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German Pages 581 [584] Year 1997
HANS-GEORG KEMPER
Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit Band 6/1
HANS-GEORG KEMPER
Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit Band 6/1 Empfindsamkeit
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1997
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kemper, Hans-Georg: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit / Hans-Georg Kemper. - Tübingen : Niemeyer, 1997 Bd. 6 1. Empfindsamkeit 1997
ISBN 3-484-10564-X ISBN 3-484-10571-2
kart. Gewebe
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
Inhaltsverzeichnis
Zur technischen Einrichtung des Bandes
VIII
Vorwort
IX
Einleitung a) Pietismus und Empfindsamkeit: Zur Forschungsdiskussion
l .
b) Pietismus, Neologie und Empfindsamkeit
l 13
I. PIETISMUS UND EMPFINDSAMKEIT 1) Religion als »Herz=Sache« (Zinzendorf) a) Gelebte Toleranz - Herrnhut als »philadelphisches« Modell . . b) Geistliches Rokoko und Gefühls-Kultur c) Dichtung und Gesang als Medium der Inspiration und der Ergriffenheit d) »So sönder=mäßig spielerlich«: Zum »Umgang mit Christus« in der »Sichtungszeit« (1743-1750) e) Die »Pflicht, selig zu sein« - Pietismus, Empfindsamkeit und Aufklärung im Herrnhutertum
2) Zärtlichkeit zum »Herzens=Gott« (Tersteegen)
19 19 25 31 38 49
58
a) »Im Herzen du, dort außen die Figur« - Konflikte zwischen Innen- und Außenleben b) Autonomisierung und Individualisierung der Frömmigkeit . . c) >Naive< Lehr-Epigramme d) »Vom Kopf ins Herz hinein!« - Tendenzen der Empfindsamkeit e) Vielsinnige Erfahrungslyrik
58 65 74 79 87
3) Sakralisierung der Poesie und Säkularisierung des Pietismus (Pyra und Lange)
96
a) Hallesche Sozialisation b) »Heilige Poesie« - >Der Tempel der Wahren Dichtkunst (Pyra)
96 103
VI c) d) e) 0 g)
Die freundschaftlichen Lieder< und der kupierte Horaz . . . Der »Himmel auf Erden« und seine poetische Heiligung . . . »Freundschaft« als Glücks-Erlebnis und Hiobs-Last Die ideale Frau und die moderne Familie (Dorothea Lange) . »Jugendzunder« im »Glückseligkeits-Triangel« der freundschaftlichen Lieder< h) Religion und Poesie als >gesellige< Herzens-Bildung (Lange und G. F. Meier)
114 119 121 128 133 144
II. NEOLOGIE UND EMPFINDSAMKEIT
1) Die Neologie als Theologie der Empfindsamkeit a) Zwischen Früh- und Spätaufklärung - Problemgeschichtliche Konstellationen b) >Kopf< und >Herz< - Zur Vermittlung von Pietismus und Rationalismus (S. J. Baumgarten, Semler, Jerusalem, Sack, Spalding, Teller, Zimmermann - Gottsched u. a.) c) Vorbilder - Neologische Anglophilie (Cambridge Platonists, Tillotson, Shaftesbury, Hutcheson u. a.) d) Privatreligion, Toleranz und Gottesverehrung in der Natur (Spinoza - Jerusalem, Semler, Toellner, Spalding, Eberhard) . . . e) »Sey glücklich!« - Religion als Weg zur Vollkommenheit (J. Butler - Jerusalem, Toellner, Eberhard, Teller - Kant, Schleiermacher) f) Der Prediger als »Lehrer der Weisheit und Tugend« (S. J. Baumgarten, Spalding) g) Die »philosophische Moral« als »Schritt zur Moral der Religion« (Geliert)
2) Poeto-theologische Diskurse a) Enthusiasmus der Wahrheit, moralische Schönheit und Geschmacksbildung als Legitimation der Poesie (Shaftesbury, Hutcheson, Batteux, J. A. Schlegel, Jerusalem, Wieland) b) Empfindungen der Realpräsenz in der Sprache der Offenbarung und ihrer poetischen Verkündigung (Jerusalem, Spalding, Sack, Cramer, Wieland) c) Der »dreyßigjährige Krieg« um die religiöse Poesie (Gottsched, Sack, Wieland, Bodmer, Breitinger, Pyra, Meier) d) Ästhetisierung der Religion und Sakralisierung der Ästhetik im >Erhabenen< (Longinus, Burke - Gottsched, Bodmer, Breitinger, Pyra, Tieck) e) Die »lyrische Poesie« als >Ausdruck< »wahrer Empfindungen« (Batteux, J. A. Schlegel, Cramer)
151 151 156 172 184 191 207 211
216 216 227 239 252 262
VII 3) Proben von Tugend und Frömmigkeit (Umkreis der >Bremer Beiträgen) 265 a) Zum Freundeskreis und seiner Zeitschrift b) Wider Eigenliebe und Unzufriedenheit - Moral-Predigt in Versen (J. A. Schlegel) c) >Geschmack< zu Freundschaft und Liebe (Giseke) d) »Und Young ist unser Epikur« (Ebert, Young) e) »Ich sing ein Heldenlied von einer Kleinigkeit« (Zachariae) . . f) »Wer sündigt, zittre!« - Orthodoxer Abgesang (J. A. Cramer) .
265 268 277 283 293 306
g) Weisheitsstreben in »heiigen« >Einsamkeiten< (von Cronegk) . . 319 4) Tugendängstlichkeit (Geliert)
329
a) »Finstrer Kopf« und »starres Herz« - Verlust der >Empfindsamkeit< 329 b) Das Wunderbare als das Natürliche - Gellerts Fabeln im Kontext der Poetik 341 c) »Scherz« und »Empfindung« in den >Fabeln und Erzählungem 351 d) Selbstgenuß des frommen Herzens - die >Moralischen Gedichte< 360 e) Sorge um das »reine Herz« - die >Geistlichen Oden und Lieder< 370
5) Poesie als platonische >Weisheit< (Der junge Wieland)
. . . 386
a) Klopstocks »Nebenbuhler« - Zur Biographie 386 b) Brockes' Adept - empfindsame Hermetik in der >Natur der Dinge< 398 c) »Ich sehe die ew'gen Ideen«: >Briefe< vom »Glück des Weisen« 409
6) Religion als Dichtung - Dichtung als Religion (Klopstock) . 417 a) Verehrt, geschmäht und ungelesen - Werküberblick und Kritikerecho b) Der sinnenfrohe Seraph - Zur Biographie c) Das magische Dreieck: Dichter-Priester, »heilige Poesie« und kultische Rezeption d) Freundschaft und Eistanz - Aspekte des rituellen Gedichts . . e) »Mitausdruck«, »Wortfüße«, Psalmen: Theorien zur Genese der »freien Rhythmen« f) Oden und Hymnen - Zum Stilprinzip der Individuation . . . g) Poetische Monadologie und lyrische Wahrheit - Zur Autonomisierung der Poesie h) Neologische Theorie, >Geistliche Lieder< und »poetisches Herrnhutertum«
417 422 440 448 457 468 479 493
Verzeichnis der zitierten Literatur
499
Personenregister
541
Sachregister
551
VIII
Zur technischen Einrichtung des Bandes
Im Darstellungsteil des vorliegenden Bandes werden die im Verzeichnis der zitierten Literatur< innerhalb von Sachgruppen alphabetisch aufgeführten Publikationen durch die Angabe der römischen Ziffer des jeweiligen Abschnitts der Bibliographie sowie des Verfassernamens, bei mehreren im selben Abschnitt aufgeführten Titeln desselben Autors auch durch das Erscheinungsdatum der Publikation sowie mit der Seitenzahl zitiert. Die Forschungsliteratur aus Abschnitt II des Verzeichnisses wird mit hinzugesetzter arabischer Ziffer aufgeführt, welche auf den jeweiligen historischen Bezugs-Autor verweist. Der Name eines im Zusammenhang bereits erwähnten oder eines im jeweiligen Kapitel behandelten Autors wird in den Klammern nicht wiederholt. Bei Autoren, denen jeweils ein Kapitel oder ein Abschnitt der Darstellung gewidmet sind, entfällt die Repetition der römischen Ziffer nach ihrer ersten Notierung. Darüberhinaus werden entweder die zitierten Ausgaben nach den in der Forschung eingebürgerten Abkürzungen genannt oder die Hauptwerke nach den Titel-Initialen aufgeführt. Die betreffenden Abkürzungen selbst sind im Literaturverzeichnis unter dem jeweiligen Autor zitiert und aufgeschlüsselt. Hervorhebungen in den Zitaten stammen - wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt - aus den jeweils angeführten Werken.
IX Vorwort
»Dichter und Priester waren im Anfang Eins - und nur spätere Zeiten haben sie getrennt«, erklärt Novalis (d. i. Friedrich von Hardenberg) am Ende des 18. Jahrhunderts. »Der ächte Dichter ist aber immer Priester, so wie der ächte Priester immer Dichter geblieben - und sollte die Zukunft nicht den alten Zustand der Dinge wieder herbeyführen?« (II Novalis VBB, S. 444/446) Daß diese Prophezeiung sich schon erfüllt hatte, nämlich in der Poesie der Empfindsamkeit, war bei ihm und seinen Zeitgenossen bereits in Vergessenheit geraten (vgl. zur romantischen >Poetik des Christentums< III Barck, S. 148ff.). Selbst Klopstock, dessen Ruhm nach dem Erscheinen der ersten Gesänge des >Messias< 1748 für drei Jahrzehnte den aller anderen Dichter übertraf, mußte sich von Schiller das Urteil gefallen lassen, er sei »bei weitem« nicht die »glücklichste Wahl« der Jugend (II Schiller NSD, S. 736), und Geliert, der als »Seelsorger im weltlichen Gewand« (III Kantzenbach, S. 181) zum meistgelesenen deutschen Autor des 18. Jahrhunderts avancierte, geriet kaum war er tot - in den Ruf eines seichten Pedanten, der seine Schüler so zeichnete Goethe den alten Leipziger Lehrer - mit seinen »Jereminaden« »von der Poesie abzumahnen pflegte« und der die Schreibversuche des angehenden Genies »mit roter Tinte korrigierte und hie und da eine sittliche Anmerkung hinzufügte.« (II Goethe DuW VI, S. 280f.) Von den Genies verdrängt, von den neuen poetischen Paradigmen überholt und auch von der Literaturgeschichte marginalisiert, ist nun aber das keineswegs unbeachtliche lyrische Werk einer Reihe von Autoren wiederzuentdecken, die vor und neben Geliert und Klopstock eine höchst folgenreiche Entwicklung initiiert haben: In ihren lyrischen Werken zuerst entfaltete sich die Empfindsamkeit in Deutschland als eine auf die Frühaufklärung folgende, um 1740 einsetzende Phase im Aufklärungsprozeß (vgl. Bd. V/l, S. 26ff.), und ihre Poesie wird bereits - nach gewichtigen Vorläufern in der Barock-Mystik (vgl. Bd. III) - von den modernen, in der Klassik definierten Merkmalen »des« Lyrischen bestimmt: vom »totalen Aussprechen des inneren Geistes« des Autors (II Hegel III, S. 219) und der »Individualität«, die »alles« sei, »was der Dichter uns geben kann« (II Schiller ÜBG, S. 972). Diese Entwicklung ist Resultat jenes der ganzen Epoche zugrundeliegenden Autonomiestrebens (vgl. Bd. V/l, S. 25ff.)
X
Vorwort
und steht daher in Kontinuität zur Frühaufklärung, zugleich jedoch markiert sie die entscheidende >empfindsame< Zäsur gegenüber der überwiegend sprachpflegerischen und didaktisch orientierten frühaufklärerischen Dichtkunst. Fast alle dichteten als Priester, und als Dichter praktizierten sie ihre Religion: Die meisten Autoren waren entweder Theologen (zum Teil in hohen Leitungsfunktionen) wie Zinzendorf, Lange, J. A. Schlegel, Cramer und Giseke bzw. Laienprediger wie Tersteegen oder sie hatten ein Theologiestudium absolviert wie Breitinger und G. F. Meier, Pyra und Geliert bzw. einige Semester Theologie belegt wie Ebert und Klopstock; ihre poetologischen Überlegungen umkreisten - bis hin zur Introduktion des Erhabenen - die Legitimierung einer »heiligen Poesie«, und ihre Dichtkunst bereicherte alle Gattungen der geistlichen Lyrik von der gelehrten Ode über die Bibeldichtung bis hin zum Gemeindegesang. Während schon die Dichtung der Frühaufklärung Funktionen der Erbauungsliteratur übernahm - durch poetisch-religiöse Betrachtung der Schöpfung in der Naturdichtung, durch philosophische Theodizee, durch lehrhafte oder polemische Vermittlung christlicher und ketzerischer Religiosität und Weltanschauung (vgl. Bd. V/2) -, wurde sie in der Empfindsamkeit als »heilige Poesie« nun selbst zum Organ einer individuell erfahrenen und verantworteten Frömmigkeit, ja die Dichtung setzte sich damit auch selbst an die Stelle >der< Religion, die Dichter übernahmen die Priester-, Seher- und Prophetenrolle, stifteten heilige Freundschaftsbünde, emotionalisierten die Moral, schwelgten in ihren Empfindungen und kosteten sie aus als Projektionen einer irdischen Glückseligkeit. Dies alles aber - und die Usurpation der Religion für die Poesie - wäre so nicht möglich gewesen, wenn nicht auch die Religion selbst in dieser Zeit eine der Dichtung analoge Entwicklung durchlaufen hätte (vgl. III Gutzen, S. 282): Vor allem durch die Massenbewegung des Pietismus und seine Splittergruppierungen entfalteten sich aus der im Zuge des Konfessionalismus (vgl. Bd. II) verkirchlichten gesellschaftlichen Institution mit einem äusserlich-öffentlich praktizierten Kultus nun kirchenunabhängigere, an der individuellen und unmittelbaren Geist-Inspiration orientierte Frömmigkeitsformen, die dem Autonomiestreben als einem Hauptkennzeichen der Aufklärung im Bereich der Religion zum Durchbruch verhalfen und sich - wie schon die Barock-Mystiker - der poetischen Sprache als wichtigen Mediums ihrer Frömmigkeit bedienten (vgl. Bd. V/l, S. 30f.). Gegen alle äußere Fremdbestimmung wurde Religion in das Heiligtum der eigenen Innerlichkeit verlegt, in Empfindungen, Gefühlen und Erfahrungen erlebt und damit genau in jenem »dunklen« und »verworrenen« Teil der Leibniz-/Wolffschen Gnoseologie fundiert, auf den A. G.
Vorwort
XI
Baumgarten 1735 die Ästhetik gründete und das Gedicht deshalb als »vollkommen sinnliche Rede« definierte (vgl. Bd. V/2, S. 189): Dichtung und Religion wurden - vor Kant (vgl. 11.47 Probst, S. l Off.) - zu Zwillingskindern des Gefühls und blieben es - auch in der vielfältigen Assoziierung von »ästhetischem« und »moralischem Gefühl« (vgl. III Franke/Oesterle, Sp. 83ff.; Kap. II 2 a) - bis hin zu Schleiermachers frühromantischer Definition von Religion als »Anschauung und Gefühl« (II, S. 35; vgl. Kap. II l e-10; doch auch - erst recht - heute vermag die Theologie »ein trennscharfes Kriterium für die Unterscheidung von religiöser Transzendenzerfahrung und analogen Erfahrungen im Umgang mit Kunst« nicht [mehr] zu nennen; vgl. III Lesch, S. 12). »Leidenschaft« war demnach nicht nur - wie soeben wieder behauptet (III Luserke, S. 14) - »ein genuin literarisches Thema«, sondern zugleich entscheidendes Bezugs- und Problemfeld der Theologie: »wie kann die offenbar fehlende Kraftübertragung hergestellt werden zwischen Intellekt und Affekt, zwischen Verstehen und Wollen, zwischen Lehre und Leben: wie bringen wir den Kopf in das Herz?« (III Sträter, S. 1) Dieses Problem reichten die Theologen - und die Kirchenlieder (vgl. IV Pfeiffer, S. 8ff.)! - des 17. Jahrhunderts an das folgende Säkulum weiter, und weil die Literatur »einen bestimmten Auftrag hatte, Empfindungen auszulösen, Herzen zu rühren« (III Luserke, S. 14; »affectus movere est poeticum«; so A. G. Baumgarten, S. 24; zit. ebda.), diente sie - und insbesondere das Gedicht - den Theologen des 18. Jahrhunderts als willkommenes Mittel, zur Herzens-Frömmigkeit zu bewegen, und deshalb verquickten sich auch die poetologischen und ästhetischen Überlegungen der Zeit vielfach mit dem Diskurs der Theologen (vgl.Kap. II 2). Zum einen ließ sich das Innere als Ort religiöser Gottseligkeit von der Poesie verschönern - diese wurde dann zum rituellen >RestAnderen< öffnete und damit auch zum Organ der Welt-Wahrnehmung und -Erfahrung avancierte. Tendenzen zur Sakralisierung und Ästhetisierung der Lebenswelt des empfindenden >Ich< waren ebenso die Folge wie die Anfänge einer >ErlebnisLyrisierung der GattungenDictionnaire historique et critique< von Pierre Bayle (1647-1706), in dem dieser eine Fülle von vernünftigen Einwänden gegen Begriffe und Dogmen des Christentums erhob und allein die historischen Tatsachen gelten lassen wollte, auch wenn diese als widervernünftig erscheinen sollten. Zinzen-
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I. Pietismus und Empfindsamkeit
dorf las, wie er bekannte, »mit Ausnahme der Bibel in keinen Büchern lieber als in Bayles Werken« (zit. in 11.109 Beyreuther 1965, S. 38), und seine - von vielen Pietisten geteilte - Skepsis gegenüber der Vernunft in Glaubensdingen, sein Insistieren auf der Tatsache der Menschwerdung Jesu und seine Berufung auf die unmittelbare religiöse Empfindung lassen sich auch als Resultat seiner Bayle-Lektüre begreifen. Alle diese religiösen und religionskritischen Erfahrungen des jungen Zinzendorf kulminierten schließlich in dem seit Böhme unter den BarockMystikern und unter den pietistischen Separatisten verbreiteten Leitbild einer »philadelphischen« Gemeinschaft (nach Apk. 3, 7ff.); in ihr sollten sich die wahren Kinder Gottes aus allen - zum Verderben bestimmten Konfessionen in »unparteiischer«, also überkonfessioneller Bruderliebe zur Brautgemeinde des Lammes versammeln (nach Apk. 21; vgl. 11.109 Schneider 1982, S. 352f.; III, S. 112ff.). Dem Selbstverständnis einer solchen Gemeinschaft begegnete der Graf 1721 in der Schloßgemeinde des kleinen Grafenhofes Reuß-Ebersdorf, wo er in der Comtesse Erdmuthe Dorothea (1700-1756) auch seine Gemahlin fand (vgl. zu ihr 11.108 Zimmerling). Bereits im selben Jahr (1721) schrieb er an seine Großmutter, Gott habe ihn »zum Werkzeug und Mitarbeiter in seiner philadelphischen Gemeinde versehen« (zit. in 11.109 Schneider 1982, S. 353), und 1722 dichtete er in einem Gelegenheitsgedicht: »Wann, Menschen= Freund, wann steht Dein Philadelphia / In seiner Bruder=Lieb und Kinder=Einfalt da?« (TG, S. 72) So war er innerlich nicht unvorbereitet, für diese Gemeinschaft selbst den Grundstein zu legen und sie mehr und mehr als Hauptaufgabe seines Lebens zu begreifen. 3) 1722 kaufte Zinzendorf von seiner Großmutter das Gut Berthelsdorf als reichsgräfliche Residenz und suchte eine Hofgemeinde nach dem Vorbild von Ebersdorf zu organisieren. Im Jahr darauf gewährte er drei wegen ihres Glaubens unterdrückten mährischen Handwerker-Familien auf seinem Territorium Asyl, und in den folgenden Jahren zogen immer mehr Asylanten - zur Hälfte Nachfahren der alten mährischen BrüderUnität, zur Hälfte Glaubensflüchtlinge verschiedener Couleur - nach und erbauten am Hutberg die Siedlung Herrnhut, die 1727 bereits 300 Einwohner zählte (11.109 Schneider 1982, S. 355f.; D. Meyer 1995, S. 20ff.). Auf Grund von Anpassungsschwierigkeiten vor allem der - der reformierten Kirche nahestehenden - Mähren an die für sie fremden Bräuche der in Berthelsdorf offiziell geltenden lutherischen Konfession kam es zu Spannungen in der Siedlung. Zinzendorf sah sich veranlaßt, seinen Dienst in Dresden zu quittieren und den religiösen und sozialen Unruheherd auf seinem Territorium, der wegen seiner großzügigen Asylpraxis bereits zum Politikum geworden war, dauerhaft zu befrieden.
1) Religion als »Herz=Sache« (Zinzendorf)
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Vor allem vier Aspekte sind in diesem Zusammenhang von Belang. Erstens konnte der Graf seine »philadelphische« Gemeindeidee nur unter Anerkennung der Oberhoheit der lutherischen Landeskirche realisieren. Jedes Hernhuter Gemeindeglied sollte aber unerachtet seiner angestammten Konfession in brüderlicher Liebe mit den anderen zusammenleben im Sinne eines ökumenischen Modells, das bereits sichtbar an einer unsichtbaren christlichen Kirche teillhat. Für den späteren Zinzendorf waren die verschiedenen Konfessionen nur unterschiedliche, aber gleichberechtigte Erziehungsweisen Gottes, die ihr gemeinsames Zentrum in Christus haben (vgl. WL, S. 164f.; 11.109 Hahn/Reichel, S. 412ff.).Allerdings entdeckte der Graf auch zunehmend die Nähe seiner »ecclesiola in ecclesia« zur ursprünglichen mährischen Brüdergemeine, führte das mährische Bischofsamt ein und nährte so selbst den (eigentlich unbegründeten) Verdacht, er wolle mit seiner Brüdergemeine eine vierte eigene Konfession ins Leben rufen. - Das brüderliche Zusammenleben hatte zweitens weitreichende soziale Folgen. So die Befreiung von der Leibeigenschaft und eine feste »Polizeiordnung« mit streng geregeltem Tagesablauf nach genauen Verhaltensvorschriften, die durch eine Vielzahl von Ämtern in die Tat umgesetzt und überwacht wurden (ebda., S. 86). Es etablierte sich eine Organisation nach sog. Chören, orientiert an den natürlichen Entwicklungsstufen und dem geschlechts- bzw. standesspezifischen Status der Beteiligten (also Chöre der ledigen Schwestern und Brüder, der Verheirateten, Witwen und Witwer), die jeweils eigene Häuser bewohnten und autonom wirtschafteten. Der Verdienst wurde in eine Gemeinschaftskasse eingezahlt, aus der auch der Lebensunterhalt für die Alten und Kranken zu finanzieren war (vgl. 11.109 Modrow, S. 42ff.). Drittens entwickelte der Graf neue Formen der Frömmigkeitspraxis, die sich eng an der Bibel und ihrem Zentrum, dem »Schmerzensmann Jesus« orientierten (vgl. 11.109 Hahn/Reichel, S. 185ff.; zur Entwicklung der sog. >Losungen< vgl. ebda., S. 240ff.): die Pflege der Sabbathruhe, Bräuche wie die Fußwaschung, den Friedenskuß oder das Niederknien beim Abendmahl, die Geselligkeitsform des »Liebesmahls«, bei dem auch musiziert und vorgelesen wurde (ebda., S. 236ff.). Ferner bereicherte er das religiöse Gemeinschaftsleben durch eine Vielfalt von liturgischen Feiern, die den traditionellen Gottesdienst auflösten bzw. ergänzten, wie Gebets- und Lesegottesdienste, besondere Schriftauslegungen in den Chören und sog. »Singegottesdienste« (vgl. ebda., S. 216ff.). - Viertens entflammte Zinzendorf die Gemeine zur sog. Streiter-Idee, in der verschiedene Traditionen zusammenflössen: das im Adel konservierte Ideal vorbildlichen Rittertums, das von Erasmus von Rotterdam erneuerte Verhaltensbild des »miles Christianus«, der sich im Lebenskampf die Se-
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I. Pietismus und Empfindsamkeit
ligkeit erwerben soll (vgl. Bd. I, S. 92), und nicht zuletzt das Frömmigkeitspostulat der »Nachfolge Jesu« (vgl. dazu auch 11.109 Schneider 1982, S. 357f.). Schon in einem Gelegenheitsgedicht auf seine Hochzeit (1722), das sich mit den Seligsprechungen der Bergpredigt beschäftigt, stellte Zinzendorf auch und vor allem die Sanftmut (Mt. 5,5) in ein Bedingungsverhältnis zum Streitertum als Nachfolge Jesu: »Es ist ihr Bräutigam, das erstgeborne Lamm, Lamm und Lowe, Gar sanft und weich, doch stark zugleich; So sind auch die aus seinem Reich. Wenn der Feinde stolze Rotten Der armen Einfalt JESU spotten, Und seiner sanften Lämmerlein; So mfissen sie oft schreklich seyn. (Hohel. 6.) Scheint einem Goliath der kleine David matt, Will er hohnen; So fährt ein Stein zur Stirn hinein, Dem, der ein Riese wolte seyn.« (TG, S. 64f.; vgl. dazu Berth G I, S. 407).
Die Verbindung von Sanftmut und emotionalem Kultus »nach innen« und gleichzeitiger latenter Aggressivität und Kampfbereitschaft nach »außen« war typisch für eine Frömmigkeitshaltung, die sich in den konfessionellen Kämpfen der frühen Neuzeit herausgebildet hat (vgl. Bd. II, S. 195ff.) und die hier benötigt wurde, um das auf Toleranz basierende philadelphische Modell in der Praxis behaupten und bewähren zu können (zu dem Problem vgl. III v. Graevenitz, S. 33*ff.). >In der Gemeine Namen< dichtete der Graf denn auch in einem Lied von 1728: »Christen aber sind nicht hier, / Daß sie sich daselbst erfreuen, / Und gedeyhen; /Ihr Beruf heißt: JEsu nach, /Durch die Schmach/. . .«(TG, S. 207). Zinzendorfs praxis- und gemeinschaftsbezogenes Denken trennte ihn deshalb von der »vita contemplativa« des »Spiritus mysticus« (vgl. 11.109 G. Meyer 1964, S. XXXV) und damit auch von der Position Gottfried Arnolds (vgl. Bed., S. 145; Bd. V/1, S. 117ff.; zu seinem komplizierten Verhältnis zur esoterischen Tradition und seinem Interesse für die Alchimie vgl. H. Deghaye, S. 45ff., 126f., 221ff. u. ö.; D. Meyer 1987). Mit der Streiterbereitschaft stärkte Zinzendorf zunächst den Selbstbehauptungswillen einer Gemeinschaft, deren Existenz zunehmend bedroht wurde - und zwar paradoxerweise auch und vor allem durch den Erfolg, den das >Modell< Herrnhut nach außen ausstrahlte: Trotz inzwischen strenger Auswahlkriterien wuchs die Herrnhuter Gemeine unaufhaltsam an und geriet zugleich in den Ruf eines »Sektierernestes«. Als die kaiserliche
1) Religion als »Herz=Sache« (Zinzendorf)
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Regierung sich 1731 offiziell am Dresdener Hof darüber beschwerte, Zinzendorf werbe leibeigene Habsburger Untertanen ab, reagierte diese hart mit der Landesverweisung des Grafen (vgl. 11.109 Modrow, S. 80f.). Zwar wurde diese nach dem Tode Augusts des Starken (1733) zurückgenommen, aber Zinzendorf war nachdrücklich gewarnt. - Sein schlechter Leumund als Sektenstifter und »närrischer Graf« vereitelte eine weltliche Karriere, und so wurde die Brüdergemeine seine Lebensaufgabe. In der insgesamt prekären und ungesicherten Situation, in der man weiterhin Herrnhut mutig als Asyl offenhielt (vgl. 11.109 Beyreuther 1965, S. 85), mußten sich nun bei Zinzendorf und der noch jungen Gemeine mit der Bereitschaft zur neuerlichen Emigration und der rechtzeitigen Suche nach neuen Domizilen Gemeinschaftsgeist und Streitertum bewähren. b) Geistliches Rokoko und Gefühls-Kultur Je mehr sich Zinzendorf in den folgenden Jahren zum Theologen entwikkelte - in Stralsund unterzog er sich 1734 einem Rechtgläubigkeitsexamen und trat im Dezember desselben Jahres in Tübingen als Reichsgraf in den geistlichen Stand ein -, desto stärker fühlte sich die Orthodoxie durch sein Treiben provoziert (vgl. 11.109 Beyreuther 1965, S. 95ff.). Schließlich führte eine Beschwerde des Oberkonsistoriums in Dresden 1736 zum kurfürstlichen Reskript der Landesverweisung. Auf der Suche nach einer neuen Bleibe wandte sich der Graf in die Wetterau als »ausgesprochene >KetzerlandschaftGedanken über die Herrnhuter< (1750) zu deren Verteidigung das - auch noch im >Nathan< veranschaulichte - Axiom aufstellte: »Der Mensch ward zum Tun und nicht zum Vernünfteln erschaffen« (II Lessing GH, S. 186), dann bezog er sich auf diese herrnhuterische Glaubenspraxis, die sich seit Beginn der vierziger Jahre immer entschiedener mit Kritik an allem Dogmatismus und Rationalismus - auch und vor allem im Bereich der Religion - verband (vgl. dazu auch die schon in Bd. V/l, S. 56, zitierten Belege aus Zinzendorfs Feder in HG I, S. 722 u. 203). 4) Zinzendorf war schon in seinem >Teutschen Sokrates< (1725/26 als Flugschrift, 1732 als Buch) entschieden auf dem Weg zur Inthronisation von Gefühl bzw. Empfindung zum zwar nicht alleinigen, aber absolut vorrangigen und allein verläßlichen Grund der Religion: »Die Religion muß eine Sache seyn, die sich ohne alle Begriffe, durch blosse Empfindung erlangen lasset«, lautete These 2 des Anhangs, und die folgende: »An der Wahrheit in den Begriffen ist weniger gelegen als an der Wahrheit in der Empfindung«, und nach einigen Variationen faßt der Graf nochmals zusammen:
1) Religion als »Herz=Sache« (Zinzendorf)
»10) 11)
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Die Vernunfft weicht der Empfindung. Die Religion kann nicht vernönfftig gefaßt werden, so lange ihr die Empfindung widerstehet.
12) Die Empfindung einer Sache kann von keinem Vernunfft= Schluß fibern Hauffen geworffen werden.« (Sokr., S. 289f.)
Die Aufwertung des Gefühls zum unhintergehbaren Organ der Religion bestätigte sich für den Grafen und seine Anhänger mehr und mehr auch durch die eigene Glaubens-Erfahrung, am nachhaltigsten ausgelöst offenbar durch das Herrnhuter Gemeinschafts- und Bekehrungserlebnis vom 13. August 1727 (vgl. 11.109 Hahn/Reichel, S. 106ff). Zinzendorf verwendete die Begriffe Gefühl, Herz, Empfindung oder Gemüt synonym und zielte damit »stets auf einen Prozeß ursprünglicher, intuitiver, nicht rationaler Erkenntnis, der Glaubensgewißheit bewirken soll.« (11.109 J. Reiche!, S. 74) Mit Phänomenen wie ekstatischer Schwärmerei oder narzistischem Auskosten von Emotionen hatte dies der Intention nach wenig zu tun, aber sie lagen - wie sich zeigen sollte - als Gefahr nahe, weil das Gefühl - wie Reichel überzeugend herausgearbeitet hat - für Zinzendorf auch »absolute Existenzgewißheit und Selbstgewißheit des Menschen« bedeutete und damit zugleich - wie auch These 12 belegt seiner Selbstbestätigung diente (vgl. ebda., S. 75). So war ein Prüfen des Herzens erforderlich, aber nicht mehr durch einen Prozeß des Selbstzweifels wie bei Spener (vgl. Bd. V/l, S. 70f.), sondern durch praktische, nach außen gerichtete, auf Vertiefung und Bestärkung des Gefühls bedachte Tätigkeit, die entweder als Selbsterprobung in und für die Gemeinschaft im Streitertum oder - und da lauerten die Gefahren des Selbstgenusses und Schwärmertums - im Kultus der Gemeine, in der religiösen Gemeinschaftserfahrung gesucht wurde. Bereits im Februar 1742 sah sich Zinzendorfs Gemahlin Erdmuthe Dorothea in einem Lied zur Auseinandersetzung mit dem Vorwurf zu großer Emotionalität der Gemeine-Frömmigkeit veranlaßt. Dabei brachte sie den Gegensatz zwischen dem herrnhuterischen und dem orthodoxen Glaubensverständnis wie selbstverständlich auf jene beiden Begriffe, deren Verhältnis zueinander die Literatur der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang so nachhaltig beschäftigen sollte: ». . .und noch mehr, das herz wird leer, . . . wenn so etwas wird gelehrt, was nur den verstand vermehrt, und doch nichts als wissen macht, und ist voller worter= pracht.« Weiter heißt es in dem Lied: 5. »Sagt uns wer, daß unsre lehr zu bildlich und phantastisch sey; dann man möst das was man wüst, vertheidgen können auch dabey, ob auch alles hätte
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I. Pietismus und Empfindsamkeit
grund', was bekennet unser mund, und ob man nicht gar zu viel mit empfindungs=worten spiel. 9. Würde mir geleget für, ich soll von beyden wehlen aus, wenn ich wüst, daß eins seyn must, so wehlte ich mir dieses draus, lieber noch in phantasie stehn als in philosophic. Fühlen wird durch prufung just; raisoniren bringt verlast.« (HG II, S. 1735)
5) Das Herz wurde nicht nur zum entscheidenden, unhintergehbaren Ort des Glaubens und der Ich-Konstitution, sondern auch und zugleich zum alleinigen Sitz der Moral. Zielsicher und genial führte der studierte Jurist Zinzendorf die anderen Felder der Ethik - den Bereich der Eruierung von Handlungsmaximen in der Pflichtenlehre und der Zielbestimmung ethischen Handelns in der Güterlehre (vgl. zu dieser Einteilung Schleiermachers III Stock, S. 12f.) - auf die innere Verfassung der Subjekte selbst zurück, durch deren Motivierung zum guten Handeln sich moralische Prinzipien allererst erfüllen lassen. Im Gegensatz zu logozentrisch orientierten - sowohl theologischen wie philosophischen (vgl. Bd. V/2, S. 81 f.) - ethischen Systemen, die mit ihrer Erklärung, die rationale Einsicht in das Gute habe dessen willentliche Umsetzung zur Folge, offensichtlich zu kurz greifen, ging Zinzendorf von der neuerdings wiederentdeckten Einsicht aus: »wir können nur wollen, was wir lieben; und wir können nur lieben, was uns in unserem Selbstgefühl ergriffen und bestimmt hat.« (III Stock, S. 56) Und was den Christen zutiefst emotional berührt hat und immer wieder ergreift, ist das Bild vom Kreuzestod seines Erlösers (vgl. ebda., S. 91ff.), und aus dieser - im »ikonischen Zeichen« des Gekreuzigten stets genährten - affektiven Zuwendung erwächst die Tugend als eine Kraft, die befähigt ist, das christliche Doppelgebot der Liebe jederzeit selbstverantwortlich und spontan zugleich auszuüben (ebda., S. 127ff.). In einer Marienborner Predigt über die Jugendlichkeit des Heilands< (1746) stellte Zinzendorf als alleinigen Rechtsgrundsatz folgende Maxime auf: »Es kan nemlich nimmermehr, ausser der person und dem exempel unseres Heilands JESU Christi, ein wurklich fundament angegeben werden, was eigentlich recht oder unrecht ist. Es ist nicht möglich.« (32 Hom Nr. 29, S. 15) Zugleich warnte der Graf vor einem »gesetzlichen« Verständnis der Botschaft Jesu, das im Sinne einer Anweisungsethik in Gestalt von Tugendkatalogen zur erfüllbaren Lebensmaxime des Christen werden könnte (vgl. ebenso III Stock, S. 75ff.). Dies lehnte er ab, »da nemlich das gesetz ein rival wird von der heiligen person JEsu Christi, das es ein abgott wird, ein gotze« (32 Hom Nr. 29, S. 4f.), und Zinzendorf forderte, das Gesetz im »herzen« zu haben: »da ist das bild GOttes zu hause, da sind alle eigenschaften des bildes GOttes, da wohnen alle dieselbigen naturregeln eines kindes GOt-
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tes, da ist das naturrecht, da ist die intrinseque heiligkeit der dinge, der Sachen, der materien und der personen« (ebda., S. 5). Immer wieder schärfte er ein: »ein gutes herz... muß seine heiligkeit aus dem herzen JEsu heraus holen, aus der person JEsu Christi, und muß selber nicht wissen, wie es dazu komt« (ebda., S. 7). Ein »herz«-liches Verhalten war demnach zwar kein unbewußtes, aber ein unreflektiertes, spontanes Verhalten, das ohne alles Räsonnieren und Bedenken das Richtige tut, und dies kennzeichnete auch die Herrnhuter und schloß sie zur Gemeine zusammen: »da sind lauter herzen, die wie Ein herz sind, da ist niemals die geringste differenz, das braucht niemals keiner Überlegung, keines besinnens und bedenkens; denn da ist mans entweder was der Heiland in dem articul ist, oder man ists nicht« (ebda., S. 19). Diese »lust zu GOttes gesetz nach dem inwendigen menschen« »nennt man glauben« (ebda., S. 11). - Eine solche »Herzens=Religion« (GR, S. 1) rechtfertigt, wie mir scheint, die periodische Zuordnung der Herrnhuter Frömmigkeit zur Empfindsamkeit (vgl. dazu Kap. I l e). Die Aufwertung innerer Bewegtheit, die auch Klopstocks >Messias< charakterisiert (vgl. II.6 Lämmert, S. 557), ist Merkmal einer >Lyrisierung< der Gattungen der Empfindsamkeit und findet sich, wie im folgenden zu zeigen ist, in programmatischer Absicht zuerst in der geistlichen Poesie und Kultur der Herrnhaager »Sichtungszeit«. In ihr bestätigt sich auf exzeptionelle Weise, daß die Empfindsamkeit als eine Kultur des Gefühls eine besondere Affinität zum Lyrischen besaß; denn da der Glaube eine »Herz=Sache« war, vermochten - wie sich nun zeigen soll - auch und gerade die Lieder eigentlicher Ausdruck und Organ dieser Frömmigkeit zu sein. c) Dichtung und Gesang als Medium der Inspiration und der Ergriffenheit 1) Zinzendorf wurde früh mit den beiden verbreitetsten Formen frühneuzeitlicher Poesie bekannt: mit dem geistlichen Lied und dem weltlichen Gelegenheitsgedicht; mit ersterem bei der Großmutter und in den Halleschen Singstunden, mit letzterem spätestens auf der Universität in Wittenberg (jedenfalls sind seit 1716 offizielle und zum Teil separat gedruckte Gelegenheitsgedichte Zinzendorfs nachweisbar; vgl. 11.109 D. Meyer BHZ, S. 117ff.; einige Gedichte des Grafen finden sich in einer Hunoldschen Sammlung mit Casuallyrik von 1718; vgl. ebda., S. 118; zu Hunold und dieser Sammlung vgl. Bd. V/l, S. 65f.). 1735 veröffentlichte er eine Auswahl seiner Casualpoesie unter dem Titel >Teutsche Gedichte< (2. Aufl. 1766), die er durchaus im Sinne der Zeit als »bey Gelegenheit
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geschriebene« »Oden« bezeichnet (in der Tat handelt es sich zum größten Teil um traditionelle, aber thematisch ganz ins Geistliche gewendete Gratulatoria zu Hochzeiten, Geburts- oder sonstigen Gedenktagen und um Trauergedichte; vgl. zu diesen Bd. V/2, S. 24ff., 38). In der >Vorrede< berichtet er, daß er sich von seiner pietistischen Erziehung und Jesusliebe her schwergetan habe, die bei solchen festlichen Gelegenheiten erwarteten rhetorischen und poetologisehen Konventionen zu erfüllen: »darum fassete ich meine Gedichte (wenn sie nach damaligem Universitäts=Gebrauch gedrukt werden mußten) mit solchen Ausdrukken ab, daß ich hoffete, die Welt solte mir gram« werden (TG, S. A 3 r). In den zwischen 1721 und 1727 entstandenen Gedichten zeichne sich dieser innere Kampf ab. Mit seinem Engagement für Herrnhut aber habe sich für ihn das Problem poetischer Normerfüllung erledigt (ebda., S. A 3 v). Um der Gemeinde und der Seelenführung willen schrieb der Graf fortan im einfachen Stil, wie er für das Kirchenlied üblich war. 2) Wenn er auch das Dichten zu Gelegenheiten vor allem im Familienkreis zeitlebens beibehielt, so richtete sich sein Hauptaugenmerk doch auf die Gemeinde-Dichtung. Warum er heute »zu den bedeutendsten Kirchenlieddichtern« zählt (11.109 G. Meyer 1964, S. VII), mag im folgenden ein Überblick über sein editorisches und dichterisches Schaffen sowie über seine Dichtungstheorie und -praxis verdeutlichen. - Von den wöchentlichen Halleschen »Singstunden« geprägt (vgl. zu diesen Bd. V/l, S. 38), hatte Zinzendorf den Gesang bereits als Gutsherr in seiner Berthelsdorfer Schloßgemeinde gepflegt und dazu 1725 das >Berthelsdorfer Gesangbuch< herausgegeben. 696 der insgesamt 892 Lieder dieser Sammlung übernahm er aus dem berühmten >Geist=reichen Gesangbuch< des Hallenser Pietisten Freylinghausen (vgl. Bd. V/l, S. 37; vgl. dazu jetzt auch IV Busch/Miersemann), 34 stammten bereits aus seiner eigenen Feder (vgl. die Aufstellung in 11.109 Müller, S. 21 f.). Der Graf hatte das Werk auf seine Rechtgläubigkeit hin prüfen und in orthodoxem Sinne einteilen lassen (>A. Von GOTT. B. Vom MenschenChrist-Catholische Singe= und Bet=BuechleinHeiliger Seelen-Lust< (vgl. dazu Christ-Cath G, S A 4 r; Bd. III, S. 230ff.) und im Anhang 147 Lieder aus dem >Berthelsdorfer Gesangbuch< (vgl. 11.109 D. Meyer BHZ, S. 201). Als dritte Auflage des >Berthelsdorfer Gesangbuchs< gab Zinzendorf 1731 das (nach seinem Verleger benannte >Marchesche Gesangbuchs
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heraus, das nun bereits der Erbauung der in Deutschland verstreuten Inspirierten dienen sollte. Deshalb ist hier der Bestand um 403 Lieder (gegenüber den 1415 Liedern der 2. Auflage des >Berthelsdorfer Gesangbuchs^ erweitert, die Anordnung umstrukturiert und um Teil C (>Von dem Leibe Christi der KircheVon dem Bilde Gottes im Menschern in zahlreichen Unterabschnitten die »Führungen Gottes« in allen Lebenslagen des Alltags behandelt und damit einer - von der Orthodoxie heftig kritisierten - Psychologisierung des Glaubens Vorschub leistet (vgl. 11.109 D. Meyer 1979, S. 25+ff.). Die Kontroversen verleideten Zinzendorf das >Marchesche Gesangbuch und beschleunigten die Arbeiten an seiner bekanntesten Liedersammlung, dem 1735 erschienenen >Herrnhuter GesangbuchHerrnhuter GesangbuchAnhänge< und >Zugaben< auf insgesamt 2357 Lieder (vgl. HG III, S. 2258), von denen rund 650 und damit ein Viertel des Gesangbuchs aus der Feder des Grafen stammten (das Register schreibt diesem noch fast 40 Lieder mehr zu, allerdings mit einem Fragezeichen, weil die Texte ohne Autorennamen veröffentlicht und daher nicht immer sicher zurechenbar sind; vgl. 11.109 Meyer-Hickel, S. 71ff.). In diesen Ergänzungen nahm Zinzendorf überwiegend die in der Brüdergemeine neu entstandenen Lieder - also auch und vor allem die aus der sog. >Sichtungszeit< (1743-1750) - auf und suchte sie so als bei >Gelegenheit< entstandenes Eigentum seiner Sozietät zu rechtfertigen, das nur zu deren alleinigem Gebrauch bestimmt sei (vgl. seine >Gelegentliche Erinnerung bey den so genannten Anhängen und Zugaben seit 1740< in HG III). Dennoch haben gerade diese Zusätze, welche die Authentizität des Wortlauts im Druck vor den Entstellungen der Gegner sichern sollten, am meisten zu Empörung und Spott über die Herrnhuter beigetragen
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(als einer der ersten zog übrigens Erdmann Neumeister - zu ihm Bd. V/l, S. 64f. - bereits 1736 gegen das >Herrnhutische Gesang-Buch< zu Felde; vgl. 11.109 D. Meyer BHZ, S. 297f.; zum >Streit um Zinzendorfs Gesangbuchen vgl. 11.109 D. Meyer BHZ 1979, S. 62+ff.). 1753/54 gab der Graf nach mehrjähriger Vorarbeit mit einem BrüderTeam das zweibändige >Londoner Gesangbucbx heraus. Dieses war ökumenisch konzipiert und enthielt im ersten Teil in lockerer Chronologie Lieder vom Alten Testament über Zeugnisse der Urkirche bis zur nachreformatorischen Zeit mit den Liedern von Philipp Nicolai, Johann Heermann und Paul Gerhardt (vgl. zu diesen Bd. II). Der zweite Teil präsentierte - eingeteilt in drei zeitlich gegliederte »Classen« - das im Umkreis des Pietismus entstandene Liedgut, wobei den Herrnhuter Liedern eine eigene Klasse eingeräumt war (vgl. dazu auch 11.109 Müller, S. 37ff.). Zinzendorf wollte damit offenkundig den eigenen Brüder-Gesang als letztes und besonders fruchtbares Zeugnis der abendländischen Lied-Tradition legitimieren. 3) Der Graf hielt offenbar den Bruder-Gesang für einen Höhepunkt in der Tradition des geistlichen Liedes, und das war er möglicherweise, nicht freilich im Blick auf Inhalt, Form und Qualität der Lieder, wohl aber im Blick auf den Stellenwert, den Zinzendorf dem geistlichen Lied in der Frömmigkeit seiner Gemeine beimaß. Seine nur sporadisch konzipierte Dichtungstheorie kann diese Funktion verdeutlichen. Ein Zitat aus der >Vorrede< der deutschen Gedichte< mag dabei als Ausgangs- und Bezugspunkt dienen. »Meine Poesie«, erklärte der Graf, »ist ungekünstelt: wie mir ist, so schreibe ich. Höhere und tiefere Worte pflege ich nicht zu gebrauchen, als mein Sinn ist. Die Regeln setze ich aus den Augen ums Nachdruks willen« (TG, S. A 2 v). Hieran ist dreierlei bemerkenswert. Erstens näherte Zinzendorf seine Gelegenheitspoesie weitgehend dem miederen Stil< des Kirchenlieds an, und dies ermöglichte ihm, viele seiner zunächst zu privaten Anlässen gedichteten Verse durch nur geringfügige motivische Überarbeitung in ein Gemeindelied zu verwandeln (aus einem »Nun Tochter! nun erfreust du mich« wurde so ein »Nun, Kirchlein, nun erfreust du mich«; vgl. die Beispiele bei 11.109 D. Meyer 1979, S. 108+ff.). Das »Einfältige« und »Ungezwungene« des Stils, mit dem sich Zinzendorf in die pietistische Tradition einreihte, führte bei ihm zweitens deutlicher und bewußter als etwa bei Gottfried Arnold (vgl. Bd. V/l, S. 121ff., bes. S. 124) zu einer Favorisierung des intuitiven dichterischen Schaffens und damit der ohne >Kunst< im Augenblick entstandenen Poesie als Ausdruck der Inspiration, des göttlichen Geistes und seiner im Lied sich aussprechenden und zugleich damit wirksam werdenden Wahrheit (vgl. dazu
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auch III Schmitt, S. 58f.). In einer >Erklärung an des Königs in Preussen Majestät über dem Herrnhutischen Gesang=Buch< gab Zinzendorf an, in den Versammlungen und Singstunden häufig selbst ganz spontan zu dichten (BS I, S. 803f.), und er animierte auch die Gemeine dazu. Solche zumeist recht kunstlosen Augenblicksgeburten galten als besonders inspiriert und wurden deshalb im >Herrnhuter Gesangbuch< mit einem Sternchen ausgezeichnet. Das Singen diente zwar auch der Belehrung »Es wird in cantibus mehr als in Prosa dogmatisiert«, erklärte Zinzendorf (zit. in 11.109 G. Meyer 1964, S. VII) -, aber es war darüberhinaus sichtbarstes Zeichen des Gemein-Geistes, vom Heiligen Geist selbst diktiert und deshalb auch wichtiger als die Verkündigung durch das Wort (11.109 Hahn/Reichel, S. 220f.). Wenn »ein Volk dasitzt und singt seinem Fürsten mit einem Munde und mit so vieler Empfindung des Herzens und Nähe des Heiligen Geistes«, dann - so Zinzendorf noch 1758 - seien dies »lauter göttliche hierarchische actus, die mit der Engel-Hierarchien konnektieren« (ebda., S. 223). Und 1755 äußerte er: »Wenn je eine Ähnlichkeit mit der Inspiration und dem Worte Gottes zu erwarten ist, so ists in der Hymnologie... Wenn man ein Buch, das man selber geschrieben in Prosa, nach einiger Zeit wieder sieht, so gefällte einem gar nicht. Denn es sind menschliche Arten des Vertrags und Connexionen. Wenn man aber sein eigenes Lied wieder sieht, so hat man vergessen, daß man es selber gemacht und freut sich drüber, weil ein gewisses Theion (^Göttliches) darinnen liegt, es war in einer besonderen Nähe des Heilandes und communicatione spirituum, mit den guten Geistern, die Gott den Herrn loben, gemacht, die man zu andrer Zeit nicht so spürt.« (Zit. in: 11.109 J. Reichel, S. 102)
Die Inspiration ging der Dichtung also nicht eigentlich mehr voraus, sondern blieb eng mit dem poetischen Schaffensprozeß verbunden, ja trat »vornehmlich im dichterischen Akt auf« (ebda., S. 101). So wurde die Poesie zur Offenbarungsform und Erscheinungsweise der Prophetie, und diese Kontamination von göttlicher Inspiration und Dichtung bereitet schon die »Verknüpfung der Gefühlsreligion des Pietismus mit der Gefühlsästhetik der Empfindsamkeit« bei Geliert (Kap. II 4 e) und insbesondere bei Klopstock (Kap. II 6h) vor (vgl. IV Gutzen 1977, S. 114f.) und ist auch für den »säkularisierten Geniebegriff des Sturm und Drang« von großer Bedeutung gewesen (11.109 J. Reichel, S. 102f.). Die Hochschätzung der unmittelbaren Inspiration im Gesang erklärt auch die hohe Bedeutung des Gemeinschaftssingens in den Singstunden mit ihrer Form der Lieder predigt. Der spontane Charakter dieser Veranstaltung und die enorme Liederkenntnis der Gemeine werden aus Zinzendorfs Beschreibung für den preußischen König deutlich:
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»Der Cantor nimmt die Materie der Reden, die eben gehalten worden, und setzet unterm Singen aus 20. 30. Liedern gantze und halbe Verse zusammen, welche die Materie ordentlich und deutlich vortragen: und darinnen ist Cantor, Organist, Lehrer und Zuhörer, so gefibt, daß keines innehalten, keines ein Buch aufschlagen darff, welches sich ungesehen nicht demonstriren last. Mein Sohn von 10. Jahren kan, wenn er in den Hauß= Singstunden spielet, aus einer Melodie unvermerckt in die andere fallen, daß es niemand weiß, ob die gantze Singstunde express so componiret ist: denn es wird nicht inne gehalten, und ein jedwedes Kind singt mit ohne in ein Buch zu sehen, denn sie können die Lieder auswendig. Wie das zugehet, weiß ich selbst nicht, weil kein Kind zum auswendig lernen angehalten wird.« (BS I, S. 803).
Dies erklärt freilich auch die relative Sorglosigkeit Zinzendorfs im Umgang mit der Lied-Tradition und ihrer schriftlichen Fixierung, die häufig von aktualisierender Umdichtung und Kürzung begleitet (und der Orthodoxie deshalb ein besonderes Ärgernis) war. Drittens hielt der Graf aber durchaus an der Wirkung der Lieder als deren Hauptabsicht fest. Deshalb schlichen sich zwar immer wieder die Regeln von Poetik und Rhetorik in seine Lieder ein (vgl. 11.109 J. Reichel, S. 95ff.), doch sollten die Gemeine und die Leser nicht mehr durch die Kunstgriffe der Affekterregung, sondern durch Identifikation mit dem unverfälschten, authentischen Gefühlsausdruck der Lieder ergriffen werden. Und eine solche Wirkung, wie sie nach zeitgenössischen Aussagen später auch von den Dichtungen Klopstocks sowie der Stürmer und Dränger ausging, bescheinigte Goethe den Herrnhuter Liedern, wenn er die Stiftsdame in den Bekenntnissen einer schönen Seele< über das den Herrnhutern nahestehende >Ebersdorfer Gesangbuch< (zuerst 1742; vgl. dazu IV Bettermann, S. 148) erzählen läßt: »In dem völligen Mangel aller äußeren Ermunterungsmittel ergriff ich wie von ungefähr das gedachte Gesangbuch und fand zu meinem Erstaunen wirklich Lieder darin, die, freilich unter sehr seltsamen Formen, auf dasjenige zu deuten schienen, was ich fühlte; die Originalität und Naivetät der Ausdrücke zog mich an. Eigene Empfindungen schienen auf eine eigene Weise ausgedrückt; keine Schulterminologie erinnerte an etwas Steifes oder Gemeines. Ich ward überzeugt, die Leute fühlten, was ich fühlte, und ich fand mich nun sehr glücklich, ein solches Verschen ins Gedächtnis zu fassen und mich einige Tage damit zu tragen.« (WML, S. 397)
Die Lieder dienten also als »Ermunterungsmittel«: »Wichtiger als die reine Lehre ist der kraftvolle Ausdruck des Liedes, der der Kraft des heiligen Geistes entspringt.« (11.109 D. Meyer 1979, S. 87+) Immer wieder betonte Zinzendorf selbst - schon in den Vorreden zum Berthelsdorfer und Marcheschen Gesangbuch -, in den ausgewählten alten und neuen Liedern sei »der Kern und Safft anzutreffen« (March G, S. 1), in den alten Liedern finde sich »ein fast unglaublicher Nachdruck, ja kurtze und
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vollkommene Ausdrucke der lebendigsten Begriffe«, und auch die neuen seien »nicht so sehr zur Einschärffung der Lehren, als zur Ermunterung dabey«, die Vorstellungen seien »lebendig«, »gründlich«, »deutlich« und »zugleich erwecklich« (ebda., S. 2), rührten also das Herz. Von daher wehrte er sich letztlich gegen kunstgerechte schulmäßige Versifizierungen orthodoxer Lehre, und anstelle von »Begradigungen« in deren Sinne ließ er Naivitäten ebenso zu wie Dunkles oder Apokryphes, solange die Gemeine den Sinn zu fassen vermochte, und deshalb gewann auch das Sprachschöpferische in seinen Liedern einen hohen Stellenwert. So verwundert es nicht, wenn der späte Herder in der >Adrastea< mit Kategorien über die Lieder der Herrnhuter urteilte, die der frühe Herder bei seiner Entdeckung und Propagierung der Volkslieder als Paradigma für die neue Poesie gewählt hatte (vgl. Bd VI/2): »Wer mag . . . auch den hingeworfensten Liedern des Grafen eine Biegsamkeit der Sprache, einen Reichthum an kühnen Wendungen und Herzensausdrücken absprechen, der oft überrascht, oft betäubet.« (II Herder Z, S. 37) Als >Ausdruck< des >Herzens< aber waren diese Lieder bereits Beispiele für den neuen, modernen, von »Innerlichkeit« geprägten Typ der Lyrik, wie ihn zeitgleich Tersteegen entwickelte (vgl. Kap. I 2 b, e) und wie ihn J. A. Schlegel und Cramer nur wenig später nicht zufällig an der geistlichen Poesie theoretisch begründeten (vgl. Kap. II 2 e). 4) Wenn sich im Gesang Heiliger Geist und Gemein-Geist besonders berührten und entfalteten, dann lag der Gedanke nahe, die Poesie auch als Mittel zur Entwicklung und Vertiefung der Gemeinde-Frömmigkeit einzusetzen. Vor allem in der Wetterauer Periode betrieb der Graf nicht zuletzt deshalb »eine regelrechte Dichterschulung auf breiter Ebene« (11.109 Erbe 1988, S. 83). Vorwiegend aus dem Führungszirkel bildete er sich unter Einschluß seiner Familie - neben der Reichsgräfin seines Sohns Christian Renatus (1727-1752) und seiner Tochter Benigna Justine (1725-1789)- eine poetische Kern-Gruppe heran, die auf Grund gemeinsamen Dichtens und Besprechens ihrer Werke zu einer »einheitlichen Sprache« gelangte. Diesem Zweck diente u. a. auch das folgende geistliche Spiel: Der Graf gab »jeweils ein Stichwort, einen Satz, einen Gedanken als Thema«, zu dem die jeweilige Gruppe von Beteiligten Gedichte bzw. Lieder abzufassen hatte, die dann in einem Dichter-Liebesmahl vorgetragen und gemeinsam beurteilt wurden.« (Ebda., S. 83) Die Lieder dieser Gruppe von etwa 20 Personen spiegelten nicht nur die Frömmigkeit der Gemeine, sondern - das war neu - »ermunterten« diese auch, ja sie gaben bei der Frömmigkeitsentwicklung der Herrnhaager Niederlassung in den vierziger Jahren den Ton an und waren deshalb - wie nun zu
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zeigen ist - für das fehlgeschlagene Experiment der »Sichtungszeit« maßgeblich mit verantwortlich. d) »So sunder=mäßig spielerlich«: Zum »Umgang mit Christus« in der »Sichtungszeit« (1743-1750) Die allmähliche Entwicklung der Herrnhaager Frömmigkeit läßt sich an der Poesie als deren Propaganda-Instrument ablesen. Während Zinzendorf in den zwanziger Jahren Christus durchaus noch als »unsren König« oder »Regenten« bezeichnen konnte (»Er ist mein Held, mein Freund, mein Bräutgam, mein Regente«; TG, S. 145), später vorwiegend als »Christus«, »Herr« und »Heiland«, wählten zuerst er und dann seine Dichtergruppe zur Bezeichnung für den Gottessohn seit Dezember 1739 verstärkt die Bezeichnung »Lamm« (vgl. 11.109 Erbe 1988, S. 30ff.). Das Wort symbolisiert die Reinheit, Kindlichkeit, aber auch die Unschuld des Lamms, des Opfer-Lamms und damit auch sein vergossenes Blut, wie es schon Paul Gerhardt in seinem berühmten Karfreitagslied >Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld< gestaltet hat (vgl. HG-AZ, S. 1805 ). In der massierten Form, in der das »Lamm« nun in den Gedichten und Liedern seit 1740 auftauchte, deutete es auf eine Intensivierung des gefühlshaften Umgangs mit Christus in der Frömmigkeit, die aber noch durch das gleichzeitige und gleich wichtige Bildfeld des »Blutes« vor einem Abgleiten in eine geistliche Bukolik bewahrt blieb (11.109 Erbe 1988, S. 32ff.). Diese sich andeutende Veränderung hatte zunächst biographische und historische Gründe: Zinzendorf war in all diesen Jahren ständig auf Reisen (vgl. dazu 11.109 Beyreuther 1965, S. 139ff.; Hahn/Reichel, S. 149ff.). U. a. hielt er sich fast ein Jahr (1742/43) bei den Indianern in Pennsylvania auf. Das beeinflußte ihn, und er traf bei der Rückkehr nach Herrnhaag auf eine veränderte Gemeine, in der eine ältere mährische Fraktion eine Separatkirche anstrebte, wovon sich eine jüngere Oppositionsbewegung - darunter Zinzendorfs Sohn Christian Renatus - auch durch eine emotionalere, ungezwungenere Frömmigkeit abzusetzen suchte. Der Graf stellte sich auf die Seite der Jungen und trieb damit eine letztlich verhängnisvolle Entwicklung voran, für die vier Merkmaie bestimmend waren. 1) Grundlegend zum Verständnis der Herrnhaager Gefühlskultur ist das Zentrum der Zinzendorfschen Frömmigkeit, der »tägliche Umgang mit dem Heiland« (vgl. dazu 11.109 D.Meyer - 1973, S. 66ff., 1987 S. 215ff.; Bintz 1982, S. 278ff.). 1747 begründete der Graf in vierund-
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dreißig Homilien seine Position. Zentral war dabei die Einsicht, daß der Gottessohn ganz - mit Leib und Seele! - Mensch geworden, als normaler, unattraktiver Zimmermannssohn aufgewachsen, seinem Handwerk unauffällig nachgegangen ist und dadurch unser Leben in all seiner Kreatürlichkeit durchlebt, durchlitten und damit auch geheiligt hat. Jesus war nichts Menschliches, auch keine menschliche Leidenschaft, fremd - außer der Sünde (vgl. WL, S. 22, 80f. u. ö.; 32 Horn Nr. 30, S. 9). In scharfem Gegensatz zu allem mystischen Doketismus (etwa der Greiffenberg; vgl. Bd. III, S. 252ff.) hat Christus auch nicht als Gott, sondern als Mensch, mit seinen menschlichen Kräften (allerdings unter dem Beistand seines Vaters) überwunden (vgl. 11.109 Bintz 1982, S. 279). Glauben hieß nun, sich unerschütterlich mit allen Gefühlskräften an diesen Jesus zu binden, sich mit ihm zu identifizieren und dadurch zu einer »lebendigen Bibel« zu werden (»so kriegt man die heilige Schrift ins Herz hinein«; WL, S. 150), während alles »Vernünfteln« über die Bibel vergeblich war (ebda., S. 182f. u. ö.). Von daher verkündigte Zinzendorf als »einzige Regel«: »Ich lebe nicht mehr, sondern mein Mann (=Jesus) lebt in mir« (ebda., S. 192), und Christus wolle umgekehrt »eine Conversation des Herzens mit seinem Herzen« haben (ebda., S. 231; zu den moralischen und mystischen Aspekten dieser Lehre vgl. Abschnitt e). Christus sei deshalb ständig gegenwärtig, sinnlich im »herligen Abendmahl«, wenn wir »wirklich in seinen Tod und Marter=Leichnam hinein beissen, wenn wir uns an ihn anhängen, und uns todt küssen mochten an Ihm, und er an uns« (ebda., S. 232), ansonsten nur unsinnlich. Gleichwohl empfinde die Seele seine Gegenwart real, sie »riecht, schmekt, hat alle Empfindung davon«, und daraus entstehe ihr alle Seligkeit (ebda., S. 233). Dieses Jesus-Verhältnis gehe - das betont Zinzendorf mehrfach - über bloßes Phantasieren weit hinaus (ebda., S. 233, 268, 286 u. ö.), die Jesus-Nähe sei »Herz=Sache« (ebda., S. 267) und drücke sich deshalb auch in der »Herzens=Sprache« aus (ebda., S. 291). Wäre sie nur eine Sache der Phantasie, dann würde gerade das Kreuzesgeschehen uns zutiefst erschrecken und abschrecken, denn der leidende Jesus, »dem der Geiffer vor dem Munde steht, dem die Augen herausstehen«, sei eine »scheußliche Gestalt« (ebda., S. 341), und nur die wahre Liebe, die blind ist, lasse sich durch solche Leidensbilder nicht schrecken, sie entstehe aus dem langen Umgang mit dem Geliebten, aus dem »Sozialisierungsprozeß«: »Also die Liebe, das Herz, das Gefühl, die Gewohnheit einer Sache macht ihr eine Niedlichkeit, die kein anderer Mensch drinnen finden kan« (ebda., S. 376f.). So müsse gerade der Gekreuzigte, der Wundenmann auf dem Höhepunkt seines Streitertums für die Erlösung des Menschen, zum Hauptobjekt der Verehrung werden. Die ständige Vergegenwärtigung des Leidens halte Schuldgefühl und
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Sünderbewußtsein gegenwärtig, denn wie Luther lehrte Zinzendorf, daß der Mensch nur durch das Opfer Christi erlöst werden kann, selbst zu seiner Erlösung nichts beizutragen vermag und - dies im Gegensatz zu anderen Gruppierungen des Pietismus (vgl. Bd. VIl, S. 57, 69, 13Iff. u. ö.) und zu John Wesley (1703-1791), der sich über dieser Frage mit Zinzendorf zerstritt (vgl. 11.109 D. Meyer, 1987, S. 223) - außerstande ist, das Gesetz zu erfüllen und sündelos zu leben. Umso mehr aber habe er deshalb Grund, sich über die Rettungstat Jesu zu freuen. Er solle beides: sich stets schuldbewußt und reuevoll an das Leiden des Erlösers erinnern und zugleich für dessen Opfer unendlich dankbar und darüber kindlichglücklich sein (dies nimmt die Deutung des Bildes vom Gekreuzigten durch III Stock, S. 114f., vorweg). 2) Von daher versteht sich nun der für Herrnhaag eigentümliche Wundenkult, der von Zinzendorf und seiner Dichtertruppe planmäßig inszeniert und im Sinne eines Sozialisierungsprozesses im Laufe der Jahre gesteigert wurde. In den Liedern wurde seit 1742/43 aus dem »Lamm« zunehmend das »Lämmlein« (vgl. 11.109 Erbe 1988, S. 58). Pfingsten 1743 gründete der Reichsgraf nach dem Motto »So ihr nicht werdet wie die Kinder« den sog. »Närrchen-Orden« (nach Mt. 11, 25) und stellte sich damit an die Spitze einer »rokokohaften Kindlichkeit« (ebda., S. 62) als Ausdruck einer wachsenden Intimität im »Umgang mit Christus«. Zugleich steigerte sich in den Liedern der Gruppe der Blut- und Wundenkult von der freudigen Verehrung des Schmerzensmannes zu einer sich immer mehr autonomisierenden Gefühlsseligkeit bis hin zu Formen ekstatischer Gemeinschaftserfahrung und narzistischen Selbstgenusses. Am 24. Dezember 1744 beispielsweise gab Zinzendorf für ein PoetenLiebesmahl das Thema »Die fünf Wunden« nach der getragenen Melodie »Wie schön leucht uns der Morgenstern« auf und dichtete als Einstimmung dazu u. a. folgende Strophe (zu deren gegensätzlicher Deutung in der Forschung vgl. 11.109 J. Reichel, S. 8Iff.): »Des wundten Creuz=GOtts bundes=blut, die wunden=wunden= wunden^ fluth, ihr wunden! ja, ihr wunden! eur wunden=wunden=wunden=gut macht wunden=wunden=wunden=muth, und wunden, herzens=wunden. Wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! O! ihr wunden!« (HG-AZ, S. 1858)
Offenkundig geht es hier nicht mehr darum, das Objekt der Darstellung, Jesus und sein Leiden, mit den in der Poesie der Frühaufklärung verbreiteten Verfahren der Deskription (nach dem Horazischen Prinzip des »ut pictura poesis«) zu »malen«, um dadurch die Affekte zu erregen, sondern Zinzendorf erfüllt mit Strophen dieser Art bereits das poetolo-
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gische Programm der Empfindsamkeit, das Lessing seinem Freund Ewald Christian von Kleist als Stilideal attestiert, nämlich »aus einer mit Empfindungen nur sparsam durchwebten Reihe von Bildern eine mit Bildern nur sparsam durchflochtene Folge von Empfindungen« gemacht haben zu wollen (H Lessing L, S. 128; vgl. Bd. V/2, S. 167). Der Aufgesang sucht in einem großen syntaktischen Bogen noch einen übergreifenden Sinnzusammenhang herzustellen, doch lockern schon hier die auffällig repetierten »Wunden« den Satzzusammenhang deutlich zugunsten isolierter Exklamationen und Empfindungen auf, und der Abgesang steigert dies zur ununterbrochenen Folge emotionaler Expressionen, in denen die - ohnehin unspezifizierten und pluralisierten - »wunden« nur noch als Stimuli der Gefühlserregung dienen, wobei die onomatopoetischen Qualitäten des Wortes »Wunden« - der dunkle »u«-Vokal und die »weichen« Sonanten, unterstützt durch Repetition und langsame Melodie, eine nahezu meditative Suggestion entfalten, wie sie analog dem >om< der fernöstlichen Religionen als Urlaut der Schöpfung und als Initiations-Akt zur Begegnung mit der Transzendenz zugesprochen wird. In dem Maße, in dem sich das Wort in der klanglichen Repetition entsemantisiert, schafft es Frei-Raum für affektive Entgrenzung und Erhebung der Herzen. Allein in diesem dreistrophigen Lied mit der Eingangszeile >Wie schön leuchtet der Wundenstern< findet sich eine größere Anzahl von Neologismen - neben »Wundenstern« u. a. »Wundenkirchelein«, »Kreuzgott«, »Wunden-Fluth«, »Wunden-Muth«, »Bundsgliedswunde«, »Geißelwunden«, »Speerschlitzt« -, die Zinzendorf bewußt entwickelte, um seiner Gemeine eine nur ihr eigene Sprache aus dem Zentrum ihrer Frömmigkeit - einen unverwechselbaren Code - zu schaffen, wodurch Identität und Zusammenhalt der Gemeinschaft nach innen und ihre Abgrenzung nach außen gestärkt werden sollten: »unsere spräche verrath uns gleich« (GR I, S. 6; Analoges galt für Klopstocks neue Dichtersprache; vgl. Kap. II 6 h). Und Zinzendorf trieb diese Entwicklung sogar bewußt bis zu einem Punkt, wo er durch seine Wortwahl Andersdenkende geradezu von dem nur der Gemeine selbst bekannten Sinn ausschließen wollte (was prompt zur Ridikülisierung der Herrnhuter über die Sprache ihrer Lieder führte; vgl. II Nicolai, S. 200f.): »Das heißt paradox reden, nemlich: man sagt die Wahrheit, aber man spricht sie mit solchen Worten aus, daß andersdenkende gemüther den rechten eigentlichen sinn natürlicher weise nicht daraus nehmen.« (Londoner Predigten II, S. 72; zit. in 11.109 Reichel, S. 90f.)
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Für Zinzendorf und seine Getreuen waren neben dem Körper des »Schmerzensmannes« der mit Blut vermischte Schweiß (nach Luk. 22,44), das Blut und die fünf Wunden Hauptmotive der Darstellung, der es um die innere gefühlshafte Aneignung des Kreuzesgeschehens ging (vgl. 11.109 J. Reichel, S. 46ff., 52ff.). So heißt es zum Beispiel in dem beim Dichterwettbewerb zum Thema der >fünf Wunden< preisgekrönten Lied aus der Feder von Zinzendorfs Tochter Benigna und ihres Verloben Johannes von Wattewille (1718-1788) u. a. »5. Wenn ich in meinem winkelein umarm und küß mein Lämmelein, sind die fünf wunden meine; ich leg mich in der hohl vom speer bald in die läng, bald in die quer, als war sie mein alleine: denn mein bettlein ist die lende, und die bände und die f&sse brauche ich zu meinem küssen. 6. Und wäre nicht noch arbeits=last mir von ihm selber aufgepaßt, so thät ich nichts als essen,und konte übern wunden roth der übrigen geschwister noth und meines amts vergessen, weil ich (deucht mich) bey den ritzen still zu sitzen inclinire, oder drauf botanisire.« (HG II, S. 1813)
Im Blick auf die Motivik verdeutlicht das Beispiel bereits: Ins Zentrum der Verehrung trat in diesen Jahren mehr und mehr die Seitenwunde Jesu, die »Höhle«, der »ritz« oder »Spalt«, der Jesus am Kreuz mit einem Speer zugefügt wurde, um seinen Tod festzustellen (Joh. 19,34), und das herausströmende Wasser und Blut galten als Taufwasser der auf ihn sich gründenden Kirche. Konnotiert mit anderen biblischen Motiven - etwa der »Taube in den Felsklüften, in den Steinritzen« aus Hl. 2,14 - war die Seitenwunde zuvor bereits durchaus Objekt der Verehrung auch in der geistlichen Liedtradition (vgl. z.B. Lied Nr. 46, Str. 11-13 aus Spees >Trvtz-Nachtigalempfindsamen< Liedern immer sogleich die Gefühle des Glücks, der Dankbarkeit und Freude in die Darstellung und »verniedlichen« damit die »blutige« Betroffenheit des Sünders, der die Lieder zugleich Ausdruck geben wollen, und dadurch vor allem entsteht der Eindruck des Unangemessenen und Mißlungenen dieser Texte. Zinzendorf selbst hatte dafür lange kein Gespür. Im Gegenteil! Seit Herbst 1745 steigerte er den Wundenkult nochmals um die Vorstellung vom »Creuz=luft=vOgelein, kränkelnd vor liebes=pein nach JESU Seiten^ Schrein« (HG III, S. 2039; vgl. dazu 11.109 Erbe 1988, S. 88ff.), und hier gelangen seinem sprachschöpferischen Genie bisweilen Strophen, die ei-
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ner Ästhetik des Häßlichen näher kamen, weil die Sprache sich nicht mehr nur mit der Evokation von Emotionen begnügte, sondern sich diesen selbst deskriptiv und analytisch zugleich zuwandte. Dadurch entstand eine sehr differenzierte >Mimesis< der sinnlichen Befindlichkeit des lyrischen Subjekts und seiner Aneignung des Liebes-Opfers unter dem selbstreflexiven Einsatz sämtlicher Sinne: »1. SO immer seit=wirts=schielerlich, so seiten=heimweh=ffihlerlich,so Lamm= herz=gruft=durchkriecherlich, so Lamms=schweiß=spur=beriecherlich, an der magnetschen Seit,:/: so JEsus=schweiß=tropf=haftiglich, vor liebes=fieber schütter lieh, wies kind voll Geistes, so leichnams=luft=anzieherlich, so wunden=naß=ausspruherlich, so grabes=dfinste witterlich, aufs Mensch=Sohns zeichen zitterlich, dem licht in Salems gassen, wenn sonn und mond erblassen. 2. Indeß so Lammhaft seliglich, einfältig, tauben=artiglich, so sünder=schamroth inniglich, so sunder=mäßig spielerlich, worein's doch immer summ': efflavit animum; vor creuzes=freuden weinerlich, so brust=blat=jünger=mäßiglich, wie Sanct Johannes; so Marter=Lamms=herzhaftiglich, so JEsus=knabenhaftiglich, so Marie Magdalenelich, kindlich, jungfräulich, ehelich, soll uns das Lamm erhalten, bis zum küß seiner Spalten.« (HG AZ, S. 2174)
An solch wortschöpferischen Sprachgebilden wird erkennbar, daß Zinzendorf vor und neben Klopstock eine Annäherung von Denken und Empfinden erstrebt. Die ungewöhnlichen Wort-Kombinationen zielen mit ihrem innovatorischen Potential sowohl auf überraschende Einsicht wie auf intensivierte Mitempfindung, mithin auf eine Art »intuitive Erkenntnis« mittels emotional wirkender Assoziationen, »und so ist die assoziative Fortführung einer Vorstellung als Mittel der Darstellung auch Ausdruck des Bestrebens, permanent Assoziationen hervorzurufen und dadurch die Erkenntnis zu fördern. Das Darstellungsmittel wird damit zum Spiegelbild des Erkenntnisprozesses.« (11.109 J. Reichel, S. 81) Zugleich eröffnen selbst diese abbreviaturhaften Wort-Kombinationen noch Erinnerungs-Bilder und Imaginations-Details in der - vor allem in der katholischen Frömmigkeit gepflegten - Einsicht, daß szenische Vergegenwärtigung sinnenfälliger Dinge besonders affektive Wirkungen hervorzubringen vermag (vgl. Bd. II, S. 163ff.; Bd. III, S. 263ff.; dazu auch III Stock, S. 37ff.). Darüberhinaus aber vereinigen sich diese evokativen Anspielungen zu einem komplexen semantischen Feld, in dem sich die theologisch geforderte Gleichzeitigkeit von »Lammhaft seliglich« und »sünder-schamroth inniglich« auch in der variierenden Spiegelung durch Leidensepisoden und biblische Personen wiederholt und damit erhält. Gleichwohl zeigt auch hier der Versuch, diese Gegensätze im Begriff des »sunder=mäßig spielerlich« zu pointieren, daß das Ethische - zumal in der wortspielerischen Suggestion des ganzen Gedichts - dem Ästhetischen zum Opfer fällt und dieses in seiner forcierten »Kindlichkeit« deplaziert erscheint.
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3) Dies ist in der Tat der bestimmende Eindruck aus der »Sichtungszeit« (1743-1750): Im Umgang mit Jesus überwogen Freude und Seligkeit. Herrnhaag wurde mehr und mehr zum Ort des Festes und Spiels, und dies nach der Devise: »Das kinder=häuflein fühle des freundes liebes=spiele« (HG-AZ, S. 1990). Die Poetengruppe >spielte< dabei die Vorreiterrolle. Auch die beiden zuletzt zitierten Strophen dienten einem geistlichen Vergnügen, indem jeder Vers verzettelt, dann an den Dichterkreis verlost und schließlich sogar noch zum Gegenstand einer Meditation gemacht wurde (vgl. 11.109 Erbe 1988, S. 121). Ihre Emotionalisierung und Ästhetisierung der Heilandsfrömmigkeit wirkte sich freilich auf das gesamte Gemeindeverhalten aus. So ließ die Streitermentalität allmählich nach. Zinzendorf selbst verkündete für 1747 »einen dreijährigen Sabbath«: »Es gelte nicht ständige geistliche Welteroberung, sondern für einige Zeit Rückzug in die Stille im Genießen der Seligkeit« (ebda., S. 105). Im selben Jahr bezog er die endlich fertiggestellte Lichtenburg in Herrnhaag und verwandelte den Ort durch seine umtriebige Präsenz in einen »Ort der Seligen« (ebda., S. 106). Durch reiche Gönner, die sich dort ebenfalls niederließen, zog Wohlstand ein, man nahm Kredite auf, arbeitete weniger und gewann mehr Zeit zum Feiern von Festen und zum kindlichen Spielen mit dem Lämmlein, seinem Seitenhöhlchen und mit seinesgleichen (die komplexe Bedeutung des religiösen »Spiel«-Begriffs, der bei Zinzendorf im Anschluß an Jesu Lehre von der Kindschaft des wahren Gläubigen nach Mk. 10, 14f. auch die religionsgeschichtliche Tradition des »sacer ludus« wiederzubeleben scheint, aber im Pietismus etwa bei Arnold, vgl. Bd. V/l, S. 134 - auch im Zusammenhang mit der Hohelied-Rezeption auftaucht, verdiente im Kontext der Entwicklung der Ästhetik im 18. Jahrhundert eine besondere Untersuchung; vgl. dazu auch III Lanczkowski/Scheuerl). 4) Indessen war das prätendierte »kindliche« Spielen begleitet von einer sich ständig steigernden Erotisierung im gesellschaftlichen Klima von Herrnhaag (vgl. dazu auch III Mittner 1962, S. 10Iff.). Hierzu hat der Graf - wenn eigentlich auch ungewollt - ebenfalls beigetragen. Er versuchte, der Geschlechtlichkeit des Menschen ohne die zeittypische Prüderie gerecht zu werden, und berief sich dazu konsequent wiederum auf Jesus, auf die Realität seiner Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit, die der Sexualität des Menschen damit eine gewisse Würde verleihe (eine gewisse, denn schiere Befriedigung der Geschlechtslust blieb für Zinzendorf wie für die Kirche seiner Zeit »eine Befleckung des Menschen«; 11.109 Hahn/Reichel, S. 296). Als Mensch wie du und ich besaß Jesus ein Sexualorgan, wie die Geschichte seiner Beschneidung bezeugt:
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»Das Amts=geheimnißvolle glied, das alle manner tragen, daß(!) trug er auch, der bundes=schnitt beweists in ersten tagen; die mannbarkeit blieb nicht zurük, in allem ordinairen ward er uns gleich, und stak vor stak kan man ihn so gewähren.« (HG-AZ, S. 2078)
Das Zeugungsorgan erhielt dadurch zwar seine Würde, aber es wurde zugleich durch den Verweis auf die Beschneidung Jesu mit der Vorstellung der Wunde stigmatisiert. Die Beschneidung war das erste blutige Opfer Jesu für die Menschen. Zinzendorf wurde nicht müde, in den zahlreichen Dichtungen auf die Festtage der Knaben bzw. der ledigen Brüder und Schwestern darauf hinzuweisen, den Zusammenhang von Glied und Wunde fest einzuprägen, die sexuelle Phantasie so mit Schmerz statt mit Lust zu konnotieren und dies als Heilmittel gegen alle »Selbstbefleckung« einzusetzen (im folgenden in einer Kantate zum Fest der ledigen Brüder am 2. Mai 1746): »Chor. Man hat itzt ein privilegium, daß man so werden kan um und um, wie der jungling JEsus durchs blut der wunde, die unserm lämmlein der Mohel schünde, an seinem glied. . . . Recit. . . . Das led'ge bruder=Chor nimmt sich zu seinem plan die erste schrunde, die allerschmerzlichste, und uns darum die allerseligste wichtigste wunde; Arioso: Alle Phantasien, verkehrte ideen soll nun von uns fliehen, nicht mehr seyn zu sehn bey den ledgen brüdern in dem selgen bunde auf die erste wunde. Lamm! laß uns genesen vom ängstlichen wesen, miserablen, kranken, unrichtigen gedanken, mach unsre glieder alle heilig wieder, daß, statt phantasiren, wir uns ganz verlieren bey dem ersten schrämmlein an dem Marter=lämmlein.« (HG-AZ, S. 2120; vgl. ebda., S. 1987 ; HG II, S. 1895 ., 2011 ff. u. ö.)
Analog dazu wurde auch das »Seitenhohlgen« - wie gesehen - als blutige Wunde verehrt, und überhaupt sollte die - wenn auch ästhetisierte »Leichnamshaftigkeit« des Erlösungsgeschehens wie in der Religiosität früherer Epochen auch (vgl. Bd. III, S. 9.5ff.) alle fleischlichen Regungen kreuzigen (»So drukt die hutte nicht so sehr, sie wird beblut't und beugsam, kommt wo ein fleisches=regen her, so todtets JEsu leichnam«; HG III, S. 2080): »20. Wir föhlens, seine blut'ge seit macht unsre herzen saftig, und seine todtenhaftigkeit, die glieder todten-haftig, eiß=kalt und einer leiche gleich; das schwerste phantasiren gewohnt sich an die JEsus=leich, und lernt sich da verlieren.« (Ebda.)
Nachdem er die Geschlechtsorgane durch Verweis auf Jesus gewürdigt und »conservirt« wußte (ebda.), wagte Zinzendorf es nun auch, den ehelichen Geschlechtsakt im Rahmen seiner seit 1746 entwickelten »EheReligion« (vgl. HG-AZ, S. 2186) als religiöses Erlebnis zu feiern (vgl. 11.109 Erbe 1988, S. 97ff.), indem er ihn zu einem geistlichen Akt sakra-
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lisierte. Und dies paradoxerweise dadurch, daß er das traditionell spirituelle Verständnis von dem »Bräutigam« Christus und seiner »Braut« der Kirche oder der Einzelseele - entspiritualisierte, also wörtlich nahm. Zunächst war Christus der einzige und ausschließliche Mann, denn die menschlichen Seelen - auch die der Männer - waren für den Grafen weiblich, so daß alle Mitglieder der Gemeine als Braut vor ihrem Bräutigam Christus standen (vgl., HG II, S. 1753f.). Insonderheit jede Ehefrau war nun aber wahrhaft die Braut Christi, jeder Mann war auch beim Geschlechtsakt nur Christi Stellvertreter, »Procurator« oder »Vize-Christus« (ebda., S. 1752ff.): ».. . es soll nun dieses täubelein nicht mehr allein im neste seyn, es heißt: sey du ihr vice=Christ, weil sie das bild der kirche ist, sollst du in allen fällen Christs amt an ihr bestellen.« (HG III, S. 2109f.; vgl. 11.109 Hahn/Reichel, S. 302). In einer öffentlichen Gemeinrede vom 6. Februar 1747 in Herrnhaag führte Zinzendorf dazu u. a. aus: ». .. in demselben dienst, in derselben observanz stekt auch ein segen, es liegt eine annehmlichkeit, ein gefühl der gnade drinnen, wenn ich sagen kan: ich bin JEsus, und nicht nur ich, wenn mir seyn kan, als wäre ich JEsus der EheMann, nicht nur ich: da geht freylich eine wahre geistliche empfmdung im herzen vor.« (Zit. in 11.109 Erbe 1988, S. 178)
Wer als Quasi-Jesus, als Stellvertreter des Wundenmannes sein eheliches Amt verrichtete, der konnte und durfte nur geistlich empfinden, und die Ehefrau sollte im Umgang mit ihrem Mann gleichsam die Realpräsenz Christi erfahren: »daß eine Schwester, die es versteht, denken kan: so war mein Lamm, daß sie, wenn sie ihren mann ansieht, sich den Heiland dabey einfallen lassen kan, und wenn sie ihres mannes genießt, sich den Heiland dabey vorstellen kan, und wenn sie ihr mann umarmt, und wenn sie ihr mann segnet, mit recht denkt, daß sie der Heiland segnet.« (Ebda., S. 178f.) Zinzendorfs »Ehe-Religion« besaß im Rahmen seiner christokratischen Vorstellungen eine gewisse Konsequenz, aber sie war auch leicht mißzuverstehen. Die These, daß er, indem er »die Ehe nach ihrer psychischen Seite desexualisierte, die Frömmigkeit bis aufs äußerste sexualisierte« (11.109 Pfister, S. 603), ist nicht ganz von der Hand zu weisen: Paradoxerweise hat gerade die radikale Spiritualisierung der Sexualität zu jener Erotisierung des Gemeinschaftslebens in Herrnhaag beigetragen, die zu seiner Auflösung führen sollte. Denn wie bei der Adaptation der Liebessprache des Hohenliedes glaubten auch und gerade die ledigen Brüder und Schwestern sich einer erotischen Sprache bedienen zu können, weil alles ja nur ein geistliches Liebes-Spiel in und mit Christus sei. Beim Fest der ledigen Brüder im Mai 1748 erschienen alle Brüder erstmals in weißen Talaren und gerieten nach einem langen Lied von Christian Renatus,
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in dem dieser das »lämmlein« beschwor, »leiblich bei uns 'rum zu gehen, könnte man dein Höhlgen sehen«, in Ekstase, als »Christel« die leibliche Anwesenheit des »Höhlchens« verkündet hatte und betete: »Ach Seitenhöhlchen,. .. lege dich über jeden ledigen Bruder gestreckt, auf jedes Glied eines ledigen Bruders, fahre in alle Glieder hinein und durchleibe das ganze Chor so bräutigamshaft, so ehelich, als wir's noch nie erfahren haben.« (Zit. in 11.109 Erbe 1988, S. 132; vgl. 2. Kon. 4, 32ff.; vgl. dazu auch ZR, S. 358f.). Abends illuminierte man den Eingang des Brüderhauses: »Man sah den Heiland mit seinen Wunden, der Blutstrom floß plätschernd. Plötzlich verschwand alles, und an der Stelle erschien das Seitenhöhlchen, durch welches man in das Haus eintrat.« (11.109 Erbe 1988, S. 132) Das ist nur ein Beispiel für jene geistlichen Liebes-Spiele, die sich nun häuften und die in ihrer unübersehbaren Sinnlichkeit und erotischen Vitalisierung zweifellos eine »voreheliche sinnliche Erregung« zum Ausdruck brachten (ebda., S. 133). Die Dinge steigerten sich weiter. Die in der Empfindsamkeit ohnehin vielfach praktizierte Mode des Küssens kam auch in Herrnhaag exzessiv in Geltung. Man hört nun von der Bildung von »Schätzchengesellschaften«, »Privatsozietäten« von ledigen Brüdern und Schwestern mit »Privatliturgien« - denn warum sollte man nicht beisammen sein, wo doch alle Seelen weiblich waren? -, man reichte sich ein Seitenhöhlchen in Form einer Tabaksdose herum und küßte es, die jungen Burschen trieben die rohesten Scherze, fühlten sich dabei als »Närrchen des Heilands« und verlachten das »Kreuzigen der Begierden« als »pietistisch« (ebda., S. 139). Zinzendorf mußte erleben, daß seine ganze Religion und damit auch er selbst in die Gefahr gerieten, zum Narren gemacht zu werden. Offenkundig ist es ihm nicht leichtgefallen, dies einzusehen, und er ist in seinem letzten Lebensjahrzehnt, das er zunächst bis 1755 - überwiegend in London, dann - mehr und mehr sich zurückziehend - vornehmlich in Herrnhut verbrachte, nicht entscheidend von seinen in den vierziger Jahren entwickelten theologischen Vorstellungen abgerückt, sondern hat diese lediglich vorsichtiger formuliert. Doch endlich reagierte er und beendete - der Mittäter nun als Richter - mit einem »Donnerbrief« aus London (vom 10.2.1749) die »Sichtungszeit« (wie er diese Phase rückwirkend nach Luk. 22, 31 selbstkritisch nannte): In einem 23 Punkte umfassenden Katalog verbot er als erstes den Gebrauch der Diminutiva, sodann jeglichen »fleischlichen oder fleischlich klingenden Diskurs« in den Chören, alle Privatsozietäten und -liturgien, jeglichen »Spezialumgang« von ledigen Brüdern und Schwestern, jede zweideutige Verehrung der »Heiligen Seite des Heilands«, alles freche und »schmatzende« Küssen sowie anderes mehr und drohte bei Nichtbefolgen seine und des Hei-
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lands völlige Abkehr von der Gemeine an (11.109 Hahn/Reichel, S. 172ff.). Das wirkte zwar, kam aber auch zu spät: Zum einen war der Gemeine ein in langen Jahren gewachsener und von Zinzendorf selbst vorangetriebener Gefühlskult per Dekret nicht so einfach auszutreiben, zum ändern hatte sich in der breiten Öffentlichkeit bereits ein so verheerendes Bild vom Herrnhutertum allgemein und vom Herrnhaager Ketzer- und Liebesnest insbesondere verbreitet, daß dessen Ansehen ernsthaft gelitten hatte (vgl. dazu 11.109 Hirzel, S. 243ff.; Schneider 1978, S. 17ff.). In diesem kritischen Augenblick - Ende 1749 - starb der Büdinger Graf Ernst Casimir, und nun sah die Regierung die willkommene Gelegenheit, die auch in der Bevölkerung ungeliebten und autonomen Separatisten durch ein Unterwerfungs- und Huldigungsdekret unter Kontrolle zu bekommen (vgl. ebda., S. 35ff.). Als die Herrnhaager die Unterschrift verweigerten und zu Zinzendorf hielten, verlas ihnen ein Regierungsrat am 18. Februar 1750 auf dem Saal in der Lichtenburg den Ausweisungsbefehl; binnen drei Jahren - für diese großzügige Zeitspanne hatte sich Zinzendorf selbst eingesetzt - mußten die 953 Einwohner das Territorium verlassen. Schon Ende 1750 war der Ort zur Hälfte geräumt, die Brüder und Schwestern wanderten in verschiedene andere Dependencen der Brüdergemeine und in die überseeischen Missionsgebiete aus (vgl. 11.109 Peukker, S. 52ff.). Sie ließen in Herrnhaag 17 stattliche Häuser und 429 Gräber zurück (vgl. 11.109 Wagner, S. 12). Der Büdinger Regierung gelang es nicht, Herrnhaag neu zu besiedeln (vgl. 11.109 Krieg, S. 44f.). Der »eutopos«, der ein geistliches Rokoko hatte sein wollen, verwitterte zur Utopie. So lebt er fort, als >Wunde< in der Geschichte des Herrnhutertums, aber auch als bedeutsames Denkmal der Poesiegeschichte, weil in ihm die Utopie von der Lyrik als formierender Kraft in einer Sozietät einmal hatte Wirklichkeit werden können. e) Die »Pflicht, selig zu sein« - Pietismus, Empfindsamkeit und Aufklärung im Herrnhutertum Heute besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß die »Sichtungszeit« die kreativste Phase im Leben und Denken Zinzendorfs war und daß das mißglückte Herrnhaager Frömmigkeitsexperiment seine historische Leistung und die Geschichte der Brüder-Unität nicht ernsthaft belasten oder gar infragestellen können (vgl. 11.109 Beyreuther 1965, S. 114ff.; Schneider 1982, S. 364, 370 ; Erbe 1988, S. 155ff.). Zinzendorfs Haupt-Leistung, die (Wieder-)Begründung der (böhmisch-mährischen) BrüderUnität, sein rastloser Einsatz für das >Diasporawerk der Brüdergemeine
Fachsprache< manifestiert. 2) Von hier aus zeigen sich mehrere Affinitäten zu der um 1740 einsetzenden literarischen Kultur der Empfindsamkeit. Auch dort entwickelte sich erstens ein spezifisches Vokabular der Zärtlichkeit (vgl. III Sauder 1974, S. 193ff.; Wegmann, S. 46ff.), das - schon in Gellerts >Zärtlichen Schwestern< (1747) - identitätsstiftende Funktionen ausübte und Personen auszuschließen vermochte, die diese Sprache nicht verstanden. Der exklusive Charakter empfindsamer Sprache zeigte sich dann insbesondere bei dem polarisierenden Streit um das rhapsodische Dichtertum Klopstocks (vgl. Kap. II 2 c), bei den Tendenzen zur Freundschafts- und Gruppenbildung um bestimmte, durch besondere Führungsfiguren reprä-
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sentierte und tendenziell in Lebenspraxis umgesetzte Ideale. Gerade weil Zinzendorf solche Gemeinschaftserfahrung im inspirativen Gesang zu vermitteln suchte, liegt die Affinität zur Zirkelbildung um den Dichter der Empfindsamkeit nahe. - Dies gilt zweitens auch für die Aufwertung des Gefühls zum Organ der Moral bei den Herrnhutern und in der weltlichem, durch das >moral senseHeldRomane< zu dichten nicht müde wurde. Analog entwikkelte auch der Roman der Empfindsamkeit eine »völlige Individualisierung des Charakters« der Helden (so II Wieland V La Röche GFS, S. 15), um an deren Person jene Wahrheiten des Herzens zu erzählen, die als allgemeine Wahrheit(en) nicht mehr glaubwürdig waren. Auch in der >Geschichte des Agathon< oder in den >Leiden des jungen Werthers< rückt die Authentizität der empfindsamen Helden als Garanten des moralischen Verhaltens ins Zentrum einer Darstellung, die deshalb zunehmend auf Psychologisierung, Unmittelbarkeit und Nähe achtet, um durch intensivierte Anteilnahme am Schicksal der Helden und Heldinnen das Herz der Leser zu bewegen und dadurch moralisierend zu bilden. Denn es gehe dem Roman, wie Friedrich von Blanckenburg (1744—1796) diagnostiziert, vor allem um eine »innere Bewegung der Rezipienten«, und deshalb seien die Taten selbst weit weniger wichtig als der Einblick in das Innere der Figuren, nämlich in ihre Empfindungen (II, S. 58, 64f., 164f. u. ö.). So wünscht sich denn auch Wieland von der Lektüre der >Sternheim< für seine und alle Töchter, die den Roman lesen, sie möchten »so denken, so handeln lernen wie Sophie von Sternheim« (II Wieland V La Röche GFS, S. 11). - Doch auch in diesen Einsichten ging die Theologie der Zeit voran. Der Neologe Siegmund Jacob BAUMGARTEN (vgl.Kap. II l b-1) begründete die von ihm initiierte voluminöse zehnbändige Sammlung von merkwürdigen Lebensbeschreibungen (1754ff.; überwiegend
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eine Auswahl-Übersetzung der >Biographia britannicaSpielGemein-Rede< über das Thema >Wie man in den Apostel und Hohen=Priester der Herzens=Religion hinein imaginieren soll< (GR I, S. 1) bekräftigte Zinzendorf - die soeben zitierte Strophe zitierend und kommentierend -: ».. .wir müssen aus dem was von Ihm geschrieben ist, so viel zusammen setzen, bis wir Ihn ganz haben, den Mann wie Er ist. Wir müssen Ihn uns so naturell vorstellen können, als ob Er vor unsern äugen stunde, uns eine so suesse phantasie von Ihm vorstellen, die wie sie sich formirt in unsern sinnen hie, wahr ist, keine falsche idee, und wahr seyn wird in einem hin. Wir konnens itzt für Wahrheit halten, und wenn wir Ihn einmal werden sehen, so werden wir sehen, daß es so ist, wie wirs gedacht und uns eingebildet haben.« (GR I, S. 21; vgl. GR II, S. 216f.).
Das »Lämmlein« wurde also - so heißt es in einem >Witwen-Lied< (HG II, S. 1804) - zum »lustspiel unsrer inn'ren sinnen«, und durch die alltägliche Imagination entwickelte es sich fünftens zum »Bruder Lämmlein«, zum alle anderen Beziehungen überragenden Freund, und dieses Freundschaftsverhältnis basierte nicht mehr in erster Linie auf der übereinstimmenden Gesinnung (vgl. Bd. V/l, S. 62), sondern auf der gefühlshaften Bindung, der emotionalen Zuneigung, wie sie sich dann auch im Freundschaftskult der Empfindsamkeit mehr und mehr durchsetzen sollte (vgl. dazu auch Bd. V/2, S. 161f.). Damit wurde die Religiosität sechstens auf rigorose Weise vermenschlicht, verdiesseitigt und tendenziell auf das gesamte Leben der Gemeine ausgedehnt, so daß dieses den Charakter eines Rituals annahm (vgl. dazu Kap. II 6 c): Diese Sakralisierung der Sozietät ging Hand in Hand mit der Ästhetisierung ihres Kultus. An beidem hatte die Phantasie einen erheblichen Anteil, denn der durch sie bis zur Identifizierung betriebene Umgang mit dem Heiland führte zu einer Abwertung des Eigentlichen, nämlich des Alltags, und zur Aufwertung des stets »in Gedanken« genossenen, spiritualisierten und ästhetisierten Uneigentlichen: »Es schmekt das essen, wir sind gesund, wir arbeiten, reden, negotiiren, schreiben, schlafen, wachen: aber es ist doch alles nur halb, es ist doch allemal eine gewisse abwesenheit des gemüths dabey; wer uns recht ansieht, der sieht doch, wir sind darin nicht daheim; der denkt doch, die leute haben andre gedanken.« (WL 32 Horn 29, S. 12) 3) Es ist aufschlußreich, daß in der empfindsamkeitskritischen Literatur der Aufklärung gerade diese bedeutsame Rolle der Einbildungskraft in der pietistischen Religiosität zum Hauptgegenstand der Kritik avancierte. Das gilt für Wielands >Don Silvio von Rosalva< (vgl. dazu ausführlich III Vietta, S. 179ff., 187ff.) ebenso wie für seinen >Agathon.~«i^Qfc:. ...-ώ.«·;
tttt ~tnit s^ffuT -tett^^atttt r ( g!>tr0e , '^^(Ί^,^.-^»..^ Abb. 3
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I. Pietismus und Empfindsamkeit »422. Weg zur Einsamkeit. Ganz tot den Kreaturen sei, So bleibt dein Herz von Bildern frei Und wird mit Gott im Geist gemeinsam; So bist du aller Orten einsam.« (BL, S. 127; vgl. ebda., S. 152, 245, 264 u. ö.)
Dieser »Spiritus mysticus«, der umgekehrt Zinzendorf verdächtig war (vgl. Kap. I l a-3), stempelte Tersteegen freilich in den Augen der protestantischen Orthodoxie zum Häretiker (vgl. 11.94 Ludewig, S. 3Iff.). Erst heute, im Zeichen ökumenischer Relativierung solcher Voreingenommenheit und einer zunehmend internationalen und interkonfessionellen Tersteegen-Forschung, zeichnet sich eine im einzelnen nicht unkritische, aber insgesamt doch bemerkenswert positive Einschätzung gegenüber »dem vielleicht größten evangelischen Mystiker« (11.94 Wolff 1989b, S. 431) und »Heiligen« ab (11.94 Nigg, S. 175f.), der »im deutschen reformierten Pietismus mit Abstand die wichtigste und die ausgereifteste Laiengestalt« und »in solchem Rang« »seinen Zeitgenossen Zinzendorf und Bengel vergleichbar« sei (III Goeters 1995, S. 391). Während man früher dazu neigte, ihm wegen seiner Nähe zum französischen Quietismus jegliche Originalität abzusprechen - »Er ist nichts anderes als der Dolmetsch von Jean de Bernieres-Louvigny«, urteilte z. B. Forsthoff (11.94, S. 203) -, erblickt man heute auch aus aktuellen Bedürfnissen und Interessen heraus (vgl. 11.94 Wolff 1989b, S. 430ff.; Ruhbach, S. 266; della Croce, S. 161ff.) seine exzeptionelle Bedeutung in der Entschlossenheit, mit der er mitten in der Epoche der Aufklärung »die Bedingungen religiöser Erfahrungen neu zu ergründen« suchte (11.94 Ludewig, S. 65). Mit seinen geistlichen Liedern fand Tersteegen nur schwer Eingang in die protestantischen Gesangbücher (vgl. dazu die Aufstellung in 11.94 Nelle, S. 300ff.; III Goeters 1995, S. 397f.); heute gilt er als »der bedeutendste Kirchenlieddichter des reformierten Pietismus« (11.94 Zeller 1971, S. 186) bzw. aus lutherischer Sicht als »dritter großer Liederdichter des deutschen Protestantismus« »nach Martin Luther und Paul Gerhardt« (III Wallmann 1990, S. 035), und dabei rechnet man einige der bekanntesten unter seinen insgesamt 111 Liedern (wie >Gott ist gegenwärtig< oder >Nun schlafet manNun schlafet man< sogar »one of the most nearly perfect lyrics in the German language« (IV, S. 165; vgl. dazu auch IV Pfeiffer, S. 24f.):
2) Zärtlichkeit zum »Herzens=Gott« (Tersteegen)
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»1. Nun schlafet man, Und wer nicht schlafen kann, Der bete mit mir an Den großen Namen, Dem Tag und Nacht Wird von der Himmelswacht Preis, Lob und Ehr gebracht! O Jesu, Amen. 2. Weg Phantasie, Mein Herr und Gott ist hie! Du schläfst, mein Wächter, nie; Dir will ich wachen. Ich liebe dich, Ich geb' zum Opfer mich Und lasse ewiglich Dich mit mir machen. 3. Es leuchte dir Der Himmelslichter Zier; Ich sei dein Sternlein, hier Und dort zu funkeln! Nun kehr' ich ein; Herr, rede du allein Beim tiefsten Stillesein Zu mir im Dunkeln!« (BL, S. 569f.)
Dieser beachtlichen Wertschätzung unerachtet hat sich die Literaturwissenschaft bereits seit Jahrzehnten nahezu völlig aus der Tersteegen-Forschung verabschiedet (vgl. 11.94 Ludewig, S. 55f.; 11.94 Kemper, S. 121f. [dieser Aufsatz ist ein gekürzter und modifizierter Vorabdruck des vorliegenden Kapitels]): Für die Literatur- und Lyrikgeschichte ist er heute erst wieder zu entdecken! 2) Still und bescheiden wie das >Blumengärtlein< wirkt auch sein im calvinistischen Bekenntnis erzogener Verfasser, der in Mühlheim an der Ruhr unter dem Einfluß pietistisch-mystischer Kreise den erlernten Beruf des Kaufmanns zugunsten der Seidenbandweberei aufgab, um mehr Zeit für sein »inwendiges Leben« zu gewinnen. Die Jahre von 1719 bis 1724 durchlebte er in größtmöglicher Einsamkeit, Askese und Armut, begleitet von oft wochenlangen, schwer diagnostizier baren Krankheiten, die zum Teil auf verblüffende Weise den Krankheitsdispositionen der berühmten Quietistin Jeanne Marie BOUVIERE de la MOTHE GUYON (1648-1717) glichen, von der Tersteegen besonders beeinflußt war (so vor allem »zehrende, schleichende Fieber- und Schwächezustände«, die Minder für »neurotisch reguliert« hält; 11.94 Minder, S. 83; ebenso 11.94 Reinitzer, S. 321), heimgesucht auch von schwankenden Gemütszuständen und einer - vom calvinistischen Prädestinationsglauben verstärkten - Erwählungsunsicherheit, »weil er keine Gewißheit finden konnte, daß Gott ihm in seiner Liebe nahe war.« (11.94 van Andel 1973, S. 22) In dieser Zeit las er auch Jacob BÖHME (1575-1624), dessen theosophische Spekulationen ihn aber in Angst versetzten, obgleich er sie, wie er später bekannte, sehr schätzte (vgl. dazu die Briefzitate bei 11.94 Nelle, S. 231). 1724 hatte er dann sein entscheidendes Erweckungserlebnis und verschrieb sich daraufhin am Gründonnerstag des Jahres in einem mit seinem eigenen Blut
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I. Pietismus und Empfindsamkeit
verfaßten Brief seinem Heiland (auch für diesen Vorgang gibt es bei Frau von Guyon, aber auch anderen Quietisten Vorläufer und Parallelen; vgl. 11.94 van Andel 1973, S. 23f.; ein Faksimile des vielfach abgedruckten Tersteegen-Briefs in 11.94 Mohr, S. 278f.; III Goeters 1995, S. 394f.): »Ich Verschreibe mich Dir, meinem einigen Heyland und bräutigam Christo Jesu, zu Deinem Völligen und ewigen Eigenthum. .. . Von nun an biß in Ewigkeit, Nicht mein, sondern dein wille geschehe! befehle Herrsche, und regiere in mir! . .. Siehe, da hast Du mich gantz, süsser seelenfreund! in Keuscher jungfräulicher liebe Dir stets anzuhangen. Dein geist weiche nicht Von mir; und Dein todes-Kampf unterstütze mich! ja, amen.«
Diesem Gelöbnis blieb Tersteegen zeitlebens treu. Zunehmend ließ er sich aber in die Konventikelbetreuung einbinden, gab 1728 - 31 jährig - seinen Beruf auf und lebte - unterstützt von Spenden seiner Anhänger - fortan als Laientheologe und Erbauungsschriftsteller (vgl. 11.94 van Andel 1973, S. 12ff.; 1982, S. 331ff.). 1736 wurde ihm die Edition des Privat-Gesangbuchs mit Liedern seines großen reformierten Vorläufers Joachim NEANDER (1650-1680) übertragen (ab 1760 mit weiteren Dichtern unter dem Titel: >Gottgeheiligtes Harfenspiel der Kinder ZionLobe den Herren, den mächtigen König der Ehren< « (IV Jenny, S. 422; vgl. EKL, Nr. 254). In der Nähe von Velbert überließ ihm ein Anhänger das Haus >OtterbeckBruder-GesellschaftRegel< gab (vgl. deren Abdruck in 11.94 Zeller 1978, S. 194-199). Darin beschwor er die Brüder zu »Andacht, Stille, Einfalt und Lauterkeit« »in der heiligen Gegenwart des Herrn, wann er bey euch und in euch bleiben soll, und ihr seiner göttlichen Gunst und seines Segens in eurem Leiblichen und Geistlichen wollet theilhaftig bleiben.« Ihr Beruf sei es, »die Welt und deren Geist in der Wahrheit zu verlassen« (ebda., S. 195). Eindringlich ermahnte er die Brüder, die ihren Lebensunterhalt aus dem Erlös eigener Hand-Arbeit bestritten, zu unermüdlichem Gebet (»Bätet nicht zu gesetzten Zeiten, sondern wo ihr gehet und stehet und sitzet«; ebda.), und er untersagte ihnen alles unzeitige und überflüssige Reden (ebda., S. 195f.). 3) Zunehmend betätigte Tersteegen sich auch als Laienmediziner und stellte sogar selbst einfachere Arzneien her, die er kostenlos abgab. Entscheidener Beweggrund für sein medizinisches Engagement, das übrigens die ständige Konsultation von (befreundeten) Ärzten einschloß, war die katastrophale medizinische Versorgung in Mülheim. Er orientierte sich in
2) Zärtlichkeit zum »Herzens=Gott« (Tersteegen)
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seinen medizinischen Anschauungen und Rezepturen insbesondere an der von Georg Ernst STAHL (1659-1734; vgl. zu ihm Bd. V/l, S. 95f.) begründeten Hallenser Schule, zu der auch Christian Friedrich RICHTER (1676-1711) zählte, dessen nach alchimistischem Rezept zusammengebraute »essentia dulcis« zum Verschreibungsrepertoire Tersteegens gehörte (vgl. 11.94 Habrich, S. 274, 278f.; zu Richter und zur »essentia dulcis« Bd. V/l, S. 87ff.). Ebenso benutzte er Rezepte aus der >Armen=Apothecke< des pietistischen Stahl-Schülers und Berleburger Hofmedicus Johann Samuel CARL (1677-1757; vgl. zu ihm III H. Schneider, S. 162ff.) und des radikal-pietistischen Arztes und Alchimisten Johann Conrad DIPPEL (1673-1734; zu diesem ebda., S. 152ff., Bd. V/l, S. 107ff.; vgl. 11.94 Habrich, S. 274). Wie Carl hielt Tersteegen es auch in der Medizin mit der »ungekünstelten Einfalt« und warnte deshalb 1744 vor den spekulativen Tendenzen und materiellen Interessen der Alchimie: »Außerordentliche geheime und chymische Ungewisse Seltsamkeiten macht Gott zu Schanden, und segnet verachtete Kräuterchen. Traue er den Laborantenbüchern nicht; forsche er nicht zu tief im alchymischen Irrgarten, und suche beileibe kein Gold, noch Goldtincturen, wodurch manche in geist- und leibliche Armuth gestürzt worden.« (Zit. ebda., S. 271)
Dies hinderte ihn freilich nicht, das von Carl für gewisse einfache Rezepte empfohlene Destillierverfahren - auch die »in Chymischen Laboratoriis übliche« »Destillation im offenen Feuer« (II Carl AA, S. 76; Hervorhebung in der Quelle; vgl. ebda., S. 69ff.) zu praktizieren; in seinem 1746 bezogenen Haus in Mülheim ließ er sich deshalb ein eigenes Laboratorium einrichten. Indessen vermochte Tersteegen doch seine eigenen ärztlichen Samariterdienste an der >Welt< nicht als Hauptsache seines GottesDienstes anzuerkennen: »Ich thue es, als ein Nebenwerk; machte mich der Herr völlig frei davon, würde mirs noch lieber seyn« (zit. in 11.94 Habrich, S. 271). 4) Doch die äußerlichen Zumutungen an Tersteegen vermehrten sich noch. Um 1750 kam es zu einer erneuten Erweckungsbewegung in den Niederlanden und am Niederrhein. In Mülheim strömten die Erweckten in Scharen zur privaten Seelsorge in Tersteegens Haus (vgl. 11.94 van Andel 1973, S. 53), und wenn er Versammlungen hielt, drängten sich sonntags bis zu 500 Menschen - außerhalb der Gottesdienststunden - in drei Stockwerken des Tersteegenschen Hauses, er stand im mittleren, um nach oben wie unten gehört zu werden, und acht Schreiber protokollierten seine Reden (noch mit einem Vorwort Tersteegens erschienen 30 von ihnen in seinem Todesjahr unter dem Titel >Geistliche BrosamenBlumengärtleins< gestaltet, der zum Kennzeichen der
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Moderne werden sollte: den Bruch zwischen verabsolutierter Individualität und Privatheit einerseits und der »Brauchbarkeit für die Welt« andererseits, zwischen als Entfremdung empfundener Arbeit und der kompensatorisch gesteigerten Innerlichkeit als dem eigentlichen Hort (hortus!) irdischer Seligkeit (vgl. dazu auch III Pikulik, S. 95ff., 232ff.; 11.102 Philippi, S. 121ff.; III Sauder 1985, S. 252ff.). Und auch im Titelkupfer spiegelt sich diese Spannung: oben der Ort abgeschotteter Innerlichkeit, das Ziel, die Erfüllung, die »fruitio Dei« in der »unio mystica«, unten im Vordergrund die in irdischer Vorläufigkeit, Körperlichkeit und Sehnsucht zu betreibende Nächstenliebe, wie sie in der dritten, die »imitatio Christi« repräsentierenden Figur dargestellt ist. Logisch führt der Blick von oben, dem Bereich der »inscriptio«, nach unten, aus der »delectatio« zum »prodesse«, perspektivisch indessen umgekehrt vom Nutzen hinauf zur Schönheit des weltabgekehrten Genusses. Die Poesie selbst aber ist in beiden Bereichen präsent: In der Hand des »Christus medicus« als heilendes Florilegium, am heimlichen Liebesort als »anmuthsvoller BlumenKrantz«, mit dem sich Braut und Bräutigam wechselseitig schmücken. Die Poesie also führt von einem zum ändern, sie befriedigt die Sehnsucht, befähigt zur Seligkeit und verschönt, ja krönt geradezu die intimste Form gottmenschlicher Vereinigung. Verschwistern sich also demnach Religion und Poesie? Das geschähe nicht zum ersten Mal, aber das Problem gewinnt eine neue Qualität durch die historische Konstellation, in der sich sowohl die Frömmigkeit - durch den Pietismus - als auch die Poesie - durch die Empfindsamkeit - zum Ausdruck privaten Glücks, ja zur Apotheose der Innerlichkeit entwickeln, in der beide - Poesie und Religiosität - gleichsam ihr Refugium der Seligkeit errichten und damit nicht zuletzt auch ihre Existenz in der Moderne sichern. b) Autonomisierung und Individualisierung der Frömmigkeit Bei dem Mülheimer Dichter geht - dies die Ausgangsthese - die vormoderne, vielfältig an Autoritäten und Sozietäten gebundene Religiosität in eine für die Neuzeit typische Form über, in welcher der einzelne die Freiheit gewinnt, seine je eigene Frömmigkeit für sich allein zu verantworten: » . . . laß einen Jeden seinen Weg gehen«, erklärt Tersteegen, »was gehets dich an? Folge du Jesu nach!« (WW, S. 333) In vier Aspekten sei Tersteegens konsequentes Streben nach Individualisierung und Verinnerlichung der Frömmigkeit mit ihren poetologischen Auswirkungen aufgezeigt.
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I. Pietismus und Empfindsamkeit
1) Er überwand vollkommen die Grenzen des Konfessionalismus. Bei seiner Suche nach Zeugnissen für das wahre Christentum - »mit Gott im verborgenen leben: das heißt Jesu nachfolgen, darin bestehet der Kern und das Wesen des Christenthums« (WW, S. 329) - setzte er sich souverän über die Grenzen der Konfessionen und deren Verständnis von Rechtgläubigkeit hinweg. Wegen dauernder Zensurschwierigkeiten erschienen seine Übersetzungen und Ausgaben anonym in verschiedenen deutschen und niederländischen Verlagen (eine vollständige TersteegenBibliographie fehlt bis heute; vgl. den knappen Überblick in III Goeters 1995, S. 393ff.)- 1727 veröffentlichte er unter dem Titel >Handbüchlein der wahren Gottseligkeit begreiffend Unterschiedliche Gottselige Pflichten und Grund-Regulen des wahren Christentums< eine eigene Übersetzung des >Manuel de Piete, Contenant quelques Devoirs et Actes Religieux et Chretiens vers Dieu< aus der Feder des radikalen reformierten Separatisten Jean de LABADIE (1610-1674; vgl. zu ihm III Wallmann 1990, S. 029ff.; Bd. V/l, S. 80; zum Werk selbst 11.94 van Andel 1973, S. 29ff.), im selben Jahr publizierte er eine Auswahl aus dem quietistischen Schrifttum von Jean de BERNIERES-LOUVIGNY (1602-1659), dem er sich besonders verwandt fühlte (>Das verborgene Leben mit Christo in Gottx) und die ebenfalls von ihm übersetzte >Imitatio Christi< des niederrheinischen Gesinnungsfreundes Thomas von KEMPEN (d. i. Thomas Hemerken ca. 1379-1471; 1758 folgte noch >Der Kleine Kempis, oder: Kurze Sprüche und Gebetlein aus dem meistens unbekannten Werklein des Thomae a KempisDie Heilige Liebe Gottes, Und die Unheilige Natur-LiebeBlumengärtleins< legt Zeugnis ab von Tersteegens Überkonfessionalität: Es kontaminiert Bildvorlagen aus einem der verbreitetsten jesuitischen Andachtsbücher, nämlich aus Hermann Hugos >Pia Desideria< (vgl. dazu 11.44 Schilling, S. 286ff.). Die Andachtsbilder dieses Werkes waren auch in zahlreiche Übersetzungen übernommen worden, so etwa in Christian Hoburgs >Emblemata sacra< oder in die deutsche Übertragung von Frau von Guyons >L'ame amante de son DieuPia desideriaDreiergruppe·^ ^r »urfrr K'tt »w'lifn rpfibef l>ti\tf *?αα mini· ώηί1 S : •t'i'fiiiaVtt irru-i»»*!«
Abb. 5
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I. Pietismus und Empfindsamkeit
2) Von daher stellte nun Tersteegen die traditionell auf Texttreue basierende Bibeldichtung im zweiten Teil seines >Blumengärtleins< radikal in den Dienst individueller, geistgewirkter Seelsorge. Die alttestamentlichen Bibelstellen sind im Blick auf diese Einsichten ausgewählt. Jeder Bibelvers, erklärte Tersteegen einleitend, müsse zuerst eine Bedeutung »für mich« haben: »ich muß doch . . . solches auf meine Person deuten, oder ich habe keinen Nutzen, keine Lehre, keine Besserung darin, und es würde mir zu meiner Heiligung und Seligkeit ebensowenig helfen, als wenn es nicht in der Bibel stünde« (BL, S. 190; vgl. WW, S. 25f.). Eine solche Auslegung, die den »sensus moralis« zum alles entscheidenden existentiellen Sinn verabsolutierte, sei nicht willkürlich, weil das Wort Gottes ja noch lebendig im Geist des Gläubigen wirke, und eben dies schätzte Tersteegen mit anderen radikalen Pietisten weit höher als den letztlich >toten< Buchstaben der Schrift (vgl. Bd. III, S. 37ff.; V/l, S. 120ff.): »Sollte denn das nicht weit kräftiger binden und das Gemüt überzeugen, was der Heilige Geist selber eindrückt, als was auf den leichten Sand der menschlichen Vernunft gegründet ist, da sich doch immer ein noch klügerer Kopf findet, der des ändern Gründe und ganzes Gebäude (System) über den Haufen wirft.« (WW, S. 191)
Auch die Apostel deuteten »stracks alles aufs Inwendige«, und dies sei jeder »einfältigen, gottbegierigen Seele« ohne jede Textkritik - auf die sich Tersteegen selbst freilich sehr wohl verstand - möglich (ebda.). Diese vorangestellte Überzeugung läßt sich Tersteegen nun von den Propheten bestätigen. So etwa in der folgenden >BetrachtungMensch< und >Gott< als >größte< Gegensätze aufeinander, wobei der angesprochene Mensch buchstäblich in der >Senkung< verschwindet, während Gott bis ins Prädikat »ist« und damit bis zur Zäsur die Hebungen für sich beansprucht und damit die semantische Dominanz wirkungsvoll unterstreicht. Im zweiten Teil des Alexandriners kehren sich die Verhältnisse um: Nun bilden »du« und »selbst« die Hebungssilben und machen Gott (»ihn«) zum unbetonten Objekt menschlicher Einvernahme. So thematisiert und »versinnlicht« bereits dieser Eingangsvers das entscheidende, »im Wesen« der »unio mystica« kulminierende Verhältnis von Gott und Mensch und dessen im Konditionalis ausgedrücktes Spannungsverhältnis. Die zweite Zeile transponiert dies Bedingungsverhältnis auf den Zweck des >BlumengärtleinsWesentliche< bereits erreicht ist. Dabei spielt das »End'« der Binnenzäsur paradox und wirkungsvoll auf die erste Hälfte des Eingangsverses an, und der Sinn des ganzen Zweizeilers ist mit der Thematisierung des Endes am Anfang paradox und enthält damit die von der Gattung her erwartbaren Pointen. Darin wird indessen zugleich deutlich, daß sich das >Blumengärtlein< als propädeutisches »Hülfsmittel« versteht, und eben dieses Selbstverständnis demonstriert das Eingangsepigramm sofort dadurch, daß es nicht mit dem zweiten Vers endet - bei Angelus Silesius bildet das Monodistichon mit Abstand den Hauptteil des >Cherubinischen Wandersmanns< (vgl. Bd. III, S. 216ff.), sondern den Sachverhalt in einem weiteren Zweizeiler erklärt bzw. kommentiert, und diese zweite Hälfte kann die erste an »argutia« nicht mehr übertreffen, obwohl auch sie die Mittelzäsuren zu pointierender Formulierung nutzt. Sie dient vielmehr der erklärenden und belehrenden Applikation des SachVerhalts. Mit dem Gros seiner nur selten zwei-, im Durchschnitt vier- bis achtzeiligen >Schlußreime< erweist sich Tersteegen somit als Lehrdichter, als Didaktiker in der Geschichte des (geistlichen) Epigramms und stimmt so in der lehrhaften Absicht mit den Haupttendenzen der weltlichen Poesie der Epoche überein (vgl. dazu Bd. V/2, S. l Iff., 24ff., 32ff.).
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3) Die zweite Eigentümlichkeit ist die Einfachheit bzw. Naivität seiner >SchlußreimeErwartung< und dem pointierenden >Aufschluß< besteht (vgl. IV Neumann, S. 297f.; 11.55 Grimm, S. 392ff.; Bd. V/2, S. 17f.): »113. Nimm dich's nicht an, was wird getan! Wenn man dich haßt, wenn man dich liebt, Wenn man dir nimmt, wenn man dir gibt, Wenn man dich schilt, wenn man dich ehrt, Und was dir sonst auch widerfährt: Bleib ungestört und abgeschieden In deinem Grund mit Gott zufrieden!« (BL, S. 59)
Der jambische Vierheber mit Zäsur in der Mitte vollzieht in jedem Vers dieselbe rhythmische Bewegung zweimal und verleiht dem Ganzen so den Charakter eines gleichmäßigen, spannungslosen, sich vergleichgültigenden Kreisens. Die Form unterstützt somit wirkungsvoll den Inhalt, der in den ersten drei Zeilen an drei - sich nicht steigernden und damit die Generalisierung im vierten Vers vorbereitenden - Beispielen Unbeständigkeit und Gleichgültigkeit von Glück und Elend irdischer Existenz thematisiert, wobei das mehrfach repetierte Gesellschafts-»man« mit zugehörigem Verb stets an gleicher Stelle in der Hebung und das »dich« oder »dir« als »Opfer« in der Senkung erscheinen. Zugleich relativieren sich die ersten Zeilen als Reihung von konditionalen Nebensätzen auch grammatikalisch und bereiten den Höhepunkt des abschließenden Hauptsatzes vor, der die rhythmische Monotonie durch Vermeidung der Mittel-
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I. Pietismus und Empfindsamkeit
zäsur aufzulockern und den freilich nicht überraschenden, sondern erwartbaren >Aufschluß< zu vermitteln sucht. Das Epigramm spricht die Lehre >naiv< aus. Tersteegens didaktische Intention beginnt bereits beim Titel, der häufig - wie im zitierten Beispiel - als binnengereimter >Merkvers< mit Ausrufezeichen erscheint, und immer wieder auch läßt der Dichter - so der Titel: - Jesus zu der Seele< sprechen (z. B. »Kind, leer dein Herz nur aus und halt es offen stille,/ So fließ' ich da hinein und dein Gefäß erfülle!« (BL, S. 139; vgl. dass. ebda., S. 7f, 14, 21f. u. ö.). Nicht selten haben die Epigramme schlichten Aussage- und Aufforderungscharakter und nähern sich damit gnomischen - spruch- und sentenzenhaften - Formen poetischen Sprechens an: »73. Ein stilles Wesen hat Gott erlesen Jesus ist ein Friedenskönig, Siehe, hör und rede wenig, Was du tust, tu mit Bedacht, Ohne Stören, still und sacht; Und bei allem deinem Werke Stets auf ihn im Grunde merke, Daß sein Friedensthron und -reich Nie aus deinem Herzen weich'!« (Ebda., S. 50f.)
Den didaktischen Charakter der äußerlich ungegliederten EpigrammSammlung verstärkt Tersteegen noch dadurch, daß er sein zentrales Thema, die Weltabkehr (»Vom Kopf ins Herz hinein!« WW, S. 113), in Teilaspekten immer wieder zu Epigramm-Ketten verknüpft, wobei deren einzelne Bestandteile nur in der Form (in Vers- und Hebungszahl) differieren (vgl. etwa Nr. 224-228 mit den Überschriften: >Die vergnügt'ste Einsamkeit, >Wer viel läuft aus, versäumt sein HausLaß dich nicht gelüstenk, >Wer zu Haus bleibt, teilt den Raub ausEinkehren ist Buße tunhistorischen< Jesus als Bedingung der Erlösung, die zweite bis vierte »übersetzt« die dogmatische Botschaft in die böhmistisch-alchimistische Bildersprache (wobei »Liebe« als >weibliches< Prinzip für den >Sohn< und »des Grimmes Machten« für den >Vater< steht; vgl. Bd. III, S. 138ff.), das Blut wird zur alchimistischen »Tinktur« und damit zugleich zum Lebenselixier, schließlich noch zum Lebens-»Brunn«, der emanatistisch im »Herzen« »quillt« (vgl. dazu auch Hl. 4, 12), doch obgleich das Epigramm hier auch im alchimistischen Bereich aus einer Reihung gleichgeordneter Hauptsätze besteht, wird durch den raschen Wechsel der Aussageebenen der nur mehr metaphorische Charakter der Bildfelder deutlich. Überdies nutzt Tersteegen hier wieder das Steigerungsprinzip der Epigrammstruktur, um mit dem »Doch« zu Beginn der beiden letzten Verse eine Ebene des >Wesentlichen< zu markieren, der gegenüber die zuvor genannten Tätigkeiten Jesu zur bloßen Voraussetzung der entscheidenden Jesus-Erfahrung im Quell-Grund des eigenen Herzens herabgestuft werden (vgl. ebenso BL, S. 106f.). - Und in diesem Schluß kehrt das Epigramm zugleich zu einer einfachen Bild-Aussage zurück. Mit der Einfachheit seiner Epigramme rückt Tersteegen in unmittelbare Nähe zur Empfindsamkeit, die ihre »Vorliebe für die griechische oder catullische Form des Epigramms als Rückkehr zum Naiven und Ursprünglichen begründet« und damit u. a. »Geßner und Winckelmann« zum Erfolg verhilft (vgl. 11.40 Brummack, S. 161, 163). Doch ist dies wie sich nun zeigen soll - keineswegs die einzige Affinität Tersteegens zu dieser mittleren Phase der Aufklärung. d) »Vom Kopf ins Herz hinein!« - Tendenzen der Empfindsamkeit Fünf Merkmale sollen im folgenden die erstaunliche Nähe dieses introvertierten Gottes-Freundes zu Stil- und Denk-Mustern der Empfindsamkeit belegen. 1) Dazu gehört zunächst Tersteegens Interesse an der Form seiner Poesie, womit er in deutlichem Gegensatz zu den die Form als zweitrangig behandelnden Pietisten einschließlich Zinzendorfs steht (vgl. Bd. V/l, S. 37ff.; Kap. I l c,d). Tersteegen widmet auch dem »anmuthigen Vortrag« große Aufmerksamkeit, der eine »lieblich-reizende Kraft bei sich« habe, »wodurch die christlichen Wahrheiten dem Gemüth eingeflößt werden« (WW, S. 393). Und gerade weil sich die einfache christliche Botschaft ans »Herz« richtet, erhält die formale Gestaltung - von Metrum und Rhythmus bis hin zur Lautgestaltung - eine »gemütaktivierende
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I. Pietismus und Empfindsamkeit
Wirkung« (so III Wegmann, S. 47, zur Charakterisierung eines wichtigen Merkmals empfindsamer Sprache) als »Mitausdruck« im Sinne Klopstocks (vgl. Kap. II 6 e), wie das folgende Beispiel illustrieren mag: »41. Aus dem Kopf ins Herz Gott ist ein Herzens-Gott; drum, wenn du ihn willst finden, So blende die Vernunft, sie wird ihn nie ergründen! Senk dich aus deinem Kopf in's Herzens Grund hinein Sanft, liebreich, wie ein Kind, so wird er dir gemein!« (BL, S. 44)
Hier wird die jambische Alternation in fast Klopstockscher Manier durch betonte Senkungen und unbetonte Hebungen (letztere dreimal im Auftakt) in starke rhythmische Kontraste hineingezwungen, die den inhaltlichen Gegensatz bis ins Klangmalerische hinein höchst wirkungsvoll unterstützen. Dieser Gegensatz verteilt sich auf die beiden Vershälften und wird jeweils in der Mittelzäsur inhaltlich durch »Gott« versus »Vernunft« und - alliterierend - »Kopf« versus »Kind« pointiert. Die erste Hälfte des Eingangsverses - »Gott ist ein Herzens-Gott« (Klopstock hätte hier die Folge von schnellem Daktylus und langsamem Kretikus konstatiert) unterstreicht die Unumstößlichkeit dieses Bekenntnisses sowohl rhythmisch als auch lautmalerisch durch die Ballung der harten Verschlußlaute, während die zweite Vershälfte durch die Liquiden, Nasale und die i-Dominanz einen deutlich weicheren, einladenderen Charakter gewinnt. Vers 2 wiederholt und variiert diesen Kontrast, wobei die zweite Vershälfte (»sie wird ihn nie ergründen«) durch das iterative gedehnte »i« die Vergeblichkeit der Vernunftanstrengung sinnenfällig unterstreicht. Im dritten Vers schlägt die Alternation am deutlichsten durch, so daß die Bewegung des stetigen Sinkens zum »Mitausdruck« gelangt, während die Schlußzeile in ihrer ersten Hälfte mit den betonten Senkungen und den »sanften« Vokalen und Konsonanten die Versbewegung fast zum Stillstand bringt, weil das Ziel im Status des Kindseins erreicht ist. Die zweite Vershälfte wiederholt metrisch-rhythmisch die erste Hälfte der ersten Zeile (»Gott ist ein Herzens-Gott«), behält aber die weiche i-Melodie bei und schließt so das Epigramm kreiskompositorisch ab. - Ästhetische Reize das gilt erst recht für Tersteegens Lieder - stimulieren und begleiten also hier die religiöse Haltung, die Form dient als verlockender Impuls fürs Herz, als sinnliche Beschwörung eines auch inhaltlich als liebreizend vorgestellten religiösen Zustands. 2) Tersteegen stimmt aber auch mit dem Inhalt dieses für ihn programmatischen Epigramms mit Tendenzen der Empfindsamkeit überein. Der
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dem Literarhistoriker so geläufige epochale Konflikt zwischen Kopf und Herz im 18. Jahrhundert (vgl. III Sauder 1974, S. 125ff.) stammt aus der Theologie der Barock-Zeit (vgl. Vorwort) und wurde vom Pietismus aufgegriffen und gegen die Orthodoxie gewendet, die den Glauben zu einer Sache des Wissens und streitenden »Kopfes« gemacht zu haben schien (vgl. III Wallmann 1990, S. 045ff.; Bd. V/l, S. 52ff.). Tersteegen unterscheidet in diesem Zusammenhang drei Erkenntnisvermögen: Sinne, wirkende Vernunft, die sich alles selbst vorstellt, und »leidentlichen« Verstand, der nur passives Organ zum Empfang übernatürlicher (göttlicher) Wahrheiten ist. Dabei vermag die auf die äußere Welterkenntnis gerichtete Vernunft, die schon den Fall der ersten Eltern verursachte, in der Gotteserkenntnis und -erfahrung am wenigsten auszurichten; denn sie hält »genaue Gemeinschaft mit Fleisch und Blut« (WW, S. 112), dagegen hat der »reine Verstand« (als eigentliches Organ für die Gottheit) »solch innige Gemeinschaft mit dem Herzen, daß es ist, als wäre er im Herzen, ja das Herz selbst«. (Ebda.) Mit dieser bis zur Identifizierung reichenden Annäherung einer >geistlichen< »ratio« an das Herz stimmt Tersteegen mit analogen Tendenzen der Empfindsamkeit zur Verbindung von Denken und Empfinden überein (vgl. III Pikulik, S. 280f.). Wenn er erklärt: »Denn nicht im Kopf, sondern im Herzen entdeckt sich der reine und wahre Verstand, um Gott und göttliche Dinge zu erkennen« (WW, S. 112), dann vermeidet er damit jeden Anschein eines unreflektierten Irrationalismus, einer nur gefühlshaften Gottesbeziehung zugunsten einer bewußten, die Affekte kontrollierenden und alle Extraversionen ausschließenden Bewegung der Psyche, die sich auf den Empfang des göttlichen Geistes vorbereitet. Das Herz ist deshalb Zentrum des >geistlichen< Menschen und beherbergt alle für die Frömmigkeit wichtigen psychischen Vermögen: »Gott fordert nur das Herz, als den Sitz der Liebe und Beherrscherin aller Gemüthsbewegungen und Seelenkräfte.« (Ebda., S. 113) »Im Herzen«, erklärt Tersteegen weiter, »läßt uns Gott seine Ueberzeugungen und alle guten Wirkungen fühlen, die alsbald geschwächet werden und verschwinden, wenn man zu viel in den Kopf gehet. Im Herzen hört man die Stimme Gottes, aber im Kopf die Stimme des Versuchers.« (Ebda., S. 114) Nur im Herzen will sich Gott mit dem Menschen vereinigen, »was im Kopfe nicht geschehen kann.« (Ebda.) Infolgedessen unterliegt auch alle Buchgelehrsamkeit, alle Bibelwissenschaft dem Verdikt eines letztlich nur schädlichen »Vernunft-Christentums« (vgl. dazu auch Kap. I 2 d):
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»63. An einen Vernünftling. Vernunftchrist, werde doch zum Kinde Und laß all' deines Kopfes Funde, Verleugne dich und alle Ding' Und Gott dein Herz und Willen bring, Und wandle vor sein'm Angesicht; Dein Spekulieren tut es nicht!« (BL, S. 48; auch in I Bohnen, S. 48)
3) Als Vorbild für den wahren »Herzens«-Christen gilt - wie im Epigramm zitiert - die von Regression nicht freie Existenz- und Verhaltensform des Kindes. Im Zeitalter der Entstehung der Kleinfamilie und der in Deutschland gegen bürgerlichen Widerstand erfolgenden Entdeckung und Rechtfertigung der Kindheit als eigenständiger Lebensform (vgl. III Pikulik, S. 141) preist Tersteegen die Kindheit auch mit Verweis auf »Geburt und Kindheit Jesu« selbst (WW, S. 118f.) unermüdlich als Idealbild christlicher Existenz (vgl. dazu auch 11.94 Kemper, S. 125 ): »168. Der köstliche Zierrat Ein sanft und stilles Kinderwesen, Ein unverstellter Einfaltssinn: Solch schönen Schmuck hat Gott erlesen, Der führt zur ersten Unschuld hin. Wer sich vom Geist dahin läßt ziehen, Wird als ein lieblich Blümelein Schon hier im Paradiese blühen Und ewig Gottes Lustspiel sein.« (BL, S. 72)
Die Kindheit repräsentiert also den Status paradiesischer Unschuld. Das Titelkupfer, auf welches das eben zitierte Epigramm anspielt, stellt im Mittelgrund mit Christus und den beiden Kindern an der Hand diese Gottseligkeit dar und verleiht so dem nach außen, zur Welt hin abgegrenzten »hortus conclusus« die Bedeutung eines Paradiesgartens. Schon hier also finden wir jene Verherrlichung der Kindheit, die wir in der Literaturgeschichte eigentlich erst seit dem Sturm und Drang als Ideal vollkommenen Menschentums zu registrieren pflegen. Doch gerade dort wird die theologische Herkunft und Begründung der Aufwertung des Kindes aufs deutlichste markiert: »Ja, lieber Wilhelm«, schreibt beispielsweise Werther, »meinem Herzen sind die Kinder am nächsten auf der Erde. Wenn ich ihnen zusehe . .., - immer, immer wiederhole ich dann die goldenen Worte des Lehrers der Menschen: Wenn ihr nicht werdet wie eines von diesen! . . . - Guter Gott von deinem Himmel, alte Kinder siehst du und junge Kinder und nichts weiter; und an welchen du mehr
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Freude hast, das hat dein Sohn schon lange verkündigt.« (II Goethe LJW, S. 32f.) Die Naivität und Unverbildetheit des Kindes erscheint (wie bei Tersteegen) der »ratio« des erwachsenen »Vernünftlings« überlegen; auch im >Erlkönig< etwa hört der Knabe die verlockenden Stimmen des Numinosen in der Natur, während der Vater als Repräsentant des aufklärerischen Rationalismus davon nichts begreift: Sein »Spekulieren tut es nicht« (s. o.; vgl. dazu 11.31 Ueding, S. lOOff.). Und wenn Tersteegen mahnt: »wir sollen uns nur mit diesem Gottkinde vereinigen, selbiges in uns herrschen, leben und von seinen göttlichen Kindereigenschaften uns durchdringen und nach diesem schönen Bilde uns bilden lassen« (WW, S. 119), dann gestaltet Novalis denselben Gedanken in der fünften seiner >Hymnen an die NachtDie in Jesu eröffnete Liebe GottesVom Erhabenem anknüpfenden Aufsatz >Über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaftern (1758) versuchte Moses MENDELSSOHN (1729-1786) das Naive als »das Antik-Schöne mit dem Christlich-Erhabenen zu versöhnen« (ebda., S. 74). Erhaben ist für ihn »ein jedes Ding, das dem Grade seiner Vollkommenheit nach, unermeßlich ist oder scheinet« und das deshalb wie »Gott, die Welt, die Ewigkeit« - oder eben auch wie die göttliche Liebe - »von keinem endlichen Gedanken erreicht, durch kein Zeichen gehörig angedeutet und durch keine Bilder, wie sie sind, vorgestellt werden« kann, deren Bezeichnung »in Vergleichung gegen die Sache immer noch naiv ist« (II Mendelssohn ENSW, S. 210, 217) - so wie das »ich« als »Wurm« und die Liebe als »Meer«. Zur Naivität zählt auch die »sanftrührende« Empfindung (vgl. III Jäger, S. 78), die Ablösung des leidenschaftlichen »pathos« des 17. Jahrhunderts durch die »sanfte Affektlage« des »ethos« (vgl. III Wegmann, S. 34): »Wie bist du mir so zart gewogen«, »Durch Liebe sanft und tief gezogen«.
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Diese angenehme Gefühlsdisposition verbindet sich mit der Zärtlichkeit als dem Schlagwort für die frühe Phase der Empfindsamkeit (vgl. ebda., S. lOOff.) und steht für deren familiär-vertrauten und privaten Charakter. Im Unterschied zur Leidenschaft ist Zärtlichkeit ein gemäßigtes, unerotisches und moralisches, daher als »Tugend der Freundschaft« besonders geeignetes Interaktionsparadigma, dessen »Sprache der Rührung« »ganz auf Angleichung und Verbindung« »der Kommunikationspartner« zielt (vgl. ebda., S. 46; III Sauder 1974, S. 193f.). Erst wenn man bedenkt, mit welch sprachmagischer Gewalt noch in der Barock-Mystik etwa bei Kuhlmann oder der Greiffenberg - die »unio mystica« mit Christus im Medium der Poesie herbeibeschworen wurde (vgl. Bd. III, S. 245ff., 279ff.), wird recht deutlich, wie sehr sich durch den Pietismus der Umgang mit Christus - und damit die »unio mystica« - zu einer familialen Beziehung gewandelt hat (vgl. Bd. V/l, S. 61f., 125ff.), die sich daher in einer unangestrengt-vertraulichen Kommunikation vollzieht, in die auch die nicht-verbalen Bereiche der Mimik und Gestik als Ausdruck physiognomisch wahrnehmbarer unbedingter Aufrichtigkeit einbezogen sind (vgl. III Pikulik, S. 256; zum Postulat der Aufrichtigkeit bei Tersteegen vgl. 11.94 Kemper, S. 129f.). Christus ist der jederzeit ansprechbare und verfügbare, gleichsam habitualisierte Seelenfreund, dessen Liebe das Sprecher-Ich bestätigt und aufwertet (»Wodurch ich Wurm geliebet ward«) und zur gleichberechtigten Gegenliebe befreit (vgl. dazu III Wegmann, S. 49). 5) Aus solcher Privatisierung freilich folgt, daß bei dem stets positiven Erlebnis zärtlicher Freundschaft Christus im Prinzip auch durch andere Freundschaften substituiert werden kann, die dieselbe Funktion eines altruistischen und zugleich ichstabilisierenden Glücksgefühls vermitteln (vgl. dazu Kap. I 3 e). Aus funktionaler Perspektive verschwimmen also die Grenzen zwischen pietistischer und empfindsamer Zärtlichkeit. Dies sei noch an einem Beispiel verdeutlicht, an dem sich zunächst auch belegen läßt, daß für Tersteegen das traditionelle mystische Sprachproblem, die Unsagbarkeit der »unio«-Erfahrung (vgl. dazu auch Bd. III, S. 7), keine - weder lähmende noch stimulierende - Rolle spielt. Die Mystiker sind für ihn schon dem Namen nach »Geheime oder Verborgene« (WW, S. 256), und er betrachtet die Gottesbegegnung als das persönlichste, intimste und daher vor jeder Preisgabe zu schützende Geheimnis (vgl. BL, S. 100 u. 124), sie erscheint ihm als ein gänzlich bilder- und sinnenloser, unsichtbarer und unbegreiflicher Akt des Geistes im unzulänglichen Dunkel und Schweigen des »Herzens«-»Kabinetts«:
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»570. Dunkle Glaubensüberlassung Jetzt hält mein Freund sich auf im Kabinett inwendig, Wie er da ist, was er da drinnen macht, Ich nicht zu sehn und nicht zu wissen tracht'; Mein Sehn macht mich zum Sehn untüchtig und elendig, Ich kann nicht gehn hinein, ich muß am Türlein wachen, Mit seinem Tun vergnügt, laß ich ihn immer machen.« (Ebda., S. 168)
Wenn er das Ereignis einmal (selten genug) zu charakterisieren sucht, greift er wie im zitierten Beispiel auf räumliche Bilder und Vergleiche zurück, auf die Beschreibung eines Weges von »außen« nach »innen« in die sakrale Mitte des Herzens als »Tempels«, »Kämmerleins« oder »süßer Zelle«, worin Gott wohnt oder mit dem Ich »lebt« (»So leb beim Herzensfreund im Herzenskämmerlein!« Ebda., S. 143) und worin die Vereinigung stattfindet (vgl. dazu 11.94 Ludewig, S. 208ff.): »339. Das vergnügte Klosterleben Mein Seelengrund ist meine süße Zelle, Worin ich leb' mit meinem Gott gemein (- allein); Da quillet mir die reiche Lebensquelle, Ach, möcht' ich stets darin verschlossen sein!« (BL, S. 109)
Dabei zeichnet er die Gottesbegegnung insbesondere mit dem Bildfeld familialer Intimität und Innerlichkeit aus: als Mutter-Kind-Beziehung im Kontext der auch im Bürgertum der Zeit Gewicht erlangenden Intimsphäre des »innersten Kämmerleins«, das allein die äußerste, unverdeckte Selbsthingabe ermöglicht (zum pietistischen Gebrauch von »Schrein, Kammer, Haus« vgl. III Langen, S. 170f.): »Deine Liebe, dein Herz, deine feurige Selenbegierde würde sodann endlich . . . das höchste Gut, die unermeßliche Gottheit in ihren unermeßlichen Schooß einnehmen und besitzen. Diese ewige Liebe, dieses vergnügende Wesen würdest du mit allen in eins gesammelten Kräften deiner Liebe auf die allerzartste und innigste Weise wie ein unschuldiges Kind seine Mutter umarmen und mit der reinesten Vertraulichkeit auf dein Herz drücken und von ihr hinwiederum seliglich umfasset werden. Mit diesem deinen trauten Seelenfreund würdest du dich gleichsam verschließen können in dein innerstes Kämmerlein, in den Mittelpunkt deines Herzens, weit, weit von allen Kreaturen. In dieser süßen Einsamkeit würdest du durch das selige Nahesein dieses allgenugsamen Wesens auch einigermaßen allgenugsam werden . . .« (WW, S. 351 f.)
Und wieder ist es eine aufschlußreiche Homologie, daß die Empfindsamen zur Pflege ihrer Seelenfreundschaft ebenfalls die »süße Einsamkeit« aufsuchten, das »Zellchen«, das allein den innigen Herzensgefühlen einen Sprach-Raum zu geben vermochte. So schrieb beispielsweise Caroline Flachsland ihrem Geliebten Herder aus Darmstadt:
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»Endlich, o mein süßer süßer Freund, habe ich Ruhezeit Ihnen zu schreiben und in Ihre Arme zu fliegen. . . . Krank war ich nicht, aber einige Zeit aus meinem Zimmer vertrieben, . . . und geseßen unter elenden Menschen, wie in der Wüste da geseßen, und so zerstreut, daß ich nur in den Morgen- und Abendstunden nach Ihnen, einziger, einziger Freund meiner Seele, mich sehnen konnte. O wie frölich bin ich gestern in mein Zellchen, in meine süße Einsamkeit wieder getreten, wo ich so ungestört, so süße bey Ihnen seyn kan, habe Ihr Bild gesucht, das mir heiliger ist als Pfahl und Waßer den Heiden - o freilich bist Du Herder, kleines Bild! und wärs ein Stückchen Holz von Ihnen, bist ewig süße, schöne Erinnerung an das edelste Herz.« (Zit. in III Pikulik, S. 247f.)
An die Stelle Christi tritt hier das Bild des Geliebten, und mit diesem Säkularisierungs-Akt erhält die >weltliche< Liebesbeziehung zugleich die Weihe einer religiösen (Selbst-)Anbetung. Diese Hinweise müssen hier genügen, um die These von der strengen Trennung von Pietismus und Empfindsamkeit angesichts der empfindsamen Merkmale der Tersteegenschen Poesie infragezustellen. Dabei ist ein wechselseitiger Einfluß in diesem konkreten Fall auszuschließen. Und dies berechtigt wiederum zu der Annahme, daß sich solche Übereinstimmungen eben aus einem übergreifenden, in beiden Strömungen virulenten und deshalb epochalen Motiv erklären lassen, wie es sich im Streben nach Unabhängigkeit von fremdbestimmten Autoritäten und Zwängen, im Streben nach Möglichkeiten autonomer, individueller Selbstverwirklichung und privaten Glücks als Scopus der frühneuzeitlichen Entwicklung in der Epoche der Aufklärung allenthalben manifestiert und wie es auch Tersteegens eigene religiöse Haltung bestimmt. Abschließend sei nach der Einführung in Tersteegens Epigramme und Bibeldichtung - wenigstens eines seiner geistlichen Lieder genauer analysiert, um daran die Komplexität von Struktur und Inhalt seiner Lyrik als Bedingung der Realisierbarkeit unterschiedlicher, individueller Rezeptionsmöglichkeiten aufzuzeigen. e) Vielsinnige Erfahrungslyrik 1) Die insgesamt 111 geistlichen Lieder und Andachten< als >drittes Büchlein< des >Blumengärtleins< sind von Tersteegens Bibel-Verständnis unmittelbar tangiert: Sie fußen weit weniger auf dem Wortlaut der Schrift als etwa noch die Lieder Paul Gerhardts (vgl. Bd. II, S. 272ff.) oder Gellerts (vgl. Kap. II 4 e), und sie sind - wie bereits gesehen (vgl. Kap. I 2 b) - Ausdruck der individuellen Erfahrung des auf Autor und Leser gleichermaßen verweisenden »lyrischen Ich«. 94 der Texte sind denn auch »Ichlieder«, nur 10 »Wirlieder«, in sieben wechseln »Wir« und »Ich«. Der
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von allem Erlebnishaft-Einmaligen abstrahierenden inhaltlichen Tendenz und dem Postulat der Einfalt und Kürze folgend greift der Dichter bei zwei Dritteln seiner Lieder auf Strophenformen mit nicht mehr als vier, fünf oder sechs Zeilen zurück und unterlegt ihnen nur trochäische und (in 76 Liedern) jambische Maße (zu den Angaben 11.94 Nelle, S. 296f.), setzt also die pietistischen Form-Neuerungen - übrigens auch in den Melodien - nicht fort (vgl. dazu Bd. V/l, S. 38f.). So knüpft er zwar formal an die Kirchenlied-Tradition des 16. und 17. Jahrhunderts an, dennoch findet sich bezeichnenderweise in seiner Lyrik kein Lied von der Kirche oder den Sakramenten (vgl. 11.94 Nelle, S. 292f.). Stattdessen besingt er die brüderliche Gemeinschaft der einzelnen, die zur wahren Geistkirche gehören und unter alle Völker zerstreut sind (im folgenden aus Nr. 43 >Brüderliche FürbittseufzerWelt< von jenem Lyrik-Typ, der nach eingebürgertem Verständnis das eigentliche Paradigma der Moderne darstellt: von der die eigene Individualität in der Begegnung mit Gott und Welt als Einzigkeit begreifenden und als einzigartige Poesie zur unverwechselbaren Sprache bringenden
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Erlebnislyrik Goethes (vgl. IV Kaiser I, S. 52ff.; zur Ausweitung des >Erlebnisnoch< keine Erlebnis-, sondern eine auch an den individuellen Bedürfnissen der Adressaten orientierte Erfahrungslyrik schreibt, bereichert er unsere Lyrik-Geschichte auf originelle Weise. Somit verdient seine Poesie im Blumengarten der Literaturgeschichte einen Sonnenplatz, und zwar genau da, wo wie auf dem Titelkupfer jenes blaue Blümchen blüht, das im Weltbild der Magie den Schatzgräbern zum Erfolg verhalf (vgl. III Gessmann, S. 91 f.) und dessen literarhistorischer Zauber hoffentlich auch noch heute wirkt: das Blümchen >VergißmeinnichtVorrede< o. S.). Indessen in diesem Reform-Kontext gehörten die beiden Freunde weder zu den ersten noch zu den wichtigsten. Hohes Interesse - vor allem im Rahmem einer Lyrikgeschichte - dürfen sie mehr noch aus anderem Grunde beanspruchen; in dem zumeist nur als das >Gespann< Pyra/Lange wahrgenommenen Autoren-Paar manifestieren sich nämlich trotz aller Gemeinsamkeit zwei signifikant unterschiedliche Positionen: Pyra entwickelte und erprobte auf dem Boden des Hallenser Pietismus das Kon-
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zept einer allumfassenden heilig-erhabenen Poesie, das in Klopstock und Wieland seine wirkungsmächtige Fortsetzung finden sollte (vgl. Kap. II 5 u. 6); Lange, der seinem Freund zunächst darin folgte, suchte vor allem nach Pyras Tod Wege, um die heilige mit der weltlichen Poesie zu versöhnen. Insofern spiegeln sich in beiden - wie im folgenden darzustellen ist - problemgeschichtlich signifikant zwei entgegengesetzte Möglichkeiten in der Begegnung von Pietismus und Literatur: einerseits die höchstmögliche Sakralisierung der Poesie, andererseits und zugleich die neologisch-literarische Säkularisierung des Pietismus. 1) LANGE (vgl. Abb. 6; ein Gemälde von J. I. Span 1758, in: III Stenzel, S. 108) wuchs im Zentrum des von August Hermann Francke (16631727) begründeten und geprägten Halleschen Pietismus auf (zu diesem vgl. Bd. V/l, S. 37ff., 71 ff., 86ff.): Sein Vater Joachim (1670-1744) war als Hallenser Theologieprofessor (seit 1709) ein enger Vertrauter Franckes und als »Speerspitze des Pietismus« der Hauptverantwortliche im Kampf gegen Christian Wolff (1679 1754), den Schulphilosophen der deutschen Aufklärung (vgl. dazu Bd. V/l, S. 103ff.; V/2, S. 8Iff.). Bei all seinem polemischen Eifer gehörte Joachim Lange aber auch zu den wenigen Parteigängern Franckes, die bei der theologischen Ausbildung die Fahne der Gelehrsamkeit hochhielten (vgl. Ill Martens Abb. 6 1989, S. 67f.), ja Joachim Lange schrieb sogar - im Zentrum des aller schöngeistigen Literatur so feindlich gesonnenen Halleschen Pietismus (vgl. dazu ebda., S. 76-181; ferner Bd. V/l, S. 63ff.) - >weltliche< Gelegenheitsgedichte (wenn auch zumeist auf erbauliche Anlässe wie Todesfälle; vgl. Ill Martens 1989. S. 143ff.). So galt für Lange zweifellos auch die Maxime »pietas cum litteris coniungenda est« (zit. ebda., S. 74), die für seinen Sohn und dessen Freund Pyra zum zentralen Glaubensbekenntnis werden sollte.
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Joachim Lange unterrichtete seine sechs Kinder - unterstützt von einigen Lehrern - zunächst selbst zu Hause. Als Zehnjähriger kam Samuel Gotthold sodann zur weiteren Ausbildung in die Lateinschule des Waisenhauses, als noch Vierzehnjähriger immatrikulierte er sich im Februar 1726 für das Studium der Theologie in Halle, interessierte sich daneben aber auch für die alten Sprachen sowie für Vergil und Horaz (vgl. 11.52 Jolles, S. 4+). Überanstrengung und - nach ersten Begegnungen mit dem Gedankengut des Rationalismus sich einstellende, für den Halleschen Pietismus mit seinem Dringen auf das »Bekehrungserlebnis« nicht untypische - »hypochondrische« Beschwerden (vgl. dazu Bd. V/l, S. 71 ff.) zwangen Lange 1734 zu einer halbjährigen Unterbrechung des Studiums, und während eines Aufenthalts in Erfurt lernte er seine künftige Gattin Anna Dorothea Gnüge (1717-1764; vgl. zu ihr Kap. I 3f, g) kennen. Nach bestandenem Examen (1735), einem kurzen Aufenthalt in Berlin (1736), wo er zugunsten seines Vaters in einem von diesem erneut angezettelten Streit um die Wolffsche Philosophie öffentlich (unter dem Pseudonym >VeramanderDer gehörnte Siegfried II.< 1746), die Gottschedianer (>Der Gegen=ParnaßOden DavidsVorreden< interessant sind: Die eine stammt von Siegmund Jacob Baumgarten, worin dieser die pietistische Verachtung von Poesie und Rhetorik zurückweist und die Nützlichkeit der Bibelpoesie für beide Wissenschaften und die Religion selbst begründet und damit die neologische Hochschätzung geistlicher Poesie >öffentlich< dokumentiert (vgl. Kap. II 2 b-2). Lange selbst betont nicht nur die Wichtigkeit des Stils, sondern unter Berufung auf Breitingers >Critische Dichtkunst (V-OD, S. )(7 r/v) erstmals auch des Metrums für die affektive Wirkung des Gedichts (»Das Sylbenmaaß thut viel, es drucket den Affect aus.« Ebda.; S. )(6 v; vgl. dazu auch IV Schuppenhauer, S. 337f.). Das war ein entscheidender Schritt in Richtung auf Klopstocks Lehre von der gesamten Form als »Mitausdruck« des Gedichts (vgl. Kap. II 6 e-1). Lange folgerte aus seiner These, man dürfe ein Gedicht deshalb nicht in Prosa übersetzen, und da die Psalmen für ihn Oden waren (vgl. dazu Kap. II 2 b-6), griff er in seiner Übersetzung auf Strophenform und Endreim zurück. »Insbesondere können Oden nicht besser als durch Oden übersetzet werden.« (V-OD, S. )(6v). Mit seiner Translation hoffte er, »ein zweiter Lobwasser« zu werden, dessen »Übersetzung in der reformierten Gemeinde eingeführt« werde (so Lange an Gleim; zit. in 11.52 Geppert, S. 45; zu Lobwasser vgl. Bd. II, S. 203f.), indessen genügt bereits die Lektüre der beiden ersten Strophen von Psalm l (»1. Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder noch sitzt, da die Spötter sitzen, 2. sondern hat Lust zum Gesetz des Herrn und redet von seinem Gesetz Tag und Nacht!«), um das Urteil bestätigen zu können, im Vergleich zu Luther sei alles »weitschweifiger und blasser« (11.52 Geppert, S. 47f.). Die sechszeilige Strophe nötigt den Poeten zur semantischen Auffüllung, die er indessen nicht zu odischem Schwung zu nutzen versteht: »Viel tausend Wohl beglückt den Mann, Der nicht im Rath der BOsen wandelt; Er nimmt sich nicht Gottloser an, Und steht nicht wo man Unrecht handelt;
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Auf Sfinder=Wege tritt er nicht, Und sitzt nicht, wo man spottisch spricht. Im Gegentheil ist seiner Brust, Das Wort des Höchsten, Ruh und Wonne. Er spricht davon des Nachts mit Lust Und in der heissen Mittags=Sonne. Es endigen sich Nacht und Licht; Doch seine heiige Reden nicht.« (ÖD, S. 1)
Langes erst 1757 veröffentlichte >Poetische Betrachtung der sieben Worte des sterbenden Erlösers nebst anderen geistlichen Gedichtem beurteilt Geppert als »endlose pietistisch empfindsame Ergüsse in paarweise gereimten Alexandrinern« aus Langes Frühzeit (ebda., S. 119). - Er gehörte schon 1734 zu den Mitbegründern einer Gesellschaft zur Beförderung der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit^ »die im Geiste Gottscheds um die Verbesserung des >guten Geschmacks< bemüht war« (11.52 Jolles, S. 5+). Indessen ließ wohl erst die Bekanntschaft mit Pyra den jungen Theologen von einem Interessenten zu einem Produzenten von Poesie werden, und es besteht bis heute Einigkeit darüber, daß Lange seine besten dichterischen Leistungen - in den freundschaftlichen Liedern< und den >Horatzischen Odem - dem inspirierenden Vorbild dieses für ihn wichtigsten Freundes verdankt. 2) PYRA wurde in Cottbus (Lausitz) als Sohn eines Advokaten geboren, der - durch einen allgemeinen Erlaß des »Soldatenkönigs« zur Reduzierung der Anwälte mit >Berufsverbot< belegt - ein kümmerliches Dasein als »Winkeladvokat« fristete und mit seiner Familie in bittere Armut geriet. Trotzdem konnte Immanuel Jakob das in pietistischem Geist geführte Gymnasium in Budissin (Lausitz) besuchen und immatrikulierte sich Ende 1734 als Theologiestudent in Halle, wo er in seiner Mittellosigkeit gänzlich auf die Unterstützung des >Waisenhauses< angewiesen war. Dort gewährte man ihm zunächst einen Freitisch, seit 1735 ein jährlich neu zu beantragendes und vom Wohlverhalten mit abhängiges Stipendium (20 Reichstaler), stellte ihm ab Herbst 1736 auch ein Zimmer und für ein knappes Jahr eine Informatorenstelle zur Verfügung (vgl. III F. J. Schneider, S. 159ff., 165). Er hatte Johann Anastasius Freylinghausen (1670-1739), den Herausgeber des berühmten >Neuen Geistreichen Gesang=Buchs< (vgl. Bd. V/l, S. 37f.; IV Busch/Miersemann), zum Beichtvater (III F. J.Schneider, S. 160) und hörte u. a. Vorlesungen bei Joachim Lange, den er besonders verehrte, aber auch bei Siegmund Jacob Baumgarten (zu ihm Kap. II l b). Daß er auch bei dessen jüngerem
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Bruder Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762), dem Begründer der Ästhetik (vgl. Bd. V/2, S. 187ff.), Privatlektionen über Philosophie besuchte, wurde von den Anstaltsoberen übel vermerkt (vgl. III F. J. Schneider, S. 164). Jedenfalls waren Pyras Interessen keineswegs auf die Theologie beschränkt. Schon auf dem Gymnasium hatte ihn das Studium der Alten fasziniert, er setzte es in Halle fort, übersetzte Partien aus Vergils >Aeneis< zunächst in gereimte Alexandriner, um sein eigenes poetisches Talent zu erproben, und trat auf Einladung Samuel Gotthold Langes, den er 1735 kennengelernt haben dürfte (vgl. ebda., S. 159f.), der Gesellschaft zur Beförderung der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit bei. 1738 schloß Pyra sein Theologiestudium in Halle ab, und da er zunächst keine Anstellung fand, gewährte ihm sein Freund Lange bei sich in Laublingen eine Bleibe, vermittelte ihm dann zwei Hofmeisterstellen, nahm ihn 1741 nochmals bei sich auf, bis Pyra dann - vermutlich durch Vermittlung von Joachim Lange - 1742 Gymnasiallehrer und ein Jahr später Konrektor am Köllnischen Gymnasium in Berlin wurde, wo er u. a. Geschichte, Religion, Griechisch, Hebräisch, Latein, Rhetorik und deutsche Poesie unterrichtete und mit den Anakreontikern Johann Christoph Rost (1717-1765; vgl. Bd. V/2, S. 199) und Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803, ebda., S. 187ff.) sowie mit Ewald Christian von Kleist (1715-1759; ebda., S. 158ff.) Bekanntschaft schloß. Plötzlich riß der Tod (vermutlich Schwindsucht) dann den 29jährigen Pyra am 14. Juli 1744 mitten aus seiner Arbeit und allen hochfliegenden Plänen (vgl. 11.73 Waniek, S. 96ff., 125; III F. J. Schneider, S. 161). Freilich: Pyra war von klein auf kränklich gewesen, und seine melancholiegefährdete Disposition schlägt sich u. a. in den ängstlichen Todesahnungen der >Freundschaftlichen Lieden nieder (vgl. dazu 11.73 Waniek, S. 56f.). Das streng reglementierte Leben in den Franckeschen Anstalten mit der ständigen, auf dem Nachweis des >status gratiae< bedachten Kontrolle des Seelenlebens hat Pyras psychophysische Verfassung jedenfalls nicht entscheidend zu stabilisieren vermocht. Er war hart gegen sich selbst und opferte sich damit zugleich für seine Eltern auf, die er durch sein Stipendium mitunterstützte, wofür er tagelanges Hungern in Kauf nehmen konnte (vgl. ebda., S. 17), aber er vermochte solche Härte auch als Aggressivität nach außen zu kehren. So hat er offenbar das Strafamt als Informator und Lehrer so exzessiv geübt, daß er im Waisenhaus 1737 deshalb seine Stelle verlor und auch in Berlin, das in Johann Kaspar Schade (1666-1698) schon einmal das Schreckbild eines pietistischen Fundamentalisten erlebt hatte (vgl. Bd. V/l, S. 58ff.), deshalb ins Gerede kam (vgl. III F. J. Schneider, S. 166f.), so daß er sich gegen den Vorwurf, »auf Primaner los zu schlagen«, auch öffentlich weh-
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ren mußte (vgl. II Pyra FE, S. 4). In einem Waisenhaus-Vermerk heißt es über Pyra: »War ein böser, tückischer Mensch, hatte schlechte Studia, elenden Vortrag, im regime zu Exzessen geneigt, wurde 1737 m. Sept. removiert« (zit. in III F. J. Schneider, S. 165). Auch aus der Hofmeisterstelle in Heiligenthal wurde Pyra - angeblich wegen seiner »Unerbittlichkeit gegen das Laster« (11.73 Waniek, S. 65f.) - »removiert«. Seinem ethischen Rigorismus entsprach ein - im Grunde schwaches, verletzliches, deshalb immer wieder proklamiertes - Elitebewußtsein, das er - unter dem ständigen Druck pietistischer Selbstheiligung (wobei von einem »Erweckungserlebnis« Pyras nichts bekannt ist) - auf den Begriff von Dichter und Dichtung projizierte. Gleich in seinem ersten Brief an Gottsched mit der Bitte, seine reimfreie >Probe einer Uebersetzung der Aeneis des P. Virgilius Maro in deutsche Verse< zu begutachten, nahm er dessen Urteil mit der Selbsterhebung über die »Reim Schmiede« bereits vorweg (»Ich bin zufrieden wenn es mir nur soweit geglücket ist, daß man mich nicht mehr zu ihren(!) Schwärm zehlet.« II Pyra ÜE, S. 89; vgl. dazu IV Schuppenhauer, S. 176ff.) Als Gottsched dann aber der gereimten Alexandriner-Übersetzung seines Schülers Johann Christoph Schwarz (1709-1783) den Vorzug gab, ließ Pyra sich dies in einer öffentlichen Erwiderung nicht bieten, ging - auch unter dem maßgeblichen Einfluß der Schriften von Bodmer und Breitinger - mehr und mehr auf Distanz zu den Leipzigern und bekämpfte sie schließlich - nach dem 1740 einsetzenden »Literaturkrieg« zwischen den Leipzigern und den Zürchern (vgl. Kap. II 2 c) - als erster frontal und mit »kochender Galle« (II E, S. 5) in seinem >Erweis, daß die G*ttsch+dianische Sekte den Geschmack verderbe< und dessen >Fortsetzung< (1743/44). Der ironisch gemeinte Begriff »Sekte« enthüllt zugleich, daß Pyra diese literaturtheoretische Auseinandersetzung radikaler und auch einseitiger als die anderen Beteiligten als einen Glaubenskrieg führte, weil er in ihm das Heilige der Dichtkunst mit einem beträchtlichen messianischen Sendungsbewußtsein kaum weniger eifernd gegen die rationalistischen »Verderbungen« des Leipziger »Wolffianismus« verteidigte als Joachim Lange das Heiligste der Religion! Deshalb rühmte Pyra auch den alten Kämpen in einem Gelegenheitsgedicht zu dessen Ehren (>Das Wort des Höchsten, eine OdeDer Tempel der Wahren Dichtkunst (Pyra) Pyras »bedeutendstes Werk« (11.73/52 Sauer, S. XXV) >Der Tempel der Wahren Dichtkunst. Ein Gedicht in reymfreyen Versen< erschien 1737 anonym (>von einem Mitgliede der Deutschen Gesellschaft in HalleDeutschen Gesellschaft aus Anlaß seiner Amtseinführung in Laublingen 1737 verehrt. Einige stilistische und inhaltliche Unkorrektheiten (vgl. dazu 11.73/52 Sauer, S. XXX ff.), aber auch die mehrfache Polemik gegen die Gelegenheitspoesie im Gedicht lassen vermuten, daß Pyra sein Werk als poetologisches Lehrgedicht konzipiert und dann ziemlich rasch durch einige auf Lange bezogene Einschübe als casuelles Gratulationspoem nutzbar gemacht hat. Jedenfalls repräsentiert dieses dadurch den Typ des von Gottsched zur Hebung des Niveaus der Gelegenheitspoesie propagierten >GelegenheitsLehrgedichts< (mit Abhandlungen über bestimmte Themen zu bestimmten Anlässen; vgl. II Gottsched CD, S. 544; vgl. Bd. V/2, S. 30). Pyras vom Gedichtinhalt zu bestätigende - Versicherung, er habe zur Zeit der Entstehung dieses Werkes als Zwanzigjähriger noch keine genauere Kenntnis von Bodmers und Breitingers Schriften gehabt (FE, S. 6f.), macht seinen frühen poetologischen Standpunkt besonders interessant, weil der Abstand zu Gottsched durch den pietistischen Einfluß umso deutlicher hervortritt und dadurch begreiflich wird, auf wie fruchtbaren Boden die Schweizer bei Pyra fallen mußten und warum er sie so prononciert unter religiösem Aspekt rezipiert hat (dazu Kap. I 3 c). Das in fünf >Gesänge< eingeteilte Gedicht mit seinen 1170 reimfreien Alexandrinern knüpft im ganzen - als allegorisches Visionsgedicht (vgl. dazu Bd. I, S. 252ff.; 271 ff.; Bd. III, S. 63ff.; Bd. V/l, S. 137f.) - wie auch in vielen stofflichen Einzelheiten an literarische Vorlagen an, so an den im Pietismus beliebten Neulateiner Marcus Hieronymus Vida (1480-1566), an John Milton (1608-1674), dessen Bibelepos >Paradise lost< (1667/74) er möglicherweise im Original gelesen hat (die Prosaübersetzung Bodmers erschien zuerst 1732), vor allem aber an Alexander Popes (1688-1744) >The temple of Fame< (1711), dem er bis in Einzelheiten des stofflichen Aufbaus und der Motivik verpflichtet ist (vgl. 11.73/52 Sauer, S. XXXV ff.), von dem er sich aber in dem für ihn Wichtigsten unterscheidet: in der Inthronisierung der christlichen Dichtkunst als »wahrster und höchster Poesie« (»dieses Element fehlt bei Pope ganz«; ebda., S. XLIII). Diese Sakralisierung und schließliche Selbstapotheose der »heiligen Poesie« vollzieht sich im Laufe einer zum Teil detailliert »gemalten«
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Handlung (insofern stellt das Gedicht mit seinen >Gesängen< die Vorübung zu einem Epos dar, das Pyra sich nach dem Vorbild Vidas und Miltons zu verfassen vorgenommen hatte), und zwar in mehreren Phasen und Stufen, die dem Autor Gelegenheit bieten, das Problemfeld poetologisch auszuschreiten. Dem Gedichtgang folgend seien hier die sechs wichtigsten Aspekte erläutert. 1) Einleitend thematisiert Pyra die Form - die »Königin« der Poesie bedarf eines entsprechend >geschmackvollen< Gewandes, das Pyra mit seinem Exempel bereits vorzuführen beansprucht: »Den Tempel und dein Reich laß mich, o Königin Der wahren Poesie, durch deinen Trieb besingen. Komm! führe mich, daß itzt mein Fesselfreyer Fuß Auf dieser neuen Bahn nicht gleitet oder irret. Ja gieb, daß sich mein Vers in wahrer Schönheit zeigt, Da der vermeinte Schmuck der leeren Reime fehlet; Damit ein kluger Geist dennoch Vergnügen fühlt, Ob ein verwohntes Ohr der Ausgang gleich nicht kützelt. Ihr, die ihr nur allein den Reim zu loben wißt, Ihr mögt mein Lied und mich nur immerhin verachten. Solch Tadeln bringt mir Ruhm, wann sonst nur nichts gebricht. Ja weicht! ihr solt mich auch nicht hören oder loben.« (TWD, S. 83f.)
Pyras wichtigste, immer wieder - auch von Lange - mit Entschiedenheit vorgetragene poetologische Forderung ist der Wegfall des Reimes; dieser dominierte bis dahin - von vereinzelten Ausnahmen abgesehen (vgl. Bd. III, S. 299; Bd. V/2, S. 19f.) - in der Poesie, ja er galt geradezu als Hauptmerkmal eines Gedichts (vgl. dazu IV Schuppenhauer, S. 15ff.). Durch seine Beschäftigung mit den reimfrei dichtenden griechischen und römischen Poeten und deren gereimter Übertragung ins Deutsche (vgl. dazu auch II Breitinger CD, S. 460) war Pyra aufgefallen, wie sehr das Postulat des Gleichklangs am Versende die Beachtung anderer Schönheiten und Feinheiten des Versbaus, die er an den antiken Dichtern bewunderte, ins Hintertreffen geriet. Der mit Pyra und Lange befreundete Baumgartenschüler und Hallesche Popularphilosoph Georg Friedrich MEIER (1718-1777; vgl. zu ihm Kap. I 3h, II 2 c) hat 1747 in seiner >Vorrede< zu Langes überwiegend reimfreien >Horatzischen Oden< >Vom Werthe der Reime< gehandelt und deren »überflußige und entbehrliche Schönheit« u. a. mit dem Verweis auf Griechen und Römer sowie mit inhaltlichen, stilistischen und verstechnischen Hinweisen begründet. Der Reim verursacht als rein akustischer Gleichklang Monotonie, er verhindert die schönsten Ideen, weil der Dichter »beständig seine Gedanken unter das Joch des Reimes beugen muß« (II Meier V, S. 15), und er
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verdirbt den Geschmack, weil er alle Aufmerksamkeit des Publikums nur auf diese unwichtige >Schönheit< als Beurteilungsmaßstab für ein gelungenes Gedicht lenkt (vgl. dazu auch IV Nagel, S. 5f., 9ff., 76ff.). Mit dem Wegfall des Reims empfiehlt Meier die Konzentration auf die »Proportion der Theile« des Verses als Bedingung von dessen Schönheit sowie die Bereicherung und Variation des Silbenmaßes über Jambus, Trochäus und Daktylus hinaus (V, S. 9ff.) - Anregungen, die vor allem Klopstock von Meier denn auch aufs höchste gepriesen - eindrucksvoll poetisch umzusetzen verstand (vgl. Kap. II 6 d, e). Pyra zeigte bereits eine nicht unbeachtliche Kunst verstechnischer Variationen. Zwar hielt er im >Tempel der Wahren Dichtkunst noch an dem in der Frühaufklärung ebenfalls bereits kritisierten Hauptvers des 17. Jahrhunderts, dem Alexandriner (vgl. Bd. V/2, S. 20f.), fest, aber er gewann ihm, wie die zitierten Verse zeigen, durch eine variable Behandlung der Binnenzäsuren neue, den Inhalt stärker unterstützende Darstellungsmöglichkeiten ab. Durch die Einführung weiterer Zäsuren im vorderen bzw. hinteren Teil des Verses unterband Pyra geschickt das aufgrund der obligatorischen Zäsur nach der dritten Hebung gefürchtete »Klappern« des Verses und lenkte so im Zusammenhang mit dem Wegfall des Reimes, der allerdings durch einige Assonanzreime kompensiert wird, die Aufmerksamkeit tatsächlich mehr auf die »Proportion der Theile«, gab diesen unterschiedliches Tempo und Gewicht, und damit gewann der Alexandriner unverkennbare Kontur als »epischer« Vers, der dann bei Klopstock allerdings durch den klassischen Vers des antiken Epos, den Hexameter, ersetzt werden sollte (vgl. Kap. II 6 d). 2) Die Kritik am Reim verbindet sich bei Pyra von Anfang an mit einer Polemik gegen die Gelegenheitsdichtung (TWD, S. 84). An späterer Stelle begegnet beim Aufstieg zum Tempel ein »Schwärm«, der »mit rauher Kehlen / Nur Hochzeitreime jauchtzt (!) und todte Lieder heult« (ebda., S. 88). Mehr als ein Jahrzehnt also vor der öffentlich ausgetragenen Kontroverse zwischen Gottsched und Georg Friedrich Meier über die Geschmackshebung (so Gottsched) bzw. -verderbung (so Meier) durch die Gelegenheitspoesie (vgl. IV Segebrecht, S. 255ff.; Bd. V/2, S. 30) findet sich bei Pyra der auch im >Erweis< wiederholte und für Meier ebenfalls konstitutive Zusammenhang von Geschmacksverderbnis durch Reimerei in der Gelegenheitspoesie und dem Postulat einer gereinigten, reimfreien Elite-Dichtkunst. Gottsched selbst hat den ganzen Streit um seine poetologische Position mit »einer gewissen neuern Dichter= und Kunstrichtersecte« auf diesen Streit um den Wert des Gelegenheitsgedichts zurückgeführt (II Gottsched CD, S. VI ff.), aber das Verdienst, diesen Aspekt
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der Geschmacks-Debatte angestoßen zu haben, gebührt nicht Meier, der erst 1736 mit dem (Theologie-)Studium in Halle begann (vgl. dazu 11.60 Gawlick, S. 158), sondern Pyra, der auch schon in seinem ersten Schreiben an Gottsched (1737) genau diesen Problemzusammenhang thematisierte und damit den Leipziger Kritikerfürsten und Gelegenheitsdichter zielsicher und hellsichtig zugleich mit einer alternativen Dichtungsauffassung konfrontierte, deren poetologisches Programm er gleichzeitig im >Tempel der Wahren Dichtkunst verkündigte. 3) Orientiert sich Pyra formal am Vorbild der >HeidenJerusalem< den Vorzug vor >Athen< gaben (vgl. dazu IV Dyck, S. 13ff., 35ff., 42ff., 64ff. u. ö.; IV Gutzen 1972, S. 25ff.; III Kemper 1995, S. 71ff.). Im Halleschen Pietismus ergab sich hierbei eine zweifache Akzentuierung, die in Pyras Konzeption einging: Zum einen begründete sein Beichtvater Freylinghausen die Edition seines >Geist=reichen Gesangbuchs< mit der Bedeutung geistlicher Lieder in der Bibel (vor allem im AT: bei Moses, David und Salomon) und in der Kirchengeschichte; sie seien Ausdruck besonderer Gnade Gottes und Zeichen der Inspiriertheit durch den Heiligen Geist (vgl. II Freylinghausen, S. 112ff., 116ff.). Pyra hat dies Verständnis >heiliger< biblischer Lyrik dann allerdings entscheidend erweitert. Zum ändern hatte August Hermann Francke die von Luther weitgehend zugunsten des verbindlichen Wbrtsinns abgeschaffte Lehre vom mehrfachen Schriftsinn< der Bibel (vgl. Bd. III, S. 50 u. ö.; Bd. V/l, S. 125ff.) rehabilitiert, um eine begriffliche Erfassung des Wortsinns durch das Erkenntnisvermögen des natürlichen Menschen von der eigentlichen Empfindung der Sache durch den Wiedergeborenen im »sensus mysticus« unterscheiden zu können (vgl. IV Gutzen 1972, S. 42f.). Damit gewannen die emotionale Rezeption und das subjektive (Nach-) Er leben der Bibel Vorrang und führten in der pietistischen Exegese zu einer verstärkten Beachtung der in der Heiligen Schrift selbst dargestellten Affekte und deren - in der Selbstbeobachtung zu analysierenden - Aneignung, und dies wiederum trug zur »Auslieferung der Offenbarung an den >GeschmackSaul< und >Atreus< (vgl. 11.73 Waniek, S. 106ff.) sowie für das Epos, für das er offenbar - in Unterscheidung und Ergänzung zu Milton - wie nach ihm Klopstock einen neutestamentlichen Stoff zu wählen beabsichtigte (vgl. ebda., S. 41). Zum ändern überschritt er (durchaus in der Tradition des poesiebestimmten geistlichen Lieds; vgl. dazu Bd. I, S. 50ff.) die pietistische Forderung nach »Einfalt« im Schreiben, indem er sich dazu wiederum auf die »Hoheit die Vortreflichkeit, die Volkommenheit« des »Wortes Gottes selbst« berief: »Allein hat denn dis himlische Buch nicht, nach dem Geständnüße aller verständigen Gottesgelehrten, mit den weltlichen Schriften die Eigenschaften einer guten Schreibart gemein?« (ÜE, S. 54). Von daher vermochte Pyra nun auch schon einige Stileigentümlichkeiten - wie Steigerungsformen (Tautologien, Komparation, Doppelung von Adjektiven oder adjektivische Komposita mit
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»-voll«), bedeutungsschwere Wörter mit ungewöhnlichen Wortfügungen, verbale Präfixkomposita und Wegfall von Kasusendungen (vgl. dazu IV Schuppenhauer, S. 184ff.) - aufzunehmen, die in der Summe zweifellos in Richtung eines emotionalisierenden »erhabenen« Stils tendieren und von denen einige als »Ausdruckselemente der religiösen Sprache« auch aus dem Pietismus hergeleitet werden können (z. B. die verbalen Präfixbildungen; vgl. ebda., S. 187; dazu III Langen, S. 188ff, 203ff.) Daß sich hier ferner schon das Stilprinzip der Kürze andeutet und Klopstock beeinflußt haben kann, ist ebenfalls nicht von der Hand zu weisen (vgl. IV Schuppenhauer, S. 187; 11.49 Schneider 1965, S. 21ff.; vgl. Kap. II 6 f-2). - Insgesamt sakralisierte Pyra damit die Poesie - nicht zum erstenmal in der frühen Neuzeit (vgl. Bd. III, S. 273ff., 290ff.) - auf eine Weise, die zwar dem Halleschen, aber nicht dem radikalen Pietismus (z. B. Arnold und Zinzendorf), jedoch natürlich auch Gottsched (vgl. IV Schuppenhauer, S. 191ff.) anstößig sein mußte (vgl. Bd. V/l, S. 121ff.; Kap. I l c u. I3c). 5) Aber nicht nur im Blick auf das Weltliche, sondern auch auf das Moralische und Weltanschauliche suchte Pyra seine Poesiekonzeption nach innen und nach außen zu bestimmen. Nach außen geschah dies insbesondere durch eine Abgrenzung der formal beerbten heidnischen Poesie. - Nach Einschlagen des schmalen und beschwerlichen Weges versetzt die wahre Poesie den Dichter, während dieser schläft, über eine gefährliche Kluft hinweg in ihr »untres Reich« (»Hier siehst du das Revier, wo GOttes Garten war«; TWD, S. 90), und dieses erweist sich als Lustort der personifizierten Tugenden und als »der beglückte Sitz der tugendhaften Dichter« (ebda., S. 92), wozu insbesondere die Natur-, Idyllen- und Lehrdichter zählen; darin wirkt sich noch Gottscheds Abwertung der »malenden Poesie« aus (vgl. Bd. V/2, S. 92f.). Und ebenfalls ganz im Sinne von dessen an Wolff orientiertem Rationalismus, aber durchaus auch in Übereinstimmung mit dem die Einbildungskraft verteufelnden Pietismus (vgl. Bd. V/l, S. 66f.) regiert über die guten und bösen Träume sowie über die »leichte Phantasie«, die hier ebenfalls ihren Wohnsitz haben, die Vernunft als »ihr gestrenger Fürst«, damit sie nicht wie im Reich der >weltlichen< Poesie Unheil stiften können (TWD S. 95f.). Hier, noch am Fuße des himmelaufragenden Berges, auf dessen Spitze der >Tempel der Wahren Dichtkunst steht, finden sich nun auch die Schauplätze des griechischen Epos und Dramas, von denen sich die christliche Poesie deutlich distanziert:
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»Und jetzo hat mein Arm die schnöde Götzenbrut Aus meinen Gegenden getrieben und verbannet. Durch diesen Abgang wird mein Reich nicht arm noch leer. Die Dichter sollen es mit Tugendbildern füllen.« (TWD, S. 97)
Zugleich sollen sie selbst in einem Maße tugendhaft sein, das dem pietistischen Ideal möglichster Sündlosigkeit kaum nachzustehen scheint (vgl. Bd. V/l, S. 56f.): »Allein wen Sund und Tod mit Höllenbanden drückt, Der darf mit frechem Schritt nicht meine Höh' entweihen; Doch willst du künftig stets die Bahn der Bösen fliehn; So will ich dir den Weg zu meinem Sitz eröfnen.« (Ebda.)
Auf Grund dieses ethischen Maßstabs vermag die christliche Dichtkunst nun wenigstens einige bedeutende antike Dichter am Fuße des »heiligen Berges« zu dulden, die auch im Unterricht des Waisenhauses in strenger Auswahl und Begrenzung gelesen werden durften (vgl. Ill Martens 1989, S. 168): »Hier, sprach sie, wohnt Homer und dorten dein Virgil Da siehst du, wie Horatz die edle Leyer stimmt, Und wie Theocritus in grüner Hirten Tracht Vor jener Hütten sitzt, die Zweig und Blumen schmücken. Sie haben zwar ihr Lied durch Götzentand entweiht; Doch diesen Fehler deckt die grosse Tugend=Liebe, So sich sonst überall in ihren Liedern zeigt, Die manches Christenlied an Reinigkeit beschämen.« (TWD, S. 98)
Durch einen »tiefen Fluß von diesem selgen Reiche« getrennt aber hausen jene Dichter, die »allezeit der Leidenschaften Raub« waren: »Dort singt Ovidius, Catullus und Tibullus, / Nebst dem Propertius manch geiles Bulerlied.« (Ebda.) In dem seit der unverfälschten Wiederaneignung der >heidnischen< Quellen in der Renaissance unentwegt geführten weltanschaulichen Kampf um die >Seligkeit der Heiden< (vgl. dazu IV Kemper I, S. 18Iff.; Bd. I, S. 66ff.) nimmt Pyra eine vorsichtig vermittelnde Position ein. Einerseits lehnt er allen Synkretismus zwischen Christentum und Heidentum ab und schickt mit pietistischer Strenge alle sündhaften heidnischen Poeten in den Orkus, andererseits ermöglicht ihm die Dominanz des ethischen Standpunkts immerhin die »Rettung« einiger antiker Autoren, und gerade der Aspekt vorbildlicher Moral sollte im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung zur vollständigen Rehabilitierung und »Seligsprechung« der Heiden führen (vgl. Kap. II l e-7).
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6) Bei der Abgrenzung nach innen ging es schließlich um eine Verhältnisbestimmung von »heiliger Poesie« und Religion. Das betraf zunächst und im Kern die Beziehung der Dichtkunst zur Bibel. - Je höher die Wanderer - am Ende des >andern Gesangs< gesellt sich zu ihnen auch noch der Theologe und Dichter Samuel Gotthold Lange - steigen, desto christlicher und biblischer werden die Gefilde. Der >dritte Gesang< beschreibt den Vorhof des Poesietempels, in dem »fast jede Wissenschaft und jede freye Kunst« »unter ihrem Schutz auch seine eigne Halle« besitzen (TWD, S. 101). Und durchaus im Sinne Gottscheds, der das Ideal des »poeta doctus« mit Nachdruck erneuert hat (vgl. II CD, S. 105ff.), erklärt die Dichtkunst: »Wer in der Poesie ein Meister denckt zu werden, / Muß hier erst Schüler seyn, sonst bringt er es nicht hoch.« (TWD, S. 106) Dazu gehört auch die Beachtung der Poetik, der »ewigen Gesetze, / Die keines Dichters Lied mit Recht verletzen darf« (ebda.). Indessen wiederum ganz im Gegensatz zum Leipziger wird der endlich im wierten Gesang< erreichte Tempel - ein »Grundgebäude« mit »vier Aermen« (ebda., S. 108) - nur noch von biblischen Autoren, Büchern und Gattungen bewohnt: der Ostflügel von den Verfassern der alttestamentlichen Geschichtsbücher, also von Moses bis Esther sowie Hiob, der Südflügel zunächst von den Hauptpoeten David und Salomo (Pyra hält hier die Reihenfolge der alttestamentlichen Schriften genau ein) und dann die Reihe der Propheten von Jesaja bis Maleachi. Der Westflügel ist den neutestamentlichen Evangelisten vorbehalten, der Nordflügel schließlich den Aposteln. Interessant daran ist, daß hier nicht mehr nur einzelne Bücher wie die Psalmen oder das Hohelied als biblische Poesie hervorgehoben werden, sondern daß die gesamte Heilige Schrift den Dichtungstempel fundiert. Das ist ein bedeutsamer Schritt auf dem im 18. Jahrhundert vollzogenen Weg zur Entdeckung der Bibel als »eines Werks der schönen Literatur« (IV Gutzen 1972, S. 23). Das >Buch der Buchen wird bei Pyra dadurch zwar noch nicht zu einem weltlichen BuchTempelDes Thirsis Vereinigung mit Dämon und Doris den Himmel zu besingenHimmel auf Erdem. - Es ist gewiß auch dem Blick auf Horaz und der Gattungskonvention zuzuschreiben und bleibt doch erstaunlich genug, daß die beiden immerhin pietistisch geprägten Theologen Pyra und Lange in ihrer »heiligen Poesie« die zentralen Inhalte der christlichen Religion oder der pietistischen »Gottseligkeit« kaum oder nur sehr allgemein und in bemerkenswerter Vermischung mit säkularer philosophisch-ethischer Begrifflichkeit thematisieren (die folgenden Strophen 2—4 aus Lied 17 >Damons Empfindungen, als er mit der Doris den Thirsis zu besuchen geht< enthalten
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überhaupt die einzige und überdies nur indirekte Erwähnung Christi in der Sammlung): »Dich, Gottheit, ehr ich mit ehrfürchtgem Schweigen, Du die der Rache feuerrothes Blitzen Mit eigenem unschuldgen Blut gelöschet; Dieß sing ich einst dort. Hier bin ich fremd, da ist mein Geist zu Hause; Doch führt die Tugend auf verwehrten Wegen Mich oft ins Heiligthum, da hol ich Labsal Für den irdschen Gram. Nebst dem lehrt mich der Dichtkunst heiige Leyer, Mit Hülf der Wahrheit tief in meinem Hertzen Die störrsche Lasterbrut zu fesseln, und der Tugend Würdige Lieder.« (TDFL, S. 47)
Mit signalhafter Prägnanz werden hier allgemeinchristliche, pietistische und aufklärerische Begriffe und Vorstellungen ineinandergeblendet: das Sühn-Opfer der »Gottheit«, der >barocke< Diesseits-Jenseits-Gegensatz, der vorwegnehmende pietistisch-mystische Genuß des »Heiligthums« »tief in meinem Hertzen«, der aber nicht durch die »Wiedergeburt« und die Einhaltung der biblischen Gebote im Gnadenstand, sondern durch die - auch im Sinne der Aufklärung zu verstehende - »Tugend« ermöglicht wird; wiederum entspricht es pietistischem und aufklärerischem (aber nicht orthodoxem) Selbstverständnis, daß der Mensch mithilfe der Wahrheit in seinem Herzen auch Herr über seine Laster zu sein, daß er aus Bekehrung bzw. Einsicht sündlos (vgl. dazu auch Bd. V/l, S. 57ff.) bzw. tugendhaft zu leben vermag, und die »heiige Leyer« »lehrt« dies (zur aufklärerischen Lehrdichtung vgl. Bd. V/2, S. 24ff., 32ff. u. ö.). Offensichtlich strebt Lange hier bereits eine >neologische< Synthetisierung insbesondere pietistischer und aufklärerischer Vorstellungen an, wie sie auch seine >Horatzischen Oden< und die von ihm und Meier edierten Moralischen Wochenschriften propagieren sollten - mit der Folge einer unübersehbaren Nivellierung dieser Positionen (vgl. Kap. I 3 h). 2) Solcher Säkularisierung insbesondere des pietistischen Gedankenguts entspricht die Tendenz zur Sakralisierung der eigenen Lebenswelt. Selbst da, wo die freundschaftlichen Lieder< ein einziges Mal, nämlich in Pyras Lied Nr. 13, schon im Titel das eigentliche Ziel »heiliger Poesie« wie aller geistlichen Lyrik benennen, nämlich >den Himmel zu besingem, bietet dieses Thema nur die >Gelegenheit»heilige< Dichtung, >heilige< Freundschaft, >heilige< Liebe, >heiliges< Vaterland, >heilige< Wehmut, >heilige< Stille, >heilige< Dunkelheit werden zu geläufigen Vokabeln« (III Kaiser 1979, S. 37; vgl. dazu auch die Wortlisten in III J. Richter, S. 69ff.). - Kein Wunder, daß Lange angesichts solcher Feier der »heiligsten Tage« seiner Laublinger Existenz aus Pyras Feder »den göttlichen Klang« zu hören vermeint (in Nr. 17, TDFL, S. 47), während das göttliche »Wort«, die Bibel, in diesen Liedern verstummt. e) »Freundschaft« als Glücks-Erlebnis und Hiobs-Last Als Medien der Kommunikation dienen die Gedichte insbesondere der Entwicklung und Pflege der Freundschaft; in der Textfolge gewinnen die emotionalen Beziehungen der Freunde - nicht zuletzt durch die Erfahrung der Trennungen - eine Intensivierung, Differenzierung und Individualisierung, und dadurch entwickeln bereits einige der späteren Gedichte typische Merkmale der Erlebnislyrik. 1) Im Gegensatz zur älteren Forschung (vgl. III Rasch, S. 36ff., 42ff.) bleibt in der jüngsten (vgl. III Mauser/Becker-Cantarino; Meyer-Krentler 1984, S. 23ff.; 1991, S. 4f.) unbeachtet, daß Freundschaft nicht nur als literarisches Motiv, sondern auch als bedeutsame Lebensform vor allem des 18. Jahrhunderts in der pietistischen Frömmigkeit eine ihrer Wurzeln hat, nämlich als Gesinnungs-Freundschaft in der »geistlichen Sympathie und geheimen regung« zwischen denen, in welchen »Gott selbs« »ist und wohnet« (II Spener NG, S. 646f.; vgl. Bd. V/l, S. 61f.) sowie als indivi-
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I. Pietismus und Empfindsamkeit
duell-affektive Herzens-Freundschaft nach dem auch in Herrnhut gepflegten Modell des ständigen »Umgangs mit Jesus« (vgl. Kap. I l d; vgl. auch III Mittner, S. 97ff.). Gewiß haben Pyra und Lange schon in ihrer Schulzeit die antike Freundschafts-Tradition, den »literarius cultus amicitiae« und im Zusammenhang damit auch Gedichte als »documenta amicitiae« kennengelernt, und gewiß sind sie auch von daher »ohne Horaz« »nicht zu denken« (III Barner 1991, S. 28,31; vgl. dazu auch 11.43 Schmidt 1996, S. 268ff.), gleichwohl ist diese antike Tradition (vgl. dazu auch III Meyer-Krentier 1984, S. 21 ff.) bei ihnen so vollkommen mit pietistischem >Geist< erfüllt und damit in die Intensität einer gleichberechtigten individuell-personalen Beziehung transformiert, daß selbst Rolle und Funktion des Maecenas, die Lange doch faktisch gegenüber Pyra ausübte, keinen Eingang in die freundschaftlichen Lieder< findet. Emphatisch verkündet Lange bereits in dem der zweiten Auflage vorangestellten Widmungsgedicht an Georg Friedrich Meier als Programm des von der himmlischen »Begeisterung« ergriffenen Dichters: »Sein gantzes Hertz, voll der Gottheit, eilet den Menschen, / Die göttliche Kunst, durch Freundschaft glücklich zu werden / Zu lehren« (TDFL, S. 3). Und in der von Lange und Meier 1748-1750 in sechs Teilen edierten Moralischen Wochenschrift >Der Gesellige< heißt es, die Freundschaft sei - gleichsam als konzentrierteste und reinste Form der Geselligkeit - »der Mittelpunkt aller nur ersinlichen zeitlichen Gluckseligkeit, und die mit der Zeit in die Ewigkeit gehet. . . . sie wurde, wenn sie allgemeiner wäre, die Erde zum Himmel machen, dessen Vorschmack sie ist« (II Lange/Meier G I, S. 395f.). Zeitlebens hat denn auch Lange in solchen Freundschaften gelebt, und nicht zufällig entwickelt sich die poetische Gestaltung gerade dieses Motivs aus traditionalen Verkleidungen hin zu unverstelltem autobiographischem Bekenntnis, das sich vor allem in zwei Gedichten aus Pyras Feder ausspricht (Nr. 16 >Des Thirsis Ruhe in Dämons Freundschaft und Nr. 18 >Des Thirsis Empfindungen, da er ihnen entgegen gehtWortschatz des Pietismus< für die »unio mystica«, für das Erlebnis des Wiedergeborenen im Umgang mit dem Numinosen (vgl. Bd. V/l, S. 129ff., 136ff.; Kap. I 2 d; III Langen, S. 107ff.). Hier aber wird das für die pietistische Frömmigkeit schlechthin entscheidende sakrale Ereignis auf den irdischen Freund übertragen, so daß »das Erlebnis der Freundschaft geradezu an die Stelle des religiösen Erlebnisses getreten ist, in der gleichen Tiefe verankert und mit gleicher Intensität das Dasein erfüllend wie jenes« (III Rasch, S. 162; vgl. dazu auch Kap. I 2 d-5)). So ist an diesen Gedichten ablesbar, was Gerhard Kaiser als epochale Entwicklung beschreibt: »In dem Maße, wie im aufklärerischen 18. Jahrhundert die religiöse Energie dieses sogenannten Pietismus verblaßt, wird aus der persönlichen Gotteserfahrung eine Erfahrung der Persönlichkeit und aus dem Gefühlsgenuß der Nähe Gottes der Genuß des Gefühls.« (IV I 1988, S. 43f.) Im Zusammenhang damit wird die Freundschaftsbeziehung als exklusiv, einmalig und einzigartig erfaßt (»Du . . . Für mich allein bestimmter Freund«; vgl. dazu auch 11.73/52 Dohm, S. 94ff.), die Individualität des Freundes als Wert und die Kommunikation mit ihm dadurch als Glücks-Erlebnis begriffen, in dem sich zugleich die eigene Individualität formt und spiegelt (die folgende Strophe von Lange aus Nr. 17): »Ich höre lauschend auf der Lieder Innhalt, Die Zärtlichkeit rührt meine Brust. Ich fühle Mich selbst. Die Sehnsucht zittert in den Saiten. Du denckest an mich!« (TDFL, S. 48)
Als Medien der >Empfindungen< und Gefühle (»Ich fühle / Mich selbst«) sprechen die Gedichte ununterscheidbar zu der pietistischen Sprache
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I. Pietismus und Empfindsamkeit
auch - wie Tersteegen (vgl. Kap. I 2 d) - in der »sanften« Affektlage und dem »zärtlichen« Wortschatz der Empfindsamkeit. Und wie bei Arnold (vgl. dessen »Der himmel herbergt mich / So hoch bin ich!« Bd. V/l, S. 140) und wiederum bei Tersteegen (vgl. Kap. I 2 d) führt die Spiegelung im Seelen-Freund (dort Christus, hier Pyra) zur Aufwertung, ja sogar zur narzistisch genossenen Sakralisierung des Ich, dessen Zentrum sich vorn Kopf in die »Brust« verlagert hat: So wie sich Narziß beim Blick in die Quelle für die eigene Schönheit begeistert und alles liebt, was ihn selbst auszeichnet (»Und er bewundert alles, worum er selbst zu bewundern«; II Ovid III, 424, S. 91), so fühlen - und lieben - Pyra und Lange im idealen Spiegelbild des Freundes auch sich selbst, und die »Eintönigkeit«, die weitgehend weit-lose, aber gefühlvolle Wiederholungsstruktur der Bild- und Motivwelt entspringt - wie in Gellerts Roman >Leben der schwedischen Gräfin von G + < und Sophie von La Roches >Geschichte des Fräuleins von Sternheim< - »der narzistischen Bedürftigkeit nach Situationen der Selbstbestätigung« (11.53 Ehrich-Haefeli, S. 130; vgl. ebda., S. 114). 2) So verschafft sich auch Pyra in Lied Nr. 18 mit seinen Empfindungen, da er ihnen entgegen gehtx in vorausimaginierender Erwartung als Zeichen unverhüllter Wunscherfüllung bereits das Erlebnis der Gemeinschaft - und ermöglicht zugleich dem Freund die erinnernde Teilhabe im Nachvollzug des Gedichts. Dieses versucht durchaus, die Empfindungen der Sehnsucht, Vorfreude, Ungeduld und Enttäuschung nicht nur zu beschreiben, sondern ihnen in einer mit Interjektionen, Anaphern, direkten Fragen und Ausrufen emphatisch gesteigerten Sprache unmittelbar Ausdruck zu geben (Str. 4): »O Freund, wer giebt dich meinem Arm? Was hält, was hält dich auf? was, bist du noch nicht da? O Zeit! warum verweigerst du so lange Der Brust den Trost, dem Wunsche die Vergnügung? Mein Auge weicht nicht von der Höh, Wovon der krumme Weg sich zu uns niederdrehet. Nun, nunmehr kommen sie hervor. Ach! nicht mein Dämon, meine Doris.« (TDFL, S. 49)
Das Äußere des Ich, der körperliche Gestus, wird zum physiognomischen Index der Psyche, konkrete Augenblicks- und Ortsmerkmale (der »rieselnde und schmahle Schmerlenbach«, Str. 5) konturieren die Besonderheit dieser Situation (Str. 6):
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»Dann steh ich einsam auf der Höhe Bey gantzen Stunden still, voll sehnlicher Begier; Der Wind pfeift mir durch die zerstöhrten Haare, Doch irrt mein Blick durch alle Weg und Felder Und über Thürm und Berge hin. Oft waffn ich auch die allzublöden Augen; Doch Dämon, Doris, kommen nicht; Und Abends kehr ich traurig wieder.« (Ebda.)
Sogar die Natur (der Wind, die leere Landschaft, nachfolgend eine »Lerche«) werden zum Resonanzraum und Spiegel der Seele. Gewiß, das 13 Strophen lange Gedicht hält diese Erlebnis- und Gestaltungsperspektive nicht durch: Es fällt in Beschreibung und Reflexion zurück - vor allem reflektiert Pyra seine Beziehung zu Doris (dazu später) -, und das Gedicht schafft sich noch keine eigene - äußere und innere - Form, durch die erst das Erlebnis den Charakter unverwechselbar gestalteter Einzigkeit erhielte. Und doch erschafft und konturiert es bereits ein Erlebnis, das nur in ihm als Poesie existiert, das insofern erdichtet und doch zugleich mit- und nacherlebbar ist und damit in seiner Rezeptionsgeschichte realer Bestandteil kultureller Kommunikation werden kann (vgl. dazu IV Kaiser I 1988, S. 68ff.): »Ich warte alle Tage auf Sie«, berichtet z. B. Ewald Christian von Kleist seinem Lieblingsfreund Johann Wilhelm Ludwig Gleim, »und gehe Ihnen, wenn Posttag ist, entgegen wie Pyra Langen und kehre auch so wieder zurück.« (Zit. in III Rasch, S. 172) 3) Je mehr sich indessen das Individuum durch eine innerweltliche Beziehung selbst konstituiert und in ihr lebt, desto stärker wird es auch durch äußere oder innere Störungen des Verhältnisses bedroht. Diese Gefährdungen schreiben sich in den freundschaftlichen Liedern< aber auch da ein, wo sich die Freunde - wie schon im Titel des folgenden Gedichts Nr. 16 >Des Thirsis Ruhe in Dämons Freunschaft< - gerade der Sicherheit ihrer Beziehung vergewissern: »Schätzbarste Stütze meines Wohls, Mitleidender Gefehrt, trostreichster, liebster Zeuge Der stillen Sorgen banger Tage, Du unbestechlicher Bewahrer meiner Treu, Und der, in deinem edlen Busen Ernährten, ewgen Gluth der Redlichkeit. Ach Freund, ach Dämon, laß mein Hertz In deinem mir stets ofnen Hertzen Die Freystatt für den Kummer suchen. Ja, ja du öfnest deinen Arm! Ich flieh ins Heiligthum von deinem ofnen Hertzen.
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I. Pietismus und Empfindsamkeit
Hier leg ich meine Lasten nieder, Und mein beklemmter Geist erholt sich, schöpfet Luft. O welch ein Einfluß süsses Trostes! O welche Linderung, o welch ein Meer voll Lust Ergiesset sich in meine Brust! O glückliche, o hohe Stärckung! O theure Freundschaft sey gesegnet! Ja, Freund, sonst find ich nirgends Ruh, Als nur in Dämons Brust, und dort in Gottes Himmel, Gestärckt durch mein und deine Tugend.« (TDFL, S. 44f.)
»An einer solchen Stelle«, erklärt Rasch mit Recht (III, S. 162 ), »wird klar, was >Säkularisierung< bedeutet. Den gewissesten Trost von absoluter Gültigkeit findet Pyra nicht mehr in der Kirche wie der strenggläubige Christ, nicht mehr in der persönlichen Nähe und unmittelbaren Beziehung zu Christus wie der Pietist, sondern im Herzen des befreundeten Menschen. Dies ist das Heiligtum, die Freistatt, die sicherste Zuflucht und vollkommene Ruhe gewährt, vergleichbar nur der Ruhe im Jenseits.« Die Sicherheit und Stabilität, die ein liebender Gott dem Wiedergeborenen gewährt, wird hier exklusiv im Herzen des Freundes verankert (wobei sich das »dort« in der vorletzten Zeile doppeldeutig auf dieses Herz als »Gottes Himmel« und auf das Jenseits beziehen kann), und immer wieder wird - auch in den anderen Gedichten - die Festigkeit, Verläßlichkeit, das aus Vertraulichkeit erwachsende Vertrauen (zu diesem für die Freundschaft wichtigen Begriff vgl. auch III Mauser 1990, S. 16ff.; 1991a, S. 221ff.) geradezu beschworen und im selben Atemzug in seiner irdischen Begrenztheit und Fragilität markiert, wie in der folgenden Strophe aus Langes Feder (Nr. 14 >Damon ladet seinen Thirsis zu sich einDes Thirsis TreueBremer Beiträgern< begegnet (vgl. Kap. II 3 u. 4). f)
Die ideale Frau und die moderne Familie (Dorothea Lange)
1) Die Tugend der Freundschaft war in der Laublinger Konstellation besonders gefordert; denn hier trafen die beiden historisch neuen Sozialformen des 18. Jahrhunderts aufeinander: die Freundschaft und die Kleinfamilie (ohne Information hierüber ist deshalb die Komposition der Liedersammlung nicht angemessen zu verstehen). Diese neue bürgerliche
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>KernfamilieHoratzischen OdenAn Doris< deren Bedeutung für ihn besungen (HO, S. 123-138). Das intendiert Vorbildliche dieses Bildes (»Und der Ruhm von unsrer schonen Eh, / Reize alle, die einst lieben, an / Sich auf unsre Art zu lieben«; ebda., S. 138) berechtigt dazu, an der Ode auch das für die Epoche Neue und Repräsentative abzulesen. 2) »Wohl den stärksten Bruch mit der alten Familienordnung stellte in der bürgerlichen Familie das Postulat der Liebe als des einzig legitimen Grunds der Partnerwahl dar« (III van Dülmen I, S. 236f.; vgl. auch II Rousseau, S. 437ff., 472ff.). Das ausschließliche Füreinanderbestimmtsein zweier Individuen begründet der Theologe Lange deshalb auch besonders ausführlich mit dem Glauben an die göttliche Prädestination: Gott habe seine Frau und ihn schon »in dem Schoß der Ewigkeiten« füreinander bestimmt: »Und ich ward.. . Nur für Dich zur Welt geboren. .. . Gott, Natur und eine weise Zucht, / Haben Dich für mich bereitet« (ebda., S. 125). Es ist interessant im Blick auf Pietismus und Empfindsamkeit, wie hier der (calvinistisch-strenge) Gott der Prädestination (vgl. dazu Bd. II, S. 281 ff. u. ö.) zum Gründungsvater der modernen Liebes-Ehe avanciert, wobei gerade das beibehaltene Deterministische des Begriffs der Partnerschaft die Würde (und Bürde!) schicksalhafter, lebenslanger Unausweichlichkeit verleiht. Doris, so Lange, habe ihn zunächst »aus Tugend« liebgewonnen, »eh sie / Ihrer Reizung Stärke wüste«
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(HO, S. 130), ihn dann aber auch die sinnlichen Seiten der Liebe »gelehret«: »Sie erlaubte liebreich keusch erröthend Weigernd willig, mir die ersten Kusse. Du (= die Liebe) machst auch, daß sie mich noch so liebt, Und daß sie mich noch so zärtlich küßt, Als da sie sich selbst mir schenkte. Du machst auch, daß ihre reinen Blicke, Mir noch jetzt das innre so durchdringen, Als da sie zum allererstem^) mal Mich entzuckt, und was die Liebe sey, Mich, gern lernenden, gelehret.« (Ebda.)
In dieser »zärtlichen« Liebe ist also nicht mehr der Mann wie bisher (vgl. dazu Bd. IV) der Draufgänger und Verführer, sondern er lernt die Liebe von einer sich hingebenden Frau, und zwar »gern«: Ganz unpietistisch und eher anakreontisch wird hier der Genuß sinnlicher »Entzückung« als unschuldiges Vergnügen und Glückserfüllung entschuldigt. Dies auch in den freundschaftlichen Liedernc »Und ausser mir empfind ich Doris Liebe. Die ihren Arm um meinen Nacken schlinget, Mich küssend faßt, in erster Unschuld lachet, Wie die heitre Luft.« (TDFL, S. 47)
»Unsere Ehe selbst war nichts als Liebe und unser Leben nichts als Vergnügen«, bekennt auch Gellerts schwedische Gräfm< (II LSG, S. 19) und betont, in der Liebe gehöre »der Körper so gut als die Seele zu unserer Natur«, und - dieses Problem der Liebesehe beantwortet auch Lange nach 10 Ehejahren in den zitierten Strophen - »wenn nur auf beiden Seiten eine gegründete Liebe vorhanden ist, so kann sie bis in die spätesten Jahre feurig und lebhaft bleiben.« (Ebda., S. 38) Ausführlich widmet sich Lange sodann der ehelichen »Durchdringung von sinnlichen und geistigen Interessen« (III van Dülmen I, S. 237), insbesondere der psychischen Verbundenheit der Partner. Mit dem Eingeständnis, daß »ich in Dir nur lebe«, charakterisiert er zunächst Ehe und Familie als den neuen, exklusiven, gegenüber der Gesellschaft abgegrenzten Ort der Selbstverwirklichung, die eine Verinnerlichung und Emotionalisierung der Beziehung einschließt: »Liebreich forschend suchen Deine Augen, Die mein ganzes innre leicht durchdringen, Ob in meines Herzensgrunde nicht
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Irgendwo ein Gram verborgen sey, Den ich zärtlich Dir verhele.« (HO, S. 131)
Wenn Lange Doris ein stets heiteres und offenes Gemüt attestiert, dann »folgt« er auch hier dem Zeitgeist, denn für die Frau der Empfindsamkeit sind die sanften, hingebungsvollen und optimistischen Affekte bestimmt, und sie hat möglichst - ganz auf den Mann und seine Bedürfnisse fixiert ausgleichend und einfühlsam um seine gute Stimmung besorgt zu sein (vgl. dazu 11.53 Ehrich-Haefeli, S 81 f.): »Immer frolich, treu, und offenherzig, Kennest Du kein reineres Vergnügen, Als wenn Du, was widriges vor mich, Wenn Du es auch stärker fühlen sollst, Mich zu schonen kanst verbergen.« (HO, S. 131)
Dieses neue >Ideal< der bürgerlichen Haus-Frau faßt Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) in dem der »Erziehung der Frau« gewidmeten fünften Buch des >Emile< wie folgt zusammen: »Die ganze Erziehung der Frau muß daher auf die Männer Bezug nehmen. Ihnen gefallen und nützlich sein, ihnen Hebens- und achtenswert sein, sie in der Jugend erziehen und im Alter umsorgen, sie beraten, trösten und ihnen das Leben angenehm machen und versüßen: das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, das müssen sie von ihrer Kindheit an lernen.« (II Rousseau, S. 394)
3) Dann rühmt Lange Doris als Mutter. Der Entwicklung zur Kleinfamilie entsprechend fällt vor allem ihr die Aufgabe der Kindererziehung - hier des einzigen Sohnes - zu, und die formelhaften Verse lassen nicht entfernt erahnen, welche Folgen sich aus der »zärtlichstarken« MutterKind- (und insbesondere Mutter-Sohn-)Beziehung in der modernen bürgerlichen Familie ergeben sollten (vgl. dazu IV Kaiser I 1988, S. 46ff.): »Du erziehst in unsern einzgen Hylas, Unsers müden Alters starke Stutze; Diese Frucht der allerbesten Eh, Liebst Du zärtlichstark, doch mit Vernunft, Du erziehst ihn ohn verzärtlen.« (HO, S. 133)
Damit trifft Lange wiederum genau das Erziehungsideal der Zeit: »Das Kind sollte zwar liebevoll und streng zugleich erzogen werden, aber zu starke emotionale Zuwendungen sollten ebenso unterbleiben wie körperliche Bestrafungen« (III van Dülmen I, S. 236).
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4) Den Höhepunkt des Gedichts erreicht Lange schließlich, indem er die Ehegeliebte und Mutter noch zur Muse verklärt. Die ausschließliche Liebe zu ihrem Gatten habe sie auch zu dieser Rolle »bemeistert«(!): »Ohne Vorwurf eines bessern Glöckes, Setzest Du Dein ganzes Gluck allein, Nur in meine Gegenliebe. Diese hat sich Deiner so bemeistert, Daß sie Dich die schone Kunst der Musen, Auf die allerleichtste Art gelehrt.« (HO, S. 135)
Nach Kinderaufzucht und »intimer Kommunikation zur gemeinsamen Bildung« betont Lange hiermit auch die »Pflege geistig-literarischer Interessen, die konkret zum einigenden Band« der bürgerlichen Ehe wurden und die Frau für den Verlust an Wirklichkeitserfahrung außerhalb des Hauses entschädigen sollten (III van Dülmen I, S. 232). Im konkreten Fall konnte Doris zugleich - das war Lange besonders wichtig - die Rolle der Muse in seinem großen Freundeskreis spielen. Am Schluß seiner für Klopstocks Freundschaftsgedichte wegweisenden Ode >Die Freunde< (HO, S. 142-150; vgl. dazu Kap. II 3 b c) spricht er seiner Frau als >geselliger< Freundin den höchsten Wert zu: »O Doris, die der Vater der Menschen, Viel stärker durch die Triebe der Freundschaft, Als durch das Band des Hymen verbunden, Komm, Freundin, sprich mit laechelndem Munde, Und mit dem mich entzueckendem(l) Ton, Mit mir von jedem redlichen Freund.« (HO, S. 150)
Tatsächlich wurde Dorothea Lange nicht nur - wie ansonsten die (seltene) Regel - »in den freundschaftlichen Verkehr der Männer« »einbezogen« (III Meyer-Krentler 1991, S. 19), sondern als Dichterin akzeptiert und immer wieder zum Schreiben aufgefordert. Bodmer z. B. hoffte sogar, »die deutsche Anacreon« (so Gleim in II Lange SB I, S. 71) werde die >Gottschedin< »demuthigen«: »Es wird dem guten Geschmacke sehr zum Vortheile gereichen, wenn wir der unächten Muse des Blocksberges eine ächte des Parnasses entgegen setzen.« (Ebda. II, S. 51) Auch Sulzer ermähnte sie eindringlich, sich im Dichten fortzubilden und an seiner geplanten Wochenschrift >Der Mädchenfreund< zu beteiligen (ebda. I, S. 291, 294, 299f.). Sie gehörte auch zum Redaktionskollegium der von Lange und Meier herausgegebenen Wochenschrift >Der Gesellige^ die besonders um Beiträge von Frauen warb - diesen sollte bezeichnender-
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weise der Bereich des »Schönen« überlassen werden, während Doris immerhin »zu erhabenen Dingen aufgelegt« sei (II Lange/Meier G I, S. 13, 49ff., 54). In diesem nun auch von aufklärerischem Interesse an der Bildung der Frau (ein Standardthema des >GeselligenGeschlechtscharaktere< (vgl. III Hausen) interessierten Freundeskreis (vgl. II Lange/Meier GI, S. 129ff.; II, S. 537ff., 609ff. u. ö.) wagte Doris tatsächlich einige Ausflüge in die Poesie (»Mich selbst vergessend folg ich, himlische Dichtkunst, / Verwegen dir nach«; II A. D. Lange, S. 161), und Lange nahm zwei ihrer Gedichte in die freundschaftlichen Lieder< (Nr. 7 >Doris auf Dämons Namensfest< und Nr. 21 >Doris Andencken an den seligen ThirsisHoratzischen Oden< auf (II Lange HO, S. 159-174). Wenn es in ihrer Charakterisierung durch den >Geselligen< (II Lange/Meier I, S. 54) u. a. heißt: »Sie dichtet, aber nur männliche Gedichte« (ebda., S. 55), dann bestätigt sich dies nicht nur im Stil, sondern auch thematisch mit ihrer Klage darüber, nur eine Frau zu sein, womit sie ihrem Gelegenheitsgedicht auf Friedrich II. (>Friedrichs Zurückkunft in sein LandWertherDer Muse Freude über Dämons Wiederkunft*; TDFL, S. 20f.) entstammt der Zeit enger, festgefügter Zweisamkeit von Pyra und Lange. Ersterer feiert hier des letzteren Rückkehr aus Berlin in doppelter weiblicher Verkleidung. Der traditionelle Musenanruf wird unversehens zur Imagination einer sinnlich-empfindsam gestalteten Wiedersehensszene, in der Thirsis in die Rolle der Clio schlüpft, die »sich vor Lust kaum weiß zu lassen«, um solchermaßen verstellt - seinen Freund »unverstellt« zu »liebkosen«: »Liebkose dein und meinen Freund / Mit unverstelltem frohen Schmei-
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cheln, / Und zeug ihm, was vor Lust in Brust und Adern wallt, / Da du sein Angesicht nun wiederum erblickest.« (Ebda., S. 20) Nicht genug damit zitiert Thirsis (in Strophe 3) auch noch die Schäferin Galatee herbei, um in ihrer Rolle das Wiedersehen mit seinem Dämon als erotische Szene zu genießen: »So freudig ist die treue Galatee, Wenn sie von ferne sieht, aus fremder Luft Den liebsten Schäfer wieder kommen. Sie ruft und eilet ihm mit offnen(!) Arm entgegen, Und schlägt ihr fliegend Haar zurück, Und wenn sie ihn erreichet hat, Umfängt sie ihn und küßt und streichelt Mund und Wangen, Und straft ihn oft, daß er so lange ausgeblieben.« (Ebda.)
Es ist müßig zu spekulieren, ob bei Pyra (verdrängte) homoerotische Neigungen im Spiele waren. Einerseits hat gerade die Empfindsamkeit mit der Lebensform der Freundschaft und der Intimisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen ein kulturelles Klima geschaffen, in dem homoerotische Neigungen geweckt und wenigstens in >platonischer< Form gelebt werden konnten, andererseits war ein offenes oder gar öffentliches Bekenntnis zur Homosexualität - selbst als Übersetzung oder Zitat in der Horaz-Nachfolge (vgl. Kap. I 3 b) - undenkbar (vgl. dazu auch III Derks, S. l Off.). Immerhin aber bildeten Pyra und Lange ein »Paar«, in dem Lange als der (vier Jahre ältere) Ernährer die >männliche< und der bis zuletzt unversorgte und hilfsbedürftige Pyra die >weibliche< Rolle übernahmen (und entsprechend spielt Dämon in den Liedern die »scharffe Flöt«, Thirsis dagegen meist die Laute oder Leier; TDFL, S. 20, 35 u. ö.). 2) Mit dem schon im Titel verräterischen Lied Nr. 5 >Des Thirsis Empfindungen bey Damons Hochzeitslust< (ebda., S. 21ff.) bricht nun Doris in diese Zweierbeziehung ein, und damit steht eine Klärung der Beziehungen an. Zunächst ist die Jüngste im Bunde (sechs Jahre jünger als Lange) »das Kind« (»dein holdes Kind«, so Thirsis; »Mein Kind, mein Hertz!« So Dämon in Nr. 5). Damit entsprechen sie ganz dem aus Soziologie und Psychologie bekannten Modell der Dreier-Gruppe, welche »die ursprüngliche Familiensituation Vater-Mutter-Kind zum Grundmuster hat« (11.63 v. Graevenitz, S. 91). Doch damit beginnen erst die Komplikationen. Selbst Dämon als der Führer und »Vater« der Gruppe bleibt davon nicht unberührt. Zwar erscheint er als der glücklichste im Bunde typisch dafür, daß er außer dem Eingangslied (Nr. 2; vgl. Kap.I 3 c) erst
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in dem in der Mitte der Sammlung plazierten Lied Nr. 12 >Damons Zufriedenheit mit dem Himmel, der Dichtkunst, dem Thirsis und der Doris< mit einem eigenen Gedicht (TDFL, S. 36ff.) zu Wort kommt, während zuvor nur Thirsis und Doris ihren Empfindungen Ausdruck verleihen -, indessen schwankt Dämon doch in der Privilegierung seiner emotionalen Bindung zu Doris und Thiris, den er - nach dem Modell des »ganzen Hauses« - auch nach der Heirat immer wieder für längere Zeit in die Hausgemeinschaft aufnimmt. Als Doris Mutter wird und dadurch eine neue - ideale - Familien-Dreier-Gruppe entsteht, sucht sich Dämon emotional neu auf seine Frau einzustellen (ein weiteres Beispiel für die Sensibilisierung der Beziehungen in der modernen Familie): Er werde sie »als Mutter« »aufs neue lieben können, / Weil ich als meinen Schatz sie nicht mehr lieben kan« (ebda., S. 29). In Lied Nr. 12 ist Thirsis für ihn der »nach Gott und Doris, höchst Geliebte« (ebda., S. 38), doch der Titel des Liedes kehrt diese Zuneigungs-Rangfolge um. Darin spiegeln sich unterschiedliche Wertmaßstäbe: die reine Gefühlsbindung auf der einen, Wert und Würde einer geistig-seelischen Beziehung auf der anderen Seite. Durch diese Differenzierung vermag Dämon den Hausfreund als Bruder ganz in die Familie zu integrieren. »Du Thiris, oder besser, andrer Dämon«, singt Lange schließlich (ebda., S. 47), - ein Narziß vermag sich nur in seinem Geschlecht zu spiegeln. Damit ist auch von Dämons Seite der >reinen< anspruchsvolleren und deshalb geistig befriedigenderen Beziehung zum Freund der höhere und deshalb auch - wie gesehen - sakralisierbare Wert beigemessen. Die Liebe zu Doris behält unter dem Vorzeichen der Tugend ihr sinnlich-emotionales Recht, der Seele Dämons aber kann sich Doris nie ganz sicher sein, sondern muß sie mit Thirsis >geschwisterlich< - und doch konkurrierend - teilen. 3) Dies Beziehungsproblem zwischen Thirsis und Doris bestimmt Inhalt und Abfolge der Lieder 5 bis 11. Zwar bestätigt Thirsis am Ende: »Wir lebten, wie Geschwister thun« (ebda., S. 51). Doch dieser Verweis auf die reinste Form der Liebesbeziehung in der bürgerlichen Familiengeschichte, deren Bruch im Inzest daher auch als die perverseste gilt (vgl. III Braun, S. 85ff.), erfolgt - wie wir sehen werden - im Kontext eines Bekenntnisses, daß es nicht von Anfang an so rein war. Pyras Lieder zeigen Spuren einer >WertheriadeHochzeitslust< als Freund hintangesetzt oder gar ersetzt zu werden. Seine Eifersucht auf Doris wird auch dadurch deutlich, daß er das »Kind« - nun gleichsam die Fleisch gewordene »Galatee« - genau jene Umarmungsszene spielen läßt, die er selbst im Lied zuvor als Muse und Galatee mit dem Freund spielte:
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»Mein Geist entreißt sich, dich von weiten Voll Sehnsucht immer zu begleiten. Mich dünckt, ich sehe dein holdes Kind, Ich seh, wie sie mit süssen Blicken Ich seh, wie sie dich mit entzücken Mit ihren weissen Armen bindt.« (TDFL, S. 21)
Diese Einbindung Dämons durch Doris zu durchbrechen und in diesem Bunde der dritte zu sein, ist die unverhohlene Absicht dieses poetischen Begrüßungsschreibens, das mehr und mehr den Charakter einer - durchaus doppelbödigen - Braut-Werbung durch Thirsis gewinnt: Dämon soll Doris erzählen, »wie wir uns redlich lieben, / Und oft vereint im Singen üben. .. . Vielleicht wird sie mir darum gut.« (Ebda., S. 21) Mit der Rolle des Gesangs aber introduziert Pyra nun geschickt das Motiv der Rivalität um die Gunst der Doris. Beide werden darum wetteifern, ihre »holden Tugenden« zu erhöhen: »Und, o wie werd ich voller Feuer Wohl bald an ihr, mit meiner Leyer Die holden Tugenden erhöhn; Doch nein, es werden deine Saiten Ihr ein weit schöner Lob bereiten, Und mit ihr zu den Sternen gehn.« (Ebda.)
Die topischen Elemente des Sängerwettstreits, die sich in den folgenden beiden Strophen noch mit Anspielungen auf Horaz und die bukolische Tradition verbinden, sollen die Pointe des Gedichts objektivieren: »Wie glücklich sind der Nymphen Sinnen, / Die einen Dichter lieb gewinnen!« (Ebda.) Das kann sich - und soll sich wohl - auf Thirsis und Dämon beziehen, fortan singen beide um ihre Gunst (und daß Thirsis im Grunde der begabtere Sänger war, hat zumindest Dämon nie geleugnet). Lied Nr. 6 >Amalia, der Doris Schwesten ist ein unbedeutendes traditionelles bukolisches Liedchen aus Thirsis' Feder, aber es zeigt: Thirsis hat Doris kennengelernt und macht ihr den Hof, indem er deren Schwester preist: eben als vollkommenes Ebenbild von Doris (ebda., S. 23f.). Am Schluß der Liedersammlung bekennt Thirsis auch offen, sich in Doris verliebt zu haben, also erst, als er diese Neigung nach bewährtem tugendempfindsamem Muster zur Seelenfreundschaft sublimiert hat und seinem Verhalten somit als Tugendleistung - und Vorbild für alle >Werther< nach ihm - ein literarisches Denkmal setzen kann (aus dem >Erlebnisgedichtx Nr. 18):
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»Ich müßt euch sehn, dich und die Doris, Die Doris, gegen die mein Hertz ein Feuer nährt, Das in der stärcksten Loh doch keinen Dampf erzeuget, Und die mir selbst das Zeugniß soll ertheilen: Ja Thirsis war ein edler Freund, Der mich, so sehr, so zärtlich er mich ehrte, Nie, wie Tibull des Freundes Weib, Durch ein verwehrtes Wort beschämte. Dieß soll, o Freund, die Nachwelt wissen, Die unsre Lieder liest. Der Jugendzunder liegt Zwar in dem Blut und Hertzen auch verborgen, Allein die Majestät von ihrer holden Tugend Bewafnet auch die meinige Durch jeden süssen Blick der ehlich reinen Lichter. Die Hydra schnaubet Glut und Dampf, Umsonst, die schwartzen Flammen fallen.« (TDFL, S. 50f.)
Noch in diesen eher andeutenden und spröden Versen schimmert durch, was der Sache epochale Signifikanz verleiht: Die weibliche Tugend ist majestätisch, aber zugleich doch auch »hold«, ihre Augen sind »ehlich rein«, aber zugleich sind ihre Blicke »süß« und gelten als »der ofnen Freundschaft Zeichen« auch dem Freunde, d. h. in der Empfindsamkeit lockern sich die Umgangsformen, der Körper als Spiegel der Seele beginnt ungezwungener, spontaner und - von der Umarmung bis zur exzessiven Mode des Küssens - emotionaler zu agieren, die Anerkennung auch der sinnlichen Bedürfnisse der Frau ermöglicht es dem Mann überhaupt erst, sich die Frau als verführbar vorzustellen - ein verbreitetes Thema in der Literatur des 18. Jahrhunderts (vgl. III Mauser 1991 a, S. 229ff.)! In solcher Atmosphäre verlangt eine in geschwisterlicher Seelen-Freundschaft gelebte Dreier-Beziehung besonderes Vertrauen, das die zärtlichen Zeichen des Umgangs nicht mißversteht, und dieses Vertrauen bekundet Thirsis gegenüber Dämon mit dem Bekenntnis dieser Strophen und stattet ihm damit zugleich Dank für dessen Vertrauen ab: »Das kan die Tugend edler Seelen. Du kanntest deinen Freund, des Mistrauns tolle Brut Bemeisterte sich nie des grossen Geistes, Du schaltest nie der ofnen Freundschaft Zeichen, Wir lebten, wie Geschwister thun. Wie froh war ich, o Freund! bey euren Küssen? Vergnügt mit eurer Freundlichkeit, O soll ich ewig mit euch leben!« (TDFL, S. 51)
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Die unmittelbar anschließende, letzte Strophe des Gedichts verweist auf das zweite, aus der Intensität der Beziehung erwachsende Problem, nämlich Thirsis' Wunsch, auf Dauer in der Familie zu leben: »Wenn GOtt mich nicht zu ändern Diensten rufte, / Und ich dir nicht zur lieben Last, / Mir selber zum Verdruß um deinetwillen würde. / Die Armuth war ein Ueberfluß, / Ich hätte gnug. GOtt, dich, und Doris.« (Ebda.) Gewiß, der Wunsch artikuliert sich aus der Gewißheit seiner Nichtrealisierbarkeit heraus. Das Berliner Amt und das Gefühl, auf Dauer eine »Last« zu sein, stehen dem entgegen, aber der Schluß besagt doch: Thirsis wäre diese Lösung am liebsten, ihm ist Dämon der wichtigste Mensch auf der Welt. 4) Gerade diese zur Bruderliebe vergeistigte, damit aber auch gesteigerte Hinneigung zu Dämon macht Thirsis zum Konkurrenten der Doris. Diese meldet sich mit einem langen Gedicht >auf Dämons Namensfest< (Nr. 7) zu Wort. Darin betont sie die leib-seelische Einheit ihrer Liebe zu Dämon (»So drücke mich an deine Brust, / Daß es bis an die Seele dringet. / Ach küsse mich, und in dem Küssen /Laß mich mein Glück noch einmal wissen«; ebda., S. 25), beschwört auffällig nachdrücklich die Unbedingtheit und Ungestörtheit ihrer Zweier-Beziehung und bebildert eine Seite lang in schreckensvollen Gemälden bis zur Vorausimagination des eigenen Todes ihre Trennungsängste (zu diesem typisch weiblichen Sozialisationsphänomen vgl. III Becker-Cantarino, S. 63). Nicht die Wüste und nicht »des Frostes Wüten, / Noch Eis und Schnee der rauhen Scythen« würde sie notfalls scheuen, um Dämon zu folgen und damit ihre Treue zu beweisen, ihm, der die Seßhaftigkeit in Person war und sein Laublingen zeitlebens nie für längere Zeit verlassen hat! Artikulieren sich da in aller Topik nicht auch die Ängste vor dem »Dritten im Bunde«, der mit keinem Wort erwähnt wird? Wenn es so ist, dann wirkt das nachfolgende Lied wie eine Bestätigung von Doris' Befürchtungen; denn >Thirsis Empfindungen, als er bei Dämon war< (Nr. 8; TDFL, S. 27ff.) ist als Wechselgesang eine Gemeinschaftsarbeit der beiden Freunde (auch Thirsis hat, so der Gedichteingang, »des nahen Winters Macht« nicht gescheut, um Dämons Nähe zu genießen), wo Doris ausgeschlossen ist, obwohl der »zärtlich-sanfte Ton« der Liebe, wie sie zuvor bekannt hat, auch ihr Herz zum Gesang »reitzend zwinget« (ebda., S. 24). Dieser Zwiegesang soll demonstrieren, daß Thirsis' Integration in die Familie gelungen ist, denn er wohnt für Monate im Haus und erlebt so auch - das ist das eigentliche Thema des Gedichts - Doris' Schwangerschaft und »Geburtsfest« mit: »Der Schertz von Dorothen«, so Pyra, »Gab beyden Freunden es halb schalckhaft zu verstehn.« Daraufhin lassen diese Doris allein »Und gingen in den Hain«, um »die Leyer gut zu
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schlagen«, dabei vertrauliche poetische Zwiesprache zu halten und die frohe Botschaft zu verarbeiten. »Wie lustig will ich doch mit dir, mein Liebster, seyn, / Wenn nun ein kleiner wird auf ihrem Schoosse schreyn«, erklärt Thirsis mitfühlend (und zugleich voll guter Hoffnung, seinen »Liebsten« dann noch mehr für sich zu haben). Dämons Antwort enthält eine der kuriosesten, weil unfreiwillig komischsten Passagen empfindsamer Literatur, deren Entstehung (und Publikation!) nur zu verstehen ist im Kontext solch vertraulicher Freundschaft, bei der sich der Wunsch nach Offenheit mit Schamgefühl paart und so zu einer Verschiebung führt. Jedenfalls erweckt die Mitteilung der Schwangerschaft in Dämon das Bedürfnis, dem Freund sein Liebesleben zu eröffnen. Und so erfährt Thirsis, daß das Paar sich liebt, indem es buchstäblich miteinander schläft: »Die Liebe ziehet uns stets immermehr zusammen, Stets spühr ich neue Gluth und doch die alten Flammen, Die Tage reichen nicht zu unsrer Liebe zu, Wir lieben uns, auch selbst unwissend in der Ruh. Bald pfleget sie die Hand im Schlaf nach mir zu strecken, Bald sucht mein matter Arm sie sorgsam zu zu decken, Jetzt streichelt tappend mich die schlaffe sanfte Hand, Bald schliesset sie mich fest in ihrer Arme Band Und wenn sie offtermals die Hand zu hoch beweget, Hab ich, wie sie vermerckt, sie oft zu recht geleget. Bald heb ich mich, wenn ich noch voll des Schlafes bin, Und sinck im halben Kuß entschlummernd wieder hin.« (Ebda., S. 28f.)
In Lied Nr. 9 kann Thirsis dann schon den so wunderbar im Schlaf erzeugten Hilas segnen (ebda., S. 30f.) und Doris als fröhliche Mutter beschreiben, die mit den Gratien und ihrem Sohn »lächelt, spielt und singt«, während Dämon dieses kindlich-naive Treiben - wie es der Würde des (gelehrten) Mannes geziemt - sentimentalisch »in ernster Stille« und mit »philosophischem Blick« betrachtet (ebda., S. 30f). Und Thirsis sieht den jungen Hilas schon dem Einfluß der Mutter entwachsen und unter Anleitung Dämons zum Dichter werden: »Dann wird sich von deinem Geiste / Ein gelehrter Einfluß stets / In des jungen Dichters Brust, / Der dir nachgeflogen, giessen.« (Ebda., S. 32) Wie sehr sich die »Schwester« aus diesem gelehrten Männer-Dichterbund ausgeschlossen fühlen mußte, verdeutlicht das nachfolgende Lied (Nr. 10 >Thirsis und Dämons Beschäftigung^ ebda., S. 32ff.), das einen Eifersuchtsausbruch der Doris schildert. Während sie selbst das Leben in der Einsamkeit nur ihrem Mann zuliebe erträgt (»So macht mir selbst die Einsamkeit / In deiner Gegenwart nicht bange«; ebda., S. 26), entführt
3) Sakralisierung und Säkularisierung (Pyra und Lange)
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Thirsis den Dämon am liebsten in dieselbe, um ihrer vertrauten Zweisamkeit ungestört zu frönen. Darüber vergessen sie ausgerechnet das Namensfest der Doris (die Dämon umgekehrt zu seinem Namenstag im Festgewand der Muse gehuldigt hatte): »Inzwischen hatte Thirsis sich In jenen tiefen Hain begeben, Worinn er, bey dem stillen Leben, Sehr oft vor sich allein entwich. Hier pflegt er in der Einsamkeit, In dürrer Bäume dünnen Schatten, Mit seinem Dämon sich zu galten, Und dieser war auch itzt nicht weit. Drauf höreten sie auf den Höhn Die Doris ihrem Dämon rufen Und sahen von des Hügels Stufen Sie eilig aus dem Wäldchen gehn. Sie kam und schlung die weisse Hand Um ihres Liebsten Hals mit Küssen, Und wollte liebreich strafend wissen, Warum er sich von ihr gewandt. Dann fragte sie, was wir denn hier Entfernet und alleine singen, Und wie wir hie die Zeit verbringen, Und sprach zu uns: Gehorchet mir, Denn heute ist das Namensfest Der edlen Dorothee erschienen. Wollt ihr die Freundin nicht bedienen? Ich weiß, daß keiner dieses läßt.« (Ebda., S. 33f.)
Ausdruck dieser Spannungen zwischen Thirsis und Doris ist auch das nachfolgende Lied Nr. 11 >Der Freundschaft Sieg über Gram und Neidweltlich< orientierten Kultur der Empfindsamkeit. 5) Die Religion wurde in dies Konzept integriert. Die folgende Definition Langes verweist dabei bereits auf die am Nutzen für den Menschen orientierte Perspektive: »Die Religion wirket so stark auf die Gemüther, daß sie einen ungemeinen Einfluß in unser ganzes Betragen hat. Wir müssen daher diejenige Religion für die vollkommenste halten, welche uns ein solches Verhalten auferleget, das unserer Natur am gemässesten und zu unserm Wohlseyn am dienlichsten ist.« (Ebda., S. 81)
Aus dieser Sicht verdiente die christliche Religion den »höchsten Vorzug«, weil sie »zum geselligen Leben das nothige beyträgt« (ebda.). Sie sei der Vernunft nicht zuwider, die ihre Wahrheiten prüft und bedenkt (vgl. ebda., S. 251; zu Meiers neologischer Religionsphilosophie vgl. 11.60
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Gawlick, S. 160ff.), und »alle, die die Religion bloß in sinliche Empfindungen setzen, sind Enthusiasten, wie die Herrnhuter« (G IV, S. 350; vgl. G III, S. 384). Dennoch richtete sich die entscheidende Bildungsaufgabe der Religion auch für Lange und Meier auf das »Herz« des Menschen. Insofern ging die Religion - dies ist der Aspekt ihrer Säkularisierung - als Ferment der Geselligkeit in die Kultur der Empfindsamkeit ein. Das galt auch noch da, wo sie ihre stärkste Wirkung auf das Gemüt entfaltete, nämlich im Bereich des Erhabenen. Da sie - wie Meier definierte - »sowohl fur den Verstand, als auch fur das Hertz eines vernunftigen Wesens, die alleredelste, erhabenste und majestätischste Sache« sei (G II, S. 18), war sie auch »vermögend, uns zu wahren Helden und großmuthigen erhabenen Seelen zu machen« (ebda., S. 21). Das Erhabene, das hier als religiöse Kategorie in den Blick gelangt, war nun freilich zugleich eine der bekanntesten und wichtigsten ästhetischen Kategorien des 18. Jahrhunderts, denn Erhabenes darzustellen, erhaben zu sein und zu wirken, das konnte auch die Poesie, vor allem im Epos und in der Ode, welche »das affectenreicheste und am meisten Pathetische Gedicht ist« (G IV, S. 98). Auch deshalb verfaßte Lange seine >Horatzischen Oden< und widmete einige erhabene Themen der Religion (>Lob des Höchstem, >Empfmdung der Vergebung der SundeDie Schopfung der FreudeSchrift< und in der >Schrift< ist Klopstocks Geist mit der Beschwörung der Freundschaft gegenwärtig, und seine Verse krönen und deuten (wie eine »inscriptio«) das Freundschaftsbild; denn dieses hat nach dem >goldenen Schnitt< konzipiert - in diesem Blatt sein Zentrum: Alle Linien laufen auf Klopstocks Verse zu, auch Spaldings linker Zeigefinger verweist ostentativ und indizierend auf das Dichter-Wort, in dessen Zeichen - und unter dem sich - die Theologen hier zur Gemeinschaft versammeln (vgl. dazu auch III Gandelmann, S. 82f.). Doch von diesem Zentrum her kehren sich Blickrichtung und Deutung auch wieder um: Indem Klopstocks Text auf die Figuren und den Betrachter perspektivisch >ausstrahltLaokoon< mißachtend - ausdrücklich als »epischen Maler« verstanden und dem »Gesetz der Poesie« unterworfen; vgl. III Starobinski o. J., S. 74ff.). Für den Siegeszug des neologischen Gedankenguts sorgte insbesondere Lessings Freund Friedrich NICOLAI (1733-1811; Zögling der Francke-
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sehen Anstalten) mit der Gründung der Allgemeinen deutschen Bibliothekx (seit 1765), in deren wichtigster Rubrik >Theologica< der neologische Standpunkt vorherrschte. Aber auch in seinem verbreiteten Roman >Leben und Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker< vertrat Nicolai neologisches Gedankengut (vgl. III Aner, S. 114ff.). So verteidigt der Romanheld die Neologen gegen alle orthodoxen Angriffe als aufrechte Wahrheitssucher (II SN, S. 235ff.) und greift seinereits die Orthodoxie wegen ihres Festhaltens an Dogmen und symbolischen Büchern mit dem modernen Argument an, diese seien Menschenwerk mit einer historisch nur begrenzten Gültigkeit und daher für die Gegenwart kein tauglicher Wegweiser mehr (ebda., S. 241 ff.). 4) Auf Zürcher Boden wirkte vor allem der mit Breitinger verbundene Chorherr Johann Jakob ZIMMERMANN (1695-1756; 1731 Professor für Naturrecht, Kirchen- und Weltgeschichte; 1737 Inhaber der theologischen Hauptprofessur) als >Übergangstheologe< mit Affinitäten zur Neologie (vgl. III Hürlimann, S. 67ff.). Von der Orthodoxie angefeindet, reformierte dieser Streiter für Toleranz (ebda., S. 72) den theologischen Hochschulunterricht: »Im Geist des alten Humanismus rief er seine Zuhörer vom Künstlichen zum Einfachen, von den Systemen zur Bibellehre zurück; ohne die orthodoxen Dogmen zu bekämpfen, entzog er ihnen die Grundlage und verscheuchte siegreich den Geist des Ketzermachens aus den Herzen aller Zuhörer, die bei ihm aus- und eingingen.« (III Wernle, S. 534)
Bezeichnend für seine Nähe zu Breitinger ist Zimmermanns uneingeschränktes Festhalten an der Wahrheit der biblisch bezeugten und von Jesus verkündigten Wunder. »Denn so gewiß als die Offenbarung uns nie etwas lehren kann, was den klarsten Prinzipien der Vernunft widersprechen würde, ebenso gewiß ist, daß eine Offenbarung, die bloß Natürliches offenbarte, zwecklos und widersinnig wäre.« (Ebda., S. 533) Nur die »mythischen« Bibelstellen suchte er wie Spalding als metaphorische Redensarten rationalistisch zu entschärfen (ebda., S. 536). Andererseits und zugleich riet er den Predigern, »die Religion, soviel sie könnten, als etwas Liebenswertes, mit der Vernunft Übereinstimmendes und nur zu unsrer Glückseligkeit von Gott uns Gegebenes darzustellen.« (Ebda.) Die nach Zimmermann seit etwa 1760 in Zürich wirkende Theologengeneration Johannes Tobler, Felix Heß und vor allem Johann Kaspar Lavater und Johann Jakob HESS (1741-1828; herrnhutisch erzogen und neologisch orientiert; 1777 Diakon, 1795 Pfarrer und Vorsteher der Zürcher Kirche; >Geschichte der drei letzten Lebensjahre JesuNachrichten von einer hallischen BibliothekNachrichten von merkwürdigen Bücherm, 1752/58), der auch zahlreiche Übersetzungen deistischer und antideistischer Schriften, aber auch der Werke Shaftesburys und Butlers (durch Spalding) angeregt hat (vgl. III Sparn 1989, S. 83). Erstaunlich ist auch, in welch hohem Ausmaß Geliert in seinen >Moralischen Vorlesungen< englische Autoren verarbeitete und empfahl, die meist ins Deutsche übersetzt waren und die er zum Teil auch selbst besaß (vgl. MV, S. 404ff.). Ein wichtiger Grund für diese Beerbbarkeit der englischen Positionen war die mit Deutschland verwandte, nur mehr als ein halbes Jahrhundert früher eingetretene probemgeschichtliche Konstellation: die anglikanische Staatskirche sah sich einer großen Zahl von Abtrünnigen gegenüber, den Deisten außerhalb und den - in vielen Grundsätzen dem Pietismus verwandten - >dissenters< innerhalb der christlichen Religiosität. Dabei zwang die Verteidigung des Glaubens gegenüber den Deisten zum Gebrauch und zur Legitimation der Vernunft, und die Integrationsversuche gegenüber den zahlreichen >Sekten< - von den sittenstrengen Puritanern bis zu den enthusiastischspiritualistischen Quäkern, Anabaptisten und Independenten - nötigte zur Berücksichtigung der spirituellen und emotionalen religiösen Kräfte. So entwickelte sich schon hier die Formel des Miteinanders - und Ausgleichs - von Intellekt und Emotionalität bei der Religion. Aus der Viel-
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zahl der in Neologie und Empfindsamkeit rezipierten englischen Autoren können hier nur wenige - die wichtigsten und meistzitierten - vorgestellt werden. Das ist neben Shaftesbury und Hutcheson vor allem der - in der germanistischen Forschung bislang unbeachtete - John Tillotson (vgl. Gellerts summarischen Hinweis: »Eine vorzügliche Stelle in unsrer kleinen Bibliothek verdienen auch die heiligen Reden eines Tillotson, Delany, Saurin, Mosheim, Jerusalem, Crusius, Cramer, Schlegel, Gisecke(l), Spalding und andrer geistreicher Männer; .. . « Ebda., S. 126; auch Bodmer und Breitinger empfahlen in ihrem schmalen Verzeichnis einer Frauenzimmer=Bibliotheck< von 1746 >Tillotsons PredigtenChurch of Romthe sum of all Religion is Divine Imitation< was a principle which all demonstrates in their lives.« (Ebda., S. 16) Neben der mystischen Vernunft legen die Cambridge Platonists daher also großen Wert auf die Bedeutung des »Herzens« für den hermetischchristlichen Glauben. Der Mensch ist im Sinne des Humanismus ein frei handelndes Wesen in einer vitalen, dynamischen »Plastick Nature«, er hat die Wahl zum Guten oder Bösen, doch ist letzteres eher im Sinne der Scholastik ein - korrigierbarer - >DefektApokatastasis panton< werden die Pietisten, Neologen und auch Klopstock übernehmen; vgl. Kap. II l d-3). Der Mensch ist in der »Kette der Wesen« (vgl. Bd. V/l, S. 107ff.) mit der Natur und Gott in sympathy verbunden. In ihr fallen geistliche und weltliche Liebe, also >agape< und >eros< zusammen. Christus, der den Menschen als historischer Jesus durch sein Opfer am Kreuz die Gnade verschafft hat, wirkt selbst als doppelte Gabe Gottes »in uns«, und zwar als Kraft der Sympathie im freien Willen. Dies zeigt, daß gerade die christliche Religion den Menschen freiläßt und nicht knechtet, daß die >Sympathie< ein Bündnis zwischen Gott, Natur und Menschen sowie zwischen den Menschen untereinander stiftet und daß gerade der nicht nur meditative, sondern aktive Vollzug dieser »sympathy« entscheidendes Kennzeichen der Religion ist: »Universal Charity«, erklärt Whichcote, »is a thing Final in Religion.« (I Patrides, S. 333; zur hermetischen Sympathienlehre vgl. auch Bd. III, S. 132f.; III Kemper 1992)
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2) John TILLOTSON (1630-1694; seit 1691 Erzbischof von Canterbury; seine Biographie auch in I Baumgarten/Semler SML VIII, S. 449-495) war ein auf Toleranz und Integration bedachter Repräsentant der >Broad Church Party< (oder Latitudinarismus) genannten >Mittelpartei< der anglikanischen Kirche, einer Richtung, die sich im 18. Jahrhundert mit dem Drängen auf ein praktisch-ethisches, zugleich tolerantes Christentum auch vor Kontakten zu Zinzendorf und der Brüderunität nicht scheute (vgl. III M Schmidt, Sp. 1418). Tillotson war vor allem durch seine weitherzigem und eleganten Predigten, die auch ein Voltaire bewunderte, zu europäischer Berühmtheit gelangt. Diese Predigten erschienen seit 1728 in mehreren Auflagen und jeweils vermehrt auch in deutscher Sprache (Geliert besaß ebenfalls ein Exemplar). Auch Jerusalem ist in Aufbau, Argumentationsweise, Stil und Inhalt seiner Predigten stark von Tillotson beeinflußt. Der deutsche Herausgeber von Mosheim schilderte in seinem Lebenslauf des Erzbischofs die Zerstrittenheit der Religionsparteien in England, die Tillotson nötigten, »alles, was er zum Unterrichte und zur Erbauung seiner Zuhörer vortrug, aus richtigen und unumstößlichen Gründen herzuleiten« und damit nach Möglichkeit eine Vereinigung der Protestanten zu bewirken (II Mosheim, S. 33, 59ff., 66ff.). Tillotson griff Kernideen der Cambridge Platonists auf, löste sie aber weitgehend aus dem hermetischen Kontext, rationalisierte sie zu einer Art matürlichen Religion< und nahm damit bereits das spätere neologische Glaubensbekenntnis vorweg: »Gott ist vollkommen gut. Er ist willig und bereit, uns die Glückseligkeit mitzutheilen, seine Macht und Weisheit zu unserem Besten anzuwenden. Er hat uns erschaffen, in der Absicht uns glückselig zu machen, und niemand kann uns daran hinderlich seyn, als wir selbst.« (II V, S. 408; vgl. auch II I, S. 438 u. ö.)
Aus der Ablehnung der calvinistischen Prädestinations- und »Verwerfungs«-Lehre (I, S. 438) folgt wie bei den Cambridge Platonists eine Relativierung der Lehre von den ewigen Höllenstrafen - Gott droht nur damit, um deren Vermeidung durch den Menschen umso zuverlässiger zu erreichen (ebda., S. 372) - und der Lehre von der Erbsünde, die für die Aufklärung »als erste mit dem Glauben an die Menschenwürde unvereinbar« schien (III Aner, S. 163): »Unsere naturliche Beurtheilungskraft und das Gewissen sagt uns itzo noch, was gut sey, und was uns zu thun oblieget. Das Gesetz der Natur ist, was die vornehmsten Pflichten anlangt, uns noch ins Herz geschrieben und kann darinne noch gelesen werden.« (I, S. 434) Der Verstand ist dem Menschen auch dazu gegeben, die Unordnung seiner Triebe selbst zu regulieren, zu kontrollieren und die Tugend immer mehr zu vervollkommnen (ebda., S. 435f.). Deshalb
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kommt auch der Erziehung eine entscheidende Bedeutung zu (ebda., S. 219ff., 255ff., 291ff. u. ö.). Gewicht und Bedeutung der Religion begründet Tillotson wie zu seiner Zeit bereits üblich (vgl. III Schwanitz, S. 248f.) nicht mehr theologisch - mit ihrer Wahrheit oder mit der Dankesschuld gegenüber Gott -, sondern soziologisch mit ihrem Nutzen (und auch darin wird ihm die Neologie folgen): die Religion »ist das Stärkeste Band der menschlichen Gesellschaft« und »zur Wohlfahrth und Gluckseligkeit des menschlichen Geschlechts« schlechthin »unentbehrlich« (I, S. 392). Dabei legt der Erzbischof Wert auf den Nachweis, daß »Religion und Tugend« nicht erst ein jenseitiges Glück verheißen, sondern schon die »zeitliche Gluckseligkeit des Menschen« befördern (II, S. 285ff., 289). Sehr viel ausführlicher als mit den Vorteilen der Religion für die Sozietät befaßt er sich mit den - so der Titel einer Predigt - >Vortheilen der Religion, in Betrachtung eines jedweden Menschen ins besondere< (ebda., S. 313-348; vgl. auch II, S. 241ff.; III, S. 141ff., 267ff.; IV, S. 46ff.; VI, S. 161 ff. u. ö.): Im Blick auf das »Inwendige« »verschaffet die Religion und wahre Gottseligkeit einen zwiefachen Vortheil unserem Gemuthe. a) Sie bringet Licht und Erkänntnis dem Verstande, b) Sie bringet Zufriedenheit und Vergnügen dem Herzen.« (II, S. 316) Unter a) versteht Tillotson, daß die Religion nicht nur in »geistlichen und gottlichen Dingen« unterrichtet, »sondern auch, daß sie überhaupt unsern Verstand aufkläret, und zu gründlicher Einsicht und wahrer Erkänntniß geschickter machet.« (Ebda., S. 316f.) Und zu b) erläutert er: »Hiernächst ist es auch die Religion, welche unseren Herzen Zufriedenheit und Vergnügen bringet, worinnen vornemlich die wahre Glückseligkeit bestehet,.. .« (Ebda., S. 320) Da »Gott unser Freund« ist (ebda., S. 323), können sich Ruhe und Frieden anstelle von Angst und Melancholie im Herzen ausbreiten (so auch III, S. 149ff., 160f., 174f.): »Wollen wir das Vergnügen dieser Ruhe und des inneren Seelenfriedens wahrhaftig schmecken und empfinden, das ist, der höchsten Glückseligkeit theilhaft werden, so ist unumgänglich nothwendig, unser Gemüth in eine gewisse Fassung zu setzen. Diese Fassung ist nichts anders, als Heiligkeit und Tugend, in deren Besitz die höchste Glückseligkeit, ja selbst die Vollkommenheit der gottlichen Natur bestehet.« (II, S. 324)
Hier klingt Mores »Divine Sagacity« durch, und ganz im Sinne der Cambridge Platonists löst Tillotson die Erlösungs- und Gottseligkeitsvorstellungen aus dem gesonderten »status gratiae« und transformiert sie auf die Ebene der Natur, aber damit wird die »Heiligkeit« auch zu einem dem Menschen aus eigenen Kräften erreichbaren Stand:
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II. Neologie und Empfindsamkeit
»Ein jedes Ding ist alsdenn in Ruhe und Frieden, wenn es sich im Stande befindet, dazu es von Natur bestimmet ist. . . . Die Gottseligkeit, und die Übung der damit verknüpften Tugenden sind der natürliche Stand der Seelen, oder diejenige Eigenschaft, worzu sie der allmächtige Schöpfer verordnet hat. Wie Gott den Menschen zu einem vernünftigen Geschöpfe erschaffen hat, so sind auch alle Übungen der Gottseligkeit vernünftig und unserer Natur gemäß. Unsere Seelen befinden sich alsdenn gleichsam bey Gesundheit, wenn wir so beschaffen sind, wie es die Gesetze der Religion erfordern, und dasjenige ausüben, was sie uns anbefehlen.« (III, S. 158)
Auch dies sind Überzeugungen, die in der Neologie wiederkehren und die u. a. auch Gellerts Denken bestimmen - bis in seine >Geistlichen Oden und Lieder< hinein: »Gott will, wir sollen glucklich seyn, / Drum gab er uns Gesetze.« (II GOL, S. 119; vgl. Kap. II 4 e). 3) »Shaftesbury«, erklärt Goethe 1813 zu dem »trefflichen Denker«, »lebte zu einer Zeit, wo in der Religion seines Vaterlandes manche Bewegung vorging; wo die herrschende Kirche mit Gewalt die Andersgesinnten zu bezähmen dachte.« (II Goethe BAW, S. 322; vgl. III U.-M. Schneider, S. 152; I Baumgarten/Semler SML X, S. 372-391) Tatsächlich sind Person und Werk von SHAFTESBURY (d. i. Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of Shaftesbury 1671-1713; von John Locke erzogen, ab 1695 Unterhaus-, ab 1699 Oberhausmitglied als Anhänger der Whigpartei, gegenwärtig neu entdeckt und ediert; vgl. 11.86 Schmidt-Haberkamp, S. 161ff.), nur im Kontext der religiösen Streitigkeiten seiner Zeit angemessen zu verstehen. Sein berühmter >Brief über den Enthusiasmus< (>A Letter Concerning Enthusiasmerzählten Dialoge< der >Moralisten< beziehen sich auf die Religionsstreitigkeiten der Zeit: Der eine, von der wahren Religion und damit zugleich von der Wahrheit über Gott, Welt und Mensch zu überzeugende Gesprächspartner Palemon weist sich als Deist aus (M, S. 57), der zweite - die eigentliche Hauptfigur, der Ich-Erzähler Philokles - bekennt sich zum philosophischen Skeptizismus, dem deshalb die Methode des sokratischen Dialogisierens entspricht; doch im dritten und letzten Teil des Werkes läßt sich Philokles vollkommen von dem Theologen Theokies überzeugen, und dieser verteidigt die >Cambridge PlatonistsThe true intellectual System of the universe< (1678; lat. hg. v. Mosheim 1733; vgl. M, S. 92ff.), und dabei entwickelt er aus der neuplatonischen >Sympathienewigen< Lohnes willen) -, sondern aus der »Vortrefflichkeit des Gegenstandes allein« erwächst (ebda., S. 99; vgl. auch UT, S. 225, 245f., 252). Und aus dieser Argumentation entwickelt Theokies seine Grundposition, die zugleich zum neologischen Glaubensbekenntnis werden sollte: »Gibt es nun göttliche Vortrefflichkeit in den Dingen; gibt es in der Natur einen allerhöchsten Geist oder eine Gottheit: so haben wir ein vollkommenes, alles Gute und Vortreffliche in sich fassendes Wesen. Und dieses Wesen muß notwendigerweise das an Liebe reichste, wohlwollendste sein und die höchste Zufriedenheit und Seligkeit gewähren. Daß es nun wirklich ein so vollkommenes Wesen in der Welt gibt, davon muß sie uns selbst, wenn ich mich so ausdrücken darf, durch ihre weise und vollkommene Ordnung der Dinge überzeugen. Ist diese Ordnung wirklich vollkommen, so schließt sie alles wahre Übel aus.« (Ebda., S. 100)
Der Nachweis der Ordnung der Natur (vgl. dazu auch Kap. II l e) und der Existenz Gottes erfolgt mithilfe des damals verbreiteten physikotheologisch-aposteriorischen Gottesbeweises (vgl. Bd. V/2, S. 47ff.; M, S. 110). Die Ordnung der moralischen Natur soll sich an der Ordnung der physikalischen orientieren (ebda., S. 113; vgl. dazu auch III Schwanitz, S. 250ff.), ein auch von Wolff vertretener Gedanke (vgl. Bd. V/2, S. 82f.), der unverändert zum didaktisch-auktorialen Reservoir empfindsamer Literatur gehört: »Warum, sag ich dann, warum ist die moralische Welt ihrer Bestimmung nicht ebenso getreu, als die physikalische?« (II La Roche GFS, S. 242; vgl. dazu 11.53 Ehrich-Haefeli 1991, S. 13If.) Dieser Gedanke führte die Neologen dazu, den Zustand der Vollkommenheit in einer psychischen Disposition der Ruhe als einer seelischen Grund-Kraft zu erblicken, wie sie der von Newton entdeckten »Schweere in der Natur« entspreche (vgl. II Spalding GWGC, S. IX f.; in England wurde die Gravitation auch dem Gemeinschaftsgefühl parallelisiert, vgl. III Schwanitz, S. 250f.). Wenn Werther seinen ersten Eindruck von Lotte formuliert: »So viel Einfalt bei so viel Verstand, so viel Güte bei so viel Festigkeit und die Ruhe der Seele bei dem wahren Leben und der Tätigkeit« (II Goethe LJW, S. 20), dann erhebt er sie zur »leidigen Abstraktion« (ebda.) des (neologisch-) empfindsamen Tugendideals, dem nun die »stur-
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mische« Bewährungsprobe des »Herzens« bevorsteht, der sie schließlich »mit dem vollsten Blick der Liebe auf den Elenden« ent-»eilt« (ebda., S. 136). Die Natur selbst ist für Shaftesbury zwar sparsam, aber doch gütig gegen alle Wesen, sie unterstützt diese in ihren Hauptmerkmalen und -interessen. Beim Menschen sind dies Verstand und Vernunft, mit deren Hilfe er sich alles Lebensnotwendige selbst verschaffen kann (M, S. 121). Die Geselligkeit ist dem Menschen natürlich, er hat nie in einem >Naturstand< ohne sie gelebt (dies gegen Hobbes; vgl. Bd. V/2, S. 79ff. u. ö.). Auf Grund der Bedeutung der Natur-Ordnung für die Einsicht in den vollkommenen Urheber des Ganzen ist es besser, daß es heutzutage keine Wunder mehr gibt, welche die Ordnung des Kosmos nur stören würden (ebda., S. 135ff.). Damit erteilt Shaftesbury auch dem Glauben an übernatürliche Einwirkungen im Weltbild der Magie eine Absage, wie sie für More noch eine Rolle spielten (M, S. 140). Allerdings ist die Natur auch keine Maschine, sondern durch und durch lebendig und zeigt beständige Vernunft (ebda., S. 141). Und hier - zu Beginn des dritten Teils - setzt dann der berühmte Naturhymnus des Theokies ein, der uns in anderem Zusammenhang interessiert (vgl. Kap. II 2 a-1). Auch Shaftesburys erste größere Schrift Untersuchung über die Tugend< (>An Inquiry Concerning Virtue or MeritEngführung< von Ästhetik, Philosophie und Religion in der modernen Applikation des platonischen Kalokagathie-Gedankens, und Shaftesbury entwickelt in diesem Kontext schon die für die Poesie so bedeutsame Kategorie des Erhabenen - wenn diese bei ihm auch bezeichnenderweise nicht den Gegensatz zum >SchönenCambridge Platonists< nachzuweisen, daß die natürlichen altruistischen (wohlwollenden, sympathetischen, geselligen) Gesinnungen die egozentrischen, bloß auf das Privatwohl abzielenden Neigungen nicht nur überwiegen, sondern »das einzige wahre Mittel zum frohen Selbstgenuß sind« (ebda., S. 273). Nur wer die allgemeine Wohlfahrt befördert, lautet die gegen Hobbes gerichtete Maxime, dient auch seiner eigenen »Glückseligkeit und Wohlfahrt« (ebda., S. 319) - die Protagonisten des empfindsamen Romans - sei es die >Sternheim< (vgl. II La Röche), sei es >Agathon< (vgl. II Wieland) - führen dies in extenso vor.
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4) Der Glasgower Philosophieprofessor Francis HUTCHESON (16941746), ein systematischerer, aber weniger origineller Kopf als sein Lehrer Shaftesbury, sucht zwar einerseits das »moralische Gefühl« von den anderen - niedrigeren - Trieben, Sinnen und Emotionen zu unterscheiden, andererseits aber insistiert er darauf, daß der »moral sense« ein nicht durch angeborene Ideen oder Vernunft gleichsam prädeterminierter oder anerzogener, sondern ein dem Menschen ebenfalls ursprünglich eigener und ohne Reflexion wirkender, aber >höherer< Sinn, eine Art >Geschmack< oder ein Wohlwollen für eine gute bzw. eine spontane Abneigung gegenüber einer schlechten Handlung ist: »Wir meynen hiermit nicht, daß dieses moralische Gefühl mehr als unsre andre Sinnen, einige angebohrne Ideen, Erkenntniß oder praktische Sitze voraussetze: wir verstehen nichts weiter dadurch, als eine Fähigkeit unsrer Seele, die einfachen Begriffe des Beyfalls oder Mißfallens bey gewissen Handlungen zu empfangen, ohne daß wir vorher wußten, daß uns ein Vortheil oder Schaden aus derselben entstünde . . . « (II ÜBST, S. 136)
Deshalb ist das moralische Gefühl aber auch stets mit einer Zu- oder Abneigung gegenüber den handelnden Personen verknüpft, gottselige Handlungen sind daher auch mit einer Liebe zu Gott, auf die Gesellschaft bezogene tugendhafte Handlungen mit einer »Neigung gegen unsere Nebengeschopfe« verbunden (ebda., S. 140), die wiederum in einer »Liebe aus Wohlgefallen« (»complacence«) oder einer »Liebe aus Wohlwollen« (»benevolence«) bestehen kann (ebda., S. 142). Im Kampf gegen die vor allem von Hobbes vertretene These von der Priorität der Selbstliebe als Grundlage menschlicher Aktivität (vgl. II Hobbes L, S. 112ff.; B, S. 75ff.) betont auch Hutcheson den Altruismus als entscheidendes Motiv des moralischen Fühlens und Handelns: »Wenn wir das Ganze zusammen nehmen, so erhellet, daß in der menschlichen Natur eine uneigennützige letzte Begierde nach dem Wohl andrer liegt; und daß unser moralisches Gefühl uns bewegt, nur solche Handlungen als tugendhaft zu billigen, von denen wir wahrnehmen, daß sie zum Theil wenigstens aus dieser Begierde herrühren.« (ÜBST, S. 158)
Damit handeln auch für Hutcheson die Menschen nicht auf Grund einer - in Selbstliebe gründender - Hoffnung auf göttliche Belohnung - warum soll Gott etwas belohnen, was er den Menschen als natürliche Neigung mitgegeben hat? (Ebda., S. 165) Als Bewertungs- und Handlungsmaxime des moralischen Gefühls folgt daraus: »Diejenige Handlung ist also die beste, welche die größte Glückseligkeit für die grosseste Anzahl hervor bringet; und diejenige die schlimmste, welche auf gleiche Art die Unglückseligkeit verursachet.« (Ebda., S. 191; vgl. ebda., S. 195)
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Mit einer solchen Konzeption hat Hutcheson die Moral ganz unabhängig von der christlichen Religion bestimmt. Deshalb kann er auch seine - von Geliert zwar gelobte, aber auch als »zu sehr auf den moralischen Geschmack« gegründet kritisierte (II MV, S. 119) - >Sittenlehre der Vernunftx als ein »Gesetz der Natur« bezeichnen, dessen Absicht es sei, »die Menschen zur Ausübung derjenigen Handlungen zu gewohnen, welche ire groste Glückseligkeit und Vollkommenheit am sichersten befordern können; in so weit dieses durch Wahrnehmungen und Folgerungen, die aus der Beschaffenheit der Natur hergeleitet werden, ohne Hülfe einer fibernatürlichen Offenbarung geschehen kan.« (II SV, S. 41)
Wie Shaftesbury koppelt Hutcheson auch hier die Selbstliebe als »Trieb nach unserer eigenen höchsten Vollkommenheit und Gluckseligkeit« an die auf die »Glückseligkeit anderer« gerichtete »Bestimmung des Willens«, in der sie sich erfüllt (ebda., S. 51f.). Einerseits wird das moralische Gefühl als ein Vermögen charakterisiert, dem die Handlungen selbst ganz im Sinne der aristotelischen Ethik - überlegen sind (ebda., S. 78f.). Andererseits betont Hutcheson, daß der »moral sense« die zentrale Aufgabe hat, »alle unsre Kräfte in Ordnung und in Schranken zu erhalten« (ebda., S. 122). Deshalb aber sei er auch »einer Ausbildung und Verbesserung fähig«: »Wir bringen also die Unregelmässigkeiten, welche in diesem moralischen Gefühl vorkommen, eben so in Ordnung, wie wir unsere Vernunft selbst verbessern.« (Ebda., S. 120f.) Dies geschieht, indem wir der Seele als Übungsfeld immer größere Vollkommenheiten vorstellen, und das ist - wie wir sehen werden - auch für Hutcheson eine vorrangige Aufgabe der Poesie! (Vgl. Kap. II 2 a-2; die zuerst 1759 erschienene >Theory of Moral Sentiments< des Hutcheson-Schülers Adam Smith [1723-1790] kommt als Einflußfaktor erst für die spätere deutsche Aufklärung, vor allem für Lessing und Kant, in Betracht; vgl. 11.87 Eckstein, S. XXV ff., XXXII ff.). - Interessanterweise erhält die Frage nach einer angeborenen Moral des Menschen heute aus soziobiologischen, die genetische Determination von Verhaltens-impulsen als >natürlich< ausweisenden und damit den Egoismus menschlichen (männlichen!) Verhaltens wiederum salvierenden Theorien neue Aktualität (zur Diskussion vgl. III Wright). d) Privatreligion, Toleranz und Gottesverehrung in der Natur (Spinoza - Jerusalem, Semler, Toellner, Spalding, Eberhard) »Der Mensch will seine Glückseligkeit: und das zufolge seiner Natur, und eines unwiderstehlichen Triebes in seiner Natur. Und Gott will sie auch: und es ist
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augenscheinlich falsch, daß der Mensch natürlich von Gott getrennt ist. Er ist vielmehr mit ihm eins.« (II Toellner TU 1/2, S. 159)
Mit diesen Einleitungssätzen zu seinem programmatischen Aufsatz über >Die Güte der menschlichen Natur< faßte Johann Gottlieb Toellner 1773 die neologische Lehre über Gott und Mensch prägnant zusammen (ebenso II Spalding RAM, S. 11 f., 29ff. u. ö.). Es ist eine Theologie der Freude, des irdischen Vergnügens in Gottx, wie sie in dieser Kompromißlosigkeit im Protestantismus - außer in der Poesie (vgl. Bd. V/2, S. 109ff.) weder vorher noch nachher verkündet worden ist, eine imponierende Widerlegung von Baruch de SPINOZAS (1632-1677) Verdikt, der »schöne Name Religion« sei ein Mittel der Herrschenden, um die Menschen über die »Furcht, durch die sie im Zaum gehalten werden sollen«, zu täuschen, »damit sie für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil« (II TPT, S. 6). - Im folgenden können nur einige Grundzüge verdeutlicht werden. 1) Gott selbst, so lehrten die Neologen, ist ein absolut gutes, seine Schöpfung und seine Geschöpfe liebendes Wesen. An Shaftesburys Gedanken über die Gottesverehrung anknüpfend erklärte Johann Friedrich Wilhelm JERUSALEM in einer Predigt: »Die einzige Absicht, warum GOtt von seinen Geschöpfen einen Dienst fordern kan, und die einzige Absicht, die wiederum vernunftige Geschöpfe bey diesem Dienste haben können, ist diese: daß sie dadurch vollkommen und glücklich werden. Ein Gottesdienst, der uns nicht vollkommener, der uns nicht glücklicher macht, kan unmöglich seinen Ursprung von GOTT haben; sondern ist eine Erfindung abergläubiger oder arglistiger Menschen.« (II SP, S. 266f.; ebenso II Spalding RAM, S. 69; II Teller, S. 39)
Daraus ergaben sich verschiedene gravierende Konsequenzen. Zunächst galten die kirchlichen »Gebräuche als keine wesentliche Stucke des Gottesdienstes« (II Jerusalem SP, S. 266), und Jerusalem hat bis zu seinem Lebensende insbesondere »die vielen menschlichen Bestimmungen, und die damit wiederum verbundnen, überhäuften kostbaren Gebräuche« der Katholischen Kirche mitsamt ihrem Sakramentalismus als wichtigsten Grund gegen eine Wiedervereinigung der Konfessionen geltend gemacht (II NS II, S. 124), denn eine Religion, die wie die christliche »nach ihrer Bestimmung allgemein seyn« wolle, könne »in ihren Lehren, Gesetzen und Gebräuchen nicht simpel genug seyn« (ebda., S. 125; ebenso BVWR II, S. 348ff.; ähnlich II Semler VAGC, S. 231ff.). Zwei problemgeschichtlich bedeutsame Entwicklungen haben insonderheit zu dieser Bedeutungsreduzierung der Kirche als institutioneller und zeremonieller kultischer Gemeinschaft beigetragen: zum einen die pietistischen Tendenzen zur Förderung des religiösen Individualismus
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. Neologie und Empfindsamkeit
(vgl. Bd. V/l, S. 117ff. u. ö.), zum ändern die Infragestellung der Bibel als Fundament des christlichen Glaubens. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die lutherische Orthodoxie Ende des 17. Jahrhunderts die Lehre von der Verbalinspiration der Schrift sanktionierte (vgl. Bd. V/l, S. 47, 49f.), erwies sich deren Wortlaut mit dem neuen naturwissenschaftlichen Weltbild als unvereinbar, und der Inhalt der Schrift wurde von den Philosophen - vor allem den Deisten (vgl. ebda., S. 62ff.) - als vielfach unvernünftig in Zweifel gezogen. Spinoza insbesondere rüttelte dann in seinem trotz Verbots alsbald weit verbreiteten >Tractatus theologico-politicus< (1670) mit historisch-kritischen Argumenten - u. a. mit Verweisen auf die fragile Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der biblischen (vor allem der alttestamentlichen) Bücher - an der Kanonizität und dem Wahrheitsanspruch der Bibel als ganzer (vgl. II TPT, S. 138ff.), auch er suchte bereits nachzuweisen, »daß die Schrift nur ganz Einfaches lehrt« (ebda., S. 205), auf das die Vernunft ihrerseits durch eigenes Nachdenken zu kommen vermag, und er folgerte daraus u. a., »daß jedem die Freiheit des Urteils und die Möglichkeit, die Grundlagen seines Glaubens nach seinem Sinne auszulegen, gelassen werden muß und daß daher der Glaube eines jeden, ob er fromm oder gottlos, einzig nach seinen Werken zu beurteilen ist.« (Ebda., S. lOf.) 2) Die Neologie trieb ihrerseits - wie gezeigt - die historisch-kritische Dogmen- und Bibelkritik voran, um das Vernünftige an der Schrift-Offenbarung und Lehrtradition herauszufiltern und zu »retten«. Johann Salomo SEMLER knüpfte hier an seinen Vorgänger Baumgarten an (vgl.Kap. II l b-1). In der >Vorrede< zu dessen monumentaler >Geschichte der ReligionsparteienSymboleAbhandlung von freier Untersuchung des Canon< (1771-1775) faßte Semler dann die bibelkritische Arbeit der Neologie zusammen, brachte damit der »orthodoxen Lehre von der Verbalinspiration die tödliche Wunde« bei und brach die Bahn »für die historisch-kritische Erforschung der Bibel« (11.85 Scheible, S. 6). Es sei nunmehr gewiß, erklärte Semler in der einleitenden Programmschrift, »daß die gemeine Vorstellung von der steten Einförmigkeit und Gleichheit des Canons oder des Verzeichnisses der öf-
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fentlichen heiligen Schriften der Christen ohne Grund und historische Richtigkeit seie, wenn sie anders verstanden wird, als daß es eine Verabredung für die öffentliche (gemeinschaftliche) Übung der Religion gewesen seie, woran einzelne nachdenkende Christen sich nicht stets gebunden haben« (II Semler AUC, S. 21). Und zu deren Verteidigung stellte er die rhetorische Frage, »ob eine solche äußerliche allgemeine Kircheneinigkeit (in festgesetzten Büchern, Gesängen, Gebeten, Gebräuchen) zu der ächten Beförderung der christlichen Innern Religion, so den Wachstum in Vollkommenheiten des Verstandes so gut als des Willens mit sich bringt, nötig oder dienlich gewesen« (ebda., S. 25). - Auch hierin radikalisierte er Baumgarten. Dieser hatte einerseits erklärt, so lange »ein äusserer Gottesdienst möglich« sei, reiche »der blosse innere Gottesdienst nicht hin« (II KCP, S. 140), andererseits hatte er eine Pflicht zur Teilnahme am Gottesdienst negiert, wenn dieser vom Gewissen des Einzelnen als irrgläubig verurteilt werde (ebda., S. 148ff.) oder wenn es sich um »Nebendinge der Lere« handle (ebda., S. 181). Semler vertrat nun konsequent das Recht auf private, den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Individuums angepaßte Religiosität für sich und seine Zeit. Begriffe wie Privattheologie, Privatglaube und Privatchristentum durchziehen seine Schriften und machen ihn zum Begründer der seitdem in der Neuzeit verbreitet in Anspruch genommenen These, daß »Religion eine >Privatsache< oder Privatangelegenheit des Einzelnen sei.« (11.85 Hornig 1979, S. 198) Dies bedeutete, daß sich die Privatreligion eines Christen durchaus von der offiziellen Lehre seiner Kirche unterscheiden konnte, ohne seine Seligkeit zu gefährden (ebenso II Spalding GWGC, S. 16f., und II Teller, S. 98ff.), und Semler widersprach »dem gemeinen, ungeistlichen, einseitigen Urteil der Kirche, extra ecclesiam non est salus, dies leugne ich als ein gewissenhafter christlicher Lehrer; alle Christen, die gewissenhaft ihrer Erkenntnis folgen, haben ihren Anteil an christlicher Wohlfahrt; sie sind nicht ewig verdammt, wenn sie gleich von der Kirche so leicht dafür angesehen werden.« (VAGC, S. 15If.; vgl. dazu auch II Teller, S. 108ff.) 3) Die dogmatische und historische Relativierung des Wahrheitsgrundes der eigenen Konfession förderte zugleich die Idee der Toleranz gegenüber den anderen christlichen Gruppierungen und Gemeinschaften: »Mein eigen Wissen und Urteil bestimmt das für mich Wahre; und so ist es auf jener Seite ebenfalls. Niemand erkennt das objektiv Wahre ein für allemal in seinem ganzen Umfange; alle Erkenntnis davon ist abgeteilte, partikuläre, nicht totale Erkenntnis des objektivisch unendlichen Wahren.« (II Semler VAGC, S. 151; dies kam der Zinzendorfschen Ansicht
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II. Neologie und Empfindsamkeit
nahe, die verschiedenen Konfessionen seien nur unterschiedliche Erziehungsweisen Gottes; vgl. Kap, I l a-3). »So behalten wir«, erklärte Semler, »alle naturlichen und christlichen Pflichten der Liebe und Achtung gegen sie, wenn sie gleich eine Erkentnis haben und brauchen, die von unserer sehr verschieden ist, und mit welcher wir unsere, nach gutem Gewissen, nicht vertauschen können« (II Semler V-GRP, S. 19). Aber Semler ging noch weiter und vertrat konsequent die These: »Christiani etiam extra ecclesiam« (zit. in 11.85 Hornig 1979, S. 204). Auch diese These folgte aus dem vorausgesetzten neologischen Gottesbegriff und wurde zur Verteidigung der im ganzen 18. Jahrhundert umstrittenen These, daß auch die Heiden die Seligkeit erlangen würden, von Johann August EBERHARD in seinem großen zweibändigen Werk >Neue Apologie des Sokrates< (1. Aufl. 1772/78) mit Nachdruck vertreten (vgl. II NAS I, S. 357ff.). Wenn Gott alle seine Geschöpfe liebte und glückselig sehen wollte, dann entfiel zugleich die Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen (vgl. II Eberhard NAS I, S. 313ff.; vgl. dazu auch II Baumgarten GRP, S. 1277ff.; Kap. II l c-1). 4) Natürlich förderte die Infragestellung des Wahrheitsanspruchs der einen Offenbarungsquelle Gottes, eben der Bibel, die Aufwertung seiner zweiten, des >Buchs der Naturwahren Grunde warum Gott die Offenbarung nicht mit augenscheinlichem Beweisen versehn hat< (1764) darin zu finden, »daß, wenn es Gott gefallen hätte, seine Offenbarung in der Schrift mit unläugbareren und augenscheinlichem Beweistümern zu versehn, die Nützlichkeit und der wirkliche Nutzen seiner Offenbarung in der Natur, wo nicht gänzlich weggefallen, so doch ungemein vermindert worden seyn wurde« (WG, S. 196). Und in einer von der Orthodoxie mit noch größerer Empörung aufgenommenen Schrift unternahm Toellner - so der Titel des Werkes - den >Beweis, daß Gott die Menschen bereits durch seine Offenbarung in der Natur zur Seligkeit fuhrtBuch der NaturBeweglichen Bitte an alle evangelischen Lehrer, die Offenbarung Gottes in der Natur zu predigen< (1770), hat Toellner diese Ansichten - mit lobendem Verweis auf die Poeten - bekräftigt (KVA II/2, S. 186, 211 f.): »Die ganze Ausübung der Religion ist eine Folge der Liebe Gottes: und Gott lieben heißt nichts anderes, als die Vollkommenheiten desselben lebendig erkennen.« (Ebda., S. 189) Daß diese Liebe sich vor allem bei der Betrachtung der Vollkommenheiten der Natur erwecken ließ, zu der auch die Bibel selbst häufig anleite (ebda., S. 195), wurde Toellner nicht müde zu betonen. So auch in seinen ^Theologischen Untersuchungen von 1772, und das nachfolgende längere Zitat daraus bietet nochmals den gesamten theologischen Kontext zum Verständnis empfindsamer Naturdichtung Gellerts, Klopstocks und ihrer Freunde (vgl. Kap. II 3-6): »Alles ist gemacht, wenn eine wahre Überzeugung von der höchsten Gütigkeit oder Menschenliebe Gottes gemacht ist. Aber freilich keine kalte Überzeugung, die blos im Verstande bleibt. Sie muß anschauend werden: Und daher möglichst sinnlich. Wir müssen schmecken und sehen, wie freundlich der Herr ist. Daher, Brüder im Herrn, wollen wir Vertrauen zu Gott in unsern Zuhörern aufrichten; so lasset uns ihnen vor allen Dingen die Güte Gottes in der Natur mahlen. Lasset es uns ihnen unter die Sinne bringen, daß sich die ganze Schöpfung auf die lebendigen Wesen bezieht, welche ihr Daseyn zu empfinden, und die zu ihrer Erhaltung und zu ihrem Vergnügen bereiteten übrigen Dinge zu genießen fähig sind: daß für das Vergnügen des geringsten Wurms gesorgt ist: daß sich Gott aber gegen den Menschen vorzüglich freigebig bewiesen hat: daß sich selbst die größern und mannigfaltigem Bedürfnisse des Menschen auf die ihm bereiteten größern und mannigfaltigem Vergnügungen beziehen: daß wir wahrhaftig in lauter Wohlthaten Gottes schwimmen: . . . und denn lasset uns sehen, ob ein Mensch so böse ist, daß er ihn nicht wieder lieben sollte.« (TU I/l, S. 161f.)
Aus der empfindsamen Wahrnehmung der Liebe Gottes in der Natur entstehen »Dank und Vertrauen« »und damit Religion« (ebda., S. 162). 5) Auch für Johann Joachim SPALDING ist die Natur-Ordnung nicht mehr allein physikotheologisches Demonstrationsobjekt für die Existenz des Schöpfers, sondern Medium der Gottes-Empfindung. Er wünscht sich einen »Religionsverächter« als Begleiter auf einem Spaziergang durch einen Juni-Morgen, um ihn zu fragen: »ob er nicht, bey solchem Anblicke und Genüsse, sich die seligen Empfindungen, die dabey nur durch den
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Glauben an Gott möglich sind, mit sehnlicher Begierde wünschen, nicht die Entbehrung derselben, als einen wesentlichen Verlust, bedauern müsse?« (II Spalding RAM, S. 60-62) »Die Seele«, so beschreibt er die Gefühlslage, »fühlet sich wie von einer neuen Kraft belebt... in den unaussprechlich angenehmen Bewegungen eines von Lobpreisung, Dankbarkeit und Liebe durchdrungenen Herzens.« (Ebda., S. 62f.; ebenso BBM, S. 24; WA, S. 41) Von daher stellt er sogar einen Bedingungszusammenhang von Religiosität und Naturpoesie her: »herzerhebende, anziehende Darstellungen der Natur« habe es nur dort gegeben, »wo sich eine religiöse Denkungsart damit verband«; je deutlicher sich die Begriffe vom Schöpfer ausbreiteten, »desto mehr haben auch, in dieser Verbindung, die gefühlvollen dichterischen Naturbeschreibungen ein allgemeineres Interesse bey denen gewonnen, deren Gemüthsfassung so etwas Geistiges zu schätzen und sich dessen zu freuen fähig war. Wie hoch steht darin nicht Thomson über Lucrez\« (RAM, S. 64-66; zu Thomson vgl. Bd. V/2, S. 162ff.; zu Lukrez Kap. II 5 b) In diesem Kontext wäre etwa das berühmte >Abendlied< (1779) von Matthias Claudius, der vor allem in den siebziger Jahren der Neologie aufgeschlossen gegenüberstand (vgl. 11.16 Görisch, S. 206ff.; Fechner, S. 221 ff.), wären aber auch Klopstocks >Frühlingsfeyer< (1759/71; vgl. Kap. II 6 f, g) sowie Werthers und Lottes Berufung auf diese Ode (wie auf ein Bibelzitat) nach überstandener Gefahr durch ein Gewitter (vgl. II Goethe LJW, S. 29) Ausdruck wahrer empfindsamer Religion, eben weil die Neologie die Verehrung Gottes in der Natur theologisch aufgewertet und als Sujet zugleich auch der Obhut der Poeten und der Praxis des »Privatchristentums« mitüberlassen hat. Indem die Poesie aber so Religion praktizierte - im Prinzip tat dies auch schon Brockes mit seinem irdischen Vergnügen in Gott< (vgl. Bd. V/2, S. 109ff.) -, konnte sie auch die religiösen Interessen und Energien auf sich ziehen und damit - noch dazu ohne schlechtes Gewissen! - traditionelle Funktionen des kirchlichen Kultus übernehmen und diesen dadurch mitsamt seinen Formen ästhetisierend ergänzen, aber auch ersetzen. e) »Sey glücklich!« - Religion als Weg zur Vollkommenheit (J. Butler Jerusalem, Toellner, Eberhard, Teller - Kant, Schleiermacher) 1) Der inflationäre Gebrauch des »Glückseligkeits«-Begriff s im 18. Jahrhundert ist ein bemerkenswertes Phänomen, das schon im Blick auf seine vielfältigen Verwendungszusammenhänge und seine variierende Semantik nicht monokausal erklärt werden kann. Wenn Leibniz in seiner Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben
Irdischen Vergnügens in Gott< im Auge (vgl. Bd. V/2, S. 109ff.), wobei hier im Begriff des »Vergnügens« noch die ältere Wortbedeutung des »Sich-Begnügens« mitzudenken ist: »Künftger Zeiten eitler Kummer StOrt nicht unsern sanften Schlummer; Ehrgeiz hat uns nie besiegt. Mit dem unbesorgten Leben, Das der Schöpfer uns gegeben, Sind wir ruhig und vergnügt.« (II Brockes HA-IVG II, S. 74)
Mit dem, was man hat, zufrieden und deshalb glücklich zu sein, war auch Gellerts unermüdliche Botschaft (vgl. Kap. II 4). Hiervon zu unterscheiden ist wiederum ein Begriff von Glück und Freude »als Ausdruck und Inbegriff einer geistig-seelischen Hochstimmung, als Zeichen der Harmonie mit sich und der Welt« (III Mauser 1981, S. 210), wie sie Hagedorn und einige Anakreontiker vertraten (vgl. Bd. V/2, S. 176ff.), und hier mag die These berechtigt sein, daß die »Heftigkeit«, mit der dieses Hoch-Gefühl im Zusammenhang mit der intensiven Freundschaftspflege vorgestellt wurde, »dem Ausmaß der Unlusterfahrungen« entsprach, »die die soziale und politische Wirklichkeit auslösten« (III Mauser 1981,11.43 Schmidt 1996, S. 259ff.; diese konnten freilich auch wieder zu elegischen »pleasures of melancholy« verarbeitet werden; vgl. dazu III Bredvold, S. 53ff.). Von daher lassen sich die Freundschaften als Ersatzkonstruktionen für die defizitäre Sozialstruktur erklären, und die poetische, aber auch die religiöse Energie, die nicht müde wurde, »Freude«, »Glück« und »Vergnügen« herbeizuphantasieren, kann als lustbesetzte »denkerische« und »emotionelle« Entlastung sowie als Alternative auch zu inneren Bedrängnissen begriffen werden (III Mauser 1981, S. 221 ff.). Dies ließe sich auch für die pietistische »Gottseligkeit« in Erwägung ziehen, die den seligen Zustand der »unio mystica« »im Genieß(!) des gegenwärtigen / da Gott in dir und du in Gott eine
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H. Neologie und Empfindsamkeit
sfisse Freude und unaussprechliches Vergnügen empfindest« (II J. C. Schade, S. 307f.), ansiedelte, zumal hier - wie sich auch bei Zinzendorf zeigte (vgl. Kap. I l d) - mehr sinnliche Erregung im Spiel gewesen sein dürfte, als sich die radikalen Pietisten selbst einzugestehen vermochten (vgl. dazu auch Bd. V/l, S. 44f.). Die Neologen knüpften auch an diesen psychischen Seligkeitsbegriff an, suchten ihn aber aus dem >Geistlichen< ins Natürliche zu transponieren. Damit wurde er zugleich offen für weniger ambitionierte Zufriedenheits-Vorstellungen. Im Idealfall aber - und damit griffen die Neologen auch auf die Wolffsche Glückseligkeits-Moral zurück (vgl. Bd. V/2, S. 81 f.) - lag das »Glück« für sie in der Empfindung der moralischen Selbstvervollkommnung durch Mithilfe bei der Vervollkommnung der »Welt«. Und hier erblickten sie - wie sich nun zeigen soll - in den »eigenthümlichen Lehren des Christenthums« »den größten und letzten Zweck aller Religion, nämlich, den Menschen gut und glücklich zu machen.« (II Spalding BBM, S. 33f.) 2) Die Natur war für die Neologen nicht nur Medium der Andacht und damit des >HerzensBuch der Natur< über Welt und Mensch offenbart hat. Hier gab das Werk >The Analogy of Religion Natural and Revealed to the Constitution and Course of Nature< (1736, dt. Übs. durch Spalding 1756) des englischen Bischofs Joseph BUTLER (1692-1752) wichtige Anregungen. Gegen die Deisten gerichtet, aber ihnen weit entgegenkommend, versuchte Butler die Wahrheit der Hauptlehren des Christentums aus ihrer Übereinstimmung mit der göttlichen Einrichtung der Welt und der natürlichen Konstitution des Menschen zu erweisen. Daß diese »Analogie« keinen wissenschaftlichen Beweischarakter haben konnte, gaben er (II Butler, S. 50f.) und Spalding zu, aber was Butler an Erfahrungen und Wahrscheinlichkeiten beizubringen wußte, sollte doch einen »unwidersprechlichen practischen Einfluß auf das Herz und Verhalten haben« (II Spalding VÜ, S. VIII) und damit das vorantreiben, was Butler seiner Naturbetrachtung als Plan Gottes entnahm: die Vervollkommnung der physikalischen und moralischen Welt. Denn da man von Gott nur das Beste denken könne, bestehe die Absicht der Vorsehung »in der höchsten Tugend und Gluckseligkeit, die da möglich wäre« (U Butler, S. 13). So wie viele Lebewesen in der Natur ständig in höhere Lebensformen mutierten (wie die Raupe in den Schmetterling), könne auch der Mensch sich nach dem Tod in einem höheren Lebenszustand wiederfinden, wie die Religion es lehrt (ebda., S. 21ff.). Gerade in den Empfindungen habe Gott dem Menschen ein entscheidendes Mittel zur Einsicht in das, was ihn zu dieser Glückseligkeit führt oder was ihn ins Unglück stürzt, mit-
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gegeben, nämlich »Zufriedenheit und Vergnügen, als die Folge einer gewißen Art zu handeln, und Schmerz und Ungemächlichkeit, als die Folge einer ändern Art zu handeln« (ebda., S. 58). Dies sei die natürliche Bestätigung für die Lehre der Religion, Gott regiere den Menschen mittels »Lohn« und »Strafe« (ebda.). Dadurch gewannen die eine Handlung begleitenden Emotionen die gewichtige Funktion eines geradezu >göttlichen< Indikators für die Moral und eines Steuerungsinstruments für die Entwicklung des Menschen zu seiner größtmöglichen Glückseligkeit (auch dies wieder in Analogie zur sich vervollkommnenden Natur; vgl. ebda., S. 108ff., 114f.). Denn wir seien »offenbar zu allerley Art von Verbeßerung eingerichtet«, und die Natur nötigte uns, »in uns selbst thätige Fertigkeiten« zu entwickeln, »um zu demjenigen geschickt zu werden, wozu wir vorher ganz ungeschickt waren« (ebda., S. 227). Sowohl die natürliche als die geoffenbarte Religion dienten dazu, diesem von der Natur initiierten kulturellen Fortschritts- und Humanisierungsprozeß die naturgemäßen Ziele vorzugeben (vgl. ebda., S. 412). 3) Johann Friedrich Wilhelm JERUSALEM folgte in seinen von den Zeitgenossen vielbewunderten Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion< (1768/1772) in Zielsetzung und Beweisführung dem Werk Butlers, behandelte im ersten Band wie dieser Grundfragen der Religion, wie sie von der philosophischen und religionskritischen Diskussion der Zeit vorgegeben waren, um im zweiten Band wie Butler umgekehrt von der geoffenbarten Religion auszugehen und - das war der Hauptinhalt von Jerusalems >Zweytem Theil< - durch eine ausführlichrationale Auslegung der alttestamentlichen Genesis (insbesondere des Schöpfungsberichts) - die vollkommene Übereinstimmung der mosaischen Erzählungen mit der natürlich-vernünftig erschließbaren göttlichen Einrichtung von Welt und Mensch aufzuzeigen (zum Aufbau des Werkes - ohne Bezug zu Butler - 11.46 Müller, S. 31 ff.). Insonderheit ging es ihm um den Beweis der These, die er schon in einer Predigt über das Zinsgroschengleichnis (Mt. 22, 15-22) verkündigt hatte (SP, S. 277-324): »Es ist nie eine Religion in der Welt gewesen, die die Gluckseligkeit der Menschen so sehr zum Endzwek(!)gehabt hätte, als die Christliche« (ebda., S. 280). Und indem Jerusalem (mehr noch als Butler) alle bedeutenden philosophischen Positionen, alle Gegner oder Kritiker des Christentums (von Descartes, Spinoza und Locke bis zu Bayle, La Mettrie, Rousseau und Voltaire - um nur diese zu nennen) in seine Erörterungen einbezog und - wie es schien - zu widerlegen vermochte (von diesem Kontext vermittelt die theologieimmanente Studie Müllers keinen Eindruck), feierte die Religion mitten in der Aufklärung in diesem Hauptwerk der
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Neologie ihren Triumph, ging aus allen Angriffen gestärkt als strahlende Siegerin hervor und erwies sich - alles Unvernünftige in Bibel und Dogma korrigierend oder abstreifend - als entscheidendes Ferment der göttlichen Einrichtung der Welt sowie der Entwicklung der Kulturen, Nationen und Staaten auf dem Weg zu ihrer von Gott seinen Geschöpfen zugedachten Vollkommenheit. Dieser Gestus der unanfechtbaren, unzweifelhaften Sicherheit, den schon Jerusalems Predigten ausstrahlten, charakterisiert auch viele religiöse Gedichte der Empfindsamkeit, namentlich Gellerts großes Lehrgedicht >Der Christ< (vgl. Kap. II 4 c), aber auch einige seiner Kirchenlieder wie den >Preis des SchöpfersBetrachtung< Jerusalems über die Wichtigkeit der Untersuchung, ob ein Gott seyKritik der praktischen Vernunft/ (1787) das Moralgesetz gegenüber der die Autonomie der Vernunft bedrohenden »Sinnenwelt« (also auch den Gefühlen und »Privatneigungen«) abgegrenzt und in der »Idee einer nicht empirisch-gegebenen und dennoch durch Freiheit möglichen, mithin übersinnlichen Natur« verankert (II KPV, S. 52f.). 9) Dem wiederum hielt der Neologe Wilhelm Abraham TELLER (1734-1804; seit 1767 Propst von St. Petri und Oberkonsistorialrat in Berlin; vgl. 11.93 Bollacher) in seiner Schrift >Die Religion der Vollkommnerm (1792; Titel nach 1. Kor. 13, 10) eben den durch die Religion ermöglichten Zugewinn von »stärkenden und trostenden Empfindungen« entgegen: »Da auch Er (=der kluge Mann) ohne alles Interesse, nur aus Pflicht und nach Pflicht, oder, mit Herrn Kant zu reden, nach dem Moralgesetz handelt; so ist er aller Hochachtung werth: ist ein wahrhaft edler Mann. Nur bedauren muß man ihn, daß in seinem Wohlverhalten so viel Steife und Kälte ist, in seinem Herzen dabey eine so große Leere von stärkenden und trostenden Empfindungen.« (II Teller, S. 36)
Gerade weil ihm die Religion »den Genuß höherer Glückseligkeit verschaft, als er ohne sie haben würde«, ist er »bey dem, was ihm Religion ist, am glücklichsten« (ebda., S. 39). 10) Hier wird deutlich, wie sehr die Neologie mit dem Durchhalten der Bedeutung von Empfindung bzw. Gefühl für die Religion die Position und den Erfolg - des damaligen reformierten Predigers an der Berliner Charite Friedrich Daniel Ernst SCHLEIERMACHER (1768-1834; in Anstalten der Brüder-Unität erzogen und zeitlebens ein »Herrnhuter höherer Ordnung«; vgl. 11.83 Hermann, Sp. 1422) mitermöglicht hat, als dieser in seinen berühmten >Reden< >Über die Religion< (1799) definierte, ihr Wesen sei »weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Ge-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
fühl.« (H, S. 35; vgl. dazu IV Kemper I, S. 116ff.). Mit der Eliminierung von »Denken und Handeln« verabschiedete Schleiermacher indessen zwei entscheidende Anliegen der stets um der Vervollkommnung als Mittel der Glückseligkeit willen auf praktische Reformen zielenden Neologie und schränkte die Religion auf eine passive und emotionale psychische Disposition des Individuums ein: »Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.« (II, S. 35) Wenn Religion somit zum »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« wurde, dann - darauf verweist die von G. A. Baumgarten als Grundlage der Ästhetik eingeführte Kategorie des »Geschmacks« (vgl. Bd. V/2, S. 190) - vollzog sich damit zugleich die Symbiose von Religion und Poesie. So wird auch in diesem religionsgeschichtlichen Kontext der >Übergangscharakter< der Neologie deutlich, deren typische Konnexion von >Kopf< und >Herz< sich auflöste und damit einerseits in den Rationalismus und andererseits in die Romantik führte: Kein Zufall, daß ihr damit dasselbe Schicksal widerfuhr wie der literarischen Empfindsamkeit! Denn auch diese war von »Denken und Handeln« geprägt, und ihre fiktionale Literatur, namentlich die Romane, wurden wie kaum sonst in der Literaturgeschichte »als Anweisungen für ein richtiges Leben benutzt« (III Sauder 1983, S. 88), eben weil sich Empfindsamkeit im Kontext der Aufklärung (wie die Neologie) als »Genie zur Tugend« und »vernünftige Praxis« verstand (ebda., S. 89f.). In der Frühromantik indessen vollzog sich eine »Ästhetisierung des Empfindens«, in deren Medium sich das Leben gerade in Kunst und - nahezu austauschbar - in GefühlsReligion verwandeln sollte (ebda., S. 100). Die >Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders< (1797) von Wilhelm Heinrich WACKENRODER (1773-1798) und Ludwig TIECK (1773-1853), mit denen die Literatur der Frühromantik in Deutschland begann, vollzogen die Symbiose von Kunst und Religion zur »Kunst-Religion« (vgl. 11.101 Bollacher, S. 102ff.), die zur Unterstreichung ihres kontemplativ-passiven Charakters dem Künstler die frisch erworbene Autonomie der Inspiration wiederum entzog, weil es bei dieser »auf nichts anderes als den unmittelbaren göttlichen Beistand ankomme« (II Wackenroder/Tieck, S. 11). Doch nicht erst für die Frühromantiker, sondern großenteils auch schon für die Generation des Sturm und Drang hatten die Neologen wie ihre literarischen Gesinnungsgenossen zu viel »Kopf« und zu wenig »Herz«. So schrieb Christian Friedrich Daniel SCHUBART (1739-1791; vgl. zu ihm Bd. VI/2) schon 1766:
l) Die Neologie als Theologie der Empfindsamkeit
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»Sie haben recht, unsere heutige Modetheologie ist so geistleer, schlüpft so über die Glasur unsers Herzens hinweg, daß ich den Menschen sehen möchte, den der Geist eines Spaldings (so groß er ist), eines Dieterichs, eines Ernesti, eines Semlers, eines Tellers und anderer auf dem Todtenbette unterhalten und mit Freuden der Ewigkeit erfüllen könnte. Wenn ich denken will, so lese ich obige Theologen; will ich aber empfinden, warm empfinden, was Gott und Religion sei, so ist mir ein herzliches Verslein aus einem alten Kirchenliede tausendmal schätzbarer als der rastlos rollende Schwung eines modernen Rhetors.« (Zit. in III Kantzenbach, S. 180)
f)
Der Prediger als »Lehrer der Weisheit und Tugend« (S. J. Baumgarten, Spalding)
Nicht zufällig brachten die Vertreter der neuen Generation des >Sturm und Drang< am ehesten den führenden Repräsentanten der Neologie Respekt und Achtung entgegen: Auch in der Religion wurde die Verkündigung der Wahrheit nun gemessen an der Persönlichkeit des Geistlichen, an seiner Glaubwürdigkeit und der Authentizität seiner in die Predigt eingebrachten Glaubenserfahrung (vgl. III Kantzenbach, S. 86f.; ähnlich in der Schweiz, vgl. III Hürlimann, S. 132ff.; vgl. dazu auch Kap. I l e-2; II l a-2). Deshalb entwarfen die Neologen das Idealbild eines Geistlichen, der die Sache der Religion mit Gelehrsamkeit (>KopfHerzAnweisung zum erbaulichen Predigen< (zuerst 1751) warnte er vor dem Glauben, man könne ohne vernünftige Vorbereitung und Gliederung wie die Apostel »aus der Eingebung des heiligen Geistes« predigen »oder wol gar alle ungereimte Einfalle und Uebereilungen der Leidenschaften und Unvernunft als Zeichen der biblischen Einfalt und gottlichen Thorheit für erlaubt und schriftmasig(!) halten.« (II AEP, S. XXI f.) Insbesondere tadelte er wieder Zinzendorf, der die klare Vermittlung des christlichen »Lehrbegriffs für ein strafbares und
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II. Neologie und Empfindsamkeit
gefährliches Vernunftein und sundliches Grübeln ausgegeben« habe (GRP, S. 1134f.) und seine Zuhörer stattdessen lieber »auf sein, des HErrn Christi, Blut und Wunden« verweise (ASBB, S. 223). Indessen gerade weil für Baumgarten die »vornemste Verrichtung der Prediger« »im Öffentlichen Vortrage des gotlichen Worts« bestand (AEP, S. 550), hielt er den »Gebrauch der Warheiten der Vernunft und des Lichts der Natur« »zur Erläuterung und Bestätigung der gottlichen Offenbarung in der Schrift« sowie den Gebrauch der »Regeln und Hulfsmittel der Beredsamkeit« für geboten (AEP, S. XXII f.) und lehnte - das pietistische Laienpredigertum, wie es uns bei Tersteegen begegnete (vgl. Kap. I 2 a), vor Augen - »ungelerte Prediger« ab, wenn diese die »Gottesgelehrsamkeit« bewußt infragestellen sollten (AEP, S. 351 ff.). Der Fortschritt in den Wissenschaften und auch in der Erkenntnis der Religion erfordere vom Geistlichen, sich stets weiterzubilden und den neuen Erkenntnisstand auch weiterzuvermitteln, der Niedergang des Christentums hänge unmittelbar mit den mangelnden Lehrkenntnissen der Pfarrer zusammen (EG I, S. 77f.). Gerade weil die Predigt der »Erbauung der ZuhOrer« diene, erfordere sie »so wol Unterricht und Überzeugung des Verstandes, als Rührung und Bewegung des Willens« (AEP, S. 1). Indem Baumgarten aber Vernunft und Gelehrsamkeit in den Vordergrund stellte, zeigte er sich noch ganz unter dem Einfluß Wolffs, und von daher ist die Homologie seines Pfarrerbildes mit dem Ideal des »poeta doctus« nicht überraschend, das der Wolffianer Gottsched noch in der >Critischen Dichtkunst propagierte (vgl. II Gottsched CD, S. 94ff., 118ff.; Bd. V/2, S. 92). 2) Demgegenüber markierte Johann Joachim SPALDING mit seiner einflußreichen Schrift >Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren BefOrderung< (1772) deutlicher das der Empfindsamkeit entsprechende Bild des Seelsorgers. Dazu hebe ich drei Aspekte hervor. Von der Definition ausgehend, Geistliche seien »verordnete Ausleger und Erklärer des gottlichen Gesetzes, Lehrer der Weisheit und Tugend« (NPB, S. 11), war auch für Spalding erstens die Gelehrsamkeit unabdingbare Voraussetzung des Pfarrers, denn die »Leitung des Menschen zur Weisheit und Tugend ist zu wichtig, als daß man es damit auf Willkühr und Ungewißheit konnte ankommen lassen« (ebda., S. 40). Doch so wie Gelehrsamkeit an sich für den Gläubigen zur Religion unnötig sei (RAM, S. 128), so sollten auch »alle unfruchtbare speculativische Lehrmeynungen aus dem eigentlichen christlichen Unterrichte« wegbleiben und diejenigen »Vorstellungen getrieben« werden, »welche wirklich auf das Gemüth und Leben einen Einfluß haben.« (Ebda., S. 115) Von daher empfahl Spalding, das Dogma von der Trinität, das ohnehin die meisten nicht begreifen
1) Die Neologie als Theologie der Empfindsamkeit
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würden und das zur Gottseligkeit entbehrlich sei, ebenso hintanzustellen wie die komplizierte Christologie (Gott »verspricht mir Vergebung durch Christum; mehr brauche ich nicht.« Ebda., S. 137; vgl. dazu auch III Sparn 1988, S. 11) oder die Konfessionsunterschiede, welche »weder frommer noch glucklicher machen« und in ihren »Ausbruchen des blinden undenkenden Verfolgungsgeistes« »dem Nahmen des Christenthums und der protestantischen Kirche zu der äussersten Schande gereichen!« (Ebda., S. 146, 149; vgl. ebda., S. 115, 126ff.). Die Lehre vom »angebohrnen Verderben« gefährdete nach Spalding die Einsicht, daß »schlechterdings niemand ohne seine eigene Schuld ganz unglückselig seyn kann« (ebda., S. 164), und die Lehre vom angeborenen Unvermögen zum Guten führe nur zur Passivität des Menschen (ebda., S. 169ff.; hier zeigt sich die »beispiellose Reduktion«, welche die Neologie »an den Motiven und dem gedanklichen Stoffe des Christentums übt«; 11.88 Stephan, S. 9). Deshalb wünschte sich Spalding - mit deutlichem Blick auf Baumgarten (vgl. dessen >Kurtzgefaste casuistische Pastoraltheologiemoral sense< sollte das Gewissen als Organ des Guten und Bösen »zu einer gewissen Feinheit des Gefühls erhöhet werden« (ebda., S. 228f.). Solche Vorrangstellung der Gesinnungsethik verknüpfte natürlich drittens die Wahrheit der Botschaft aufs engste mit der Glaubwürdigkeit und damit der persönlichen Vorbildlichkeit des Predigers: »O lasset uns um Gottes willen an uns selbst zeigen, daß wir es nicht allein für nothwendig, nicht allein für möglich, sondern auch für unser eigenes höchstes Glück halten, nach unserer Lehre zu leben!« (Ebda., S. 234) Diese christliche Gesinnung mußte sich durchgängig im Alltag beweisen (ebda., S. 226f.), also nicht nur im Gottesdienst, und dieser sollte das feierliche Pathos verlieren: Die Prediger sollten versuchen, sich einer verständlichen Sprache zu bedienen und »den Ton des ernsten vertraulichen Gesprächs zu treffen, der gerade auf den Menschenverstand und das Herz gehet« (ebda., S. 221 f.). Am besten sei »derjenige Prediger, der ein ehrlicher, weiser, heiterer menschenfreundlicher Mann ist« (ebda., S. 238), - und eben diesem Bild entsprach Spalding selbst offenbar in hohem Maße (vgl. dazu auch Abb. 8 in Kap. II l b), aber auch andere Neologen und die Theologen unter den >Bremer Beiträgern< (vgl. Kap. II 3). Die Individualisierung des Predigtstils war eine Folge dieser Ansichten und ein Kennzeichen der Epoche seit 1740. Die eindrucksvollste literarische Getaltung dieses neuen Predigertypus, der sich den Andrang und die Andacht der Zuhörer nun als persönliche Leistung zumessen durfte, ist Karl Philipp Moritz im >Anton Reisen mit dem Porträt des Braunschweiger Pastors P(aulmann) gelungen, der immer von den »Höhen der Vernunft« predigte und seine Gemeinde zugleich in dem »mächtigen Erguß seiner Empfindungen und Gedanken« fortriß (vgl. II Moritz, S. 76, 97ff.).So hatte Spalding auch bereits Grund zu seiner Invektive gegen jene Kollegen, die sich von der Kanzel wie »Poeten« vernehmen ließen: »Wir haben zum Theil dichterische Genies, bey denen Mahlen und Bewegen, auch in geistlichen Vorträgen, ihr wahres Element ist. Jenes gehöret freylich noch am wenigsten zu den Unterweisungen in christlichen Gemeinen; und der gottselige Kenner kann es unmöglich billigen, wenn oft eine ganze Predigt eine bloße poetische Gallerie wird, wo die Pracht der Bilder und der Wohlklang der Worte alles ausmacht. Aber auch die beständige Bemühung, das Gemüth mit Leidenschaften zu erhitzen, ist nicht das, was eigentlich von Seiten des Predigers dienet, Christen zu machen.« (GWGC, S. 321)
l) Die Neologie als Theologie der Empfindsamkeit
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Indessen gerade diese Kritik verrät, wie nahe sich in der Empfindsamkeit Prediger und Dichter im Ideal des »Lehrers der Weisheit und Tugend« kamen. Emotionalisierung und Habitualisierung der Gesinnung zum Guten waren eben - zumal angesichts der Ent-Heiligung des Gottesdienstes keine Domäne der Predigt und des Predigtamtes mehr, sondern auch in literarischen Gattungen - vom Pfarrhausroman bis zur religiösen Ode anzutreffen. - Der folgende Autor repräsentiert wie kein anderer aus der Epoche (außer Klopstock!) in Person und Werk diese Symbiose eines empfindsam-moralischen Dichter-Theologen. g) Die »philosophische Moral« als »Schritt zur Moral der Religion« (Geliert) 1) Was Schubart an den Neologen kritisierte (vgl.Kap. II le-10), das vermißte er wiederum an Christian Fürchtegott GELLERTS (1715-1769) >Moralischen Vorlesungen (1770) zugunsten eines Übergewichts »warmer Empfindung«: »Der Stil ist der vortrefflichste Kanzelstil und fällt nur zu selten ins Dogmatische.« (Zit. in II Geliert MV, S. 343) Geliert, der meistgelesene deutschsprachige Autor des 18. Jahrhunderts, bekannte selbst, »viel zu wenig Tiefsinn« zu besitzen, um »ein vollständiges System der Moral zu entwerfen« (ebda., S. 320). Seine stets vor einem großen Auditorium in der Leipziger Universität gehaltenen Vorlesungen entwikkelten sich aus einem Kolleg, dem u. a. die philosophische Moral des Hutcheson-Schülers David FORDYCE (1711-1757; >The Elements of Moral PhilosophyAnfangsgründe der moralischen WeltweisheitVorlesungen< enden auch »mit einem kurzen Abrisse der Pflichten gegen Gott, wie sie uns die natürliche Religion lehret« (II MV, S. 273), doch betrachtete er wie die Neologen die »praktische Theologie der Vernunft« nur als »Führerin« »zur Theologie der geoffenbarten Religion« (ebda., S. 281; vgl. ebda., S. 56) und schrieb insofern - so ein zeitgenössischer Rezensent mit Recht - »eine ganz theologische Moral, die alle Pflichten auf den Willen Gottes gründet, alle Bewegungsgründe aus der Religion ableitet« (ebda., S. 371). Den Neologen folgend behandelte er dabei stets die Pflichten des »Kopfes« und des »Herzens« bei der Begründung und Ausübung der Tugend, denn die »Moral, oder die Kenntniß von der Pflicht des Menschen, soll unsern Verstand zur Weis-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
heit und unser Herz zur Tugend bilden, und durch beides uns zum Glucke leiten.« (Ebda., S. 13) Doch in der dem Pietismus wie der Neologie eigentümlichen, der Leibniz-AVolffschen Schulphilosophie gegenüber kritischen Überzeugung, die Sitten würden sich nicht bessern, »wenn die Tugend bloß ein Werk der Vernunft und nicht der Religion; bloß ein Werk der Erziehung und nicht einer gottlichen Veränderung unsers Herzens wäre« (ebda., S. 7), legte Geliert das Schwergewicht seiner Vorlesungen auf die Tugendpraxis und versuchte, »ob ich Ihnen die vornehmsten Theile der Sittenlehre auf eine lebhaftere Art, nicht bloß durch Beweise der Vernunft, sondern zugleich durch die Ausspruche des Herzens und die Stimmen der innerlichen Empfindung und des Gewissens, durch Beyspiele und Gemälde, vortragen und erläutern kann.« (Ebda., S. 7) Durch die zahlreich eingestreuten fiktiven Charakter-Porträts, durch viele Verse aus eigener und fremder Feder (u. a. aus Hallers Lehrgedichten), durch häufige Berufung auf eigene Erfahrung, durch persönliche Anreden und Appelle, durch den Verzicht auf gelehrtes Demonstrieren (aber auch auf den Nachweis der Herkunft des eigenen, eklektisch gesammelten Wissens) haben diese Vorlesungen einen eher erbaulichen, ja literarischen und weniger akademisch-gelehrten Charakter. Und bezeichnenderweise ist von den drei Teilen der Vorlesung nur der erste, der »die Erklärung der Grunde und Eigenschaften der Moral überhaupt enthält« (ebda., S. 11-68), theoretisch orientiert, während die beiden anderen bereits regel- und detailfreudig zur umfassenden Explikation der Pflichtenethik übergehen (>Von den allgemeinen Mitteln, zur Tugend zu gelangen und sie zu vermehren^ S. 69-128; >Von den vornehmsten Pflichten des MenschenVorlesungen< - orientiert u. a. an Basedow und in bemerkenswerter Übereinstimmung mit Rousseau, den er allerdings nicht erwähnt - detailliert entfaltete (ebda., S. 231ff.). 3) Geliert nahm zwar die Aufgabe zur Entwicklung einer natürlichen Moral ernst - und deren Grundlagen finden sich entsprechend auch in seinem dichterischen Werk (vgl. Kap. II 4) -, doch war sie angesichts ihrer theologischen Fundierung bereits als Vorstufe zur christlichen Moral gedacht, in der sie erst ihre Vollendung erfuhr. Der natürlichen Moral ging es nur um Sittenverbesserung mit dem Ziel, den Menschen zum »vernunftigen Burger« zu machen und »die Öffentliche Ruhe« zu befördern. Die christliche Moral dagegen »hat eine höhere Absicht, nämlich sein ganzes Herz zu ändern und zu erneuern« und dies »aus der erhabensten Absicht, aus Liebe und Ehrfurcht gegen Gott, aus einem Herzen, das der Glaube geadelt« hat (ebda., S. 50f.), und die Liebe zum »gottlichen Mittler« »beseelet das Herz mit einer gottlichen Kraft, seine bosen Neigungen zu fiberwinden«, und dies zugleich in dem glückseligen Bewußtsein verheißener Unsterblichkeit (ebda., S. 53). Ja die Tugend war dieser »Weg zur Gluckseligkeit«. Unter Berufung auf Youngs Diktum, Liebe zu Gott sei »der Freude völlige Reife«, rief Geliert aus: »Ihn aber erkennen, und Empfindungen der Seele gegen ihn haben, die dieser Erkenntniß gemäß sind, und das thun, was diese Empfindungen uns empfehlen, dieses ist die Anbetung Gottes, das Wesen und das Gluck der Religion, die höchste Tugend und daher die höchste Staffel der menschlichen Gluckseligkeit.« (Ebda., S. 61) In diesem Hauptzweck der christlichen Moral befand er sich in völliger Übereinstimmung mit seinen neologischen Gewährsleuten. 4) Ein wichtiger Unterschied zu einem Teil der Neologen ergab sich aber aus der Konsequenz, die Geliert mit nahezu pietistisch anmutender Strenge aus dieser Tugendlehre zog: die in der christlichen Moral gründende Liebe zu Gott und dem Erlöser »ist so vollständig, daß sie dem Herzen keine Ausnahme verstattet. Sie lehret, daß wer ein Gebot wissentlich übertritt, gewissermaßen die ganze Summe der gottlichen Gesetze übertreten habe.« (Ebda., S. 50) Die Quelle des größten Glückes war also für Geliert zugleich die Quelle ständiger Beunruhigung, die nur durch unentwegte und ausnahmslose Tugendhaftigkeit zum (vorübergehenden) Schweigen gebracht werden konnte: »Die größte und dauerhafteste unter allen Martern der Seele ist eben diejenige, von der die Tugend am meisten
l) Die Neologie als Theologie der Empfindsamkeit
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befreyet, ich meyne die Gewissensangst, oder die peinlichen Vorwurfe seines eigenen Herzens, wissentlich wider die Befehle der Natur und Gottes gehandelt zu haben.« (Ebda., S. 61f.) Dieser ängstliche ethische Rigorismus Gellerts, der nicht nur auf literarische Einflüsse, sondern auch auf seine >Melancholie< zurückzuführen ist (vgl. Kap. II 4 a), hat sowohl den Charakter der >Moralischen Vorlesungen mit ihren detaillierten Verhaltensregeln von der Gesundheits- bis zur Freundschaftspflege und zur Gattenliebe (MV, S. 129ff.) als auch sein weiteres literarisches Werk bis hin zu den Lehrgedichten und geistlichen Liedern geprägt. Vor allem dieser religiös begründete Tugendeifer machte ihn in den Augen seiner Zeitgenossen zu einem überkonfessionellen »christlichen Lehrer«, und ein theologischer Rezensent äußerte die »Überzeugung, daß viele seiner Schriften selbst, vermöge ihres Inhalts, nicht weniger zur Erbauung der Kirche Jesu bisher beygetragen haben, als viele Predigten, ascetische Schriften und Vertheidigungen der Religion« (ebda., S. 368). Geliert, der - so sein Schüler Gustav Adolph von Ammann - »immer zu großen moralischen Charakteren, die er schilderte, das Urbild« war (ebda., S. 357), hat so mit der Wirkung seiner Person, mit seiner Moral-Theorie und seinem dichterischen Werk entscheidend zur Popularisierung und Literarisierung neologischer Positionen beigetragen. Dabei hat er aber nicht nur die moralischen, sondern auch die poetologischen Begründungen genutzt, die der theologische Diskurs für die mannigfachen Annäherungen von Dichtung und Religion in der >Empfmdsamkeit< bereitstellte.
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2) Poeto-theologische Diskurse
a) Enthusiasmus der Wahrheit, moralische Schönheit und Geschmacksbildung als Legitimation der Poesie (Shaftesbury, Hutcheson, Batteux, J. A. Schlegel, Jerusalem, Wieland) 1) Die durch A. G. Baumgarten als Wissenschaft von den Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten des Schönen begründete Ästhetik (vgl. Bd. V/2, S. 187ff.; zu seiner Gedichttheorie II.4 Strube) hat eine bedeutende theologische Vorgeschichte, die miterklärt, warum es speziell in der Empfindsamkeit zu einer »Theologisierung« der ästhetischen Diskussion und auch zu einer »Ästhetisierung der Theologie« gekommen ist (vgl. dazu III Rentsch, S. 347): Die der Ästhetik eigene Erkenntnisweise der diskursiv uneinholbaren und reflexiv unüberbietbaren« »cognitio sensitiva« enthält »genau diejenigen Qualitäten, die vormals der >visio Dei beatifica< . . . zugeschrieben wurden, d. h. der (nicht immer) postmortal gedachten beseligenden Schau Gottes als des letzten und höchsten Zieles sowohl des individuellen Lebens als auch der ganzen Welt als der geschichtsendigenden Parusie. Die durch Kunst und schöne Natur vermittelte Erfahrung erhält so diejenigen Genuß- und Heilsqualitäten, die ehemals die Dignität der jenseitigen visio konstituierten.« (Ebda., S. 330f.) In vielerlei Facetten - so wird sich im folgenden zeigen - ließen sich Themen der theologischen und philosophischen Tradition mit der neuen ästhetischen und insbesondere poetologischen Diskussion verknüpfen: das Anschauen des Schönen mit dem platonischen Kalokagathiegedanken, mit einer physikotheologisch-pantheistischen »Schau« Gottes selbst im Medium seiner Natur (vgl. dazu auch III Sparn 1992; Timm, S. 30f.), damit die sinnliche Erfahrung des Numinosen, die sich zugleich in Ordnung und Schönheit der poetischen Form vermittelte, der dadurch ausgelöste Glücks- und Genußcharakter ästhetischer Erfahrung (III Rentsch, S. 330), der sich ununterscheidbar im präkognitiven Gefühl der Ergriffenheit und Dankbarkeit - und damit schon auch der Gottesverehrung als eines zentralen religiösen Akts bekundete. Dabei ging es in der Debatte hauptsächlich um die Begründung der Poesie als eines authentischen Mediums unmittelbarer Erfahrung >von realer Gegenwart des Numinosen (vgl. III Steiner, S. 18Iff.), wofür auch schon Zinzendorf, Tersteegen und Pyra/Lange
2) Poeto-theologische Diskurse
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poetische Beispiele geliefert haben: Die Poesie sollte das Schöne oder Erhabene nicht nur darstellen, sondern diese ästhetischen Erfahrungsweisen sollten sich in der Dichtung ereignen, real und damit mitvollziehbar werden. Garantierte auf Seiten des Autors die These von seiner Inspiriertheit die Authentizität von Inhalt und Form der Dichtung, so sicherten auf Seiten der Rezipienten die angebornen Empfindungen für Schönheit, Moral und Geschmack den »Akt semantischen Vertrauens« (ebda., S. 125) auf die Partizipation am Numinosen, das durch Rückgriff auf bestimmte optische (Mimesis) und akustische Techniken im Gedicht besonders sinnenfällig gestaltet wurde und damit sinnlich und >leibhaftig< erfahren werden konnte (vgl. dazu auch III G. Braungart). Höhepunkt dieser Auratisierung des Kunstwerks ist das von Klopstock geschaffene »rituelle Gedicht< (vgl. Kap. II 6 d). Das Streben nach Präsenz und Unmittelbarkeit sinnlicher Erfahrung der Poesie zeigte sich auch in der Tendenz zu »ästhetischer Konsubjektivität« (III Rentsch, S. 330) in Gestalt gemeinschaftlicher mündlicher Rezeption der Poesie im Freundeskreis (vgl. dazu Kap. II 6 c-4), aber auch im ernsthaften Glauben an die Zweckhaftigkeit (und nicht an die von Kant und Schiller vertretene Zweckfreiheit) der Kunst: Am religiösen und ethischen Anspruch seiner Poesie wurde auch der Autor bis in sein Privatleben hinein gemessen (wie Klopstock mehrfach leidvoll erfuhr; vgl. Kap. II 6 b), und ebenso hatte die Moralität des Werkes auch eine Ethik der Rezeption zum Ziel, die aus der >Sympathie< mit der »Kalokagathie« des Werkes und seines Inhalts resultierte. Darstellung und Evokation entsprechender Empfindungen war darum das Hauptziel der - eben deshalb weitgehend religiös und moralisch geprägten - Poesie der Empfindsamkeit. 2) SHAFTESBURYS >MoralistenPoetik< und machte ihre Magie berechenbar, indem er sie in Komposition und Wirkung bis zur Ununterscheidbarkeit der Rhetorik annäherte (ebda., S. 79). Das Magische, Mythische, Kultische und Sakrale in der Dichtung sind seither nur noch »erinnerter Sinn« in fiktionaler Gestalt. Und vollends in der Moderne wird die Frage nach der Wahrheit über Gott, Welt und Mensch unwiderruflich zur Domäne der Philosophie, dann zunehmend der Naturwissenschaften, das rationalistische und das empirisch orientierte Denken erklärt die Natur seither nach den Gesetzen der Kausalität, die Gesellschaft nach Funktion und Zweck (vgl. ebda., S. 119). Die neuzeitliche Welt, der die Geister ausgetrieben sind, ist freilich auch nicht mehr angemessen >sinnlich< darstellbar, und so wird vor allem die Literatur zu einem Forum, in dem nur noch das überholte, vormoderne Wissen einer animistisch und analogisch strukturierten Weltanschauung als bewußt durchschaute Fiktion einen nostalgischen - freilich auch kompensatorisch nützlichen - Zauber entfalten kann (vgl. ebda., S. 137). Eine solch >logozentrische< Rekonstruktion der Wissenschafts- und Kulturgeschichte unterschätzt bei weitem den in der frühen Neuzeit immer noch und seit der Renaissance wieder neu belebten Einfluß der Magie und der mit ihr verwandten geheimen Künste - kurz der hermetischen Tradition - als eines bedeutenden Paradigmas der Welterklärung neben dem christlichen und dem neuen naturwissenschaftlichen Weltbild. Die bisher vorliegenden Bände dieser Lyrikgeschichte haben dies kontinuierlich nachgewiesen. Auch Martin Opitz, der »Vater der deutschen Dichtung«, begründete die Poesie im Kontext der Magie (vgl. III Kemper 1995, S. 65ff.). Die >Cambridge Platonists< standen mit ihrer SympathienLehre ebenfalls in dieser neuplatonisch-hermetischen Tradition (vgl. Kap. II l c 2), und an ihre Lehren knüpfte nun Shaftesbury in seinen >Moralisten< an (vgl. dazu auch Kap. II l c-3). In diesem Dialog werden die Ideen des Cambridger Platonismus durch die Figur des Theokies in Dialogen mit Philokles, dem Vertreter eines an Shaftesburys Lehrer John Locke geschulten skeptischen Empirismus auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft (zur Spannung zwischen Empirismus und Platonismus bei Shaftesbury vgl. III Cassirer, S. 418ff.). Theokies vertritt die Idee von der Welt als einer in Harmonie geordneten, in Sympathie miteinander verwobenen Totalität, in der Gott als Geist panentheistisch gegenwärtig ist und in »ästhetischer Kontemplation« als »Urschönheit« wahrgenommen werden kann (vgl. III Strube, S. 151). Da diese Theorie im Sinne Lockes nicht wahrheitsfähig ist, weil sie den von der Vernunft erkenn- und überprüfbaren Bereich empirischer Forschung übersteigt, wird sie induktiv und nach dem Verfahren des aposteriorischen Gottesbeweises er-
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schlössen: Die eigene subjektive Erfahrung des Innen und Außen läßt im Körper und der Natur funktionale und miteinander harmonierende Ordnungen erkennen. Deshalb ist es der Vernunft erlaubt, sie auch dort zu hypostasieren, wo sie sie (noch) nicht oder nicht mehr zu erkennen vermag (II M, S. 106f.). Daß der Mensch diese Ordnung wahrnimmt, liegt aber auch an einer in ihm selbst vorhandenen Disponibilität - Shaftesbury vermeidet den im Blick auf Locke prekären Begriff der »angeborenen Idee«, kommt ihr aber faktisch mit der Vorstellung einer entsprechend von Natur aus mitgegebenen präkognitiven und sensuellen Strukturiertheit des Empfmdungs- und Denkvermögens nahe, die der Sache nach bereits meint, was Hutcheson »Schönheitssinn« nennt (vgl. Nr. 3): »Nichts ist gewiß stärker unserem Verstande eingeprägt oder tiefer mit unserer Seele verwoben als die Idee von Ordnung und Ebenmaß. Daher die große Gewalt der Zahl und aller jener mächtigen Künste, die sich auf ihre Handhabung und ihren Gebrauch gründen.« (Ebda., S. 107)
Und die Vernunft erkennt überdies, daß sich Dinge, die durch Ordnung strukturiert sind, mit anderen Dingen jeweils zu Zweck-Ordnungen, zu Teilen eines Systems oder einem Systemganzen verbinden (ebda.). So läßt sich per Analogie auf die Harmonie der gesamten Schöpfungsordnung in all ihren Teilen und Gattungen schließen (ebda., S. 108). Aber genau da nun, wo die »hohe Seele« »erwägt, wie die allgemeine Harmonie aus der Harmonie des einzelnen entsteht« (ebda., S. 59), da tut sie dies - philosophisch dazu legitimiert - im Zustand der Inspiration, die Shaftesbury vom Fanatismus abgrenzend - als »göttlichen Enthusiasmus« charakterisiert (BE, S. 35). Der rhapsodisch-»erhabene Vortrag« (M, S. 58) des Theokies wird hymnische Naturpoesie, und der im philosophischen Diskurs zur Wahrheit des Theokies bekehrte Philokles bekennt offen: »Und es war mir viel leichter, in jenen poetischen Phantasien, von denen Theokies Gebrauch machte, die Wahrheit zu finden, als in einer der graulichen Geschichten seiner Freunde, die in der gebräuchlichen Weise hochtrabend, mit einem prahlerischen Tone von Autorität und mit einer anmaßenden Miene von Wahrheit vorgebracht wurden.« (Ebda., S. 131)
Gewiß ist die poetische Form, in der dieses Weltbild besungen wird, ein Eingeständnis dessen, daß die Wahrheit da, wo sie philosophisch nicht mehr bewiesen werden kann, besser in rhapsodischer Dichtung vorgetragen wird. Deshalb bleibt sie aber wahr, weil diese Wahrheit philosophisch begründet, jedenfalls nicht - damals nicht - empirisch-rational widerlegbar erscheint. Darüberhinaus aber - und das ist entscheidend ist diese enthusiastisch-erhabene Dichtung Medium dessen, was sie besingt, in ihr erfüllt sich real, was die Philosophie nur objektivierend den-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
ken kann. »Wenn Sie nur einmal«, erklärt Theokies zum Schauspiel des Sonnenaufgangs, »diesen Anblick genossen haben, so stehe ich dafür, daß alle jene niedrigen Züge und Mißgestaltungen der Natur sowohl als auch des menschlichen Geschlechts augenblicklich verschwinden und Sie mit der Liebe erfüllt werden, die ich Ihnen nur wünsche.« (Ebda., S. 81) Im berühmten, auch von Brockes in der >Einleitung< von Band VIII seines >Irdischen Vergnügens in Gott< übersetzten Sonnenaufgangshymnus singt und verkündet Theokies seinen berühmten begeisterten Lobgesang auf die Natur, um »uns die Gottheit . . . gegenwärtig fühlen zu lassen« (ebda., S. 145: vgl. II Brockes IVG VIII, S. 4f; vgl. dazu IV Peters, S. 89ff.): »O herrliche Natur! über alles schön und gut! Alliebend, allliebenswert, allgöttlich! deren Blicke so bezaubernd und so unendlich liebreizend sind; deren Erforschung so viel Weisheit, deren Betrachtung so viel Wonne bringt; deren geringstes Werk eine reichere Szene, ein edleres Schauspiel darbietet als alles, was je die Kunst erfand! O mächtige Natur: weise Statthalterin der Vorsehung! mächtige Schöpferin! oder Du Macht verleihende Gottheit, höchster Schöpfer! Dich ruf ich an, vor Dir allein werf ich mich nieder! Dir sind diese Einsamkeit, dieser Ort, diese ländlichen Betrachtungen geweiht. Also erfüllt von der Harmonie der Gedanken, besinge ich frei, ohne künstlichen Bau der Worte, die Ordnung der Natur in geschaffenen Wesen und feiere die Schönheiten, die sich in Dir auflösen, Du Quelle und Urgrund aller Schönheit und Vollkommenheit!« (M, S. 146)
Und indem Theokies dies singt, ergreift ihn eben diese allgöttliche Sympathie, bindet ihn ein in die Schöpfungsharmonie und macht ihn selbst damit dem Göttlichen ähnlich. »Dichtung als Vollzug« - so hat man einmal Intention und Wirkung von Novalis' >Hymnen an die Nacht< charakterisiert (vgl. 11.68 Brinkmann), und das trifft auch hier zu. Und es ist das philosophische, religiöse und moralische Ziel des Theokies, in diesem sinnlich-meditativen Akt die Gottebenbildlichkeit seines »Selbst« zu befördern und damit sein »fragmentarisches Existieren« zu überwinden (vgl. III Fietz 1994). »Da ich«, erklärt er, »von meinem eignen Wesen und diesem meinem Selbst überzeugt bin, daß es ein wahres Selbst ist, welches aus einem ändern höchsten, ursprünglichen Selbst (dem großen Einen der Welt) entstanden und nach seinem Bilde gemacht wurde, bestrebe ich mich, mit ihm eins zu sein und ihm ähnlich zu werden, so weit es mir möglich ist.« (M, S. 155) Dichtung ist Wirkungsmedium der All-Sympathie, ist religiös und magischer Vollzug dessen, was die Philosophie denkt, aber nicht selbst praktisch einzulösen vermag. Gleich zu Beginn des Jahrhunderts der Aufklärung also reicht die Philosophie hier der Poesie im Kontext des Neuplatonismus jene Wahrheitskompetenz zurück, die Plato ihr entrissen hatte, und in gewaltigen Inspirations- und
2) Poeto-theologische Diskurse
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Kreativitätsschüben haben die Dichter als Seher, Propheten und »Priester der Natur« der Poesie als einem Medium der Wahrheits-Er fahrung Geltung verschafft und dabei auch die Religion, deren Organ sie lange war, in ein Medium der Poesie verwandelt (Kap. II 6 c, g; zur Rezeption Shaftesburys im Rahmen des Genie-Verständnisses vgl. 11.49 Schieiden, S. 74f.; III J.Schmidt I, S. 259ff.; Bd.VI/2). 3) Francis HUTCHESON, dessen >A system of moral philosophy< (1755) Lessing 1756 übersetzte, knüpfte wie Shaftesbury an den (neu-)platonischen Gedanken der Kalokagathie an, versuchte aber das Schöne psychologisch stärker auf das Gute hin zu funktionalisieren. So gab es für Hutcheson nicht nur einen »moral sense« (vgl. Kap. II l c-4), sondern wie für Shaftesbury auch ein »Gefühl der Schönheit, das denen Menschen natürlich sey« (II ÜBST, S.)( 5 v) und als »innerliches Gefühl« ein den Sinneswahrnehmungen überlegenes »höheres Vermögen« sei, das sich vor allem an wohlproportionierten Gegenständen entzündete und »eine bewunderungswürdige Einförmigkeit mit einer fast unendlichen Mannigfaltigkeit« verband (ebda., S. 22f.). Dieses Gefühl der Schönheit wirkte als ästhetisches Urteil ganz spontan und unabhängig von rationalen Überlegungen über die »Nützlichkeit des Gegenstandes« oder über seine moralische Qualität (ebda., S. 14ff.) und war zugleich allgemeingültig (vgl. III Strube, S. 155): Zweifellos ist hier A. G. Baumgartens Fundierung der Ästhetik in den unteren Erkenntnisvermögen des Menschen bereits vorgebildet (vgl. Bd. V/2, S. 189 ). Doch Hutcheson erarbeitete nun eine Hierarchie der Schönheits-Empfindungen. Die »edelsten Vergnügungen der inneren Sinnen« stellten sich auch für ihn »bey der Betrachtung der Werke der Natur« ein (ebda., S. 100). Noch edler freilich erschien es - und das war seine Interpretation des Kalokagathiegedankens -, wenn Schönheits-Sinn und »moral sense« so miteinander verbunden waren, daß ersterer der vertiefenden Empfindung des letzteren und damit als »Symbol der Sittlichkeit« diente (vgl. III Franke/Oesterle, Sp. 86). Und diese Kombination war »der Grund von den vornehmsten Vergnügungen der Poesie«. Denn es haben »diejenigen Schönheiten, die uns am meisten bewegen, eine Beziehung auf unser moralisches Gefühl, und rührten (!) uns weit heftiger, als die Vorstellungen natürlicher Gegenstände in der lebhaftesten Beschreibung. Dramatische und epische Poesie sind gäntzlich nach diesem Gefühl eingerichtet, und erregen unsre Leidenschaften durch das Schicksal derer Charaktere, die als moralisch gut oder böse vorgestellet werden.« (ÜBST, S. 100)
Die >moralischen CharaktereFabeln und ErzählungenLes beaux arts reduits en un meme principe< (zuerst Paris 1745; vgl. dazu II.3 von der Lühe, S. 24ff.; Vollhardt, S. 30ff.). Dem französischen Neoklassizismus verhaftet, führte Batteux das Wesen aller schönen Künste (Musik, Poesie, Malerei, Bildhauer- und Tanzkunst) auf die >Nachahmung der Natur< zurück, wobei er unter Natur »alles« verstand, »was ist, oder was wir uns leicht als möglich vorstellen können« (II, S. 26), und unter »schöner Natur« »das Wahre, das seyn kann« (ebda., S. 41). So wie sich das durch Einbildungskraft, Rationalität und hohe Emotionalität charakterisierte Genie (ebda., S. 44ff.) bei der Erschaffung seiner Werke an der - perspektivisch wahrgenommenen - >Natur< orientiert, so auch der Rezipient mithilfe seines »guten Geschmacks« (»bon goüt«). Und mit der Frage nach dessen Wesen, mit dem sich der mittlere der drei Teile der Abhandlung befaßt, traf Batteux ins Zentrum empfindsam-literarischer Selbstorientierung: »Hat er Regeln oder hat er keine? Ist der Verstand allein das Werkzeug desselben? oder ist es das Herz allein? Oder sind es beide zugleich?« (Ebda., S. 71) Für Batteux traf das letztere zu: Zwar ist unser Geschmack eine Empfindung, »durch die wir erfahren, ob die schone Natur gut oder schlecht nachgeahmt sey«, doch geht ihr jeweils »ein schneller Strahl vom Lichte voran, durch dessen Hülfe wir die Eigenschaften des Gegenstandes entdecken« (ebda.,
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S. 76f.). Der für die Künste geltende Geschmack ist ein Ableger des natürlichen, den Menschen angeborenen Geschmacks. Und so wie dieser bereits die Aufgabe hat, den Menschen in der Realität - etwa in den Speisen - dem Guten zuzuneigen, so soll auch der Kunst-Geschmack im Reich der >Nachahmung< wirken. Dazu muß er allerdings wie die Künste selbst, die sich aus der anfänglichen kulturgeschichtlichen »Barbarei« erst entwickelt haben, seinerseits »feiner und zärtlicher« werden (ebda., S. 80f.). Dies geschieht insbesondere dann, wenn der Geschmack, welcher der Selbstliebe dient, weil er zum Genießen bestimmt ist, sich an der künstlerischen Nachahmung der schönen Natur orientiert, denn diese insbesondere kann »unser Herz aus dem trägen Schlummer reissen«, da »uns nichts angenehmer schmeichelt, als dasjenige, was uns unsrer Vollkommenheit näher bringt, oder Hoffnung dazu machet« (ebda., S. 91 f.). Dinge, die uns bewegen sollen, müssen uns allerdings nahestehen, ja »eine genaue Verwandtschaft mit uns haben«, so daß die Handlungen und Leidenschaften der Menschen am bewegendsten sind, aber sie müssen zugleich alle Vollkommenheit aufweisen, deren sie fähig sind (wie »Mannigfaltigkeit«, »Vortrefflichkeit«, »Regelmäßigkeit« im Sinne von »Symmetrie« und »Proportion«; ebda., S. 97f.; von daher versteht sich die Hochschätzung nicht nur von Epos und Drama, sondern auch des >Schafergedichts< bzw. der Idylle; ebda., S. 341 ff.; IIJ. A. Schlegel VEGS, S. 343ff.). Daraus folgt, daß die schöne Natur »alle Eigenschaften des Schonen und Guten in sich schliesse«, wobei das >Schöne< auf den Verstand, das >Gute< auf das Herz zielen und somit »beider Vollkommenheit befordern« (II Batteux, S. 103). Im übrigen urteilt der Kunst-Geschmack in Analogie zum natürlichen Geschmack, weil beider Gegenstände die Natur bzw. deren Nachahmung sind. Daraus folgerte Batteux, daß es im Grunde doch nur »einen einzigen Geschmack« gebe, »welcher sich uber alles, und so gar über die Sitten selbst, erstrecket« (ebda., S. 136). Und von da aus zog er die Verbindung zur moralischen Funktion der Religion: »Wenn man die christliche Religion eben so ausübte, wie man sie glaubet: So würde sie dasjenige in einem Augenblicke ausrichten, was die Künste nur unvollkommen, und erst in Jahren, ja manchmal in ganzen Jahrhunderten, auszurichten vermögen. . . . Doch da die meisten Menschen, nur mit dem Verstande, Christen sind: so ist es für die bürgerliche Gesellschaft ein großer Vortheil, daß man ihnen Empfindungen einflößet, die gewissermaaßen die Stelle der christlichen Liebe vertreten. Diese Empfindungen aber können uns nicht anders, als vermittelst der Künste, mitgetheilet werden, die, da sie Nachahmerinnen der Natur sind, uns derselben wieder näher bringen, und uns ihre edle Einfalt, ihr offnes Wesen, und ihre Gutthätigkeit, die sich auf eine gleiche Weise über alle Menschen erstrecket, zum Muster vorstellen.« (Ebda., S. 139)
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Dies ist ein Beispiel dafür, daß in der Epoche durchaus ein Bewußtsein von der Kompensations- bzw. Ersatzfunktion der Poesie gegenüber der Theologie bzw. Religion vorhanden war. 5) Der kritische Batteux-Übersetzer Johann Adolf SCHLEGEL (vgl. zu ihm Kap. II 3 b) relativierte sogleich diese These von Batteux, indem er als Theologe nicht dem Geschmack, sondern nur der »christlichen Religion« »vorbehielt«, »grundliche und vollständige Tugenden« im Menschen zu entwickeln (II VNGB, S. 64f.). Immerhin aber gestand auch Schlegel zu, der Geschmack sei der Tugend seiner Natur und Bestimmung nach förderlich: »Er liegt schon bey unsrer Geburt in uns. Gleich der Vernunft, ist er ein Erbtheil der Natur, und um nicht aus seinem Besitze zu fallen, bedarf es weiter nichts, als aus der Seele ihn hervorzuholen, und anzuwenden.« (Ebda., S. 67) Die Notwendigkeit zu seiner systematischen Bildung ergab sich aus seinem Charakter als Empfindung, die lange vor der Vernunft des Menschen vorhanden sei: Die Erziehung zum Geschmack in der Jugend hat also »das Amt auf sich, der Vernunft, als der Herrscherin, ihr Reich zuzubereiten.« (VNBG, S. 83) Im Gegensatz zu Batteux, der den Geschmack nur mithilfe der Evokation schöner und angenehmer Empfindungen kultivieren wollte, sah Schlegel angesichts des »natürlichen Hangs zum Bösen« (ebda., S. 92, 101) die Notwendigkeit, zuerst das Gewissen und dann den diesem verwandten Geschmack mit ernsten, u. U. auch schmerzlichen Empfindungen zu erziehen: »Ekel am BOsen hilft Neigung zum Guten wirken.« (Ebda., S. 93) Am »fruchtbarsten« allerdings sei es, »daß man Kinder auf die Schönheiten der Natur aufmerksam macht«, denn der »Geschmack in den schonen Künsten gründet sich in den Geschmack an der Natur«, und »aus der Natur soll das Genie zur Erschaffung seiner Kunstwerke die Muster oder den Stoff, aus ihr soll der Geschmack die Regeln zur Beurtheilung derselben hervorholen. Dadurch also, daß man den naturlichen Geschmack stärket, arbeitet man in der That zum voraus für den kunstmäßigen.« (Ebda., S. 106) - Damit wurde hier die Modeerscheinung der Physikotheologie poetotheologisch als Mittel kindlicher Geschmacksbildung in Dienst genommen! Denn natürlich sollte in den Schönheiten der Natur zugleich Gottes Größe bewundert und damit der Geschmack für die christliche Religion mitgebildet werden. Auf diese Weise waren die Relationen zwischen (Kunst-)Geschmack und Religion wieder ganz zugunsten des Primats der Theologie restauriert. Analoges galt für Schlegels Verständnis von Genie. Dieses definierte er im Rückgriff auf das damals neue Wort >Empfindsamkeit< (darauf wies er in einer Anmerkung eigens hin):
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»Das Genie in den schonen Künsten besteht, nach meinem Bedanken, in einer sehr lebhaften Einbildungskraft, die mit einer naturlichen zarten Empfindsamkeit des Herzens, oder (wenn man es lieber also nennen will,) mit einer sehr weichen Reizbarkeit der Empfindungen und Affecten verbunden ist; und die eben um dieser Verbindung willen sich leicht erhitzen, sich auf Einen Gegenstand, wenn es der ihr angemeßne ist, fest heften läßt.« (GSK, S. 10)
Genie war demnach die Fähigkeit, »sich in Begeisterung zu setzen«, so daß es »allezeit in Enthusiasmus arbeite« (ebda., S. 11), und Enthusiasmus war eine deutlich vom normalen Seelenzustand abgehobene, aber nicht übernatürlich inspirierte Seelenlage (so in einer Anmerkung zu II Batteux, S. 48ff.). Die natürliche Empfindsamkeit des Herzens wiederum gab dem Genie eine besondere Affinität zum guten Geschmack, und dies verpflichtete es zu dessen sorgfältiger Ausbildung unter Führung der Urteilskraft. Das galt insbesondere für das Applikationsfeld der Religion: »Der Mangel an Kenntnissen wird dem Genie allemal nachtheilig seyn; aber niemals mehr, als wenn es in Religionsmaterien arbeitet«, und dies sowohl im Bereich der natürlichen als auch - erst recht - der geoffenbarten Religion (GSK, S. 38). Am Beispiel des »berüchtigten« Radikal-Pietisten Petersen und seines - von Leibniz mitinspirierten >UraniasBremer Beiträgern< und insonderheit bei Geliert wachte so noch die Vernunft über den Enthusiasmus des Herzens und ermöglichte gerade damit ein wernünftiges Christentum< im Medium der Poesie ganz nach dem >Geschmack< der mittleren Aufklärung. 6) Andererseits - und dies zeigt die Suche nach Ausgewogenheit von >Kopf< und >Herz< auch im Bereich der religiösen Poesie - betonten die Neologen den Enthusiasmus als wesentliches Merkmal einer Moralität, die sich dem »höchsten Gut« zuwandte und damit - so JERUSALEM im folgenden - zur Religion wurde: »Aller Enthusiasmus besteht in einer lebhaften und feurigen Vorstellung eines großen Guts. Wie wäre es also möglich, die großen Wahrheiten von Gott und der Ewigkeit ohne Enthusiasmus zu empfinden? Und dieß sollte der Religion ein Vorwurf seyn? Sie ist der höchste und edelste Grad des Gefühls, wozu die Seele sich erheben kann.« (II Jerusalem BVWR II, S. 398; vgl. auch II Spalding GWGC, S. 316)
Und indem Jerusalem, der als Freund der Dichtkunst auch eine Antwort auf Friedrichs II. »Schmähschrift« auf die deutsche Literatur verfaßt hat (vgl. II Friedrich d. Gr. LA; II Jerusalem UDSL), diesen religiösen Ent-
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H. Neologie und Empfindsamkeit
husiasmus beschreibt, »wenn wir die unendliche Grosse und Majestät« Gottes »lebendig empfinden«, charakterisiert er zugleich das Programm der Kirchenlieder Gellerts und seiner Freunde sowie der religiösen Dichtungen Klopstocks und Wielands: Es wäre »unmöglich«, »daß wir nicht zugleich, von der innigsten Ehrfurcht durchdrungen, seine herrlichste Majestät in Demuth anbethen, daß wir aus der Betrachtung seiner unendlichen Vollkommenheiten nicht unser angenehmstes und wichtigstes Geschafft machen, sie mit Ehrfurcht und Freude nicht laut erheben, und alle unsere Mitgeschopfe zu ihrer gemeinschaftlichen Verehrung mit uns aufrufen sollten.« (BVWR I, S. 300) In solch enthusiastischen Empfindungen wird auch für die Neologie die Poesie zum Vehikel der Religion. Zugleich damit ermöglicht diese theologische Position die Einbeziehung und religiöse Deutung der poetologischen Kategorie des >Erhabenen< (vgl. Kap. II 2 d). 7) Der junge Christoph Martin WIELAND (1733-1813) suchte vor allem in seinen Züricher poetologischen Anschauungen die zentralen Ideen des Enthusiasmus, des Kalokagathie-Ideals und der Geschmacks-Bildung mittels bedeutsamer »Empfindungen« in einem Konzept zu vereinigen: »Es liegt in unsrer Natur, das(!) uns das Schöne Vergnügen macht, und dieses Vergnügen nimmt, natürlicher weise, mit jedem höhern Grade von Schönheit zu. Es ist also der richtige Geschmak, oder die unterscheidende Empfindung des Schönen ein angeschaffnes Vermögen unsrer Seele, an dessen Entwicklung und Schärfung uns gelegen seyn muß, wenn uns anders an der Erfüllung der Absichten des Schöpfers und an unserm Vergnügen gelegen ist. Alles was schön ist hat auch einen bestimmten Grad von Güte. Ja die Schönheit ist nichts anders als ... der Widerschein der innern Güte. Je grosser die innerliche Güte eines Dings ist, desto größer ist seine Schönheit. Daher ist das sittliche Schöne so sehr über das, was in den Figuren und Farben schön ist, erhaben. Wir haben der gütigen Natur auch ein unterscheidendes Gefühl des Guten oder Bösen zu danken. . . . Und diese beiden, einander so nahe verwandten, Vermögen . . . machen eigentlich das aus, was man le Sens-Commun heist, den man nie anders als mit der Menschheit verliehren kann.« (II Wieland ADD, S. 81 f.)
Vor allem in den >Empfindungen eines Christen< (vgl. Kap. II 2 b-7) und in den >Briefen von Verstorbenen an hinterlassene Freunde< hat Wieland versucht, diese Einsichten poetisch fruchtbar zu machen (vgl. BVF, S. 59; dazu Kap. II 5 c).
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b) Empfindungen der Realpräsenz in der Sprache der Offenbarung und ihrer poetischen Verkündigung (Jerusalem, Spalding, Sack, Cramer, Wieland) 1) Zinzendorf hatte mit seiner stark an die imaginative Vergegenwärtigung Jesu gebundenen Frömmigkeit ein - wie die Polemik gegen ihn zeigt - in der protestantischen Orthodoxie (auch im Pietismus) verpöntes, aber dafür im Katholizismus der frühen Neuzeit vor allem durch die Jesuiten verwendetes, aus der Rhetorik vertrautes Mittel zur Affekterregung genutzt (vgl. Kap. I l d; vgl. dazu Bd. II, S. 163ff; Bd. III, S. 164ff. u. ö.). SPALDING, dessen >Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum< sich intensiv mit dieser Herrnhuter Frömmigkeit auseinandersetzten und nachzuweisen versuchten, daß alles, was dort auf den Einfluß einer unmittelbaren >geistlichen< Inspiration und auf Enthusiasmus zurückgeführt werde, sich im Kern auch ganz >natürlich< erklären lasse (vgl. Kap. II l b-3), kam gerade deshalb nicht umhin, die Bedeutung dieser natürlichen Faktoren für die Frömmigkeit anzuerkennen, nämlich Enthusiasmus als psychisches Hochgefühl sowie Einbildungskraft und sinnliche Vorstellungen: »Eigentlich beweiset die ganze vorhin angeführte Erfahrung nur so viel, daß alle Entschließungen lebhafter und eifriger sind, wenn ein gewisser Enthusiasmus (wobey ich dieß Wort im unschuldigen Verstande nehme) eine aufgebrachte Einbildungskraft, und sinnliche Vorstellungen, die das Gemüth einnehmen, sich damit verbinden.« (II GWGC, S. 316)
Auftauchen und Zusammenwirken dieser Trias war in der protestantischen Frömmigkeit brisant; denn nicht nur das Bild im kirchlichen Kultus, sondern auch alles sinnliche »Ausmalen« des Glaubens stand seit >Bilderkritik und Bildersturm in der Reformation (vgl. HI Belting, S. 51 Iff.) unter dem Verdacht des Sakramentalismus und falscher Werkgerechtigkeit. Luther, der - liberaler als Calvin - nur die Kultbilder bekämpfte, die Bilder aber sonst zu didaktischen Zwecken zulassen wollte, warnte zugleich, man dürfe nicht »äussere Bilder abtun und das Herz voller Götzen dagegen setzen« (zit. ebda., S. 607). Die Dominanz des Wortes in der protestantischen Verkündigung verwandelte das katholische »Seh-Reich« in ein »Hör-Reich« (zit. ebda., S. 518): »Das Wort wurde im Hören und Lesen, aber nicht im Sehen aufgenommen. .. . Der Blick findet weder auf Bildern noch in der Welt, in der Gott nichts als sein Wort hinterlassen hat, einen Anhalt für die Präsenz Gottes. Das Wort als Träger des Geistes ist ebenso abstrakt wie der neue Gottesbegriff, die Religion ein ethisches Lebensprogramm .. . Die Distanz Gottes verbietet seine Präsenz in einem gemalten Abbild für die Sinneserfah-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
rung.« (Ebda., S. 25f.) Daher spielten auch die im Katholizismus wichtigen bildhaft-sinnlichen Vermögen des Menschen wie seine Phantasie oder das bildhafte Gedächtnis keine konstitutive Rolle in der protestantischen Frömmigkeit. Keine lutherische Poetik bis hin zu Gottsched ist denn auch bezeichnenderweise auf die Idee gekommen, der Phantasie einen wichtigen Stellenwert für die Dichtkunst einzuräumen (vgl. dazu III Vietta, S. 43ff.; III Kemper 1995). Und noch Hölderlins große religiöse, geschichtsphilosophische und poetologische Hymne >Patmos< (1803) entfaltet »den Gegensatz zwischen der antiken Welt glanzvoller Gestalthaftigkeit und der von Christus eröffneten Ära pneumatischer Innerlichkeit«, die bis in die Gegenwart als »Prozeß der Vergeistigung« verläuft (11.42 Schmidt, S. 972, 977): »drum sandt' er ihnen / Den Geist« (II Hölderlin, S. 353), den der Dichter für sich in Anspruch nimmt (ebda., S. 356), um den unanschaulichen und deshalb beängstigenden Gang der Geschichte »in einen höheren Zusammenhang einzuordnen« und darin »als sinnvoll zu erweisen« (11.42 Schmidt, S. 978). 2) Vor der hier nur grob skizzierten Folie protestantischer Bilderlosigkeit (vgl. 2. Mos. 20, 4f.), mit der sich auch heute noch jeder Versuch einer theologischen Ästhetik auseinanderzusetzen hat (vgl. III Bahr, S. 304ff.; Timm, S. 27ff.; Grözinger, S. 90ff.; Stock, S. 134ff.; Wohlmuth), entwickelten sich im 18. Jahrhundert signifikante, von der Theologie und der Poesie sogleich genutzte Aufweicherscheinungen, die jeweils an die göttliche Offenbarung im >Buch der Buchen und im >Buch der Natur< anknüpften. Im letzteren Bereich ging der Anstoß von den neuen naturwissenschaftlichen Entdeckungen aus, der Widerspruch des neuen Weltbildes gegenüber dem biblischen führte zahlreiche Theologen zur Teilnahme an der Modeerscheinung der Physikotheologie, und deren aposteriorischer Gottesbeweis war auf sinnlich-empirische Evidenz angelegt. Der >Deus absconditus< wurde an der durchgehenden Strukturiertheit und Schönheit seiner Schöpfung als ein Gott der Ordnung und Liebe sinnenfällig, und die Naturpoesie von Brockes bis zu Wieland und Klopstock (vgl. Kap. II 5 b, 6 f) »erwies« Gott nicht nur in den einzelnen Naturphänomenen, sondern erfuhr in Deskription und Gefühl seine sinnliche Präsenz als bedeutsames Moment des (Selbst-)Vertrauens angesichts seiner durch die Pluralität der Welten wissenschaftlich zugleich nachgewiesenen Ferne (vgl. dazu Bd. V/2, S. 52ff.). Nicht zufällig gelangten deshalb auch in dieser Zeit die alten Topoi von der Dichtung als Malerei und als Nachahmung der Natur zu neuer Blüte (vgl. III Buch; Herrmann; IV Kemper I/II) und spielten auch noch bei Bodmer und Breitinger eine wichtige Rolle (vgl. Kap. II 2 c).
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In der Empfindsamkeit war es vor allem Moses MENDELSSOHN (1729-1786), der in seiner Theorie der Empfindungen im Vertrauen auf die rationalistische Moral der Leibniz-Wolffschen Schule, wonach der Wille das als gut Erkannte auch verwirklichen will (vgl. Bd. V/2, S. 8Iff.), die »anschauende Erkenntnis« als künstlerisches Mittel zur Herstellung der Tugend ausdrücklich empfahl: »Je größer eine Vollkommenheit ist, desto angenehmer ist uns die anschauende Erkenntnis derselben, desto mächtiger ist auch der Trieb, ihrer habhaft zu werden.« (II Mendelssohn R, S. 157; vgl. ebda., S. 162ff.) 3) Daß auch die Neologie sich dieser physikotheologischen Einsichten und Verfahren bediente, wurde an JERUSALEMS >Betrachtungen< bereits deutlich (vgl. Kap. II l e-3). In ihnen machte er sich - diesmal in der Auslegung der biblischen Offenbarung - weitere wichtige Einsichten der Aufklärung, und zwar im Blick auf Anthropologie und Psychologie zueigen, die in der Summe eine Aufwertung der Sinnlichkeit und damit auch der Empfindungen sowie einer darauf bezogenen Sprache für die Konstitution des Menschen implizierte. Dabei griff er auf die Sprachentstehungsdebatte seiner Zeit zurück, setzte sich u. a. mit Rousseau und Sulzer auseinander und übernahm - ohne ihn zu nennen - Herders Sprachentstehungstheorie in den Grundzügen (vgl. zu ihr und der Sprachursprungsdebatte Bd. VI/2): Entsprechend der sinnlichen Natur des Menschen war auch seine Sprache anfangs »sinnlich« und ganz unentwickelt: »Denn so wie seine Empfindungen sich vermehren und deutlicher, mannichfaltiger und lebhafter werden, wächst auch der Trieb, sie auszudrucken, und der Mechanismus der Organen seiner Stimme giebt ihm ungesucht den natürlichen Ton an, der von jeder Sache, wie er sie empfindet, das getreueste Bild ist.« (BVWR II, S. 122)
Die Sprache beginnt also mit Empfindungs-Lauten, die im Ton »physisch« - also nicht-arbiträr - das Wahrgenommene wiederzugeben versuchen (ebda., S. 123f.). »Und diese nachahmende physische Schilderung der Objecte und ihrer Wirkung auf uns, enthält die Keime und ersten Stammworter von allen Sprachen«, und »die Spuren dieser nachahmenden Tone« sind heute in allen Stammsprachen immer noch kenntlich (ebda., S. 124f.). Dabei hat der Mensch zuerst versucht, die Phänomene auszudrücken, die ihm »ins Gehör fallen«, aber auch die anderen Dinge auf akustischem Wege durch sprachliche Ähnlichkeiten wiederzugeben (so auch II Herder AUS, S. 44ff.). So wie das Gesicht eine Sprache des »leibhaften Sinns«, der unmittelbaren Präsenz ausgebildet hat, indem »eine jede lebhafte Empfindung von Leid, Freude, Zorn, Wuth, Schaam, Verwunderung, Hohn, ihren besonderen Muskel hat, durch den sie sich
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II. Neologie und Empfindsamkeit
ohne alle Wahl und immer nothwendig ausdruckt«, so ist es ein genau verwandter Ton in der Sprache, »um die Empfindungen dadurch noch deutlicher auszudrucken«, und diese Töne werden jeweils durch unterschiedliche, für verschiedene (rauhe oder sanfte usw.) Töne zuständige Mundpartien gleichbleibend erzeugt (BVWR II, S. 127). Zugleich haben auch die anderen Organe des Leibes ihre unmittelbare »Sprache«: »wie unendlich sind die Benennungen moralischer Empfindungen, die von den Gliedern unsers Leibes, von dem Herzen, als dem geglaubten Sitze der Seele, von den Augen als dem Sitze der Kenntniß, von den Händen als den Hauptwerkzeugen des Gefühls und der Thätigkeit hergenommen sind.« (Ebda., S. 130) »Die Natur giebt allein die Anleitung dazu«, und aus diesem sinnlichen Sprachvorrat schöpft der Mensch auch bei seiner weiteren zivilisatorischen Entwicklung: »Die sinnlichen Empfindungen gehen immer vorher, und bleiben von den moralischen und abstrakten das Maaß; sind jene gering, so bleiben diese es auch: in dem Maaße aber, daß jene sich vermehren, daß sie mannigfaltiger, deutlicher und feiner werden, in dem Maaße erheitert und verfeinert sich auch der moralische Sinn, und um so viel reicher, stärker und schöner wird die Sprache.« (Ebda., S. 130)
In den letzten fünfzig Jahren sei die deutsche Sprache »reich und stark« in ihren Ausdrucksfähigkeiten geworden, gleichwohl habe man dazu kaum neue Worte erfinden müssen, sondern die sinnlichen Vorstellungen und Bilder einfach auf abstrakte Sachverhalte übertragen, und darin liege die Stärke jeder Sprache: »Denn was würde es für alle unsre Seelenkräfte für eine erstickende Last seyn, wie langweilig, schwankend und matt würden alle unsre Reden seyn, wie langsam würde darinnen alle Kenntniß sich verbreiten, wenn wir für einen jeden neuen Begriff, für einen jeden neuen Gedanken, jedesmal auch ein neues Wort ersinnen oder lernen müßten, da hergegen diese bildlichen Vorstellungen dem Verstande auf alle Weise zu Hülfe kommen. . .« (Ebda., S. 131)
4) Solche Einsicht in die bleibende und fundierende Bedeutung der Empfindungs-Sprache als Natursprache des Menschen (Jerusalems weitere Darstellung der Sprachentwicklung mit der Ausbildung der Grammatik kann ich hier übergehen), als bildhaft-analoger Stimulus und aufrichtig-unmittelbarer Ausdruck von Emotionen und moralischen Gesinnungen sowie seine Einsicht von der Verfeinerung des moralischen Sinns bestätigten und ergänzten Reformvorstellungen, die SPALDING im Bereich des religiösen Kultus angestellt hatte. Das betraf zum einen die Sprache der Andacht, die allen »gesuchten Schmuck«, alle »Ziererey in der Sprache und in den Wendungen« sowie »große schimmernde Gewöl-
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ke von Redensarten« meiden und um der Aufrichtigkeit der Gottesverehrung willen sich der einfachen Sprache des Herzens und der Natur bedienen solle: »Nur die Sprache der Natur und der Wahrheit, die von einem geraden und aufrichtigen Herzen zeuget, die gehöret für den Umgang mit Gott und unserm Gewissen.« (II WA, S. 44) Dies entsprach ganz dem Stilideal Gellerts und der >Bremer Beiträgen (vgl. Kap. II 3 u. 4), und es bestätigte ohnehin die Stiltradition des Kirchenliedes. Hier aber empfahl Spalding zum ändern auf Grund der von ihm konstatierten Fortschritte in der Religion eine Revision des Inhalts der alten Kichenlieder, eine Reinigung von den Schlacken früherer (konfessioneller) Dogmatisierung, um den »Menschen von geubterm und aufgeklärterem Geiste die Anstoße hinweg zu nehmen« und »eine solche Erbauung zu verschaffen, die dem gesunden Verstande ein Genüge thut, und in der größten Allgemeinheit Gutes wirket.« (NPB, S. 187, 189; vgl. dazu auch Kap. II 3 f; 4 e; 6 h). 5) Erbauung für den modernen Verstand bot auch Spaldings Berliner Kollege SACK, und zwar nicht nur mit seiner »Herzens«-Sprache als Ausdruck seines Erfahrungschristentums (vgl. dazu Kap. II 1-3), sondern er griff für sein siebenbändiges Werk >Vertheidigter Glaube der Christen< (1748ff.) zum Darstellungsmittel einer autobiographischen Fiktion »in der Art und Weise eines Selbst=Gesprächs«: »Die Ursach dieser Wahl ist, weil sich diese Art zu schreiben vor eine so ernsthafte und wichtige Sache, als die Religion ist, meines Bedünckens nach am besten schickt, in dem sie den Verstand und das Hertz zugleich beschaeftigt(i), und überhaupt die Aufmercksamkeit mehr aufweckt und erhält.« (II VGC I, S. 33f.) Der Zweck des »movere« heiligte die poetischen Mittel, und Sack konnte dies umso überzeugender vertreten, je authentischer er eine entsprechende Wirkung an sich selbst erfahren hatte: Die größte Gewißheit vermittelnde Wahrheit der Religion erschloß sich ihm nämlich bei der Lektüre bestimmter biblischer - vor allem alttestamentlicher - Stellen, die er genau mitteilte und bei denen es sich mit Ausnahme des Buchs Hiob um biblische Poesie handelte: »Das Lied Mosis . . . Das Lied Deborä.. . Die meisten Psalme . ..« (II VGC II, S. 26) In diesen Stellen fand »eine solche Majestät des Ausdrucks und eine solche Erhabenheit der Gedancken und der Sachen« statt, »davon ich noch nie die Hälfte bey irgend einen (!) alten und neuen Menschlichen Schrift=Steller wahrgenommen habe« (ebda.). Und daraus schloß Sack, »daß hier etwas höheres sey, als ein bloß Menschlicher Verstand« (ebda., S. 28):
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II. Neologie und Empfindsamkeit
»Wann ich dieß alles lese, so wird mein Gemuth dabey nicht etwa nur zu ähnlichen Empfindungen bewegt und erhoben, sondern es wird zugleich in meinem Verstande ein Licht, und in meinem Hertzen ein inneres Gefühl der Gewißheit gewfirckt, daß David von einem höheren Geiste sey getrieben worden, als aller Menschen Geist ist.« (Ebda., S. 31 f.)
So war die Bibel weitgehend - Sack bezog auch die Apostel und insonderheit Jesus mit ein - inspiriert, weil sich »Gottes Kraft« als »Beweisung des Geistes und der Kraft« (1. Kor. 2, 4f.) in der Bibel-Lektüre erneut bestätigte: »Dieß ist die höchste und stärckste Demonstration, die ich nur immer verlangen kan, und wurckt mit weit mehr Nachdruck und Kraft auf meinen Verstand und auf mein Hertz zugleich, als die strengste Beweise oder Demonstrationen der blossen Vernunft. Ich weiß dieß aus der Erfahrung.« (VGC II, S. 36)
Damit bestätigte Sack auch unausgesprochen die an Empfindungen orientierte Bibel-Lektüre in den Franckeschen Anstalten (vgl. Kap. I 3 b-3). 6) Sehr viel nachdrücklicher und umfassender als Sack ergriff im alten Streit zwischen >Athen< und >Jerusalem< (vgl. dazu IV Dyck; Kap. I 3 b-3) der »Poeta-Theologus« und >Bremer Beiträgen Johann Andreas CRAMER (1723-1788; vgl. zu ihm Kap. II 3 0 Partei für die Poesie der Bibel und leitete aus ihr bereits alle entscheidenden Merkmale empfindsamer Dichtkunst ab (vgl. dazu auch IV Bach/Galle, S. 256ff.). In seiner vierbändigen >Poetischen Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben< (1755-1764) feierte er die Psalmen »sowohl wegen ihrer gottlichen Eingebung, als wegen der Schönheit ihrer Poesie« als »die vollkommensten Gesänge« (PÜP I, S.+4r). In den beigefügten umfangreichen >Abhandlungen< suchte er trotz neologisch-kritischer Einstellung gegenüber Kanonizität und Überlieferung der Psalmen doch David selbst die Verfasserschaft an einem Großteil der Psalmen zuzusprechen (VVSP, S. 190ff.) und seine poetische Genialität zu erweisen. David und die anderen Psalmendichter (Ethan, Assaph, Henan) waren bei der Niederschrift »von der gottlichen Begeisterung« ergriffen, und diese definierte Cramer als »einen solchen außerordentlichen und unmittelbaren Einfluß Gottes in ihren Verstand, der die Fähigkeiten und Kräfte derselben so erhöhte und erleuchtete, so vermehrte, und regierte, daß ohne diese unmittelbare Wirkung Gottes auf sie, ihre Lieder entweder gar nicht verfertigt worden seyn, oder nicht die Eigenschaften und Vollkommenheiten haben wurden, die sie wirklich haben.« (VGEP, S. 237) Als Beweise dafür machte er insbesondere die Weissagungen (namentlich auf den Messias), aber auch die Lehren geltend, die er in >Glaubenslehren< und >Sittenlehren< unterteilte und so zusammenfaßte, daß sowohl die Vernunftlehren
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der natürlichen Theologie als auch die übernatürlichen Offenbarungen darin erkennbar wurden (vgl. VGP u. VSP). Von daher nahm er die Psalmen durchaus theologisch ernst und grenzte sich im vierten Band von Robert LOWTH (1710-1787; 1741-1750 Prof. d. Poesie, 1766 Bischof in Oxford, 1777 in London) ab, der die Psalmen in einer bahnbrechenden Schrift unter rein ästhetischen Gesichtspunkten im Blick auf ihre Gattungen (Oden, Elegien, Idyllen) und Stilfiguren (vor allem ihren Parallelismus) untersucht und mit der außerbiblischen antiken Literatur verglichen hatte (>Praelectiones de sacra Poesi HebraeorumBrief-Wechsel von der Natur des poetischen GeschmackesKnaben Jesus< aus der Feder des Jesuitenpaters Johannes Cerva als ein »Meisterstuck des menschlichen Witzes« rühmen und zitieren konnte (KBGD, S. 61ff., 77ff.). Von daher erhielten die religiöse Poesie ein herausgehobenes Gewicht und Brockes, »dieser zur Verherrlichung des Schöpfers gebohrne Poet«, hohes Lob (ebda., S. 226; vgl. ebda., S. 149f., 220ff., 229f.; CTG, S. 75f.; II Breitinger CAG, S. 15ff., 427ff.; CD II, S. 274ff. u. ö.), und deshalb urteilte Bodmer über die Erfindungen und Beschreibungen in Miltons Bibel-Epos: »Und was haben diese Eindrücke von dem grossen Exempel der getreuen und der gefallenen Engel nicht für eine Kraft auf die Hertzen, denselben Gehorsam gegen dem Herren, Verwunderung gegen dem Allmächtigen, Ehrfurcht gegen dem gerechten Richter, Liebe gegen dem Schöpfer, der Quelle alles guten, einzupflanzen?« (CAWP, S. 44)
Insbesondere der Rückgriff auf die Physikotheologie stärkte die poetische Funktion des »delectare« (Bodmer KBGD, S. 27, 52f. u. ö.). Die Poesie beschreibe »das Wahre« »mit dem Endzwecke durch die Schilderung und Nachahmung Lust und Vergnügen zu machen, indem sie die Phantasie der Leser und Hörer mit Bildern von trefflich schönen, grossen und ungestümen Sachen anfüllet.« (Ebda., S. 126) In dem Vermögen, daß ihre Bilder »überraschen und entzücken«, sei sie »entzückend und wunderthätig, wie eine Zauberinn« (ebda., S. 127 ): »Wer die Poesie anklaget, daß sie zu viel Schönes und Annehmliches habe, mag eben dieses der Natur vorrücken, von welcher sie alle ihre Schönheiten herhohlet und entlehnet . . .
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Die Schönheiten der Natur sind zugleich nützlich und schon, und eben ihre Schönheiten machen sie nützlich, indem sie durch ihre Anmuth dem Menschen seine sauren und Kummervollen Tage versüssen, und ihm das Elend des Lebens erträglich, und die Arbeit lieblich machen; insonderheit, weil sie seine Betrachtung auf denjenigen lencken, der alle Dinge so schon gemachet hat. Ein Nutzen, der unstreitig wichtiger ist, als alle Hülfe, welche die bestversehenen Apothecken von sich rühmen! . . . Welcher Mensch, der die machtvolle Kunst des Schöpfers in der Schönheit seiner Wercke erkennet, kan sich entschlagen, dieselbe zu bewundern und zu verehren?« (Ebda., S. 144f.)
Ansätze zu einer säkularen Kompensationstheorie von Kunst stehen hier neben einer traditionellen Begründung ihres religiösen Nutzens. Indem letzterer ganz ins Stoffliche verlegt, dieses als das Schöne in der Rückführung auf den Schöpfer zugleich religiös gedeutet wird, wird das Religiöse auch wiederum ästhetisiert: Das Vergnügen ist gerade dann gesellschaftlich nützlich und unbezweifelbar, wenn es religiös ist, gerade die religiöse Betrachtung des Schönen erlaubt und legitimiert aber auch wiederum dessen ästhetischen Genuß! Das Traditionelle und Konservative der Züricher Position - die religiöse Begründung der Dichtung - wird zur Voraussetzung der in die Zukunft weisenden Umkehr: der »Verwandlung der Religion in Poesie« (zit. in II.7/9 Meyer, S. 71), der Indienstnahme der Religion für die Dichtung bei Klopstock und - im Zusammenhang damit - auch einer Sakralisierung der Poesie, in der diese ihre Autonomie erreicht. - Gottsched selbst hat es als historisch ungerecht empfunden, daß ausgerechnet er, der sich unbestreitbare Verdienste um die Anerkennung einer gesellschaftlich nützlichen Dichtkunst erworben hat, mitansehen mußte, daß letztlich »die religiösen Überlieferungen« seine vernünftigen »Grenzsetzungen« »zerstörten« (III Böckmann, S. 570; vgl. Bd. V/2, S. 95). 5) Der junge PYRA besaß den Mut, um als erster den Streit gleich zu Beginn seines >Erweises, daß die G+ttsch+dianische Sekte den Geschmack verderbe< auf die Alternative »prosaisch«-weltlicher und »wahrer« religiöser Poesie zurückzuführen (vgl. zu seiner Position auch IV Schuppenhauer, S. 247ff): »Eure ganze Sache läuft dahin aus; G+ttsch+den zu erheben und Bodmer zu verkleinern, der nichtswürdigen prosaischen Reimerey das Wort zu reden; und die wahre Poesie im Milton zu unterdrücken.« (E, S. 5)
»Milton«, so fertigte er dessen Kritiker ab, »hat weiter nichts gethan, als die grösten Religionswahrheiten durch sinnliche Vorstellungen in ein recht würdig hohes Licht setzen(!); und das ist die höchste Pflicht eines Heldendichters.« (Ebda., S. 29f.) Ja, Pyra bekräftigte, es sei »der erste
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Hauptlehrsatz der Dichtkunst«, »daß die Theologie ins besondre von einem epischen Dichter muß unterstutzet werden.« (Ebda., S. 54) Zu solch stürmischer Eindeutigkeit und Einseitigkeit haben sich Bodmer und Breitinger nicht hinreißen lassen. Doch gerade dadurch, daß ihnen vor allem durch ihr Eintreten für die religiöse Poesie die »Eroberung Leipzigs« (so Bodmer in II Lange SB II, S. 52) gelingen sollte, fällt auf Pyras radikalisierende Aneignung ihrer Position ein >prophetisches< Licht! 6) Georg Friedrich MEIER (vgl. zu ihm Kap. I 3 h) schloß sich 1746 in seiner polemischen Untersuchung Einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschem eng und systematisierend an Pyras Position an. Als erste Ursache für den verdorbenen Geschmack, »der schlechte und unpoetische Gedancken für gute und poetische hält«, nannte er den »Wolffianismus« und den Pietismus gleichermaßen im Visier - die empfindungslos-trockene und »mathematische Lehrart« auf Katheder und Kanzel (II Meier UUVG, S. 6, 11 ff.), als zweite Ursache die sich »gemein« machende gereimte Casualpoesie, weil die meisten Gelegenheiten so unbedeutend seien, »daß es eine Grobheit ist, die Musen deswegen zu ihrer Schändung zu beschäftigen« (ebda., S. 20: »Kein gottlicher Dichter vermiethet sich auf eine habituelle Art.« Ebda., S. 22). Und nachdem er als dritte Ursache die »vermaledeyten Romane« und »abgeschmackten« »theatralischen Stücke« abgekanzelt hatte, gelangte er mit der vierten Ursache folgerichtig zur Religion als entscheidendem würdigen Gegenstandsbereich der Poesie (mit den folgenden Sätzen polemisierte er auch gegen Gottscheds Kritik an der religiösen Poesie: II Meier BGD, S. 122): »Die Religion, sie mag entweder wahr oder falsch seyn, erfült (!) die Gemüter derjenigen, die sie fur wahr annehmen, mit gewissen erhabenen ehrwürdigen und wunderbaren Begriffen, welche sonst nirgends anders woher entstehen können. . . . Ein Gedicht, welches demnach, ausser den übrigen Schönheiten der Poesie, mit den Religionssätzen des Dichters angeffilt ist, bekommt, in Absicht auf ihn und seine Glaubensverwanten (!), eine gantz besondere und ungemeine Schönheit.« (UUVG, S. 27f.)
Meier plädierte dafür, die Kirchenlieder »poetischer« zu gestalten. »Die Psalmen, und alle Gedichte in der Bibel, sind poetische Meisterstucke. Hat also der Geist GOttes uns nicht ein Muster gegeben, die wahre Religion in der erhabensten und feurigsten Poesie vorzutragen?« (Ebda., S. 29) Und er wünschte sich, daß »viele andere gute Gedichte verfertiget wurden, in welchen mehr Christenthum enthalten wäre« (ebda., S. 30). Die Schrift endet mit einer heftigen Attacke gegen Gottsched, der Meier angegriffen hatte, und kurz darauf veröffentlichte Meier eine Bodmer
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und Breitinger zugeeignete >Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst^ eine im Ton relativ höfliche, in der Sache indes gnadenlose und pedantische Rezension von 362 Seiten (vgl. dazu auch 11.60 Schenk, S. 48ff.; vgl. ferner II Meier VU). Meier begründete seinen öffentlichen Hinrichtungsversuch mit dem Argument: »Eine schlechte Dichtkunst, die in Ansehen steht, verursacht . . . ein unendliches Verderben des Geschmacks.« (II BGD, S. 4) Dabei akzentuierte er eine an Baumgarten und den Schweizern orientierte empfindsame Poetik, indem er beim Charakter eines Dichters neben den Erkenntniskräften über Gottsched hinaus auch die »Begehrungskräfte« betonte (»Ein Dichter muß ein zärtliches leicht bewegliches Gemuth besitzen« und »leicht sehr starck bewegt werden können«; ebda., S. 44). Gleichzeitig ordnete er den Geschmack als »Beurtheilungskraft« nicht wie Gottsched dem Verstand, sondern mit Baumgarten im Bereich der Poesie »der untern Erkenntnißkraft der Seele« zu (ebda., S. 74) und erweiterte damit den poetischen Spielraum zwischen Wunderbarem und Wahrscheinlichem: ». . . ein Gedancke ist poetisch wahr, in so ferne wir durch die untern Kräfte unserer Seele nichts widersprechendes und ungegrfindetes in demselben gewahr werden.« (Ebda., S. 137) Mit dieser Position vermochte Meier - so in seinen >Gedancken von Schertzen< (1744) - schon über Wolff und Baumgarten hinaus auch »das Dunkle, das Abgründige, das Verworrene in der Seele« als Nährboden des »geselligen«, der Sitten-»Verfeinerung« dienenden Scherzens anzuerkennen und ästhetisch aufzuwerten (vgl. dazu 11.60 Mauser, S. 122f.) und zugleich doch die Religion als bevorzugtes Thema der Poesie zur Hebung des poetischen Geschmacks zu propagieren. Als sich diese letztere Möglichkeit 1748 mit den ersten drei Gesängen von Klopstocks >Messias< bot, war Meier einer der ersten, der dieses Ereignis in emphatischen »Empfindungen« rühmte. Damit dokumentierte er, daß dem Kritiker nicht mehr die Regeln, sondern - wie Bodmer befürchtet hatte - die subjektive Wirkung, das empfindende (Mit-)Erleben zum entscheidenden Maßstab wurde (vgl. dazu IV Gutzen 1972, S. 60f.). Was mit pietistischer Bibellektüre als innerlichem Mitvollzug begann, wurde hier nun säkularisierend auf die »heilige Poesie« übertragen, die damit an die Stelle der Bibel zu treten und »heilige Gefühle« auszulösen vermochte. Daß gerade die pietistisch geprägten Hallenser, welche die Macht des religiösen Gefühls erfahren hatten (auch der Pfarrersohn Meier war examinierter Theologe; vgl. Kap. I 3 h-2), am nachdrücklichsten eine »heilige Poesie« zur Hebung des Geschmacks propagierten, macht diese These von der >Übertragung< des Sakralen von der religiösen auf die poetische Erfahrung besonders evident. Diese Tendenz wird in Poetik und Ästhetik an der Etablierung und Hochschätzung der Kategorie des >Erhabenen< besonders manifest.
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II. Neologie und Empfindsamkeit
d) Ästhetisierung der Religion und Sakralisierung der Ästhetik im >Erhabenen< (Longinus, Burke - Gottsched, Bodmer, Breitinger, Pyra, Tieck) 1) Das Erhabene spielt vor allem seit Lyotards Begriffsbestimmungen der >Postmoderne< und seiner Kant-Lektüre eine dominierende Rolle als ästhetische Kategorie einer Krise der durch das Schöne und Ganze charakterisierten Moderne. Mit der dem Erhabenen zugrundeliegenden Paradoxie, etwas eigentlich Unvorstellbares und Unnennbares, daher auch Undarstellbares >fassen< zu wollen und dies immer nur in Widersprüchen, divergenten Eindrücken bzw. Gefühlen und heterogenen Konzepten versuchen zu können, »unterminiert« das Erhabene gleichsam die neuzeitlichen Ganzheits- und Ordnungskategorien, entfaltet ein »kritisches Potential« gegenüber einer vernünftig beherrschten Welt und erfordert und ermöglicht ästhetische Pluralität als Signum der Postmoderne (vgl. III Lyotard; Pries, S. 6ff., 24ff.; Lyotard/Pries; Welsch, S. 39f.). - In den Positionen der Empfindsamkeit finden sich solche Überlegungen nur zum Teil und ansatzweise (vgl. dazu 11.73 Zelle 1995, S. 62ff., 67ff.). Gewiß hat das Erhabene hier bereits normsprengende Funktionen entfaltet, und zwar dadurch, daß es dem >Schönen< als entscheidender Bezugskategorie der von Baumgarten begründeten Ästhetik gegenübertrat (vgl. dazu Bd. V/2, S. 189f.) und »all jene Phänomene versammelte, die nicht im Prokrustesbett klassizistischer Schönheit Platz fanden, aber gleichwohl ästhetisches Interesse beanspruchten. Unter dem Mantel des Erhabenen findet das Nichtschöne: das Entsetzliche, Häßliche und Schreckliche Einlaß in die Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts.« (III Zelle 1989, S. 60) Das gilt insbesondere für Edmund BURKES (1729-1797) >A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautifuk (1757, dt. 1773), der das Schöne - wahrnehmbar im »Kleinen« und »Glatten« (II Burke, S. 152ff.) - auf den »Geselligkeitstrieb«, das im »Riesigen« und »Unendlichen« wahrnehmbare Erhabene auf den »Selbsterhaltungstrieb« zurückführt (ebda., S. 72ff., 108ff.), welcher in der Schrecken verursachenden Betrachtung des >Erhabenen< ohne existenzielle Gefährdung doch in Erschütterung gerät. Burke führt dies Erhabene konsequenterweise unter dem Aspekt der »Macht« auf die Wahrnehmung Gottes selbst zurück, dessen Liebe und Güte erst der Verstand erschließt, während Gottes Macht für die menschliche Einbildungskraft »bei weitem das wichtigste Attribut ist« (ebda., S. 104). Das gilt auch für die Betrachtung Gottes in der Natur, wie Burke durch Verweis auf Lukrez und das Alte Testament verdeutlicht. »Allenthalben, wo Gott in der Heiligen Schrift als erscheinend oder redend dargestellt wird, da wird
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jedes schreckenerregende Ding der Natur aufgeboten, um das Ehrfurchtsvolle und Feierliche der göttlichen Gegenwart zu erhöhen.« (Ebda., S. 105) Trotz der »Humanisierung« dieses Gottesbildes durch das Christentum finden wir auch und gerade im Blick auf den höchstmöglichen Grad von Macht »den Schrecken als untrennbaren Begleiter« (ebda., S. 107). Burke, der seinen »Begriff des >ErhabenenParadise Lost< gewonnen« hat (11.11 Strube, S. 20), beeinflußte u. a. Kant und Lessing (vgl. ebda., S. 24f.), vielleicht auch Klopstock in seinen großen Hymnen von 1759/60, vor allem aber die Romantik (vgl. dazu III Seeber, S. 231 f.), doch für die frühen Debatten um das Erhabene in Deutschland, um die es im folgenden vor allem geht, kam seine Schrift zu spät. Immerhin - das bestätigt auch seine Position - bot das Erhabene, indem es die Grenzen des Ästhetischen transzendierte, wiederum die Möglichkeit, das Religiöse, Göttliche und Heilige als Gegenstand der Dichtung zu usurpieren und poetologisch zu legitimieren. In der dadurch eröffneten »Versöhnung« von Dichtung und Religion (bzw. Theologie) lag freilich auch die Möglichkeit für die Poesie, sich in der Übernahme religiöser Funktionen zugleich von der Theologie zu lösen (vgl. III Pries, S. 30; 11.73 Zelle 1995, S. 63ff.). Indessen gerade dieser für die Poetik der Empfindsamkeit signifikante Bezug des Erhabenen zu den höchsten Gegenständen der Religion ließ es für die frühen Theoretiker (auch von Shaftesbury her) eher als eine Kategorie des Über-Schönen denn des Nicht-Schönen erscheinen, und normsprengend bzw. grenzüberschreitend wirkte es daher auch vornehmlich im Bereich der Selbsttranszendierung durch die - mystische - Erfahrung der überwältigenden Gegenwärtigkeit des Numinosen, welches die edelsten Kräfte des Menschen beanspruchte (und damit bildete!). Dabei schwankten - bezeichnend für das Epochen-Profil - die Theoretiker in der Frage, ob das Erhabene die stärksten Kräfte des >Herzens< oder des >Kopfes< (oder beide) beanspruche. 2) Vor allem Nicolas BOILEAU-ÜESPREAUX (1626-1711) hat durch seine 1674 erschienene Übersetzung von Pseudo-Longinus' Fragment >Über das Erhabene< (>Traite du Sublime, ou du Merveilleux dans le DiscoursEs werde Licht, und es ward Licht; es werde Land, und es ward.« (Ebda., S. 25/27) 3) Wichtiger aber wurde für die spätere Rezeption die unscharfe, gleichwohl umfassende und deshalb anregende Beschreibung des Erhabenen selbst. Es gewann bei Pseudo-LoNGiN anthropologisch-ethische, rhetorisch-stilistische, ästhetische und religiöse Bedeutungsfacetten. Aus der vom platonisch-neuplatonischen Eros-Begriff deutlich mitinspirierten »Erkenntnis, daß uns die Natur . . . eine unbezähmbare Liebe zu allem einpflanzte, was immer groß ist und göttlicher als wir« (ebda., S. 87), erblickte der Verfasser in der Erhabenheit jene dem Menschen in unterschiedlichen Graden eigene - angeborene, aber auch durch >Kunst< steigerbare (ebda., S. 7) - »Eigenschaft«, die ihn in Momenten starken psychischen Ergriffenseins über sich selbst emporhebt - bis in die Sphäre des Göttlichen hinein: ». . . während andere Eigenschaften ihre Besitzer als Menschen erweisen, erhebt uns Erhabenheit fast bis zur Majestät Gottes.« (Ebda., S. 89) Der Begriff umfaßt also das Ziel, den Zustand ekstatischer Ergriffenheit, aber auch das Mittel einer entsprechend mitreißenden Rede: »Denn unsere Seele wird durch das wirklich Erhabene von Natur aus emporgetragen, schwingt sich hochgemut auf und wird mit stolzer Freude erfüllt, als hätte sie selbst geschaffen, was sie hörte.« (Ebda., S. 17) Die »kraftvolle Fähigkeit, erhabene Gedanken zu zeugen«, eine »starke, begeisterte Leidenschaft« als Voraussetzung des Redners sowie sprachlich-stilistische Besonderheiten der Rede sind die wichtigsten »Quellen«, um diesen »Affekt« hervorzurufen (ebda., S. 19). Doch kann er auch durch Betrachtung erhabener, d. h. großer Gegenstände in der Natur entstehen, indem der Mensch dabei zugleich seine anthropologisch-ethische Bestimmung zur eigenen Höherentwicklung bewundernd erfaßt (ebda., S. 87/89). In Momenten starker, mitreißender Empfindung also gelangt der Mensch zu einer ekstaseartigen Selbsttranszendierung, und vor allem dieser Aspekt hat die Rezeption beschäftigt und dazu geführt, daß August Wilhelm Schlegel in Longin schließlich »eigentlich den Erfinder der empfindsamen Ästhetik« zu erblicken vermochte (zit. in III Begemann, S. 78f.; vgl. auch III Schulz, S. 30ff.). Solch »erhabene Stilisierung« ist »gerade eine an den einzelnen als solchen gebundene Kategorie, weil sie die Bewegung mimetisch nachvollzieht, in der sich das Individuum von sich selbst unterscheidet, sich über sich selbst erhebt und
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so gerade zur Integrität seines Selbstbewußtseins findet.« (11.57 Villwock, S. 36) Unter diesem Aspekt konveniert das Erhabene also insbesondere mit den Individualitäts- und Autonomiebestrebungen des 18. Jahrhunderts. 4) Nach ersten Ansätzen in Frankreich (vgl. dazu III Litman, S. 69ff.; Begemann, S. 80ff.) führte auch in England die Anknüpfung an Longin »zur Dichotomisierung der Dichtungstheorie«, und zwar durch John DENNIS (1657-1734) und Joseph ADDISON (1672-1719; vgl. Ill Monk, S. 45ff., 56ff.), und die Trennung des Schönen vom Erhabenen brachte zugleich »eine neue Hierarchisierung der Dichtung«, eine kulturpolitische Abwertung des Schönen zugunsten des Erhabenen mit sich (vgl. III Zelle 1989, S. 66). 5) Dies gilt bezeichnenderweise nicht für GOTTSCHED, der dem Erhabenen in der »hohen« und in der »pathetischen Schreibart« eines Loboder Heldengedichts zwar einen Ausnahmestatus einräumte (CD, S. 364f.), aber unter Verweis auf Longin zugleich vor dem »so glipfrichten Stege« warnte, der mittels des Erhabenen »nach dem Parnaß führet«: »Es ist nirgends leichter, Fehltritte zu thun, als hier; denn es kommt mehr auf den Geschmack, als auf Regeln hier an. . . . Und so geht es auch denen, die uns im Deutschen haben lehren wollen, was Longin durch das Erhabene versteht; als welche, außer vielen Schmäucheleyen gegen einige noch lebende Dichter, und manchen vergällten Censuren, wider andere, denen ihre SchutzgOtter nicht wohl wollen, nicht viel deutliches zuwege gebracht haben.« (Ebda., S. 366)
Bezeichnenderweise attackierte Gottsched in diesem Zusammenhang nicht nur wiederum den unvernünftig-»lohensteinischen« Stil Miltons (ebda., S. 360f.), sondern die im Erhabenen angelegten, der »gesunden Vernunft« widersprechenden Sakralisierungstendenzen: »Muß denn nun die Begierde hoch zu denken und zu schreiben, einen Poeten zu der Ausschweifung verleiten, daß er einem bloßen Menschen mehr Weisheit, Liebe zur Gerechtigkeit, und mehr Billigkeit, als der Gottheit selbst, zuschreiben dorfe?« (Ebda., S. 367 ; zu Gottsched vgl. III Begemann, S. 84ff.; Schulz, S. 63ff.). 6) Im Gegensatz zu Gottsched haben sich die SCHWEIZER lebhaft für das >Erhabene< interessiert, und insbesondere bei Bodmer verlor es »mehr und mehr den Charakter einer vornehmlich literarischen Kategorie« und wurde »statt dessen zunehmend in einer religiös-metaphysischen Sphäre angesiedelt« (III Schulz, S. 113). Entscheidend war, daß Bodmer die poetische Affekterregung von der Wahl der Materie abhängig machte. Von
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da aus gelangte er zu einer klaren Wertdifferenzierung: Die Darstellung des »Schonen in der materialischen Welt« (KBGD, S. 152ff.) - wobei das Schöne durch »Ordnung, Ebenmaß und Harmonie« gekennzeichnet ist ruft »freudige und angenehme Eindrucke« hervor (ebda., S. 152f.), die Darstellung des »Grossen« (ebda., S. 21 Iff.) dagegen - charakterisiert durch einen alle gewohnten Proportionen und Dimensionen und die Faßbarkeit der Sinne übersteigenden Gegenstand - erweckt »Erstaunung«, »und wir fohlen in der Seele mit dem Begriffe desselben eine angenehme Besturtzung und Stille« (ebda., S. 153f.). Hierzu zählt der Anblick gewaltiger, unbegrenzter Natur, insbesondere des Kosmos und der Vielzahl von Welten, der natürlich zur Betrachtung Gottes als des größten und erhabensten Wesens überhaupt führt (ebda., S. 212ff.). Als dritte »Triebfeder« neben dem Schönen und Großen unterscheidet Bodmer noch das »Heftige«, das als (häufig katastrophaler) »Zusammenstoß der Dinge in dem materialischen Reiche entsteht« und »gewaltige und widrige Eindrucke« auf den Menschen hervorruft (ebda., S. 152f.; 239ff.). - In seinen - vermutlich an Samuel Gotthold Lange gerichteten - >Lehrsätzen von dem Wesen der erhabenen Schreibart bestimmt Bodmer einerseits die Wirkung des Erhabenen als »ein gewisses Erstaunen, das aber mit einem tiefen Nachsinnen begleitet ist«, als eine »aus der Betrachtung der Dinge und ihrer Zusammenfügung« entstehende und deshalb »vernünftige« »Verwunderung«, mithin als einen Gemütszustand, bei dem »Kopf« und »Herz« gleichermaßen zusammenwirken (CB, S. 96), andererseits und zugleich führt er die Hierarchisierung von Schönem und Erhabenem systematisch durch und ordnet dabei das den »Witz« eher oberflächlich vergnügende »Schöne« dem »Erhabenen« als höchster »Herzens«»Kraft« unter: »Das Erhabene ist die höchste Kraft des Herzens, wie das Scharfsinnige des Witzes, und das Tiefsinnige des Verstandes. Sein Gegenstand ist das Große, das Vortreffliche in den freyen Handlungen, wie der Witz das Schöne, und der Verstand das Wahre zum Gegenstande hat. Es zeiget ein großes Herz oder eine hohe Natur; das Scharfsinnige einen schönen Geist; das Vernünftige ein gesundes Urteil. Ein großes Herz entzücket und verursacht eine gewisse Bewunderung, mit Bestürzung und Erstaunen vermischet; da der Witz durch die Ähnlichkeiten ergetzet; die Vernunft überzeuget.« (II CB, S. 98)
Auch hier ergibt sich die Wirkung des Erhabenen aus den Gegenständen - allen voran den Taten Gottes, welche »die groessesten Gemüther mit heiliger Bewunderung und Ehrfurcht« »anfüllen« (ebda., S. 98) -, während der Stil, wie der wierte Brief< >Vom Erhabenen in der Sprache< erläutert, sich möglichst »einfältiger Worte« bedienen soll, um nicht - wie die erhabene Schreibart bei Longin - »nach dem oratorischen Firnisse«
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zu »schmecken« (ebda., S. 104, 106), und auch hier dient die schon von Longinus zitierte Sprache des Schöpfungsberichts als vorbildliches Exempel (ebda., S. 107; vgl. auch KBGD, S. 87ff.). Daß Bodmer mit dem Erhabenen vor allem auch die religiöse Poesie zu legitimieren sucht, zeigt schon der nachfolgende fünfte Brief, der mit seinen >Anmerkungen zu dem Grundrisse eines epischen Gedichtes von dem geretteten Noah< (CB, S. 109ff.) zu zwei weiteren Episteln mit einer Verteidigung Miltons überleitet. Dabei geschieht etwas Doppeltes: Auf der einen Seite widerfährt dem Dichter solch geheiligten Stoffes die - von Gottsched beargwöhnte - Aufwertung zum von der »gottlichen Muse« inspirierten »grossen Poeten«: »Ich sagte, die gottliche Muse offenbarete den Poeten viele Sachen, welche gemeinen Menschen, und manchen Dutzend von dem Geschlechte, das reimete, auf ewig verborgen blieben« (CB, S. 116f.). Solch göttliche Inspiration stellt den christlichen EposDichter an die Spitze der Poeten-Hierarchie und macht sein Werk zugleich - zumindest tendenziell - unangreifbar gegenüber räsonnierender Kritik oder dem literarischen Geschmack einer uninspirierten Leserschaft (vgl. dazu auch II.7/9 Meyer, S. 68). Ein solches Autor- und Werkverständnis wird dann in radikalisierter Form - nur der göttlich inspirierte Künstler ist wahrer Künstler, wahre Kunst mündet wieder in Religion und wird als >Offenbarung< rezipiert - durch Wackenroder den Beginn der Frühromantik bestimmen (vgl. II Wackenroder/Tieck, S. 7ff., 29ff., 71ff. u. ö.; vgl. dazu 11.101 Bollacher, S. 102ff.; Köhler, S. 47ff., 126ff, 141 ff.). Auf der anderen Seite ersetzt Bodmer hier gleich eingangs die Kategorie des Erhabenen der Sache nach durch das »Wunderbare«, »welches in den Werken der Natur liegt, zum Exempel in unbegränzten Aussichten, sturmischen Seen, und entsetzlich hohen Bergen; oder in den menschlichen Handlungen, als in hohen Proben von Großmuth, oder ungemeinen Gesinnungen.« (Ebda., S. 109) In diesem Punkt folgt er Breitinger, der bereits in der >Critischen Dichtkunst das »Grosse, Wunderbare und Erhabene« im Blick auf ein Verständnis von Poesie gleichgesetzt hatte, »deren Wesen darinnen bestehet, daß sie die Augen entzündet, das Gemuthe entzückt, mit hohen Sachen umgehet, in Erstaunen setzet« (CD II, S. 434; vgl. dazu auch III Zelle 1989, S. 70ff.). Dies bedeutet, daß sich die poetologische Kategorie des Erhabenen auf Geistliches und Weltliches erstreckt, daß dessen traditionelle Dichotomic im Blick auf die Rührung des Herzens annulliert wird. Wenn ein >Weltlich-Großes< das Herz ebenso zu rühren und zu erheben vermag wie ein religiöser Gegenstand, dann impliziert dies ebensosehr eine Sakralisierung des >Weltlichen< wie eine Säkularisierung des Geistlichen und damit die Überführung beider Bereiche in einen Sonder-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
bezirk und -status des Erhabenen, zu dem die ästhetisierende Dichtung innerhalb der biblischen Tradition ebenso und tendenziell ohne Rangunterschied gehört wie die religiöse Gottesverehrung in der poetisch-physikotheologischen >Betrachtung< der Natur. Gerade die Aufhebung des Unterschieds, ja die Integration von Sakralem und Säkularem unter der Kategorie des Erhabenen erwirken der Poesie eine von der Schubkraft religiöser Energien gespeiste, auch in der »Erneuerung der Dichtersprache« bei Klopstock fundierte Aufwertung zum unverwechselbaren Organ erhabener Herzens-Rührung (vgl. Kap. II 6 c, d, f, g). 7) Bei Immanuel Jacob PYRA wird die zentrale Bedeutung der Kategorie des Erhabenen für eine letztlich auf Autonomie zielende Funktionsbestimmung der Dichtung zwischen heteronomer Gottesverehrung und vernünftiger Moraldidaxe besonders evident. Angeregt durch Bodmer und Breitinger hatten sich Pyra und Lange mit Longin beschäftigt. Während Langes Abhandlung über das Erhabene verschollen und nur aus Bodmers >Critischen Briefen< indirekt erschließbar ist (vgl. 11.73 Zelle 1991b, S. 72), wurden Pyras Longin-Übersetzung (II VH) und seine Abhandlung >Über das Erhabene< (II ÜE) - beides Fragmente - aus dem Nachlaß 1991 veröffentlicht. Im ersten Kapitel der Abhandlung beschreibt Pyra seine Longin-Lektüre durch Anlehnung an den einschlägigen pietistischen Wortschatz als sein Erweckungserlebnis (»denn es strahlete sein starkes Licht auf ein mal mit einem so hohen Glanz in der völligen Dunkelheit der Unwißenheit, die diese Gegend der Beredsamkeit fast ganz bedecket hielt«; ÜE, S. 55), und die Einleitungssätze offenbaren schlagartig, zu welch genialer Idee die Kategorie des Erhabenen oder Hohen Pyra erleuchtet hat: »Der Mensch ist zur Hoheit geboren. Der Schöpfer hat ihn dazu bestimmt. Aus der Betrachtung seiner Natur erkennen wir es, die Erfahrung bestätiget es.« (Ebda., S. 51) >Hoheit< tritt hier in Recht und Würde der zentralen theologischen Kategorie der Gcttebenbildlichkeit und zugleich der aufklärerischen Selbstbestimmung des Menschen im Sinne tugendhafter Selbstvervollkommnung. Der Begriff steht hier also für nichts weniger ein als für die zentrale schöpfungstheologische und anthropologische Sinngebung menschlicher Existenz durch die Kirchen und zugleich all dessen, was seit der Renaissance in säkularen Zweckbestimmungen des Menschen als eines seiner Natur nach zu einem glücklichen Dasein bestimmten sowie zur Selbst- und Schöpfungsvollendung befähigten »God on earth« gedacht und propagiert worden ist (vgl. III Trinkaus I, S. ii u. ö.; IV Kemper I, S. 181ff. u. ö.; Bd. I, S. 66ff., 72ff.). Und der Begriff führt - vielleicht schon unter dem neologischen Einfluß S. J. Baumgartens (vgl. Kap. II l b-1) - insbesondere
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zusammen, was sich in der von Pyra so spannungsvoll durchlebten Epochenkonstellation von pietistischer Gottseligkeit und frühaufklärerischer Glückseligkeit unversöhnlich gegenüberzustehen schien (vgl. Bd. V/l, S. 42ff.). Konsequent bis in die wechselweise aus dem theologischen (pietistischen) und aus dem aufklärerischen Diskurs geliehenen Worte versucht Pyra die >Hoheit< als Vermittlungskategorie zwischen den Weltbildern zu etablieren, weil das »Verlangen«, »das wahrhaftige Beßere (zu) erkennen oder darnach zu streben«, »das würdigste für das unsterbliche Geschlecht der Menschen« sei: »Sollen wir denn nicht überhaupt suchen volkomner zu werden?« (ÜE, S. 51) Damit knüpft Pyra geschickt an ein Zentralmotiv sowohl pietistischen wie aufklärerischen Selbstverständnisses an, und folgerichtig begründet er die Beschäftigung mit dem >Hohen< und dessen Darstellung mit dessen seelsorgerlichem und zugleich moralischem Nutzen. Es sei »löblich, seinen Geist bis zu den Vollkommenheiten und Gipfeln der Dinge zu erheben, und seine Kräfte in der Vorstellung ihrer Hoheit und Fürtreflichkeit zu üben«, man befördere damit auch »anderer wahres Vergnügen«, entferne das »Unkraut« aus dem »fruchtbarsten Theil der Seele« und unterstütze mit den erhabenen Bildern der »VorstellungsKraft« den Willen zu »tugendhaften Handlungen«; im übrigen sei die Beschäftigung mit dem Erhabenen eine Vorübung auf die »unbegreiflich hohen Vorstellungen«, die uns im künftigen Leben erwarten (ebda.). Anschließend beruft sich Pyra »auf das Verfahren Gottes selbst« (ebda.) und erreicht damit das zentrale Thema seines >Ersten Hauptstücksc Die Bibel, ihre Sprache, ihr Inhalt und Stil werden als Lehrbuch des Erhabenen vor Augen gestellt, das poetisch nachzuahmen deshalb keine Sünde, sondern gut und nützlich sei: »Kann man aber wohl ein vortreflicheres Muster erwehlen, als das selbst in dem Himmel ist ausgelesen worden? Die Bewunderung des Urhebers der Welt und seinen Werken (!) die Liebe der Tugend, der Haß des Lasters sind die anständigsten Absichten des ewigen, die Glückseeligsten Geschäfte der Sterblichen. Nichts ist gottlicher als deren Beförderung. Durch nichts wird ein Mensch Gott selbst ähnlicher.« (Ebda., S. 52)
Von daher sucht Pyra nachzuweisen, daß seine poetologische Konzeption den Bedenken und Anliegen pietistischer Frömmigkeit in besonderer Weise entgegenkommt, ja daß die Poesie im Zeichen des Erhabenen in Nachahmung des Schöpfers und am Vorbild der Bibel durchaus auch Vehikel pietistischer Gläubigkeit zu sein vermag. Dies hat für Pyra zweifellos etwas Befreiendes: Die Konzeption einer erhabenen Poesie ermöglicht ihm die Vereinigung der widersprüchlichen Triebkräfte seines Erziehungs- und Bildungsweges (vgl. dag. 11.73 Zelle 1991a, S. 18)!
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Freilich: Indem er die Bibel »die Richtschnur und das Muster unsrer Reden von gottlichen Dingen« (ÜE, S. 54) werden läßt, sakralisiert er die Poesie zur Nachahmung solch göttlichen Redens, und zugleich säkularisiert er die Heilige Schrift, indem er sie »nach dem Maße der Vernunft« wie der Heide Longin als poetologisches Lehrbuch betrachtet und ihre Schreibart »mit den weltlichen Schriften« »gemein« erachtet. Und in der damit gegebenen Tendenz, die Bibel selbst als »Hauptbuch des Erhabenen« zu ästhetisieren, wird die Absicht erkennbar, das Ästhetische in seiner >Unmittelbarkeit zu Gott< zu verankern und damit in seiner Würde und Eigenständigkeit zu stärken. Diese Tendenz charakterisiert auch das >zweite Hauptstück< (>Von der Schreibart überhaupt; ebda., S. 56ff.), in dem Pyra bestrebt ist, sowohl die Elemente des erhabenen Stils aus Ordnung und Zweckmäßigkeit der sprachlichen Organisation selbst (und damit säkular) zu deduzieren (»Die Schreibart heißt eigentlich die Ordnung der Worte«; ebda., S. 56), als auch die Regeln seines korrekten Gebrauchs vernünftig zu begründen. Dabei legt er großen Wert auf das planmäßige Funktionieren der erhabenen Dichtkunst, und dieses wird zum einen durch die geordnete Abfolge der Vorstellungen im Textablauf (also ohne Sprünge und »beau desordre«) und zum ändern durch ein statisch-funktionales Aufeinanderbezogensein von Wort und Sache bzw. Begriff (oder Idee) in Analogie zum Denkmodell der »prästabilierten Harmonie« gewährleistet (vgl. dazu Bd. V/l, S. 103ff.): »Da nun zwischen den Worten und den Begriffen eine solche vorher bestätigte Übereinstimmung würklich waltet; als Leibnitz zwischen Leib und Seele erdacht, so wird auch in der Verbindung derselben das Verhältnüß gegen die Vereinigung in den Gedanken ebenfals statfinden müßen.« (ÜE, S. 61) Diese sprachtheoretischen Überlegungen wendet Pyra nun im >dritten Hauptstück< (>Erklärung des Hohem; ebda., S. 63ff.) auch noch ins Erkenntnistheoretische und Psychologische. »Die Bewunderung und das erstaunen«, so definiert er formal, »ist eine Gemüthsbewegung die durch den Anblick oder die Empfindung und Vorstellung eines außerordentlichen Vorwurfs erreget wird.« (Ebda., S. 64) Auf Grund der Leibniz/Wolffschen Erkenntnistheorie setzt er voraus, »daß das gedenken von den (!) empfinden unterschieden sey« (ebda.), und konstatiert »fast eine Trennung zwischen den Vorstellungen und Begriffen«: »Jene selten bey den Empfindungen bleiben, diese aber sich zu den algemeinen Ähnlichkeiten und Verhältnüssen schlagen.« (Ebda.) Offenbar sucht Pyra nach einer psychologischen Verankerung des Erhabenen, die oberhalb der von seinem Lehrer Alexander Gottlieb Baumgarten für die Wahrnehmung des Schönen >reservierten< »anima sensitiva« liegt (vgl. dazu Bd. V/2,
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S. 189). Und bezeichnenderweise glaubt er sie genau in der Überwindung jener Grenze zwischen (leiblicher) Empfindung und (geistigem) Begriff zu finden, die Leibniz mit der prästabilierten Harmonie markiert hatte: »Ja es könte durch die Vermischung der Vorstellungen und Begriffe dergestalt eine Zwitterart von Gedanken gezeuget werden. Und diese letzte Geschlechtslienie (!) dürfte wohl die stärkste seyn.« (ÜE, S. 64f.) Mit dieser Überlegung durchbricht er bezeichnenderweise die Lehre von der prästabilierten Harmonie zugunsten eines für die Empfindsamkeit typischen psychophysischen Influxionismus (vgl. dazu Bd. V/l, S. 106) und verweist gerade damit - nach der Auseinandersetzung mit dem Pietismus im ersten Hauptstück< - auf das Normsprengende dieser ästhetischen Kategorie auch innerhalb der rationalistischen Erkenntnistheorie. Zumindest tendenziell gelingt es ihm damit tatsächlich, das Erhabene als ein ästhetisches Phänomen sui generis zu erweisen, das zentrale theologische wie auch philosophische Anschauungen gerade deshalb vermittelnd aufzugreifen vermag, weil es für sich selbst den Sonderstatus des Ästhetischen reklamiert, diesen faktisch aber ständig transzendiert. 8) Das historisch Produktive und Innovative von Pyras fragmentarischen Gedanken über das >Hohe< wird besonders deutlich im Vergleich mit Ludwig TIECKS (1773-1853) frühem Fragment >Über das ErhabeneJe mehr« indessen »der Mensch seine tierischen Kräfte in Seelenkräfte verwandelt, je edler wird er selbst, denn seine Gefühle werden dadurch verfeinert u. jemehr seine Gefühle an Gedanken grenzen, je feiner u. edler sind sie / je mehr die tierische Antipathie zur Idee, die tierische Sympathie Liebe wird, je höher steht der Mensch« (ebda., S. 649). Dies, scheint mir, war auch Pyras Idee, und das bedeutet, daß das Erhabene für ihn - ebenso wie für Shaftesbury (vgl. Kap. II c-3) und die Neologen - keine Alternative zum Schönen, kein
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Sammelbecken des Nichtschönen war, sondern die Erhebung des im »Schönheitssinn« noch sinnlich Wahrgenommenen in den Zustand ästhetischer >Idealität< und Reflexion. Und genau dies ist auch die Position, die Klopstock in der Gestaltung des Erhabenen einnahm und die diesem Haupt-Dichter der Empfindsamkeit das Etikett des >Sentimentalischen< eintrug, weil der »sentimentalische Dichter« »über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen«, -»reflektiert«, »und nur auf jene Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird und uns versetzt.« (II Schiller NSD, S. 720; vgl. ebda., S. 734ff.; vgl. Kap. II 6 a-5) e) Die »lyrische Poesie« als >Ausdruck< »wahrer Empfindungen« (Batteux, J. A. Schlegel, Cramer) Die meisten der bisher dargestellten Positionen - von der pietistischen »Herzens«-Lyrik über die Orientierung an der »heiligen« Poesie der Bibel und die Reklamierung des Enthusiasmus in der poetischen Verkündigung bis zur Gestaltung >erhabener< Erschütterung - bereiteten jener epochalen Einsicht den Boden, die zum entscheidenden Charakteristikum >des< Lyrischen in der Moderne werden sollte (und die man gemeinhin erst seit Sturm und Drang bzw. Klassik datiert; vgl. Bd. I, S. 36f.), nämlich daß Lyrik Ausdruck der Empfindungen des Subjekts sei. Diese Erkenntnis, die den allgemeinen Wandel von der Wirkungspoetik zur Ausdrucksästhetik in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entscheidend prägte und das Bewußtsein von >der< Lyrik als einer eigenständigen Gattung mit hervorrief (vgl. ebda., S. 37ff.), verlangte freilich eine grundsätzliche theoretische Besinnung auf das >Wesen< der Poesie, und der Durchbruch erfolgte keineswegs zufällig am Streit um die Bestimmung der geistlichen Lyrik (diesen Zusammenhang übergeht - von Martens deshalb zu Recht kritisiert - Guthke in seiner sonst materialreichen Darstellung dieser Entwicklung; vgl. IV Guthke; Martens). 1) Der Abt Charles BATTEUX (vgl. Kap. II 2 a-4) hatte in seiner einflußreichen Abhandlung >Les beaux arts reduits en un meme principe< alle Künste auf den Grundsatz der >Nachahmung der Natur< zurückgeführt, und dies sollte auch für alle Gattungen der Dichtkunst gelten. Die »lyrische Poesie« lasse sich ebenfalls »naturlicher Weise unter die Nachahmung ziehen«, auch wenn sie im Unterschied zu den anderen, an Handlungen orientierten Gattungen des Epos und Dramas »ganz den Empfindungen geheiligt« sei (II Batteux, S. 379f). Alle vier Arten der Lyrik - in Batteux' Reihen- und Rangfolge die »geistlichen, die heroischen, die moralischen, die anakreontischen Oden« (ebda., S. 385) - wa-
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ren für ihn »einzig und allein der Empfindung gewidmet« (ebda., S. 382), aber sie waren grundsätzlich Nachahmungen von Empfindungen, die der Dichter mithilfe seiner Kunst erzeugte und sich oder anderen Personen beilegte. 2) Gegen diese Ansicht setzte sich nun der Batteux-Übersetzer Johann Adolf SCHLEGEL (vgl. Kap. II 2 a-5, II 3 b) in umfangreichen Anmerkungen polemisch zur Wehr. Eigentlicher Anstoß war ihm - dem Psalmen-Übersetzer und Autor geistlicher Lieder - bezeichnenderweise die These, daß auch die Dichter geistlicher Lieder ihre Empfindungen nur >nachahmen< sollten. Die Poesie der Bibel, so behauptete Batteux, sei ihren Autoren direkt vom heiligen Geist »in den Mund« gelegt worden, insofern sei sie so original >erschaffenNeue Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes< erschien 1744; die >Vorrede< der »Verfasser« ist datiert »Bremen, den l. des Weinmonats (= Oktober) 1744« (I NBVW-V I, S. a 5). Alsbald bürgerte sich bei den Freunden selbst für ihr Organ die Bezeichnung >Bremische
Bremer Beyträge< ein, unter der sie und ihre Zeitschrift dann in die Literaturgeschichte eingegangen sind. 2) Als eigentlicher »Spiritus rector« des ganzen Kreises und als Inaugurator der Zeitschrift galt schon den Freunden Karl-Christian GÄRTNER (1712-1791). Er hatte bereits auf der Fürstenschule in Meißen mit Christian Fürchtegott GELLERT (1715-1769; vgl. Kap. II 4) und dem späteren berühmten Satiriker Gottlieb Wilhelm RABENER (1714-1771) Freundschaft geschlossen und setzte diese während seines Philosophie- und Literaturstudiums bei Gottsched in Leipzig fort. Zu ihnen gesellten sich der gebürtige Leipziger und spätere Göttinger Mathematikprofessor Abraham Gotthilf KÄSTNER (1719-1800; zu ihm vgl. Bd. V/2, S. 18f., 41f.) sowie der als Mitschüler Klopstocks in Schulpforta erzogene Leipziger Jurastudent, Dramatiker und um die Anerkennung Shakespeares verdiente Literaturtheoretiker Johann Elias SCHLEGEL (1719-1749; 1748 Professor an der dänischen Ritterakademie Sor0). Er zog seinen jüngeren Bruder, den Theologiestudenten Johann Adolf SCHLEGEL (1721-1793; vgl. zu ihm Kap. II 3 b) in den Kreis. Ihm schlössen sich in den Jahren zwischen 1742 und 1745 die fast gleichaltrigen Theologiestudenten Johann Andreas CRAMER (1723-1788; vgl. Kap. II 3 f), Johann Arnold EBERT (1723-1795; vgl. Kap. II 3d) und Nikolaus Dietrich GISEKE (1724-1765; vgl. Kap. II 3 c) sowie der anfängliche Jurastudent Justus Wilhelm ZACHARIAE (1726-1777; vgl. Kap. II 3 e) an. 1746 wurde noch der Theologiestudent Friedrich Gottlieb KLOPSTOCK (1724-1803; vgl. Kap. II 6), der zufällig im selben Haus Quartier bezogen hatte, in dem auch Cramer, Giseke und Rabener wohnten, in den Freundschaftsbund aufgenommen, und der Veröffentlichung der ersten drei Gesänge seines >Messias< im vierten Band der >Bremer Beiträge< 1748 sowie seinen Freundschaftsoden verdanken die Zeitschrift und ihre Verfasser eigentlich ihren Nachruhm in der Literaturgeschichte (vgl. dazu III Schröder, S. 142ff.). 3) Für den Freundeskreis selbst hatte die Zeitschrift eine wichtige gemeinschaftsstiftende und -stabilisierende Funktion. Das galt zunächst für die Leipziger Jahre, wo die Gruppe sich wöchentlich mittwochs zur Redaktionskonferenz und damit zur Rezitation und Begutachtung der eigenen und fremden Beiträge traf (vgl. ebda. S. 46f.). Der Älteste, Gärtner, war der schärfste und respektierteste Kritiker und zugleich der Hauptherausgeber der >Bremer Beiträge< (als Dichter konnte er sich dagegen kaum profilieren). Als er 1747 Leipzig verließ und eine Anstellung am Braunschweiger Collegium Carolinum erhielt (zunächst als Dozent,
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ab 1748 als Professor für Morallehre und Rhetorik; vgl. 11.27 Bauer, S. 72), ließ sich, obwohl Giseke die Herausgeberschaft übernahm, der allmähliche Niedergang des Periodikums nicht aufhalten, und auch der Kreis in Leipzig löste sich relativ rasch auf. Schließlich führten Beitragsmangel, Unstimmigkeiten mit dem Verleger und zum Teil auch andere Interessen - so gaben einige der Freunde nebenher noch eigene Zeitschriften heraus (darunter Cramer, Giseke und Ebert 1747/48 das moralische Wochenblatt >Der JünglingMonatsschriftSammlung Vermischter Schriften von den Verfassern der Bremischen neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes< (insgesamt in 3 Bänden: Bd. I 1748/49, Bd. II 1750, Bd. III 1752-1757; vgl. III Schröder, S. 184), doch erreichte diese nicht mehr den Rang ihrer Vorgängerin. 4) Die historische Bedeutung der >Neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes< bestand vor allem darin, daß sie die erste kollektiv verantwortete und rein literarische Zeitschrift in Deutschland waren (vgl. ebda., S. 220). Vorwiegend an das »Frauenzimmer« adressiert, enthielten sie sich jeder Polemik und brachten in bunter Folge neben einigen allgemein interessierenden und der Bildung dienenden Prosa-Abhandlungen in buntem Wechsel poetische Beispiele aus vielen Gattungen (Schäferspiele, Komödien, Komische Epen, Prosa- und Verssatiren, Gelegenheitsdichtungen, geistliche und weltliche Oden, Fabeln und Erzählungen, große Lehrgedichte und kleine scherzhafte Lieder sowie Übersetzungen). Diese Werke sind ihren Verfassern heute nur noch dann mit Sicherheit zuweisbar, wenn diese sie in ihre späteren Sammlungen aufgenommen haben (vgl. dazu im einzelnen III Schröder). Manches bleibt darin dem Gottschedschen Geschmack verhaftet, doch ist die Annäherung an die >Gefühls-Kultur< und die Poetik der Schweizer (auch mit einer starken Berücksichtigung geistlicher Poesie) unverkennbar. Mit Recht hat man in den folgenden Versen aus der Feder von Gottlob Benjamin Sträube das Glaubensbekenntnis und Programm des Freundeskreises gesehen (vgl. ebda., S. 216):
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II. Neologie und Empfindsamkeit
»Der Gottheit Herold sein; der Tugend Ruhm erheben; Dem Schweren unsrer Pflicht ein reizend Ansehn geben; Das unerforschte Herz und Triebe, die uns fliehn, Mit glücklicher Gewalt aus ihren Klüften ziehn; Das Volk, das irre geht, vom falschen Wahn entfernen, Nach sichern Zwecken gehn und edler denken lernen; In wahrem Lob und Schimpf ermuntern und erbaun; Geschmack und Kunst verstehn und auf die Nachwelt schaun; Dies muß ein Dichter tun, den Recht und Einsicht adeln, Den die Vernunft erhöht und blinde Schüler tadeln.« (I NBVW III, S. 94)
Indessen waren doch sehr unterschiedliche Temperamente und poetische Talente am Werk, denen eine Einzeldarstellung eher gerecht zu werden vermag. Jeder der nachfolgenden Leipziger Freunde hat ein großes meist mehrbändiges und gattungsreiches - lyrisches Werk hinterlassen, und es erscheint sinnvoll, dieses vor der Poesie jenes Autors zu inspizieren, dem sie mit der Publikation des >Messias< zum Durchbruch verhalfen und in dessen literarhistorischem Schatten sie seither stehen. b) Wider Eigenliebe und Unzufriedenheit - Moral-Predigt in Versen (J. A. Schlegel) 1) Johann Adolf SCHLEGEL (1721-1793; vgl. Abb. 9 in: III Schröder, S. 32) stand zu Lebzeiten etwas im Schatten seines älteren Bruders Johann Elias (1719-1749), und sein Nachruhm wurde fast völlig von dem seiner beiden Söhne August Wilhelm und Friedrich Schlegel überdeckt (vgl. dazu auch II J. A. Schlegel VG I, S. 222-243). Bei seinen Freunden stand er dagegen in hohem Ansehen, und insbesondere Geliert schätzte ihn so sehr, daß er ihn zum Herausgeber seiner >Moralischen Vorlesungen< bestimmte (vgl. dazu auch Kap. II l g; 4 a-3). Schlegel folgte 1735 seinem Bruder nach Schulpforta und 1741 an die Universität Leipzig. Johann Elias führte ihn auch in den Freundeskreis der >Bremer Beiträgen ein. Neben seinem Theologiestudium beteiligte sich Schlegel intensiv an den literarischen Unternehmungen der Freunde (vgl. Kap. II 3 a), auch während seiner Kandidatenjahre (1745-1751), die er u. a. in Leipzig und bei seinem Freund Johann Andreas Cramer in Cröllwitz verbrachte, wo er dessen Übersetzungstätigkeit unterstützte (vgl. Kap. II 3 f; vgl. 11.82 Anger 1991, S. 264). Nach seiner ersten Stelle als Diakon in Schulpforta nahm er einen Ruf als Pastor und Gymnasialprofessor nach Zeitz an. Von hier aus verbreitete sich sein Ruhm als Prediger, der ihm 1759 auch einen ehrenvollen Ruf auf eine theologische Professur an der damals noch neuen Universität Göttingen eintrug. Zwar lehnte er diesen ab, ließ
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Abb. 9
sich aber im selben Jahr vom Minister Gerlach Adolf Freiherr von Münchhausen als Pastor primarius nach Hannover berufen, wo er bis zu seinem Tode blieb. 1782 wurde er noch zum Generalsuperintendenten für die Grafschaft Hoya und 1787 für das Fürstentum Calenberg ernannt. Im selben Jahr verlieh ihm die theologische Fakultät der Göttinger Universität den Ehrendoktor; sie würdigte in ihm »nach Mosheim«, aber »neben Spalding und Cramer« »einen der besten Redner deutscher Zunge« (11.82 Anger 1965, S. 6+), der seine >Predigten< in 15 Bänden (1754-1785) herausgegeben hatte (Einzeltitel der Sammlungen ebda., S. 3+). Außerdem tat er sich - neben Cramer, Geliert und Klopstock - als Kirchenlied-Reformer hervor und edierte seine Überarbeitung alter Gesänge und eigene Dichtungen geistlicher Lieder< in drei Sammlungen (1765, 1769 und 1772). Schließlich publizierte er noch seine >Vermischten Gedichte< in zwei Bänden (1787 und 1789). - Literaturgeschichtlich verdient Schlegel vor allem als kritischer Batteux-Übersetzer und -Kommentator Beachtung (vgl. dazu Kap. II 2 a u. e), doch auch seine umfangreiche - vorwiegend geistliche - Lyrik und seine >Fabeln und Erzählungen< weisen Ansätze zu einem nicht unbeachtlichen eigenständigen Profil auf. 2) 1769 gab Gärtner 46 >Fabeln und Erzählungem Schlegels heraus, die dieser größtenteils bereits in den >Bremer Beiträgen veröffentlicht, aber
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für diese Edition nochmals stark überarbeitet hatte (Einzelnachweise der Erstdrucke in 11.82 Anger 1965, S. 7+ff.). Was früher der »Belustigung« und dem »Vergnügen« gedient hatte, und damit als »Werk des Witzes« zu verstehen war, das sollten die Leser nun - mehr als 20 Jahre später - »als wohlthätige Versuche zur Beförderung der Wahrheit und Sittlichkeit betrachten« (II Gärtner V, S. +2 v). So hatte der Theologe Schlegel aus seinem - anonym erschienenen - Jugendwerk alles »Rokokohafte« eliminiert (vgl. 11.82 Anger 1965, S. +8ff.) und konnte deshalb den moralischen Zeigefinger umso ungehinderter erheben: »Wie viele schreiben nicht von Pflichten / In erzmenantischen Gedichten?« (II FE, S. 299; zur frivolen Liebeslyrik von Menantes vgl. Bd. V/l, S. 64ff.). In mehreren Anmerkungen zu Batteux' Kapitel >Von den äsopischen Fabeln< hatte auch Schlegel sich zu deren Theorie geäußert (vgl. dazu auch Kap. II4 b). Er ordnete die Fabel der »epischen Poesie« zu, was ihn - dem Zeitgeschmack folgend - nicht hinderte, die eigenen >Fabeln und Erzählungen< durchweg in gereimten, unstrophischen Madrigalversen zu verfassen. Die Kunst der Fabeln bestand für ihn nicht in neuen Erfindungen, weil es schon zu viele bekannte Fabeln gebe und die »Bestandheit« der Fabelcharaktere im Sinne Lessings zu beachten sei (vgl. dazu Bd. V/2, S. 86f.). Deshalb fügte Schlegel im Inhaltsverzeichnis seiner Ausgabe den einzelnen Fabeln gleich die Quelle hinzu (danach wären nur 12 der 46 Stücke eigene Erfindungen des Autors). Das eigentliche Verdienst der Fabeln erblickte Schlegel wie Hagedorn (vgl. Bd. V/2, S. 180ff.) und Geliert in der Kunst zu erzählen, wobei das dargestellte Beispiel aber soweit pflichtete er Lessing bei - mit der Moral genau übereinstimmen müsse (ebda., S. 346ff.): »Die Fabel ist eine Allegorie in ihrer Anlage, denn die Moral ist ihre Seele; aber nicht in ihrer Ausführung, denn die Wesen, die sie uns zu zeigen verspricht, Thiere, Bäume, Pflanzen, sollen uns von ihr ... wirklich vorgestellet werden; obwohl bis zum höchsten Grade veredelt, dessen sie fähig sind.« (II Schlegel AVM, S. 352). Tiere sollen also als »wirkliche Thiere« in »ihrer Identität« dargestellt und imaginiert und gleichwohl in ein »einstimmiges Ganzes« mit dem menschlichen Verhalten gebracht werden (ebda., S. 350). Diese anspruchsvolle Theorie, die gerade in der Natürlichkeit der TierCharaktere die Evidenz der »anschauenden Erkenntnis« im Blick auf die menschliche Moral erblickte, hat Schlegel in seinen >Fabeln und Erzählungen nur in Ausnahmefällen zu realisieren vermocht. So gleich in der zweiten Fabel >Der PapagoyDas ausgerechnete Glück< (FE, S. 65-83): Der Bauernbursche Michael malt sich - mit einer gefangenen Nachtigall in der Hand - aus, wie er die 12 Taler Erlös für seinen Fang so vermehren kann, daß er schließlich sogar ein Herzog wird, doch im Zorn über seine renitente Frau öffnet er die Hand, um sie zu schlagen, und da »entfloh die Nachtigall. / Und mit ihr Herzogthum, und Bier und Schweinebraten.« (Ebda., S. 83) Vergnüglich und lehrreich ist auch die selbst erfundene Erzählung >Der Polyhistor und der Tod< (ebda., S. 176-188), wo ein unproduktiver Pedant - ein Typ wie Lessings >junger Gelehrten - sein Leben über den Büchern vertut. Überraschenderweise gewährt der Tod dem Erschrokkenen nochmals eine Zeitspanne von 40 Jahren zur Besserung, doch sofort fällt dieser Gedächtnisakrobat wieder in die alten Gewohnheiten zurück und »verliest« sein Leben erneut (und hier läßt sich Schlegel sogar einmal von Hübners Reimregister - vgl. Bd. V/2, S. 27 - zum »Scherzen« verführen, indem er den Pedanten »Sein Hundert Dissertationen« schreiben läßt über alle Stoffe und »Namen, die sich onen«; ebda., S. 187). Ein zweites Mal ist der Tod nicht umzustimmen: »Vergönnt' ich dir auch noch ein tausend] ährigs Ziel; / Du wurdest stets die Zeit durch deinen Tand verderben.« (FE, S. 188) Im Erzählen indessen lag Schlegels Stärke nicht, dafür aber im unermüdlichen und psychologisch differenzierten Moralisieren] Dieser seiner Theorie entsprechenden Hauptabsicht gemäß beginnen viele seiner Fabeln und Erzählungen bereits mit einem ausführlich-belehrenden Promythion, wodurch die Handlung zum illustrierenden Applikationsinstrument herabsinkt und keinerlei erzählerischen >Mehrwert< gegenüber der Moral gewinnt (wie in den guten Fabeln Gellerts). Gegen Ende der Hauptwirkungsphase der Fabel in Deutschland knüpfte Schlegel noch
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II. Neologie und Empfindsamkeit
einmal signalhaft an deren ursprüngliche Intentionen an, nämlich die Wahrheit(en) des Naturgesetzes und der Moral in das >Gewand< der Poesie zu kleiden (vgl. dazu Bd.V/2, S. 85ff.). Und dabei attackierte er insbesondere jene Verhaltensweisen, die dem Grund-Gesetz der »social love« am unnachsichtigsten entgegenstanden: die Spielarten der Eigenliebe] Tadelt schon das erste der beiden >Bücher< der Sammlung die Fehler des Hochmuts, Eigensinns und der Weltfremdheit, die allesamt ein falsches oder mißlungenes gesellschaftliches Verhalten nach sich ziehen (FE, S. 1-138), so konzentriert sich das zweite Buch (S. 139-308) auf die Auswirkungen übertriebener Selbstliebe: auf Gefallsucht und Eitelkeit, Ehrsucht und Prahlerei, Überheblichkeit und Rücksichtslosigkeit, Scheinheiligkeit und Hoffart, Formen des »eitlen Stolzes« also, die überwiegend aus dem »Verlangen zu gefallen« resultieren. Dieses indessen - darauf verweist der Autor eigens in einem >Prologus< in das zweite Buch (ebda., S. 141-143) - ist nicht per se verdammenswert: »Die weise gutige Natur / Gab es mit der Vernunft uns allen.« (Ebda., S. 141) Von der »Ruhmbegierde« spricht sich der Autor selbst nicht frei (»Ich wenigstens gesteh die Schwachheit ein, / Wenns eine Schwachheit ist.« Ebda., S. 142) Aber gerade deshalb bedarf sie ständiger (Selbst-)Kritik, welche für die thematische Geschlossenheit der Sammlung sorgt und dem Autor vielfache Gelegenheit bietet, an sein vorbildhaftes Konterfei zu erinnern: »Wen hat wohl je der Moralist geruhret, Der Satz auf Satz in Bänden demonstriret, Die Eitelkeit sey unsrer Herzen Pest; Und doch sich vor sein Werk in Kupfer stechen läßt?« (Ebda., S. 279)
3) Seine dem Freund Gärtner gewidmeten >Vermischten Gedichte< (1787/89), in die auch eine Reihe geistlicher Lieder< (von 1765-72) in überarbeiteter Form eingingen, publizierte Schlegel laut >Vorbericht< aus Sorge um seinen guten Ruf: Ihm sollte die Nachwelt keine falschen Poeme zuordnen (II VG I, S. I f.). »Vermischt« ist diese zweibändige Sammlung in doppeltem Sinne: als Kombination früher (aus der Leipziger Zeit stammender, aber durchweg überarbeiteter) und später Gedichte sowie als Kollektion unterschiedlicher lyrischer Gattungen, die von geistlichen Liedern (am Anfang beider Bände) über Lehrgedichte, Beispiele für die >scherzende Muse< bis zu Casualcarmina führen. - Die schon in den >Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und Witzes< veröffentlichte, nun aber überarbeitete Paraphrase des (Schöpfungs-)Psalms 104 mag zunächst den rationalistischen Umgang Schlegels mit der biblischen Tradition illustrieren (vgl. zur ersten Version IV Bach/Galle, S. 241 ff.). Die beiden Eingangsverse des Psalms lauten:
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»1. Lobe den Herrn, meine Seele! Herr, mein Gott, du bist sehr herrlich: du bist schön und prächtig geschmückt. 2. Licht ist dein Kleid, das du anhast; du breitest aus den Himmel wie einen Teppich; . ..«
Daraus werden bei Schlegel drei Strophen: »Auf! Deinen Schöpfer preis', o Seele, Von seiner Groß' entzückt! Von seiner Pracht ruhm und erzähle! Denn er ist schon geschmöckt. Als er den Himmel und die Erde Einst zu erschaffen stand; Rief er dem Licht allmächtig: Werde!
Und Licht ward sein Gewand. Den Himmel spannten seine Hände Durch seine ganze Welt Vom einen bis zum ändern Ende Welt(!) aus, als ihr Gezelt.« (VG I, S. 201f.)
Schlegel nutzt das Schöpferlob des Eingangsverses knapp, um mit dem erweiternden Motiv der »Entzückung« die eigene Inspiriertheit und damit die Authentizität der mitempfindenden Nach-Dichtung einzubringen (vgl. dazu Kap. II 2 e). Nachfolgend bemüht er sich, die Anthropomorphismen des Psalms zu entschärfen und rationalistisch zu erklären: die Licht-Kleid-Metapher wird so auf die Kosmogonie zurückgeführt, der enge alttestamentliche »Himmel« mit der »ganzen Welt« - und damit mit seiner modernen kosmologischen Dimension - in Beziehung gesetzt. Wo immer es geht, werden auch nachfolgend die mythischen Vorstellungen mithilfe moderner Naturphänomene erklärt bzw. plausibilisiert (vgl. IV Bach/Galle, S. 241f.). Daran zeigt sich das bibelkritisch-neologische Interesse Schlegels, der auch seinen physikotheologischen Gedichten das moderne, nachkopernikanische Weltbild zugrundelegte (»Du Raum, wo sich der Geist verlieret, / Und den ein Newton selbst nicht mißt!« VG I, S. 48, über >Die SchöpfungVermischten Gedichte< besteht aus kirchenorientierten geistlichen LiedernErkenntniß Gottes aus der NaturDie Güte Gottesanakreontisch< ausfallen konnten (Beispiele in I Stenzel, S. 225 , 239f.), erscheinen allerdings eher gesetzt und fast würdig (VG I, S. 251-288), weil er darin fast durchweg >moralische Charaktere< abhandelt, wie sie auch Cronegk, Geliert und andere Freunde des Kreises boten. Zur Illustration mag die poetologische Schlußstrophe des Gedichts >Der Starrsinnige< (1750) dienen, in dem der Autor mit dem abgesetzten Schlußrefrain stets die als Eigensinn inkriminierte, in Wahrheit aber richtige Haltung gegenüber dem zuvor darstellten Fehlverhalten behauptet:
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II. Neologie und Empfindsamkeit »Daß ich in meinen Versen denke, Donkt einen Reimer wunderlich. >Wo denken,< spricht er, >Stopp' und ich? >Sey sicher, daß ich niemals mich >Auf eines Hallers Seite lenke, >So oft ich auch die Welt beschenke? >Das Denken wird zwar sehr gemein. >Doch willst du groß, wie Gottsched, seyn; >So sage nichts; nur reime rein!< Ich denke.« (Ebda., S. 277)
4) Der Umfang des aus insgesamt 24 Texten bestehenden zweiten Bandes der >Vermischten Gedichte< wird größtenteils beansprucht von dem überarbeiteten, erstmals in den >Bremer Beiträgen< erschienenen >epischen Lehrgedichte in acht Gesängen< >Der Unzufriedne< (VG II, S. 95-344). An Ovids >Metamorphosen< und ihre »Zauberwelt« anknüpfend, aber ohne Bezug zu deren ambitionierter typologischer Konzeption (vgl. dazu 11.71 Döpp, S. 123ff.), schildert das Werk in variablen Alexandrinerversen in griechisch-antikem Dekor mit idyllischen Zügen den (Anti-)Helden Agenor, der sich immer anderes (oft Entgegengesetztes) wünscht, als er gerade hat und ist, »Weil das errungne Gluck, das sich sein Wunsch erdachte, / Den unzufriednen Geist stets unzufriedner machte.« (Ebda., S. 231) So verwandelt Zeus ihn auf seine Bitten nacheinander in eine Nachtigall, einen Hecht, Baum, Hirschen, Löwen, sodann in eine eitle, Zwietracht säende Schöne und schließlich - gegen seinen Willen - zurück in Agenor und hält ihm eine donnernde Strafpredigt, von der her sich Schlegels Gattungsbezeichnung »episches Lehrgedicht« rechtfertigen mag. Jedenfalls handelt es sich nicht um eine Parodie des Heldenepos im Sinne von Zachariaes >Renommiste< (vgl.Kap. II 3 e-1), weil Absicht und Stilmittel der Parodie fehlen, wohl aber enthält das Werk mit seinen zahlreichen, psychologisch und moralisch gut ausgeleuchteten Genreszenen menschlichen Verhaltens auf dem Land und in der Stadt Merkmale des >Gesellschaftsepyllions< (vgl. ebda.), indessen fehlt der Dichtung im Vergleich zu diesem die doppelbödige Komik und Moral. Trotz reicher Handlung und überraschender poetischer Einfalle wiederholt sich derselbe Charakter in allen Verkleidungen. Das hat gedankliche Stagnation und diese wiederum zur Folge, daß man die dem antiken Götter-Vater in den Mund gelegte, aber auch als Schlegels eigenes Vermächtnis anzusehende Moral nicht ungern schon früher gelesen hätte: »Das, was man hat, verschmähn; das ist der Thorheit Weise. Genießen, was man hat, ist Weisheit. Werde weise!« (VG II, S. 343)
3) Proben von Tugend und Frömmigkeit (Bremer Beiträger)
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c) >Geschmack< zu Freundschaft und Liebe (Giseke) 1) Nikolaus Dietrich GISEKE (1724-1765; vgl. Abb. 10 in: III Schröder, S. 64) wurde in Güns (Westungarn) geboren, wo der Vater lutherischer Pfarrer war. Da er nur wenige Tage nach der Geburt des Sohnes starb und wie Gisekes Mutter aus Hamburg stammte, zog diese zu Verwandten dorthin zurück. In Hamburg gewann Giseke wie Ebert (vgl. Kap. II 3 d) »die Freundschaft eines Brockes, eines Hagedorns« (II Gärtner V, S. VI; vgl. dazu III Kopitzsch 1980, S. 317, 326). 1745 begab er sich zum Theologiestudium nach Leipzig. »Seine Nebenstunden gehorten der Dichtkunst und der Freundschaft« im Kreis der >Bremer Beiträgen (II Gärtner V, S. VII f.). Ende 1748 ging Giseke (nach einem Zwischenaufenthalt in
Abb. 10
Hamburg) als Hauslehrer nach Hannover und dann nach Braunschweig, wo er auch Jerusalems Sohn Karl Wilhelm (das Vorbild zum >WertherPredigten< bezeugen, im wesentlichen orthodoxe Positionen. Die biblische Offenbarung war aller Vernunft weit überlegen und daher im »sensus litteralis« auch zu respektieren. Das »Herz« forderte »in dieser wichtigsten Angelegenheit der Erlösung« »zuverlässige Gewißheit«, die nicht die Vernunft, sondern nur die im Glauben anzunehmenden »ausdrucklichen Zusagen Gottes« zu geben vermochten (II Giseke P, S. 45ff.). Doch das »sola fide« genügte nicht zur Erlangung der Seligkeit, vielmehr würde Gott »einem jeglichen nach seinem Verhalten Belohnungen oder Strafen zutheilen«, und von daher waren für Giseke die Dogmen von der Erbsünde, der Macht des Teufels, dem Jüngsten Gericht und der ewigen Verdammnis der Sünder eine »höchst erwünschte Lehre«, »denn sie ist die höchste Unterstützung der Tugend« (ebda., S. 89; vgl. ebda., S. 330 u. ö.). Möglicherweise spielte bei der Überzeugung, der Christ müsse »mit Furcht und Zittern schaffen, daß er selig werde« (ebda., S. 101), auch Gisekes Veranlagung zur Melancholie eine Rolle. Diese brach vor allem nach seinem Weggang aus Leipzig in der Trauer um den Verlust der bislang psychisch stabilisierenden Freundschaftserfahrungen aus. Die im >Anhang< seiner von Gärtner 1767 herausgegebenen >Poetischen Werke< abgedruckten Gedichte (PW, S. 359ff.) und >Briefe< (ebda., S. 375ff.; als Vertrauliche Briefe< auch in I Brüggemann, S. 53-72) sind dafür ein beredtes Zeugnis. »Ich bin gesund«, schreibt er einem Freund 1748. »Aber mein Gemüth ist so wund, und von so vielen Empfindungen zerrissen, daß ich nicht nur im Stande bin, alle ihre (!) Klagen und deren Billigkeit zu fühlen; sondern daß ich mein Unglück dem Ihrigen wenigstens gleich schätze, an Kräften aber, es zu ertragen, weit von Ihnen übertroffen werde.« (PW, S. 396) Ohne »zärtliche Geliebte« und »Freund« »bin ich allein mir und meinen schwermüthigen Gedanken überlassen, und was habe ich, in Ansehung des Zukünftigen, zu hoffen?« (Ebda., S. 398) Er suchte die Einsamkeit in der Natur, »um daselbst ungehindert schwermüthig zu seyn« und sich der Erinnerung an den Umgang mit seinen Freunden hingeben zu können: »Ach, mein liebster Freund, das habe ich niemals gedacht, daß ich Sie und unsre ändern Freunde so sehr lieb hätte, ungeachtet ich immer gewußt habe, daß Sie insgesammt dasjenige sind, was ich auf der Welt am meisten liebe« (so ebenfalls 1748; ebda.,
3) Proben von Tugend und Frömmigkeit (Bremer Beiträger)
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S. 401f.). Als er dann 1749 in Hannover überraschend von Freunden besucht wurde, spielten sich hochaffektive Begrüßungs- und Abschiedsszenen ab, die Giseke einem Freund auf dessen Bitten in zugleich selbstquälerischer und empfindungsseliger Akribie beschrieb und in denen alle Beteiligten um die Wette schwiegen und »heulten« (ebda., S. 413f., 419f.). - Auf Grund seiner depressiven Disposition weist Giseke einige Gemeinsamkeiten mit Geliert auf: Zukunftsängste, ausgeprägte Selbstkritik, welche die Skrupulosität im Blick auf das eigene literarische Werk und die Publikationsangst miteinschloß, Bescheidenheit und Abneigung gegenüber einer glänzenden Karriere, ein von der Neologie abweichendes, strenges Gottes-, Religions- und Tugendverständnis (Gott »kann / Das Böse nicht mit einem ändern Blick, / Als mit dem Rächerblick des Zornes, sehn.« Ebda., S. 11) sowie den Umgang mit der »scherzenden« Muse auch aus Gründen der Selbsttherapie, schließlich die hohe Bedeutung der Freundschaft als bedeutenden Lebensinhalts, der allerdings bei Giseke durch eine offenbar glückliche Liebe und Ehe ergänzt und überboten wurde. 2) Dementsprechend sind Freundschaft und Liebe auch die Hauptthemen seiner gattungsreichen >poetischen WerkeMoralischen Gedichtem (PW, S. 3-74) über drei >Versuche in geistlichen Liedern< (ebda., S. 75-84) und vier je etwa gleich lange >OdenBücher< (ebda., S. 85-258) bis zu fünf >Cantaten< (ebda., S. 259-286) und einer Reihe vorwiegend aus der Leipziger Zeit stammenden >Fabeln und Erzählungen< (in Vers und Prosa) reichen (ebda., S. 287-356; kleine Auswahl in I Brüggemann, S. 34-53). Und außer den ersten >Moralischen GedichtenBremer Beiträgen erschienen waren, sind die meisten zu >Gelegenheiten< - und zwar insbesondere aus freundschaftlichen Anlässen - entstanden, greifen dabei aber nicht selten ein bestimmtes Thema auf und entsprechen damit dem von Gottsched reformierten Typ des >Gelegenheits-Lehrgedichts< (vgl. Bd. V/2, S. 24ff.; so etwa >Schreiben über die Zärtlichkeit in der Freundschaft, an Herrn L. . .Schreiben an den Herrn von Hagedorn, Ueber den Einfluß des Geschmacks in das menschliche LebenUnvollendetes Schreiben an Herrn G. . .r [d. i. Gärtner]. Vom Einfluß des Geschmacks in die FreundschaftSchreiben an einen Freund, von dem Werthe der Wissenschaft; ebda., S. 72-74). Dichtung legitimierte sich für den Theologen Giseke neben dem Motiv der Freundschaftspflege vor allem - wie einige Titel bereits zeigen - als Mittel der Geschmacks-Bildung. Dabei faßte er im >Schreiben< an Ha-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
gedorn in Alexandrinerversen zusammen, was Batteux und Johann Adolf Schlegel (vgl. Kap. II 2 a 3-4) über die umfassende Bedeutung des Geschmacks in Natur und Künsten, aber auch in der zivilisatorischen Entwicklung sowie für die Ausbildung von Tugend und die Erhaltung von Freundschaft expliziert hatten (vgl. dazu insbesondere auch II J. A. Schlegel VNGB, S. 67ff., 76ff.): »Er lehret einen Geist, was schon ist, schnell empfinden, Und mühsam den Verdruß des Schlechten {Überwinden. Er giebt ihm ein Gesetz, nach dem er alles wiegt, Und niemals in der Wahl des Schonen sich betriegt. Durch jede Wissenschaft wird er ihn sicher führen, Und in dem Scherze selbst sich nicht von ihm verlieren. Doch, theurer Hagedorn, warum ermüd' ich dich? Wer nicht Geschmack besitzt, ist schon gestraft durch sich. Er giebt der Tugend selbst noch etwas, das ihr fehlet, Daß auch der sie sich wünscht, deß Trägheit sie nicht wählet. Er floßt uns Zärtlichkeit und Lust am Guten ein, Und macht ein Herz geschickt, einst tugendhaft zu seyn. Die Freundschaft selbst, die Gott uns hier zum Trost gegeben, Empfängt von dem Geschmack mehr Anmuth und mehr Leben.« (PW, S. 62, 67)
Diese Verse zeigen im übrigen, daß Giseke den von ihm bevorzugten Alexandrinervers durchaus variabel mit unterschiedlichen Zäsuren und mit der poetischen Kraft zur prägnanten Sentenz zu gestalten vermochte. Allerdings liegen hier wie im Werk insgesamt Licht (»Wer nicht Geschmack besitzt, ist schon gestraft durch sich«) und Schatten (»Daß auch der sie sich wünscht, deß Trägheit sie nicht wählet«) bisweilen eng beieinander und lassen Gärtners Auskunft verständlich erscheinen, Giseke hätte »noch viele Stellen verbessert, oder wohl auch einige kleine Stücke gar unterdrückt«, »wenn er selbst der Herausgeber seiner Werke hätte seyn können« (V, S. XVII). Als mißlungen müssen Gisekes >Fabeln und Erzählungen< gelten: auf eine umständliche - bisweilen seitenlange - >Moral< folgt ein ebenso unanschauliches wie unprägnantes Exempel: an seinen Versuchen läßt sich konkret ermessen, mit welcher Meisterschaft Geliert dagegen dieses Genre zu handhaben wußte (vgl. Kap. II 4 c). Besonders eindrucksvoll dagegen vermochte Giseke aus Anlässen zu dichten, die ihn - in Leid oder Glück - persönlich betrafen. Sie führten zu einem gesteigerten Ausdruck des Gefühls, welches das lyrische Ich bereits auszukosten, dabei aber stets noch rational zu kontrollieren verstand (vgl. dazu auch IV Paustian, S. 106ff.). In der schon in den >Neuen
3) Proben von Tugend und Frömmigkeit (Bremer Beiträger)
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Beiträgen zum Vergnügen des Verstandes und Witzes< (Bd. IV/3, 1747, S. 163-169) erschienenen >Ode auf das Absterben des sei. Herrn Brockes in Hamburg 1747< (PW, S. 123-128) bekannte Giseke, daß ihn bislang kein anderer Schmerz mehr erschüttert habe, nicht einmal der Tod seiner Mutter (»Gott, so sehr hat kein Gram noch wider mich gestritten. / Von der Natur bekämpft, hab' ich nicht mehr gelitten, / Als dein verborgner Rath der Mutter Tod befahl. / . . . Mehr Schrecken hat mein Herz bey Brockes Tod empfunden.« Ebda., S. 125f.) Und die >Klagen an Herrn Cr++ [d. i. Cramer]< (ebda., S. 169-174) gaben ihm Anlaß zur autobiographischen Konfession, die den ganzen Spielraum zwischen Verzweiflung und Trost durchmißt, aber den sdbstreßexiven Gestus dabei noch nirgends durchbricht (die Strophen bestehen aus einer Folge von >ganzen< und >halben< Sechshebern, die verstechnisch eine Mischung aus Alexandriner, dessen Zäsur nach der dritten Hebung beibehalten wird, und dem die Alternation auflockernden Hexameter darstellen): »Freund, ich habe niemals die sössen Freuden empfunden, Die ein Vater uns giebt. Ach, ich habe den nicht, von dem ich abstamm', umarmet; Niemals, Vater! gesagt! Von dem Tag an, den ich zuerst sah, bis zu dem letzten Könnt ich klagen, mein Freund. Dennoch klagt' ich niemals. Denn ich hab euch ja gesehen, Und ihr habt mich geliebt. Alles ist todt f&r mich; mein Herz h6rt auf zu empfinden, Ungern schlägt es noch fort. Nur das, ihr Freunde, daß ihr, daß ihr auf ewig ihm fehlet, Das empfindet es stets! Nur euch, Menschen, zu fliehn, such' ich die einsamen Felder, Nicht um fröhlich zu seyn. Das ist Freude für mich, wenn meine mich quälende Schwermuth Sich in Klagen ergießt. Warum tilget mein Gram der vorigen Tage Gedächtniß Nicht auf ewig in mir? Warum, betrugliches Herz, hast du je Freundschaft empfunden, Jemals einen geliebt? Nein, zu tief ist in mir der Freundschaft Empfindung gewurzelt, Sie, mein einziges Gluck.
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Ach, der Himmel hat mir zu zeitig Freunde gegeben, Und mein Herz ist verwohnt.« (Ebda., S. 170-174)
Nicht weniger bewegend und eindrucksvoll zeigt sich Gisekes poetisches Talent bei der im >vierten Buch< der >Oden und Lieder< versammelten »leichten Muse«. Das gilt für >Scherzgedichte< wie >Das Privilegium< (vgl. zu diesen Bd. V/2, S. 173ff., 187ff.): »Vergebens bleicht man einen Mohren; Vergebens straft man einen Thoren: Der Mohr bleibt schwarz, der Thor bleibt dumm. Das Tadeln ist nicht meine Sache. Ich laß sie Narren seyn, und lache; Das ist mein Privilegium.« (PW, S. 199)
Noch mehr aber trifft dies für die unter dem Titel >Geschenk für meine Daphne< zusammengefaßten Liebesgedichte auf seine Frau zu (ebda., S. 214-247). Nicht ohne Grund meinte Gärtner seinen Theologenfreund in einem moralisierenden >Vorbericht< vor indigniertem Kopfschütteln angesichts solch freimütiger Demonstration »ehelicher Zärtlichkeit« in Schutz nehmen zu müssen (ebda., S. 213-215): »Schon hält die Stille der Nacht die Sterblichen umfangen, Und drückt ihr Auge zu. Nur mich schützt wider den Schlaf, die Lieb', und ihr Verlangen, Und, meine Daphne, du! Die Augenblicke, die mir ach! viel zu schnell! verschwinden, Die uns die Liebe giebt, Die Augenblicke will ich noch einmal nachempfinden! Der schlummre, der nicht liebt! Du bist nicht von mir getrennt! Noch ruh' ich mit Entzücken An deiner treuen Brust, Und meine Seele trinkt noch aus deinen sanften Blicken Den Ueberfluß der Lust.« (Ebda., S. 219f.)
Solche Verse sind singular unter den >Bremer Beiträgerm und markieren abseits von der höfisch-galanten Liebeslyrik und mit Ausnahme Günthers (vgl. Bd. IV) - einen Höhepunkt privater >empfmdsamer< Liebespoesie, die inhaltlich bereits die Intensität und Schlichtheit der Sesenheimer Lyrik (des Willkommen und AbschiedDas Gluck der Liebe< verfolgte er in reimlosen Blankversen die »Zärtlichkeit zwo gleich gestimmter Seelen in drey Gesängen« vom »Vater der Liebe« und der von ihm ausgehenden kosmologischen »Kette der Wesen« über die rein triebhafte »Brunst« der Tiere bis zur »zärtlichen« Liebe der Menschen, die im idyllischen Hochzeitsfest seinen >geschmackThe complaint, or night thoughts on life, death and immortality< (1742-1746). In seiner ersten deutschen Ausgabe von 1751 begründete er die Widmung in einer >Zueignungsschrift< mit der großen »Ähnlichkeit« Jerusalems »vornehmlich in Ansehung Ihrer Art zu denken und Ihres Herzens« mit dem Pfarrherrn aus Welwyn in Herfordshire (ausführliche Biographie von 11.106 Forster), der jenen (neologischen) Theologen gleiche, welche die Wahrheiten des christlichen Glaubens »durch ihren
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Verstand in ihr Herz dringen lassen, und sie daraus anderen Herzen in aller der Begeisterung mittheilen, womit die reinste Vernunft und das beste Herz sie empfinden müssen« (II Ebert ZS, S.+4 r/v). Von 1760 bis 1769 gab Ebert seine - erneut Jerusalem gewidmete - Übersetzung zusammen mit dem Text der letzten Ausgabe des Originals und einem durchgehenden kritischen und erläuternden Kommentar in vier Bänden heraus und fügte 1771 noch einen Band mit der Translation von Youngs >Love of fame, the universal passion. In seven characteristical Satires< (1728) hinzu. Youngs berühmte >Night Thoughts< mit ihren rund 10 000 Blankversen markieren in der englischen Literaturgeschichte formal und inhaltlich den Übergang vom formstrengen Klassizismus zur Vorromantik: Einerseits ist Young ein Meister des Blankverses und versteht dessen Kürze variabel und prägnant der elegischen Klage, der hymnischen Begeisterung über das >Erhabene< Gottes und seiner Schöpfung und der brillanten philosophischen und theologischen Sentenz dienstbar zu machen, andererseits ufert das Werk von der ersten >Klage< (mit 455 Versen) bis zur neunten und letzten (mit 2431 Versen) zu einer gewissen Formlosigkeit aus. Die neunte >Klage< (in Band IV) erreicht den Umfang der ersten vier (in Band I), und dies deutet bereits auf strukturelle Veränderungen im poetischen Entwurf des Gedichts. Die ersten vier - von Young zunächst auch separat veröffentlichten - >Complaints< bieten in geschlossener Konzeption jene Evokation eines ich- und weltschmerzlichen »memento mori«, »eine melancholische Atmosphäre von schlafloser Nacht, Grabesdüsternis und Todeselend, die starke Züge von Empfindsamkeit trägt« (III J. N. Schmidt, S. 172) und nicht nur die englischen, sondern auch die französischen und deutschen Zeitgenossen stark berührte: »How poor, how rich, how abject, how august, How complicate, how wonderful, is Man? How passing Wonder HE, who made him such? Who centred in our Make such strange Extremes? From diff rent Natures marvellously mixt, Connexion exquisite of distant Worlds! Distinguish'd Link in Being's endless Chain! Midway from Nothing to the Deity! A Beam ethereal, sully'd, and absorpt! Tho' sully'd, and dishonour'd, still Divine! Dim Miniature of Greatness absolute! An Heir of Glory! A frail Child of Dust! Helpless immortal! Insect infinite! A Worm! a God! . . .« (II Young K I, S. 18/20)
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Die Zeitgenossen rühmten Youngs >feeling< und »power of the Pathetic« (11.106 Hepworth, S. 12), die >Bremer Beiträgen und insbesondere Klopstock, der eine Ode auf Young verfaßte (vgl. Kap. II 6 d-4), aber auch Schubart und Lavater oder Herder und Goethe ließen sich von den Klagen des englischen Gottesmannes ergreifen (vgl. 11.106 Barnstorff, S. 23ff., 68ff.), die durch drei Todesfälle in seiner Familie ausgelöst wurden (vgl. 11.106 Forster, S. 159ff.) und von daher das Problem der Theodizee aus individueller Betroffenheit aufwarfen und dem Optimismus seines Zeitalters zunächst einmal in Hallerscher Düsternis widersprachen: »Young erkundet mit der Nacht der Melancholie eine seelische Befindlichkeit, welche von der Aufklärung verdrängt wurde.« (III Seeber, S. 227) In dieser pathetischen Insistenz und Düsterais, in diesen noch von Novalis goutierten >Hymnen an die Nacht< als Ort der das >Licht< (der Aufklärung) überdauernden meditativen, den eigenen Tod vorwegnehmenden Einkehr und des Gedenkens an die Verstorbenen (»Death! great Proprietor of All!« K I, S. 40) lag das Moderne, noch von der Romantik Beerbbare der Youngschen >Klagen< - und zugleich ihr größter Gegensatz zur Weltanschauung der Neologie und des getreuen Dolmetschers Ebert! Indessen dieser hat Young in deutlichem Gegensatz zur skizzierten Rezeptionsgeschichte neologisch interpretiert, und dafür gab es mehrere gute Gründe: Erstens sah er das Werk mit Recht als Gesamtzusammenhang und wies in einer Anmerkung zur achten >Nacht< daraufhin, daß Young bei der Suche nach der für ihn entscheidenden Unsterblichkeit des Menschen »das irdische Leben allerdings höchst liebenswürdig« werde: »durch diese Stralen erleuchtet, sieht er alles anscheinende Unglück sich in Glück verwandeln, und das wirkliche Uebel nicht von dem Schöpfer, sondern vom Menschen, entstehen.« Und insbesondere in der neunten >NachtKlagenNacht< - entfernten sich die >Klagen< von ihrem elegischen Grundton und gewannen Züge der Meditation, Predigt und Paränese (»Thou say'st I preach, LORENZO! Tis confest.« K I, S. 98), wurden mehr und mehr zu einem philosophisch-theologischen Lehrgedicht, zu einer erbaulichen, im Kern rationalen Auseinandersetzung mit dem theologischen und philosophischen Gedankengut der Aufklärung über >Leben,
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Tod und Unsterblichkeit. Und die von den Zeitgenossen nahezu einhellig gutgeheißene Prosa-Übertragung Eberts (vgl. dazu 11.106 BarnstorfT, S. 6ff.) verstärkte noch diesen argumentierenden und - durch die Einführung der Gesprächsfigur des Lorenzo - disputierenden Charakter des Werkes. Drittens trifft zwar zu, daß Young weder Philosoph noch »loyal to any single Thinker« war (11.106 Hepworth, S. 14), doch nicht zuletzt deshalb vermochte Ebert ihn in seinem riesigen Kommentar, der zwei Drittel des Umfangs der vier Bände beansprucht, in ebenso minuziöser wie umfassender Weise in das abendländische Gedankengut einzuordnen und innerhalb der zeitgenössischen Debatten recht genau zu situieren; denn nach der Devise »Reason should judge in all« (K I, S. 152) folgte Young im Grunde - wie auch schon die zitierte und für sein Weltbild zentrale Passage über den Menschen zeigt - dem »mainstream« der Aufklärung. Dies galt viertens zunächst für die Hochschätzung, ja Vergöttlichung der Vernunft. Sie war für Young als »Upright Stature in the Soul« (K III, S. 250) - dem »candle of the Lord« der >Cambridge Platonists< entsprechend (vgl. Kap. II l c-1) - »that Heav'n-lighted Lamp in Man« (K I, S. 206) und deshalb ganz im Sinne Spaldings und Jerusalems das Organ, das den Menschen wieder in die Unsterblichkeit des Himmels zurückbrachte (vgl. K I, S. 392). Deshalb stand sie fünftens in enger Verbindung mit der Religion, der alleinigen Garantin für die Glückseligkeit des Menschen (»Religion! thou the Soul of Happiness«; ebda., S. 392): »Religion's All. Descending from the Skies To wretched Man, the Goddess in her Left Holds out this World, and, in her Right, the next; Religion! the sole Voucher Man is Man; Supporter sole of Man above himself; Ev'n in this Night of Frailty, Change, and Death, She gives the Soul a Soul that acts a God.« (Ebda., S. 388/390)
In diesem Sinne konnte Young die Religion auch ganz neologisch als »The Proof of Common-Sense« definieren (K IV, S. 274). Bezeichnend für die ursprüngliche Konzeption der >Nachtgedanken< erfolgte der Preis von Vernunft und Religion in der als christlicher Triumph< betitelten wierten Nacht< (ebda., S. 289ff.). Nach dem >Rückfall< der >fünften Nacht< in die Trauer um >Clarissa< (in der dritten >NachtDer bekehrte Ungläubige< (>The Infidel Reclaimed^ die lehrhafte Absicht bei der Behandlung eines Lieblingsthemas der theologischen, philosophischen und literarischen Aufklärung in der sechsten und siebenten >Nacht< an (K II, S. 180-333; K III, S. 4-259).
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Sein Kernanliegen war dabei sechstens die für Wert und Würde des Menschen und seiner Religion entscheidende Frage der »immortality«, denn der Glaube an sie hatte die diesseitige Sorge für sie - und damit den engen Zusammenhang von Tugendhaftigkeit und Religion - zur Folge (so in der >Preface< zur >sechsten NachtKlage< - mit für die Aufklärung typischen physikotheologischen Argumenten und Verweisen auf die »Kette der Wesen« im Bereich der Natur (K II, S. 304ff., 308ff.), so in der siebenten >Nacht< im Menschen selbst, dem entscheidenden Glied im Zirkel der Natur. In diesem psychologischen Teil seines Werkes wertete er siebentens - ausgehend von der rhetorischen Frage, ob der Mensch »denn auch gegen das ungläubig werden« könne, »was erfühlt« (»Can he prove Infidel to what he feels!«; K III, S. 22) - eben das Gefühl neben der Vernunft als ein moralisches Organ auf: »Our Heads, our Hearts, our Passions, and our Powers, I Speak the same Language; call us to the Skies« (ebda., S. 26). Kopf und Herz waren auch für Young die entscheidenden Antriebskräfte im Menschen: »Dive to the Bottom of his Soul, the Base / Sustaining all; what find we? Knowledge, Love. I As Light, and Heat, essential to the Sun, / These to the Soul.« (Ebda., S. 60) Ja er entwickelte sogar eine differenzierte »Sittenlehre der Sinne« (»Why this so nice Construction of our Hearts? / These delicate Moralities of Sense«; ebda., S. 84), und er wertete die Existenz verschiedener Funktionsweisen des angeborenen »moral sense« als leib-haften Beweis dafür, daß der Mensch zu den Vollkommenheiten der Ewigkeit bestimmt sei, und dies implizierte eine Befreiung nicht nur der Vernunft, sondern auch der Affekte und Leidenschaften von der Stigmatisierung ihrer Verderbtheit durch den Sündenfall: »All / (And justly) Reason deem Divine: I see, / I feel a Grandeur in the Passions too, / Which speaks their high Descent, and glorious End; / Which speaks them Rays of an Eternal Fire.« (Ebda., S. 94) Von der Vernunft geleitet, könnten die »passions« jene wohltuenden Funktionen wieder ausüben, mit denen sie Adam bereits im Paradies vergnügten (ebda., S. 96). So kann es achtens kaum noch verwundern, daß Young, der als Mitbegründer der Kirchhofpoesie durch die Literaturgeschichten geistert, in der >achten Nacht< (mit dem Titel: >Virtue's Apology: or, The Man of the World AnsweredEpistelnCramers Tod< (1788; ebda., S. 312-331) gewidmet. Auch die Gruppe der >Vermischten Gedichte< (ebda., S. 227ff.) enthält Casualpoeme zu unterschiedlichen Anlässen und dazu anakreontische Gesänge aus der frühen Hamburger und Leipziger Zeit. Insgesamt sind diese Ge-
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dichte in Form und Inhalt epigonal, auch problemgeschichtlich wenig ergiebig. Die Verse plätschern dahin, Ebert fehlte die Kraft des poetischen Aufschwungs; die Gabe der Begeisterung, die ihm im Gespräch offenbar eigen war, vermochte er seinen lyrischen Zeugnissen nicht einzuhauchen. Die Diskrepanz zwischen der häufigen Banalität der Verse und ihrer peniblen Kommentierung durch den Verfasser nimmt bisweilen geradezu groteske Züge an, und zur Demonstration seiner epochalen Überlebtheit hätte er sich kaum ein sinnenfälligeres Erscheinungsdatum für seine Lyriksammlung wählen können als das Jahr des Beginns der Französischen Revolution: »Ein Autor wird sehr zeitig alt: Aus Eifer für's Gemeine Wesen Empfindet er's nur nicht so bald, Als die es fühlen, die ihn lesen.« (EVG I, S. 23; vgl. ebda., S. 117)
e) »Ich sing ein Heldenlied von einer Kleinigkeit« (Zachariae) 1) Der Advokatensohn Friedrich Wilhelm ZACHARIAE (1726-1777; vgl. Abb. 12, ein Gemälde von Bekly, 1757, in: 11.49 Sachse, S. 161) studierte seit 1743 für drei Jahre Jurisprudenz in Leipzig und gesellte sich dort rasch den >Bremer Beiträgern< zu. 1747 setzte er sein Studium in Göttingen fort, doch holte ihn der Neologe Jerusalem (vgl. Kap. II l b d e) bereits ein Jahr später als Hofmeister an das Braunschweiger Collegium Carolinum und sorgte auch dafür, daß der bei seinen Schülern beliebte Lehrer 1761 zum Professor Ordinarius Poeseos ernannt wurde. Als Leiter der Buchhandlung des fürstlichen Waisenhauses (seit 1767), der Drukkerei und des »Intelligenzwesens« mit Leihbücherei entfaltete der rührige Poesieprofessor eine reichhaltige - und zum Teil finanziell riskante - verlegerische Tätigkeit, die er auch seinen eigenen Werken durch verschiedene Ausgaben und Neuauflagen zugute kommen ließ (vgl. 11.107 Schüddekopf, S. 636ff.). Während der Ostermesse 1767 in Leipzig lernte er bei einem mehrwöchigen gemeinsamen Mittagstisch auch den jungen Goethe kennen, der den »großen, wohlgestalteten, behaglichen Mann« damals verehrte (vgl. II DuW 8, S. 357f.) und ihm eine huldigende Abschieds>Ode an Herrn Professor Zachariae< widmete (vgl. II GGZF, S. 52f.). 1773 heiratete Zachariae, gab ein Jahr später auch aus finanziellen Sorgen seine Tätigkeiten auf, und als er erst 50jährig an der Wassersucht starb, hatte er doch seinen literarischen Ruhm bereits überlebt, der ihm weit mehr als Dichter komischer Versepik denn als Lyriker zuteil geworden war. Indessen weist - nicht zuletzt deshalb - auch seine Lyrik man-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
cherlei >klein-epische< Züge auf und ist daher ohne den Blick auf die Nachbar-Gattung nicht angemessen zu verstehen. 2) Schon das erste, in Fortsetzungen erschienene >komische Heldengedicht< >Der Renommiste< (1744, umgearbeitet 1754) sollte das bekannteste Werk des anfänglichen Gottsched-Schülers bleiben. Mit diesem komischen Epos, das an >Le Lutrin< (>Das ChorpultLockenraub< (>The Rape of the LockeBibliotartarus< übertrumpfte, schuf Zachariae eigentlich erst den Prototyp des komischen Versepos in Deutschland und machte es - wie noch Goethe verwundert registriert (vgl. II DuW 6, S. 261) - zu einer kurzfristigen Modeerscheinung, wozu vor und neben anderen Autoren (vgl. dazu IV Maler, S. 397ff.) der Dichter des >Renommiste< selbst mit weiteren Werken beitrug. Ihr >Witz< besteht darin, daß der hohe Stil sowie das mythologische Motivinventar und Weltbild des antiken Epos teils im Hexameter, teils im Alexandriner auf banale Alltagsereignisse der zeitgenössischen Gesellschaft übertragen werden und der parodistische Effekt vielfältige satirische und komische Wirkungen ermöglicht, durch die das Banale, Törichte, Eitle und Ungehörige verlacht und dadurch auch vernichtet werden: »Wie, nach Homers Bericht, wenn in dem Trojerstreit, Mars, gleich zehntausend Mann, aus Schmerz der Wunde schreyt, Das ganze Heer erbebt, nebst Bergen, Thal und Felsen: So bebt auch hier der Saal von vier Studentenhälsen.« (II R-1744, S. 12)
Aber ein solcher Stil, der um der Erkennbarkeit des klassischen Epos willen verstärkt dessen Formeln und Stereotypien aufgreifen muß, erschöpft sich und seine Wirkung schnell in der Repetition, auch wenn Zachariae sich in der 1754 erschienenen Neufassung des >Renommisten< bemüht, diese Vergleichstechnik zu variieren und z. B. Elemente aus der heimischen Flora und Fauna miteinzubeziehen:
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»Wie auf dem rauhen Harz, wenn durch den hohen Wald Die wilde Kuppel bellt, das laute Hüfthorn schallt, Mit wildgesträubtem Haar ein aufgebrachter Hauer Den dichtverwachsnen Hain, wo er im schwarzen Schauer Bemooster Eichen lag, mit festem Zahn zerstückt, Und den beharzten Leib aus spröden Büschen rückt: So wütet Raufbold auch erzürnt und unerschrocken In ein Toppee voll Mehl und parfumirte Locken.« (II R-1754, S. 82f.)
Pope, den Zachariae eigentlich nachahmen wollte, hatte dagegen mit seinem >Lockenraub< einen entwickelteren, doppelbödigeren Typ des komischen Versepos geschaffen, nämlich das >Gesellschaftsepyllion des Rokoko< (IV Maler, S. 394ff.), eine »aus der Tradition der antiken, hellenistischen Dichtung abgeleitete, in der europäischen Literatur mit Vorliebe gepflegte Epenform, die auf virtuose Weise parodierendes Heldenepos mit idyllischer Verserzählung verknüpft« (11.107 Frühsorge, S. 53) und die galante Welt der Salons und die spleenigen Albernheiten der aristokratischen und großbürgerlichen Gesellschaft zwar entlarvt, aber auch augenzwinkernd wieder bestätigt, weil sie in der Parodie und Satire das Triviale - nicht zuletzt durch den eleganten, dieser Sphäre selbst zugehörigen Stil - zugleich kultiviert und adelt (vgl. Ill J. N. Schmidt, S. 167f.), die menschliche Unzulänglichkeit humorvoll entschuldigt und sich von daher »einer bedingt realistischen Darstellung zeitgenössischer Lebensverhältnisse besonders im Bereich der familiären und privat-öffentlichen Geselligkeit« »öffnet« (IV Maler, S. 395). Darin zeigt sich zumindest ansatzweise der interessante Versuch, den in der Aufklärung >von Natur aus< guten Menschen nicht mehr auf Grund seiner Sündhaftigkeit allein moralisch zu verlachen, sondern die Effekte des Lachens eher aus der burlesken und situativen Übertreibung, damit im Sinne einer Ästhetisierung des Lachens aus den Stilmerkmalen selbst und aus der erzählerischen Perspektive hervorzurufen, wie es Hutcheson in seinen >Thougths of Laughten (1725) empfohlen hatte (vgl. dazu III Fietz 1996, S. 245ff.). Zachariae indessen bleibt vor allem in der ersten Fassung dem komischen Heldengedicht und dessen satirisch-moralischem Rigorismus verhaftet: Seine studentischen >HeldenEpyllionMetamorphosen< anknüpfendes Epyllion >Verwandlungen< (1745 in den >Bremer BeiträgenDas Schnupftuch. Ein scherzhaftes Heldengedicht (1754) in fünf Aufzügen, das Popes >Lockenraub< motivisch und strukturell weidlich »beraubt« (vgl. dazu 11.107 Muncker, S. 253f.), aber wegen seiner »Satire gegen den ungebildeten Landadel« nicht uninteressant ist (so IV Maler, S. 400f.; 11.107 Maler, S. 177ff; vgl. dazu auch 11.107 Carbonnel). Dennoch hat auch Schüddekopf mit seinem Urteil »ermüdender Breite« recht (11.107, S. 638), und die im Werk enthaltene Literatursatire - hier auf die Aufklärungsliteratur (S, S. 122ff.) - fällt auf das >Schnupftuch< selbst zurück: ». . . Der Dichter liest Gedichte, / Man höret ungern zu, und gähnt ihm ins Gesichte.« (Ebda., S. 123)
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Selten liegen in einem literarischen Werk Tief- und Höhepunkt so nahe beieinander wie in Zachariaes komischen Heldenepen >Murner in der Hölle< (1757) und >Der Phaeton< (1754). Das erstere ist ein HexameterEpos in fünf Gesängen über einen Kater, der, nachdem er in einem Schloß getötet und nicht begraben wird, als >Widergänger< durch die Hölle und durch das Schloß selbst geistert und erst seine Ruhe findet, als er ein ordentliches Begräbnis erhält. Das literarische Sujet (angeblich »eine Travestie auf den Tod Elpenor's im elften Buch der Odyssee«; 11.107 Schüddekopf, S. 638) ist von so trostloser Banalität, daß sich die komischen Stilmittel der Parodie des erhabenen Epos unversehens und unbeabsichtigt gegen das komische Heldengedicht selbst richten: Im gegenstandslosen Leerlauf erhabener Stilfiguren parodiert sich hier das komische Versepos unfreiwillig selbst und trägt mit der Beerdigung des Katers Murr die eigene Gattung zu Grabe. - Ganz anders >Der Phaeton< (in Anspielung auf Phaetons Sturz mit dem Sonnenwagen; vgl. II Ovid, S. 5Iff.), der als das »gelungenste Produkt des Dichters im Ensemble dieser Gattung« gelten darf (11.107 Frühsorge, S. 55). Die wagemutig»emanzipatorische« Comtesse Diana erwirkt sich mithilfe eines selbst gekochten Pilzgerichts von ihrem am Podagra (Gicht) darniederliegenden Vater aus Anlaß ihres 14. Geburtstags die Erlaubnis, die Prunkkalesche >Phaeton< mit ihren Lieblingsrossen Castor und Pollux selbst kutschieren zu dürfen, doch gehen die Pferde - von Geistern beeinflußt - durch und ermöglichen so dem jungen Liebhaber, durch Rettung Dianas das Liebesbündnis zwischen ihnen zu stiften. Hier gelingt Zachariae das augenzwinkernde Einverständnis mit dem Leser in der heiter-spöttischen Beschreibung eines landadligen Schlosses und Figurenensembles, indem er den vornehmen Lebensstil, das gravitätische Gebaren und die geschwollene Phraseologie der Landadligen sowie ihren herablassenden Umgang mit den Bediensteten aufgreift und dauernd katachretisch unterläuft: zum einen, indem er dies Verhalten als Erzähler noch durch mythologische Verweise ins Klassisch-Antike überhöht, zum ändern, indem er vor allem Diana immer wieder aus der Rolle fallen und ins Banale abgleiten läßt, die »hohe« Stillage aber auch in diesen Situationen beibehält. Dadurch entsteht eine Folge amüsanter Einzelszenen, deren Witz aus dem ironischen Bezug auf durchaus realistisch gestaltete Details des Schloßlebens erwächst, so wie im folgenden Beispiel, als Gräfin Diana zum Entsetzen ihrer Zofe und des gesamten Personals in die Küchen-»Hölle« hinabsteigt, um ihrem Herrn Vater eigenhändig das Gericht mit »Schwämmen« zu bereiten:
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II. Neologie und Empfindsamkeit
». . . Denn unter den zärtlichen Klagen Hatte die Gräfin sich schon mit einer Schürze gewaffnet; Lachte mit Hoheit, und sagte: Komm folge mir, furchtsame Seele! Und sie stiegen hinab tief in die gewolbete Köche, Gleich dem beherzten Ulysses, und gleich dem frommen Eneas, In eine brüllende Holle, voll Gluth, und prasselnder Flammen. Warlich! schreckliche Bilder! An einen Bratspieß geschmiedet, Drehte der schelmische Conrad, ein andrer Ixion, den Braten. Karpfen lagen allhier mit aufgerissenen Bäuchen, Schwammen in eigenem Blut, und schnappten nach eignen Gedärmen. Alles bückte sich tief, als, gleich einer himmlischen Schönheit, Sich die Gräfin dem Feuerheerd naht, und Brandissen rufet. Schon verschlangen die Schwämme Wellen von glühender Butter, Und es stralte voll Gluth der Gräfin purpurne Wange, Obgleich mit zitternden Händen ihr Hannchen das Schnupftuch davor hielt.« (P, S. 220ff.)
3) Im Blick auf Zachariaes parodistischen Umgang mit dem hohen Epos ist es bemerkenswert, daß er auch ernsthafte und beachtliche Versuche in der Gattung des erhabenen Heldenliedes unternahm. Auch hierin mag Pope ein Vorbild gewesen sein, der die >Ilias< übertragen hat (>IliadParadise Lostx in (häufig allzu) flüssige und spannungsarme Hexameter (vgl. VP). Durch diese Arbeit fühlte er sich »so erhitzt, und angefeuert, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, mich einmal in das Feld der ernsthaften epischen Poesie zu wagen, und besonders eine Materie auszuarbeiten, die bloß Erdichtung wäre« (SH, S. 48), nämlich >Die Schöpfung der Hölle< (1760). Unbeeinflußt durch neologische Relativierungen der göttlichen Höllenstrafen (vgl. Kap. II l e-7) gestaltet Zachariae in variablen und weitausgreifenden Hexameterperioden die Entstehung der Hölle als eine von Christus auf Befehl Gottes herbeigeführte kosmische Katastrophe, als mit dem modernen Weltbild durchaus vereinbaren und auch heute noch überraschend real vorstellbaren interstellaren »Super-Gau« in einem Teil des Universums:
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». . . Die bebenden Welten Rauchten, von mächtigen Blitzen gespalten, und wirbelten Flammen, Dicke Säulen von Dampf, und schwarze Wolken vom Rauche, Hinter sich her. Sie hatten sogleich die Laufbahn verändert, Und bewegten sich nun in langen elliptischen Kreisen Unter einander. Die feurigen Schweife durchkreuzten sich öfters, Und es schien, als ob sich die Laufbahn näher und näher Gegen einander geneigt; und nun noch näher. So wallte Ueber die flammenden Welten die Glut; ein furchtbarer Himmel Ganz mit brennenden Sternen bedeckt. . . . « (SH, S. 71)
Diese Beschreibung setzt sich über Seiten fort, und man begreift, warum Anton Reiser und sein Freund N[eries], wenn sie »von ihrer Melancholie und Empfindsamkeit sich wechselweise einander mitteilten«, neben Klopstocks >Messias< »an einem trüben Tage« auch »Zachariaes Schöpfung der Hölle« lasen (II Moritz, S. 469). Ein zweites Epos-Fragment >Die Unterwerfung gefallner Engel und ihre Bestimmung zu Schutzgeistern der Menschen< ist demgegenüber eine empfindungsreiche poetische Fingerübung im Stil und Vorstellungsrahmen von Klopstocks >MessiasGedicht dem Gedächtnisse des Herrn von Hagedorn gewidmet< (1754), in dem die personifizierte Dichtkunst die poetische Entwicklung in Deutschland als einen nach Opitz einsetzenden und bis zu Gottsched reichenden Verfall skizziert, der durch das Erscheinen Hallers und Hagedorns nun überwunden sei (vgl. GGH, S. 5ff.), sowie mit dem Gedicht >Die Poesie, und Germanien< (1755). In ihm klagt die Dichtkunst der Göttin Germanien ihr Leid: »Doch, Göttinn, daß man itzt noch mehr als fühlloß bleibet, Wenn Klopstock göttlich singt, Satiren auf ihn schreibet, Und Bodmers Muse höhnt, und Wielands Lied verschmäht; Dies ist Germanien, was mir zu Herzen geht. In Leipzig, wo vor dem der Schlegel Lied gesungen; Wo noch ein Geliert singt, und Cramers Harf erklungen, In Leipzig thront und herrscht ein blinder Aristarch, Der Reime Patriot, der Prosa Patriarch.
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Vergebens zeichnen ihn des strengen Satyrs Schläge, Er achtet Striemen nicht, und bleibt auf seinem Wege; Und tadelt allezeit, sobald ein grosses Lied Nicht an dem Boden kriecht, und seiner Zucht entflieht.« (PG, S. 16)
Die Poesie beklagt sich insbesondere, daß Gottsched die »fromme Poesie« mißachtet (vgl. dazu das Zitat in Kap. II 2 c). Germanien tröstet sie, indem sie alle Gottschedianer namentlich aufführt, der seichten Mediokrität zeiht (»Grammatikalisch recht, rein, fliessend, unvernünftig«; zu diesen damals topischen Vorwürfen vgl. Bd. V/2, S. 11 ff.) und demgegenüber alle Anhänger der Schweizer von Haller über Wieland, Geliert, die Bremer Beiträger bis Klopstock als wahre Repräsentanten der Poesie preist. Diese literarhistorische Standortbeschreibung Mitte des Jahrhunderts zeigt nicht nur wiederum das wache und ausgeprägte Gruppenbewußtsein der Gottsched-Gegner (vgl. dazu auch IV Maler, S. 393 ), sondern auch, daß sie den höheren Wert ihrer Poesie nicht primär in ästhetischen Kategorien und in größerer poetischer Vollkommenheit, sondern mehr noch in einer moralischen Überlegenheit erblickten, weil ihre Dichtkunst reine und heilige Gefühle zu wecken vermochte auch patriotische für >GermanienDie Tageszeiten< (1756) und >Die vier Stufen des Weiblichen Alters< (1757; dieses Gedicht ist eine Nachahmung von Johann Rodolf Wertmüllers >Vier Stufen des menschlichen AltersGedicht in vier Büchern< greift Zachariae im Rekurs auf Ewald Christian von Kleists >Frühling< (vgl. Bd. V/2, S. 165ff.) auf den Hexameter zurück und will unter Berufung auf Thomsons >Seasons< (vgl. dazu ebda., S. 166 u. ö.) die »Jahreszeiten des Tages« besingen (T, S. 3). Wie Kleist präten-
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diert auch Zachariae ein »Erlebnis«, hier eben das eines Tagesablaufs, aber zugleich ordnet er sein Material systematisch, so daß die behandelten Themen und Aspekte in allen vier Gesängen und damit in jeder Tageszeit wieder aufgegriffen werden: Naturbeobachtungen, Stadt-LandGegensatz, Zivilisations-, Kultur- und Frankreichkritik, Adelspolemik, Zeitereignisse, Freundschaft und Freunde (jede Tageszeit ist einem Freund gewidmet, die Nacht z. B. Ebert und Young), Reflexionen über die Literatur, Gattungswechsel zwischen geistlichen und weltlichen Passagen. Insofern sich der »beau desordre« des Aspektewechsels viermal planvoll wiederholt, dominiert der systematische und lehrhafte Charakter, so daß die Einordnung der »Tageszeiten« als empfindsames Lehrgedicht sachangemessen ist (vgl. zur Gattungsproblematik auch Bd. V/2, S. 166f.). Trotz struktureller Nachahmung von Thomson und Kleist besitzt Zachariaes Gedicht ein eigenes Profil. Das betrifft zunächst seinen Wechsel von frommen und weltlich-satirischen Passagen. >Der Morgen< eröffnet beispielsweise mit der aufgehenden Sonne die geistliche Meditation. Doch im Gegensatz zu Thomson und dem >pantheisierenden< Kleist erweist sich der Lobpreis des Schöpfers in diesem Gedicht als dezidiert christlich (»Itzo schwiege der Mensch? itzt schwiege der Christ? O! der Schande!—«; T, S. 12), aber zugleich nicht weniger dezidiert als anti-konfessionell und anti-orthodox. In der Betrachtung des morgendlichen Gotteslobs zahlreicher Völker und Religionen aus der »Satellitenperspektive« artikuliert sich vielmehr appellative neologische Toleranz: »Doch mich leitet die Andacht auf starken brennenden Flügeln Hoch in die Wolken, und läßt mich die Hälfte der Erde beschauen. Welche Millionen mit aufgehobenen Händen Seh ich? - Volker an Volker, verschieden in Sprachen und Sitten; Aber alle bemuht, am frohen Morgen dem Schöpfer, Der sie von neuem erweckt, mit schallenden Hymnen zu loben. Von Pagoden, Moscheen, und Synagogen, und Kirchen, Schallt die harmonische Cymbel, oder die tonende Glocke, Mit der prächtgen Musik der Orgel vermischt, in die Lieder So viel tausend verschiedner Sekten, die hierinn doch eins sind, Einen großen Beherrscher der Geister und Welten zu preisen, Welchen Namen ihm auch die menschliche Sprache gegeben. Ewiger wahrer Gott! vor dem sich die Thronen und Mächte, Und die Myriaden der Engel das Antlitz bedecken; Laß dir die Lobgesänge von deinen Geschöpfen gefallen; Auch von dem irrenden Wilden, der mit verbreiteten Armen Im Gebete feuriger brennt, als jene Maschinen, Die sich Christen nennen, und nur mechanisch dich loben!« (Ebda., S. 13f.)
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Aus den Höhen der Anbetung gleitet das Gedicht mehr und mehr in die Tiefen der Polemik hinab, legitimiert und beglaubigt diese Kritik an den Christen aber aus der Spiritualität seines »Gottesblicks«. Unentwegt bringt sich - auch dies ein bedeutsamer Unterschied zu Thomson und Kleist - die didaktische Absicht des Gedichts zur Geltung, bis hin zur rechtschaffenen Konkretheit von empfindsamen Erziehungsappellen (im Zusammenhang mit der Darstellung böser Metzger und Jäger, welche die armen Tiere morden): »Auch, ihr Mütter, bestraft nicht ein sanftes fühlendes Mädchen, Das mit Thränen euch anfleht, es nicht tyrannisch zu zwingen, In den Hals der Taube das todtende Messer zu stürzen, Oder dem stummen schnappenden Fisch den Bauch aufzureissen. Soll die himmlische Schönheit im lauen Blute sich baden, Und ihr zärtliches Herz zu Grausamkeiten gewohnen? O! belohnt ihre Thränen mit der Verschonung des Anblicks Aengstlich sterbender Thiere; dann gebt sie dem glücklichen Jüngling In den liebenden Arm mit unverdorbenem Herzen! Welche Güte der Seele, von zärtlichem Mitleid begleitet, Wird mit himmlischem Lächeln einst ihre Kinder beleben!« (Ebda., S. 26)
Mit den Techniken des komischen Epos wird das faule städtische Bürgertum in seinen Modetorheiten ebenso kritisiert und ermahnt wie der Adel (»Werfet die Augen auf die, die in der brennenden Hitze / Schweiß fur euch vergießen, um euch bequemer zu sehen.« Ebda., S. 48), und das Gedicht sanktioniert abschließend seine vielfältigen satirischen Entlarvungen und didaktischen Ermahnungen nochmals durch den poetologischen Schulterschluß mit der Religion: »Muse, die du die Scenen, und die verschiednen Gestalten Des abwechselnden Tages gesungen; bekröne dein Lied nun Mit der Religion, und ihrem stralenden Lorbeer, Und flicht himmlischen Amaranth um die Dorische Leyer.« (Ebda., S. 132)
6) Mit diesem Akt der Sakralisierung leitet Zachariae in der Komposition des vierten Bandes seiner >Poetischen Schriften< über zu seinem großen zwanzigseitigen Lehrgedicht >Der Tempel des Friedens< (in Abwandlung von Popes >The Temple of FameDer Religionseifer< auch in seiner Sammlung von >Oden und Liedern< einen Platz eingeräumt (sie erschien erstmals 1754 in seinen >Scherzhaften Epischen Poesien nebst einigen Oden und LiedernReligionseifer< >An seinen Schutzgeist< und >Die Bomben< im ersten und >Gebet um den FriedenEmpfindungen christlicher Dankbarkeit^ Allgemeines Gebeth< im sechsten Buch) und umschließen so kreiskompositorisch die vier mittleren Bücher, die überwiegend aus kurzen scherzhaften anakreontischen Oden bestehen (vgl. zu diesem Odentyp Bd. V/2, S. 191 ff.). Sechs der besten von ihnen nahm Ramler in seine Anthologie >Lieder der Deutschem auf (>An die LiebeAn den Sylphen ArielDie Entschlüsse^ >Das MitleidDas schlafende Mädchen< und >Der PunschAn Herrn Fleischer, einen Virtuosen auf dem Clavier< oder >Das ClavierAllgemeines Gebethhohen< Liebes-Ode >An Selinen< (gemeint ist damit eine Göttinger Hofratsgattin; vgl. 11.107 Ehlert, S. 462), da zeigen sich eklatante Stilunsicherheiten und Übertreibungen, die dem Gedicht eine unfreiwillig-parodistische Note verleihen. So gleich die Eingangsstrophe, in der sich der Sänger der Liebe durch die Tugend der Angebeteten unversehens christlich-platonisch zu den Seraphim emporgerissen sieht: »Vortreflichste deines Geschlechts, in deren gottliche Seele Der Schöpfer alle die Tugend gehaucht, Durch die oft ein irdischer Geist, zum Thron der Gottheit gerissen, Sich unter heilige Seraphim drängt.« (ÖL, S. 28)
Kurios wirkt die Verquickung von blassen, abgestandenen Motiven und Vergleichen mit Versatzstücken erhabener Klopstockscher Gefühlssprache: »Du Tag, da ihr sanftes Gesicht, wie die Frühlingssonne, mir aufgieng, Sey mir ewig ein festlicher Tag! Da sagte mein klopfendes Herz, und sagt' es voller Bewegung: Das ist Sie! Und ich empfand es, Sie wars.« (Ebda., S. 29f.) Die sympathische Selbsteinschätzung des Dichters ist daher kaum zu widerlegen: »Ach daß noch, Seline, mich nicht die hohe Sängerinn lehret Die Ge==(=Gellert) O=(=Cramer) und K==(=Klopstock) gelehrt! Sie, welche hoch über mir stehn, sie würden dich edler besingen, Und deine würdigern Herolde seyn.« (Ebda., S. 28)
Zwar ist Zachariae ein »poeta minor«, als solcher aber auch kulturgeschichtlich von Interesse. So hat ihn schon Goethe beurteilt: »wie überhaupt seine Gedichte jedem willkommen sein müssen, der sich einen Begriff von dem zwar schwachen, aber wegen seiner Unschuld und Kindlichkeit liebenswürdigen Zustande des damaligen geselligen Lebens und Wesens machen will.« (DuW 6, S. 277)
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II. Neologie und Empfindsamkeit
»Wer sündigt, zittre!« - Orthodoxer Abgesang (J. A. Cramer)
Abb. 13
1) Der Pfarrersohn Johann Andreas CRAMER (1723-1788; vgl. Abb. 13, ein Stich von Preisler, in: 11.49 Sachse, S. 177) lernte seine Freunde aus dem Umkreis der >BeiträgerBremer Beiträge^ des Wochenblatts >Der Schutzgeist< 1746/47, des >Jünglings< 1747/48 sowie des >Nordischen Aufsehers< in 3 Bänden 1758-1761; vgl. 11.17 Luehrs, S. 12ff.; III Bohnen, S. 166ff.) sowie insbesondere als beeindruckender Prediger (450 gedruckte Predigten in 22 Bänden; >Erste Sammlung< in 10 Teilen 1755-1760, >Neue Sammlung< in 12 Teilen 1763-1771) und als geistlicher Dichter »ungewöhnliches Ansehen« (11.17 Pressel, S. 550). Für die schleswig-holsteinische Kirche gab er 1780 ein Allgemeines Gesangbuch< heraus, in das er 225 Lieder aus eigener Feder aufnahm (11.17 Luserke, S. 471), von denen sich viele das 19. Jahrhundert hindurch auch in anderen Gesangbüchern erhalten haben (vgl. 11.17 Blümcke, S. 51 ff.; im heutigen EKL findet sich nur sein Abendmahlslied: >Das sollt ihr, Jesu Jünger, nie vergessenBremer Beiträgen begann er als Schüler Gottscheds und veröffentlichte einige >weltliche< Gedichte in Johann Joachim Schwabes Zeitschrift Belustigungen des Verstandes und des Witzesweltlichen< Dichtungen bezeichnenderweise nicht in die dreibändige Ausgabe seiner >Sammtlichen Gedichte< (Leipzig 1782/83; Nachdruck Reutlingen 1783) aufnahm, ist sein poetisches Frühwerk angesichts der Verwechselbarkeit der Autoren-Kürzel und der Ähnlichkeit der Stile gar nicht sicher zu rekonstruieren (vgl. dazu die Bemühungen von 11.17 Blümcke, S. 54ff., 72ff.). In seinen frühen moralischen Oden stand er offensichtlich bereits stark unter dem Einfluß Pyras und der von diesem im >Tempel der Wahren Dichtkunst entworfenen Konzeption einer bibelorientierten »heiligen Poesie« (vgl. dazu ebda., S. 66f., 96ff.; Kap. I 3 b). Von daher erklärt sich ebenfalls das Interesse des Theologen Cramer an der Bibelpoesie, insbesondere an den Psalmen. Erste Psalmendichtungen aus seiner Feder finden sich bereits in den >Bremer Beiträgen (vgl. IV Bach/Galle, S. 256). Diese übernahm er in zum Teil überarbeiteter Form in seine vierbändige >Poetische Uebersetzung
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der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben (1755-1764; vgl. dazu Kap. II 2 b-6). Obwohl er wußte, daß die Hebräer »weder Silbenmaaß noch Reim gekannt haben« (PÜP, S.+5 v; UBGV, S. 291ff.), meinte er doch aus der Überzeugung, »daß die Musik und die Poesie vordem unzertrennliche Gefährtinnen waren« (PÜP, S.+5 v), eine für den Gemeindegesang bestimmte, damit kirchenlied-analoge, gereimte und strophisch gegliederte Übersetzung des Psalters (aus dem Hebräischen!) wagen zu dürfen, denn »poetische Uebersetzungen«, so glaubte er, würden »das Herz mehr röhren, als prosaische.« (Ebda., S.+5 r). Zwar sah er auch die Gefahr, daß eine Übertragung in Liedform (Cramer hielt die meisten Psalmen für Oden) die Kürze des Originals nicht erreiche, doch war er selbstbewußt genug, um zu glauben, dies durch eigene poetische Mitempfindung und Erfindung verschönernd kompensieren zu können (ebda., S/6 r/v; vgl. dazu Kap. II 2 c-3; Trunz lobt ihn dafür: IV, S. 374). Cramer hätte ein poetisches Genie sein müssen, um diese hochgesteckten Erwartungen einlösen zu können, doch das war er - wie das folgende Beispiel zeigen mag - leider nicht. Mit der Übersetzung von Psalm 117, dem kleinsten, nur aus zwei Versen bestehenden Text, eröffnet Cramer den vierten Band. Aus der Vorlage (»1. Lobet den Herrn, alle Heiden; preiset ihn, alle Völker! 2. Denn seine Gnade und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit. Halleluja!«) erdichtete Cramer ein dreistrophiges Lied: »Der hundert und siebenzehnte Psalm. »Lobt, lobt den Herrn, ihr Nationen, Frohlockt ihm; bringt ihm Ruhm und Macht! Von allen, die auf Erden wohnen, Werd Ehr und Lob dem Herrn gebracht! Denn seine Gnade, seine Treue Ist groß und unveränderlich; Sie herrschet ewig; Erdkreis freue Der Gnad und Treue Gottes dich! Lobt, lobt den Herrn, ihr Nationen, Frohlockt ihm; bringt ihm Ruhm und Macht! Von allen, die auf Erden wohnen, Werd Ehr und Lob dem Herrn gebracht.« (PÜP IV, S. 1) Der lakonische Parallelismus des ersten Psalmverses wird bei Cramer durch Wort- und Satzverdopplung (»Lobt, lobt« und »bringt ihm Ruhm und Macht«), durch Periphrasen (»Von allen, die auf Erden wohnen«), Amplifikationen (»Ruhm und Macht«, »Ehr und Lob«) so ausgeweitet, daß sich das damit angestrebte Pathos - zumal angesichts der inhaltli-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
eben Unanschaulichkeit - in diesen Redundanzen nicht steigert, sondern erschöpft. Dasselbe gilt für die zweite Strophe, und die dritte, die - wohl mit Rücksicht auf die Erfordernisse des Gemeindegesangs - die erste repetiert, verstärkt nur noch den geradezu paradoxen Eindruck der Cramerschen >PsalmenVorrede< des >Zweyten TheilsPoetische Uebersetzung< 1774 vertont -, dennoch war ihr keine nachhaltige Wirkung vergönnt, und vor allem Herder war es dann, der mit seinem Verständnis vom >Geist der Ebräischen Poesie< als Inbegriff kraftvoller alter, ursprünglicher »Naturpoesie«, die tunlichst nicht »mit modischem Putz neuerer Sprachen« zu »verschönern« sei, die formschön-moderne Adaptation Cramers sehr »alt« und überholt aussehen ließ (vgl. II Herder GEP, S. 735ff.; IV Bach/Galle, S. 291 ff.). Im Prinzip dasselbe gilt für Cramers 1769 erschienene >Evangelische Nachahmungen der Psalmen Davids, und andere LiederSämmtlichen GedichteNachahmungen< (»Wohl dem, der Jesu Christo treu / An seiner Lehre hält, / Voll Abscheu an der Spotterey / Und an der Lust der Welt.« ENPD, S. 3; ebenso SG III, S. 113) verdeutlicht bereits die Tendenz zur »Christologisierung«, zur figuralen Applikation der Psalmen auf den in ihnen bereits geweissagten Messias und damit zugleich auch die Tendenz zur orthodoxen Dogmatisierung (»Wohl dem, der Jesu Christo treu / An seiner Lehre hält«). - Mit deut-
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lieh nationalistischen Tönen setzte er zwei besonders getreuen Wächtern der Lehre Christi in separaten Publikationen 1770 und 1772 mit klopstockisierendem Pathos ein Denkmal: Luther (»Doch einen freyern edlern Mann, / als Luther war, der edle Mann, / Hat keine Nation gezeuget!« L, S. 15) und dessen »getreuestem Gefärthen« Melanchthon (M, S. 3; beide zu Kirchenliedern geformt in SG III, S. 284ff., 297ff.). 4) Cramers Interesse an den Psalmen zeigt sich auch in vielfältigen Rückgriffen und Anspielungen seiner >Sämmtlichen GediehteBücher< eingeteilt. Daß diesen und den einzelnen Gedichten Titel bzw. Inhaltsangaben fehlen, haben schon Cramers Freunde moniert, doch er selbst hielt solche thematische Klassifizierung für »unnothig, weil alle in diesen drey Bänden befindlichen geistlichen Gesänge beynahe in der Ordnung auf einander folgen, in welcher die theoretischen und praktischen Lehren des Christenthums mit einander verbunden sind« (SG III, S.+4 r). Dies gilt vor allem für die beiden ersten Bände. Sie enthalten genau 200 kirchenorientierte geistliche Lieder, die also primär für den kirchlichen Kultus und nicht für die >Privatreligion< bestimmt sind (vgl. Bd. I, S. 50ff.) Beide Bände umfassen 13 Bücher (Bd. I Buch 1-5 mit 91, Bd. II Buch 6-13 mit 109 Liedern). Die Disposition beginnt mit Preisliedern auf Schöpfer und Schöpfung (als Demonstriermasse für den physikotheologischen Gottesbeweis vor allem in Buch 3; vgl. SG I, S. 170: »Wie biegsam, wie gelenkvoll schließt / Sich Glied an Glied zusammen, / Die, welche läugnen, daß du bist, / Die Spotter zu verdammen!«) und führt über den Fall der Schöpfung durch die Erbsünde und ihre Folgen (Buch IV) sowie über Beispiele für Gottes Führung anhand /itestamentlicher Geschichten (Buch V) zum Neuen Testament: zu Lobliedern auf Christus (zunächst als Erlöser in Buch 6 als Beginn von Bd. II, dann als Lehrer im siebenten Buch) und ferner zu Variationen des christlichen Lebens (in der »Stadt des Herrn«, also der Kirche in Buch 8, unter dem Anspruch der Erfüllung des Gesetzes - in Buch 9 -, insbesondere der Nächstenliebe und der Tugendhaftigkeit im gesellschaftlichen, anschließend im familiären Alltag in den Büchern 10 und 11), während die beiden letzten Bücher nochmals die Standhaftigkeit des Glaubens im »Herbst« und »Winter« des Lebens und der Zeit beschwören. - Mit dem Vierzehnten Buch< des dritten Bandes wiederholt sich zunächst in 29 Liedern der Erlösungszyklus, diesmal allerdings im formalen Ablauf eines Tages mit Morgengebeten, Dankliedern für Christi Erlösungstat und Bitten (auch an den Heiligen Geist) um Erbarmen in Notsituationen des Lebens. Buch 15, das mit einer Lied-Adaptation des
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II. Neologie und Empfindsamkeit
>Vaterunsers< beginnt, thematisiert in 28 Gesängen vor allem das tugendhafte Leben des gläubigen Christen (»Dich ruf ich an; Gott, laß mich stets auf Erden / Im Guten wachsen, stets vollkommner werden!« SGIII, S. 137). Das letzte >Buch< fällt dagegen aus dem bisherigen Rahmen: Es beansprucht mit nur 13 Liedern auf 200 Seiten mehr als die Hälfte des Buchumfangs. Stil, Strophen- und Versbau (meist zehnzeilig, vierhebig) bleiben dem Kirchenlied verhaftet, aber die Länge und zum Teil auch der Inhalt (z. B. mit der namentlichen Erwähnung bedeutender Religionsgegner wie La Mettrie [ebda., S. 246], mit der heftigen Polemik gegen die Katholische Kirche [ebda., S. 288, 293 u. ö.] oder mit dem Lob des Dänenkönigs Friedrich V. [ebda., S. 321ff., 374ff.]) zeigen, daß diese Großgebilde eher dem Privatgebrauch zugedacht waren. Allein das erste >Lied< durchmißt in 69 Strophen das Erlösungsgeschehen vom Sündenfall bis zu Geburt, Tod und Auferstehung Jesu (ebda., S. 179-213), zwei weitere schildern in 24 bzw. 45 Strophen den beklagenswerten Zustand der Christenheit und ziehen gegen Aberglauben und »Freygeisterei« zu Felde (ebda., S. 309-320, 329-351), eines ergießt sich in 44 Strophen in schwermütiger Daseinsklage, die aber schließlich (wie bei Hiob) durch Gottes Stimme Trost erfährt (ebda., S. 352-373), und die ganze Sammlung endet mit dem insgesamt 270. Lied, einem sechsstrophigen Lobgesang auf Friedrich V. von Dänemark (ebda., S. 374-376). Im Vorwort bekundet der Autor die Absicht, mit seinen Gesängen »Empfindungen und Gesinnungen zu erweitern oder zu unterhalten, die keine andre, als sehr wohlthätige Einflüsse auf die menschliche Gluckseligkeit haben können.« (SG I, unpag.). Damit scheint er sich ganz in den neologisch-aufklärerischen »mainstream« der Epoche einordnen zu wollen, und mit diesem didaktischen Anliegen distanziert er sich zugleich unausgesprochen von den für seine poetische Feder ohnehin unerreichbaren geistlichen Höhenflügen seines Freundes Klopstock: Er hoffe, daß man »nicht in allen« seiner geistlichen Lieder »eine gleiche Lebhaftigkeit und Stärke, noch einen immer neuen unerwarteten lyrischen Schwung, dem doch nicht jedermann folgen kann, noch überall gleich glühende Farben des Ausdruckes verlangen werde. Das Gebiet der heiligen Poesie hat nicht allein rauschende Gewässer und Strome, sondern auch stiller fließende Bäche und Quellen.« (Ebda.)
Wiederum unausgesprochen bekennt sich Cramer damit eher zum Stil der >Geistlichen Oden und Lieder< seines alten Freundes Geliert (vgl. Kap.. II 4 e), und es scheint, als wolle er diesem von Anfang an seine Reverenz bekunden (so verweist gleich Lied Nr. 2 »Die Himmel preisen Gottes Macht« auf Gellerts »Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht«; vgl. Kap. II 4 e). Viele inhaltliche Übereinstimmungen zwischen beiden Dich-
3) Proben von Tugend und Frömmigkeit (Bremer Beiträger)
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tern rühren allerdings aus dem gemeinsamen Rückgriff auf den Wortlaut der Bibel -, und Cramer folgt auch Gellerts Lehrhaftigkeit und Interesse an der Vermittlung von Tugend. Gleichwohl ist er zumindest inhaltlich nicht dessen Epigone, weil er Gellerts alles in allem aufklärerischer Position bei scheinbarem Entgegenkommen letztlich doch entschieden den Rücken kehrt. Dazu einige Beispiele. Gleich in Lied Nr. 2 erhält die biblische Offenbarung unzweideutig ihre vor-aufklärerische Autorität und Dominanz gegenüber der Vernunft zurück: »Doch seiner Schöpfung Unterricht Verstehen selbst die Weisen Mit allen ihrem Forschen nicht, Und lernen Gott nicht preisen! Was wüßten wir, wenn deinen Ruhm, O Gott, dein Evangelium Uns nicht verkündigt hatte?« (SG I, S. 7)
Der Verstand wird in die Schranken gewiesen, denn er »Will mehr, als deine Lehren uns vergönnen, / Von dir erkennen.« (Ebda., S. 12) Infolgedessen hält Cramer gegen alle neologischen Einwände an der Historizität der biblischen Geschichten und den daraus entwickelten dogmatischen Lehren fest. Das gilt insbesondere auch für den Sündenfall und seine Folgen (ein Hauptthema des vierten Buches; SG I, S. 21 Iff.): Adam und Eva »brachen Bund und Pflicht! / Ach! Sie fielen! / Nun sind auch wir / Durch sie von dir / Strafwürdig und des Todes Raub!« (Ebda., S. 216; vgl. auch SG H, S. 165ff.) In seinen Nebenarbeiten zur theologischen Literatur und Religion< setzte sich Cramer ausführlich mit Jerusalems Deutung auseinander, der mosaische Bericht sei »ein altes ehrwürdiges Lehrgedicht aus der Urwelt« (II NTLR I, S. 62-160; II, S. 85-182; hier I, S. 65). Zwar lehnte Cramer Augustins radikales Verständnis ab, wonach alle Menschen in Adam und Eva bereits mitgesündigt hätten (ebda., S. 108), dennoch war für ihn die verderbte Natur der Menschen zwar keine Strafe, aber eine Folge der Sünde Adams (ebda., S. 114f.), und die Naivität der »Buchstäblichkeit« des mosaischen Berichts (etwa Evas Gespräch mit der Schlange) erklärte Cramer mit der Akkomodationstheorie: Der Geschichtsschreiber erzählte mit Worten, die Eva zu verstehen vermochte (ebda., S. 126ff.). Auf diese Weise suchte er den biblischen Bericht als »wahre Historic« zu retten (ebda., S. 160), nicht ohne Jerusalem wiederholt seiner Hochachtung zu versichern: »Von einem Jerusalem bin ich gewiß, daß er ... die Absicht desjenigen nicht verkennen werde, der einer seiner aufrichtigsten und dankbarsten Vereh-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
rer ist; der auch diese Gesinnungen für einen wesentlichen Theil seiner Ehre und seines Glückes hält« (ebda.; ebenso lobte er Semler und kritisierte zugleich dessen Umschreibung von Joh. 1; NTLR II, S. 50-72, hier S. 52). Hochschätzung und Kritik neologischer Positionen kennzeichnen auch Cramers Gedichtsammlung, ja stellenweise bilden sie geradezu deren Strukturprinzip. Das gilt insbesondere für Buch 2 mit der Lehre von Schöpfer und Schöpfung (SG I, Nr. 20-43, S. 65-140). Hier finden sich einerseits Lieder, die in konzentrierter Form das neologische Vermächtnis von dem auf das »irdische Vergnügen« seiner Geschöpfe bedachten liebreichen Gott enthalten (im folgenden Str. 5-8 aus Lied Nr. 22, »Lobsinget Gott, und betet an!«; ebda., S. 71ff.): »Gab seine Macht, die Schopferinn, Zum Führer deines Lebens, Dir deinen Geist, so manchen Sinn, So viel Gefühl vergebens? Für wen, für wen, als dich, erschafft, Erhält und schmücket seine Kraft, So viele große Werke? Dein Gott bedarf nichts; seine Hand, Die seine Schöpfung schmückte, Gab dir Empfindung, dir Verstand, Damit er dich beglückte. Willst du, o Mensch, nicht glücklich seyn? Will sich nicht deine Seele freun, Nicht immer froher werden? O warum suchest du dein Glück In eiteln Phantaseien? Wirf auf die Schöpfung deinen Blick; Da will er dich erfreuen. Nimm hin die Freuden deines Herrn; Geniesse sie; er gibt so gern; Nur ihr Genuß reut nimmer. Er selbst entflammt in deiner Brust Die Sehnsucht nach Vergnügen. Er schuf auch Quellen, die voll Lust Stets fließen, nie versiegen. Gieb nur auf seine Wunder Acht; Denn seine segenvolle Macht Schafft alle wahren Freuden!« (Im Tenor ähnlich ebda., S. 96ff., 102ff., 130ff. u. ö.)
3) Proben von Tugend und Frömmigkeit (Bremer Beiträger)
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Im Gegensatz dazu malen andere Lieder das Bild eines unnachsichtig gerechten, jeglichen Frevel gegen ihn strafenden Gott-Tyrannen, der in seiner Unbarmherzigkeit eher der Epoche des Konfessionalismus zu entstammen scheint (im folgenden aus Lied Nr. 25 »Es sei mein ernstlicher Entschluß«, ebda., S. 79ff., mit Psalmenanspielungen): »Wenn er, der Wesen Schöpfer, dräut, Erzittern alle Welten. Die Himmel, wenn sein Wink gebeut, Vergehn vor seinem Schelten. Kein Bauen hilft, wenn er zerreißt; Wer schließet auf, wenn er verschleußt? Entsetzet euch, und betet an Die Macht, die Leib und Seele Verderben bis zur Holle kann, Daß ewig Weh sie quäle! Wer kann vor seiner Macht bestehn? Wer darf sein heilig Recht verschmähn? Ich will ihn fürchten, nimmer will Ich ihm entgegen streben! Oft duldet er, und schweiget still, Doch nur in diesem Leben. Hält nach dem Tod er sein Gericht: So schont er, so vergiebt er nicht.« (Im Tenor ähnlich: ebda., S. 107ff, 112f, 116ff., 124ff. u. ö.)
Als habe es die theologische Aufklärung nicht gegeben, der Cramer doch seine Reverenz erweist, erscheinen hier der alte Dogmenbestand und damit auch die Ängste vor dem Jüngsten Gericht und dem Verlust der ewigen Seligkeit wieder. Cramer scheut sich auch nicht, Gott wiederum sehr >menschliche< Gesinnungen zu unterstellen: »Er wohnt in seiner HOh und lacht, / Wenn Menschen sich empören; / Bald wird der Eifer seiner Macht / Sie seine Große lehren.« (Ebda., S. 80) Für den Autor steht auch das Jüngste Gericht ebenso als unverrückbare Tatsache fest wie die Ewigkeit der Höllenstrafen (»Ach! Ewig wird die Strafe seyn, / Die Sünder leiden sollen, / Wenn sie nicht hier gerecht und rein / Durch Christum werden wollen!« SG III, S. 173), und deshalb kritisiert Cramer vehement alle Anhänger der >Apokatastasis pantondritte Stuck< versammelt eine »kleine christliche Glaubens^ und Sittenlehre in Denkversen« »für die Schalererziehung der neuen Generation der deutschen Provinzen von Dänemark« aus den letzten Lebensjahren von Cramer (HG III, S. 102). 58 solcher Gnome oder »Denkverse« gelten einer >kurzen Sittenlehre< (ebda., S. 5-20), 105 einer >kurzen Glaubenslehre< (ebda., S. 21-56), weitere 73 Belehrungen kleidet Cramer in die kindgemäße Form von >Räthseln und Beschreibungen (ebda., S. 56-101). Im Unterschied zum Lehrgedicht über den Menschen erweist er sich hier wieder ganz als orthodoxer Theologe, dessen Botschaft bürgerlicher Tugendhaftigkeit indessen mit seinem aufklärerischen Fortschrittscredo durchaus kongruiert: »77
Genugsam, mäßig, fleißig ist, Und sparsam jeder ächte Christ, So freue dich! arbeite gern, Und spare: das gefällt dem Herrn!« (HG III, S. 47)
Die folgende Gnome faßt wie in einem Brennspiegel zusammen, warum Pietismus, vernünftige Orthodoxie, Neologie und Aufklärung als dominierende Tendenzen des 18. Jahrhunderts, warum aber deshalb auch ein einzelner, widersprüchlich erscheinender Autor wie Cramer das Erbe Luthers mit den Erneuerungsideen der Moderne zu verbinden vermochten: Es ist das Ernstmachen mit der Überzeugung, daß der Glaube ohne Werke kein rechter Glaube ist und deshalb auch nicht selig macht! Nicht weniger als das orthodoxe Genügen an dem Lutherischen »Glaubst du, so hast du« (vgl. Bd. I, S. 151f., 197ff.) hat das Ungenügen an dieser Lehre die protestantische Kulturgeschichte bestimmt (ebda., S. 205ff.): »60 Der Glaube, welcher selig macht, Ist acht, wenn er uns besser macht, Treibt er uns nicht zur Tugend an, so ist er Selbstbetrug und Wahn.« (HG III, S. 40)
Deshalb dichtete Cramer auch, um »Religion und christliche Tugend zu fordern« (SG I, >VorredeGesänge< mit Grabesdüsternis und schwermütiger >memento moriNight Thoughts< gewinnt das »zärtliche« »Fühlen« auch als männliche Verhaltensdisposition einen ichkonstitutiven Wert und Selbstzweck: »Wenn Fühlen Schwachheit heißt, so ist die Schwachheit schon.« (Ebda., S. 5) Ein »zärtlich fühlend Herz« wird in Schmerz und Trauer geradezu ausgekostet und zugleich als fundierender Teil der Tugend (im Sinne des »moral sense«) legitimiert: »O Jüngling, wenn dein Herz sich ächter Tugend weiht, / O so eroffn es bald erhabner Zärtlichkeit!« (Ebda., S. 30) Hier ereignet sich die häufig beobachtete Emotionalisierung der Tugend. Für Cronegk »bedeutet gefühlvoll sein soviel wie tugendhaft sein, und die Stärke des Empfindens wird bei ihm zum Maßstab tugendhafter Größe gemacht« (III Brüggemann/Paustian, S. 8; vgl. IV Paustian, S. 113ff.). Zur Zärtlichkeit als Grunddisposition in der ersten Phase der Empfindsamkeit (vgl. Kap. I 2 d; III Wegmann, S. 46ff.) gehören die Unverstelltheit der Empfindungen, mithin auch die Tränen der Rührung und des Schmerzes über Tod und Verlassenheit, doch solches Trauern gewinnt auch bereits selbsttherapeutische (zur Seelenruhe führende) und moralische Qualitäten: »Und edle Traurigkeit verbessert nur das Herz.« (S II, S. 28) Indem das »Ich« sein Fühlen im Fortgang der Gesänge zunehmend als Tugend begreift und sich deren traditionellem Verständnis sittlichen Verhaltens annähert, wandelt das Gedicht auch - wie bei Young - seinen Charakter von elegischer Emotionalität hin zu erbaulicher Moraldidaxe. Vor allem vom vierten Gesang an (»O Tugend, o wie groß machst du nicht edle Herzen!« Ebda., S. 22) entwirft das Gedicht kontinuierlich Miniaturbilder von >moralischen Charakteren< und konfrontiert in ihnen unvernünftiges und vernünftig-tugendhaftes Verhalten. Hier ist in Inhalt und Gestaltungsweise der Einfluß Gellerts unübersehbar, so wenn Cronegk das »Herz des Menschenfreunds« schildert, dem u. a. alle »niedrige« Wollust Sünde ist: »Da wohnt die Wollust nur, wo reine Zärtlichkeiten / Ein jung unschuldig Paar zum keuschen Ehbett leiten.« (Ebda., S. 32; vgl. dazu Gellerts Lehrgedicht >Der Menschenfreund< u. Kap. II 4 d). Wie bei Geliert und Young ist die Herzens-Tugend auch für Cronegk Mittel zum Eingang in die Ewigkeit (»Und unsrer Wunsche Zweck ist nur die Ewigkeit«; ebda., S. 13) und damit eng mit Religion korreliert. Interessant ist freilich die Insistenz, mit der Cronegk - anders als Geliert und Young, hier eher in der Nachfolge von Pyra und Lange - Zeit (Nacht) und Ort (einsame Natur) seiner poetischen Meditationen als re-
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ligiösen Weihe-Raum ausgestaltet. Dies geschieht mithilfe einer nahezu inflationären Verwendung des Adjektivs »heilig«, und zwar sowohl bezogen auf die Topographie (»heiige Einsamkeit«, »der Wälder heiiger Ernst«, »im Schatten heiiger Buchen«, »heiiges Grün« usw.) und die »heiige Nacht« (»heilige durchwachte Mitternacht«) als auch auf die Seelenbefindlichkeit und die Gegenstände der Meditation (»heiige stille Seelen«, »heiige Ruh«, »heiige Zärtlichkeit«, »heiiger Weisheit Bahn«, »der Zukunft heiiger Blick« usw.): Daß Cronegk hier bewußt einen nichtkirchlichen Raum für seine religiöse Meditation und Didaxe erwählt und damit sakralisiert, erhellt aus seiner Imagination vom »zukünftig Gluck in bessern Welten«, »Wo keine Priester mehr, mit blutgem Aberglauben, / Die Freyheit unsers Geists und die Gemuthsruh rauben« (ebda., S. 14). In einer weiteren Ode auf >Die Einsamkeit hat Cronegk diese mit der Physikotheologie einsetzende Tendenz zur Gottesverehrung in der Natur als bewußte Alternative zum kirchlichen Gottesdienst gestaltet: »Schöpfer, der mein Herz erforschet und der meine Traenen sieht, Wenn mein Geist in heiiger Lust in der Stille dich verehret! Hör allhier mein Flehen an, wo kein Sterblicher es höret, Wo kein eitler Weihrauch glüht! Hier in diesem ruhgen Hayne, Schöpfer! find ich deine Spuhr; Hier erhebt der Vögel Chor deiner Allmacht Lob durch Singen. Hier soll auch mein Lied zugleich durch die Wolken zu dir dringen, Ewger Vater der Natur!« (Ebda., S. 174)
Möglicherweise ausgelöst durch den Tod seiner Mutter (im März 1757) schrieb Cronegk nochmals eine Lehrode >Einsamkeiten in Zween Gesängen< (Zürich 1757; S II, S. 41-76), diesmal in Hexametern. Der Anruf an die Muse des »Brittischen Sängers« (ebda., S. 44) verdeutlicht, daß es sich hier um einen >Rückfall< handelt (wie Young die fünfte >Nacht< bezeichnete; vgl. Kap. II 3 d). Das »Ich« als »ein Jungling voll zärtlicher Wehmuth« trauert - zunächst wieder, wie es scheint hoffnungslos - um eine verstorbene »Serena« und verstärkt diese Trauer, indem es in mehreren Charakterporträts weitere Trauernde imaginiert (die Geliebte, die um ihren im Krieg gestorbenen Freund weint oder die Mutter, die um ihren ins Feld strebenden Sohn bangt; ebda., S. 54f.) und die Trostgründe mit den Bildern künftiger Glückseligkeiten widerruft (»Wie die Träume der Sommernacht flohen die süßen Ideen, / Die dich beglückten«; ebda., S. 57). Doch auch hier ringt sich das »Ich« - gestützt (wie bei Young) auf das Gewissen (»Dir will ich folgen, unsterbliche Stimme des lauten Gewissens«; ebda., S. 61) - im Medium der Abgeschiedenheit und der den Kummer lindernden Tränen zur Hoffnung auf ein besseres Leben im
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Jenseits durch. Im >Zweyten Gesang< gar erfährt das »Ich« himmlischen Trost: »Serena« erscheint als Stimme der Offenbarung und verkündet: »Ein empfindendes redliches Herz kann Gott nicht verstoßen.« (Ebda., S. 64) Zugleich nutzt das Gedicht die Prophetenrolle der »Serena« zu patriotischen Prophezeiungen und Beschwörungen am Beginn des Siebenjährigen KriegesTheodizee< in seinem >Candidseinem< Deutschland den Frieden bescheren möge (»Vater der Engel und Menschen! Beschützer des zitternden Deutschlands! Sende den Frieden herab!« Ebda., S. 75). - Kritiker haben dieses Gedicht trotz seines damals wohlgefälligen Inhalts nicht zu Unrecht wegen seiner holpernden Alexandriner getadelt (vgl. 11.18 Anger, S. 481). Dennoch sind Cronegks >Einsamkeiten< in beiden Versionen nicht ohne Grund seine berühmtesten Werke, weil sie dem Zeitgeist der Empfindsamkeit historisch früh auf zwar nicht originelle, aber doch talentierte, nachdrückliche - und durch das eigene Schicksal besonders glaubwürdige - Weise Ausdruck verliehen. 3) Unter der Rubrik >Lehrgedichte< faßte Uz neun poetische Episteln (vgl. dazu Kap. II 5 c) und ein rhythmisiertes Prosagebet (>Am Tage meiner Geburtmoralischen CharakterenEinladung aufs LandDas StadtlebenDas Glück der ThorenGewohnheit und Natuix sind für Cronegk keine Gegensätze: Natur kann zur Gewohnheit werden, Gewohnheit in Natur umschlagen, wie er wiederum an gut pointierten Beispielen zeigt: »Dem reizenden Jasmin sieht man es itzt noch an, So wenig er sich gleicht, was er als Kind gethan. Der schone junge Herr fuhr stolz in goldnen Wagen, Ließ von der Kinderfrau sich froh zum Spiegel tragen Und lächelte sich an, und strich sein glatt Gesicht Und aß, trank, spielte, schlief, sprach - aber dachte nicht. Crispin, der starke Knab, der unbekannte Leute So gern mit Steinen warf, stets ändern Kindern dräute, Schrie, schimpfte, hämisch that, voll Stolz und Ueberdruß, Crispin, der starke Knab, ist itzt ein Criticus.« (Ebda., S. 120f.)
In seinem poetologischen Gedicht >Der Winter=Abend< wendet sich Cronegk dezidiert gegen die »witzige« Schreibart der (Früh-)Aufklärung und empfiehlt dem Jüngling: »Schreib, aber mit Bedacht, geh nach der alten Spuhr: Empfindung sey dein Witz, und deine Kunst Natur. Ein Herz, das edel denkt, laß jedes Wort beseelen; Du magst den leichten Reim verwerfen oder wählen. Genau, doch ohne Zwang, nicht ängstlich, aber rein, Stark, nie fanatisch kühn, laß deinen Ausdruck seyn. Doch nicht im Ausdruck bloß, in feurigen Ideen, Jn ungezwungner Pracht läßt sich der Dichter sehen.« (Ebda., S. 115)
Von diesem der »natürlichen Schreibart« der Schweizer und der >Bremer Beiträgen verpflichteten Ideal läßt Cronegk auch (in >Günthers Schatten^ dem von den Aufklärern geschmähten Johann Christian Günther poetische Gerechtigkeit widerfahren (ebda., S. 132-138; zu Günther vgl. Bd. IV). 4) >Einsamkeiten< und >Lehrgedichte< umfassen nahezu die Hälfte des Cronegkschen Lyrik-Bandes. In ihnen hat er sein Bestes gegeben. Die nachfolgende, von Uz nach Ernst und Scherz in zwei Bücher unterteilte Sammlung von >Oden und Liedern< (>Erstes BuchZweytes BuchDer Philosoph< S II, S. 264f.): »Das Kind begrüßt die Welt mit Thränen; Bald quält es stürmisch der Pedant; Der Jüngling rennet nach der Schonen, Verliebt in allzusfißen Tand. Der Mann wird stolz nach Ehre streben, Die er so selten doch erwirbt; Der Greis wird geizig, zanket, stirbt; Verlohnte sichs der Müh zu leben?« (Ebda., S. 264)
Auch in den ernsten Oden dominiert vielfach die Tendenz zur SpruchWeisheit wie in der nachfolgenden >Ermunterung zu weiser Freude< (ebda., S. 205f.), wo nur die erste der zitierten Strophen emphatischen Oden-Schwung erkennen läßt, während die beiden folgenden sich an den Kopf wenden, um paradoxerweise zu lehren, daß die wahre Weisheit eher im Herzen wohnt (das Motiv von der Weisheit als Schwester von »pleasure« verkündet auch Young; vgl. Kap. II 3 d): »Weisheit, Schwester der Freude! Strahl der Gottheit! erfüll mein Herz! Bald tiefsinnig, bald scherzhaft, Jmmer Weisheit, sich selbst nur gleich! Nein! das ist nicht die Weisheit, Die betrübt über alles seufzt. Nein! das ist nicht die Weisheit, Die der Fleiß bey der Lampe sucht. Glücklich leben ist Weisheit; Gott verehren, ihr hochster Grad. Nicht im Witz, im Verstand nicht, Jn dem Herzen nur wohnet sie.« (S II, S. 206)
Interessanterweise versagt Cronegks poetische Weisheit gerade da, wo sie sich auch nach seiner Überzeugung vollenden sollte - und wo sie bei den
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II. Neologie und Empfindsamkeit
befreundeten >Bremer Beiträgern< ihre besondere Pflege fand: bei den Proben geistlicher Lyrik. Aus Stilunsicherheit schreibt Cronegk hier Zwitter zwischen poesiebestimmtem und kirchenorientiertem geistlichem Lied (zur Begrifflichkeit vgl. Bd. I, S. 50ff.). >Abend=Andacht< z. B. beginnt mit der Schlichtheit eines Kirchenliedes, während die zweite Strophe mit komplizierterer Syntax und unkultisch-privatem Vokabular für ein Kirchenlied nicht geeignet wäre: »Herr, es gescheh dein Wille! Der Korper eilt zur Ruh: Es fallen in der Stille Die müden Augen zu. Vergieb der Schwachheit Sünden, Verschon mit Zorn und Straf. Laß mich bereitet finden Zum Tode, wie zum Schlaf. Laß, fern von Schreckenbildern Und wilder Phantasey, Die Seele sich nichts schildern, Was ihrer unwerth sey! Laß frey von eitlen Sorgen Mich wieder auferstehn, Und auf den Kampfplatz morgen Mit neuen Kräften gehn.« (S II, S. 158)
Solche Verse hätte jener Autor gewiß nicht gedichtet, dem Cronegk mit Recht ein Denkmal setzt: »Wer wahre Tugend liebt, o Freund, der stirbt nicht ganz. Der Name Gellerts strahlt mit ungeborgtem Glanz: Wenn unsrer Nachwelt Witz, die ihn mit Ehrfurcht nennet, Den Namen - einst bloß als ein Schimpfwort kennet.« (Ebda., S. 117)
Der Gedankenstrich in der letzten Zeile ist metrisch durch einen zweisilbigen Namen auszufüllen; >Cronegk< freilich wäre hier fehl am Platz. Die Zeitgenossen schätzten mit Recht sein poetisches Talent, mit dessen Vielseitigkeit er die anderen >Bremer Beiträgen überragte, das in >Weisheit< zur Reife zu bringen ihm aber nicht vergönnt war.
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4) Tugendängstlichkeit (Geliert)
a) »Finstrer Kopf« und »starres Herz« - Verlust der >Empfmdsamkeit< 1) In seiner beliebten >Moralischen Vorlesung< ermunterte Christian Fürchtegott GELLERT (1715-1769; vgl. Abb. 15, ein Gemälde von Hempel. 1752. in: 11.49 Sachse. S. 161) das Auditorium: »Stellen Sie sich einen Mann vor, der die Güter des Lebens nach ihrem wahren Werthe schätzt und sucht, nicht mehr begehrt, als er thig hat, seine Begierden nach dieser Regel ordnet, und Ändern so viel Gutes gonnt und schafft, als er kann; einen Mann, der es sich bewußt ist, daß er der Vernunfft und dem Gewissen, und durch sie dem Willen der Vorsehung folgt; einen Mann, der sich mit ihrer Liebe, mit ihrem allmächtigen Schütze im Hertzen trösten und seine Schicksale ihrer Weisheit oberlassen kann; sollte der nicht so glucklich seyn, als ein Mann werden kann?« (II Geliert MV, S. 63)
Abb. 15
Ein solches »Genie zur Tugend« (so definiert Daniel Jenisch die Empfindsamkeit, in: I Doktor/Sauder, S. 173) glaubten die Studenten vor sich zu sehen (vgl. MV, S. 357), und ein solches Bild von Geliert vermittelte auch sein literarisches Werk, mit dem er »zweifellos der meistgelesene« und zugleich »der einzige wirklich volkstümliche« (11.28 Meyer-Krentler 1990, S. 227) - »Schriftsteller des 18. Jahrhunderts« genannt werden darf (11.28 Jung 1989, S. 104; Arto-Haumacher, S. 83ff.). Und wenn dem hochgeehrten und selbst vom preußischen und sächsischen König mit Gunstbeweisen bedachten Autor (vgl. BW III, S. 78ff., lOlf.) auch schon bald nach seinem Tod das Etikett des »Mittelmäßigen« angeheftet wurde (vgl. Mauvillon/Unzer in FE, S. 21 Off.; dazu auch 11.28 Honnefelder,
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H. Neologie und Empfindsamkeit
S. 7ff.), so gilt er der Forschung heute doch wieder als »der gewiß wichtigste Schriftsteller zur Mitte des 18. Jahrhunderts« (11.28 Jung/Reynolds, S. 11), da er »in verschiedenen literarischen Gattungen (Lustspiel, Brief und Roman) neue Akzente gesetzt« habe (11.28 Jung 1989, S. 104). Geliert erwarb sich also seine Meriten, indem er die von ihm selbst - etwa in der >Betschwester< (1745) - erprobte sächsische Typenkomödie durch Einführung der >comedie larmoyante< überwand (>Die zärtlichen Schwestern^ 1747), indem er ferner den Barock-Roman durch den ersten - im zweiten Teil bereits empfindsamen - bürgerlichen Roman ersetzte ^Leben der schwedischen Gräfin von G++\ 1747/48) und indem er schließlich dem alten Kanzleistil den relativ ungezwungen-natürlichen und individuellen Briefstil als neues Schreib-Ideal entgegenstellte (>Gedanken von einem guten deutschen BriefeGeistlichen Oden und Lieder< (1757), die »in kürzester Zeit wie im Sturm die Herzen erobert haben, soweit die deutsche Sprache klang« (III Wernle, S. 609), und die auch von Mauvillon und Unzer besonders hochgeschätzt wurden (vgl. 11.28 Meyer-Krentler 1990, S. 230; Schlingmann, S. 31 f.). Die geringere Qualität und mangelnde Innovation der Lyrik wird zum Teil von Gellerts Biographie her erklärt; denn zumindest Lehrdichtung und geistliche Poesie erschienen zu einem Zeitpunkt, wo Gellerts »Produktivität« bereits »versiegte«. Und dafür wiederum sollen eine »mit wachsendem Alter bigotter werdende Frömmigkeit« sowie »seine andauernde Kränkelei und seine Hypochondrie verantwortlich sein« (11.28 Jung 1989, S. 106); May spricht vom Übergang des späten Geliert »zum ausgesprochenen Waisenhäuser-Pietismus« als »seinem Privatchristentum in seiner nachliterarischen Periode« (11.28, S. 139, 169), und Martens fragt gar angesichts der pietistischen Züge von Gellerts Tagebuch von 1761, ob er »ein Doppelleben geführt« habe, »für das wir nur mangels früherer Tagebücher keine Belege haben« (III 1989, S. 213). Die Aufwertung des Autors bezieht sich also genau genommen nur auf die kurze, aufklärerisch-vernünftige Lebens- und Schaffensphase »von 1743 bis 1751« (11.28 Meyer-Krentler 1990, S. 238), für die »restlichen« 18 Lebensjahre vermag die Gellert-Forschung kein rechtes Verständnis mehr aufzubringen.
4) Tugendängstlichkeit (Geliert)
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Offenbar spielt die Biographie für die konstatierten Phasen oder gar >Brüche< in der Entwicklung des Autors eine wichtige Rolle. - Und in der Tat: bei näherem Betracht erscheint das Bild des heiter-glücklichen, erst im Alter sich verdüsternden Geliert als Relikt eines von ihm selbst erfolgreich inszenierten Images; in Wahrheit gibt sich sein Lebenslauf - wie zu zeigen sein wird - als eine bruchlos von Anfang an durch Krankheit bestimmte Leidensgeschichte zu erkennen, und seine Poesie läßt sich bis in Reihen- und Gattungsfolge, bis in die Eigentümlichkeiten von Stil und Inhalt hinein als Auseinandersetzung mit dieser Krankheit begreifen und von daher anders gewichten. Das gilt insbesondere für seine Lyrik, die an allen Lebensphasen des Autors teilhat. Geliert selbst nannte diese sein Leben mehr und mehr verdüsternde Krankheit schon in den ersten erhaltenen Briefen seine »Hypochondrie« (so auch II Cramer CFGL, S. 63ff.). Diese galt im allgemeinen als leichtere - heilbare - Form der Melancholie, als Modekrankheit des Säkulums (vgl. Bd. V/l, S. 74) und insbesondere der Empfindsamkeit: Diese »ist Seelen-hipochondrie«, definierte geradezu Christian Friedrich Timme 1781/82 (zit. in III Sauder 1974, S. 151). Je nach medizinischer Schule nahm man auch unterschiedliche körperliche - humoralpathologische oder nervöse - Ursachen für diese Krankheit an (ebda., S. 152ff.), verstand sie aber übereinstimmend als übersteigerte, übertriebene, das eigene Leiden auch genießende Emotionalität (»Joy of grief«), als »Hypertrophie der Einbildungskraft und Selbstreflexion« (ebda., S. 153), die auch aus »empfindsamer Frömmelei« entstanden sein konnte (so Carl Friedrich Pockels in: I Doktor/Sauder, S. 65). Der Begriff wurde also kritisch gebraucht, und wenn Geliert ihn auf sich selbst anwandte, trug er dem zumindest noch am Anfang des Briefwechsels durch selbstkritische oder humorvoll-distanzierende Wendungen Rechnung und spielte seinen Zustand als kurierbare Unpäßlichkeit herunter. Tatsächlich aber sprechen alle Anzeichen dafür, daß er unter zum Teil lang andauernden und in den beiden letzten Lebensjahrzehnten schweren und schwersten Depressionen litt. Alle wichtigen Symptome dieses psychopathologischen Zustands sind bei ihm geradezu lehrbuchmäßig versammelt (vgl. dazu auch Bd. V/l, S. 76ff). Besonders seit 1752, berichtet Cramer, »war Gellerts Leben« »durch das schreckliche Uebel der Hypochondrie ein beständiges Leiden.« (CFGL, S. 94; vgl. ebda., S. 95ff). Und: »Vielleicht haben wenig Menschen mehr traurige Tage gelebt, als er.« (Ebda., S. 132) 2) Geliert wurde als neuntes von dreizehn Kindern des Pfarrers Christian Geliert und seiner Frau Johanna Salome in ärmliche Verhältnisse hinein geboren, und er war von Anfang an ein schwächliches, kränkliches
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. Neologie und Empfindsamkeit
Kind (vgl. II Geliert UNL, S. 13; Cramer CFGL, S. 16ff.). Ab 1729 konnte er wie Gärtner und Rabener (vgl. Kap. II 3 a-2) und wie nach ihm Lessing die Fürstenschule St. Afra in Meißen besuchen, in deren Fächerkanon Religion und Latein dominierten. Unter der »Zucht und Tyrannei der Schul- und Klassengemeinde« hatte der schwächliche Knabe schwer zu leiden (vgl. 11.28 Behrend, S. XII f.). Aus dieser Zeit erfahren wir auch Genaueres über Gellerts angegriffene Gesundheit. Sein Vater mußte ihn einmal für 13 Wochen wegen beständigen Bluthustens, kurzen Atems, Engbrüstigkeit, Stickens und Herzschwäche - so das amtsärztliche Attest - nach Hause holen, und über seinen Abgang von der Klosterschule 1733 vermerken die Akten: »Dimissus ob infirmitatem corporis« (zit. ebda.). Gedichte, die Geliert in dieser Zeit vor allem unter Einfluß von Benjamin Neukirch (1665-1729) und Johann Christian Günther (1695-1723) schrieb, verurteilte er später als »abenteuerlichen Unsinn«, den er »durchs Feuer verwüstet« habe (UNL, S. 14). Von 1734 an studierte er dann in Leipzig neben Philosophie, Geschichte und Literatur auch Theologie, mußte das Studium nach immerhin vier Jahren aber aus Geldmangel abbrechen und versuchte sich anschließend in Hainichen als Gelegenheits-Kanzelredner, doch plagten ihn Schüchternheit und Versagensängste, die er selbst auf eine mißglückte Grabrede zurückführte, die er als fünfzehnjähriger auswendig zu halten versuchte und bei der ihm plötzlich das Gedächtnis versagte (II Cramer CFGL, S. 18f.). Den Pfarrberuf selbst glaubte er sich wegen seiner Schwächlichkeit nicht zumuten zu können, und dazu muß man sich daran erinnern, daß auch noch im 18. Jahrhundert die Geistlichen einen großen Teil ihrer Vergütung in Gestalt von Naturalien erhielten und die Landpfarrer Feld und Garten zu bestellen und Vieh zu halten hatten (vgl. dazu III SchornSchütte; Landpfarrer-Existenzen schildert ausführlich II Nicolai, S. 19ff., 331 ff.). Schwächlichkeit, Unversorgtheit und vermutlich auch eine stark sublimierte homoerotische Veranlagung (vgl. dazu auch II Cramer CFGL, S. 44ff.) ließen Geliert auch nie ernsthaft an eine Heirat denken. 1746 bekannte er in einem Hochzeitsgruß an seine Schwester Christiane Eleonore, »daß ich niemals heirathen werde. .. . Die Mama würde vor Freuden weinen und ich vor Betrübnis, daß ich eine Frau hätte. Zur Hypochondrie auch noch eine Frau; das wäre zu viel Kreuz. Ich kann das eine allein kaum ertragen.« (BW I, S. 16; vgl. ebda., S. 14, 46). Stattdessen suchte und knüpfte er Freundschaften, und zwar sowohl mit seinen Studienkollegen als auch mit einer ganzen Reihe von Schülern, und es ist aufschlußreich, daß er sich zeitlebens eine Existenzform zu erhalten wußte, die schon aus finanziellen Gründen eine Heirat unmöglich machte, die ihn nötigte, Privatissima für betuchte Zöglinge abzuhalten, und die ihm Zeit zur Pflege seiner Freundschaften ließ.
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Von 1739 bis 1751 lebte Geliert in ungesicherten, wechselnden Positionen, die ihm gleichwohl zu einer akademischen Karriere in Leipzig verhalfen. Zunächst unterrichtete er hier junge Adlige im deutschen Stil und verdiente sich auch Geld durch Anfertigung von Gelegenheitsgedichten. Aufträge dazu vermittelte ihm u. a. Gottsched (vgl. BW I, S. 6f.), in dessen Diensten er 1743 auch an der Übersetzung des vierten Bandes von Pierre Bayles >Dictionnaire historique et critique< mitwirkte. Im selben Jahr wurde er an der Universität Baccalaureus und Magister der Weltweisheit und »veröffentlichte« eine Sammlung von 12 anakreontischen >Liedern< in einer Auflage von 12 Exemplaren. Ende 1744 habilitierte er sich nach schwerer Erkrankung mit einer Dissertation >De poesi apologorum eorumque scriptoribus< und hielt von nun an als Privatdozent Vorlesungen über Moral, Beredsamkeit und Poesie (vgl. 11.28 John/Lehnen/Späth, S. 14). Ein großer Teil seiner literarischen Produktion aus den vierziger Jahren gewinnt aus der Perspektive seiner >Hypochondrie< den Charakter einer Selbsttherapie; denn mit Ausnahme des Romans sind alle von ihm behandelten Gattungen dem anti-melancholischen Geist des Scherzes, Humors, der Ironie, des Lachens und Frohsinns verpflichtet: die scherzhaftem anakreontischen >Lieder< (vgl. dazu Bd. V/2, S. 173ff.), die »schalkhaften« Schäferspiele >Das Band< und >Sylvia< (vgl. L, S. Iff., 29ff., 349), die Lustspiele sowie die der »angenehmen Unterweisung« (NWF, S. 17) dienenden Fabeln und »freudigen Erzählungen« (so Bodmers Gattungsbezeichnung; FE, S. 203). Schließlich galten »Humor und Ironie« als eines der probaten, weil »von der ständigen Selbstanalyse« ablenkenden Heilmittel gegen Melancholie und Hypochondrie (vgl. III Sauder 1974, S. 153f.), das der melancholische Hans Sachs ebenso zu beherzigen versuchte (vgl. Bd. I, S. 251 f.) wie Robert Burton, der in seiner >Anatomy of Melancholy< in die Rolle des Democritus ridens schlüpfte, um sich im ablenkenden Gelächter über die Torheiten der Welt »selbst von der Melancholie zu heilen« (II Burton, S. 22; vgl. ebda., S. 129; vgl. auch das Kapitel >Humor als Hilfsmittel· in V Beck u. a., S. 217) oder wie der melancholische Pfarrer Götz, der sich in den >Nebenstunden< heimlich der scherzhaften Muse hingab (vgl. Bd. V/2, S. 203ff.). In einem Epigramm von 1799 hat Friedrich Hölderlin (1770-1843) diesen Zusammenhang pointiert (vgl. 11.32 Neuber, S. 68): »Die Scherzhaften Immer spielt ihr und scherzt? ihr müßt! o Freunde! mir geht diß In die Seele, denn diß müssen Verzweifelte nur.« (II Hölderlin, S. 222)
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Seine Schriften verschafften Geliert in der Öffentlichkeit das Image eines heiter-witzigen Weltweisen, hinter dem er sich und seinen Zustand verbergen konnte, doch zunehmend litt er auch darunter, daß er diesen Erwartungen bei persönlichen Begegnungen nicht zu entsprechen vermochte. So schrieb er 1751 seinem Gönner, dem preußischen Hofrat Ernst Samuel Jacob Borchward, der nach der ersten Begegnung über Gellerts »finstre Mine« geklagt hatte: »Überhaupt, Herr Hofrath, bin ich auf meinen Reisen unglücklich. Ein gewisser Begriff, eine vortheilhafte Meynung, die meine Schriften von mir erweckt, geht voran. Man hofft den scherzhaften, den muntern Mann zu sehn, den man in dieser oder jener Stelle angetroffen hat; man glaubt etwas zu sehn, das man sich selbst entworfen hat, und man sieht das Gegentheil, man sieht eine ernsthaft finstre Stirn, man hört einen Mann, der wenig redt, u. man glaubte, er würde viel reden u. lauter Sachen, des Druckes werth, reden. Dieses bemerke ich, ich fühle es, u. sehe, daß ich meinem Namen selber im Wege bin, oder wenigstens sehe ich, daß der Name eine gewisse Last ist, die ich zu der Zeit am wenigsten tragen mag.« (BW I, S. 99)
3) Gellerts literarische Produktivität in den vierziger Jahren wurde wesentlich mitinspiriert durch seinen Freundeskreis, >die Bremer Beiträgen (vgl. zu ihnen Kap. II 3 a). Noch 1757 schrieb er an Rabener, diese Freundschaften sehe er »als meine Glückseeligkeit des Lebens an« (BW II, S. 88). Offenbar hatten die Freunde einen stimulierenden und ablenkenden Einfluß auf Gellerts Psyche, ihre Anerkennung und ihr Respekt neutralisierten seine Selbstkritik (vgl. dazu V Beck u. a., S. 48). Doch sogar in dieser produktiven Zeit diagnostizierte der - selbst melancholiegefährdete (vgl. Kap. II 3 c) - Giseke zwei typisch depressive Verhaltenssymptome Gellerts: seine Ruhelosigkeit (er besuchte »alle seine Freunde innerhalb einiger Stunden«) und seine stumme Passivität (sein ganzer Besuch bestand darin, »daß er uns ansieht«; zit. in 11.28 Behrend, S. XX). Freilich steigerte sich auch die Abhängigkeit Gellerts von seinen Freunden (vgl. dazu V Beck u. a., S. 229). Der nach dem Weggang der meisten >Bremer Beiträgen eröffnete Briefwechsel dokumentiert, daß Geliert sich ohne ihr Urteil kaum mehr etwas zu unternehmen getraute. Ohne Selbstvertrauen und deshalb in panischer Angst vor öffentlicher Kritik, die seine Selbstkritik nur bestätigt und verstärkt hätte, überließ er seinen Freunden alle seine Dichtungen nicht nur zur Kritik, sondern ermunterte, ja drängte sie auch, nach Vermögen darin Verbesserungen vorzunehmen (Analoges gilt für Götzens Unsicherheit und Abhängigkeit von Gleim und vor allem von Ramler; vgl. 11.32 Neuber, S. 102ff.). So schrieb Geliert z. B. Anfang 1754 an Johann Adolf Schlegel im Zusammenhang
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mit der geplanten und im selben Jahr erschienenen Ausgabe der Lehrgedichte und Erzählungeno »Ich habe den Titel gewählet: Sammlung einiger Gedichte p weil ich keinen bessern wußte. Weist du einen, so schreibe ihn nieder. Von den Erzählungen will ich Dir noch vier bis fünf Stücke Preis geben, wenn Du sie verwerfen willst. Soll ich den Brief an Cramern weglassen: so will ich auch nicht ungehorsam seyn. Sonst hast Du alle richterliche Gewalt auszustreichen, zu ändern (wenn dieß Dir möglich wäre), kurz, mich zum letztenmale zu demüthigen. Denn, mein lieber Bruder, ich sehe es nur gar zu sehr, daß meine poetischen Jahre dahin sind. Ich merke weder Zug noch Glücke mehr. . . . Ich will also lieber aufhören, ehe ich zu spät mit Schande schweige.« (BW I, S. 169)
In einem Subscriptum fügte Geliert an: »Was meynst Du, soll ich die Erzählungen unter die Lehrgedichte mengen, oder nicht. Wenn es angienge: so würde das einförmige vielleicht dadurch etwas verdeckt. Doch ich bin ein Kind. Ich weis selbst nicht, was ich will.« (Ebda., S. 170) Weil Geliert sich selbst nur so schwer entscheiden konnte (vgl. zu diesem Symptom der Depression V Beck u. a., S. 232ff.), akzeptierte er fast alle Verbesserungsvorschläge der Freunde, die der Ansicht waren, Dichtung unterliege allgemeinen Regeln des Geschmacks und sei daher von diesen her auch beurteil- und verbesserbar. Für den entscheidungs- und ichschwachen Geliert waren solche Stil- und Geschmacksregeln, die er auch in der Kritik seiner eigenen frühen >Fabeln und Erzählungem anwandte, der unentbehrliche Maßstab und Rettungsanker (vgl. FE, S. 161ff.). Zugleich freilich erschienen ihm von daher auch die geistlichen Gesänge seiner Freunde als unübertrefflicher Höhepunkt der deutschen Poesie (vgl. ebda., S. 24). 4) Ende der vierziger Jahre - mit dem Berufsantritt der Freunde - sah sich Geliert ebenfalls zu verstärkten Anstrengungen um eine gesicherte Versorgung genötigt. Doch auch im Blick auf seine Karriere legte er die für den Melancholiker typische »Zaghaftigkeit und Schüchternheit« an den Tag (vgl. dazu II Burton, S. 321). 1749 reiste er zu dem Braunschweiger Hofprediger und Neologen Jerusalem (vgl. zu diesem Kap. II l b d e), durch dessen Vermittlung bereits die Freunde Gärtner, Ebert und Zachariae eine Stelle am Collegium Carolinum erhalten hatten. Doch Braunschweig sagte ihm nicht zu (vgl. BW I, S. 42f.). Als ihm sein Gönner Borchward im April 1750 einen Ruf »als Profeßor der Weltweißheit oder Beredsamkeit« an einer von Geliert zu wählenden preußischen Universität offerierte, antwortete dieser erschrocken, wenn es »nach meinem Wunsche gienge: so würde mir eine Versorgung in meinem Vaterlande, u. zwar in Leipzig, die liebste seyn« (Ebda., S. 48). Der Wunsch ging in
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Erfüllung: auf sein Ersuchen an das Geheime Consilium in Dresden vom 24. Januar 1751 und unterstützt durch Fachgutachten Leipziger Kollegen, darunter Gottscheds, wurde er im April des Jahres zum außerordentlichen Professor der Philosophie ernannt, und trotz niedrigen Gehalts (100 Taler im Jahr bei einem Bedarf von ca. 600 Talern für seinen bescheidenen Lebensunterhalt; vgl. seine Aufstellung am Anfang von T) und trotz anderer ehrenvoller Angebote (auf eine Professur in Frankfurt/Oder 1751, wieder durch Borchward, als Prinzenerzieher nach Dänemark, um dem Siebenjährigen Krieg zu entgehen, 1756, oder an ein Hamburger Gymnasium, 1760) blieb Geliert bis zum Lebensende auf dieser Stelle und verdiente sich sein Geld lange überwiegend durch Privatunterricht. Als er erfuhr, daß ihm im Sommer 1761 an seiner Heimatuniversität eine vakant gewordene ordentliche Professur für Philosophie angetragen werden sollte, verhinderte er seine schon beschlossene Ernennung durch ein Schreiben an den Präsidenten des Dresdener Oberkonsistoriums (ebenso verhinderte der ängstliche und kränkliche Götz seine Ernennung zum Inspector generalis; vgl. 11.32 Neuber, S. 100): »Ich bin nicht im Stande, eine professionem ordinarium zu verwalten, so sehr haben die Kräfte des Leibes und des Geistes, seit zwey Jahren insonderheit, bey mir abgenommen. In wenig Tagen erfülle ich das sechs und vierzigste Jahr meines Alters und ich habe wahrscheinlicher Weise nicht lange mehr zu leben; warum sollte ich ein Amt annehmen, das ich schlecht und deswegen mit Unruhe verwalten würde, das über dieses nicht in meine Sphäre gehört, und das ein Andrer mit mehr Nutzen führen kann.« (BW III, S. 144)
Stattdessen erhielt Geliert auf sein Gesuch an den König ab Juli 1761 aus einem frei gewordenen Gehalt eine lebenslange Pension von 487 Talern jährlich (vgl. BW III, S. 149f., 449f.). Außerdem beschenkte ihn einer seiner früheren Lieblingsschüler, Graf Hans Moritz von Brühl, anonym seit 1760 mit einer jährlichen Zuwendung von 150 Talern, so daß er in den letzten Lebensjahren um sein materielles Auskommen nicht mehr bangen mußte. Und dennoch bangte, grämte und quälte sich Geliert mit seinem Leben und seinen Verhältnissen. Züge der Immobilisierung (als Symptom der Depressivität; vgl. V Beck u. a., S. 228) offenbarten sich in seinem Desinteresse an Reisen (vgl. BW I, S. 43), an Wohn- und Arbeitswechseln (vgl. BW II, S. 88), aber auch an der Literatur (»die Poesie und ihr Verdienst wird mir alle Tage fremder, und warum sage ich nicht, gleichgültiger?« BW III, S. 181; vgl. auch seinen Brief an Telemann ebda., S. 232f.). Die Editionen seiner Schriften aus den fünfziger Jahren gingen ohnehin fast alle auf Anregungen von Freunden (wie die Edition der Musterbriefe auf Rabener 1751) oder auf befürchtete bzw. tatsächlich erfolgte Raubdrucke
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zurück, auf die zu reagieren war (so die >Lehrgedichte und Erzählungen< 1754, so die Überarbeitung der Fabeln und Erzählungen und ihre Edition in der >Sammlung vermischter Schriften< 1756, so die >Geistlichen Oden und Lieder< 1757, die Geliert zunächst aus Angst vor Kritik nicht veröffentlichen wollte; vgl. BW II, S. 19f., 46f., 55f.). Geliert ging gern allen Schwierigkeiten aus dem Weg und legte sich mit niemandem an - auch nicht mit seinen Verlegern, die an ihm reich wurden. Auch im wissenschaftlichen Umgang vermied er allen Streit, ging zwar als >Bremer Beiträgen zu Gottsched behutsam auf Distanz, nahm aber öffentlich keine Stellung zu dessen Streit mit den Schweizern. Die großen philosophischen Streitfragen seiner Zeit - etwa über die Wolffsche Schulphilosophie (vgl. Bd. V/l, S. 92ff.) - überging er in seinen Vorlesungen, als Eklektiker schwankte er ohnehin zwischen den Positionen. Und auch in der Beurteilung Klopstocks, des ihm in Habitus und Dichtungsauffassung fremden, aber von seinen Korrespondenten vielfach hochgeschätzten neuen Sterns am Dichterhimmel, fand er bei aller Distanzierung noch anerkennende Worte (vgl. BW I, S. 271 ff.). Auch von daher erklärt sich sein Übergangscharakter als »Nicht-mehr und - noch-nicht« (III Lothar L. Schneider, S. 255; 11.28 Honnefelder, S. 12ff.). »Ja ja Brüderchen du bist ein Schleicher, das ist landkündig«, schrieb der im Stil oft erfrischend direkte, im Ton bisweilen etwas poltrige Johann Adolf Schlegel seinem Freunde ins Stammbuch, und hinter dessen ganzem Lebensstil, aus dem die auch in seiner >Moral< und Poesie propagierte Tugend der Bescheidenheit mitsamt der Zurückgezogenheit, Unaufdringlichkeit und Lebenserfüllung in der alltäglichen Pflicht als vorbildliche bürgerliche Tugendhaftigkeit hervorleuchtet, steckt doch auch die auffällige Konvergenz mit der Passivität und Antriebslosigkeit der Gellertschen Krankheit (vgl. dazu V Beck u. a., S. 245). Und vielleicht läßt sich wiederum die ausgesprochene Härte Gellerts gegen sich selbst - von der pedantischen Verplanung und Einhaltung des Tagesablaufs, den schon Giseke aus den vierziger Jahren ironisch beschreibt (zit. in 11.28 Behrend, S. XX), bis hin zu Formen strenger Askese als eine aus der Selbstkritik erwachsene Art der Aggression gegen sich selbst verstehen, nachdem er es sich versagte, sie nach außen zu richten. »Weniger Caffee und Taback sollte ich auch gebrauchen«, notiert er in seinem Tagebuch über die einzigen Genußmittel, die er sich erlaubte, »warum thue ich mir diese Gewalt (!) nicht an? - mehr Pflichten des Berufs ausüben und die kostbare Zeit seliger nutzen.« (T, S. 4) Seine Appetitlosigkeit (ebda., S. 45) und seine Schlafstörungen (beides auffallende physiologische Symptome der Depression; vgl. V Beck u. a., S. 254f.) kamen diesem Hang zu asketischer Selbstbestrafung wiederum entgegen.
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II. Neologie und Empfindsamkeit
5) Ihnen korrespondierten jene Merkmale der Krankheit, unter denen Geliert offenkundig am meisten litt: die affektiven Störungen. Er, der Autor >empfindsamer< Werke, beklagte dabei nicht nur den Verlust an Lebensfreude und >positiven< Gefühlen und die extreme Steigerung »unangenehmer Emotionen« (V Beck u. a., S. 67), sondern eine wachsende Gefühllosigkeit, den Verlust der Empfindungsfähigkeit. »Ich kränke mich indessen weit mehr«, schrieb er Ende 1753 an Borchward, »daß ich so unempfindlich bin, das Glück, das ich habe, zu erkennen und zu fühlen, als ich über das, was mir mangelt, betrübt bin. Wo kömmt diese Kälte, diese undankbare Härte her, von der ich sonst nichts gewußt habe?« (BW I, S. 164) Drei Monate später klagte er demselben Korrespondenten (und auch dies ein Beispiel für Gellerts typische Tendenz, die Traurigkeit noch durch Schuldgefühle zu steigern; vgl. dazu V Beck u. a., S. 222ff.): »Ich weiß nicht, wie ichs machen soll, daß ich mit mir selbst zufrieden werde. Ich glaube oft, daß ich nicht mehr so gut bin, als sonst; ich glaube, daß die feinen Empfindungen des Herzens sich bey mir verlieren. Und was glauben? Ich fühle es. Ich bin starr, ich werde weder gegen das Gute, noch das Böse, genug empfindlich. Und gesetzt, daß diese Beschaffenheit eine Folge der Krankheit u. des Mangels der gehörigen Säfte wäre: so kann ich doch immer die Ursache der Krankheit gewesen seyn u. noch seyn.« (BW I, S. 176)
Sein Tagebuch, das zu 90 Prozent »Gewissensprüfung, Gebet, Meditation, geistliche Reflexionen und Selbstzuspruch sowie Exzerpte aus erbaulicher Lektüre« enthält und damit »im wesentlichen ein geistliches, und zwar von fast pietistischem Zuschnitt«, ist (III Martens 1989, S. 211), weist aus, wie verzweifelt Geliert erleben mußte, daß er selbst an den höchsten kirchlichen Feiertagen beim Abendmahl keine Regung in seiner Seele verspürte (»Charfreytag. Ich bin mit einer finstern Seele zu diesem heiligen Tage erwacht und fühle nichts als Unvermögen und ein unbekehrtes Herz.« - »Erster Feyertag. O ein schwerer finstrer Tag für meine harte Seele.« - »Der zweyte Ostertag ebenfalls ein Tag des Elends und der Finsterniß.« T, S. 52f.; vgl. ebda., S. 84) In großem Umfang las Geliert Erbauungsliteratur, um sich - meist ohne Erfolg - in Emotion zu versetzen (vgl. ebda., S. 38: »nicht mit Rührung im Rambach gelesen«; gemeint sind die mehrfach im Tagebuch erwähnten voluminösen und mit historisch-biblischen Erklärungen durchsetzten Betrachtungen über das gantze Leiden Christi< des Pietisten Johann Jacob Rambach; vgl. II Rambach; zu dessen Lyrik vgl. II. 74 Zeim). Ohne Empfindung las er auch in der Bibel und klagte im Dezember 1762 sogar über den Verlust der Imaginationsfähigkeit (als des Mediums zur Erweckung erbaulicher Emotionen):
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»Der Schmerz in der Stirne hat seit einigen Wochen zugenommen, ist insonderheit früh bey dem Erwachen heftiger; und Härte im Kopfe, Zerstreuung der Gedanken im Beten und Lesen, Unvermögen den Wahrheiten des Glaubens nachzusinnen, Gott und Jesum im Geiste zu denken, und alles, was geistlich ist, ja auch was sinnlich ist, mir mit Gewißheit und einigem Eindrucke vorzustellen. Dieses Unvermögen scheint eher zu wachsen - Gott mein Gott, gieb mich nicht dahin in verkehrten Sinn.« (T, S. 96f.)
Schon fünf Jahre vorher, als er die Schlacht bei Roßbach am 5. November 1757 erlebte, notierte er: »Ich hörte die fürchterlichen Donnern der Canonen, die (die) Zimmer erschütterten, ich wollte für die Sterbenden und Lebenden beten, und konnte nicht; ich wollte wissen, was ich fühlte, und ich fühlte nichts als Starrheit der Seele.« (UNL, S. 27; analoge Klagen begleiten übrigens auch Werthers »Krankheit zum Tode«; vgl. II Goethe LJW, S. 99f.) Von daher versteht sich, daß Geliert immer wieder nach Gelegenheiten suchte, um sich seiner Gefühlsfähigkeit doch zu versichern. So eilte er zweimal an das Sterbebett eines Kollegen und lief nach dessen Tod »mit froher Seele in meine Schlafstube an mein Bette u. weinte, u. weinte wohl eine halbe Stunde ein herzliches Gebet heraus. Welch Glück war diese Stunde für mich. Aber wie bald verging sie!« (T, S. 91) Der »joy of grief« ist hier Ausdruck der Freude über die im Weinen zum Ausdruck gelangende eigene Empfindungsfähigkeit und zugleich einer nur vorübergehenden Erleichterung (vgl. dazu auch V Beck u. a., S. 73, 221f). Ein analoges Erlebnis widerfuhr Geliert bei der Lektüre von Samuel Richardsons Roman >The history of Sir Charles Grandison< (1754), an dessen Übersetzung er sich im Frühjahr 1754 vorübergehend beteiligt hatte. Im Jahr darauf berichtete er Hans Moritz von Brühl: »Ich schlief, wie Sie leicht denken können, die ganze Nacht elend, wenig. Kaum hatte ich heute Morgen nach sechs Uhr in der Bibel gelesen: so ergriff ich den Grandison, um ihn statt einer Rede aus dem Tillotson zu lesen. Ich las, ich kam auf den Abschied des Grandison u. der Clementine - Ach Graf, bester Graf! Nun habe ich wieder das größte Vergnügen des Lebens geschmecket, das ich schmeckte, als ich den letzten Theil der Clarissa las. Seit so vielen Jahren habe ich weder über Natur, noch Nachahmung (einige bittre Thränen der Traurigkeit ausgenommen) weinen können, nicht weinen können, um aller Wunder der Natur nicht: so hart, so verschlossen ist mein Herz gewesen, Und heute, diesen Morgen, den 3 April, zwischen 7 u. 19 Uhr (gesegneter Tag!) habe ich geweinet, theuerster Graf, mein Buch, mein Pult, mein Gesicht, mein Schnupftuch durch - durchgeweinet, laut geweinet, mit unendlichen Freuden; geschluchzet, als wäre ich in Bologna, als wäre ich er, als wäre ich sie, als wäre ich das seligste Gemische von Glück u. Unglück, von Liebe u. Schmerz, von Tugend u. Schwachheit gewesen; u. kein Mensch hat mich gestöret.« (BW I, S. 231)
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Im Griff Gellerts nach dem >Grandison< statt nach den Predigten des Theologen Tillotson (vgl. zu ihm Kap. II l c-2) wird prägnant der Aspekt der Ersetzung der theologischen Literatur durch die weltliche Konkurrenz deutlich, eine Ersetzung, die nur gelang, indem der Roman die erbaulichen Bedürfnisse zu befriedigen vermochte. »Ebert hat wohl nicht unrecht«, fuhr Geliert fort. »Wenn ich, spricht er, den Grandison gemacht hätte: so wüßte ich gewiß, daß ich selig werden müßte. Gott vergebe mirs! Könnte der Himmel durch Verstand u. Kunst, durch Witz u. Herz, durch göttliche Moral verdienet werden; nun so hätte ihn Grandison überverdienet.« (BW I, S. 231) Die ewige Seligkeit bestand eben in dem, was Geliert so verzweifelt entbehrte: in der EmpfindungsSeligkeit: »Wenn die Tugend in jenem Leben eine fortgesetzte ewige Empfindung solcher Freuden ist, als ich hier gefühlet: so kann kein Mensch, auch in einem zehnfachen Leben, zu viel für sie ausstehn.« (Ebda., S. 232) Gellerts Übergang zum führenden Lustspielempfindsamen< Roman im zweiten Teil des >Lebens der schwedischen Gräfin von G***< sowie zum emotionalen Briefstil (»Mögen doch andre ihre Blätter mit täglichen Neuigkeiten anfüllen, wir wollen sie mit den Empfindungen unsers Herzens anfangen und beschließen.« B, S. 155) erscheint in diesem Zusammenhang nicht nur als Adaptation einer Mode, sondern auch als Versuch einer - gegenüber dem ablenkenden Humor gesteigerten Selbsttherapie, die den Verlust der größten Seligkeit, nämlich der Empfmdungsfähigkeit, literarisch zu kompensieren suchte. Von daher gewinnen nun die Lehrdichtung und die >Geistlichen Oden und Lieder< der fünfziger Jahre unser besonderes Interesse. Aus lebensgeschichtlicher Perspektive stellen sie den Höhepunkt des Gellertschen Dichtens, nämlich seinen Versuch dar, die eigene Herzensstarrheit im Medium der Poesie zu überwinden und die dichterisch gestaltete Tugendhaftigkeit zugleich als Ausdruck der eigenen Herzens-Empfindung zu erweisen. An dem Lehrgedicht >Der Christx beispielsweise - einer Apotheose des Christentums als idealer Religion schlechthin (vgl. Kap. II 4 c) - habe er, schrieb Geliert an Borchward 1754, »neun Tage, ohne Aufhören,« »gearbeitet, alle Qvaal der Hypochondrie verläugnet, und, wie Gott weis, oft gebetet, daß ichs aus der Fülle eines redlichen u. absichtsvollen Herzens machen möchte.« (BW I, S. 176; vgl. ebda., S. 174) Geliert schrieb mit dem »Kopf« für sein »Herz«, um diesem die Erhabenheit der Religion fühlbar und damit das Gedicht auch zum Ausdruck seines frommen Herzens und »wahrer Empfindung« im Sinne Schlegels und Cramers (vgl. Kap. II 2 e) machen zu können. »Kein öffentlicher Tadel«, bekannte er gerade deshalb, »hat mich iemals empfindlicher gerührt, als die Critick
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der Götting. gelehrten Zeitung« (UNL, S. 23); denn diese hatte an den >Geistlichen Oden und Liedern< gerade das vermißt, worum Geliert am meisten gerungen hatte: die »heftigem und erhabenem Affecten« (BW II, S. 377). b) Das Wunderbare als das Natürliche - Gellerts Fabeln im Kontext der Poetik 1) Die Fabel erlebte zwischen 1740 und 1770 in Deutschland als Modegattung ihre Blütezeit (vgl. dazu Bd. V/2, S. 36f., 85ff.; Kap. II 3 b). Genau in diese Jahre fallt Gellerts Fabelproduktion. Die ersten 34 Fabeln publizierte er zwischen 1741 und 1744 in den Belustigungen des Verstandes und des WitzesFabeln und Erzählungen< mit 54 sowie 52 Texten. Wahrscheinlich noch vor 1750 (vgl. BW I, S. 176) verfaßte Geliert 15 weitere Erzählungen, die er 1754 in dem Band >Lehrgedichte und Erzählungen< veröffentlichte. Durch einen Raubdruck, der unbefugt und unverändert Gellerts frühe Fabeln aus den >Belustigungen< herausgebracht hatte, sah er sich veranlaßt, in seiner >Sammlung vermischter Schriften< von 1756 u. a. 22 weitere Fabeln zu veröffentlichen, von denen 14 Überarbeitungen aus den >Belustigungen< darstellen und acht neu, aber eben, wie Geliert betont, »vor vielen Jahren geschrieben« sind (zit. in 11.28 Schlingmann, S. 98). Im >Ersten Theil< seiner >Sämmtlichen Schriften< von 1769 gliedert Geliert sodann seine Fabeln und Erzählungen in drei Bücher: Die Bücher I und II bestehen aus den Sammlungen von 1746 und 1748, im dritten Buch faßt er die 15 und 22 Erzählungen von 1754 und 1756 zusammen (vgl. SS I, S. XLVII ff.). Weitere acht nachgelassene Fabeln - darunter sieben Bearbeitungen aus den >Belustigungen< - wurden 1856 publiziert (alle Texte in FE-HKA). - Theoretisch hat er sich hauptsächlich in drei Werken mit der Fabel auseinandergesetzt: in seiner Disputationsschrift >Dei poesi apologorum eorumque scriptoribus (1744); dt. >Von denen Fabeln und deren Verfassern, 1772); in der >Nachricht und Exempel von alten deutschen FabelnBeurtheilungen einiger Fabeln aus den Belustigungen (in der >Sammlung vermischter Schriften von 1756; alle Texte in STGF und neuerdings in PMAA, die Beurteilungen auch in FE). Die Forschung hat sich bislang kaum um die »in ihren Gedankengängen stark abhängige« Fabeltheorie Gellerts gekümmert (11.28 Behrend I,
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S. 10; Behrend arbeitet vor allem den Einfluß von La Mottes >Discourse sur la fable< von 1720 heraus; ebda., S. 5ff.). Lieber geht man von Gellerts poetologischen Fabeln aus, hebt daran die progressiven Momente Relativierung der Regeln und Betonung des Inspirationstopos - hervor (so bereits 11.28 May, S. 6ff.) und zitiert dazu vereinzelt Bemerkungen aus der Fabelabhandlung, wonach »gute Dichter« im Fabelschreiben »auch ohne Regeln gut fortgekommen« seien (II FV, S. 35) und es auch ein »natürliches Genie« zum Dichten gebe (so 11.28 Witte 1990a, S. 30ff.; Jung 1990, S. 115f.). Folgerichtig erscheint dann Geliert in seiner Fabelabhandlung als Anhänger Breitingers: »Bei Breitinger wie - ihm folgend - Geliert wird mit der Lehre des Wunderbaren der strikte Funktionalismus der Fabeldichtung abgemildert.« (11.28 Jung 1990, S. 116; so schon 11.28 Behrend I, S. 6). Erst der durch sein »Kränkeln« und seine »hypertrophe Frömmigkeit« beeinträchtigte Geliert sei mit seinen Überarbeitungen und der Kritik an seinen frühen Fabeln, die als besonders progressiv gelten (vgl. dazu 11.28 Witte 1990a, S. 37ff.), »wieder auf die klassische Aufklärungsdoktrin« zurückgefallen (11.28 Jung 1990, S. 119). Doch diese Sicht hält genauerer Prüfung nicht stand. Wo ist denn das Breitingersche >Wunderbare< in Gellerts Fabeln, die doch überwiegend und sehr funktional das Wahrscheinliche des gesellschaftlichen Alltags thematisieren? Vielmehr hat Geliert umgekehrt - wie im folgenden zu zeigen sein wird - der Kategorie des Wunderbaren eine ganz andere Deutungs- und Dichtungsdimension verliehen, die ihm zugleich den Bruch mit der Gottschedschen Poesieauffassung - und einen angeblichen späteren Rückfall in dessen Nähe - ersparte! 2) Doch beginnen auch wir mit der als so fortschrittlich gelobten poetologischen Fabel >Die Nachtigall und die LercheFables choisiersContes et Nouvelles en versFabIes Nouvelles . . . avec un discours sur la fableVersuch in poetischen Fabeln und ErzehlungenFabeln und Erzählungen< auf der einen Seite das Scherzen - wobei der Scherz den Zeitgenossen als der vergnügliche Bruder des »Witzes« galt, der dessen Erkenntnisvergnügen ein »Affektvergnügen« hinzugesellte und sich dadurch auch schon als Alternative zur »ratio« der Empfindsamkeit annähern konnte (vgl. IV Schüsseler, S. 45; Bd. V/2, S. 174) -, auf der anderen Seite statt der »heftigen« Gefühlslage des »pathos« die »sanfte Affektlage« des »ethos« mit den »anmutenden und erfreuenden Gefühlsbewegungen, deren angemessener Darstellungsstil auf die Evokation des Anmutenden und Angenehmen abgestellt ist und daher auch im Vergleich zum Pathos eine sehr viel subtilere Wirkung beim Publikum hervorruft (iucunditas)« (III Wegmann, S. 34; vgl. dazu auch Kap. I 2 d). Und gerade für diesen rhetorischen Paradigmenwechsel haben Person und Werk Gellerts als Vorbild fungiert (III Wegmann, S. 35). Auch für diese Tendenz steht programmatisch die Eingangsfabel mit der Beschreibung der Wirkung des Nachtigallengesangs: »Die Nachtigall sang einst mit vieler Kunst; Ihr Lied erwarb der ganzen Gegend Gunst, Die Blätter in den Gipfeln schwiegen, Und fühlten ein geheim Vergnügen. Der Vögel Chor vergaß der Ruh, Und hörten Philomelen zu. Aurora selbst verzog am Horizonte, Weil sie die Sängerin nicht gnug bewundern konnte. Denn auch die Götter rührt der Schall Der angenehmen Nachtigall; ...« (FE, S. 5)
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3) Der Ermöglichung eines Miteinanders rationaler und emotionaler Prinzipien und Intentionen diente auch Gellerts Disputationsschrift. In ihr definiert er Fabel als eine »kurze und auf einen gewissen Gegenstand anspielende Erdichtung, die so eingerichtet ist, daß sie zugleich ergötzet und zugleich nutzet« (FV, S. 11). Unter dieser weitläufigen Definition vermag er nahezu die gesamte Dichtkunst von den »großem Fabeln« wie dem »Trauerspiele und dem Heldengedichte« (ebda., S. 15/17) bis hin zur kleinen, nämlich der äsopischen Fabel zu subsumieren. Damit entspricht er sowohl dem umfassenden Gottschedschen Fabelbegriff (vgl. dazu Bd. V/2, S. 93) als auch dem Fabelverständnis Breitingers, für den »ein jedes lehrreiches Beyspiel, das eine nutzliche moralische Lehre künstlich verbirgt, den Nahmen einer Fabel« verdient, so daß er ein »Helden= Gedicht« als »eine prächtige und ausfuhrliche Fabel« und die äsopische Fabel - Geliert verweist selbst auf diese Stelle (FV, S. 17) - als »ein kleines und ins Kurze gefaßtes episches Gedicht« bezeichnet (II Breitinger CD I, S. 194f.). Daraus indessen folgt eine gegenläufige Bewertung der äsopischen Fabel. Gottsched widmet ihr nur ein kurzes Pflichtkapitel und qualifiziert sie darin als durch Zotentum und Possenreißerei gefährdetes »Mährlein« ab (II Gottsched CD, S. 436, 443ff.), eben weil die anderen wichtigeren Gattungen - vor allem das Drama - Wahrheit und Tugend sehr viel anspruchsvoller zu vermitteln vermögen. Bei Breitinger dagegen rückt die äsopische Fabel, die er als »ein lehrreiches Wunderbares« definiert (CD I, S. 166), nachgerade ins Zentrum der Poesie; denn sie vergnügt und lehrt wie die anderen Gattungen, nur wunderbarer, »regieret« im Gegensatz zur großen und »politischen« »epischen Fabel« »das gemeine bürgerliche Leben der Menschen« und kommt ihnen damit als vergnüglicher Spiegel und Lehrmeister besonders nahe (ebda., S. 198). Daß Geliert hier Breitingers Ansicht zuneigt, sagt er nicht in der Theorie, bestätigt er aber mit seinen Fabeln selbst, die mit ihren Stoffen und ihrer Moral ganz auf den Alltag vor allem der mittleren Schichten der Bevölkerung abzielen. Eben deshalb aber muß er für zwei Hauptprobleme dieser Gattung eine Lösung finden: für die breite Einbeziehung der Menschen als Handlungsträger und für die dadurch entstehende Gefahr des Verlustes an Wunderbarem. Gottsched unterscheidet im wesentlichen nach den handelnden Figuren die Tierfabeln als eigentliche >Fabeln< von den >Erzählungenwahrscheinliche< oder >menschliche Fabelvermischte Fabel< (CD I, S. 187f.). Geliert nun lehnt gleich zu Beginn seiner Fabel-Abhandlung eine Binnendifferenzierung der äsopischen Fabel rundheraus ab, weil die Unterteilungen »mehr dem Namen als der Sache nach von einander unterschieden sind«(FV, S. 11). 4) Dies hat weitreichende Konsequenzen für seine Fabeldichtung. Zwar markiert er im Titel der Tradition La Fontaines und Hagedorns entsprechend die beiden Gattungen der >Fabeln und ErzählungenBelustigungen< veröffentlichte, lassen sich immerhin noch 20 als Tierfabeln bezeichnen (Texte in FE-HKA, S. Iff.). Unter den insgesamt 143 >Fabeln< der drei Bücher seiner >Sämmtlichen Schriften< (1769) befinden sich dagegen nur noch 30 Tierfabeln (vgl. 11.28 Handwerck 1891, S. 5ff.). In den beiden verbreitetsten Sammlungen von 1746 und 1748 nimmt die Anzahl der Tierfabeln bereits deutlich ab: 14 sind es in der ersten und 8 in der zweiten Sammlung, wobei ihr Anteil jeweils vor allem am Anfang besonders hoch ist (8 bzw. 6 unter den zwanzig ersten Stücken): Offenbar sollen die Tierfabeln mit ihrer strukturellen Durchlässigkeit zur Verserzählung hin auf diese und ihr eigentliches Thema, das menschliche Verhalten, vorbereiten. Dies geschieht durch eine rigorose Vermenschlichung der Tiere, und zwar weit über die von der Fabelabhandlung gesetzten Grenzen hinaus. In der Theorie nämlich folgt Geliert dem auch von Gottsched, Breitinger und J. A. Schlegel (vgl. Kap. II 3 b) vertretenen Grundsatz, es sei ein Fehler, »wenn man denen Thieren in der Fabel etwas zuschreiben wollte, was
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ihnen außer der Fabel, nämlich in der Natur, widersprechen wurde« (FV, S. 25). Wenn die Tiere zu menschlich gestaltet würden, gehe die Ähnlichkeit, auf der das Vergnügen beruhe, gerade verloren (ebda., S. 27; vgl. Breitinger CD I, S. 200ff., 204f.). In der Praxis durchbricht Geliert diese Regel vielfältig, wie ein kurzer Blick auf die ersten Fabeln der Sammlung von 1746 zeigen mag. Die Eingangsfabel kann noch als gelungene »reine« Tierfabel mit >witziger< Applikation auf die Dichter gelten. Schon die zweite mit dem Titel >Der Zeisig< entpuppt sich aber als »Mischfabel«, ja eigentlich als »Menschenfabel«, weil der Zeisig und die Nachtigall nur als Demonstrationsobjekt für die Lehre dienen, daß ein kleiner Junge den Zeisig ob seines schöneren Aussehens auch für den besseren Sänger hält. Und das Epimythion zielt denn auch ganz ins »gemeine Leben«: »Sagt, ob man im gemeinen Leben / Nicht oft wie dieser Knabe schließt? / Wem Färb und Kleid ein Ansehn geben, / Der hat Verstand, so dumm er ist.« (FE, S. 7). Die dritte Fabel >Der Tanzbär< zeigt - typisch für Geliert - ein ganz und gar domestiziertes Tier, dem nicht sein eigener Charakter belassen, sondern ein menschenähnliches Verhalten andressiert wurde, und entsprechend menschlich verhalten sich auch seine Artgenossen, als er bei ihnen Zuflucht sucht: »Die Bären grüßten ihn mit brüderlichen Küssen, / Und brummten freudig durch den Wald.« Als der Bär erzählt, »Was er in fremden Landen / Für Abenteuer ausgestanden« und seine Tanzlektion vorführt, da »bewunderten« die »Brüder, die ihn tanzen sahn, / ... die Wendung seiner Glieder«, und erst, als sie seine Kunst zu imitieren suchen, aber daran scheitern, »verdrießt« sie seine Kunst, und sie jagen ihn fort: An dieser Fabel ist nichts >TierischesFabeln und Erzählungen< gewinnen die Tiere bei wiederholtem Auftreten keinen einheitlichen Charakter mehr,
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sondern illustrieren je nach >plot< unterschiedliche menschliche Verhaltensweisen (vgl. etwa die »finstere Fliege« und die »mutige Fliege« in FE, S. lOlf., 116f.; oder die »hochmütige« und die »kluge Spinne«; ebda., S. 51 f., 102). So illustriert >Das Füllern jugendliche Ungeduld, indem es sich, von »Ehrbegierde« getrieben und vom schönen Zaumzeug verführt, vorzeitig seiner Freiheit begibt (FE, S. 12f.). Wo die Tiere so menschlich sind, sind die Menschen entsprechend tierisch: Genau dies und damit die prinzipielle Austauschbarkeit lehrt die auf das >Füllen< folgende Verserzählung >ChlorisMetamorphosen< Ovids, wo die Verwandlung von Mensch in Tier häufig eine >Rettung< in einen anderen Existenz- und Aggregatzustand bedeutete, ist die in satirischer Absicht erfolgte Mutation der Chloris nur die Demonstration für die allegorische Austauschbarkeit der Bereiche von Mensch und Tier und damit für die Funktionalisierung der Tierwelt zum eindimensional-identifikatorischen Spiegel der menschlichen Gesellschaft (vgl. dazu auch 11.28 Witte 1990a, S. 37ff.). Und dies wird nun vice versa noch dadurch unterstrichen, daß in der nächsten Tierfabel >Der Fuchs und die Elster< der menschliche Bereich als »comparatum« für das »tierische« Verhalten herangezogen wird: »So wie ein weiser Arzt, der auf der Bühne steht, Und seine Künste rühmt, bald vor, bald rückwärts geht, Ein seidnes Schnupftuch nimmt, sich räuspert, und dann spricht: So lief die Elster auch den Ast bald auf, bald nieder, Und strich an einem Zweig den Schnabel hin und wieder, Und macht ein sehr gelehrt Gesicht.« (Ebda., S. 17)
In der strophischen Tierfabel >Der Hund< ist das tierische Verhalten und Reden so menschlich, daß beide Bereiche im Wortlaut nahezu zur Dekkung gelangen: Es muß kaum noch ein Wort ausgetauscht werden, um die Tierfabel zugleich als >Menschenfabel< zu lesen: »Ach! rief Phylax, Pantelon! Ists nicht wahr, ich sterbe schon? Hätt ich nur nichts eingenommen, war ich wohl davongekommen. Sterb ich Ärmster so geschwind: O! so kannst du sicher schreien, Daß die vielen Arzeneien Meines Todes Quelle sind.« (Ebda., S. 30)
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Indem die Tiere so un-wahrscheinlich menschlich sind, verliert die Tierfabel die ihr von Breitinger zugesprochene Haupteigenschaft: das Wunderbare. Sie verliert also unter der Kategorie des Wahrscheinlichen im Grunde ihre gattungsspezifische Besonderheit und wird deshalb von Geliert auch folgerichtig weitgehend durch die Verserzählung der >Menschenfabek ersetzt. 5) Aber wo bleibt dann das Wunderbare, dessen Bedeutung Geliert mit Breitinger in einem eigenen Kapitel seiner Fabelabhandlung als konstitutiv für die Fabel betont (vgl. FV, S. 3Iff.)? Für den Schweizer ist das Wunderbare als die »ausserste Staffel des Neuen« im wesentlichen inhaltlich bestimmt und verhilft der durch Fiktionalität definierten Poesie zum höchsten Maß der Bewunderung, wenn es die Wahrheit »im unbetrüglichen Schein des Falschen und Widersprechenden« darstellt (CD I, S. 129f.). Geliert dagegen stuft das Wunderbare inhaltlich auf etwas Neues, »etwas unerwartetes und großes« herab CFV, S. 33) und verschiebt den Begriff zugleich - das ist für seine Position entscheidend vom Was auf das Wie des poetischen Erzählens, auf Struktur, Stil und »decorum«: »Es ist daher offenbar, daß das Wunderbare, Unerwartete und Neue oft bloß in der geschickten Vereinigung kleiner Nebenumstände bestehe, welche, wenn man sie einzeln betrachtet, von wenig Erheblichkeit sind, wenn sie aber beysammen stehen, und auf eine einzige Absicht gerichtet sind, vieles zum Nachdruck der Fabel beytragen, und nicht selten ihr Leben und ihren Glanz verursachen.« (Ebda.) Dieser Satz charakterisiert die Fabel-Praxis Gellerts am treffendsten und erklärt zugleich, warum er im nachfolgenden Kapitel der Abhandlung (>Von der Uebereinstimmung der Fabel mit ihrer MoralVon dem Schmucke der Fabel< handelt, eben weil das Wunderbare im wesentlichen in Stil und Form zur Geltung zu kommen hat (ebda., S. 45ff.): Neben dem »guten Vers« hebt Geliert vor allem die Bedeutsamkeit der Beschreibungen hervor; denn von ihnen hängt das »Vergnügen« im Sinne der vorwiegend emotionalen (empfindsamen) Wirkung ab: »so folgt, daß sie angenehm, niedlich und mit einem gewissen Salze müssen abgefasset werden«, ebda., S. 47/49; vgl. dazu die zitierte Beschreibung des Nachtigallengesangs). Wichtig sind Geliert sodann die Vergleiche, »welche zum Scherze beygebracht werden, und gemeiniglich die Sache vergrößern, indem ein kleinerer Gegenstand mit einem großem verglichen wird« (wie die zitierte Elster mit einem Arzt; ebda., S. 49).
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Ferner erwähnt er kurz eingestreute Lehren und als wichtiges Verschönerungsmittel »die Kunst sich auszudrucken« (ebda., S. 51/53). Das Wunderbare in Form und Stil besteht nun aber gerade nicht in der Verwendung außergewöhnlicher Mittel oder in übertrieben-überladenem »Schmuck«, sondern umgekehrt in der Erwartung, daß »die Schreibart der Fabel« »leicht, fließend und nicht gesucht, sondern von sich selbst entstanden sey«, so daß die poetischen Mittel »gehörig versteckt« werden müssen, denn schließlich schreibt der Dichter nicht nur für »witzige Leute«. Auch wer die Schönheiten nicht erkennt, soll doch von ihnen bewegt werden (ebda., S. 53/55). Wunderbar also ist eine Fabel, die in sich wahrscheinlich und deshalb stimmig, ungekünstelt von daher einfach, naiv und somit natürlich erscheint! Im Kontext der traditionellen Poetik und ihrer Begrifflichkeit sowie orientiert an den widerstreitenden Positionen Gottscheds und der Schweizer zielt Geliert, ohne den Boden eines rationalistischen Dichtungsverständnisses zu verlassen, doch schon auf das neue Ideal eines natürlich-organischen Literaturbegriffs hin. 6) Die rationalistische Komponente wird vor allem in den zahlreichen Überarbeitungen der Fabeln und Erzählungen deutlich, in denen sich zugleich die Entwicklung des Autors spiegelt. Die Fabeln der >BelustigungenBeurteilungen< einer pedantisch-gnadenlosen Kritik unterzogen und ihnen dabei insbesondere »das Müßige, Undeutliche, Weitläufige und Gereimte«, den Strophenzwang, fehlende Anmut und Schönheit, Unwahrscheinliches in der Tierdarstellung, eine zu gestelzte Sprache (»Sie ist zu trocken und schwerfällig. Sie ist nicht munter, nicht naiv«) sowie grundsätzlich fehlende Leichtigkeit und Natürlichkeit vorgeworfen (»Wo ist wiederum das Natürliche und Leichte, das in der Kunst zu erzählen so gefällt; das die Seele der Erzählung, das die Nachahmung des schönen Dialogischen ist?« BFB, S. 161, 187, 192). Tatsächlich gelingen Geliert mit den späteren Fassungen beträchtliche Fortschritte im Sinne der zitierten Kriterien (ein tabellarisches Verzeichnis von Gellerts Überarbeitungen in FE-HKA, S. XLVIII f.). Nur fünf überarbeitete Versionen aus den >Belustigungen< nahm er in die erste Sammlung von 1746 auf (in die zweite keine; vgl. 11.28 Handwerck 1904, S. 5f.; exemplarische Untersuchungen der Überarbeitungen in 11.28 Handwerck 1891, S. 7ff.; Schlingmann, S. 99ff.; Wittel990a, S. 37ff., 40ff.). So weht in den >Beurteilungen< auch kein anderer Geist als in der Fabelabhandlung oder in den FabelSammlungen der vierziger Jahre. Wohl aber gibt es eine Entwicklung des Autors, die es ihm nahelegt, in den fünfziger Jahren keine neuen Fabeln
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mehr zu schreiben, sondern seine Überzeugungen nunmehr in dafür geeigneteren Gattungen auszusprechen. Die Ansätze zu dieser Entwicklung zeigen sich bereits in den Sammlungen von 1746 und 1748. Sie entstehen aber nicht aus poetologischen, sondern - wie sich nun zeigen soll - aus weltanschaulichen Akzentverschiebungen. c) »Scherz« und »Empfindung« in den >Fabeln und Erzählungen< l) Beide Sammlungen der >Fabeln und Erzählungen< (1746/48) durchzieht ein auffälliger Gedichttyp, den man als »pointiertes Erzählgedicht« etikettiert hat (11.28 Schlingmann, S. 112). Er ist meist in jener strophischen Form (mit jambischem Vierheber) gestaltet, die auch die Hälfte der frühen Fabeln aus den >Belustigungen< aufweist. Diese Gedichte bauen eine Erwartung auf, die dann »im letzten Moment komisch enttäuscht« wird (ebda., S. 112). Sie belegen damit am auffälligsten das durchgängige, eher rationale Element des »Scherzens« in den >Fabeln und Erzählungen^ Das folgende Beispiel stammt noch aus dem Anfang der ersten Sammlung: »Der Greis Von einem Greise will ich singen, Der neunzig Jahr die Welt gesehn. Und wird mir itzt kein Lied gelingen: So wird es ewig nicht geschehn. Von einem Greise will ich dichten, Und melden, was durch ihn geschah, Und singen, was ich in Geschichten, Von ihm, von diesem Greise sah. Singt, Dichter, mit entbranntem Triebe, Singt euch berühmt an Lieb und Wein! Ich laß euch allen Wein und Liebe, Der Greis nur soll mein Loblied sein. Singt von Beschützern ganzer Staaten, Verewigt euch und ihre Müh! Ich singe nicht von Heldentaten, Der Greis sei meine Poesie. O Ruhm, dring in der Nachwelt Ohren, du Ruhm, den sich mein Greis erwarb! Hört, Zeiten, hörts! Er ward geboren, Er lebte, nahm ein Weib, und starb.« (FE, S. llf.)
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Das »Scherzen« bezieht sich freilich nicht nur auf die Schlußpointe, sondern durchzieht das Lied von Anfang an. Dieses spielt mit seiner Form und Tradition, nämlich dem »Loblied« (Z. 12), hier >bei Gelegenheit des 90. Geburtstags eines Greises. Ganz in der Art - aber eben nicht im hohen Stil - eines enkomiastischen Casualcarmens orientiert sich das Lied - gleich eingangs die Absicht des Laudators hyperbolisch ad absurdum führend (und vom Ende her zusätzlich ridikülisierend) - an den damals noch jedem Dichter geläufigen Schemata der »inventiones«, mit deren Hilfe die Autoren den Stoff für die zu preisende Person zusammensuchten (hier vor allem Alter, Lebenszeit, Taten und Geschichten; vgl. dazu IV Segebrecht, S. 137), aber statt der inhaltlichen Füllung bleibt es bei der Ankündigung eines dispositorischen Gerüsts. Solch ironisches Spiel mit der panegyrischen Form hat in der Enkomiastik selbst bereits eine reiche Tradition, und das Wissen darum steigert bereits das Vergnügen an der zu erwartenden Pointe. Doch diese wird verzögert und gesteigert durch die satirisch-imitatorische Evokation des Gegensatzes in Gestalt der »Lieb und Wein« und damit zugleich die Jugend verherrlichenden Poeten, wobei der »entbrannte Trieb« doppeldeutig einerseits auf den Inspirationstopos - und damit die Tradition der horazischen Ode - und zugleich auf den sinnlichen Genuß - und damit auf die anakreontische Mode der Zeit - anspielt und so beide gegeneinander ausspielt. Die vorletzte Strophe kehrt - den Höhepunkt vorbereitend - zur enkomiastischen Tradition zurück und grenzt sich gegenüber der öffentlichen Panegyrik im hohen Stil auf Staatsmänner und »Heldentaten« ab. Die Pointe der Schlußstrophe schließlich spricht nun den öffentlichen »Ruhm« gerade der Banalität des ereignislosen »einfachen Lebens« zu. Damit endet das Gedicht mit dem (un-)erwarteten Scherz. Es scheint so, als erschöpfe sich der Sinn dieser Gedichte im Schmunzeln über die Pointe. Indessen diese ist im vorliegenden Exempel zwiespältig. Denn wer über die Banalität des Greisenlebens als Gegenstand des »Loblieds« lacht, der hat zuvor bereits - im Einverständnis mit dem Lied - das Gegenteil, die >große< Enkomiastik auf Jugend und Heldentaten, ebenfalls verspottet. Also wäre der Schluß ein ernster Scherz, ein Bekenntnis, das sich nur in der Verkleidung der Komik zu artikulieren wagt? In der Tat singt Geliert in seinen >Fabeln und Erzählungen< das Hohelied auf das einfache Leben, das sich in der geordnet-tugendhaften und daher auch für die Gesellschaft nützlichen Alltäglichkeit erfüllt. Deshalb beherrschen gerade die Allerweltssünden seine >Fabeln und Erzählungenzärtlichen Frau< für ihren sterbenskranken Mann ausführlich bis zu ihrem Wunsch an den Tod steigert, für ihren Mann zu sterben, und sie dann beim Erscheinen des Todes Verrat begehen läßt an sich, ihrem Mann und den empfindsamen Tendenzen dieser Verserzählung (FE, S. 48f.)! Ebenso, wenn er im >Unglück der Weiber< deren heroischen Einsatz für das Leben ihrer Männer lächerlich macht, weil sie aus Kummer, keinen Schmuck mehr tragen zu dürfen, sterben (ebda., S. 92ff.; vgl. dazu 11.28 Martens 1983 b). So, wenn er eine >glückliche Ehe< schildert, die nur deshalb so vorbildlich war, weil sie nur acht Tage dauerte (FE, S. 98), oder wenn im >beherzten Entschluß< ein zum Tode verurteilter Soldat, den eine ältere Jungfer aus Mitleid und Liebe heiraten und damit vor dem Sterben bewahren will, beim Anblick der Retterin doch lieber den Tod wählt (ebda., S. 143f.): ein altes Schwankmotiv, zu dem Geliert nichts Besseres einfällt, als die hehren Regungen von Gefühl und Tugend zu verspotten (»Auf einmal fühlte sie die Triebe / Des Mitleids und der Menschenliebe«; ebda., S. 144; weitere Beispiele ebda., S. 77f; 85f., 94f. u. ö.). Und immer wieder sind es die Frauen, die bloßgestellt werden - was Geliert selbst später bedauerte, aber mit der Gattung glaubte entschuldigen zu können (vgl. dazu 11.28 Martens 1983 b, S. 188f.; Koch, S. 94f.): ein wenig überzeugendes Argument, wenn man bedenkt, wie rigoros er die Fabeltradition für seine Zwecke auch zu verändern wußte. Vielleicht spielen hier auch Geschmacksunsicherheiten des Melancholikers und Junggesellen Geliert eine Rolle, jedenfalls verscherzt er mitunter seine Pointen: »So gilt ein bißchen Witz mehr als ein gutes Herz.« (FE, S. 65) 2) Daß Geliert viel gekonnter, weil hintergründiger und beiläufig plaudernd zu scherzen verstand, sei am folgenden Beispiel gezeigt. Dieses steht zugleich für jenen Typ der komisch-satirischen freien Verserzählung, in der ihm seine besten Stücke gelungen sind (den Stoff für die folgende Erzählung entnahm er wie häufig sonst auch einer Vorlage, vgl. dazu die Quellenangaben Gellerts zu einzelnen Fabeln und ErzählungenBelustigungen< aus strophischen Formen, so die andere aus unstrophischen Alexandrinerversen. Den Alexandriner empfand Geliert selbst später als zu einförmig und steif, zu wenig beweglich im Sinne eines »Mitausdrucks« der Handlung. Deshalb ging er zu freieren Vers- (und Reim-)folgen über - wie im vorliegenden Fall, bei dem der Alexandriner zwischen den vier- und fünfhebigen Jamben seine Strenge verliert und nur dort gehäuft erscheint, wo er das »strenge« Schlußfolgern der Tochter (in Strophe 2) und ihr trotzigentschlossenes »Pochen« »untermalen« soll (Strophe 4), wobei die anschließende Verkürzung der Verse zu Vierhebern die Antwort der Tochter als Pointe wirksam heraushebt und zugleich die genannte kurze Zeitspanne sinnenfällig macht. So gewinnt die Erzählung gegenüber einer
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Prosaversion durch die poetische Form an »Schmuck« hinzu, ohne daß sich dieser aufdringlich zur Geltung brächte; das gilt auch für die unauffälligen, aber nicht unwirksamen Reime. Das Erzählen selbst ist einerseits knapp, hat aber Platz für charakterisierende Adjektive, Wort- und Fragerepetitionen, die ebenso der Verlebendigung und Annäherung an die gesprochene Sprache dienen wie die direkte Rede im Monolog der Tochter, in der Verteidigung des Vaters und der Antwort der Tochter sowie im abschließenden Dialog zwischen Leser und Erzähler. Diese Partien ersetzen weitgehend die von Geliert in der Fabelabhandlung noch für wichtig gehaltene Beschreibung. Gut gelungen auch die kurze psychologische Motivierung und die Charakterisierung der Personen, die zum Teil direkt erfolgt (der ablehnende, aber geschmeichelte Vater, dessen Einladung den Freund neu hoffen und die Tochter den Zweck des Besuchs erraten läßt). Wie in einem Drama werden die Hauptfiguren in verschiedenen Strophen als expositorischen Kurzakten eingeführt, wobei der >Vater-Brautwerberhandlung< die erste und dritte, der >Fickchen-Handlung< die zweite und vierte Strophe zugeteilt sind und letztere zugleich alle zum »Finale« zusammenführt. Dadurch, daß die Tochter in der zweiten Strophe nicht wie der Vater - beschrieben, sondern denkend vorgeführt wird, darf der Leser in Unkenntnis ihres Alters auf eine aufgeweckte Person »mit Köpfchen« schließen, und als der Vater seine Ablehnung mit ihrem Alter begründet (»Sie ist zu jung; sie ist erst vierzehn Jahre«), ist die Angelegenheit noch keineswegs entschieden. Dies übrigens auch nicht im Blick auf die damalige Heiratsfähigkeit, denn eine Vierzehnjährige galt tatsächlich bereits als eine »mannbare Weibsperson«, im allgemeinen aber wartete man mit der Heirat noch einige Jahre (vgl. III van Dülmen, I, S. 134ff.). So bringt also erst der überraschende, vorlaut-unbeherrschte Auftritt Fickchens mit der wahrhaft kindlichen »Korrektur« ihrer Altersangabe für den verständigen Leser die Bestätigung für das Urteil des Vaters (wobei das »Schreien« in Gellerts Fabeln durchweg Kennzeichen der Unreife ist). Folgte das Gedicht bis hierher noch der »Pointenstruktur«, ohne diese allerdings explizit zu machen, so schließt sich nun der Leser-Erzähler-Dialog an, wobei die Frage nach dem Ausgang der Geschichte diejenige nach ihrer vielsinnigen Moral (unbedachter Selbstverrat, Gehorsamspflicht, Heiratsfähigkeit u. a.) unausgesprochen miteinschließt. Durch das Verschweigen seines Urteils und des Ausgangs der Handlung provoziert der Erzähler die Leserfrage und gibt in seiner verzögerten Antwort »aufrichtig«, in Wahrheit augenzwinkernd mit Verweis auf die Partei der neugierigen Leserinnen in Fickchens Alter die von diesen erwartete, aber eben un-wahrscheinliche, weil unvernünftige Lösung zum besten: »Der Vater schämte sich und ließ die Tochter frein.« Nochmals
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eine Pointe, welche die Erzählung zwar beendet, aber das Nachdenken über sie erst recht herausfordern will (die Erzählungen Gellerts wurden ja häufig im Familienkreise vorgelesen, wie eine Reihe von Briefen an ihn bezeugt). Gellerts poetische Meisterschaft zeigt sich vor allem in diesen leicht, lebendig und natürlich gestalteten Genregemälden (weitere Kabinettstückchen dieser Art sind u. a. >Die Betschwester^ >Der ProzeßSelindeDer MalerDer junge Dreschen, >Der Kandidat^ >Die Bauern und der AmtmannMoralischen Vorlesungen in Verse um (vgl. Kap. II l f-4): »Freund, wer ein Laster liebt, der liebt die Laster alle. Wer ein Gesetz der Tugend übertritt, Entheiligt in dem einen Falle Im Herzen auch die ändern mit. O merk es doch, noch unschuldsvolle Jugend, Ich bitte dich, o merk es dir! Es gibt nicht mehr als eine Tugend, Und als ein Laster neben ihr. So oft dus wagst, nur eins von den Gesetzen Weil es dein Herz verlangt, mit Vorsatz zu verletzen: So schwächst du aller Tugend Kraft, Und bist bei hundert guten Taten, die Hoffnung oder Furcht, Ruhm und Natur dir raten, Vor Gott und der Vernunft doch völlig lasterhaft.« (FE, S. 119f.)
Und als Beleg und Warnung zugleich erzählt Geliert anschließend ausführlich die blutrünstige Geschichte von der Enthauptung Johannes des
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Täufers (vgl.Mk.6,17-29). Als »verworfenste Leidenschaft« prangert Geliert wie in den Moralischen Vorlesungen< die »Wollust« an (MV, S. 183f., 202; vgl. dazu 11.28 Koch, S. 82ff., 88). Einen Triumph der Empfindsamkeit stellt die Erzählung >Das neue Ehepaar< dar. Wegen einer Erbschaftsangelegenheit muß der Mann seine Frischangetraute verlassen (»Wie weinen sie vor Zärtlichkeit!«), und ihr, die ihn mit ihrer Freundin schon sehnsuchtsvoll am Strand zurückerwartet, wird er plötzlich als Leiche vor die Füße gespült. Das ist wahrhaftig rührselig ausgemalt, und das Epimythion verkündigt das Credo der Empfindsamkeit: »Beweint, ihr mitleidsvollen Seelen, Die traurigste Begebenheit Elend gewordner Zärtlichkeit, Und schmeckt das Glück, um andre sich zu quälen. Laßt uns die Unschuld oft im größten Unglück sehn, Und leidet mit bei fremden Schmerzen; Dies Mitleid heiligt unsre Herzen, Und heißt die Menschenlieb in uns ihr Haupt erhöhn. Die Tugend bleibt uns noch im Unglück selber schön.« (Ebda., S. 139)
In der Erzählung >Alcestbarock< denn aufklärerisch -, ein tugendhaftes Leben im Zeichen des »memento mori« zu führen:
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II. Neologie und Empfindsamkeit
»Was, sprach er, will ich mich denn quälen? Kann mich der Tod so bald entseelen, Was nützt mir alles Glück der Welt? Um froh zu sterben, will ich leben. Der Herr, der alles Fleisch erhält, Wird mir, so viel ich brauche, geben. Ihm wert zu sein, der Tugend nachzustreben, Dies sei mein Kummer auf der Welt.« (Ebda., S. 155)
Das Ganze liest sich wie ein bis in die Einzelheiten der Lebensumstände, des Charakters, der Gefühlslage und Lehre stimmiges Selbstporträt des Autors. Doch gerade weil sich hier Gellerts ureigene Überzeugung kundtut, lehrt diese Verserzählung auch und vor allem: Zur Verkündigung dieser Maximen waren Fabeln und Erzählungen denkbar ungeeignet. Seine idealistisch-empfindsamen Erzählungen sind in der Tat »am schwächsten« (11.28 Schlingmann, S. 123). Geliert hat dies wohl selbst bemerkt, jedenfalls nach Erscheinen der zweiten Sammlung keine nennenswerten Fabeln und Erzählungen mehr verfaßt, sondern im wesentlichen nur noch seine früheren überarbeitet, und er hat sich für die Lehren des Alcest die geeigneteren Gattungen gesucht: die Lehrdichtung und das geistliche Lied! 4) Für diese Deutung spricht auch, daß er seine zweite Fabelsammlung nicht mit dem >Alcest< beendet, sondern mit einer >vermischten< Fabel, in der Tier und Mensch, Scherz und Empfindung eine geglückte Verbindung eingehen. Als poetologische Fabel korrespondiert sie mit der Eingangsfabel der ersten Sammlung. In beiden geht es um die Qualität des Singens, doch während in der ersten noch der »Witz« die »imitatio naturae« lehrt, setzt die Nachtigall am Ende - darin die leichte Akzentverschiebung der zweiten Sammlung aufgreifend - nur noch auf die Macht des Gefühls: »Die Nachtigall und der Kuckuck Die Nachtigall sang einst ihr göttliches Gedicht, Zu sehn, ob es die Menschen fühlten. Die Knaben, die im Tale spielten, Die spielten fort und hörten nicht. Indem ließ sich der Kuckuck lustig hören, Und der erhielt ein freudig Ach. Die Knaben lachten laut, und machten ihm zu Ehren Das schöne >Kuckuck< zehnmal nach. Hörst du? sprach er zu Philomelen, Den Herren fall ich recht ins Ohr. Ich denk, es wird mir nicht viel fehlen, Sie ziehn mein Lied dem deinen vor.
4) Tugendängstlichkeit (Geliert)
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Drauf kam Damoet mit seiner Schöne. Der Kuckuck schrie sein Lied. Sie gingen stolz vorbei. Nun sang die Meisterin der zauberischen Töne Vor dem Damoet und seiner Schöne, in einer sanften Melodei. Sie fühlten die Gewalt der Lieder. Damoet steht still und Phyllis setzt sich nieder, Und hört ihr ehrerbietig zu. Ihr zärtlich Blut fängt an zu wallen; Ihr Auge läßt vergnügte Zähren fallen. O, rief die Nachtigall, da, Schwätzer, lerne du, Was man erhält, wenn man den Klugen singt. Der Ausbruch einer stummen Zähre Bringt Nachtigallen weit mehr Ehre, Als dir der laute Beifall bringt.« (FE, S. 159)
Auch diese Fabel ist ein kleines Meisterwerk. Das gilt bis in die Behandlung der Vers- und Lautstruktur. Der Alexandriner etwa wird nicht nur im Ensemble der vier- und fünfhebigen Jamben pointierend eingesetzt, sondern auch je nach Situation selbst ganz unterschiedlich behandelt. In Zeile 2 der zweiten Strophe erscheint er mit der obligatorischen Zäsur, um den Kontrast zwischen dem Kuckuck und dem achtlosen Liebespaar zu verdeutlichen, und die Dominanz der einsilbigen Wörter und Verschlußlaute unterstreicht das Abgehackte des Vogel-Rufs. Der nachfolgende Alexandriner dagegen (»Nun sang die Meisterin der zauberischen Töne«) überbrückt die Zäsur melodisch, und sanfte Sonanten unterstreichen den bezaubernden Gesang der Philomele. Hübsch und realitätsnah ist auch der Einfall mit den spielenden Knaben, welche die Nachtigall überhören, aber den lustigen Kuckuck »freudig« imitieren, woraufhin dieser sie geschmeichelt als »Herren« tituliert, sein Selbstlob damit erhöht und doch gerade seine Beschränktheit und Torheit verrät. Das »Lachen« selbst unterliegt, wie es scheint, als kindlich und beschränkt markiert, der Evokation des Gefühls. Und doch ist die tiefgründige »stumme Zähre« auch hier nur als Kontrast zum lustigen Kuckuck erträglich. Insofern spiegelt und rechtfertigt diese Schlußfabel das »Scherzen« auch wiederum als jenes »Salz«, das die >Fabeln und Erzählungen< insgesamt erst »genießbar« macht. Der »laute Beifall«, der Gellerts Sammlungen zuteil wurde, wäre sicherlich nicht möglich gewesen, wenn dieser darin nicht auch den »lustigen Kuckuck« hätte seine Rolle spielen lassen!
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II. Neologie und Empfindsamkeit
d) Selbstgenuß des frommen Herzens - die Moralischen Gedichte< l) Unter dem Titel >Moralische Gediehte< hat Geliert vier Lehrgedichte in Alexandrinerversen und die beiden strophisch konzipierten Lehr-Oden >Die Freundschaft und >Der Ruhm< im >Zweyten Theil< seiner >Sämmtlichen Schrifften< von 1769 zusammengestellt (vgl. zu diesen Gedichten auch III Mauser 1989, S. 65ff.). Die vier Lehrgedichte waren schon früher erschienen: >Der Menschenfreund< im Anhang seiner Fabelsammlung von 1748 (eine frühe Fassung bereits 1743 in den >BelustigungenReichthum und EhreDer Christ< sowie >Der Stolz< (in dieser Reihenfolge) in den >Lehrgedichten und Erzählungen< von 1754 (vgl. 11.28 Kasper, S. 100, 104; diese Gedichte - mit Ausnahme von >Der Stolz< - auch in W-1979 I, S. 311-340, zugänglich). Dabei ist das Lehrgedicht neben der Fabel die zweite poetische Modegattung der Aufklärung (vgl. Bd. V/2, S. 32ff., 76ff.). Daß Geliert seine Lehrgedichte zusammen mit >Menschenfabeln< erscheinen ließ, ist daher kein Zufall, und er nutzte die Möglichkeit, die Lehren des >Alcest< in einer dafür geeigneteren poetischen Gattung wiederzugeben. Allerdings vermochte er deren Geschichte kein besonderes Glanzlicht aufzustecken (vgl. dazu auch 11.28 May, S. 56). Gegenüber der grübelnden, vieldeutigen und zugleich bildmächtigen Gedankentiefe und Ergriffenheit des auch von Geliert hochgeschätzten Haller (vgl. BW I, S. 273), der die Poesie zum Organ seiner Glaubens- und Aufklärungszweifel erhob (vgl. Bd. V/2, S. 128ff.), fallen die Lehrgedichte des Leipziger Professors als Medien zur Bekämpfung seiner Zweifel häufig in den Predigerton unerschütterbarer Wahrheitsverkündigung und behandeln ihre Themen nahezu aufsatzmäßig und dispositorisch stereotyp. Nur die zur Illustration verschiedenen moralischen Verhaltens eingestreuten »Charakterporträts« (zu deren Poetik vgl. II Bodmer KBGD, S. 363ff., 385ff.), die sie »passagenweise in Fabeln für Intellektuelle« verwandeln (11.28 Kasper, S. 101), lockern mit ihren Beschreibungen den Gedankengang ab und zu etwas auf, und dabei gelingen dem Autor sogar ein paar Kabinettstückchen psychologischer Analyse - so wenn er im folgenden den >Stolz< im Gewände der Höflichkeit und Demut beschreibt: »Sieh jenen Hoflichen; mit welcher Freundlichkeit Bemerkt er unsern Wunsch! Er schenkt uns seine Zeit, Schleicht sich in unser Herz, und sucht, und lernt in allen, Der Künste schwerste Kunst, jedwedem zu gefallen. Sich selber ist er nichts, und alles sind wir ihm; Doch seine Höflichkeit ist stolzer Ungestüm Und ein Befehl für uns, ihn doppelt hoch zu achten, Weil er so gütig war, nicht laut uns zu verachten.
4) Tugendängstlichkeit (Geliert)
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Sieh die Bescheidne dort. Ihr Gang, ihr Blick, ihr Ton Ist Demuth; lobe sie, und sie errothet schon. Sie giebt der Schönheit Ruhm erschrocken dir zurücke. Und widerlegt ihn noch durch lobenswerthre Blicke, Verringert ihren Werth, der sich dein Lob gewann, Damit sie dir beweist, wie schon sie denken kann, Und wird zuletzt vor dir der Demuth Tränen weinen, Aus Stolz, was GOttlichers, als Andre sind, zu scheinen.« (MG, S. 58f.)
Mit dieser >malerischen< Imaginationstechnik (»Sieh jenen Hoflichen«, »Sieh die Bescheidne dort«) folgte Geliert dem verbreiteten rhetorischen Prinzip der optischen Vergegenwärtigung einer Person oder Sache um der Gefühlsintensivierung willen (vgl. Kap. II 2 b-1), das er auch in seinen >Moralischen Vorlesungen< mit Nachdruck empfohlen und in seinen Prosa-Charakterporträts selbst genutzt hatte (vgl. MV, S. 92ff. u. ö.; vgl. auch MC). Auch Moses Mendelssohn empfahl dies Verfahren in seiner Theorie der Empfindungen als »anschauende Erkenntnis« im Sinne der Leibniz-AVolffschen Schulphilosophie: »Je größer eine Vollkommenheit ist, desto mächtiger ist auch der Trieb, ihrer habhaft zu werden.« (II Mendelssohn R, S. 157; vgl. ebda., S. 162ff.; ebda., S. 164, der Verweis auf die Fabel). Gellerts Entwürfe vorbildlichen moralischen Verhaltens (und ihres Gegenteils) wären in diesem Kontext als poetisches Korrelat zu den >Moralischen Vorlesungen^ die sich ohnehin als beredter Kommentar zu ihnen erweisen, Einübungen in die Sittenlehre. Allerdings verleiht der gravitätische Alexandriner auf die Dauer - im Umfang von 60 Seiten - den Lehrgedichten eine dem vorherrschenden Verkündigungsgestus entsprechende allzu invariable Form, und man vermißt die Beweglichkeit der Versbehandlung aus den >Fabeln und Erzählungen^ Geliert war selbst unglücklich darüber und erwog deshalb, für die Ausgabe 1754 »die Erzählungen unter die Lehrgedichte« zu »mengen«, »so würde das Einförmige vielleicht dadurch etwas verdeckt« (BW I, S. 170). Doch unterließ er dies, ordnete die Gedichte aber auch nicht in chronologischer Folge (der nach dem »vor wenig Tagen gemachten« >Christ< plazierte >Stolz< sei »schon ein Paar Jahr alt«, schreibt er im Januar 1754: BW I, S. 169; vgl. ebda., S. 174). Eine Interpretation der Lehrgedichte in chronologischer Folge läßt, wie es scheint, ein Abrücken von aufklärerischen Idealen und eine Anerkennung der Über-Macht christlicher Offenbarung erkennen (vgl. 11.28 Kasper). Trotz alledem sind die >Moralischen Gedichte< von hohem Interesse; denn Geliert entwirft - von Kasper nicht wahrgenommen - in ihnen das Tugendideal der Empfindsamkeit, und zwar gerade in der Spannung zwischen aufklärerischem Autonomiestreben einerseits und Rückbindung an
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H. Neologie und Empfindsamkeit
die christliche Tradition andererseits, wie sie auch die Moralischen Vorlesungen< bestimmt, deren Entstehungsphasen leider nicht genau zu rekonstruieren sind. Aber auch dort steht die Moral der Vernunft sachlich am Anfang und wird dann durchlässig zu - und überhöht von - der christlichen Moral (vgl. Kap. II l f)· Was sich in der publizierten Form der >Vorlesungen< in Übereinstimmung mit der neologischen Tugendlehre als Harmonie zwischen natürlicher und geoffenbarter Moral erweist, zeigt in den moralischen Gedichten vor allem bei der von Geliert gewählten und deshalb im folgenden auch beachteten Reihenfolge der Gedichte noch eine deutliche Spannung. 2) Im Kontext des anthropozentrischen Interesses der Aufklärung, aber auch des Pietismus und der Neologie (vgl. Bd. V/l, S. 48f.; Kap. II l b) konzentriert sich Geliert auf den Entwurf eines Menschenbildes, das seine Identität und Überzeugungskraft nicht primär aus der Gebundenheit an weltanschauliche Doktrinen gewinnt, sondern - wie nun zu zeigen ist aus »dem Zentrum empfindsamer Existenz, dem Selbstgefühl der Vollkommenheit« (III Sauder 1974, S. 184). Mit dem Gedanken von der Seligkeit dessen, der sich der Menschenliebe befleißigt, setzt >Der Menschenfreund< ein - es ist die zentrale Idee des Gedichts (vgl. dazu auch III de Levie, S. 76ff.), und dieses hat sein genaues prosaisches Pendant in den >Moralischen Vorlesungen< (MV, S. 221 ff.): »Wie selig lebt ein Mann, der seine Pflichten kennt, Und, seine Pflicht zu thun, aus Menschenliebe brennt, Der, wenn ihn auch kein Eid zum Dienst der Welt verbindet, Beruf, und Eid und Amt schon in sich selber findet! Ihm wird des ändern Wohl sein eignes Himmelreich; Er fohlet meine Noth, als traf ihn selbst der Streich; Und das, was ihn beherrscht, ist ein gerecht Bestreben, So treu, als er sich lebt, der ganzen Welt zu leben.« (MG, S. 3)
Geliert spielt hier auf die in der Aufklärung verbreitete und durch die Naturrechtsdiskussion ausgelöste Verhältnisbestimmung von »self love« und »social love« an. Während das Naturrecht dazu neigte, der Selbstliebe (als Bedingung der Selbsterhaltung) den Vorrang vor der Sorge für die Gemeinschaft einzuräumen, hatten die >Cambridge Platonists< in Opposition zu Hobbes die Lehre von der prinzipiellen Gleichheit egoistischer und altruistischer Neigungen entwickelt (vgl. Bd. V/2, S. 79ff., 98f.; Kap. II lc-1). Tätigkeit für die Gesellschaft erfülle das Individuum mit Freude, und daher gebe es »keinen Konflikt zwischen individueller und gesellschaftlicher Wohlfahrt« (III Sauder 1974, S. 73): »Ihm wird des an-
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dem Wohl sein eignes Himmelreich«. Dieser Vers verweist darüberhinaus auf die empfindsame Steigerung dieser Interdependenz, wie sie Mendelssohn in seiner >Rhapsodie< 1761 formuliert - sie führt nicht nur zur Verbesserung der Welt, sondern auch und zugleich der neologischen Lehre entsprechend zur Vervollkommnung und Glückseligkeit des Individuums (vgl. dazu auch Kap. II l e; III Sauder 1974, S. 192): »Als wenn das Wohlsein meiner Nebengeschöpfe befördern, Gott nachahmen, und alles, was um mich ist, so viel ich kann und vermag, vollkommener machen, als wenn die Fertigkeit in der Ausübung des Guten, lieben und geliebt werden, Wohlthun, Großmuth üben, Gerechtigkeit handhaben, Freyheit und Tugend beschützen, nicht die seeligste Vollkommenheit eines denkenden Geschöpfs wäre! . . . Die Neigung sich mitzutheilen, und das Gute, dessen man genießt, zu vervielfältigen, ist der Seele so eingepflanzt, als der Trieb sich zu erhalten. Wir werden vollkommener, wenn alles, was uns umgiebt, vollkommen ist; wir werden glückseliger, wenn wir alles, was um uns ist, glückselig machen können.« (II Mendelssohn R, S. 148f.)
Mit dem nachfolgenden Vers: »Er fühlet meine Noth, als traf ihn selbst der Streich«, spielt Geliert auf jene Theorie der moralischen Empfindungen an, für die »das Mitleid die gemischte Empfindung par excellence« darstellt, weil es die Zuneigung zu einer Person mit der »Unlust« über dessen Mängelsituation verbindet (vgl. III Sauder 1974, S. 187f.), indessen wehrt sich Geliert mit den folgenden Zeilen gegen die daraus fließende Annahme, die »Unlust« dränge unmittelbar auf die Beseitigung der Mängelsituation - dies käme ja dem gerade im Rahmen der Naturrechtsdiskussion kritisierten unreflektiert-affektiven christlichen Mitleid gleich (vgl. dazu Bd. V/2, S. 80f.), von dem hier nicht die Rede ist. Die Hilfe des Menschenfreunds »Ist kein erzwungner Trieb von deiner Thranen Kraft«, sondern Einsicht in die Würdigkeit des Hilfsbedürftigen und in den Nutzen der Tat (»Er sieht, du bist es werth, er sieht, er kann dir nutzen«), mit anderen Worten: Die »Natur« - hier wohl als spontane Affektivität des »Herzens« zu verstehen - und die »ratio« lenken die Aktivitäten des Menschenfreundes, der auch in den »Moralischen Vorlesungen< »mit Weisheit und Klugheit gütig« ist (MV, S. 223) und bei dem sich der »moral sense« als »geordnete Liebe« äußert (vgl. 11.28 Honnefelder, S. 13f.): »Was die Natur befiehlt, was die Vernunft gebeut, Was dein Bedürfniß heischt, dieß reizet seine Triebe, Auch ohne Ruhm und Lohn, zu wahrer Menschenliebe.« (MG, S. 4)
An einer Vielzahl von Beispielen wird nun die vorbildliche Haltung des von Vernunft und Herz gleichermaßen geleiteten Idealmenschen illustriert, der den göttlichen Auftrag zur Geselligkeit aller verwirklicht (»Als
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Glieder schuf uns Gott, als Bürger einer Welt, / In der des einen Hand die Hand des ändern hält«; ebda., S. 12). Aber jetzt erst - am Schluß und in unmittelbarer Konfrontation mit diesem kosmopolitischen Selbstverständnis der Aufklärung - erfolgt die eigentliche Pointe des Gedichts: die Abrechnung mit dem orthodoxen christlichen Konfessionalismus, als dessen Gegenentwurf sich der aufklärerisch-empfindsame >Menschenfreund< nun erweist! Und hier gewinnt Gellerts Lehrgedicht auch einmal die Schärfe von Hallers Kirchenkritik, an die es erinnert (vgl. Bd. V/2, S. 144f.): »Ein treu und redlich Herz wohnt bey Vernunft in dir; Allein du denkst, du sprichst, du glaubst nicht so, wie wir: So siehst du deine Quaal in blinder Eifrer Händen, Die redend heilig sind, und Gott durch Thaten schänden. Aus Eifer für den Gott, der Liebe nur gebeut, Verfolgt und drängt man dich, und stoßt aus Heiligkeit Dich schäumend von sich aus, und suchet durch Verheeren, Durch Martern des Barbars dich christlich zu bekehren. Hält nicht noch manches Land, aus nie befohlner Pflicht, Rechtgläubig vor dem Herrn ein heilig Blutgericht, Zum Bau des Christenthums und Ketzern zum Verderben, Die oft weit seliger, als ihre Henker, sterben?« (MG, S. 12)
3) Nach der Erörterung vernünftiger »social love« wendet sich das mit 302 Alexandrinerversen zweitlängste Lehrgedicht >Reichthum und Ehre< den beiden Hauptgefahren der »self love« zu, nämlich in materieller Hinsicht der unablässigen Akkumulation von Besitz, um sich auf Kosten der ändern alles leisten zu können und dann aus Geiz doch davor zurückzuschrecken und von Sorgen aller Art geplagt zu werden, sowie in geistiger Hinsicht der Ruhmsucht, der mancher gern sein Leben opfert und es darüber verfehlt. Auch hier sollen »Erfahrung und Vernunft« das Herz recht leiten, bis es »ein frommes weises Herz« geworden ist (MG, S. 23, 27). In der tugendhaften Selbstüberwindung, die zugleich ein gutes Gewissen verschafft, liegt die eigentliche Seligkeit: »Wahr ists, die Kunst ist schwer, sich selber zu besiegen: / Allein in dieser Kunst wohnt gottliches Vergnügen.« (Ebda., S. 24) Und mit dem Ratschlag, das Glück der anderen als Teil des eigenen zu empfinden, ist der gedankliche Anschluß an die Lehren des >Menschenfreunds< hergestellt (»GOnn jedem gern sein Gluck; lern vortheilhaft empfinden / Und in der ändern Gluck ein Theil von deinem finden!« Ebda.) Charakteristisch für das Selbstverständnis der Empfindsamkeit ist die inhaltliche Füllung der selbst-beherrschten Glückseligkeit. An die Stelle
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ausgreifender politischer oder gesellschaftlicher Reformen und wissenschaftlichen Forscherdrangs, die implizit in den Titelbegriffen mit kritisiert werden, tritt der Rückzug in die Gefühlswelt des Privaten (»Was sorgst du, ob dein Ruhm die halbe Welt durchstrich? / Dein Freund, dein Weib, dein Haus sind Welt genug für dich«; ebda., S. 25), in den physikotheologischen Genuß der Naturschönheiten (»Du schleichst durchs bunte Thal, streifst durch die grüne Heide, / Und was du siehst, ist Lust, und was du fühlst, ist Freude«; ebda.) und schließlich in den Selbstgenuß der eigenen Innerlichkeit, des eigenen reinen Gewissens und »guten frommen Herzens«, das dem Menschen als einziges Gut auf Erden nicht genommen werden kann (mit den folgenden Versen endet das Gedicht): »So sey dein liebstes Gut ein frommes weises Herz. Dieß mehre deine Lust, dies mindre deinen Schmerz; Dieß sey dein Stolz, dein Schatz, dein höchstes Ziel auf Erden. Sonst alles, nur nicht dieß, kann dir entrissen werden. Zu wissen, es sey dein, zu fühlen daß dus hast, Dieß Glück erkaufst du nicht um aller Güter Last; Und ohne dieses Herz schmeck noch so viel Vergnügen, Es ist ein Rausch, und bald, bald wird der Rausch verfliegen.« (Ebda. S. 27)
Dies sind Einsichten der auch in den >Moralischen Vorlesungen entwikkelten natürlichen Moral. Sie kulminieren im bescheidenen Welt- und Selbstgenuß (»Und was du hast, genieß! Die Welt ist reich an Freuden«; MG, S. 24). Indem das Subjekt nach dem entscheidenden Punkt seiner Identität sucht, der es unabhängig macht vom verfliegenden »Rausch« der Welt, findet es ihn nur im »Schatz« des eigenen Herzens. Mit der Apotheose des »frommen Herzens« öffnet sich dieser empfindsame Lebensentwurf aber bereits wie in den >Moralischen Vorlesungen auch der Moral und Weltanschauung der christlichen Religion (vgl. Kap. II l f)· 4) Dieser letzteren Absicht dient nun das mit 402 Versen längste und für Geliert sowie seine Freunde auch bedeutendste Lehrgedicht >Der ChristChristen< folgt das Gedicht der Korrelation von »Kopf« und »Herz«, indem es zuerst die Dogmen des Christentums für den »Verstand« und anschließend - dreimal so ausführlich - die Bildung des »Herzens« entfaltet (vgl. »Ist seine Lehr ein Werk, das den Verstand nur übt? .. . Nein, edler wird sein Herz.« MG, S. 33). Damit vermag Geliert sowohl die sozialen Tugenden des »Menschenfreundes« (ebda., S. 36) als auch die moralische Vorbildlichkeit des Privatmanns (»Verehret und geliebt, theilt er hier Freuden aus, / . .. Sein Weib . . . Lohnt ihm mit Zärtlichkeit, und er empfindet sie«; ebda., S. 37f.) in sein christliches Idealbild zu reintegrieren, und dieses entspricht genau dem Gedankengang der >Moralischen Vorlesungen^ in denen das Ideal des »Menschenfreundes«, »den die Vernunft durch ihren Beyfall ehrt und schätzet«, erst durch die christliche Religion zur moralischen Vollendung gelangt: »Der vollkommne Christ wurde zugleich der liebreichste, dienstfertigste, bescheidenste, leutseligste, mitleidigste, friedlichste, und durch alle diese Eigenschaften des Herzens, der angenehmste Gefährte des Lebens, seyn.« (MV, S. 224) Dieser Christ, zugleich eine Identifikationsfigur der Neologie, unterscheidet sich ausdrücklich von pietistischer Weltflucht und Genußverachtung (vgl. dazu auch IV Siegrist, S. 209): »Der Christ, ist der ein Freund der biOden Schüchternheit, Die vor den Menschen flieht und die Gesellschaft scheut? Nein, Freund, er wird mit Lust und ruhigem Gewissen Das Glück, ein Mensch zu seyn, des Umgangs Glück, gemessen. Gott schuf ihn nicht zur Quaal. Lad ihn zu Freuden ein; Er scherzt mit feinem Witz, lacht heitrer bey dem Wein; Freut sich des Saitenspiels; und Lieb in deinen Blicken, Und Freud auf deiner Stirn, wird seine Seel entzücken. Dieß, daß er Freude schmeckt und mäßig sie genießt, Ist selbst der Wohlthat Dank, den er Gott schuldig ist.« (MG, S. 39)
Ein derart neologisch-vernünftiges Christentum gesteht der »ratio« durchaus das Recht auf Zweifel zu - in der Gewißheit, diese durch die »anschauende Erkenntnis« des idealen Christen in Zuneigung verwandeln zu können. Auch und vor allem bei der Frage nach den Seligkeiten der künftigen Welt vermag die Religion noch zu antworten, während die Vernunft unwissend schweigt. Und schließlich ist die christliche Religion dem Glauben des »Heidenthums« an Weisheit unendlich überlegen (vgl. MV, S. 33ff.). So bleibt - wie das Gedicht am Schluß suggeriert - angesichts solcher Beweise dem Freigeist nur die Möglichkeit zur Konversion: »Du siehst viel Zweifel. Gut! Siehst du nicht auch viel Licht? Wenn du Beweise siehst; dann ist der Glaube Pflicht.
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Prüf die Religion; doch denk auch, was du bist. Daß dein Verstand umschränkt und Gott unendlich ist. Tu ihren Willen treu; dann wirst du inne werden, Sie sey des Himmels Geist und nicht der Witz der Erden.« (Ebda., S. 47)
Im Vergleich dieser Schlußzeilen mit denen von >Reichthum und Ehre< wird deutlich, wie sehr die Autonomie des »Herzens« hier widerrufen und der Glaubenspflicht, der treuen Ergebung in den Willen der Religion subordiniert wird. Dies zeigt - wiederum durchaus exemplarisch -, wie sehr empfindsames und christlich-neologisches Welt- und Menschenbild übereinzustimmen vermochten und welch rebellischen »Sturms und Drangs« es noch bedurfte, bis der poetische Prometheus zu der Einsicht gelangen konnte: »Hast du's nicht alles selbst vollendet / Heilig glühend Herz?« (II Goethe GE I, S. 45) 5) Genau dies aber - das ist die Pointe in der Komposition der Lehrgedichte - brandmarkt das nachfolgende Lehrgedicht Gellerts mit dem bezeichnenden Titel >Der Stolze »Mensch, was erzeugt den Stolz, mit dem dein Herz sich nähret« (MG, S. 48): Mit dieser Eingangsfrage zielt das Gedicht auf das seit der Renaissance neu aufgekommene, von den Kirchen früh als »superbia« diskreditierte Selbstbewußtsein des Subjekts (vgl. Bd. I, S. 71 ff.): »Mein Stolz ist ein Gefühl von meinem eignen Werth«, definiert Geliert in diesem Sinne (MG, S. 49) und sucht anschließend unter Einschluß von Motiven aus >Reichthum und Ehre< dieses Selbstwertgefühl als eigentliche Triebkraft menschlichen Handelns und doch zugleich als »falsches Licht« zu entlarven, von dem am Schluß buchstäblich »nichts« mehr übrigbleibt: »O Mensch! vertreibe doch den Glanz des falschen Lichts! Warum verbirgst du dir mit so viel Kunst dein Nichts? Was ist des Menschen Ruhm, des Klugen wahre Große? Die Kenntniß seiner selbst, die Kenntniß seiner Bloße; Ein redendes Gefühl, das laut im Herzen spricht: So viel ich hab und bin, hab ichs von mir doch nicht; . . . « (Ebda., S. 60)
Auch dies entspricht wieder den >Moralischen Vorlesungen^ von denen er die zwanzigste der »Demuth« als einer für den Menschen besonders unentbehrlichen Tugend widmet. »Derjenige ist demüthig«, so definiert er hier, »der alle seine Gaben, sie mögen groß oder geringe seyn, als freywillige und unverdiente Geschenke aus der Hand Gottes betrachtet, als solche sie anwendet und verbessert, und sich seiner eignen Mängel und
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Fehler bewußt zu seyn, bestrebet.« (MV, S. 214ff., 216) Klarer hätte auch kaum ein orthodoxer Geistlicher das Autonomiestreben der Epoche infragezustellen vermocht! - Stärker als in den >VorlesungenDie Freundschaft - so der Titel der ersten Lehr-Ode (diesem Thema ist auch die vierundzwanzigste >Moralische Vorlesung< gewidmet; MV, S. 256ff.) - ist zunächst das eigene tugendhafte Herz, denn dieses ist die Basis für eine Werte-Gemeinschaft, die der Bestätigung des - im >Stolz< so beargwöhnten - Selbstwertgefühls dient: »Um einen Freund von edler Art zu finden, Mußt du zuerst das Edle selbst empfinden, Das dich der Liebe würdig macht. Hast du Verdienst, ein Herz voll wahrer Gute: So sorge nichts; ein ähnliches Gemuthe Läßt deinen Werth nicht aus der Acht.« (MG, S. 61)
Die Freundschaft gründet also zunächst - wie noch im älteren Pietismus (vgl. Bd. V/l, S. 62) - auf der gleichen Gesinnung und Moral, in deren wechselseitiger Beförderung denn auch »das höchste Gut der Erden, / Der Tugend Glück« erblickt wird (MG, S. 63). Dennoch gelangt das Gedicht auch bereits zu einem personalen, in der wechselseitigen vollständigen »Vertraulichkeit« gründenden Freundschaftsverständnis: »Teilt er mit mir die Last der großem Sorgen: So bleibt von mir die kleinst ihm nicht verborgen, Und schwindet in Vertraulichkeit. Kaum klag ichs ihm, was mich im stillen drucket: So hat sein Blick oft schon mein Herz erquicket, Eh mich sein Mund mit Trost erfreut.« (Ebda., S. 63f.)
So konnte der Pietismus von Christus sprechen, dessen Seelen-Freundschaft und Trostfunktion hier wie bei Pyra und Lange (vgl. Kap. I 3 e) auf einen weltlichen Freund übertragen wird. »Seiner edlen Seele«, heißt
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es entsprechend in den >VorlesungenVorlesungen< bezeichnet Geliert den Freund auch als »den sichtbaren Schutzengel«, »den Gott unserm Leben zugesellet hat«; MV, S. 259): »Sie quillt nicht bloß für diese kurzen Zeiten; Sie wird ein Bach, der sich in Ewigkeiten Erquickend durch die Seel ergeußt. Dort werd ich erst die reinste Freundschaft schätzen, Und bey dem Glück, sie ewig fortzusetzen, Ihr heilig Recht verklärt verstehn. Dort werd ich erst ihr ganzes Heil erfahren, Mich ewig freun, daß wir so glücklich waren, Fromm mit einander umzugehn.« (MG, S. 65)
Das letzte Gedicht mit seinem dem >Stolz< verwandten Thema >Der Ruhm< bezieht seine Spannung aus der Tatsache, daß Geliert dem Selbstwertgefühl nun doch noch eine Existenzberechtigung einräumt, die umso eindrucksvoller ausfällt, als die Beispiele für falsche Ruhmsucht nur dazu dienen, den wahren Wert - und damit >Ruhm< - nur in sich selbst, im eigenen Herzen, Gewissen, im Bewußtsein der Pflichterfüllung zu finden: »Suchst du den Ruhm nicht in der Pflicht, Giebt dir dein Herz den Beyfall nicht; Was wird dir Andrer Beyfall nutzen? Und hast du deinen Ruhm in dir; Was sorgst du kummervoll dafür, Den äussern zu besitzen? Erfüllst du, was die Weisheit spricht, Und gleicht dein Eifer deiner Pflicht: So wird der Ruhm ihm folgen müssen. Und wenn dein Werth ihn nicht erhält: So giebt dir ihn, Trotz aller Welt, Doch ewig dein Gewissen.« (Ebda., S. 67f.)
Das Gewissen ist nicht nur religiöser, sondern auch weltlich-moralischer Richter, internalisiertes Sprachrohr der »Klugen« (»Der Kluge sieht auf dein Verdienst«; ebda., S. 68). Gerade wenn die Aufklärung für ihr Ziel der »vollkommenen Glückseligkeit« auf den »Gewissensappell an den
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einzelnen« zur Befolgung einer am »sozialen Handeln« orientierten »Morallehre« angewiesen ist (so 11.28 Kasper, S. 99), dann erfüllt dieses Schlußgedicht Gellerts eine solche Aufgabe ohne jeden Rekurs auf das Christentum oder die Religion. Aber offenbar sollen sich in der »Weisheit« der zitierten Schlußstrophe >Menschenfreund< und >Christ< in freundschaftlicher Empfindsamkeit zusammenfinden! Und diese Position ermöglicht und bestimmt nun auch seine geistliche Lyrik. e) Sorge um das »reine Herz« - die >Geistlichen Oden und Lieden »Ihre Fabeln und Lehrgedichte haben die Leser zu denen erhabenen Gedanken vorbereitet, die sie nunmehr in Ihren geistlichen Liedern finden«, schrieb Gottlieb Wilhelm Rabener im März 1757 - kurz nach Erscheinen der >Geistlichen Oden und Lieden - an Geliert (BW II, S. 97). So empfanden es offenbar auch die Zeitgenossen; für sie avancierte Geliert zum »Klassiker der religiösen Aufklärungspoesie« (IV Schneiderwirth, S. 14; vgl. dazu auch 11.28 Werth, S. 121ff.). Zu Beginn des Siebenjährigen Krieges erschienen, war die Sammlung alsbald sogar »im Felde stark verbreitet« (11.28 Meyer-Krentler 1990, S. 230), fand sogleich zahlreichen Eingang in die evangelischen und seit 1767 zunehmend auch in die katholischen Gesangbücher (vgl. dazu IV Schneiderwirth, S. 18ff.), und eine Reihe von Komponisten vertonte seine Texte, teils die ganze Sammlung wie Carl Philipp Emanuel Bach (vgl. 11.28 Schusky, S. 192ff.), teils mehrere Lieder daraus wie u. a. Haydn und Beethoven (vgl. II. Schlingmann, S. 147ff., 154f., 156ff.; die Lieder auch in W-1979 I, S. 217-307; eine Auswahl von 21 Liedern in GdG). - Geliert hatte sich lange das Dichten geistlicher Lyrik nicht zugetraut (vgl. BW II, S. 19), doch nach dem Gelingen der >Moralischen Gedichte< faßte er Mut, und schon im August 1755 lagen rund 50 Lieder vor (vgl. BW I, S. 246), die er nun seinen engsten Freunden Cramer, Gärtner und Schlegel sowie seinem Gönner Borchward zur Kritik zusandte (vgl. dazu 11.28 Werth, S. 2ff.). Cramer lobte sie als »so bibelreich« - tatsächlich hat Werth »rund l 000 Entlehnungen« aus der Heiligen Schrift nachgewiesen, darunter 300 aus den Psalmen (ebda., S. 15-102, hier S. 102) -, legte bei allem Lob aber sogleich den Finger auf das Hauptproblem dieser Poesie, nämlich »daß Lieder mehr aus Empfindungen, als Betrachtungen bestehen und keine Lehroden seyn müssen« (BW I, S. 238, und nochmals ebda., S. 243; ebenso in CFGL, S. 76). Geliert gab zu, »daß viele mehr Lehroden, als Lieder im eigentlichen Verstande, und also mehr zum Lesen als Singen sind; und ich wünschte selbst, daß ihre von der ersten Gattung weniger, und dafür mehr von der ändern seyn möchten. Allein es ist
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immer leichter, bloße Lehren vortragen, als Lehren in Empfindungen verwandelt vortragen.« (BW I, S. 246)
Mit dem nach einigem Zögern für die Publikation gefundenen Titel trug Geliert dann der frühen Kritik Rechnung und unterschied in der >Vorredepoeta doctusGeist< der Aufklärung, woran sich u. a. auch seine Freunde Cramer (>Neue geistliche Oden und LiederGeistliche Lieden, 1758/69; vgl. Kap. II 2 b-4; 6 h-2) beteiligten (vgl. dazu IV Treichel, S. 14ff.). Indessen nicht nur das Didaktische, sondern auch das »Feine«, Glatte, das stilistisch und verstechnisch Makellose und Durchgefeilte der Gellertschen Lyrik ist mitverantwortlich für die häufig emotionsarme Kühle, welche auch und gerade die »Oden für das Herz« kennzeichnen (vgl. ebda., S. 22). Die »Anerkennung der Absolutheit Gottes« sei - so die These Schlingmanns (11.28, S. 157) - »der eigentliche Geist der Gellertschen Lieder«; eben dem »absolutistischen Menschen des 18. Jahrhunderts«, der Gott entweder wie der Pietist ganz besitzen oder wie der Deist nicht mehr über sich herrschen lassen wollte, setzte Geliert »in den besten seiner geistlichen Lieder einen ebenso absolutistischen Gott entgegen« (ebda., S. 177). Wenn dies die Kernaussage der >Geistlichen Oden und Lieder< wäre, hätte Geliert das aufklärerische Autonomiestreben in der Tat grundlegend konterkariert. Doch von vereinzelten Gedichten abgesehen - Schlingmann beruft sich u. a. auf >Wider den Uebermuth< (GOL, S. Ulf.) - ist eher das Gegenteil der Fall (vgl. dazu auch 11.28 May, S. 122ff.)! Dies mag gleich das Eingangslied der Sammlung illustrieren, dessen erste Strophe fast einer Zitatcollage aus den Schöpfungspsalmen gleichkommt (Ps. 36,6; 103,4; 38,23; 18,3; 140,7; 143,1; 5,2f; vgl. 11.28 Werth, S. 43ff.; Schlingmann, S. 167ff.; Lenz, S. 52):
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»Bitten. Gott, deine Göte reicht so weit, So weit die Wolken gehen; Du krönst uns mit Barmherzigkeit, Und eilst, uns beyzustehen. Herr, meine Burg, mein Fels, mein Hort, Vernimm mein Flehn, merk auf mein Wort; Denn ich will vor dir beten! Ich bitte nicht um Ueberfluß und Schätze dieser Erden. Laß mir, so viel ich haben muß, Nach deiner Gnade werden. Gieb mir nur Weisheit und Verstand, Dich, Gott, und den, den du gesandt, Und mich selbst zu erkennen. Ich bitte nicht um Ehr und Ruhm, So sehr sie Menschen rühren; Des guten Namens Eigenthum Laß mich nur nicht verlieren. Mein wahrer Ruhm sei meine Pflicht, Der Ruhm vor deinem Angesicht, Und frommer Freunde Liebe. So bitt ich dich, Herr Zebaoth, Auch nicht um langes Leben. Im Glucke Demuth, Muth in Noth, Das wollest du mir geben. In deiner Hand steht meine Zeit; Laß du mich nur Barmherzigkeit Vor dir im Tode finden.« (GOL, S. 93f.)
Nicht der unberechenbare - zornige und gerechte, in diesem Sinne vielleicht absolutistische - Gott in der Tradition Luthers und Calvins ist hier Adressat des Gebets, sondern der in Aufklärung und Neologie vorherrschende berechenbar-gütige, stets barmherzig-hilfsbereite Gott. Und vor ihn tritt weder ein devoter, flehender, von Erlösungsskrupeln geplagter, noch ein in der »Gottesgemeinschaft« erprobter Mensch, sondern ein vernünftiges, selbstbewußtes Subjekt, das sich der göttlichen Hilfe schon versichert weiß (»Und eilst, uns beyzustehen«) und dem es in den >Bitten< vor allem um sich geht. Das wird schon am Gedichtaufbau deutlich: Bereits in der ersten Strophe führt die Betrachtungsperspektive von »Gott« in der ersten zum »ich« in der letzten Zeile, und dieses »ich« nimmt in den nachfolgenden Strophen prononciert genau am Versbeginn die >Stelle< »Gottes« aus der Anfangszeile ein. Das zeigt sich ferner an der den jeweiligen näheren Kontext vernachlässigenden Auswahl der Bibel-
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verse: Die beiden ersten Zeilen zitieren aus einem Psalm, der - so die Überschrift - »Klage über die Gottlosen« führt und der deshalb die »Güte Gottes gegen die Frommen« flehentlich beschwört (Ps. 36, 5: »Herr, deine Güte reicht, soweit der Himmel ist, und deine Wahrheit, soweit die Wolken gehen.«) Gerade die herbeigeflehte Gerechtigkeit als »Wahrheit« Gottes gegenüber den Gottlosen wird im Lied zugunsten der allumfassenden, durch Anadiplose unterstrichenen »Güte« Gottes übergangen. Vers 2 bezieht sich auf den vor allem im Luthertum berühmten, weil das »sola gratia« betonenden Psalm 103 (»Preis der Barmherzigkeit des Herrn gegen sündige und schwache Menschen«; Vers 4: »der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit«), doch Sünderbewußtsein und Erlösungssehnsucht werden hier ebensowenig übernommen wie in der nachfolgenden Zeile, die den beschwörenden Schlußappell von Psalm 38 (»Klage unter schwerer Heimsuchung durch Leiden und Feindschaft. Bitte um Hilfe«; Vers 23: »Eile, mir beizustehen, Herr, meine Hilfe!«) in einen selbstgewissen Indikativ verwandelt (»und eilst, uns beizustehen.«). Analoges gilt für die drei Schlußverse der ersten Strophe: Psalm 5, 3 hat durch seine Eingangswendung ebenso viel stärker den Charakter eines flehentlichen Hilferufs (»Vernimm mein Schreien, mein König und mein Gott; denn ich will vor dir beten.«) wie das >Lied beim Gewitter< der Gräfin Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt (1637-1706), deren Kirchenlieder Geliert mehrfach angeregt haben und die hier auf Psalm 18,3 rekurriert: »Du bist mein Felß, mein Burg, / Mein Hort, auf den ich traue, / Mein Schild und Hörn des Heils, / Auf dessen Hülf ich schaue: / . . . Die Angst ist nah, und hier / Ist ja kein Helffer sonst.« (I F/T V, S. 551) Eben von solch konkreter Not-Situation als »Sitz im Leben« sind Gellerts >Bitten< frei (und dies wird natürlich zu Beginn der zweiten Strophe besonders evident, wo das Ich um keinen »Ueberfluß« ersucht! Indessen auch stilistisch läßt sich diese kontinuierliche Aufwertung des »ich« verfolgen: die asyndetische Reihung der Appositionen in Vers 5 erhält durch den hier (im Abgesang) vierhebigen Jambus einerseits etwas Beiläufig-Eiliges, andererseits überlagert das dreimalige »mein« (beim ersten Mal in betonter Stellung) die Appositionen für Gott, während die Zäsur in der Mitte der nachfolgenden Zeile den zweimaligen, das »mein« repetierenden imperativen Appell eindrucksvoll hervorhebt und der dreihebige Schlußvers mit Waise (eigentlich Assonanzreim zum b-Reim wie in Str. 2 und 3) die Begründung für alles liefert (mit »ich« in betonter und »dir« in unbetonter Stellung): »Denn ich will vor dir beten!« So setzt sich das »ich« hier nahezu gravitätisch selbst in Szene und gibt den >Ton< an.
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Alle drei nachfolgenden Strophen, die Schlingmann »unbeachtlich« findet (11.28 S. 168), unterstützen diese Interpretation: Sie beginnen anaphorisch mit den Bitten des Ich, und diese wirken anmaßend und ungemäß zugleich: anmaßend im Rückbezug auf 1. Kon. 3,5ff. und 2. Chron. l,7ff., wo im Grunde dieselbe Geschichte erzählt wird: Gott erscheint dem König Salomo und fordert ihn auf, sich etwas zu wünschen, und dieser bittet um »Weisheit und Erkenntnis«, um sein Volk recht richten zu können. Gott erfüllt ihm zum Lohn dafür, daß er »nicht um langes Leben noch um Reichtum noch um deiner Feinde Seele« gebeten hat (1. Kon. 3,11; vgl. 2. Chron. 1,11), nicht nur diese Bitte, sondern gibt Salomo »Reichtum und Gut und Ehre« obendrein (1. Chron. 1,12; vgl. 1. Kon. 3,13). Anmaßend wirkt das »Ich« des Liedes, wenn es sich die Bitten des Königs Salomo zueigen macht und sich dessen Belohnung damit implizit bereits zuspricht. Die Gabe von »Weisheit und Verstand« dient wiederum nicht nur der Gotteserkenntnis (wobei Christus in einen beiläufigen Nebensatz gedrängt wird), sondern der für die anthropozentrische Aufklärung so bedeutsamen Selbsterkenntnis, mit der die zweite Strophe - ichbetont wie die erste - endet. - Ohne Rückbezug auf die Bibel erweisen sich die >Bitten< durchweg als so maßvoll und damit vernünftig, daß Gott sie gar nicht abzuschlagen braucht: Das Ich benötigt ihn im Grunde nicht, um keine Schätze und keine Ehre anzuhäufen, um Weisheit zur Gottes- und Selbsterkenntnis zu gewinnen, den guten Ruf zu wahren (nach Sir. 41,15), Freunde zu erwerben und sich antizyklisch bei Schicksalsschlägen zu verhalten. Das sind die vernünftigen Tugenden einer natürlichen Moral, und als solche handelt Geliert sie auch in den >Moralischen Vorlesungen ab (im folgenden ein >Kommentar< zu Strophe 3): »Den guten Namen und die Ehre als ein Mittel betrachten und begehren, um desto mehr Gutes zu stiften, und indem er uns erfreut oder nützt, den Eifer für unsre Pflicht dadurch beleben, dieses ist eine pfiichtmäßige Ehrbegierde. Den guten Namen oder den Beyfall suchen, weil uns der Mangel desselben an unserm und Andrer Glücke hindern würde, und weil wir dieses doppelte Glück zu befordern für ein gottliches Gesetz der Vernunft achten, auch dieß ist ein tugendhafter Ehrtrieb.« (MV, S. 162)
Dieser poetische Auftakt ist keine Ausnahme, sondern typisch für eine ebenso umfassende wie facettenreiche Selbstdarstellung eines vernünftigfrommen Subjekts, das sich sowohl in den »Oden fur das Herz« mit der Darstellung der Empfindungen als der je eigenen Befindlichkeit als auch in den »Lehroden« hauptsächlich mit sich selbst, seiner Tugendhaftigkeit und dem Nutzen der Religion für sich beschäftigt (so ist die verherrlichte Macht des »absolutistischen Gottes« in dem von Schlingmann als Beleg
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für seine These untersuchten Gedicht >Gottes Macht und Vorsehung< doch nur Gegenstand der Selbstversicherung des Ichs: Mit diesem Gott im Bunde - so endet die Ode - »frag ich nichts nach Himmel und nach Erden, / Und biete selbst der Hollen Trutz«; GOL, S. 161). - In vier Aspekten sei dieser Grundzug näher beleuchtet. 1) Das Ich der >Geistlichen Oden und Lieder< ist durch und durch noch das gnomische Gemeinde-Ich, das selbst private und individuelle Anlässe (wie >Lied am Geburtstage< oder >In KrankheitDer Schutz der KircheDer Weg des Frommen< ist der des »Christen« wie im gleichnamigen Lehrgedicht (vgl. ebda., S. 128f.). Als Gellerts reformierter Gönner Borchward sich in einem verschollenen Brief kritisch zum Inhalt der Gellertschen Lieder äußert, antwortet ihm dieser: »Nichts beunruhiget mich, als daß Sie bey dem Systeme meiner Kirche so oft anstoßen; denn aufrichtig zu reden, ist es nicht meine Kirche, sondern mein Glaube, den ich ausgedrückt habe.« (BW II, S. 2) In einem Schreiben an Johann Adolf Schlegel mokiert sich Geliert über Borchwards Kritik als eines »Reformirten, der zu weit geht« (ebda., S. 35). Seine lutherisch-neologischen Theologen-Freunde hatten gegen den Inhalt offenbar nichts einzuwenden, und teilten die einzige Polemik, die sich gegen diese Konfession und ihre traditionelle Laschheit im Blick auf die Bewertung der Tugendhaftigkeit für das Heilsgeschehen richtet (vgl. dazu Kap. II 3 b-3; 3 f-4): »Hat Christus uns erlost, damit wir Sünder bleiben, / Und sicher durch sein Blut, das Laster hoher treiben?« (GOL, S. 179) Ansonsten aber sind alle konfessionellen Unterschiede und Streitsachen ausgeblendet oder wie sich noch zeigen wird - in einer Allgemeinheit behandelt, die keinem
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Bekenntnis zu nahe tritt: ein nicht zu unterschätzender Befund im Blick auf das Epochen-Klima, der mit den >Moralischen Gedichten< und >Vorlesungen< übereinstimmt. Deshalb sollte aber auch jeder Christ »Tugend und Religion« üben, und eben diese für die Epoche vom Deismus über die Neologie bis zum Pietismus typische Annäherung, ja Assimilation von Moral und Glaube führt auch bei Geliert zur Akzentuierung und Erörterung der (Vor-)Leistung des Ich in der Ausübung einer Religiosität, die vorwiegend als vorbildliche Tugendhaftigkeit begriffen wird, der gegenüber die traditionellen Inhalte und Lehren der Religion in Übereinstimmung mit neologischen Tendenzen vielfach in eine eher formelhafte Nebenrolle geraten. 2) Das Problem des richtigen moralischen Verhaltens ist daher auch das Hauptthema der >Geistlichen Oden und Liederweltlicher< Moralischer Oden< stehen könnten. Allein schon die Gedichtüberschriften verweisen auf diesen Schwerpunkt des rechten Verhaltens (hier nur zehn unter den ersten zwanzig: >Prüfung am AbendGelassenheitDie Wachsamkeit/, Wider den UebermuthDer Kampf der TugendDas natürliche Verderben des MenschenDer Weg des Frommem, >Der thätige GlaubeWarnung vor der WollustVon der Quelle der guten WerkeDas naturliche Verderben des Menschern ist nicht mehr die Erbsünde, sondern eben die >natürliche< Neigung, seiner »Eigenlieb« sowie seinem »Stolz« und »sinnlichen Gefühl« eher zu folgen als seinem »redenden Gewissen«, seiner »Vernunft« und »Kenntniß« seiner »Pflicht« (ebda., S. 124 ): »Der Mensch durch eigne Schuld hat seine Wurd< entehret« (ebda., S. 127) - das kann sich in orthodoxem Sinne auf Adam, aber auch auf jeden heutigen Menschen beziehen, dem damit im Sinne Spaldings (vgl. Kap. II l f-2) die Schuld für seine Verderbtheit selbst zugesprochen wird. Gott hat dem Menschen die Möglichkeit und Fähigkeit zu Einsicht und Besserung verliehen: »Doch so verderbt wir sind, so schwach, uns selbst zu heilen; So steuert Gott doch der Verdorbenheit, Läßt durch sein heilig Wort uns neue Kraft ertheilen, Licht der Vernunft, dem Herzen Reinigkeit.« (Ebda.)
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Die Erlösungstat Christi spielt hier erkennbar nicht mehr die entscheidende Rolle (vgl. dazu auch 11.28 May, S. 126ff.), sondern die durch die Schrift gegebene >Selbstaufklärungsmöglichkeit< des Menschen (»Vernunft«) und die »neue Kraft« als Fähigkeit, durch Einsicht und Willen einen »reinen« Lebenswandel zu führen (»Herz«). Somit hat er die Möglichkeit, sich frei für das Gute oder Böse zu entscheiden (»Entschließe dich beherzt, dich selber zu besiegen«; ebda., S. 179): »Welch Gluck! zu sich Mit Wahrheit sagen können: Ich fühlt in mir des Bösen Lust entbrennen; Doch, Dank sey Gott! ich schützte mich. Und welch Gericht! Selbst zu sich sagen müssen: Ich konnte mir den Weg zum Fall verschliessen; Und doch verschloß ich mir ihn nicht.« (Ebda., S. 189)
Das ist nicht nur eine neologische, sondern auch eine humanistisch-erasmianische Position (vgl. dazu Bd. I, S. 91ff.), der Geliert gelegentlich noch die katholische Erlösungsvariante einer göttlichen »gratia praeveniens« zur Seite stellen kann (vgl. Bd. H, S. 161f.; vgl. dazu seine eigene Interpretation der Strophe in BW II, S. 2): »Die Heiligung erfordert Muh; Du wirkst sie nicht, Gott wirket sie. Du aber ringe stets nach ihr, Als wäre sie ein Werk von dir.« (GOL, S. 222)
Geliert setzt Heiligung mit Tugendhaftigkeit und der Erfüllung der Gesetze - also der biblischen Gebote - gleich und sieht in deren Ausübung und Erfüllung zugleich das größte irdische Glück: »Gott will, wir sollen glucklich seyn, / Drum gab er uns Gesetze.« (Ebda., S. 119; vgl. dazu Kap. II l c-2) In derselben Lehrode >Der Kampf der Tugend< heißt es zwei Strophen später: »Was ist des Geistes Eigentum? / Was sein Beruf auf Erden? / Die Tugend / Was ihr Lohn, ihr Ruhm? / Gott ewig ähnlich werden!« (GOL, S. 119; vgl. auch ebda., S. 193: »Um tugendhaft zu seyn, dazu sind wir auf Erden.«) Die Selbst Vervollkommnung bis zur »imago Dei« schließt für Geliert sogar den Zustand der Sündlosigkeit und »Reinigkeit des Herzens« (vgl. ebda., S. 190) nicht aus: »Dieß ist mein Dank, dieß ist sein Wille. Ich soll vollkommen seyn, wie er. So lang ich dieß Gebot erfülle, Stell ich sein Bildniß in mir her.
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Lebt seine Lieb in meiner Seele: So treibt sie mich zu jeder Pflicht. Und ob ich schon aus Schwachheit fehle, Herrscht doch in mir die Sünde nicht.« (Ebda., S. 122)
Damit freilich gelangt er wie schon in den Moralischen Vorlesungen (vgl. Kap. II l f-4) zu einem ethischen Rigorismus und einem Heiligungsstreben, die ihn unversehens in die Nähe des Pietismus führen, wenngleich seinen Liedern gerade die Erfüllung pietistischer Gottseligkeit (Wiedergeburt, »unio mystica«, brautmystische Bilder) fehlt. Dennoch findet sich auch pietistischer Wortschatz in Gellerts geistlicher Dichtung (vgl. 11.28 Werth, S. 116ff.). Werth notiert sogar eine wörtliche Entlehnung aus Tersteegens Lied >Ich bete an die Macht der Liebec »Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken, / Mich in das Meer der Liebe zu versenken«; (vgl. 11.28 Werth, S. 118; »Tersteegen«, so Lenz, »hat vielleicht von allen Pietisten den größten Eindruck auf Geliert gemacht«; 11.28, S. 12; vgl. ebda., S. 74f.). 3) Weil Glückseligkeit und Heil des Menschen von seiner Tugendhaftigkeit abhängen, wird das Ringen um sie und um das »reine Herz« zum alles entscheidenden Anliegen, zum Anlaß strenger Selbstprüfung und ausgeprägter »Tugendängstlichkeit«. Was Luther durch das schlichte »Glaubst du, so hast du« gegenüber dem katholischen Gnadensynergismus hatte vermeiden wollen (vgl. Bd. I, S. 205ff. u. ö.) und was die Orthodoxie auch gegenüber dem ethischen Perfektionsstreben des Pietismus geltend machte, nämlich es führe entweder zu Hochmut oder aber zu Verzweiflung und Gewissensangst, wenn kein Fortschritt erkennbar werde (vgl. Bd. V/l, S. 69): genau dies tritt auch in Gellerts geistlicher Lyrik ein, die hierin ein getreuer Spiegel der jahrelangen Skrupel und Selbstzweifel ihres Autors ist. Die zehnstrophige Alexandriner->Lehrode< >Prufung am AbendMein Vater, lehre mich Stets meine Tage zählen< der Gräfin Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt stark verpflichtet ist (vgl. 11.28 Lenz, S. 70f.; Text des Liedes in I Knapp, S. 1072), besteht aus lauter solchen ängstlichselbstkritischen Fragen, um der Falschheit des Herzens mit einer dem Pietismus verwandten Strenge auf die Spur zu kommen (keinerlei Affinitäten zum Pietismus in Gellerts Werk sieht dag. 11.28 May, S. 135ff.): »Hab ich in dem Beruf, den Gott mir angewiesen, Durch Eifer und durch Fleiß ihn, diesen Gott, gepriesen; Mir und der Welt genutzt, und jeden Dienst gethan, Weil ihn der Herr gebot, nicht weil mich Menschen sahn?
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Wie hab ich diesen Tag mein eigen Herz regieret? Hat mich im Stillen oft ein Blick auf Gott gerühret? Erfreut ich mich des Herrn, der unser Flehn bemerkt? Und hab ich im Vertraun auf ihn mein Herz gestärkt? Dacht ich bey dem Genuß der Guter dieser Erden An den Allmächtigen, durch den sie sind und werden? Verehrt ich ihn im Staub? Empfand ich seine Huld? Trug ich das Glück mit Dank, den Unfall mit Geduld? Und wie genoß mein Herz des Umgangs süße Stunden? Fühlt ich der Freundschaft Glück, sprach ich, was ich empfunden? War auch mein Ernst noch sanft, mein Scherz noch unschuldsvoll? Und hab ich nichts geredt, das ich bereuen soll?« (GOL, S. 103f.)
Auch andere Lehroden sind Bußübungen dieser Art (vgl. Wider den Uebermuth< oder >DemuthMoralischen Vorlesungdritte RegelHerodes und HerodiasDie Liebe des Nächstem gelehrt wird (die Eingangsstrophe erinnert an das pietistische Lied >Wer ist ein Christ?< Vgl. Bd. V/l, S. 69; zu den Bibel-Allusionen dieser Lehrode - u. a. 1. Joh. 4,20 - vgl. 11.28 Werth, S. 71ff.; Lenz, S. 56): »So jemand spricht: Ich liebe Gott! Und haßt doch seine Brüder, Der treibt mit Gottes Wahrheit Spott, Und reißt sie ganz darnieder. Gott ist die Lieb, und will, daß ich Den Nächsten liebe, gleich als mich. Wer zwar mit Rath, mit Trost und Schutz Den Nächsten unterstützet, Doch nur aus Stolz, aus Eigennutz,
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Aus Weichlichkeit ihm nützet; Nicht aus Gehorsam, nicht aus Pflicht; Der liebt auch seinen Nächsten nicht. Wahr ist es, du vermagst es nicht, Stets durch die That zu lieben. Doch bist du nur geneigt, die Pflicht Getreulich auszuüben, Und wünschest dir die Kraft dazu, Und sorgst dafür: so liebest du. Ermattet dieser Trieb in dir: So such ihn zu beleben. Sprich oft: Gott ist die Lieb, und mir Hat er sein Bild gegeben. Denk oft: Gott, was ich bin, ist dein; Sollt ich, gleich dir, nicht gütig seyn?« (GOL, S. 163f.)
Das Thema der Nächstenliebe dient auch hier wiederum nur als Anlaß einer gewissenhaften Selbsterforschung. Das Lied unternimmt auch nicht ansatzweise den Versuch, Nächstenliebe in Bildern und Beispielen »anschauender Erkenntnis« als »Ode fürs Herz« hervorzurufen oder gar wie etwa in den Werken der Jesuiten (vgl. Bd. II, S. 163ff.) - einzuüben, sondern es räsonniert über die angemessene mentale Disposition, warnt vor egozentrischen Motiven und - wie im >Menschenfreund< (vgl. Kap. II, 4 d-2) - vor der »Weichlichkeit« eines affektiven Liebesdienstes. Auch die Nächstenliebe ist stattdessen moralische Pflicht und deshalb immer auf ihre reine Tugendhaftigkeit hin zu prüfen. Die richtige Gesinnung erscheint - wie bei Spalding (vgl. Kap. II l f-2) - als wichtiger denn der Hilfsakt selbst. Dies wird auch durch die dritte zitierte Strophe bestätigt, die bereits den guten Willen für die Tat nimmt und damit die soziale Hilfe als ein mentales Problem des Subjekts betrachtet. Und wenn der Willens»Trieb« ermattet, soll sich der Christ nicht auf dem Wege der Affekte, sondern durch Überlegungen (»Sprich oft«, »Denk oft«) an seine aus der Gottebenbildlichkeit abgeleitete Gesinnungs-Pflicht erinnern. 4) Aber bilden nicht vielleicht die »Oden fürs Herz« einen empfindsamen Gegenpol gegen solch lehrhafte Anthropozentrik? Nur zum Teil! Es gibt im übrigen kaum eines dieser Lieder, das den emotionalen Aufschwung von Anfang bis Ende durchhalten und nicht wenigstens strophenweise in Didaxe zurückfallen würde, so daß sich viele dieser Texte als Mischungen zwischen Lehrode und Lied ausweisen. Betrachten wir eines seiner bekanntesten, sogleich auch ins katholische Gesangbuch übernommenen Lieder - vom Thema her sogar eine Hymne -, den >Preis des Schöpfers< (vgl. IV Schneiderwirth, S. 19ff.):
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»Wenn ich, o Schöpfer! deine Macht, Die Weisheit deiner Wege, Die Liebe, die für alle wacht, Anbetend überlege: So weis ich, von Bewundrung voll, Nicht, wie ich dich erheben soll, Mein Gott, mein Herr und Vater! Mein Auge sieht, wohin es blickt, Die Wunder deiner Werke. Der Himmel, prächtig ausgeschmückt, Preist dich, du Gott der Stärke! Wer hat die Sonn an ihm erhöht? Wer kleidet sie mit Majestät? Wer ruft dem Heer der Sterne? Wer mißt dem Winde seinen Lauf? Wer heißt die Himmel regnen? Wer schließt den Schooß der Erden auf, Mit Vorrath uns zu segnen? O Gott der Macht und Herrlichkeit! Gott, deine Güte reicht so weit, So weit die Wolken reichen! Dich predigt Sonnenschein und Sturm, Dich preist der Sand am Meere. Bringt, ruft auch der geringste Wurm, Bringt meinem Schöpfer Ehre! Mich, ruft der Baum in seiner Pracht, Mich, ruft die Saat, hat Gott gemacht; Bringt unserm Schöpfer Ehre! Der Mensch, ein Leib, den deine Hand So wunderbar bereitet; Der Mensch, ein Geist, den sein Verstand, Dich zu erkennen, leitet; Der Mensch, der Schöpfung Ruhm und Preis, Ist sich ein täglicher Beweis Von deiner Gut und Größe. Erheb ihn ewig, o mein Geist! Erhebe seinen Namen! Gott, unser Vater, sey gepreist, Und alle Welt sag Amen! Und alle Welt furcht ihren Herrn, Und hoff auf ihn, und dien ihm gern! Wer wollte Gott nicht dienen?« (GOL, S. 145f.)
Auch bei diesem zweifellos gelungenen Kirchenlied hat sich Geliert offenkundig in Inhalt, Sprache und Stil stark von den Schöpfungspsalmen
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inspirieren lassen (vgl. PS. 8, 19, 33, 36, 65, 104 u. a.; vgl. dazu im einzelnen 11.28 Werth, S. 63f.), für welche Ehrfurcht vor dem »creator« »Bewundrung« lautet der innerhalb der Theorie des Erhabenen bedeutsame Affekt bei Geliert - und Freude über die Schönheit der Schöpfung mit der abschließenden Treueverpflichtung zusammengehören (vgl. PS. 104,33 mit dem Schlußvers: »Ich will dem Herren singen mein Leben lang und meinen Gott loben, solange ich bin.« Vgl. dazu auch V Weiser, S. 40f., 95, 459). Umso bezeichnender ist für Geliert freilich, wie er diesen Rahmen ausfüllt: Er kleidet die »Bewundrung« in der ersten Strophe in eine weit ausladende hypotaktische »wenn-so«-Konstruktion, deren Zentrum in dem kurzen - und deshalb herausgehobenen - Mittelvers am Schluß des Aufgesangs liegt: »Anbetend überlege« - eine prägnante Formel auch für Gellerts Haltung in den »Oden fürs Herz«! Selbst noch im Staunen artikuliert sich die »ratio«, und sei es, daß sie ihrem Unvermögen zur adäquaten Bewunderung, ihrer Sprachlosigkeit noch beredt Ausdruck verleiht. Und alles geht - von der ersten Zeile an - vom Ich aus: dieses gibt die Betrachtungsperspektive vor und nicht mehr aus der Hand (vgl. dazu Abb. 6 in Bd. V/2, S. 103). In den Beschreibungen und rhetorischen Fragen verleiht das Ich den Elementen der Schöpfung »Sprache«, wobei sich der Blick vom Makrokosmos - in der Reihenfolge zunehmender Schwere der Elemente: vom Feuer (»Sonne«) über die Luft (»Winde«) und das Wasser (»regnen«) zum »Schoß der Erden« - herabsenkt und doch zugleich auch vom Unbelebten der vier Elemente (in den beiden Eingangszeilen von Strophe 4) über die vegetabilischen Prozesse zum höchsten Lebewesen emporhebt: Auf den Menschen also als Bedingung des Schöpferpreises (»ein Geist, den sein Verstand, / Dich zu erkennen leitet«) läuft alles hinaus, er erkennt sich in diesem Lobpreis als »der Schöpfung Ruhm und Preis«, er »Ist sich ein täglicher Beweis / Von deiner Gut' und Große«: Im hymnischen Lob Gottes entdeckt und feiert sich der Mensch selbst als edelstes Geschöpf Gottes (so auch in MV, S. 92; vgl. dazu Jerusalems Position in Kap. II l e-3). Der >Preis des Schöpfers< endet im »Ruhm« seines Geschöpfes - eine gewichtigere Aufwertung des Menschen hat auch die Aufklärung nicht aus dem (physikotheologischen) »Erwägen« Gottes und seiner Werke gewinnen können (vgl. GOL - 1981, S. 47ff., 52ff.). Auch die letzte Strophe, die sich wieder dem Lobpreis Gottes zuwendet, bleibt doch der menschlichen Perspektive verhaftet: im Appell an »meinen Geist« und an »alle Welt«, und darin bereitet das Lied den Übergang in die Didaxe vor, mit der es - in der rhetorisch-appellativen Schlußfrage - noch zur Lehrode wird. In der Mahnung zum »Dienst« aber verbirgt sich wiederum das »gute Werk« der Tugend, deren Ausdruck der ganze >Preis des Schöpfers< sein
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. Neologie und Empfindsamkeit
will. - Aus der Hochschätzung der Tugend also und damit aus der Nähe zur Aufklärung erwächst bei Geliert zugleich die Sorge um ihre fromme Handhabung, um das »reine Herz« und damit in diesem Punkt eine gewisse Nähe zum Pietismus. In den >Lehroden< ist sich das Ich - auch in der Anrede des Leser-Du (es gibt kaum Plural-Anreden) - von alles entscheidender Bedeutung, weil es für sein Heil selbst verantwortlich ist und weil dieses Heil in einer Tugendhaftigkeit gründet, die das »Selbstgefühl der Vollkommenheit« als »Zentrum empfindsamer Existenz« vermittelt (vgl. Kap. II 4 d). Insofern ist Gellerts geistliche Poesie keineswegs Zeichen seiner »bigotter werdenden Frömmigkeit« (11.28 Jung 1989, S. 106), sondern Fortsetzung und Festhalten seines von der Aufklärung inspirierten Ideals der Erziehung zur Tugend, der Verbesserung der Sitten und des Geschmacks. Unter diesem Aspekt sind die >Geistlichen Oden und Lieder< sogar ein Höhepunkt seines Werkes, weil er den Anspruch der Tugend nun uneingeschränkt auch innerhalb der Religion selbst geltend macht. Die Hervorhebung des Ich in seiner angeschauten Anfechtung und Konsistenz hatte für Geliert aber auch eine existenzielle persönliche Bedeutung. Er, der von früh an Depressive, deshalb ständig an sich Zweifelnde und aus Unsicherheit sich allen Einflüssen Aussetzende, der Außengesteuerte, der es allen recht machen wollte: er hatte den sehnlichen Wunsch nach in sich ruhender, selbstgewisser Ich-Identität schon in seinen 12 >Liedern< von 1743 zum Ausdruck gebracht. Über die »wahre Lust« in der Welt heißt es gleich im ersten Lied: »Ich finde sie, / Mit leichter Müh, / In meiner eignen Brust.« (Zit. in 11.28 Schlingmann, S. 85) Das fünfte Lied macht dies zum Hauptmotiv: »Trifft mein Wünschen anders ein: So wünsch ich mir kein größer Glücke, Als allein Bey einer stillen Lebensart mein eigner Herr zu seyn. Nie hab ich die Kunst gefaßt, Daß ich mich niederträchtig bücke. Diese Last Bleibt mir, und jeder freyen Brust, bis in den Tod verhaßt. Niemand will ich, als nur mir, von meinem Thun und meinem Leben, Antwort geben. Dieses Recht nehm ich in Acht. Gnug Gewinn, Wenn ich bey Freunden, Spiel und Scherze Meine bin, Und wenn mein eignes Herze Mir keinen Vorwurf macht.« (Zit. ebda., S. 87)
4) Tugendängstlichkeit (Geliert)
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»Tugend und Religion« dienten offenbar ebenfalls diesem Ziel der Selbstvergewisserung eines ängstlichen Ich, das sich zeitlebens - vergebens - ein »heilig glühend Herz« ersehnte, das »alles selbst vollendet« hätte und deshalb dem Autonomiestreben der Zeit verpflichtet blieb. >Das Glück eines guten Gewissens< ist auch noch für den Geliert der >Geistlichen Oden und Lieden das höchste - selbständig zu erreichende Ziel menschlicher Selbstverwirklichung, mit dem sich das Individuum zugleich seiner Ewigkeit versichert: »Im Herzen rein Hinauf gen Himmel schauen Und sagen: Gott! du Gott, bist mein Vertrauen! Welch Glück, o Mensch, kann großer seyn?« (GOL, S. 190)
Die Strophe verdeutlicht zugleich Gellerts problemgeschichtliche Position: »Im Herzen rein« zeigt er sich mit der daraus erwachsenden Tugendängstlichkeit dem Pietismus nahe, das »Hinauf gen Himmel schauen« markiert dagegen die entscheidende Differenz: Gott ist bei Geliert nie der pietistische »Gott in mir«, sondern immer der »Gott außer und über mir«, den er durchaus auch in seinen neuzeitlich-nachkopernikanischen Dimensionen darzustellen vermag (so in der >Ehre Gottes aus der Natmx: »Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre«; ebda., S. 102; vgl. dazu IV Pfeiffer, S. 16ff.), aber der Schöpfer ist zugleich »Ein Gott der Ordnung« (GOL, S. 102), deshalb der Verläßlichkeit und des »Vertrauens«, dessen >räumliche< Distanz nicht als Beunruhigung erfahren wird, aber die Konzentration auf das Ich und seine Befindlichkeit verstärkt (vgl. dazu Bd. V/l, S. 47f.). Indem sich die religiöse Erfahrung so aber auch in der eigenen Tugendhaftigkeit erfüllen kann, rückt das »reine Herz« Gellerts denn doch in eine Traditionslinie ein, an deren Ende - als Höhepunkt des Autonomiestrebens der Epoche - das Goethesche »Heilig glühend Herz« prätendiert, »alles selbst vollendet« zu haben (vgl. Bd. VI/2).
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5) Poesie als platonische >Weisheit< (Der junge Wieland)
a) Klopstocks »Nebenbuhler« - Zur Biographie So wie sich für Goethes Entwicklung bis zu seinem Eintreffen in Weimar (1775) die Bezeichnung >der junge Goethe< etabliert hat (vgl. Bd. VI/2), so weist auch der Werdegang Christoph Martin WIELANDS (1733-1813; vgl. Abb. 16, ein Ölgemälde von Heinsius, 1775, in: II. Brender, S. 80) eine biographisch und literarisch geschlossene Jugendphase auf (bis zur Rückkehr nach Biberach 1760 ; vgl. dazu 11.103 Blasig, S. 20f.). Während sich Goethes Jugendphase mit dem >Sturm und Drang< verbindet, sind die frühen Jahre Wielands eng mit den Anfängen der >Empfindsamkeit< verknüpft. Doch während Goethe in seiner Jugend die bis heute bekanntesten und beliebtesten Werke schrieb, verbindet sich Wielands Ruhm erst mit seinen großen Romanen (seit >Don Sylvio von RosalvaGeschichte des Agathon< 1766), und er selbst hat diese Einschätzung gefördert, indem er sich von seiner Jugenddichtung distanzierte und sie Abb. 16 seiner Ausgabe letzter Hand nur als - z. T. stark überarbeitete und gekürzte - >Supplemente< beigab (SW XIII - S 1 3 ) . Auch die Forschung hat diesen frühen Werken bislang wenig Beachtung geschenkt, und wenn, dann vor allem im Blick auf ihre Aussagefähigkeit für eines der Hauptprobleme der Wielandforschung: für die »Sprünge«, »Brüche«, »Widersprüche«, »Metamorphosen« in der Entwicklung des »Chamäleons« Wieland (vgl. dazu 11.103 McCarthy 1975, S. 149+ff.; Guthke 1977, Thome 1979, S. 493ff.; J0rgensen, Jaumann, McCarthy, Thome, S. 13ff., 42f. u. ö.; Pütz, S. 348ff.; demgegenüber be-
5) Poesie als platonische >Weisheit< (Der junge Wieland)
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hauptet Blasig eine »gleitende« Entwicklung des schwäbischen Dichters: 11.103, S. 326f.). Erst jüngst hat J0rgensen angesichts des europäischen Erfolgs einiger dieser frühen Werke - so der >Sympathien< (1756) und der Empfindungen eines Christen< (1757; vgl. zu diesen Kap. II 2 b-7) - ihre genauere Untersuchung angemahnt, da sie »wenn auch kein ästhetisches, so doch ein mentalitätsgeschichtliches Interesse beanspruchen dürfen.« (11.103 J0rgensen, Jaumann, McCarthy, Thome, S. 42). - Aus der im vorliegenden Band entwickelten problem- und gattungsgeschichtlichen Sicht erweist sich gerade das generell von lyrischen Aussageformen geprägte Frühwerk Wielands als eindrucksvoller Brennspiegel zentraler theologischer und philosophischer Positionen der Empfindsamkeit und als deren zum Teil virtuose Umsetzung in Poesie. 1) Schon Wielands Biographie zeigt die für die Genese der Empfindsamkeit symptomatische Konstellation: das von ihm als Konflikt erfahrene Nebeneinander von pietistischer und rationalistischer Bildung, das sich für ihn in der zeittypischen Vermittlung löste: »Aus dem orthodox-pietistischen Pfarrersohn wurde ein pädagogisch engagierter frühneologischer Dichter.« (11.103 Blasig, S. 326) - Wieland wurde 1733 in dem zur Freien Reichsstadt Biberach gehörenden Dorf Oberholzheim geboren. Sein Vater, der Pfarrer Thomas Adam Wieland (1704-1772), hatte seit 1717 in Halle bei Francke, mit dem er weitläufig verwandt war, und dessen Mitstreiter Joachim Lange (dem Vater des Dichters Lange; vgl. Kap. I 3 a) studiert, bei letzterem auch eine Dissertation verfaßt (vgl. 11.103 Blasig, S. 42f.) und zugleich die pietistischen Streitigkeiten mit Christian Wolff miterlebt (vgl. dazu Bd. V/l, S. 103ff.), dessen Gedanken er später ein gewisses Interesse entgegengebracht zu haben scheint (vgl. 11.103 Steinberger, S. 3). Jedenfalls war Wielands Vater ein pietistisch geprägter Lutheraner mit durchaus orthodoxen Zügen in der Amtsführung, während seine Mutter Regina Katharina, geb. Kick (1715-1789), eine stärker pietistisch geprägte Frömmigkeit gepflegt zu haben scheint (vgl. 11.103 Blasig, S. 49ff.). 1736 wurde dem Vater eine Pfarrstelle in Biberach übertragen, wo er dann (1761) zum Senior aufstieg. Seine Hochschätzung pietistischer Frömmigkeit und Erziehung zeigt sich darin, daß er - mißtrauisch und ablehnend gegenüber den früh sich äußernden literarischen Neigungen des Sohnes - diesen 1747 von der Lateinschule nahm und nach kurzer Erwägung nicht mehr in das vom Niedergang gezeichnete Pädagogium in Halle, sondern auf das Internat Kloster Berge bei Magdeburg schickte, das unter seinem Leiter Johann Adam Steinmetz (1689-1762) ganz nach den pädagogischen Prinzipien des Halleschen Pietismus eingerichtet war und einen glänzenden Ruf genoß (vgl.
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II. Neologie und Empfindsamkeit
ebda., S. 80ff.; III Brecht 1995 a, S. 340ff.). Hier aber schloß Wieland u. a. in der Schulbibliothek - durch die Lektüre Bayles, Wolffs, Fontenelles und Voltaires erste Bekanntschaft mit dem Gedankengut der Aufklärung (vgl. 11.103 Steinberger, S. 16ff.). Dieser Einfluß wuchs, als er sich 1749 an der Universität Erfurt einschrieb und bei seinem Verwandten Johann Wilhelm Baumer, der sich vom Halleschen Pietismus abgewandt hatte, wolffianisch geprägte Vorlesungen in Philosophie hörte (ebda., S. 24ff.; Blasig, S. HOff.). Als Wieland im Frühjahr 1750 ins Elternhaus zurückkehrte und im Herbst des Jahres zum Jurastudium an die Universität Tübingen aufbrach, hatte er die kulturgeschichtlich entscheidenden Kräftekonstellationen seiner Epoche aus eigener Anschauung und Erfahrung kennengelernt: den immer noch herrschenden rigiden Konfessionalismus - Biberach war seit dem Westfälischen Frieden durch ein Gesetz genötigt, alle städtischen Ämter strikt paritätisch mit Katholiken und Protestanten zu besetzen (vgl. 11.103 J0rgensen, Jaumann, McCarthy, Thome, S. 20f.) -, den Pietismus mitsamt den dort virulenten hermetischen Strömungen und den philosophischen Rationalismus. Das erinnert insbesondere an Zinzendorfs >Sozialisation< (vgl. Kap. I l a; und wie dieser war Wieland von den Blattern gezeichnet: »Er ist groß u. hager v. Person hat ein pockennarbigtes Gesicht, eine spize Nase u. grosen Mund, aber eine feine Sprache u. ungemeine Gabe zum Conversiren.« So Ring 1753 in 11.103 Starnes I, S. 53). Anders indessen als Zinzendorf, der Jura studieren mußte, aber am liebsten Theologie studiert hätte (vgl. Kap. I l a), wollte Wieland Jura studieren, um dem vom Vater gewünschten Theologiestudium zu entgehen. Und offensichtlich wußte er schon ziemlich früh, daß sein größtes Talent das Dichten sei: ». . . vom 9ten Jahre an«, schrieb Wieland 1758 an seinen Schweizer Freund, den Arzt und Dichter Johann Georg Zimmermann (1728-1795), habe er »ohne Anweisung Verse, lateinische und teutsche, gemacht«, und »um diese Beschäftigung« - typisch für das poesiefeindliche pietistische Elternhaus - »zu verbergen«, habe er »mit Anbruch der Morgenröthe aufstehen müßen« (WB I, S. 378). Als 15jähriger studierte er im Kloster Berge bereits die poetologischen Schriften von Bodmer und Breitinger, die Gedichte Albrecht von Hallers, die drei ersten Gesänge von Klopstocks >Messias< (1748) und die >Bremischen Beyträge< (WB III, S. 47; vgl. auch 11.103 J0rgensen, Jaumann, McCarthy, Thome, S. 23), war also über die neuesten Entwicklungen auf dem literarischen deutschen Markt ebenso informiert wie über die theologischen und philosophischen Konstellationen der Aufklärung. Und es ist geradezu frappierend, daß er sich gegen Ende seines Tübinger Aufent-
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haltes (im Frühjahr 1752) bei der Suche nach einem >Brotberuf< genau an jene Institution wünschte, die das Erbe von Pietismus und Rationalismus neologisch zu vermitteln suchte: »Ich würde mich recht glüklich halten wenn ich eine Hofmeisterstelle auf dem Carolino zu Braunschweig erhalten könnte. Bitten Sie doch Hr. Bodmern für mich, daß er, wenn es möglich ist, mich jemand empfele der mir dieses . . . sehr grosse Glük verschaffen könnte.« (WB I, S. 65) In Zürich wird er diesen Plan - wie wir sehen werden - weiterverfolgen. 2) Eben daß Wieland in Tübingen (Oktober 1750 - Juni 1752) - anstatt Jurisprudenz zu studieren - die theologischen, philosophischen und poetologischen Diskussionen und Konflikte seiner Zeit im Medium der Poesie zu thematisieren und zu beantworten versuchte, macht den problemgeschichtlichen Reiz dieser Jugendwerke aus. Es ist erstaunlich, was er als menschenscheuer »Stubenhocker« (vgl. WB I, S. 51) - in dieser kurzen Zeit geleistet hat (vgl. 11.103 Steinberger, S. 40ff.). Zunächst verfertigte er in nur 10 Wochen ein noch stark von Brockes und Haller beeinflußtes Alexandriner-Lehrgedicht über >Die Natur der Dinge in sechs BüchernLobgesang auf die LiebeHermann< in vier Gesängen (WW I, S. 137-217), von dem Bodmer, dem Wieland es anonym zur Beurteilung zugesandt hatte, beeindruckt erklärte, es sei »überhaupt so, wie ich es würde geschrieben haben«, und hinzusetzte: »Klopstok(!) bekömmt an dem Verfasser einen Nebenbuhler« (11.103 Starnes I, S. 15), ferner die noch im Entstehungsjahr 1752 anonym erschienenen, in Alexandrinern verfaßten >Zwölf moralischen Briefe in Versen< (vgl. Kap. II 5 c), das ebenfalls 1752 verfertigte und veröffentlichte Lehrgedicht >Anti= Ovid, oder die Kunst zu liebem in zwei Gesängen (mit variablen Versfolgen; WW I, S. 310-332), sodann sechs >Erzaehlungen< in reimlosen Blankversen (ebenfalls 1752 verfaßt und publiziert; WW I, S. 340-427; vgl. dazu 11.103 Schädle, S. 118ff.). Hinzu kommen noch ein Thomson nachempfundener Hymnus auf den >Fryhling< (WW I, S. 427-436), eine weitere >Hymne< (auf den Schöpfer-Gott und die Gottebenbildlichkeit, »In die seel hingegossen, mich vor verbrechen zu schyzen«; WW I, S. 438) sowie einige Gelegenheits->Oden< >An seine Freundim (vgl. dazu unten, Nr. 6) und >An Herrn BodmerBriefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde< (publiziert 1753) zu den theologisch, philosophisch und poetologisch interessantesten Gestaltungsversuchen empfindsamer Poesie in der deutschen Literatur (vgl. Kap. II 5 c). Wieland dankte Bodmers Hochschätzung (»hier ist mehr als K[lopstock] - ohne Vergleichung mehr«; (11.103 Starnes I, S. 33) u. a. mit einer großangelegten Verteidigungsschrift von dessen Bibel-Epos >Noah< (>Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der NoahPatriarchaden< (vgl. Kap. II 2 c-2): >Der gepryfte Abraham. Ein Gedicht in vier Gesaengen< (WW II,
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S. 103-166). Ohne die Tischnachbarschaft zu Bodmer, erklärte Wieland im >Vorbericht< von 1798, würde dieses Epos »nie« »unternommen worden seyn« (ebda., S. 165f.). Doch ist der in Klopstockscher Manier ausgemalte Stoff glücklich gewählt, um daran - in empfindungsreichen Dialogen der Familie Abrahams, aber auch der als himmlische Boten tätigen Engel - den aufklärerischen Gottesbegriff zu bestätigen, der sich durch diese biblische Geschichte wie durch kaum eine andere herausgefordert fühlte: Der »Vater der Liebe«, so löst Wieland das Anstößige der Bibel in seiner Poesie auf, kann den Untergang eines Geschöpfes gar nicht wollen, der Befehl zur Tötung Isaaks eröffnet als Prüfung nur die Möglichkeit zu den schönsten (und tränenreichsten) Tugendübungen. Kein Wunder, daß der >gepryfte Abraham< dem Autor u. a. das Lob des Hofpredigers und Neologen August Friedrich Wilhelm Sack, den auch Wieland schätzte (vgl. 11.103 Starnes I, S. 51), und dessen indirekte Einladung nach Berlin eintrug (ebda., S. 79; BW I, S. 211 f.). Im ersten - und einzigen - Zugriff auf das Bibel-Epos hatte Wieland dessen inhaltliche und formale Möglichkeiten (mit reimlosem Hexameter und seraphischem Ton) sogleich meisterhaft ausgeschöpft und der Dichtung zugleich im >Vorbericht< »das lob Gottes, unsers Schoepfers und Erloesers, und den Menschen in seinen vornehmsten gesichtspuncten und bestimmungen, folglich, religion, tugend und sitten zum gegenstand« bestimmt (WW I, S. 103). »Theologie, nichts sonst, hat die Dichtung zu sein«, kommentiert Sommer diese Position Wielands (11.103, S. 19); Poesie ist Auslegung der Bibel, Predigt, erbauliche Andacht und damit selbst Medium der Gottesverehrung und gefühlshafter Tugendübung, sie ist - und ersetzt damit - Religion. 4) Diese Symbiose mit Bodmer trug Wieland zugleich die Freundschaft des Canonicus Johann Jakob Breitinger, den Wieland seinerseits »vor ein Genie von der ersten Classe« hielt (11.103 Starnes I, S. 52), die Hochachtung des neologisch orientierten Chorherrn Johann Jakob Zimmermann (vgl. zu diesem Kap. II l b-4; 11.103 Starnes I, S. 36) sowie im Laufe der Zeit weiterer - zunächst zum Teil skeptischer - Mitglieder des großen Bodmerschen Bekanntenkreises, aber natürlich auch Unverständnis und Gespött bei den literarischen Gegnern der Zürcher ein. Seine Situation war schwierig: Durch die enge Anbindung an Bodmer drohte ihm poetische Stagnation - denn er konnte das Konzept einer Poesie als Religion und eines »Poeta-Theologus« allenfalls noch stofflich und gattungsmäßig variieren, aber nicht mehr steigern, und zugleich konnte er auch nicht auf Dauer im Hause Bodmers bleiben - aber wohin sollte er? Wieland handelte konsequent, wenn er seinen neuen Mäcen von seinem alten Tübinger Plan zu überzeugen vermochte: »Ich weiß«, schrieb Bodmer im De-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
zember 1753 an Johann Georg Sulzer nach Berlin, »für ihn keinen anständigeren Platz als in dem Rittergymnasio zu Braunschweig in der Qualität eines Hofmeisters... Ich werde bald Hr. Abt Jerusalem seinetwegen schreiben. Es ist sehr viel darangelegen, daß er unter redliche, sanftmüthige und unfanatische Männer kommt.« (11.103 Starnes I, S. 59) Da dieser Plan und Wielands Kontakte zu den Neologen in der Forschung bislang kaum Beachtung fanden, seien sie hier kurz skizziert. Im April 1754 berichtete Bodmer: »Wir haben Briefe von Hr. Abt Jerusalem in Braunschweig an mich und an Wieland voller großmüthigen und liebreichen Inhaltes. Er will aber für ihn etwas ganz adaequates aufsuchen. Auch der Prediger Sak(!) hat ihm geschrieben.« Bodmer fügte aber hinzu, Wieland sei »so gern bey uns, daß er diese Lebensart selbst einem Professorate in Braunschweig vorziehen würde.« (Ebda., S. 66; vgl. dazu auch WB I, S. 198ff.). Deshalb bemühten sich die Zürcher - letztlich mit Erfolg -, Wieland eine Existenz als Privatlehrer in Zürich zu eröffnen, verfolgten aber andere Versorgungspläne, darunter auch den »Braunschweigischen«, weiter. Ebenfalls im Frühjahr 1754 erhielt Wieland Briefe des Neologen Johann Joachim Spalding (vgl. zu diesem Kap. II l b-3. Wieland, berichtete Bodmer, »hält sehr viel auf Spalding«; 11.103 Starnes I, S. 58), der den jungen und nun schon berühmten Autor im Auftrag des Freiherrn Georg Friedrich von Arnim zur Mitarbeit an der Gründung einer Akademie in der Uckermarck einlud (ebda., S. 71). Wieland folgte dieser Einladung zwar nicht, sondern begann im Sommer 1754 mit seinen Privatlektionen für einige Zürcher Bürger-Söhne, aber die »erste Schrift, die er mit seinen Schülern las, war Spaldings Bestimmung der(!) Menschen« (ebda., S. 75; vgl. ebda., S. 85). Im Januar 1755 erreichte ihn die Einladung des Markgrafen von Baden-Durlach in Karlsruhe, einen Plan für die »Einrichtung eines Institutum wie das Braunschweigische« zu entwerfen (ebda., S. 88). Wieland war zugleich als Professor an diesem Institut ausersehen, und tatsächlich hat er - nach mehrmaliger Ermunterung - einen solchen Plan im Juli 1756 nach Karlsruhe geschickt (ebda., S. 111; vgl. WB I, S. 271 f.), doch kam das Projekt nicht zustande. Ein Jahr zuvor bereits hatte Jerusalem sein Versprechen wahrgemacht und ihm eine Lehrerstelle angeboten, doch dies hatte Wieland abgelehnt (11.103 Starnes I, S. 101; vgl. WB I, S. 244ff.). 1755/56 verfaßte er seine Psalmendichtung >Empfmdungen eines ChristenDaphnisIdyllenDer Tod AbelsEmpfindungen eines Christen< kosteten ihn viele Sympathien, und die heftigen Reaktionen aus Deutschland bewogen ihn zum Einlenken und förderten so sein Streben nach größerer Unabhängigkeit von Bodmer und der Zürcher >PoetologieNatur der Dinge< Wielands umfangreiches, als eigenes Buch 1752 in Halle erschienenes Lehrgedicht >Die Natur der Dinge in sechs Büchern< war, so berichtet er selbst, »die Frucht eines enthusiastischen Spaziergangs eines noch sehr jungen und sehr platonischen Liebhabers mit seiner Geliebten, an einem sehr heissen Sommertag des Jahres 1750, nach Anhörung einer etwas kalten Predigt« des Vaters über das Thema »Gott ist die Liebe« (11.103 Starnes I, S. 9). Sophie Gutermann bat ihn, sein System einmal aufzuschreiben. Das Interpretationsspektrum zu diesem Gedicht gleicht auf frappante Weise den gegensätzlichen Forschungsstimmen zu Barthold Heinrich Brockes' irdischem Vergnügen in Gott< (vgl. Bd. V/2, S. 6f.): Einerseits unterstellte man Wieland den Versuch, »die landläufige Weltanschauung eines gläubigen Christen in ein philosophisches System zu bringen« (11.103 Ermatinger, S. 36) und ein physikotheologischer Verteidiger des Christentums zu sein, der »an einem theistischen, persönlichen Schöpfergott« »festhalte« (11.103 Hacker, S. 14), andererseits identifizierte man sein Weltbild »ohne Schwankungen mit dem des Deismus« (11.103 Hoppe, S. 16) bzw. siedelte es »irgendwo zwischen Deismus und Theismus« an (11.103 J0rgensen, Jaumann, McCarthy, Thome, S. 28), man entdeckte darin aber auch »panentheistische Züge« in einem »deutlich
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von dem aufklärerischen Vervollkommnungsgedanken geprägten« Weltentwurf (11.103 Blasig, S. 129, 138; vgl. ebda., S. 19ff.), und neuerdings hat man Wielands Bemerkung gegenüber der Mutter (vom 25. Juli 1751), die »Philosophie« der >Natur der Dinge< habe »mit der alten Platonischen« »vieles gemein« (WB I, S. 18), nach früheren Hinweisen (11.103 Ermatinger, S. 27ff.; Hoppe, S. 29) genauer aufgegriffen und in größerem Umfang neuplatonisch-hermetisches Gedankengut im Lehrgedicht verifiziert (11.103 Hacker, S. 20ff., 51ff., 65ff. u. ö.;III Baudach, S. 286ff.; 11.103, S. 193ff.; Blasig läßt diese Tradition ganz unbeachtet). Diese Parallele zu Brockes ist kein Zufall. So wie Sophie Gutermann mit ihrer Mutter Brockes gelesen hatte (vgl. II La Röche M, S. VIII f.), so vertiefte sich auch Wieland während der Biberacher Schulzeit in das bis dahin erschienene, also siebenbändige Werk des Hanseaten, das ihm in der Bibliothek seines Vaters zur Verfügung stand (vgl. 11.103 Starnes III, S. 48; in der >Einleitung< von Band VIII seines IVG von 1746 hatte Brockes - ohne Shaftesbury zu nennen - dessen berühmten Naturhymnus übersetzt; vgl. Kap. II 2 a-2). An Bodmer schrieb Wieland im März 1752: »Brokes(!) war mein Leibautor. Ich schrieb eine unendliche Menge von Versen, sonderlich kleine Opern Cantaten Ballette u: Schildereyen nach art des Hr. Brokes. Ich pflegte deswegen mit der ersten Morgenröthe schon aufzustehen, weil ich des Tags über keine Verse machen durfte.« (WB I, S. 49)
Noch der späte >Oßmannstedter< Wieland hat gegenüber Besuchern immer wieder »neue Elogen« auf »Brockes«, den »alten Liebling« (11.103 Starnes II, S. 556; vgl. ebda., S. 499), angestimmt, und Josef Rückert notierte nach einem Besuch im Sommer 1799: »In der Oßmannstedter Bibliothek ist diesem Adam der deutschen Poesie eine ehrenvolle Stelle angewiesen, und Wieland zeigt noch immer mit Achtung auf ihn.« (Ebda., S. 745; vgl. ebenso 11.103 Starnes III, S. 48 u. 441; Steinberger, S. 6f.) - Gewiß eröffnete sich im pietistischen Elternhaus durch die Naturreligiosität des >Irdischen Vergnügens in Gott< eine »neue theologische Ausgangsstellung. Dem elterlichen christologischen Ansatz stand hier Brockes' schöpfungstheologischer gegenüber«, durch den »Christus völlig überdeckt« wurde (H. 103 Blasig, S. 64). Aber Brockes bot ja darüberhinaus in seinen zahlreich eingestreuten Lehr- und Neujahrsgedichten im Rückgriff auf das aktuelle Gedankengut der Zeit dogmatische und philosophische Begründungen für seine natürliche Religion, die eklektisch sowohl deistische als auch hermetische Vorstellungshorizonte vereinigten (vgl. Bd. V/l, S. 107ff.; Bd. V/2, S. 68ff., 114ff.; durch den Bestand an hermetischer Literatur in der inzwischen wiederentdeckten Brockes-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Bibliothek läßt sich diese Interpretation jetzt noch präziser und umfassender belegen; vgl. 11.10 Kemper/Ketelsen/Zelle), und hier könnte auch das Interesse von Wielands Vater an Brockes begründet sein, denn der Pietismus war - wie u. a. die Böhme-Rezeption und der Umgang der Hallenser mit der Alchimie bezeugen - an den hermetischen Traditionen vielfältig interessiert (vgl. Bd. V/l, S. 86ff., 92ff., 107ff., 117ff.). Formal und intentional an Hallers bedeutenden (Alexandriner-)Lehrgedichten orientiert (vgl. zu diesen Bd. V/2, S. 128ff.), knüpfte der junge Wieland jedenfalls inhaltlich in Kernpositionen an Brockes an, während Klopstock noch kaum Berücksichtigung fand (vgl. dazu 11.103 Muncker, S. 171ff.). Wieland als Brockes' Adept: dies schließt keineswegs aus, daß das junge Tübinger Genie sich durch umfassende Lektüre über Brockes, den es ehrenvoll erwähnt (ND, S. 8), hinaus weiterentwickelt und sein Lehrgedicht auch konzeptionell eigenständig verfaßt hat, aber es besagt doch, daß Wieland - wie sich nun zeigen soll - zentrale Ideen vertrat, die schon Brockes seinen Lesern nahezubringen versuchte. 1) Wie Brockes - und partiell Haller - versuchte auch Wieland, dem Lehrgedicht im integrierenden Rekurs auf theologische, philosophische und naturwissenschaftliche Diskurse einen eigenständigen Rang zu sichern (vgl. dazu auch IV Siegrist, S. 166), der das Gedicht deshalb auch nach den Argumentationsstrukturen der Rede (vgl. 11.103 Hacker, S. 82f.) und der naturwissenschaftlich-philosophischen Argumentation (im Wechsel mit stets nur kurzen affektiven Passagen; vgl. dazu 11.103 Thome 1978, S. 106f.) strukturiert. Das Ich des Gedichts verantwortet seine Wahrheit noch durch Berufung auf - und Abweisung von - Autoritäten, die Überzeugungskraft des Welt-Entwurfs liegt noch nicht primär in der »poesie-spezifischen« Mitteilung persönlicher Erfahrung, für die das Ich authentisch einsteht, wohl aber im gedanklichen Selektionsprozeß, durch den sich im Auswählen der Positionen und Argumente ein stimmiges Ganzes herstellen soll. Die lehrhafte Absicht zeigt sich schon in den dem Werk als Zusammenfassung vorangestellten »Anmerkungen über die vollkommenste Welt, von welcher dieses Lehrgedicht ein Entwurf ist.« (ND, S. 5-14) Wie Brockes und ganz im Gegensatz zu Haller wollte Wieland also im Anschluß an Leibniz' >Theodizee< die vorhandene Welt als die beste aller möglichen darstellen, und wie Brockes (vgl. Bd. V/2, S. 71 f.) brachte ihn dies - im folgenden gleich im zweiten Satz der >Anmerkungen< - in Konflikt mit der traditionellen Lehre der Kirche: »Es ist bekannt, daß es so lange noch nicht ist, daß man von dem Schöpfer und seinen Werken sehr unwürdige Gedanken unter denenjenigen geheget, von welchen man eine vollkommenere Erkenntniß Gottes als von irgend einem ändern
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Menschen, fordern kann. Diejenige, welche sich unterstunden, ihre Ideen über die Meinungen des Pöbels zu erhöhen, wurden verketzert, und manche sind mit dem abscheulichen Zeichen der Gottesleugner gebrandmarket worden, welche weit größer von Gott gedacht haben, als einige heilige Väter der Kirche.« (ND, S. 5)
Das war zugleich eine Anknüpfung an Lukrez (98-55 v. Chr.), dessen großes Lehrgedicht >De rerum natura< mit seiner an Epikur orientierten materialistisch-atomistischen Weltanschauung Wieland eigentlich widerlegen wollte (vgl. ND, S. 128). Aber auch Lukrez schrieb seinen WeltEntwurf in Opposition zu den »dräuenden Worten der Priester«: »Denn was könnten sie dir nicht alles für Märchen ersinnen, / Die dein Lebensziel von Grund aus könnten verkehren / Und mit lähmender Angst dein Glück vollständig verwirren« (II Lukrez, S. 32). Und wenn Wieland fortfährt: »Die glückselige Zeiten, welche seit dem 15ten Jahrhunderte die Wissenschaften über den Occident ausgebreitet haben, haben endlich, unter unzähligen ändern herrschenden Vorurtheilen, auch dieses verbannet, welches die Mutter der unanständigen Begriffe war, womit man den Schöpfer und sein ihm ähnliches Werk schändete« (ND, S. 5), dann war dies ein Bekenntnis zum Prozeß der Aufklärung, zur Überlegenheit der Vernunft gegenüber der Autorität der Kirche, und auch in der Theologie »lehrt uns« »der Offenbarung Licht / Geschärft durch die Vernunft«: ein Bekenntnis zur neologischen Position, für die sich auch Brockes interessierte (vgl. 11.10 Sparn), deren Einfluß auf Wielands Gedicht Hacker denn auch nachgewiesen hat (11.103, S. 59ff.). 2) Wie bei dem Hamburger Ratsherrn und bei der Neologie nahm die Vernunft auch in Wielands Gedicht keine Rücksicht mehr auf Dogmen und Glaubensinhalte, die sich mit ihrem Weltbild nicht vereinbaren ließen. Die spezifisch christlichen Inhalte wurden konsequent eliminiert: Christus und seine Erlöserfunktion spielen überhaupt keine Rolle (der »Mittler« wird nur am Ende einmal beiläufig erwähnt; ND, S. 127, Z. 387), ebensowenig sonstige christliche Symbole oder Sakramente. Soteriologie und Eschatologie gehen (wie bei Brockes) zum Teil in der Kosmologie, zum Teil in Anthropologie und Ethik auf (wie in der Neologie). Aber Wieland setzte auch (wie Brockes) Fundamentalartikel der christlichen Kosmologie außer Kraft, gleich zwei in nur einer Zeile: »Die Welt fing niemals an, und nie wird sie sich enden« (ND, S. 29)! Es gab also keine »creatio ex nihilo« und kein jüngstes Gericht (vgl. dazu Brockes in Bd. V/2, S. 120; so aber auch II Lukrez, S. 33ff), und es gibt in der Unermeßlichkeit des Alls überhaupt keine räumlichen und zeitlichen Begrenzungen: »Ist nicht die ganze Welt / Ein unumschränktes All, dem
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Maaß und Gränze fehlt? / Nie fing sie an, sie wird die Ewigkeit durch dauren, / Ihr Raum läuft ewig fort, ihn schließen keine Mauren, / Der Geister rege Kraft umkerkert keine Zeit« (ND, S. 69). Das wiederum bedeutete, daß der Schöpfer (wie auch der Hamburger Ratsherr begründet hatte; vgl.Bd. V/2, S. 72) angesichts des unendlichen Weltraums nicht mehr personal zu denken und auch von seiner Schöpfung im Prinzip nicht mehr zu trennen war (denn wo sollte Gott über die Welt hinaus sein, wenn diese selbst unendlich war?). Zwar setzte sich Wieland kritisch mit dem Spinozismus auseinander (ND, S. 22ff.), verwickelte sich dabei jedoch in offensichtliche Widersprüche (»Nichts, sprecht ihr, wird aus Nichts, die Welt muß ewig seyn, / Wie Gott aus Nichts sie schafft, das sehen wir nicht ein: / Drum ist Gott selbst die Welt«; ebda., S. 22; genau dies ist die Konsequenz aus Wielands eigener Auffassung!), bemerkte sie aber wohl deshalb nicht, weil er die Welt im Gegensatz zu Spinoza als einen dynamisch-teleologischen Prozeß verstand, der sich unendlich in Raum und Zeit auf eine Vollkommenheit zubewegte, für die Gott als Chiffre einstand, indem er sie mit seiner »Kraft« als causa bewirkte und als telos wieder in sich aufnahm (vgl. 11.103 Baudach, S. 193). Von daher hat die panentheistische Deutung seines Gottesbegriffs ihre Berechtigung: »Die Welt fing niemals an, und nie wird sie sich enden, Von Ewigkeit liegt sie in ihres Meisters Händen; Durch seine Kraft bewegt, die ewig wirken muß Und stets in gleichem Maaß und ohne Zeit und Fluß. Die Kraft die ewig schlägt in den umschränkten Dingen, Weicht stets aus ihrem Gleis, um höher sich zu schwingen. Nie bleibt sie was sie war und ist nicht was sie wird, Stets hofft sie einen Tag, der sie noch schöner ziert. Dich aber, Herr der Welt, fiiehn Wechsel, Grad und Zeiten, Du unbegreiflichs Meer von gleichen Stetigkeiten Bleibst ohne Aenderung, wie du dich stets gezeigt, Indes daß unsre Kraft auf ewger Leiter steigt. So lehrt uns die Vernunft die Welt mit Gott verbinden, Und wer wird nicht die Macht der Wahrheit hier empfinden, Der Wahrheit, welche schon mit Platons Beyfall prangt, Und dich, Origenes, zum sichern Schutz erlangt?« (ND, S. 29f.)
»Der Timäus des Platon enthält viele Gedanken«, erklärte Wieland in den Vorläufigen AnmerkungenWeisheit< (Der junge Wieland)
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S. 27ff.). Der in allen drei Konfessionen als Ketzer unterdrückte Kirchenvater Origines (185-254 n. Chr.) wiederum, der versucht hatte, den Platonismus mit dem Christentum zu verbinden, wurde vor allem durch den radikalen Pietismus - durch Johann Wilhelm Petersen (1649-1727) und dessen Frau Johanna Eleonora, geb. von Merlau (1644-1724), aber auch durch Gottfried Arnold, über den Wieland ihn kennengelernt haben könnte - in den Diskurs der Aufklärung eingeführt (vgl. 11.70 Breuer, S. 6ff.). Er lehnte - wie auch Brockes, die Neologen und Klopstock (vgl. 11.10 Kemper; Kap. II l e; II 6g) das Dogma von der Ewigkeit der Höllenstrafen ab, welches mit dem Begriff eines Gottes der Liebe nicht vereinbar war. Im sechsten und letzten Buch der >Natur der Dinge< berief sich Wieland auf »die bekannte Hypothese des Origenes«, »welche, ungeachtet sie von der Kirche verworffen worden, in einer poetischen Cosmologie, wo das ganze System bloß als eine wahrscheinliche Dichtung anzusehen ist, gar wol geduldet werden kan« (ND, S. 117), doch obwohl er hier - zum einzigen Mal - die Lizenzen poetischen Gedanken-Spiels in Anspruch nahm, besteht kein Zweifel, daß ihn die Wahrheit dieser Lehre von der »liebenden Wiederbringung der ganzen Schöpfung, einschließlich Luzifers, am Ende der Zeiten« (11.70 Breuer, S. 2), überzeugt hatte: »O Herr! der Wesen Gott! der du die Liebe bist, / Wie, daß, was du beseelst, zum Elend wirklich ist?« (ND, S. 124) Und mit der These: »Ein wüthender Tyrann / Straft bloß um weh zu tun, Gott züchtiget zu bessern« (ebda., S. 125), vertrat Wieland wie auch in seinem >gepryften Abraham< die Position der Neologie. 3) Der Grund für all diese von der Kosmologie bis zur Eschatologie reichenden Ketzereien erklärt sich aus dem Kern-Satz seines Systems: Gott ist »der Mittelpunkt, in welchem sich alle Geschöpfe vereinen, oder wenn mir dieser Gleichnißausdruck auch in Prosa erlaubt ist, der Quell, aus welchem alles fließet, und in welchen alles zurückströmet.« (ND, S. 6) Um ihn als Fundamentalsatz seiner >natürlichen Religion< zu erweisen, bediente Wieland sich der Methode Lord Cherburys, der die Grundartikel der deistischen natürlichen Religion durch Ermittlung des Minimalkonsenses tendenziell aller Religionsformen - zumal im Altertum - zu ermitteln suchte (vgl. Bd. V/2, S. 62ff.): »Dieser Lehrbegriff muß sehr natürlich seyn, weil fast alle alte Weltweisen und sonderlich die ältesten, ja die Chaldäer und Aegypter selbst auf ihn gerathen, ob ihn gleich eine in den Morgenländern zu sehr ausschweifende Einbildung und ein noch wenig gereinigter und geübter Verstand in zu sinnliche Begriffe verhüllt hat.« (ND, S. 6) Es war also jener hermetische Traditionsstrom, in dem auch Herder die >Älteste Urkunde des Menschengeschlechts< ent-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
decken sollte (vgl. II Herder, ÄUM II, S. 303ff.; vgl. Bd. VI/2), den Wieland in kritischer Auseinandersetzung mit abergläubischen Zutaten in den Systemen von Zoroaster, Hermes Trismegistos (ND, S. 31 ff.), aber auch der Kabbalah (ebda., S. 36f.) auf seinen vernünftigen Kern zu reduzieren, mit modernen philosophischen und naturwissenschaftlichen Einsichten zusammenzubringen und damit als vernünftiges hermetisches System zu beglaubigen suchte. So kritisierte er an Zoroaster vor allem, daß dieser - im Bemühen, dem >guten< Gott nicht das Böse in der Welt anlasten zu müssen -, einen Gegengott und damit einen kosmologischen und moralischen Dualismus in sein System gebracht habe (»Wie thöricht ist es nicht, die Gottheit zu zerstücken, / Und unbeschränkte Macht den Teufeln anzuflikken?« ND, S. 34), denn dies würde ja die Vorstellung von der glücklichen Rückkehr aller Wesen in Gott infragestellen. Im zweiten Buch kündigte er eine »Widerlegung des Systematis emanativi, oder der Meynung, daß alle Dinge Ausflüsse aus der Gottheit seyen«, an (ND, S. 36), indessen kritisierte er bei den Variationen dieses Systems vom »Trismegist« über Plato, Jacob Böhme, Plotin und die Kabbalah (ebda., S. 36f.) nicht die Emanation selbst, sondern wiederum den diesen Auffassungen inhärenten Dualismus von >Geist< und seelenlosem Stoff, wonach das Stofflich-Materielle auf jeder Emanationsstufe zunimmt. Daraus ergäbe sich die Annahme einer seelenlosen Materie, die dem Materialismus des Lukrez, aber auch den modernen Materialisten und LeibSeele-Dualisten wie Descartes entsprächen, gegen die sich Wieland ebenfalls heftig zur Wehr setzte. Diesem Dualismus stellte er einen - insbesondere von Cudworth (vgl. Kap. II l c-1) beeinflußten - vitalistischen Gradualismus entgegen: alle Wesen haben ihren Ursprung aus Gott, erhalten aber unterschiedliche Formen und Kräfte, innerhalb deren sie sich auch selbständig weiter-zeugen: »Die Wirkung dieser Kraft, die ihr Geschlecht und Art, Durch das, was sie gebiert, den ändern offenbart, Ist bey der Creatur in Grade eingeschlossen, Und nie der Quelle gleich, aus welcher sie geflossen. Allein des Schöpfers Kraft muß stets der Wirkung gleichen, Und herrscht mit gleichem Arm in allen ihren Reichen.« (ND, S. 38)
Alle aus der Ur-Kraft >Gott< ausgeflossenen »Creaturen« in der Welt partizipieren also in unterschiedlichen Graden an dieser Kraft, der sie ihr Leben verdanken und wodurch sie - gut platonisch - auch wieder die ideologische Richtung auf Gott als ihren Ursprung hin verspüren. Es gab deshalb für Wieland keine tote Materie, sein Weltbild war wie dasjenige von Brockes und Cudworth durch und durch animistisch. Dies
5) Poesie als platonische >Weisheit< (Der junge Wieland)
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zeigt er vor allem im vierten Buch, einem Durchgang durch die >drei Reiche der NaturNatur der Dinge< erschienenen) Band seines >Irdischen Vergnügens< unternommen hatte (vgl. dazu Bd. V/2, S. 114ff.): »die unterste Classe besteht aus denenjenigen, bey denen die Empfindung am schwächsten ist; aus ihnen sind die Körper des Mineral=Reiches zusammengesetzt. Die zweyte Classe sind die Seelen der Pflanzen. Analogie der Pflanzen mit den Thieren. Das Thierreich in seinen verschiedenen Classen« (usw.; ND, S. 74). Da auch die Tiere - gegen Descartes (ebda., S. 81f.) - Seelen haben, erweist sich der hochmütige Mensch als »von gleichem Stamm mit dem verworfnen Vieh« (ebda., S. 82). Indessen werde doch bei der hypostasierten Höherentwicklung aller Lebewesen der gradualistische Unterschied zwischen den Arten und Gattungen bestehen bleiben: »Jetzt sind sie nicht was wir; und wird nach fernen Tagen / Sie einst ihr künftig Glück auf unsre Staffel tragen, / So wird ein gleicher Weg, den alle Geister gehn, / In beßre Nachbarschaft uns über sie erhöhn.« (Ebda., S. 84) Konsequenterweise war für Wieland wie für Brockes das ganze Weltall animistisch: »Noch mehr! die Sterne selbst sind Thiere, sind beseelt«; ebda., S. 91; auch für Brockes steht fest, »Der so grosse Kreis der Welt / Sey ein Thier, wie schon gemeld't« (II Brockes A, S. 575; so auch Klopstock, vgl. Kap. II 6 g-2), und deshalb entstehen, leben und sterben die Planeten und Sonnensysteme durchaus in Analogie zu allen anderen Lebewesen auch: »Sie wachsen wie ein Thier, die Erde lehrt uns dieß, Das Alter zehrt sie aus, auch ist ihr Tod gewiß, Durch ihn wird ihre Seel auf neuen Grad erhoben. So, Schöpfer, können dich die Morgensterne loben!« (ND,S. 92)
Dieser Vierzeiler mag zugleich als Beispiel dafür stehen, daß Wieland neben Passagen, in denen er sich sichtlich mit dem Inhalt quälte und die Form vernachlässigte, mit dem Alexandriner durchaus variabel, Hallerisch-gedankenreich und mit der überraschenden Wendung in der vierten Zeile, die eine Kirchenlied-Metaphorik zu >eigentlichem< Leben erweckt, poetisch durchaus effektvoll umzugehen verstand. - Natürlich ließ sich Wieland für sein hermetisches Glaubensbekenntnis »Aus Gott durch Gott - zu Gott« die im 18. Jahrhundert äußerst populäre kosmologische Idee von der »Kette der Wesen« nicht entgehen; daß er sie in hermetischem Sinne deutete, hat Hacker materialreich dargestellt (11.103, S. 19ff.), und auch hierin ahmte er wiederum seinen »Leibautor« Brockes nach (vgl. Bd. V/l, S. 107ff.). Und beide verbindet weiter das von Wieland im fünften Buch ausführlich dargestellte Interesse an den unaufhör-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
lichen Wandlungsprozessen in der Natur, wie sie auch für die Alchimie und ihren Glauben an die Veränderbarkeit (und damit an die qualitative Verbesserbarkeit bzw. Höherentwicklung) der »Creaturen« von entscheidender Bedeutung war (vgl. dazu 11.10 Kemper). »Die Welt fließt ohne End in neue Formen ein, / Kein Zeitpunct sieht sie gleich« (ND, S. 104), und der Autor kannte auch die »Ursach« von diesem »Unbestand« (ebda., S. 104): »Die Geistigkeiten sinds, die ändernd sich erhöhen, / Die sinds, durch deren Lauf die Wendungen entstehen, die unser Sinn erstaunt; ihr Leib, der Seele Wagen, / Muß mit dem innern Stand sie stets gleichförmig tragen.« (Ebda., S. 105) 4) In die Prämissen dieses hermetischen Weltbildes fügt sich auch Wielands ausführliche Auseinandersetzung mit Leibniz bruchlos ein. Dabei ging es - im dritten Buch (ND, S. 53ff.) - vor allem um das zentrale Problem der aufklärerischen Anthropologie: das Verhältnis von Leib und Seele (vgl. dazu im Blick auf Leibniz und Wolff Bd. V/l, S. 92ff.). Wieland argumentierte hier bemerkenswert ausführlich und genau. Wie Brockes lehnte er den Monadenbegriff ab, weil Leibniz damit »die Körperwelt beseelt« und dadurch das Universum »entsinnlicht« habe. »Der Stoff weicht scheu vor dir; die gränzenlosen Weiten / Des leergewordnen Raums füllst du mit Geistigkeiten; / Ausdehnung und Figur machst du bloß zur Idee« (ND, S. 55). Die Monadentheorie erkläre ferner nicht die Möglichkeit der Wirkung einer >Monas< auf die andere, denn dies setze die Fähigkeit zu aktiver und passiver Veränderung voraus, und das wiederum könne man nicht geistigen, sondern nur körperlichen Substanzen zusprechen (ebda., S. 56ff.). Daher führe kein Weg an der Annahme vorbei, daß eine >Geistigkeit< stets mit einem Körper verbunden sei (ebda., S. 60). Damit stand er vor dem Problem, das Zusammenwirken von Geist und Leib zu erklären. Wie Brockes lehnte er im Rückgriff auf die Einwände Bayles die Leibniz-Wolffsche Lösung von der »prästabilierten Harmonie« ab (ebda., S. 65ff.; vgl Bd. V/l, S. 104ff.), doch im Unterschied zu Brockes, welcher der im 18. Jahrhundert schließlich erfolgreichen »influxionistischen« Theorie des wechselseitigen Einflusses folgte (vgl. 11.10 Kemper), löste Wieland das Problem gradualistisch, indem er zwischen Körper und Seele ein >leibWeisheit< (Der junge Wieland)
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Umhüllt, unabgelegt, die idealschen Wesen. Der äußern Körper Druck, der unsre Sinne rührt, Wird unbegreiflich schnell in diesen Leib geführt. Hier bildet sich alsdenn der Vorwurf der Ideen, Und läßt dem innern Geist die Gegenstände sehen, Die seinen Leib bewegt.« (ND, S. 70)
Zur Begründung für diese Theorie vom Astralleib berief sich Wieland auf Platon und Plotin, die auch schon dem Gestirn eine ätherische Stofflichkeit zugesprochen hätten (ebda., S. 72): »Die Sonnen, die sich dort in lichten Wirbeln drehn, Planeten, Luft und Meer, und alles, was wir sehn, Ist nicht ein bloßer Stoff, der unbeseelt veraltet, Nein, Geistigkeiten sinds, die uns ihr Leib gestaltet.« (Ebda., S. 72)
Diese von Wieland später - z. B. im >Don Sylvio< - ironisierte >AstralleibVermittlung< zwischen >Kopf< und >HerzGeschichte des Agathon< oder an >Peregrinus proteus< als »Fall eines platonischen Dämons in den Schlamm der grobem Elemente« (PP, S. 136) - als letztlich unlösbares Problem bzw. als Sieg der sinnlichen Natur über die platonische Liebe gestaltete. 5) Im Zentrum des Welt- und Menschenbildes stand deshalb beim frühen Wieland die neuplatonisch-hermetische Konzeption von Liebe oder Sympathie (vgl. dazu Bd. III, S. 130ff. u. ö., Kap. II 2 b-7). Sie war in Verbindung mit der Schönheit nach dem (neu-)platonischen Kalokagathie-Modell der Motor, der die Höherentwicklung des Kosmos und sei-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
ner Lebewesen in gradualistischer Stufung bewirkte. Liebe ist dabei durchaus im Sinne der frühneuzeitlichen >magia naturalis< als »Anziehung« (»Attraktion«) zu verstehen (vgl. dazu III Kemper 1992, S. 149ff.): »Du, Liebe, edler Zug zu Wesen, die uns gleichen, Du bist von Gottes Bild das allerschönste Zeichen. Kein Wesen ist, das nicht den süßen Druck empfindet, Der ihn zum Freunde treibt und sie gesellig bindet; Je höher seine Kraft mit seiner Währung steigt, Je weiter wird die Huld auf andre hingeneigt. Je näher unser Glück uns zu der Gottheit hebet, Je zarter wird der Trieb, der unsre Brust durchwebet, Und bald sich Liebe nennt, bald treue Freunde küßt, Bald ein mitleidig Naß aus traurgen Augen gießt. Doch stärker brennt er nie als in zwo edlen Seelen, Die aus der ganze Welt zur Liebe sich erwählen.« (ND, S. 49)
Und hier konnte Wieland nun im Kontrast zur wollüstigen Zauberin, deren Genuß nur »Ekel« und Reue hinterläßt (ebda., S. 46f.), seiner Doris als Illustration dieser seraphisch himmelanziehenden Liebe ein idealisches Denkmal setzen, welches das empfindsame Programmwort der »Zärtlichkeit« bereits deutlich in der Sphäre der himmlisch-fluidalen »Astralität« ansiedelte (obwohl er an dieser Stelle des Lehrgedichts die Astralleib-Theorie noch gar nicht entwickelt hat): »Wie zärtlich wallt ihr Herz? wie um den Aufenthalt Der Gottheit ewigs Feur, gelind aufbrausend, wallt. Wie freudig wollen wir den Leib den Würmern lassen, Der uns, o Doris, neidt, wie sie, uns zu umfassen?« (Ebda., S. 50)
In dem im Mai 1751 entstandenen Hexameter->Lobgesang auf die LiebeWeisheit< (Der junge Wieland)
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Ewig konnte diese zärtliche Liebe sein, weil auch der Astralleib die Seelen in all ihren Metempsychosen ewig begleitete (vgl. ND, S. 72; vgl. ebenso AO, S. 328f., 331). Am Schluß des zweiten Buches der >Natur der Dinge< summierte und pointierte der Autor nochmals die empfindsame Liebe als Kern seiner hermetischen »Kette der Wesen«: »Dieß ist der schönste Theil von dem vollkommnen Ganzen, Das unbegränzte Reich empfindender Substanzen, Die eine Leiter hält, an der das Ende fehlt, Wo, vom geringsten Wurm, den kaum ein Trieb beseelt, Bis zu der Gottheit Freund, der sich in ihr verlieret, Unzählcher Classen Heer des Schöpfers Bildniß führet, In ungleich holdem Reiz; wo jedes Schönheit liebt Und sich nach Wollust sehnt, und seine Kräfte übt. Wo jedes durch die Zeit mit höherm Glanz sich schmücket Und stets mit hellerm Äug nach besserm Zustand blicket.« (Ebda., S. 52)
Mit diesem Lehrgedicht hat Wieland durchaus Aufsehen erregt. Es »muß ihm nothwendig Händel verursachen«, urteilte Bodmer 1752, »wenn er es für etwas mehr als ein Gedicht giebt, in welchem er seine philosophischen Hypothesen mit allen Freiheiten, die die Poesie erlaubt, verschönert und aufgemuzet hatte.« (WB II, S. 70f.) Für Johann Heinrich Waser aus dem Bodmerkreis war Wieland »ein philosophischer und theologischer Ketzer« (ebda., II, S. 94; vgl. 11.103 Hacker, S. 12f.). Deshalb stieß sein kühnes Lehrgedicht aber auch in häretisch-hermetischen Kreisen auf besonderes Interesse. So bei dem Hamburger Deisten und Hermetiker Georg Schade, der - auch von Brockes beeinflußt (vgl. 11.78 Mulsow, S. 83) eine Geheimgesellschaft gegründet hatte und dem die ihm bei Wieland begegnende »platonische Welt im Kontext eines Leibnizschen Denkens« so gefiel, daß er die Vorläufigen Anmerkungen< und weitere Passagen des Gedichts in seinen Schriften abgedruckt hat (vgl. ebda., S. 35). c) »Ich sehe die ew'gen Ideen«: >Briefe< vom »Glück des Weisen« Der junge Wieland hat sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Zielstrebigkeit jene literarischen Gattungen angeeignet, die der Engführung von Ästhetik, Philosophie und Religion Ausdruck gaben (vgl. dazu Kap. II l c-3), und er bemühte sich konsequent darum, der Poesie einen eigenständigen Status und eine - im Sinne Shaftesburys (vgl. Kap. II 2 a) gegenüber der Philosophie überlegene Wahrheitskompetenz zu sichern. Trat er schon im Lehrgedicht stolz mit eigenen Einwänden und Überlegungen zu Leibniz auf den Plan, um damit dem - von dem Philosophen
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Meier publizierten - Gedicht philosophisches Gewicht zu verleihen, so wählte er mit der Form der poetischen >Briefe< zwar ebenfalls eine traditionelle, hier vor allem auf die >Episteln< des Horaz zurückgehende Gattung, aber im Jahrhundert bürgerlicher Briefkultur (und des Briefromans) bot gerade diese Gattung in ihrer unsystematischeren und subjektiveren Form mehr Möglichkeiten zur Begründung einer spezifisch poetischen Authentizität in der empfindsamen Vermittlung von Religion und Moral. 1) Die Anfang 1752 entstandenen und im selben Jahr veröffentlichten >Zwölf moralischen Briefe in VersenEpitres diverses sur des sujets differens< (1740) angeregt wurden, nutzten diese Möglichkeit allerdings erst in Ansätzen, weil sie die - zugleich in vielen Anmerkungen dokumentierte - Gelehrsamkeit und die belehrende Tendenz der >Natur der Dinge< (vor allem in den ersten vier Briefen) nicht abzustreifen vermochten, und doch folgte hier auf deren Kosmologie nicht einfach eine Moralphilosophie, sondern der facettenreiche Versuch, die am Ideal sokratischer Weisheit (vgl. MB, S. 234ff., S. 291ff.) orientierte Tugend des Menschen in einem Wechsel von anschauender Erkenntnis und emotionaler Applikation darzustellen und dadurch für sie einzunehmen, sie also erbaulich und appellativ zugleich vorzutragen und zu vermitteln: »Ich bemühe mich in diesen Briefen«, erklärte Wieland in der >VorredeWeisheit< (Der junge Wieland)
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»Er zeiget uns den Weg, den wen'ge recht gezeiget, Wie man das Herz mit Lust zur sanften Tugend neiget, Und giebt bey stillem Oel, der Wahrheit die er fand, Gefälliger zu seyn, ein angenehm Gewand; Wie die, die er sich stets zu seinem Vorbild wählet, Mit einem schönern Geist den schönsten Leib beseelet.« (Ebda., S. 249)
Was das »Glük(!) des Weisen« (ebda., S. 265) ausmachte, war eine Mischung aus pietistischer Weltabkehr, platonischer Ideensuche und stoischer Ataraxie, zugleich aber auch Freundschaft und Liebe zu Gleichgesinnten. Am Ende des >vierten Briefes< faßte Wieland dies bezeichnenderweise und historisch früh mit der Formel von Kopf und Herz zusammen: »Von dir, mein Kind, geliebt, der großen Welt verborgen, / Will ich mein göttlich Theil, Verstand und Hertz besorgen.« (Ebda., S. 252) Dabei war die Korrelation der beiden Hauptkräfte des Menschen gänzlich platonisch bestimmt: »Die Tugend zeugt der Geist, der ordnet unsre Triebe, Und senkt ins weiche Hertz der wahren Schönheit Liebe; Er zeiget der Begier, was keine Erde beut, Die göttliche Gestalt der ächten Seligkeit: Dis Bild erfüllt sie gantz; das Urbild zu erstreben, Dis grosse Ziel allein ist ihrer Wünsche Leben!« (Ebda., S. 261)
Vom fünften Brief an begab sich die Poesie darstellerisch stärker auf eigenes Terrain. So schilderte sie zum Beispiel eine Reihe von abschrekkenden, dann nachahmenswerten Beispielen moralischen Verhaltens aus der Antike, um auszurufen: »Ach! Freundin, jene Zeit von der Homere melden, / Der Tugend Monarchie, die fruchtbar war an Helden, / Flog mit der Muse fort« (ebda., S. 258): Die Poesie zeigte ihre Stärke in der narrativen Bewahrung der >goldenen ZeitWitz< darin bestand, daß sich in ihm ein Platonist ebenso wiederfinden konnte wie ein Pietist oder ein Neologe: »O selig, wer in GOtt der Wesen Endzweck siehet, Und besserm Leben zu mit seinen Wünschen fliehet! Wer hier der Tugend schon mit Eifer nachgestrebt, Und mitten in der Zeit der Ewigkeit gelebt. Mit Freunden wird er sich von dieser Erde schwingen, Und zum beglückten Chor belohnter Weisen dringen.« (Ebda., S. 300)
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Der letzte Brief schließlich eröffnete eine neue Dimension poetischer Moral-Vermittlung: Das Ich beschreibt eine Traum-Reise »In eine neue Welt durchs Reich der Möglichkeiten« (ebda., S. 303), eine Fahrt, wie sich herausstellt, in »jene Zeit der Alten, / Da Wahrheit, Treu und Recht und Menschenliebe galten!« (Ebda., S. 307) Damit blieb auch dieser Brief noch der Sphäre irdischer Wahrscheinlichkeiten verhaftet, doch damit hatte Wieland zugleich schon die entscheidende Idee gefaßt, Breitingers Theorie von den >möglichen Weitem für die erbauliche Funktion der Poesie voll auszuschöpfen. 2) Diese Idee nahm er mit nach Zürich und verfaßte in Bodmers Studierstube die neun >Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde< (entstanden im Winter 1752/53, erschienen 1753; vgl. dazu auch III Baudach, S. 334ff.), nun in dem von Bodmer so geliebten, gegenüber dem strengen Alexandriner beweglicheren >epischen< Versmaß des Hexameters. Dieses insbesondere von Elizabeth Singer-Rowes (1674-1737) zuerst 1734 ins Deutsche übertragenem - Werk >Friendship in Death in Twenty Letters from the Dead to the Living< inspirierte Werk stellt einen beachtlichen qualitativen Fortschritt gegenüber den >Moralischen Briefen< dar. Hier schöpfte Wieland die zur anschaulichen Vermittlung seines Platonismus (Plato sei, so bekannte er 1762 selbst, der »Schlüssel zu der Philosophie dieser Briefe«; BVF, S. 102) möglichen poetischen Erfindungen variantenreich aus. Gleich der erste Brief >Junius an Daphnis< kann dies illustrieren: Der zu Lebzeiten blinde Junius erwacht nach seinem Absterben in einem Astralleib und kann zum ersten Mal sehen; er erblickt die um seinen Leichnam versammelten Trauernden und Melinde, die Braut des Freundes - eine Szene wie geschaffen zur Darstellung seiner >Empfindungen< (wobei Klopstocks >Messias< hier wie auch in den anderen, analog strukturierten Briefen Pate gestanden hat): »Mit zitterndem herzen / Naht ich mich ihr, wie von heiligen Sympathien gezogen, / Voll gefyhles, wozu die menschliche zaertlichkeit niemals / Namen erfand, aus ehrfurcht und mitleid und liebe gemischet.« (BFV, S. 2) Kurz darauf entführt ihn sein Schutzengel in die Weiten des Weltraums, den sie mit Lichtgeschwindigkeit durcheilen, und währenddessen belehrt der Engel Junius, warum er ihn kurz nach der Geburt habe erblinden lassen: weil die wahre Tugend, zu der dieser sich entwickeln sollte und für die er nun belohnt wird, von den >sichtbaren< Dingen auf der Erde nicht abhängt: Tugend ist zwar schön, aber nur für >geistige< Augen. Hier bietet der Brief wie das vorherige Werk moralische Belehrungen. Doch nun vom »crystallenen gyrtel des fernen Saturnus« aus - »hüb ich mein äug empor, und sähe verwundernd / in die aetherischen felder« des unendli-
5) Poesie als platonische >Weisheit< (Der junge Wieland)
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eben Kosmos, und »erhabne Gedanken / Schwellten in meinem busen sich auf, und erwuchsen gen himmel«: Hier geht der >Brief< strukturell ganz analog zum Lobgesang des Theokies in Shaftesburys >Moralisten< (vgl. Kap. II 2 a-2) - in einen Hymnus auf die »Gottheit« über: »Ist dir dies tiefe heilige zittern, / Das mein inners bewegt, da ich dein daseyn empfinde, / Ein gefaelliger preis? o helft mir harmonische Himmel, / Helft mir ihn singen, seraphische Choere!« (Usw. BVF, S. 7) »Also zerfloß mein herz in empfindungen himmlischer andacht« (ebda.): Hier also ist der Brief Gottesdienst im Medium des Liedes. Anschließend fliegen die beiden durch die unvorstellbaren Dimensionen des Weltraums weiter, und hier bemüht sich das Gedicht um Deskriptionen, die den modernen astronomischen Erkenntnissen von der Pluralität der Welten entsprachen (ohne aber in den Informationseifer eines Lehrgedichts zu verfallen). Dieser erste Blick auf den Kosmos bietet wiederum dem Engel die Möglichkeit zu einer philosophisch-theologischen Belehrung: »Aber wie wirst du erstaunen, wenn dich die erfahrung gelehrt hat, Daß du nur einen winkel des unermeßlichen Weltbaus Mit yberlaufendem blicke gesehn hast. Die Ewigkeit haelt dir Einen schätz von erkenntniß noch auf, den niemand erschoepfet. Und wer koennt es? Kein englischer Tiefsinn, kein flug eines byrgers Der erhabensten Sphaere hat noch die grenze der schoepfung Ausgefunden, er myste die graenzen der maechtigsten Weisheit Und der erbarmungen Gottes erfinden.« (Ebda., S. 9)
Mit diesen unwiderleglichen Sätzen, mit denen der Engel den Naturwissenschaften, der Philosophie und der Theologie (also den »drei Reichen« im Sinne Bodmers und Breitingers; vgl. Kap. II 2 c-3) ihre Erkenntnisgrenzen im >Buch der Natur< aufweist, legitimiert er zugleich die »Sternenflüge« der Poesie (vgl. dazu Bd. V/2, S. 52ff.), die diese Einsichten im Rahmen des Möglichen und Wahrscheinlichen als Wahrheit >verkündet< und damit zum Organ der Offenbarung wird. - Im siebenten Brief >Theanor an Phaedon< hat Wieland die poetische Phantasie mit ihren Ausflügen in die himmlischen Sphären als Tugend-Dienst begründet: ».. . O Phaedon, hier finden die Menschen Fyr die schoenste der kraefte, die Schoepferinn moeglicher dinge, Die mit innwendigen sinnen die Zukunft und das vergangne Gegenwärtig beschaut, die wyrdigsten gegenstaende. Wenn sie die feurigen flygel oft zu den raeumen erhybe, Deren goettliche pracht sie selbst mit aetherischer schoenheit Kroente, und blickte sie oft in die unaussprechlichen Scenen, Wo sie das glyck, unsterblich zu seyn, zum voraus empfindet;
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II. Neologie und Empfindsamkeit Glaube mir, Freund, so wyrde dieselbe, die ohne die Weisheit Immer, von afterschoenheit bethoert, die Tugend vergiftet, Mehr als der ernste verstand die herzen zur Tugend begeistern.« (BVF, S. 70)
Mit dieser Überzeugung entsprach Wieland einerseits vollkommen dem Anliegen der schweizerischen Poetik: der Hochschätzung der religiösen Poesie, der Bedeutung des »delectare« und »movere« mithilfe der Einbildungskraft, die durch ihre »frommen« Bilder den Willen zum Guten »determinieren« und damit ganz im Dienst der Tugendvermittlung stehen sollte (vgl. Kap. II 2 c-3). Andererseits ging er über die Zürcher hinaus, weil er die »möglichen Welten« seiner Poesie auf Grund der Hypothese, daß Gott in seiner vollkommenen Welt tatsächlich bereits alle denkbar möglichen habe Wirklichkeit werden lassen (sonst wäre die Welt nicht vollkommen!), als »Teilwelten der wirklichen Welt« betrachtete: »Indem der Dichter Mögliches fingiert, macht er gleichzeitig Aussagen über das in anderen Teilen der Welt Wirkliche«, seine Phantasie wird so »zu einem Organ apriorischer Wirklichkeitserkenntnis« (11.103 Baudach, S. 191f.; III, S. 307ff.). Weltanschauliche Voraussetzung hierfür war Wielands Platonismus (»ich sehe die ew'gen Ideen«; BVF, S. 31). Diesen schilderte die poetische >Weisheit< vor allem in den Briefen drei bis sechs, wobei sie die »Urbilder« oder »Muster der Dinge« tatsächlich im »obersten Weltkreis« zu lokalisieren wußte (ebda., S. 35). Dem Gradualismus seines Weltbildes folgend und zugleich dem Wahrscheinlichkeitspostulat verpflichtet, beschrieb Wieland die Planeten und »Sonnen«, auf denen die postmortalen Briefschreiber wohnten, als vollkommenere Erscheinungsformen des Irdischen, zu denen sich deshalb die Brief-Empfänger und Leser hingezogen fühlen >mußtenEmpfindung< war ja stets der Ausgangspunkt von dessen Naturgedichten und die Basis zur daraus resultierenden »Betrachtung« und Gottesverehrung (vgl. Bd. V/2, S. 104ff.): »Aber sie [= die Weisheit] oefnet die äugen und weht die nebel des irrthums Und der gewohnheit hinweg, die ihm die schoenheit der Schoepfung
5) Poesie als platonische >Weisheit< (Der junge Wieland)
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Ob sie durch jeden sinn die Seele zu freuden gleich ladet, Neidisch entziehn, sie lehrt ihn empfinden und aus der empfmdung, Mit betrachtung vermaehlt, gedanken zeugen. Dann sieht er Alles mit Gott erfyllt, von seiner Weisheit durchstralet, Alles mit absieht geadelt und nach den Geistern gestimmet; Und er forscht die Natur, nur daß er Gott in ihr sehe.« (BVF, S. 67)
Und die Geister wiederum - hier die der Sonne - dienten derselben empfindsamen Gottesverehrung im Medium der Natur, wodurch sie sich zugleich in wechselseitiger Sympathie und Liebe zum höchsten Wesen vervollkommneten - nur in gradualistischer Steigerung: »O wie seelig sind sie! Ihr einzig geschaeft ist die liebe Und bemyhung aus einsieht zu lieben. So spaehet ihr tiefsinn In der schoepfung, nur Gott mit immer wachsender innbrunst Lieben zu lernen; so freuen sie sich in ihren geliebten Neue Vollkommenheiten zu sehn und in sie zu pflanzen.« (Ebda., S. 28)
Damit führte Wieland auf problemgeschichtlich höchst instruktive Weise erneut die Affinität von Platonismus und Physikotheologie, deren Vereinbarkeit im Zeichen der >Empfmdsamkeit< und zugleich die Nähe dieser >Weisheit< zur Position der Neologie vor Augen; denn die Geister auf der Sonne praktizierten ja die auf moralische Vervollkommnung bedachte neologische Religion (vgl. Kap. II l e)! Von daher wird Wielands Mitteilung von 1762 begreiflich, »daß ich vornehmlich diesen Briefen die frühe Freundschaft des verehrungswürdigen Hrn. Spalding, und einiger ändern Geister von seiner Art, zu danken gehabt, und daß diese schöne Würkung derselben es mich niemals gereuen lassen kan, sie geschrieben zu haben.« (Ebda., S. 102) Auch Bodmer war glücklich über diese in seinem Haus entstandenen >BriefeErzählgedicht< >Musarion< (1768), in dem ein »Theosoph« (M, S. 45) sich schließlich - durch eine Schöne verführt - zur >Philosophie der Graziem bekennt, »Die, was Natur und Schicksal uns gewährt, / Vergnügt genießt, und gern den Rest entbehrt« (ebda., S. 61), aber diese Philosophie wäre keineswegs so reizend, wenn sie nicht jedesmal zuvor mit dem erhabenen Kontrapost der platonischen Sehnsucht konfrontiert worden wäre. Das war Wielands eigene Erfahrung, das bezeugt sein Frühwerk, und deshalb blieb sein hermetischer Platonismus für ihn als Dichter und »ächten Weisen / Ein Flügelpferd zu überird'schen Reisen« (ebda., S. 44).
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6) Religion als Dichtung - Dichtung als Religion (Klopstock)
a) Verehrt, geschmäht und ungelesen - Werküberblick und Kritikerecho »Wer wird nicht einen Klopstock loben? / Doch wird ihn jeder lesen? Nein.« Mit diesem Beginn seiner Sammlung von >Sinngedichten< (1753) nahm Lessing hellsichtig die Rezeptionsgeschichte von Friedrich Gottlieb KLOPSTOCK (1724-1803; vgl. Abb. 17, ein Gemälde von Johann Heinrich Füssli, in: 11.49 Sachse) vorweg (II Lessing SG, S. 7; vgl. ebda., S. 28, Nr.91; II Kohl 1989/90, S. 31). »Daß unser Volk Klopstocks Schriften jemals wieder mit wahrer Teilnahme lesen wird, steht nicht zu erwarten«, resümierte vor einem Jahrhundert Klopstocks redlicher Biograph Franz Muncker (11.49. S. 555), und seither hat es sogar innerhalb der Literaturwissenschaft eine - nur in Maßen florierende und lückenhafte - Forschung kaum vermocht, Person und Werk des »Erneuerers der deutschen Dichtersprache« (vgl. 11.49 Schneider 1965) Abb. 17 zu neuem Glanz zu verhelfen (vgl. 11.49 Burkhardt/Nicolai, S. VII; Arnold AB; Riege) oder die früh festliegende Topik seiner historischen »Verortung« >an der Grenze der Epochen< entscheidend zu modifizieren (vgl. 11.49 Hilliard/Kohl E, S. 5; Sauder, S. 59; H. Zimmermann 1987, S. 45; Forschungsberichte in 11.49 Kaiser 1975, S. 9-27; H. Zimmermann 1987, S. 1^9; Rülke, S. 1-14; vgl. auch Riege, S. 258). 1) Von Anfang an wirkte Klopstock polarisierend auf seine Zeitgenossen (vgl. dazu 11.49 Alewyn 1978, S. lOOff.). Als die ersten drei Gesänge des >Messias< 1748 in den >Bremer Beiträgen< erschienen, erkannten die Parteigänger im Streit zwischen Zürich und Leipzig (vgl. Kap. II 2 c, d)
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II. Neologie und Empfindsamkeit
sofort, daß Klopstock mit seiner empfindungsreichen Sprache des >Erhabenen< der geniale Erfüller der poetologischen Postulate von Bodmer und Breitinger und ihres Ideals der »herzrührenden Schreibart« war (vgl. 11.49 Schneider 1965, S. 18); allerdings machte sein Paradigma deren Regelwerk auch »schnell überflüssig« (ebda., S. 28). Umso mehr wurde der Streit nun an seinem Werk - auch an seinen bis 1771 nur vereinzelt publizierten Oden und Elegien - ausgetragen. Der Gottsched-Kreis erhob gegenüber Klopstock zwei zentrale Vorwürfe: den der häretischen, vom Pietismus inspirierten religiösen »Schwdrmerey« (vgl. ebda., S. 37; Kap. II 2 c-2; 6 c-1; 6 g-3) sowie der inhaltlichen und stilistischen Dunkelheit seiner Verse. Schönaich präsentierte eine ganze, alphabetisch geordnete Sammlung davon in seiner polemischen Schrift >Die ganze Aesthetik in einer NUSS oder Neologisches Wörterbuch< (II, S. 15ff.; vgl. dazu auch Trillers Parodie >Der WurmsamenMessiasMessias< als seine eigentliche Lebensaufgabe - als seinen Beruf- aufgefaßt (vgl. 11.49 Werner, S. 13ff.). Je mehr indessen die Arbeit am >Messias< fortschritt - und je länger sie sich hinzog (der vierte und letzte Band erschien erst 1773) -, desto mehr verlor die Öffentlichkeit ihr Interesse an dem Werk, dem es - so kritisierte schon Herder - an epischer Handlung und Spannung mangelte und in dem der Autor zuviel »sich verweilt, und in Empfindungen ausbricht, die er beim Leser nicht gnug vorbereitet hat: und bei denen also mancher nichts empfindet« (II Herder ÜNDL-ZSF, S. 287); außerdem zog Klopstock auch dem Messias selbst allzusehr »den Körper aus«, so daß »wir den Heiland zu wenig menschlich sehen; und es bleibt doch immer wahr; nichts bewegt eine menschliche Seele, als was selbst in ihr vorgehen kann.« (Ebda., S. 297; vgl. dazu Kap. I l e) So verzichtete Klopstock auch auf eine dramatische Gestaltung der Passionsgeschichte (vgl. II M, S. 371, 380f., 403, 445) und dichtete das Epos »ganz und gar lyrisch« (11.49 Muncker, S. 93, 95; Martin, S. lOOff.). Als Lektüreresultat stellte sich schon bei manchem Zeitgenossen wie bei Anton Reiser »entsetzliche Langeweile« ein (vgl. II Moritz, S. 470).
6) Religion als Dichtung - Dichtung als Religion (Klopstock)
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3) Mit seinen anderen Werken hatte Klopstock nur teils kurzfristigen, teils keinen Erfolg: Seine >Geistlichen Lieder< (1757), als »Lieder für den Gottesdienst« gedacht (11.49 Muncker, S. 305), riefen die Kritik von Herder, Uz, Kleist, Gleim und Lessing hervor, der urteilte, diese Lieder seien »so voller Empfindung, daß man oft gar nichts dabei empfindet« (vgl. II Lessing BNLB, S. 170). Im zweiten Teil der >Geistlichen Lieder< (1769) trug Klopstock der Kritik Rechnung, doch die Zeitgenossen bevorzugten bei weitem die Kirchenlieder Gellerts, Cramers und J. A. Schlegels (vgl. 11.49 Muncker, S. 315; vgl. dazu Kap. II 6 h-2). Die im Vorwort annoncierte größere Gesangbuch-Ausgabe, in der Klopstock neben eigenen Liedern u. a. auch die der genannten Freunde sowie Gesänge der »Karschin« (zu ihr Bd.VI/2) und des - der Heterodoxie verdächtigten, aber von Klopstock geschätzten und geförderten Johann Bernhard Basedow (1724-1794; Begründer des deutschen Philanthropismus; vgl. III Lempa, S. 79ff.) versammeln wollte (vgl. V-GL II, S. 220), kam nicht mehr zustande. - Als Dramatiker hatte Klopstock kaum mehr Erfolg. Sein Prosa-Trauerspiel in drei Handlungen >Der Tod Adams< (1757), worin derjenige (wiederum ohne >dramatische< Handlung) dem Tod entgegenlitt, der für den Tod des >Messias< verantwortlich war, erlebte als seltenes Exemplar der Gattung Bibeldrama immerhin noch mehrere Auflagen und Übersetzungen (vgl. 11.49 Muncker, S. 298ff.; Strohschneider-Kohrs 1965, S. 165ff.), die fünfaktigen Trauerspiele >Salome< (1764) und >David< (1772) wurden indessen im Blick auf »den dramatischen Wert des Ganzen« bereits »herb« beurteilt (11.49 Muncker, S. 358). Angesichts verbreiteter patriotischer Begeisterung, die sich auch auf Klopstock übertrug - er wollte die älteste deutsche Mythologie (aus der Zeit des Arminius!) wiedererwecken -, errangen seine >Hermann Schlacht, ein Bardiet für die Schaubühne< (1769) und die Bardieten >Hermann und die Fürsten< (1784) sowie >Hermanns Tod< (1787) Achtungserfolge und wurden vor allem von den Mitgliedern des >Göttinger Hains< mit Begeisterung aufgenommen (vgl. ebda., S. 401 ff.). Besonders enttäuscht aber wurde Klopstock in seinen kulturpolitischen Ambitionen: Angeregt durch den kaiserlichen Gesandten in Kopenhagen und bestärkt durch Wiener Bekannte wie den >OssianHermann SchlachtDeutschen Gelehrtenrepublikx (1774). Doch das in einem großen, europaweiten Subskriptionsverfahren erfolgreich verbreitete Werk stieß durch seine schwerverständliche Sprache, durch die altertümliche Einkleidung und die weltfremd-utopische Idee einer Vereinigung aller originalen deutschen Dichter und Denker auf breites Unverständnis. Und diese Enttäuschung der zahlreichen Subskribenten verhinderte nicht nur das Erscheinen des geplanten zweiten Teils, sondern beeinträchtigte überhaupt die weitere Rezeption von Klopstocks späteren Schriften (vgl. ebda., S. 443ff., 464), vor allem seiner (ebenfalls schwer lesbaren) dichtungs- und sprachtheoretischen Werke (>Über die deutsche RechtschreibungFragmente über Sprache und DichtkunsK, 1779; >Grammatische Gespräche Sturm und Drang< als epochemachendes Genie gerühmt: »Es ist Klopstock, der erste Dichter unseres Volks, der, so wie Alexander Macedonien, die deutsche Sprache seiner Zeit notwendig für sich zu eng finden mußte: der sich also in ihr eine Schöpfersmacht anmaßte, diese zur Bewunderung ausübte, und zu noch größerer Bewunderung nicht übertrieb: ein Genie, das auch in der Sprache eine neue Zeit anfangt.« (II Herder ÜNDL-F I, S. 582)
Herder, Goethe und die Mitglieder des >Darmstädter Kreises< bewunderten insbesondere Klopstocks Lyrik und veranstalteten - ein bemerkenswerter Vorgang! - eine kleine Edition seiner zuvor nur verstreut erschienenen >Oden und ElegienOdenGelehrtenrepublikVolkslied< das Ideal der »Naturpoesie« mit dem Kriterium musikalischer Simplizität verband (vgl. II Herder SVL, S. 167ff.; Bd. VI/2), desto mehr erkannten sie die hohe Artifizialität der >erhabenen< Klopstockschen Poesie, die auch »der humanistischen, Antike und Christentum verbindenden Überlieferung« verpflichtet blieb und deshalb »hinter der Literatur seiner Zeit zurückzubleiben scheint und nach und nach mitsamt jener Überlieferung immer schwieriger zu verstehen ist. Das bedingt die Zwiespältigkeit seiner Wir-
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kungsgeschichte.« (11.49 Krummacher 1977, S. 205; vgl. dazu auch 11.49 Milliard 1987a, S. 68ff., 91ff., 114ff.) 5) Goethe und Schiller, der Klopstock nur um zwei Jahre überlebte, sahen ihn in ihrer klassischen Phase bereits in historischer Distanz. Goethe, dessen Begeisterung über den >MessiasMessias< « »für die zarten Empfindungen hingeben«, »welche in der Elegie >An EberK, in dem herrlichen Gedicht >BardaleFrühen GräbernSommernachtZürcher See< und mehreren anderen aus dieser Gattung atmen.« (Ebda., S. 737) Dieses Urteil hat bis heute Bestand: »Klopstock war eine durchaus lyrische Natur.« (11.49 Muncker, S. 87) Kanonisch geworden - und bis heute lebendig geblieben - sind daher auch nur Teile seines lyrischen Werkes. 6) Zweifellos galt für Klopstock die »religiöse Dichtung als die erste und eigentliche Aufgabe seines Lebens« (ebda., S. 387), - und auch dies vermag den Verlust seiner Wirkung zu erklären: »mit dem christlichen Gott aber geriet auch sein Sänger ins Abseits.« (11.49 Hilliard/Kohl E, S. 1) Insofern nun »die religiöse Fragestellung entscheidende Aspekte von Klopstocks Dichtung aufschließt« (11.49 Kaiser 1975, S. 25), wirkt
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II, Neologie und Empfindsamkeit
die Einsicht ernüchternd, daß bei ihm, »der zu schneller gefühlsmäßiger Aneignung und Stellungnahme, aber weniger zu Systematik und strenger wissenschaftlicher Selbstzucht neigte«, »gewichtige theologische Erörterungen und Darstellungen« »fehlen«, »die denen des Theologen aus Leidenschaft Lessing vergleichbar wären.« (Ebda., S. 24) Klopstocks Weltbild erscheint von daher als unpräzise oder widersprüchlich, zugleich als entwicklungsarm, und Kaiser erinnert an die nicht geringe Irritation auch von Freunden und Verehrern des Dichters bezüglich seiner offenbar nur geringen Neigung, sich auf der Höhe gelehrsamer Zeitgenossenschaft zu halten: »Verstimmt schreibt Bodmer in einem Brief, der junge Dichter fürchte sich schier vor der Gelehrsamkeit als vor der Pedanterei, und ein Besucher aus Klopstocks Alterszeit [d. i. Carl August Böttiger] überliefert das Bonmot aus des Dichters Freundeskreis, Klopstock lese nur sich und die Zeitung.« (Ebda. Der Katalog seiner 1805 öffentlich verkauften Bibliothek wies nicht mehr - aber auch nicht weniger - als 771 Nummern [darunter neologisches Schrifttum] auf; vgl. 11.49 Muncker, S. 551; Kaiser 1975, S. 34f.). Als hilfreich für die historische Positionsbestimmung dieses Autors erweist sich deshalb zunächst ein Blick auf seine Biographie und damit auch in seinen - in der >Hamburger Klopstock-Ausgabe< vorzüglich edierten und kommentierten - Briefwechsel. b) Der sinnenfrohe Seraph - Zur Biographie 1) Klopstock war das älteste von 17 Kindern eines temperamentvollen, redlichen, aber auch etwas rechthaberischen Quedlinburger Kommissionsrates, dessen Bankrott die Familie in Schuldenprozesse und Armut stürzte (vgl. II Br I, S. 26f.) und dem ältesten Sohn zeitlebens die Pflicht zur Unterstützung der Familie auferlegte. Friedrich Gottlieb hatte das Glück, im Herbst 1739 an der Fürstenschule in Pforta eine Freistelle zu erhalten. Der Internatsunterricht war vornehmlich für »werdende Theologen und Philologen berechnet« (11.49 Muncker, S. 16), und hier, wo Latein noch Unterrichtssprache war, wurde dem Knaben die zeitlebens bleibende Liebe zur antiken Literatur und Kultur, aber auch zur Religion eingepflanzt. In seiner lateinischen Abschiedsrede vom 21. September 1745 entwickelte der Einundzwanzigjährige die Idee von der Ebenbürtigkeit deutscher Poesie gegenüber den Werken der Antike, die sich vor allem an einem großen Epos zu zeigen und für das die Bibel als vollkommenstes Muster für die göttlich-erhabene Darstellung zu gelten habe (ebda., S. 38ff.). Am 28. September 1745 immatrikulierte sich Klopstock an der Universität Jena als Theologiestudent, doch interessierte er sich hier bereits
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mehr für die Ausarbeitung der ersten drei Gesänge des >Messias< (zunächst noch in Prosa), und das »Renommistenleben« (Zachariaes komisches Heldenepos war im Jahr zuvor erschienen; vgl. Kap. II 3 e-2) schreckte ihn ab, so daß er um Pfingsten 1746 zum weiteren Studium nach Leipzig übersiedelte. Hier bezog er mit seinem Vetter Johann Christoph Schmidt (1727-1807) das Radickesche Haus, in dem auch Cramer, Giseke, der in Leipzig sein engster Freund werden sollte, und Rabener wohnten (vgl. Kap. II 3 a-2). Die neue Hexameter-Version des >Messias< eröffnete ihm den Zutritt zum Kreis der >Bremer Beiträgen, und hier entstanden auch seine ersten, noch an der Horaz-Nachahmung von Pyra und Lange orientierten Freundschaftsgedichte auf die Leipziger Gefährten (>Auf meine FreundeAn GisekeAn EbertMessias< in den >Bremer Beiträgen< (1748) erfolgte nicht ohne theologische Bedenken der Freunde wegen der dichterischen Freizügigkeiten des Autors im Umgang mit dem biblischen Stoff, weshalb sie Gutachten des eher zurückhaltend urteilenden - Hagedorn und Bodmers einholten, der sofort enthusiasmiert war (vgl. 11.49 Muncker, S. 69ff.). 2) Den Gedanken an den Pfarrberuf hat Klopstock in Leipzig offenbar bald aufgegeben, entsprechend wenig Theologie studiert und wahrscheinlich auch kein Examen abgelegt (vgl. ebda., S. 66). Die Natur, schrieb er 1748 an Bodmer, habe ihm »die Stimme eines Redners versagt«, deshalb schwebe ihm vor, »lieber einer Schule, als einer Gemeinde vorzustehn« (Br I, S. 29). Doch zunächst mußte er sich als Hofmeister durchschlagen und ging deshalb 1748 für zwei Jahre nach Langensalza. In diesem Zeitraum gab es zahlreiche Vorschläge und Pläne zur Versorgung des frischberühmten >MessiasMessias< und sorgte sich um dessen Zukunft. »Wer sollte«, schrieb er an Gleim, »nicht unruhig sein, so lange ein solcher Geist noch unversorgt ist?« (Zit. in 11.49 Muncker, S. 148) Und 1750 rief er aus: »Fürsten und Nationen müssen Klopstocken durch Pensionen in die bequemsten und vergnügtesten Umstände setzen, die sich für einen solchen Geist und für eine solche Arbeit schicken!« (Zit. ebda.) Und just um diese Zeit - Anfang Juni 1750 - erreichte Klopstock die Nachricht, daß Johann Hartwig Ernst Freiherr von Bernstorff (1712-1772) nach seiner Ernennung zum Staatssekretär und geheimen Rat am dänischen Hof für den mittellosen >MessiasAn Bodmer< fest (II O, S. 44), und dieser berichtete, er sei »die ganze Nacht in Ekstase gelegen« (zit. in 11.49 Muncker, S. 232). Die Freude hielt auch in den Tagen danach an und fand ihren Niederschlag in der berühmten Ode
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>Der Zürchersee< (O, S. 45ff.; vgl. Kap. II 6 d). Doch rasch stellten sich wechselseitig Irritationen und Verstimmungen ein. Bodmer hatte sich unter dem >MessiasVerhängnisse< (1747) erklärt hatte, Gott habe die »Tugend« nicht den Menschen, sondern den Engeln gegeben (vgl. dazu 11.49 Hock, S. 220ff.) - dieser Klopstock schien nun tatsächlich lieber mit Frauenzimmern tändeln als mit alternden Gelehrten disputieren zu wollen. Er rauchte, ging spät zu Bett, stand noch später auf (vgl. Br I, S. 428), schien dem Wein mehr zu huldigen als der Arbeit am >Messias< (vgl. 11.49 Muncker, S. 235ff.) und »liebte« - zeitlebens! - »die Geselligkeit« (vgl. 11.49 Lüchow, S. 334ff.). Die Zürcher hatten allen Grund, sich über die erkennbare Diskrepanz zwischen der »Unkörpedichkeit« seiner Muse und seiner ausgeprägten Neigung zum sinnlichen Genuß und auch zur körperlichen Ertüchtigung (durch Reiten, Schwimmen, Leibesübungen) zu wundern. Klopstock behielt diese Übungen (auch das Schlittschuhlaufen) bis ins hohe Alter bei und schrieb noch 1795 seinem alten Freunde Gleim: »warum unterstehen Sie sich denn, daß Sie so lange leben, da Sie doch nicht reiten?« (Br IX/I, S. 12; vgl. 11.49 Krummacher 1977, S. 193; Munkker, S. 365 , 474, 541) Bodmer vermochte Klopstocks Lebensweise nicht lange zu ertragen. Er begann sich - auch postalisch - im Bekanntenkreis über seinen Besucher zu beschweren und ließ es zum Eklat kommen, indem er von Klopstock 300 Taler zurückforderte, die er diesem zur Bestreitung der Reisekosten eigentlich geschenkt hatte (vgl. Br I, S. 90). Klopstock erstattete pikiert auch gleich noch die Zinsen und warf Bodmer in einem Brief (vom 19. September 1750) mangelnde Großmut und diktatorisches Verhalten vor (»Ich habe es erfahren, wie geneigt sie sind, andere nach sich zu messen.« Br I, S. 138). Und in einem langen, auf Intervention Breitingers zunächst nicht an Bodmer, später aber an seine Eltern und Freunde abgeschickten Brief vom Dezember 1750 rechtfertigte Klopstock seinen Bruch mit Bodmer mit dessen Gesinnungstyrannei: »Denn es wurde nun oft, u dieß manchmal mit weniger Feinheit, in meiner Gegenwart entschieden, was der Verfasser des Mess thun, u nicht thun müßte.« (Ebda., S. 156) Und bitter beklagte er sich nun: »Wie nahe geht mirs izt, daß ich meine lieben Freunde in Braunschweig, Gärtner, Ebert, u Jerusalem um Ihrentwillen verlies.« (Ebda., S. 155; vgl. dazu auch Bodmers Beschwerden über Klopstock ebda., S. 428)
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II. Neologie und Empfindsamkeit
Dieser Streit sprach sich unter Freund und Feind herum und drohte dem Ansehen beider Kontrahenten nachhaltig zu schaden. Wie sehr der >Zürcher Partei< in Deutschland die rasche Aussöhnung der Bibel-Dichter am Herzen lag, zeigt der geradezu beschwörende, fast schon drohende Ton eines Briefes von Sack an Klopstock (vom Januar 1751), in dem die Versöhnung als Gebot der Vorsehung eingefordert und ihr Ausbleiben mit Vertrauensverlust und Mißachtung des Werkes bedroht wird. Im Zeitalter der >Botschaft der Tugend< (vgl. Ill Martens 1971) wird hier mit neologischer Konsequenz der Dichter des >Messias< im Blick auf Glaubwürdigkeit und moralische Vorbildlichkeit einem Prediger der Botschaft Christi gleichgestellt (vgl. Kap. II l f-2) und am Maßstab der von ihm gedichteten Figur gemessen, die für die Neologie immerhin der Sittenlehrer des Christentums war: »Nein! Bodmer und Klopstok(!) müßen sich lieben, und Klopstock muß das Herz seines Bodmers wieder gewinnen, und nie wieder verliehren. Er muß hingehen, wäre er auch der beleidigte, und Thränen der zärtlichsten Wehmuth weinen, die ich so oft weinte, wann ich den Meßias läse. Klopstock muß dieß thun, er muß aus Zürch als Bodmers Freund reisen, oder mein Herz wird kalt bleiben, und mein Auge wird nicht mehr weinen, wenn ich gleich die stärksten Stellen im Meßias lese; . . . Ja, Klopstock muß aus Zürich als Bodmers Freund reisen, oder kein Mensch fühle die Stärcke seiner Gedichte, sein Meßias werde ein mittelmäßiges Stück, und seine Oden kriechend, . . . alle Ihre Freunde erwarten solches von Ihnen, und Sie sind dazu gegen die Vorsehung verbunden, oder Sie streuen den Saamen der tiefsten Reue in Ihr Hertz. Ich wenigstens mag es nicht erleben, daß Klopstock dem Meßias untreu werden, und die besten Seelen dadurch so sehr betrüben sollte.« (Br II, S. If.)
Klopstock verstand und akzeptierte diese Forderung. Er hatte schon von sich aus einen Versöhnungsbrief an Bodmer geschrieben, weil »es nichts geringers betrift, als der Eindruck, den der Mess in moralischen Absichten, welches seine vornehmsten sind, betrachtet, auf die Gemüther vieler Menschen, nach den Begriffen, die sie von dem Verfasser haben, machen oder nicht machen kann« (Br I, S. 153f.). So kam es denn auch zu einem freundlichen Abschied zwischen beiden, der ihnen die Fortsetzung ihrer Korrespondenz erlaubte und ihre >Gemeinde< vor Spaltung und Apostasie bewahrte. Zeitlebens hat Klopstock diesen typisch modernen Rollen-Konflikt erfahren und aushalten müssen: zwischen der öffentlichen Erwartung vom (Erscheinungs-)Bild eines »heiligen Dichters«, das er aus Überzeugung annahm, weil es seinem Selbstbild entsprach und er zum Teil auch materiell davon abhängig war, und seinen eigenen >privaten< Bedürfnissen nach sportlicher Aktivität, nach sinnlich-körperlichem Ausgleich für die >KopfErhabenheitx. Daraus resultierte immer wieder sein - auch zu mancherlei hämischen Anekdoten Anlaß gebendes - >gebrochenes< Erscheinungsbild, wie es Goethe 1774 erlebte, als ihm der Dichter des >Messias< gesetzt und würdig entgegentrat - und dann mit ihm über das Schlittschuhlaufen plauderte (vgl. 11.49 Muncker, S. 468). Mit dem Versuch, öffentliche Rolle und divergente private Neigungen ohne Plausibilitätsverlust miteinander zu vereinbaren, lebte Klopstock ganz auf der Höhe der bürgerlichen Kultur seiner Zeit, die von einem zwar langsamen, aber nachhaltigen Trennungsprozeß von Privatsphäre und öffentlichem Wirkungsbereich gekennzeichnet war (vgl. III van Dülmen I, S. 230ff.). Doch nahmen die bürgerliche Gesellschaft und Klopstock selbst das Rollenspiel als Bewältigungsstrategie u. a. deshalb noch nicht für sich in Anspruch, weil es als intrigante Inszenierung höfischer Selbstbehauptung und damit als Teil adliger Kultur begegnete, auf welche sie mit dem Ideal der - gleichförmiges Verhalten inkludierenden - Aufrichtigkeit reagierten (vgl. II La Röche GFS, S. 119ff.; Kap. I l e; vgl. dazu auch 11.49 H. Zimmermann 1987, S. 78ff). So mußte Klopstock immer wieder anecken und enttäuschen, aber umso bemerkenswerter ist es, daß er diesen Konflikt - nicht zuletzt, weil er ihn nicht als Widersprüchlichkeit seiner Person bzw. seines Charakters zu empfinden brauchte - durchstand und sich beharrlich die Existenz- und Lebensform eines sinnenfrohen Seraphs zu schaffen und zu erhalten wußte. 4) In gesteigerter Form durchlebte Klopstock den Konflikt zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit bei seinen Liebesaffären, doch zeigen diese auch, daß er sein Dichtertum durchaus funktional für seine persönlichen Interessen einzusetzen verstand. - Schon in Leipzig hatte er die Schwester seines Vetters, Marie Sophie SCHMIDT (1731-1799) kennen und lieben gelernt. Ihretwegen auch wechselte er vor allem als Hofmeister an ihren Wohnort Langensalza. Hier entzündete sich seine Zuneigung zur Cousine mächtig, indessen stieß Klopstock auf keine erkennbare Gegenliebe, allerdings auch auf keine dezidierte Ablehnung, so daß sich sein Werben, Hoffen, Sehnen und Fürchten über Jahre hinzog. Seine Oden an diese >Fanny< (genannt nach einer Figur aus Henry Fieldings Roman >The History of Adventures of Joseph Andrews and of his Friend Mr. Abraham AdamsDie künftige GeliebtePetrarka und LauraAn FannyBardaleDer AbschiedDer AbschiedMessiasMessias< (1773) legte der Dichter zugleich seine entscheidende poetische Lebens-Leistung vor, erreichte damit den Zenith seines Ansehens (vgl. Kap. II 6 a), entwickelte sich von da ab aber in seiner Poesie auch nicht mehr entscheidend weiter: »Es ist ein eigentümlicher Zug von Klopstocks Entwicklung, daß er in seiner Jugend eine große sprachschöpferische Leistung vollbrachte, dann aber in späteren Jahren immer mehr versuchte, das von ihm selbst intuitiv Geschaffene reflektierend zu durchdringen und zu rechtfertigen.« (11.49 Schneider 1980, S. 178f.) Dazu gehört, daß er seine dichtungs- und sprachtheoretischen Reflexionen zunehmend auch zum Gegenstand seiner Lyrik erhob (vgl. die >Oden über Sprache und DichtungErinnerungsoden der Spätzeit< den >Frohsinn< (1784) seiner Jugend vergegenwärtigte: ». . . und auf dem Scheitel / Blühet mir es winterlich schon, auch ist es / Hier und da öde. / . . . Wer dann mich klagen / Hört, verzeih dem Thoren sein Ach; denn glücklich / War ich durch Frohsinn!« (Ebda., S. 120) Insofern wird auch durch Klopstock die lyrikgeschichtliche Grenze der Empfindsamkeit um 1770 bestätigt! 8) Nur das Ereignis der Französischen Revolution und deren Folgen hat den republikanisch gesinnten »Dichter-Pensionär« (11.49 Pape, S. 190) der dänischen Krone in der Freien Reichsstadt Hamburg noch einmal zu poetischem Enthusiasmus entflammt. 47 Oden - und damit den Haupt-
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teil seines lyrischen Spätwerks - widmete er diesem Ereignis und seinen europäischen Folgen, und von daher gebührt ihm zweifellos auch ein Stammplatz in der Geschichte der politischen Lyrik (vgl. 11.49 Winter, S. 133ff., 146ff.; IV Wilke, S. 156ff. u. ö.), aber ebenfalls der paraenetischen Elegie: Strohschneider-Kohrs hat neuerdings den hohen künstlerischen Wert der Revolutionselegien (>Sie und nicht wir. An LarochefoucauldAn La Rochefoucauld's SchattenDer ErobrungskriegDie Etats GenerauxSie und nicht WirDer Freyheitskrieg< (1792) an Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, den Oberbefehlshaber des preußisch-österreichischen Heeres mit der dringlichen Bitte, bei diesem Feldzug gegen die »Gallier« das Kommando niederzulegen (vgl. 11.49 Winter, S. 138 ): »Und jetzt wolt ihr sogar des Volkes Blut, das der Ziele Letztem vor allen Völkern sich naht, Das, die belorberte Furie, Krieg der Erobrung, verbannend, Aller Gesetze schönstes sich gab; Wolt das gepeinigte Volk, das Selbsterretter, der Freyheit Gipfel erstieg, von der furchtbaren Höh, Feuer und Schwert in der Hand, herunter stürzen, es zwingen Wilden von neuem dienstbar zu seyn; Wolt, daß der Richter der Welt, und, bebt, auch eurer, dem Menschen Rechte nicht gab, erweisen durch Mord!« (O, S. 113f.)
Daß die französische Nationalversammlung ihn am 26.8.1792 zum französischen Bürger ernannte, nahm er dankbar an (vgl. 11.49 Muncker, S. 152; O, S. 153f.). Doch forderte er schon in seinem Dankschreiben die Bestrafung der Schandtaten des 2. September 1792 und konnte die weiteren Greuel (Königsmord 1792, die Eroberungskriege der Republik, die Gewaltherrschaft Marals und Robespierres) nicht akzeptieren (vgl. 11.49 Winter, S. 140f.). Allerdings sandte er sein Bürgerdiplom nicht zurück,
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weil er die Führungsfiguren (und nicht das Volk selbst) für schuldig hielt (vgl. 11.49 Pape, S. 184ff.). 9) Ein bis zur Rücksichtslosigkeit gegenüber Freund und Feind reichendes Streben nach »Wahrung seiner Autonomie« (ebda., S. 176), wie es sich in Klopstocks Verhalten gegenüber dem Verlauf der Französischen Revolution manifestiert, charakterisierte auch die private Lebensweise des Dichters seit seiner Übersiedlung nach Hamburg. Er fühlte sich von einer 23 Jahre jüngeren Nichte Metas, Johanna Elisabeth von WINTHEM (1747-1821), besonders angezogen; in ihr, die seit 1765 verheiratet war, erblickte er die »irdische Personification des Gesangs« (11.49 Munkker, S. 429), und in ihrem Hause richtete er mit Duldung ihres Gatten Johann Martin von Winthem eine Lesegesellschaft ein. Alsbald drang schreckliche Kunde nach Braunschweig: Alberti hatte Klopstock die Freundschaft gekündigt, weil dieser sich mit seiner Nichte in aller Öffentlichkeit - »mehr als Einmal vor mehr als 100 Personen«, so Alberti (in II Br V/2, S. 865) - wie ein schamloses Liebespaar aufgeführt hätten: »Selbst Kinder und Domestiquen haben ein Aergernis daran genommen.« (Ebda.) Und wieder fürchteten die Freunde, der Zweifel an der moralischen Integrität des >MessiasDichtung und Wahrheit< seinem früheren Freund eine >heilige EhestandsFreude und LeidMessiasDichter-PriestersMessias< auf sein Sterben vorbereitet - sein Tod ereilte ihn am 14. März 1803 »in ruhigem Schlummer« und »ohne ängstliche Miene« (ebda., S. 548) -, so wurde sein Begräbnis zur Selbstapotheose: die große Trauer-Gemeinde sang seine geistlichen Lieder, ein Exemplar des >Messias< wurde aufgeschlagen auf seinen Sarg gelegt, und der Domherr Friedrich Johann Lorenz Meyer »las aus dem zwölften Gesang der Messiade die Verse vom Tode der Maria von Bethania vor, die Klopstock auf dem Sterbebett sich vornehmlich oft in's Gedächtnis gerufen hatte.« (Ebda., S. 550) Klopstock wurde also mit Hilfe seiner eigenen Poesie zu Grabe getragen. In deren pragmatischer Rückbindung an die Religion manifestierte sich noch einmal das für die Empfindsamkeit typische und konstitutive Verhältnis der beiden Zwillingsschwestern des Gefühls, und insofern wurde mit Klopstock symbolisch auch die Dichtung der Empfindsamkeit auf ihrem religiösen Zenith symbolisch bestattet. c) Das magische Dreieck: Dichter-Priester, »heilige Poesie« und kultische Rezeption Wie kaum ein anderer deutscher Autor des 18. Jahrhunderts hat Klopstock sein Dichten als Kulthandlung zu auratisieren vermocht. Die vor-
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gängige Inspiration des Poeten führte zu einer Sakralisierung des Dichtens, und zwar sowohl seiner Genese als auch seines Inhalts und Zwecks und übertrug sich auf die mündliche oder schriftliche Rezeption. 1) Gleich zu Beginn des >Messias< (V. 8-17) hatte Klopstock seinen Anspruch als Dichter des Heiligen - und damit als heiliger Dichter der Erlösungstat Christi - begründet: »Aber, o Tat, die allein der Allbarmherzige kennet, Darf aus dunkler Ferne sich auch dir nahen die Dichtkunst? Weihe sie Geist Schöpfer, vor dem ich hier still anbete, Führe sie mir, als deine Nachahmerin, voller Entzückung, Voll unsterblicher Kraft, in verklärter Schönheit, entgegen. Rüste mit deinem Feuer sie, du, der die Tiefen der Gottheit Schaut, und den Menschen aus Staube gemacht zum Tempel sich heiligt! Rein sei mein Herz! So darf ich, obwohl mit der bebenden Stimme Eines Sterblichen, doch den Gottversöhner besingen, Und die furchtbare Bahn, mit verziehnem Straucheln, durchlaufen.« (M, S. 197)
Der Gottsched-Schüler Schönaich zitierte diese Stelle in seinem Geologischen Wörterbuch< unter dem Stichwort »Geistschöpfer« als »St. Klopstocks Offenbarungen«: »Denn so redet der kleine Geistschöpfer mit dem größern« (II Schönaich, S. 151 f.). Mit diesen Allusionen auf den Inspirations- und Schöpfertopos des Dichters hatte Schönaich im Blick auf Klopstock Recht und Unrecht zugleich. Zweifellos reklamierte der Dichter den Topos der religiösen Ergriffenheit für sich, wie dies Zinzendorf für die Liedproduktion seiner Gemeine (vgl. Kap. I l c), aber auch seine Freunde J. A. Schlegel und Cramer in ihrer Nachdichtung der Psalmen Davids für sich in Anspruch nahmen (vgl. Kap. II 2 b-6, e). Indessen damit bekannte sich Klopstock zugleich zur primären Abhängigkeit seines Dichtens von der vorausgehenden göttlichen Inspiration und vermied das - von Schönaich insinuierte - Selbstverständnis eines kleineren »Schöpfers« im Sinne Shaftesburys (vgl. Kap. II 2 a-2) oder gar eines autonom schaffenden »Originalgenies« - diesen Begriff verwendete Klopstock (im Unterschied zum öfter gebrauchten »Genie«) nur einmal in seinem Werk, um klarzustellen, daß »sich selbst ein Originalgenie dem Wesentlichen, was die lyrische Poesie fodert, unterwerfen muß.« (GNP, S. 995; vgl. dazu auch 11.49 Schieiden 1953, S. 74ff.) Gleichwohl gestand der Autor - nicht zuletzt aus dem Bewußtsein eigener Originalität heraus - vor allem dem »lyrischen Dichter« durchaus »Originalcharakter« zu (GNP, S. 995), indessen bevorzugte er zur Kennzeichnung dieses dichterischen Eigenanteils neben und nach der Inspiration statt des im Bereich der göttlichen Offenbarung besonders häresieverdächtigen Begriffs
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des originalen Schöpfertums den Begriff des Erfindern. Mit dieser Kombination von vorausgehender göttlicher Inspiration - verstanden als Initiation in eine herausragende psychische Gestimmtheit als Stimulans erhabenen Dichtens - und dichterischer Eigenleistung, die zugleich auch noch bestimmte Gattungsgesetze zu berücksichtigen hat, stand Klopstock insgesamt noch in der sich von Platon und Ovid herleitenden humanistischen, aber auch in der Barock-Mystik religiös adaptierten Tradition des Topos vom »Gottlichen furor« (II Opitz, S. 54; vgl. Bd. I, S. 47ff.). Die Verbindung von Ergriffenheit und Erfindung charakterisiert auch Klopstocks frühe Ode >Die Stunden der Weihe< (1748): »Euch Stunden, grüß' ich, welche der Abendstern Still in der Dämrung mir zur Erfindung bringt, O geht nicht, ohne mich zu segnen, Nicht ohne große Gedanken weiter! Im Thor des Himmels sprach ein Unsterblicher: >Eilt, heiige Stunden, die ihr die Unterwelt Aus diesen hohen Pforten Gottes Selten besuchet, zu jenem Jüngling, Der Gott, den Mittler, Adams Geschlechte singt! Deckt ihn mit dieser schattigen kühlen Nacht Der goldnen Flügel, daß er einsam Unter dem himmlischen Schatten dichte. Was ihr gebahret, Stunden, das werden einst, Weissaget Salem, ferne Jahrhunderte Vernehmen, werden Gott, den Mittler Ernster betrachten, und heilig leben.< Er sprachs. Ein Nachklang von dem Unsterblichen Fuhr mir gewaltig durch mein Gebein dahin; Ich stand, als ging' in Donnerwettern Über mir Gott, und erstaunte freudig.« (O I, S. 46f.)
Dasselbe Verhältnis von numinoser Prädisposition und daraus fließender dichterischer Eigenaktivität beschreibt Klopstock im zweiten Teil seines Epigramms Entdeckung und Erfindung< (1771), wobei >Entdeckung< das verstandesbestimmte »witzige« Dichten der Aufklärungspoeten bezeichnet (vgl. Bd. V/2, S. 174f.): »Wer unruhvollen hellen Geist hat, scharfen Blick, Und auch viel Glück, Entdeckt; Doch wer, um Mitternacht vom Genius geweckt, Urkraft, Verhalt, und Schönheit tief ergründet, Der nur erfindet.« (E, S. 18f.)
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Die höhere Eingebung durch »Geist« oder »Genius« setzt zugleich die traditionelle Regelpoetik außer Kraft (vgl. 11.49 Schieiden, S. 76f.), verlangt aber zugleich auch ein Höchstmaß an poetischer Genauigkeit, die Begeisterung muß von der Kühle des Urteils begleitet sein: »Auf die feurige Stunde der Ausarbeitung muß, besonders auch in Absicht auf den Ausdruck, die kältere der Verbessrung folgen.« (SP, S. 1023) Aus dieser Überzeugung heraus entstanden Klopstocks poetologische, sprach- und verstheoretische Schriften, und auch in ihnen zeigt er sich als ein letztlich noch von der humanistischen Tradition bestimmter Autor. 2) Zu seinem Dichten bedarf er besonderer, unverfügbarer >Stunden der Weihen und bezeichnenderweise heißt es in dieser Ode (im Anschluß an die bereits zitierten Strophen): »Daß diesem Ort kein schwatzender Prediger, Kein wandelloser Christ, der Propheten selbst Nicht fühlt, sich nahe! Jeder Laut, der Göttliche Dinge nicht tönt, verstumme! Deckt, heiige Stunden, decket mit eurer Nacht Den stillen Eingang, daß ihn kein Sterblicher Betrete, winkt selbst meiner Freunde Gerne gehorchten, geliebten Fuß weg!« (O I, S. 47)
Der »Ort« der Ergriffenheit wird zum »Allerheiligsten« auratisiert, das von niemand anderem, Uneingeweihten »betreten« werden darf. Einsamkeit und Stille - zugleich Voraussetzung und Seinsweise prophetischer oder mystischer Gotteserfahrung - bedingen und bestimmen die Entstehung des »heiligen Gedichts« und verleihen ihm damit zugleich den Charakter des Besonderen, je Einzigartigen und Unverwechselbaren. 3) Als höchsten Inhalt und eigentlichen Zweck der Poesie bestimmte Klopstock die Reizung zur »Tugend der Religion« als Mittel menschlicher Glückseligkeit. Was er im >Messias< poetisch praktizierte, begründete er im nachhinein in seinen ästhetischen Schriften und vertrat dabei voll und ganz die neologische Position. Er ließ diese in der Abhandlung >Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaftern (1758) von der (sokratischen) Philosophie als Fürsprecherin der Poesie, Rhetorik und Geschichte vertreten. Eine Nation, so argumentiert diese im Sinne Jerusalems und Spaldings (vgl. Kap. II l e, f), werde nicht eher »glückselig«, »als bis sie auch tugendhaft ist!« Die Philosophie fährt fort: »Und wodurch wird sie dieses! . . . Durch die Religion, und durch die moralischen Wahrheiten, welche die Religion dem menschlichen Verstande zu finden
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übriggelassen hat. Aber auf welche Art durch diese? Derjenige müßte ein merkwürdiger Fremdling in der Kenntnis des Menschen sein, der behaupten wollte, es sei überflüssig, die philosophische, und die erhabnere Tugend der Religion dem Menschen liebenswürdig vorzustellen. Es ist dies so wenig überflüssig, daß es notwendig ist. Die Religion . . . ist durch das Muster der Poesie und der Beredsamkeit offenbart worden, die sich der tiefsinnigste Kenner nicht reizender, stärker, und erhabner denken kann. . . . Die Religion . . . hat der Untersuchung der Menschen fast nichts, als einige Entwicklungen ihrer erhabnen Lehren, übriggelassen. Auch dies gehört uns zu, es den Menschen auf eine Art zu zeigen, welche sie reizen kan, es nicht nur zu denken, sondern auch zu tun. Die Menschen also zur Ausübung ihrer Pflichten, das ist, zu demjenigen, warum sie leben, und in ändern Welten leben werden, anzufeuern, und ihren Verstand, noch mehr, ihr Herz zu der Erreichung dieses letzten und höchsten Zwecks, zu erheben, dieser ist derjenige von unsern Vorzügen, worauf wir am meisten stolz sind, und ohne welchen uns der Vorzug unserer Schönheit, und jeder Anspruch auf Schönheit überhaupt klein vorkommen würde.« (RSKSW, S. 986f.)
Der als Richter eingesetzte »Geschmack« gibt am Schluß deutlich zu erkennen, daß er den schönen Wissenschaften eben wegen ihrer größeren Effektivität in der Reizung zur »moralischen Schönheit« den Vorzug vor den nur punktuell auf den Wirkungsbereich einzelner Sinne eingeschränkten schönen Künsten (Malerei, Baukunst, Kupferstecherkunst und Musik) geben will (ebda., S. 991). Innerhalb der schönen Wissenschaften wiederum gebührt der >heiligen Poesie< der Vorrang, weil sie - so Klopstock in dem gleichnamigen Beitrag (als Vorrede zum 1. Band des >MessiasMoralistenAn Freund und FeindMessiasDer Zürchersee< verdeutlicht hat (vgl. Kap. II 6 d-3). Zunehmend indessen erstrebte Klopstock den Nachweis, daß die deutsche Sprache - auch in der Erfindung neuer metrischer Gebilde - die Poesie der Griechen, Engländer, Franzosen und Italiener zu übertreffen vermöge (vgl. 11.49 Hellmuth, S. 14). In diesem Sinne ist auch sein Epigramm Aufgelöster Zweifel< (1771) zu verstehen - nachzuahmen sind die Griechen nur, worin sie originär waren: >»Nachahmen soll ich nicht; und dennoch nennet Dein lautes Lob mir immer Griechenlands Wenn Genius in deiner Seele brennet; So ahm dem Griechen nach. Der Griech' erfand!« (E, S. 12)
So erfand Klopstock bereits 1752/53 drei eigene Strophenmaße, die sich indessen metrisch noch eng an die antiken anlehnten (vgl. 11.49 Hellmuth, S. 85), und vor allem zwischen 1764 und 1767 konstruierte er etwa 60 eigene Vers- und Strophenformen, davon allein im Februar/März 1964 34 verschiedene Strophenschemata: »Mit diesen eigenwilligen, durchaus neuartigen und unvergleichlichen Rhythmen wagt er bis dahin Unerhörtes: genau vorgeschriebene Wortfußgliederung, d. h. Angabe der Kola im metrischen Schema, extreme Ballung von beschwerten Hebungen und vielsilbige Senkungen, um auf diese Weise idealen metrischen Mitausdruck, die vollkommene Kongruenz zwischen metrischer Gestaltung und inhaltlicher Aussage zu erreichen.« (Ebda., S. 13)
Klopstocks kleines Meisterwerk >Die SommernachK (1766) mag als Beispiel für eine Ode in einer selbst erfundenen Strophenform dienen: vv-v,vv-v,vvvv-v,vv- ,vv-v vv-v,vv-v vv-vv-
aab aba aa bb (a = Dritter Päon: vv-v b = Anapäst : vvVgl. 11.49 Hellmuth, S. 190ff.)
»Wenn der Schimmer von dem Monde nun herab In die Wälder sich ergießt, und Gerüche
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Mit den Düften von der Linde In den Kühlungen wehn; So umschatten mich Gedanken an das Grab Der Geliebten, und ich seh in dem Walde Nur es dämmern, und es weht mir Von der Blüthe nicht her. Ich genoß einst, o ihr Todten, es mit euch! Wie umwehten uns der Duft und die Kühlung, Wie verschönt warst von dem Monde, Du o schöne Natur!« (O, S. 76)
Die vier Verse und die Strophen werden nur durch zwei Pedes (= Füße) gebildet, nämlich durch dritten Päon und Anapäst. Zeile 2 variiert Zeile l, in Vers 3 und 4 verwirklicht sich jeweils einer der beiden Füße doppelt (dipodisch). Die zahlreichen zwei- und dreifachen Senkungen sowie das Fehlen jeder beschwerten Hebung verleihen der Strophe den Charakter des Schnellen, Eiligen, zugleich aber auch - infolge des geringen Wirkungsunterschieds der Pedes - des Schwebenden. Die Kadenzen sind »umarmend«: männlich, also »steigend« am Anfang und Schluß, in den Versen 2 und 3 weiblich, also »fallend«. Man könnte am Schluß des letzten Verses auch einen Choriambus (-w-) erkennen, dessen Charakter auf Grund seiner Zusammensetzung aus Trochäus und Jambus »fallend-steigend« ist, so daß der Schluß den Haupteindruck des Strophenganzen nochmals zusammenfaßt. Klopstock hat 1773 seine Strophen typologisch zu ordnen versucht (vgl. VGV, S. 38ff). Nach dem Grad ihrer Bewegung unterscheidet er »schnelle, steigende«, »schnelle, abwechselnde«, »langsame, steigende«, »langsame, sinkende«, »langsame, abwechselnde«, »schnelle, schwebende« und »übergehende Strophen«. Diese Werte gewinnt er nur aus dem metrischen Schema, also aus dem jeweiligen Überwiegen, dem Verhältnis und dem Standort von »steigenden« oder »fallenden« Pedes im Strophenschema. Die Füße selbst lassen sich etwa wie folgt klassifizieren: steigend (vv—), fallend (—vv), fallend-steigend (-vv-), steigend-fallend (v—v). Analog verhält es sich in der Strophen-»Dynamik«: Langsamkeit oder Schnelligkeit nehmen zu (»steigen«) oder ab (»sinken«), wechseln ständig (»Wechsel«), bleiben gleich (»schweben«) oder gehen ineinander über (»Übergehen«). Im übrigen fällt es nicht leicht, den Kategorisierungen Klopstocks immer zuzustimmen. Auch bei der >Sommernacht< läge es nahe, eine Kombination von »schneller, abwechselnder« und zugleich »schwebender« Odenstrophe anzusetzen.
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Wichtiger ist es zu sehen, wie die metrische Form der Aussage des Gedichts wiederum vollkommenen Ausdruck verleiht. Die beiden ersten Strophen bestehen aus einem Satz, die erste aus einem Neben-, die zweite aus einem Hauptsatz. Der dadurch entstehende großräumige Duktus erfahrt Unterstützung durch den eiligen Rhythmus. Gleichzeitig entsteht durch den gleichen metrischen Bau eine Spannung zwischen beiden Strophen, da die erste einerseits ja - das Nebensächliche« enthaltend - auf das »Hauptsächliche« der zweiten Strophe vorbereitet, andererseits aber dieselbe rhythmische Bewegung und denselben Raum beanspruchen darf. Während die zweite Strophe inhaltlich mit der Abwendung von den sinnlich-lautmalerisch evozierten Naturbildern in starken Kontrast zur ersten Strophe tritt, ja den Natureindruck im Rückgriff auf das in Strophe l evozierte Bildfeld geradezu widerruft, dieses damit aber doch gegenwärtig hält (»schwebend«!), weist die letzte, nun aus zwei Hauptsätzen bestehende Strophe diese Schönheit der Natur eben doch als das Eigentliche, »Hauptsächliche« aus, freilich nur im Spiegel der Erinnerung, im Gedenken an die toten Freunde, in deren Kreis das lyrische Ich die Naturschönheit als Spiegel der »Freundschaftsempfindungen« »einst« genossen hat. Im Rückgriff auf die Eingangsmotive (»Duft«, »Kühlung«, »Mond«) schließt die Ode somit kreiskompositorisch-schwebend und zugleich auch zielgerichtet ab, indem das lyrische Ich mit dem temporalen »Wenn« und dem inchoativen »nun« präsentisch einsetzend, sich in der Gedichtmitte über die »Gedanken an das Grab« noch in der Gegenwart der Vergangenheit zuwendet und schließlich im Präteritum und dem »einst« von der gegenwärtigen Natur ab - und der verlorenen Gemeinschaft zukehrt. Der evokative Schlußsatz könnte dann ein Doppeltes, Ambivalentes besagen: Zum einen vertieft sich die Trauer angesichts der Erinnerung an ein vergangenes und verlorenes Gemeinschafts- und Naturerleben. Andererseits könnte der Anruf an die Natur zugleich ein Zeichen dafür sein, daß das lyrische Ich sich ihrer Schönheit nun doch wenn auch nicht in unmittelbarer Anschauung, so gleichwohl durch sie ausgelöst und vom »Gedanken« zum »Gefühl« zurückkehrend - zu öffnen vermag. Vergangenheitsorientierter Abweis der Gegenwart und Naturschönheit erinnernder Rückverweis an den Anfang des Gedichts: In dieser offenen Spannung endet die Ode. Das Ziel biegt vielleicht in einen Kreislauf ein, und wieder bewährt sich als dessen »Mitausdruck« das zugrundegelegte »schnelle, abwechselnde« und zugleich »schwebende« Strophenschema (anders 11.49 Weimar, S. 40f.) Aber nicht nur im Strukturganzen, sondern auch in den einzelnen Versen unterstützt das Metrum die Aussage. So die stetige, vom Räumlichen zum Zeitlichen fortschreitende Abwärtsbewegung, nämlich von dem sich
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von dem Mond herab »ergießenden« »Schimmer«, den herabwehenden »Gerüchen« und »Düften«, bis zu dem dem Naturmotiv analogen und doch kontrastierenden »Herabdenken« an das »Grab« - »herab« und »Grab« ist der einzige Reim in diesem Gedicht! Dem metrisch-rhythmischen Gleichlauf entgegengesetzt ist die Lautstruktur. In der ersten Strophe dominieren die »schimmernden« und »gefühligen« i- und ü-Laute, verbunden mit vielen sanften Liquiden und Nasalen, in der zweiten Strophe dagegen die a- und ä-Töne, anfangs unterstützt von stimmlosen Verschlußlauten (dem »Schimmern« kontrastiert das »Dämmern«!); in der Schlußstrophe überwiegen die o- und ö-Töne. Ja, es läßt sich sogar feststellen, daß sich jeweils im Verlauf der Strophen die hellen zu den dunkleren (Str. l: »i« zu »ü«), die offenen zu den geschlosseneren (Str. 2: »a« über »ä« und »e« zu »ü«; damit annähernder Gleichklang in den beiden Schlußzeilen, wieder unterstützt durch die identische Versstruktur) und die dunklen zu den helleren Vokalen hinbewegen (Str. 3: »o« zu »ö«). Gleichzeitig aber sind auch hier innerhalb der einzelnen Verse vokalische Kontraste eingebaut (»Schimmer«-»Mond«); »Wälder«-»ergießt«; »Geliebte«-»Wald«). Die Hebungsvokale erhalten hier deshalb soviel Gewicht und damit lautmalerische Bedeutung, weil sie sich gegenüber den zahlreichen Senkungssilben besonders prägnant herausheben. Und gerade dadurch wird der Eindruck eines zugleich kontrastierenden und harmonisierenden Tönens hervorgerufen, welches die inhaltlichen Gegensätze und Affinitäten wirkungsvoll unterstreicht. Je genauer aber solch einzelne Vers- und Strophenformen auf ihre Funktion als »Mitausdruck« hin gestaltet wurden, desto begrenzter war ihre Verwendungsfähigkeit und desto mehr Strophen- und Versschemata mußte Klopstock erfinden. Tatsächlich war er bestrebt, »rhythmisch immer kühnere Pedes in immer kunstvolleren und zugleich expressiveren Zusammenstellungen nach strengem Kalkül zu gruppieren und ein möglichst dichtes Netz der verschiedenartigsten metrischen Bezüge zwischen den einzelnen Zeilen zu knüpfen.« (11.49 Hellmuth, S. 60) Und auf solchem Wege gelangte Klopstock nach dieser Theorie konsequenterweise zur Erfindung seiner »freirhythmischen« Verse, die eigentlich nach einer Formulierung Beißners besser »eigenrhythmische Verse« genannt werden sollten (vgl. IV Beißner 1964, S. 48), weil jeder einzelne Vers mithilfe der »Wortfüße« und Pedes auf eine nur ihm eigene rhythmische Bewegung hin konstruiert worden ist. Bezeichnend für diesen fließenden Übergang von metrischen zu freirhythmischen Versen und Strophen ist die 1764 entstandene Ode >Der Tod< (O I, S. 157f.), die aus vier gänzlich verschiedenen Strophen besteht und in der Forschung lange als »freirhythmisch« galt, bis sich zufällig eine Abschrift fand, in der für jede Strophe ein
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eigenes, auf den jeweils besonderen Stropheninhalt zugeschnittenes metrisches Schema angegeben war (vgl. 11.49 Hellmuth, S. 29 u. 59). Die Annahme ist plausibel, daß dieses von Klopstock schon früh vertretene Prinzip vom metrischen »Mitausdruck« ihn zur Erfindung der »freien Rhythmen« geführt haben kann. Denn dazu gehörte auch die frühe Ablehnung der alternierenden Versarten, die Prävalenz der syntaktischen, sinngemäßen Gliederung vor der rein metrisch-formalen sowie die frühe Forderung nach Mannigfaltigkeit des Rhythmus (vgl. dazu auch ebda., S. 211,220). 2) Diese Erklärung läßt sich nun vom zweiten Deutungsansatz im Rückgriff auf die verstheoretischen Schriften Klopstocks stützen (vgl. dag. 11.49 Hellmuth, S. 19, 79 u. ö.). Allerdings besteht hierbei das Problem, inwieweit diese in Terminologie, Stil und Thematik eigenwilligen Arbeiten des Autors zum Verständnis seiner poetischen Entwicklung tauglich sind; denn sie entstanden großenteils nachträglich und casuell, und sie sind fragmentarisch, unsystematisch und in nicht geringem Grade auch widersprüchlich (vgl. dazu auch 11.49 Menninghaus, S. 332ff. u. ö.) - und über seine wichtigste Erfindung, die »freien Rhythmen«, äußert sich Klopstock theoretisch gar nicht! Entsprechend unterschiedlich, ja gegensätzlich wurden diese Abhandlungen in der Forschung berücksichtigt und beurteilt (vgl. dazu 11.49 Große 1977 a, S. 9ff., 17ff.). Am weitesten geht Menninghaus, wenn er - Klopstocks Selbstverständnis bewußt unterlaufend - in dessen späten verstheoretischen Werken seine eigentlich (post-)moderne Position ausmacht, weil Klopstocks Interesse an der »schnellen Bewegung« der in die Wortlosigkeit führenden Worte zu einer »Dekonstruktion der moralischen Legitimation« seiner Poesie führe und die in den poetologischen Schriften vertretene Lehre von der Form als »Mitausdruck« des Inhalts konterkariere (vgl. 11.49 Menninghaus, S. 316ff.). Im folgenden soll sich dagegen zeigen, daß Klopstock mit seinen verstheoretischen Überlegungen das Postulat nach »Mitausdruck« der Formelemente wirkungspsychologisch auszudifferenzieren sucht, und von daher verhelfen seine Explikationen auch zu einer Verständnismöglichkeit für Genese und Konstruktion der »freien Rhythmen«. Im Zentrum von Klopstocks - hauptsächlich auf den Hexameter bezogenen - Verstheorie steht die Unterscheidung zwischen »künstlichen«, d. h. >metrischen< »Füßen« und syntaktisch-semantischen »Wortfüßen«. Für ihn zählen im Blick auf den »Mitausdruck« nur die aus der konkreten sprachlichen Realisierung resultierenden Worteinheiten oder »Wortfüße«. Letztere, erklärt Klopstock, »bestehen nicht immer aus einzelnen Wörtern, sondern oft aus so vielen, als, nach dem Inhalte, zusam-
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men gehören, und daher beinah wie ein Wort müssen ausgesprochen werden; doch dieß unter der Einschränkung, daß, wenn ein Wort viele Silben hat, es nicht mit zu dem, welchem es dem Sinne nach zugehört, genommen wird.« (VDH II, S. 130) Klopstock gibt dazu das Beispiel eines metrisch regelrechten Hexameters: »Schrecklich erscholl der geflügelte Donnergesang in der Heerschar.« Dessen sechs künstliche Füße (fünf Daktylen mit abschließendem Spondeus) unterteilt er nun in die vier für ihn entscheidenden Wortfüße: »v v
v v Schrecklich erscholl v - v v der geflügelte vvDonnergesang v - in der Heerschar.« (Ebda., S. 131)
»Die in den Wortfüßen versteckten künstlichen«, fügt Klopstock hinzu, »gehn den Zuhörer gar nichts an. Er hört sie nicht; er hört nur die Wortfüße: und fällt, nach diesen allein, sein Urteil über den Vers.« (Ebda.) Von daher wird begreiflich, warum der Autor dem Hexameter eine so große metrische Variabilität zusprechen kann. »Überhaupt«, erklärt er, »kömmt es bei dem metrischen Ausdrucke vornämlich auf die Wahl guter Wortfüße, und ihre Stellung an.« (VDH I, S. 52) Kleinste und zugleich wichtigste poetische Wirkungseinheit ist für Klopstock somit die semantische, syntaktische, zeitliche (weil durch begrenzte Länge mitbestimmte) rhythmische Grundeinheit »Wortfuß«, die er geradezu wie ein Baukastensystem im Blick auf die angestrebte Wirkung handhabt. Ihr mißt er größere poetische Wirkung und damit Bedeutsamkeit zu als dem Wort- oder Satzsinn selbst (VDH II, S. 148). Dafür gibt er eine wahrnehmungspsychologische Ursache an, die Menninghaus als wichtiger Beleg für seine Entsemantisierungstheorie dient (vgl. 11.49 Menninghaus, S. 313ff.): »Wir bekommen die Vorstellungen, welche die Worte, ihrem Sinne nach, in uns hervorbringen, nicht völlig so schnell, als die, welche durch die Worte, ihrer Bewegung nach, entstehn. Dort verwandeln wir das Zeichen erst in das Bezeichnete; hier dünkt uns die Bewegung geradezu das durch sie Ausgedrückte zu sein.« (VDH II, S. 148) Im Vorgang der Rezeption nehmen wir also zunächst die metrisch-rhythmische Bewegung, erst im nachhinein und durch diese mitbestimmt auch die Wort- und Satzbedeutung wahr. Das kann sich in der Tat - zumal im Zusammenhang mit anderen Stileigentümlichkeiten der Klopstockschen Poesie (den großräumigen Satzperioden, den Inversionen usw.; vgl. Kap. II 6 0 - als entsemantisierend auswirken, ist aber von Klopstock nicht so gemeint. Die »schnelle Bewegung« interessiert ihn nicht als isoliertes Phänomen, sondern in ihrem gleichsam vorwegneh-
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menden, einstimmenden Bezug zur semantischen Realisierung (damit ist er bereits jenem »Zaudern zwischen Laut und Bedeutung« auf der Spur, worin Paul Valery die Kunst der Poesie erblicken sollte; zit. in III Jakobson, S. 106); die »schnelle Bewegung« soll also den Leser vorgängig anrühren, auf das hin emotional disponieren, was ihn danach auch semantisch ergreift. Durch den Wechsel der »Wortfüße« erhält die emotionale Rezeption ihre eigene, vom Dichter kalkulierbare Wahrnehmungsform, und um dieser Berechenbarkeit der »herzrührenden Schreibart« willen bemüht er sich, den einzelnen - an »Wortfüßen« orientierten Versmaßen bestimmte Werte beizumessen, welche sich mit Gefühls-Werten und entsprechenden Wort- und Satzinhalten verbinden lassen. Zunächst bestimmt er die Langsamkeit oder Schnelligkeit der Bewegung (in Klammern füge ich den Terminus für den jeweiligen Versfuß hinzu): 1) Dreisilbler
»Langsam Langsamer Noch langsamer Schnell Schneller Noch schneller
v— —v -vv-v -vv vv-
der Ausruf. Ausrufe Wetterstrahl Gesänge. Flüchtige Die Gewalt«
(Bacchius) (Antibacchius) (Kretikus) (Amphibrachys) (Daktylus) (Anapäst)
2) Viersübler
»Die langsamen: Silberstimme. herströmende. die Sturmwinde Die schnellen: v-vmit Ungestüm. vv— in dem Lautmaß -vvWonnegefühl.« (VDH II, S. 132) -v-v —vv v—v
(Dichoreus = doppelter Trochäus) (lonicus) (Antispast) (Diiambus - doppelter Jambus) (lonicus) (Choriambus)
Anschließend teilt Klopstock unter Berücksichtigung dieses »Zeitausdrucks« die Silbenmaße nach dem Ausdruck ihrer affektnahen »Beschaffenheiten« ein: »Das Sanfte, das Starke, Muntre, Heftige, Ernstvolle, Feierliche, und Unruhige sind, oder können Beschaffenheiten der Empfindung und der Leidenschaft sein.« (Ebda., S. 136) Sie vermitteln also nicht den Inhalt der Empfindung oder Leidenschaft - dafür sind die Wortbedeutungen zuständig (ebda., S. 137) -, wohl aber deren Ausdruck, Richtung und »Gestimmtheit«. Wenn aber die »Wortfüße« so die entscheidende sprach-rhythmische »Kern-Energie« des Verses darstellen (und nicht die geregelten »pedes« eines Metrums), dann wird verständlich, daß der Dichter um der Opti-
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mierung des »Mitausdrucks« willen zur Gestaltung je eigenrhythmisch konstruierter Verse gelangt, denn in ihnen bleiben die »Wortfüße« als entscheidendes rhythmisches Mittel ebenso dominant wie in den metrischen Versen, lassen sich aber besser - variabler und kontrastreicher kombinieren (zur Gestaltung der »Wortfüße« in Klopstocks »freien Rhythmen« vgl. Kap. II 6 f). 3) Der Vorteil dieser beiden Erklärungsversuche und ihrer immanenten Folgerichtigkeit zeigt sich u. a. darin, daß sie kein Problem mit Entstehungsdatum und Charakter des ersten - von Klopstock auf das Jahr 1754 datierten, aber erst 1771 veröffentlichten - Gedichts in »freien Rhythmen« haben: mit der Ode >Die Genesung< (O I, S. 121f.), einem Dank an die personifizierte »Tochter des Himmels« für die Möglichkeit zur Fortsetzung des »Berufs«, nämlich der Vollendung des >MessiasNordischem Aufsehen 1758/59 erschienenen - religiösen Hymnen >Dem Allgegenwärtigem, >Das Anschaun GottesDie FrühlingsfeyerDer Erbarmen und >Die Glückseligkeit Aller< als thematisch und stilistisch einheitliches Gruppen-Phänomen ans Licht der Öffentlichkeit getreten seien (dazu gehört noch das thematisch andersartige Gelegenheitsgedicht auf Klopstocks Gönner Friedrich V.: >Das neue Jahrhundert; Text der Erstveröffentlichungen in 11.49 Kohl 1990, S. 256-278). Durch genaue Textanalyse sucht Kohl deshalb den »freirhythmischen« Charakter der >Genesung< zu erschüttern (ebda., S. 41ff.), und das mit Erfolg: Die siebenstrophige, in Eingangs- und Schlußstrophe identische Ode unterscheidet sich in ihrer symmetrischen Komposition, im gleichmäßigen Umfang ihrer Strophen, im gemäßigten Ton und den weitgehenden metrischen Analogien grundlegend von den ekstatischen religiösen Hymnen und läßt sich deshalb nur als weiterer Schritt in Richtung auf die freien Rhythmen, aber nicht schon als Beleg für ihre Erfindung verstehen. Im Gegensatz zur >Genesung< sind die fünf religiösen Hymnen in Ton, Gedankengang, Bildlichkeit und Versgestaltung in hohem Maße an der Bibel orientiert (ebda., S. 48; so schon 11.49 Krummacher 1969, S. 155ff.; Auflistung der von Klopstock verarbeiteten Bibelstellen in 11.49 Kohl 1990, S. 279-298). Die erste dieser Hymnen (zum Begriff vgl. Kap. II 6 0, nämlich >Dem Allgegenwärtigem, entstand zwischen August 1756 und Mai 1757 (vgl. 11.49 Kohl 1990, S. 38f.). Dies war eine Phase besonders intensiver Beschäftigung Klopstocks mit religiösen Themen: die Geistlichen Lieder< entstanden (der erste Teil erschien im Herbst 1757, eben-
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falls Klopstocks Drama >Der Tod AdamsMessiasGeistlichen Liedern^ die lyrischen Werke fas jungen Wieland und Klopstocks Zusammenarbeit mit seinem Freund Cramer. Und alle drei führen auf dieselbe Spur: die >Nachahmung< der Psalmen als Anregung zur >Erfindung< der »freien Rhythmen«*. - Die »Nachahmung der Psalmen« sei »das Höchste«, was sich ein Dichter von Liedern für den »öffentlichen Gottesdienst« vornehmen könne, heißt es gleich zu Beginn der >Einleitung< zu den >Geistlichen Liedern< (E-GL I, S. 43). Doch müsse diese Imitation originell, d. h. auf der Höhe der Zeit, des gegenwärtigen Christentums, erfolgen und die Unterschiedlichkeit der Davidischen Gesänge typologisch berücksichtigen; denn es gebe »erhabene« und »sanftere« Psalmen (ebda.). Erstere nennt Klopstock »Gesänge« und meint damit - so Krummacher und Kohl mit Recht - eben den Typ seiner erhabenen geistlichen und freirhythmischen Hymnen, die er denn auch in der Einleitung ganz zutreffend charakterisiert: »Der Gesang ist immer kurz, feurig, stark, voll himmlischer Leidenschaften, oft kühn, heftig, bilderreich in Gedanken und im Ausdrucke und nicht selten von denjenigen Gedanken beseelt, die allein von dem Erstaunen über Gott entstehen können.« (E-GL I, S. 45f.). Von ihnen unterscheidet Klopstock das nach »eingeführten Melodien« gedichtete und für den kirchlichen Gebrauch bestimmte »Lied« (ebda., S. 43, 47; vgl. Kap. II 6 h-2). Während er also mit dieser Ausgabe Proben des letzteren, »sanfteren« Typs vorgelegt habe, seien die freirhythmischen Hymnen das in der >Einleitung< schon theoretisch konzipierte und gleichzeitig entstandene Pendant >erhabenen< »Gesangs«, und Kohl erinnert mit Recht daran, daß im 18. Jahrhundert die Autoren geistlicher Poesie von Pyra und Lange über Wieland bis zu Cramer David anstelle von Pindar als den mustergültigen Dichter des Erhabenen gefeiert haben (vgl. 11.49 Kohl 1990, S. 72f.; 75f.). Dabei hat Klopstock, so zeigt sich, die poetischen Werke des von ihm stark beeinflußten jungen Wieland intensiv rezipiert, vor allem dessen als >Prosa-Gedichte< konzipierte >Psalmen< Empfindungen eines Christen< (vgl.Kap. II 2 b-7; 11.49 Kohl 1990, S. 83), aber auch Wielands >pindarische OdenOde auf die Geburt des Erlösers< (Text ebda., S. 300-304) als ergiebiges Vorbild für Klopstocks Hymne >Dem Allgegenwärtigem erweist (ebda., S. 83ff.). Die entscheidende theoretische Anregung zur Verfertigung »freier Rhythmen« empfing Klopstock allerdings - so Kohl (ebda.,
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S. 92ff.) von seinem 1754 als Hofprediger nach Kopenhagen berufenen Freund Johann Andreas Cramer, mit dem er, wie das >Arbeitstagebuch< von 1755/56 ausweist, intensiven Umgang hatte und der im 1755 erschienenen ersten Band seiner >Poetischen Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben< (vgl. dazu auch Kap. II 2 b-6; 3 f-3) auf die Regellosigkeit der hebräischen Poesie aufmerksam gemacht hatte. Die »Gedichte der heiligen Schrift«, so Cramer, hätten »weder abgemeßne noch gereimte Verse« (H Cramer PUP I, S. 318), und er verwies darauf, daß dies bei Griechen und »Ebräern« nichts Ungewöhnliches gewesen sei: »Sylbenmaaß und Reim sind keine wesentlichen Vollkommenheiten der Poesie. Es gab auch unter den Griechen gewisse Gesänge, die man Scolia nannte, die aus freyen unregelmäßigen Versen bestunden; man bekümmerte sich darinnen weder um ein gewisses Maaß der Füße, noch um die Länge und Kürze der Sylben; man begnügte sich, gewisse Gedanken und Empfindungen kurz und lebhaft dadurch auszudrücken. Eben so wenig künstelten die heiligen Dichter der Ebräer, wenn sie ihre Empfindungen in Worte einkleideten. Sie schrieben kurz und nachdrücklich, und schwächten die Lebhaftigkeit ihrer Ideen nicht durch die ängstliche Sorgfalt, sie in Verse oder Reime zu bringen.« (Ebda., S. 318f.)
Solche Ansichten geben Kohl Grund zu der These: »Cramer's argument could be regarded as a complete justification of Klopstock's free verse.« (11.49 Kohl 1990, S. 96) - Indes vermutete schon Hamann als deren Vorbild die Psalmen (am Schluß der >Aesthetica in nuceOden< (vgl. dazu 11.49 Kohl 1990, S. 17ff.). Diese Klassifizierung entspricht durchaus der Odentheorie des 18. Jahrhunderts, welche den weiten Begriff der Horazischen Bezeichnung als »carmina« (»Gesänge«) beibehalten hatte (vgl. Bd. V/2, S. 37ff.). »Eine einzige ganze Reihe höchst leb-
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hafter Begriffe, wie sie nach dem Gesetze einer begeisterten Einbildungskraft auf einander folgen, ist eine Ode«, definierte Mendelssohn, und an ihrer Entstehung seien »Nachdenken und Empfinden« gleichermaßen beteiligt (II BNLB, S. 149, 151). Gedichte, so bestimmte ein Anonymus, seien dann Oden, wenn sie »in einem hohen Grade affektvoll sind« und dem »Enthusiasmus« als der entscheidenden Quelle ihrer Bestimmungen (»Schwung«, »schöne Unordnung« und »Kürze«) entspringen (I Killy I, S. 339-345). Von daher faßte man auch die erhabenen Pindarischen »Gesänge« als »hohe Oden« auf (der junge Wieland begegnete dafür soeben als Beispiel), während gerade Pindars Epinikien seit Klopstocks »freien Rhythmen« von Goethe und anderen als geniale »Hymnen« gefeiert wurden (vgl. 11.49 Kohl 1990, S. 72ff.; Ill J. Schmidt 1985 I, S. 179ff.; auch in der heutigen Gattungstheorie gelten sie noch als Hymnen; vgl. IV Gabriel, S. 18ff). Im Blick auf Klopstocks »Gesänge« ist eine Gattungsdifferenzierung nach Form und Inhalt besonders schwierig: Die formale Orientierung der Oden an festen Vers- und Strophenmaßen nach dem Vorbild antiker Autoren sowie ihre Reimfreiheit können sie nicht eindeutig von Klopstocks ebenfalls reimfreien Gedichten in freien Rhythmen unterscheiden, denn der Dichter hat ja gerade die frühen freirhythmischen Versionen für seine >Odenheiligsten« Bezirk der Poesie, im Ritual kultischer Gottesverehrung formal und inhaltlich aber auch die Individualisierung zu behaupten und sich ihrer zu vergewissern. 2) Dies soll im folgenden an einem Beispiel verdeutlicht werden. Zwar hat Kohl in detaillierten Analysen nachzuweisen versucht, daß alle fünf Hymnen »masterpieces« sind (vgl. 11.49 1990, S. 99ff.). Dennoch verdient nach wie vor >Die Frühlingfeyer< (1759/1771) als Klopstocks bekanntestes und am häufigsten interpretiertes Gedicht (vgl. ebda., S. 4f.; vgl. dazu auch III Alt, S. 157ff.) wegen seiner herausragenden Qualität unser besonderes Interesse (für Gabriel sogar stellt sich dieser »Gesang« als
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»einziges Gedicht« dar, »das Klopstocks Bedeutung in der deutschen Literaturgeschichte gesichert hat«, weil er damit »eine neue Epoche der Hymnendichtung« eingeleitet habe; IV, S. 62). Die erste Fassung (August 1759 im >Nordischen Aufsehen) trug den Titel >Eine Ode über die ernsthaften Vergnügungen des Landlebens! mit einem physikotheologischen Prosavorspann über die »Glückseeligkeit« der »Empfindungen« Gottes in der Natur (O, S. 144f.; vgl. dazu 11.49 Ketelsen, S. 253ff.) und war in unregelmäßige Versgruppen gegliedert. Wie seine anderen Hymnen auch hat Klopstock die freirhythmischen Verse für die >OdenDie Frühlingsfeyer< (beide Fassungen in O, S. 58/59ff.). Die folgenden StilBeobachtungen, die wiederum an das zu Beginn des vorigen Abschnitts zitierte Epigramm anknüpfen, beziehen sich auf diese zweite Fassung. Die metrische Analyse des Gedichteingangs erfolgt wegen des heuristischen Nutzens mithilfe der erst 1779 publizierten »Wortfuß«-Theorie: Gerade weil die Stilanalyse zeigen wird, in welch hohem Ausmaß Klopstock an der Profilierung kleiner stilistischer Einheiten interessiert ist, fügen sich die »Wortfüße« diesem Stil willen optimal ein. Strophe l wäre demnach folgendermaßen rhythmisch zu gliedern: v - v, - v-, v - v -v, »Nicht in den Ozean der Welten alle v v - v, - v -, Will ich mich stürzen! schweben nicht, v v - v, v - v , v-v -v, v - v v -, Wo die ersten Erschaffnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts -v, - - - v , - v v -v v Anbeten, tief anbeten! und in Entzückung vergehn!« (O, S. 59)
Auch hier verändern die MikroStrukturen der »Wortfüße« die Prosodie der Verse entscheidend. Die beiden ersten Zeilen beispielsweise wären unerachtet ihrer einmal trochäischen, einmal jambischen Kadenz durchgehend alternierend, und eben dies trägt zur Ermöglichung und Initiation der Ritualität des Gedichts entscheidend bei. Durch die mit dem Wortfüßen gesetzten Pausen indessen ergibt sich in Vers l eine Folge von Amphibrachys (v-v), Kretikus (-v-) und Dichoreus (-v- v), in Zeile 2 eine Modifikation mit Amphibrachys, Trochäus und Kretikus. Trotz dieser rhythmischen Differenzierungen wirkt der erste Teil der Strophe homogener als der zweite. In Vers drei - einem hexameterähnlichen, anapästischen »Sechsheber« - dominieren die schnellen Doppelsenkungen, während demgegenüber die letzte Zeile im ersten Teil durch zwei- bzw. dreifach aufeinanderfolgende Hebungen extrem verzögert und dann im
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zweiten Teil in die anapästisch-daktylische Beschleunigung von Vers 3 zurückkehrt. Wenn wir aus Klopstocks »Baukasten« die Werte für diese Wortfüße zusammentragen, dann ergibt sich folgendes Bild: Schnell Schnell Munter unruhig
/ / / /
sehr langsam langsam schnell ernstvoll
/ / / /
langsam sehr langsam langsam / heftig stark
Trotz der Problematik dieses Schematismus verdeutlicht die Zusammenstellung, daß es Klopstock offenkundig sowohl um ritualisierende Tendenzen (mit der Repetition schneller und langsamer »Wortfüße«, mit deren Variation - munter, unruhig / bzw. sehr langsam, ernstvoll - und mit ihrer Steigerung - von munter zu heftig und stark, von langsam zu ernstvoll) als auch im Gegensatz dazu um die Herstellung möglichst eindrucksvoller rhythmischer Spannung innerhalb der Verse geht (mit dem variierten Aufeinanderprall von schnell und (sehr) langsam in allen Zeilen). Dabei sind die Betonungsverhältnisse bis ins einzelne ausgetüftelt. Das erste »Nicht« am Strophenbeginn ist noch unbetont, das »nicht« am Ende der zweiten Zeile dagegen - mit dem Effekt der Steigerung - betont. Die im Zeichen der Negation erfolgende Aussage wird in ihrer Stetigkeit eben durch die Festigkeit des an die Alternation gebundenen Rhythmus unterstrichen. Und demgegenüber bricht nun in der zweiten Hälfte eine jähe Unruhe und Aufregung in die Strophe ein, welche gleichsam die Pole von »Munter-Schnellem« bis zum »Ernstvoll-Starken« durchläuft. Damit erfüllen die rhythmischen Einheiten eine doppelte Funktion. Innerhalb der Verse dienen sie zunächst dem »Mitausdruck« der Einzelinhalte. So bringt die trochäische Alternation in der ersten Zeile auch die Ambivalenz zwischen der Evokation der Welt-Totalität und der - in der Negation faßbaren - Distanzierung und Abkehr (also bildliche Vergrößerung und begrifflich-emotionale Verkleinerung in einem) gut zur Geltung. Und nicht weniger eindrucksvoll unterstreichen Doppelsenkungen und Mehrfachhebungen in der zweiten Strophenhälfte die gegensätzlichen Gefühlsbewegungen - Anspannung und »Entladung«, verstummende Sammlung (»Anbeten«) und überströmende Beglückung (»in Entzükkung vergehn«). Darüber hinaus aber werden in der ersten Strophe zwei Rhythmus-»Typen« geschaffen, die in je einer der Strophenhälften dominieren: einerseits ein durch die Alternation mitbedingtes »Fließen«, andererseits ein heftig schwankendes »Wogen«. An den nachfolgenden Strophen läßt sich nun beobachten, wie Klopstock diese Typen variiert und mit Vorstellungsbereichen konnotiert:
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»(2) Nur um den Tropfen am Eimer, Um die Erde nur, will ich schweben, und anbeten! Halleluja! Halleluja! Der Tropfen am Eimer Rann aus der Hand des Allmächtigen auch! (3) Da der Hand des Allmächtigen Die größeren Erden entquollen! Die Ströme des Lichts rauschten, und Siebengestirne wurden Da entrannest du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen! (4) Da ein Strom des Lichts rauscht', und unsre Sonne wurde! Ein Wogensturz sich stürzte wie vom Felsen Der Wölk' herab, und den Orion gürtete, Da entrannest du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen!« (O, S. 59/61)
Bei der Darstellung der Genese des Kosmos (Strophen 2 und 3) dominiert die wogende Rhythmik, bei der Beschreibung der Erschaffung des einen, »heimatlichen« Sonnensystems (Strophe 4) fließt die Schilderung auf Grund des alternierenden Verscharakters in den ersten drei Zeilen regelmäßig gestaut, bis die - mit dem letzten Vers von Strophe 3 identische - Schlußzeile wieder in den anderen Rhythmus hinüberführt. Diese rhythmische Spannung und Entspannung unterstützt wirksam, weil sinnenfällig eine gleichermaßen auf Gefühlserregung und -beruhigung bedachte Bilderkette, deren inhaltliches Ziel es ist, die Erde in ihrer ambivalenten Position als kosmisches »Nichts« und »Tropfen am Eimer« und doch zugleich als ebenfalls von Gott geschaffenen und deshalb wertvollen und besonderen Stern zu begreifen. - So wie sich Strophe 4 inhaltlich von der Vielzahl der Welten (»die Ströme des Lichts«) der Einzahl »unseres« Sonnensystems (»ein Strom des Lichts«) zuwendet, so überführt sie den »munter-schnellen« Rhythmus in den ersten drei Versen in die »Einsinnigkeit« und Langsamkeit, aber auch Schwere und Stärke trochäisch bestimmter Alternation, bis die Schlußzeile wieder in den anderen Rhythmus hinüberführt. Allen inhaltlichen und rhythmischen Analogien zum Trotz hat bei genauerer Betrachtung fast jeder Vers und jede Strophe ihren eigenen unverwechselbaren rhythmischen »Eigenausdruck«. 2) Weitere Sprach- und Stilprinzipien, die Klopstock im zweiten Teil des zitierten Epigramms anspricht, zielen in dieselbe Richtung (vgl. Kap. II 6 e-1). Dabei ist für sein Poesieverständnis die - von Bodmer und Breitinger übernommene - scharfe Trennung von Poesie und Prosa konstitutiv (vgl. 11.49 Schneider 1965, S. 41ff.). Die im Epigramm genannten »nicht wenigen Worte«, welche im »Lied« »stets treuen Gehorsam verbieten«, suchte Klopstock deshalb weitgehend als prosaischen »Wortpöbel« zu eliminieren und stattdessen - zur feierlichen Erhöhung der poetischen
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Diktion - alte Worte und veraltete Wortformen zu »reaktivieren« (z. B. »Odem« statt Atem in >Der ZürcherseeFrühlingsfeyerein froh' Gesicht< in >Der ZürcherseeDie Sommernacht). Er benutzt gern Substantivierungen des Adjektivs (z. B. »du Naher«, Str. 19) und des Präsenspartizips (z. B. »dem Schaffenden«, Str. 5), überhaupt zeigt er eine Vorliebe für das Partizip, weil es nicht nur eine Eigenschaft, sondern zugleich eine zeitliche Dimension mitausdrückt und die Satzkonstruktion verkürzt (vgl. 11.49 Schneider 1965, S. 70ff.; vgl. »stärkender Halm«, »herzerfrischende Traube« in Str. 21, »zückender Strahl«, »erschütternder Donner« in Str. 21, »fliegender Strahl«, »geschmetterter Wald« in Str. 24). Eine große Abneigung hegt er gegen Artikel, Konjunktionen und Präpositionen, die sich häufig eben nur schwer dem »Mitausdruck« fügen (vgl. ebda., S. 74) und die er deshalb gern eliminiert. Klopstocks über Jahre sich hinziehende Überarbeitungen seiner Gedichte sowie des >Messias< bezeugen ein geradezu detailversessenes Tüfteln an einzelnen Wörtern und Wendungen. Schneider hat die meisten der eben genannten Stileigentümlichkeiten Klopstocks unter den Begriff »Stilprinzip der Kürze« gebracht (ebda., S. 57ff.) und mit Recht darauf verwiesen, daß Klopstocks geradezu leidenschaftliche Suche nach Knappheit des Ausdrucks mit dem Ziel einer Spannungserhöhung mittels Verfremdung wirkungsorientiert ist, daß aber eben deshalb auch das Interesse des Lesers mehr auf die jeweils überraschende Einzelwendung als auf den Zusammenhang der Wörter gelenkt wird. Dieser Stilzug entspricht damit eben genau der Klopstockschen Orientierung an der kleinsten metrisch-rhythmischen Einheit, den Wortfüßen: Diese unterstützen jedenfalls den stilistischen Zug zum Partiellen, zur Hervorhebung des Einzelnen vor dem Ganzen. Die gerade auch an den Eingangsstrophen der >Frühlingsfeyer< beobachtbare Tendenz zur Variation und Repetition von Wörtern und Wortgruppen steht zwar dem Prinzip der Kürze entgegen, dient aber - wie wir schon gesehen haben - der Steigerung der Gesamtintensität (vgl. ebda., S. 82f.) und hebt natürlich die betroffenen Einzelbilder umso stärker gegenüber den anderen - nicht wiederholten - hervor.
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3) Besonderes Gewicht beim Unterschied von Poesie und Prosa erhalten für Klopstock die im zitierten Epigramm einer eigenen Zeile gewürdigten »Stellungen, welche der Sinn und die Leidenschaft ordnen«. Damit meint der Autor vor allem das Stilmittel der Inversion, also der Umstellung der in der Prosa üblichen Wortfolge. Der inversive Beginn der >Frühlingsfeyer< liefert die besten Anschauungen für Klopstocks thesenartige Begründung einer Änderung in der Wortfolge: »Der Dichter hat vornehmlich vier Ursachen, warum er die Wortfolge ändert: 1. 2. 3. 4.
Er will den Ausdruck der Leidenschaft verstärken; etwas erwarten lassen; Unvermutetes sagen; dem Perioden gewisse kleine Nebenschönheiten geben, wodurch er etwa mehr Wohlklang, oder leichtere und freiere Wendungen bekömmt. Ich nenne dies die Grundsätze der Leidenschaft, der Erwartung, des Unvermuteten, und der Nebenausbildung.« (VW, S. 1030)
Nimmt man Klopstocks Erläuterung zum ersten Grundsatz hinzu: »Wessen das Herz am vollsten ist, davon geht der Mund am ersten über« (ebda., S. 1031), dann erhält die zweifache Negation am Anfang der >Frühlingsfeyer< (»Nicht in den Ozean der Welten alle. . ., schweben nicht«) den Charakter einer geradezu leidenschaftlichen Abkehr von den Dimensionen des neuzeitlichen Weltbildes; zugleich sagt der Autor mit diesem inversiven Einsatz und mit der Vorstellung des Sich-Stürzens in den »Ozean der Welten« Unvermutetes, und ferner erweckt er mit der Negation umso mehr Erwartungen, je länger er den negierten Bereich nämlich über die ganze erste Strophe hin - trotz der Negation ausmalt, und dies sogar noch mit dem Bild der Engel und ihrer höchsten Entzükkung: Gerade diese Vorstellung, zum Kreis der lobpreisenden Engel zu gehören, macht ja den Gegenstand der erhabensten Auferstehungshoffnungen der Christen aus. Im Blick auf die Stilqualität der Inversion ist festzuhalten, daß sie dem Dichter ein emotionales Anordnungsprinzip ermöglicht, also eine Darstellungsabfolge nicht nach der Satzlogik, sondern nach der Gewichtung des Gefühls und der Leidenschaft (vgl. 11.49 Schneider 1965, S. 54). Zugleich erlaubt ihm die Inversion, den einen semantischen Zusammenhang in eine Vielzahl paralleler und auch inkohärenter Bilder zu zerlegen, also mehrere einzelne Höhepunkte - und damit auch »Nebenschönheiten« - zu schaffen. Unterstützt durch die relative Abgeschlossenheit jedes Verses entwickelt sich vor der Imagination des Lesers ein Folge disparater, aber der Zeitfolge nach simultaner Bilder, Bewegungen und Szenen, die, da ihre syntaktisch-semantische Zuordnung wegen der Inversion noch nicht deutlich ist, zur weitgehend
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isolierten Rezeption tendieren und damit der »schnellen Bewegung« gerade Widerstand entgegensetzen: »Nicht in den Ozean der Welten alle«
Dreimal nacheinander wird hier durch »Ozean«, »Welten« und »alle« die Totalität des Weltganzen evoziert, und der Leser imaginiert diese durchsichtige Metapher zunächst als eigenen Vorstellungsbereich. »Will ich mich stürzen! schweben nicht, «
Hier plötzlich zwei Verben, wiederum isoliert in einem Vers und damit als je eigene Vorstellungen apperzipierbar; dabei nötigen sie durch ihre Gegensätzlichkeit ebenfalls zur je gesonderten Wahrnehmung, und die neuerliche Inversion »schweben nicht« erbringt als »Nebenschönheit« neben der Alliteration mit »stürzen« den pointierenden Rückbezug auf den Stropheneingang. »Wo die ersten Erschaffnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts«
Wie die erste Zeile ist auch diese wiederum ohne zugehöriges Prädikat und verleitet vor allem durch die metaphorische Apposition zur Imagination dieser jubilierenden Engel. »Anbeten, tief anbeten! und in Entzückung vergehn!«
Schon wegen der durch »tief« intensivierten Wiederholung des Prädikats nötigt dieses zur eigenständigen Rezeption, und auch das »Jubeln« steht in gewisser Spannung zum stillen »Anbeten«, dieses ist wiederum nicht leicht mit der nachfolgenden Wendung »in Entzückung vergehn« vereinbar. Im Wechsel folgen also einander zwei verblose Zeilen und zwei Verse mit jeweils zwei Prädikaten. Und alle diese Einzelvorstellungen stehen unter dem gemeinschaftlichen Vorbehalt der Negation und willentlichen Absenz des lyrischen Ichs im Blick auf die evozierten Bereiche. - Auch bei der Inversion begegnet uns also wieder das Interesse an den kleinen Einheiten, ja an deren Aufwertung auf Kosten des größeren, als religiöses Ritual gestalteten Ganzen. 4) Schließlich noch der letzte von Klopstock in seinem Epigramm erwähnte Aspekt der »Gedanken, die dem Verein mit Bewegung sich weigern«. Der Autor spielt damit auf die für ihn wichtige Kontamination von Gedanken und »Bewegung« - diese im Sinne von »Emotion«, »Gefühl« -, also auf das an, was Schneider die »herzrührende Schreibart« nennt (11.49 1965, S. 87ff.) und wovon er behauptet, Klopstock habe ausgehend von Bodmers Auffassung, die Erregung der Leidenschaften sei
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das Ziel der Poesie - Denken und Fühlen geradezu miteinander identifiziert (ebda., S. 101; vgl. dazu Kap. II 6g-3). Mitunter aber isoliert Klopstock auch diesen Bereich der Seele im Gesamtrahmen seiner Gedichte. Dabei geht er von den vier Vermögen der menschlichen Seele aus, dem Denken, der Einbildungskraft, dem Willen und dem Fühlen (vgl. dazu auch AT, S. 119ff.). Die Totalität dieser Seelenvermögen wird im Nacheinander ihrer verschiedenen Funktionen vergegenwärtigt. Auch dies können die ersten Verse der >Frühlingsfeyer< zeigen. Zeile l ist beherrscht von der Imagination, Vers 2 präsentiert einen Willensakt, in Zeile 4 wiederum dominiert das Gefühl, das aus dem »Anbeten« und dem »Vergehen« »in Entzückung« spricht. In Strophe 2 wird nun dieses Anbeten und seine konkrete Anwendung im zweimaligen »Halleluja« als Willensaktion deklariert, während der letzte Satz der Strophe Ausdruck einer rationalen Einsicht, eines Denkaktes ist, der sich dann explizit in den Fragen von Strophe 5 fortsetzt. So appelliert das Gedicht unermüdlich an die verschiedenen psychischen Vermögen. Die Sprünge, die dabei im Gedichtablauf entstehen, verstärken die Spannung, verunklaren aber auch die zeitliche und logische Sukzession des Ganzen. Worum es Klopstock mit diesem Wechselbad, diesem Gegen- und Miteinander von Gefühlen, Empfindungen und Gedanken geht, werden wir noch eigens zu untersuchen haben. Hier war das Phänomen zunächst als stilbestimmendes Merkmal zu erkennen. In ihm zeigt sich eine durchgängige Tendenz zur Prävalenz des Partiellen, Einzelnen innerhalb und gegenüber der rituellen Wiederholungsstruktur des ganzen Gedichts. Diese Tendenz setzt auch der (von Menninghaus betonten) »schnellen Bewegung« spürbaren Widerstand entgegen und läßt sich als Stilprinzip der Individuation charakterisieren. 5) Klopstocks Bevorzugung des Einzelnen vor dem Ganzen (vgl. dazu auch Kap. II 6 c-4) bestimmt auch die Struktur seiner anderen Werke, ja seine wissenschaftliche und künstlerische Haltung insgesamt. So seinen unzusammenhängenden, isolierte Einzelheiten aneinanderreihenden Briefstil, wofür er sich von Anfang an entschuldigt (vgl. B I, S. 2, 10 u. ö.), so seine theoretischen, weithin fragmentarischen Abhandlungen, deren Weitschweifigkeit und Digressivität seinem Bemühen entspringt, auch »die letzten Nebenzüge der schönen Wissenschaften« nicht unerörtert zu lassen, weil »diese Kleinigkeiten . . . so gleichgültig nicht« seien (zit. in 11.49 Große 1977 b, S. 97). Dazu gehört auch der schon erwähnte handlungsarme Aufbau des >MessiasStilzug< seiner Biographie - Klopstocks marottenhafter Hang zur Kürze - auch bei Übersetzungen - und seine Detailversessenheit etwa bei der Drucklegung seiner Werke, wo seinen Argusaugen - um nur ein Beispiel zu zitieren - selbst Winzigkeiten auf den dazu angefertigten Illustrationen nicht entgingen: »Sind die Finger der rechten Hand nicht ein wenig, nur ein wenig zu lang? u ist der Daumen der linken nicht zu kurz? . . . Der rechte Fuß scheint mir nach dem kleinen Zeh zu ein wenig zu fleischigt zu seyn.« (BR IX/1, S. 120). Alle diese Einzelzüge verweisen, scheint mir, auf eine Grundhaltung des Autors, der einerseits zeitlebens in ein großes Netz sozialer Beziehungen eingebunden war und dieses brauchte und pflegte und der andererseits bisweilen bis zur Schroffheit den Anspruch auf Eigenständigkeit aufrechtzuerhalten wußte. In diesem Sinne erfaßt die stilistische Grundspannung von Ritualisierung und Individualisierung durchaus auch eine zentrale Homologie von Person und Werk - und zugleich eine problemgeschichtliche Grundspannung im Übergang zur Moderne. g) Poetische Monadologie und lyrische Wahrheit - Zur Autonomisierung der Poesie Klopstocks Hymne >Die Frühlingsfeyen ist nicht nur gattungs- (und stil-)geschichtlich, sondern auch problemgeschichtlich bedeutend. Denn sie greift Grundfragen auf, welche die Epoche in Wissenschaften und Literatur seit der Frühaufklärung vorrangig beschäftigt haben: das Verhältnis der beiden Offenbarungen Gottes, der Bibel und der (nachkopernikanischen) Natur, zueinander, das Problem der »Güte« von Gott, Mensch und Welt als Frage der Theodizee, in der Auseinandersetzung damit die Suche nach Orientierung und Selbstbestimmung des Ich im Medium der religiösen Erfahrung und im Bezug darauf wiederum das Problem der >Darstellbarkeit< dieser theologischen und philosophischen Problematik im Medium der Poesie. Das Gedicht ermöglicht damit eine Positionsbestimmung des Autors im Kontext der Epoche. 1) In seiner Dichtung - und insbesondere auch in dieser Hymne - habe Klopstock, so hat man behauptet, »die kopernikanische Wende vollzogen« (11.49 Ulshöfer, S. 174), und die unendlichen Dimensionen des nach-kopernikanischen Kosmos werden in der Tat vom »lyrischen Ich« in einer Art gedanklich-emotionaler >Bewegung< als >Aktion< durch-messen. Zugleich hat man auf die Entstehung der Hymnen aus der Nachahmung der Psalmen und auf den daraus resultierenden engen Rückgriff des Dichters auf die biblische Sprache verwiesen (vgl. Kap. II 6 e-3), dabei
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aber die »eigenwillige Auswahl von Bibelstellen« nicht übersehen, die »bis zu völliger Loslösung der Stellen von dem ursprünglichen Sinn gehen« könne (11.49 Krummacher 1969, S. 161). Kohl hat diese These als »übertrieben« bezeichnet (11.49 1990, S. 136) und eine Fülle von BibelZitaten und -anspielungen in Klopstocks Hymnen zusammengetragen. Doch abgesehen von deren unterschiedlicher Überzeugungskraft bestätigt diese Kollektion nur, daß Klopstock auf engstem Raum Stellen aus den unterschiedlichsten biblischen Schriften zitiert und deren Kontext zumeist ignoriert (am ehesten überzeugen bei der >Frühlingsfeyer< noch einige durchgängige Anspielungen auf das Buch Hiob; ebda., S. 147ff.). Wie sehr Klopstock die Bibel-Zitate ohne Rücksicht auf deren Kontext verwenden kann, sei wenigstens am berühmtesten Zitat illustriert, dem »Tropfen am Eimer« (Str. 2) als Entlehnung aus Jesaja 40, 15: »Siehe, die Heiden sind geachtet wie ein Tropfen, so im Eimer bleibt, und wie ein Scherflein, so in der Wage bleibt.« Zum einen widersprach die Aussage dieses Verses von der Auserwähltheit der Juden und der Verachtung (und Verwerfung) der Heiden fundamental dem Glauben Klopstocks und der Neologie an die Glückseligkeit Aller< (so der Titel einer seiner »freirhythmischen« Hymnen; vgl. O, S. 68ff.; vgl. dazu 11.49 Kaiser 1975, S. 176ff.; im >Messias< bittet Jesus am Kreuz, alle Tugendhaften miterlösen zu dürfen, und der Ewige wird »einst« »zu einem / Großen Ziele, der Seligkeit aller, herüberkommen«; M, S. 415f., 635; vgl. ebda., S. 639f.; vgl. dazu auch Kap. l II d-3), zum ändern verwendet Klopstock den »Tropfen am Eimer« in einem völlig anderen Kontext, nämlich als Metapher für die Erde, um deren Winzigkeit gegenüber der Unendlichkeit der Welten zu verdeutlichen, und zum dritten besagt der Gedicht-Kontext, daß selbst dieser »verworfene« Erd-»Tropfen« wie die >übrige< Schöpfung auch »aus der Hand des Allmächtigen« »rann« und deshalb - Klopstocks Überzeugung entsprechend - nicht »verworfen« ist. Damit tritt das Bibel-Zitat zumindest konnotativ in Widerspruch zu seiner biblischen Bedeutung! In solch freiem und vernunftorientiertem Umgang mit der Bibel knüpft Klopstock (in seinen >Geistlichen Liedern< weniger radikal) an Geliert und seine neologischen Freunde Schlegel und Cramer an (vgl. Kap. II 3 b-3). Wie Tersteegen in seiner Bibeldichtung (vgl. Kap. I 2 b-2) benutzt Klopstock das »Buch der Bücher« als Zitatenfundus, um an seiner Dignität zu partizipieren - sie sich jedenfalls zuzueignen - und in dieser bibelnahen Sprache doch zugleich die eigene, neuzeitliche Welt-Anschauung zu verkündigen. Doch wo findet sich diese? Täuscht die These von der »kopernikanischen Wende« nicht darüber hinweg, daß sich im Gedichtablauf eine immer stärkere Abwendung von dem »Ozean der Welten« hin zur Erde
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und von den »Myriaden« Erdbewohnern aller Art hin zur Einzigkeit des »Ichs« vollzieht, ferner vom Bild Gottes als des Unendlichen hin zum alttestamentlich-personalen »Jehova«? Das alte Weltbild scheint am Schluß vollständig restituiert zu sein; das neuzeitliche tritt dagegen schon bei Gedichtbeginn lediglich im Modus der Negation, der willentlichen Abkehr und Hinwendung zur Erde als Mittelpunkt in den Blick: »Nur um den Tropfen am Eimer, / Um die Erde nur, will ich schweben, und anbeten!« Demnach könnte es so scheinen, als würde Klopstock hier die kopernikanische Wende geradezu widerrufen. Hier erweist sich jedenfalls das Stilprinzip der Individuation auch als wirksam im inhaltlichen Verlauf des Gedichts. Dieses fällt geradezu unermüdlich aus den kosmischen Dimensionen herab zu singulären Phänomenen des Irdischen: von den »Ersten Erschaffnen« auf den Sternen zu den »Myriaden« auf der Erde, vom »Ich« bis zum »Frühlingswürmchen, / Das grünlichgolden neben mir spielt«; von der Welterschaffung als einem »unvorstellbaren Lichtgewitter« (»Ströme des Lichts«, »ein Wogensturz«) bis zum Frühlingsgewitter, dessen Ablauf mehr als die Hälfte des Gedichtumfangs beansprucht (Str. 13-27; vgl. dazu auch 11.49 Kaiser 1965, S. 35f.); aber auch innerhalb des Gewitters von der Mehrzahl (»Lüfte«, »Wolken«, »Winde«, Str. 13-15) zur Einzahl (»Wald«, »Strom«, Str. 15 u. 16), ja zur Einzelheit (»stärkender Halm«, »erfreuende Traube« in Str. 18 als vegetativem Pendant zum »Würmchen« in Str. 19); der optischen Vereinzelung entspricht die akustische Bewegung von der Vergegenwärtigung des Donners bis zu seinem Verstummen in Str. 23. Strukturell entspricht dieser Ablauf - das gemeinsame Bildfeld deutet unverkennbar darauf hin - der eingangs dargestellten Schöpfungsgenese: so wie sich dort die Perspektive von der Pluralität der Welten der einen Erde zuwendet, so ereignet sich der Gewitterhöhepunkt in Str. 24 schließlich als singuläre Entladung eines Blitz-Strahls aus der einen schwarzen Wolke, welcher aber die eine, nämlich »unsre Hütte« verschont. - Auf diese Ent-ladung erfolgt mit dem Bild des rauschenden Regens und des sanften Säuseins eine schließliche Herabmilderung und Auflösung der Spannung, dargestellt im »Bogen des Friedens«. Eine Stelle aus dem >Messias< erklärt den von Kaiser als »etwas befremdlich empfundenen« Titel des Gedichts (vgl. 11.49 Kaiser 1965, S. 29): »Also entdeckt sich Gott, wenn nach wohltätigen Wettern / Über besänftigten Wolken der Himmelsbogen hervorgeht, / Und dir, Erde, den Bund, und die Fruchtbarkeit Gottes verkündigt.« (M, S. 214). Das Gedicht spielt also nicht nur auf biblische (vgl. 11.49 Kohl 1990, S. 153), sondern auch auf mythologische Vorstellungen von der »himmlischen Hochzeit« zwischen dem Himmelsgott und der Mutter Erde an. Mit solcher Fruchtbarkeit haben nämlich »auch die
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himmlischen, bes. die Sturm- und Gewitter-Götter, die den befruchtenden Regen senden«, zu tun (III Edsman, Sp. 1168; vgl. dazu auch II Brockes A, S. 113). Von dieser Vorstellung her wird die enge Korrespondenz zwischen der Erinnerung an die Schöpfungsgenese als eine Art »Urzeugung« und der im Gewitter sich ereignenden, den Ur-Akt wiederholenden und damit fortzeugenden »creatio continua« Gottes ganz einsichtig. Obwohl Klopstock es vermeidet, die Entstehung der Schöpfung mit der häretisch-pantheistischen Auffassung von der Emanation unmittelbar zu verknüpfen (woraus sich böhmisch-spinozistisch folgern ließe, daß die Welt der »Leib Gottes«, dieser also allen körperlichen Erscheinungen immanent sei), spielt er doch mit der Vorstellung des »Entquellens« und »Entrinnens«, »Herabrauschens« und »Zusammenströmens« (Str. 2-5) beharrlich auf sie an. Der Assoziationsspielraum des Gedichts geht also über biblische Konnotationen weit hinaus und ermöglicht sowohl mythologische wie häretisch-kosmologische und moderne astronomische Leseweisen. Aber natürlich spielt der Regenbogen auch auf Offenbarung 4, 3ff. an und eröffnet zusammen mit der Unsterblichkeitsproblematik und dem gewissens-beschwerenden »Gerichts«-Charakter des Gewitters (vgl. dazu III Kittsteiner, S. 3Iff., 65ff., 79ff.) die heilsgeschichtlich-soteriologische Perspektive auf das Jüngste Gericht, so daß die Hymne in der lyrischen >Aktion< einen »Bogen« vom Schöpfungsanfang bis zum Schöpfungsende und damit bis zur Erlösung, von der >Natur< bis zur >Gnade< »der Vollendung und Erlösung der ganzen Schöpfung am Jüngsten Tag« durchläuft (11.49 Kaiser 1975, S. 78). Dies wiederum impliziert die Antwort auf eine weitere Grundfrage der Epoche, die nach der Theodizee (vgl. Bd. V/2, S. 148f. u. ö.). Hallers verzweifelte Frage, ob die Erde von Gott vielleicht als »des Übels Vaterland« erschaffen sei (II Haller, S. 73; vgl. Bd. V/2, S. 151), wird - wie gesehen - gleich eingangs in der emphatischen Gewißheit abgewiesen, auch sie sei ein Werk Gottes wie die anderen Planeten. Die moralische Dimension der Theodizee wird dann im sog. >epischen< Teil der Hymne am lyrischen Ich »durcherzählt«: Das Gewitter »braut« sich zur »Gewissens-Probe« zusammen, die beim Ich die bange Frage:: >Zürnest du? Herr, / Weil Nacht dein Gewand ist?« auslöst (Str. 17). Im >Messias< zittern die »Gottesleugner«, »Wenn am donnernden Himmel das hohe Gewitter heraufzieht, / Und in den Wolken der Rache gefürchtete Wagen sich wälzen.« (M, S. 221) Als ein Leugner und »Zweifler« - das Wort »Zweifel« fällt explizit in Str. 8 - hatte sich auch das Ich betätigt mit seinen Fragen nach der (Un-)Sterblichkeit des »Würmchens« (Str. 6). So wie Klopstock im >Messias< (14. Gesang) die in der Bibel überlieferten Berichte über die Auferstehung Christi zunächst stark unter der Perspek-
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tive des Unglaubens und Zweifeins der Jünger und Anhänger Christi ausmalt, um damit auch dem bibelkritischen Interesse seines Zeitalters entgegenzukommen und dann deren Überwindung durch Ausmalen der Begegnungen des Auferstandenen mit seinen Jüngern einfach als Faktum zu feiern (anstatt durch »Tatsachenbeweise« zu erhärten), so bringt er auch hier ein Element des Zweifeins über die Unsterblichkeit eines kleinen Lebewesens ins Gedicht ein, um diese Irritation dann aber - wohlgemerkt ebenfalls nicht durch Vernunftgründe, wie sie die Leibnizsche >Theodizee< bereitstellte, sondern durch emotionale Aufwallung und Gewißheit über die eigene Unsterblichkeit - zu überwinden (Str. 7-9). Klopstocks empfindsame Theodizee besteht also in einer affektiven Überwindung des Zweifels in einem spontan und unmittelbar Gewißheit erlangenden Gefühls- und Denk-Akt. An einem solcherart Zweifelnden und dann doch Glaubenden läßt Gott seinen Verderber vorübergehen. Der Segen im Gewitter impliziert zugleich die Verheißung auf Gottes Gnade und Barmherzigkeit im Jüngsten Gericht. Halten wir also fest: Die Hymne bietet auf Grundfragen der Epoche durchaus moderne, mit der Neologie konforme Antworten. Sie sucht das neuzeitliche Weltbild mit biblischen Verheißungen zu vereinbaren und nutzt dies zu einer optimistischen Selbstversicherung, sie vollzieht gerade in der ostentativen Abkehr vom Anblick des Unendlichen hin zur Erde und zum Ich jene geo- und anthropozentrische >Kehre< mit, die allgemein in der Aufklärung als Folge und Verarbeitung des »kopernikanischen Schocks« zu konstatieren ist (vgl. Bd. V/l, S. 48ff.; V/2, S. 52ff.). Und sie ist auch darin modern, daß sie diese Selbstversicherung als lyrische Erfahrung gestaltet und dazu die kosmische Unendlichkeit und die Begegnung mit dem Numinosen als Raum des Erhabenen nutzt (vgl. dazu auch IV Richter 1972, S. 139ff.). Gleichwohl liegt das Hauptinteresse Klopstocks keineswegs mehr - wie noch in der Frühaufklärung (etwa bei Brockes und Haller; vgl. Bd. V/2) in einer lehrhaften Vermittlung von Einsichten der »new science« (vgl. dazu auch 11.49 Ketelsen, S. 254f.; III Alt, S. 160). Auch im >Messias< versucht er nur andeutungsweise, biblische Botschaft mit modernem Welten-»Ozean« zu verbinden. So läßt er die Auferweckten, die Erzengel und Teufel, die Seraphim und Cherubim, ja Gott selbst durch die Unendlichkeit des Weltraums hin- und hereilen, an bewohnten Planeten vorbei (wie es auch der junge Wieland praktiziert; vgl. Kap. II 5 c; vgl. auch O II, S. 165f.), und gleichwohl ist die Hölle wie beim ptolemäischen Weltbild noch irgendwo »unten«, der Himmel »oben« - gesehen eben aus der Sicht der Erde, der Erlösungstat für den Menschen, und von daher als Perspektive legitimiert. Nicht der geringste Impetus zu einer Beschrei-
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bung oder gar Erklärung darüber wird erkennbar, wie denn etwa die himmlischen Geister und Personen die unglaublichen Entfernungen oder Christus seine »Himmelfahrt« bewerkstelligen können, kein geschlossenes Weltbild (wie etwa Shaftesburys und Wielands »Platonismus«; vgl. Kap. II 2 a-2; II 5 c) verleiht den Erfindungen denkerische Plausibilität, genug, daß den Figuren dies im Sinne Bodmers und Breitingers »möglich« ist (vgl. dazu Kap. II 2 c-3). Auch alles physikotheologische Interesse ist bei Klopstock (trotz des Vorspanns zur ersten Ausgabe, wo er selbst aber bereits den Überdruß an dieser Fragestellung thematisiert; O, S. 144) weitgehend abhanden gekommen und er pointiert dies in der unmittelbar im Anschluß an die >Frühlingsfeyer< erschienenen Hymne >Der Erbarmen (1759): Gott rede Zwar durch den rollenden Donner auch, Durch den fliegenden Sturm, und durch sanftes Säuseln; Aber erforschlicher, daurender, Durch die Sprache der Menschen. Der Donner verhallt, der Sturm braust weg, das Säuseln verweht, Mit langen Jahrhunderten strömt die Sprache der Menschen fort, Und verkündiget jeden Augenblick, Was Jehova geredet hat!« (O I, S. 139)
Diese Aussage ist ein epochaler Abgesang auf die frühaufklärerische Moderichtung einer Gotteserkenntnis aus der Natur, und so läßt sich die >Frühlingsfeyer< mit ihrem Abschwung aus den astronomisch-physikalischen Räumen in das Reich der Moral und der personalen Frömmigkeit denn auch lesen, zugleich als repräsentativer Ausdruck der neuen, empfindsamen Interessenlage der Aufklärung (und nicht weniger signifikant für das empfindsame Feindbild des Deismus ist es, daß Klopstock den Versuch der Kommunikation eines Freigeistes mit Gott im Medium der Natur scheitern läßt; vgl. DG, S. 281 ff.). 2) Im Mittelpunkt der Hymne steht das Ich mit der - für die Moderne ebenfalls typischen - Suche nach Selbstversicherung und Selbstverwirklichung in seinen personalen Bezügen, als deren erhabenste Möglichkeit sich die im hymnischen Aufschwung erreichte Begegnung mit der Alterität des Numinosen erweist. Die darin lauernde Gefahr indessen, daß dieser lyrische Akt der Selbstkonstitution in der schockierenden Begegnung mit der unbegrenzten Vollkommenheit Gottes in Heteronomie umschlagen und das Ich sich im poetischen Schreibprozeß nur im Modus ständiger Selbstalterierung verfehlen könnte: diese Gefahr wird, gerade weil das Gedicht sie thematisiert, in Inhalt und Form explizit gebannt.
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Nur scheinbar beginnt es mit einem »heterologen« Sprechakt (zum Begriff vgl. III Oljniczak, S. 10), doch das inversive »nicht« entpuppt sich wie gesehen (vgl. Kap. II 6 f) - nicht als Negation oder Defizienz in der Befindlichkeit der Sprechinstanz, sondern indiziert umgekehrt deren Homologie und dynamisch intakte Intentionalität als Ausdruck seiner Autonomie. Denn die Seele besitzt, wie Klopstock ganz unlutherisch, aber gut neologisch in der Ode >Beruhigung< (1778) verkündet, uneingeschränkte Willensfreiheit: »Der Geschaffenen, denen Seele ward, Verborgenste, des Willens Freyheit Ist das höchste von allem, was Gott schuf, Ist es, die unschuldig vor Ihm, oder schuldig macht...« (Oil, S. 11)
Das Ich entschließt sich zur Anbetung im Bewußtsein einer funktionierenden Begegnung mit einem Gott, der den Menschen - wie auch die frühe Ode >An Gott< (1748; O I, S. 70-75) ausführt - gewürdigt hat, mit ihm in menschlicher Sprache zu kommunizieren, so wie er sich auch in seinem Sohn >herabgelassen< und in der menschlichen Sprache offenbart hat (und die einmalige Offenbarung erfordert - diesen Sinn ermöglichen die zitierten Zeilen aus dem >Erbarmer< - die je aktuelle und damit auch aktualisierbare Verkündigung des Gottes-Wortes). Die Hymne vollzieht diese >Herablassung< Gottes deshalb auch als symbolischen Akt von dem Bild des Unanschaulich-Allmächtigen zur begrenzt-vertrauten Personalität des biblisch-anthropomorphen »Jehova«. Mit dieser symbolischen göttlichen Aktion setzt das Gedicht um, was Herder 1783 als mytho-poetisches Konzept der Poesie aus der Bibel selbst herleitet: »Ohne Gott ist uns die Schöpfung Chaos, und ohne einen menschlichen Gott, der wie wir denkt und empfindet, ist keine freundschaftliche oder kindliche Liebe, keine Vertraulichkeit mit diesem uns so unbekannten und doch so innigst nahen Wesen möglich. Der Unendliche ließ sich also herab, die ersten Ideen von ihm dem Menschen so nahe zu machen, als es sein konnte; und sowohl im ersten Schöpfungsbilde, als in der Geschichte der Altväter ist diese freundschaftliche Vertraulichkeit der Grund aller Beziehungen des Menschen zu Gott und Gottes zum Menschen.« (GEP II, S. 968; vgl. dazu Bd. VI/2)
In diesem Sinne annonciert der poetische Weg zu einem personalen Gottesbild nicht die Heteronomie des Klopstock sehen Weltbildes, sondern das Gelingen einer humanen, gefühlshaft-personalen Kommunikation mit dem Numinosen. In diesem Sakralakt freilich befreit sich Klopstock von der neologisch-nivellierenden Annäherung von Religion und Ethik (vgl. dazu auch III Taubes, S. 271). Zwar ist die menschliche Sprache nur
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»ewiges Stammeln« (DG, S. 285) im Vergleich zur göttlichen Rede an den Menschen, doch kann sie sich gerade im hymnischen Aufschwung »aus den dürftigsten Elementen« zu »der Engel Sprach« erheben (vgl. 11.49 Milliard 1987 b, S. 270f., 291). Und schließlich ebnet die Hymne einer gelingenden Selbstversicherung auch dadurch den Weg, daß sie - wie gesehen - die Frage der Theodizee mit der Erwähltheit der Erde gleich eingangs beantwortet und damit das Schicksal des Ich in der nachfolgenden >narratio< aller Verunsicherung und Beängstigung, aller zum »Weinen« (Str. 7) führenden Fremd-, Einsamkeits- und Verlassenheitserfahrung zum Trotz bereits im Zeichen der Präszienz oder sogar Prädetermination der >Rettung< entgegenführt. Auch das Numinose selbst bricht nicht in unverfügbarer Kontingenz herein; vielmehr erwächst die Begegnung mit ihm - eine Tendenz der Barock-Mystik zuspitzend (vgl. Bd. III, S. 7ff.) - gänzlich aus den Sprechakten und dem Zeigegestus des Ich: »Wie beugt sich der Wald! wie hebt sich der Strom! / Sichtbar, wie du es Sterblichen sein kannst, / Ja! das bist du sichtbar, Unendlicher!« (Str. 15) Und so wenig Gott >wirklich< erscheint, so wenig kommt es zu einem echten Dialog mit ihm: Was er ist und sagt, offenbart sich das Ich im Grunde selbst. Indem es so alles Unverfügbare, Bedrohliche und Fremde von >Transzendenz< und Kontingenz des Göttlichen in den eigenen Deutungs-Akt einebnet, macht es die Begegnung mit dem Numinosen der rituellen Wiederholungsstruktur verfügbar. Im >kultischen< Vorgang des Gedichts wird so die Ohnmacht des Ich gegenüber dem Numinosen transponiert in die Sicherheit, über das Göttliche verfügen zu können, und dies ist der genuine Sinn des Kultus: In ihm »drückt sich die Ermächtigung des Menschen zu diesem Umgang aus.« (III Rössler, S. 23; vgl. ebda., S. 29ff.) Und zugleich zeigt sich in der »Versprachlichung« dieser Exorbitanz-Erfahrung die individuelle Leistung des Ich: »Der Ritus ist die Sprache, in der die extreme individuelle Erfahrung sich zu äußern vermag«, und zwar als »deutende und interpretierende Leistung seiner Elemente« (ebda., S. 36f.). Und mit solch deutender Versprachlichung dieser Extremsituation verdichtet und strukturiert die Sprechinstanz die eigene Erfahrung zum »kollektiven Ritual«, das auch seinen Rezipienten eine »Deutung im Sinne eines ritualisierten, kollektivierten Wahrnehmungsprozesses« ermöglicht (III Wertheimer, S. 201). Deshalb bildet aber auch das Ich selbst den Mittelpunkt der Hymne Ritualität und Individualität stehen sich spannungsvoll, aber nicht widersprüchlich gegenüber (vgl. III W. Braungart, S. 52ff.) -, und zwar als priesterlicher Garant des Geschehens. Diese Zentralstellung unterstreicht auch der Ablauf des Gedichts. Dem »Schweben« um die Erde in Strophe 2 entspricht kontrapunktisch die Mitte der Hymne, in der sich die Schöpfung um das Ich gruppiert:
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»Umwunden wieder mit Palmen Ist meine Harf umwunden! ich singe dem Herrn! Hier steh ich. Rund um mich Ist Alles Allmacht! und Wunder Alles! Mit tiefer Ehrfurcht schau ich die Schöpfung an, Denn Du! Namenloser, Du! Schufest sie!« (O, S. 63)
Gerade in dieser Haltung äußerster Devotion und Heteronomie aber erweist sich das Ich, indem es »die Schöpfung« prägnant auf einen Totaleindruck - gleichsam eine Gesamtansicht - konzentriert und um sich gruppiert, als »second Maker under Jove« (Shaftesbury) im Sinne Herders: »Die erste Dichtkunst war also ein Wörterbuch prägnanter Namen und Ausdrücke voll Bilder und voll Empfindung; . . . Das Rad der Schöpfung läuft umher, so weit es sein Blick verfolgen kann, und steht bei ihm, dem Mittelpunkt dieses Umkreises, dem sichtbaren Gott auf Erden, still. Indem er alles nennt, und mit seiner Empfindung auf sich ordnet, wird er Nachahmer oder Gottheit, der zweite Schöpfer, also auch >poietesBenennens< vorgegebenes Objekt, aber das Ich eignet sich diese Welt doch im Medium seiner Empfindung an. Das Haften am »Malenden«, Sinnlichen hat Klopstock selbst als nachteilig für die unmittelbare Wirkung auf »Phantasie« und »Leidenschaft« kritisiert (vgl. RSKSW, S. 985) und daher der beschreibenden Dichtung der Frühaufklärung ihren Rang als Poesie aberkannt (im Epigramm >Der UnterscheidendeTheodizee< er bereits in seiner Leipziger Studienzeit gründlich rezipiert zu haben scheint (vgl. 11.49 Kaiser 1975, S. 28f.), zeitlebens hoch verehrt und ihm auch in der >Deutschen Gelehrtenrepublikx ein »Denkmal« gesetzt und darin sogar über Newton erhoben (vgl. DG, S. 175f.). Leibniz' >Monadologie< (seit 1720 in deutscher Sprache bekannt, vgl. 11.54 Herring, S. VIII) ist im Blick auf Klopstocks Subjekt-Begriff jedenfalls von nicht geringem Erklärungswert. Alle Monaden sind »durch ständige blitzartige Ausstrahlungen der Gottheit« erzeugt (II Leibniz M, S. 47): Klopstocks Bildfeld von den »Strömen des Lichts« bei der Schöpfung und vom fort-zeugenden Gewitter-Blitz bei der »creatio continua« könnten auf diese Anschauung bereits alludieren (wenngleich dem auch die von Leibniz abgelehnte Emanationsvorstellung der Hymne entgegensteht). Wichtiger ist, daß die Monaden »keine Fenster« haben, »durch die etwas in sie herein- oder aus ihnen heraustreten kann« (ebda., S. 29). Eine Affizierung durch die Außenwelt ist damit ausgeschlossen. Indem das Klopstocksche Ich sich an dieser Welt orientiert, aber ihres Einflusses nicht bedarf, weil es im >Benennen< Gefühle und Gedanken aus sich selbst heraus entwickelt, kommt es der Leibnizschen Monade nahe. Diese unterliegt als erschaffenes Wesen »der Veränderung«, die »aus einem inneren Prinzip« erfolgt, das Leibniz auch »Kraft« nennt (ebda., S. 31). Der veränderliche oder »vorübergehende Zustand, der eine Vielheit in der Einheit oder in der einfachen Substanz einbegreift und repräsentiert, ist nichts anderes als das, was man Perzeption nennt.« (Ebda.) So gibt es Monaden, die nur dieser »Perzeption« fähig sind wie etwa auch das »Frühlingswürmchen«, über dessen Empfindungsfähigkeit und Unsterblichkeit das lyrische Ich so besorgt ist (vgl. Str. 6-9; vgl. auch Str. 19: »Auch das Würmchen mit Golde bedeckt, merkt auf! / Ist es vielleicht nicht seelenlos? ist es unsterblich?« O, S. 65). Die motivische Parallele ist hier besonders auffallend, weil Leibniz in der zitieren Stelle (§ 14) ausdrücklich gegen die Cartesianer polemisiert, die »weder Tierseelen noch andere Entelechien« für möglich hielten (ebda., S. 31; vgl. dazu Bd. V/l, S. 104). Und da Leibniz voraussetzt, daß die Monaden nur einmal am Anfang der Zeit geschaffen und am Ende wieder vernichtet werden, die Schöpfung hindurch aber bestehen bleiben, attestiert er auch tierischen Monaden eine auf diese Zeitdauer beschränkte »Unsterblich-
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keit« (M, S. 63, §77). In seiner Ode >Die unbekannten Seelen< (1800) spricht Klopstock (wie Brockes und der junge Wieland; vgl. Kap. II 5 b) neben den Tieren (hier Biene, Nachtigall und Hund) auch den Sternen eine Seele zu und gelangt damit zur Vorstellung einer Allbeseelung (im folgenden die beiden Eingangsstrophen): »Wähnt nicht, ich fable, wenn ich von den Seelen singe der Sterne. Wähnt's denn: sie dünken euch ja seelenlos auch, Die den Honig euch saugt; und die Geflügelte, Die bey Blüthen von Liebe tönt; Und der Menschen getreuerer Freund, wie einander sie's oft sind. Reden kann er nicht, aber er kann Handeln! Ihr labt nicht; er trägt's, strafet ihn ungerecht; Und einst leckt er der Todten Hand.« (O II, S. 150; vgl. ebda., S. 161f.)
Zwischen den Monaden besteht nach Leibniz eine Stufenleiter, die von der niedrigsten Sprosse, welche das »Frühlingswürmchen« repräsentiert, bis zu den mit Vernunft oder »Apperzeption« ausgestatteten und wahrhaft unsterblichen Geistern reicht. Diese sind bereits »Abbilder der Gottheit oder des Urhebers der Natur selbst. Sie sind fähig, das System des Universums zu erkennen und etwas davon in Proben eigener Systembaukunst nachzubilden; denn jeder Geist ist in seinem Bereiche gleichsam eine kleine Gottheit« (M, S. 65, § 83). In seinem Gedicht >Beruhigung< (1778) verknüpft Klopstock diese Vorstellung der Stufenleiter mit der »Freiheitskraft« der »Höhergestellten«, die sie sogar zu Handlungen befähigt, welche selbst Gott - eine für Leibniz und die Theologen aller Konfessionen schlechthin undenkbare Ansicht! - nicht vorherzusehen, wohl aber teleologisch zur »Seligkeit Aller« zu leiten vermag: »Verschieden ist die Denkungskraft der Unsterblichen; Auf Stufen stehen sie, höheren, tieferen: So der Unsterblichen Freyheitskraft, sie haben auch hier Genie, Oder sie stehen auf dieser Stufe nicht. Ursach wird die Freyheit von Handlungen, Die der Allwissende selbst nicht vorher mit Gewißheit sieht: Aber Er, der Immerwirkende, leitet sie Zu der Schöpfung letztem Zweck, der Seligkeit Aller!« (O II, S. 12; vgl. ebda., S. 165f.)
Aus solch motivischen Parallelen resultieren strukturelle: Das ekstatische »lyrische Ich« kann als ein solcher »Geist« begriffen werden, der - aus eigenem inneren Antrieb heraus sowie den Zustand der Gedanken und Empfindungen ständig wechselnd - in der Welt-Sicht ein »Spiegel der Gottheit« zu sein versucht, der, indem er Gott empfindet, denkt und
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verherrlicht, sich zugleich seines eigenen Wertes, seiner Unsterblichkeit bewußt und gewiß wird. Und so wie das »lyrische Ich« - auf der Stufenleiter den »ersten Erschaffnen« untergeordnet - gleichwohl deren jubelnden Lobpreis imitiert und damit spiegelt, so ist noch das »aufmerkende« Würmchen Reflex der (angespannten) Seelenlage des Ichs vor dem Ausbruch des Gewitters. Von daher spiegeln sich auch die Teile des Gedichts ineinander - das Gewitter reflektiert den »Lichtrausch« der Schöpfung -, aber es spiegelt auch die Form als ganze jene - von Leibniz als Definition für die Perzeption verwendete - »Vielheit in der Einheit«'. Diese bestimmt als Bewegung der monadologischen Perzeption und Apperzeption zugleich die Bewegungsstruktur der Klopstockschen Hymnen: »Vielheit« verwirklicht sich durch das Stilprinzip der Individuation (vgl. Kap. II 6 f), »Einheit« stellt sich her im Ritus von Repetition, Variation und Gradation (vgl. Kap. II 6 d). Wenn sich nun in Leibniz' Monadenbegriff - vor allem deshalb ist er problemgeschichtlich bedeutsam - der moderne Individualitätsbegriff ankündigt - denn keine der unzähligen Monaden (Seelen und Geister) ist einer ändern völlig gleich -, dann hat Klopstock dieser monadologischen Existenz- und Wahrnehmungsform moderner Individualität in jedem seiner unverwechselbar-besonderen Gedichte zu poetischer Existenz und damit auch zum Lektüre-Erlebnis verhelfen (vgl. 11.49 Weimar, S. 45). 3) Damit hat er zugleich das Autonomiestreben der Aufklärung - verstanden »als Streben nach Emanzipation aus den Strukturen überlieferter Autorität« (III Gaier, S. 265; vgl. Bd. V/l, S. 25f.) - im Bereich der Poesie entscheidend vorangetrieben. Die radikale Abgrenzung von erhabener Poesie und Prosa, das elitäre Dichter- und Dichtungsverständnis, die kultische Inszenierung der Rezeption, aber auch Klopstocks theoretische wie praktische Konzentration auf die Poesie als entscheidende »schöne Wissenschaft« waren die äußeren Begleiterscheinungen zu dem Versuch, der Dichtkunst nicht nur zu einem eigenständigen und unverwechselbaren, sondern letztlich sogar - kulminierend in den Hymnen - zum höchsten Range unter den die >Wahrheit< vermittelnden Disziplinen zu verhelfen. Daraus resultierte von Anfang an die Affinität zu Theologie und Religion. In seiner Abhandlung >Von der besten Art über Gott zu denken< (1758) unterscheidet Klopstock drei solcher Arten (vgl. dazu auch 11.49 Rülke, S. 15ff.). Die erste ist >eine kalte, metaphysische«, »die Gott beinahe nur als Objekt einer Wissenschaft ansieht, und eben so unbewegt über ihn philosophirt, als wenn sie die Begriffe der Zeit oder des Raums entwickelte.« (BAGD, S. 157) Über dieser untersten Art steht als zweite die »Betrachtung«, die »eine freiere Ordnung mit gewissen ruhigen Emp-
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fmdungen« verknüpft (ebda., S. 158) und die von Herder mit Recht der Neologie zugeordnet wurde (vgl. 11.49 Kaiser 1975, S. 98f.). Erst die oberste Art jedoch ist die wahre, die am nächsten zu Gott führt (auch das folgende Zitat Klopstocks läßt sich auf Struktur und Verlauf der >Frühlingsfeyer< übertragen): »Sich der obersten Stufe nähern, nenne ich, wenn die ganze Seele von dem, den sie denkt . . . so erfüllt ist, daß alle ihre übrigen Kräfte von der Anstrengung ihres Denkens in eine solche Bewegung gebracht sind, daß sie zugleich und zu einem Endzwecke wirken; wenn alle Arten von Zweifeln und Unruhen über die unbegreiflichen Wege Gottes sich verlieren; wenn wir uns nicht enthalten können, unser Nachdenken durch irgend einige kurze Ausrufungen der Anbetung zu unterbrechen; wenn, wofern wir darauf kämen, Das, was wir denken, durch Worte auszudrücken, die Sprache zu wenige und schwache Worte dazu haben würde; wenn wir endlich mit der allertiefsten Unterwerfung eine Liebe vereinigen, die mit völliger Zuversicht glaubt, daß wir Gott lieben können und daß wir ihn lieben dürfen. Wofern man im Stande wäre, aus der Reihe, und daß ich so sage, aus dem Gedränge dieser schnell fortgesetzten Gedanken, dieser Gedanken von so genauen Bestimmungen, einige mit Kaltsinn herauszunehmen, und sie in kurze Sätze zu bringen; was für neue Wahrheiten von Gott würden oft darunter seyn!« (Ebda., S. 160)
Lessing hat 1759 an der dritten - tatsächlich auch neuplatonisch interpretierbaren (vgl. 11.49 Rülke, S. 26ff.) - Art kritisiert, daß Klopstock »das denken nennt, was andere ehrliche Leute empfinden heißen. Seine dritte Art über Gott zu denken, ist ein Stand der Empfindung; mit welchem nichts als undeutliche Vorstellungen verbunden sind, die den Namen des Denkens nicht verdienen.« (II BNLB, S. 160) »Die Wahrheit«, erklärt Lessing weiter, »läßt sich nicht so in dem Taumel unserer Empfindungen haschen! . . . Er steht an der wahren Quelle, aus welcher alle fanatische und enthusiastische Begriffe von Gott geflossen sind.« (Ebda., S. 161f.) Und deshalb wird Klopstock für Lessing hier - in Übereinstimmung mit der Gottsched-Schule (vgl. Kap. II 2 c; II 6 c-1) - »ein Böhme, ein Pordage« (ebda., S. 162), obwohl Klopstock mit dieser Favorisierung von Gefühl und Empfindung eher dem Religionsverständnis der Neologie entsprach (vgl. Kap. II l b; 11.49 Kaiser 1975, S. 28ff.; 1981, S. 13). Doch geht er über diese hinaus, insofern bei ihm vor allem in den Hymnen Wille und Emotion als Motor fungieren, welche die Gedankenfolge steuern. Noch weniger als für Thomasius (vgl. Bd. V/l, S. 100) und kaum weniger als für Herder (vgl. II EES) läßt sich für Klopstock noch die Seele in ihre einzelnen Vermögen auseinanderdividieren. So heißt es in seiner Ode >Der Unterschied< (1771):
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II. Neologie und Empfindsamkeit
»Auch dein Geschwätz von dem, was du nennest der Seele Obere Kraft, was die untre, von erhabnem Wissenschaften im Sand' aufführend Deiner Belehrung Gebäu. Wirket vielleicht die Seele nicht ganz, wenn Gestalt sie Schaffet, daß wir in dem Leben die Natur sehn? Ganz nicht, wenn die Natur durch wandelnd, Bis in ihr Leben sie sieht?« (O I, S. 230)
Im Kontext geht es um Unterschied und Vorzug zwischen erfindender Kunst und »bemerkender« Wissenschaft. Recht ausgeübt wird auch die Wissenschaft mit »Feuer« betrieben. Und doch gebührt den erfindenden Wissenschaften - dazu zählt auch die Poesie - wegen der intensiveren Beteiligung aller Seelenvermögen am Prozeß der Wahrheitsfindung der Vorrang (ein Gedanke, der Klopstock ebenfalls mit Herder verbindet; vgl. dazu auch 11.49 Rülke, S. 77ff.; Bd. VI/2). Der Dichter erhebt für die Poesie damit keinen poetisch fingierten (vgl. dazu Kap. II 2 a-1), sondern einen nur durch die Poesie möglichen realen Anspruch auf Wahrheit, der diese nicht mehr nur - wie bislang vor allem in der theologischen Tradition - auslegend oder wie bei der Neologie durch die Vernunft gereinigt vermittelt, sondern wie bei Shaftesburys Theokies (vgl. Kap. II l c-2) vor allem im ganzheitlichen Seelenaufschwung des Enthusiasmus aus sich heraussetzt und dabei auch »erfindet«: »Der höchste Zustand des Denkens wird in der Dichtung und durch sie möglich.« (11.49 Kaiser 1981, S. 18; vgl. Kap. II 6 f-1). Diese Wahrheit ist deshalb aber auch gerade in ihrem gegenüber der Wirklichkeit gesteigerten Zustand des Enthusiasmus, welcher zugleich dem Ziel eines möglichst intensiven »movere« dient, an die besondere (Aussage-)/^rm der Poesie gebunden. Das Ich, das seine Wahrheit in der hymnischen >Aktion< »hervorbringt«, ist damit immer schon ein genuin poetisches Ich, und deshalb auch ist für Klopstock »die poetische Haltung der Seele« »die eigentlich religiöse Erkenntnis« (11.49 Kaiser 1981, S. 19). Damit hat Klopstock der Dichtkunst in der Tat einen autonomen - und in dieser Autonomie zugleich sakralisierten - Status gegenüber den anderen Wissenschaften und Künsten zugewiesen, der das von Semler theologisch ermöglichte »Privatchristentum« (vgl. Kap. II l d) zu einer auch die institutionalisierte Theologie und Frömmigkeit im Prinzip hinter sich lassenden Frömmigkeit nutzt (vgl. dazu auch 11.49 Große 1977 a, S. 148f.). Dennoch hat der Dichter den letzten Schritt zur Autonomisierung der Poesie im Zusammenhang mit der Religion nicht vollzogen. Wie ist dann das Verhältnis von Religion und »heiliger Poesie« bei ihm zu bestimmen?
6) Religion als Dichtung - Dichtung als Religion (Klopstock)
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h) Neologische Theorie, >Geistliche Liederx und »poetisches Herrnhutertum« In seinen moralischen und ästhetischen Schriften steht Klopstock ebenso unter dem Einfluß der Neologie wie bei seiner Dichtung und Überarbeitung >Geistlicher Lieden. Gleichwohl zeigen sich auch überraschende Parallelen zum Herrnhutertum. 1) Nach jahrelangem Schweigen rechtfertigte der Autor die »Erdichtung« des Erlöser-Epos in seinem Aufsatz >Von der heiligen PoesieMessias< einleitete (vgl. dazu auch Kap. II 6 c-3). Dabei argumentierte er primär nicht poetologisch, sondern theologisch, indem er seine »Erdichtung« des >Messias< mit der historischen und dogmatischen Lückenhaftigkeit der biblischen Offenbarung begründete, die auch die professsionellen Ausleger zu häufigen Irrtümern verleitet habe. Im Sinne der Neologie, für welche die göttliche Offenbarung kein historisch einmaliges, an die Bibel gebundenes Ereignis, sondern einen der menschlichen Vernunft überantworteten Auftrag darstellte, die göttliche Weisheit »mit dem Fortgange ihrer Cultur nach und nach sich selbst zu erklären« (II Jerusalem BVWR II, S. 100), sollte sein Epos zunächst die historischen Mängel der überlieferten Offenbarung durch verdeutlichende Ausmalung kompensieren. Dadurch erhielt die Darstellung aber gerade nicht den Charakter poetischer Fiktion, sondern den Anschein des historisch Wahrscheinlichen. Alles, was im Zuge bisheriger Bibelkritik der »ratio« anstößig geworden war, konnte Klopstock in seinem Epos so vermeiden bzw. umdeuten. Zugleich aber mußte die Offenbarung im Blick auf ihren fortschrittlichen, zeitgemäßen Charakter gegenüber der Bibel modifiziert und fortgeschrieben werden, »da ich« wie der Dichter erklärte, »für erlaubt halte, auch nach poetischer Darstellungsart, dasjenige, was uns die Offenbarung lehrt, weiter zu entwickeln« (HP, S. 999), und zwar im Blick auf deren Intention, »uns von neuem glückselig und tugendhaft zu machen« (ebda., S. 1005). Wenn sich der Autor dabei an den - nicht näher spezifizierten, aber immerhin an der Vernunft kontrollierten - »Plan der Offenbarung« hielt, dann durften seine Erdichtungen trotz ihres gegenüber der Überlieferung fiktiven Charakters moralische Glaubwürdigkeit, Wahrheit und Schönheit für sich beanspruchen (vgl. ebda., S. 999; vgl. dazu auch die Position Sacks in II 2 c-2). Die »heilige Poesie« malte - für die Einbildungskraft - biblische Begebenheiten aus, sie explizierte - für den Verstand - moralische Wahrheiten, in denen nach Klopstock ohnehin die Offenbarung vorzüglich gründete, und sie suchte über beide das dritte Seelen vermögen, den im
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II. Neologie und Empfindsamkeit
>Herzen< beheimateten Willen, zu aktivieren und über alle drei Seelenvermögen die ganze Seele bis zum Gefühl der Erhabenheit zu rühren (vgl. ebda., S. 1002ff.). Ästhetische und religiöse Empfindungen bzw. Bezugssysteme waren dabei - wieKaiser richtig gesehen hat - nicht unterscheidbar (11.49 1975, S. 102). 2) Analoges gilt auch für Klopstocks rund 100 kirchenorientierte >Geistliche Lieder< (GL I 1758, GL II 1769; vgl. Kap. II 6 a-3). In der >Einleitung< folgte er der kirchlichen Tradition und teilte seine hymnischen »Gesänge« dem /we-szebestimmten geistlichen Lied (vgl. Bd. I, S. 50ff.) und die »sanfteren Lieder« dem Kirchengebrauch zu (E-GL I, S. 43; vgl. Kap. II 6 e-3). Indessen verfolgte er mit letzteren drei - zum Teil ketzerische - Innovationen. Erstens erklärte er: »Die Anbetung ist das Wesentlichste des öffentlichen Gottesdienstes.« Taufe und Abendmahl seien nicht eigentlich Gottesdienst zu nennen und die »unterrichtende Ermahnung des Predigers« sei, »ihres großen Nutzens ungeachtet, kein so wesentlicher Teil des Gottesdienstes.« Das Singen wiederum erklärte er dagegen zum »wichtigsten Teil der Anbetung« (ebda., S. 50f). Damit stellte er die traditionelle Intention des lutherischen Predigtgottesdienstes auf den Kopf; denn mit der Anbetung als Hauptzweck machte er den Gottesdienst (analog zur katholischen Messe) zum Gegenstand menschlichen statt göttlichen Handelns (also zu einem »opus operatum«; vgl. dazu V Diem, S. 75ff.). Analog zum Lehrhaften der Predigt drängte er zweitens das Lehrhafte auch in den Liedern zurück, das in Gellerts, J. A. Schlegels und Cramers Liedern noch einen breiten Raum einnahm: »Ihre Anlage muß niemals eine Abhandlung von einer Lehre der Religion seyn« (E-GL I, S. 48; dies übersieht Albertsen in seinem abfälligen Urteil, Klopstock sei in seinen Kirchenliedern »nur ein aufgeklärter Geschmacksvertreter neben anderen«; 11.49, S. 141; ebenso kritisch IV Pfeiffer, S. 28ff.). Drittens sollten seine Andachts-Lieder, die er auch als »Gebet« definierte (V-GL I, S. 158), »vor allem« »das Herz bewegen«, denn: »Fast alle Menschen sind mehr zur Empfindung als zum tiefsinnigen Nachdenken gemacht.« (E-GL I, S. 48) Deshalb eliminierte er in seinen Umdichtungen alter Kirchenlieder (ebda., S. 155-218) alles Anstößige, Ablenkende, allzu Intime, Private und der Religion »Unwürdige« (V-GL I, S. 159f.; so wurde aus »Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen«: »Versöhner Gottes, was hast du verbrochen?«, ebda., S. 172; aus »Liebster Jesu, wir sind hier«: »Jesus Christus, wir sind hier«, ebda., S. 185; sogar aus Paul Gerhardts unanstößigem »Sollt' ich meinem Gott nicht singen« wurde: »Gott, mein Gott, dir will ich singen«; ebda., S. 201). Gewiß sind solche »Verbesserungen« >Geschmackserhabenen< Oden und Hymnen blasser. Doch dies ändert nichts daran, daß Klopstock auch mit diesen Liedern, die ihm im übrigen selbst sehr »am Herzen« Jagen (vgl. dazu auch Kap. II 6 a-5), sein Interesse an der Einbindung von Lyrik in Strukturen des Kultus bekundete und dabei in Analogie zu seinen außerkirchlichen Oden auch die für den Gottesdienst bestimmten Lieder ins Zentrum der kultischen Verehrung zu rücken suchte. Inhaltlich sind Klopstocks Kirchenlieder von neologischem Geist inspiriert. Preis- und Danklieder überwiegen, Klagelieder sind kaum zu finden (vgl. 11.49 Kaiser 1975, S. 59f.). Auch in den relativ zahlreichen >Fürbitten für Sterbende< und Verstorbene triumphiert der Ton freudiger Vorenvartung auf das nach dem Tode auf den Christen wartende Glück, in dem sich nur in allerdings gesteigerter Form jener neologische Grundimpuls (»Sey glücklich!« Vgl. Kap. II l e) fortsetzt, den Klopstock bereits in den >Gesprächen von der Glückseligkeit (1760) als sein Credo für das Leben im Diesseits formuliert hatte (vgl. GG, S. 963, 965; vgl. dazu auch Kap. II 6 a-5). Allerdings gehörte dazu auch der für die Neologie so typische Kampf gegen die Sünde als Bedingung irdischer wie himmlischer Glückseligkeit, der den Neologen von Seiten der Orthodoxie den nicht unbegründeten Vorwurf des Pelagianismus eingetragen hat. Es ist bezeichnend, wie Klopstock diesen Akzent auch in dem von ihm überarbeiteten Liedgut verschärft. So z. B. in Johann Heermanns (1585-1647; vgl. zu ihm Bd. II, S. 229f., 240f. u. ö.) Passionslied >Jesu, deine tiefen Wundem, dessen dritte Strophe (noch heute im EKL, Nr. 39) lautet: »Will die Welt mein Herze führen auf die breite Sündenbahn, da nichts ist als Jubilieren, alsdann schau ich emsig an deiner Marter Zentnerlast, die du ausgestanden hast: so kann ich in Andacht bleiben, alle böse Lust vertreiben.« Daraus wird bei Klopstock: »Will mein schwaches Herz mich führen Auf der Ehrbegierde Bahn, Wo nur Thoren sich verlieren: Dann, dann schau' ich betend an Deiner Todesqualen Last, Die du, Herr, getragen hast. Kämpfen kann ich dann und ringen, Mich der Welt, der Welt entschwingen.« (GL I, S. 177)
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II. Neologie und Empfindsamkeit
3) Sowohl die biographische als auch die weltanschauliche und dichterische Nähe Klopstocks zur Neologie steht außer Zweifel - auch Kaiser hat sie umfassend dokumentiert (vgl. 11.49 1975, S. 28-122). Einige Stichworte sollen diese Evidenz nochmals unterstreichen: Zum neologischen Einfluß gehören Klopstocks Überzeugung von der Harmonie zwischen Offenbarung (als göttlicher Vernunft) und Glauben (als menschlicher Vernunft-Empfindung), die Relativierung der Erbsünde zu einem behebbaren Übel, die Aufwertung von Sinnlichkeit und Emotionalität als Quellen des Guten neben der Vernunft, die Preisgabe des Weltpessimismus, die Anerkennung menschlicher Bestimmung zur Glückseligkeit bereits im Diesseits, im Zusammenhang damit das Postulat zu immer größerer Vervollkommnung des Menschen mittels der Tugend, die überwiegende Ineinssetzung von Tugend und Religion, zugleich die Entsprechung von Tugend und Schöpfungs-Schönheit, schließlich die Interpretation der Heilsgeschichte als eines weltgesetzlichen Vorgangs und im Zusammenhang damit die Hochschätzung des neuzeitlichen Weltbildes, ferner die Orientierung des Dichter-Priesters an der strengen neologischen Aufwertung des Predigerstandes (vgl. Kap. II l f)> an der Forderung nach Übereinstimmung von Verkündigung der >Botschaft< und eigenem Leben, an dem Prinzip der persönlichen Zuordnung und Verantwortung für die Verkündigung, damit der personenzentrierten »Gemeindebildung« als Leistung des Predigers und die Übertragung dieses weihevollen Selbstverständnisses auf ein - formal durch das neologische »Privatchristentum« gedecktes - prophetisch inspiriertes Dichtertum, und selbst den Inspirationstopos hat Klopstock zusammen mit der Hochschätzung der poetischen Qualität der Bibel und ihrer zeitgemäßen Adaptation von seinen neologischen Freunden (u. a. Schlegel und Cramer; vgl. dazu Kap. II 2 e) übernehmen können. Hier freilich setzt Kaiser andere Akzente. Aus seiner kritischen Einstellung gegenüber der Neologie, der er eine »Aushöhlung« der Theologie und deren Herabsetzung »zum Rezept des Lebensgenusses und der Moralität«, ja sogar eine »objektiv doch erschreckende intellektuelle Unredlichkeit« vorwirft (vgl. 11.49 Kaiser 1975, S. 38, 69, 91 u. ö.) und die er zudem vorrangig aus dem Rationalismus der Leibniz-AVolffschen Schulphilosophie herleitet (ebda., S. 28ff.; vgl. ebda., S. 43), neigt er dazu, dem Pietismus - wenn auch nur noch als »Bildungserfahrung« - mehr Einfluß auf Klopstock zuzuschreiben, als einsichtig ist, so vor allem das prophetische Inspirationsmodell und die Lehre von der >Apokatastasis panton< (ebda., S. 133ff., 174ff.). 4) Obwohl Klopstock Zinzendorf ein vernichtendes Epigramm gewidmet hat (»Gebrandmarkt muß der Schänder werden; / Und nicht ver-
6) Religion als Dichtung - Dichtung als Religion (Klopstock)
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lacht!« E, S. 6), wurde er doch von Anfang an, wie er selbst Bodmer 1750 berichtet, von Gottsched als »poetischer Herrnhuter« verdächtigt (vgl. Br I, S. 79; vgl. dazu auch 11.49 Kaiser 1975, S. 123). Und diese strukturellen Bezüge und Parallelen, die auch Herder und Lessing auffielen (vgl. auch Kap. II 6 g-3), sind in der Tat historisch erhellend und ermöglichen uns die Anfang-Schluß-Bindung unserer Darstellung der Empfindsamkeit: Klopstock und Zinzendorf vereinigt die außerordentliche Bedeutung der poetischen Inspiration als Voraussetzung und Medium der religiösen Aussage, wobei sich »das religiöse Erleuchtungserlebnis« »erst in der Höhenlage des poetischen Schaffens einstellt. Das Poetische ist die eigentümliche Erscheinungsweise und die Legitimation der religiösen Verkündigung.« Der Dichter »ist Inspirierter, der unmittelbar im Enthusiasmus dichterisch spricht, um Enthusiasmus zu wecken.« (11.49 Kaiser 1975, S. 150f.) Von daher ergeben sich beinahe zwanglos weitere Analogien: die Gemeindebildung von »Auserwählten«, der »Jüngerkreis mit Sektenstruktur«, der sich um den »Propheten« bildet und von (auch bei Klopstock) tatsächlichen religiösen Grabenkämpfen begleitet wird (vgl. ebda., S. 157ff.). Christozentrismus - im Gegensatz zur Neologie (immerhin vertrat auch Semler eine Logos-Christologie, in welcher der Gottessohn als >»geistlicher< Messias« erscheint; so 11.85 Hornig/Schulz, S. 37) und »Wundenkult« (vgl. dazu 11.49 Kaiser 1975, S. 168ff., und Kap. I l d) komplettieren die Analogie zusammen mit der Hochschätzung des Gesanges und der mit der Neologie verwandten Grundstimmung einer Glückseligkeit, die bereits im Irdischen dankbar genießen darf, was Gott seiner Schöpfung in Graden zugedacht hat (vgl. dazu Kap. I l e). In solch historischer und struktureller Affinität zeigt sich erneut die epochale Durchlässigkeit der geschichtlichen Konstellationen, die sich in der Aufklärung begegnen und die gemeinsam die Epochensignatur konturieren (vgl. Bd. V/l, S. 23ff.). 5) Gleichwohl stellt Klopstocks Position einen Fort-Schritt im Prozeß der Säkularisierung und Autonomisierung der Literatur dar, der aus seinem - allerdings widersprüchlichen - Verhältnis zur Religion resultiert. Einerseits bleibt der Autor ganz der christlichen Religion verpflichtet. Seine »Lieder« und »Gesänge« verstehen sich als Dienst und Antwort auf die entscheidende theologische Frage nach dem >movere«: »wie bringen wir den Kopf in das Herz?« (Vgl. Vorwort). Klopstock nimmt seine Dichtung als Ausdruck christlich-religiöser Erfahrung so ernst, daß er sich durch die Lektüre seines eigenen Werkes, des >Messias< (neben der Bibel) aufsein Sterben vorbereitet (vgl. Kap. II 6 a-10). Er tut dies, weil er seine Dichtung gegenüber der bislang dienenden Funktion aller Poesie im Pro-
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II. Neologie und Empfindsamkeit
testantismus zum vorgeordneten eigentlichen Medium des christlichen Kultus erhoben hat. Darin aber liegt nun andererseits der - von ihm so nicht gewollte - emanzipatorische Ansatz seiner Position: Im Gestus seherischer Ergriffenheit erobert sich seine Poesie den Status eigentlicher religiöser Wahrheitsvermittlung an die Elite der Adepten (und eine Stufe darunter an die durch Lieder im Kultus angeleitete Gemeinde), entdogmatisiert und ästhetisiert die christlichen Glaubensinhalte und etabliert die eigene - am nachdrücklichsten die hymnische - Poesie zum eigentlichen Organ religiöser Weltdeutung, Heilsaneignung und damit auch Selbstversicherung, und damit heiligt sie auch sich selbst. Insofern damit der ursprüngliche Kern des christlichen Gottes-Dienstes (Verkündigung und Dank) auf die »heilige Dichtung« übergeht und diese zugleich als vollgültige Schwester des religiösen Gefühls aus der Vormundschaft christlich-kirchlicher Verkündigung in die Freiheiten des »Privatchristentums« auswandert, liegt ein Akt der Autonomisierung und der Säkularisierung (als Emanzipation aus vorgegebenen Autoritäten; vgl. Einleitung) vor. Paradoxerweise hat so gerade diese elitäre Usurpation des christlichen »Tempels« durch die zugleich rituelle und monadologischindividuierende Poesie Klopstocks zur weiteren Autonomisierung und Etablierung der Dichtung als eines eigenständigen Organs der bürgerlichen Selbst- und Weltverständigung beigetragen, das dann auch als genuin ästhetisches Medium alsbald seine eigene Kunst-Religion erschafft. Schon Klopstocks Adepten beerben - und überwinden ihn - in diesem Sinne: im >Sturm und Drang< (vgl.Bd. VI/2)!
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Verzeichnis der zitierten Literatur
I. Anonyma und Quellensammlungen Baumgarten, Siegmund Jacob/Johann Salomo Semler: SML: Sammlung von merkwürdigen Lebensbeschreibungen grasten Theils aus der britannischen Biographie fibersetzet, und unter der Aufsicht und mit einer Vorrede D. Siegmund Jacob Baumgartens herausgegeben. Erster Theil Halle 1754. Zweiter Theil Halle 1754. Dritter Theil Halle 1755. Vierter Theil Halle 1757. Fünfter Theil Halle 1759. Sechster Theil Halle 1761. Siebenter Theil Halle 1762. Achter Theil Halle 1769. Neunter Theil Halle 1769. Zehnter Theil Halle 1770. Beyer-Fröhlich, Marianne (Hg.): Pietismus und Rationalismus. Darmstadt 1970 (= DLE. Reihe Deutsche Selbstzeugnisse Bd. 7). Bohnen, Klaus (Hg.): Deutsche Gedichte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1987 (= Reclam). Brüggemann, Fritz unter Mitwirkung von Helmut Paustian (Hg.): Der Anbruch der Gefühlskultur in den fünfziger Jahren. Darmstadt 1966 (= DLE. Reihe Aufklärung Bd. 7). Doktor, Wolfgang/Gerhard Sauder (Hg.): Empfindsamkeit. Theoretische und kritische Texte. Stuttgart 1976 (= Reclam). Elschenbroich, Adalbert (Hg.): Deutsche Dichtung im 18. Jahrhundert. Darmstadt 1964. F/T = Fischer, Albert: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. Vollendet u. hg. v. W.Tümpel. 6 Bde. Gütersloh 1904-1916. Reprograf. Nachdr. Hildesheim 1964. Geismar, Martin von (Hg.): Bibliothek der deutschen Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts. 2 Bde. Unveränd. fotomechan. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1846. Darmstadt 1963. HK = Catechismus Oder Christlicher Vnderricht / wie der in Kirchen vnd Schulen der Churffirstlichen Pfaltz getrieben wirdt. Heydelberg 1563. Reprint-Ausg. Zürich 1983. Killy, Walther (Hg.): 18. Jahrhundert. Texte und Zeugnisse. Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Bde. IV/1 u. IV/2. München 1983. Knapp, Albert (Hg.): Evangelischer Liederschatz für Kirche, Schule und Haus. Eine Sammlung geistlicher Lieder aus allen christlichen Jahrhunderten. In vierter Ausgabe. Stuttgart 1891. Anon.: NBVW = Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes. Erster Band, erstes Stück. Zweyte Auflage Bremen und Leipzig 1746. Zweyter Band, erstes Stück. Bremen und Leipzig 1745. Dritter Band, erstes Stück. Bremen und Leipzig 1746. Vierter Band, drittes Stück. Bremen und Leipzig 1747. Anon.: NBVW-VI: [>Die Verfassen]: Vorrede. Ebda., Bd. I, S. a2-a5. Neumann, Gerhard (Hg.): Deutsche Epigramme. Stuttgart 1980 (= Reclam). Patrides, Constantinos A. (Hg.): The Cambridge Platonists. London 1969. Sauder, Gerhard (Hg.): Empfindsamkeit. Band III: Quellen und Dokumente. Stuttgart 1980. Stenzel, Jürgen (Hg.): Gedichte 1700-1770. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge. München 1969 (= Epochen der deutschen Lyrik Bd. 5).
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Verzeichnis der zitierten Literatur
Verweyen, Theodor/Günther Witting (Hg.): Deutsche Lyrik-Parodien aus drei Jahrhunderten. Stuttgart 1983.
II. Zu einzelnen Autoren 1 ARISTOTELES: Poetik. Übersetzung, Einleitung u. Anmerkungen v. O. Gigon. Stuttgart 1961. 2 ARNOLD, GOTTFRIED: Breymayer, Reinhard: Der wiederentdeckte Katalog zur Bibliothek Gottfried Arnolds. In: D. Blaufuß/F. Niewöhner (Hg.): Gottfried Arnold (1666-1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Wiesbaden 1995, S. 55-143 (= Wolfenbütteler Forschungen Bd. 61). Faksimile des >Catalogus bibliothecae b. Godofredi Arnoldi< ebda., S. 337-410. 3 BATTEUX, CHARLES: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt und mit Abhandlungen begleitet von Johann Adolf Schlegel. Zwei Teile in einem Bd. Dritte von neuem verb, und verm. Aufl. Leipzig 1770. Reprint Hildesheim New York 1976. Lühe, Irmela von der: Natur und Nachahmung in der ästhetischen Theorie zwischen Aufklärung und Sturm und Drang. Untersuchungen zur Batteux-Rezeption in Deutschland. Bonn 1979 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft. Bd. 283). Vollhardt, Friedrich: Die Grundregel des Geschmacks - Zur Theorie der Naturnachahmung bei Charles Batteux und Georg Friedrich Meier. In: III T. Verweyen in Zusammenarbeit mit H.-J. Kertscher (Hg.): Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung (s. d.), S. 26-36. 4 BAUMGARTEN, ALEXANDER GOTTLIEB: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes (1735). Übs. u. mit e. Einleitung hg. v. H. Paetzold. Lateinisch - Deutsch. Hamburg 1983. Strube, Werner: (1995): Alexander Gottlieb Baumgartens Theorie des Gedichts. In: III T. Verweyen in Zusammenarbeit mit H.-J. Kertscher (Hg.): Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung (s. d.), S. 1-25. 5 BAUMGARTEN, SIEGMUND JACOB: AEP: Anweisung zum erbaulichen Predigen zum Gebrauch homiletischer Vorlesungen. Neue Auflage. Altdorf u. Nürnberg 1770. - ASBB: Siegmund Jakob Baumgartens Antworten auf »Siegfrieds Bescheidene Beleuchtung«. Hg. v. E. Beyreuther. Reprint d. Ausgaben Halle 1745 u. 1750. Hildesheim New York 1981. (= Antizinzendorfiana IV. N. L. v. Zinzendorf: Materialien und Dokumente Reihe 2. Bd. XVII). - EG: Evangelische Glaubenslehre. Mit einigen Anmerkungen, Vorrede und historischen Einleitung herausgegeben von Johann Salomo Semler. Erster Band Halle 1759. Zweiter Band Halle 1760. - GRP: Geschichte der Religionsparteien. Hg. v. Johann Salomo Semler. Reprogr. Nachdr. d. Ausg. Halle 1766. Hildesheim 1966. - KCP: Kurtzgefaste casuistische Pastoraltheologie, erleutert und herausgegeben v. Johan Friedrich Hesselberg. Halle 1752. - V-OD: Vorrede des Uebersetzers. In: S. G. Lange: ÖD (s. d.), S.)()( 7v-)()()( 7r. - V-SML I: [Vorrede] Geneigter Leser. In: I S. J. B./Johann Salomo Semler: SML (s. d.), S.)()(5r-X)()(7r. 6 BLANCKENBURG, FRIEDRICH VON: Versuch über den Roman. Faks.-Druck d. Originalausgabe von 1774. Mit e. Nachw. v. E. Lämmert. Stuttgart 1965.
II. Zu einzelnen Autoren
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Lammen, Eberhard: Nachwort. Ebda., S. 541-583. 7 BODMER, JOHANN JAKOB: AVG: Anklagung Des verderbten Geschmacks. (1728) In: J. J. B./J. J. Breitinger: Schriften zur Literatur (s. d.), S. 36-40. - BWNG: Brief-Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes. Faks.-Druck nach d. Ausg. v. 1736. Mit einem Nachw. v. W. Bender. Stuttgart 1966 (= Deutsche Neudrukke). - CAWP: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Faks.-Druck nach d. Ausg. von 1740. Stuttgart 1966 (= Deutsche Neudrucke). - KBGD: Kritische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter. Faks.-Druck nach d. Ausg. von 1741. Frankf./M. 1971. - VEA: Vorrede zur ersten Ausgabe. In: I. J. Pyra/S. G. Lange: TDFL (s. d.), S. 5-7. - Vorrede. In: J. J. B.: BWNG (s. d.), S. III-IV. Bender, Wolfgang F.: (1966a): Nachwort. Ebda., S. -26*. - (1966b): Nachwort. In: J. J. B.: CAWP (s. d.), S. -28" - Bodmer, Johann Jakob. In: W. Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 2. Gütersloh München 1989, S. 47-49. 7/9 BODMER, JOHANN JAKOB/JOHANN JAKOB BREITINGER: CB: Critische Briefe. Reprogr. Nachdr. d. Ausg. Zürich 1746. Hildesheim 1969. - CTG: Character Der Teutschen Gedichte. 1734. In: J. J. B./J. J. B.: Schriften zur Literatur (s. d.), S. 48-82. - DM: Die Discourse der Mahlern. (1721-1723). Vier Teile in einem Bd. Reprogr. Nachdr. der Ausg. Zürich 1721-23. Hildesheim 1969. - MS: Der Mahler der Sitten. 2 Bde. Reprogr. Nachdr. der Ausg. Zürich 1746. Hildesheim New York 1972. - Schriften zur Literatur. Hg. v. V. Meid. Stuttgart 1980 (= Reclam). - Von dem Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft. Ebda., S. 29-35. Bender, Wolf gang F.: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger. Stuttgart 1973. Brandes, Helga: >Die Gesellschaft der Malen und ihr literarischer Beitrag zur Aufklärung. Eine Untersuchung zur Publizistik des 18. Jahrhunderts. Bremen 1974. Meyer, Reinhart: Restaurative Innovation. Theologische Tradition und poetische Freiheit in der Poetik Bodmers und Breitingers. In: C. Bürger/P. Bürger/J. Schulte-Sasse (Hg.): Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Frankf./M. 1980, S. 39-82 (= edition suhrkamp N. F. Bd. 40). Vetter, Theodor (Hg.): Chronick der Gesellschaft der Mahler. 1721-1722. Frauenfeld 1887. Wilke, Jürgen: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit. In: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hg. v. F. J. Worstbrock u. H. Koopmann. Tübingen 1986, S. 140-151 (= Kontroversen, alte und neue, hg. v. A. Schöne. Bd. 2). 8 BÖHME, JACOB: De tribus principiis, oder Beschreibung der Drey Principien Göttliches Wesens (1619). In: J. B.: Sämtliche Schriften. Faks.-Neudruck d. Ausgabe v. 1730 in 11 Bdn., neu hg. v. W.-E. Peuckert. Bd. 2, Stuttgart 1960. 9 BREITINGER, JOHANN JAKOB: CAG: Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse. Faks.-Druck nach d. Ausg. v. 1740. Mit einem Nachw. v. M. Windfuhr. Stuttgart 1967. - CD: Critische Dichtkunst. Faks.-Druck nach d. Ausg. v. 1740. Mit einem Nachw. v. W. Bender. 2 Bde. Stuttgart 1966. Bender, Wolfgang: Breitinger, Johann Jakob. In: W. Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 2. Gütersloh München 1989, S. 194-196. S. auch Titel unter J. J. Bodmer
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Verzeichnis der zitierten Literatur
10 BROCKES, BARTHOLD HEINRICH: A: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Faks.-Druck nach d. Ausg. von 1738. Mit einem Nachw. v. D. Bode. Stuttgart 1965. - IVG: Irdisches Vergnügen in Gott, Bestehend in Physikalischen und Moralischen Gedichten. Bd. I-V Tübingen 1739. Bd. VI 1740. Bd. VII 1746. (= »Tübinger Ausgabe«). Bd. VIII Hamburg 1746. Bd. IX Hamburg 1748. - HA-IVG: Irdisches Vergnügen in GOTT, bestehend in Physicalisch= und Moralischen Gedichten, nebst einem Anhange verschiedener dahin gehöriger Uebersetzungen. Zweyter Theil. Uebersehen, zum Druck befordert, und mit einer Vorrede begleitet von S. T. Herrn Hof=Rath Weichmann. Nach fernerer Vermehrung zum viertenmal herausgegeben von B. J. Zinck. Nachdr. d. Ausg. 1739. Bern 1970. (= »Hamburger Ausgabe«) Kemper, Hans-Georg: Brockes und das hermetische Schrifttum seiner Bibliothek. In: H.G. K./U.-K. Ketelsen/C. Zelle in Zusammenarbeit mit C. Krotzinger (Hg.): Barthold Heinrich Brockes (s. d.). Kemper, Hans- Georgl Uwe-K. KetelsenICarsten Zelle in Zusammenarbeit mit Christine Krotzinger (Hg.): Barthold Heinrich Brockes (1680-1747) im Spiegel seiner Bibliothek und Bildergalerie. Wiesbaden [erscheint 1997] (= Wolfenbütteler Forschungen). Sporn, Walter: Zum theologischen und philosophischen Profil der Brockes-Bibliothek. Ebda. 11 BURKE, EDMUND: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Übers, v. F. Bassenge. Neu eingel. u. hg. v. W. Strube. Hamburg 1980 (= Philosophische Bibliothek Bd. 324). Strube, Werner: Einleitung. Ebda., S. 9-32. 12 BURTON, ROBERT: Anatomie der Melancholie. Über die Allgegenwart der Schwermut, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten. Aus d. Engl. übertragen u. mit e. Nachw. vers. v. U. Horstmann. Zürich u. München 1988. 13 BUTLER, JOSEPH: Bestätigung der natürlichen und geoffenbarten Religion aus ihrer Gleichförmigkeit mit der Einrichtung und dem ordentlichen Laufe der Natur. Nebst zwo kurzen Abhandlungen von der personlichen Identität und von der Natur der Tugend. Aus dem Englischen übersetzt. 2. Ausgabe Tübingen 1779. [Übers, v. J. J. Spalding] 14 CANITZ, FRIEDRICH RUDOLPH LUDWIG FREIHERR VON: Gedichte. Hg. v. J. Stenzel. Tübingen 1982. 15 CARL, JOHANN SAMUEL: AA: Armen=Apotheck, Nach allen Grund=Theilen und Sätzen der Medicin Kürtzlich eingericht und mitgetheilt. Zum Unterricht und Dienst so wohl der krancken Armen insgemein als auch derer, die sie versorgen sollen und wollen und doch die eigentliche Erkänntniß in der Artzney=Kunst nicht haben. 6. Aufl. Büdingen 1746. - DM: DECORUM MEDICI Von denen Machiavellischen Thorheiten gereiniget/ Und nach dem Maaß=Stab des Christenthums eingerichtet/ Mir und meinen Auditoribus zum Unterricht. Büdingen 1719. Habrich, Christa: Therapeutische Grundsätze pietistischer Ärzte des 18. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Geschichte der Pharmazie. Bd. 31, 1982, Nr. 16, S. 121-123. 16 CLAUDIUS, MATTHIAS: Fechner, Jörg-Ulrich: Literatur als praktische Ethik. Das Beispiel des >Wandsbecker Boten< von Matthias Claudius. In: H. Lehmann/D. Lohmeier (Hg.): Aufklärung und Pietismus im dänischen Gesamtstaat. 1770-1820. Neumünster 1983, S. 217-230 (= Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte Bd. 16). Görisch, Reinhard: Die religiöse Stellung des Wandsbecker Boten. In: Matthias Claudius 1740-1815. Ausstellung zum 250. Geburtstag. Hg. v. H. Glagla/D. Lohmeier. Heide in Holstein 1990,8.206-221.
II. Zu einzelnen Autoren
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17 CRAMER, JOHANN ANDREAS: CFGL: Christian Fürchtegott Gellerts Leben. In: C. F. Gellerts Sämmtliche Schriften Zehnter Theil. Neue verbesserte Auflage Leipzig 1775, S. 3-214. - ENPD: Evangelische Nachahmungen der Psalmen Davids, und andere Geistliche Lieder. Kopenhagen 1769. - HG: J. A. Cramer. Seine hinterlassenen Gedichte herausgegeben von seinem Sohn C. F. Cramer. Erstes Stock. Altona und Leipzig 1791. Zweytes Stück. Altona und Leipzig 1791. Drittes Stock. Altona und Leipzig 1791. - L: Luther. Eine Ode. Hg. v. J. M. Preisler. Kopenhagen 1770. - M: Melanchthon. Eine Ode. Lübeck 1772. - NTLR: Einige Nebenarbeiten zur theologischen Literatur und Religion gehörig. Erstes Stück. Dessau und Leipzig 1782. Zweytes Stück. Dresden und Leipzig 1787. Drittes Stück. Dresden und Leipzig 1788. - PÜP: Poetische Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben. Erster Theil. Zweyte verbesserte Aufl. Leipzig 1763. Zweyter Theil. Zweyte Aufl. Leipzig 1764. Dritter Theil. Leipzig 1763. Vierter und letzter Theil. Leipzig 1764. - SG: Sämmtliche Gedichte. Erster Theil. Reuttlingen 1783. Zweyter Theil. Reuttlingen 1783. Dritter Theil. Leipzig 1783. - UBGV: Untersuchung ob die biblischen Gedichte in abgemeßnen, oder gereimten Versen verfaßt sind. In: J. A. C.: PÜP I (s. d.), S. 291-320. - ÜBR: Ueber den Begriff der Religion. In: J. A. C: NTLR II (s. d.), S. 1-18. - VGEP: Von der gottlichen Eingebung der Psalmen. In: J. A. C.: PÜP I (s. d.), S. 231-254. - VGP: Von der Glaubenslehre der Psalmen. Ebda., II, S. 169-212. - VPCP: Von dem poetischen Charakter der Psalmen. Ebda., IV, S. 261-288. - VSP: Von der Sittenlehre der Psalmen. Ebda., II, S. 213-250. - VVSP: Von den Verfassern und Sammlern der Psalmen. Ebda., I, S. 190-229. - VWBP: Von dem Wesen der biblischen Poesie. Ebda., S. 255-290. Blümcke, Adolf. Beiträge zur Kenntnis der Lyrik Johann Andreas Cramers. Diss. Greifswald 1910. Luehrs, Phoebe M:. Der Nordische Aufseher. Ein Beitrag zur Geschichte der moralischen Wochenschriften. Diss. Heidelberg 1909. Luserke, Matthias: Cramer, Johann Andreas. In: W. Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 2. Gütersloh München 1989, S. 470^72. Presse!. P.: Cramer, Johann Andreas. In: ADB, Bd. 4, Leipzig 1876, S. 550f. 18 CRONEGK, JOHANN FRIEDERICH VON: M: Der Misstrauische. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Text und Materialien zur Interpretation besorgt v. S. Roth. Berlin 1969. - S: Schriften. Erster Band. Leipzig 1765. Zweyter Band. Zweyte verbesserte Auflage Leipzig 1763 (!). Anger, Alfred: Cronegk, Johann Friedrich Reichsfrhr. von. In: W. Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 2. Gütersloh München 1989, S. 479-481. 19 DESCARTES, RENE: Die Leidenschaften der Seele. Hg. u. übers, v. K. Hammacher. Hamburg 1984. 20 DIOSCORIDES, PEDANIOS: Kräuterbuch Deß vralten vnd in aller Welt berühmtesten Griechischen Scribenten PEDACII (!) DIOSCORIDIS ANAZABAEI, Von allerley wolriechenden Krautern / Gewürtzen /kostlichen Oelen vnd Salben / Bäumen / Hartzen / Gummi / Geträyt / Kochkräutern / scharpff=schmäckenden Krautern / vnd ändern / so allein zur Artzney gehörig / Kräuterwein / Metalln / Steinen / allerley Erden / allem vnd jedem Gifft / viel vnd mancherley Thieren / vnd derselbigen heylsamen vnd nutzbaren Stück. In siben sonderbare Bücher vnderschieden. [. . .] Auffs newe vbersehen / verbessert [. ..] Franckfurt am Mayn 1610. Reprint Grünwald bei München 1964.
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Verzeichnis der zitierten Literatur
21 EBERHARD, JOHANN AUGUST: NAS: Neue Apologie des Sokrates, oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden. 2 Bde. Neue u. verb. Aufl. Frankfurt u. Leipzig 1787. - SV: Sittenlehre der Vernunft. Zum Gebrauch seiner Vorlesungen. Berlin 1781. 22 EBERT, JOHANN ARNOLD: AM: Der Achtzehnte May 1774. Seiner geliebten Ehegattinn, Louise Antoinette Henriette, geb. Gräfe, gewidmet von Johann Arnold Ebert. Braunschweig 1774. EVG I: Episteln und vermischte Gedichte. Hamburg 1789. - EVG II: Episteln und vermischte Gedichte. Zweiter Theil. Nach des Verfassers Tode mit einem Grundrisse seines Lebens und Charakters hg. v. Johann Joachim Eschenburg. Hamburg 1795. - VB: Verzeichniß der Bfichersammlung der Hrn. Johann Arnold Ebert aus verschiedenen Wissenschaften, besonders der Theologie, Philosophie, schonen Literatur und Kritik, in alten und neuen Sprachen. Zur Öffentlichen Versteigerung [. . .] Braunschweig 1795. - VÜ: Vorbericht des Uebersetzers. In: E. Young: Klagen, oder Nachtgedanken (s. d.), Fünfter Band, S. a3-b7. - ZS: Zueignungsschrift des Uebersetzers. In: J. A. E.: Uebersetzungen einiger Poetischen und Prosaischen Werke der besten Englischen Schriftsteller. Erster Band. Worinn folgende drey Gedichte von D. Eduard Young enthalten sind: Klagen, oder, Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit: Der Jüngste Tag: Und Eine Paraphrase über einen Theil des Buchs Hiob. Braunschweig und Hildesheim 1751, S. l*-7*. Vgl. auch unter Edward Young: K Creizenach, W.: Ebert, Johann Arnold. In: ADB, Bd. 5, Leipzig 1877, S. 586-587. Eschenburg, Johann Joachim: Ueber Johann Arnold Ebert. In: J. A. E.: EVG II (s. d.), S. III-LVIII. Leighton, Joseph: Ebert, Johann Arnold. In: W. Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 3. Gütersloh München 1989, S. 155-157. 23 FRANCKE, AUGUST HERMANN: Brecht, Martin: (1993): August Hermann Francke und der Hallische Pietismus. In: III M. B. (Hg.): Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, (s. d.), S. 439-539. 24 FREYLINGHAUSEN, JOHANN ANASTASIUS: Vorrede. Aus dem »Geistreichen Gesangbuch« von Johann Anastasius Freylinghausen (1705). In: Das Zeitalter des Pietismus. Hg. v. M. Schmidt u. W. Jannasch. Bremen 1965, S. 110-126. 25 FRIEDRICH DER GROSSE: De la litterature allemande. Ergänzt durch: Justus Möser: Über die deutsche Sprache und Literatur. Christian Thomasius: Von Nachahmung der Franzosen. Darmstadt 1968, S. 61-99. 26 FÜSSLI, JOHANN HEINRICH: Sämtliche Gedichte. Hg. v. M. Bircher/K. S. Guthke. Zürich 1973. Guthke, KarlS.: Nachwort. Ebda., S. 103-117. Schiff, Gert: Johann Heinrich Füssli. 1741-1825. Abbildungen. Zürich München 1973 (= Oeuvrekataloge Schweizer Künstler Bd. 1/2). 27 GÄRTNER, CARL CHRISTIAN: V: Vorrede. In: N. D. Giseke: PW (s. d.), S. III-XX. Bauer, Barbara: Gärtner, Carl Christian. In: W. Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 4. Gütersloh München 1989, S. 72f. 28 GELLERT, CHRISTIAN FÜRCHTEGOTT: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig 1751. In: C. F. G.: Die epistolographischen Schriften (s. d.), S. 1-304.
II. Zu einzelnen Autoren
505
- B: Briefe. In: Roman, Briefsteller. Hg. v. B. Witte u. a. Berlin New York 1989, S. 153-221 (= C. F. G.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausg. Hg. v. B. Witte. Bd. IV). - BFB: Beurteilungen einiger Fabeln aus den »Belustigungen«. In: C. F. G.: FE (s. d.), S. 161-195. - BW: C. F. Gellerts Briefwechsel. Hg. v. J. F. Reynolds. 3 Bde. Bd. I (1740-1755), Bd. II (1756-1759), Bd. III (1760-1763). Berlin New York 1983ff. - Die epistolographischen Schriften. Faks.-Druck nach d. Ausgaben von 1742 u. 1751. Mit einem Nachw. v. R. M. G. Nickisch. Stuttgart 1971 (= Deutsche Neudrucke). - FE: Fabeln und Erzählungen. Hg. v. K.-H. Fallbacher. Stuttgart 1986 (=Reclam). - FE-HKA: Fabeln und Erzählungen. Hist.-krit. Ausg. bearb. v. S. Scheibe. Tübingen 1966. - FV: Von denen Fabeln und deren Verfassern. In: C. F. G.: STGF (s. d.), S. 3-59. - Gedanken von einem guten deutschen Briefe an den Herrn F. H.v.W. In: C. F. G.: Die epistolographischen Schriften (s. d.), S. 177-189. - GdG: »Gott, deine Güte reicht so weit . ..« Eine Auswahl aus den geistlichen Oden und Liedern. Zusammengestellt v. H. Lölkes. Lahr-Dinglingen 1987 (= TELOS-Taschenbuch). - GOL: Geistliche Oden und Lieder. In: C. F.G: SS II (s. d.), S. 80-230. - GOL-1981: Geistliche Oden und Lieder. Herisau 1981. - L: Lustspiele. Hg. v. B.Witte u.a. Berlin New York 1988 (= C. F. G.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausg. Hg. v. B. Witte. Bd. III). - LSG: Leben der Schwedischen Gräfin von G'". Hg. v. J.-U. Fechner. Stuttgart 1968 (= Reclam). - MC: Moralische Chraraktere. In: C. F. G.: MV (s. d.), S. 287-309. - MG: Moralische Gedichte. In: C. F. G.: SS II (s. d.), S. 3-68. - MV: Moralische Vorlesungen. Moralische Charaktere. Hg. v. S. Späth. Berlin New York 1992. (= C. F. G.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausg. Hg. v. B. Witte. Bd. VI). - NE: Nachricht und Exempel von alten deutschen Fabeln (1746). In: C. F. G.: STGF (s. d.), S. 123-149. - NWF: Von der Natur und dem Wesen der Fabel. Ebda., S. 1-105. - PMAA: Poetologische und Moralische Abhandlungen. Autobiographisches. Hg. v. W. Jung, J. F. Reynolds, B.Witte. Berlin New York 1994 (= C. F. G.: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausg. Hg. v. B. Witte. Bd. V). - SS: Sämmtliche Schriften. 10 Teile in 5 Bänden. Erster und zweiter Teil. Reprogr. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1769. Hildesheim 1968. - STGF: Schriften zur Theorie und Geschichte der Fabel. Hist.-krit. Ausg. bearb. v. S. Scheibe. Tübingen 1966 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke. N. F. 18). - T: Tagebuch aus dem Jahre 1761. Leipzig 1862. - UNL: Unvollständige Nachrichten aus meinem Leben. In: W. Jung/ J. F. Reynolds: C. F. Gellerts autobiographischer Versuch Unvollständige Nachrichten aus meinem Lebern (s. d.), S. 3-34. - Vermischte Gedichte. In: C. F. G.: SS II (s. d.), S. 9-92. - W: Gellerts Werke. Auswahl in zwei Teilen. Hg. mit Einleitungen und Anmerkungen versehen v. F. Behrend. Berlin Leipzig Wien Stuttgart o.J. - W-1979: Werke. Hg. v. G. Honnefelder. 2 Bde. Frankf./M. 1979. Ar to-Haumacher, Rafael: Gellerts Briefpraxis und Brieflehre. Der Anfang einer neuen Briefkultur. Wiesbaden 1995.
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Verzeichnis der zitierten Literatur
Behrend, Fritz: Lebensbild. In: C. F. G.: W (s. d.), S. IX-XXXIII. Fallbacher, Karl-Heinz: Nachwort. In: C. F. G.: FE (s. d.), S. 229-251. Handwerck, Hugo: Studien über Geliert's Fabelstil. Marburg 1891. - Gellerts älteste Fabeln. Aus den »Belustigungen des Verstandes und des Witzes« gesammelt u. hg. v. Hugo Handwerck. In: Jahresbericht des Königlichen Gymnasiums zu Marburg für das Schuljahr 1903/1904. LXXI. Marburg 1904, S. 3-23. Honnefelder, Gottfried: Christian Fürchtegott Geliert. In: C. F. G.: W-1979 (s. d.), S. 7-26. Jacobs, Jürgen: Gellerts Dichtungstheorie. In: Literaturwissenschaftliches Jb. N. F. 10, 1969, S. 5-108. John, HeidilCarina Lehnen/Sibylie Späth: Gellerts Leben. Eine Übersicht. In: B. Witte (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation« (s. d.), S. 1-29. Jung, Werner: Geliert, Christian Fürchtegott. In: W. Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 4. Gütersloh München 1989, S. 104-106. - (1990): »Die besten Regeln sind die wenigsten.« Gellerts Poetik. In: B. Witte (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation« (s. d.), S. 116-124. II Jung, Werner/John F. Reynolds: C. F. Gellerts autobiographischer Versuch »Unvollständige Nachrichten aus meinem Leben«. In: Jb. d. Freien Dt. Hochstifts 1988, S. 1-34. Kasper, Elke: Vom Aufklärer zum Prediger. Die Lehrgedichte Christian Fürchtegott Gellerts. In: B. Witte (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation« (s. d.), S. 98-115. Koch, Friedrich: Christian Fürchtegott Geliert. Poet und Pädagoge der Aufklärung. Weinheim 1992. Lenz, Heinrich: Christian Fürchtegott Geliert als geistlicher Liederdichter. Mannheim 1979. Martens, Wolfgang: Über Weltbild und Gattungstradition bei Geliert. In: Fs. f. Detlev W. Schumann zum 70. Geburtstag. Mit Beiträgen v. Schülern, Freunden u. Kollegen hg. v. A. R. Schmitt. München 1970, S. 74-82. - (1983a): Hochmut kommt vor dem Fall. Zu Gellerts Fabel »Das Pferd und die Bremse«. In: IV K. Richter (Hg.): Gedichte und Interpretationen (s. d.), S. 163-178. - (1983b): Der alte böse General. Gellerts Verserzählung »Das Unglück der Weiber«. Ebda., S. 182-191. May, Kurt: Das Weltbild in Gellerts Dichtung. Frankf./M. 1928 (= Deutsche Forschungen. H. 21). Meyer-Krentler, Eckhardt: Der andere Roman. Gellerts Schwedische GräfmRoman< zur empfindsamen Erlebnisdichtung. Göppingen 1974 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik Nr. 128). - (1990): ». . . weil sein ganzes Leben eine Moral war.« Geliert und Gellerts Legende. In: B. Witte (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation« (s. d.), S. 221-257. Rössler, Martin: Christian Fürchtegott Geliert In: IV M. R.: Liedermacher im Gesangbuch (s. d.), Bd. 3, S. 9-44. Schlingmann, Garsten: Geliert. Eine literarhistorische Revision. Bad Homburg v.d.H. Berlin Zürich 1967 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik Bd. 3). Schusky, Renate: Gott, deine Güte reicht so weit, so weit die Wolken gehen. Zu einer GellertVertonung C. Ph. E. Bachs. In: Das achtzehnte Jahrhundert. Facetten einer Epoche. Fs. f. Rainer Gruenter. Hg. v. W. Adam. Heidelberg 1988, S. 189-199. Werth, Emil: Untersuchungen zu Chr. F. Gellerts Geistlichen Oden und Liedern. (Diss.) Breslau 1936. Witte, Bernd: Die Individualität des Autors: Gellerts Briefsteller als Roman eines Schreibenden. In: GQu 62. 1989, S. 5-14. - (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation«. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. München 1990.
II. Zu einzelnen Autoren
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- 1990a: »Die Wahrheit, durch ein Bild, zu sagen.« Geliert als Fabeldichter. Ebda., S. 30-50. 29 GISEKE, NIKOLAS(!) DIETRICH: GL: Das Gluck der Liebe. In drey Gesängen. Braunschweig 1769. [Anon.] - P: Predigten in einer neuen Sammlung aus seinen Handschriften herausgegeben von Johann Adolf Schlegel. Erster Theil. Flensburg und Leipzig 1780. - PW: Des Herrn Nikolas Dietrich Giseke Poetische Werke, herausgegeben von Carl Christian Gärtner, Professor der Sittenlehre und der Redekunst an dem herzoglichen Collegio Caroline zu Braunschweig. Braunschweig 1767. Jung, Werner/Lisa Lechtenbörger: Giseke, Nikolaus Dietrich. In: W. Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 4. Gütersloh München 1989, S. 160-161. 30 GLEIM, JOHANN WILHELM LUDWIG: Gedichte. Hg. v. J. Stenzel. Stuttgart 1969 (= Reclam). 31 GOETHE, JOHANN WOLFGANG VON: BAW: Zu brüderlichem Andenken Wielands. In: Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 36. Bd. l. Abteilung, Weimar 1893, S. 311-346. - DuW: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. v. K..-D. Müller. Frankf./M. 1986. In: J. W. G.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. v. D. Borchmeyer u. a. I. Abteilung. Sämtliche Werke Bd. 14. - F: Faust. Eine Tragödie. 9. Aufl. Hamburg 1972 (= Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn. Bd. 3). - GE I: Gedichte und Epen. Band I. 9. Aufl. Hamburg 1969. (= Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn. Bd. 1). - GGZF: Goethe Gedichte in zeitlicher Folge. Hg. v. H. Nicolai. 5. Aufl. Frankf./M. 1986. - LJW: Die Leiden des jungen Werthers. Mit e. Nachw. v. E. Beutler. Stuttgart 1976 (= Reclam). - PG: Philostrats Gemälde. In: Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 49. Bd. I.Abteilung: Schriften zur Kunst 1816-1832. Weimar 1898, S. 63-160. - WML: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Romane und Novellen. Bd. II. 7. Aufl. Hamburg 1968 (= Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn. Bd. 7). Chiarloni, Anna: Goethe und der Pietismus. Erinnerung und Verdrängung. In: Goethe-Jb. 106. 1989, S. 133-159. Enders, Horst: Stil und Rhythmus. Studien zum freien Rhythmus bei Goethe. Marburg 1962. Greiner, Bernhard: Weibliche Identität und ihre Medien: Zwei Entwürfe Goethes. (Iphigenie auf Tauris, Bekenntnisse einer Schönen Seele) In: Jb. d. Dt. Schillerges. 35. 1991, S. 33-56. Sauder, Gerhard: Der junge Goethe und das religiöse Denken des 18. Jahrhunderts. In: Goethe Jb. 112. 1995,8.97-110. Ueding, Gert: Vermählung mit der Natur. Zu Goethes >ErlkönigPia Desideria< Hermann Hugos S. J. In: GRM. N. F. 39, 1989, S. 283-300. HUTCHESON, FRANZ: SV: Sittenlehre der Vernunft, aus dem Englischen übersetzt. Erster Band. Leipzig 1756. - ÜBST: Untersuchung unserer Begriffe von Schönheit und Tugend in zwo Abhandlungen. I. Von SchOnheit, Ordnung, Uebereinstimmung und Absicht. II. Von dem moralischen Guten und Uebel. Aus dem Englischen übersetzt [v. Johann Heinrich Merck]. Frankfurt und Leipzig 1762. JERUSALEM, JOHANN FRIEDRICH WILHELM: BVWR: Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion. Erster Theil. 4. Aufl. Frankfurt und Leipzig 1772. Zweyter Theil. Frankfurt und Leipzig 1774.
510
Verzeichnis der zitierten Literatur
- NS: Nachgelassene Schriften. Zweiter und letzter Theil. Braunschweig 1793. - SP: Sammlung einiger Predigten vor den Durchlauchtigsten Herrschaften zu Braunschweig Lüneburg Wolffenbüttel. Neue verb. Aufl. Braunschweig 1748. - UDSL: Ueber die deutsche Sprache und Literatur. An Ihro Königliche Hoheit die verwittwete Frau Herzogin von Braunschweig und Laneburg. In: J. F. W. J.: NS (s. d.), S. 327-356. Müller, Wolfgang Erich: Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Eine Untersuchung zur Theologie der »Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion«. Berlin New York 1984. 47 KANT, IMMANUEL: KPV: Kritik der praktischen Vernunft. Hg. v. K. Vorländer. Unveränd. Nachdruck 1967 der 9. Auflage von 1929. Darmstadt 1967. - KUK: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. K. Vorländer. Unveränd. Nachdruck 1974 der sechsten Auflage von 1924. Darmstadt 1974. - MS: Metaphysik der Sitten. In: I. K.: Werke in 10 Bdn. Hg. v. W. Weischedel. Bd. 7: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Zweiter Teil. 5., erneut überprüfter reprogr. Nachdr. d. Ausg. Darmstadt 1956. Darmstadt 1983, S. 307-546. - RIGV: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hg. v. K. Vorländer. Mit einer Einleitung »Die Religionsphilosophie im Gesamtwerk Kants« v. H. Noack. Hamburg. Abdruck 1966 der 7. Aufl. v. 1961. Probst, Peter. Bestirnter Himmel und moralisches Gesetz. Zum geschichtlichen Horizont einer These Immanuel Kants. Würzburg 1994. 48 KLEIST, EWALD CHRISTIAN VON: Werke. Zweiter Theil. Briefe von Kleist. Hg. u. m. Anm. begl. v. A. Sauer. Berlin o.J. Neudruck Bern 1968. 49 KLOPSTOCK, FRIEDRICH GOTTLIEB: AT: Klopstocks Arbeitstagebuch. Hg. v. K. Hurlebusch. Berlin New York 1977 (= Hamburger Klopstock-Ausgabe. Abt. Addenda: II). - AW: Ausgewählte Werke. Hg. v. K. A. Schieiden. Nachw. v. F. G. Jünger. München 1962. - BAGD: Von der besten Art, über Gott zu denken. In: F. G. K.: SW (s. d.), Bd. 9, S. 155-161. - Br I: Briefe 1738-1750. Hg. v. H. Gronemeyer. Berlin New York 1979 (= Hamburger Klopstock-Ausgabe. Abteilung Briefe: I). - Br II: Briefe 1751-1752. Hg. v. R. Schmidt. Berlin New York 1985 (= Hamburger Klopstock-Ausgabe. Abteilung Briefe: II). - Br III: Briefe 1753-1758. Hg. v. H.Riege u. R.Schmidt. Berlin New York 1988 (= Hamburger Klopstock-Ausgabe. Abteilung Briefe: III). - Br V/l: Briefe 1767-1772. Hg. v. K. Hurlebusch. Band I: Text. Berlin New York 1989 (= Hamburger Klopstock-Ausgabe. Abteilung Briefe: V/l). - Br V/2: Briefe 1767-1772. Hg. v. K. Hurlebusch. Band II Apparat/Kommentar Anhang. Berlin New York 1992 (= Hamburger Klopstock-Ausgabe. Abteilung Briefe: V/2). - Br VII/1: Briefe 1776-1782. Hg. v. H.Riege. Band I: Text. Berlin New York 1982 (= Hamburger Klopstock-Ausgabe. Abteilung Briefe: VII/1). - Br VII/2: Briefe 1776-1782. Band 2: Apparat / Kommentar Nr. 1-131. Hg. v. H. Riege. Berlin New York 1982 (= Hamburger Klopstock-Ausgabe. Abteilung Briefe: VII/2). - Br VII/3: Briefe 1776-1782. Band 3: Apparat / Kommentar Nr. 132-244. Anhang. Hg. v. H. Riege. Berlin New York 1982 (= Hamburger Klopstock-Ausgabe. Abteilung Briefe: Viy3). - Br IX/I: Briefe 1795-1798. Hg. v. R. Schmidt. Band I: Text. Berlin New York 1993 (= Hamburger Klopstock-Ausgabe. Abteilung Briefe: IX/I).
II. Zu einzelnen Autoren
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- DG: Drei Gebete eines Freigeistes, eines Christen, und eines guten Königs. In: F. G. K.: SW (s.d.), Bd. 10,8.281-292. - E: Epigramme. Text und Apparat. Hg. v. K. Hurlebusch. Berlin New York 1982 (= Hamburger Klopstock-Ausgabe. Abteilung Werke: II). - E-GL I: Einleitung. In: F. G. K.: GL I (s. d.), S. 43-52. - Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hg. v. W. Menninghaus. Frankf./M. 1989. - GG: Gespräche von der Glückseligkeit. In: F. G. K.: AW (s. d.), S. 951-967. - GL I: Geistliche Lieder (I). In: F. G. K.: SW (s. d.), Bd. 5, S. 41-218. - GL II: Geistliche Lieder (II). Ebda., S. 219-292. - GNP: Gedanken über die Natur der Poesie. In: F. G. K.: AW (s. d.), S. 992-997. - HP: Von der heiligen Poesie. Ebda., S. 997-1008. - M: Der Messias. Ebda., S. 195-770. - NSGD: Von der Nachahmung des griechischen Silbenmasses im Deutschen. Ebda., S. 1038-1049. - O: Oden. Auswahl u. Nachw. v. K. L. Schneider. Stuttgart 1980 (= Reclam). - OE: Oden und Elegien. Faksimiledruck der bei Johann Georg Wittich in Darmstadt 1771 erschienenen Ausgabe. Mit einem Nachw. u. Anmerkungen hg. v. J.-U. Fechner. Stuttgart 1974. - O I: Oden. In: Klopstocks Oden: Mit Unterstützung des Klopstockvereins zu Quedlinburg hg. v. F. Muncker u. J. Pawel. Erster Band. Stuttgart 1889, S. 1-238. - O II: Oden. Zweiter Band. Ebda., S. 1-174. - RSKSW: Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften. In: F. G. K.: AW (s. d.), S. 981-997. - SP: Von der Sprache der Poesie. Ebda., S. 1016-1026. - SW: Klopstocks Sämmtliche Werke. Vierter Band Leipzig 1854. Fünfter Band Leipzig 1854. Neunter Band Leipzig 1855. Zehnter Band Leipzig 1855. - VDH I: Vom deutschen Hexameter. Aus dem dritten Bande der Halleschen Ausgabe des Messias v. J. 1769. Ebda., Bd. 10, S. 45-56. - VDH II: Vom deutschen Hexameter. In: F. G. K.: Gedanken über die Natur der Poesie, (s. d.), S. 60-156. - V-GL I: Veränderte Lieder. In: F. G. K.: GL I, (s. d.), S. 155-218. - V-GL II: Vorrede. In: F. G. K.: GL II, (s. d.), S. 220-221. - VGV: Vom gleichen Verse. In: F. G. K.: Gedanken über die Natur der Poesie, (s. d.), S. 35-53. - VW: Von der Wortfolge. In: F. G. K.: AW (s. d.), S. 1026-1031. - Werke und Briefe. Hist.-krit. Ausg. Begr. v. A. Beck u. a. Hg. v. H. Gronemeyer/ E. Höpker-Herberg/K. Hurlebusch/R.-M. Hurlebusch. Berlin New York 1974ff. (= Hamburger Klopstock Ausgabe). - ZDKW: Die zeitgenössischen Drucke von Klopstocks Werken. Eine deskriptive Bibliographie von C. Boghardt, M. Boghardt u. R. Schmidt. Band I: Nr. 1-2004. Berlin New York 1981 (= Hamburger Klopstock Ausgabe. Abteilung Addenda: III 1). Albertsen, Leif Ludwig: Religion und Geschmack. Klopstocks aufgeklärte Revision des Kirchenlieds. In: III K. Bohnen/S.-A. Jargensen (Hg.): Der dänische Gesamtstaat (s. d.), S. 133-144. Alewyn, Richard: Klopstocks Leser. In: Fs. f. Rainer Gruenter. Hg. v. B. Fabian. Heidelberg 1978, S. 100-121. - »Klopstock!«. In: Euphorien 73. 1979, S. 357-364.
512
Verzeichnis der zitierten Literatur
Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Friedrich Gottlieb Klopstock. München 1981 (= Sonderbd. Text und Kritik). - AB: Auswahlbibliographie. Ebda., S. 125-128. - VK: Vita Klopstocks. Ebda., S. 122-124. Beißner, Friedrich; Klopstocks Ode >Der ZürcherseeAn den Kaisen. In: Euphorien 69. 1975, H. 3, S. 362-369. Borck, Karl Heinz: Hexameter so zierlich nach Otfrids Klange. In: Fs. f. Horst Gronemeyer. Hg. v. H. Weigel. Herzberg 1993, S. 287-303. Burkhardt, Gerhard/Heinz Nicolai: Vorwort. In: G. B./H. N.: Klopstock-Bibliographie. Berlin New York 1975, S. Vllf. (= Hamburger Klopstock-Ausgabe. Abt. Addenda: I). Fechner, Jörg-Ulrich: Nachwort. In: F. G. K.: OE (s. d.), S. 1*-19*. Große, Wilhelm: (1977a): Studien zu Klopstocks Poetik. München 1977. - (1977 b): »Wenn (Der Kunstrichter). . . schreibt, so schreibt er vortrefflich.« Anmerkungen zum »aristokratisch-diktatorischen Ton« der poetologischen Prosaschriften Klopstocks und zu seiner poetologischen Odendichtung. In: Literatunvissenschaftliches Jahrbuch N. F. 18. 1977, S. 89-103. Haverkamp, Anselm: Fest/Schrift. Festschreibung unbeschreiblicher Feste: Klopstocks >Ode von der Fahrt auf der ZürcherseeVerhängnisse< und ihre Umdichtung durch Johann Heinrich Füssli. In: Euphorion 73. 1979, S. 219-226. Kaiser, Gerhard: Klopstocks >FrühlingsfeierDenken< und >EmpfindenDas Landleben / Die Frühlingsfeyen. In: IV K. Richter (Hg.): Gedichte und Interpretationen (s. d.), S. 245-256. Kohl, Katrin M.: (1989/90): >Wir wollen weniger erhoben, und fleissiger gelesen seinHistorie der Wiedergebohrnen< und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989 (= Palaestra Bd. 283). - Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort. >Poetische< Aspekte der pietistischen Christologie. In: Pietismus und Neuzeit. Bd. 20. 1994, S. 55-74. Schröder, Christel Matthias: Die »Bremer Beiträge«. Vorgeschichte und Geschichte einer deutschen Zeitschrift des achtzehnten Jahrhunderts. Bremen 1956 (= Schriften der Wittheit zu Bremen. Reihe D: Abhandlungen und Vorträge Bd. 21, H. 2). Schulz, Georg-Michael: Tugend, Gewalt und Tod. Das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und des Erhabenen. Tübingen 1988 (= Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste. Bd. 1). Schwanitz, Dietrich: Englische Kulturgeschichte. Bd 1: Die frühe Neuzeit 1500-1760. Tübingen Basel 1995. Seeber, Hans Ulrich: (Hg.): Englische Literaturgeschichte. Stuttgart 1991. - Romantik und viktorianische Zeit. Ebda., S. 217-305. Selbmann, Rolf: Dichterberuf. Zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Darmstadt 1994. Sörensen, Bengt Algol (Hg.): Allegorie und Symbol. Texte zur Theorie des dichterischen Bildes im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt 1972. Sparn, Walter: (1985a): Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland. In: R. Vierhaus (Hg.): Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Aus Anlaß des 250jährigen Bestehens des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1985, S. 18-57.
III. Epochenprobleme und -aspekte
537
- (1985b): Von der »fides historica« zur »historischen Religion«. Die Zweideutigkeit des Geschichtsbewußtseins der theologischen Aufklärung. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 8, 1985, S. 147-160. - (1988): Jesus Christus V. Vom Tridentinum bis zur Aufklärung. In: Theologische RealEnzyklopädie XVII. 1988, S. 1-16. - (1989): Auf dem Wege zur theologischen Aufklärung in Halle: Von Johann Franz Budde zu Siegmund Jakob Baumgarten. In: N. Hinske (Hg.): Zentren der Aufklärung (s. d.), S. 71-91. - Physikotheologie. In: Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie. Bd. 3. Hg. v. E. Fahlbusch u. a. Göttingen 1992, Sp. 1211-1215. - Natürliche Theologie. In: Theologische Real-Enzyklopädie XXIV. 1994, S. 85-98. - (1995): Neologie. In: W. Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung (s. d.), S. 287f. Starobinski, Jean: 1789. Die Embleme der Vernunft. München o.J. (1988). - Die Erfindung der Freiheit. 1700-1789. Frankf./M. 1989. Steiner, George: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachw. v. Botho Strauß. München Wien 1990. Stenzel, Jürgen (Hg.): Deutsche Schriftsteller im Porträt. Bd. 2: Das Zeitalter der Aufklärung. München 1980. Stock, Konrad: Grundlegung der protestantischen Tugendlehre. Gütersloh 1995. Sträter, Udo: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1995 (= Beiträge zur historischen Theologie Bd. 91). Strube, Werner: »Interesselosigkeit«. Zur Geschichte eines Grundbegriffs der Ästhetik. In: Archiv für Begriffsgeschichte Bd. XXIII, H. 2, 1979, S. 148-174. Studer, Julius: Der Pietismus in der Zürcherischen Kirche im Anfang des vorigen Jahrhunderts, nach ungedruckten Urkunden, besonders des Zürcher Staatsarchivs. In: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Züricher Theologen. Bd. I. Zürich 1877, S. 109-209. Szondi, Peter: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert: Der Kaufmann, der Hausvater und der Hofmeister. Frankf./M. 1973. Taubes, Jacob: Vom Kult zur Kultur. Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft. Gesammelte Aufsätze zur Religions- und Geistesgeschichte. Hg. v. A. u. J. Assmann/W.-D. Hartwich/W. Menninghaus. München 1996. Timm, Hermann: >Die Botschaft hör' ich wohl .. .< Dichtertheologie nach der Aufklärung. In: G. vom Hofe/P. Pfaff/H. T. (Hg.): Was aber bleibet stiften die Dichter? (s.d.), S. 19-36. Trinkaus, Charles Edward: In our Image and Likeness. Humanity and Divinity in Italian Humanist Thought. 2 Vol. London 1970. Verweyen, Theodor in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Kertscher (Hg.): Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 1995 (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Bd. 1). Vietta, Silvio: Literarische Phantasie: Theorie und Geschichte. Barock und Aufklärung. Stuttgart 1986. Vollhardt, Friedrich: Zwischen pragmatischer Alltagsethik und ästhetischer Erziehung. Zur Anthropologie der moraltheoretischen und -praktischen Literatur der Aufklärung in Deutschland. In: H.-J. Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart Weimar 1994, S. 112-129. Wallmann, Johannes: Der Pietismus. In: B. Moeller (Hg.): Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch. Bd. 4. Lieferung 01, Göttingen 1990, S. 01-0143. - Lutherische Konfessionalisierung - ein Überblick. In: H.-C. Rublack (Hg.): Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Wissenschaftliches Symposion des Ver-
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Verzeichnis der zitierten Literatur
eins für Reformationsgeschichte 1988. Heidelberg 1992, S. 33-53 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte. Bd. 197). Wallmann, Johannes/Pentti Laasonen (Hg.): Der Pietismus in seiner europäischen und außereuropäischen Ausstrahlung. Helsinki 1992. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: M. W.: Die protestantische Ethik I. Hg. v. J. Winckelmann. 4. Aufl. Hamburg 1975, S. 27-277. Wegmann, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988. Welsch, Wolfgang: Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen. In: C. Pries (Hg.): Das Erhabene (s. d.), S. 185-216 Werbick, Jürgen: Theologische Ästhetik nach dem Ende der Kunst. In: Religionspädagogische Beiträge 30, 1992, S. 19-29. Wernle, Paul: Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert. Erster Band: Das reformierte Staatskirchentum und seine Ausläufer (Pietismus und vernünftige Orthodoxie) Tübingen 1923. Wertheimer, Jürgen: »Der Güter Gefährlichstes, die Sprache«. Zur Krise des Dialogs zwischen Aufklärung und Romantik. München 1990. Wiese, Benno von (Hg.): Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Berlin 1977. Wolf, Werner: Ursprünge und Formen der Empfindsamkeit im französischen Drama des 18. Jahrhunderts (Marivaux und Beaumarchais). Frankf./M. Bern New York Nancy 1984 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe XIII: Französische Sprache und Literatur. Bd. 92). Wohlmuth, Josef: Bild- und Kunstkritik bei Emmanuel Levinas und die theologische Bilderfrage. In: W. Lesch (Hg.): Theologie und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Begegnung von Religion und Kunst. Darmstadt 1994, S. 25-47. Wright, Robert: »Diesseits von Gut und Böse«. Die biologischen Grundlagen unserer Ethik. Aus dem Amerikanischen v. J. G. Scheffner. München 1996. Wuthenow, Ralph-Rainer: Zwischen Absolutismus und Aufklärung: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang. Reinbek/Hamburg 1980 (= Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hg. v. H. A. Glaser Bd. 4). Zelle, Garsten: (1989): Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger. In: C. Pries (Hg.): Das Erhabene (s. d.), S. 55-75. - Schönheit und Schrecken. Zur Dichotomic des Schönen und Erhabenen in der Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts. In: Literaturkritik. Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989. Hg. v. W. Barner. Stuttgart 1990, S. 252-270. Zeller, Winfried: Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze. Bd. l, Marburg 1971. Bd. 2, Marburg 1978.
IV. Gattungsprobleme und -aspekte Bach, Inka/Helmut Galle: Deutsche Psalmendichtung vorn 16. bis zum 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung. Berlin New York 1989 (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. N. F. Bd. 95). Barner, Wilfried: Vergnügen, Erkenntnis, Kritik. Zum Epigramm und seiner Tradition in der Neuzeit. In: Gymnasium Bd. 92. H. 4. 1985, S. 350-371.
IV. Gattungsprobleme und -aspekte
539
Beißner, Friedrich: Geschichte der deutschen Elegie. 2. Aufl. Berlin 1961. - Satzton und Verston. In: DU. Jg. 16, 1964, H. 6, S. 33^9. Bettermann, Wilhelm: Kurze Mitteilungen. Das Ebersdorfer Gesangbuch. In: Zeitschrift für Brüdergeschichte. Hg. v. J. T. Müller. X. Jg. 1916, S. 145-151. Busch, Gudrun/Wolfgang Miersemann (Hg.): »Geistreicher« Gesang. Halle und das pietistische Lied. Tübingen 1997 (= Hallesche Forschungen Bd. 3). Browning, Robert M.: German Poetry in the Age of the Enlightenment. From Brockes to Klopstock. The Pennsylvania State University Press. University Park and London 1978. Dinzelbacher, Peter: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter. Stuttgart 1981. Dyck, Joachim: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977. Feldt, Michael: Lyrik als Erlebnislyrik. Zur Geschichte eines Literatur- und Mentalitätstypus zwischen 1600 und 1900. Heidelberg 1990. Gabriel, Norbert: Studien zur Geschichte der deutschen Hymne. München 1992. Guthke, Karl S.: Die Entdeckung des Ich in der Lyrik. Von der Nachahmung zum Ausdruck der Affekte. In: III W. Barner unter Mitarbeit v. E. Müller-Luckner (Hg.): Tradition, Norm, Innovation (s.d.), S. 93-121. S. auch W. Martens: Kommentar zum Beitrag K. S. Guthke. Gutzen, Dieter: Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert. Bonn 1972. - Lied oder Gesang? Überlegungen zum protestantischen Kirchenlied. In: Euphorion 71. 1977, S. 106-115. Hänel, Klaus-Dieter: Klassische deutsche Lyrik. Typologische und geschichtliche Aspekte ihrer Interpretation. In: Weimarer Beiträge 33. 1987, S. 2000-2025. Heß, Peter: Epigramm. Stuttgart 1989. Hinck, Walter: Magie und Tagtraum. Das Selbstbild des Dichters in der deutschen Lyrik. FrankfYM. 1994. Jenny, Markus: Kirchenlied I. In Theologische Real-Enzyklopädie XVII. 1989, S. 602-629. Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart. Ein Grundriß in Interpretationen. 3 Bde. Frankf./M. 1988. Kemper, Hans-Georg: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. 2 Bde. Tübingen 1981. Knörrich, Otto: (1981a): Die Hymne. In: O. K. (Hg.): Formen der Literatur in Einzeldarstellungen. Stuttgart 1981, S. 184-191. - (1981b): Die Ode. Ebda., S. 272-280. - Lexikon lyrischer Formen. Stuttgart 1992. Kößling, Rainer: Nachwort. In: Harry C. Schnur/R. K. (Hg.): Galle und Honig. Humanistenepigramme lateinisch und deutsch. Leipzig 1984, S. 155-170. Maler, Anselm: Versepos. In: III R. Grimminger (Hg.): Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution (s. d.), S. 365-422. Martens, Wolfgang: Kommentar zum Beitrag K. S. Guthke. In: III W. Barner unter Mitarbeit v. E. Müller-Luckner (Hg.): Tradition, Norm, Innovation (s. d.), S. 121-123. Nagel, Bert: Das Reimproblem in der deutschen Dichtung. Vom Otfridvers zum freien Vers. Berlin 1985. Paustian, Helmut: Die Lyrik der Aufklärung als Ausdruck der seelischen Entwicklung von 1710-1770. Berlin 1933. Peters, Günter: Die Kunst der Natur. Ästhetische Reflexion in Blumengedichten von Brokkes, Goethe und Gautier. München 1993.
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Verzeichnis der zitierten Literatur
Pestalozzi, Karl: Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik. Berlin 1970. Pfeiffer, Johannes: Dichtkunst und Kirchenlied. Über das geistliche Lied im Zeitalter der Säkularisation. Hamburg 1961. Proß, Wolfgang: Lyrik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: III R. Grimmiger (Hg.): Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution (s. d.), S. 545-568. Richter, Karl: Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung. München 1972. - (Hg.): Gedichte und Interpretationen. Bd. 2. Aufklärung und Sturm und Drang. Stuttgart 1983. Röbbelen, Ingeborg: Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Göttingen 1957 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Bd. 6). Rössler, Martin: Liedermacher im Gesangbuch. Bd. 2: Paul Gerhardt, Johann Rist, Johann Scheffler, Joachim Neander, Gerhard Tersteegen, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Mit Bildern von Rainer Fest. 2., durchges. Aufl. Stuttgart 1993. Bd. 3: Christian Fürchtegott Geliert, Ernst Moritz Arndt, Albert Knapp, Otto Riethmüller, Jochen Klepper. Mit Bildern von Rainer Fest. Stuttgart 1991. Sauer-Geppert, Waltraud Ingeborg: Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied. Vorüberlegungen zu einer Darstellung seiner Geschichte. Kassel 1984. Schneiderwirth, P. Matthaeus: Das katholische deutsche Kirchenlied unter dem Einflüsse Gellerts und Klopstocks. Münster 1908 (= Forschungen und Funde Bd. l, H. 1). Schüsseler, Matti: Unbeschwert aufgeklärt. Scherzhafte Literatur im 18. Jahrhundert. Tübingen 1990 (= Studien zur deutschen Literatur Bd. 109). Schuppenhauer, Claus: Der Kampf um den Reim in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Bonn 1970. Segebrecht, Wulf: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977. Siegrist, Christoph: Das Lehrgedicht der Aufklärung. Stuttgart 1974. Thomke, Hellmut: Hymnische Dichtung im Expressionismus. München 1972. Treichel, Ernst: Die Sprache des evangelischen Kirchenliedes in der Aufklärungszeit. Diss. Greifswald 1932. Trunz, Erich: Über deutsche Nachdichtungen der Psalmen seit der Reformation. In: Gestalt - Gedanke - Geheimnis. Fs. f. Johannes Pfeiffer zu seinem 65. Geburtstag. Hg. v. R. Bohnsack/H. Heeger/W. Hermann. Berlin 1967, S. 365-380. Victor, Karl: Geschichte der deutschen Ode. Nachdr. d. Geschichte der deutschen Literatur nach Gattungen. Bd. 1. München 1923. Hildesheim 1961. Wilke, Jürgen: Vom Sturm und Drang zur Romantik. In: W. Hinderer (Hg.): Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Stuttgart 1978, S. 141-178.
V. Weitere Forschungsliteratur Beck, Aaron T./A. John Rush/Brian F. Shaw/Gary Emery: Kognitive Therapie der Depression. Hg. v. M. Hautzinger. 2., veränd. Aufl. München und Weinheim 1986. Diem, Hermann: Die Kirche und ihre Praxis. München 1963 (= Theologie als kirchliche Wissenschaft. Band 3). Grimm, Jacob/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 3. Leipzig 1862. Nachdruck München 1984. Weiser, Arthur: Die Psalmen. 6. Aufl. Göttingen 1963 (= Das AT Deutsch. Teilbd. 14/15).
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Personenregister
Addison, Joseph 255 Adler, H. 167 Alberti, Julius Gustav 285, 432f., 438 Albertsen, L. L. 494 Alewyn, R. 417, 445ff. Alexander, >der Große< 420 Allerdissen, R. 52 Alt, P.-A. 449, 471,483, 450 Ambrosius, Anna Cäcilie 436 Ammann, G. A. v. 215 Anakreon 84 Andel, C. P. v. 60-64, 66f., 90 Aner, K. 152, 154ff., 160-165, 171, 176, 308 Angelus Silesius s. Scheffler, Johannes Anger, A. 268-271, 321, 324, 327 Aristoteles 174, 217, 292, 448 Arminius 419 Arndt, Johann 50, 168 Arnim, Georg Friedrich v. 392 Arnold, Gottfried 24, 34, 45, 52f., 67, 70, 109, 123 , 142, 393, 403 Arnold, H. L. 417, 420, 434 Arto-Haumacher, R. 329f. Assaph s. Sachregister Atterbury, Francis 292 August II., >der Starke