bd. 1 (2001) 811–895, bes. 826–829: ›Die Barbarenphilosophie‹ ; A. Dihle, Ausgewählte kleine Schriften zu Antike und Christentum = Jahrbuch für Antike und Christentum, Erg.-Bd. 38 (Münster 2013) 409–421: ›Die griechische Philosophie zur Zeit ihrer Rezeption durch Juden und Christen‹. 30 Speyer, Frühes Christentum, Bd. 2 a. O. (s. o. Anm. 27) 89–101: ›Gottheit und Mensch, die Eltern des Kunstwerkes. Zu einer abendländischen Offenbarungsvorstellung‹. 31 VS 28 B 1 f. (Diels/Kranz). 32 J.-C. Fredouille, Art. Lebensform: RAC 22 (2008) 993–1025, bes. 996 f., der aber erst mit Pythagoras beginnt. 33 F. Jourdan, Art. Orpheus (Orphik): RAC 26 (2015) 576–613, bes. 605.

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Die Einheit von theoretischem Denken und kontemplativer Lebensform

eine ihrem Denken entsprechende religiöse und sittliche Lebensform ausgestaltet, den Ὀρφικὸς βίος, welcher der pythagoreischen Lebensform, dem Πυθαγορικὸς βίος, zeitlich vorangeht und mit ihm viele Gemeinsamkeiten besitzt 34. Allerdings sind die antiken Quellen für diese philosophische religiös-sittlich geprägte Lebensform sehr fragmentarisch 35. Die Vorstellung eines Ὀρφικὸς βίος setzt wie die des Πυθαγορικὸς βίος eine religiös-philosophische Gemeinschaft voraus, eben die der Orphiker und sodann die der Pythagoreer 36. Das Ziel beider war die leibliche und seelische Reinheit als Voraussetzung für die Begegnung mit dem Göttlichen 37. Deshalb finden sich in beiden Gemeinschaften ähnliche Vorschriften, so über die Enthaltung von allem, was Leib und Seele verunreinigen kann. Dazu gehören Bestimmungen über die Ernährung, so vor allem, auf Fleischnahrung zu verzichten. Mit der Enthaltung von Fleischnahrung fielen folglich auch die blutigen Opfer weg 38. Besonders betont wurde, nicht vom Herzen und vom Gehirn der Tiere zu essen sowie Eier und Bohnen grundsätzlich zu meiden 39. Damit ist die Vorschrift verbunden, keine Wollkleider zu tragen 40. Im Hintergrund bestand die Überzeugung der engen Verwandtschaft des Menschen mit anderen Lebewesen, vornehmlich mit den höheren Tieren, und der Glaube an die Seelen-

A. Bernabé (Hrsg.), Orphicorum et Orphicis similium Testimonia et Fragmenta 2 = Poetae Epici Graeci. Testimonia et Fragmenta 2, 2 (München 2005) frg. 634–636: ›praecepta Orphica Pythagoricis similia‹ ; B. L. van der Waerden, Die Pythagoreer. Religiöse Bruderschaft und Schule der Wissenschaft (Zürich 1979) 163–185: ›Vom pythagoreischen Leben‹ ; J. C. Thom, Art. Pythagoras (Pythagoreer): RAC 28 (2017) 496–522, bes. 498 f.: ›Die pythagoreische Lebensform‹. 35 Orph. frg. 625–652 (Poet. Epic. Graec. 2, 2 Bernabé): ›praecepta de vita Orphica‹. 36 Orph. frg. 653–664 (Poet. Epic. Graec. 2, 2 Bernabé): ›Orpheotelestae et alii Orphicae doctrinae sacerdotes‹ ; Jourdan a. O. 598 f.; ferner ebd. 602 f.; 606 mit Hinweis auf Hieron. adv. Iovin. 2, 14 (Patrologia Latina 23, 304 C). – Plat. leg. 782 c = Orph. frg. 625 (Poet. Epic. Graec. 2, 2 Bernabé). 37 Diogenes Laertios, de vitis philosophorum 8, 33; ebd. zu Badevorschriften. 38 Orph. frg. 629–633. 637–640 (Poet. Epic. Graec. 2, 2 Bernabé); J. Haussleiter, Art. Fleisch II (als Nahrung): RAC 7 (1969) 1105–1110, bes. 1106. 39 Orph. frg. 628. 645–649 (Poet. Epic. Graec. 2, 2 Bernabé); F. Böhm, De symbolis Pythagoreis, Diss. Berlin (1905) 14–27: ›De cibis reiciendis‹ ; Haussleiter, Vegetarismus a. O. (s. o. Anm. 4) 79–163; Th. Klauser, Art. Bohne: RAC 2 (1954) 489–502, bes. 493 f.; R. Turcan, L’œuf orphique et les quatre éléments (Mart. Cap., de nuptiis 2,140): Revue de Histoire des Religions 160 (1961) 11–23. 40 Orph. frg. 650 f. (Poet. Epic. Graec. 2, 2 Bernabé): ›De laneo vestitu profano apud Orphicos‹. 34

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wanderung 41. Bei den Pythagoreern gab es außerdem das Gebot eines fünfjährigen Schweigens 42. Diese beiden religiösen philosophischen Schulen fanden eine Nachfolge in der Akademie Platons. Plato beruft sich mehrfach auf die beiden älteren Schulen und führt deren ganzheitlichen Geist verwandelt weiter 43. In seinen Dialogen verbindet er das argumentierende Denken mit der Kontemplation, die vor allem in seinen Mythen zum Ausdruck kommt. Seine Reisen nach Sizilien dienten seinem Ziel im weiteren Sinn, nämlich die Philosophie mit dem Wirken für die Gemeinschaft zu verbinden. In der Tradition der Einheit von Rationalität und von Kontemplation stehen in der Folgezeit Mittel- und Neuplatonismus sowie die stoische und die neupythagoreische Schule. Diese Philosophenschulen, die ein immer differenzierteres diskursives Denken mit einer ihnen entsprechenden sittlichen Lebensform verbinden wollten, waren Vorläufer der ähnlich eingestellten christlichen Mönchs- und Ordensgemeinschaften. Wie die genannten griechischen Philosophenschulen sich gegenüber der zunächst religiösen, dann aber sich mehr und mehr profanierenden Polis-Gemeinschaft abgesetzt und eine wachsende Innerlichkeit betont haben, ähnlich versuchten das nach Sprachen reich gegliederte östliche Mönchtum und das von ihm abhängige lateinische westliche Mönchtum, durch die Verbindung von Kontemplation und Handarbeit sich von den mehr und mehr dem Diesseits zuwendenden Christen der Volkskirche zu unterscheiden. In den genannten Philosophenschulen wie in den Mönchsgemeinschaften trugen und befruchteten sich ein vertieftes religiös-philosophisches Nachdenken über das Göttliche und eine die menschlichen Triebe zurückdrängende Lebensgestaltung gegenseitig. Auf diese Weise versuchten diese Kreise, sich dem Göttlichen als dem Ziel des Menschen anzunähern, ihm zu begegnen, ja mit ihm sich zu einen.

Orph. frg. 421–469 (Poet. Epic. Graec. 2, 1 [München 2004] Bernabé): ›Fragmenta de animae natura origine et fato‹ ; van der Waerden a. O. (s. o. Anm. 34) 116 f. 42 Lukian, somnus vel gallus 4; vit. auct. 3 u. ö.; Eusebius, historia ecclesiastica 4, 7, 7. – Die griechischen Mysterien waren von Schweigen umgeben; Orph. frg. 1. 3 (Poet. Epic. Graec. 2, 1, 2. 14 Bernabé); O. Casel, De philosophorum Graecorum silentio mystico = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 16 (Gießen 1919, Ndr. Berlin 2011); M. Picard, Die Welt des Schweigens (Erlenbach-Zürich 1948, Ndr. 1977). 43 Haussleiter, Vegetarismus a. O. (s. o. Anm. 4) 184–198. 41

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Die Einheit von theoretischem Denken und kontemplativer Lebensform

4.

Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie

Betrachten wir die Anfänge der Philosophie, die bei den Griechen als religiöse Philosophie während des 6. Jahrhunderts v. Chr. entstanden ist, so liegen deren Wurzeln in der Endphase des mythischen Zeitalters. Die Dichter-Sänger-Propheten haben mit ihren Heroen-Epen bereits eine Frühform des geschichtlichen Denkens entwickelt. Den Sängern der homerischen Lieder war bewusst, dass die von ihnen besungenen Helden bereits einer jüngeren Zeit angehörten, die ihnen weniger kraftvoll erschien als die vorangehende Heroengeneration. Zu dieser gehörten die Lapithen, die Helden der Kalydonischen Jagd sowie Helden von der Statur eines Herakles oder Iason und DichterSänger-Propheten vom Rang eines Orpheus. Mochten die Helden vor Troja auch Söhne von Göttern oder Göttinnen gewesen sein, so hielten die homerischen Sänger sie für weniger kraftvoll als die Argonauten 44. Während die Eroberung Trojas seit Ephoros aus Kyme (um 400 – 330 v. Chr.) bereits als eine geschichtliche Tatsache galt, war die Fahrt der Argonauten noch in einer vorgeschichtlichen Zeit angesiedelt 45. Ähnlich wie später bei Hesiod und seinem Weltaltermythos erscheint bei diesen Dichter-Sängern bereits ein aufkommendes geschichtsphilosophisches Modell, und zwar das der Dekadenz 46. Dieses am Werden und Vergehen alles Lebendigen abgelesene Modell kannte mehrere Phasen, eine Phase der Vollkommenheit und eine Phase des Niederganges sowie des Endes. Bei Hesiod entsprach das Goldene Zeitalter der Phase der Vollkommenheit, während seine eigene Gegenwart, das Eiserne Zeitalter, den Niedergang und das Ende bedeutete. Wenn nach einer mythischen Anschauung die Welt oder das Universum im Frühling begonnen hat, dann entspricht diese Vorstellung gewissermaßen dem genannten Dekadenzmodell 47. Die Entsprechung zu den Jahreszeiten und zum Tag sowie zu den Lebensperioden Ilias 1, 260–272: vgl. 5, 302–304; Odyssee 7, 66–68. Zur antiken Datierung dieses Krieges J. Stenger, Art. Troia III. Mythologie, in: Der Neue Pauly 12, 1 (2002) 862–865, bes. 864. 46 Hesiod. opera 106–201, bes. 174–178; A. Kehl / H.-I. Marrou, Art. Geschichtsphilosophie: RAC 10 (1978) 703–779, bes. 745 f.: ›Geschichtsepochen. Weltalter‹ 749– 751: ›Entartung‹ ; Speyer, Frühes Christentum, Bd. 2 a. O. (s. o. Anm. 27) 69–87, bes. 72–74: ›Dekadenzempfinden und Sehnsucht nach den für machtvoll gehaltenen Anfängen‹. 47 Pervigilium Veneris 1: vere natus orbis est; Macrob. in somnium Scipionis 1, 21, 23 f.; E. Norden, Die Geburt des Kindes 2 (Leipzig 1930, Ndr. Darmstadt 1969) 16–18. 44 45

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des Menschen ist dabei offenkundig. Die mythische Vorstellung eines ursprünglichen vollkommenen Zeitalters, das die Harmonie zwischen den Göttern und den Menschen in der Urzeit auszeichnete, hat der Mensch nach einer mythischen Überlieferung durch einen Frevel zerstört. In diesem Punkt entspricht die griechische Überlieferung von einem Urfrevel mit seinen negativen Folgen der christlichen Lehre von der Erbsünde 48. Auch nach Platon und Dikaiarchos standen die Menschen der Urzeit den Göttern näher als die Menschen ihrer Zeit 49. Die frühen Dichter-Sänger haben mit Hilfe des Gedankens der Genealogie, welche die Verwandtschaft aller Erscheinungen der Natur und ihr Aus- und Nacheinander als Abstammung und damit geschichtlich erklärt, das Werden ihrer Umwelt gedeutet. Entscheidend war für sie das allgemein angenommene Grundverhältnis, in dem sich alle Erscheinungen der Natur mit Einschluss des Menschen befinden: Diese Relation besteht zwischen den abhängigen Menschen und den vorgegebenen Bedingungen, die vom Dämonisch-Göttlichen ausgehen und sich vornehmlich in den bedeutsamen Erscheinungen des Alls zeigen, aussprechen und offenbaren. Während das Dämonisch-Göttliche in sich selbst geheim bleibt, verweisen seine Wirkungen in Leben und Tod, in Heil und Unheil, in Segen und Fluch auf diesen Urgrund zurück. Insofern beginnt dieses für uns noch fassbare, in Sprache, Literatur und bildende Kunst umgesetzte Denken der griechischen Frühzeit als ein theologisch-philosophisches Denken. Chiffriert begegnet dieses Denken über das Verhältnis von Mensch, Welt und Gottheit auch in den Resten der religiösen Denkmäler. Die Denkmäler, wie heilige Haine, Opferplätze, Kultgebäude, Altäre, heilige Steine und Götterbilder, bezeugen in ihrer Sprache, dass die Menschen damals über die Bedingungen und die AufrechtOrphica frg. 320 (Poetae Epici Graeci. Testimonia et Fragmenta 2, 1, 262–265 Bernabé); K. Ziegler, Art. Orphische Dichtung: Pauly/Wissowa 18, 2 (1942) 1321–1417, bes. 1354 f.; P. Courcelle, Art. Gefängnis der Seele: RAC 9 (1976) 294–318, bes. 295– 298; W. Speyer, Art. Gottesfeind: RAC 11 (1981) 996–1043 bes. 1008; Ders., Frühes Christentum, Bd. 2 a. O. (s. o. Anm. 27) 59. – In Rom wurde der Brudermord des Romulus als Frevel mit weitreichenden Folgen angesehen; z. B. Horaz, epode 7, 17– 20; vgl. 16, 9. – J. Gross, Geschichte des Erbsündedogmas, Bd. 1–4 (München 1960– 1972). 49 Plato, Philebos 16 c; K. Reinhardt, Art. Poseidonios Nr. 3: Pauly/Wissowa 22, 1 (1953) 558–826, bes. 812. – Wie Porphyrius, de abstinentia 4, 2 mitteilt, behauptete Dikaiarchos, »dass die Alten den Göttern nahegestanden und von Natur aus die Besten gewesen seien und dass sie das beste Leben geführt hätten …«. 48

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Die Einheit von theoretischem Denken und kontemplativer Lebensform

erhaltung ihres Daseins als lebendige und leibliche Wesen nachgedacht und entsprechend sich verhalten haben. Deshalb ist die gesamte magisch-religiöse Überlieferung der Ursprungs- und Hochkulturen gewissermaßen eine theologisch-philosophische und auch kontemplative Aussage. Ein Ziel dieser Aussage war es, das Überleben zu sichern: zum einen das leibliche Leben in dem vom Tod in Form von Naturkatastrophen, wilden Tieren und Krankheiten bedrohten irdischen Leben, und zum anderen das seelische Weiterleben nach dem leiblichen Ende. So entzündete sich das sich später in Theologie und Philosophie differenzierende Begriffsdenken an den genannten Gegensätzen von Leben und Tod, von Heil und Unheil sowie von Segen und Fluch. Wenn sodann in der griechischen Philosophie und ihren verschiedenen Schulen vom Ziel des Menschen die Rede ist, von seiner Glückseligkeit, εὐδαιμονία, dann ist dieses Endziel als Ergebnis des rechten Verhältnisses von Mensch und Gottheit zu deuten. Das deutsche Wort Glück, das lateinische Wort fortuna, das in die europäischen Tochtersprachen des Lateinischen eingegangen ist, verdunkeln und profanieren diesen Sachverhalt; denn im griechischen Wort εὐδαιμονία erscheint die theologische Konzeption, nach der der Daimon nicht nur eine Größe außerhalb des Menschen und über ihm ist, sondern auch mit ihm verbunden sein kann oder auch umgekehrt der Mensch selbst sich mit ihm verbinden kann. Die späteren Theorien über das Verhältnis von Gottheit und Mensch, über die Verwandtschaft oder sogar über die Möglichkeit einer Gottwerdung des Menschen, beruhen auf der Annahme dieser Nähe, dieser Verwandtschaft. So wird es auch einsichtig, dass nach antikem Glauben die Toten notwendig als göttliche Wesen verehrt wurden, da der Tod sie auf eine höhere Ebene gestellt hat, auf eine Ebene, die mit der göttlichen Ebene identisch ist oder zumindest an diese angrenzt. Die Einheit dieses noch vorbegrifflichen Vorstellens und Denkens liegt also einmal in der in jenen Jahrhunderten weit tiefer empfundenen Nähe von Mensch und Gottheit – man denke auch an den Glauben des myth-historischen Zeitalters, dass die Heroen und Heroinnen und auch einzelne ›göttliche‹ Menschen leibliche Kinder und Nachkommen von Gottheiten seien! – und sodann in der Einheit von Denken und Handeln. Alles magisch-religiöse Tun sollte dazu dienen, das ursprünglich gegebene Nahverhältnis zwischen Gottheit und Mensch, das zu einem Zeitpunkt durch einen ersten Frevel, dem viele weitere folgten, gestört wurde, bis zu einem gewissen Grade wiederherzustellen. Der Gedanke einer Verähnlichung mit 55 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

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dem Göttlichen, ὁμοίωσις θεῷ 50, und der stoische Imperativ secundum naturam vivere, das ist κατὰ λόγον oder ὁμολογουμένως ζῆν, sind Entfaltungen derartiger theologisch-philosophischer Grundeinsichten über den Menschen und seine Aufgaben. Insofern beginnt mit dem Anfangsstadium in Mythos und Kult das ursprüngliche ganzheitliche Empfinden für das Mit- und Zueinander von Mensch, Welt und Gottheit lange vor dem philosophischen Begriffsdenken. Dieses Anfangsstadium dürfte infolge von Offenbarung oder Intuition zustande gekommen sein. Davon zeugen die ältesten noch erhaltenen archäologischen Denkmäler und die frühesten literarischen Quellen. Theologie und Philosophie, wie sie bei den griechischen frühen religiösen Denkern begegnen, sind letztlich aus dem Urgeheimnis dieser Wirklichkeit entstanden, aus dem Gegen-, In- und Miteinander der großen Gegensätze, von Himmel und Erde, von Werden und Vergehen, von Leben und Tod 51.

H. Merki, Art. Ebenbildlichkeit: RAC 4 (1959) 459–479; É. des Places, Syngeneia: La parenté de l’homme avec dieu d’Homère à la Patristique = Études et Commentaires 51 (Paris 1964); O. Lorentz (Hrsg.), Die Gottebenbildlichkeit des Menschen (München 1967); L. Scheffczyk (Hrsg.), Der Mensch als Bild Gottes, Darmstadt 1969 = Wege der Forschung 124; P. Schwanz, Imago Dei als christologisch-anthropologisches Problem in der Geschichte der Alten Kirche von Paulus bis Clemens von Alexandrien (Halle 1970); H. Herter, Kleine Schriften (München 1975) 249–258: ›Allverwandtschaft bei Platon‹ ; W. Pannenberg, Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen in der neueren Theologiegeschichte: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1979, 8; L. Scheffczyk, Art. Gottebenbildlichkeit IV. Systematisch-theologisch: Lexikon für Theologie und Kirche 4 3(1995) 875 f. 51 Ins sichtbare Bild gebracht erscheint dieses Ineinander von Kreis, der ›Wiederkehr des Gleichen‹, und von Linie als Zielgerade in Arnold Böcklins symbolischem Gemälde ›Vita somnium breve‹. 50

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Der »Lesemeister« als »Lebemeister« Spekulation und Praxis bei Meister Eckhart Paul D. Hellmeier OP

Zur Einführung: Spekulation und Praxis im Spiegel von Meister Eckharts Leben und Werkgestalt Abgesehen von der berühmten Predigt 86 über das biblische Schwesternpaar Martha und Maria hat sich Meister Eckhart nirgends ausführlich zum Verhältnis von Spekulation und Praxis geäußert. 1 Er verteilt Spekulation und Praxis hier übrigens nicht dergestalt, dass die Spekulation oder Kontemplation Maria und die gelungene Praxis oder Aktion Martha zukommt. Vielmehr hat allein Martha beide Lebensvollzüge vollständig inne, während die Figur der Maria durch eine stark affektiv geprägte Kontemplation charakterisiert wird. Dass sich Eckhart ansonsten so wenig zum Verhältnis von Spekulation und Praxis äußert, ist umso bemerkenswerter, als sein eigenes Leben in einer unübersehbaren Spannung von Wissenschaft und Seelsorge stand. Er war Theologe und fungierte als Magister zweimal an der theologischen Fakultät der Universität Paris (1302–1303 / 1311– 1314). 2 In Deutschland wirkte er aber auch als Prediger und Seelenführer unter Nonnen, Beginen und Bürgern, ferner übte er als Ordensmann die hauptsächlich von Verwaltungsaufgaben bestimmten Ämter des Priors von Erfurt, des Vikars von Thüringen (beides vor 1298) 3 und des Provinzials der Saxonia (1303–1310) 4 aus. Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis scheint nicht nur Eckharts Leben, sondern auch seine literarische Hinterlassenschaft zu

Vgl. Pr. 86 (DW III, 481–492). Zur Bewertung der Pr. 86 siehe die Auslegung von Dietmar Mieth in: Lectura Eckhardi II, Stuttgart 2005, 156–175 und die dort angegebene Literatur. 2 Vgl. Walter Senner: Meister Eckhart’s Life, Training, Career and Trial, in: J. Hackett (Hg.): A Companion to Meister Eckhart, Leuven 2013, 16–18, 27–29. 3 Vgl. ebd. 15. 4 Vgl. ebd. 19, 25. 1

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stehen – zumindest dann, wenn man davon ausgeht, dass spekulative und unmittelbar zur Praxis anleitende Aussagen jeweils klar voneinander zu unterscheiden sind. Diese Spannung erstreckt sich sowohl auf sein lateinisches als auch auf sein deutsches Werk. Laut dem Prologus generalis in Opus tripartitum gliedert sich dieses nur ansatzweise verwirklichte Hauptwerk Eckharts erstens in ein Thesenwerk mit über tausend philosophischen Axiomen (Opus propositionum), zweitens behandelt das Quästionenwerk (Opus quaestionum) spezielle Probleme und schließlich setzt sich der dritte Teil (Opus expositionum) neben Kommentaren zur Heiligen Schrift auch aus Predigten zusammen. 5 Ist diese Gliederung schon an sich ungewöhnlich, so erstaunt neben dem geplanten monumentalen Ausmaß des Werkes vor allem die Absicht, auch Predigten darin aufzunehmen. Dass nämlich Predigten, die gattungsbedingt viele moralische und anagogische Appelle enthalten, Teil eines in seiner Gesamtkonzeption spekulativen Werkes sind, würde man nicht ohne Weiteres erwarten. Für das deutsche Werk gilt nun geradezu das Gegenteil, denn hier erstaunt der große Anteil an hochspekulativen Aussagen, die in die Predigten und spirituellen Traktate nicht nur integriert werden, sondern sogar deren gedankliches Gerüst bilden und die darin ausgesprochene Lebenslehre fundieren. Bereits diese äußerst kurzen Betrachtungen der formalen Gestalt seines lateinischen und deutschen Gesamtwerkes lassen erkennen, dass das Verhältnis von Spekulation und Praxis bei Meister Eckhart ein sehr interessantes ist und eine eingehendere Untersuchung verdient. Eine solche soll im Folgenden durchgeführt werden. Hierzu ist das genannte Verhältnis in einem ersten Schritt unter dem formalen Gesichtspunkt der Wissenschaftseinteilung zu betrachten. Als Ausgangspunkt dient dabei die Frage, ob sich legitimerweise von einer Ethik Meister Eckharts sprechen lässt. In einem zweiten Schritt ist derselben Frage unter Berücksichtigung seiner inhaltlichen Aussagen zur menschlichen Praxis und zu ihrem Verhältnis zur Spekulation nachzugehen. Schließlich soll Eckharts Lebenslehre anhand zweier ausgewählter Themen einer kritischen Prüfung unterzogen werden.

5

Prologus Generalis in Opus Tripartitum (LW I,2, 21–24).

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Der »Lesemeister« als »Lebemeister«

1.

Einteilung der Wissenschaften

Gibt es bei Meister Eckhart eine Ethik? Renommierte Forscher wie Kurt Ruh oder Dietmar Mieth sind zwar dieser Meinung, die von ihnen verwendeten Formulierungen deuten jedoch darauf hin, dass sie bei Meister Eckhart einen eigenständigen Typus von Ethik ausmachen. So spricht Ruh von einer »Ethik des Seins« 6, während Mieth eine »theologische Transposition der Tugendethik« 7 konstatiert. Meister Eckhart selbst bezeichnet seine Lehren an keiner Stelle seines Werkes als Ethik. In einem wahrscheinlich am 28. August 1302 oder 1303 8 an der Pariser Universität gehaltenen Sermo setzt er die Ethik aber mit der Theologie gleich, denn die »Meister« teilten die theoretische Philosophie in Mathematik, Physik und Ethik oder Theologie ein. 9 Anknüpfend an Beobachtungen von Alois Haas 10 machte Andreas Speer auf den Kontext aufmerksam, in dem diese Identifikation von Ethik und Theologie erfolgt. 11 Sie steht im größeren Zusammenhang der Vollendung des Menschen, die für Eckhart maßgeblich durch die Betrachtung der Ideen im göttlichen Geist geschieht. Dabei unterscheidet er die natürliche Erkenntnisweise durch Verneinung (ablatio), Heraushebung (eminentia) und Ursächlichkeit (causa) 12 von derjenigen »durch den Spiegel und im Lichte, wenn nämlich das göttliche Licht durch eine besondere Wirkung über die Erkenntniskräfte und das Erkenntnismittel ausstrahlt, indem es den Intellekt zu dem emporhebt, was er von Natur nicht vermag.« 13 Kurt Ruh: Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 1985, 35. Dietmar Mieth: Die theologische Transposition der Tugendethik bei Meister Eckhart, in: Kurt Ruh (Hg.): Abendländische Mystik im Mittelalter, Stuttgart 1986, 63. 8 Vgl. Ruh 1985, 24 f. 9 Sermo die beati Augustini Parisius habitus (LW V, 89 f.): »Theoricam sive speculativam ulterius partiuntur in mathematicam, physicam et ethicam sive theologiam.« 10 Alois M. Haas: Aktualität und Normativität Meister Eckharts, in: H. Stirnimann, Ruedi Imbach (Hg.) Eckhardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozeß gegen Meister Eckhart, Fribourg 1992, 247–249. 11 Andreas Speer: ›Ethica sive theologia‹. Wissenschaftseinteilung und Philosophieverständnis bei Meister Eckhart, in: Jan A. Aertsen, Andreas Speer (Hg.): Was ist Philosophie im Mittelalter? (Miscellanea mediaevalia 26), Berlin/New York 1998, 687 f. 12 Vgl. Sermo die beati Augustini Parisius habitus (LW V, 92 f.). 13 Ebd. 93 f.: »Secundo cognoscitur in via per speculum et in lumine, quando scilicet lux divina per effectum suum aliquem specialem irradiat super potentias cognoscentes et super medium in cognitione, elevans intellectum ipsum ad id quod naturaliter non potest.« 6 7

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Diese übernatürliche Erkenntnis bewirke Prophetie, verdienstliches Handeln und die im praktischen Intellekt angesiedelte Ekstase des Geistes. 14 Wenn es die mit der Theologie identifizierte Ethik nun maßgeblich mit der natürlichen und übernatürlichen Erkenntnis des göttlichen Seins zu tun hat, so kann man mit Recht die Frage stellen, ob sich überhaupt von einer Ethik bei Eckhart sprechen lässt. Die Virulenz dieser Frage verstärkt sich für Andreas Speer noch zusätzlich, da er Bernhard Geyer zustimmt, der »den Gedanken der Rückkehr aller Dinge zu Gott durch Vermittlung des Menschen als das Prinzip der Eckhartschen Ethik bestimmt. Sittlichkeit bestehe in eben dieser Rückbringung der Seele und mit ihr aller Dinge in das Absolute; ihre Form sei die Abgeschiedenheit, ihr Ziel die Vereinigung des Menschen mit Gott.« 15 Falls man angesichts einer solchen Konzeption der Sittlichkeit überhaupt von einer Ethik Eckharts sprechen wolle, so Speer, dann unterscheide sich diese grundlegend von den philosophischen Ethikbegründungen, wie sie im 13. Jahrhundert auf dem Hintergrund des aristotelischen Ethik- und Wissenschaftsverständnisses versucht wurden. Gerade die für die Herausbildung einer Ethik als eigenständiger philosophischer Disziplin als wesentlich erkannte Distanzierung gegenüber dem Praxisanspruch der Theologie sowie die Behauptung der Dimension der praktischen Vernunft gegenüber dem theoretischen Primat der Metaphysik würden von Eckhart wieder aufgehoben. 16 Speers Ergebnis, dass Meister Eckhart keine an Aristoteles orientierte Morallehre vertritt, kommt freilich wenig überraschend, beschäftigt sich der Thüringer doch an keiner Stelle seines Werkes ausgiebiger mit Themen und Fragestellungen der Nikomachischen Ethik. M. E. trägt auch die Feststellung der fehlenden Abgrenzung der Ethik zur Theologie und zur Metaphysik nicht zur Lösung der Frage bei, ob man überhaupt von einer Ethik Eckharts sprechen kann, da auch die platonische und die neuplatonische Ethik keine solchen Distanzierungen kennen. Um sich der Lösung der Frage zu nähern, empfiehlt es sich daher, die erwähnten formalen Gesichtspunkte beiseite zu lassen

Vgl. ebd. 94 f. Speer 1998, 691. Vgl. Bernhard Geyer: Patristische und Scholastische Philosophie (Friedrich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie, Zweiter Teil), Basel 111960, 569. 16 Vgl. Speer 1998, 692. 14 15

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Der »Lesemeister« als »Lebemeister«

und stattdessen die Aufmerksamkeit darauf zu richten, was Eckhart inhaltlich zur Praxis des Menschen zu sagen hat und in welchem Zusammenhang diese Aussagen mit seinen spekulativen Überlegungen stehen.

2.

Aufhebung der Spekulation und Aufhebung der Reflexion auf Praxis

Gegen Ende der Predigt 21, die in programmatischer Weise von der Einheit Gottes handelt, erklärt Eckhart: »Gott tut so, als sei er [nur] deshalb eins, damit er der Seele gefalle, und als schmücke er sich zu dem Ende, dass er die Seele nur in sich vernarrt mache. (…) Gott ist Eins; dies ist der Seele Seligkeit, ihre Zier und ihre Ruhe.« 17 Dass er von dieser Vernarrtheit selbst ergriffen war, bekennt er in der Predigt 51: »Hier sind alle Grasblättlein und Holz und Stein und alle Dinge eines. Dies ist das allerbeste und ich habe mich darein vernarrt.« 18 Unmissverständlich weisen diese Aussagen auf das Zentrum des Eckhart’schen Denkens hin, nämlich auf das göttliche Eine als Ziel des menschlichen Strebens nach Einung. In der Predigt 21 bestimmt Eckhart das göttliche Eine mehrfach als »Verneinen des Verneinens (versagen des versagennes)« 19, womit er den in seinem lateinischen Werk oft benutzten Ausdruck »negatio negationis« 20 im Deutschen wiedergibt. Unter der einfachen Verneinung versteht er in der Predigt 21 ebenso wie in anderen Texten die Unterschiedenheit, die jedes Geschöpf mit ihrem begrenzten Wesen und ihrem kategorialen Sein vom je anderen Geschöpf trennt 21 und zu einem wandelbaren macht. 22 Gott aber steht über diesen je voneinander unterschiedenen Dingen. Zwar ist auch er von den Dingen geschieden und abgesondert, jedoch nicht so, dass er damit selbst zu Pr. 21 (DW I, 369 f.): »Got tuot, als er darumbe ein sî, daz er der sêle behage und wie er sich gesmücke dar zuo, daz er die sêle vertoere aleine an im. (…) Got ist ein; daz ist der sêle saelicheit und ir gezierde und ir ruowe.« Neuhdt. Übersetzung ebd. 515. 18 Pr. 51 (DW II, 470): »Hie seind alle graß bletlein vnd holtz vnd stein vnd alle ding ein. Diß ist das aller best, vnd ich han mich darinn vertoeret.« Neuhdt. Übersetzung ebd. 724. 19 Pr. 21 (DW I, 361, 363, 364). 20 S. hierzu Quints Zusammenstellung in DW I, 362. Vgl. hierzu auch: Werner Beierwaltes: Platonismus im Christentum, Frankfurt (Main) 1998, S. 112–120. 21 Vgl. Pr. 21 (DW I, 363). 22 Vgl. ebd. 357. 17

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Paul D. Hellmeier OP

einem begrenzten und wandelbaren Etwas würde. Vielmehr besteht sein Abgesondert-Sein von den Geschöpfen darin, dass er alles umfasst und nichts außerhalb seiner hat. 23 Anknüpfend an Thomas von Aquin drückt Eckhart dieses dialektische Verhältnis Gottes zur Welt in seinem Sapientia-Kommentar wie folgt aus: »Gott ist ein UnUnterschiedenes, das sich [gerade] durch seine Un-Unterschiedenheit [von allem Geschaffenen] unterscheidet.« 24 Weil Gott auf diese Weise die Fülle aller Kreaturen 25 und des Seins ursprunghaft in sich hat, bezeichnet Eckhart die »negatio negationis« im Johanneskommentar auch als »Mark und Gipfel der Bejahung« und begreift sie als Auslegung des Gottesnamens »ego sum qui sum«. 26 Die Einsicht in das solcherart bestimmte göttliche Eins-Sein ruft für Eckhart unmittelbar das menschliche Streben nach Einung mit Gott hervor, wobei jedoch zu beachten ist, dass der Mensch als Bild Gottes hier nach etwas strebt, was er immer schon besitzt und ist. In der Geistnatur des Menschen bzw. im Seelengrund, dessen Lauterkeit mit der »negatio negationis« korrespondiert, ist ja die Einheit mit Gott bereits verwirklicht. »Es ist ein Etwas in der Seele, in dem Gott bloß ist (…).« 27 Doch zugleich gilt es, den Seelengrund freizulegen, ihn für Gottes »Kommen« zu reinigen und aus ihm heraus zu leben. In der Predigt 21 heißt es zu diesem Ankommen Gottes: »In den Grund der Seele kann nichts [gelangen], als die lautere Gottheit. Ebd. 363: »Aber got hât ein versagen des versagennes; er ist ein und versaget alle ander, wan niht ûzer gote enist. Alle creatûren sint in gote und sint sîn selbes gotheit und meinet ein vüllede (…).« 24 Expos. Libri Sap. n. 154 (LW II 490): »Deus autem indistinctum quoddam est quod sua indistinctione distinguitur, ut ait Thomas p. I q. 7 a. 1 in fine.« Eckhart bezieht sich hier auf die Summa Theologiae, und zwar auf das ad 3 der angegebenen Stelle. Seine Formulierung ist ungleich zugespitzter als die des Aquinaten: »Ad tertium dicendum est quod, hoc ipso quod esse Dei est per se subsistens non receptum in aliquo, prout dicitur infinitum, distinguitur ab omnibus aliis, et alia removentur ab eo, si esset albedo subsistens, ex hoc ipso quod non esset in alio, differet ab omni albedine existente in subiecto.« 25 Vgl. Pr. 21 (DW I, 358, 363, 369). 26 In Joh. n. 207 (LW III, 175): »Unde deus non est pars aliqua universi, sed aliquid extra aut potius prius et superius universo. Et propter hoc ipsi nulla privatio aut negatio convenit, sed propria est sibi, et sibi soli, negatio negationis, quae est medulla et apex purissimae affirmationis, secundum illud: ›ego sum qui sum‹, Exodi 3 (…).« 27 Pr. 24 (DW I, 417). Neuhdt. Übersetzung ebd. 525; s. auch Pr. 46 (DW II, 382): »Wan ein kraft ist in der sêle, diu ist gescheiden von niht, wan si enhât niht gemeine mit deheinen dingen; wan niht enist in der kraft wan got aleine: der liuhtet blôz in die kraft.« 23

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Der »Lesemeister« als »Lebemeister«

(…) Die Seele in sich selbst, da, wo sie oberhalb des Körpers ist, ist so lauter und so zart, dass sie nichts aufnimmt, als die bloße, lautere Gottheit.« 28 Freigelegt wird der Seelengrund durch die Einübung der Gelassenheit und der Abgeschiedenheit. Eckhart hält beide Begriffe zwar nicht immer streng auseinander, die Abgeschiedenheit bezieht sich nach Niklaus Largier aber eher auf den Intellekt, insofern der Mensch von den raum-zeitlichen Bedingungen seiner Existenz absehen und sich so von den Dingen lösen soll. 29 Entsprechend wird in der Predigt 21 die Reinheit des Herzens empfohlen: »Das ist Reinheit des Herzens, was abgesondert und geschieden ist von allen körperlichen Dingen und gesammelt und verschlossen ist in sich selbst und was sich dann aus dieser Lauterkeit in Gott wirft und dort vereint wird.« 30

Die Gelassenheit zielt gemäß Niklaus Largier dagegen stärker auf den Willen, insofern der von ihr bestimmte Mensch wie Gott intentionslos, d. h. ohne ein von außen bestimmendes »Warum« 31 wirken soll. Ihre Erfüllung erreicht die Gelassenheit erst in der von Eckhart immer wieder eingeforderten völligen Aufgabe des eigenen Willens. 32 Ich halte es für einen typischen Zug im Werk Meister Eckharts, dass er seine Lehre von der Einung mit Gott in vielen Texten ohne jeden christologischen Bezug darstellen kann (bspw. in der Predigt 21, die lediglich eine sehr allgemeine Bemerkung zur Gnade enthält) 33, um dieselbe Lehre an vielen anderen Stellen seines Werkes dann in kaum veränderter Form christologisch, das heißt genauer: inkarnationstheologisch zu begründen. 34 Dieses Vorgehen scheint mir insofern typisch zu sein, als es mit Eckharts grundlegender Konzeption einer Pr. 21 (DW I, 360 f.): »In den grunt der sêle enmac niht dan lûter gotheit. (…) Diu sêle in ir selber, dâ si obe dem lîchamen ist, ist sô lûter und sô zart, daz si niht ennimet dan blôz lûter gotheit.« Neuhdt. Übersetzung ebd. 514. 29 Vgl. Niklaus Largier: Meister Eckhart Werke II, Frankfurt 1993, 806 f. 30 Pr. 21 (DW I, 359): »Daz ist reinicheit des herzen, daz gesundert ist und gescheiden von allen lîphaftigen dingen und gesamenet und geslozzen in im selben und denne ûz der lûterkeit sich werfende in got und dâ vereiniget werdende.« Neuhdt. Übersetzung ebd. 513. 31 Vgl. Pr. 41 (DW II, 289). 32 Vgl. Niklaus Largier: Meister Eckhart Werke I, Frankfurt 1993, 960–962. 33 Vgl. auch Pr. 43 (DW II, 316–330), Pr. 48 (DW II, 413–421) und Pr. 85 (DW III, 468–471). 34 Vgl. bes. Pr. 5A (DW I, 77–82), Pr. 5B (DW I, 85–96), Pr. 24 (DW I, 414–423), Pr. 46 (DW II, 378–386). 28

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Konvergenz (nicht Identität!) und einer gegenseitigen Erhellung von Philosophie und Theologie bzw. von philosophischer und offenbarter Wahrheit übereinstimmt. Denn offenbar rechnet Eckhart die Lehre von der Vollendung des Menschen durch die Einung mit Gott zu den »natürlichen Lehren der Philosophen«, mittels derer er die Bibel einerseits auslegen will 35 und die andererseits in der Heiligen Schrift bildhaft angedeutet sind. 36 Ist dies aber der Fall, dann lässt sich die Lehre von der Einung auch ohne relevanten Rekurs auf die biblische Offenbarung, d. h. mit rein philosophischen Mitteln darstellen. Ebendies geschieht in der Predigt 21. Wenn Eckhart die Einung mit dem göttlichen Einen im Lichte der Inkarnation thematisiert, dann tut er dies fast immer vor dem Hintergrund der Lehre, dass Gott in der Person des Sohnes bzw. des Ewigen Wortes nicht einen Menschen, sondern die menschliche Natur angenommen hat. Dadurch sei die allgemeine Menschennatur mit Gott vereint worden, woraus Eckhart den fragwürdigen Schluss zieht, dass man sich als Mensch mit Gott vereinen könne, indem man alles Personenhafte an sich selbst ablege, sich nur noch als allgemeine menschliche Natur verstehe und entsprechend lebe. Wer alles Zufällige, Akzidentelle abgestreift hat, ist ganz und allein durch sein Wesen bestimmt und wird über die in Christus mit Gott vereinte Menschennatur mit dem Einen geeint. 37 Wie bereits erwähnt, ist Eckharts In Ioh., Prooem. (LW III, 4): »In cuius verbi expositione et aliorum quae sequuntur, intentio est auctoris, sicut et in omnibus suis editionibus, ea quae sacra asserit fides christiana et utriusque testamenti scriptura, exponere per rationes naturales philosophorum.« 36 Ebd.: »Rursus intentio operis est ostendere, quomodo veritates principiorum et conclusionum et proprietatum naturalium innuuntur luculenter – ›qui habet aures audiendi!‹ – in ipsis verbis sacrae scripturae, quae per illa naturalia exponuntur.« 37 Pr 5B (DW I, 86 f.): »Ich spriche ein anderz und spriche ein naeherz: got ist niht aleine mensche worden, mêr: er hât menschliche natûre an sich genomen. (…) Dâ der vater sînen sun gebirt in dem innersten grunde, dâ hât ein însweben disiu natûre. Disiu natûre ist ein und einvaltic. Hie mac wol etwaz ûzlougen und iht zuohangen, daz ist diz eine niht. Ich spriche ein anderz und spriche ein swaererz: swer in der blôzheit dirre natûre âne mitel sol bestân, der muoz aller persônen ûzgegangen sîn (…).« Ferner: Pr 24 (DW I, 420): »Dar umbe, wilt dû der selbe Krist sîn, sô ganc alles des abe, daz daz êwige wort an sich niht ennam. Daz êwige wort nam keinen menschen an sich; dar umbe ganc abe, swaz menschen an dir sî und swaz dû sîst, und nim dich nâch menschlîcher natûre blôz, sô bist dû daz selbe an dem êwigen worte, daz menschliche natûre an im ist. Wan diu menschlîche natûre und die sîne enhât keinen underscheit: si ist ein wan, swaz si ist in Kristô, daz ist so in dir.« Vgl. auch Pr 46 (DW II, 381 f.), In Joh. (LW III, 241 f.). 35

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Gedankengang innerhalb einer mit aristotelischem Begriffsapparat operierenden Theologie jedoch höchst fragwürdig. Denn es ist zwar durchaus richtig, dass Gott in der Inkarnation nicht einen Menschen, sondern die menschliche Natur annahm – wie auch Thomas von Aquin nicht müde wird zu betonen. 38 Durch diese Annahme wurde aber ein individueller, konkreter und mit allen notwendigen Akzidenzien versehener Mensch konstituiert – ein Mensch, dessen Natur zwar ganz vom Seinsakt der göttlichen Person verwirklicht und in der hypostatischen Union getragen ist, aber dennoch ein realer Mensch. 39 Christus ist gemäß dem Nizänisch-Konstantinopolitanischen Credo ja »wahrer Mensch und wahrer Gott« und nicht etwa »wahre menschliche Natur und wahrer Gott«. Ein intentionales Absehen von den akzidentellen Eigenheiten oder gar von der eigenen Person kann für den Menschen also keineswegs zu der von Eckhart postulierten, quasi-automatischen unmittelbaren Einung mit Christus, und vermittelt über diesen, mit Gott führen. Denn selbst wenn das besagte intentionale Absehen wirklich gelänge, bleibt Christus immer noch ein realer, individueller Mensch mit seinem eigenen Leib, seinen eigenen Wunden, seiner eigenen menschlichen Seele und seinem eigenen menschlichen Willen (!). Der von Eckhart postulierte Zusammenfall der Menschennatur des seiner Eigenheiten entäußerten Christen mit der Menschennatur Christi kann nicht stattfinden, denn Christus ist eben nicht nur Menschennatur plus göttliche Person. Vielmehr liegt hier ein schwerer, auf einer defizitären und nicht durchdachten Christologie beruhender Fehlschluss vor. Dennoch erweitert Eckharts Einbeziehung der Christologie die Lehre von der Einung mit Gott um drei wichtige Gesichtspunkte. Erstens plausibilisiert sie über rein trinitätstheologische Überlegungen hinaus zusätzlich die Rede von der »Geburt Gottes im Seelengrund«. Die Einung oder das Geeint-Sein ist als im Menschen selbst stattfindender Mitvollzug des innertrinitarischen Geschehens der Geburt des Sohnes aus dem Vater bzw. als Zeugung des Sohnes durch den Vater und damit als eine Art incarnatio continua 40 zu verstehen. Wie Eckhart mehrfach betont, hat der Mensch nun als »der

Vgl. z. B. Comp. theol. 210; STh III q. 2 a. 6; q. 4 a. 3; Contra Errores Graec. c. 20; In Rom. c. 1, l. 3. 39 Vgl. hierzu sehr aufschlussreich: STh III q. 4 a. 4 (»Utrum Filius Dei debuerit assumere naturam humanam abstractam ab omnibus individuis«). 40 Vgl. hierzu Pr. 30 (DW II, 98). 38

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eingeborne« und »derselbe Sohn« 41 ein Sein mit Gott. 42 Die Redeweise von der »Gottesgeburt im Seelengrund« macht damit deutlich, dass Eckharts Denken letztlich auf eine ontologische Einheit mit dem Einen zuläuft, in der es kein menschliches Denken, Wissen und Schauen Gottes mehr gibt und auch nicht geben kann, da durch jeden derartigen intentionalen Akt eine Zweiheit in die Einheit hineingetragen würde. 43 Diese Tendenz zeigt sich bspw. in den wichtigen und großen Predigten 52 (sog. Armutspredigt) und 71 (»Surrexit autem Saulus«) sowie in allen Predigten, die das Bild-Sein der Seele thematisieren oder die das Verhältnis der Seele zu Gott mit dem Vergleich eines Gefäßes und der darin enthaltenen Flüssigkeit beschreiben. Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die folgende Passage der Predigt 39: »Einige Lehrer meinen, der Geist schöpfe seine Seligkeit aus der Liebe; manche meinen, er schöpfe sie aus dem Anschauen Gottes. Ich aber sage: Er schöpft sie weder aus der Liebe noch aus dem Erkennen noch aus dem Anschauen. Nun könnte man fragen: Hat denn der Geist im ewigen Leben kein Hinschauen auf Gott? Ja und nein! Sofern er geboren ist, hat er kein Aufschauen und kein Hinschauen [mehr] auf Gott. Darum liegt des Geistes Seligkeit da, wo er geboren ist, und nicht, wo er [noch] geboren wird, denn er lebt, wo der Vater lebt, das heißt: in der Einfaltigkeit und in der Bloßheit des Seins.« 44

Wie genau und wie weitreichend man sich die angezielte ontologische Einheit des Menschen mit Gott zu denken hat, wird – wie so vieles in Eckharts Predigten – nicht ganz deutlich. Denn neben Stellen, die sich für eine vollständige Einheit aussprechen 45, stehen auch solche, die eine gewisse ontologische Differenz anerkennen. 46 Dennoch lässt sich festhalten, dass Eckharts Denken in letzter Konsequenz nach einer Einung ohne jedes menschliche Denken, Wissen und Schauen Gottes

Vgl. z. B. Pr. 12 (DW I, 193), Pr. 24 (DW I, 420), Pr. 29 (DW II, 84). Vgl. z. B. Pr. 6 (DW I, 109), Pr. 46 (DW II, 383), Pr. 76 (DW III, 325). 43 Vgl. Pr. 86 (DW III, 486). 44 Pr. 39 (DW II, 265 f.). 45 S. Fußnote 40. 46 Z. B. Pr. 59 (DW II, 632): »Die sêle enhât niht underscheides von unserm herren Jêsû Kristô, wan daz diu sêle hât ein gröber wesen; wan sîn wesen ist an der êwigen persône. Wan als vil als si ir gropheit abeleget – und möhte si es alzemâle abegelegen –, sô waere si alzemâle daz selbe; und allez, daz man gesprechen mac von unserm herren Jêsû Kristô, daz möhte man sprechen von der sêle.« 41 42

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strebt und dadurch zum selbstaufhebenden Ende aller Spekulation führt. 47 Der zweite wichtige Gesichtspunkt, den die Einbeziehung der Christologie beisteuert, besteht darin, dass die Besinnung auf die eigene allgemeine menschliche Natur den Blick für die Mitmenschen öffnet, denn der nach Einung mit Gott trachtende Mensch soll alle Menschen gleich sich selbst achten und lieben, und zwar in jeweils gleicher Weise ohne jede Rücksicht auf persönliche Vorlieben und soziale Bindungen: »Wenn einer zu dieser Spende kommen will, daß er dieses Gut gleicherweise und die allgemeine und allen Menschen gleich nahe menschliche Natur empfange, dann ist dazu nötig, daß, so wie es in menschlicher Natur nichts Ferneres noch Näheres gibt, du in der menschlichen Gesellschaft gleich stehest, dir selbst nicht näher als einem anderen. Du sollst alle Menschen gleich wie dich lieben und gleich achten und halten; was einem andern geschieht, sei’s bös oder gut, das soll für dich so sein, als ob es dir geschehe.« 48 »Ich sage ein Weiteres und sage ein Schwereres: Wer unmittelbar in der Bloßheit dieser Natur stehen will, der muß allem Personhaften entgangen sein, so daß er dem Menschen, der jenseits des Meeres ist, den er mit Augen nie gesehen hat, ebensowohl Gutes gönne wie dem Menschen, der bei ihm ist und sein vertrauter Freund ist.« 49

Die Einbeziehung der Christologie erlaubt es Eckhart drittens, seine Aufrufe nach Gelassenheit und Abgeschiedenheit zusätzlich zu begründen und bis hin zur Forderung nach Verleugnung der eigenen Person bzw. nach Vernichtung seiner selbst zu steigern. 50 Dabei hat Vgl. hierzu auch Niklaus Largier, der bei Eckhart einen »Wechsel vom visuellen Topos der ›Schau‹ zum Bild der ›Geburt‹ feststellt: Theologie, Philosophie und Mystik bei Meister Eckhart, in: Jan A. Aertsen, Andreas Speer (Hg.): Was ist Philosophie im Mittelalter? (Miscellanea mediaevalia 26), Berlin/New York 1998, 708. 48 Pr. 5A (DW I, 79). Neuhdt. Übersetzung ebd. 61. 49 Pr. 5B (DW I, 87 f.). Neuhdt. Übersetzung ebd. 69. 50 In Joh. (LW III, 242): Tertio docemur quod volens filius dei fieri, verbum caro factum in se habitare debet diligere proximum tamquam se ipsum, hoc est tantum quantum se ipsum, abnegare personale, abnegare proprium.« Vgl. Pr. 71 (DW III, 224 f.). Vgl. auch: Pr. 76 (DW III, 321 f.): »Merket, wâ von wir sîn der sun gotes: wan wir daz selbe wesen hân, daz der sun hât. Wie man ist der sun gotes, oder wie weiz man ez, daz man ez sî, wan got niemanne glîch enist? (…) Wan denne gotes natûre ist, daz er niemanne glîch enist, sô ist daz von nôt, daz wir her zuo komen, daz wir niht sîn, daz wir gesast mügen in daz selbe wesen, daz er selbe ist.« Vgl. auch Pr. 48 (DW II, 415): »Ze glîcher wîs spriche ich von dem menschen, der sich selben vernihtet hât in im selben und in gote und in allen crêatûren (…)«. 47

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er es vor allem auf den Willen abgesehen, der ihm schlechthin das »Signum der Individualität« 51 zu sein scheint. Eckharts Aufforderungen, aus dem eigenen Willen auszugehen und sich stattdessen ganz in den Willen Gottes zu fügen, ja mehr noch: sich den Willen Gottes zu eigen zu machen, durchziehen sein gesamtes Werk. 52 Dass Eckharts spekulative Überlegungen unmittelbare Folgen für sein Verständnis der richtigen menschlichen Praxis haben, dürfte deutlich geworden sein. Wie aber ist dieses Verständnis zu bewerten? Außerdem ist zu überprüfen, ob es sich als Ethik ausweisen lässt. Zunächst muss Eckharts Forderung nach Wesentlich-Werden oder Verwesentlichung des Menschen auf den Prüfstand gestellt werden. Kritisch bemerkt Rolf Schönberger hierzu: »Man muss dieses Wesentlich-Werden im strikten Sinne als Entindividualisierung verstehen; der Mensch nimmt sich zurück in seine spezifische natura humana, deren ontologischer Status ihr Gedacht-Werden durch Gott ist. Es eine Art existentielle Abstraktion (…). Von hier aus könnte die Frage gestellt werden, ob dieser Typus von Verallgemeinerung dem Gegenstand der Ethik überhaupt gerecht wird. Wenn Verallgemeinerung sich nicht bloß kantisch auf eine hypothetisch als allgemein gedachte Handlungsmaxime bezieht, deren Widerspruchsfreiheit die Sittlichkeit definiert, oder auf die in der Vernunft sich konkretisierende Einheit von Individualität und Allgemeinheit [wie bei Thomas von Aquin, Anm. d. Verf.], sondern vielmehr das einer Norm Gerechtwerden als ontologische Identifizierung mit deren Allgemeinheit gedacht wird, dann scheint gewissermaßen der Adressat der Norm zu verschwinden. Das Ähnlichsein von Idee und Ideat wird zur Gleichheit, welche ihrerseits wesentlich Inhalt der Norm ist und zugleich immer schon ist.« 53

Ein weiteres Problem von Eckharts Verständnis der auf Verwesentlichung beruhenden Praxis besteht in seiner Bestimmung der sittlichen Güte einer Handlung. Der in seinem Seelengrund mit Gott vereinte Mensch handelt nämlich nur dann gut, wenn es aus »seinem Eigenen« 54 heraus, d. h. ohne ihn von außen dazu bestimmenden Rolf Schönberger: Secundum rationem esse. Zur Ontologisierung der Ethik bei Ethik bei Meister Eckhart, in: R. Löw (Hg.): ΟΙΚΕΙΩΣΙΣ. Festschrift für Robert Spaemann, Weinheim 1987, 265. 52 Vgl. z. B. Pr. 6 (DW I, 102). 53 Schönberger 1987, 263–265. 54 Pr. 46 (DW II, 383 f.): »Und alsô: allez, daz dû nimest, daz nimest dû in dînem eigene; und swaz werk dû niht ennimest in dînem eigene, diu werk sint alliu tôt vor gote. Daz sint diu werk, dar zuo dû ûzer dir beweget bîst von vremden sachen, wan si 51

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Grund, und wenn es »von innen her« 55 geschieht; ja mehr noch: wenn er wie Gott selbst »ohne Warum« wirkt. Interessanterweise zieht Eckhart auch das rein biologische Leben als Vergleich für dieses »Ohne warum«-Wirken des gerechten Menschen heran. 56 Das konkrete menschliche Handeln ist so aber nicht nur dem intersubjektiven Diskurs entzogen, vielmehr wird auch seine Begründungsbedürftigkeit überhaupt eliminiert. 57 Äußerst problematisch an Eckharts Verständnis der richtigen menschlichen Praxis ist ferner seine Forderung, den eigenen Willen in allem Tun und Leiden ganz dem Willen Gottes anzugleichen, und ihn letztlich sogar durch diesen zu ersetzen. Das Problem liegt nun zunächst weniger darin, dass der unmittelbare Rekurs auf den Willen Gottes die Frage aufwirft, wie man denn in einer konkreten Situation jeweils erkennen könne, ob dies oder jenes der Wille Gottes sei. Viel problematischer erscheint die Antwort, die Eckhart selbst auf diese Frage gibt: »Nun könntest du vielleicht sagen: Woher weiß ich, ob es der Wille Gottes sei oder nicht? Wisset: Wäre es Gottes Wille nicht, so wäre es auch nicht. Du hast weder Krankheit noch irgend etwas, Gott wolle es denn.« 58

In dieser Sichtweise wird die schiere Faktizität des Geschehenen zum Ausweis seines Absolut-von-Gott-gewollt-Seins. Hier scheint die Erfahrung von Kontingenz dadurch »bewältigt« zu werden, dass die Kontingenz schlichtweg für nicht-existent erklärt wird. 59 An einer anderen, ähnlichen Aussage Eckharts wird überdies deutlich, wie vage seine praktischen Anweisungen bleiben:

engant von lebene niht: dar umbe sint si tôt; wan daz dinc lebet, daz bewegunge nimet von sînem eigene. Und alsô: suln des menschen werk leben, sô müezen si genomen werden von sînem eigene, niht von vremden dingen noch ûzer im, sunder in im.« 55 Vgl. z. B. Pr. 5A (DW I, 80 f.), Pr. 86 (DW III, 485). 56 Pr. 41 (DW II, 288 f.): »Der gerehte mensche der enminnet niht an gote weder diz noch daz; (…); wan er enhât kein warumbe, dar umbe er iht tuo, alsô als got würket sunder warumbe und kein warumbe enhât. In der wîse als got würket, alsô würket ouch der gerehte sunder warumbe; und alsô als das leben lebet umbe sich selben und ensouchet kein warumbe, darumbe ez lebe, alsô enhât ouch der gerehte kein warumbe, darumbe er iht tuo.« Weitere Stellenangaben hierzu ebd. im Apparat S. 289. Vgl. bes. RdU (DW V, 282) und Pr. 6 (DW I, 106). 57 Vgl. Schönberger 1987, 270. 58 Pr. 4 (DW I, 62). Neuhdt. Übersetzung ebd. 442. 59 Vgl. Schönberger 1987, 272.

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»Wenn manchen Leuten etwas zu erleiden oder zu tun zufällt, so sagen sie: ›Wüßte ich, daß es Gottes Wille wäre, so wollte ich’s gern leiden oder tun‹. Bei Gott! Es ist eine wunderliche Frage, wenn ein kranker Mensch fragt, ob es Gottes Wille sei, wenn er krank ist. So ist es auch in anderen Dingen.« 60

Was soll man unter den »anderen Dingen« verstehen? Und welche Kriterien gibt es, um zu beurteilen, ob das, was einem »zu tun zufällt«, auch wirklich zu tun ist? Im Falle des Zukünftigen versagt sich ja der Hinweis auf die Faktizität des bereits Geschehenen. Angesichts dieses Befundes kann nun endgültig nicht mehr die Rede von einer wie auch immer gearteten Ethik bei Meister Eckhart sein, ist Ethik doch die Reflexion auf das unter kontingenten Bedingungen erfolgende Handeln des Menschen; eine Reflexion, die zu begründeten Normen führt und so Kriterien für das sittlich gute Handeln vermittelt. Statt von einer Ethik sollte man im Falle Eckharts also besser von einer mystischen Lebenslehre sprechen. Dieser mystischen Lebenslehre geht es nicht primär um das Handeln, sondern um die Einübung grundlegender Lebenseinstellungen.

3.

Erprobung von Meister Eckharts mystischer Lebenslehre anhand der Themen Ataraxie und Freundschaft

Gemäß Meister Eckharts Lebenslehre kann die Einung mit Gott durch die Übungen der Abgeschiedenheit, der Gelassenheit, des Verzichts auf den eigenen Willen sowie des Wesentlich- und Intentionsloswerdens (wieder-)erreicht werden. Das gute Handeln ergibt sich dann wie von selbst, es fließt sozusagen von »innen her« aus dem mit Gott vereinten Seelengrund. Die genannten Übungen haben aber nicht nur eine spekulative Grundlage, wie wir weiter oben gesehen haben, vielmehr sind sie als rein geistige Übungen selbst schon wesentlich spekulatives Tun. Spekulation ist bei Eckhart deshalb immer auch Praxis und die für den Menschen entscheidende Praxis ist Spekulation. Theo Kobusch spricht deshalb auch von einer »praktischen Metaphysik« 61. Mit ihr stehe Eckhart in der Tradition spätantiken Denkens, in der »Metaphysik nicht mehr als die unbeteiligte Schau des unbewegten Bewegers gedacht werden kann, sondern als praktiPr. 62 (DW III, 63). Neuhdt. Übersetzung ebd. 514. Vgl. Theo Kobusch: Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalter (Geschichte der Philosophie, Band V), München 2011, 379, 384.

60 61

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sche Kontemplation begriffen werden muss, in der sich das betrachtende Subjekt selbst verändert, indem die Seele – wie Plotin sagt – zum Geist und zum Einen ›wird‹, oder, wie z. B. Gregor von Nyssa in seinem Hoheliedkommentar ausführt, die Angleichung an Gott durch eine Transformation ihrer selbst vollzieht.« 62 Als »Lebemeister« lehre Eckhart »die Philosophie des Lebens« und »die Philosophie als Lebensform«. 63 Freilich ist mit dieser durchaus richtigen Einschätzung der formalen Gestalt seines Denkens noch nichts darüber gesagt, wie tragfähig, lebensdienlich und in sich schlüssig seine Lebenslehre ist. Wirft man nun einen nüchternen Blick auf sie, dann werden ihre Grenzen, die sowohl die innere Kohärenz als auch die thematische Tiefe betreffen, schnell sichtbar. Als Beispiel für die mangelnde Kohärenz seien Eckharts durchaus unterschiedliche und nicht ohne Weiteres auf einen Nenner zu bringenden Meinungen zur Ataraxie genannt. So heißt es im Buch der göttlichen Tröstung, »daß ein guter, göttlicher Mensch sich gar heftig und gründlich schämen sollte, daß ihn je Leid erschütterte«. 64 In der Predigt 86 dagegen hält es Eckhart aus biblischen Gründen für unmöglich, dass einen Freud und Leid nicht bewegen und berühren können. 65 In derselben Predigt findet sich aber auch eine vermittelnde Position, wonach »Lieb und Leid der Kreatur den obersten Wipfel [der Seele] nicht herabzubeugen vermögen.« 66 Mit einer räumlichen Metapher wird hier also zwischen einem nicht näher spezifizierten »Höchsten« der Seele und ihren ebenfalls nicht weiter klassifizierten »niedrigeren« Restbeständen unterschieden. Nur die zuletzt Genannten unterliegen Affekten wie Liebe und Leid. 67 Auch in der Predigt 81 Ebd. 384 f. Vgl. ebd. 379. 64 BgT (DW V, 59): »Einez ist, daz waerlîche ein guot, götlîcher mensche sölte sich gar übel groezlîche schamen, daz in iemer leit bewegete (…).« Neuhdt. Übersetzung ebd. 496. 65 Pr. 86 (DW III, 490 f.). 66 Ebd. (DW III, 482). Neuhdt. Übersetzung ebd. 592. 67 Zur Bedeutung der Wendung »oberster Wipfel« bemerkt Largier in seinem Kommentar zur Pr. 86 (Largier II, 744): »Diese ist eine von einer ganzen Reihe paralleler Metaphern, mit denen Eckhart den Seelenfunken bezeichnet.« Anschließend verweist er auf den Kommentarteil des ersten Bandes seiner Eckhartausgabe. Dort heißt es u. a. (Largier I, 768): »Wie in seiner Lehre von der Gottesgeburt greift Eckhart auch in seiner Lehre vom Seelengrund auf eine lange theologische und philosophische Tradition zurück: Zu nennen sind hier die in der Theologie des Mittelalters verbreiteten 62 63

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wendet sich Eckhart aus biblischen Gründen entschieden gegen das Konzept der Ataraxie, betont jedoch eigens, dass der gute Mensch zwar innerlich bewegt, aber »nicht aus der Bahn geworfen werden« könne. 68 An der menschlich wahrscheinlich abstoßendsten Stelle seines gesamten Werkes heißt es dagegen: »Ist das ›Kind‹ in mir geboren und sähe ich dann, daß man meinen Vater und alle meine Freunde vor meinen Augen tötete, so würde mein Herz dadurch nicht bewegt.« 69 Für völlige Gleichmütigkeit in allen Dingen spricht er sich auch in der Predigt 6 aus, da sich ein gerechter Mensch nicht durch dieses oder jenes Ding erfreuen oder betrüben lassen dürfe. 70 Eckharts Unentschiedenheit in der Frage der Ataraxie rührt wohl daher, dass er sich hier vor einem sachlichen Zwiespalt sieht, denn einerseits scheint seine Lehre von der Einung mit Gott die Haltung der Ataraxie zu fordern, andererseits zwingen ihn theologische Gründe, wie z. B. die in der Hl. Schrift belegte Betrübnis Jesu vor seinem Tod 71 und alltagspsychologische Beobachtungen dazu, die MöglichBegriffe abditum mentis, essentia animae, acumen mentis, apex mentis, scintilla rationis und sinderesis, die alle ein Höchstes in der Seele bezeichnen, das unmittelbar zu Gott steht.« Hier von »parallelen Metaphern« zu sprechen, halte ich für ebenso falsch wie unnötig nivellierend. Bei den erwähnten Wendungen handelt es sich nicht um Metaphern, sondern um Begriffe, die als solche verschiedene Bedeutungen haben, auch wenn sie der Sache nach alle in irgendeiner Weise mit dem menschlichen Intellekt zu tun haben. Dennoch verweisen sie (außer im Falle der Begriffe apex und acumen mentis) jeweils auf verschiedene Aspekte des Intellekts, z. B. essentia animae auf die Intellektnatur oder sinderesis auf einen Habitus des praktischen Intellekts. Leider ist es in der Eckhartliteratur gang und gäbe, ohne jegliche Begründung etwa »Seelengrund« mit »Seelenfünklein« miteinander gleichzusetzen. Mit dieser Auslegungspraxis begibt man sich aber ohne Not der Möglichkeit, wichtige Bedeutungsnuancen wahrzunehmen. Sucht man nach einem lateinischen Äquivalent zum »obersten Wipfel« der Seele, so wäre m. E. eher an die ratio superioris zu denken. Dieser augustinische Begriff findet sich in einem der Pr. 86 ähnlichen Zusammenhang bspw. bei Thomas von Aquin, der in STh III, q. 46 a. 7 der Frage nachgeht, ob Christus am Kreuz mit seiner ganzen Seele gelitten habe. Die differenzierte, insgesamt aber zustimmende Antwort des Aquinaten nimmt unter einer bestimmten Hinsicht die ratio superioris Christi vom Leiden aus, was an den Gebrauch des »obersten Wipfels der Seele« in Pr. 86 erinnert. Verglichen mit Thomas’ präzisen Ausführungen erscheint Eckharts Hinweis auf den »obersten Wipfel der Seele« in Pr. 86 freilich sehr vage – eine Unschärfe, die man ihm angesichts der Gattung des Textes aber kaum vorwerfen kann. 68 Pr. 81 (DW III, 397). Neuhdt. Übersetzung ebd. 577. 69 Pr. 76 (DW III, 326): »Alsô ist das kint geborn. Dâ von: ist, daz daz kint geborn ist in mir, und saehe ich danne mînen vater alle mîne vriunde vor mir toeten, mîn herze enwaere dar umbe niht beweget.« Neuhdt. Übersetzung ebd. 565. 70 Vgl. Pr. 6 (DW I, 103 f.). 71 Pr. 86 (DW III, 490).

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Der »Lesemeister« als »Lebemeister«

keit der Ataraxie zu leugnen oder wenigstens einzuschränken. Sein Unvermögen, eine eindeutige und kohärente Lösung der anthropologisch so wichtigen Frage nach der Bedeutung und Rolle der menschlichen Leidenschaften vorzulegen, erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass es ihm an einer ausgearbeiteten ethischen Theorie und dem entsprechenden präzisen Begriffsinstrumentarium fehlt. Spätestens hier rächt sich die von Eckhart vorgenommene Aufhebung der eigenständigen Disziplin Ethik in die Theologie und die Metaphysik, denn der Verzicht auf Differenzierung der Disziplinen führt zum Verlust differenzierter Perspektiven des Denkens. Die Sichtweise des Aristoteles und des Thomas von Aquin, die im Rahmen ihrer ganzheitlichen, dem Ineinander leiblicher und seelischer Prozesse Rechnung tragenden Anthropologien das positive Potenzial der passiones animae für das sittlich gute Handeln und das tugendhafte Leben anerkennen, teilt Eckhart nicht. 72 Seine ablehnende oder bestenfalls duldende Haltung gegenüber den Leidenschaften erinnert vielmehr an die negative Sicht der Stoa, die er v. a. aus den Schriften des von ihm hochgeschätzten Seneca gekannt haben dürfte. Anders als Thomas tadelt er die Stoiker bei der Kommentierung einer einschlägigen Perikope des Johannesevangeliums, die von der Trauer Jesu über seinen verstorbenen Freund Lazarus erzählt, nicht. 73 Freilich geht es Eckhart nicht um das stoische Ideal der Apathie oder Ataraxie als solches. Zu seiner Forderung nach vollkommener Seelenruhe drängt ihn vielmehr sein Ideal der Einung mit Gott. Doch auch dieses nicht-stoische Motiv ändert nichts daran, dass die Ataraxie nicht mit dem biblischen Vgl. Aristoteles: De an. I, 403 a 3–27; EN II, 1104 b 18–25; 1105 b 19–28; 1106 b 18–28. Vgl. Thomas von Aquin: STh I-II, q. 22–25, s. bes. q. 24 a. 3. Vgl. hierzu Eberhard Schockenhoff: Glück und Leidenschaft. Das Gefüge menschlicher Antriebe in der Tugendethik des Thomas von Aquin, in: Martin Thurner (Hg.): Die Einheit der Person. Beiträge zur Anthropologie des Mittelalters, Stuttgart 1998, 99–123; Alexander Brungs: Die passiones animae (S.th. I-II, qq. 22–48), in: Andreas Speer (Hg.): Thomas von Aquin: Die Summa theologiae. Werkinterpretationen, Berlin/New York 2005, 198–222; Robert Miner: Thomas Aquinas on the Passions: A Study of Summa Theologiae, 1a2ae 22–48, Cambridge 2009. 73 Anders als Thomas schreibt Eckhart der Trauer Jesu auch keine Vorbildfunktion zu. Vgl. In Joh. n. 524 (LW III, 453–455); Thomas von Aquin: Lectura super Ioannem, c. 11, l. 5 (ed. Mar. nr. 1535): »Secundo ut dum tristatur et cohibet seipsum, doceat modum servandum esse in tristitiis. Stoici enim dixerunt quod nullus sapiens tristatur. Sed valde inhumanum esse videtur quod aliquis de morte alicuius non tristetur. Aliqui autem sunt qui in tristitiis de malo amicorum, nimis excedunt. Sed dominus tristari voluit, ut significet tibi quod aliquando debeas contristari, quod est contra Stoicos: et modum in tristitia tenuit, quod est contra secundos.« 72

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Menschenbild vereinbar ist. Auch Eckhart entgeht dies an manchen Stellen seines Werkes nicht, so dass er seine Forderung nach Ataraxie nicht konsequent aufrechterhält. Seit ihrer Begründung als philosophische Disziplin behandelt die Ethik das Phänomen Freundschaft als eines ihrer Hauptthemen. Dieser hohe Stellenwert der Freundschaft für das gelungene, glückliche Leben kommt im Laufe der Aristotelesrezeption des 13. Jahrhunderts erneut zum Vorschein und zieht das Interesse vieler Magistri auf sich. Zu ihnen gehört nicht zuletzt Thomas von Aquin, der das aristotelische Freundschaftsmodell erstmals in der Geschichte der Theologie in systematisch relevanter Weise auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch anwendet 74 – ein Beispiel dafür, wie eine als autonome Disziplin konzipierte Philosophie den Horizont der scholastischen Theologie um neue Themen und Perspektiven erweiterte. 75 Anders als häufig kolportiert, erschöpfte sich die Rolle, die die Philosophie jener Zeit für die Theologie spielte, eben nicht darin, als »Magd« lediglich Begriffe für ihre vermeintliche »Herrin« bereitzustellen. Gleich der erste Artikel des Caritas-Traktats der Summa Theologiae zeigt, wie zielstrebig Thomas das aristotelische Freundschaftsmodell für seine Lehre über die theologische Tugend der Liebe fruchtbar macht. Im Zentrum steht dabei die für eine Freundschaft erforderliche Gegenseitigkeit der Liebe, die auf einer Gemeinsamkeit oder Gemeinschaft der Freunde fußt. Diese Gemeinschaft wird in diesem Fall von Gott selbst hergestellt, der die Menschen in die Gemeinschaft mit seinem Sohn beruft (1 Kor 1,9) und sie dadurch an seiner eigenen Glückseligkeit teilhaben lässt. 76 Thomas ist sich wohl bewusst, dass die Freundschaft von Gott und Mensch eine Besonderheit darstellt, da die Initiative zu ihr ganz von Gott ausgeht. Erst sein erlösendes Handeln legt die Grundlage zu dieser Freundschaft, die Thomas deshalb vorsichtig als »gewisse Freundschaft« (amicitia quaedam) bezeichnet. 77 In den Antworten auf zwei Einwände desselben Artikels stellt er anhand der Sonderfälle der Sünder und der Feinde eines Menschen den Zusammenhang von Gottesfreundschaft und Vgl. hierzu Eberhard Schockenhoff: Bonum hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik des Thomas von Aquin, Mainz 1987, 501. 75 Einen fruchtbaren Transfer von Ideen und Sichtweisen gab es auch in umgekehrter Richtung, z. B. bei den Themen des menschlichen und göttlichen Willens oder der Kontingenz der Welt. 76 Vgl. STh II-II, q. 23 a. 1. 77 Vgl. z. B. ebd. oder q. 24 a. 2. 74

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Nächstenliebe dar: die Feinde und Sünder werden wegen des göttlichen Freundes, zu dem sie gehören bzw. im Hinblick und in Hinordnung auf ihn geliebt. 78 Die von Thomas gewählten Formulierungen dürfen allerdings nicht so verstanden werden, als betrachte er den Nächsten als bloßes Instrument einer ichbefangenen und damit verfehlten Gottesliebe, für die der andere Mensch immer nur ein Durchgangsstadium zum eigentlich geliebten Objekt ist. Eine solche Deutung trifft nämlich nicht das von Thomas Gemeinte, das in der Formulierung »ratio enim diligendi proximum Deus est« 79 aufscheint. Den eigentlichen Sinn dieser Wendung erläutert Eberhard Schockenhoff wie folgt: »Den anderen um Gottes willen lieben heißt, ihn mit der gleichen Achtung vor der Unverfügbarkeit seiner Existenz annehmen, wie ich sie dem mir absolut unverfügbaren Geheimnis Gottes entgegenbringe. Eben darin erweist sich die lautere Kraft der Gottesliebe, dass sie allein Gott um seiner unerschöpflichen Gutheit und also um seiner selbst willen, alles andere aber um seinetwillen liebt und den anderen (ebenso wie auch mich selbst) annimmt im Nachvollzug der meiner Liebe vorausliegenden absoluten Bejahung Gottes (…).« 80

Die rein zwischenmenschliche Freundschaft thematisiert Thomas in seinen theologischen Werken zwar nur an wenigen Stellen, doch lässt er es dabei weder an spekulativer Tiefe noch an feinem psychologischem Gespür fehlen. 81 Ihm zufolge trägt die Gesellschaft der Freunde sogar zum bene esse der himmlischen Seligkeit bei, auch wenn sie zu deren Vollkommenheit nicht zwingend erforderlich ist. 82 Seine ausführlichste Stellungnahme zur Freundschaft unter Menschen findet sich – wenig überraschend – in seinem Kommentar zur Nikomachischen Ethik, wobei er der aristotelischen Lehre weitestgehend zustimmt. 83 Auch für ihn ist Freundschaft keine conditio sine qua non zum Erreichen der irdischen Glückseligkeit, sie ist ihr jedoch in höchstem Maße angemessen, da Freunde den Weisen bei der »ErlanVgl. ebd. q. 23 a. 1 ad 2 (»ratione eius«, »propter amicum«, »in ordine ad Deum«) et 3 (»propter Deum«). 79 Ebd. q. 25 a. 1. 80 Schockenhoff: Bonum hominis, 539. Vgl. hierzu auch 541. 81 Vgl. zum amor amicitiae, d. h. zur personalen Liebe: STh I-II q. 26 a. 4; q. 28 a. 1 et a. 2. 82 Vgl. ebd. q. 4 a. 8. 83 Vgl. hierzu Holger Dörnemann: Freundschaft. Die Erlösungslehre des Thomas von Aquin, Würzburg 22012, 130–154. 78

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gung, Erhaltung und Verbesserung der Tugendhaftigkeit und Glückseligkeit« 84 unterstützen. Auf dem Hintergrund der intensiven thomasischen Rezeption des aristotelischen Freundschaftsmodells wird deutlich, wie wenig Meister Eckhart über Freunde und Freundschaft zu sagen hat. Zwar nennt er Gott in seinen Predigten und Traktaten einige Male einen Freund des Menschen, dies geschieht jedoch stets nur in ganz beiläufiger Weise. 85 In der schon öfter erwähnten Predigt 21 spricht er sich im Hinblick auf die erstrebte Vereinigung mit dem Einen sogar gegen eine Freundschaftsbeziehung mit Gott aus: »Freundschaft liegt im Willen. Soweit Freundschaft im Willen liegt, eint sie nicht. Liebe eint nicht; sie eint zwar im Werk, nicht aber im Sein.« 86 Eine der wenigen Stellen, an denen Eckhart die Freundschaft zwischen Menschen erwähnt, findet sich in der Predigt 12. Bezeichnenderweise steht diese Erwähnung im Rahmen eines Tadels derer, die einen bestimmten Menschen, nämlich ihren Freund 87, der ihnen Gutes erweist, lieber haben als irgendeinen anderen. Diese Haltung sei »unrecht« und »unvollkommen«. Dennoch deutet Eckhart mit dem Bild der bei »halbem Wind« durchgeführten Meerfahrt gönnerhaft an, dass auch solche Menschen ins Paradies gelangen können. Sein Verständnis für diejenigen, die ihren Freund lieber haben als einen anderen Menschen, geht sogar so weit, dass er ihre Haltung als »natürlich« bezeichnet. Schließlich beschreibt er »rechte Freundschaft« mit warmen Worten als die Bereitschaft, mit dem Freund jede Freude und jedes Leid zu teilen. 88 Auch wenn diese Stellungnahme zur Freundschaft höchst ambivalent und unklar ist, da dieselbe Haltung auf engstem Raum zuerst »unrecht« und »unvollkommen«, Ebd. 154. Vgl. z. B. Pr. 20B (DW I, 344), Pr. 27 (DW II, 46), RdU (DW V, 232, 241, 257, 260), BdgT (DW V, 51; 54). 86 Pr. 21 (DW I, 360). Neuhdt. Übersetzung ebd. 514. 87 Das mhdt. vriunt hat ein weiteres Bedeutungsfeld als das nhdt. Freund und kann auch Verwandter, Gemahl und Gefolgsmann bedeuten. Ähnlich verhält es sich bei Thomas von Aquin mit amicus. 88 Vgl. Pr. 12 (DW I, 195): »Nû sprechent etlîche liute: ich hân mînen vriunt, von dem mir guot geschihet, lieber dan einen andern menschen. Im ist unreht, ez ist unvolkomen. Doch muoz man es lîden, als etlîche liute, die varnt über sê mit halbem winde und koment ouch über. Alsô ist den liuten, die einen menschen lieber hânt, dan den ander; daz ist natiurlich. Haete ich in als rehte liep als mich selben, swaz im denne geschaehe ze liebe oder ze leide, ez waere tôt oder leben, daz waere mir als liep, daz ez mir geschaehe als im, und daz waere rehtiu vriuntschaft.« 84 85

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dann aber »natürlich« genannt wird 89, so steht sie in ihrer Grundforderung, alle Menschen in gleicher Weise zu lieben, im Einklang mit einer anderen, bereits zitierten Äußerung Eckharts. 90 Ähnlich lautet eine weitere, ebenfalls schon zitierte Stelle, an der Eckhart fordert, man müsse dem unbekannten Menschen »jenseits des Meeres« genauso Gutes gönnen wie dem »vertrauten Freund«. 91 Dass sich diese beiden Forderungen nicht unbedingt decken, wird deutlich, wenn man sie mit der differenzierenden Position des Thomas von Aquin vergleicht. Denn auch er lehrt in der Summa Theologiae, dass allen Menschen in gleicher Weise das allgemeine Gute, nämlich die Seligkeit, zu wünschen ist und dass allen mit dem gleichen liebenden Wohlwollen zu begegnen ist. Unter diesem Gesichtspunkt kann er sagen, dass alle Menschen mit der gleichen christlichen caritas zu lieben sind. Dies schließt aber nicht aus, dass man manche Menschen intensiver lieben darf 92, ja der ordo caritatis gebietet es sogar, bestimmte Menschen, denen man durch verwandtschaftliche oder andere persönliche Bande verpflichtet ist, sowohl dem inneren Affekt als auch dem äußeren Liebeserweis nach mehr zu lieben als andere. 93 Damit lehnt Thomas die Idee, dass alle Menschen im absoluten Sinne auf gleiche Weise geliebt werden müssen, ab. Allerdings beharrt er an anderer Stelle darauf, dass alle Menschen, selbst die einem mittelalterlichen Europäer unerreichbaren Bewohner Indiens und Äthiopiens affectu et effectu zu lieben sind, wobei die tatkräftige Liebe aufgrund der damals schier unüberwindlichen räumlichen Distanz nur im Gebet für die anderen bestehen kann. 94 Was Thomas seinen Lesern an dieser Stelle jedoch nicht sagt, ist, dass sie die Inder und Äthiopier in gleicher Weise und mit derselben Intensität wie ihre Verwandten und Freunde lieben müssen. Genau darauf scheint Meister Eckhart aber Wert zu legen und genau darin liegen auch schwerwiegende Probleme. Denn wenn wirklich alle Menschen in gleicher Weise und mit derselben Intensität geliebt werden sollen, dann führt dies Vgl. hierzu aber negative Wertung der »natürlichen Liebe zu Vater, Mutter, Schwester und Bruder« im BdgT. Demnach ist ein Mensch besser, je weniger er von dieser Liebe getröstet und bewegt wird (DW V, 25). 90 Vgl. Pr. 5A (DW I, 79); siehe S. 67 dieses Beitrags. Die (unerlaubte) Bevorzugung eines Freundes wird hier allerdings nicht erwähnt. 91 Vgl. Pr. 5B (DW I, 87 f.); siehe S. 67 dieses Beitrags. 92 Vgl. STh II-II q. 26 a. 6 ad 1. 93 Vgl. ebd. c. 94 Vgl. De virt. q. 2 a. 8 c. 89

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erstens unweigerlich zu einer Überforderung des Subjekts, so dass am Ende überhaupt niemand mehr geliebt werden wird. 95 Zweitens entwertet Eckhart mit dieser Lehre alle besonderen sozialen Beziehungen zwischen Menschen, so dass die Begriffe Freund und Freundschaft jeden Sinn verlieren. Der Eindruck, dass ihm am Phänomen der Freundschaft wenig liegt, wird durch seine wiederholte Mahnung, den Tod des Freundes mit Gleichmut und in Gottergebenheit hinzunehmen 96, noch verstärkt. Wie bereits erwähnt, kann man nach erfolgter Gottesgeburt in der Seele dem Mord am eigenen Vater und an allen Freunden unbewegten Herzens zusehen. 97 Eine weitere Stelle, an der die Phänomene Freundschaft und Tod zusammen genannt werden, findet sich in der Predigt 16 B. Was dort mit einer rührenden Reflexion Eckharts auf eine selbst gemachte Beobachtung beginnt, geht nahtlos über in einen Vergleich, der wohl nur ausgesprochenen Hundeliebhabern nicht sauer aufstößt. »Als ich gestern hierher in dieses Kloster kam, da sah ich Salbei und andere Kräuter auf einem Grabe stehen; und da dachte ich: Hier liegt eines Menschen lieber Freund, und deshalb hat er diesen Erdenfleck umso lieber. Wer einen recht lieben Freund hat, der hat alles das lieb, was jenem zugehört, und was seinem Freunde zuwider ist, das mag er nicht. Erkennet ein Gleichnis dafür am Hunde, der [doch nur] ein unvernünftiges Tier ist. Der ist seinem Herrn so treu, dass er alles, was seinem Herrn zuwider ist, hasst, und wer seines Herrn Freund ist, den hat er lieb, und er achtet dabei weder auf Reichtum noch auf Armut.« 98

Aus dem Kontext dieser Stelle geht klar hervor, dass beides, der das Grab seines Freundes pflegende Mensch und der seinem Herrn bedingungslos treue Hund, als Vorbilder für die liebende Anhänglichkeit des Menschen an Gott dienen sollen. Letztlich ist das Gleichnis vom Hund sogar Teil der Antwort auf die unmittelbar zuvor gestellte Frage, wie man leben soll (»Ir vraget dicke, wie ir leben sült.«). 99 Dies erstaunt insofern, als man von Eckhart ganz andere Töne bei der Beschreibung des Verhältnisses zu Gott gewohnt ist. Man denke nur an sein Diktum, er wolle von Gott nichts nehmen oder begehren, da er 95 96 97 98 99

Genau dem soll der thomasische ordo caritatis entgegenwirken. RdU (DW V, 256), Pr. 25 (DW II, 7, 10), Pr. 26 (DW II, 33). Vgl. Pr. 76 (DW III, 326); siehe S. 72 dieses Beitrags. Pr. 16 B (DW 271 f.). Ebd.

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sonst wie ein Knecht unter einem Herrn stünde. 100 Interessanterweise macht er diese Bemerkung im Ausgang eines johanneischen Verses, den er auch sonst sehr oft zitiert (Joh 15, 15): »Ich habe euch nicht Knechte geheißen, sondern Freunde.« 101 Wie kann Eckhart das Modell Knecht-Herr zur Beschreibung der Gottesbeziehung, die eine Freundschaft sein soll, ablehnen, das Hund-Herrchen-Schema aber dafür zulassen? Doch wer so fragt, vergisst, wie sehr Eckhart von seinen Hörern und Lesern die Aufgabe des eigenen zugunsten des göttlichen Willens fordert. 102 Und im Liber parabolarum Genesis kennzeichnet er den Freund gerade als den, der einen Willen und ein Wollen mit dem Herrn hat. 103 In dieser Logik eignet sich die Beziehung des unvernünftigen und willenlosen Hundes zu seinem Herrchen also sehr gut zur Beschreibung des Freundschaftsverhältnisses des Menschen zu Gott. Auch der von Eckhart wiederholt geforderte Gleichmut beim Tod eines Freundes ist Ausdruck eines völlig »gelassenen« Willens. Das eigentliche Leitmotiv für Eckharts Umgang mit dem Stichwort Gottesfreundschaft ist aber nicht die Aufgabe des eigenen Willens, sondern die Einung in der Gottesgeburt. So heißt es z. B. in der Predigt 27 bei der Interpretation des bereits erwähnten johanneischen Verses (Joh 15, 15): »Nun spricht er [= unser Herr]: ›Ich habe euch meine Freunde geheißen‹. Fürwahr in der gleichen Geburt, da der Vater seinen eingeborenen Sohn gebiert und ihm die Wurzel und seine ganze Gottheit und seine ganze Seligkeit gibt und sich selbst nichts zurückbehält, in dieser selben Geburt nennt er uns seine Freunde.« 104

Auch an der entsprechenden Stelle seines Johanneskommentars deutet er die Freundschaftsthematik ohne große Umschweife in Richtung Sohnschaft um. 105 Wie sehr das Thema Freundschaft im Schatten des Motivs der Einung steht, zeigt sich am deutlichsten in der Predigt 21, denn in Anspielung auf den Vers Lk 14, 10 fällt dort siebenmal das Stichwort »Freund«, die ganze Predigt kreist aber ausschließlich um das göttliche Eine und die Vereinigung mit ihm. 100 101 102 103 104 105

Vgl. Pr. 6 (DW I, 112). Ebd. Gerade auch in der Pr. 6 (DW I, 102)! Vgl. Lib. Par. Gen. (LW I, 551). Pr. 27 (DW II, 52). In Joh. n. 642 (LW III, 558): »Sed omnis amicus dei, amans deum, est filius dei.«

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Bei der näheren Betrachtung seiner Aussagen zu den anthropologisch und ethisch hochwichtigen Themen Ataraxie und Freundschaft wurde deutlich, dass Eckharts Aufmerksamkeit fast ganz vom Einen absorbiert wird. Für diese Fixierung des Denkens nimmt er im Falle der Bewertung der menschlichen Leidenschaften sogar Inkonsistenzen in Kauf. Was er zur Gottesfreundschaft sagt, ist äußerst dürftig. Kommt die Rede auf die Freundschaft zwischen Menschen, dann geschieht dies meist mit erschreckender emotionaler Kälte. Der Preis, den er für die Eindimensionalität seines spekulativen Denkens zahlt, ist hoch. Denn noch weniger als zum Phänomen der Freundschaft hat er zur christlichen Ehe, zum göttlichen und zum menschlichen Recht sowie zum sozialen Leben in Staat und Gemeinschaft zu sagen – nämlich nichts. 106 Eckharts mystische Lebenslehre wird der Komplexität der geistig und leiblich verfassten Wirklichkeit des Menschen nicht gerecht.

106 Hier könnte man einwenden, Eckhart habe sich mit diesen und anderen moraltheologischen Fragen in seinem verlorenen (oder nie zur Abfassung gelangten) Proverbia-Kommentar beschäftigen wollen. Vgl. Kobusch 2011, 374. Dies ist jedoch nur eine Vermutung. Überdies wird an der Stelle aus dem Johannes-Kommentar, die auf dieses Werk hinweist und durch die wir von ihm wissen, ein ausgesprochen metaphysisches Thema behandelt. Vgl. In Joh. n. 195 (LW III, 164).

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Meditative Exerzitien am Beginn der Neuzeit Cartesische Philosophie und ignatianische Spiritualität im Vergleich Johannes Herzgsell SJ

Einleitung René Descartes wurde am 31. März 1596 in La Haye (Touraine) geboren und starb am 11. Februar 1650 in Stockholm. 1 1606–1614 (oder vielleicht erst ein Jahr später von 1607–1615) wird er am Collège Royal der Jesuiten in La Flèche (Anjou) ausgebildet und lernt neben der scholastischen Philosophie und der neuen Naturwissenschaft auch die ignatianischen Exerzitien kennen. 1637 veröffentlicht Descartes anonym den »Discours de la methode« (Erörterung der Methode). Vier Jahre später, 1641, erscheint die erste Auflage der »Meditationes de prima philosophia« (Meditationen über die Erste Philosophie). Bereits ein Jahr später, 1642, folgt die zweite Auflage der Meditationen, die neben den bisherigen Einwänden und Erwiderungen zudem noch die Einwände des Jesuiten Bourdin enthält. 1644 bringt Descartes die »Principia philosophiae« (Prinzipien der Philosophie) heraus, in der er seine Metaphysik und Naturphilosophie noch einmal zusammenfasst. Da die »Meditationen« das metaphysische Hauptwerk Descartes’ darstellen, werde ich mich beim Vergleich von cartesischer Philosophie und ignatianischer Spiritualität was die Seite Descartes’ angeht auf dieses Werk stützen und beschränken. Der andere in Frage stehende Autor, der Gründer der Gesellschaft Jesu und Initiator der ignatianischen Spiritualität, Iñigo López de Loyola, der sich später Ignatius nannte, wurde am 31. Mai 1491 auf dem Schloss Loyola im Baskenland in Spanien geboren und starb am 31. Juli 1556 in Rom. 2 Nach seiner inneren Bekehrung mit 30 JahVgl. dazu und zum Folgenden Harald Schöndorf: René Descartes, in: Schöndorf, Harald/Coreth, Emerich: Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Grundkurs Philosophie 8. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 2000, 31–65, hier 31 f. 2 Vgl. Peter Knauer: Einleitung, in: Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen nach 1

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ren – im Jahr 1521 – beginnt er schon bald selber, geistliche Übungen zu machen und immer wieder Anweisungen dazu niederzuschreiben. So entstehen die »Geistlichen Übungen«, das bekannte Exerzitienbuch, dessen – von Ignatius selbst korrigierter und deshalb Autograph genannter – spanischer Text aus dem Jahr 1544 als der ursprüngliche ignatianische Gesamttext gelten darf. 3 Noch vor dem »Geistlichen Tagebuch« des Ignatius 4, vor dem »Bericht des Pilgers« (der Autobiographie, die Ignatius in den letzten Jahren vor seinem Tod diktiert hat) 5 und vor den vor allem von Ignatius selbst erarbeiteten »Satzungen der Gesellschaft Jesu« 6 sind die »Geistlichen Übungen« der primäre Quellentext der ignatianischen Spiritualität. Deshalb werde ich mich bei meinem Vergleich von cartesischer Philosophie und ignatianischer Spiritualität was die Seite der ignatianischen Spiritualität angeht auf das Exerzitienbuch konzentrieren. Mein Vergleich wird somit im Vergleich zweier bestimmter Texte bestehen: den »Meditationen« von Descartes und den »Geistlichen Übungen« des Ignatius von Loyola. Die Richtigkeit dieses methodischen Vorgehens muss und wird sich durch die Fruchtbarkeit des konkreten Vergleichs erweisen bzw. bestätigen.

Die Absicht und das Ziel der »Meditationen« Descartes’ und der »Geistlichen Übungen« des Ignatius von Loyola Was Descartes mit seinen »Meditationen über die Erste Philosophie« beabsichtigt, verrät er sogleich im Untertitel der zweiten Auflage seidem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ, Würzburg 1998, 9–24, hier 9. Falls nicht eigens anders vermerkt, halte ich mich bei Zitaten aus den »Geistlichen Übungen« (d. h. dem Exerzitienbuch = EB) an die Übersetzung von Peter Knauer. 3 Vgl. Peter Knauer: Einleitung, in: Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen nach dem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ, Würzburg 1998, 9–24, hier 12. 4 Ignatius von Loyola: Das geistliche Tagebuch. Hrsg. von Adolf Haas SJ und Peter Knauer SJ, Freiburg u. a. 1961. 5 Ignatius von Loyola: Der Bericht des Pilgers. Übersetzt und erläutert von Burkhart Schneider. Mit einem Vorwort von Karl Rahner (5. Aufl.), Freiburg u. a. 1986. 6 Satzungen der Gesellschaft Jesu und Ergänzende Normen. Deutsche Übersetzung der im Auftrag der 34. Generalkongregation herausgegebenen lateinischen Ausgabe. Herausgegeben von der Provinzialskonferenz der zentraleuropäischen Assistenz, München 1997.

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Meditative Exerzitien am Beginn der Neuzeit

nes Werkes, indem er es als »Meditationen« kennzeichnet, »in denen die Existenz Gottes und die Verschiedenheit der menschlichen Seele vom Körper bewiesen wird.« 7 Dem Untertitel der ersten Auflage war bereits zu entnehmen gewesen, dass neben der Existenz Gottes die Unsterblichkeit der Seele bewiesen werden sollte. 8 Descartes will demnach in seinen Meditationen allein mit Gründen der natürlichen Vernunft, d. h. rein philosophisch beweisen, dass Gott existiert und dass die menschliche Seele sich wirklich vom Körper unterscheidet und im Unterschied zu ihm unsterblich ist. 9 Ignatius gibt den Sinn und das Ziel seiner »Geistlichen Übungen« so an: »Geistliche Übungen, um über sich selbst zu siegen und sein Leben zu ordnen, ohne sich bestimmen zu lassen durch irgendeine Anhänglichkeit, die ungeordnet wäre«. 10 Für Ignatius besteht somit das spirituelle Ziel der Exerzitien darin, frei zu werden; frei zu werden von allem, was einen am Dienst für Gott, für Jesus Christus und für den Mitmenschen hindert; frei zu werden im Sinne der Freiheit der Kinder Gottes. 11 Eine solche Freiheit bzw. Befreiung lässt sich nach Ignatius nur durch die Vertiefung des Glaubens an Gott und an Jesus Christus sowie durch eine Teilhabe am Heiligen Geist, der der Geist Jesu Christi und der Kirche ist, erlangen. 12

Descartes, René: Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhart Schmidt, Stuttgart 1983, 23. 8 Descartes, René: Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhart Schmidt, Stuttgart 1983, 21, 23. 9 Vgl. Descartes’ Grußwort an die Doktoren der Theologischen Fakultät von Paris, in: Descartes, René: Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhart Schmidt, Stuttgart 1983, 32–43. 10 EB Nr. 21 [= Exerzitienbuch Nr. 21]. 11 Vgl. dazu das »Suscipe«-Gebet bei der »Betrachtung zur Erlangung der Liebe«, wo es heißt: »Nimm hin, Herr, und empfange meine ganze Freiheit …« (EB Nr. 234). Zitiert nach Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung von Adolf Haas. Mit einem Vorwort von Karl Rahner, Freiburg 1966. 12 Vgl. Peter Knauer: Einleitung, in: Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen nach dem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ, Würzburg 1998, 9–24, hier 13 f. Vgl. auch EB Nr. 365. 7

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Die Struktur der »Meditationen« Descartes’ und der »Geistlichen Übungen« des Ignatius von Loyola Descartes’ Werk besteht aus sechs Meditationen. Für jede Meditation ist ein Tag vorgesehen. 13 In der Ersten Meditation führt Descartes einen universalen methodischen Zweifel ein, indem er begründet, weshalb wir an allem, etwa den Beweisen der Mathematik, besonders aber an der Existenz der materiellen Dinge zweifeln können. 14 Bereits in der Zweiten Meditation findet der umfassende Zweifel ein Ende an der Selbstgewissheit des Ich als eines geistigen Wesens. Solange ich zweifle, solange ich getäuscht werde oder mich täusche, solange ich denke, existiere ich notwendigerweise, und zwar als ein denkendes Ding. In der Dritten Meditation beweist Descartes die Existenz Gottes. Die Vorstellung von Gott als einer unendlichen, absolut vollkommenen Substanz kann in uns, die wir bloß endliche, unvollkommene geistige Substanzen sind, nur von Gott selbst verursacht sein, der deshalb notwendigerweise existiert. In der Vierten Meditation erklärt Descartes, warum wir überhaupt irren können: Weil nämlich unser Wille weiter reicht als unser Verstand und wir deshalb immer wieder urteilen, wo wir kein sicheres Wissen haben. In der Fünften Meditation beweist Descartes noch einmal die Existenz Gottes. Da Gott seinem Wesen nach das vollkommenste Seiende ist, Existenz aber eine Vollkommenheit darstellt, gehört zum Wesen Gottes selbst die Existenz, d. h. existiert Gott notwendigerweise. Existiert aber ein allmächtiger und gütiger Gott, so haben wir allen Grund, die klaren und deutlichen Erkenntnisse in der Arithmetik und der Geometrie für gewiss zu halten. Da unsere Sinneswahrnehmungen, so argumentiert Descartes in Vgl. M 2 Nr. 1 [= Zweite Meditation Nr. 1]. Zeitlich würden die sechs Tage der »Meditationen« bei Descartes in etwa den »fünf bis acht oder zehn Tage[n]« der alljährlichen (»kleinen«) Exerzitien entsprechen, die es neben den »Großen« 30-tägigen Exerzitien gibt (Peter Knauer: Einleitung, in: Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen nach dem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ, Würzburg 1998, 9–24, hier 19). 14 Vgl. Descartes, René: Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhart Schmidt, Stuttgart 1983, »Übersicht der folgenden sechs Meditationen«, 53–61, hier 53. 13

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der Sechsten Meditation, nicht unserer Willkür unterliegen, haben wir schließlich auch allen Grund anzunehmen, dass es Körper außerhalb unserer selbst gibt und wir selber einen Körper besitzen, der sich als ausgedehntes, teilbares Ding von unserem geistigen Ich als denkendem, unteilbarem Ding unterscheidet, aber »mit ihm [auch] ein einheitliches Ganzes bildet.« 15 Die »Geistlichen Übungen« des Ignatius bestehen aus Vier thematischen Wochen, von denen – zumindest bei den ursprünglichen sogenannten »Großen Exerzitien« – jede etwa eine Woche dauert, so dass die Exerzitien insgesamt 30 Tage in Anspruch nehmen. 16 Die Länge der einzelnen Wochen ist jeweils dem Exerzitanten (womit ich immer auch die Exerzitantin mitmeine) individuell anzupassen. Unter »Geistlichen Übungen« versteht Ignatius »jede Weise, das Gewissen zu erforschen, sich zu besinnen, zu betrachten, mündlich und geistig zu beten, und andere geistliche Betätigungen«. 17 Die Erste Woche ist ganz der Erwägung und Betrachtung der eigenen Sünden und der eigenen Erlösungsbedürftigkeit gewidmet. 18 In der Zweiten Woche steht die Geburt Jesu Christi, sein verborgenes Leben in Nazareth und sein öffentliches Wirken bis zum Palmsonntag, also das Leben Jesu im Mittelpunkt. Die Dritte Woche hat das Leiden Jesu Christi zum Thema. In der Vierten Woche meditiert man schließlich die Auferstehung und die Himmelfahrt Jesu Christi. Ignatius stellt an den Beginn der Ersten Exerzitienwoche das sogenannte »Prinzip und Fundament«, in dem er den Sinn des menschlichen Lebens darlegt: »Der Mensch ist geschaffen, um Gott unseren Herrn zu loben, ihm Ehrfurcht zu erweisen und ihm zu dienen und mittels dessen seine Seele zu retten«. 19 In der Praxis der Exerzitien nimmt dieser Vorspann oft großen thematischen und zeitlichen Raum ein, so dass man beinahe von einer eigenständigen Einheit vor der Ersten Exerzitienwoche sprechen könnte. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass in der Praxis auch der Ausklang der Exerzitien in Descartes, René: Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhart Schmidt, Stuttgart 1983, »Übersicht der folgenden sechs Meditationen«, 53–61, hier 59. 16 Vgl. EB Nr. 4. 17 EB Nr. 1. 18 Vgl. zum Folgenden auch Peter Knauer: Einleitung, in: Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen nach dem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ, Würzburg 1998, 9–24, hier 15. 19 EB Nr. 23. 15

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der sogenannten »Betrachtung zur Erlangung der Liebe« 20 gern und bisweilen erheblich ausgedehnt wird, ergeben sich sechs thematische Einheiten der ignatianischen Exerzitien, denen dann in gewissem Sinn die sechs Meditationen Descartes’ entsprechen würden. Diese mögliche strukturelle oder formale Parallele sollte jedoch nicht überbewertet werden. Sehr auffällig hingegen ist in der Tat, dass Descartes seine philosophischen Überlegungen und Gedankengänge »Meditationen« (lat. meditationes) nennt. Diese Bezeichnung war in der Philosophie bis dahin gänzlich unüblich. Die Gedankengänge sollen nicht nur intellektuell nachvollzogen, sondern betrachtet, erwogen und existentiell verinnerlicht werden, wie die fünf täglichen Übungen der Kontemplation (Betrachtung) oder Meditation (Besinnung) 21 in den ignatianischen Exerzitien nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Gemüt 22 und mit den Sinnen 23, mit dem ganzen Körper 24 und mit der ganzen Existenz vollzogen werden sollen, um den ganzen Menschen anzusprechen und zu verändern. Bekannt ist in dem Zusammenhang die Feststellung des Ignatius: »Denn nicht das viele Wissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Innerlich-dieDinge-Verspüren-und-Schmecken.« 25 Die Meditationen sollen und wollen bei Descartes wie bei Ignatius existentiell erschüttern. Wie sehr ihn der universale Zweifel in der Ersten Meditation persönlich erschüttert hat, schildert Descartes am Beginn der Zweiten Meditation: »Die gestrige Meditation hat mich in so mächtige Zweifel gestürzt, dass ich sie nicht mehr loswerden kann; und doch sehe ich keinen Weg zu ihrer Lösung. Mir ist, als wäre ich unversehens in einen tiefen Strudel geraten und würde so herumgewirbelt, dass ich auf dem Grund nicht Fuß fassen, aber auch nicht zur Oberfläche emporschwimmen kann. Doch ich will den Mut nicht sinken lassen und noch einmal denselben Weg versuchen, den ich gestern gegangen war«. 26 EB Nrn. 230–237. Zitiert nach Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung von Adolf Haas. Mit einem Vorwort von Karl Rahner, Freiburg 1966. 21 Vgl. z. B. EB Nrn. 12, 77. 22 Vgl. z. B. EB Nrn. 48, 55. 23 Vgl. z. B. EB Nrn. 65–70. 24 Vgl. z. B. EB Nrn. 76, 89, 252. 25 EB Nr. 2. 26 M 2 Nr. 1. 20

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Der Meditierende soll sich in der Ersten Meditation Descartes’ vom Zweifel existentiell betreffen lassen, wie sich der Meditierende in der Ersten Exerzitienwoche von seiner Sünde existentiell betreffen lassen und darüber Reue und Schmerz empfinden sowie Tränen vergießen soll. 27 An der jeweils angezielten existentiellen Erschütterung oder Betroffenheit wird ein äußerst wichtiges psychologisches Prinzip beider Werke deutlich. Die Teile bauen jeweils im vollen Sinn des Wortes aufeinander auf. Nur wer in der Ersten philosophischen Meditation bei Descartes den Zweifel existentiell wirklich erlebt hat, kann in der Zweiten Meditation die existentielle Erleichterung über die Ich-Gewissheit und in der Dritten Meditation die existentielle Erleichterung und Freude über die Gottesgewissheit erleben, um schließlich vom umfassenden Zweifel nach und nach ganz befreit zu werden. Nur wer in der Ersten geistlichen Exerzitienwoche die Erschütterung über seine Sünden existentiell durchlitten hat, kann sich in der Zweiten Woche ganz dem Leben Jesu zuwenden. Und nur wer in der Dritten Woche die Qual und die Pein Jesu mitgelitten hat, kann dann mit Christus in der Vierten Woche in den Osterjubel ausbrechen. Nur wenn das Ziel einer Einheit wenigstens im Großen und Ganzen erreicht worden ist, ist es sinnvoll, zur nächsten Einheit weiterzugehen. In dem Sinn bauen die Meditationen bei Descartes psychologischphilosophisch so streng aufeinander auf, wie es die Exerzitienwochen bei Ignatius psychologisch-geistlich tun.

Die Erste Meditation In der Ersten Meditation beginnt Descartes (genauer gesagt, der IchAutor im Text, ich werde aber weiterhin von Descartes sprechen) an allem zu zweifeln, was nicht absolut gewiss ist, um zu einem sicheren, unbezweifelbaren Fundament der Erkenntnis, des Wissens und der Wissenschaften zu gelangen. Als Erstes lässt sich an der Existenz 28 und an den Eigenschaften 29 der materiellen Dinge zweifeln. So räumt Descartes in der Sechsten Meditation ein, sich bei der sinnlichen

27 28 29

Vgl. z. B. EB Nr. 4. Vgl. M 2 Nr. 2. Vgl. M 6 Nr. 7.

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Wahrnehmung von Türmen, »die von ferne rund aussahen, von nahem viereckig« 30, und von Statuen, die sich von unten gesehen gar nicht groß ausnahmen, aber aus der Nähe als sehr groß und mächtig erwiesen 31, getäuscht zu haben. Als Nächstes lässt sich an der Existenz und den Eigenschaften des eigenen Körpers zweifeln. Wiederum in der Sechsten Meditation weist Descartes auf das Phänomen des Phantomschmerzes hin. 32 Leute, denen man ein Bein oder einen Arm abgenommen hat, können Schmerzen an der Stelle des fehlenden Körperteils empfinden. Wir können uns also – so der Schluss Descartes’ – nicht nur bei äußeren, sondern auch bei inneren Sinneseindrücken täuschen. 33 Auch könnte ich meinen Körper mit all seine Eigenschaften sowie die ganze Außenwelt träumen. Alles, was ich wachend zu empfinden glaube, könnte ich auch im Schlaf, im Traum erleben. 34 Alle Wissenschaften, die von der Betrachtung der Körper abhängen – wie die Physik, die Astronomie und die Medizin – könnten von daher auf einem grundsätzlichen Irrtum hinsichtlich der Ausdehnung, der Gestalt, der Quantität, der Qualität, des Ortes und der Zeit der Körper beruhen. 35 Schließlich lässt sich auch an scheinbar so sicheren Wissenschaften wie der Arithmetik und der Geometrie zweifeln. Denn es könnte uns Gott, der uns geschaffen hat und alles vermag, etwa die irrigen Überzeugungen, zwei und drei ergäben zusammen fünf oder ein Quadrat habe nicht mehr als vier Seiten, sowie die fälschlichen Überzeugungen, es gebe einen Himmel und eine Erde und viele Körper, einflößen. 36 Als allmächtiger Schöpfer könnte er alles so eingerichtet haben, dass wir in allem irren. Und wenn er uns nicht in allem täuscht, da er als gütig gilt 37, so könnte uns doch »ein ebenso böser und listiger Geist« (genius malignus) 38, ein höchst mächtiger und höchst schlauer Betrüger (deceptor summe potens, summe callidus) 39 in allem täuschen. 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

M 6 Nr. 7. Vgl. M 6 Nr. 7. Vgl. M 6 Nr. 7. Vgl. M 1 Nr. 3; M 6 Nr. 7. Vgl. M 1 Nrn. 5 f.; M 2 Nr. 6; M 6 Nr. 7. Vgl. M 1 Nr. 7. Vgl. M 1 Nrn. 9 f.; M 2 Nr. 3; M 3 Nr. 4; M 6 Nr. 7. Vgl. M 1 Nrn. 9, 12. M 1 Nr. 12. Vgl. M 2 Nrn. 3, 6.

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Im Text der Ersten Meditation fallen zwei offenkundige Parallelen zur ignatianischen Exerzitienspiritualität auf. 1. Um alle Meinungen umstürzen zu können und ein sicheres Fundament des Wissens zu erreichen, sucht Descartes die Einsamkeit. Es trifft sich »sehr günstig«, schreibt er, »dass ich heute meinen Geist von allen Sorgen losgelöst und mir ungestörte Muße verschafft habe. Ich ziehe mich also in die Einsamkeit zurück und will ernst und frei diesen allgemeinen Umsturz aller meiner Meinungen vornehmen.« 40 Diese äußere Situation des Rückzugs und der Einsamkeit erinnert genau an die Situation, die Ignatius für die Exerzitien empfiehlt: Der Exerzitant wird aus den »Geistlichen Übungen« »um so mehr Nutzen ziehen«, so schreibt Ignatius, »je mehr er sich von allen Freunden und Bekannten und von jeder irdischen Sorge absondert; etwa indem er aus dem Haus zieht, wo er weilte, und ein anderes Haus oder Zimmer nimmt, um darin so geheim wie möglich zu wohnen […]«. 41 Ignatius legt eine solche Einsamkeit vor allem nahe, weil der Exerzitant sich dann umso leichter Gott nähern und von ihm Gnaden empfangen kann. 42 2. Descartes nimmt an, »ein ebenso böser wie mächtiger und listiger Geist« könnte all sein Bestreben darauf richten, ihn zu täuschen. 43 Genau vor solch einem »bösen Geist« 44 bzw. »bösen Engel« 45, der danach strebt, den Exerzitanten zu täuschen, warnt Ignatius in den Regeln zur Unterscheidung der Geister für die Zweite Woche. 46 Diesem Geist ist es eigen, die Gestalt eines Lichtengels, also eines guten Engels anzunehmen und die Seele durch Täuschungen zu seinen schlechten Absichten zu ziehen. 47 Ignatius gibt dem Exerzitanten in diesen Regeln Kriterien an die Hand, wie er diese Täuschungen durchschauen und sich davor hüten kann. Letztlich ist die Täuschung durch den bösen Geist am ehesten und sichersten durch jenen Trost zu überwinden, den nur die Gegenwart Gottes selbst der Seele zu schenken vermag. 48 40 41 42 43 44 45 46 47 48

M 1 Nr. 1. Vgl. auch M 3 Nr. 1. EB Nr. 20. Vgl. EB Nr. 20. M 1 Nr. 12. EB Nr. 336. EB Nr. 332. EB Nrn. 328–336. Vgl. EB Nrn. 332, 334. Vgl. EB Nr. 330.

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Die ignatianische Unterscheidung der Geister spiegelt sich auch in einem Abschnitt der Dritten Meditation wider. Dort unterscheidet Descartes zwischen drei Arten von Vorstellungen im Bewusstsein, indem er nach ihrer Ursache fragt. 49 Die einen sind angeboren, d. h. von Gott verursacht – so die Vorstellung vom eigenen geistigen Ich und die Vorstellung von Gott. Die anderen sind selbst verursacht, so etwa Phantasievorstellungen, die man selber bildet. Die dritten sind von außen verursacht, so die Sinneswahrnehmungen von äußeren materiellen Dingen. Ignatius hatte bei der Unterscheidung der Geister für die Zweite Woche zwischen Trostempfindungen, die von Gott verursacht sind 50, Trostempfindungen, die vom guten Engel verursacht sind 51 und sozusagen »falschen« Trostempfindungen, die vom bösen Engel stammen 52, unterschieden. Wie der Trost von Gott bei Ignatius als das Fundament aller Trosterfahrungen gelten darf, darf die angeborene Vorstellung vom eigenen Ich und von Gott bei Descartes als das Fundament aller übrigen Vorstellungen angesehen werden.

Die Zweite Meditation Gibt es, so fragt Descartes in der Zweiten Meditation, etwas von allem bisher Angezweifelten – also meinen Sinnen, meinem Körper und allen übrigen Körpern – Verschiedenes, das in keiner Weise angezweifelt werden kann? 53 – Die Antwort kann nur »Ja« lauten. Denn selbst wenn Gott oder ein bösartiger Betrügergeist mich ständig täuscht, muss es mich zumindest als Getäuschten geben. 54 Selbst wenn ich alles träumen oder mir einbilden sollte, muss es mich irgendwie als Träumenden geben. Und selbst wenn ich an allem zweifle, muss es mich in irgendeiner Weise als den Zweifelnden geben. Doch wer ist dieses Ich, das da getäuscht wird oder sich täuscht, das da alles träumt oder bezweifelt? – so fragt Descartes weiter. Das kann nur ›ich‹ sein, insofern ich denke und Bewusstsein (cogitatio) habe, sofern ich Geist (mens) bzw. Seele (animus) bzw. Verstand (intel49 50 51 52 53 54

Vgl. M 3 Nr. 7. Vgl. EB Nr. 330. Vgl. EB Nr. 331. Vgl. EB Nr. 331. Vgl. M 2 Nr. 3. Vgl. M 2 Nrn. 3, 9.

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lectus) bzw. Vernunft (ratio) bin. 55 Daran dass ich denke und Bewusstsein habe, merke ich, dass ich sicher bin, sicher existiere. 56 Solange ich denke, ist demnach der Satz »Ich bin«, »Ich existiere« absolut gewiss 57 und notwendig wahr 58. Damit ist ein erstes unerschütterliches Fundament in der Erkenntnis erreicht, das über jeden Zweifel erhaben ist. Es muss mich zumindest als denkendes Ding (res cogitans) geben, als ein »Ding, das«, wie Descartes ausführt, »zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will, das auch bildlich vorstellt und empfindet.« 59 Die Erkenntnis, dass ich als geistiges Wesen existiere, ist für mich viel wahrer und gewisser, viel deutlicher und evidenter als die Erkenntnis, dass es bestimmte Körper außerhalb meiner und meinen eigenen Körper gibt. 60 Mit der Ich-Gewissheit ist in Descartes’ Zweiter Meditation ein erstes Prinzip und Fundament der Erkenntnis erreicht, das selbst über allem Zweifel steht und von dem her sich schließlich dann der universale methodische Zweifel wieder rückgängig machen lässt. In diesem Prinzip und Fundament hallt zumindest psychologisch und existentiell das Prinzip und Fundament der Exerzitien nach. 61 Dabei ist jedoch zu beachten, dass Ignatius zwar dieses Prinzip und Fundament gewissermaßen als theologisch-spirituelle Voraussetzung den dann folgenden Betrachtungen von der Ersten bis zur Vierten Woche voranstellt, dieses Prinzip und Fundament aber erst im Laufe der Exerzitien existentiell ganz eingeholt werden kann und soll. Dem Exerzitanten wird erst im Verlauf der »Geistlichen Übungen« der Sinn seines Lebens, nämlich Gott zu loben und zu dienen, um so das eigene Heil zu erlangen, konkret und ganz persönlich aufgehen. Eine erste Stufe zu diesem Prinzip und Fundament erreicht er in der Ersten Woche, indem er sich bei all seiner Sündhaftigkeit der Barmherzigkeit Gottes bewusst wird. Das Gespräch mit dem ans Kreuz gehefteten Christus und Herrn, der für meine Sünden gestorben ist, ist getragen von diesem Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes. 62 Gott 55 56 57 58 59 60 61 62

Vgl. M 2 Nr. 6. Vgl. M 2 Nr. 3. Vgl. M Nrn. 4, 6; M 3 Nr. 4. Vgl. M 2 Nrn. 3, 6. M 2 Nr. 8. Vgl. M 2 Nr. 6; M 3 Nrn. 1 f. Vgl. M 2 Nrn. 15 f., auch 4. Vgl. EB Nr. 23. Vgl. EB Nr. 53.

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hat mir immer schon alle meine Sünden vergeben. Durch seine Barmherzigkeit hat meine Qual und mein Leiden an meinen Sünden ein Ende. Und wie bei Ignatius mit der Gewissheit der Barmherzigkeit Gottes die Sündenqual am Ende der Ersten Woche ein Ende hat, so findet bei Descartes der quälende Zweifel der Ersten Meditation mit der Ich-Gewissheit in der Zweiten Meditation bereits ein Ende. Von nun an kann der spirituelle bzw. philosophische Prozess auf einer anderen Stufe, auf einer höheren Ebene weitergehen.

Die Dritte Meditation In der Dritten Meditation legt Descartes als allgemeine Regel fest, »dass alles das wahr ist, was ich ganz klar und deutlich auffasse.« 63 Da aber die metaphysische, wenn auch schwache Möglichkeit besteht, ein Gott könnte uns auch bei den so klaren und deutlichen Erkenntnissen wie der der Arithmetik und der Geometrie täuschen, ist in erster Linie zu untersuchen, ob es überhaupt einen Gott gibt, und falls es ihn gibt, ob er ein Betrüger sein könnte. 64 Zu diesem Zweck wendet sich Descartes den Vorstellungen (ideae) in seinem Bewusstsein zu 65 und stellt fest, dass sich ihm von diesen Vorstellungen die einen als angeboren, andere als von außen gekommen und wieder andere als von ihm selbst gebildet darstellen. 66 Zudem kann er in sich zwischen Vorstellungen von bloßen Zustandsweisen, d. h. Akzidenzien und von Substanzen unterscheiden, wobei letztere mehr »objektive«, d. h. objektbezogene, vorgestellte Realität M 3 Nr. 2. Das Wahrheitskriterium, das Descartes von der Ich-Gewissheit her gewinnt, ist demnach die »clara quaedam et distincta perceptio« (die klare und deutliche Erfassung). »Was darunter zu verstehen ist, erläutert Descartes in den Meditationen allerdings nicht […]. Offensichtlich ist dieser Ausdruck zu Descartes’ Zeit in der Philosophie geläufig und bedarf für den damaligen Leser eigentlich keiner weiteren Erläuterung. Von der reinen Wortbedeutung her bedeutet ›clare‹ so viel wie ›hell‹ und wird ›obscure‹ (dunkel) entgegengesetzt, meint also ein eindeutig bestimmbares Erfassen von etwas, während ›distincte‹ wörtlich ›unterschieden‹ heißt und im Gegensatz zu ›confuse‹ (verworren) steht, also einen von anderem abgrenzbaren Gehalt meint« (Harald Schöndorf: René Descartes, in: Schöndorf, Harald/Coreth, Emerich: Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Grundkurs Philosophie 8. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 2000, 31–65, hier 46). 64 Vgl. M 3 Nr. 4. 65 Vgl. M 3 Nrn. 5 f. 66 Vgl. M 3 Nr. 7. 63

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besitzen und insofern etwas Größeres sind. 67 Noch größer ist die Vorstellung vom höchsten Gott, der ewig, unendlich, allweise, allmächtig und der Schöpfer aller Dinge ist. Denn diese Vorstellung von Gott als unendlicher Substanz enthält wiederum mehr »objektive«, d. h. vorgestellte Realität in sich als die Vorstellungen von endlichen Substanzen. Inhaltlich gesehen findet Descartes in sich Vorstellungen von Gott, von leblosen körperlichen Dingen, von Engeln, von Tieren und von Mitmenschen vor. 68 Durch das natürliche Licht (lumen naturale [der Vernunft]) offenbaren sich aber nunmehr zwei Prinzipien. Erstens: Jede (Bewusstseins-)Vorstellung muss als Wirkung letztlich von einer wirklichen (und nicht nur von einer vorgestellten) Ursache hervorgebracht sein. Zweitens: Die wirkende Ursache muss wenigstens ebenso viel »formale«, d. h. wirkliche Realität besitzen, wie die bewirkte Vorstellung an »objektiver«, d. h. vorgestellter Realität enthält. Mit anderen Worten: Die wirkende Ursache muss in ihrer tatsächlichen metaphysischen Realität mindestens so vollkommen sein wie die in der Vorstellung vorgestellte Realität. Nun könnte nach Descartes das eigene Ich als geistiges Wesen ohne Weiteres die Vorstellungen von leblosen Körpern, Engeln, Tieren und Mitmenschen verursacht haben, da das eigene Ich als geistige Substanz metaphysisch mindestens so vollkommen ist wie die vorgestellten Realitäten. Nur die Vorstellung von Gott als einer unendlichen, absolut vollkommenen Substanz kann nicht aus dem eigenen Ich hervorgegangen sein, da dieses Ich selbst nur eine endliche, unvollkommene Substanz ist. Die Vorstellung von Gott kann also nur vom unendlichen Gott selbst stammen, dessen notwendige Existenz damit bewiesen ist. 69 Mit den Worten Descartes’: »Wir müssen überhaupt den Schluss ziehen, dass daraus allein, dass ich bin und eine Vorstellung des vollkommensten Seienden, d. h. Gottes, in mir ist, sich mit voller Evidenz beweisen lässt, dass Gott auch existiere.« 70 Da die Vorstellung von Gott weder über die Sinne von außen kommen noch vom eigenen endlichen Geist herrühren kann, ist sie – wie die Vorstellung vom eigenen geistigen Ich selbst – angeboren. 67 68 69 70

Vgl. M 3 Nr. 13. Vgl. M 3 Nr. 17. Vgl. M 3 Nrn. 22–24. M 3 Nr. 36. Vgl. M 4 Nr. 1.

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Für Descartes ist die Gottesvorstellung die wahrste, klarste und deutlichste und damit die gewisseste Vorstellung von allen Vorstellungen, noch wahrer und deutlicher als die Vorstellung vom eigenen geistigen Ich. 71 Mit der Gewissheit Gottes ist demnach ein zweites und noch tieferes, genauer gesagt das tiefste Prinzip und Fundament der Erkenntnis erreicht. Da Gott das vollkommenste Wesen ist, kann er unmöglich täuschen oder betrügen. 72 Denn wie das natürliche Licht (der Vernunft) offenbar macht, entspringt aller Lug und Trug einem Mangel, steckt in allem Betrug und in aller Täuschung etwas von einer (moralischen) Unvollkommenheit, was mit der absoluten Vollkommenheit Gottes unvereinbar wäre. 73 Mit der Gewissheit der Existenz eines allmächtigen und allgütigen Gottes ist Descartes in der Dritten Meditation zu einem zweiten, noch tiefer gehenden Prinzip und Fundament gelangt. Dieses Fundament kann psychologisch-existentiell als Entsprechung zu dem neuen Fundament gesehen werden, das der Exerzitant in der Zweiten Woche legt. Durch die Gewissheit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und die Betrachtung des Lebens Jesu Christi gewinnt der Glaube und das geistliche Leben des Exerzitanten eine neue Tiefe. Durch die Vertrautheit mit Jesus Christus verlegt der Exerzitant den Schwerpunkt und Mittelpunkt seines Lebens existentiell von der eigenen Person weg zur Person Jesu Christi hin. Ganz ähnlich verlagert sich in der Dritten Meditation das Fundament des Meditierenden vom eigenen geistigen Ich zu Gott. Von daher und von da an kann der Bewusstseinsprozess in einer neuen Tiefe fortgeführt werden.

Die Vierte Meditation Wenn Gott als vollkommenstes Wesen nicht betrügen und nicht täuschen kann, woher kommt es dann, so fragt Descartes in der Vierten Meditation, dass ich gelegentlich irren und überhaupt irren kann? Eine erste, recht allgemeine metaphysische Antwort darauf lautet nach Descartes: Weil ich selbst, der ich von Gott geschaffen und

71 72 73

Vgl. M 3 Nr. 25; M 4 Nr. 1. Vgl. M 4 Nr. 17. Vgl. M 3 Nr. 38; M 4 Nrn. 2, 17.

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ganz von ihm abhängig bin 74, gleichsam »ein Mittelding zwischen Gott und Nichts oder dem vollkommensten Sein und dem Nichtsein« bin 75, also metaphysisch unvollkommen bin, kann ich überhaupt irren. Eine zweite, sehr spezielle erkenntnistheoretische oder anthropologische Antwort heißt nach Descartes: In mir befinden sich zwei ungleichartige Vermögen. Mein Erkenntnisvermögen, d. h. mein Verstand (intellectus) ist – wie auch mein Erinnerungsvermögen und mein Vorstellungsvermögen – »äußerst gering und eng begrenzt«. 76 Vieles kann ich grundsätzlich nicht oder nicht genau erkennen. Mein Urteilsvermögen bzw. mein Wahlvermögen, d. h. mein Wille (voluntas) oder meine Freiheit der Willkür (libertas arbitrii) ist hingegen in gewissem Sinn prinzipiell unbeschränkt. Ich kann mir dieses Vermögen gar nicht größer vorstellen, da ich im Prinzip alles beurteilen und bewerten kann, alles tun oder auch nicht tun kann im Sinn von bejahen oder verneinen, erstreben oder meiden kann. 77 Da sich mein im Prinzip unbegrenzter Wille weiter erstreckt als mein eng begrenzter Verstand, kann es immer dann zum Irrtum kommen, wenn ich meinen Willen nicht auf die Reichweite meines Verstandes einschränke, sondern dort noch bewerte, beurteile und will, wo von meinem Verstand her keine klare und deutliche Erkenntnis vorliegt. Um den Irrtum zu vermeiden, schlägt Descartes deshalb vor, nur dann ein Urteil zu fällen oder eine Entscheidung zu treffen, wenn der Verstand eine klare und deutliche Einsicht hat, ansonsten aber den Willen zu zügeln und sich eines jeden Urteils zu enthalten. 78 Positiv ließe sich dieses Prinzip so formulieren: Bevor ich mich entscheide, muss ich mich möglichst gründlich und umfassend über das informieren, was für die Entscheidung bedeutsam ist oder sein könnte. Auf diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, weshalb für Descartes die eigentliche Freiheit des Menschen nicht in einer indifferenten Wahlfreiheit, also der Freiheit, willkürlich dies oder jenes wählen zu können, besteht, sondern in der Fähigkeit, dem, was als das Wahre oder das Gute oder was als Wille Gottes klar und deutlich erkannt und eingesehen wurde, zuzustimmen. 79 74 75 76 77 78 79

Vgl. M 4 Nr. 1. M 4 Nr. 4. M 4 Nr. 8. Vgl. M 4 Nr. 8. Vgl. M 4 Nrn. 15, 17. Vgl. M 4 Nr. 8.

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Im Zentrum der Vierten Meditation steht die Freiheit des Menschen. Für Descartes stellt die indifferente Wahlfreiheit, bei der es den Wählenden zu keiner Seite mehr hintreibt als zur anderen, »die niedrigste Stufe der Freiheit« dar 80, während für ihn die höchste Stufe der Freiheit darin liegt, das Wahre oder Gute oder das Wirken Gottes im eigenen Innersten einzusehen, dadurch ganz eindeutig zu einer Seite der Wahl hinzuneigen und diese Seite dann um so freier zu wählen. Ignatianische Exerzitien sind ursprünglich und eigentlich Wahlexerzitien. Der Exerzitant soll am Ende der Zweiten Woche eine (Lebens-)Entscheidung treffen 81, etwa ob er heiraten oder Priester werden will. 82 Dazu unterscheidet Ignatius drei »Wahlzeiten«, d. h. Weisen, in denen sich die Entscheidung vollziehen kann. 83 Bei der ersten Weise bewegt und zieht Gott den Willen der Seele so stark an, dass sie dem Gezeigten folgt, ohne zu zweifeln noch zweifeln zu können. 84 Bei der zweiten Weise hat der Exerzitant aus der Erfahrung von Tröstungen und Trostlosigkeiten 85 und aus der Erfahrung der Unterscheidung verschiedener Geister so viel Klarheit und Erkenntnis gewonnen, dass es ihn eindeutig zu einer Seite der Wahl zieht. 86 Bei der dritten Weise fühlt sich der Exerzitant geistlich weder zu der einen noch zu der anderen Seite hingezogen, weshalb er sich durch natürliches vernunftmäßiges Abwägen der Gründe für eine Seite entscheidet. 87 Descartes stuft die dritte »Wahlzeit« der Exerzitien als die niedrigste Stufe der Freiheit ein, während er die zweite und vor allem die erste »Wahlzeit« als eine höhere bzw. die höchste Stufe der Freiheit betrachtet. Je stärker Gott einen Menschen zu einer bestimmten Entscheidung drängt, desto größer ist dessen innere Freiheit, sofern er diesem Drängen Gottes folgt. Im »Suscipe«-Gebet bietet der Exerzitant daher Gott am Ende der Exerzitien seine ganze Freiheit an: »Nimm hin, Herr, und empfange meine ganze Freiheit, mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen ganzen Willen, meine ganze 80 81 82 83 84 85 86 87

M 4 Nr. 8. Vgl. EB Nrn. 169–188. Vgl. EB Nr. 171. Vgl. EB Nrn. 175–188. Vgl. EB Nr. 175; vgl. auch Nrn. 330, 336. Vgl. EB Nrn. 316 f. Vgl. EB Nr. 176. Vgl. EB Nrn. 177–188.

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Habe und meinen Besitz; Du hast es mir gegeben, Dir, Herr, gebe ich es zurück; alles ist Dein, verfüge nach Deinem ganzen Willen; gib mir Deine Liebe und Gnade, das ist mir genug.« 88

Die Fünfte Meditation In der Fünften Meditation beweist Descartes noch einmal die Existenz Gottes. Zwar brauche ich nicht notwendig auf den Gedanken Gottes zu kommen, aber wenn ich an ihn als das erste und höchste Seiende denke, muss ich ihm notwendig alle Vollkommenheiten zuschreiben. 89 Erkenne ich nun, dass auch das Sein, d. h. das Dasein, die Existenz, eine Vollkommenheit ist, bleibt nur der Schluss, dass das erste und höchste Seiende existiert. Der Syllogismus Descartes’ ist demnach denkbar einfach 90: (1) Gott ist das vollkommenste Seiende (ens summe perfectum). (2) Sein (existentia) ist eine Vollkommenheit (perfectio). (3) Also existiert Gott mit Notwendigkeit. Die Nichtexistenz Gottes lässt sich nicht denken. Bei ihm – und ihm allein – kann die Existenz (existentia) nicht vom Wesen (essentia) getrennt werden, gehört die Existenz zum Wesen selbst. 91 Aus der Erkenntnis, dass Gott als vollkommenstes Seiendes notwendig existiert und nicht betrügen kann und dass alles von ihm, dem Schöpfer, notwendig abhängt, folgt nun nach Descartes, dass alles, was ich klar und deutlich erfasse, insofern es ohne Zweifel von Gott bewirkt ist 92, auch wirklich wahr ist. 93 Denn von der Erkenntnis Gottes hängt die Gewissheit und die Wahrheit alles weiteren Wissens ab. 94 Von daher dürfen zunächst einmal alle Sätze der Arithmetik und der Geometrie, ganz allgemein der reinen, abstrakten Mathematik, die wir klar und deutlich erfassen, als wahr und gewiss gelten. 95 EB Nr. 234 (zitiert nach Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung von Adolf Haas. Mit einem Vorwort von Karl Rahner, Freiburg 1966). Dieses Gebet gehört zu der die Exerzitien abschließenden »Betrachtung zur Erlangung der Liebe« (EB Nrn. 230–237). 89 Vgl. M 5 Nr. 11. 90 Vgl. M 5 Nr. 8. 91 Vgl. M 5 Nrn. 8, 10 f. 92 Vgl. M 6 Nr. 1. 93 Vgl. M 5 Nr. 15. 94 Vgl. M 5 Nrn. 13, 16. 95 Vgl. M 5 Nrn. 5–7, 14–16. 88

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Sind das Dasein und die Allmacht und die Allgüte Gottes gewiss, so sind auch alle Sätze der Mathematik gewiss. Der erneute Gottesbeweis in der Fünften Meditation stellt inhaltlich in gewissem Sinn eine überflüssige Wiederholung dar, im Ganzen des existentiellen Bewusstseinsprozesses dagegen eine erneute Vertiefung. Von nun an kann der radikale Zweifel radikal ausgeräumt werden. Diese erneute Vertiefung lässt sich psychologischexistentiell vielleicht als Entsprechung zur Gewissheit der Auferstehung Jesu Christi in der Vierten Exerzitienwoche auffassen. Wie durch die Begegnung der Apostel mit dem Auferstandenen (für die Apostel selbst) alle Zweifel behoben waren, dass Jesus Christus beim Vater ein himmlisches Leben weiterlebt und der Sohn Gottes war und ist, lassen sich durch die erneute Vergegenwärtigung Gottes in der Fünften Meditation alle Zweifel zerstreuen, Gott könne uns betrügen und wir könnten uns in allem, was wir klar und deutlich erkennen, täuschen. Die Gegenwart des Auferstandenen bzw. Gottes kann alle Glaubenszweifel und existentiellen Zweifel aufheben.

Die Sechste Meditation Nun bleibt noch zu untersuchen übrig, wie Descartes zu Beginn der Sechsten Meditation feststellt, ob es materielle Dinge gibt. 96 Zunächst einmal darf als gewiss gelten, was an den Körpern Gegenstand der Mathematik ist, wie etwa die Ausdehnung, die Gestalt, die Größe, die Lage und die Bewegung, die ich klar und deutlich erkennen kann. 97 D. h. wenn es materielle Dinge gibt, dann sind sie sicher ausgedehnt, haben eine bestimmte Gestalt und Größe etc. Darüber hinaus glaube ich an den äußeren Dingen Licht und Farben, Töne, Gerüche, ertastbare Eigenschaften wie Härte und Wärme sowie Geschmacksqualitäten sinnlich wahrzunehmen, wenn auch nicht so klar und deutlich wie die erstgenannten Eigenschaften der Ausdehnung, der Gestalt usw. Die Sinneswahrnehmungen gingen aber ganz offensichtlich von Körpern außerhalb meiner aus. »Ich merkte nämlich«, so lautet die Begründung Descartes’, »dass sie ganz ohne mein Zutun sich einstellten, so dass ich, auch wenn ich es wollte, kein Objekt sinnlich hätte auffassen können, das nicht dem Sinnes96 97

Vgl. M 6 Nr. 1. Vgl. auch M 5 Nr. 2. Vgl. M 5 Nr. 3; M 6 Nr. 6.

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Meditative Exerzitien am Beginn der Neuzeit

organ gegenwärtig gewesen wäre, dass ich es aber sinnlich auffassen musste, wenn es diesem gegenwärtig war.« 98 Im Unterschied zu Vorstellungen, die wir mit Hilfe unserer Einbildungskraft selbst gebildet haben, sind die sinnlichen Wahrnehmungen von äußeren Körpern »weit lebhafter, ausgeprägter und in ihrer Art weit deutlicher« 99 als jene sowie unabhängig von der eigenen Willkür. 100 Schließlich lehrt mich die Natur 101, dass ich einen eigenen Körper habe, der ein ausgedehntes, teilbares Ding ist, weshalb ich als denkendes, unteilbares Ding wirklich von ihm verschieden bin und ohne ihn existieren kann. 102 Trotz dieser Verschiedenheit bin ich aber mit meinem Körper »aufs innigste verbunden« 103 und »bilde mit ihm ein einheitliches Ganzes«. 104 Ich darf grundsätzlich dem trauen, was mich die Natur lehrt, da die beiden grundsätzlichen Irrtümer bezüglich meiner Sinneswahrnehmungen ausgeschlossen sind. Der erste große befürchtete Irrtum ist insofern ausgeschlossen, als Gott in seiner Allgüte nicht betrügen kann und in seiner Allmacht und Allgüte die Existenz eines bösen Betrügers, der mich täuscht, zu verhindern weiß. 105 Aber auch der zweite große gehegte Zweifel ist unbegründet, insofern ich sehr wohl zwischen Wachzustand und Traum zu unterscheiden vermag. Descartes schreibt dazu: »Jetzt sehe ich, wie groß der Unterschied zwischen beiden ist: niemals verknüpft das Gedächtnis die Träume mit allem anderen, was wir im Leben tun; bei dem jedoch, was wir im Wachen erleben, ist dies der Fall.« 106 Durch den universalen kohärenten Zusammenhang all meiner Sinneswahrnehmungen und meines ganzen Lebens ist die Möglichkeit ausgeschlossen, dass ich alles nur träume. Zwar kann und werde ich immer wieder in Einzelfällen irren und mich täuschen. Aber die Gewissheit der Existenz eines allgütigen und allmächtigen Gottes zusammen mit der grundlegenden Vertrauenswürdigkeit der von ihm geschaffenen Natur lassen einen prinzipielM 6 Nr. 6. M 6 Nr. 6. 100 Vgl. M 6 Nrn. 7, 10. 101 Zu dieser Wendung Descartes’ siehe M 6 Nrn. 6, 11–15. 102 Vgl. M 6 Nrn. 9,19. 103 M 6 Nr. 9; vgl. Nr. 13. 104 M 6 Nr. 13. 105 Vgl. M 6 Nr. 24. 106 M 6 Nr. 24. 98 99

99 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

Johannes Herzgsell SJ

len, universalen Zweifel an meiner Erkenntnis- und Wahrheitsfähigkeit unberechtigt erscheinen. Im Vertrauen auf Gott darf ich meiner Erkenntnis grundsätzlich trauen. Alle grundsätzlichen Zweifel sind nun beseitigt. Derjenige, der Descartes’ philosophische Meditationen ganz mitvollzogen und verinnerlicht hat, geht mit großem erkenntnistheoretischen Optimismus aus ihnen hervor und kann mit Zuversicht und Freude ins alltägliche Leben zurückkehren. Diese Freude und diese Zuversicht drückt Descartes freilich nicht am Ende der Sechsten Meditation aus, die mit einem Eingeständnis der Schwäche der menschlichen Natur endet, sondern bereits am Ende der Dritten Meditation, das damit psychologisch-emotional wie auch inhaltlich den eigentlichen Höhepunkt der Meditationen bildet. Dort schreibt Descartes: »Doch bevor ich […] zu den andern Wahrheiten […] vorzudringen versuche, will ich hier noch ein wenig bei der Betrachtung Gottes verweilen. Ich will seine Eigenschaften bei mir erwägen und die Schönheit dieses unermesslichen Lichts, soweit mein geblendetes geistiges Auge es zu ertragen vermag, anschauen, bewundern, anbeten. Wie nämlich unserem Glauben nach in der bloßen Betrachtung der göttlichen Majestät die höchste Glückseligkeit des jenseitigen Lebens besteht, so werden wir dessen inne, dass wir jetzt schon durch diese, wenn auch viel unvollkommenere Betrachtung die höchste Lust erfahren können, deren wir in diesem Leben fähig sind.« 107 Dieser Schluss der Dritten Meditation darf als ein Echo der »Betrachtung zur Erlangung der Liebe« 108 verstanden werden, mit der die »Geistlichen Übungen« als ihrem Höhepunkt ausklingen. Der Exerzitant soll sich ganz am Ende in großer Dankbarkeit an die von Gott empfangenen Wohltaten der Schöpfung, der Erlösung und besonderer Gaben erinnern und sich bewusst machen, wie Gott in all seinen Geschöpfen wohnt, wirkt und sich für ihn abmüht.

Schlussbemerkung Für Descartes ist Philosophie sowohl eine theoretische als auch eine kontemplative Lebensform. Sie ist eine theoretische Wissenschaft, die methodisch so streng vorgehen muss wie die Mathematik, um zu 107 108

M 3 Nr. 39. EB Nrn. 230–237.

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Meditative Exerzitien am Beginn der Neuzeit

sicheren Erkenntnissen zu gelangen. In den »Meditationen« stellt sie sich als ein streng deduktives System dar, das auf zwei Prinzipien beruht, von denen das zweite – was den Weg der Erkenntnis betrifft – aus dem ersten folgt: 1. Ich existiere als denkendes Wesen. 2. Gott existiert als vollkommenstes Wesen. Alles Weitere lässt sich daraus ableiten. Insofern fasst Descartes Philosophie als eine methodisch strenge, theoretische Wissenschaft auf. Inwieweit er sie in den »Meditationen« zugleich und in einem als kontemplative Lebensform versteht, ist durch die Nähe zur ignatianischen Exerzitienspiritualität deutlich geworden. Bei den »Meditationen« Descartes’ handelt es sich um philosophische Betrachtungen, bei den »Geistlichen Übungen« des Ignatius um spirituell-theologische. Von daher unterscheiden sich beide Werke im ersten Ansatz methodisch und inhaltlich sehr stark. Trotzdem weisen die zahlreichen aufgezeigten Übereinstimmungen und Parallelen darauf hin, dass es zwischen beiden Werken eine tiefere Gemeinsamkeit gibt und dass die Meditationen Descartes’ zutiefst von den ignatianischen Exerzitien inspiriert sind. Beide Werke stellen eine Anleitung zu einem existentiellen Bewusstseinsprozess dar. Auch wenn in den »Geistlichen Übungen« des Ignatius nicht viel von einem Gesamtprozess der Verinnerlichung die Rede ist, so ist doch jedem, der sich auf diese Übungen eingelassen hat, klar, dass in den Vier Exerzitienwochen sich nicht einfach der Betrachtungsstoff ändert, sondern dass in diesen Übungen die Dynamik eines Prozesses der Bewusstseinsveränderung und der Verinnerlichung steckt. Der Exerzitant soll sich der Gegenwart Jesu Christi und der Gegenwart Gottes immer existentieller und innerlicher bewusst werden. Ganz ausdrücklich verweist Descartes auf diesen dynamischen Prozess der Verinnerlichung, wenn er am Beginn der Dritten Meditation ausführt: »Ich will nun meine Augen schließen, meine Ohren verstopfen, alle meine Sinne will ich abwenden […] Zu mir allein will ich reden und tiefer in mein Inneres blicken und mich so allmählich mit mir selbst bekannter und vertrauter zu machen suchen.« 109 Auf diesem Weg nach innen entdeckt Descartes zunächst sein eigenes geistiges Ich und dann – als etwas, das noch innerlicher, evidenter und gewisser ist – die Vorstellung bzw. die Gegenwart Gottes in sich. 109

M 3 Nr. 1 (Hervorh. J. H.).

101 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

Johannes Herzgsell SJ

Wie der geistliche Weg der ignatianischen Exerzitien ist der Denkweg Descartes’ im Grunde ein Prozess der Bewusstseinsveränderung und der Verinnerlichung, an dessen Ende die Gewissheit der Gegenwart Gottes in allen Dingen steht.

Literatur Descartes, René: Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhart Schmidt, Stuttgart 1986. Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung von Adolf Haas. Mit einem Vorwort von Karl Rahner, Freiburg 1966. Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Nach dem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ, Würzburg 1998. Schöndorf, Harald/Coreth, Emerich: Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Grundkurs Philosophie 8. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 2000, 31 f.

102 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

Berkeleys Immaterialismus als philosophische Lebensform – ein Selbstversuch Lioba Fau OSB

1.

Motivation

Klostereintritte bilden Entscheidungen ab. Sie machen für alle Welt sichtbar, dass jemand bewusst seinen Lebensbereich verlässt, um im Kloster anders weiterzuleben. Sehr bald zeigt sich, wer von der Familie, den Freunden und Bekannten diesen Schritt mitgehen kann und will und wer nicht, ablesbar an Telefonaten und Besuchen, die weniger werden oder sich stabil einpendeln. Dasselbe gilt für Bücher. Es gibt Texte, die den Weg ins Kloster schaffen, davon wiederum solche, die nach längerem Hin- und Herräumen schließlich auf dem Dachboden landen, weil sich zeigt, dass sie zu Ende gelesen und abgelebt sind. Andere dagegen finden den Weg auf den neuen Schreibtisch und entfalten die alte Faszination neu. Einer meiner Lieblingsautoren, der erfolgreich mitging, ist George Berkeley (1685–1753), irischer Bischof der anglikanischen Kirche, Philosoph des »esse est percipi«, Amerikafahrer und Teerwasserexperimentator. Die Relektüre seiner Texte unter den veränderten persönlichen Bedingungen ist nicht nur privat eine spannende Angelegenheit, sondern möglicherweise dazu angetan, seine Immaterialismus-These, die er als »Theorie der visuellen Sprache Gottes« formuliert hat, neu zu verorten. Ich möchte daher in diesem Beitrag der Frage nachgehen, was genau es ist, das Berkeleys Philosophie klostertauglich macht.

2.

Wie man lesen kann

Einen ersten Anhaltspunkt dazu fand ich bei der Lektüre von Jean Leclercqs Standardwerk zur monastischen Theologie »Wissenschaft

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und Gottverlangen« 1, in dem er das Spezifische der klösterlichen Bildung hinsichtlich ihrer Inhalte und Ziele sowie der Methode ihrer Bildungsaneignung beschreibt. Als Kompass zu den Kernthesen bietet sich der französische Originaltitel an: »L’amour des lettres et le désir de Dieu«. Die Liebe der Mönche des Mittelalters zu den Wissenschaften zeichnet sie als Leser aus, die aus drei Quellen schöpfen: der Heiligen Schrift, der Patristik und den antiken Autoren, Dichtern und Philosophen, soweit bekannt. Die Lektüre und wissenschaftliche Erforschung der antiken Literatur ist dabei kein Selbstzweck, sondern dient der wahren Leidenschaft der Mönche, ihrer Sehnsucht nach Gott. Der Beurteilungsmaßstab für den Wert eines Textes liegt darin, ob die Literatur ihre Leser auf dem Weg zu Gott befördert oder behindert, ihnen auf der Suche nach Gott nutzt oder schadet, ihnen hilft, das Ziel ihres Lebens, das himmlische Jerusalem, zu erreichen oder es verfehlen lässt. Die Mönche lesen also nicht um des Lesens oder der puren Aufnahme von Neuigkeiten willen (Kap. 4). Damit unterscheidet sich die monastische Bildung, wie sie in den Klöstern vermittelt wird, von der Bildung in den Stadtschulen, aus denen im 12. Jahrhundert die Universitäten entstehen. In den Schulen geht es um die Aneignung und Erweiterung von Kenntnissen unterschiedlicher Disziplinen, organisiert im Wissenschaftsbetrieb der septem artes liberales, von denen besonders das Grammatikstudium die Erforschung der antiken Autoren ermöglicht. In Verbindung mit der Dialektik entsteht eine begriffliche Fachterminologie, mit der Wissen systematisiert, rational dargestellt und vor allem gelehrt werden kann, die Scholastik. Dieser wissenschaftliche Umgang mit Texten wird von den Mönchen in den Klöstern zwar auch praktiziert, steht aber im Dienst ihrer persönlichen Aneignung der überlieferten Literatur. Dazu eignet sich besonders die Methode der allegorischen Textauslegung, durch die auch Texte, die dem eigenen Streben, der Gottsuche, ferner stehen, »hereingeholt« werden können in einen geistlich-spirituellen Lesekontext. Die Väter hatten auf diese Weise das Alte Testament christologisch neu gelesen, und dieselbe Methode wenden die Mönche nun auch auf die Lektüre antiker Schriftsteller an. Sie eignen sich kein fremdes Bildungsgut allein um des Wissens

Jean Leclercq OSB, Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters, Düsseldorf 1963.

1

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Berkeleys Immaterialismus als philosophische Lebensform – ein Selbstversuch

willen an, sondern als mögliche Hilfe, um das Geheimnis Gottes tiefer zu erschließen (Kap. 9). Dabei kommt ihnen neben der Hermeneutik die Art und Weise des Lesens zugute, die sie ursprünglich für die Bibellektüre entwickelt haben: die »lectio divina«, der Dreiklang aus lectio, meditatio und oratio, in besonderen Momenten gefolgt von der contemplatio. Aus der Lektüre (lectio) eines – sakralen oder profanen – Textes ergibt sich die Betrachtung (meditatio) des Gegenstandes von allen Seiten, weniger eine rational-begriffliche Analyse. Der Text wird in der Meditation wiedergekäut (ruminatio), bis die saftigen und nahrhaften Inhalte des Gelesenen in Fleisch und Blut übergehen und in das Gebet (oratio) münden. Zeigt sich Gott dem Mönch dann in der Kontemplation, gewinnt er dadurch einen weiteren authentischen, erfahrungsbasierten, nicht durch Lehre vermittelten Maßstab zur Beurteilung des Wertes eines Textes, den er fortan nicht nur auf seine grammatische Eleganz oder gedanklich-logische Schönheit, sondern auf seinen Wahrheitsgehalt hin befragen kann. Methodisch ganz anders verfahren die Schulen und Universitäten. Hier erwächst aus der lectio die quaestio, die Problematisierung und analytische Durchdringung des Gegenstandes, die in die disputatio, das Streitgespräch, mündet mit dem wissenschaftlichen Ziel der Gewinnung neuer Erkenntnisse (Kap. 5). Die Mönche lesen aus einer »Resonanz« (S. 168) heraus: Was in dem Text korrespondiert mit meinen eigenen Gotteserfahrungen, meiner eigenen Sehnsucht, was rührt mich an und hilft mir damit weiter auf meiner Suche nach Gott? Angestrebt wird nicht überpersonale Wissenschaft, sondern in der Meditation gewonnene Weisheit. Sollte es möglich sein, auf diese Weise einmal eine Annäherung an Berkeley zu versuchen? Nicht über die Prüfung der Argumente, sondern über die Frage, ob seine Philosophie eine Hilfe bei der persönlichen Gottsuche sein könnte?

3.

Wissenschaft und Gottes Gegenwart

Berkeley selbst scheint dafür die Tür zu öffnen, da die Lesehinweise auf den Titelblättern seiner beiden Früh- und Hauptwerke um die beiden Pole »Wissenschaft« und »Gott« kreisen: 2 2

Die Standardausgabe von Berkeleys Werken ist: The Works of George Berkeley,

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»A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge Wherein the chief Causes of Error and Difficulty in the Sciences, with the Grounds of Skepticism, Atheism, and Irreligion, are inquir’d into.« »Three Dialogues between Hylas and Philonous. The Design of which is plainly to demonstrate the Reality and Perfection of Humane Knowledge, the Incorporeal Nature of the Soul, and the Immediate Providence of a DEITY: In Opposition to SCEPTICS and ATHEISTS, also, to open a Method for rendering the SCIENCES more easy, useful, and compendious.«

3.1 Ohne Materie auskommen Das falsche Prinzip, gegen das Berkeley andenkt und anschreibt, ist der Glaube an eine unabhängig oder absolut existierende Materie, die gemeinhin für die Möglichkeit unseres Weltzugangs, unserer Perzeption und Erkenntnis, als Erklärungshypothese dient. Materie soll die Identität von Gegenständen gewährleisten und Ursache unserer Sinnesempfindungen sein. In der Tradition einer aristotelisch geprägten Schulphilosophie, die noch die Ausgangslage der Metaphysik René Descartes’ bildet, gelten Körper als Modifikationen einer vom Geist (res cogitans) und von Gott substanziell unabhängig existierenden »res extensa«, die als Substrat Träger und Verursacher von Eigenschaften (Akzidenzien) ist. Ausgehend von der Mathematik (Descartes) und der Chemie (Robert Boyle) werden die Eigenschaften der Körper in primäre und sekundäre Qualitäten klassifiziert, wobei erstere die objektiv messbaren Eigenschaften der Körper darstellen, letztere subjektive Sinnesempfindungen. Umstritten ist, ob diese überhaupt Körpern inhärieren oder tendenziell eher als Empfindungen des wahrnehmenden Subjekts anzusehen sind, die entstehen, wenn mathematisch beschreibbare Körper sich bewegen. Dies ist das Modell antiker und neuzeitlicher Atomtheorien der Materie. Berkeley kritisiert an der Materialismus-Hypothese grundsätzBishop of Cloyne, hrsg. von Arthur A. Luce/Thomas E. Jessop, 1948–1957, repr. Nendeln/Liechtenstein 1979, 9 Bände. Die »Principles« von 1710 und die »Three Dialogues« von 1713 finden sich in Bd. 2.

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Berkeleys Immaterialismus als philosophische Lebensform – ein Selbstversuch

lich drei Punkte, die er in knapper Form in den »Principles of Human Knowledge (§§ 1–33) unter die Lupe nimmt: 1) Wir haben keinen Zugang zur Materie (§§ 16/17). Wir nehmen sie nicht sinnlich wahr, denn alles, was wir wahrnehmen, sind Sinnesdaten (ideas/sensations). Wir können sie auch nicht gedanklich erkennen, da sie als Träger von Eigenschaften selbst eigenschaftslos ist oder aber alle Eigenschaften, also auch entgegengesetzte, in sich enthalten müsste. Der Begriff der Materie ist demnach entweder leer oder widersprüchlich. 2) Die Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten ist das Resultat einer unzulässigen Abstraktion (§§ 9–15). Farbe zum Beispiel hat als sekundäre oder subjektive Qualität im aktuellen Wahrnehmungsperzept immer eine bestimmte Gestalt oder Ausdehnung. Ausdehnung aber ist eine primäre Qualität. Daher kann Messbarkeit kein Argument für objektive oder bewusstseinsunabhängige Existenz sein. 3) Materie ist passiv und somit nicht in der Lage, als bewirkende Ursache unsere Sinnesempfindungen/ideas hervorzubringen (§ 25). Ebenso unklar bleibt, wie Ideen im Geist etwas repräsentieren sollen, das vom Geist so substantiell verschieden ist wie die Eigenschaften materieller Körper. Berkeley tritt mit diesem Argument in die Diskussion um Abbildtheorien der Erkenntnis seiner beiden Zeitgenossen John Locke und Nicolas Malebranche ein. Was bietet er als Alternative an? Zunächst eliminiert Berkeley die Materie aus dem Kosmos des Seienden und definiert den Begriff des Körpers neu: Körper sind nicht materiell, sondern wahrnehmbar: »Their esse is percipi« (Principles, § 3). Auch nach dieser Verschiebung bleiben die beiden Grundfragen natürlich bestehen: Aus welcher Quelle stammen unsere Sinnesempfindungen oder Wahrnehmungsperzepte und wie bauen sich aus unterschiedlichen Sinneseindrücken Wahrnehmungsgegenstände auf?

3.2 Gottes Herrlichkeit sehen Berkeleys Denken geht nicht von einer Welt unabhängig existierender materieller Gegenstände aus, mit denen der Mensch im Laufe seines Lebens praktisch und geistig umgeht. Die Grundtatsache seiner Welt ist vielmehr eine Beziehung, und zwar zwischen den ver107 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

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bleibenden Substanzen, nachdem die Materie gefallen ist: Gott und menschlichen Geistern (spirits). Die Interaktion besteht auf Seiten der Menschen im Wahrnehmen dessen, was zur Wahrnehmung angeboten wird, der Sinneseindrücke (ideas). Ihre Quelle oder Ursache ist nicht die Materie, sondern Gott, der sie erzeugt, um den Menschen zu begegnen. Die Dynamik dieser Welt entsteht aus Aktivität, und zwar einmal Gottes, der unablässig Daten aussendet, und der menschlichen Geister, die sie sinnlich perzipieren, mit dem Verstand entschlüsseln und kraft ihres Willens verändern. Berkeley formuliert dies folgendermaßen: »Such I take this important one to be, to wit, that all the choir of heaven and furniture of the earth, in a word all those bodies which compose the mighty frame of the world, have not any subsistence without a mind, that their being is to be perceived or known, that consequently so long as they are not actually perceived by me, or do not exist in my mind or that of any other created spirit, they must either have no existence at all, or else subsist in the mind of some eternal spirit. It being perfectly unintelligible and involving all the absurdity of abstraction, to attribute to any single part of them an existence independent of a spirit« (Principles, § 6).

Was Quelle unserer Sinnesempfindungen ist, wäre damit in einem ersten alternativen Entwurf zur Materie-Hypothese skizziert. Als nächstes stellt sich die Frage, wie Gegenstände konstituiert werden. Denn wir nehmen über unsere fünf Sinne je verschiedene Arten von Daten wahr – visuelle und Tasteindrücke, olfaktorische, akustische und Geschmackseindrücke. Wie erfolgt daraus die Synthese auf einen Gegenstand hin, da wir doch von Dingen wie »Äpfeln« oder »Häusern« sprechen? Die Antwort liegt in der Frage selbst: Äpfel sind Äpfel, Wörter, die wir wie ein Netz um bestimmte Bündel von Sensationen werfen, die wir damit aus dem Meer von Sinnesempfindungen, mit denen wir pausenlos konfrontiert sind, herausfischen. Wir neigen aufgrund unseres Glaubens an eine unabhängig existierende Materie zu der Meinung, zuerst existierten die Gegenstände, die wir dann wahrnehmen, wenn wir auf sie treffen, um schließlich über sie zu sprechen. Berkeley dagegen beginnt strikt mit dem Akt der Wahrnehmung als solchem, der im Zusammenspiel mit Erfahrung und Sprache eine immaterielle Welt konstituiert. Er selbst drückt es so aus: »By sight I have the ideas of light and colors with their several degrees and variations. By touch I perceive, for example, hard and soft, heat and cold,

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Berkeleys Immaterialismus als philosophische Lebensform – ein Selbstversuch

motion and resistance, and of all these more and less either as to quantity or degree. Smelling furnishes me with odors; the palate with tastes, and hearing conveys sounds to the mind in all their variety of tone and composition. And as several of these are observed to accompany each other, they come to be marked by one name, and so to be reputed as one thing. Thus, for example, a certain color, taste, smell, figure and consistence having been observed to go together, are accounted one distinct thing, signified by the name apple« (Principles, § 1).

Berkeley bleibt bei dieser psychologisch-phänomenologischen Beschreibung nicht stehen, sondern kennzeichnet die Struktur der Dinge als ein zeichentheoretisches Verweissystem der unterschiedlichen Sinneseindrücke aufeinander. Exemplarisch führt er dies anhand der Beziehung zwischen Seh- und Tasteindrücken in seiner Erstlingsschrift »An Essay Towards A New Theory of Vision« von 1709 aus. 3 Als Vorbereitung der Immaterialismus-These setzt er sich in dieser Schrift zur Optik mit den Begriffen »Entfernung« (distance), »Größe« (magnitude) und »Lage« von Objekten im Raum (situation) auseinander und beschreibt sie als Resultat eines erfahrungsbasierten Verweises von Seheindrücken auf Tasteindrücke. Wir sehen nicht dasselbe Ding, das wir tasten, sondern haben, bedingt durch die unterschiedlichen Kanäle (Augen und Haut), zwei völlig verschiedene Arten von Sensationen, die wir im Sinne einer Zeichen-Denotat-Beziehung miteinander verbinden. Das herausstechende Merkmal einer solchen Relation ist ihre Arbitrarität, das heißt die freie, nicht notwendige Setzung. Da wir im gemeinsamen Auftreten von Seh- und Tasteindrücken eine bestimmte Regelmäßigkeit bemerken, sind wir geneigt, darin eine Notwendigkeit anzunehmen und hypostasieren diese Notwendigkeit zur »Materie«. Nach Berkeley ist aber die einzig mögliche Wirkursache Gott, der uns mit regelmäßigen Sets von Sensationen beliefert, die wir dann mithilfe unserer Sprache als »Apfel« interpretieren. Dabei stehen Seh- und Tasteindrücke in keiner irgendwie gearteten notwendigen Beziehung zueinander, sondern ihr Zusammenauftreten beruht auf der freien Setzung Gottes. Unter Verweis auf § 148 des »Essay on Vision« fasst Berkeley seine Kernthese in den »Principles« so zusammen:

In Band 1 der »Works of George Berkeley«. Dort ist ebenfalls die 2. Auflage des »Essay of Vision« von 1732 abgedruckt, ebenso die gänzlich überarbeitete Fassung von 1733 unter dem Titel »Theory of Vision Vindicated and Explained«.

3

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»The ideas of sight and touch make two species, entirely distinct and heterogeneous. The former are marks and prognostics of the latter. … It is, I say, evident … that visible ideas are the language whereby the governing spirit, on whom we depend, informs us what tangible ideas he is about to imprint upon us, in case we excite this or that motion in our own bodies« (§ 44).

»Distanz« wäre demnach die Abwesenheit von Tastempfindungen, die wir aber aufgrund unserer Erfahrung antizipieren und tatsächlich auch einlösen, wenn wir unseren Körper bewegen und ihn damit in eine andere »Lage« versetzen. Was Berkeley anhand der Beziehung von Seh- und Tastempfindungen exemplarisch vorführt, gilt für das Zusammenspiel aller fünf Arten von Sinnesempfindungen insgesamt. Sie alle verweisen aufeinander und ergänzen sich gegenseitig. Im Laufe unseres Lebens wird die Kenntnis dieser Zusammenhänge durch Erfahrung und Sprachkompetenz immer größer. Macht man sich diesen Zusammenhang klar, wird deutlich, dass jede Sinnesempfindung uns nicht auf eine externe, materielle Welt als ihre Ursache verweist, sondern auf ihren wahren Urheber, der mit uns kommuniziert, wenn wir wahrnehmen. Wir meinen Dinge zu untersuchen, wenn wir zum Beispiel einen Apfel schälen, ihn entkernen, essen, etc. Dabei fördern wir immer nur neue Perzepte zutage, von denen wir im Zuge unserer Welterfahrung irgendwann feststellen, dass sie uns in geordneten Reihungen begegnen, in denen wir über den Apfel hinaus tiefer und wahrer Gott erkennen, der uns in verständlicher Ordnung die Dinge erzählt und dadurch sich selbst enthüllt.

3.3 Im Buch der Natur lesen Wenn die Dinge sich aus regelmäßigen Ketten von Sinnesempfindungen zusammensetzen wie Wörter aus Buchstaben, so hat das Konsequenzen für Berkeleys Auffassung vom Selbstverständnis des Naturwissenschaftlers. Laut Deckblatt ist es ja das Anliegen der »Principles«, die Wissenschaften auf ein solides Fundament zu stellen. Im Bereich der Naturphilosophie stellt sich dabei die Frage, ob eine Physik immaterialistisch funktionieren kann. Berkeley braucht dazu keine Physik zu entwickeln, sondern untersucht, ob bestehende Physiken, sei es der Cartesianismus oder die neue Naturphilosophie seiner Zeit, Newtons Mechanik, auch ohne Materie auskommen kön-

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Berkeleys Immaterialismus als philosophische Lebensform – ein Selbstversuch

nen. In den §§ 107–108 der »Principles« fasst er die Grundlagen einer immaterialistischen Physik wie folgt zusammen: Die Suche nach Wirkursachen in den Objekten (»natural efficient causes«) muss vergeblich bleiben, da einzig wirkmächtig der Geist ist (»mind or spirit«). Selbst wenn man Materie zulässt, kann sie aufgrund ihrer Passivität nichts bewirken und auch keine Wirkursache in sich enthalten. Weder Descartes’ Korpuskulartheorie noch Newtons Gravitationsprinzip erklären Bewegung. Der Geist als Bewegungsursache aber agiert intentional, das heißt, er verfolgt Zwecke, Ziele und Absichten. Daher plädiert Berkeley für die Wiederzulassung von Finalursachen in der Physik, da diese geeigneter als Kausalursachen sind, Kategorien wie Schönheit oder Weisheit zu entdecken und zu beschreiben. Als naturwissenschaftliche Methode empfiehlt er Beobachtung und Experiment, aus denen allgemeine Schlussfolgerungen zum Nutzen der Menschheit zu ziehen sind. Begründet sind diese Schlussfolgerungen nicht in der Struktur der Dinge selbst oder ihren Relationen untereinander, sondern »in God’s goodness and kindness to men in the administration of the world.« Schließlich wird der Naturforscher durch eine sorgfältige Beobachtung der Phänomene allgemeine Naturgesetze entdecken und aus diesen wiederum andere Phänomene ableiten, das heißt erklären. Er wird sie nicht beweisen, denn alle Regelmäßigkeit, die er beobachtet, beruht auf der Grundannahme (supposition), dass Gott als »Author of Nature« regelkonform handelt. Der Naturphilosoph erforscht demnach nicht im eigentlichen Sinne die Ursachen der Dinge, sondern er interpretiert Zeichen, das heißt, er lernt durch anhaltende Beobachtung, welche Phänomene in welcher Reihenfolge stets zusammen vorkommen, also aufeinander verweisen, ohne in notwendiger Kausalbeziehung zueinander zu stehen. Ist die Beobachtungsbasis breit genug, wird er aus dem Anfangsereignis das Folgeereignis vorhersagen und im Vorfeld bereits reagieren können. Berkeley überträgt mithin den Zeichenbegriff, den er entwickelt hat, um die Struktur der Körper zu erklären auf deren Relation untereinander und gelangt damit von der Wort- auf die Satzebene. Dinge stehen miteinander in Beziehung wie Wörter im Satz. In ihrer Gesamtheit als Satz transportieren sie Sinn, das heißt, sie verweisen nicht nur aufeinander, sie werden nicht nur buchstabiert, sondern der Satz als Gesamtes verweist in noch höherem Maße als das einzelne Wort auf die Intention seines Sprechers, nämlich Gott. Berkeley

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greift damit den alten Topos vom »Buch der Natur« 4 wieder auf, das aber, etwa im Gegensatz zu Galilei oder Newton, nicht in der Sprache der Mathematik geschrieben ist, sondern in der Sprache unserer Sinneswahrnehmung, speziell der Seheindrücke, und daher eine »visual language« darstellt. Daher ist seine Grammatik zunächst leichter zu erlernen als ein in mathematischer Formelsprache verfasstes Buch. Trotzdem erfordert das Lesen des Buches neben der natürlichen Sprachkompetenz unserer alltäglichen Wahrnehmung (perception) die Kunst der Bedeutungserfassung durch den Verstand (reason). Ein solch sinnentnehmendes Lesen beschreibt Berkeley so: »As in reading other books, a wise man will choose to fix his thoughts on the sense and apply it to use, rather than lay them out in grammatical remarks on the language; so in perusing the volume of nature, it seems beneath the dignity of the mind to affect an exactness in reducing each particular phenomenon to general rules, or showing how it follows from them. We should propose to ourselves nobler views, such as to recreate and exalt the mind, with a prospect of the beauty, order, extent, and variety of natural things: hence, by proper inferences, to enlarge our notions of the grandeur, wisdom, and beneficence of the Creator; and lastly, to make the several parts of the creation, so far as in us lies, subservient to the ends they were designed for, God’s glory, and the sustentation and comfort of our selves and fellow-creatures« (Principles § 109).

Es wird deutlich, wie sich der Naturphilosoph im Laufe seiner Beschäftigung mit den Phänomenen zum Theologen entwickelt, sobald er sich über die Immanenz der Weltstory hinaus für ihren Erfinder oder Autor zu interessieren beginnt. Der Enthusiasmus, der im Zitat deutlich wird, spiegelt die Freude des intellektuellen Entdeckers, dem aufgeht, dass die Argumente für den Immaterialismus die Grundlage für einen ganz einfachen Gottesbeweis abgeben können: »It is therefore plain, that nothing can be more evident to anyone that is capable of the least reflection, than the existence of God, or a spirit who is intimately present to our minds, producing in them all that variety of ideas or sensations, which continually affect us, on whom we have an absolute and entire dependence, in short, in whom we live, and move, and have our being« (Principles § 149).

Vgl. dazu Ernst R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, (8) 1973, S. 323–329 und Erich Rothacker: Das »Buch der Natur«. Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte, hrsg. von Wilhelm Perpeet, Bonn 1979.

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Berkeleys Immaterialismus als philosophische Lebensform – ein Selbstversuch

Das Zitat aus Apostelgeschichte 17,28 gehört zu Berkeleys meistzitierten Bibelstellen und fasst mit den Worten des Apostels Paulus aus seiner Areopag-Rede im Kern das Ergebnis der philosophischen Immaterialismus-These zusammen. So wäre es Berkeley durch die rationale Auseinandersetzung mit der Philosophie und Wissenschaft seiner Zeit gelungen, Gott näher gekommen zu sein, sich mit der Vernunft einen Zugang zur Transzendenz erschlossen zu haben. Dies kann man verstehen als neuzeitliche Variante des Programms, das Leclercq den mittelalterlichen Mönchen zuschreibt: Die Sehnsucht nach Gott lässt sie in den Texten, mit denen sie sich beschäftigen, den spirituellen Sinn entdecken, der sie tatsächlich zu Gott führt. Entsprechend könnte man Berkeleys Naturphilosophen als Anfänger in der Lektüre des Weltbuches betrachten, der sich zunächst mit der Grammatik, das heißt den Phänomenen und ihrem Zusammenhang beschäftigt, also den literarischen Sinn entschlüsselt. Durch die anhaltende Beschäftigung mit dem Text in aufmerksamem Lesen entziffert er, über den Buchstabensinn hinausgehend, allmählich den allegorischen Sinn und dringt zum Schöpfer oder Autor des Buches vor, für dessen Meisterschaft er sich begeistert. Damit wäre das Ziel der lectio divina erreicht. Im letzten Paragraphen der »Principles« scheint Berkeley bewusst dieses Programm aufzunehmen: »For after all, what deserves the first place in our studies, is the consideration of God, and our duty; which to promote, as it was the main drift and design of my labours, so shall I esteem them altogether useless and ineffectual, if by what I have said I cannot inspire my readers with a pious sense of the presence of God. And having shown the falseness or vanity of those barren speculations, which make the chief employment of learned men, the better dispose them to reverence and embrace the salutary truths of the Gospel, which to know and to practice is the highest perfection of human nature« (§ 156).

4.

Den Glauben an Gottes Gegenwart einüben

Berkeleys Hoffnung, durch seine Philosophie dem Leser einen argumentativen Zugang zu Gott ermöglichen zu können, hat sich nicht erfüllt. Ablehnung vorhersehend räumt er bereits in den »Principles« möglichen Einwänden gegen den Immaterialismus breiten Raum ein (§§ 34–84). Schließlich fängt er die Argumente der Gegner in zwei literarischen Gesprächspartnern auf, einmal in »Hylas«, dem er in 113 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

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den »Three Dialogues« 5 von 1713 als »Philonous« gegenübertritt und später, 1734, in »Alciphron« 6, dem er als »Euphranor« begegnet. Auffallend ist, dass es beiden Kritikern – und das gilt auch für moderne Interpreten – nicht gelingt, ihm sachliche Fehler, Unstimmigkeiten in der Argumentation oder logische Fehlschlüsse nachzuweisen. Vielmehr will sich bei ihnen schlicht keine Überzeugung einstellen, auch wenn Berkeley ihnen nachweist, dass ihre eigenen materialistischen Theorien sie zwangsläufig in Skeptizismus (Hylas) und Atheismus (Alciphron) führen, Haltungen, die er, wie die Titelblätter der beiden Frühschriften zeigen, von Anfang an bekämpfte. Am Ende des zweiten Dialogs fasst Hylas seine Verwirrung und Ratlosigkeit so zusammen: »To deal frankly with you, Philonous, your arguments seem in themselves unanswerable, but they have not so great an effect on me to produce that entire conviction, that hearty acquiescence which attends demonstration. I find myself still relapsing into an obscure surmise of I know not what, matter.«

Berkeleys Antwort klingt so: »But are you not sensible, Hylas, that two things must concur to take away all scruple, and work a plenary assent in the mind? …, there is need of time and pains: the attention must be awakened and detained by a frequent repetition of the same thing placed oft in the same, oft in different lights.«

Was Berkeley in dieser Entgegnung auf Hylas anführt, ist die Definition des Begriffs »Üben«: Um etwas einzuüben, braucht es Zeit und Anstrengung, denn man bemüht sich um etwas, das man – noch – nicht kann. Konzentration ist erforderlich, denn das Einzuübende fällt nicht leicht. Es muss häufig wiederholt und in verschiedenen Zusammenhängen angewandt werden. Diese Beschreibung passt sowohl auf körperliche als auch auf geistige Übungen. Für beide Arten gilt: Jeder Übende braucht einen Lehrer oder Mentor, der den Schüler nach einer bestimmten Methode zu Resultaten führt. Berkeley präsentiert sich in seinen beiden Dialogschriften in der Rolle eines sokratischen Gesprächsführers, der seine Gesprächspartner teils behutsam und freundschaftlich, teils herausfordernd und

In: »The Works of George Berkeley«, Bd. 2. In: »The Works of George Berkeley«, Bd. 3. Die Diskussion der Theorie der visuellen Sprache Gottes findet sich im 4. Dialog, Abschnitte VII bis XV.

5 6

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Berkeleys Immaterialismus als philosophische Lebensform – ein Selbstversuch

spöttisch von ihren vorgefassten Meinungen, hauptsächlich dem Glauben an die Materie, zu einer anderen, nämlich der immaterialistischen Sicht der Dinge führt. Dabei setzt er in großer geistiger Beweglichkeit und Präsenz bei den Überzeugungen seiner Gesprächspartner an, führt sie eine Weile am Gängelband ihrer Meinungen entlang, bis sie sich wie von selbst in einem Irrgarten absurder Konsequenzen, wie zum Beispiel einer passiven Materie, die Sinneseindrücke verursachen soll, wiederfinden. Weit davon entfernt, sich sofort geschlagen zu geben, machen sie Berkeley den Vorwurf, sie in eine Falle gelockt zu haben und fordern einen Neustart – den er ihnen bereitwillig gewährt – mit demselben Resultat: Hylas und Alciphron verfangen sich in ihren unreflektierten Konstruktionen, zu deren Konsequenzen Berkeley sie unnachgiebig führt. Nach drei oder vier solcher Schleifen machen sich Verwirrung, Ärger, Unsicherheit, auch Erschöpfung breit und sie bitten um eine Denkpause. Die Methode des Lehrers Berkeley besteht nicht im scholastischen Dozieren oder sophistischen Überreden, sondern in der Aufforderung zum Selbstversuch. Zahlreich sind die Appelle an Hylas: »Try, if you can frame this or that idea … ; examine your own thoughts … ; consider and examine this point …«. Damit fordert Berkeley die Bereitschaft zu einem vorurteilsfreien, erfahrungsbasierten Neubeginn im Denken. Nicht die Spekulation über okkulte scholastische Qualitäten in den Körpern bringt ihn und seine Schüler weiter, sondern die Erlernung der Sinnensprache aus dem unverstellten Ursprungsmaterial unserer Erfahrung und ihre Erprobung im Leben. Dies aber bedeutet Einübung in eine neue Denkweise, die Zeit und Anstrengung erfordert, weil sie unseren Gewohnheitsüberzeugungen und deren Repräsentanz in der Sprache diametral widerspricht. Berkeleys Philosophie lässt sich daher nicht rein theoretisch begreifen, sie muss erprobt und eingeübt werden, und zwar in all den vielfältigen Situationen des Lebens, um in Fleisch und Blut überzugehen und zu einem neuen Denkhabitus zu werden. Damit ist bereits das Ziel der Bemühung Berkeleys um seine Gesprächspartner oder Leser angesprochen: Es geht ihm nicht um die Installierung einer neuen philosophischen oder wissenschaftlichen Theorie, des Immaterialismus oder der Gravitationstheorie, sondern um eine Bewusstseinsänderung seiner Zuhörer. Er bemüht sich um ihre Seelen, für die er zeit seines Lebens als Priester und später auch als Bischof verantwortlich war. Mit seiner Sehschule bietet er uns bis heute eine leicht erlernbare Methode an, den Geist oder 115 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

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die Psyche von nutzlosen Hypothesen oder ungeprüften Einstellungen zu befreien und mit reinem Herzen die Wirklichkeit in den Dingen zu entdecken, also Gott. Dies bedeutet nicht weniger als die Forderung zur Bekehrung durch die Bereitschaft zur Abkehr von haltlosen Meinungen und die Umkehr zur Wahrheit, wieder Gott. Dazu ein kleines Selbstexperiment: Ich saß in der Stadtbahn von Bonn nach Köln am Fenster und ließ die Landschaft an mir vorbeiziehen. Ich sah Häuser, Bäume, Straßen, Autos, die Fabrik von Wesseling. In immaterialistischer Epoché nahm ich Abstand von der Vorstellung, ich sähe all diese Dinge, weil es sie dort draußen gibt, sondern konzentrierte mich auf das, was ich wirklich sah: Hell und Dunkel, Farben in verschiedenen Abstufungen und Ausdehnungen, ständig neue Perzepte durch die eigene Fortbewegung oder das Drehen des Kopfes. Ich enthielt mich der Annahme, diese Wahrnehmungsinhalte seien Repräsentationen materieller Dinge, die mich umgaben, sondern nahm als ihre Quelle Gott an, der sie mir in einer Ordnung zuführte, die ich nahtlos an meine bisherigen Erfahrungen anschließen konnte. Ich erlebte mich in der mir vertrauten Welt. Ich nahm ferner an, dass Gott dies mit allen Menschen tat, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Da wurde mir erst schwindlig und dann erschloss sich mir ein Näherungsbegriff von Allmacht und Fürsorge. Gleichzeitig konnte ich es nicht fassen, dass Gott uns so nah sein sollte und wir so abhängig von ihm. Damit erging es mir nicht anders als Berkeleys aufgeklärten Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts, die gerade dabei waren, sich aus der Abhängigkeit eines theistischen Weltbildes zu lösen. Berkeley benennt ihr Unbehagen: »[W]e have I know not what aversion from believing, that God concerns himself so nearly in our affairs. Fain would we suppose him at a great distance off, and substitute some blind unthinking deputy in his stead, though (if we may believe Saint Paul) he be not far from every one of us« (Principles, § 150).

Berkeley fordert seine Leser dazu auf, die Heilige Schrift, zum Beispiel auch dieses Paulus-Wort aus der Areopag-Rede (Apg. 17,27), ernst zu nehmen, indem er ihnen mit dem Immaterialismus einen Übungsweg anbietet, der über die Liebe zur Wissenschaft hinaus die Sehnsucht nach Gott als konstitutiv für Leben und Erkenntnis benennt. Neben Jean Leclercq bieten sich besonders die Studien von Pierre 116 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

Berkeleys Immaterialismus als philosophische Lebensform – ein Selbstversuch

Hadot über »Philosophie als Lebensform« 7 dazu an, den Begriff der Übung oder des Exerzitiums noch etwas zu vertiefen. Hadot zeigt auf, dass sowohl die klassische als auch die spätantike Philosophie nicht an geschlossenen Lehrsystemen interessiert war, sondern am lebendigen und vorurteilslosen Prüfen von Sachverhalten und Meinungen. Dazu eigneten sich in besonderer Weise die Gesprächspraxis des Sokrates und ihre Weiterentwicklung in den platonischen Dialogen; aber auch die Vorlesungsmanuskripte des Aristoteles dienten der diskursiven Wahrheitsfindung, der Beleuchtung eines Themas von möglichst vielen Seiten und der Diskussion von Einwänden. Über den Erkenntnisgewinn hinaus ging es hauptsächlich um die Veränderung der inneren Einstellung von Lernenden und Lehrenden. Dazu verhalfen die geistigen Übungen, wie sie in hellenistischer und spätantiker Zeit weiterentwickelt wurden und von denen die »Wachsamkeit« (prosoche, S. 17/18) der Stoiker einen direkten Bezug zu der Haltung aufweist, die Berkeley selbst praktizierte und seinen Lesern zu vermitteln sucht. Zur Einübung der Wachsamkeit oder Aufmerksamkeit stellt der Stoiker seinen Anhängern ein grundlegendes Prinzip zur Verfügung, nämlich die Unterscheidung zwischen dem, was in der Macht des Menschen steht und was nicht. Dieses Prinzip ist äußerst einfach und klar, kann leicht im Gedächtnis behalten und reflexhaft auf unterschiedliche Lebensbereiche angewendet werden. Sofort ist man an Berkeleys Prinzip »esse est percipi« erinnert, das wie ein Mantra oder Gebet ständig wiederholbar und dazu angetan ist, die Sicht auf die Dinge langfristig zu verändern. Ausschlaggebend ist ein waches Bewusstsein für die Tendenz unseres Geistes, immer wieder in die materialistische Weltsicht zurückzufallen, aus der sich der Übende durch eine Anspannung (tonus) des Geistes aber allmählich befreit. Berkeley hat in seinen Schriften zur Optik, Erkenntnistheorie, Physik und Mathematik, Ökonomie und Politik und in den Predigten das Prinzip auf unterschiedliche Lebensbereiche angewendet und seine Tragfähigkeit überprüft. Schließlich hat es ihn nicht nur zum Denken, sondern auch zum Handeln befähigt: Er machte sich nach Amerika auf, um in den Kolonien zu missionieren und kümmerte sich nach seiner Rückkehr als Bischof von Cloyne um die Verbesserung der Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, Frankfurt/Main (2) 2005; französische Originalausgabe Paris 1981. Bes. Kapitel 1 »Antike«, S. 13–47.

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Lebensverhältnisse in seiner Diözese. »Esse est percipi« ist die Grammatik der visuellen Sprache, in der Berkeley sich ständig übte, um das Weltbuch immer differenzierter lesen zu können. Schwangen sich die Stoiker durch Einübung der Unterscheidung zu einem Bewusstsein von der Gesetzmäßigkeit des Kosmos auf, entdeckte der Christ Berkeley im »esse est percipi« Gott als den Autor und Schöpfer der Welt. Dies ist nicht Resultat theoretischer Einsicht allein, sondern einer allmählichen Umformung der ganzen Persönlichkeit, einschließlich Phantasie und Gefühlsleben. Damit entwickelt sich die Person zu einem Meditierenden, der die Wirklichkeit, so wie sie ihm begegnet, übend durcharbeitet in der »Bemühung, einer Idee, einem Begriff oder einem Prinzip in der Seele Leben zu verleihen« (Hadot, S. 18).

5.

Glücklich werden

Dieses Lebensprogramm hat Berkeley in seinem letzten Werk von 1744 8 noch einmal vorgeführt: »SIRIS: A Chain of Philosophical Reflexions and INQUIRIES Concerning the Virtues of TAR WATER, and divers other subjects connected together and arising one from another.«

Die Kette der philosophischen Reflexionen, die Berkeley anstellt, gleicht einer Leiter, deren Basis sich von der Gewinnung und Anwendung des Heilmittels Teerwasser über die Naturwissenschaft und Philosophie der Antike und Neuzeit bis zur obersten Sprosse der Trinitätslehre erstreckt. Im Aufsteigen zeigt Berkeley, was es heißt, sich einer Sache zu unterziehen. Es heißt, sich ihr auszusetzen und zuzulassen, dass sie einen verändert. Diese Veränderung kann darin bestehen, gesund zu werden: Berkeley hat die Heilkraft des Teerwassers, das er in Amerika kennen gelernt hat, an den Erkenntnissen der zeitgenössischen Chemie abgeglichen und mit teils frappierendem Erfolg an Tier und Mensch, nicht zuletzt an sich selbst, erprobt. (Trotzdem, hoffentlich nicht deswegen, wurde er nur 67 Jahre alt). Eine zweite Veränderung besteht in der Befreiung von Vorurteilen: Berkeley stellt sich in »Siris« mit seiner immaterialistischen Philosophie der Diskussion mit Platon, Aristoteles und den Neuplatonikern und findet im Gesprächsrahmen dieser philosophia perennis ein adäquates Kollegium zur 8

The Works of George Berkeley, Bd. 5.

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Berkeleys Immaterialismus als philosophische Lebensform – ein Selbstversuch

Überprüfung und Weiterentwicklung der eigenen Gedanken. Und schließlich führt ihn der Aufstieg auf der Leiter der philosophischen Tradition über die antike logos-Spekulation hin zum trinitarischen Gott, dessen Erkenntnis die Wahrheit ist, die glücklich macht. »The eye by long use comes to see even in the darkest cavern: and there is no subject so obscure, but we may discern some glympse of truth by long poring on it. Truth is the cry of all, but the game of a few. Certainly where it is the chief passion, it doth not give way to vulgar cares and views; nor is it contented with a little ardour in the early time of life, active perhaps to pursue, but not so fit to weigh and revise. He that would make a real progress in knowledge, must dedicate his age as well as youth, the later growth as well as first fruits, at the altar of truth« (Siris, § 368).

Es gibt Menschen, die gehen ins Kloster, um sich dieser Lebensaufgabe zu widmen. Hilfe und Leitfaden kann dabei Berkeleys große Meditation über die Wirklichkeit sein, weil sie die Durchlässigkeit der Welt für Gott denkbar und erlebbar werden lässt. Ich bin heute froh, seine Bücher mit ins Kloster gebracht zu haben, um auf sie zurückgreifen zu können, wenn sich allzu viel »Materie« entwickelt, die den Blick auf die Wahrheit verstellt. Die Luzidität seiner Gedanken schafft Klarheit – für die ständige Gegenwart Gottes in unserem Leben. Es gibt keine öden Tage.

Literaturhinweise Da im Rahmen des Beitrags auf eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Berkeley- Forschung nicht eingegangen werden konnte, hier einige Hinweise dazu: Aktuelle Literatur und einen guten Überblick über den Forschungsstand gewinnt man über die Internet-Seite der »International Berkeley Society«: http://internationalberkeleysociety.org/berkeley-studies. »Berkeley Studies« ist eine online-Zeitschrift für Artikel, Aufsätze, Konferenzprotokolle und Buchbesprechungen zu Berkeley. Die dort eingestellte pdf-Bibliographie deckt den Zeitraum von 1979 bis 2014 ab. Der Zeitraum davor bis 1933 wird dargestellt durch: Colin M. Turbayne: A Bibliography of George Berkeley 1963–79, in: Critical and Interpretative Essays, hrsg. von Colin M. Turbayne, Minneapolis 1982, S. 313–329 und Colin M. Turbayne/Robert Ware: A Bibliography of George Berkeley 1933– 1962, in: Journal of Philosophy, Bd. 60, 1963, S. 93–112. Professor Colin M. Turbayne gründete die Berkeley-Gesellschaft im Jahr 1975 und stiftete zusammen mit seiner Frau 1988 den »Turbayne Essay Prize« für Aufsätze zur Philosophie Berkeleys. Die Gewinner des etwa alle zwei Jahre ver-

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Lioba Fau OSB liehenen Preises findet man ebenfalls auf der Seite der Berkeley-Gesellschaft unter: http://international berkeleysociety.org/turbayne-essay-prize. Die Preisträgerin 2015 ist Nancy Kendrick mit ihrem Aufsatz »The Empty Amusement of Willing: Berkeley on Agent Causation«, in: Berkeley Studies 25 (2014), S. 3–15, mit dem sie Präsidentin der Gesellschaft wurde.

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Die Philosophie als Lebensform im Kontext antiker Anthropotechnik und monastischer Theologie nach Jean Leclercq, Pierre Hadot und Peter Sloterdijk Abt Johannes Schaber OSB

Ist Philosophie eine theoretische Wissenschaft oder eine kontemplative Lebensform? 1 Inwiefern ist sie eine Praxisform? 2 Gründet sie in der Existenz des Menschen oder ist sie von menschlicher Erfahrung unabhängig? Führt die Frage nach der dualen Spannung von Praxis und Theorie überhaupt zu einer Antwort oder müsste sie anders gestellt werden? Rainer Jehl befürchtet zunächst, dass dieses auf den ersten Blick »etwas ›altbacken‹ daherkommende Generalthema […] zunächst einen wenig zeitgemäßen Erwartungshorizont ab[steckt, JS], der einen kaum mehr erhoffen lässt, als altbekannte Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Vernunft und Glaube, Theorie und Praxis, wissenschaftlicher Welterfassung und esoterischer Weltflucht.« 3 Weil jedoch im 20. Jahrhundert offensichtlich wurde, »dass Philosophie selbst als wissenschaftstheoretischer Überbau über die Vielfalt auseinanderbrechender Teildisziplinen der Natur- und Humanwissenshaften ausgedient hat, und auch die Reduzierung der Philosophie auf ihre sprachanalytische und hermeneutische Funktion immer unhaltbarer wurde, liegt die Krise der Philosophie offen zutage.« 4 Die einleitenden Fragen führen deshalb in einen Brennpunkt des Selbstverständnisses modernen philosophischen Denkens. Doch wie aktuell oder altbacken sind also die gestellten Fragen?

Vgl. Nida-Rümelin: Philosophie als Lebensform. Frankfurt am Main 2009 (stw 1932), 11–72. 2 Vgl. die Beiträge und die Annäherungen an den Begriff der ›Lebensform‹ in: Kertscher, Jens – Müller, Jan (Hrsg.): Lebensform und Praxisform. Münster 2015. 3 Jehl, Rainer: Frühjahrstagung der Philosophischen Sektion in der Abtei Venio, München, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 127 (2016), 458–463, hier 458. 4 Jehl, Rainer: Frühjahrstagung der Philosophischen Sektion, 458. 1

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Abt Johannes Schaber OSB

Peter Sloterdijk (* 1947) äußert seinen Eindruck, dass er mit seinen Überlegungen zur alteuropäischen Theorie- bzw. Rationalitätskultur ein Terrain betritt, »das zur Zeit nur selten besucht und noch seltener erforscht wird.« 5 Dennoch möchte er wissen, ob die Herkunftsfrage hinsichtlich der Theorie überhaupt jemals hinreichend geprüft wurde? 6 Wir greifen seine Frage auf und richten unser kritisch-genealogisches Interesse auf ihn und zwei weitere Interpreten, die sich im Sinne einer großen Erzählung dem Verhältnis von Lebensform und Theorie in der Philosophie gewidmet haben: Jean Leclercq (1911–1993) mit seinem Buch »Wissenschaft und Gottverlangen« (französisch 1957, deutsch 1963) und Pierre Hadot (1922–2010) mit seinem Werk »Philosophie als Lebensform« (1981), die die Spannung zwischen Praxis und Theorie als exklusive und vollständige Alternative präsentieren, sowie Peter Sloterdijk mit seinen Schriften »Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik« (2009) und »Scheintod im Denken« (2010), der mit seinen genealogischen Untersuchungen daran arbeitet, einen ursprünglicheren und umfangreicheren Komplex menschlichen Verhaltens neu in Blick zu nehmen, »der weder bloß aktiv noch bloß kontemplativ ist«, nämlich das übende Leben. 7 Er versucht, dem Begriff der Übung »den hohen Stellenwert zurückzugeben, der ihm aufgrund seiner Bedeutsamkeit im Ethos der Hochkulturen seit langem hätte zukommen müssen – und der ihm doch aufgrund systematischer Lücken im Vokabular der neuzeitlichen Philosophie und wegen blinder Flecke im Sehfeld der dominanten soziologischen Handlungstheorien bisher verweigert wurde.« 8 Die nun folgenden Ausführungen zu Pierre Hadot und Jean Leclercq dienen der Einstimmung in die sich anschließende Begegnung des philosophierenden Mönches Johannes Schaber OSB mit dem mönchtumskundigen Philosophen Peter Sloterdijk, dessen in freier Rede gehaltener Beitrag sich an diese Hinführung anschließt.

Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung. Unseld Lecture Tübingen 2009. Berlin 2010 (edition unseld 28), 13. 6 Sloterijk, Peter: Scheintod im Denken. Berlin 2010, 61. 7 Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 16. 8 Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 16. 5

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Die Philosophie als Lebensform

I.

Der antike Ausgangspunkt: Philosophie als Liebe zur Weisheit und als Diskurs (Pierre Hadot)

Pierre Hadot (1922–2010) dachte, nach eigenem Bekunden, zeit seines Lebens über das Wesen der Philosophie nach. Das eigentliche Wesen der antiken Philosophie und den besonderen Charakter der von den Philosophen der Antike geschriebenen Werke sah er nicht in der Vermittlung abstrakter Theorien über alles, was ist, sondern in der Menschenformung heranwachsender Schüler durch geistige Übungen. Bei Henri Bergson (1859–1941) lernte er, »dass die Philosophie nicht darin besteht, ein System zu konstruieren, sondern in einer bestimmten Art, die Welt zu betrachten. Meine lange Beschäftigung mit den antiken Philosophen hat mich in dieser Idee nur bestärken können. Mehr noch, ich habe erkannt, dass die Philosophie nicht nur eine bestimmte Art, die Welt zu sehen, ist, sondern eine Art zu leben und dass alle theoretischen Diskurse nichts sind im Vergleich mit dem konkreten gelebten philosophischen Leben.« 9 Nach Ansicht der alten Griechen und Römer zeichnete die philosophia, die Liebe zur Weisheit, jemanden aus, der (noch) nicht weise war, aber nach (der) Weisheit strebte. Die Liebe ist dieses Streben, die Weisheit zu gewinnen. 10 Sie wird am besten durch die Übung des Denkens und die Anstrengung des Wollens erworben: »Das Paradox und die Größe der antiken Philosophie«, so Hadot, bestehe darin, »dass sie sich der Unerreichbarkeit der Weisheit bewusst und gleichzeitig von der Notwendigkeit überzeugt war, den geistigen Fortschritt voranzutreiben.« 11 Der philo-sophia gehe es nicht um den reinen Zugewinn an Kenntnissen und die Vermehrung des Wissens, sondern um die Änderung der Seinsweise durch die permanente Einübung in die Weisheit. 12 Um das Wesen der antiken Philosophie besser zu verstehen, greift Hadot auf die Unterscheidung zwischen der Philosophie als einer Lebensweise (Praxis) und dem philosophischen Diskurs

Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike. Berlin 1991, 9. 10 Vgl. Scheler, Max: Liebe und Erkenntnis, in: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre (Gesammelte Werke; Bd. 6). Bonn 31986, 77–98. 11 Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform, 165, vgl. 25, 40. 12 Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform, 165. 9

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Abt Johannes Schaber OSB

(Theorie) zurück und betont: »Der Diskurs über die Philosophie ist nicht die Philosophie selbst.« 13 Worin besteht dann aber der Sinn des philosophischen Diskurses (Theorie)? Er soll dem philosophischen Leben (Praxis) dienen, indem er ihm bis zum Tod für jeden Augenblick kurze, systematisch aufbereitete, prägnante und mnemotechnisch leicht einprägsame Lehren bereithält. Während es bei einem Diskurs weniger darum geht, die Realität sachlich und systematisch erschöpfend zu erklären, sondern die Einübung ins philosophische Leben zu befördern, besteht das philosophische Leben auch nicht einfach darin, auswendig gelernte Lehren im richtigen Augenblick aufzusagen, sondern den Menschen in seiner Lebenskunst und Seinsweise zur Weisheit hin zu verwandeln. Die Philosophie hat einen transformativen Charakter, sie dient der Einübung in eine Lebensform und der aktiven Formung der menschlichen Seele durch diese Lebenskunst. 14 Hadot kritisiert Philosophiehistoriker, die die Geschichte der Philosophie ausschließlich als Geschichte des philosophischen Diskurses darstellen und der philosophischen Lebensweise wenig Beachtung schenken, obwohl sie doch das eigentliche Wesen der Philosophie ausmache. 15 »Das wirkliche philosophische Leben«, so seine Schlussfolgerung, »gehört einem völlig anderen Realitätsbereich an als der philosophische Diskurs.« 16 Wie aber führen geistige Übungen zum philosophischen Leben? Pierre Hadot ringt zunächst um die nähere Bestimmung der Übungen, kommt aber zu dem Schluss, dass »psychische« Übungen (Einbildungskraft, Gefühle), »moralische« oder »ethische« Übungen der Seele (Heilung von Leidenschaften) oder »intellektuelle« Übungen des Denkens (Logik, Dialektik, Rhetorik) nicht alle Aspekte abdecken können, die das philosophische Leben beschreiben würden. 17 Er wählt den Begriff »geistige Übungen«, denn die philosophische Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform, 167. Vgl. dazu Mall, Ram Adhar – Peikert, Damian: Philosophie als Therapie. Eine interkulturelle Perspektive. Freiburg / München 2017, 90–124, besonders 101–104. 15 Hadot, Pierre, Philosophie als Lebensform, 170. – Vgl. Schaber, Johannes: Heideggers frühes Bemühen um eine »Flüssigmachung der Scholastik« und seine Zuwendung zu Johannes Duns Scotus, in: Fischer, Norbert – von Hermann, FriedrichWilhelm (Hrsg.): Heidegger und die christliche Tradition. Annäherungen an ein schwieriges Thema. Hamburg 2007, 91–127. 16 Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform, 168. 17 Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform, 13 f. 13 14

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Die Philosophie als Lebensform

Lebensform »erstreckt sich nicht nur auf das Wissen, sondern auf die eigene Person und das Dasein: Sie ist ein Fortschreiten, das unser Sein wachsen lässt und uns besser macht; sie ist Bekehrung, die das ganze Leben verändert und das Wesen desjenigen verwandelt, der sie vollzieht. Die Bekehrung führt ihn aus dem Zustand eines unechten, von Unbewusstheit verdunkelten und von Sorgen aufgezehrten Lebens zum Zustand eines echten Lebens, in dem der Mensch das Bewusstsein seiner selbst, die wahre Sicht der Welt, den Frieden und die innere Freiheit erlangt.« 18 Die Weisheit, die erstrebt wird, besteht darin, nach der universalen Allvernunft zu leben. 19 Hadot betrachtet die antike Philosophie unter dem Blickwinkel der Übung und führt den Nachweis, wie in den antiken Philosophenschulen praktische Übungen in der mündlichen Form von Meditationen, Dialogen und Selbstgesprächen Teil des täglichen Lebens im Unterricht waren, nicht allein zur Vermehrung des Wissens der Schüler, sondern zur radikalen Veränderung ihrer Sehweise aller Dinge, ihrer Rückkehr zu sich selbst, ihrer inneren Umwandlung, der Metamorphose ihrer Persönlichkeit und der Veredelung ihres Ichs. 20 Natürlich gab es keine einheitliche antike Philosophie, sondern verschiedene, meist konkurrierende Schulen. Die Entscheidung für eine bestimmte Schule war deshalb immer gleichbedeutend mit der Wahl einer bestimmten Lebensweise. 21 Die Verschiebung der ursprünglichen Bestimmung der Philosophie als Leben und Seinsweise hin zum philosophischen Diskurs sieht Pierre Hadot durch das Aufkommen des Christentums in der Antike begründet, welches das antike Erbe zwar weiterführte, aber in der Philosophie des Mittelalters eine Verschiebung von der Praxis zur Theorie einläutete. Da sich das Christentum ähnlich wie die konkurHadot, Pierre: Philosophie als Lebensform, 15. – Zur Unterscheidung von geistigen und geistlichen Übungen bei Hadot vgl. Mall, Ram Adhar – Peikert, Damian: Philosophie als Therapie, 95–104. 19 Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform, 20, 115 f., 128, 168, 171 und 173. 20 Vgl. Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform, 15–47, 49. – Vgl. Martin Heidegger: Grundbegriffe der griechischen Philosophie (Gesamtausgabe; Bd. 22). Frankfurt am Main 1993, 1–14. – Vgl. Niehues-Pröbsting, Heinrich: Die antike Philosophie. Schrift, Schule, Lebensform. Frankfurt am Main 2004 (Europäische Geschichte). – Zur Bedeutung der mündlichen Tradition in der griechischen Philosophie vgl. Moser, Christian: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne. Tübingen 2006, besonders 319–322. 21 Vgl. Hadot, Pierre: Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie? Berlin 1999. – Zu Hadots Thesen vgl. den Beitrag von Rolf Darge in diesem Band. 18

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Abt Johannes Schaber OSB

rierenden antiken Schulen auch als Lebensform verstand und sich ebenfalls als Philosophie definierte, begannen christliche Apologeten und Kirchenväter ab dem 2. Jahrhundert nach Christus damit, Elemente der griechisch- und römisch-antiken Philosophie in ihre »Philosophie« zu integrieren. Sie brachten »den Logos des Johannesevangeliums mit der kosmischen Vernunft der Stoiker und danach mit dem aristotelischen und platonischen Intellekt in Einklang« 22 und erklärten dann, dass die griechischen Philosophien nur Bruchstücke des universalen Logos erkannt hätten, während die Christen durch die Menschwerdung des Gottessohnes in Jesus Christus nun den vollständigen und ganzen Logos besäßen: »Wenn die Tätigkeit des Philosophierens darin besteht, in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Vernunft zu leben, so philosophieren die Christen, da sie in Übereinstimmung mit dem göttlichen Logos leben.« 23 Das Christentum führt, in der Argumentation seiner frühchristlichen Apologeten, zur vollständigen Offenbarung des Logos und damit zur wahren Philosophie; das Christentum ist die wahre Philosophie. Die geistigen Übungen der griechisch-römischen Antike werden allmählich zu geistlichen Übungen des Christentums. 24 Als das Mönchtum im 4. Jahrhundert aufkommt und sich wiederum als das wahre Christentum versteht, gibt sich das mönchische Leben den Namen philosophia. 25 Jean Leclercq kommentiert dazu: »Im klösterlichen Mittelalter wie in der Antike bezeichnet philosophia nicht eine Theorie oder Erkenntnisweise, sondern gelebte Weisheit, eine Weise, nach der Vernunft zu leben.« 26 Doch als zu den Klöstern die städtischen Hohen Schulen und Universitäten als Lehrorte hinzutreten und die Philosophie nicht mehr nur eine Lebensform ist, sondern zur Dienerin der Theologie wird, die der wissenschaftlichen Theologie das begriffliche, logische, naturwissenschaftliche und metaphysische Material liefert, das diese bedarf, »entwickelt sich die Philosophie im Mittelalter folglich zu einer rein theoretischen Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform, 170, vgl. 50 f. Hadot, Pierre, Philosophie als Lebensform, 50. 24 Pierre Hadot zeichnet die Übernahme anhand zahlreicher Beispiele nach: Philosophie als Lebensform, 50–65. – Vgl. Niehues-Pröbsting, Heinrich: Die antike Philosophie, 220–249. 25 Vgl. Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform, 51–65, 119 f. 26 Leclercq, Jean: Pour l’histoire de l’expression ›philosophie chrétienne‹, in: Mélanges de Science Religieuse 9 (1952), 221–226. Zitiert bei Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform, 170, vgl. 211, Anm. 22. 22 23

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Die Philosophie als Lebensform

und abstrakten Aktivität, sie repräsentiert keine Lebensform mehr. Die antiken geistigen Übungen bilden nicht mehr einen Teil der Philosophie, sondern sind Bestandteil der christlichen Spiritualität geworden.« 27 Diese Entwicklung verfolgen wir nun näher anhand der Analysen in Jean Leclercqs nach wie vor aktuellem und auch von Pierre Hadot rezipiertem Standardwerk »Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters (Düsseldorf 1963).«

II.

Von der antiken Philosophie als gelebter Weisheit im Mönchtum zur kritischen Wissenschaft der Scholastik an den Universitäten im Mittelalter (Jean Leclercq)

Der Benediktiner Dom Jean Leclercq (1911–1993) umschreibt mit dem »Verlangen nach dem Himmel« Sinn, Charakteristikum und Ziel des klösterlichen Lebens im Mittelalter. Die »Sehnsucht nach dem Himmel« ist die geistliche Atmosphäre, in der die klösterliche Bildung und die monastische Theologie ihren Sitz im Leben haben. Er zitiert einen anonymen Autor, der selbst kein Mönch war, mit den Worten, dass das theoretische Leben, auf das das Buch der Heiligen Schrift hinziele, das beschauliche Leben der Mönche und Einsiedler sei, in dem sie sich nach den himmlischen Dingen sehnten. 28 Grundlage der monastischen Bildung ist die Bibel des Alten und Neuen Testaments. Aus ihr sind die Bilder für das himmlische Verlangen entnommen. Die wichtigsten Themen sind die Tränen über das irdische noch-Fern-sein von Gott, das Verlassen der Welt in die Abgeschiedenheit und Einsamkeit, der innere Aufstieg zu Gott und das engelgleiche Leben der Mönche, wenn sie schon zu Lebzeiten Mitbewohner der Heiligen und Hausgenossen Gottes in der künftigen himmlischen Stadt Jerusalem sind (Epheserbrief 2, 19): »Aus dieser mystischen Schau heraus ergeben sich die Aufgaben der Askese: die Loslösung von der Welt ist lediglich die Kehrseite der Hinwendung zu Christus, sie ist schon jetzt Bedingung und Beweis für die Liebe. Wer sich zu Gott aufschwingen will, wendet sich zu ihm, er streckt seine Arme aus und betet mit Freudentränen in den Augen.« 29 27 28 29

Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform, 171. Leclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen, 66. Leclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen, 75.

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Während die Kirche nach der Weisung Jesu die ganze Welt missioniert (Matthäus 28, 19), halten die Mönche Ausschau nach der Wiederkunft Christi (z. B. erster Thessalonicherbrief 4, 15). Das Verlangen nach Gott soll wachgehalten werden, wachsen und mitgeteilt werden. Das monastische Leben »wird als eine Vorwegnahme des himmlischen Lebens angesehen: in ihm nimmt das ewige Leben bereits seinen tatsächlichen Anfang.« 30 Die vorweggenommene Teilnahme an der Anschauung Gottes hat endzeitlichen Charakter. Sie ist kein Ergebnis einer diskursiven theoretischen Denkleistung, keine Frucht eines durch Studium erworbenen Wissens, sondern ein Akt des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Die Mönche halten die Liebe wach als ihr Verlangen nach dem Himmel. 31 Ihre Gottsuche vollendet sich erst in der Ewigkeit. Das biblische »Hohelied der Liebe« ist der dichterische Ausdruck ihrer Liebe zu Gott, das Grundprogramm ihres monastischen Lebens. 32 Die monastische Bildung basiert auf dem Verständnis und der Kommentierung der Heiligen Schrift und auf der patristischen Tradition der Mönchs- und Kirchenväter. Beide Quellen sind in die klösterliche Liturgie eingegangen. Als dritte kommt die klassische Literatur hinzu. 33 Die Kenntnis dieser drei Hauptquellen des Mönchtums beschränkte sich jedoch nicht nur auf Bücherweisheit und Gelehrsamkeit, sondern auf das Leben: Das Mönchtum hat seine Hauptquellen dadurch bewahrt, »dass es aus dem Gehalt ihres Schrifttums heraus lebte. Man kann diesen Vorgang der Übertragung als einen Vorgang der lebendigen Erfahrung bezeichnen.« 34 Der Umgang mit den Quellen und der Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass nur das kommentiert und erhalten wurde, was dem monastischen Leben diente. Die antiken Lebensbeschreibungen biblischer Gestalten und der Mönchsväter interessierten nicht als geschichtliche Texte oder historische Denkmäler, sondern als konkrete Anleitungen und Vorbilder für das monastische Leben im Alltag. 35 Die Anhänglichkeit der Mönche an den biblischen Ursprung, die patristische Vergangenheit und die antike Tradition hatte keine archäologischen Gründe, weil sie sie aus genealogischem Interesse um ihrer selbst willen be30 31 32 33 34 35

Leclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen, 79. Leclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen, 81. Leclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen, 101. Leclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen, 83, 128–168. Leclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen, 125. Leclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen, 116 f.

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wahren wollte, nein, Ursprung und Tradition dienten vielmehr der existenziellen Erfahrung und geistlichen Vertiefung ihrer Lebensweise. Die Lebendigkeit der monastischen Bildung im Umgang mit der Vergangenheit und ihre Art, in der Hauptsache die Quellen der Patristik, das Gedankengut der alten Kirche und die Geschichte des eigenen Klosters seit seiner Gründung weiterzuführen, brachten dennoch eine neue, vielfältige und originelle monastische Kultur des Mittelalters hervor, die erst ab dem 12. Jahrhundert als solche sichtbar und ab dem 13. Jahrhundert von allen bewusst wahrgenommen wurde, als neben der Theologie der abgelegenen Klöster die scholastische Bildung für Kleriker in den Städten mit ihren (Kathedral-) Schulen und Universitäten aufkam. 36 »Der Unterschied zwischen der scholastischen Theologie und der monastischen Theologie entspricht«, so Jean Leclercq, »den beiden verschiedenen Lebensweisen, der christlichen Lebensführung in der Welt und der christlichen Lebensführung im Kloster.« 37 Wenn Jean Leclercq die monastische der scholastischen Theologie gegenüberstellt, dann sieht er mit dem von ihm in die Wissenschaft neu eingeführten Begriff »monastische Theologie« nicht vereinfachend über eine historisch nachweisbare Vielfalt hinweg, sondern er erfasst damit ein geistiges Klima, »in dem bei einigen Mönchen eine Theologie entstehen konnte und musste: Innerhalb des Mönchtums gab es Theologen und in deren Werken eine Theologie, die sich an Mönche wandte; denn für Mönche war sie geschaffen und geschrieben worden. Sie bot ihnen, was sie brauchten, und erfüllte ihre Ansprüche.« 38 Monastische Theologie ist also ein Sammelbegriff für die von Mönchen in Klöstern betriebene Form der Theologie, nicht eine spirituelle Theologie über das Mönchtum oder das kontemplative Leben der Mönche. 39 Da die Typologie monastische Theologie – scholastische Theologie hilfreich ist, die Veränderungen in der Theologie im 13. Jahrhundert in den Blick zu bekomLeclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen, 125–127, 213 ff. Leclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen, 220. 38 Leclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen, 213, 215. – Vgl. dazu grundlegend: Härdelin, Alf: Monastische Theologie – eine ›praktische‹ Theologie vor der Scholastik, in: Münchner Theologische Zeitschrift 39 (1988), 108–120. – Leinsle, Ulrich: Einführung in die scholastische Theologie. Paderborn 1995 (UTB; 1865), 103–107. – Angenendt, Arnold: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, 167–188. 39 Härdelin, Alf: Monastische Theologie, 110. 36 37

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men, greifen wir Leclercqs vereinfachende Gegenüberstellung gerne auf, auch wenn bewusst bleiben muss, dass die skizzierte Abgrenzung oft so nicht bestand und die scheinbare Opposition oft genug auch unterbrochen wurde, wenn sich Mönche im Kloster über die Theologie an den Schulen informiert haben und mit den Magistern der Scholastik im Austausch standen; oder wenn ein Scholastiker in einer Abtei als Gast wohnte, während er in der nahegelegenen Stadt studierte oder ein Schüler oder ein Lehrer der Hohen Schule in ein Kloster eintrat und Mönch wurde. 40 Monastische und scholastische Theologie sind wohl Gegensätze, aber sie stehen in Beziehung zueinander, im Austausch miteinander und verdanken sich gegenseitig viel. Die Mönche des heiligen Benedikt von Nursia (480–547) zum Beispiel wissen sich nach der Regel ihres Ordensvaters »in einer Schule für den Dienst am Herrn« (Prolog 45–50). Unter der Anleitung der Regel und ihres Abtes als ihrem geistlichen Vater erfahren die Mönche im geordneten Wechsel von Gebet, Arbeit und geistlicher Schriftlesung ihre nicht zweckgerichtete, sondern den alten zum neuen Menschen umgestaltende kontemplative Prägung (Kolosserbrief 3,5 – 4,6). 41 Das klösterliche Leben ist eine Lebensform, bei der es um die Umgestaltung des Menschen durch geistliche Übungen geht. Die Heilige Schrift spielt die zentrale Rolle dabei. Im Gottesdienst und in der Liturgie wird sie täglich gehört, aber auch in der regelmäßigen lectio divina, dem persönlichen Schriftstudium jedes Einzelnen, gelesen (Regel Benedikts 4, 55 und 48, 1). So hört der Mönch große Teile der Bibel »mit dem Ohr seines Herzens« (Regel Benedikts Prolog 1), lernt sie allmählich auswendig, verkostet und verinnerlicht sie (lectio), er denkt über ihre Bedeutung nach und will ihre Tiefe ergründen, weil sich die Heilige Schrift aus sich selbst erklärt, und sucht nach Weisheit (meditatio), er spiegelt sein Leben und seine Erfahrungen in der Heiligen Schrift und wendet sich im Gebet an Gott (oratio), in der Hoffnung, dass er, aus der Gegenwart Gottes (contemplatio) wieder in seinen Alltag zurückgekehrt, diesen gestärkt zu leben vermag und sich seine Sehnsucht nach dem Himmel mehr

Leclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen, 219 ff. – Vgl. auch Leinsle, Ulrich: Einführung in die scholastische Theologie, 103 f. 41 Vgl. Schaber, Johannes: Über Muße, Maß und Müßiggang im Kloster. Klöster als Entschleunigungs-Inseln und Resonanz-Oasen, in: Ramb, Martin W. – Zaborowski, Holger (Hrsg): Arbeit 5.0: Oder warum ohne Muße alles nichts ist. Wallstein 2018, 98–118. 40

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und mehr steigert. Es geht also um den alltäglichen Nutzen, den der Mönch für sein geistliches Leben aus der Heiligen Schrift zieht im Blick auf das ewige Leben. Die Erfahrungen im geistlichen Leben und die Früchte der Schriftlesung werden anderen in Predigten mündlich und in Bibelkommentaren, Briefen, Florilegien oder Abhandlungen schriftlich mitgeteilt. 42 Alf Härdelin geht so weit, die monastische Theologie eine »wahrhaft praktische Theologie« zu nennen, weil sie »aus der Praxis und für die Praxis ist; sie ist aus dem praktischen geistlichen Leben der Klöster hervorgegangen; sie nährt sich daraus, aber findet auch ihren Zweck und ihr Ziel in eben diesem Leben.« 43 Klerikerschulen in den Städten, meist an Kathedralen, später die theologischen Fakultäten an den Universitäten, dienen dem Zweck der Ausbildung der angehenden Geistlichkeit. In der Schultheologie wird wie in den Klöstern auch die Heilige Schrift gelesen (lectio), aber man sucht nicht ausschließlich den geistlichen Gewinn (meditatio – oratio – contemplatio), sondern erforscht sie auch um ihrer selbst willen, indem man den aristotelischen Wissenschaftsbegriff, neue Wissenschaften, philosophische Theorien und neue kritische Methoden in der Anwendung auf die Heilige Schrift zulässt. Auf die lectio folgt die quaestio und auf diese die disputatio in ihren verschiedenen Formen: Ein Magister der Theologie hält Lehrvorträge zur Wissensvermittlung (lectio). Danach werden in der Vorlesung aufgeworfene Fragen und Fragestellungen aufgegriffen und breit und detailliert beantwortet (quaestio); mit Kollegen, anderen Magistern und Schülern werden die Fragen tiefgehend diskutiert und disputiert. Wenn eine Frage oder ein Thema in alle Richtungen ausreichend entfaltet wurde und besprochen ist (disputatio), wird aus den Aufzeichnungen, die während der Disputationen angefertigt wurden, das Ergebnis als theologisches Werk umfassend niedergelegt und veröffentlicht. Es entsteht eine theologische Systematik mit verschiedenen Traktaten. Bibelkommentare und Sentenzensammlungen mit ihrem Grundstock an Denkmethoden, Argumenten und Beweisen sollen den Schülern das Studium erleichtern, sind aber genauso wichtig für die Lehrentwicklung. Die kirchliche Lebensform an einer städtischen Schule bzw. Fakultät besteht in ihrem zweckgerichteten Studium mit pastoraler

42 43

Leclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen, 26 f., 84 f., 98 ff., 209. Härdelin, Alf: Monastische Theologie, 111.

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und wissenschaftlicher Ausrichtung. Sie dient der intellektuellen Wissensvermittlung. 44

III. Pierre Hadots These von der Verschiebung der philosophischen Praxis zur wissenschaftlichen Theorie im mittelalterlichen Christentum Pierre Hadot greift die Analysen zur monastischen und scholastischen Theologie von Jean Leclercq auf und formuliert seine These, dass die Verschiebung der Bestimmung der Philosophie von einer praktischen, übenden, den Menschen transformierenden Lebensform zu einer nur rein theoretisch und abstrakt verstandenen Wissenschaft bzw. intellektuellen Denkform im christlichen Mittelalter begann, ihren Anfang aber schon im Selbstverständnis des antiken Christentums nahm: »Schon in den ersten Jahrhunderten stellte sich das Christentum selbst als philosophia dar, indem es sich die traditionelle Praxis der geistigen Übungen aneignete. Dies trifft vor allem für Clemens von Alexandria, Origenes, Augustinus und das Mönchswesen zu. Mit dem Aufkommen der mittelalterlichen Scholastik jedoch werden theologia und philosophia ganz deutlich voneinander unterschieden. Die Theologie wurde sich ihrer Eigenständigkeit als höchster Wissenschaft bewusst, und die Philosophie, ihrer geistigen Übungen beraubt, die von nun an zur Mystik und zur christlichen Moral gehörten, wurde zur ›Dienerin der Theologie‹ erniedrigt und hatte der Theologie begriffliches, also rein theoretisches Material zu liefern. Als die Philosophie in der Neuzeit ihre Autonomie zurückeroberte, behielt sie dennoch viele von der mittelalterlichen Auffassung ererbte Züge bei, vor allem ihren rein theoretischen Charakter, der sich sogar stetig weiter in Richtung auf eine immer größere Systematisierung entwickelte.« 45

Auch wenn sich die Philosophie seit Friedrich Nietzsche (1844–1900), Henri Bergson (1859–1941), dem Existentialismus (z. B. Jean-Paul Sartre, 1905–1980) oder Michel Foucault (1926–1984) wieder als Lebensform, Menschenformung und existentielle Haltung neu entdeckt und ihre ursprüngliche, in die Antike zurückreichende Bestimmung Leclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen, 11, 173, 192, 209, 224 f., 228 f. – Vgl. Leinsle, Ulrich: Einführung in die scholastische Theologie, 111–169. 45 Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform, 45. – Vgl. ausführlich: Seckler, Max: Philosophia ancillae theologiae. Über die Ursprünge und den Sinn einer anstößig gewordenen Formel, in: Theologische Quartalschrift 171 (1991), 161–187. 44

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als Übung zurückgewonnen hat, bleiben viele zeitgenössische Philosophen und Philosophiehistoriker bei ihrer Auffassung, die Philosophie sei eine rein kritische Wissenschaft. 46 Pierre Hadot erfährt jedoch auch Unterstützung. Peter Sloterdijk wertet seine Bemühungen sehr positiv, wenn er feststellt: »Es ist das Verdienst von Ideenhistorikern wie Paul Rabbow und Pierre Hadot, dass sie gegen das moderne intellektualistische und kognitivistische Missverständnis der antiken Philosophie Protest eingelegt haben, um statt dessen an deren beharrliches selbsterzieherisches Pathos zu erinnern.« 47 Allerdings versucht Sloterdijk, die duale Spannung von Philosophie oder Wissenschaft, Praxis oder Theorie aufzubrechen. Er betrachtet nämlich Wissenschaft und Philosophie als Sprösslinge der alteuropäischen Rationalitätskultur und minimiert ihre Unterschiede hinsichtlich ihrer Eigenart und ihrer Entfremdung voneinander in Antike und Mittelalter. Er behandelt beide als Ausprägungen des bios theoretikós und bestimmt ihr Verhältnis im Rahmen der Rationalitätskultur. Wir beleuchten zunächst seinen Deutungsvorschlag »für das evolutionär so unwahrscheinliche und empirisch so massive Phänomen des bios theoretikós in seinen zahlreichen Variationen« 48, um dann in einem zweiten Schritt seine Interpretation der Philosophie als Anthropotechnik des übenden Lebens kennenzulernen.

IV. Peter Sloterdijk: Das Phänomen des bios theoretikós bzw. des epoché-fähigen Menschen Peter Sloterdijk begreift die Wissenschaft nicht nur als Summe ihrer Resultate, sondern auch als Inbegriff mentaler oder logischer Prozeduren, die helfen, den Übergang vom alltäglichen zum theoretischen Verhalten zu vollziehen. 49 Wissenschaft und Philosophie sind für ihn zwei nebeneinander bestehende Ausprägungen des bios theoretikós, Früchte des theorietreibenden und epoché-fähigen Menschen, die sich jedoch nicht vom Leben abtrennen lassen. Sloterdijk knüpft an Edmund Husserl (1859–1938) an. Der Mensch, so Husserl, Vgl. Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform, 46. Sloterdijk, Peter: Philosophische Temperamente. Von Platon bis Foucault. München 42010, 24. – Vgl. ders.: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das antigenealogische Experiment der Moderne. Frankfurt am Main 2015, 322. 48 Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 10. 49 Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 24. 46 47

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nimmt zu seinem Leben und was ihm darin begegnet immer schon Stellung. Leben bedeutet Stellungnehmen. Der Mensch lebt seinen Alltag in einer wie auch immer gearteten natürlichen Einstellung zu allem, was ihm begegnet und widerfährt. Jede Theorie ist deshalb von vorneherein an die reale Existenz ihres Trägers fixiert und in ihr verankert. Gibt es eine Möglichkeit, dem permanenten Stellung-Nehmen-Müssen der natürlichen Einstellung zu entgehen? Gibt es die Möglichkeit zu einer von der natürlichen Einstellung der Existenz gänzlich oder zumindest zeitweise unabhängigen Erkenntnis? Die Möglichkeit einer reinen Erkenntnis? Kann man die natürliche Einstellung einklammern oder ausschalten? 50 Peter Sloterdijk postuliert im Blick auf Husserls Analysen, dass die Theorie, um rein zu sein, die Fixierung ihres Trägers an die reale Existenz auflösen sollte. Wenn dies schon nicht in völliger und restloser Weise möglich ist, so kann sie die Anbindung an die Existenz vielleicht doch temporär suspendieren? 51 Wenn die Wissenschaft oder die Philosophie darin bestehen, sich in der theoretischen Haltung des Nicht-Stellung-Nehmens einzuüben, sind sie »eine De-Existentialisierungsübung, eine Bemühung um die Kunst, mitten im Leben die Teilnahme am Leben zu suspendieren.« 52 Aus dem Stellung nehmenden Ich wird das schauende Ich der reinen Erkenntnis unabhängig von seiner Existenz. Wissenschaft und Philosophie sind eine Einübung in das Nicht-Stellung-Nehmen, aus der die phänomenologische Haltung der Reduktion erwächst. Während leben immer-schonmitmachen bedeutet, heißt phänomenologisch denken nicht-mitmachen mit sich selbst: »Der beste Phänomenologe wäre der rigoroseste Archivar. Er wäre der Denker, der am meisten daraus gelernt hat, dass er beim Existieren nie so richtig dabei war. Er würde vormachen, wie man sich anstellen muss, um sich selbst in die permanente Sammlung zu versetzen.« 53 Für die hier beschriebene phänomenologische Haltung hat Edmund Husserl den Begriff der epoché eingeführt 54, der zum einen für den Schritt zurück von allen Formen Vgl. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (1913). Tübingen 41980, 48–56 (§§ 27–31). 51 Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 32. 52 Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 34. 53 Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 37. 54 Vgl. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913), 56 f. (§ 32). 50

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des existentialen Eingemischtseins und die resolute Distanzierung von den Vorstellungen steht, die direkt aus der Existenz aufsteigen. Die Phänomenologie klammert jede existentiale Stellungnahme ein. 55 Zum andern steht der Begriff der epoché wegen seiner Herkunft aus dem Wortschatz der antiken Skeptiker für eine Urteilsabstinenz gegenüber den Erkenntnissen und Lebensformen verschiedener Philosophenschulen, die sich in einer Haltung ausdrückt, wie sie ein Kunde an den Tag legt, »der über den Markt spaziert, ohne zu kaufen.« 56 Edmund Husserl bemühte sich in seinen phänomenologischen Analysen, sämtliche vitale Evidenzen seines eigenen Ich-bin-Gefühls, sämtliche unmittelbaren Erkenntnisse seines persönlichen Existierens und »den gesamten Komplex der ich-verhafteten Neigungen und Interessen außer Kraft zu setzen.« 57 Der Begriff der epoché deutet eine zeitliche Zäsur im Bewusstseinsleben an. Wenn es sich der phänomenologischen Reflexion hingibt, hält es im Moment des Später fortan das Sein des Früher im Davor auf Distanz, »indem es dessen ständiges Ansuchen um Wahrgenommenwerden hin und wieder berücksichtigt, ohne dem Antragsteller zu weit entgegenzukommen.« 58 Unter dem Einfluss seines Schülers Martin Heidegger (1889– 1976) lernt der alternde Edmund Husserl neu zu sehen und zu verstehen, dass die Theorie nicht in reiner Form erkennbar ist, sondern in der Lebenswelt (Husserl) bzw. im In-der-Welt-sein (Heidegger) ihre unlösbare Verankerung hat. 59 Alle Theorie ist eingebettet in eine Lebenswelt um sie herum. Das Leben bildet nicht nur eine zufällige Informationsquelle des Denkens, alles Denken, das nach dem wahren Begriff einer Sache sucht, gründet im Lebensvollzug der Existenz. 60 In der Geschichte des Denkens gab es nicht wenige Versuche, das Denken von der Existenz und die Theorie vom Leben zu trennen. Wann aber wurde der Mensch zum außenstehenden Beobachter des Lebens, wie entstand der epoché-fähige Mensch, woher stammt seine theoretische Einstellung, worin gründet die Wissenschaft, kann man begreiflich machen, »wie es im antiken Hellas zur Emergenz von Theorie und Wissenschaft more philosophico kommen konnte«? 61 55 56 57 58 59 60 61

Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 37. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 38; vgl. 56 f. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 39. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 41. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 46. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 55, vgl. 35. Vgl. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 66; vgl. 60, 63.

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Peter Sloterdijk nähert sich der Frage nach der Herkunft der alteuropäischen Theoriekultur mit vier Argumenten zur epoché-Fähigkeit am Beispiel der Griechen des klassischen und nach-klassischen Zeitalters. Psychopolitisch ist ein Blick auf die Gründung der Athener Akademie hilfreich. Platon (428/427 – 348/347 v. Chr.) wächst während des Peloponnesischen Krieges 431 – 404 v. Chr. in Athen auf, das Sparta unterliegt. Dabei erlebt er die Demokratie als junger Mensch über viele Jahre hin nur als ideologisches Kriegsparteigeschrei und als Tumult verhetzender Schlagworte, nicht aber als demokratische Polis mit ihrem Pluralismus an lebensgeschichtlich gewachsenen Ansichten, ihrem vitalen Wettkampf zwischen unterschiedlichen Standpunkten und Perspektiven. 62 Mit der Gründung der Akademie 387 v. Chr. reagiert der 40-jährige Platon auf den Zusammenbruch des athenischen Polismodells: »Die Philosophie, wie Platon sie der Nachwelt übergab, ist eine Tochter der Niederlage und zugleich deren Kompensation durch eine geistige Flucht nach vorn. An ihrem historischen Ursprung aufgefasst und nach ihrer Grundstimmung gedeutet, ist die von nun an so genannte ›Liebe zur Weisheit‹ die erste und reinste Form von Verliererromantik – Umdeutung einer Niederlage in einen Sieg auf dem Felde und Umkleidung eines irreparablen Verlusts zu einem unausschöpflichen Gewinn.« 63 Während die Polis Athens zerfällt, ihre Demokratie als kollektive Form des guten Lebens letztlich scheitert und ihre Bürger damit von der Sorge um ihr Gemeinwesen entlastet werden, die bisher das höchste Bedürfnis ihres Geistes war, wird deren Geist nun frei, sich auch für die Welt außerhalb Athens zu interessieren und statt der Sorge um die Polis eine Liebe zur Weisheit zu entwickeln. Die Niederlage der Politik Athens wird zum Sieg auf dem Felde der kosmopolitischen Welterkenntnis 64: »Indem das politische Leben erlischt, flammt das beobachtende auf.« 65 Das politische Scheitern in der Niederlage ermöglicht überhaupt erst existentiellen Gewinn, die Schwäche des Gemeinwesens überhaupt erst den persönlichen Freiheitszuwachs, die Ablösung aus der gewohnten Praxis überhaupt erst die Wonnen des betrachtenden

62 63 64 65

Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 68 f. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 69. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 69. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 75.

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Daseins. 66 Nach der Niederlage Athens gegen Sparta 404 v. Chr. und dem Tod seines Lehrers Sokrates (469 – 399 v. Chr.), den Platon als den letzten authentischen Polisbürger stilisiert, gründet er 387 vor den Toren der Stadt die Akademie: »Der Akademiegarten, in dem sich Meister und Schüler versammeln, ist kein Theater, kein Marktplatz und kein Stadion, von wo aus Aufstiege in den zivilen Erfolgshimmel unternommen werden könnten; Platons Grundstück ist ein Terminal für stadtüberlegene Ideen. Von der Akademie aus gelangt man in einen Himmel, in den die schwergewichtigen, selbstsicheren Bürger nicht kommen; ihn erreichen die Besten gerade nicht durch Ruhm und Sieg, sondern durch Selbstklärung der Ideen kraft gemeinsamer Erörterungen.« 67 Die Philosophie als Liebe zur Weisheit ist die Einübung in die Kunst der richtigen Zusammenhangsbildung in der Außensicht auf die Stadt und im Blick über die Stadt hinaus, sie trainiert die Seelen in überstädtische Exile aufzusteigen, »die später unter dem Titel Ideen bekannt wurden.« 68 Aus dem Bürger der städtischen Polis wird der kosmopolitische Welt(all)bürger 69, der die Not der Niederlage der Polis neu als Tugend der Bindungslosigkeit deutet und die Welt von einem erhobenen Wohnsitz aus wie ein unbeteiligter Zuschauer betrachtet. 70 Aus dem Politiker in seinem lebenspraktischen Umfeld der städtischen Demokratie wird in der Niederlage der Polis der Philosoph: »Da die Anhänger der Philosophie nicht mehr für die Stadt lebten und starben, sondern nach einer Wahrheit und einer Gerechtigkeit strebten, die über dieser Welt sind, veränderte sich die Bedeutung des Sterblichseins von Grund auf.« 71 War der Bürger zum Tod als größtem Opfer für die Polis bereit, wenn diese die ewige Erinnerung an seine ruhmreichen und verdienstvollen Taten garantierte, so änderte sich dies mit der Niederlage Athens, weil es zu viele Opfer gab, derer gedacht werden musste, und zu wenige Nachkommen, die noch da waren, der Opfer zu gedenken. Mit dem Auftreten der Philosophie gewinnt auch der Tod eine neue Deutung. In der Aufarbeitung des Todes seines Lehrers Sokrates Vgl. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 92. Sloterdijk, Peter: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst. Berlin 2014 (st 4529), 198. 68 Sloterdijk, Peter: Der ästhetische Imperativ, 199. 69 Vgl. Sloterdijk, Peter: Der ästhetische Imperativ, 202 ff. 70 Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 83. – Vgl. ders.: Philosophische Temperamente, 11–29. 71 Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 72. 66 67

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erkennt Platon, dass es für die wahre Erkenntnis des letztgültigen Abstandnehmens der denkenden Seele vom sinnenhaft erkennenden Körper im Tod bedarf. Da man aber als Lebender wohl das Sterben, nicht aber den Tod erfahren kann, erwächst die Forderung, »der Mensch der Theorie solle so leben, dass er dem Totsein so nahe komme wie möglich. Nur der in diesem Sinn sich ›selbst‹, seinem Körper und seiner Mitwelt im voraus Abgestorbene, der gut getarnte Scheintote, wäre imstande, seine leiblichen Regungen und alle ›Stellungnahmen‹ seiner physischen Subjektivität einzuklammern und noch im Leib lebend haltbare Erkenntnisse zu gewinnen, als wäre er bereits zu einem ›jenseitigen‹ desinteressierten Schauen befreit – und Schauen heißt hier: geometrische Urbilder (zum Beispiel Vielflächer) intuieren und transzendente Signifikate (zum Beispiel die Idee der Gerechtigkeit) meditieren.« 72 Weil Platon das Vorlaufen der Denkseele in den schönen Tod der Theorie zur höchsten Form der Erkenntnis stilisiert, lässt sich die Geschichte all derer, die sich dem theoretischen Leben verschrieben haben, als eine »Prozession von imaginären Scheintoten beschreiben.« 73 Scheintod im Denken. Den reflektierenden Scheintoten begegnet man in der von Platon begründeten okzidentalen Rationalitätskultur auf Schritt und Tritt: Der Einzelne legt sein profanes sterbliches Ich ab, »um es gegen ein unzerstörbares geistseelisches Selbst auszutauschen.« 74 Das psychopolitische Argument ist der erste und umfangreichste Versuch Sloterdijks, die Genesis der theoretischen Einstellung zu begreifen, als zweites Argument benennt er ein psychologisches, dass manche Menschen die Neigung in sich verspüren, zwischen sich und ihrer Mit- und Umwelt Abstand zu halten. Während die Grundstimmungen von Menschen Einfluss auf ihre Vorstellungen von der Welt und dem Leben haben, übt sich der epoché-fähige Mensch in der Tugend der Leidenschaftslosigkeit und in der Fähigkeit, seine Lebensbezüge einzuklammern. Die Theoriefähigkeit des Menschen ist demnach eine Ausdrucksform des zurückgezogen beobachtenden Daseins. 75 Wächst im Menschen das »dämonische Geschenk der grundlosen Traurigkeit«, verharrt er in einem bittersüßen Exil, »in

Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 102. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 103. 74 Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 112, vgl. auch 109. – Vgl. ders.: Weltfremdheit. Frankfurt am Main 1993 (es 1781), 167–176. 75 Vgl. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 83–86. 72 73

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dem nicht selten Gegenvorschläge zur Umgestaltung des Daseins im Ganzen erbrütet werden – hier zweigt das theoretische Leben ins künstlerische Schaffen und utopische Planen ab.« 76 Die Entstehung des epoché-fähigen Menschen geht in einem dritten, soziologischen Blickwinkel auf das Aufkommen von Schulen als pädagogischen Bildungseinrichtungen im klassischen Griechenland zurück. Nachdem leibliche Väter bereit waren, ihre Söhne einem Lehrer und damit einem zweiten, geistigen Vater zur Erziehung anzuvertrauen, mussten diese als Schüler ihrem Lehrer zu Füßen sitzen, ihren kindlichen Spiel- und Bewegungstrieb zähmen und sich im Stillehalten üben. Kultur basiert in diesem Bildungssystem deshalb auf einer Dressur, sie ist »Beihilfe zum Sitzenkönnen und Folge des sitzenden Weltbezugs.« 77 Das Stillehalten dient zum Zwecke des Hörens, des konzentrierten Hinhörens auf die Worte des Lehrers, das genaue Aufmerken auf die Lehren des Meisters. 78 Beim ungeübten Schüler am Anfang steht beim Hören noch das Nachahmen im Vordergrund, der fortgeschrittene und geübte Schüler hingegen soll lernen, auf eigenen Füßen zu stehen und, vom Lehrer unabhängig geworden, selbständig zu werden: »Hier tritt die Idee auf, es gebe ein Lernen ohne Grenzen, ein Studium ohne äußeren Zweck, eine Bildung, die sich selbst entgegenstrebt, indem sie den Kreis der wissbaren Dinge abschreitet.« 79 Zum Sitzen und Hören tritt kulturgeschichtlich ein weiteres Phänomen hinzu: das Schauen und Lesen. Daraus leitet Sloterdijk ein viertes und letztes, medientheoretisches Motiv für die Entstehung des epoché-fähigen Menschen ab: »Für Europäer treten die Welt und das Buch schon früh in Analogie zueinander. […] Der alteuropäische Zugang zur Erfahrungswelt hingegen ist durch grammatische Dressuren vorgeformt, ja, der Weltstoff selbst wird in dieser Schriftkulturzone nach Buchstabe, Silbe, Zeile, Seite, Absatz und Kapitel formatiert – mit dem Effekt, dass wir als Leser in Büchern wie in Situationen blättern und Situationen wie Buchseiten auffassen, von vorneherein die Disposition von abstandhaltenden Beobachtern mitSloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 93. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 86–89, hier 88. – Vgl. ders: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 263 ff. 78 Vgl. Regula Benedicti: Ausculta, o filii, praecepta Magistri et inclina aurem cordis tui – Höre mein Sohn auf die Lehren des Meisters und neige ihm das Ohr deines Herzens (Prologus 1). 79 Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 92. 76 77

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bringen.« 80 Im Reden und Widersprechen, beim Lesen und Sammeln, im Wissen und Prüfen schult sich der Leser in seiner alltäglichen Praxis zum theoretischen Menschen. 81 Eine weitere Analogie besteht im Vergleich der Bestellung der Seele mit der Kultivierung eines Ackerfeldes. Beiden geht es um Vermehrung, Zuwachs und Gewinn: »Das Lesen gilt folgerichtig als Ernten auf den Feldern des Wissens. Der homo legens wird so auf unauffällige Weise zu allgemeiner epoché-Fähigkeit erzogen. Wer gelernt hat, auf beschriebene Rollen und bedruckte Seiten zu schauen, übt immer schon Abstand gegenüber dem Geschriebenen, das seinerseits Abstand zum Gesagten und Erlebten hält.« 82 Durch die vereinten Wirkungen der vier skizzierten psychopolitischen, psychologischen, soziologischen und medientheoretischen Prozesse im klassischen Griechenland entstanden nach Peter Sloterdijk die Bedingungen der Möglichkeit für den theorie- und epochéfähigen Menschen. Sein als ›Scheintod im Denken‹ beschriebenes Konzept gewährt tiefe Einblicke in die Gründe, warum sich das abendländische Denken aus dem lebenspraktischen Alltagsvollzug in die davon abgehobene Sonderzone Theorie bzw. vom Lebensvollzug in die Beobachtung des Lebens bzw. vom Wirklichen ins Mögliche verlegt hat. 83 Das aber führt dazu, dass der Denkende von seinem Leben, der Philosoph von seiner Existenz, der Wissenschaftler vom Menschlichen, die Theorietreibenden insgesamt vom allzu Eigenen zurücktreten. 84 Doch sie können sich nicht aus dem Leben ausklinken, weil ihre Existenz als Menschen immer verwundbar ist und sie ins Leben zurückholt. Der Mensch kann nicht anders; er muss auf seine Verwundbarkeit reagieren. Er entwickelt Immunsysteme, um Schicksalsschläge oder die Tatsache seines Sterbensmüssens zu bewältigen. Dabei kann er sich nicht auf einen Beobachterposten oder in die Theorie flüchten. Das Leben ruft ihn in seine Existenz, die niemand für ihn vertreten kann. 85 Hilfreich bei der Entwicklung von Immunsystemen sind dem Menschen Anthropotechniken. Unter Anthropotechniken versteht Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 89 f. Vgl. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 93. 82 Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 90 f. 83 Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 126 f. 84 Vgl. Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 130, 145. 85 Vgl. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt am Main 2009, 20 ff. 80 81

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Peter Sloterdijk »die mentalen und physischen Übungsverfahren, mit denen die Menschen verschiedenster Kulturen versucht haben, ihren kosmischen und sozialen Immunstatus angesichts von vagen Lebensrisiken und akuten Todesgewissheiten zu optimieren.« 86 Anthropotechniken sind die Formen »selbstbezüglichen Übens und Arbeitens an der eigenen vitalen Form«, deren Handlungen und Bewegungen auf den Akteur rückwirken. Sie sind ein Tableau der menschlichen Arbeiten an sich selbst. 87 Der Philosoph setzt sich nicht scheintot vom Leben ab und flüchtet nicht in die Welt der Theorie, sondern er stellt sich den menschlichen Erfahrungen, Belastungen und Herausforderungen des Lebens mit Weisheit und Geduld. Er ist bereit, sich mit Stimmungen in ihrer vorlogischen Färbung auseinanderzusetzen, die jeglicher Erkenntnis vorausgehen, weil sie ein Zugewinn an Reichweite für den philosophischen Diskurs sind. Sie helfen »den überzogenen Rationalismus der Tradition zu korrigieren. Sie machen die Philosophie anschlussfähig an eine Fülle von Lebenserfahrungen, die der philosophischen Rede früher nicht zugänglich waren.« 88 Denken und Erkennen sollen den Menschen lebenstauglicher machen. 89 Der Mensch ringt in all seinen Gefährdungen mit sich selbst und übernimmt seine Existenz in einer übenden Grundhaltung. In seinem Buch Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik (Frankfurt am Main 2009) rechnet Sloterdijk mit der Interesselosigkeit der Theorietreibenden, die sich aus ihrem Leben heraushalten wollen, radikal ab.

V.

Peter Sloterdijk: Die Philosophie als Anthropotechnik

Das Leben, das bereit ist, seine Existenz zu übernehmen, ist das übende Leben. Philosophie wird als Exerzitium der Existenz vollzogen 90, das dem Philosophen den übenden, asketischen, formfordernden und habitusbildenden Charakter seines eigenen Verhaltens und Handelns Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 23. – Vgl. ders.: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt am Main 1999, 46. 87 Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 59, 501, 23. 88 Sloterdijk, Peter: Ausgewählte Übertreibungen. Gespräche und Interviews 1993– 2012, hrsg. von Bernhard Klein. Frankfurt am Main 2015 (st 4564), 331. 89 Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 314 f. 90 Vgl. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 245. 86

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vor Augen stellt. 91 Die Philosophie handelt von Gegenständen, die »keinen Rückzug in die Interesselosigkeit gestatten, auch wenn die Zeichen auf Theorie stehen«, sie ist unentrinnbar selbstbezüglich. 92 »Üben ist«, so Peter Sloterdijk, »die älteste und folgenreichste Form einer selbstbezüglichen Praxis: Seine Resultate fließen nicht in äußere Zustände oder Objekte ein, wie beim Arbeiten und Herstellen, sie elaborieren den Übenden selbst und bringen ihn als Subjekt-das-kann ›in Form‹.« 93 Sloterdijk unterscheidet zwei Übungsergebnisse: Erhaltungsübungen und Entfaltungsübungen. Sie spiegeln die »Könnensverfassung« und aktuelle Kondition des Übenden wider: »Je nach dem Kontext beschreibt man diese als Habitus, Tugend, Virtuosität, Kompetenz, Exzellenz oder Fitness. Das Subjekt, als Träger seiner Trainingsreihen aufgefasst, sichert und potenziert sein Können, indem es sich seinen typischen Übungen unterzieht – wobei die von gleichem Schwierigkeitsgrad eher als Erhaltungsübungen zu bewerten sind, indessen die mit steigendem Schwierigkeitsgrad als Entfaltungsübungen gelten müssen.« 94 Sloterdijk definiert als Übung »jede Operation, durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird, sei sie als Übung deklariert oder nicht.« 95 Das anthropotechnische Grundgesetz besteht in »der autoplastischen Rückwirkung aller Handlungen und Bewegungen auf den Akteur.« 96 Der Mensch entfaltet sich durch Übung, er bringt sich selbst hervor, »durch sein Leben in Übungen.« 97 Er verändert seine Natur, um seine Natur zu verwirklichen. 98 Besteht der Sinn und Zweck des Übens im Ranking des Besser- und Schlechter-Könnens einer leistungsbejahenden Subkultur des Westens, deren Steigerungsaskesen Worin und woraus der Mensch immer schon lebt, wird philosophisch »explizit« gemacht. – Vgl. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 17 ff. und 228: »Unsere Aufgabe besteht also darin: Der ethische Ur-Satz ›Du musst dein Leben ändern‹ kann darum fürs erste nur dadurch befolgt werden, dass die Übenden sich ihre Übungen als Übungen, das heißt als den Übenden engagierende Lebensformen, bewusst machen.« 92 Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 30. 93 Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, 16. 94 Slotderijk, Peter: Scheintod im Denken, 16 f. 95 Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 14. 96 Sloterdijk, Peter, Du musst dein Leben ändern, 501. 97 Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 13. 98 Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 308. 91

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sich hinter so unscheinbaren Namen verbergen wie »Fortbildung, Training, Fitness, Sport, Diätetik, Selbstdesign, Therapie, Meditation«? 99 Nein. Peter Sloterdijk sieht den Menschen vielmehr in einer Vertikalspannung befindlich, das heißt, er betrachtet den Menschen als ein Wesen, »das von einem Differenzstress in Bezug auf sein eigenes Sein- und Werdenkönnen beansprucht ist. Der Mensch ist, wie man sagt, nie mit sich selbst identisch, er steht immer in einem Gefälle zu sich, in einem Mehr oder Weniger, in einem Hinauf oder Hinunter, er ist von vertikalen Kräften berührt und durchdrungen. […] Tatsächlich sind Menschen als solche immer schon die vertikal Herausgeforderten, die Wesen, die sich zu ihrer eigenen Vertikalspannung verhalten müssen, Geschöpfe also, die von dem Stress des Mehr-oder-Weniger-aus-sich-machen-Könnens nicht entlastbar sind.« 100 Warum ist der Mensch also ein Übender? Wie gerät er ins Üben und was stiftet ihn an? Die Lebenswirklichkeit des Menschen besteht aus verschiedenen kulturellen Leitdifferenzen wie vollkommen-unvollkommen, heilig-profan, vornehm-gemein, tapfer-feige, mächtigohnmächtig, vorgesetzt-nachgeordnet, herausragend-mittelmäßig, Fülle-Mangel, Wissen-Unwissen, Erleuchtung-Verblendung. Allen Leitdifferenzen gemeinsam ist, dass sich der Mensch für den jeweils erstgenannten Wert entscheidet. Dieser ist ein Attraktor, den es anzustreben gilt; der letztere ist eine Größe, die, wenn möglich, vermieden wird. 101 Die Attraktoren versetzen den Menschen in eine Spannung, die ihn nach dem Höheren streben läßt, dass er über sich hinauszielt. 102 Mensch-sein ist Sein-zur-Vollendung, die Vollendung strebt er durch Übung an 103, es ist ein Vorlaufen-in-das-Ziel, ein Sowerden-wollen »wie einmal ein Größerer gewesen ist.« 104 Die Fähigkeit, überhaupt über sich hinaus zu wachsen, wie die Tüchtigkeit bzw. das Gute (habitus), ist im Menschen als Möglichkeit angelegt. Übt er sich in dem, was in ihm angelegt ist, wird ihm die Tüchtigkeit bzw. das Gute zur zweiten Natur. 105 Weil im Menschen die VertikalspanSloterdikj, Peter: Scheintod im Denken, 18 f. Sloterdijk, Peter: Nach Gott. Frankfurt am Main 2017, 210 f. 101 Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 28 f., 261 ff. 102 Zu den Begriffen des »über« bzw. »hinauf« vgl. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 176–207. 103 Vgl. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 393 ff. 104 Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 126. 105 Vgl. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 276–297. 99

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nung angelegt ist, ist das übende Leben ein Kennzeichen seiner Existenz. Alle Formen selbstbezüglichen Übens, Arbeitens an sich selbst und Trainierens an der eigenen vitalen Form nennt Sloterdijk Anthropotechniken. 106 Das übende Leben als selbstbezügliches ist vorgängig zur Philosophie und ihrer Unterscheidung in einen praktischen Lebensvollzug oder eine theoretische Wissenschaft. Menschsein ist In-der-Welt-sein. Wissenschaft und Philosophie sind für Sloterdijk zwei nebeneinander bestehende Ausprägungen des bios theoretikós; Früchte des theorietreibenden und epoché-fähigen Menschen, die sich nicht vom Leben abtrennen lassen. Das denkende Selbst steigt zurück in den Fluss des Lebens. Der Beobachter am Ufer verschwindet, die Logen der reinen Beobachtung versinken in der Flut: »Das Ufer, an dem der Beobachter Fuß fassen wollte, ist kein wirklich rettendes.« 107

VI. Die Philosophie als Lebensform im Kontext antiker Anthropotechnik und monastischer Theologie Kehren wir zu unseren Eingangsfragen in der Einleitung noch einmal zurück. Ist die Philosophie eine theoretische Wissenschaft oder eine kontemplative Lebensform? Inwiefern ist sie eine Praxisform? Gründet sie in der Existenz des Menschen oder ist sie von menschlicher Erfahrung unabhängig? Führt die Frage nach der dualen Spannung von Praxis und Theorie überhaupt zu einer Antwort oder müsste sie anders gestellt werden? Anhand eines genealogischen Durchgangs durch die großen Erzählungen von Pierre Hadot, Jean Leclerqc und Peter Sloterdijk wurde explizit sichtbar, wie die duale Spannung der Philosophie als Lebensform oder Wissenschaft, Praxis oder Theorie in der griechischen Antike aufkam und bis in die Neuzeit verschiedentlich ausgeprägte Formen annahm. Nach der Niederlage Athens gegen Sparta 404 v. Chr. und dem Zusammenbruch des athenischen Polismodells gründet Platon 387 v. Chr. die Akademie. Frei von der praktischen Sorge um ihr Gemeinwesen entwickeln die jungen Athener eine kontemplative Liebe zur Weisheit. Die Schwäche des Gemeinwesens führt zu ihrem persönli106 107

Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 59. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 697.

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chen Freiheitszuwachs, die Ablösung aus der gewohnten Praxis in der Stadt beschert ihnen die Wonne eines betrachtenden Daseins in der Akademie. Ihr Blick geht über die Stadt hinaus, ihre Gedanken steigen hinauf in einen weiteren Zusammenhang, zu den Ideen. Aus Bürgern der städtischen Polis werden kosmopolitische Welt(all)bürger, die die Welt (unbeteiligt) von oben betrachten. Pierre Hadot erkannte neu, dass die Philosophie nicht nur eine bestimmte Art der Weltbetrachtung ist, sondern eine Art zu leben. Nur wer die Weisheit noch nicht hat, kann nach ihr streben und eine echte philo-sophia entwickeln. Die Liebe zur Weisheit wird am besten durch die Übung des Denkens und die Anstrengung des Wollens erworben. Es geht ihr nicht um den reinen Zugewinn an Kenntnissen und die Vermehrung ihres Wissens, also rein um den wissenschaftlichen Diskurs (Theorie), sondern um eine Änderung der Seins- und Lebensweise des Menschen durch permanente Einübung (Praxis). Die Philosophie hat einen transformativen Charakter, weil sie der praktischen Einübung in eine Lebensform und der aktiven Formung der menschlichen Seele durch Übungen dient. Pierre Hadot beschreibt das in der griechischen Antike aufkommende Verständnis der Philosophie als praktische Lebensform oder als theoretische Wissenschaft als Spannung und präsentiert diese als exklusive, einander ausschließende und vollständige Alternative. Er übernimmt diese Interpretation von Jean Leclercq. Als das frühe Christentum die philosophischen Übungen der Antike weiterführte und die Mönche ihre Lebensweise als das wahre Christentum verstanden, nannten sie ihre Lebensform eine philosophia, die im Kloster gelebt und im monastischen Alltag eingeübt wurde. Dadurch kam es im Mittelalter zu einer Verschiebung von der Praxis zur Theorie, von der ursprünglichen Bestimmung der Philosophie als Leben und Seinsweise hin zu einem philosophischen Diskurs in dem Augenblick, als zu den ländlichen Klöstern die städtischen Hohen Schulen und Universitäten als Lehrorte hinzutraten. Aus der Philosophie als klösterlicher Lebensform wurde die Dienerin der wissenschaftlichen Theologie, die der Theologie das begriffliche, logische, naturwissenschaftliche und metaphysische Material lieferte, das diese in jener Zeit bedurfte. Erst seit der Neuzeit gewann die Philosophie allmählich ihren praktischen Lebensbezug wieder zurück, doch die duale Spannung der Philosophie als Lebensform oder Wissenschaft, Praxis oder Theorie, als exklusive und vollständige Alternative blieb. Peter Sloterdijk arbeitet seit Jahren daran, einen ursprüngliche145 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

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ren und umfangreicheren Zugang zu dieser Spannung zu gewinnen. Weil Philosophie nie bloß aktiv, noch bloß kontemplativ ist, minimiert er ihre Unterschiede hinsichtlich ihrer Eigenart und Entfremdung voneinander in Antike und Mittelalter dadurch, dass er sowohl die theoretische Wissenschaft als auch die Philosophie als Lebensform als Sprösslinge der alteuropäischen Rationalitätskultur betrachtet. Deshalb behandelt er sie als zwei voneinander unabhängige und doch aufeinander verwiesene Ausprägungen des ursprünglicheren selbstbezüglichen übenden Lebens. »Du musst dein Leben ändern.« 108 Damit können wir mit Peter Sloterdijk ins Gespräch eintreten.

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Vgl. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, 13 ff., 23 f., 472 f., 699.

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Der Begriff des Übens kann in einem Kreis von Ordensleuten, bei Musikern übrigens ebenso und bei Sportlern auch, viel leichter eingeführt werden als unter Sozialwissenschaftlern. Das Reizvolle an einer methodischen Arbeit mit dem Übungsbegriff ist, dass ungewohnte Oberbegriffe entstehen für sehr heterogene Gegenstände. Man kann nämlich plötzlich über Religion, Sport und Musik mit den gleichen Ausdrücken sprechen, weil es jedes Mal um ein »In-Form-Kommen« oder »Sich-in-Form-Bringen« geht, das gesteuert wird dadurch, dass Menschen angefangen haben, bestimmte Arten von Wiederholungen, also bewusste Wiederholungen, einzusetzen, um ihre eigene Lebensfähigkeit zu modifizieren – also wenn man den Ausdruck Übung explizit macht. Nicht jede repetitive Haltung ist schon per se eine Übung, obwohl sie schon einen unbewussten Übungseffekt hervorrufen kann. Üben heißt eine Handlung so ausführen, dass die Fähigkeit des Übenden, diese Handlung zu wiederholen, entweder erhalten oder erhöht wird. Also bei reinen Erhaltungsübungen ist es möglich, dass sie unbewusst werden: Die meisten Menschen z. B. atmen einfach so vor sich hin. Wir wissen aber auch, dass in Indien schon vor 2.500 Jahren im Zusammenhang mit dem körperlichen Yoga auch der Atem in eine bewusste Regie genommen worden war. Dies wurde auch in den Westen importiert: auch die Pythagoreer hatten Atemübungen – Georges Gurdjieff hat noch im 20. Jahrhundert in seiner Schule für die harmonische Entwicklung des Menschen Atemübungen mit pythagoreischen Zahlen-Mystiken kombiniert. Das Ziel dieser Arbeit war in seinem Fall, den Menschen zu Der folgende Text ist die wortgetreue Niederschrift eines in freier Rede gehaltenen Beitrages von Peter Sloterdijk bei der Tagung »Philosophie als theoretische Wissenschaft oder kontemplative Lebensform« der Bayerischen Benediktinerakademie (Philosophische Sektion) und des Martin-Grabmann-Forschungsinstitutes für Mittelalterliche Theologie und Philosophie der Universität München am 10. Juni 2016 in der Abtei Venio, München (Abschrift und Redaktion: Beate Ulrich).

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de-automatisieren. Üben heißt nämlich Verhaltensweisen einüben, die ein wenig neben dem liegen, was man normalerweise tun würde. Man trainiert das Ungewöhnliche. Das ist jetzt vielleicht ein Teil der Faszination, die vom Fußball ausgeht. Die natürliche Reaktion wäre eigentlich, das Ding mit der Hand zu nehmen und es am gegnerischen Torwart vorbei ins Tor zu werfen. Aber ausgerechnet das Natürliche ist das Verbotene beim Fußball. Fuß und Ball passen eigentlich überhaupt nicht zusammen. Aber die artistische Anforderung, gerade dieses Unwahrscheinliche zur Regel zu machen, gibt diesem Sport so einen besonderen paradoxen Reiz, den sehr viele Menschen offenkundig verspüren. Es ist, wenn man so will, Artistik für das Volk. Es muss nicht jeder unter der Zirkuskuppel am Trapez turnen, um ein Artist zu werden; es genügt auch, Ballannahme zu trainieren. Eine von den Ausgangsbeobachtungen für mein Buch »Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik« (Frankfurt 2009) war die Tatsache, dass einige der ältesten Übungssysteme, die wir in der westlichen Zivilisation kennen, vor allem im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus von frühen Christen aus der griechischen athletischen Kultur übernommen worden waren. Der Begriff askesis ist ja eigentlich neben dem Ausdruck melete ein griechischer Athleten-Terminus gewesen. Was die jungen Griechen, die sechs Wochen vor den Olympischen Spielen sich auf den Weg gemacht haben, um sich für diese Wettbewerbe vorzubereiten, betrieben, nannte man askesis. Die frühen Klöster im Vorderen Orient, insbesondere in Syrien und Ägypten, trugen bezeichnenderweise den Namen Asketerion, nach dem, was man dort tat, nämlich man hat geübt. Und einige der frühen Mönche – das bezieht sich natürlich vor allem auf die koinobitische Strömung nach Pachomios und anderen – nannten sich expressis verbis die Athleten Christi. Die Assoziation zwischen Gläubigen und Athleten ist schon relativ alt: Es gibt diesen berüchtigten Brief von Tertullian »Ad Martyras«, um das Jahr 200 geschrieben von dem Nordafrikaner, adressiert an einige in Lyon gefangen gehaltene Christen, die in den folgenden Wochen dort bei blutigen Hinrichtungsspielen verheizt werden sollten. Dieser Brief wimmelt von technischen Ausdrücken aus der Sphäre des Sports, die angewandt werden auf das Verhalten der Märtyrer in diesem Hinrichtungsstadion. Da wird auch Christus selber als Trainer bezeichnet. Er heißt auf Griechisch Epistates, was wörtlich der »Danebensteher« oder »Dahintersteher« bedeutet. Das sind ganz eigenartige Parallelismen, die den Benutzern dieses Vokabulars schon sehr früh bewusst waren. Das 148 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

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Christentum hat eine ungeheuere Energie der Anverwandlung vorchristlicher oder außerchristlicher Lebenskünste an den Tag gelegt. Auf der einen Seite haben sie gewissermaßen die ganze Philosophie verschluckt bis zum Punkt, dass im Kloster zu leben synonym wird mit philosophieren. Das ist eine sprachgeschichtliche Anomalie, die eigentlich erst vom 16. Jahrhundert an zurechtgerückt wird, als die nicht-mönchische Philosophie wieder etwas selbstbewusster aufzutreten begann bis zu dem Punkt hin, dass im 18. Jahrhundert der Ausdruck Philosoph eigentlich soviel bedeutete wie der polemische, säkulare atheistische Intellektuelle. Das ist sprachgeschichtlich sehr merkig. Aber noch interessanter ist, dass das Klosterleben, dass die spirituellen Disziplinen und die frühen asketischen monastischen Gemeinschaften den ganzen griechischen Sport gewissermaßen verschluckt haben und sich von dort her eine Lebensform zu eigen gemacht haben, die wie keine andere geeignet ist, ein Dasein in dieser Vertikalspannung auszudrücken. Es gibt in den etwas fortgerückteren Passagen der Schrift »Die Leiter zum Paradies« des Johannes Klimakos sehr lange Untersuchungen über die Phantasien bzw. über die Bilderwelt, mit der Menschen in der mönchischen Existenz den Aufstieg auf der 30-stufigen scala paradisi vollziehen, – schön nachgezeichnet von Hugo Ball in seinem »Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben«. Es gibt einen Abschnitt über den theomimetischen Glanz, der bei den Übenden hoher Stufen, so von der 27., 28. Sprosse an, zu leuchten beginnt. Das sind dann die Menschen, bei denen die Verklärung zu Lebzeiten eingesetzt hat und für die diese von Augustinus herkommende Formel non posse peccare eintritt. Wir haben eigentlich eine Drei-Stufen-Menschheit innerhalb des klassischen Christentums: Wir haben die gewöhnlichen Menschen, für die gilt non posse non peccare, sie können nicht nicht sündigen. Dann haben wir eine fortgeschrittene Menschheit, die sich bereits auf dem Weg der Verwandlung befindet – posse non peccare –, die haben eben die Wahl, das Sündigen auch zu unterlassen. Und dann kommt die Verklärung, die mit dem non posse peccare zu tun hat. Also letzten Endes kommt es nur darauf an, wo die Verneinung hingestellt wird, – und das hat mit dieser Aufstiegsbewegung zu tun. Benedikt hat in seiner Regel offenbar die Vorstellung, dass Erniedrigung und Vollendung eins sind. Seine Stufenleiter führt merkwürdigerweise nach unten – sehr ungriechisch, nebenbei gedacht, weil die Griechen in Aufstiegen denken. Der römische Mönch ist derjenige, der diese Arbeit der Entleerung bis zum Äußersten durchführt und der so weit 149 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

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kommen muss, dass er auch bei ungerechter Behandlung nicht mehr den alten rebellischen Adam emporkommen lässt. – Weswegen es eigentlich zu den Aufgaben eines jeden guten Abtes gehört, seine Mitbrüder genügend zu beleidigen, sonst enthält er ihnen ja diese wesentlichste aller Prüfungen vor, festzustellen, ob der Satanismus der Rebellion noch in ihnen am Werk ist oder nicht. Der Ausdruck Epoché, wie wir ihn heute verwenden, ist natürlich durch Sprachregelungen geprägt, die Edmund Husserl in der Frühphase seiner Gründung der phänomenologischen Methode gebraucht hat. Nicht jeder Theoretiker kann ins Kloster eintreten und die Fäden zum gewöhnlichen Leben abschneiden. Aber die phänomenologische Epoché ist eigentlich eine Simulationsmethode oder ein Klosterersatz, wenn man so will. Er muss für die Dauer der Betrachtung seine eigenen Lebensinteressen, die Leidenschaftsbasis seiner Existenz, außer Kraft setzen und in gewisser Weise den toten Mann spielen. Deswegen habe ich ein Buch auch »Scheintod im Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung« (Frankfurt 2010) genannt. Eine Formel, die selbstverständlich zurückgeht auf die Frühdialoge Platons, die zu den Gründungsdokumenten des philosophischen Evangeliums gehören. Das sind Texte, die im vollsten Sinn des Wortes evangelisch sind, weil sie nämlich die frohe Botschaft von der Existenz der Philosophie und der Weisheit in die Welt hineingetragen haben. Der Tod des Sokrates wurde auch später von christlichen Autoren so gesehen, als eine Präfiguration dieses philosophischen savoir mourir, das noch nicht diese Passionsqualitäten hat, die zur christlichen Geschichte gehören, aber doch auch so etwas wie eine philosophische Passion beinhalten. Dort finden wir tatsächlich in den Abschiedsreden von Sokrates diese Formulierung: »Warum wollt ihr mich überreden, noch länger am Leben zu bleiben, wo doch das Ziel des philosophischen Daseins darin bestanden hat, die Gemeinschaft mit dem Körper nach Möglichkeit aufzulösen und schon in diesem Leben so tot wie möglich zu sein.« Totsein bedeutet in diesem Fall natürlich subversiv etwas ganz anderes, nämlich die Seinsweise der noetischen Seele möglichst unvermischt zu empfinden und das eigene physische Dasein als diesen berühmten Erdenrest zu tragen, mit in Kauf zu nehmen. Das sind Denkfiguren, die im Osten wie im Westen vorkommen. Es gibt in der indischen Meistersprache ein sehr schönes Sprachbild von der Töpferscheibe, die sich auch dann noch weiterdreht, wenn das Gefäß vollendet ist. Und das ist eine Metapher dafür, dass man auch nach der Erleuchtung noch eine Weile im Leibe he150 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

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rumhängt, um es so respektlos wie möglich auszudrücken. Wenn man Gott oder Verklärung oder diesen absoluten Aufstieg als Ziel festgesetzt hat, dann kommt man unweigerlich in einen merklichen Zirkel hinein, denn ich könnte ja das Ziel nicht anpeilen, wenn ich es innerlich nicht schon erreicht hätte auf eine mysteriöse Weise, oder vorsichtiger ausgedrückt, wenn ich es nicht in einer Art Antizipation bereits angepeilt hätte und irgendwie wüsste, wie es ist, am Ziel zu sein. Und dann fällt man zurück an den Ausgangspunkt, an dem die Vorwegnahme beginnt und strebt dann weiter. Das sind Denkfiguren, mit denen auch die Asiaten viel gespielt haben, die das noch weiter formalisierten, indem sie zwischen den Wegen der Plötzlichkeiten und den Wegen der Allmählichkeiten unterschieden haben. Insbesondere im japanischen Buddhismus gibt es eine gewisse Romantik der Plötzlichkeit, wo Leute, die sich jahrelang gequält haben mit irgendwelchen Übungen, dann wie aus der Luft gegriffen diese Satoriartige Loslösung empfinden und zu diesem Am-Ziel-Sein vorausfallen. Aber überall dort, wo strengere Hierarchien und lange strukturierte Wege aufgebaut werden wie bei dem 7-stufigen Weg nach unten bei Benedikt oder bei dem 30-stufigen Aufstieg der Paradiesleiter, wird selbstverständlich die Allmählichkeitsmethode eingeübt. Das hat auch Nietzsche im Auge, als er in einer seiner Spätschriften diese sehr merkwürdige Bemerkung notiert, dass ein Besucher von einem fremden Stern zu dem Eindruck kommen könnte, die Erde sei – nach dem zu urteilen, was hauptsächlich auf ihr passiert ist – der asketische Stern – eine sehr herausragende Formulierung –, also bevölkert von Menschen, die von sich selber Unmögliches verlangen und aufgrund dieses Verlangens nicht davor zurückschrecken, sich selber auch sehr weh zu tun. Er selber wollte ganz offenkundig eine alternative Form von Askese stiften, mehr eine steigernde Askese und nicht eine Askese des Erlöschens. Das sind zwei Figuren, die er gegeneinander ausspielt. Ich will nur noch daran erinnern, dass der Satz: »Du musst dein Leben ändern«, den ich über dieses Buch gesetzt habe, ein doppeltes Zitat enthält, ein manifestes und ein impliziertes. Das manifeste Zitat bezieht sich auf das bekannte Gedicht von Rainer Maria Rilke aus den Neuen Gedichten Zweiter Teil 1905/6 (1908) »Archaischer Torso Apollos«. Da beschreibt er eine Kunsterfahrung, vermutlich in der Antikensammlung des Louvre, den Anblick eines Torsos ohne Arme, ohne Beine, ohne Geschlecht, ohne Kopf, aber immerhin ein Körper. Er steht davor und hat das Gefühl: »In diesem verstümmelten Stein 151 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

Peter Sloterdijk

ist immer noch mehr Energie als mir leibesschwachem Dichterling.« Und der Stein ist immer noch theologisch auf Sendung, er redet noch, der Stein spricht, der Stein schaut ihn an, nicht er ihn, sondern der Stein blickt zurück. Und dann kommt dieser Satz, die Stimme, aus dem Stein hervor: »Du musst dein Leben ändern.« Das ist der Ruf eines Trainers, der seinen Schützling gefunden hat, der von da an aus seinem Leben etwas anderes zu machen hat. Das indirekte Zitat, das in dem Satz steckt, bezieht sich eigentlich auf alle großen Schriften der religiösen Weltliteratur. Ob das die Sammlung der langen Reden von Buddha ist oder der Avesta oder die Gründungsschriften der Philosophie von Plato oder das Neue Testament oder der ganze Korpus der mittelalterlichen Autoren, die sagen auch alle: »Du musst dein Leben ändern«. Der Einzige, der die richtige Gattungsbezeichnung für eine solche Schrift gefunden und auf das Titelblatt seiner eigenen Schrift draufgesetzt hat, war Friedrich Nietzsche, der den ersten Teil von »Also sprach Zarathustra« mit der Unterzeile versah: »Ein Buch für alle und keinen«. Das hat einfach damit zu tun, dass es zwar universalistische Botschaften sind, aber die Menschen, für die das gesagt ist, die sind noch gar nicht da, sondern die kommen erst in Antwort auf dieses Buch in die Existenz. Und sie leben dann erst so, dass sie diesem Buch entsprechen werden. Das hat es in der Geistesgeschichte vielleicht vier oder fünf Mal gegeben, dass so ganz starke Appelle ergingen, woraufhin neue pneumatische Völker entstanden sind, die auf diesen Ruf geantwortet haben. Wir kennen das natürlich aus der Erste-Person-Perspektive, vor allem im christlichen Raum. Aber wenn man ein bisschen herumgekommen ist – ich selber habe ja eine Indien-Exkursion in meinem Lebenslauf, die nicht ganz unwichtig war – bekommt man auch einen Sinn dafür, dass dieses singuläre Geschehen zugleich auch anderswo in anderen Formen hat geschehen können. Dieses »für alle und keinen«, das gehört auch zu diesem Satz »Du musst dein Leben ändern«. Meine Suggestion war, dass dieser Satz heute auch wieder in der Luft liegt in einem weltweiten Maßstab, und die Menschen, die nicht nur in die Narkose des Amüsements und der Zerstreuung gehen wollen, suchen auch nach Lebensformen, die diesem Imperativ entsprechen.

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Theologia mystica: Erfahrung oder Theorie?

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Cognitio experimentalis Affekt und Rationalität bei Anselm von Canterbury Christian Schäfer

Aus den vielen möglichen und häufig genug inkongruenten oder bestenfalls ›familienähnlichen‹ Beschreibungs- oder Definitionsversuchen von ›Mystik‹ sei für diesen Aufsatz die Bestimmung der Mystik als cognitio experimentalis ausgesucht. Und zwar in dem Sinne von Erkenntnis, die als Erkenntnis eine Erfahrung darstellt; eine Erkenntnis, die uns etwas angeht; Erkenntnis, die ›das Ganze der Person‹ betrifft (um diese Floskel einmal mit Vorsicht in Anspruch zu nehmen) und einer Auffassung von ›Philosophie als Lebensform‹ korrespondieren kann, oder eine Art von philosophischer Erkenntnis, die man mit Jaspers 1 vielleicht als »Wahrheit […] mit der wir leben« bezeichnen könnte. Im »verminten Irrgarten« 2, den die Beschäftigung mit der Mystik für den Interpreten darstellt, ist die Vorstellung einer cognitio experimentalis ein relativ sicheres Terrain und allemal der Beschäftigung wert. Unter anderem auch deswegen, weil die cognitio experimentalis doch zu einem bestimmten Grad das Vorurteil der bloßen Innerlichkeit konterkariert, das gerne mit der Mystik verbunden wird. Die cognitio experimentalis, so will ich anhand eines Beispiels im Folgenden zeigen, stellt unter Miteinbeziehung des Affektiven im Erkenntnisprozess erstens einen bedenkenswerten methodischen, und zwar auch ab omnibus einsehbaren Sonderweg in der Philosophie dar, einen Weg, der den emotionalen Antrieb, und zwar diesen durchaus mit seinem prägnant somatischen Aspekt, für ein spekulatives Denken ernstnimmt; zweitens verweist die cognitio experimentalis somit aber durch den Affektbezug bei zahlreichen mittelalterlichen Denkern auch auf eine zumindest methodische,

Karl Jaspers: Nachwort (1956) zu meiner »Philosophie« (1931), in: Karl Jaspers: Philosophie I. Berlin/Heidelberg/New York 41973, S. XIX. 2 Hans-Urs von Balthasar: ›Zur Ortsbestimmung christlicher Mystik‹, in: Werner Beierwaltes/Hans-Urs von Balthasar/Alois Haas (Hg.): Grundfragen christlicher Mystik. Einsiedeln 22002, S. 37–71, hier S. 39. 1

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Christian Schäfer

heuristische Einbeziehung des Menschen als animal, als körperlichem Lebewesen – so etwa zu ersehen aus der Augustinischen mystologischen Tradition, der nach dem Wort des Augustinus die Affekte als Verräumlichungen, als dreidimensionale Verortungen der Tätigkeit der selbst ja nicht räumlichen Seele (so De quantitate animae 3) im Leiblichen gelten: als Verwirklichungsräume für die Geistseele, animo loci, wie Augustinus sagt. Aufzeigen möchte ich das am Beispiel der affektiven Wirkung des Gottesbeweises (besser: des unum argumentum) im Proslogion des Anselm von Canterbury, eines Denkers, der, wie er selbst sagt, mit seinem philosophischen Werk eigentlich nichts anderes möchte, als schon bei Augustinus Gesagtes im Durchdenken wiederholend zu festigen. 4 Die Frage wird sein: Welchen Wert hat die unerschütterliche Erkenntnis Gottes, wenn sie mich nicht begeistert? Was, wenn das, was ich begreife, mich nicht ergreift? Wenn das sichere Wissen (die sichere Gewissheit) um Gottes Existenz mich kalt lässt? Was, wenn die cognitio experimentalis ausbleibt?

1.

Die Affekttheorie in den Schriften Anselms

Affekt bei Anselm lässt sich bündig als ›Gefühlsantrieb‹ wiedergeben 5: ›Antrieb‹ ist dabei als gleichermaßen aktivisch und passivisch zu verstehen, als ›Antrieb, der von/aus den Gefühlen kommt‹ und als ›das, was die Gefühle antreibt, in Bewegung bringt‹. Will sagen: Affekte haben mit Gefühlen (und zwar durchaus als körperlichen, leiblich lokalisierbaren Ausdrucksformen der geistigen Tätigkeit) zu tun, sie gehen aber nicht in ihnen auf. Nehmen wir zwei Beispiele, die in Anlehnung an ähnliche Beispiele in Platons Philebos (32b–35d) zeigen, wie Affekte angeregt werden und ihrerseits auch anregen: Erinnerung (geistige Ausübung) an Unrecht macht einen wütend (angeregtes Gefühl), affiziert einen also; die Vorstellung (geistige Tätigkeit), Angst zu haben, macht einem selbst schon Angst (Gefühl). Es gibt hier eine gegenseitige Einflussnahme, Konditionierung, Hervor3 Vgl. in De quantitate animae das Beispiel mit Punkt und Kreis (12,19; PL 32,1046) und das Fazit zur Frage in 30,61 (PL 32,1069). 4 Vgl. dazu und zur Zitierhäufigkeit Rolf Schönberger: Anselm von Canterbury. München 2004, S. 23. 5 So der terminologische Vorschlag bei Siegfried Karl: Ratio und Affectus. Rom 2014, S. 12 und öfter.

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rufung, eine Andeterminierung; und mehr noch: in beiden Fällen zeigt sich ein konkomitantes körperliches Verhalten, das den Gefühlsantrieb ausdrückt, verstärkt und bis zu einem gewissen Grade mitformt, so dass dieser Körperzustand mit dem Gefühl in der Selbstwahrnehmung geradezu verwechselt werden oder als Metapher für die geistige Bewegung stehen kann (wie das Bild der ›Schmetterlinge im Bauch‹ für heftige Liebe). Insbesondere beim Beispiel mit der Angst ist zu sehen: Geistige Tätigkeit bezieht sich mitunter auf einen Affekt, dessen Kenntnis vorausgesetzt ist (man muss also bereits einmal erfahren haben, was Angst ist), und somit ruft die geistige Tätigkeit des sich Vorstellens ein Gefühl, nämlich Angst, hervor, das sie andererseits aber für ihren Vollzug (das sich Vorstellen), bereits kennen, erfahren haben, also als Bezugspunkt aus der Erfahrung voraussetzen muss: Die Konditionierung, die Einflussnahme ist gegenseitig, zum guten Teil reziprok. Nun gibt es in dieser gegenseitigen Offenheit von Geisttätigkeit und Affektivität, und auch darin stimmt Anselm mit Augustinus überein, insbesondere ein geistiges/seelisches Vermögen, das diese intensive Bezugnahme auf die Affekte aufweist, nämlich den Willen. Eine eindrückliche und äußerst detailreiche Studie dazu hat in jüngerer Zeit Siegfried Karl in seinem Buch Ratio und Affectus vorgelegt, dem ich hier für die Darstellung der Affektlehre des Anselm von Canterbury und ihres Bezugs zur Willenslehre auch im Wesentlichen folge. 6 Nehmen wir den Willen als geistiges Vermögen der freiwählenden, spontanen Selbstausrichtung im Handeln und im Leben als Ganzem, so wird die Beziehung zu den Affekten klar: Der Wille bedient sich der natürlichen Affekte als hilfreicher Antriebsmomente. In kürzester Zusammenfassung vorgestellt verhält sich das so: Der Wille leitet als geistiges Vermögen das Handeln, ja im besonderen Falle Einzelhandlungen oder episodale Komplexe von Handlungen übergreifend die ganze Existenz des Menschen und richtet sie in eine bestimmte Richtung aus. Die Affekte springen gleichsam auf diese Willenstätigkeit an. Siegfried Karl spricht in seiner Charakterisierung der Affekte deswegen von einem ›Angetansein‹ von dem, was die Willenswahl in Aussicht stellt. 7 In einem militärischen oder politischen Für Belegstellen aus dem Corpus der Schriften Anselms sei ebenfalls auf die von Karl jeweils angegebenen Stellen weiterverwiesen. 7 So Karl 2014, S. 24 f. und öfter. 6

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Vergleichsbild ausgedrückt, sind die Affekte also wie die Gefolgschaft eines Anführers (des Willens) – mit allen guten und gefährlichen Eigenschaften so einer Gefolgschaft: Sie macht positiv die Stärke und Schlagkraft des Anführers aus, wenn dies auch in anonymer und oft nachgerade unberücksichtigter Weise (Brechts ›Caesar hat Gallien erobert. – Er allein?‹ drückt das in einer bekannten Bemerkung aus); diese Gefolgschaft identifiziert sich (meist zunehmend) mit der Sache ihres Anführers, von der sie ›angetan‹ ist, und ist somit verstärkender Antrieb seiner Tätigkeit und Bestätigungselement seiner Richtungsgebung. Eine solche Gefolgschaft kann aber genauso zum Selbstläufer werden, sich über das Maß des Vorgegebenen in ihrem Angetansein radikalisieren und dann den Anführer mehr treiben als ihm folgen; sie kann gleichsam zur Bürde für den Anführer werden, der sich jetzt an dieser Gefolgschaft mehr orientieren muss als am als besser Eingesehenen; die Gefolgschaft wird somit zum dominierenden Faktor, gegen den ›von oben‹ nichts mehr ausgerichtet werden kann – wie Alexander der Große am Hyphasis seinem Heer folgen musste statt umgekehrt. Hier also würde, wenn wir das Bild zurückauflösen, das Affektleben zum Antrieb, ja nachgerade zur Hatz für den Willen werden, dessen Tätigkeit dann nicht mehr frei wäre. Augustinus, um ihn noch einmal anzuführen, stellt diese Situation angesichts der libido dar, die sein Leben nach und nach so zu dominieren vermochte, dass er sich nicht mehr willentlich dagegen verhalten konnte. Die Lösung für Augustinus bestand dann darin, so schildert er es, einen »neuen Willen« (nova voluntas) und somit eine neue Lebensausrichtung anzunehmen, die eine ganz andere, neue Affektkultur im/zum Gefolge hatten. 8 Bei Anselm von Canterbury ist nun aber vor allem der zuerst genannte Fall ins Auge gefasst: Die Affekte werden bei ihm häufig als die effektive Gefolgschaft des Willens im Kampf um die rechte Handlung oder Lebensausrichtung aufgefasst. Siegfried Karl resümiert: »Der affectus stellt gegenüber der jeweils gewollten Handlung eine existentielle Strebenskraft dar, in der die einzelnen Akte mit den Grundneigungen und Strebungen des Wollenden in Beziehung stehen. […] Der affectus verVgl. z. B. Confessiones VIII 5,10 (PL 32,753). Dazu Johannes Brachtendorf: Die Emotionen bei Augustinus. In Ch. Schäfer/M. Thurner (Hg.): Passiones animae. Die Leidenschaften der Seele in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie. Berlin/ Boston 22014, S. 13–30, insbesondere S. 21–25.

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bindet die eigenen voluntativen Handlungen mit dem Innersten der Person, ihren Charaktereigenschaften, Dispositionen und Neigungen«. 9

Der affectus bringt also die emphatische Zustimmung/Ablehnung zum Ausdruck, die eine (Nicht-)Übereinstimmung mit dem als eigenem identifizierten und bejahten Handlungs- oder Existenzziel bedingt. Plakativ könnte man sagen: Der Affekt verbindet das geistig einsehbare, der menschlichen Natur allgemein entsprechende Gute mit dem Naturell des einzelnen Menschen. Wie Augustinus interessiert sich Anselm daher in seiner Emotionenlehre vor allem für die personalen, den gesamten Existenzentwurf abbildenden Affekteigenschaften, die sich dem Willen (bei Augustinus auch gerne: der Liebe als Intensivfall des Wollens, des ›sein Herz an etwas Hängens‹) als rationaler Lebensausrichtung anformen und sich somit von den biologisch-natürlichen, relativ unqualifizierten (und moralisch neutralen) Affekten abheben. Affekte sind dann als positiv oder negativ zu werten, je nachdem, welchem willentlichen Lebensentwurf sie aussagefähig entsprechen. Anselm rekurriert hier einmal mehr auf Augustinus, in diesem Fall auf dessen Auseinandersetzung mit den Stoikern in der Affektlehre: Affekte sind per se indifferent (und keine ›Krankheiten der Seele‹, wie unter den Stoikern als Lehrmeinung vertreten); Affekte können aber je nach Ausprägungs-, Auftretens- oder Einsatzart gut sein, d. h. zum Gelingen menschlicher Existenz beitragen (und deswegen sind sie etwas Gutes, oder zumindest: es ist gut, sie zu haben). Es geht Anselm, wenn er von Affekten spricht, also nicht um rasch auftretende und wieder abklingende psychische Empfindungserlebnisse (›Gefühlsaufwallungen‹), die für das menschliche Leben eigentlich nichts aussagen, durchaus ›untypisch‹ sein können und damit philosophisch eher uninteressant sind, da sie der Existenzausrichtung nicht entsprechen, oder wenn, dann nur zufällig und zum Beispiel umstandsgeschuldet. Vielmehr geht es Anselm um anhaltende emotionale Bewegungen, die in ihrer Persistenz als für einen Menschen eigenschaftlich gewertet werden können. Anselm spricht dann vom continuus affectus. Intensität, Quantität und Qualität der Affekte hängen beim Menschen also von seiner Lebenswahl und deren konstanter Verfolgung ab. Idealiter wäre es daher so, dass man aus der Affektökonomie eines Menschen auch seine geistige Auf9

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machung und seine entsprechende Lebensausrichtung identifizieren kann, dass man aus seinem Affektgebaren auch absehen kann, wes’ Geistes Kind er ist. Bestenfalls, aber als Anspruch durchaus auch aus der alltäglichen Erfahrung einleuchtend, wäre es daher so, dass man zum Beispiel die Reaktion eines Menschen aus seiner existentiellen Aufmachung als ›zu erwarten‹ oder ›folgerichtig‹ ablesen kann. Wir sagen dann ganz natürlicherweise Dinge wie: »Er hat in diesem oder jenem Fall affektiv so reagiert, wie man als überzeugter Idealist (oder als echte Kämpferin oder als verantwortlicher Vater) eben reagiert«. Für das Thema der cognitio experimentalis ist auf dieser Grundlage der Affektlehre nun insbesondere Folgendes im Auge zu behalten: Anselm erkennt eine Wechselbeziehung zwischen der körperlichen Seite der Emotionen/Affekte und ihrer geistigen. Beim Menschen kann das eine, die geistige Bewegung, ohne das andere, die affektive Bewegung, nicht sein – und das hat auch seinen Sinn: die Affekte des sinnlichen Begehrens (desiderium), die etwa Tiere zu ihrem Tun antreiben, sind affekttheoretisch auch genau der natürliche Antrieb, den Wille und Liebe beim Menschen brauchen, um die vernünftige Lebensausrichtung nicht kraftlos/labil bleiben zu lassen. Bei Tieren ergeben sich die Affekte, grob gesagt, aus dem Instinkt (als allgemeinem, externem Existenzausrichtungsprinzip, das allen Mitglieder der Spezies in gleicher Weise eigen ist 10) und entsprechen ihm; beim Menschen ergeben sich die Affekte außerdem – und für Anselm eben besonders interessant – aus der Willensausrichtung (d. h. einem individuellen und internen Existenzausrichtungsprinzip) und entsprechen ihr. Wir haben es also zunächst einmal mit folgendem Ablaufschema zu tun, aus dem ersichtlich wird, wie geistige Tätigkeit mit den Affekten in ihren körperlichen und unkörperlichen Auswirkungsaspekten interagiert: Der Wille (als Wahlinstanz der Handlungs-/Lebensausrichtung) wirkt auf die affektive Seite des Menschen (dies ist das ›Angetansein‹

So haben Lebewesen, die ihren Nachwuchs artanlagegemäß aufziehen, entsprechend fürsorgliche Affekte, während solche, denen das artanlagegemäß nicht obliegt (wie etwa Lachse oder Monarchfalter), diese Affekte nicht ausgeprägt haben. Es ist für die Willensausrichtung des Menschen dabei keineswegs einerlei, dass er ein Lebewesen der Art ist, dass er seinen Nachwuchs aufzieht: vgl. dazu, sehr interessant in der Bestandsaufnahme einer moralischen Diskussion, Candace Vogler: Reasonably vicious. Cambridge/Mass. 2002, S. 57.

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von dem, was durch die Wahl für das Leben in Aussicht gestellt ist 11). Im ›Angetansein‹ von dem, was der Wille in Aussicht stellt, richtet sich der Emotionenhaushalt darauf hin ein, wird zur ›Gefolgschaft‹ des Willens. Folge dieser Eigenart als dezidierte Gefolgschaft ist eine prima facie vielleicht erstaunliche, jedoch gut erklärbare Konstanz des Emotionenhaushalts, der den Willen ›bewahrt‹ – d. h.: vor plötzlichen Fehlleistungen schützt und gleichzeitig konstant in einer Richtung festigt (dies entspricht dem affektiv geformten Naturell, das den Menschen in seiner Willens-/Lebenswahl kennzeichnet). Somit ergibt sich aus der Betrachtung der Affekttheorie ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis für das Thema der cognitio experimentalis: Denn positive Affektwirkungen sind demnach gemäß Anselm zum Beispiel: ›Anstrengungs- oder Durchhaltevermögen‹ (conatus), ›Bemühungsfähigkeit‹ (industria, studium), ›Ausrichtungskraft‹/›Zieltreue‹ (intentio), ›Entschlossenheit‹ (strenuitas). 12 Affekte wirken also auf unsere geistige Tätigkeit und fordern, fördern und stärken sie: Sie bewirken Entschlossenheit für die geistige Tätigkeit, stärken Belastbarkeit in der geistigen Tätigkeit und verstetigen und intensivieren den Bemühungsantrieb im geistigen Tätigsein. Es gibt aber noch einen weiteren Punkt, auf den Anselm in diesem Zusammenhang Wert legt: Ich führe ihn hier ergänzend an, weil das Proslogion in Form eines Gebets gehalten ist und fast durchgehend an der Anredeform ›Du‹ an Gott festhält. Das ›Angetansein‹, d. h. die affektive Übernahme des für die Lebensausrichtung Vorbezeichneten, die in die emotionale Übereinstimmung mit dem Willensentwurf mündet, ist nämlich nach Anselms Darstellung auch das Prinzip der affektiven Resonanz, des menschlichen gegenseitigen Angetanseins voneinander, des mutuus affectus. Ein Mensch ersieht also im anderen eine passgenaue Ergänzung für die eigene Lebensausrichtung und übernimmt diese Einsicht auch affektiv; die affektive Übernahme (das Angetansein) sichert auch die Konstanz über Krisen und Gefährdungen hinweg; hier wird besonders deutlich: nicht momentane, begrenzte Gefühlsaufwallungen, sondern der affectus continuus ist fürs Leben – in diesem Fall für die ›soziale Interaktion‹ als dessen Komponente – eminent wichtig. Auch hier zeigt sich dann gerne und gut nachvollziehbar die definitionsgemäße leiblich-geistige Bipolarität des Affektiven. 11 12

Vgl. Karl 2014, S. 24 ff. Vgl. Karl 2014, S. 23 f.

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Anselm sieht hier nun insbesondere auch die religiöse Affektivität wie etwa den Ernst oder die Inbrunst beim Gebet grundgelegt: Es ist ein Gefühlsausdruck des Angetanseins, das von einer geistigen, lebensausrichtenden Operation ausgeht und den Affekt zu Hilfe nimmt. Religiöse Inbrunst oder Hingabe gilt Anselm also als Gefühlsausdruck, durchaus auch als körperlich dimensionierter Bewegungsausdruck, einer intensiven emotionalen Übereinstimmung mit einer leitenden Überzeugung. Für das Kapitel 14 des Proslogion, das im Nachstehenden zum Gegenstand der Interpretation werden wird, ist dieser Aspekt von einiger Bedeutung. Um die affektiv-geistige Bipolarität, wie sie also zum Beispiel in der Abstimmung des Gefühlsausdrucks mit einer leitenden Überzeugung wirksam ist, besser zu beschreiben, unterscheidet Anselm im Menschen zwei Grundströmungen des Affektlebens (affectiones) 13: einmal eine ›Grundneigung zum Angenehmen‹ (affectio ad commodum), die den natürlichen Neigungen der Tiere (desiderium) gleicht. Diese affectio ist moralisch indifferent: schlicht das Begehren des Angenehmen, Passenden, commodum, und das Vermeiden des incommodum wird von entsprechenden Affekten angezeigt. Von dieser Grundneigung zum Angenehmen setzt Anselm eine ›Grundneigung zur Rechtheit‹ (affectio ad rectitudinem) ab, die einem geistigen Angetansein entspricht und das Angenehme rational qualifizieren, ›zurechtbiegen‹, aber nicht ersetzen kann: Gedacht ist dabei etwa an die motivierende Emotion, die man erfährt, wenn man versteht, dass das, was man tut, richtig ist, dass es mit dem Gelingen des eigenen Lebens in korrektem Zusammenhang steht. Ein traditionelles Beispiel hierfür ist das Almosengeben: Es wird begleitet von einem positiven, erfreulichen Affekt, ohne dass das Almosengeben per se einem commodum entspräche; vielmehr ist es der Aspekt der Richtigkeit des Tuns, das den Affekt zum Begleiter hat und womöglich zum Beispiel ein richtiges Verständnis, vielleicht auch nur eine richtige unthematische Auffassung vom eigenen Affektleben angesichts des oben kurz besprochenen affectus continuus betreffs sozialer Interaktion mitverarbeitet. 14 Beides, affectio ad commodum und

Vgl. Karl 2014, S. 58–60. Für die Moraltheorie Anselms ist der rectitudo-Begriff ein zentraler Terminus, wenn nicht sogar der zentrale Begriff. Zur Erläuterung und Diskussion vgl. die Ausführungen zur »awareness of rectitudo« bei Sandra Visser/Thomas Williams: Anselm. Oxford 2009, S. 201–211; vgl. auch Karl 2014, S. 46–50.

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affectio ad rectitudinem, entspricht nun aber deutlich dem Willen in seiner Aufmachung. Dessen Charakteristika sind ja ebenfalls kräftige Neigung und geistige konditionierende Wahl. Genau diese affectio ad rectitudinem, die positive Emotion des Angetanseins von dem, was man tut und die vor dem Hintergrund des gerade über die Affekttheorie Anselms Gesagten als Indikator des Richtigen fungieren kann (der rectitudo also) – genau dieser Affektbereich wird nun aber für die Frage nach der Gotteserkenntnis als cognitio experimentalis interessant: Was nämlich, wenn der affektive Indikator der Richtigkeit bei einer lebensentscheidenden Erkenntnis, bei einer für alles andere grundlegenden, einer ›letzten‹ Erkenntnis, ausbleibt? Doch zuerst eine abschließende Zusammenfassung des zur Affekttheorie bei Anselm Gesehenen 15: Affekte sind also (1) Konfigurationen des Geistigen (v. a. des Willentlichen) mit Ausdruckskomponenten im Leiblichen, das heißt als körperliche Veränderungsbewegungen spürbar. Ein (menschlicher 16) Affekt ist somit ein ›verräumlicht auszumachendes Angetansein‹ vom Resultat einer geistigen Tätigkeit, ein Gefühlsantrieb (passivisch), der sich einer geistigen Tätigkeit verdankt. (2) Als solche Konfigurationen sind Affekte in Einzelformen fassbar (Furcht, Freude, etc.), wovon aber bei Anselm nur langanhaltende, prägende in den Blick genommen werden (affectus continuus); (Furcht, Freude und Ähnliches kann ja beides sein: passatorisch und ohne Konstanz oder durativ, kontinuierlich, und das wird beim Thema der cognitio experimentalis ebenfalls eine Rolle spielen). (3) Es gibt zwei Grundströmungen von Affekten (affectiones), die sich aspektuell unterscheiden: eine ›Grundneigung zum Angenehmen‹ (affectio ad commodum), die einem Angetansein in Bezug auf natürlich Passendes entspricht, und eine ›Grundneigung zur Rechtheit‹ (affectio ad rectitudinem), die einem Angetansein in Bezug auf passendes Geistiges entspricht.

Vgl. dazu Karl 2014, S. 38–40. Wie bei der geistigen Tätigkeit ist bei den Affekten jeweils ein sui generis-Unterschied zu machen zwischen dem Menschlichen und dem, was etwa reine Geistwesen wie Engel betrifft.

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(4) Positive Affektwirkungen sind demnach gemäß Anselm: ›Anstrengungs-/Durchhaltevermögen‹ (conatus), ›Bemühungsfähigkeit‹ (industria, studium), ›Ausrichtungskraft‹/›Zieltreue‹ (intentio) sowie ›Entschlossenheit‹ (strenuitas). Dadurch sind Affekte auch aktive Gefühlsantriebe, aus dem Gefühlsleben stammende Impulse für die geistige Betätigung. Und auch dies hat seinen Austrag für die cognitio experimentalis, wie noch zu sehen sein wird. (5) Affekte als Gefühlsantriebe sind per se moralisch indifferent (keine ›Krankheiten der Seele‹). Affekte können aber je nach Ausprägungs-, Auftretens- oder Einsatzart gut sein, d. h. zum Gelingen menschlicher Existenz beitragen; jedenfalls ist es gut, sie zu haben. Dass Affekt und Wille (als geistiges Vermögen zu praktischer Entscheidung/Ausrichtung) miteinander in Verhältnis stehen, wird daraus deutlich.

2.

Der Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Affekt im Proslogion

Die Korrespondenz, das gegenseitige Ergänzungsverhältnis von Affekten als (leiblich lokalisierbaren) Gefühlsantrieben und dem Willen als geistigem Vermögen der Handlungs- und Lebensausrichtung dürfte aus der eben gegebenen Skizze der Affekttheorie bei Anselm klar geworden sein: Der Wille fungiert als aktiver Gefühlsantrieb und gibt den somit hervorgerufenen Affekten ihre bewertbare Form allein schon dadurch, dass sie ›seine‹ Gefühlsregungen sind. Gleichzeitig konditionieren und regulieren die Affekte aktiv den Willen. Zunächst einmal in den einzelnen Willensäußerungen: ohne Gefühlsregung wäre der Wille als geistiges Vermögen steril und ohne effektiven Antrieb: unser Wille nach Gerechtigkeit etwa wäre ein laues und vielleicht eben kaum handlungseffektives, also kaum jemals in sichtbare Vollzugswirklichkeit umgesetztes Streben ohne eine gehörige Portion adrenalinfördender Indignation, die der Wille hier natürlicherweise begleitend als Affekt hervorruft und die wir normalerweise ›Zorn‹ nennen. Außerdem aber konditionieren die Affekte den Willen auch als lebensausrichtendes Strebensvermögen: Sie halten den Willen effektiv – man könnte fast sagen: – bei Laune, sie bieten ihm ein emotio164 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

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nales Flussbett, das ihn auf Kurs hin zur einmal als richtig angestrebten Zielsetzung für das Leben hält. Hat der Wille den Affekthaushalt erst einmal hinsichtlich eines erfassten und punktuelle Gemütslagen oder Einzelepisoden übergreifenden Strebensziels eingerichtet, so fällt es dem Willen schwer, aus diesem Affekthaushalt auszuscheren. Das Beispiel im Hintergrund ist die Beschreibung der konditionierenden Macht der libido bei Augustinus in den mittleren Büchern der Confessiones. Die Korrespondenz zwischen Affekten und dem geistigen Vermögen des Willens ist also klar und ergibt sich auch plausibel aus der Affektlehre Anselms: Affekte haben rückwirkend Bewandtnis für geistige Tätigkeit, genauso wie geistige Tätigkeit eine bewirkende Bewandtnis für die Affekte. Ein bedenkenswerter Sonderfall der Diskussion um Affekte/ Emotionen findet sich nun im Kapitel 14 des Proslogion. Und das eigentlich auch durchaus folgerichtig. Die Frage hier ist schlicht: Muss denn das, was für die Affektkorrespondenz des praktischen geistigen Vermögens gilt, nicht auch für das theoretische geistige Vermögen, die Verstandeserkenntnis, gelten? Zumal, wenn man das praktische und theoretische geistige Vermögen nicht als zwei verschiedene Vermögen, sondern als zwei Seiten/Aspekte/Ausprägungen ein und desselben Vermögens ansieht? Was also, wenn Einsicht, zumal eine lebensentscheidende, für alle anderen Geisttätigkeiten grundlegende, einen kalt lässt? Was, wenn theoretische Erkenntnis ›einen kalt lässt‹, wenn sie keinen emotionalen Gehalt hervorruft, wenn sie keine konkomitante affektive Bewegung verursacht, wenn das Angetansein davon ausbleibt? Es ist diese Frage, die Anselm zu Anfang des 14. Kapitels des Proslogion stellt, also genau am Scheitelpunkt, der Mitte der 26 Kapitel der Schrift: an invenisti anima mea quod quaerebas? quaerebas deum et invenisti eum esse quiddam summum omnium quo nihil melius cogitari potest. […] nam si non invenisti Deum tuum quomodo est ille hoc quod invenisti et quod illum tam certa veritate et vera certitudine intellexisti? si vero invenisti quid est quod non sentis quod invenisti? cur non te sentit Domine Deus anima mea si invenit te? 17

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OpOmn I 111,8–15.

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In der Übersetzung von Robert Theis: »Hast du nun gefunden, meine Seele, was du suchtest? Du suchtest Gott und fandest, dass er etwas ist, das alles überragt, über das hinaus nichts Besseres gedacht werden kann […]. Wenn du deinen Gott nicht gefunden hast, wieso ist er das, was du gefunden hast und als was du ihn mit so sicherer Wahrheit und wahrer Sicherheit verstanden hast? Hast du aber gefunden, wie kommt es, dass du nicht fühlst, was du gefunden hast? Warum, Herr und Gott, fühlt meine Seele Dich nicht, wenn sie Dich gefunden hat?«

Tatsächlich kann man das Proslogion so lesen, dass nach den ersten dreizehn Kapiteln, den Kapiteln, in denen es um die richtige Erkenntnis vom Dasein und Wesen Gottes geht, die dreizehn Kapitel des zweiten Teils der Schrift die existentielle Bewandtnis dieser richtigen Erkenntnis befragen und einholen wollen. 18 Fernziel ist das lebenserfüllende gaudium über die Erkenntnis Gottes, das Gegenstand der Abschlusskapitel des Proslogion ist. Dass Anselms Frage nach der Bewandtnis seines unum argumentum angesichts des Affektausbleibs also so spät, erst im Kapitel 14 des Proslogion, auftaucht und nicht als unmittelbare Reaktion der Verwunderung gleich im Anschluss an das unum argumentum auftritt, hat durchaus seinen Sinn: Erstens in der Affekttheorie selbst. Der unmittelbare, momentane und nichtanhaltende Affekt ist für Anselm wie gesehen nicht aussagefähig. Es muss ein bleibender, absehbarer Weise andauernder Affekt, ein affectus continuus, ein eine beharrende Haltung kennzeichnender Affekt sein, wenn er für das philosophische Begreifen eine Rolle spielen soll. Zweitens hat die Verzögerung der Frage kompositorische Gründe: Das Proslogion erfährt hier einen neuen Auftakt, die Frage macht aus der Schrift ein Diptychon. Das Problem des Ausbleibens des zu erwartenden Affektgehalts einer existenzbetreffenden Erkenntnis zwingt den Denker, seine Überlegungen noch einmal in voller Länge intensivierend durchzugehen. Es geht also darum, die durch das Argument erbrachte theoretische Gotteserkenntnis über einen affektiven Gehalt existentiell zu 18 Vgl. Robert McMahon: Understanding the Medieval Meditative Ascent: Augustine, Anselm, Boethius and Dante. Washington D.C. 2006, S. 174–178, und öfter. Dass das Kapitel 14 eine Scheidemarke im Proslogion darstellt, ist wiederholt festgestellt worden: Vgl. dazu die Revue der Stellungnahmen bei Karl 2014, S. 734–737. Wie das einzuordnen ist, hat allerdings keinen sichtbaren Konsens erbracht.

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legitimieren. Nicht zu vergessen: Am Anfang des Proslogion war der Ausgangspunkt für diese Gotteserkenntnis eine existentielle Beunruhigung, jedenfalls stellt Anselm das so dar: wie kann ich verstehen, was ich erlebe? Es ist das Motiv der fides querens intellectum. 19 Diese Fragehaltung bestimmte also den ersten Teil des Proslogion. In der Mitte des Werks hält Anselm dramatisch inszeniert inne: Bin ich nun durch das gewonnene Verstehen des Erlebens nicht verlustig gegangen? Neuplatonisch gesprochen: Hatte der kataphatische Prozess des Verstehens einen gleichzeitigen apophatischen Regress des Erlebens zur Folge? Sind nun Verstehen und Erleben unversöhnbar auseinandergetreten? Es ist das Problem der cognitio experimentalis, das sich Anselm hier stellt. Und somit tut sich für Anselm im Proslogion unweigerlich die Frage auf: Wie kann ich denn nun erleben, was ich verstehe? Diese Frage gibt die Programmatik des zweiten Teils des Proslogion vor. Die Frage nach dem Affektausbleib und die damit korrespondierende Programmatik der cognitio experimentalis geben dem Proslogion seine zweigeteilte Struktur: Die apophatische Bewegung muss zu einer kataphatischen Bewegung zurück zum Erleben führen. Zu einem Erleben freilich, das jetzt auf Grundlage des Verstehens ganz anders qualifiziert ist. Die ›Dialektik‹ von Erkenntnisgewinn und Affektausbleib entspricht im Übrigen ganz deutlich einem weiteren mystischen Motiv, oder besser gesagt, einem Motiv, das aus der theologischen Mystologie bekannt ist und auch bei Augustinus anzutreffen ist: nämlich dem Motiv des als überall anwesend gewussten und dennoch als vollkommen abwesend empfundenen Gottes, des absens praesens, des Nahen und doch Fernen. Die emotionale Leere, die der Affektausbleib als schmerzlich angesichts des zu erwartenden Guten für Anselm darstellt, korrespondiert dem Teilmotiv des Deus absens. Tatsächlich wird Gott anderswo im Prosolgion dann als das identifiziert, was affektiv aus seiner Erkenntnis zu erwarten gewesen wäre und daher in Kapitel 14 von Anselm so schmerzlich vermisst wird: als gaudium, laetitia und Ähnliches. Dem Motiv des Deus praesens korrespondiert Anselm von Canterbury, Proslogion, praefatio, OpOmn I 94,2–7: Et quoniam nec istud nec illud cuius supra memini dignum libri nomine aut cui auctoris praeponeretur nomen iudicabam nec tamen eadem sine aliquo titulo quo aliquem in cuius manus venirent quodam modo ad se legendum invitarent dimittenda putabam unicuique suum dedi titulum ut prius ›Exemplum meditandi de ratione fidei‹ et sequens [scil. das Proslogion] ›Fides quaerens intellectum‹ diceretur.

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die Sicherheit der Erkenntnis, das Fassen des entscheidenden Gedankens, die vera certitudo aus dem unum argumentum. 20 Gerade als absens-praesens wird Gott für Anselm aber auch zu dem, als den er ihn an dieser entscheidenden Stelle auch deutlich anspricht: nämlich als reformator meus (OpOmn I 111,32), was, zunächst in einen protologischen Kontext gestellt, im Zusammenhang der Gesamtkomposition deutlich ausdrückt, wie die vera certitudo und die affektive absentia in Bezug auf die Gotteserkenntnis in einer reformatio zu einer Neukonfiguration des philosophischen Denkwegs führen. Anselm spielt das also anhand seiner eigenen Reaktion auf das Auffinden seines Arguments für die Existenz Gottes durch: Dieses Argument erbringt »eine gewisse Wahrheit und eine wahre Gewissheit«, wie er sagt (eine certa veritas und eine vera certitudo 21); doch was, wenn diese, also Wahrheit und Gewissheit, nicht ›begeistern‹ ? Dass eine geistig gewonnene Überzeugung nicht auch von sich angetan sein lässt, macht Anselm nach all dem, was seine Affektlehre an Voraussetzungen mitbringt, an dieser intellektuellen Überzeugung zweifeln, nach ihrem Status und ihrer Berechtigung fragen. Dieser Zweifel führt im zweiten Teil des Proslogion wie ein Stachel im Fleisch zu einem neuen Erkenntnisanlauf, der kompositorisch eher noch als der erste Teil einem Sprechen mit, als einem Sprechen über Gott ähnelt und damit die grammatische Form, die in der Schrift von Anfang an vorherrscht (nämlich die direkte Anrede an Gott) und ihr auch den Titel gegeben hat (Proslogion, »Anrede«), vielleicht besser einlöst als der erste Teil. Robert McMahon hat in diesem zweiten Teil daher mit einiger Berechtigung das Anliegen und die Absicht eines »mystischen Aufstiegs« erkennen wollen und die ›Dramatik‹ in der Anlage des Proslogion mit dem bereits in der Bekehrungsmotivik bei Augustinus verwendeten Gleichnistext vom Verlorenen Sohn Wie so vieles in Kapitel 14 des Proslogion, so ist auch diese absens-praesens-Dialektik eine motivische Doublette zum Kapitel 1 und charakterisiert das Kapitel 14 als das ›zweite erste Kapitel‹ des Werks: Domine si hic non es ubi te quaeram absentem? Si autem ubique es cur non video praesentem? (OpOmn I 98,2–3) – Weitere solche Motivanklänge ans erste Kapitel im ›Reset‹, das die Kapitel 14–18 für Anselms Denkbewegung bedeuten, sind das Motiv vom Suchen des Angesichts Gottes, von der Ferne, von Finsternis und vom ›unzugänglichen Licht‹, von Hungern, Dürsten, Schmachten, der misera sors hominis, des peccatum in Adam, etc. Eine systematische Aufstellung findet sich bei Karl 2014, S. 914–915. 21 Es gibt einige Bezüge zwischen Affekt und certitudo bei Anselm, die aber zumeist über die Absichten dieser Untersuchung hinausgehen. Ich verweise dazu lediglich wieder einmal weiter auf die Belege bei Karl 2014, S. 31 f. 20

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in Beziehung gebracht. 22 Der ›Trick‹ besteht darin, den lateinischen Gleichnistext aus dem Lukasevangelium (15,17–20) vor allem in den Versanfängen zu lesen: 17 in se autem reversus dixit quanti mercennarii patris mei abundant panibus ego autem hic fame pereo 18 surgam et ibo ad patrem meum et dicam illi pater peccavi in caelum et coram te 19 et iam non sum dignus vocari filius tuus fac me sicut unum de mercennariis tuis 20 et surgens venit ad patrem suum … »Er ging in sich und sagte: […] ›hier vergehe ich vor Hunger. Ich will mich auf(wärts)richten und hin zu meinem Vater gehen und ihm sagen: […] ich bin es nicht wert, dein Kind zu heißen […]‹ ; und indem er sich erhob/aufwärtsging, kam er zu seinem Vater …«.

Drei tragende Motive können hier als ›verwertbar‹ für die Beschreibung des inneren Erlebens eines ›Aufstiegs‹ in der traditionellen christlichen Mystologie identifiziert werden: Erstens die Verzweiflung (meist als Gottferne), die zweitens ein in sich Gehen bedingt (meist als Abkehr von der ›äußeren‹ Welt, um die ›innere‹ walten zu lassen 23), was drittens einen Wiederaufstieg (meist zur Gottnähe) anstößt. Das Gleichnis schildert eine körperliche Not, die eine Abkehr vom gerade Gegebenen als dem Trümmerzustand eines eigentlich fürs Leben erreicht Vermeinten zur Folge hat und als solche wiederum die erste Phase einer Heimkehr ist. Das gleiche Motiv zeigt sich bei Anselm im Proslogion als eine emotionale Not dargestellt, die eine Abkehr von einem eigentlich zur Erkenntnisbefriedigung als erreicht Vermeintem zur Folge hat und als solche wiederum die erste Phase einer Rückkehr zum eigentlichen Vorhaben der geistigen Bemühungen Anselms im Proslogion ist.

Vgl. McMahon 2006, S. 194 f. Zur Motivverarbeitung bei Augustinus sh. Leo C. Ferrari: ›The Theme of the Prodigal Son in Augustine’s Confessions‹, Recherches Augustiniennes 12 (1977), S. 105–118. 23 Was hier an Gleichnismotivik im Hintergrund steht, zeigt neben vielen anderen Bezügen einmal mehr, dass das Kapitel 14 des Proslogion tatsächlich in seiner Symbolsprache und Bildverwendung an das erste Kapitel anschließt und somit einen ›zweiten Anfang‹ markiert. So nimmt, um nur dieses Beispiel hier aufzugreifen, dieses nochmalige in sich Gehen etwa ganz deutlich das intra in cubiculum mentis tuae (auch dem liegt ein Bibelwort zugrunde: Mt 6,6) aus dem ersten Kapitel auf (OpOmn I 97,7). 22

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Wie solche ›Aufstiege‹ in sich gedeutet werden können und ob überhaupt, werde ich hier nicht beantworten wollen. Doch kann ich aufgrund der vorangegangenen Diskussion der Affekttheorie in den Schriften Anselms folgendes Fazit zur Wirkweise des Affektiven für die Motivation, die Methodik oder das Programm der zunehmenden Gotteserkenntnis im Proslogion ziehen, gleichsam als Fazit vor dem Fazit. Ich nehme dabei die mystische Seite des Proslogion-Textes also insofern auf, als Mystik eine bestimmte Methode der Intensivierung von Erkenntnis durch das Ernstnehmen affektiver Bestimmung bedeuten kann, eine cognitio experimentalis, wenn man cognitio nicht als nomen acti, als vollendeten Erwerbszustand oder ›bereits gewonnene Erkenntnis‹, sondern als nomen agentis, also als Vollzugsbezeichnung des voranschreitenden Erkenntniserwerbs versteht. Dazu passt auch, was Anselm über das Motiv der Freude an der Gotteserkenntnis im Proslogion äußert (das Motiv von gaudium und laetitia klang ja oben bereits einmal an). Und ›Motiv‹ ist hier durchaus in einer doppelten Auffassung zu begreifen: als ›motivationale‹ Veranlassung und als ›motivisches‹ Sujet. Bereits im Prooemium des Proslogion hatte Anselm gesagt, die Veranlassung für die Niederschrift des Werks sei gewesen, dass er meinte, das, was er da zur eigenen Freude gefunden habe, könne auch anderen zur Freude gereichen. 24 Dieses ›motivierende Motiv‹ taucht am Schluss des Proslogion, als der ›aufsteigende‹ Neudurchgang, der in Kapitel 14 anhebt, beendet ist, noch einmal auf. Die Struktur, die Anselm dem Ganzen hier gibt, zeigt nun ganz deutlich, wie die emotionale Seite, repräsentiert durch das gaudium, die Erkenntnis motivisch gestaltet und motivational befeuert: »Ich bitte, Gott, gib, dass ich Dich erkenne (cognoscam te) und Dich liebe (amem te), um mich an Dir zu freuen (gaudeam de te).

Die Stelle verschränkt Freude und suchen, verstehen und glauben in dieser ›motivationalen‹ Weise: aestimans igitur quod me gaudebam invenisse si scriptum esset alicui legenti placiturum de hoc ipso et de quibusdam aliis sub persona conantis erigere mentem suam ad contemplandum deum et quaerentis intelligere quod credit subditum scripsi opusculum (OpOmn I 93,20 – 94,2).

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Und kann ich es in diesem Leben nicht zur Vollendung bringen, so lass mich wenigstens Tag für Tag voranschreiten, bis es zur Vollendung kommt. 25 Hier soll das Wissen um Dich in mir voranschreiten, dort soll es vollendet werden; [hier] wachse die Liebe zu Dir, dort soll sie vollkommen sein, damit hier in der Hoffnung meine Freude (gaudium) groß sei und dort in Wirklichkeit vollkommen.« 26

Das gaudium ist also, das wird hier deutlich, als (kinetische) ›Freude auf‹ statt als (katastematische) ›Freude an‹ verstanden. Die erste ist nicht weniger Freude als die zweite, doch ist ihre Auswirkung und Auftretensart eine andere: Um der erhofften katastematischen Freude willen wird die kinetische Freude aktiver Beweggrund, und zwar für das Voranschreiten im Wissen (so zeigt es die grammatische Struktur: proficiat hic in me notitia tui […] ut hic gaudium meum sit). Die Freude in der kinetischen Auffassungsart entspricht somit der Erkenntnis, cognitio oder notitia, in ihrer Auffassung als nomen agentis. Die Verschränkung von affektiver und kognitiver Seite, die für ein Verständnis der cognitio experimentalis am Anfang in Aussicht gestellt wurde, ist somit hier noch einmal von anderer Warte her eingeholt.

3.

Fazit: Affekt und Methode

Wie und in welchem Sinne also wird das Affektive methodisch zur Erkenntnisvertiefung? Fünf Punkte sollen dies zusammenfassend und aufeinander aufbauend verdeutlichen: (1) Wichtig ist: Anselm erkennt hier überhaupt ein Problem. Nicht viele würden ihm da folgen. Doch Anselm besteht darauf: Die Affekte sind nicht als Vermögen sui generis von der Verstandestätigkeit, vom geistigen Vermögen abgetrennt; anders gesagt: im Menschen als geistigem Wesen gibt es kein Vermögen, das nicht mit der Geisttätigkeit in Korrespondenz stünde. Wenn daher eine Wirkung der Verstandestätigkeit auf die Affekthaftigkeit ausbleibt, so fehlt etwas Richtiges und Gutes, das der Verstandesleistung im Sinne eines rectitudo-Erweises eignen sollte. DieAuch hier wieder ein motivischer Aufgriff, der eine Klammer zum ersten Kapitel des Proslogion bildet. Dort hieß es in vergleichbarer Konstruktion: quaeram te desiderando desiderem quaerendo inveniam amando amem inveniendo (OpOmn I 100,10–11). 26 OpOmn I 121,14–18. 25

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ses Fehlen oder Ausbleiben von etwas eigentlich zu Erwartendem und Gutem ist mehr als ein schmerzliches Defizit, es entspricht dafür zu deutlich der Definition absentia boni debiti, also der Definition vom Übel, die Anselm in seiner Schrift De conceptu viriginali, Kapitel 5, gegeben hat. 27 Anselm sieht also die Situation, dass eine unerschütterliche Einsicht nicht eine zu erwartende affektive Reaktion zeitigt, dezidiert und philosophisch aussagefähig als ein Übel an. Und mithin als eine Situation, die ihrer ganzen Aufmachung wegen danach verlangt, behoben und korrigiert zu werden. Anstoß dafür ist der Ausbleib einer emotionalen Bewegung, eines Gefühlsantriebs, und zwar durchaus auch in seiner somatischen Anzeigewirkung, wie es das bewusst eingesetzte Vokabular bei Anselm nahelegt. (2) Genau deswegen hat die Diastase von Erkenntnis und Angetansein eine kritische Funktion in Bezug auf die Erkenntnis; 28 die Erkenntnis muss also Ergänzungen oder Modifikationen erfahren, um das zu sein, was sie sein soll, um das zu leisten, was man von einer solchen Erkenntnis erwarten darf, also um ihr debitum einzulösen. (Auch das ist ja nicht selbstverständlich; es ist ein traditionell ›platonischer‹ Grundzug der affektiven Anleitung des Erkenntnisgewinns, wie aus dem Symposion bekannt). (3) Die Erfahrung der Diskontinuität von Erkenntnis und Affekt wird zum motivationalen Antrieb zu neuer Erkenntnis: Affekte sind Bewegungen der Seele, Gefühlsantriebe. Sie werden von geistigen Vermögen aktiviert/bedingt. Wenn ein Affekt fehlt oder ausbleibt, dann ist es also immerhin möglich, ja eigentlich nachgerade zu erwarten, dass eine zusätzliche Anstrengung des geistigen Vermögens den Affekt aktivieren kann: Tiefere Einsicht verhindert dann, dass Einsicht einen kalt lässt; es deutet sich dann damit auch weitergehend, aber unmissverständlich ein Grundzug dessen an, was in den meisten Definitionen als OpOmn II, 146,24. Karl 2014, S. 912, spricht ebenfalls von einer kritischen und einer motivationalen Funktion des non sentire Deum per affectum und fasst zusammen: »Die Nicht-Erfahrung Gottes per affectum verweist auf die fehlende Kontinuität und Einheit von Erkenntnis und Affekt […]. Die Differenz-Situation, in der genauer gesehen der Hiatus zwischen Erkenntnis und Affekt hervortritt, wird zum Anlass, die bisher gewonnenen Erkenntnisse auf ihre Wahrheit hin zu hinterfragen […] und nach einer tieferen Erkenntnis Gottes zu suchen, in der die Diastase von Erkenntnis und Affekt überwunden wird«.

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Charakterzug des ›Mystischen‹ angenommen wird: der Erkenntnisaufstieg erfolgt aus dem zunächst ernüchternden privativen Zustand des Nichtzustandekommens, der Enttäuschung, des Nichteintretens von etwas Erwartetem, aus einer für Neues bereitmachenden Leere, wie es in der bildhaften Sprachregelung dann zumeist heißt. (4) Das Affektive wird somit methodisch zur Erkenntnisvertiefung in der philosophisch wichtigen Erfahrung des eigenen Nichtwissens, das heißt des Scheiterns der Erkenntnis an einem entscheidenden Punkt, was aber wegen der in (3) ausgeführten Antriebslogik nicht dem Skeptizismus verfällt, sondern zur Denkmotivation wird. 29 So wird das Ringen um den Affekt, das methodische Ankämpfen gegen sein Ausbleiben, zum Ausgangspunkt einer kontinuierlichen, lebensleitenden theoretischen Beschäftigung: der immer tieferen Kontemplation Gottes, bei der man affektiv, soll heißen: ›mit ganzem Herzen‹ dabei ist. Die Erkenntnisvertiefung gerade im Bedenken Gottes ist aber als lebensleitende Beschäftigung ein besonders ausgezeichneter Fall, und Anselm macht auf diesen Sonderfall auch aufmerksam und zeichnet ihn speziell aus: Gott als Erkenntnisobjekt erschöpft sich nie und garantiert somit eine ewige Vertiefungsmöglichkeit, eine stete affektive Unruhe und einen nicht endenden Denkantrieb. Im Hintergrund steht unter anderem das die augustinischen Confessiones eröffnende Motiv vom unruhigen Herzen. 30 Und schließlich: (5) Anselm hat sich damit geradezu transzendental, »sekundäraffektiv« eingeholt: Seine Reaktion auf seinen Erkenntnisgewinn im unum argumentum mag ihn kalt gelassen haben. Dass ihn das kalt gelassen hat, lässt ihn allerdings keineswegs kalt. Dieser Affekt der Trauer und Verwirrung angesichts dieser Situation ist das, was ihn wieder auf die richtige Spur bringt. 31 Auch dies ist ein recht altes und ›typisch‹ platonisches Moment der antiskeptischen ›Strategie‹ : vgl. Politeia 375d-378b und Phaidon 89b-91b, um nur die beiden vielleicht berühmtesten Stellen dazu anzuführen. 30 Augustinus, Confessiones I 1 (PL 32,662). 31 Das Motiv von Trauer, Ohnmacht und Verwirrung wird dann insbesondere an markanten Stellen im Nachgang zu Kapitel 14 wiederholt und gefestigt: Ubique es tota praesens, et non te video. In te moveor et in te sum, et ad te non possum accedere. Intra me et circa me es, et non te sentio (Kapitel 16, OpOmn I 113,2–4); obstructi sunt 29

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Ich möchte diese Bewegung daher ungeniert als eine ›transzendentalaffektive‹ bezeichnen. Denn was Anselms affektiv angestoßene und eingefärbte Selbstbetrachtung seiner Reaktion auf den Affektausbleib angesichts des unum argumentum zeigt, ist in diesem Sinne äußerst bemerkenswert: Der Affekt wirft, durchaus in Übereinstimmung mit der Affekttheorie Anselms, die Erkenntnis auf die Bedingungen der Möglichkeit seines Auftretens zurück und macht sie sich somit selbst zum Thema.

Literatur: S. Anselmi: Opera Omnia. Ed. Franciscus Salesius Schmitt. Vols. 1–6. Edinburgh 1940–1961. Proslogion: lateinisch/deutsch. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Robert Theis. Stuttgart 2005. Hans-Urs von Balthasar: ›Zur Ortsbestimmung christlicher Mystik‹, in: Werner Beierwaltes/Hans-Urs von Balthasar/Alois Haas (Hg.): Grundfragen christlicher Mystik. Einsiedeln 22002, S. 37–71. Johannes Brachtendorf: ›Die Emotionen bei Augustinus‹, in: Ch. Schäfer/ M. Thurner (Hg.): Passiones animae. Die Leidenschaften der Seele in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie. Berlin/Boston 22014, S. 13– 30. Leo C. Ferrari: ›The Theme of the Prodigal Son in Augustine’s Confessions‹, Recherches Augustiniennes 12 (1977), S. 105–118. Karl Jaspers: Philosophie I. Berlin/Heidelberg/New York 41973. Siegfried Karl: Ratio und Affectus. Rom 2014. Helmut Kohlenberger, Similitudo und ratio. Überlegungen zur Methode bei Anselm von Canterbury, Bonn 1972. Robert McMahon: Understanding the Medieval Meditative Ascent: Augustine, Anselm, Boethius and Dante. Washington D.C. 2006. Catherine Newmark: Passion – Affekt – Gefühl: Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant. Hamburg 2009. Rolf Schönberger: Anselm von Canterbury. München 2004. Sandra Visser/Thomas Williams: Anselm. Oxford 2009. Candace Vogler: Reasonably vicious. Cambridge/Mass. 2002.

sensus animae meae vetusto languore peccati (Kapitel 17, OpOmn I 113,14–15); Et iterum ecce turbatio, ecce iterum obviat maeror et luctus quaerenti gaudium et laetitiam! Sperabat iam anima mea satietatem, et ecce iterum obruitur egestate! Affectabam iam comedere, et ecce magis hinchooi esurire! Conabar assurgere ad lucem dei, et recidi in tenebras meas (Kapitel 18, OpOmn I 113,18 – 114,2), etc.

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Die Mystikerinnen des Mittelalters Philosophierende Frauen zwischen Intellekt und Affekt Isabelle Mandrella

I. Von der hier zur Debatte stehenden Frage, ob die im Zentrum der Mystik stehende Einswerdung mit dem Göttlichen Sache des Intellektes, also Produkt eines Denkaktes, oder Sache des Affektes, also affektive Erfahrung sei, sind die philosophierenden Frauen des Mittelalters in besonderer Weise betroffen. Hinter dieser Debatte verbirgt sich nämlich die grundsätzliche Frage, ob und inwiefern die weiblichen mittelalterlichen Autoren überhaupt zur Philosophie zu zählen sind oder nicht. In einem noch allgemeineren Sinne ist damit das Verhältnis von Weiblichkeit, Rationalität und Affektivität angesprochen. Denn aus einer spezifisch philosophischen Perspektive und den Rationalitätskriterien, die mit ihr einhergehen, sehen sich intellektuell tätige mittelalterliche Frauen stets einer doppelten Disqualifikation ausgesetzt, deren Kern darin besteht, ihnen die Philosophiewürdigkeit und Rationalität abzusprechen – was bis heute entscheidend zu ihrer philosophiegeschichtlichen Marginalisierung beiträgt: Erstens seien sie Mystikerinnen (und zählten demnach nicht zur Philosophie) und zweitens gehe es ihnen vornehmlich um eine persönliche affektive Erfahrung (und nicht um das Denken). In Anbetracht der keineswegs zu leugnenden Tatsache, dass das von Frauen stammende Schrifttum im Mittelalter fast ausschließlich der Mystik zuzuordnen ist, gilt es also zunächst zu verdeutlichen, dass Mystik und Philosophie sich keinesfalls widersprechen, sondern dass Mystik eine bestimmte Form von Philosophie darstellt, die sich durch besondere Topoi, Methoden und Begriffe von anderen Philosophiemodellen unterscheidet. 1 Ist damit sichergestellt, dass auch Zu diesen Zusammenhängen vgl. Isabelle Mandrella, Meisterinnen ohne Schüler: Philosophierende Frauen im Mittelalter, in: Andreas Speer/Thomas Jeschke (Hrsg.), Schüler und Meister (Miscellanea Mediaevalia 39), Berlin/Boston 2016, S. 135–156.

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mystische Autoren und Autorinnen als Philosophen und Philosophinnen betrachtet werden können, stellt sich bei näherem Eintauchen in die Texte das Problem, um welche Form der Mystik es sich jeweils handelt. Damit sind wir beim Ausgangsthema angelangt: Geht es der Mystik um einen Anspruch auf Rationalität, systematische Stimmigkeit und Objektivität, oder versteht sie sich als überwältigende, supra- oder gar irrationale Erfahrung, die alle Affekte involviert? Damit bricht die bereits beantwortete Frage nach der Philosophiewürdigkeit der mittelalterlichen Mystikerinnen auf einer anderen Ebene erneut auf. Denn in den Versuchen, das zugegebenermaßen ob seiner Komplexität nur sehr schwer strukturierbare Phänomen der Mystik in bestimmte Kategorien einzuteilen, schleicht sich eine Differenzierung ein, die die Unterscheidung zwischen einer intellektuellen und einer affektiven Mystik, um die es uns hier geht, unkritisch auf die Geschlechterdifferenz überträgt: Während man die Mystik der Viktoriner, des Bernhard von Clairvaux oder Meister Eckharts noch in gewissen philosophischen Ehren hält, weil sie intellektuell begründet erscheinen, fallen die Beiträge einer Hadewijch, Mechthild von Magdeburg oder Marguerite Porete vorschnell unter die Zuschreibung der affektiven Begegnungs-, Liebes- oder Erlebnismystik. Damit verfällt die Philosophiegeschichtsschreibung wieder genau in jene Muster, die jahrhundertelang zur Ausgrenzung des Weiblichen aus dem rationalen Diskurs geführt haben: Die Frau verkörpert das Affektiv-Emotionale, das Körperlich-Passive, das Sexuell-Erotische. In dem durchaus wohlgemeinten Versuch einer fairen Berücksichtigung weiblichen Denkens wird jene unselige Marginalisierung also weiter fortgeschrieben. Die so genannte Liebesmystik der Beginen wird zwar als eigener weiblicher Beitrag herausgestellt, aber gleichzeitig als typisch weiblich gedeutet und damit in einen Bereich kategorisiert, der philosophisch nicht relevant ist und folglich entweder ignoriert oder aber mit Befremden bestaunt wird. So lesen wir etwa in Jos Decortes Eine kurze Geschichte der mittelalterlichen Philosophie von 2006 (niederländisches Original 1992): »Die Beginen propagierten […] eine Liebeslehre, eine reine Erotik. […] Intellektuell gebildete und literarisch begabte, manchmal auch reiche und adlige junge Frauen erlebten eine erhabene weibliche Liebesmystik und beschrieben ihre ergreifenden Erfahrungen in rührenden Versen, in Worten,

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die zugleich einfach und schlicht sind, und doch die plastische Kraft der poetischen Volkssprache ausschöpfen.« 2

Eine solche einseitige Betonung weiblich-affektiver Momente in der Frauenmystik mag auch der Grund dafür sein, dass besagter Autor zur großen Mystikerin Marguerite Porete nicht viel mehr zu sagen weiß, als dass sie eine »bildhübsche junge Frau« gewesen sei. 3 Ein ähnliche problematische Einschätzung, ebenso verstanden als wohlgemeinter Versuch einer fairen Berücksichtigung weiblichen Denkens, findet sich freilich auch auf dezidiert feministischer Seite, wenn die Tatsache, dass die religiöse Frauenbewegung des Mittelalters sich vor allem in mystischen Texten ausdrückte, als eine Verweigerungshaltung gegenüber den traditionellen Formen weiblicher Existenz interpretiert wird. Der grundlegende Gedanke ist hier, dass sich die Mystikerinnen eigene Freiräume für eine alternative Form der Entfaltung jenseits des männlichen Einflusses suchten, indem sie sich bewusst einem rationalen Diskurs entzogen, weil es sich dabei um einen von männlicher Autorität dominierten Bereich handelt, in dem Frauen (vor allem, weil sie nicht an Universitäten zugelassen waren) keine eigenen Ausdrucksmöglichkeiten zugestanden wurden. Hier zeigt sich die oben genannte Gefahr einer vereinnahmenden Kategorisierung weiblichen Denkens aus einer anderen Perspektive, aber mit den gleichen fatalen Folgen: Die weibliche Mystik wird bewusst im rational nicht mehr nachvollziehbaren Bereich des Erlebnismystischen oder des Visionären verortet, mit der Begründung, dass intellektuelle Frauen im Mittelalter erst dadurch eine Stimme erhalten, dass sie sich einer anderen Form der Autorität bedienen, die sich der rationalen und damit männlichen und kirchlichen Kontrolle entzieht, indem sie ihre Legitimation von woanders her, nämlich von Gott persönlich bezieht. Ich möchte zwar nicht leugnen, dass eine solche Interpretation aus gendertheoretischer Perspektive ihre Berechtigung hat, doch geht es hier darum, die philosophische Relevanz der mystischen Texte mit Blick auf die Unterscheidung von Intellekt und Affekt näher zu bestimmen. Denn bei näherem Hinsehen verläuft diese Unterscheidung keineswegs so eindeutig, wie es die übliche Differenzierung einer spekulativ-intellektuellen und einer affektiv-erotischen Mystik naheJos Decorte, Eine kurze Geschichte der mittelalterlichen Philosophie. Übersetzt von Inigo Bocken und Matthias Laarmann, Paderborn u. a. 2006, S. 271. 3 Ebd., S. 272. 2

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legt. Die sorgfältige Analyse der Texte weiblicher Mystiker führt vielmehr zu der Erkenntnis, dass es mit dem Begriff einer affektiverotischen Liebesmystik vorsichtig umzugehen gilt. Denn nicht jede Vertreterin einer Liebesmystik darf unter eine philosophisch fragliche Verzückungs-, Leidens- oder Erlebnismystik subsumiert werden; anders gewendet: Die Betonung der Liebe im Prozess der mystischen Einswerdung von Selbst und Gott ist nicht Ausdruck von Emotionalität oder gar Romantik, sondern trägt ganz und gar philosophische Züge; in ihrer Funktion vergleichbar mit dem, was die Philosophie unter dem Streben oder der motivierenden Kraft versteht, die erklärt, warum wir uns überhaupt in einen Denk- bzw. Einungsprozess begeben wollen. Mystik meint auch hier nicht das irrationale, weil nur rein affektiv erfahrbare, persönliche Erlebnis einer Frömmigkeitsbewegung, sondern eine philosophisch ernst zu nehmende Denktradition; nichts Esoterisch-Meditatives, keine Ekstase oder übersinnliche Erfahrung, sondern eine höchste intellektuelle Form der Erkenntnis, in deren Zentrum die Vorstellung einer Einung (unio) von Ich und Gott steht. Philosophische Mystik in diesem Verständnis – so hat Saskia Wendel es treffend auf den Punkt gebracht – »ist eine besondere Form der Erkenntnis meiner selbst und darin zugleich des Anderen meiner selbst, insbesondere des absolut Anderen meiner selbst. Dieses absolut Andere meiner selbst wird jedoch zugleich als das Innerste meiner selbst und damit als das Nicht-Andere meiner selbst erlebt. Jenes ›nicht-andere Andere‹ bzw. ›andere Nicht-Andere‹ trägt im monotheistischen Kontext den Namen ›Gott‹.« 4

Somit behandelt die Mystik in philosophischer Absicht das Verhältnis von Ich, Welt und Absolutem, von Einzelnem und Allgemeinem, von Transzendenz und Immanenz, von Vielem und Einem bzw. Urgrund, von Schöpfer und Geschöpf, kurz: von Selbst und Gott. Zugestanden: Eine solche Erfahrung des absoluten Weltgrundes ist nicht mehr einfach begrifflich-rational einholbar, bleibt aber dennoch keineswegs der Erkenntnis entzogen, sondern vollzieht sich vielmehr im intellektuellen Denkprozess selbst im Sinne einer Bewusstwerdung der eigenen Erkenntnismöglichkeiten. Dies sei im Folgenden an einzelnen Textbeispielen aus den Schriften Hadewijchs, Mechthilds von Magdeburg und Marguerite 4

Saskia Wendel, Christliche Mystik. Eine Einführung, Kevelaer 22011, S. 14.

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Die Mystikerinnen des Mittelalters

Poretes dargelegt, ohne dass sich an dieser Stelle der Anspruch einlösen ließe, die Positionen dieser drei großen Mystikerinnen umfassend darzustellen. 5

II. Bei Hadewijch steht der Begriff der Liebe (minne) im Vordergrund – und dies mag auf den ersten Blick dazu verleiten, ihr eine affektive Mystik zuzuschreiben, wie sie etwa in der am Hohenlied orientierten Mystik eines Bernhard von Clairvaux oder Richard von St. Viktor zu finden ist. Bestätigung findet diese Vermutung in der Tatsache, dass Hadewijch die Einung der Seele mit Gott als Begegnung zweier Liebender beschreibt. Immer wiederkehrendes Motiv ist dabei das Verlangen und die Suche nach dem abwesenden Geliebten; es wird motiviert durch die überwältigend-gewaltige Kraft der Liebe, der die liebende Seele gewissermaßen ausgeliefert ist. So heißt es von dieser Liebe in den Vermischten Gedichten: »Alles fügt ihr Band zusammen Zu einem Genießen, einem Genügen. Das ist das alles verbindende Band, wodurch ein jeder den anderen erkennt in Pein, in Rast, in Liebeswut und isst sein Fleisch und trinkt sein Blut.« 6

Vgl. hierzu Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik. Zweiter Band: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993; Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland. Band 3: Blüte. Männer und Frauen der neuen Mystik (1200–1350), Freiburg u. a. 1999. Zu Mechthild vgl. Marianne Heimbach, »Der ungelehrte Mund« als Autorität. Mystische Erfahrung als Quelle kirchlich-prophetischer Rede im Werk Mechthilds von Magdeburg, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989; Hildegund Keul, Verschwiegene Gottesrede. Die Mystik der Begine Mechthild von Magdeburg, Innsbruck 2004. Zu Marguerite Porete vgl. Irene Leicht, Marguerite Porete – eine fromme Intellektuelle und die Inquisition, Freiburg u. a. 1999; Barbara Hahn-Jooß, Ceste Ame est Dieu par condicion d’Amour. Theologische Horizonte im »Spiegel der einfachen Seelen« von Marguerite Porete (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie, N.F. 73), Münster 2010; Sean L. Field/Robert E. Lerner/ Sylvain Piron (Hrsg.), Marguerite Porete et le Miroir des simples âmes. Perspectives historiques, philosophiques et littéraires (Etudes de philosophie médiévale 102), Paris 2013. 6 Hadewijch, Vermischte Gedichte 16; Übersetzung zit. nach: Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland (wie Anm. 5), S. 365. 5

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Das Ziel dieser Liebesbegegnung zwischen Gott und Seele ist eine Einung, in der beide miteinander verschmelzen und eins werden. So beschreibt es etwa die Siebte Vision: »Danach kam Er selbst zu mir und nahm mich fest in seine Arme und drückte mich an sich; und alle Teile meines Körpers spürten die seinen, so dass es ihnen, entsprechend dem Verlangen meines Herzens – nach meinem Menschsein –, eine Lust war. Da wurde ich äußerlich bis zum Äußersten befriedigt. Auch hatte ich da kurzzeitig die Kraft, das auszuhalten. Doch nach wenigen Augenblicken schon verlor ich den schönen Mann als Gestalt außen aus dem Blick; und ich sah Ihn ganz zunichte werden und so sehr hinschwinden und vollständig zusammenschmelzen, dass ich ihn außerhalb von mir weder erkennen noch wahrnehmen noch in mir unterscheiden konnte. In diesem Augenblick war es mir, als ob wir unterschiedslos eins wären.« 7

An solchen und anderen Stellen wird deutlich, dass es Hadewijch nicht um eine emotional aufgeladene Liebesbegegnung geht, sondern um die Schilderung einer differenzlosen Einswerdung, die philosophisch damit begründet wird, dass die Seele als gottebenbildliche in Gott als Urbild präexistiert. 8 Dies deckt sich mit der Zurückhaltung, die Hadewijch generell gegenüber affektiven Momenten hegt: 9 Eine auf der Nachahmung Christi basierende Passionsmystik oder auch eine dem Hohenlied entnommene spezifische Brautmystik, in der in der liebenden Begegnung von Braut und Bräutigam noch eine Differenz bleibt, die sogar hierarchisch verstanden werden kann, sucht man bei ihr vergebens. Wenn Hadewijch dennoch an der Begegnung von Geliebter und Geliebtem festhält, dann dient das dem Zweck, die Vorstellung zu betonen, dass nur die Liebe in der Lage ist, angemessen ein Verhältnis von Gott und Mensch erklären zu können. Es geht also um eine Liebesbeziehung, für die gilt: Gott liebt mich wie ich Gott liebe. Liebe darf dabei aber nicht in unserem modernen Sinne als ein emotionales Geschehen gedeutet werden, in dem es um eine privat-romantische Liebesbeziehung ginge. Es geht vielmehr um eine universale, alle Dimensionen umgreifende Liebesbeziehung, in der die Liebe als Kraft dargestellt wird, die dem Menschen schlimmsten-

Hadewijch, Das Buch der Visionen VII. Einleitung, Text und Übersetzung von Gerald Hofmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 95/97. 8 Vgl. hierzu Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland (wie Anm. 5), S. 378–389. 9 Vgl. Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik (wie Anm. 5), S. 216: »Hadewijch misstraut ›süßen‹ Empfindungen, Empfindungen überhaupt.« 7

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falls das Äußerste abverlangt, nämlich die Ungewissheit, dass seine Liebe nicht erwidert werden könnte. Damit zeigt Hadewijch, wie im Liebesgeschehen eine Unberechenbarkeit liegt, die sich in der Ambivalenz der Liebe zwischen ›Schon‹ und ›Noch nicht‹ äußert. Das daraus resultierende Leiden an der Abwesenheit des bzw. der Geliebten und die ständige Sehnsucht nach der Überwindung dieser Abwesenheit tragen jedoch nicht ihren Zweck in sich selbst, sondern dienen dazu zu verdeutlichen, dass die Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch auf einer Freiheit beruht, die grundsätzlich jede Vorhersagbarkeit und Garantie verbietet. Der oder die Geliebte kann nicht zur Liebe gezwungen werden, denn die Liebe ist ihrem Wesen nach frei. So wie niemand mich zwingen kann, Gott zu lieben, so ist Gott nicht notwendig gebunden, mich zu lieben. Konfrontiert man diese Position mit der uns hier beschäftigenden Alternative, ob Gott und Mensch sich intellektuell oder affektiv vereinen, so zeigt sich, dass die von Hadewijch beschrieben Liebesmystik nicht auf die Seite einer irrational-unphilosophischen Erlebnismystik geschlagen werden kann, die eine Gottesbegegnung nur ermöglicht, weil Gott die Asymmetrie zwischen ihm und dem Menschen durch ein Geschenk seiner Gnade punktuell auflöst, letztendlich jedoch in einer Differenz belässt. Hadewijchs Konzept ist vielmehr darauf aus, diese Asymmetrie prinzipiell aufzuheben, um die Einung als eine Wesensvereinigung zu beschreiben, in der sich Mensch und Gott – einander liebend – auf gleicher Höhe gegenüberstehen. Dafür ist die philosophisch-theologische Begründung vorausgesetzt, dass bereits eine wesentliche Ähnlichkeit, Gleichheit oder Einheit zwischen Gott und Mensch vorliegt: gedacht in der bereits genannten Vorstellung, dass jede Seele urbildlich bereits in Gottes Wesen vorhanden ist. Ziel dieser Einswerdung von Seele und Gott ist die sich gegenseitig bedingende, miteinander verschränkte Ermöglichung ihrer jeweiligen Freiheit, wie es im 18. Brief heißt: »Begreife doch einmal, was die Seele im Innersten ausmacht, was das ist: Seele! Die Seele ist ein Wesen, das von Gott gesehen werden kann und das wiederum selbst Gott sehen kann. Die Seele ist auch ein Wesen, das Gott zu gefallen wünscht und das über sich eine gerechte Herrschaft ausübt, insofern sie nicht durch etwas Fremdes, das unterhalb ihrer Würde liegt, geschwächt wird. Wo es so um die Seele steht, da ist sie eine Grundlosigkeit, in der sich Gott selbst wohlgefällt und wo Er das Wohlbehagen, das Er an sich selbst hat, andauernd in vollkommener Weise in ihr findet und sie

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umgekehrt auch andauernd in Ihm. Die Seele ist ein Weg, über den Gott aus seinen tiefsten Tiefen in seine Freiheit gelangt; und Gott ist ein Weg, über den die Seele in ihre Freiheit gelangt, und das bedeutet: in seinen Grund, der nicht berührt werden kann, es sei denn, sie berühre Ihn mit ihrer eigenen Tiefe. Und wäre Gott ihr nicht ganz und gar zu eigen, es würde ihr nicht genügen.« 10

Nur das Konzept der Liebe vermag einen positiven Zugang zum Absoluten zu eröffnen, der sich gleichzeitig als Zugang zum eigenen Selbst versteht. Denn der Akt der Liebe geht mit dem Bewusstwerden der eigenen Freiheit einher, die die Freiheit des anderen zugleich bedingt und voraussetzt. Nach Hadewijchs Verständnis ist mit der Priorität der Liebe die Vernunft jedoch keinesfalls außer Kraft gesetzt. So heißt es im Anschluss an die eben zitierte Textpassage: »Das Sehen, welches von Natur aus in der Seele angelegt ist, ist die liebende Neigung zu Gott. Dieses Sehen kommt von zwei Augen, nämlich Liebe und Vernunft. Die Vernunft kann Gott nur in dem wahrnehmen, was Er nicht ist. Die Liebe findet keine Ruhe, außer in dem, was Er ist. Die Vernunft verfügt über ihre eigenen ungehinderten Wege, auf denen sie vorankommt. Die Liebe fühlt, was ihr fehlt. Dennoch bringt sie das, was ihr fehlt, besser voran als die Vernunft. In Bezug auf das, was Gott ist, kommt die Vernunft durch das weiter, was Gott nicht ist. Die Liebe stellt das zurück, was Gott nicht ist, und erfreut sich daran, wenn sie an dem, was Gott ist, versagt. Die Vernunft verfügt über eine größere Genügsamkeit, die Liebe kennt dagegen die Augenblicke seliger Freude besser als die Vernunft. Gleichwohl unterstützen die zwei sich untereinander sehr. Die Vernunft nämlich unterrichtet die Liebe und die Liebe erleuchtet die Vernunft. Wenn die Vernunft sich dann dem Verlangen der Liebe überlässt und die Liebe sich (andererseits) zwingen lässt und in den Rahmen der Vernunft spannen, dann sind sie (gemeinsam) in der Lage, Außerordentliches zu vollbringen. Das aber kann man nicht lernen, es sei denn, indem man es erfährt.« 11

Die zum Schluss betonte und für die Mystik zentrale Bedingung der Erfahrung betrifft also Intellekt und Affekt. Liebe, so ließe sich Hadewijchs Konzept auf den Punkt bringen, betrifft die positive geistige Erfahrung der eigenen als der gleichzeitig göttlichen Freiheit. 12

Hadewijch, Buch der Briefe 18. Hrsg. von Gerald Hofmann, St. Ottilien 2010, S. 128–134, hier: S. 130. 11 Ebd., S. 130 f. 12 Zu diesem für die Mystik zentralen Motiv vgl. Isabelle Mandrella, Wille und Freiheit in Mystik und Voluntarismus, in: Jörn Müller/Christian Rode (Hrsg.), Freiheit 10

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III. Auch bei Mechthild von Magdeburg wird die mystische Einung von Seele und Gott als eine liebende Begegnung beschrieben. Ähnlich wie Hadewijch geht auch sie von der Vorstellung der urbildhaften oder präexistenten Wirklichkeit der Seele in der göttlichen Dreifaltigkeit aus, 13 aber ohne diese im Sinne einer Wesensmystik auszulegen. Mechthild beschreibt vielmehr eine Gemeinschaft zweier Liebender, deren Differenz jedoch nicht aufgelöst wird, obwohl ihre durch das Stilmittel der Zwiegespräche und den Einsatz erotischer Metaphern geschilderte Liebesvereinigung einer Einswerdung zu entsprechen scheint. Zweifellos geht es Mechthild also um die Darstellung eines Einigungsprozesses, »aber eben nur um eine Stufe der Einigung, nicht um die Vereinigung schlechthin«. 14 Zwar beschreibt Mechthild an mehreren Stellen eine Einswerdung von Gott und Seele, in der von einer gemeinsamen Natur der beiden ausgegangen wird. Dies geschieht in Das fließende Licht der Gottheit insbesondere im ersten Buch, wo in einem bukolischen Szenario die Vereinigung von Braut und Bräutigam bzw. Seele und Gott im ›Bett der Minne‹ stattfindet. Dort heißt es, dass Gott der Seele gebietet, sich zu entkleiden und nackt zu werden, und zwar mit der Begründung, dass die Seele so sehr in Gott genatúrt ist, dass zwischen ihr und ihm nichts mehr sein kann. Was meint genatúrt? Die Seele ist Gott so sehr verbunden, dass sie in die Natur Gottes eingegangen ist; sie ist – so übersetzt Margot Schmidt – in Gott »hineingestaltet«. 15 Während Kurt Ruh hier Andeutungen für eine Wesensmystik sieht, die von einer Einung beider Naturen ausgeht, 16 urteilt Margot Schmidt zurückhaltender und weist zurecht darauf hin, 17 dass eine solche Differenzlosigkeit nicht gemeint sein kann, wenn die Zweiheit bzw. Differenz bis zum Ende der Liebesvereinigung bestehen bleibt, insofern beide Liebenden wieder auseinandergehen müssen: und Geschichte. Festschrift für Theo Kobusch zum 70. Geburtstag, Münster 2018, S. 143–161. 13 Vgl. hierzu Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit VI 31. Zweite, neubearbeitete Übersetzung mit Einführung und Kommentar von Margot Schmidt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 249 f. 14 Margot Schmidt, Anmerkungen, in: ebd., S. 356. 15 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit I 44, S. 33. 16 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik (wie Anm. 5), S. 267 f. 17 Vgl. Anm. 14.

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»›Herr, nun bin ich eine nackte Seele, und Du in Dir selber ein reichgeschmückter Gott. Unser zweier Gemeinschaft ist ewiges Leben ohne Tod.‹ Da geschieht eine selige Stille, und es wird ihrer beider Wille. Er gibt sich ihr, und sie gibt sich ihm. Was ihr nun geschieht, das weiß sie, und damit tröste ich mich. Aber dies kann nie lange sein. Denn wo zwei Geliebte verborgen sich sehen, müssen sie oft abschiedlos voneinander gehen.« 18

Auch Theo Kobusch schließt sich der Interpretation an, dass genatúrt keine Wesenseinheit zum Ausdruck bringt: »Eher scheint Mechthild im Mittelhochdeutsche[n] einen griechischen Neologismus des Origenes nachzuempfinden, der in diesem Sinne das durch den Willen Veränderte das zu einer zweiten Natur Gewordene nennt.« 19

Mit dieser Deutung knüpft Kobusch an das für die Mystik geltende Freiheits- und Willensverständnis an, das davon ausgeht, dass die Einung von Gott und Mensch immer auch eine Einswerdung im Willen meint. So heißt es bei Mechthild: »Wenn sie [die Seele] sich zu erheben beginnt, dann fällt der Sündenstaub von ihr ab, sie wird dann mit Gott ein Gott, so dass das, was er will, (auch) sie will, und anders können sie nicht in ganzer Einung vereint sein.« 20

Wie ist Mechthilds Ansatz einer Begegnungsmystik, die eine wesentliche Einung von Gott und Mensch ausschließt, vor dem Hintergrund unserer Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Intellekt und Affekt zu bewerten? Kommt der Liebe in der Mystik Mechthilds eine veränderte Funktion zu, insofern sie eher im Bereich menschlicher Affektivität verortet zu sein scheint? Geht es ihr hier lediglich darum, eine erotische, vom liebenden Affekt beherrschte Gotteserfahrung zu beschreiben? Diese Schlussfolgerung erweist sich als kurzsichtig in Anbetracht der Tatsache, dass für Mechthild der Weg der minnenden Seele keineswegs in der ekstatischen liebenden Vereinigung endet, sondern in der radikalen Gottesferne. Drei Stufen sind es nämlich, die die minnende Seele auf ihrem Weg zu Gott zu durchschreiten hat: Zärtlichkeit, in der die Minne in Süßigkeit fließt; Innigkeit, in der sie reich an Erkenntnis wird; schwere Pein, in der sie das eigene Verworfenwerden begehrt. 21 In der letzten Stufe, die es zu erreichen gilt, Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit I 44, S. 34. Theo Kobusch, Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters, München 2011, S. 363. 20 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit VI 1, S. 216. 21 Ebd. VI 20, S. 241 f. 18 19

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herrschen Schmerz und Gottferne, ja sogar die Entfremdung von Gott. Eindringlich schildert Mechthild, wie die mit Gott vereinigte Seele im Schmerz versinkt, weil sie von ihrem Geliebten getrennt wurde. 22 Nichts kann ihre Untröstlichkeit lindern außer Gott selbst. Doch der Weg zu Gott erweist sich als ein Weg, der zunächst von Gott fort und in die totale Verlassenheit hinein zu führen scheint. Tiefer und tiefer sinkt die Seele und geht dabei der Erkenntnis, der Liebe, des Glaubens und schließlich sogar der Gottnähe verlustig. Und doch ist dieser Liebesentzug keineswegs eine von Gott ausgehende Strafe, sondern ein eigens gewollter Weg, der davon überzeugt ist, dass die wirkliche Einheit mit Gott nur in der tiefsten Demut gefunden zu werden vermag: »O Herr, in der Tiefe der reinen Demut kann ich dir nicht entsinken, o weh, doch im Hochmut kann ich dir leicht entfallen. Aber je tiefer ich sinke, desto süßer ich trinke.« 23

Der Hintergrund dieser Ausführungen hat mit der neuplatonisch beeinflussten Metapher zu tun, die den Titel der Schrift bestimmt: Die Fließmetapher. So wie Gott im Inneren als Dreifaltigkeit fließt, so fließen alle Dinge aus Gott und in Gott zurück. 24 Mechthild versteht diese Metapher ganz wörtlich: So wie fließendes Wasser sich immer an der tiefsten Stelle sammelt, so ist Gott nicht auf den höchsten Bergen, sondern im Tal zu suchen, und zwar am »niedrigsten, geringsten, verborgensten Ort«. 25 Die engste Gottnähe besteht folglich darin, Gott im Herabfließen nachzuahmen, und zwar wahrhaft bis ganz nach unten. Mechthild spielt hier zweifellos auf die Nachahmung des leidenden Christus an. 26 Mit diesem Verweis auf die Heilsgeschichte wird freilich deutlich, dass auch der Zustand radikaler Gottentfremdung nicht aus der Liebe Gottes herausfällt: Die Nachahmung Christi beschränkt sich nicht auf die Passion, sondern »führt

Vgl. hierzu ebd. IV 12, S. 134–139. Ebd. IV 12, S. 139. 24 Vgl. etwa ebd. V 26, S. 195. 25 Ebd. II 26, S. 72. In diesem Textstück identifiziert sich Mechthild in ihrer Weiblichkeit und Ungebildetheit als ›unflätiger Pfuhl‹ mit dem niedrigsten Ort, der Gott am nächsten ist. Vgl. hierzu Isabelle Mandrella, Meisterinnen ohne Schüler (wie Anm. 1), insbes. S. 145–148. 26 Vgl. hierzu auch Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland (wie Anm. 5), S. 424–430. 22 23

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über den Tod hinaus zur Auferstehung und Himmelfahrt und wird so zum mystischen Aufstieg«. 27 Mit Blick auf den affektiven Gehalt dieser Ausführungen könnte man geneigt sein, wenn schon nicht in der Süße der Liebesbegegnung, so doch zumindest in der mit der Trennung und Gottferne einhergehenden Pein eine eindeutig emotional aufgeladene Bewegung zu erblicken. Doch zeigt die freie Entscheidung, mit der die Seele diesen Weg beschreitet, auch bei Mechthild an, dass es hier keineswegs um ein peinvolles Ausgeliefertsein geht. Weder ist das Leiden hier Selbstzweck, noch wird es passiv erlitten. Vielmehr ist die freiwillig gewählte »selige Gottesfremde« Ausweis der innerlichen Bildung, Weisheit und Willensfestigkeit der Seele. 28 Auch bei Mechthild von Magdeburg, obwohl sie die mystische Einung nicht als differenzlos, sondern als Begegnung von Seele und Gott begreift, geht es also um ein Bewusstwerden des eigenen Selbst in seiner Freiheit und Souveränität, das zwar erfahren werden muss, aber ebenso wenig einer affektiven Erlebnismystik zuzurechnen ist wie die an der minne orientierte Mystik der Hadewijch. So urteilt auch Irmgard Gebhart treffend über Mechthild: »Wo die affektive Bewegung einen Wechsel von Glück und Entbehrung mit sich bringt, wo eine beseligende Selbstentgrenzung mit einer schmerzhaften Verlusterfahrung auf dem Boden der Realität bezahlt wird, bleibt das Subjekt in der kontrollierten Gottesferne gleichsam Herr im eigenen Haus. Weil ihm erinnernd und imaginierend seine Lust und sein Leid zur Verfügung stehen, kann es die Gottesferne als einen Zustand annehmen, der so relativ ist, wie die unio-Erfahrung selbst. Einheit stiftet jetzt das Bewusstsein, das beide Pole integriert. Das Subjekt versucht nicht mehr der Dualität des Daseins in der Selbstauslieferung an einen der beiden Pole zu entkommen, sondern findet eine neue Einheit in der imaginativen Zusammenschau beider. Und indem es beide Pole aus der Distanz in ihrer Bezogenheit erkennen kann, findet es seine Freiheit in der Wahl der Entsagung wieder.« 29

Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik (wie Anm. 5), S. 275. Vgl. Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit IV 12, S. 138 f. 29 Irmgard Gebhart, Erfüllung und Entsagung. Die Leidenschaft der Gottesminne bei Mechthild von Magdburg, in: Christian Schäfer/Martin Thurner (Hrsg.), Passiones animae. Die »Leidenschaften der Seele« in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes 52), Berlin 2009, S. 123–132, hier: S. 130. 27 28

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IV. Im Gegensatz zu den bis jetzt behandelten Autorinnen verwendet Marguerite Porete in ihrer Schrift Der Spiegel der einfachen Seelen (Le mirouer des simples âmes) kaum Elemente der Braut- oder Hoheliedmystik und kennt dementsprechend auch keine Erotik. Ebenso ist sie in der Beschreibung ekstatischer Zustände oder Visionen spürbar zurückhaltend; ihre Sprache ist weniger affektiv aufgeladen, sondern zeugt in nüchterner Weise eher von einem theoretischen Interesse. Der Spiegel der einfachen Seelen liest sich als eine Wegbeschreibung, wie die Seele den Weg zu Gott findet, nämlich in sieben Stufen, die allerdings nicht streng voneinander geschieden sind, sondern eher ineinander übergehen bzw. einander ergänzen, so dass man treffender von Zuständen oder Seinsweisen sprechen sollte. 30 Die ersten vier Zustände beschreiben die Seele, die in ihren Werken gehorsam den Geboten Gottes folgt und ganz aus der Liebe zu Gott heraus tätig ist. Sie lässt schließlich alle äußeren Übungen und den Gehorsam hinter sich, um ganz in der göttlichen Liebe aufzugehen und so in höchsten Wonnen zu leben. In diesem vierten Zustand fühlt die Seele sich so von Gott gesättigt, dass sie überzeugt ist, es könne nichts Höheres geben: »Die Seele wird dadurch so empfindsam, edel und zart, dass sie es nicht erträgt, wenn etwas sie berührt, es sei denn die Berührung der reinen Wonne der Liebe, durch die sie eigenartig fröhlich und leichtsinnig wird. Diese macht sie hochgemut aus der Fülle der Liebe, sie wird dadurch eine Herrin des Glanzes, das heißt der Klarheit ihrer Seele. Sie wird wunderbar von Liebe erfüllt und lebt durch die Übereinstimmung in der Liebe in großem Glauben: das hat sie in den Besitz ihrer Wonnen gebracht. Jetzt ist die Seele davon überzeugt, dass es kein höheres Leben geben könne als das, was sie hat und worüber sie die Herrschaft besitzt. Die Liebe nämlich hat sie mit ihren Wonnen reichlich gesättigt. Sie kann nicht glauben, dass Gott einer Seele hienieden noch größere Gaben zu verschenken habe, als eben diese Liebe es ist, diese Liebe, die sich aus Liebe in sie ausgegossen hat.« 31

Vgl. hierzu und zum Folgenden Marguerite Porete, Le mirouer des simples ames 118, in: Marguerite Porete, Le mirouer des simples ames, ed. R. Guarnieri / Margaretae Porete Speculum simplicium animarum, ed. P. Verdeyen S.J. (CCCM 69), Turnhout 1986, S. 316–333; Übersetzung: Margareta Porete, Der Spiegel der einfachen Seelen. Mystik der Freiheit. Hrsg. und übersetzt von Louise Gnädinger, Kevelaer 2010, S. 179–186. 31 Marguerite Porete, Le mirouer des simples ames 118, S. 322 f.; Übersetzung: S. 181. 30

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Diesen Zustand, in dem die Seele ganz in der Liebe Gottes aufgeht, hat Marguerite indes hart kritisiert, indem sie ihn als einen Zustand der Trunkenheit ausweist, der jede Erkenntnis unmöglich macht: »Ach was, es ist kein Wunder, wenn eine solche Seele überwältigt ist! Denn die huldvolle Liebe macht sie ganz trunken, und zwar so trunken, dass sie sie [die Seele] nichts verstehen lässt denn einzig nur sie, wegen der Gewalt, mit der die Liebe sie ergötzt. Und darum will diese Seele keinen anderen Zustand mehr gelten lassen. Der große Glanz der Liebe hat nämlich ihre Sehkraft dermaßen geblendet, dass sie nichts weiter mehr zu sehen vermag als nur ihre Liebe. Und hierin wird sie enttäuscht. Denn es gibt hienieden zwei weitere Stadien, die Gott verleiht; sie sind größer und edler, als dieser Zustand es ist. Die Liebe hat jedoch manche Seele in die Irre geführt wegen der Süßigkeit der Lust in ihrer Liebe. Sie überkommt die Seele, wenn sie sich ihr nur schon nähert. Gegen eine solche Gewalt vermag niemand Widerstand zu leisten.« 32

An späterer Stelle entlarvt Marguerite dieses affektive Überwältigtwerden durch die Liebe als nur angebliche Gottesliebe: Die Seele meint zwar, Gott zu lieben, liebt jedoch eigentlich nur sich selbst; die so von der Liebe Ergriffenen bleiben folglich unmündige und unverständige Kinder: »Denn all jene sind verwirrt, die irgendwelche Anhänglichkeit des Geistes haben. Und diese Betrachtungen stammen aus dem Leben des Geistes, durch die Anhänglichkeit aus der Zuneigung der Liebe, welche die Seele zu sich selbst hat. Sie aber vermeint, diese Liebe, von der sie so sehr ergriffen ist, beziehe sich auf Gott. Versteht man es jedoch richtig, so ist das, was sie liebt, sie selbst, ohne dass sie es wüsste und ohne dass sie es bemerkte. Und diesbezüglich befinden sich jene, die lieben, in einer Täuschung, wegen der Zärtlichkeit, die sie in dieser Zuneigung empfinden. Sie lässt sie nicht zur Erkenntnis kommen. Und darum verbleiben sie, wie die Kinder, bei Kinderwerken! Und sie werden dabei bleiben, solange sie die Anhänglichkeit des Geistes haben.« 33

Mit diesem Plädoyer gegen das Affektive und für das Intellektuelle beschreibt Marguerite den fünften und sechsten Zustand als das Kernstück der mystischen Einung. Beide Stufen sind nicht als streng chronologische Abfolge, sondern komplementär zueinander zu verstehen. Im fünften Zustand erkennt die Seele, dass sie selbst nichts

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Ebd. 118, S. 324 f.; Übersetzung: S. 181 f. Ebd. 133, S. 392 f.; Übersetzung: S. 215.

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ist, dass Gott aber ist; sie erkennt ihre eigene Schlechtigkeit, aber gleichzeitig damit auch, dass Gott die Gutheit ist und den freien Willen in sie gelegt hat. In ihrer Bewegung der Rückkehr zum Ursprung erkennt sie, dass sie Gott als dem Ursprung ihren Willen zurückzugeben hat. Es geht Mechthild also um die Selbsterkenntnis der Seele, aus der als Rückkehr zu Gott die Vernichtigung ihres Willens folgt: »Der fünfte Zustand besteht darin, dass die Seele betrachtet, was Gott ist. Er, er ist, durch ihn ist jedes Ding. Sie aber ist nichts, folglich ist durch sie kein Ding. Und diese beiden Betrachtungspunkte versetzen sie in ein wundersames Erstaunen: Sie erkennt, dass er ganz Güte ist, er, der den freien Willen ins sie gelegt hat, in sie, die nichts ist, wenn nicht ganz und gar Schlechtigkeit. Nun hat die göttliche Güte in sie den freien Willen gelegt, aus reiner göttlicher Güte. Sie, die nichts ist, außer nur Schlechtigkeit, sie hat ihn. […] Nun sieht das Wollen im Lichte des ausgebreiteten göttlichen Lichtes […], dass es von sich aus keinen Nutzen erbringen kann, wenn es sich von seinem eigenen Wollen nicht trennt. Denn dessen Natur ist bösartig durch die Neigung zum Nichts […].« 34

Der sechste Zustand geht hingegen davon aus, dass die Seele zwar wegen ihrer Demut nicht in der Lage ist, sich selbst zu sehen, und auch Gott wegen der Erhabenheit seiner Güte nicht zu sehen vermag, aber dass Gott sich in ihr in seiner göttlichen Majestät sieht. Dieses durch Gott Gesehenwerden versetzt die Seele in die Lage, Gott und gleichzeitig sich selbst zu sehen, und so rein, erleuchtet und frei zu werden. Die Ankunft Gottes in der Seele wird also im Zusammenfall von Selbst- und Gotteserkenntnis manifest: »Der sechste Zustand besteht darin, dass die Seele sich wegen ihres Abgrundes an Demut nicht sieht, Gott aber nicht wegen der Erhabenheit seiner Güte. Gott jedoch sieht sich in ihr in seiner göttlichen Majestät, durch die er diese Seele verklärt, so dass sie nicht sieht, was da noch wäre, außer Gott allein, der ist und durch den jedes Ding ist. Das aber, was ist, ist Gott selbst, und darum sieht sie nichts, außer sich selbst. […] Diese Seele aber, derart rein und erleuchtet, sie sieht weder Gott noch sich. Gott jedoch sieht sich in ihr, für sie, ohne sie. Er, Gott nämlich, zeigt ihr, dass nichts ist als nur er. Und darum erkennt diese Seele nichts als ihn, und so liebt sie nichts als ihn, lobt sie nichts als ihn, denn nichts ist als nur er.« 35

Ebd. 118, S. 324 f.; Übersetzung: S. 182 f. Ebd. 118, S. 330 f.; Übersetzung: S. 185. Die siebte Stufe betrifft die Verherrlichung der Seele nach dem Tod, von der sich jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nichts Gesichertes sagen lässt.

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Die Einung von Gott und Seele geschieht also in der sechsten Stufe, wenn Gott sich durch die Seele bzw. die Seele sich durch Gott sieht. Dieser Vorgang scheint von Gott auszugehen, in dem Sinne, dass die Seele sich nur sieht, weil Gott sie bereits gesehen hat. Dafür gibt es allerdings eine Voraussetzung, die in der fünften Stufe beschrieben wird; insofern bedingen die beiden Stufen sich gegenseitig und sind nicht voneinander zu trennen. Die Voraussetzung für die Vereinigung mit Gott ist die Vernichtigung oder das Nichtigwerden des Willens. Im Gewahrwerden ihrer eigenen Nichtigkeit und Schlechtigkeit wird sich die Seele bewusst, dass sie den freien Willen als Geschenk Gottes erhalten hat. In der Bewegung zurück zu ihrem Ursprung soll die Seele also auch ihr Wollen Gott zurückgeben: zurück »an den Ort, woher es genommen wurde, dahin nämlich, wo es richtigerweise zu sein hat. Soviel und solange diese Seele ihren Willen in sich zurückbehalten hatte, außerhalb seines Seins, hatte sie stets Krieg geführt«. 36

Dies meint, den eigenen Willen zu vernichtigen und ganz den Willen Gottes zu wollen: »Nun erkennt die Seele […] durch das Licht weiter, dass das Wollen einzig den Willen Gottes wollen sollte […] und dass einzig dazu ihr das Wollen gegeben worden war. Und darum trennt die Seele sich von diesem Wollen, und das Wollen trennt sich von einer solchen Seele. Von jetzt an gibt sie es zurück und schenkt und überlässt es Gott, da, wo es ursprünglich hergenommen war, ohne an irgend etwas Eigenem festzuhalten, um den vollkommenen göttlichen Willen zu erfüllen.« 37

Indem die Seele also ihr Nichts und ihre Schlechtigkeit erkennt, fällt sie ins Nichts und wird vernichtigt. Doch gerade dadurch gewinnt sie Einsicht in ihr Selbst: Sie findet in sich einen »abgründigen Abgrund ohne Grund« und gewinnt damit an Erkenntnis, nämlich dass sie sich vollkommen dadurch erkennt, dass sie sich in dieser Abgründigkeit niemals erkennt. In der für die Mystik typischen paradoxalen Verschränkung kommt damit zum Ausdruck, dass die Seele sich dadurch erkennt, dass sie sich als nichtig erkennt. Die Seele gelangt somit – ganz wie bei Mechthild von Magdeburg – an die tiefste Stelle, d. h. in den Grund, »wo es keinerlei Boden gibt«. In diesem Nichts, d. h. in

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Ebd. 118, S. 326 f.; Übersetzung: S. 183. Ebd. 118, S. 326 f.; Übersetzung: S. 183.

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Die Mystikerinnen des Mittelalters

dieser »Tiefe der Demut« soll sie verbleiben, denn nur dort zeigt sich ihr eigenes Selbst: »Sie erkennt sich nun, was sie von sich aus ist, und sie kennt die göttliche Güte. Die göttliche Güte wiederum lässt sie sich neu selbst erkennen. Und diese beiden Betrachtungsweisen heben von ihr weg den Willen und das Begehren und das gute Werk, und darum ist sie in vollkommene Ruhe und in den Besitz des freien Wesens versetzt.« 38

An diesen Stellen zeigt sich die streng intellektualistische Ausrichtung der Marguerite, die ganz auf affektive Ausschmückungen verzichtet und die Einung von Gott und Seele als Prozess des Ineinandergreifens von Selbst- und Gotteserkenntnis begreift. In diesem Zusammenhang scheint es mir interessant zu erwähnen, dass Marguerite – von sehr wenigen Stellen abgesehen 39 – im Gegensatz zu Hadewijch und Mechthild keinerlei autobiographische Erlebnisberichte zur Untermauerung ihrer Ausführungen heranzieht. Es bedarf in der Beschreibung der intellektuellen Denkerfahrung im Sinne einer Bewusstwerdung der eigenen Erkenntnis- und Freiheitsmöglichkeiten keiner zusätzlichen Legitimierung – wobei nicht übersehen werden sollte, dass Marguerite für ihr Denken mit dem Tod bezahlte.

V. Wie sind die philosophierenden Frauen des Mittelalters zwischen Affekt und Intellekt zu verorten? Selbstverständlich kann der ausschnitthafte Blick auf die Texte der drei großen Mystikerinnen Hadewijch, Mechthild von Magdeburg und Marguerite Porete die komplexe Frage, ob – wie der Tegernseer Abt Kaspar Aindorffer es in seinem Brief an Nicolaus Cusanus 1452 formuliert – »eine gottergebene Seele ohne Verstandeserkenntnis […] allein durch Affekt […] oder auf der höchsten Stufe des Geistes […] mit Gott in Verbindung kommen […] kann« 40, nicht hinreichend beantworten. Wohl aber lässt sich – so ein erstes Zwischenergebnis – eine einseitige BeEbd. 118, S. 330 f.; Übersetzung: S. 185. Zum Beispiel: Ebd. 96, S. 266–269; Übersetzung: S. 153 f. 40 Brief Nr. 3, in: Edmond Vansteenberghe, Autour de la docte ignorance. Une controverse sur la théologie mystique au XVe siècle (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters 14). Münster 1915, S. 110: »Est autem hec quaestio utrum anima devota sine intellectus cognicione, vel etiam sine cogitacione previa vel conco38 39

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Isabelle Mandrella

tonung des Affektiven ausschließen – mit dem bemerkenswerten Detail, dass im umgekehrten Fall eine Einseitigkeit des Intellektuellen nicht ausdrücklich als problematisch angesehen wird. Neben dieser grundsätzlichen Affinität für den Intellekt macht die Analyse der Beispielstexte zweitens deutlich, dass Affektivität vor allem dann ausgeschlossen wird, wenn sie sich eindeutig als etwas Emotional-Arationales identifizieren lässt. Wo der Affekt den Intellekt trübt oder stört, ist er fehl am Platz. Dies bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass alles Affektive auf dem Weg zur Einung ausgeschlossen werden müsste. Vielmehr kennen die Mystikerinnen mit dem Konzept der Liebe eine Form von Affektivität, die dem Intellekt in nichts nachsteht, sondern ihn gerade da zu ergänzen vermag, wo er sich in der Begegnung mit Gott oder dem Absoluten als begrenzt erweist. Allerdings verkörpert diese Liebe keine romantische Emotion, sondern das Voluntative, d. h. die Freiheit und Autonomie der Seele. Wenn sich die Alternative zwischen Intellekt und Affekt also umformulieren ließe in die Frage: Bin ich Gott im höchsten Denken oder in der absolut freien Liebe näher?, dann lässt sich die Alternative, ob intellektuell oder affektiv, nicht mehr so eindeutig zu einer Seite hin auflösen. Dann wird allerdings auch klar: Diese Form von Affektivität meint eine Freiheit, die nicht einfach gegen die Vernunft ausgespielt werden kann und darf, sondern in der sich das Intellektuelle in der einzig denkbaren Form zum Ausdruck bringt.

mitante, solo affectu seu per mentis apicem quam vocant synderesim Deum attingere possit, et in ipsum immediate moveri aut ferri.«

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Was bedeutet »erkenntnisloser Aufstieg«? Nikolaus von Kues zu den Fragen der Mönche von Tegernsee William J. Hoye

Um die mystische Theologie des Nicolaus Cusanus zu verstehen, muss man sich darauf einstellen, sehr abstrakt – mit Mathematik vergleichbar – zu denken. Was er im Auge hat, ist nicht ein Gefühl oder ein Erlebnis. Ungeachtet der abstrakten Überlegungen beginnt seine Auseinandersetzung allerdings mit einem handgreiflichen Brief.

Der Brief der Benediktiner am Tegernsee In der Mitte des 15. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt seines Schaffens und Ansehens erhält Nikolaus von Kues, neuer Fürstbischof von Brixen und angesehener Kardinal – in der mittelalterlichen Kirche konnte ein Bürgerlicher den Klassenabstand überspringen –, einen Brief von dem Abt eines Benediktinerklosters am Tegernsee. Verunsichert durch divergierende Erklärungen über die Natur der mystischen Vereinigung mit Gott in kontroversen Schriften über Mystik, die um diese Zeit im Umlauf waren, wenden die Mönche sich an den ihnen wohlgesonnenen Bischof. Bei ihnen handelt es sich nicht nur um fromme Geister, sondern zudem um ungewöhnlich gebildete Menschen. Obwohl ein Deutscher an einen anderen Deutschen schreibt, ist der Brief in lateinischer Sprache verfasst. Wenn man bedenkt, dass nicht allzu lange vor der Ankunft des Cusanus in Brixen nachweislich kein einziger der 13 Priester des Brixener Domkapitels lesen oder schreiben konnte, 1 dann kann man das Bildungsniveau in diesem Kloster besser einschätzen. Der vom Abt Kaspar Aindorffer (1402–1461) im Herbst 1452 geschriebene Brief enthält folgende Anfrage:

Vgl. W. Baum, Nikolaus Cusanus in Tirol. Das Wirken des Philosophen und Reformators als Fürstbischof von Brixen (Bozen 1983), 41–42.

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»Die Frage ist, ob eine gottergebene Seele ohne Vernunfterkenntnis [sine intellectus cognicione], oder auch ohne vorheriges oder begleitendes Denken [sine cogitacione previa vel concomitante], allein durch den Affekt, beziehungsweise durch die Spitze des Geistes, die man Synderesis nennt [seu per mentis apicem quam vocant synderesim], Gott erreichen kann.« 2

Die Formulierung der Frage wurde zweifellos aus der damals vielgelesenen Schrift Mystische Theologie von Hugo von Balma übernommen. Dort wird die »schwierige Frage« gestellt, »ob die Seele gemäß ihrem Affekt im Begehren und Verlangen ohne irgendein vorausgehendes oder begleitendes Denken der Vernunft zu Gott bewegt werden kann« 3. Es dreht sich um ein lebhaftes theologisches Streitgespräch. Alle Teilnehmer legen dabei eine Autorität aus, nämlich Dionysius Areopagita. Das heißt, eine schriftliche Aussage von ihm wird interpretiert. Im Mittelalter repräsentiert eine Autorität nicht den Abschluss einer Auseinandersetzung, sondern vielmehr eine Anregung dazu. Niemand widerspricht Dionysius – und dennoch ist diese ›Gehorsamsunterwürfigkeit‹ produktiv. Außerdem handelt es sich um einen Text, der fast tausend Jahre alt war; die Kontroverse fand also in einem langen Zeitraum statt, umfasst und ermöglicht vom Christentum. Zur Einführung in seine Frage fügt der Abt folgende Erläuterung bei: »Einige Brüder fühlen sich von der Neugier, oder aber – ich weiß nicht, was – von der Wissbegier angetrieben, Eurer väterlichen Würde eine Frage vorzulegen, für die sie noch keine völlige Lösung gefunden haben, die ihnen genügen könnte. Sie wünschen eine recht klare Beantwortung. […] Sie begehren eifrigst und ergebenst, von Euch eine kurze und zuverlässige Entscheidung dieser Frage zu hören.« 4

Kurz und zuverlässig schafft Cusanus es allerdings nicht.

Brief vom 22. Sept. 1452 von Kaspar Aindorffer an Nikolaus von Kues (E. Vansteenberghe, Autour de la Docte ignorance. Une Controverse sur la Théologie Mystique au XVe Siècle, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, XIV, 2–4 [Münster1915], 110; Deutsche Übersetzung: W. Oehl, Deutsche Mystikerbriefe des Mittelalters: 1100–1550 [München 1931], 548). 3 Hugo von Balma, Théologie mystique: Introduction, texte latin, trad., notes et index, hrsg. von F. Ruello (Sources chrétiennes) (Paris 1996), Bd. II, 182, n. 1, Z. 1–7. 4 Brief vom 22. Sept. 1452 von Kaspar Aindorffer an Nikolaus von Kues (E. Vansteenberghe, Autour, 110; Deutsch: 548). 2

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Was bedeutet »erkenntnisloser Aufstieg«?

Die vorläufige Antwort des Cusanus In einem ersten Antwortschreiben vom 22. September 1452 nimmt Nikolaus unzweideutig Stellung zu der Ansicht, dass die Vernunft unbeteiligt sei – allerdings zögerlich und ohne eine durchleuchtende Begründung. Er drückt sich wie folgt aus, wobei seine Überlegungen augenfällig sind: »Es ist unmöglich, dass der Affekt in Bewegung gesetzt wird, außer durch die Liebe. Und alles, was geliebt wird, kann nur als Gut geliebt werden. Niemand aber ist gut außer Gott […]. Und ferner: Alles, was als Gut geliebt oder erwählt wird, wird nicht ohne alle Erkenntnis des Guten geliebt, weil es ja als Gut eingeschätzt und so geliebt wird. Es ist also in jeder solchen Liebe, durch die jemand in Gott geführt wird, irgendeine Erkenntnis, wenn er auch nicht weiß, was das ist, was er liebt. Es ist also ein Zusammentreffen von Wissen und Nichtwissen, oder ein wissendes Nichtwissen [docta ignorancia]. Denn wenn man nicht wüsste, was ein Gut ist, würde man nicht das Gute lieben; aber doch weiß der, der es liebt, nicht eigentlich, was dieses Gut ist. Die Liebe zu einem Gut zeigt nämlich dieses Gut als noch nicht wahrgenommen. […] Der Liebende wird also nicht ohne jede Erkenntnis entrückt.« 5

Aber mit dieser Antwort ist Nikolaus offensichtlich nicht vollauf zufrieden. Ihm ist zwar klar, dass dem Affekt nicht der Vorrang zugesprochen werden darf, aber er tut sich schwer, der Erkenntnis den Vorrang vorbehaltlos einzuräumen. Zum Wissen kommt auch ein Nichtwissen hinzu, zumal »schwinge dich auf unwissende Weise auf« [beziehungsweise auf nicht-erkenntnismäßigem Wege; ignote ascende] bei Dionysius steht, der in dieser ganzen Streitfrage von allen Beteiligten als eine maßgebliche Autorität zugrunde gelegt wird. Es ist für Cusanus auf alle Fälle ausgeschlossen, »unwissend« [ignote] allein im affektiven Sinne zu verstehen. Er plädiert für beides gleichzeitig: Wissen und Unwissen. Darin sieht er keine unbedingte Inkompatibilität. Somit akzeptiert er die Entweder/Oder-Alternative der Gegenposition nicht; »unwissend« muss in seinen Augen keineswegs »affektiv« bedeuten, es ist ja eine erkenntnistheoretische Bezeichnung. Freilich meint Cusanus nicht, dass man Gott erkennen könne, ohne ihn zu lieben. 6 Was also auf Brief von Nikolaus von Kues an Kaspar Aindorffer vom 22. Sept. 1452 (Vansteenberghe, Autour, 111–112; Deutsch: 549–550). 6 Vgl. Sermo CLXXII (Cod. Vat. lat. 1245, fol. 60ra, lin. 24–31): Unde si subtiliter 5

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jeden Fall feststeht, ist, dass ein solches Nichtwissen nicht affektiv gedeutet werden darf. Wie es aber genauer zu denken ist, vermag er jetzt noch nicht zu sagen. Am Schluss des Briefes bringt der Kardinal seine Unzufriedenheit mit seiner noch nicht ausgegorenen Stellungnahme offen zum Ausdruck: »Bitte, verzeiht für dieses Mal! Ein ander Mal deutlicher, so Gott will.« 7 Das ist allerdings nicht so zu verstehen, als hoffte Nikolaus auf eine persönliche Offenbarung beziehungsweise Erleuchtung. Tatsächlich hat er zwar eine göttliche Offenbarung im Sinne. Aber eigene Erfahrung hält er nicht für unverzichtbar. Um zu erkennen, was mystische Theologie ist, muss man nicht selbst Mystiker sein. Vielmehr kommt es Cusanus auf das Nachdenken an: »Es kann nämlich jemand den Anderen einen Weg zeigen, den er als den Richtigen bezeichnen hörte, obschon er selbst nicht darauf wandelt, – zuverlässiger jedoch kann es derjenige, der schauend auf diesem Wege dahinschreitet. Wenn ich etwas davon schreibe oder sage, wird es ziemlich unsicher sein. Denn ich habe noch nicht verkostet, ›wie lieb der Herr ist‹.« 8

Just auf solche unmittelbare Erfahrung beruft sich vergleichsweise allerdings Bonaventura, dessen Position Cusanus kannte und der die Hauptgegenfigur der Diskussion ist. Bonaventura darf als der große Vertreter einer affektiven Deutung der mystischen Vereinigung mit Gott gelten. Für ihn geschieht die mystische Vereinigung durch die Liebe. Das ist genau die Deutung, die Cusanus ablehnt und gegen die er argumentieren will. In diesem Rahmen stellt sich für ihn die herausfordernde Frage nach der mystischen Theologie. Sie hat die Form einer Kritik an der reinen Liebe. Wie soll er nun überzeugend zeigen, dass man in der persönlichen Gottesbeziehung zu viel Liebe beanspruchen kann?

advertis, mens deum amans, quem veraciter non amat ignorans, transfertur in deum; quod esse nequit, nisi deus fuerit quodammodo translatus in ipsum. Et cum deus est caritas, non potest mens scire deum et non diligere. Ita non potest esse vera scientia dei, ubi non est caritas. 7 Brief von Nikolaus von Kues an Kaspar Aindorffer vom 22. Sept. 1452 (Vansteenberghe, Autour, Ebd., 113; Deutsch: 551). 8 Ebd.

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Was bedeutet »erkenntnisloser Aufstieg«?

Geläufige Deutungen der mystischen Theologie im 15. Jahrhundert Zu Lebzeiten des Nikolaus von Kues war Mystik kontrovers. Über die genauere Bedeutung der mystischen Theologie verlief gerade um diese Zeit eine lebhafte Auseinandersetzung, deren Subtilität und Energie heute nur selten anzutreffen sind. Die cusanische Lehre äußert sich also als überlegte Stellungnahme im Rahmen eines aktuellen Streitgesprächs. 9 Einige der umstrittenen Definitionen der mystischen Theologie, die sich zu dieser Zeit herauskristallisiert hatten, sammelte in harmonisierender Absicht die 1408 veröffentlichte und vielgelesene, auch Nikolaus von Kues vertraute Schrift des Kanzlers der Universität Paris, Johannes Gerson (1363–1429): De Mystica Theologia. 10 Unter anderem führt er das bekannte Beispiel der in der Mitte des 15. Jahrhunderts kursierenden Auffassungen, das auch heute Anhänger findet, an: »Mystische Theologie ist irrational und verrückt, und dumme Weisheit.« 11 (Der Ausdruck »stulta sapientia« geht sicherlich auf 1. Kor 1, 17 zurück.) Weitere Beispiele belegen die Vielfalt der Positionen am Ende des Mittelalters: »Mystische Theologie ist die Ausdehnung des Geistes in Gott durch das Verlangen der Liebe.« 12

9 Vgl. J. Hopkins, Nicholas of Cusa’s Dialectical Mysticism: Text, Translation and Interpretative Study of De visione dei (Minneapolis 1985), 3–14; A. M. Haas, Deum mistice videre […] in caligine coincidencie. Zum Verhältnis Nikolaus’ von Kues zur Mystik (Basel/Frankfurt am Main 1989), bes. 11–17; E. Vansteenberghe, Autour; H. G. Senger, »Mystik als Theorie bei Nikolaus von Kues«, in: Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie, hrsg. von P. Koslowski (Zürich/München 1988), 111– 134; D. F. Duclow, »Mystical Theology and Intellect in Nicholas of Cusa«, in: American Catholic Philosophical Quarterly, 64 (1990), 111–129. 10 Hrsg. von A. Combes in: ders., Ioannis Carlerii de Gerson de Mystica Theologia (Lucani 1958). Dieser Teil der Schrift wurde als Vorlesung 1402/03 gehalten. Dazu vgl. J. Hopkins, Dialectical Mysticism, 288. 11 Theologia mistica est irrationalis et amens, et stulta sapientia. Die Bezeichnungen »irrationalis et amens« sowie »stulta sapientia« sind Zitate aus Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, cap. 7, 1 (Corpus dionysiacum, I: De divinis nominibus, hrsg. von B. R. Suchla [Berlin 1990], 194,16), I, 386. 12 Theologia mistica est extensio animi in Deum per amoris desiderium.

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»Mystische Theologie ist eine anagogische Bewegung, das heißt zu Gott aufwärts geführt durch leidenschaftliche und reine Liebe.« 13 »Mystische Theologie ist Weisheit, das heißt schmackhaftes Wissen, erlangt von Gott, während die höchste Spitze der affektiven rationalen Kraft mit ihm durch Liebe verbunden und vereinigt wird.« 14

Es gab auch Definitionen, die dem Verstand eine Beteiligung zubilligten: »Mystische Theologie ist erfahrungshafte Erkenntnis [cognitio experimentalis] Gottes, erlangt durch eine Verbindung des geistigen Affekts mit ihm.« 15 »Mystische Theologie ist ein erfahrungshaftes Erkennen Gottes, erlangt durch die Umarmung vereinigender Liebe.« 16

Allerdings ist eine solche Art Gotteserkenntnis, wie in der letzten Definition ausgedrückt, nicht das, was ein Thomas von Aquin im Sinne hat, auch dann nicht, wenn er die Schrift Über mystische Theologie des Dionysius auslegt. Wenn das zutrifft, dann ist die Behauptung von Alois M. Haas 17, dass es eine ähnlich lautende Definition der mystischen Theologie bei Thomas gebe, nicht sachgerecht. Bei ihm gibt es nämlich überhaupt keine Definition; ja, nicht einmal der Ausdruck »mystische Theologie« lässt sich bei ihm finden, abgesehen von der Titelnennung der gleichnamigen Schrift des Areopagiten. Ein harmonisierender Versuch wurde unter anderem von dem Karthäuser Mönch Vinzenz von Aggsbach attackiert, insbesondere in Bezug auf die Definition der mystischen Theologie. Vinzenz bestand darauf, dass der Mensch sich durch Liebe, unter völligem Verzicht des Verstandes, aufschwingt, und berief sich dabei auf das ignote in der Schrift des Dionysius. Er meinte, Gerson sei bestrebt, die mystische Theologie im Sinne des Dionysius mit der scholastischen Theologie und mit den Philosophen zu harmonisieren. Vinzenz warf GerTheologia mistica est motio anagogica, hoc est sursum ductiva in Deum, per amorem fervidum et purum. 14 Theologia mistica est sapientia, id est sapida notitia habita de Deo, dum ei supremus apex affective potentie rationalis per amorem coniungitur et unitur. 15 Mistica theologia est cognitio experimentalis habita de Deo per coniunctionem affectus spiritualis cum eodem. 16 Theologia mistica est cognitio experimentalis habita de Deo per amoris unitivi complexum. 17 A. M. Haas, Deum, 14. 13

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son vor, er überbewerte das Erkenntnismoment. Er selbst hingegen wollte die mystische Theologie von solchen Harmonisierungsversuchen säubern und eine unkompromittierte Auffassung vertreten. Die ganze Philosophie sei ihm zufolge für die mystische Theologie belanglos. Überhaupt die Assoziierung der Kontemplation mit Mystik sei eine Verdrehung. Schließlich artikulierte sich seine gesamte Kritik in dem Vorwurf, Gerson führe eine eigenwillige verfälschende Interpretation der großen Autorität Dionysius durch. Mittelalterliche Streitgespräche über systematische Fragen gestalteten sich oft als Streit über Interpretationen mehr oder wenig verbindlicher klassischer Texte. In einem solchen geistigen Zusammenhang befasst sich Nikolaus von Kues mit der ihm gestellten Frage. Seine eigene Stellungnahme gestaltet sich nämlich als eine Interpretation der Schrift Über mystische Theologie.

Die Auslegung der Glaubensautorität Pseudo-Dionysius Areopagita Kurt Flasch, der seine Habilitationsschrift über Cusanus verfasst hat, beschrieb Dionys in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8. Februar 1992) wie folgt: »Wer ihn nach Name, Stand und Adresse fragt, erntet nur Täuschung. Polizeilich und meldetechnisch war der größte aller Theologen (maximus divinorum scrutator, so Nikolaus von Kues) eine Vierpersonenperson, wenn nicht ein Hochstapler und Betrüger. Als ein Mann mit drei, genaugenommen mit vier Identitäten kam er aus der Zeitlosigkeit des griechischen Mythos und altchristlicher Wundergeschichten, ging quer durch die westeuropäische Kultur und Politik und verschwand in der Zeitlosigkeit der spekulativen Theologie oder in den Registraturen der Legendenforscher. Kopflos, buchstäblich kopflos, von Himmelslicht umstrahlt, zog er, sein Haupt auf dem Arm tragend, feierlich im Wechselgesang mit Engelchören, vom Berg der Märtyrer, den wir als Mont Martre aus anderen Geschichten kennen, über etwa zwei Meilen hinweg zu seinem Grab im Norden von Paris, zu der Stelle, die heutige als Saint Denis Endstation der Metro ist.«

Flasch geht soweit zu behaupten: »Ohne ihn lässt sich die Geschichte der europäischen Kultur nicht schreiben.« 18 Ähnlich meint Walter Völker: »Wenn ein berufener Kenner einmal mit überlegener Sach18

K. Flasch, »Strahl des göttlichen Dunkel. Die Entlarvung des Pseudo-Dionysius

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kenntnis eine Geschichte der Dionys-Interpretation schreiben würde, so würde sich in ihr die ganze geistige Entwicklung des Mittelalters abspiegeln.« 19 Die Stelle der Mystischen Theologie, auf die sich das Augenmerk sowohl von Cusanus wie von Bonaventura fokussiert, lautet: »Und spanne dich auf nicht-erkenntnismäßigem Wege, soweit es irgend möglich ist, zur Einung mit demjenigen hinauf, der alles Sein und Erkennen übersteigt.« 20 (Eine andere Übersetzung lautet: »Und lasse dich in der Weise der Unwissenheit aufziehen, soweit es möglich ist, zur Vereinigung mit dem, der alle Wirklichkeit und Erkenntnis übersteigt«.) Die Rezeption einer klassischen Autorität bedeutete in der mittelalterlichen Scholastik einen bestimmten hermeneutischen Vorgang. Was man bei der Interpretation der historischen Bedeutung eines Textes insbesondere im Sinne hatte, war bekanntlich nicht der Versuch, herauszufinden, was der menschliche Autor gedacht hatte, als er den Text schrieb, sondern vielmehr, was für eine objektiv gültige Wahrheit sich darin lesen ließ. 21 Das heißt, dass der Interpret nicht historisch im heutigen Sinne vorgegangen ist; er verhielt sich nicht etwa geschützt distanziert gegenüber dem Text. Mithin betrachtete er den überlieferten Text nicht historisch relativierend. Dennoch war sein eigenes Denken bei seiner Auslegung bestimmend. Er war nämlich bestrebt, so gut wie möglich eine Wahrheit zu finden, die zum Wortlaut des Textes passte. Auf diese Weise zeichnet sich unter anderem der Horizont seines eigenen Denkens ab; er wird nämlich den Text nur soweit verstehen, wie sein eigenes Verständnis der Realität reicht. Das Zitat kann auch bewirken, dass das Festhalten an einer Autorität das eigene Denken vorantreibt. Denn der Leser nimmt ja Areopagita ist ein wissenschaftsgeschichtliches Unikum«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8. Februar 1992), ohne Seitenangabe. 19 W. Völker, Kontemplation und Ekstase bei Pseudo-Dionysius Areopagita (Wiesbaden 1958), 218. 20 Corpus dionysiacum, II, hrsg. von G. Heil u. A. M. Ritter (Berlin/New York 1991), 142, lin. 8–9. Deutsche Übersetzung: Über die Mystische Theologie und Briefe, eingeleitet, übers. u. mit Anm. vers. von A. M. Ritter (Stuttgart 1994) (Bibliothek der griechischen Literatur, 40: Abteilung Patristik). Den Ausdruck ὰγνὠστως ανατἀθητι ins Latein zu übersetzen, hat offenbar Probleme bereitet, denn unterschiedliche Übersetzungen kommen vor, zum Beispiel: »ignote […] te ipsum intende«, »ignote ascendere«, »ignote consurgere« beziehungsweise – wie in Bonaventuras Vorlage – »inscius restituere«. 21 Vgl. Thomas von Aquin, In De caelo, 1, 22.

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nur diejenigen Wahrheiten in einem Text wahr, die er selbst als Wahrheiten zu sehen vermag. Manche Interpreten werden in ihrer eigenen Wahrheitserkenntnis dadurch überfordert; somit spiegelt sich die Grenze ihres Denkens klar. Deshalb ist es aufschlussreich, zu betrachten, wie verschiedene Denker im Mittelalter mit dem Text umgegangen sind und wie heutige Interpreten wiederum die Interpretation des Nikolaus von Kues verstehen. Ihr eigenes Denken, samt seiner Grenzen, zeichnet sich in ihren Textauslegungen ab. Ihre Individualität kommt dadurch zur Geltung. Mit dem Text der Mystischen Theologie – mit Kommentaren dazu sowie mit verschiedenen Übersetzungen – hat Cusanus viel Zeit verbracht; in seiner Bibliothek in Bernkastel-Kues befinden sich zwei lateinische Übersetzungen; eine weitere, seine bevorzugte Übersetzung ließ er selbst von einem Freund anfertigen. Obwohl die Authentizität des Autors der Mystischen Theologie bereits zu Lebzeiten des Cusanus angezweifelt wurde, verteidigte er Dionysius als echten Schüler Pauli unnachgiebig und schätzte ihn ungemein hoch. Er bezeichnet ihn als den größten aller Theologen, den göttlichen Dionysius, ja den göttlichsten Theologen. Sofern er als echter Paulus-Schüler anerkannt wurde, galten seine Schriften fast als kanonisch. Von seinen Werken existieren etwa 150 griechische Handschriften. Von der Mystischen Theologie gibt es zehn Übersetzungen ins Lateinische. Die Zahl der Editionen dieser Schrift ist aufschlussreich: im 16. Jahrhundert gab es 64; im 17. Jahrhundert 21; im 18. Jahrhundert zwei; im 19. Jahrhundert fünf und im 20. Jahrhundert acht. In der Neuzeit lässt sein Ansehen allerdings deutlich nach. In diesem Zusammenhang wird Martin Luther oft zitiert: »Dies ist ihre Lehre, die als die höchste göttliche Weisheit ausgegeben wird, von der ich auch einmal überzeugt gewesen bin, doch nicht ohne großen Schaden für mich selbst. Ich ermahne euch, dass ihr diese Mystische Theologie Dionysii […] wie die Pest verabscheut.« 22

Und weiter: »Deßgleichen ist die mystica Theologia Dionysii ein lauter Fabelwerk und Lügen.« 23

22 23

M. Luther, Werke, 39, 1 (Weimar 1926), 390. M. Luther, Tischreden (Werke, 3 [Weimar 1912]), I, n. 153, p. 72.

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Aber auch Thomas von Aquin verhielt sich auffallend zurückhaltend, obwohl er offensichtlich viel von De divinis nominibus hielt. »Es ist sicherlich nicht zufällig«, bemerkt Walter Völker, »dass Thomas v. Aquino keinen Kommentar zur MTh verfasst hat. Von den 1702 Dionys-Zitaten entfallen nur 20 auf diesen Traktat, und an den entscheidenden Stellen der Summa theologica schweigt er über ihn, das heißt doch wohl, dass er eine Mystik dieses Stiles ablehnt.« 24 Der Gipfel der dionysischen mystischen Theologie, von der die Bezeichnung mystische Theologie stammt, besteht in der Vereinigung der Ekstase. Ob Dionysius diese Ekstase selbst erfahren hat, lässt sich nicht ersehen. Er beschreibt nicht etwa die Freuden der erlangten Ekstase, sondern schildert den Weg dahin. Er beschränkt sich auf eine Mystagogie. Eigentlich ist es verfehlt, überhaupt von einer Erfahrung zu sprechen, denn die Vereinigung liegt Dionysius zufolge jenseits der Erfahrung; seine Theologie kennt keine Gotteserfahrung. Noch mehr: Die Gottesvereinigung liegt sogar jenseits der Erkenntnis, des Denkens, der Theoria, ja, des Seins (beziehungsweise der Realität). Zur Lehre des Dionysius gehört außerdem kein geistiges ›Organ‹, keine ›Spitze des Geistes‹, keine Stelle im Menschen also, in der die Vereinigung stattfindet. Außerdem handelt es sich dabei um eine der zwei Stellen aus der Mystischen Theologie, die Cusanus in Directio speculantis seu de li non aliud zitiert. 25 In eigenem Namen erläutert Cusanus die Aussage auf folgende Weise: »Wer im Anderen das ›Nichtandere‹ als eben das Andere erkennt, der erkennt, dass im bejahenden Satz ein verneinender bejaht wird. Und wer Gott vor der Bejahung und Verneinung erfasst, der erkennt, dass Gott in den positiven Aussagen, die wir über ihn machen, nicht eine Verneinung ist, die bejaht wird, sondern die Bejahung der Bejahung.« 26

Impliziert eine solche Erkenntnis, dass es in der Tat nicht bloß zwei, sondern drei viae gibt? Die Frage, ob es sich um zwei oder drei Wege

W. Völker, Kontemplation, 244. Zu dieser Frage hat sich eingehend M. Waldmann geäußert: »Thomas v. Aquin und die ›Mystische Theologie‹ des Pseudo-Dionysius«, in: Geist und Leben, 22 (1949), 121–145. 25 Directio speculantis seu de li non aliud, cap. 14, n. 71. Vgl. auch De docta ignorantia, I, cap. 4, n. 12, p. 11, 3: supra omnem affirmationem est pariter et negationem; dazu K. Flasch, Die Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues. Problemgeschichtliche Stellung und systematische Bedeutung (Leiden 1973), 179–182. 26 Directio speculantis seu de li non aliud, prop. 14, n. 119, p. 63, 21–25. 24

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handelt, ist nicht neu. Schon in der Dionysius-Tradition vor Cusanus findet sich die Auffassung, dass man es eigentlich mit drei zu tun hat. Diese Lesart, die Cusanus nicht gänzlich unbekannt ist, erläutert er in einem frühen Predigtentwurf, wobei er den dritten Weg, wie Thomas es tut, als via per eminentiam bezeichnet. »Nach Dionysius«, sagt er ausdrücklich, »steigen wir zu Gott auf dreifachem Wege auf.« 27 Während Thomas von Aquin lehrt, dass es drei gibt, besteht Kurt Flasch darauf, dass es nur zwei sind – allerdings ohne seinen Leser in Kenntnis zu setzen, dass es sich um eine Streitfrage handelt. Diese Einschränkung ist ihm wichtig, geht es doch um einen Knotenpunkt in seiner Cusanusinterpretation. Diese bekannte Auffassung, die zum Beispiel durch keinen geringeren Denker als Thomas von Aquin öfter vertreten wird und sich auf die Position von Flasch unterminierend auswirkt, hätte dieser dennoch berücksichtigen müssen. Bei Dionysius lautet der fragliche Text: »Man muss ihm sowohl alle Eigenschaften der Dinge zuschreiben und (positiv) von ihm aussagen – ist er doch ihrer aller Ursache –, als auch und noch viel mehr ihm diese sämtlich absprechen – ist er doch allem Sein gegenüber jenseitig. Man muss sich dabei (allerdings) vor der irrigen Annahme hüten, diese Verneinungen seien (einfachhin) das Gegenteil jener Bejahungen. Vielmehr muss man ihn (den göttlichen Urgrund) allem weit vorausliegend denken, jenseits all dessen, was ihm etwa entzogen werden möchte, der doch sowohl jede Verneinung wie jede Bejahung übersteigt.« 28 Vgl. Sermo XX, n. 5, 3–17: Dionysium ad Deum ascendimus, scilicet ab istis visibilibus ut a causatis, […] secundo per eminentiam, […] tertio per remotionem.« Vgl. De docta ignorantia, I, cap. 16, n. 43, p. 30, 19–31, 12; Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, cap. 7, 3 (PG, 3, 859–872). In Trialogus de possest lehrt Nikolaus eine via superexcellentiae. Trialogus de possest, n. 56, 16. Vgl. J. Hopkins, Dialectical Mysticism, Anm. 21: »According to Gerson […] the via superexcellentiae legitimates some measure or real analogy and proportion between the divine nature and the human conception thereof; […] but, unlike Gerson, he [Nikolaus von Kues] uses it to establish the fact of God’s incomprehensibility. For though we affirm that God is supergood, superbeautiful – indeed, supersensible, superimaginable, superintelligible – what we mean is that He infinitely surpasses every characteristic that any finite thing has and every characteristic that any finite thing does not have but could have. When God is encountered mystically, He is encountered as transcending per infinitum all differentiation – encountered as beyond the coincidence of contradictories such as good and not-good, being and not-being. […] Thus, Nicholas can claim that God is encountered beyond the via positiva and the via negativa.« 28 Über mystische Theologie, I, 2. »Man kann ihr (der Allursache) überhaupt weder etwas zusprechen noch absprechen. Wenn wir vielmehr bezüglich dessen, was ihr nachgeordnet ist, bejahende oder verneinende Aussagen machen, dann ist es nicht 27

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Flasch liest diesen Text unter der Annahme, dass es sich nur um zwei viae handeln kann. 29 Dass der Text anders gelesen werden kann und gelesen worden ist, erwähnt er gar nicht und lässt seine Leser also im Dunkeln. Dionysius selbst stehen der positive Weg und der negative Weg nicht in einem dialektischen Verhältnis zueinander. In dem zitierten Text wird keine Möglichkeit angedeutet, dass eine Koinzidenz beider Wege durch eine wechselseitige Beeinflussung herbeigeführt werden könnte. Für Dionysius – im Unterschied etwa zu Thomas von Aquin – ist die negative Methode nicht die Verneinung der durch die positive Methode jeweils erreichten Aussagen. Sie laufen vielmehr getrennt und parallel zueinander ab. (Die negative Methode ist mit dem Bildhauer vergleichbar, der die Figur aus dem Stein herausholt, indem er überflüssiges Material entfernt. Die positive Methode ist mit der Herstellung der Figur aus zusammengefügtem Ton vergleichbar). Bei Dionysius ist negative Theologie nicht einfach die Lehre von der Unmöglichkeit der Gotteserkenntnis. Sie ist selbst schon gültige Erkenntnis. Nicht nur in Bezug auf Cusanus ist die Behauptung, die zum Beispiel Dorothee Sölle mit Berufung auf Erich Fromm äußert, verfehlt: »Aus dieser negativen Theologie, der Unmöglichkeit der Gotteserkenntnis, folgt der mystische Schritt der Vereinigung, der unio mystica.« 30 Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass Dionysius wesentlich mehr beansprucht, als nur den christlichen Glauben in die Sprache der Platonisten zu übersetzen, wie oft behauptet wird. Dionysius wollte sicherlich nicht nur Platonisten in ihren eigenen Kategorien ansprechen. Er wollte nicht den Platonismus übernehmen, sondern ihn übertreffen und, so könnte man sagen, für das Christentum gewinnen. Eine gegenteilige Interpretation wäre anachronisetwa sie selbst, die wir bejahen oder verneinen. Denn sie, die allvollendende, einzige Ursache aller Dinge, ist ebenso jeder Bejahung überlegen, wie keine Verneinung an sie heranreicht, sie, die jeder Begrenzung schlechthin enthoben ist und alles übersteigt.« Ebd., V. 29 Vgl. K. Flasch, Metaphysik des Einen, 198: »[…] doch wohl nur als äußerste Aufgipfelung der negativen Theologie zu verstehen. Jedenfalls ist es sehr gewagt, von diesem einen Satz her den sonst so deutlich erklärten Vorrang der negativen Theologie bei Dionysius abbauen zu wollen.« Vgl. Dionysius Areopagita, De mystica theologia 1. (PG 3,997 B). I, 1 3, 997B). 30 D. Sölle, Die Hinreise (Stuttgart 1975), 152–153.

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tisch. Die Frage stellt sich: Ist das ihm aber wirklich gelungen – oder aber hat er lediglich ein sprachliches Konstrukt errichtet?

Der wichtigste Gegner: Bonaventura Der in den Augen des Cusanus gegenwärtige Gegner ist nicht ein rationalistischer Denker wie etwa Thomas von Aquin (der wie auch Cusanus der Vernunft eine Priorität einräumt), sondern sind diejenigen, die den Affekt hervorheben. Der klassische Vertreter dieser Richtung ist Bonaventura, der Zeitgenosse des Thomas. Eine direkte Rolle in der Fragestellung der Tegernseer Mönche spielt außerdem die Schrift Theologia mystica, die lange Zeit Bonaventura zugeschrieben wurde, die aber tatsächlich der gegen Ende des 13. Jahrhunderts lebende Karthäuser Hugo von Balma verfasste. 31 Durch den Vergleich mit Bonaventura wird die cusanische Position deutlicher. Bei Bonaventura wird der Ort der Mystik mit genau denselben Worten benannt wie in dem Brief der Tegernseer Mönche an Cusanus mit der Frage nach der mystischen Theologie: Während es in dem Brief »die Spitze des Geistes, die man Synderesis nennt« heißt, spricht Bonaventura in seiner berühmten, im Jahre 1259 entstandenen Schrift Itinerarium mentis in Deum (auf Deutsch etwa Wegbeschreibung beziehungsweise Reiseführer des Geistes zu Gott) von der »Geistesspitze beziehungsweise dem Gewissensfunken [apex mentis seu synderesis scintilla]«. Eine Kopie dieser Schrift befand sich im Besitz des Cusanus seit seiner Studentenzeit. 32 Für Bonaventura ist Pseudo-Dionysius gleichfalls maßgeblich und wird bei ihm häufig zitiert. Die mystische Theologie wird von Bonaventura stufenartig wie folgt eingeordnet: »Es gibt nun gemäß den sechs Aufstiegsstufen zu Gott sechs Kräftestufen der Seele, auf denen wir aus der Tiefe zum Gipfel, von den Außenheiten zum Innersten, von den Zeitlichkeiten zu den ewigen Dingen hinansteigen; das sind: das Sinnenleben, die Vorstellung, die Schlusskraft, der Verstand,

Hugo von Balma, Théologie mystique. Sie ist enthalten im Codex Straßburg 84. Zur Frage des Einflusses Bonaventuras auf Cusanus vgl. F. N. Caminiti, »Nikolaus von Kues und Bonaventura«, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft, 4 (Mainz 1964), 129–144.

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die Einsicht [intelligentia] und die Spitze des Geistes [apex mentis] oder der [synderesis scintilla].« 33

Die mystische Theologie bedeutet für Bonaventura eine Entrückung: »Christus hat das Wahrheitswissen gelehrt nach der dreifachen Art der Theologie, nämlich der symbolischen, der eigentlichen und der mystischen [triplicem modum theologiae, scilicet symbolicae, propriae et mysticae], auf dass wir in der symbolischen des Sinnfälligen uns recht bedienen, in der eigentlichen das Verstandhafte recht gebrauchen und in der mystischen zu Weggängen im Geiste entrückt werden [per mysticam rapiamur ad supermentales excessus].« 34

Dieser Vorgang wird näher bestimmt im Siebenten Hauptstück der Schrift, das die Überschrift trägt: »Von der mystischen Entrückung des Geistes [De excessu mentis mistico], in welcher der Verstand [intellectus] Ruhe findet, indes der Affekt gänzlich zu Gott durch die Entrückung hinübergeht [in Deum per excessum totaliter transeunte]«. Hier lehrt Bonvaventura eine Entrückung, die auch das eigene Selbst hinter sich lassen sollte: »Da bleibt nur übrig, dass er bei dieser Ausspähung überschreite und hinter sich lasse nicht nur die da liegende sinnfällige Welt, sondern auch sich selbst.« 35 (Solche Redewendungen kommen auch bei Cusanus vor, aber anders). Sie kommt zustande nicht aufgrund eigener Anstrengung, sondern durch Christus. Nicht eine theologische, geschweige denn eine philosophische Überlegung, Analyse oder Idee dient Bonaventura als Gewähr für seine Stellungnahme, sondern die konkrete Erfahrung seines Vorbildes Franz von Assisi: »Das wurde auch dem seligen Franziskus gezeigt, als ihm in der Entrückung des Geistes beziehungsweise der Betrachtung [in excessu mentis seu contemplationis] auf dem hohen Berge – wo ich, was ich hier geschrieben habe, im Geiste durchging – der ans Kreuz geschlagene Seraph mit sechs Flügeln erschien, wie ich und eine Reihe anderer von dem Gefährten von ihm, der damals bei ihm war, dort gehört haben. Da schritt er in Gott hinüber durch die Entrückung der Betrachtung [ubi in Deum transiit per contemplationis excessum] und wurde zu einem Beispiel der vollkommenen Betrachtung gemacht, wie er es früher für die Tätigkeit war, gleichsam ein zweiter Jakob und zweites Israel (Gen 35, 10), so dass Gott alle wahrhaft geistigen Männer

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Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum, cap. 1, n. 6. Ebd. Ebd., cap. 7, n. 1.

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durch ihn mehr im Beispiel als mit einem Wort zu solcher Art Hinübergang und Weggang des Geistes [transitum et mentis excessum] einlud.« 36

Schließlich wird die vorrangige Rolle des (strittigen) Affekts unzweideutig hervorgehoben: »Soll dieser Weggang vollkommen sein, so muss er alle verstandesmäßigen Tätigkeiten [intellectus operationes] hinter sich lassen, und die Auskrönung des Gemütes [apex affectus] muss ganz in Gott hinübergelassen und hinübergeformt werden. Das aber ist das Geheimnis [mysticum] und das Heimlichste, das niemand kennt, außer dem, der es empfängt (Offb 2, 17).« 37

Zur Frage nach der inneren Möglichkeit einer solchen Vereinigung beruft sich Bonaventura also auf die übernatürliche Gnade. Der Affekt führt dahin, wo der Verstand überfordert ist. Statt an einen Lehrer oder an ein Buch soll der Gottsuchende sich an den Bräutigam wenden. Für Bonaventura findet die Vereinigung mit dem Unerkannten also jenseits des Erkenntnisvermögens statt. »Unwissend« ist sie nach ihm in dem Sinne zu verstehen, dass sie affektiv ist. Es handelt sich also genau um die Position, die Cusanus ablehnt. Eine solche Einschränkung des Intellekts 38 könnte einen Nikolaus von Kues, der den Ausdruck »mystische Theologie« in Anspruch nimmt, um die höchste Stufe seines Denkens zu bezeichnen, kaum befriedigen. Es sei zum Schluss angemerkt, dass man nicht übersehen darf, dass die Lehre Bonaventuras eine Rezeption erfahren hat, die bis in die heutige Zeit einflussreich gewirkt hat. So hat Karl Rahner sich in seiner frühen Zeit, schon vor dem Erscheinen von Geist in Welt, eingehend mit Bonaventura befasst. Bei diesem fand er die Idee einer unmittelbaren Gotteserfahrung, »die bei absoluter Unbeteiligtheit des Intellekts vor sich geht« 39. Sie ist für ihn von Interesse, weil sie beansprucht, »jenseits des Intellekts« 40 zu liegen. Rahners Idee des »Vorgriffs«, die eine Übersetzung des Ausdrucks excessus mentis bei Ebd., n. 3. Ebd., n. 4. 38 Zur Frage, inwiefern der Vorwurf des Anti-Intellektualismus beziehungsweise Anti-Philosophismus Bonaventuras gesamten Denken gegenüber angemessen ist, vgl. A. Speer und J. A. Aertsen, »Die Philosophie Bonaventuras und die Transzendentalienlehre«, in: Recherche de Théologie et Philosophie médiévales, 64 (1997), pp. 32– 66. 39 K. Rahner, Das Dynamische in der Kirche, 3. Aufl. (Basel/Freiburg/Wien 1965), 117, Anm. 42. 40 K. Rahner, »Der Begriff der ecstasis bei Bonaventura«, in: Zeitschrift für Aszetik und Mystik, 9 (1934), pp. 1–19, hier: 13. 36 37

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Thomas von Aquin sein sollte, lässt sich eher auf Bonaventura zurückführen. 41

Der zweite, endgültige Brief Zwölf Monate nach seinem ersten Antwortschreiben schickt Cusanus seinen zweiten Brief mit der versprochenen Stellungnahme zur Frage der Mönche. So intensiv hat er sich mittlerweile mit der Frage befasst – trotz vieler Probleme im Zusammenhang mit der Leitung seiner neuen Diözese –, dass er nicht nur einen Brief über die Bedeutung des Dionysius-Ausdrucks, sondern sogar eine ganze Schrift zum Thema verfasst hat und eine größere Abhandlung nachzusenden verspricht. Sein Grundsatz, dass Liebe allein, ohne jedwede Erkenntnis, nicht ausreiche, bleibt unverändert bestehen und wird nun gründlicher durchdacht. Was Cusanus nunmehr dem Affekt entgegensetzt, mutet unerwartet an: Es ist nämlich der Begriff der Unendlichkeit. Das ist seine neue Entdeckung. Der Begriff der Unendlichkeit kommt im ersten Brief noch nicht vor. Eine Metapher aus der Mystischen Theologie aufgreifend bekundet er in der angekündigten Schrift De visione dei:

Vgl. ebd.; ders., »La doctrine des ›sens spirituels‹ au moyen-âge, en particulier chez saint Bonaventure«, in: Revue d’ascétique et de mystique, 14 (1933), 263–299, bes. 279–289. Für eine Kritik an Rahners Bonaventura-Interpretation vgl. im selben Jahrgang derselben Zeitschrift, 124–142; 219–232. Zwar nennt Rahner eine solche Ekstase »eine dunkle Erfahrung« (ebd., 7), jedoch spielt sie gar keine Rolle in der Exposition seiner Gotteslehre selbst. Einen Versuch, die Unbegreiflichkeit Gottes auf eine solche Ekstasenlehre zu gründen, hat H. Bremond gemacht; vgl. Das wesentliche Gebet (Regensburg 1936), 163–164. Für Bonaventuras Vorstellung vom Menschen mag ein Vermögen »jenseits des Intellekts« (»Der Begriff der ecstasis bei Bonaventura«, 13) denkbar sein, aber es liegt eine ganz andere erkenntnistheoretische Situation vor, wenn Rahner es mit folgender Formulierung ausdrückt: der apex mentis »liegt also auf einer tieferen Seinsschicht als der Intellekt« (ebd., 16; meine Hervorhebung). Denn in diesem Fall leuchtet es von selbst ein, dass der Vorgriff (und der durch ihn begründete Intellekt) jedweden apex mentis wiederum umfasst. Der Vorgriff begründet darüber hinaus die Unmöglichkeit einer intellektuellen Anschauung als auch, wegen seiner Unbegrenztheit, jede andere Art von unmittelbarer Erfahrung, die den Boden der Sinnlichkeit angeblich verläßt; vgl. Geist in Welt. Zur Metaphysik der endlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin (München 21957), 41, Anm. 8. Was Thomas von Aquin anbelangt, so identifiziert Rahner bei diesem folgerichtig ecstasis und excessus mentis; vgl. Thomas von Aquin, De veritate, q. 13, a. 2, ad 9.

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»Ich habe den Ort gefunden, an dem man Dich unverhüllt zu finden vermag. Er ist umgeben von dem Zusammenfall der Gegensätze.« 42 In der Zwischenzeit hatte er insbesondere den Kommentar Alberts des Großen zur Mystischen Theologie gelesen, den er am 9. August 1453 erhalten und neben den anderen Dionysius-Kommentaren Alberts »fleißig studiert und […] zustimmend benützt hat« 43. Es ist erwähnenswert, dass Albert das Wort ignote in seinem Kommentar einfach überspringt. 44 Wichtig ist, dass Cusanus Alberts Trennung der via negativa und via positiva ablehnt. (Allerdings beanstandet er Alberts Ansicht nicht, dass die Unwissenheit nur die natürliche Erkenntnis betrifft, nicht aber die übernatürliche.) In einer Randbemerkung zu Alberts Kommentar stellt Cusanus fest: »Gott befindet sich nur jenseits des Zusammenfallens der Gegensätze. In ihm fallen das Große und Kleine, das Viel und Wenig zusammen. Und das«, stellt er fest, »ist die mystische Theologie.« 45 Nikolaus erläutert das Problem nun mit den folgenden Worten: »Es ist nämlich notwendig, dass jeder Liebende, der sich zur Vereinigung mit dem Geliebten unwissend aufschwingt, irgendeine Erkenntnis voraussetzt, weil das vollkommen Unbekannte weder geliebt noch gefunden wird, und auch wenn es gefunden würde, es nicht erfasst werden könnte.« 46

Da der Brief von grundlegender Wichtigkeit für seine mystische Theologie ist (nach Kurt Flasch »einer der wichtigsten Texte des Cusanus« 47 überhaupt) und da er zudem nicht leicht zugänglich ist, zitiere ich ihn ausführlich: Repperi locum, in quo revelate reperieris, cinctum contradictoriorum coincidentia. Et iste est murus paradisi in quo habitas, cuius portam custodit spiritus altissimus rationis, qui nisi vincatur, non patebit ingressus. De visione dei, cap. 9, n. 37, 7–8. 43 L. Baur, Nicolaus Cusanus und Ps.-Dionysius im Lichte der Zitate und Randbemerkungen des Cusanus (Cusanus-Texte, III: Marginalien, 1) (Heidelberg 1941), 16. 44 Albertus Magnus, Super Dionysii Mysticam theologiam (Opera omnia, Bd. XXXVII,2, ed. P. Simon [Münster 1978], 453–475). 45 L. Baur, Nicolaus Cusanus und Ps.-Dionysius im Lichte der Zitate und Randbemerkungen des Cusanus (Heidelberg 1941), 112. 46 Brief von Nikolaus von Kues an Kaspar Aindorffer vom 14. Sept. 1453 (E. Vansteenberghe, Autour, 115; Deutsch: 553.). Vgl. Nikolaus von Kues, De apice theoriae, n. 3, 3–5: Nam quiditas, quae semper quaesita est et quaeritur et quaeretur, si esset penitus ignota, quo modo quaereretur, quando etiam reperta maneret incognita? 47 K. Flasch, Nikolaus von Kues, 442. H. G. Senger, »Mystik als Theorie«, 114 stellt fest: »Alle wesentlichen Bestimmungen seiner mystica theologia finden sich kurz und 42

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»Ich habe gesehen, was Ihr in Eurem mir immer sehr willkommenen Schreiben von mir erbittet, nämlich [mitzuteilen], was ich davon halte, dass der große Dionysius Areopagita dem Timotheus befiehlt, auf unwissende Weise zur mystischen Theologie emporzusteigen. Und wenn jener Karthäusermönch [= Vinzenz von Aggsbach], ein Mann, der Liebe zu Gott besaß, auch noch so ausgezeichnet die Schriften des Kanzlers Gerson gelesen hat und meint, dass derselbe nicht richtig geurteilt habe, besonders weil er die mystische Theologie eine Betrachtung [contemplationem] nennt, beabsichtigt Dionysius trotzdem – soweit ich es verstehe und es aus dem jüngst übersetzten Text hervorgeht – nichts anderes, als dem Timotheus klarzumachen, dass jene Betrachtung [speculatio], welche um den Aufstieg unseres vernunfthaften Geistes bis zur Vereinigung mit Gott [ascensum rationalis nostri spiritus usque ad unionem Dei] und um jene Schau, die ohne Schleier ist, kreist, nicht vollendet werden wird, solange das, was für Gott gehalten wird, verstanden wird [intelligitur], wie er es im Brief I an den Mönch Gaius selbst darstellt. 48 Daher sagt er, dass es notwendig sei, dass er über jedes Erkennbare, ja sogar über sich selbst, hinaussteigt, in welchem Fall es sich ereignen wird, dass derselbe in die Schatten und Finsternis eintritt. Denn wenn der Geist nicht weiter versteht, wird er im Schatten der Unwissenheit stehen; und wenn er die Finsternis wahrnimmt, ist das ein Zeichen, dass Gott dort ist, den er sucht.« 49

Dann beruft sich Cusanus auf die klassische Analogie zur Sonne, deren Helle – platonisch paradox – zuerst blendet und sich in Form von Finsternis erscheint: »So wie beim Suchen nach der Sonne, wenn man sich ihr richtig nähert, Finsternis entsteht in dem schwachen Sehvermögen wegen der Erhabenheit der Sonne; und diese Finsternis ist ein Zeichen, dass der Suchende in rechter Weise auf die Sonne zugeht, um sie zu sehen; und wenn die Finsternis nicht erschiene, so würde er nicht auf rechte Weise zum prächtigsten Licht vordringen.« 50

Es handelt sich aber nach Cusanus wohlgemerkt nicht um die via negativa, zumal es sich, wie er sagt, um eine Offenbarung handelt:

bündig« in diesem Brief. Der Brief wird von M. Thurner, Gott als das offenbare Geheimnis nach Nikolaus von Kues (Berlin 2001), 353–364, ausführlich behandelt. 48 Vgl. Dionysius Areopagita, Brief I: »Und wenn jemand, der Gott schaut, begreift, was er schaut, dann hat er ihn nicht gesehen, sondern vielmehr etwas von seinen Wirklichkeiten und Erkenntnissen.« 49 Brief von Nikolaus von Kues an Kaspar Aindorffer vom 14. Sept. 1453, Vansteenberghe, Autour, 113–114; Deutsch: 551–552. 50 Ebd., 114; Deutsch: 552.

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»Und obschon fast alle der gelehrtesten Männer sagen, dass die Finsternis dann entdeckt wird, wenn alles von Gott entfernt wird, so dass auf diese Weise eher nichts denn etwas dem Suchenden begegnet, ist es trotzdem nicht meine Meinung, dass jene sich in die Finsternis richtig einschleichen; da die negative Theologie entfernt und nichts setzt, wird Gott durch jene dann nicht auf geoffenbarte Weise gesehen, denn Gott wird nicht als existierend gefunden, sondern eher als nicht existierend.« 51

Aber genauso wenig handelt es sich um die via positiva: »Und wenn er bejahend gesucht wird, wird er nicht gefunden, wenn nicht durch Nachahmung und verhüllt, und keineswegs in der Weise einer Offenbarung.« Daraus lässt sich schließen, dass die Zusammenführung der beiden viae nicht selbst die Lösung ist; sie bedarf einer tieferen Begründung. Diese findet Cusanus in einem »Sprung«, wie er es selbst bezeichnet, über die beiden viae hinaus: »Dionysius hat aber an vielen Stellen eine Theologie durch Teilung [per disiunctionem] gelehrt, nämlich dass wir uns Gott entweder bejahend oder verneinend annähern; aber in dieser kleinen Schrift, wo er die mystische und verborgene Theologie auf eine mögliche Weise aufzeigen will, springt er [saltat] über die Teilung hinaus [supra disiunctionem] bis in die Verknüpfung und den Zusammenfall, oder in die einfachste Vereinigung, die nicht zweispurig [lateralis] verläuft, sondern direkt über jede Entfernung und Setzung hinaus, wo die Entfernung mit der Setzung zusammenfällt und die Verneinung mit der Bejahung.« 52

Es ist also zwar richtig, dass Cusanus die Trennung der beiden Wege ablehnt, aber es ist dennoch nicht einfach eine Frage der Koinzidenz beider Wege, das heißt der Überwindung der Einseitigkeit, wie Kurt Flasch suggeriert. 53 In diesem Sprung besteht die mystische Theologie, wobei diese ausdrücklich von der Philosophie abgesetzt wird: »Und jene ist die verborgenste Theologie, zu der kein Philosoph gelangt ist, und auch nicht gelangen kann, solange der der gesamten Philosophie gemeinsame Grundsatz besteht, nämlich dass zwei widersprüchliche Dinge nicht zusammenfallen können. Daher ist es notwendig, dass, wer Theologie auf mystische Weise treibt, sich über jedes Denken und jede Einsicht hi-

Ebd.; Deutsch: ebd. Ebd.; Deutsch: 552–553. 53 Vgl. K. Flasch, Nikolaus von Kues, 440–443. »Das Eintreten in die göttliche Dunkelheit besteht nicht im Festhalten der negativen Theologie, sondern in der Einsicht, dass auch diese noch eine Einseitigkeit ist, die denkend zu überwinden ist.« Ebd., 441. 51 52

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naus, auch in dem er sich selbst verlässt, in die Finsternis hineinwirft, und auf diese Weise wird er entdecken, wie das, was der Verstand für unmöglich hält, nämlich dass Sein und Nicht-Sein zugleich vorkommen, die Notwendigkeit selbst ist. Ja, wenn eine solche Finsternis der Unmöglichkeit und eine solche Dichte nicht gesehen würde, so wäre es nicht die höchste Notwendigkeit, welche jener Unmöglichkeit nicht widerspricht; aber die Unmöglichkeit ist die wahre Notwendigkeit selbst.« 54

Zugleich bleibt Cusanus bei seiner Ablehnung der affektiven Deutung: »Ich will niemanden tadeln, aber mir scheint dies der Fall, dass Dionysius keineswegs wollte, dass Timotheus sich unwissend emporschwingen müsste, wenn nicht in der Weise, in welcher ich es vorher dargestellt habe, und nicht in der Weise, in welcher es der Karthäuser will, nämlich in dem man durch das Gefühl [per affectum] den Verstand verläßt. Und der Ausdruck [»sich unwissend aufschwingen«] besagt das, was ich behauptet habe.« 55

Nikolaus spricht dem Verstand durchaus eine Rolle zu: »Es kann nämlich nicht gesagt werden, der, der sich Gott annähert, schwinge sich auf, wenn er sich selbst nicht nach oben bewegt; diese Bewegung, auch wenn sie über ihn selbst hinaus geht – denn, er [= Gott] bleibt, wie er an sich ist, unbekannt –, ist trotzdem auf die Vereinigung mit dem Gesuchten auch auf unwissende Weise gerichtet. Man kann nämlich nicht sagen, man schwinge sich unwissend auf, es sei denn von der verstandesmäßigen Ebd., 114–115; 553. Der Brief fährt an dieser Stelle fort: »Und wenn jemand den Text auf Griechisch und Latein liest, wird er sehen, dass Dionysius in diesem Sinne entsprechend meiner Ansicht verstanden werden muß. Daher sagt er, dass man alles Erkennbare von sich abstoßen und seine Aufmerksamkeit auf sich selbst auf unwissende Weise richten sollte, weil man dann entdecken wird, dass die Verwirrung, in welche man sich auf unwissende Weise aufschwingt, Sicherheit ist, Finsternis Licht und Unwissenheit Wissen. Die Art und Weise aber, über welche der Karthäuser spricht, kann weder mitgeteilt noch gewußt werden, noch hat er sie, wie er selbst schreibt, erfahren. Es ist nämlich notwendig, dass jeder Liebende, der sich zur Vereinigung mit dem Geliebten unwissend aufschwingt, irgendeine Erkenntnis voraussetzt, weil das vollkommen Unbekannte weder geliebt noch gefunden wird, und auch wenn es gefunden würde, es nicht erfaßt werden könnte. Deswegen ist jener Weg, wo jemand danach trachtet, unwissend emporzustreben, weder sicher noch in Schriften mitzuteilen. Und der Engel Satans, der sich in einen Engel des Lichtes verwandelt, kann den Vertrauensseligen sehr leicht vom rechten Weg abbringen; es gebührt sich nämlich, dass sich der Liebende eine Vorstellung vom Geliebten macht; was, wenn er es täte, er notwendigerweise auf eine erkennbare Art und Weise täte, wenn er nicht die Finsternis betreten würde, und dann würde er meinen, Gott gefunden zu haben, wenn er etwas Ähnliches gefunden hätte.« 55 Ebd. 54

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Kraft her; der Affekt aber schwingt sich nicht unwissend auf, weil er es auch nicht wissentlich tut, es sei denn, dass er das Wissen vom Verstand hat. Wissen und Unwissenheit betreffen den Verstand, nicht den Willen, so wie Gut und Böse den Willen, nicht aber den Verstand betreffen.« 56

Allerdings fällt Nikolaus die nähere Bestimmung des Vorgangs schwer: »Auf welche Weise aber wir uns selbst zur mystischen Theologie hinüberschwingen können, damit wir von der Notwendigkeit in der Unmöglichkeit und von der Bejahung in der Verneinung kosten, ist wahrhaftig schwer mitzuteilen, denn jenes Kosten, welches ohne die höchste Wonne und Liebe nicht sein kann, kann in dieser Welt nicht vollkommen besessen werden.« 57

Seine Erklärung mag überraschen: »Ich habe in diesen Tagen eine kleine Schrift [Über mathematische Ergänzungen] an den Papst Nikolaus verfasst; sie ist sehr ungewöhnlich, denn sie offenbart alle bis jetzt unbekannten Dinge in den mathematischen Wissenschaften. Dieser Schrift habe ich eine andere [Über theologische Ergänzungen] hinzugefügt, in welcher ich die mathematischen Figuren in die theologische Unendlichkeit übertragen habe; und ich habe ein Kapitel darüber eingefügt, wie wir aus einem Bildnis von einem Betrachter, der alles und zugleich jedes Einzelne sieht, welches ich als Gemälde habe, durch eine sinnliche Erfahrung zur mystischen Theologie geführt werden, so dass wir mit höchster Gewissheit einsehen, daß die unendliche Schau alle Dinge zugleich auf eine solche Weise sieht, dass jedes Einzelne als Einzelnes gesehen wird, und dass sie alles mit aller Liebe und Sorgfalt umschließt, als würde sie sich um nichts anderes als dieses Einzelne kümmern; und man kann sich nicht vorstellen, dass sie sich um ein anderes kümmern würde, wenn dies demjenigen nicht geoffenbart würde; u. dgl. m. Diese abgeschlossenen Schriften werde ich nun zum ersten Mal in Umlauf bringen. Trotzdem habe ich mir vorgenommen, diese erfahrungsbezogene Methode [praxim experimentalem], die sehr schön und klar ist, zu erweitern; und ich habe einen Maler, der sich bemühen wird, ein ähnliches Gesicht zu malen. Mit wundervoller Freude werdet Ihr selbst gemäß der Schrift, welche ich ähnlicherweise hinzuzulegen vorhabe, alles Erkennbare von einer gewissen Erfahrung aus erjagen können, besonders in der mystischen Theologie. Bis jetzt habe ich kein ansprechenderes Mittel gefunden, an dem unsere Schwäche sich erfreuen kann, um zu jenem Begriff zu gelangen, der über uns selbst hinaus existiert. Und ich werde nicht ruhen, bis ich das vollendet habe.« 58 56 57 58

Ebd.; Deutsch: 554. Ebd. Brief vom 14. Sept. 1453 an Kaspar Aindorffer (116). (Hervorhebung von mir).

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Kurz gesagt: Cusanus übernimmt die Lösung zum Problem der mystischen Theologie ausgerechnet aus der Mathematik. In dieser Schrift (Über theologische Ergänzungen) wird Gott von Cusanus zum ersten Mal die absoluta infinitas genannt. (Der Ausdruck kommt vorher nur einmal vor, aber nicht in Bezug auf Gott). Zur Bestätigung lehrt er einige Jahre später in der Cribratio Alkorani (1460/61), dass das einzige, was wir über Gott wissen, ist, dass er die Unendlichkeit selbst ist. 59 Die Unendlichkeit selbst transzendiert sogar alle Gottesnamen, und seien es das Eine, das Gute, die Trinität, oder gar Vater, Sohn und heiliger Geist usw. in Bezug auf alles, was gesagt oder gedacht werden kann. Und das will Cusanus von Dionysius gelernt haben (ut Dionysius Areopagita hoc astruit). 60 Diese neu entdeckte Theologie stellt Cusanus in der unmittelbar nach Über theologische Ergänzungen abgeschlossenen Schrift De visione dei dar. Gott gilt darin als die (absolute) Unendlichkeit selbst und bildet als solche die Grundlage: »Zu Dir, Gott, der du die Unendlichkeit bist, kann nur derjenige herantreten, dessen Vernunft im Nichtwissen ist, das heißt, der weiß, dass er, was dich betrifft, ein Nichtwissender ist. […] Gerade weil du die Unendlichkeit bist, weiß die Vernunft um ihr Nichtwissen.« 61

Der Ausdruck ›absolute Unendlichkeit‹ gibt mir den Grund, diese mystische Theologie als sehr abstrakt zu bezeichnen.

Vgl. Cribratio Alkorani, II, 1, n. 88, 16–19. Tunc certe cum excedat omnem sensum et omnem intellectum et omne nomen et omne nominabile, nec dicitur unus nec trinus nec bonus nec sapiens nec pater nec filius nec spiritus sanctus et ita de omnibus, quae dici aut cogitari possunt, ut Dionysius Areopagita hoc astruit. Ebd., II, 1, n. 88. Vgl. Trialogus de possest, n. 41, 1–8. 61 Non igitur accedi potes, deus, qui es infinitas, […] nisi per illum, cuius intellectus est ignorantia, qui scilicet scit se ignorantem tui. […] Scit se intellectus ignorantem. Quomodo potest intellectus te capere, qui es infinitas? De visione dei, cap. 13, n. 52, 11–13. Vgl. Trialogus de possest, n. 41, 2–3: ob suam infinitatem etiam dicimus necessario ineffabilem. 59 60

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Transzendentaler Abgrund Mystikbegeisterung und Mystikkritik in der Philosophie des Deutschen Idealismus Johann Kreuzer

1) Beginnen wir, was Mystikbegeisterung und Mystikkritik im Deutschen Idealismus anbelangt, bei der Kritik. Die ist bei Kant und Hegel – auf sie werden sich die folgenden Überlegungen konzentrieren 1 – deutlich und unmissverständlich. Kant spricht (in »Das Ende aller Dinge«, 1794 erschienen) von der Mystik als einer Versuchung, in die der »nachgrübelnde Mensch« gerate, »(…) wo seine Vernunft sich selbst, und was sie will, nicht versteht, sondern lieber schwärmt, als sich, wie es einem intellektuellen Bewohner einer Sinnenwelt geziemt, innerhalb den Grenzen dieser eingeschränkt zu halten.« Der Grund hierfür sei, dass »die Vernunft, weil sie sich nicht leicht mit ihrem immanenten, d. i. praktischen Gebrauch begnügt, sondern gern im Transzendenten etwas wagt, (…) auch ihre Geheimnisse« habe. Daher komme »das Ungeheuer des System von L a o k u i n von dem höchsten Gut, das im N i c h t s bestehen soll: d. i. dem Bewußtsein, sich in den Abgrund der Gottheit, durch das Zusammenfließen mit derselben und also durch Vernichtung seiner Persönlichkeit, verschlungen zu f ü h l e n ; von welchem Zustande die Vorempfindung zu haben, sinesische Philosophen sich in dunklen Zimmern, mit geschlossenen Augen, anstrengen, dieses ihr N i c h t s zu denken und zu empfinden.« Bei aller eurozentristischen Borniertheit, die Kant hier etwa hinter Leibniz’ Erfahrungsstand zurückfallen läßt, so finden sich durch die Hinweise auf die Trias ›Abgrund – Fühlen – Nichts‹ doch so etwas wie die Koordinaten für unser Thema. 2 Da es bei den folgenden Überlegungen um die Spannung zwischen Mystikkritik und Mystikbegeisterung geht, beschränken sie sich auf Kant und Hegel und gehen auf sich anverwandelnde Annäherungen an ›die Mystik‹ – etwa bei Hardenberg oder Schelling – nicht ein. 2 I. Kant, Das Ende aller Dinge, A 513, in: Kant, Werke, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. XI, 184/85. – Zum weitaus aufgeklärteren Erfahrungsstand bei Leibniz vgl. z. B. dessen Novissima Sinica von 1697. 1

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In der Schrift »Der Streit der Fakultäten« taucht die Mystik im »Streit der philosophischen mit der theologischen Fakultät« auf. Um die »Mystik abzuhalten«, charakterisiert Kant sie durch ihren Quellgrund: die »Phantasie verläuft sich bei Religionsdingen unvermeidlich ins Überschwengliche, wenn sie das Übersinnliche (was in allem, was Religion heißt, gedacht werden muß) nicht an bestimmte Begriffe der Vernunft, dergleichen die moralische sind, knüpft, und führt zu einem Illuminatism innerer Offenbarungen, deren ein jeder alsdenn seine eigene hat und kein öffentlicher Probierstein der Wahrheit mehr Statt findet.« Gegen Ende dieses ›Streits mit der theologischen Fakultät‹ repetiert Kant seine Einschätzungen: Mystiker seien »Separatisten«, die »das innere Gesetz«, also was man inwendig finde, für eine unmittelbar von Gott gegebene »innere Offenbarung« hielten, und wenn man sie frage »(…) warum? so ist ihre Antwort: sie legitimiert sich in meinem Inneren, und ihr werdet es ebenso finden, wenn ihr der Weisung eures inneren Gesetzes (…) Folge leistet.« 3 Ehe man die fast gewonnene Schlussfolgerung ratifiziert, dass ›Mystik‹ für Kant allein »vernunfttötenden Mystizism« generiert, bei dem man es mit einer »Zauberlaterne von Hirngespenstern« zu tun habe – so nennt er in der »Kritik der praktischen Vernunft« »Theorien des Übersinnlichen«, die »mit Plato« die Verstandesbegriffe »für angeboren« hielten und »darauf überschwengliche Anmaßungen« gründeten 4 –, ehe man sich also den angedeuteten Schluss aus den zitierten wie anderen Stellen ziehen lässt, macht dann aber stutzig, dass Kant über die am Ende der Bemerkungen zum ›Streit der philosophischen mit der theologischen Fakultät‹ als ›Separatisten‹ bezeichneten »Mystiker« sagt: »Mit einem Worte, diese Leute würden (verzeihen Sie mir den Ausdruck) wahre Kantianer sein, wenn sie Philosophen wären.« 5 Zielt Kants Mystik-Kritik vielleicht doch auf mehr als deren bloßen Abweis? Kommen wir zu Hegel. – Hier ist vielleicht zuerst an eine Bemerkung aus der »Vorrede« der »Phänomenologie des Geistes« zu erinnern. »Wer nur Erbauung sucht, wer seine irdische Mannigfaltigkeit des Daseins und des Gedankens in Nebel einzuhüllen und nach I. Kant, Der Streit der Fakultäten, A 65/66, 125/26, ebd., 312, 346. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 254/55, zit. nach: Kant, Werke, a. a. O., Bd. VII, 275. 5 Der Streit der Fakultäten, A 126, a. a. O., 346/47. 3 4

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dem unbestimmten Genusse dieser unbestimmten Göttlichkeit verlangt, mag zusehen, wo er dies findet; er wird leicht selbst sich etwas vorzuschwärmen und damit sich aufzuspreizen die Mittel finden. Die Philosophie aber muß sich hüten, erbaulich sein zu wollen.« 6 Erschöpft sich folgerecht Mystik auch für Hegel als ›unbestimmter Genuß unbestimmter Göttlichkeit‹ in Mystizismus? Darin erschöpft Mystik sich dann, wenn sie als ein der Sprache sich verweigernder und auf das innere Pochen und ›das Unaussprechliche‹ sich berufender Handel mit Hirngespenstern betrieben wird. Da wird Hegel sehr deutlich: »denn obgleich man gewöhnlich meint, das Unaussprechliche sei gerade das Vortrefflichste, so hat diese von der Eitelkeit gehegte Meinung doch gar keinen Grund, da das Unaussprechliche in Wahrheit nur etwas Trübes, Gärendes ist, das erst, wenn es zu Worte zu kommen vermag, Klarheit gewinnt. Das Wort gibt demnach den Gedanken ihr würdigstes und wahrhaftestes Dasein.« 7 Die Mystizismen hingegen derer, die sich auf ihr »inwendiges Orakel« beriefen und die denen, die »nicht dasselbe in sich finde(n) und fühle(n)«, »nichts weiter zu sagen habe(n)«, träten »die Wurzel der Humanität mit Füßen.« 8 Auch hier also entschiedene Kritik – und wenig Begeisterung. Auf den ersten Blick – der der Verwechslung von Mystik mit den vielerlei Wellen und Konjunkturen an Mystizismen inkl. entsprechender spiritueller (›schwärmerischer‹) Wellness-Angebote gilt. Auf den zweiten Blick sieht es anders aus. In der 1801 erschienenen ›Differenzschrift‹ heißt es: »Wenn für den gesunden Menschenverstand nur die vernichtende Seite der Spekulation erscheint, so erscheint ihm auch dies Vernichten nicht in seinem ganzen Umfang, wenn er diesen Umfang fassen könnte, so hielte er sie nicht für seine Gegnerin; denn die Spekulation fordert in ihrer höchsten Synthese des Bewußten und Bewußtlosen, auch die Vernichtung des Bewußtseyns selbst, und die Vernunft versenkt damit ihr Reflektieren der absoluten Identität und ihr Wissen und sich selbst in ihren eignen Abgrund, und in dieser Nacht der bloßen Reflexion und des räsonni-

G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. W. Bonsiepen u. R. Heede (= Ges. Werke, Bd. 9), Hamburg 1968 ND 2015, 13/14. 7 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie (1830), § 462 (Zusatz), zit. nach: Theorie-Werkausgabe Bd. 10, Frankfurt/M. 1970, 280. 8 Hegel, Phänomenologie, a. a. O., 47. 6

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renden Verstandes, die der Mittag des Lebens ist, können sich beyde begegnen.« 9 Da haben wir nicht nur die Metaphorik des Vernichtens, logisch die Bestimmung der Negation, sondern auch die Rede vom Abgrund – einem Abgrund, der der Vernunft eigen (der ihr, wie Kant sagen würde, »einheimisch«) ist und in dem sie sich, sich in ihn versenkend, begegnet, d. h. sich als Bedürfnis erkennt. Jahre später – in den in Berlin gehaltenen »Vorlesungen über die Ästhetik« – heißt es dann über die »christliche Mystik«: »Als Beispiel will ich nur Angelus Silesius anführen, der mit der größten Kühnheit und Tiefe der Anschauung und Empfindung das substantielle Dasein Gottes in den Dingen und die Vereinigung des Selbsts mit Gott und Gottes mit der menschlichen Subjektivität in wunderbar mystischer Kraft der Darstellung ausgesprochen hat.« 10 – Vermag Hegels Lob, dass sich das ›substantielle Dasein Gottes in den Dingen und die Vereinigung Gottes mit der menschlichen Subjektivität‹ bei Silesius in ›wunderbar mystischer Kraft ausgesprochen‹ finde, zu der Perspektive überzuleiten, die in der Überschrift dieser Überlegungen als ›Mystikbegeisterung‹ ausgelobt wird und der Rede vom ›transzendentalen Abgrund‹ ein anderes Profil gibt als das des angstbesetzten Versinkens in grundlosen Abgründigkeiten? – die Angst davor, vom gesicherten Weg abzukommen und (wie) in einem Moor zu versinken: jene Grundangst vor dem Sich-Auflösen ins Ungeschiedene von Natur, artikuliert zu Beginn des 20. Jahrhunderts z. B. in A. C. Doyles 1902 erschienenem »Hund von Baskerville«? Meint nun die Rede G. W. F. Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (Abschnitt: Verhältnis der Spekulation zum gesunden Menschenverstand), zit. nach: Jenaer Kritische Schriften. Hg. v. H. Buchner u. O. Pöggeler (= Ges. Werke Bd. 4), Hamburg 1968, ND Hamburg 2015, 23. – Darauf, was in den Wendungen ›Nacht der bloßen Reflexion‹ und ›Mittag des Lebens‹ anklingt, kann im Rahmen dieser Überlegungen nicht näher eingegangen werden. Für die ›Nacht der Reflexion‹ findet sich z. B. bei Tauler ein breites semantisches Bezugsfeld (vgl. A. M. Haas, »Die Arbeit der Nacht«. Mystische Leiderfahrung nach Johannes Tauler, in: ders.: Mystik als Aussage, Frankfurt/M. 1996, 411–445). Was den ›Mittag des Lebens‹ angeht, so sagt Augustinus von der (endlichen Wesen zugänglichen und in diesem Sinn zu erstrebenden) »sapientia creata« einmal, sie sei wie ein ›immerwährender Mittag‹ : »tamquam semper meridies« (vgl. Confessiones XII.15.21). In »De civitate dei« folgert er daraus, dass im ›Licht des Mittags‹ sich die »Glut der Liebe und der Glanz der Wahrheit« zeige: »(…) meridies, id est fervor caritatis et splendor veritatis« (vgl. De civ. dei XVIII.32). 10 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Theorie-Werkausgabe 13, Frankfurt/M. 1970, 478. 9

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vom ›transzendentalen Abgrund‹ weder das ›mystische‹ Versinken in Abgründigkeiten noch den regressiven Willkommensgruß ans Ungeschiedene als Natur, was kann man – kann man etwas – an der in Frage stehenden ›Abgründigkeit‹ über die Bedingungen der Möglichkeit wie der Wirklichkeit von Erfahrung lernen? Diesbezüglich gibt es z. B. bei Kant den nachdenkenswerten Hinweis: Wer »mit forschendem Blick die Ordnung der Natur (…) nachdenkend verfolgt«, gerate, so Kant in der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, »(…) in Erstaunen: (…) welcher Affekt (…) eine Art von heiligem Schauer ist, den Abgrund des Übersinnlichen sich vor seinen Füßen eröffnen zu sehen.« 11 Ein Abgrund des Übersinnlichen, der sich vor unseren Füßen eröffnet? – so dass sich das Übersinnliche im Sinnlichen findet und das ihm entsprechende Durchsichtigwerden jenen ›heiligen Schauer‹ verursacht, gleichsam mit einem Schlag das sinnlich-empirisch Gegebene zu durchschauen, d. h. das ›Übersinnliche‹ nicht im Schwärmen in intellegible Welten ›hinaufwärts‹ suchen zu wollen, sondern seinen Grund in ihm selbst zu finden? Im § 27 der »Kritik der Urteilskraft« hält Kant im Hinblick auf das ›Geistesgefühl des Erhabenen‹ fest, dass hier sich das »Gemüt (…) in der Natur bewegt« fühle. Dabei sei »das Überschwengliche für die Einbildungskraft (…) gleichsam ein Abgrund, worin sie sich selbst zu verlieren fürchtet; aber doch auch für die Idee der Vernunft vom Übersinnlichen nicht überschwenglich, sondern gesetzmäßig, eine solche Bestrebung der Einbildungskraft hervorzubringen (…).« 12 Was der Einbildungskraft überschwenglich erscheint, beruht auf einem gesetzmäßigen Bestreben der Vernunft. Das ist nichts Irrationales, es dürfte eher etwas ›Intrarationales‹ sein. Wenn es also um ein gesetzmäßiges Streben der Vernunft geht: Ergibt dann die Rede von einem ›transzendentalen Abgrund‹ – d. h. der Transzendentalität dessen, was Abgrund erkenntnistheoretisch bzw. bewusstseinsstrukturell meint – doch Sinn? Etwa in dem Sinn, dass es beim Begreifen dieses Abgrunds um die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung geht? Kant, Anthropologie, § 75, B 218, zit. nach: Kant, Werke, a. a. O., Bd. XII, 593; Vgl. auch (Edition nach der Rostocker Handschrift) Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 78. Hg. v. R. Brandt, Hamburg 2000, 182. 12 Kritik der Urteilskraft, § 27, B 98/99, zit. nach: Kant, Werke, a. a. O., Bd. X, 345. 11

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Ist es nun das Kernanliegen des von Kant angestoßenen Programms von ›Transzendentalität‹ und des dem folgenden Diskussionszusammenhangs ›Idealismus‹, sich die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung bewusst zu machen, dann haben wir mit der Frage nach dem ›transzendentalen Abgrund‹ mehr als nur ›Mystikbegeisterung‹ und solcher Begeisterung folgende Anverwandlungsversuche. Wir haben dann eine gemeinsame Fragestellung. Sehen wir zu. 2) In der »Vorlesung über die Philosophie der Religion« bemerkt Hegel zu der mit der Rede vom ›Abgrund‹ in Frage stehenden ›Tiefe‹ 1824: »Ältere Theologen haben diese Tiefe auf das Innigste gefaßt, besonders aber katholische; in der protestantischen Kirche sind Philosophie und diese Wissenschaft ganz auf die Seite gesetzt worden. Meister Eckhart, ein Dominikanermönch des 14. Jahrhunderts, sagt unter anderem in einer seiner Predigten über dies Innerste: »Das Auge, mit dem mich Gott sieht, ist das Auge, mit dem ich ihn sehe; mein Auge und sein Auge ist eins. (…) Wenn Gott nicht wäre, wäre ich nicht; wenn ich nicht wäre, so wäre er nicht. Dies jedoch ist nicht Not zu wissen, denn es sind Dinge, die leicht mißverstanden werden und die nur im Begriff erfaßt werden können.« 13 Und sechs Jahre später heißt es im Zusatz zum § 82 der »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« (der von 1830): »Hinsichtlich der Bedeutung des Spekulativen ist hier noch zu erwähnen, daß man darunter dasselbe zu verstehen hat, was früher, zumal in Beziehung auf das religiöse Bewußtsein und dessen Inhalt, als das Mystische bezeichnet zu werden pflegte. Wenn heutzutage vom Mystischen die Rede ist, so gilt dies in der Regel als gleichbedeutend mit dem Geheimnisvollen und Unbegreiflichen, und dies Geheimnisvolle und Unbegreifliche wird dann, je nach Verschiedenheit der sonstigen Bildung und Sinnesweise, von den einen als das Eigentliche und Wahrhafte, von den anderen aber als das dem Aberglauben und der Täuschung Angehörige betrachtet. Hierüber ist zunächst zu beVgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1. Hg. v. W. Jaeschke, Hamburg 1993, 248. – Vgl. bei Eckhart in der Predigt über »Qui audit me«: »(…) daz selbe, daz dâ sihet, daz ist daz selbe, daz dâ gesehen wirt mit dem ougen. Daz ouge, dâ inne ich got sihe, daz ist daz selbe ouge, dâ inne mich got sihet; mîn ouge und gotes ouge daz ist éin ouge und éin gesiht und éin bekennen und éin minnen.« (Zit. nach: Meister Eckhart, Werke I/II. Hg. v. N. Largier, Frankfurt/M. 1993, Pr. 12, Bd. I, 148) Vgl. auch: J. Kreuzer, Der Raum des Sehens, in: ders., Gestalten mittelalterlicher Philosophie, München 2000, 192–195.

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merken, daß das Mystische allerdings ein Geheimnisvolles ist, jedoch nur für den Verstand (…). Alles Vernünftige ist somit zugleich als mystisch zu bezeichnen, womit jedoch nur soviel gesagt ist, daß dasselbe über den Verstand hinausgeht, und keineswegs, daß dasselbe überhaupt als dem Denken unzugänglich und unbegreiflich zu betrachten sei.« 14 Was ist es, das über den Verstand hinausgeht, aber keineswegs dem Denken unzugänglich oder gar unbegreifbar ist? – das in dem Sinn über dem Verstand ist, weil es über ihn Auskunft gibt? Hegel hat den ›Akteur‹, der mit der Rede vom Verstand ins Spiel kommt, das Denken, das reine Ich genannt: »denn der Verstand ist das Denken, das reine Ich überhaupt; und das Verständige ist das schon Bekannte und das Gemeinschaftliche der Wissenschaft und des unmittelbaren Bewußtseins (…)«. 15 Woher aber kommt dieses ›reine Ich des Verstandes‹, wenn es keine Gegebenheit, kein ›Ding unter anderen Dingen‹ ist – keine ›res cogitans‹, die wie andere ›res‹ dingfest gemacht werden kann? Was geht über solches Verdinglichen hinaus, wenn nicht die Frage nach der Bedingung seiner eigenen Möglichkeit? – die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit des damit gemeinten Tätigseins? Kant hat den Anstoß zur Antwort auf diese Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Denkens gegeben. An einer zentralen Stelle seiner »Wissenschaft der Logik« zählt Hegel zu »den tiefsten und richtigsten Einsichten«, was das Kernstück dieses Anstoßes ist: die »transzendentale Deduktion der Kategorien« in der »Kritik der reinen Vernunft«. Um diese Deduktion leisten zu können, ist es nötig, über die Vorstellung hinauszugehen, Erkennen reduziere sich auf das Bestimmen von Objekten durch ein irgendwie gegebenes Subjekt, so Hegel am Anfang der »Logik des Begriffs«. 16 Es reicht (so Kant in der »Kritik der reinen Vernunft«) nicht aus, die »Identität des Subjekts« (und mit ihr die »synthetische Einheit der Apperzeption« als den »höchsten Punkt (…) (aller, JK) Transzendental-Philosophie) (…) durch das dem Gedanken angehängte Ich« bloß zu bezeichnen. 17 Es geht vielmehr um ein Tätigsein – nicht bloß eine Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), § 82, Zusatz, zit. nach: Theorie-Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt/M. 1970, 178/179. 15 Phänomenologie des Geistes (Vorrede), a. a. O., 16. 16 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. II. Vom Begriff im Allgemeinen, zit. nach: Theorie-Werkausgabe, Bd. 6, Frankfurt/M. 1969, 255/256. 17 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 132–134, 134 Anm., zit. nach: Kant, Werke, 14

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Tätigkeit – des Subjekts, d. h. um ein Verhalten, das es (das Subjekt) ist, das es nicht bloß ausübt. Es geht um den ›Grund‹, den das Subjekt in sich findet als das, wenn es sich seiner selbst bewußt wird – sich nicht bloß zum Instrument eines Erkennens macht, sondern versucht, sich über sich selbst Aufklärung zu verschaffen: sich Aufklärung zu verschaffen darüber, was Bewusstsein von sich zu haben im vollen Sinn meint. 3) Diesen vollen Sinn von ›Bewusstsein‹ transportierte bis zu Kants Revolutionierung der Denkungsart im Deutschen das Wort »Gemüt«. Im Grimm’schen Wörterbuch findet sich im Artikel »Gemüt« folgender Nachweis: Das Wort Gemüt »wird lange dem lat. mens gleich gesetzt (…) wie weit es von da der heute herrschenden bedeutung entfernt ist, zeigt sich besonders darin, dasz dem gemüt auch das denken, verstand und vernunft zugeeignet werden, und zwar nahe bis an unsere zeit heran (…) mens, gemut (…) intellectus, memoria et voluntas simul sumpta mens dicitur (…).« 18 ›Bis nahe an unsere Zeit heran‹ – d. h. bis zur Epochenschwelle 1800 und den Reaktionen auf die Trennung, die Kant vorgenommen hat, indem er im Vermögen der Einbildungskraft deren produktiven Sinn von ihrer reproduktiven Funktion unterscheidet. 19 Diese Trennung ist ebenso künstlich wie die »gewaltthätige, unbefugte Scheidung« von Sinnlichkeit und Verstand, wegen der der erste Rezensent die »Kritik der reinen Vernunft« 1781 sofort zur Rede gestellt hat. 20 In dem, was Gemüt von der Bedeutung von ›mens‹ transportiert hat, war die Einheit der imaginativen Kraft des Geistes, die vor aller Differenzierung in die Abscheidung des Produktiven vom Reproduktiven liegt, präsent. Kant war der Bedeutungsgehalt des mit dem Wort Gemüt Umschriebenen immerhin noch bewusst. So bemerkt er zum »Schematismus der reinen Verstandesbegriffe«: »Dieser Schematismus unseres Verstandes (…) ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur a. a. O., Bd. III, 136/137. Dazu, dass »durch das dem Gedanken angehängte Ich (dieses, JK) nur transzendental bezeichnet werde, ohne (…) überhaupt etwas von ihm zu erkennen, oder zu wissen«, vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 355, ebd., Bd. IV, 366. 18 Vgl. Grimm’sches Wörterbuch, ND München 1984, Bd. 5, Art. »Gemüt«, 3296. 19 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, § 24, B 151/152, a. a. O., 48/49. 20 Vgl. Johann Georg Hamann, Rez. zur Kritik der reinen Vernunft, zit. nach: Vom Magus im Norden und der Verwegenheit des Geistes. Ein Hamann-Brevier. Hg. v. S. Majetschak, München 1988, 202.

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schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden.« 21 Dabei ist es die Aufgabe der damit verbundenen »Doktrin der Urteilskraft«, zu erklären, »wie reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden können«, das heißt: wie wir zu konkreten Erfahrungsurteilen kommen. 22 Das ist ein sine qua non im Programm ›transzendentaler‹ Philosophie, das Kant mit der »Kritik der reinen Vernunft« eingeläutet hat: er selbst hielt deshalb das Schematismus-Kapitel »für eins der wichtigsten« in Buch »Kritik der reinen Vernunft«. 23 Was ist der Grund dieses von Kant gleichwohl ein wenig mystifizierend ›verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele‹ Genannten? Er findet sich im »Gemüt«: »Unter Gemüt (…)« habe man, so Kant in einer Bemerkung zu Sömmerings Schrift »Über das Organ der Seele«, »nur das die gegebenen Vorstellungen zusammensetzende und die Einheit der empirischen Apperzeption bewirkende Vermögen (animus)« zu verstehen. 24 »Gemüt« ist der Inbegriff für eine Einheit vor der funktionalen Differenzierung der Erkenntnisvermögen, es ist der logische Ort des gemeinschaftlichen Grundes für die Beurteilung der Formen, in denen uns Gegenstände erscheinen. Zugleich ist dieser gemeinschaftliche Grund etwas, was sich im erkennenden Tätigsein äußert bzw. in verschiedene Vermögen differenziert und genau durch diese Differenzierung sich als Einheit erweist. Der tief verborgene gemeinschaftliche Grund – er findet sich im ›Gemüt‹, sofern dieses nicht als Behälter, sondern als Ort eines Tätigseins verstanden wird. Was auf nichts anderes als sich selbst zurückzuführen ist, also sich selbst zum Grund wird, bezeichnet in logischer Hinsicht die Rede vom ›Abgrund‹. 25 Kritik der reinen Vernunft, Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, B 181/82 (A 141), ebd., 190. 22 Kritik der reinen Vernunft, B 176/77, ebd., 187. 23 So merkt Kant zum ›Schematismus‹ an: »Ich halte das Capitel für eins der wichtigsten.« (Nachlaßreflexion Nr. 6359, in: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. XVIII. Nachlaß Bd. 5, Berlin u. Leipzig 1928, 686). 24 Vgl. I. Kant, Aus Sömmering. Über das Organ der Seele, A 83 (Anm.), in: Kant, Werke, a. a. O., Bd. XI, 256. 25 Seiner logischen Bestimmung nach taucht er in Hegels »Wissenschaft der Logik« als das »absolut Unbedingte« auf: »Das absolut Unbedingte ist der (…) mit seiner Bedingung identische Grund, die unmittelbare Sache, als die wesenhafte Sache. (…) (D)as Unbedingte ist auch (…) das Grundlose und tritt aus dem Grunde nur, insofern 21

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Als dieser logische Ort findet sich im ›Gemüt‹, um den Eintrag im Grimm’schen Wörterbuch zu wiederholen, die Zusammengehörigkeit von intellectus, memoria et voluntas, in der sich zeigt, was mens meint. 4) Nun entspricht (mit einer kleinen Umstellung) das Ineinander von intellectus, memoria et voluntas dem Ternar memoria, intellegentia, voluntas, den Augustinus in »De trinitate« eingeführt hat, um zu erklären, weshalb sich der menschliche Geist nicht ohne Grund als Bild jener Trinität begreifen lässt, die er als göttliche denkt. 26 Das Wort ›Gemüt‹ transportiert bis nahe an unsere Zeit – bis zur Abspaltung des produktiven Sinns der Einbildungskraft von ihrer reproduktiven Funktion 27 – jene trinitarische Struktur oder Natur des Geistes, die ihn als Bild Gottes begreifen lässt. Geist ist zu verstehen als relationale Einheit sich differenzierender Vermögen – als Einheit eines Grundes, der in den Formen seines Erscheinens sich erkennen lässt und erkannt werden will. Die mit dem Ternar memoria, intellegentia, voluntas zu erfassende Struktur des Geistes ruht auf einem ›Verborgenen‹ auf, das der Geist als abditum mentis in sich findet, versteht er sich als tätiges Erkennen, d. h. nicht als reines Instrument des Erkennens. Der Hinweis auf die Alltagsevidenz, dass wir mehr im Bewusstsein haben, als wir jeweils aus ihm abrufen und uns aktual bewusst machen, führt Augustinus zu der Einsicht, »(…) daß für uns in dem Verborgenen des Geistes bestimmte Kenntnisse gewisser Dinge sind und daß diese dann in bestimmter Art in die Mitte hervorschreiten und im Blickfeld des Geistes gleichsam offenkundiger entstehen, wenn man an sie denkt. Dann nämlich findet der Geist, daß er sich erinnerte, einsah und liebte, woran er nicht dachte, als er an etwas anderes dachte.« 28 er zu Grunde gegangen und keiner ist, (damit, JK) aus dem Grundlosen (…) hervor.« (Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Objektive Logik. Zweites Buch. Zit. nach: Theorie-Werkausgabe Bd. 6, a. a. O., 119, 123 [Hervorgang der Sache in die Existenz]). 26 Den Ternar ›memoria, intellegentia, voluntas‹ diskutiert Augustinus, insbes. in Buch X von »De trinitate«. 27 Was hier ›Abspaltung‹ heißt, zeigt sich an den Veränderungen, die zwischen den beiden Fassungen der »Transzendentalen Deduktion« in der ersten und zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« bestehen, vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 123 ff., a. a. O., 178/79, B 151–156, ebd., 148–152. Diese Veränderungen zu diskutieren würde den Rahmen dieser Überlegungen übersteigen. 28 Vgl. Augustinus, De trinitate: »Hinc admonemur esse nobis in abdito mentis quarundam rerum quasdam notitias et tunc quodam modo procedere in medium atque in

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Das Verborgene des Geistes ist nichts, was über Bewusstsein und Denken hinaus-, es ist vielmehr zu begreifen als dasjenige, was in die innere Natur dessen, was sich als Bewusstsein darstellt und als Denken zeigt, hineinführt. Es ist das, was die als Tätigsein zu verstehende mens von innen – der Bedingung der Möglichkeit nach – begründet. 29 Diesen ›Bedingung-der-Möglichkeit-Sinn‹ belegen noch zwei weitere metaphorologische Festlegungen, die auf Augustinus zurückgehen. Buch X der »Confessiones« beginnt er mit dem Anruf, er wolle Gott so erkennen, wie er sich von ihm erkannt sieht, und verbindet das mit der rhetorischen Frage: »Und was wäre Dir, Herr, vor dessen Augen der Abgrund des menschlichen Bewußtseins (der abyssus humana conscientiae) nackt ist, verborgen, selbst wenn ich es dir nicht bekennen wollte?« 30 Und in Buch XV von »De trinitate« ist von der »abstrusior profunditas memoriae« die Rede, jener ›memoria principalis‹, in der wir »invenimus paratum et reconditum ad quod cogitando possumus pervenire (…) et quando inde non cogitabamus.« 31 Im Zusammenhang unserer Überlegungen kann ich nun weder auf die Lehre vom ›inneren Wort‹ eingehen, die mit der ›abgründigeren Tiefe der Erinnerung‹ zu tun hat, noch auf das Thema von Buch X der »Confessiones«, das ich einmal mit der Formel ›Selbsterkenntnis

conspectu mentis uelut apertius constitui quando cogitantur; tunc enim se ipsa mens et meminisse et intellegere et amare inuenit etiam unde non cogitabat quando aliunde cogitabat. (…) propter hoc itaque (…) [/10] ex his quae memoria continentur recordantis acies informetur.« (De trinitate XIV.7.9/10, zit. nach: Augustinus, De trinitate. Studienausgabe Lat.-Dt., neu übers. u. mit einer Einl. hg. v. J. Kreuzer, Hamburg 2001, 200/202). 29 Vgl. J. Kreuzer, Einleitung zu: Augustinus. De trinitate. Studienausgabe Lat.-Dt., a. a. O., insbes. XXI-LI; ders, Wozu drei? Überlegungen zu Augustinus’ Trinitätsspekulation, in: J. Assmann, H. Strohm, Hrsg., Echnaton und Zarathustra. Zur Genese und Dynamik des Monotheismus, München 2012; J. Brachtendorf, Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus, Hamburg 2000. 30 Vgl. Conf. X.1.1: »Cognoscam te, cognitor meus, sicut et cognitus sum. (…) (2.2) Et tibi quidem, domine, cuius oculis nuda est abyssus humanae conscientiae, quid occultum esset in me, etiamsi nollem confiteri tibi?« (Confessiones, hg. v. L. Verheijen, Turnhout 1990, 155). Vgl. Conf. IV,14,22: »Grande profundum est ipse homo (…)« (ebd., 51). Vgl. auch Conf XIII,13,14; Enarratio in Ps. 41.13; 134.16. 31 »(…) illa est abstrusior profunditas memoriae« (De trinitate XV.21.40, a. a. O., 336); »(…) illi memoriae principali (inest intellegentia, inest dilectio) in qua invenimus paratum et reconditum ad quod cogitando possumus pervenire (…) et quando inde non cogitabamus« (De trin. XV.21.41, ebd., 336–338).

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als Gotteserkenntnis‹ überschrieben habe. 32 Was für unsere Überlegungen zählt, ist, dass es sich in beiden Reflexionsrichtungen um ›Bedingungen der Möglichkeit‹-Überlegungen, um transzendentale also, handelt. Und dass in beiden Perspektiven für das ›Bedingung der Möglichkeit‹-Mäßige ›Abgrund‹ als die logische Metapher erscheint. Kehren wir noch einmal – in Rücksicht auf das mit dem Terminus Abgrund logisch Bezeichnete – zu dem Wort ›Gemüt‹ zurück. Eckhart v. Hochheim hat – im Anschluss an Augustinus’ Theorem vom ›abditum mentis‹ und dessen Fortbestimmung bei Dietrich v. Freiberg, der Augustins Theorem mit der sich von Aristoteles herschreibenden ›intellectus agens‹-Lehre verbunden hat 33 – Eckhart also hat die die Tätigkeit des Geistes auszeichnende Zusammengehörigkeit der Seelenkräfte mit dem Seelengrund als Natur des ›Gemüts‹ gefasst. So beginnt er in der Predigt zu Eph. 4.23 mit der Übersetzung der Perikope: »Ihr sollt erneuert werden in eurem Geiste« und fährt dann fort: »in eurem Geiste, der da mens heißt, will sagen ein ›Gemüt‹. (…) Nun sagt Sankt Augustinus, Gott habe zusammen mit dem Sein [wesen] der Seele in jenem obersten Teil der Seele, der da ›mens‹ heißt oder ›Gemüt‹ eine Kraft geschaffen, die nennen die Meister ein Behältnis (…) geistiger Formen oder formhafter ›Bilder‹ (…). Diese Kraft begründet die Gleichheit zwischen der Seele und dem Vater (machet den vater der selen glich) durch das Ausfließen seiner Gottheit heinerseitsi, (…) so wie handerseitsi das ›Gedächtnis‹ der Seele (gehvgede der selen) den Schatz seiner ›Bilder‹ in die (…) Kräfte der Seele ausgießt.« 34 Zum einen haben wir hier einen Originalbeleg für die ursprüngliche Semantik des Wortes ›Gemüt‹. Es bezeichnet den logischen Ort, an dem und in dem sich der »sele wesen« (die Übersetzung ›Sein der Vgl. J. Kreuzer, Augustinus zur Einführung, Hamburg 22013, 53. Vgl. B. Mojsisch, Die Theorie des Intellekts bei Dietrich v. Freiberg, Hamburg 1977. 34 »(…) mens (…), das ist ein gemvte. (…) Nv sprichet augustinus das an dem obersten teile der selen, das do mens heiset oder gemvte, da hat hgoti geschepfet mit der sele wesen eine craft, die heisent die meistere ein sloz oder einen schhriin geisthtilicher formen oder formelicher bilde. Dise craft machet den vater der selen glich durch sine vsfliesende gotheit (…), alse die gehvgede der selen den creften der selen vs gusset hdeni schaz der bilde.« (Meister Eckhart, Pr. 83, zit. nach: Werke I/II. Hg. v. N. Largier, Pr. 83, Frankfurt/M. 1993, Bd. II, 188) – Vgl. J. Kreuzer, Gestalten mittelalterlicher Philosophie, a. a. O., 89 ff.; 143–168. 32 33

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Transzendentaler Abgrund

Seele‹ verdeckt die Dynamik des transitiv zu verstehenden ›Wesens‹) im Bewusstsein in seiner Tätigkeit und im Bewusstsein als Tätigkeit zeigt. Die Dynamik dieser Tätigkeit wiederum gründet in einer behaltenden Kraft, die einen reproduktiven und einen produktiven Aspekt hat – zwei verschiedene Aspekte, die im Wirken dieser Kraft zusammengehören. Die Dynamik dieser beiden Kräfte nun lässt sich nicht erklären, geschweige verstehen, wenn man sie zum Ausfluss eines vorauszusetzenden Subjekts – sei es ein Ich, seien es neurophysiologische Entitäten oder was immer – macht, statt umgekehrt dasjenige, was die Identität des Subjekts meint, aus der erwähnten Dynamik und ihrer Struktur zu begreifen. Es reicht nicht aus – ich erinnere an Kants Feststellung –, die Identität des Subjekts ›durch das dem Gedanken angehängte Ich bloß zu bezeichnen‹. 35 Sie ist keine ›res‹ – kein Objekt ›Subjekt‹. Sie will vielmehr aus der das Gemüt kennzeichnenden Dynamik entwickelt werden. Will man das, so muss man – das hatte schon Augustinus festgehalten – über die selbstbezogene Innerlichkeit eines »unus ego animus« hinausgelangen wie hinausgehen. 36 Hinausgegangen wird über dieses nur vorausgesetzte ›Ich‹ in der Erkenntnis jener dynamischen Struktur memoria, die als Abgrund des Bewusstseins vor den Augen dessen, dem gegenüber Erinnern sich als geschaffene Entsprechung versteht, bloß liegt. 37 Im 14. Jahrhundert knüpft Johannes Tauler an das ›abditum mentis‹ terminologisch an: »sancte Augustinus sprichet das die sele habe in ir ein verborgen appetgrunde, daz enhabe mit der zit noch mit aller diser welte nút zů tůnde (…). In dem (…) abgrunde (…), do ist ir stat eweklichen (…), wanne Got ist selber gegenwertig (…) und wurket do und wonet do (…)«. 38 Und in der Predigt über Si exaltatus fuero, omnia traham ad me ipsum heißt es von »dem grunde das S. Augustinus nemt: ›abditum mentis‹«: »verbirg din verborgen gemute, das S. Augustinus also nemt, in die verborgenheit des gotlichen abgrúndes (…). In der verborgenheit wird der geschaffen geist wider Vgl. Anm. 17. Vgl. Confessiones X.7.11–8.12. 37 Zu Analyse und Interpretation der memoria bei Augustinus vgl. ausführlich: J. Kreuzer, Pulchritudo – Vom Erkennen Gottes bei Augustin, München 1995, 16– 104. 38 Johannes Tauler, Predigten, hg. v. F. Vetter, Pr. 24, Dublin/Zürich 1968, 101,30–102 (Übers. in: J. Tauler, Predigten, übertr. u. hg. v. G. Hofmann, Einf. v. A. M. Haas, Pr. 24, Einsiedeln 31987, 167). 35 36

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getragen in sin ungeschaffenheit (…) und bekent sich Got in Gotte und doch an im selber creatur und geschaffen«. 39 Das abditum mentis, verstanden nicht als Gegenstand, sondern als dynamische Struktur, ist der »verborgene Abgrund des Gemüts«. Wegen der zirkulären Struktur der Erkenntnis des Erinnerns, die mit der Rede vom »Abgrund« reflektiert wird – erinnert sei an die Rede von der ›abgründigeren Tiefe der Erinnerung‹ bei Augustinus –, wird für Tauler im Anschluss an Meister Eckhart die Metapher des Abgrunds (oder grundlosen Grundes) entscheidend. 40 Sie steht dafür, dass das – um es logisch etwas zu formalisieren – (1) ZurückführenAuf (bzw. Begründen-Mit), das (2) Bewusstsein in einem Anderen (etwa einer intelligiblen Überwelt) abzusichern versucht, in dem Sinn an sein Ende kommt, dass (3) der Grund, auf den zurückgeführt wird, immer ein ›Grund‹ im Bewusstsein ist – dass die Gründe, auf die wir zurückführen, immer, solange wir bei Bewusstsein sind, erinnerte oder zu erinnernde Gründe sind. 41 In exakt diesem Sinn tut sich (4) der ›Abgrund‹ des Transzendentalen – das Transzendentale als Abgrund auf. 5) Eingangs wurde Hegels Resümee zitiert, dass »alles Vernünftige (…) als mystisch zu bezeichnen« sei, »womit jedoch nur soviel gesagt ist, daß dasselbe über den Verstand hinausgeht, und keineswegs, daß dasselbe überhaupt als dem Denken unzugänglich und unbegreiflich zu betrachten sei.« 42 Das ›Mystisch-Vernünftige‹ geht über die funktionale Differenzierung wie Klärung von Erkenntnisinstrumenten wie Erkenntnisinteressen insofern hinaus, als die ratio des Verstandes nicht nach den Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit fragt. Die Frage nach diesen Bedingungen, die sich im tätigen Erkennen immer

Johannes Tauler, Predigten (Vetter V), Pr. 65, a. a. O., 357,29–358,13 (vgl. Tauler, Predigten (Hofmann), Pr. 59, a. a. O. 458). – Darauf, dass Tauler mit dem ›wider getragen‹ (Zurücktragen) übersetzt, was »epistrophē« in der Trias ›Eines-HervorgangRückgang‹ bei bzw. seit Proklos meint, kann hier nicht mehr als nur hingewiesen werden. Zur proklischen Trias monē-proodos-epistrophē vgl. W. Beierwaltes, Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, Zweite Aufl., Frankfurt/M. 1979, 158–239; H. J. Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, 2. Auflage, Amsterdam 1967, 312–337. 40 Vgl. nach wie vor z. B. P. Wyser, Der »Seelengrund« in Taulers Predigten, in: Lebendiges Mittelalter, FG W. Stammler, Freiburg (Schweiz) 1958. 41 Vgl. Hegels Bestimmung des ›absolut Unbedingten‹ (vgl. Anm. 25). 42 Vgl. Anm. 14. 39

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Transzendentaler Abgrund

schon und ganz gewöhnlich als wirksam zeigen, hat den Zweck, das rationale Tun des Verstandes zur Vernunft kommen zu lassen. Den Ort, an dem die Beantwortung dieser Frage wird ansetzen müssen, hat Kant mit der »transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft« bezeichnet. 43 Dabei geht es um die Kraft, die im Urteilen tätig ist und erscheint. Man sollte sich gerade hier nicht damit bescheiden, diese Kraft oder Kunst oder Fertigkeit – »die verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele« 44 – im Diffusen zu belassen. Hier etwas besser verstehen zu wollen, wird nicht auf ein fertiges Resultat abzwecken – als gäbe es hier ein zu entdeckendes Ding –, sondern bezeichnet ein Arbeitsprogramm. Es gilt, sich die Vermögen bzw. Subschichten bewusst zu machen, die im Erkennen und Urteilen wirksam sind. Dabei geht es um eine Denkbewegung im Innersten jenes Tätigseins, das wir Geist zu nennen fortfahren sollten, solange es und weil es nicht in programmierbare Funktionen des Gehirns aufzulösen ist. Für dieses Arbeitsprogramm dürften zwei Bemerkungen Kants bedeutsam sein. Die eine gilt dem, was er unter ›Reflexion‹ versteht. In der »Kritik der reinen Vernunft« beschreibt er sie – im Kapitel zur »Amphibolie der Reflexionsbegriffe« – folgendermaßen: Die transzendentale »Überlegung (reflexio) hat es nicht mit den Gegenständen selbst zu tun, um geradezu von ihnen Begriffe zu bekommen, sondern ist der Zustand des Gemüts, in welchem wir uns erst dazu anschicken, um die subjektiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können.« 45 Was im Anschluss an diverse Vorgaben (Augustinus, Aristoteles’ ›intellectus agens‹-Lehre, die neuplatonische Tradition) sich hier in ›der Mystik‹ (insbes. im 13./ 14. Jahrhundert) erläutert findet, kann in eminenter Weise dazu beitragen, sich Aufklärung zu verschaffen über diesen ›Zustand des Gemüts‹, der uns auf Begriffe kommen lässt. Die zweite für den hier diskutierten Zusammenhang einschlägige Bemerkung Kants findet sich in der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« und lautet: »Daß das Feld unserer Sinnenanschauungen und Empfindungen, deren wir uns nicht bewußt sind, ob wir gleich unbezweifelt schließen können, daß wir sie haben, d. i. d u n k e l e r Vorstellungen 43 44 45

Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 151, a. a. O., 148. Vgl. Anm. 21. Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 316, a. a. O., 285.

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im Menschen (…) unermeßlich sei, die klaren dagegen nur unendlich wenige Punkte derselben enthalten, die dem Bewußtsein offen liegen; daß gleichsam auf der großen K a r t e unseres Gemüts nur wenig Stellen i l l u m i n i e r t sind: kann uns Bewunderung über unser eigenes Wesen einflößen (…)«. Dieses »Feld d u n k l e r Vorstellungen [ist]«, so Kant weiter, »das größte im Menschen«. 46 Es zeichnet sich dadurch aus, dass wir es in uns finden bzw. wissen, ohne es wie einen Gegenstand des Erkennens objektivieren zu können. Wir wissen es – durch die Tätigkeit dessen, was wir Geist nennen, mit jedem Deja vu, sozusagen mit jedem Atemzug – ohne es auf andere Gründe als die zurückführen zu können, die wir in ihm finden. Wenn Kant diesbezüglich von Bewunderung spricht, so bezeichnet er damit ein Staunen, das einem logischen Raum und einem in ihm sich zeigenden Vermögen gilt, das dazu begeistern mag, es selbst und den Raum, in dem es sich zeigt, zu erkunden bzw. zu erforschen. In diesem logischen Raum haben wir es mit den Bedingungen der Möglichkeiten des Erkennens wie Erfahrens zu tun. Sie unverdeckt vor Augen zu legen beschreibt das Programm einer sich transzendental verstehenden Philosophie. Für die Gründe und Abgründe, die hier ins Spiel kommen, bietet gerade die Geschichte ›der‹ Mystik eine Vielzahl, sozusagen eine Klaviatur an Erklärungsmodellen – oder Begründungsfiguren. Was ist nun aus dem Untertitel unserer Überlegungen – Mystikbegeisterung und Mystikkritik – geworden? Mystikkritik steht für die Abwehr von Mystizismen, die die »Auflösung des Unterschiedenen und Bestimmten (…) (als, JK) Hinunterwerfen desselben in den Abgrund des Leeren« betreiben. 47 Mystikbegeisterung hingegen steht für die Affinität eines Arbeitsprogramms. Ins Bewusstsein gerufen sei Hegels eingangs zitierter Hinweis, dass die »Spekulation« als »höchste Synthese des Bewußten und Bewußtlosen« ein Sich-Versenken der Vernunft »in ihren eigenen Abgrund«, d. h. ein Sich-Versenken des ›Reflektierens der absoluten Identität‹ fordere – ein ›Abgrund‹, der als »Nacht der bloßen

Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 5, B 15/16, 18, a. a. O., Bd. XII, 418/ 419. 47 Vgl. Phänomenologie des Geistes, a. a. O., 17. Was dabei generiert wird, inszeniert das ›Absolute‹ als jene »Nacht (…), worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind (…)« (vgl. ebd.). 46

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Transzendentaler Abgrund

Reflexion und des räsonnirenden Verstandes« dem »Mittag des Lebens« gelte. 48 6) Erlaubt sei zum Schluss noch ein Hinweis. 1835 hatte Georg Büchner – am Beginn der Erzählung Lenz – geschrieben: »Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg. […] Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte.« 49 Paul Celan hat das 1960 in seiner Büchnerpreisrede zitiert – und daraus gefolgert: »Wer auf dem Kopf geht, meine Damen und Herren, – wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich.« 50 Hier scheint, wie ich meine, etwas von dem auf, was den hier vorgetragenen Überlegungen als ›transzendentaler Abgrund‹ angesprochen wurde. Als offener Ermöglichungshorizont zeigt sich das ›Transzendentale‹ als Bedingung der Möglichkeit nicht in einem einoder beschränkendem Sinn, sondern in einem, der kreativ werden lässt und schöpferisch erscheint. 51

Vgl. Anm. 9. Georg Büchner, Lenz, in: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. v. Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Sinn u. Edda Ziegler, München 1988, 137. 50 Paul Celan, Der Meridian (Endfassung), in: Der Meridian. Endfassung-EntwürfeMaterialien, hrsg. v. B. Böschenstein u. H. Schmull, Frankfurt a. M. 1999, 7. 51 So hat das Adjektiv ›transcendental‹ – um am Schluss dieser Überlegungen einen über Kant und Hegel hinausführenden Blick zu werfen – wenigstens Hölderlin aufgefasst, wenn er das »Wesen« des ›freier Kunstnachahmung‹ zugrunde liegenden Vermögens als einen »(transcendentale[n]) [das ist, JK] schöpferische[n] Act« begreift: vgl. J. Ch. F. Hölderlin, Theoretische Schriften. Mit einer Einl. hg. v. J. Kreuzer, Hamburg 1998, 37. 48 49

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Pathos und Mathesis Mystische Theologie als Form ursprünglichen Philosophierens Martin Thurner

Einleitung: »Erfahrung« ist das Zauberwort Mystik hat Konjunktur! Diesen Eindruck kann man gewinnen, wenn man in die Regale der Buchhandlungen oder in die Programme von Volkshochschulen und Akademien aller Art blickt. Die am meisten zitierte Aussage eines der bedeutendsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts bezieht sich nicht nur auf die Mystik, sondern weist ihr gar eine eminente Bedeutung zu für die Zukunftsfähigkeit des Christentums. Meist nur verkürzt zitiert, lautet diese berühmte Aussage Karl Rahners (1904–1984) exakt: »Der Fromme, der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.« 1 Rahner gibt in dieser deutlich knappen Aussage indirekt auch eine Bestimmung dessen, was er unter Mystik versteht: Der Mystiker ist »einer, der etwas erfahren hat«. Mystik ist also im Kern Erfahrung. Dies setzt auch einer der wichtigsten protestantischen Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts voraus. Paul Tillich (1886–1965) spricht der Mystik eine gar noch universalere Bedeutung zu als Karl Rahner: »Ein Element der Mystik […] ist in jeder Religion und in jedem Gebiet vorhanden. Wo diese Erfahrung fehlt, bleibt nichts anderes als ein Lehrsystem oder eine moralische Schule übrig, aber keine Religion.« 2 Ebenso wie Rahner definiert auch Tillich die Mystik über das Moment der Erfahrung. Anders als Rahner in dem kurzen Zitat deutet er indirekt an, worin diese für die Mystik konstitutive Erfahrung inhaltlich bestehen könnte. Wenn gesagt wird, dass ohne die mystische Erfahrung jede Religion bloß auf »ein Lehrsystem oder eine moralische Schule« reduziert wäre, dann Karl Rahner, Frömmigkeit früher und heute (1966), in: ders., Schriften zur Theologie, VII Einsiedeln, 2. Aufl. 1971, 11–31, hier: 22. 2 Paul Tillich, Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens, Teil 1, Stuttgart 1971, 304. 1

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Pathos und Mathesis

kommt darin zumindest zum Ausdruck: Mystik als Erfahrung ist jenes unverzichtbare Element in den Religionen, das über alle bloß doktrinären Theorien und ethischen Normkodierungen hinausgeht. Das in der Gegenwart neu erwachende Interesse für und Bedürfnis nach Mystik könnte man im Sinne dieser beiden Zitate als Ausdruck dafür deuten, dass den Menschen die Rationalisierung und Moralisierung von Religion und Lebenswelt doch zu weit geht und nach Alternativen einer Erfahrungswirklichkeit gesucht wird. Die Mystik soll jene Erfahrungsdimension (wieder) öffnen, die durch die theoretische und praktische Entzauberung unserer Welt ausgeschlossen oder zumindest reduziert und verdrängt wird. Die Mystik wird also als eine Art von Erfahrung begriffen und herbeigewünscht, die einen Gegenpol zu jeglicher Theorielastigkeit darstellt.

1.

Dionysius Areopagita: Der Logos am Ursprung der Mystik

Es ist aufschlussreich, diesen Befund aus der Gegenwart mit der ersten expliziten Konzeption von Mystik in der abendländischen Geistesgeschichte zu vergleichen. Erstmals begegnet der Wortstamm von Mystik als Begriff für einen universalen Seinszugang in einem Traktat des Mönchs Dionysius Areopagita (Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert nach Christus), der den Titel »Die mystische Theologie« trägt. Auffällig ist, dass hier vom Mystischen in Form eines Adjektivs die Rede ist, dieses also als Eigenschaft eines Trägers aufgefasst wird. Und fast noch auffälliger ist, dass dieser Träger der Eigenschaft »mystisch« keineswegs auch nur implizit dem Theoretischen als Kontrastpol entgegensteht. Was bei Dionysius erstmals explizit als mystisch konnotiert wird, ist nicht der Gegensatz von Rationalität, sondern nichts anderes als der Logos als griechischer Inbegriff von Theorie, hier in seiner schon für Aristoteles höchsten Form als »Theologie«. Offenbar ist für den Vater der mystischen Theologie das Mystische kein Gegenbegriff zum Rationalen, sondern dessen zusätzliche Qualifizierung. Doch wie gelingt dem Areopagiten diese merkwürdige Synthese von Mystik und Logos, wie ist sein Konzept einer mystischen Theologie inhaltlich konstruiert? Klare Ausgangsdefinitionen waren die Sache dieses platonisierenden Denkers ekstatischer Aufschwünge nicht. Dennoch finden sich in seinem Werk Aussagen, die implizit eine definierende Umschreibung seines Verständnisses von 233 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

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mystischer Theologie beinhalten und auch als solche in der Wirkungsgeschichte aufgenommen worden sind. Die wohl beste findet sich in der Schrift »Über die göttlichen Namen«, wo Dionysius über seinen Lehrer Hierotheos sagt, dabei wohl aber jeden mystischen Theologen meint: »Die göttlichen Dinge (ta theia) nicht nur erlernen (mathon), sondern auch erleben (pathon), um durch ein Mit-Fühlen (sympatheia) mit diesen in einer Vereinigung (henosis) mit ihnen vollendet zu werden.« 3 In dieser Aussage unterscheidet und verbindet Dionysius zugleich zwei Vollzüge, die er mit den Partizipialformen mathon und pathon bezeichnet. Wie noch im heute gebräuchlichen Fremdwort Mathematik nachwirkend wird mit Mathesis ein Prozess des Erlernens durch Erkennen und Verstehen beschrieben. Pathos hingegen steht, auch noch im gegenwärtigen Sprachgebrauch, für eine Intensität von Gefühlen, wobei im Altgriechischen damit nicht primär eine künstlich herbeigeführte Gefühlsaufwallung gemeint ist, sondern ein gerade nicht selbst herbeigeführtes Erleben und in diesem Sinne ein Erleiden. Im Blick auf diese Wortbedeutungen kann geschlossen werden, dass Dionysius mit mathon und pathon im philosophischen Kontext seiner Schrift die Unterscheidung von theoretischem Erkennen einerseits und affektivem Erleben andererseits einführt. Mathesis und Pathos sind hier also Begriffe für zwei verschiedene Arten von Zugängen zur Wirklichkeit. Wie kann man nun Mathesis und Pathos begrifflich und phänomenologisch voneinander unterscheiden?

1.1 Mathesis: Theoretisches Erkennen als Setzung von Differenz Beginnen wir mit dem theoretischen Erkennen. Wenn Dionysius dafür auf das Wortfeld von manthanien, also ›erlernen‹, zurückgreift, so gibt er damit zu verstehen, dass es bei diesem Vollzug um einen eher mehr als weniger langen Prozess geht. Theoretisches Erkennen geschieht als eine systematische Abfolge von bestimmten Einzelmomenten. Der Gesamtzusammenhang dieser Einzelmomente wird Dionysius Areopagita, De divinis nominibus (Die Namen Gottes), cap. II, nr. 9, ed. Beate Regina Suchla (= Bibliothek der griechischen Literatur 26), Stuttgart 1988, 36: οὐ όνον αθὼν ἀλλὰ καὶ παθὼν τὰ θεῖα κἀκ τῆς πρὸς αὐτὰ συπαθείας, εἰ οὕτω χρὴ φάναι, πρὸς τὴν ἀδίδακτον αὐτῶν καὶ υστικὴν ἀποτελεσθεὶς ἕνωσιν καὶ πίστιν.

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dadurch garantiert, dass am Ende der Prozess wieder zu einem Ausgangspunkt zurückkommt. Diese Rückwendung ist für das theoretische Erkennen derart wesenhaft, dass der die rückkehrende Bewegung bezeichnende Begriff der Reflexion zum Synonym dafür wurde. Ausgangs- und Endpunkt des theoretischen Erkennens ist dabei das die Erkenntnis vollziehende Subjekt, genauer gesagt das geistige Bewusstsein desselben, der Intellekt, der in diesem Reflexionsprozess seine Möglichkeiten verwirklicht. Reflexive Rückkehr setzt voraus, dass der erkennende Intellekt inzwischen irgendwo anders oder bei etwas anderem war. Theoretisches Erkennen zielt zwar auf die Rückkehr zu und in sich selbst, auf die reditio completa in se ipsum, 4 jedoch vermittelt durch ein anderes, auf das es sich in seiner Prozessualität stets bezieht. Dies ist der Gegenstand der Erkenntnis, ganz im wörtlichen Sinne, das obiectum, das dem Subjekt entgegenund gegenübersteht. Der Fortschritt im Erkenntnisprozess beruht nun darauf, dass im Moment der Rückkehr das zunächst entgegenstehende Objekt in das Subjekt mit zurückgebracht und hineingenommen wird, freilich nicht in seiner realen Materialität, wohl aber in seiner intelligibel-idealen Form. Das Objekt ist in der Erkenntnis vermittelndes und vermitteltes zugleich. Es ermöglicht den Erkenntnisprozess, weil dieser ohne den objektiven Bezug nicht vonstattengehen kann, es wird aber, zumindest im Bezug auf das erkennende Subjekt, auch selbst verändert, weil es nun eben nicht mehr bloß ein objektiver Gegenstand, sondern ein subjektives Erkenntnisobjekt ist. Als ein solches subjektiv Erkanntes wird das Erkenntnisobjekt in Reduktion auf seine intelligible Form zwar mit in das Subjekt zurückgebracht und hineingenommen, verschmilzt aber keineswegs mit dem Intellekt zu einer undifferenzierten Einheit. Im Gegenteil: Ziel der reflexiven Reduktion eines Gegenstandes auf den geistigen Begriff einer Sache ist es vielmehr, die Dinge klar voneinander zu unterscheiden. Erkennen bedeutet, den wesentlichen Unterschied zwischen zwei oder mehreren Sachen zu begreifen, die spezifische Differenz. Erst nach und auf der Grundlage dieser differenzierenden Analyse können die Dinge wieder zueinander in die Synthese umfassender Einheitsprinzipien gebracht

Vgl. z. B. Thomas von Aquin, De veritate, quaest. 1, art. 9 und Super librum De causis expositio, lect. 15 (mit Bezug auf Proklos, Elementatio theologica, prop. 15; 16; 43; 44 und 83).

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werden. Theoretische Erkenntnis bleibt also wesentlich an das Differenzmoment gebunden, auch wenn sie letzte Einheiten erfasst. Die Unaufhebbarkeit von Differenz im theoretischen Erkennen zeigt sich gerade im Blick auf die höchsten Einheitsprinzipien des Denkens noch von einer anderen Seite. Wenngleich etwa in den platonischen Ideen oder in den scholastischen Gottesbegriffen die unter den Dingen bestehenden Differenzen – im wörtlichen Sinn – prinzipiell aufgehoben werden, so sind diese differenzfreien Erstprinzipien für das sie denkende Bewusstsein doch wieder Objekte. Selbst im Bezug auf Ideen und philosophische Gottesbegriffe wird also die Differenz zwischen ihrer Objektivität und dem diese denkenden Subjekt nicht aufgehoben: Wer die Idee des Guten denkt, bleibt in diesem Vollzug stets von ihr verschieden, weil die Unterschiedenheit in der Subjekt-Objekt-Relation als Voraussetzung des Denkprozesses notwendigerweise bestehen bleibt. Das verweist auf eine weitere Dimension der Differenz-Bestimmtheit des theoretischen Erkennens: Im Erkenntnisprozess werden die Dinge nicht nur voneinander unterschieden, sondern auch von dem diese erfassenden Bewusstsein. Für die theoretische Erkenntnis sind nicht nur die extramentalen Objekte untereinander etwas anderes, sondern auch das Subjekt selbst im Verhältnis zur Gesamtheit seiner möglichen Objekte. Das Denken unterscheidet die Dinge untereinander, aber auch sich von allen Dingen. Doch halt! – gibt es nicht einen herausragenden Ausnahmefall, in dem Subjekt und Objekt so miteinander korrelieren, dass jede Differenz von vornherein ausgeschlossen bleibt? Ist dies nicht dann der Fall, wenn das Bewusstsein nichts außerhalb seiner selbst erkennt, sondern sich in der immanenten Gewissheit der Selbsterkenntnis befindet? Die Tatsache, dass die Selbstreflexion nicht von dem Geist gegenüber anderen Objekten abhängig ist, wurde in der Bewusstseinsphilosophie stets für ihre besondere Spitzenposition unter den Erkenntnisvollzügen namhaft gemacht. Doch kann man der Selbsterkenntnis auch das für jede Außenerkenntnis bestimmende Differenzmoment absprechen? Die Ironisierung der Figur der Selbsterkenntnis etwa durch die Romantiker 5 macht deutlich, dass eine in diesem Sinne völliger Differenzfreiheit gedachte Selbstreflexion ein Vgl. z. B. Friedrich Schlegel, Über Lessing (1797), in: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, Bd. 2, Paderborn u. a. 1967, 116: »Niemand kennt sich, insofern er nur er selbst und nicht auch zugleich ein anderer ist. Je mehr Vielseitigkeit also, desto mehr Selbsterkenntnis.«

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Ding der Unmöglichkeit ist, denn: Wer sich denkt, muss sich dazu allererst selbst zum Objekt machen und denkt damit streng genommen eigentlich nicht sich selbst, sondern sein ›mich‹. Im vermittelten Vollzug des ›ich denke mich‹ ist die unmittelbare Identität des ›sich‹ bereits aufgehoben. Das Selbst muss sich zum Mich verobjektivieren, um sich denken zu können. Zwar sind in der Selbstreflexion Subjekt und Objekt dem sachlichen Inhalt nach identisch, im Prozess der Selbsterkenntnis müssen sie aber als voneinander different gesetzt werden. Auch die Selbstreflexion impliziert daher notwendigerweise das Differenzmoment. Daraus folgt das erste Fazit zur Frage nach den Bestimmungen des theoretischen Erkennens: Die Mathesis bleibt unaufhebbar und unaufgebbar an eine Differenzstruktur gebunden, mag sie sich auf die Welt, die Seele oder auf Gott beziehen. Diese wesentlich bleibende Bestimmtheit durch die Differenz impliziert ein weiteres Merkmal theoretischer Erkenntnis: Da das Objekt des Erkennens als ein vom Subjekt Unterschiedenes eingeholt werden muss, ist die Reflexion stets ein aktiver Prozess. Als solcher muss er willentlich in Gang gesetzt werden, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass er prinzipiell auch unterlassen oder ausgesetzt werden kann. Er geschieht nicht einfach, sondern ist das Werk des Bewusstseins, die Folge einer ihn bewusst intendierenden Entscheidung des Subjekts. Zusammenfassend lässt sich die Mathesis somit als willentlich-aktiver Prozess der Vermittlung von Differenz kennzeichnen.

1.2 Pathos: Affektives Erleben als überwältigende Einswerdung Wie unterscheidet sich nun vom so bestimmten theoretischen Erkennen das affektive Erleben? Wenngleich Dionysius Areopagita diese beiden Arten des Zugangs zur Wirklichkeit im Atemzug eines Satzes nennt, bleibt zunächst festzustellen, dass das Pathos in wesentlichen Momenten von der Mathesis nicht nur ziemlich unterschieden ist, sondern geradezu als spiegelbildlicher Gegensatz dazu erscheint. Die Wesensmerkmale des affektiven Erlebens kann man erschließen, indem man diejenigen des theoretischen Erkennens in ihr Gegenteil umkehrt. Beginnen wir mit der zuletzt genannten Eigenschaft einer bewusst intendierten Aktivität. Wenngleich das Subjekt zwar die Bedingungen dafür schaffen kann, dass es etwas erlebt, so bleibt aber das 237 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

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Erlebnis selbst stets ein Ereignis, das sich der willentlichen Herbeiführung entzieht. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass man etwas erleben kann, was man eigentlich gar nicht erleben will oder was man gar nicht erwartet. Erfahrungen geschehen unwillkürlich, besonders heftig im Modus der unerwarteten Überwältigung. Das Damaskuserlebnis des Apostels Paulus ist dafür ein bekanntes und aufschlussreiches Beispiel, weil Paulus ja eigentlich das genaue Gegenteil von dem erlebte, was er zu tun beabsichtigte. Mehr noch: Das Erlebnis ist nicht nur der aktiven Herbeiführung entzogen, es unterbricht und durchbricht auch eine bereits geplante und begonnene Aktivität. Wie von Caravaggio in seinem Gemälde der Bekehrung des Apostels Paulus kongenial ins Bild gebracht, stürzt der Betroffene zu Boden und sieht die Koordinaten seines bisherigen Weltbildes aus umgekehrter Perspektive auf den Kopf gestellt. Je intensiver es ist, so scheint es, desto weniger erzeugt ein Erlebnis ein Wohlgefühl, es wirkt zunächst als destruktiver Bruch alles bisher bewusst Gewollten. Große Mystiker wie Meister Eckhart oder Jacob Böhme bezeichnen diesen entscheidenden Krisenmoment deshalb auch als Durchbruch, das Ereignis durchbricht den Eigenwillen des Subjekts. Es ist daher keine aktive Tat, sondern ein passives Widerfahrnis. Wenn die Griechen mit dem noch von Dionysius verwendeten Wort Pathos nicht nur das Erleben, sondern primär das Erleiden bezeichneten, dann entspricht dies wohl der Erfahrung, dass das Erleben zunächst mehr Schmerzen als Genuss verursacht. In der Bestimmung als Durchbruch kommt auch zum Ausdruck, dass das erlebte oder gar erlittene Pathos nicht das Ergebnis eines logisch folgerichtigen Prozesses ist. Es geschieht oft genug gegen die bewusste Logik in einer ebenso unerwarteten wie unvermittelten Plötzlichkeit. Im Unterschied zum Begriff des theoretischen Erkennens ist das Ereignis des affektiven Erlebens gerade nicht das Ergebnis eines systematischen Vermittlungsprozesses, sondern der unmittelbare Beginn von etwas Unbekanntem. Diese plötzliche Unmittelbarkeit bringen die Mystiker zur Sprache, indem sie an die Stelle des Begriffs den Augenblick setzen. Das Erleben lässt sich nicht in einem Reflexionsprozess vermitteln, sondern es geschieht unverfügbar im Moment. Die Übermacht des Ereignisses erweist sich auch darin, dass es den von ihm Betroffenen transformieren kann. Nicht das Subjekt gleicht sich das Ereignis in Form eines geistigen Begriffes an, sondern umgekehrt, es wird vom Erlebnis umgeformt. Deshalb wird der Au238 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

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genblick von den Mystikern nicht nur als Moment des plötzlichen Betroffen-Werdens von etwas unerwartet Anderem beschrieben, sondern auch als raptus, als Hingerissen- und Entrücktwerden des eigenen Selbst. Das Erschreckt-Werden von der Überwältigung ist identisch mit der Ekstase einer Verwandlung. Dieser ekstatische Charakter des Erlebens führt nun zum weitreichendsten Unterschied zwischen theoretischem Erkennen und affektivem Erleben. Schon bei Plotin wird die Ekstasis gleichgesetzt mit der Henosis, die auch im Dionysius-Zitat als letztes Ziel aufscheint. Das raptische Heraustreten wird zugleich als eine Einung erfahren, als die Einswerdung der unio mystica. Der Affekt tendiert nicht wie der Intellekt auf die Setzung von Differenzen, sondern auf deren überwindende Aufhebung. Dionysius selbst bringt dies in der eingangs zitierten Aussage wunderbar ins Wort, wenn er die Vollendung in der Einswerdung als Wirkung des Pathos bezeichnet, diese aber an den Vollzug der sym-patheia bindet. Das Subjekt soll sich sein Erleben gleichsam sym-pathisch zu eigen machen, um sich mit ihm zu vereinigen, denn durch das Mitfühlen, Miterleben und Mitleiden kann und soll die Differenz zwischen Erlebendem und Erlebtem schrittweise aufgehoben werden. Das erlebende Subjekt hat kein objektives Gegenüber mehr, sondern befindet sich in einem differenzfreien Zustand der All-Einheit. Die Aufhebung aller Differenzen hat schließlich zur Folge, dass auch die begrenzenden Schranken der Endlichkeit aufgebrochen werden. Wenngleich das Erleben nicht der freien Willkür des Subjekts untersteht, so bewirkt es doch letztendlich eine uneingeschränkte Freiheit. Das Durchbrechen des Eigenwillens wird deshalb von den Mystikern als Durchbruch in die Freiheit oder besser als Durchbruch der absoluten Freiheit erfahren. Das affektive Erleben kann daher etwas erreichen, was dem theoretischen Erkennen prinzipiell verwehrt bleibt: die Befreiung vom eigenen Selbst. Mehr noch: Die ekstatische Einswerdung kann nicht nur das Selbstbewusstsein des Geistes involvieren, sondern sogar auch die sperrige Materie des Leibes, wie mystische Phänomene von der Art der Stigmatisation des Franziskus von Assisi oder die Drehtänze der Sufi-Derwische zeigen.

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1.3 Göttliches im Neutrum Plural Im Blick auf diesen Absolutheitscharakter des Erlebens wird nun einsichtig, warum Dionysius Areopagita das, was in dieser plötzlich überwältigenden All-Einheitserfahrung ekstatisch erlebt wird, in der zitierten Aussage »die göttlichen Dinge« nennt. Die entsprechende griechische Formulierung ta theia ist eigentlich nicht übersetzbar, da es sich um einen im Deutschen nicht wiederzugebenden Neutrum Plural handelt, das Göttliche in der Mehrzahl sozusagen. Wenngleich es der Kontext des Zitates nahelegen würde, dass Dionysius hier vom personalen einen Gott im Sinne des christlichen Glaubens spricht, wählt er trotzdem diese neutral unbestimmte Rede vom Göttlichen und setzt sie noch dazu in einen noch unbestimmteren Plural. Dies liegt ganz in der Konsequenz der Differenzen aufhebenden Wirkung des Pathos. Das, was erlebt wird, bleibt für den Menschen gerade in dem Moment, wo es ihn ergreift, total unverfügbar und unbenennbar. Dadurch, dass es sich einer definitiven inhaltlichen Festsetzung etwa im Modus eines Begriffes entzieht, kann es ganz unterschiedliche Formgebungen in sich vereinigen. Die »göttlichen Dinge« können die Mysterien des christlichen Offenbarungsglaubens sein, was sie für Mönch Dionysius bestimmt auch sind, oder die platonischen Ideen aus dem Reich der Philosophie, was sie für den neuplatonisch geprägten Dionysius bestimmt ebenso sind. Die Formulierung ist auch offen, um die Erfahrungen anderer Weltanschauungen, Spiritualitäten und Religionen in sich aufzunehmen. Wenngleich Dionysius diese nicht kannte, so öffnete er in seiner Wortwendung in weiser Vorahnung Tür und Tor für sie alle. Die Differenzüberwindung des Pathos gewinnt damit auch eine interreligiöse und transkulturelle Dimension. Während sich die Dogmatiken und Ethiken der vielen Kulturen und Religionen voneinander unterscheiden, so legen sie in ihren mystischen Dimensionen doch alle gemeinsam Zeugnis ab von einer Erfahrung der Einswerdung mit dem nicht näher zu definierenden Heiligen und sehen darin ihren eigentlichen Sinn. Durch die Bezeichnung ta theia, die »göttlichen Dinge«, kommt also eine positive Unbestimmbarkeit dessen zum Ausdruck, was in der Mystik umfassend erlebt wird. Im Blick auf diese ihre Aussageintention auf das Undefinierbare, transzendiert sich diese Formulierung letztlich selbst. Wenn dieses Wort paradoxerweise für das Unsagbare steht, dann folgt daraus, dass ta theia nicht nur nicht auf eine bestimmte Religion eingeschränkt werden kann, sondern auch nicht auf Religion 240 https://doi.org/10.5771/9783495820476 .

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in einem umfassenden Sinn. Die »göttlichen Dinge« stehen damit, ihren eigenen Referenzpunkt aufhebend, jenseits der Differenz von Theismus und Atheismus. Schon theistischen Formen von Mystik inhäriert eine Tendenz, die positiven Gottesbegriffe negierend aufzuheben. Dafür ist die sogenannte »negative Theologie« des Areopagiten selbst das wirkungsvollste Beispiel. Damit haben sie eine Gemeinsamkeit mit explizit gottlosen oder religionslosen Mystiken, wie sie vor allem seit dem von Nietzsche verkündigten »Tod Gottes« florieren. 6 Auch die strittigen Alternativen der Gretchenfrage werden in der mystischen Erfahrung mit allen anderen Differenzen endlich aufgehoben. Der Mystiker ist, wie es Jacob Böhme in seinem Sinnspruch formuliert, vollends »befreit von allem Streit«.

2.

Mathesis und Pathos als Spannungseinheit?

Mystik ist, so könnte man zusammenfassend sagen, die befreiend wirkende, unmittelbare Erfahrung einer absoluten Einheit. Dies ergab die bisherige Analyse der Rede vom Pathos, das von Dionysius als spezifisches Unterscheidungsmerkmal der mystischen Theologie definiert wurde. Entscheidend für das richtige Verständnis dieser Aussage ist es, dass Dionysius das affektive Erleben des Pathos zwar als bestimmende Wesenseigenschaft der mystischen Theologie benennt, es aber gerade nicht als ausschließenden Gegensatz zum theoretisch reflektierenden Erkennen der Mathesis positioniert. In der betreffenden Aussage heißt es ausdrücklich nicht, dass in der Mystik die göttlichen Dinge erlebt werden, anstatt sie zu erkennen, nein: es gilt, sie »nicht nur« zu erkennen, »sondern auch« zu erleben. Das mystische Pathos schließt also nach Dionysius die rationale Mathesis gerade nicht aus, sondern setzt sie voraus und impliziert sie. Wie ist dies nun zu verstehen oder auch nur möglich, wo doch in der Analyse dieser beiden Zugangsweisen zum Seinsganzen geradezu ihre spiegelbildliche Gegensätzlichkeit festgestellt wurde? Mathesis und Pathos im Konzept der mystischen Theologie zusammenzunehmen, was Dionysius überraschenderweise macht, ist nur dann sinnvoll, Vgl. zur Thematik: Alois Maria Haas, Das Verhältnis von Atheismus und Mystik – eine Skizze, in: Katja Thörner und Martin Thurner (Hg.), Religion, Konfessionslosigkeit und Atheismus, Freiburg i. Br. 2016, 77–110. Sowie: Franz-Josef Wetz, Säkulare Mystik. Technoclubs, Mittagsstille und Sternenhimmel, in: ebd. 111–146.

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wenn beide Pole von sich aus den Bezug zu ihrem Konterpart implizieren, also trotz oder in ihrer Gegensätzlichkeit aufeinander bezogen sind und sich so in eine dialektisch gespannte Einheit fügen können. Gibt es also sowohl in der Mathesis wie auch im Pathos ein notwendiges Moment der Gegenwart des einen im anderen?

2.1 Pathos als Ursprung des Denkens Zur Entdeckung dieses verborgenen Zusammenhangs verhilft die offensichtliche Spur des Wortes, mit dem ihn Dionysius zum Ausdruck bringt. Wenn er das Pathos als Spezifikum der Mystik benennt, so greift er damit auf ein Wort zurück, das nicht erst von ihm in einen philosophischen Kontext eingeführt wurde. Bekanntermaßen steht Dionysius in der Tradition des Platonismus und es war just Platon selbst, der das Wort pathos nicht nur verwendet, sondern ebenso wie Dionysius in einen systematischen Zusammenhang mit dem theoretischen Erkennen stellt. An der betreffenden Stelle benennt Platon auch explizit den Grund für die gegenseitige Verwiesenheit von affektivem Erleben und rationaler Reflexion aufeinander. Es ist die berühmte Stelle aus dem Theaitetos-Dialog, in der Platon das Erstaunen als den Ursprung der Philosophie bestimmt. In verkürzten Wiedergaben dieses Gedankens wird meist übersehen, dass Platon das denkursprüngliche Erstaunen im Originaltext ausdrücklich als ein Pathos näher qualifiziert: »Es ist gar sehr einem Philosophen zu eigen jenes Erleben (pathos), das Erstaunen; es gibt nämlich überhaupt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.« 7 In dieser für das Selbstverständnis der Philosophie fundamentalen Aussage behauptet Platon nicht nur einen immanenten Bezug des theoretischen Erkennens zum affektiven Erleben, sondern schreibt diesem eine eigentlich nicht zu übertreffende Bedeutung für die philosophische Rationalität zu: Ohne das Pathos des Erstaunens würde es das theoretische Denken gar nicht einmal geben können, weil das erstere nichts Geringeres als der Ursprung des letzteren ist!

Platon, Theaitetos 155 d 2 f.: μάλα γὰρ φιλοσόφου τοῦτο τὸ πάθος, τὸ θαυμάζειν: οὐ γὰρ ἄλλη ἀρχὴ φιλοσοφίας ἢ αὕτη.

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2.2 Denken als notwendige Form des Pathos Eine der einfühlsamsten Relektüren dieses Satzes findet sich in einem späten Vortrag Martin Heideggers mit dem Titel »Was ist das – die Philosophie?« aus dem Jahre 1955. In einer Phänomenologie des »Erstaunens« bringt Heidegger die Gründe dafür zur Sprache, warum das Denken stets auf ein vorgängiges Erleben verwiesen bleibt, aber auch dafür, warum es nicht bei diesem vorgängigen Erleben bleiben kann, sondern dieses notwendig in das theoretische Erkennen übergehen muss: »Nur wenn wir πάθος [páthos] als Stimmung (dis-position) verstehen, können wir auch das θαυμάζειν [thaumázein], das Erstaunen näher kennzeichnen. Im Erstaunen halten wir an uns. Wir treten gleichsam zurück vor dem Seienden – davor, dass es ist und so und nicht anders ist. Auch erschöpft sich das Erstaunen nicht in diesem Zurücktreten vor dem Sein des Seienden, sondern es ist, als dieses Zurücktreten und Ansichhalten, zugleich hingerissen zu dem und gleichsam gefesselt durch das, wovor es zurücktritt. So ist das Erstaunen die Dis-position, in der und für die das Sein des Seienden sich öffnet. Das Erstaunen ist die Stimmung, innerhalb derer den griechischen Philosophen das Entsprechen zum Sein des Seienden gewährt war.« 8

Heidegger deutet hier das Erstaunen als eine Stimmung, die ihrerseits von einer gegenstrebigen Dynamik bestimmt ist. Wer über etwas staunt, ist zunächst überrascht darüber oder sogar erschreckt davon, was mit der Distanz von Andersheit oder gar Fremdheit einhergeht. Aber der Erstaunende lässt es nicht bei dieser Distanz bewenden; gerade die Betroffenheit durch fremdartige Andersheit entfaltet eine eigenartige Attraktivität, der Betroffene wird davon fasziniert. Das Erstaunliche hat also zugleich eine abstoßende und anziehende Wirkung. Im Hinblick auf diese innere Widersprüchlichkeit des Erstaunens wird es nun auch begründbar, warum das Staunen der Ursprung des Denkens ist. Der Widerspruch verlangt nach einer Auflösung, und genau diese Notwendigkeit bringt den Prozess des Denkens in Gang. Ebenso, wie das Denken ohne die Urzündung durch die Ambiguität des Erstaunens nicht entstehen kann, ebenso kann es nicht bei der rein pathischen Stimmung des Erstaunens bleiben, denn in sich Widersprüchliches muss sich selbst aufheben. Stau-

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Martin Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, Pfullingen 1956, 26.

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nendes Erleben und begründendes Denken bedürfen trotz und in ihrer Verschiedenheit immer einander. Dem aufmerksamen Leser des zitierten Heidegger-Textes wird es nicht entgangen sein, dass Heidegger für die Beschreibung der gegenstrebigen Spannung im Erstaunen mit »Ansichhalten« und vor allem »Hingerissen-Sein« Worte aufgreift, die eindeutig aus der Tradition mystischer Sprache stammen. Naheliegend ist auch die Parallele zu dem Begriffspaar »tremendum et fascinans«, wie es der Religionsphänomenologe Rudolf Otto zur Bestimmung des Mysteriums des »Heiligen« entwickelt, 9 womit sich Heidegger nachweislich, in Zusammenhang mit Entwürfen für eine im Wintersemester 1918/19 geplante Vorlesung über »Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik«, beschäftigt hatte. 10 Das Interpretationsmuster für das denkursprüngliche Erstaunen in dem Sinne, dass das reine Pathos in seiner inneren Selbstwidersprüchlichkeit autodestruktiv ist und von daher notwendigerweise in das Denken überführt werden muss, hat also eindeutig eine Wurzel in der mystisch-religiösen Tradition. Diese reicht freilich noch viel weiter zurück als bis zu Rudolf Otto oder der Mystik des Mittelalters. Dass die Fülle des Ursprungs vom Menschen zwar stets gesucht, aber nie rein im Modus der Erfahrung zugänglich sein kann, ohne dabei eine zerstörerische Wirkung zu entfalten, ist ein zentrales Element der Gotteserfahrung bereits des Alten Testaments: »Dann sagte Mose: Lass mich doch deine Herrlichkeit sehen! Der Herr gab zur Antwort: Ich will meine ganze Schönheit vor dir vorüberziehen lassen und den Namen des Herrn vor dir ausrufen. Ich gewähre Gnade, wem ich will, und ich schenke Erbarmen, wem ich will. Weiter sprach er: Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben. Dann sprach der Herr: Hier, diese Stelle da! Stell dich an diesen Felsen! Wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, stelle ich dich in den Felsspalt und halte meine Hand über dich, bis ich vorüber bin. Dann ziehe ich meine Hand zurück und du wirst meinen Rücken sehen. Mein Angesicht aber kann niemand sehen« (Exodus 33,18–23).

In eindrücklicher Bildsprache artikuliert dieser Bibeltext die Notwendigkeit, die Gewalt des Pathos in eine Form zu bringen, in der sie dem Menschen zuträglich wird, ohne ihn zerstörerisch zu überwältigen. Rudolf Otto, Das Heilige, München 261947, 12 ff., 39 ff. Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, Gesamtausgabe Bd. 60, Frankfurt a. M. 1995, 303–337, hier: 332–334.

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Es wird hier natürlich noch nicht vom Denken gesprochen, das diese formende Funktion zu erbringen habe. Aber es wird ein methodisch genau durchstrukturierter Prozess beschrieben, infolgedessen das ursprünglich grenzenlos alles absorbierende Pathos so begrenzt wird, dass es vom Menschen bewältigt werden kann: »Hier, diese Stelle da! Stell dich an diesen Felsen! Wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, stelle ich dich in den Felsspalt und halte meine Hand über dich, bis ich vorüber bin. Dann ziehe ich meine Hand zurück und du wirst meinen Rücken sehen. Mein Angesicht aber kann niemand sehen.«

Die philosophische Tradition schreibt diese formende Eingrenzung des grenzenlos überwältigenden Erlebensstromes dem Denken als dessen ursprüngliche Aufgabe zu.

2.3 Die dionysische Gegenprobe Abschließend soll für diese These noch eine Probe aufs Exempel gemacht werden. Die ursprüngliche Bedeutung pathischer Elemente für Denken und Theorie, ja für die Kultur insgesamt, droht natürlich in Vergessenheit zu geraten oder gar verdrängt zu werden, je weiter sich die Rationalität von ihren primitiven Anfängen entfernt. Immer wieder haben Philosophen daher die Notwendigkeit verspürt, den affektiven Grund des Denkens neu zur Geltung zu bringen. Mit extremem Drang tritt dieses Anliegen bei Friedrich Nietzsche zutage. Sein Leitmotiv des »Dionysischen« kann durchaus als Versuch einer steigernden Wiederbelebung des platonischen Pathos gedeutet werden; es wird von Nietzsche darüber hinaus auch ausdrücklich mit Ausdrücken aus dem Wortbereich des Mystischen assoziiert. 11 Doch war es ausgerechnet derselbe Nietzsche, der noch gegen Ende seines bewussten Schaffen eindringlich auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht hat, den gewaltigen Ausbruch des Dionysischen in eine begrenzte Gestalt zu bringen, die er schon zu Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit in der berühmten Tragödienschrift als das »Apollinische« benannte. Das dionysische Pathos bedarf, und darin besteht tatsächlich eine überraschende Gemeinsamkeit zwischen

Vgl. die Nachweise bei: Alois Maria Haas, »Als ›Erlebter‹ reden«. Nietzsches Begriff der Mystik, in: ders., Nietzsche zwischen Dionysos und Christus. Einblicke in einen Lebenskampf, Wald 2003, 15–23.

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dem dionysischen Denker Nietzsche und unserem Dionysius Areopagita, einer komplementären Einheit mit einem mäßigenden Erkenntnistrieb, der vergleichbar der Mathesis des Dionysius den pathischen Urkräften Maß und Gestalt gibt. Nietzsches Begriffspaar dionysisch / apollinisch erscheint als eine ins Extreme gesteigerte Version der spannungsvollen Einheit von Pathos und Mathesis, wie sie Dionysius als Wesensbestimmung seiner mystischen Theologie einführt. Nietzsche universalisiert diese Konzeption, indem er in der Fähigkeit, diese beiden Pole zusammenzubringen, den Ermöglichungsgrund und den Gradmesser von Kulturleistung überhaupt erblickt. Wohl etwas blind für die entsprechenden Leistungen etwa gerade auch der christlichen Mystik in der Tradition des Dionysius versteigt sich Nietzsche jedoch zur Behauptung, dass allein die griechische Kultur diese Synthese erstritten habe: »Diese beiden Kunst-Naturgewalten: werden von Nietzsche als das Dionysische und das Apollinische einander entgegengesetzt: er behauptet, daß – – – Mit dem Wort ›dionysisch‹ ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, als Abgrund des Vergessens, das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere vollere schwebendere Zustände; ein verzücktes Jasagen zum GesammtCharakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt, aus einem ewigen Willen zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Ewigkeit heraus: als Einheitsgefühl von der Nothwendigkeit des Schaffens und Vernichtens … Mit dem Wort apollinisch ist ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-sein, zum typischen ›Individuum‹, zu Allem, was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht: die Freiheit unter dem Gesetz. An ihren Antagonismus ist die Fortentwicklung der Kunst ebenso nothwendig geknüpft als die Fortentwicklung der Menschheit an den Antagonismus der Geschlechter. Die Fülle der Macht und die Mäßigung, die höchste Form der Selbstbejahung in einer kühlen, vornehmen, spröden Schönheit: der Apollinismus des hellenischen Willens […]. Diese Gegensätzlichkeit des Dionysischen und Apollinischen innerhalb der griechischen Seele ist eines der großen Räthsel, von dem N[ietzsche] sich angesichts des griechischen Wesens angezogen fühlte. Nietzsche bemühte sich im Grunde um nichts als um zu errathen, warum gerade der griechische Apollinismus aus einem dionysischen Untergrund herauswachsen mußte: der dionysische Grieche nöthig hatte, apollinisch zu werden, das heißt: seinen Willen zum Ungeheuren, Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen zu brechen an einem Willen zum Maaß, zur Einfachheit, zur Einord-

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nung in Regel und Begriff. Das Maßlose, Wüste, Asiatische liegt auf seinem Grunde: die Tapferkeit des Griechen besteht im Kampfe mit seinem Asiatismus: die Schönheit ist ihm nicht geschenkt, sowenig als die Logik, als die Natürlichkeit der Sitte – sie ist erobert, gewollt, erkämpft – sie ist sein Sieg …«. 12

Obwohl ihm also die Notwendigkeit einer apollinischen Zähmung des dionysischen Pathos durchaus bewusst war, scheint Nietzsche gleich dem Zauberlehrling die von ihm entfesselten Geister des Dionysischen ab einem gewissen Moment nicht mehr beherrscht zu haben. Die Tragik von Nietzsches Denken und Leben besteht vielleicht darin, dass er das Ringen mit den zu seiner Selbststeigerung wachgerufenen pathischen Urkräften letztlich verloren hat. Ein Jahr nach der Abfassung des zuletzt zitierten Textes zum Sieg über das Maßlose ereignete sich Nietzsches Turiner Zusammenbruch in die geistige Umnachtung. Wie immer man die nach wie vor umstrittene medizinische Diagnose veranschlagen mag, rein philosophisch lässt sich dieses Ereignis als Überhandnehmen des dionysisch-pathischen Elements deuten und als die Kapitulation des Apollinisch-Rationalen vor der Aufgabe, dieses in eine individuell lebbare Gestalt zu fassen. Die Folge davon ist das, wovor bereits im zitierten Exodus-Text aus dem Alten Testament gewarnt wird: »Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben.« Ein noch am Tag seines Zusammenbruchs verfasster Brief Nietzsches an Cosima Wagner gibt eindrücklich Zeugnis davon, wie die individuelle Gestalt des Denkers selbst und alle anderen Gestalten seiner Welt in einem Einheitspathos ausgelöscht werden: »An die Prinzeß Ariadne, meine Geliebte. Es ist ein Vorurteil, daß ich ein Mensch bin. Aber ich habe schon oft unter den Menschen gelebt und kenne alles, was Menschen erleben können, vom Niedrigsten bis zum Höchsten. Ich bin unter Indern Buddha, in Griechenland Dionysos gewesen, – Alexander und Caesar sind meine Inkarnationen, insgleichen der Dichter des Shakespeare Lord Bakon. Zuletzt war ich noch Voltaire und Napoleon, vielleicht auch Richard Wagner … Dies Mal aber komme ich als der siegreiche Dionysos, der die Erde zu einem Festtag machen wird … Nicht daß ich viel Zeit hätte … Die Himmel freuen sich, daß ich da bin … Ich habe auch am Kreuze gehangen …«. 13

Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1888: 14 (14), Krit. Studienausgabe, ed. Colli / Montinari, Bd. 13, 224. 13 Friedrich Nietzsche, Brief aus Turin vom 3. Januar 1889 (am Tag seines Zusam12

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Die hart errungene Synthese von dionysischem Pathos und apollinischer Mathesis ist endgültig zerbrochen, es bleibt die Regression in das ursprüngliche Chaos, in welchem jedes Ich untergeht.

Fazit: Mystische Theologie ist Philosophie beim Wort genommen Auf dem Hintergrund der selbstzerstörerischen Aufhebung denkerischer Individualität im Fall Nietzsche kann die Bedeutung der Synthese von Pathos und Mathesis im Konzept der mystischen Theologie bei Dionysius Areopagita zusammenfassend verdeutlicht werden: Wenn Dionysius die Mystik als eine Weise des Zugangs zum Göttlichen bestimmt, die nicht nur im theoretischen Erkennen, sondern auch im affektiven Erleben besteht, dann entspricht er damit zwei Forderungen und vermeidet zwei Extreme: einerseits bedarf das Denken der emotionalen Erfahrung als seines Beweggrundes und darf diesen nicht vergessen oder verdrängen, andererseits muss dieser pathische Ursprung rational geformt werden, weil er in seiner Reinform für den Menschen nicht zu bewältigen ist. Wenn schon in der griechischen Wortprägung philosophia mit Philia und Sophia Affekt und Intellekt in eine Einheit gefügt sind, dann kommt damit unmittelbar zur Sprache, dass Philosophie ganz ursprünglich darin besteht. 14 Platon artikuliert in seiner Aussage über das Erstaunen als Anfang der Philosophie diesen gespannten Zusammenhang erstmals ausdrücklich und führt zur Bestimmung des Erstaunens das Wort pathos ein, das Dionysius dann später als Spezifikum der Mystik benennen wird; Nietzsche sowie Heidegger versuchen die Spannungseinheit von Erleben und Denken wiederzugewinnen und beziehen sich dabei auf vorausgehende Gestaltungen der Mystik. Im Blick auf diese Tradition menbruchs) an Cosima Wagner, Bayreuth, Krit. Studienausgabe Briefe, ed. Colli / Montinari, Bd. 8, 572. 14 Zu einem erneuert ursprünglichen Verständnis von Philosophie im Sinne ihrer Wortbedeutung will auch Heidegger im zitierten Beitrag »Was ist das – die Philosophie« (Pfullingen 1956) führen und gelangt dabei zurück zu Heraklit; bei diesem ist das Wort Philosophie nicht nur erstmals belegt (in adjektivischer Form: Fragment B 32), auch sachlich werden Philia und Sophia als Wesenseinheit im Logos gedacht; dazu: Martin Thurner, Heraklit: Die ›bathyphysische‹ Denkform, in: Enrica Fantino, Ulrike Muss, Charlotte Schubert, Kurt Sier, Heraklit im Kontext (Studia Praesocratica 8), Berlin u. a. 2017, 287–302, besonders den Abschnitt »Philo-Sophia« (299).

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erscheint die mystische Theologie des Areopagiten und die daraus hervorgehende reiche Tradition christlicher Mystik 15 nicht etwa als ein vielleicht abwegiger Sonderweg des Denkens, sondern als eine vollendet ausgewogene und von daher exemplarische Form ursprünglichen Philosophierens.

In inhaltlicher und auch begrifflicher Analogie zur Verhältnisbestimmung von Mathesis und Pathos bei Dionysius Areopagita wurde im Mittelalter etwa das Konzept der cognitio experimentalis entwickelt, eines »erfahrungshaften Wissens«, vgl. z. B. Bonaventura, Sent. III, d. 35, a. un., q. 1, concl. (ed. Collegium S. Bonaventurae, Quaracchi, tom. III, 774 a/b) und Johannes Gerson, De theol. myst. I, cons. 2 (ed. Glorieux, tom. III, 252 f.). Zu Cusanus: Martin Thurner, »Sapida scientia«. Erfahrung und Reflexion im Weisheitsbegriff des Nikolaus von Kues, in: Albrecht Beutel, Reinhold Rieger (Hg.), Religiöse Erfahrung und wissenschaftliche Theologie (Festschrift für Ulrich Köpf zum 70. Geburtstag), Tübingen 2011, 501–514.

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Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Rolf Darge lehrt am Fachbereich Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg. Sr. Dr. Lioba Fau OSB lebt im Kloster der Benediktinerinnen in Köln. P. Dr. Paul D. Hellmeier OP ist Prior und Kirchenrektor der Dominikaner bei St. Kajetan in München. Prof. Dr. Johannes Herzgsell SJ lehrt Grundlegung der Theologie, Religionswissenschaft und Religionsphilosophie an der Hochschule für Philosophie SJ München. Prof. em. Dr. William J. Hoye lehrte Systematische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster Prof. Dr. Johann Kreuzer lehrt Geschichte der Philosophie an der Fakultät für Human- und Gesellschaftswissenschaften der Universität Oldenburg. Prof. Dr. Isabelle Mandrella lehrt Philosophie an der KatholischTheologischen Fakultät der Universität München. Johannes Schaber OSB ist Abt der Benediktinerabtei St. Alexander und Theodor in Ottobeuren. Prof. Dr. Christian Schäfer lehrt Philosophie an der Fakultät Geistesund Kulturwissenschaften der Universität Bamberg. Prof. em. Dr. Peter Sloterdijk lehrte Philosophie und Ästhetik an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.

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Autorenverzeichnis

Prof. em. Dr. Wolfgang Speyer lehrte am Fachbereich Altertumswissenschaften an der Kultur- und Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg. Prof. Dr. Martin Thurner lehrt am Martin-Grabmann-Forschungsinstitut für Mittelalterliche Theologie und Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München.

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