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German Pages 591 [592] Year 2003
HANS-GEORG KEMPER
Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit Band 6/III
HANS-GEORG KEMPER
Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit Band 6/III
Sturm und Drang: Göttinger Hain und Grenzgänger
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2002
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN3-484-10841-X kart. ISBN 3-484-10842-8 Gewebe © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Inhaltsverzeichnis
Zur technischen Einrichtung des Bandes
VIII
Vorwort
IX
Einleitung a) Verdichtung der Kommunikation im Übergang zur Moderne
l . .
l
b) Zum Ende der frühen Neuzeit um 1800
12
c) Kampf und magische Beschwörung der Idylle - Tendenzen der Lyrik im Umkreis des Sturm und Drang
17
I. IM KAMPF MIT DER WELT 1) Zweifel an der Genie-Religion (Lenz)
27
a) b) c) d) e)
Ein >epochaler< Grenzgänger - Zur Deutung von Person und Werk 27 »Immer im Fluge« - Zum Lebens-Lauf 33 Orthodoxie, Herrnhutertum und Empfindsamkeit - Zum Frühwerk 48 Im Banne der Neologie - Zur Begegnung mit Salzmann . . . . 60 Freundschaften zwischen >Kopf< und >Herz< - »Kollisionen« mit Lavater und Herder 69 f) »Der himlische Zug« - Erlebnislyrik aus religiöser Tradition (Pietismus, Klopstock, Neuplatonismus) 85 g) »Wo lacht die Flur?« - Kontrafakturen zu Goethes >Sesenheim< . 99 h) »Ein Blick, ein Blitz: und ewig wird es wüten« - Neuplatonischer Petrarkismus und Liebes-Religion 110 i) >Der verlorene Augenblick< - Selbst- und Weltverlust 123
2) »Genie zur Tugend« (Der Göttinger Hain)
135
a) Der Göttinger Musenalmanach (Boie) 135 b) »Unter uns Klopstock\« - Zur Genese einer Genie-Religion . . . 139 c) »Blitze Gottes« für Vaterland und »Mutter Teutonia« (Klopstock, Hahn, Miller, F. L. von Stolberg und Voß) 148
3) »Süße Schwermut« (Hölty) a) »Der fromme Dulder« - Zur Biographie b) Seitensprünge in die >Volkspoesie< (Romanzen, Minnesang)
167 . . .
167 173
VI
Inhaltsverzeichnis c) Platonische Sinnlichkeit: Erlebte und erträumte Liebe d) »Die Schöne liegt erblaßt« - Elegien des »Traurers«
178 187
e) >Die Maynacht< - Klopstock im ländlichen Gewand
189
4) Inspirierter Herzens-Adel (Stolberg)
194
a) Auf der Suche - Vom Pietismus zum Katholizismus (Aspekte der Biographie) 194 b) Schwärmereien über die >Begeistrung< - Zur Inspirationspoetik . . 203 c) »Scharfe Geißel« - Zeitkritik in >Jamben< 207 d) Geister-Begegnung - Natur- und Liebeslyrik 210
5) »Leichter Volksgesang« (Bürger) a) Affären, Katastrophen, Fragmente - Zur Biographie b) >Lust am Liebchem - Erotica c) >Volks-Poesie< und Kunst-Ballade d) »Verballadierung« und Politisierung der Lyrik
217 217 225 233 246
II. GRENZGÄNGER UND NACHZÜGLER 1) Sappho aus der Unterschicht (die Karschin)
255
a) Mutter Courage - Dichtung zum Leben (zur Biographie) . . . . 255 b) »Verse für Geld« aus dem »Kopf« - Gelegenheitspoesie »ohne Kunstregeln« 261 c) »Impromptus« »aus dem Herzen« - Epistelgedichte an Gleim und Goethe 266
2) »Einfaltiger Bote« und Spuren-Sucher (Claudius)
274
a) Asmus - Zur Authentizität der Autor-Fiktion 274 b) »Gottähnlichkeit« durch »Gnügsamkeit« und »Mangel« - Zur Biographie 278 c) »Sancta simplicitas«: Von anakreontischen >Tändeleyen< zur Wandsbecker Familien-Idylle (Gerstenberg und Claudius) . . . . 287 d) Kritische Sympathie mit dem Sturm und Drang 293 e) Adams-Frömmigkeit im >Buch der Natur< (Brockes, Herder und Claudius) 298 f) Hermetische Wahrheit aus der asiatischen »Quelle« - Zur Analogie von Bibel und Schöpfung 304 g) Natur als Spur und der Mond als Himmels-Bote 309 h) >Sämann< und >Knochenmann< - Risse in der Todeslyrik . . . . 324
3) Homer des ländlichen Gesanges (Voß) a) >Hartgeschaffene Seele< und >Feuerkopf< der Spätaufklärung - Zur (Werk-)Biographie b) Stationen der Idylle - ein Abriß (Theokrit, Vergil, Geßner, Mahler Müller)
339 339 352
Inhaltsverzeichnis
VII
c) »Weiße Sklaven« und fröhliche Land-Leute in >theokritischen< Idyllen 356 d) >Verklärung< bürgerlicher >Natur< in >homerischer< Idylle und komischem Versepos 365 e) »Die Schönheit ist des Guten Hülle« - >Idyllisierung< der Lyrik . 377
4) Bestrafter Freiheits-Drang (Schubart)
387
a) Rebellentum und Theosophie als Kur im Kerker - Zur Biographie 387 b) »Lastersklaven auf dem Thron« - Sturm und Drang im Feuilleton ODeutsche ChronikErstickten Preisgesang< (>Geistliche GedichtePreis der Einfalt< gegen Herrscher-Stolz (Vermischte GedichteDie Fürstengruftx) 417 e) Erlebnishafte Bauernlieder 424
5) Liebe als »allmächtiger Magnet« (Der junge Schiller) . . . . 431 a) b) c) d)
»Gottgeborner Geist in Sklavenmauern« - Zur Biographie . . . 431 Empfindsamkeit und Hermetik (>Philosophische BriefeFreude< - Zur vorklassischen Lyrik (1782-1786) 476 e) Elegische Restitution eines Ideals (>Die Götter GriechenlandesDie Künstlen) 494 g) Dichtung als form-schöne Magie und Liebe als Vor-Spiel der Selbstvergottung (Rezensionen, >Über Anmut und WürdeGedichte< (1789), um dann zu einer vernichtenden Kritik an einem der stärksten lyrischen Talente der Sturm und Drang-Zeit auszuholen (II ÜBG, S. 970) und um sich damit zugleich von einem großen Teil der eigenen Jugendlyrik loszusagen, die er nicht mehr in seine >klassischen< Lyrik-Ausgaben aufnahm. Schiller markierte damit einerseits selbst eine historische Zäsur gegenüber der Poesie des Sturm und Drang mit ihrem von Herder inaugurierten und von Bürger begeistert aufgegriffenen Ideal volkstümlicher Poesie, und er verabschiedete mit der Forderung nach Objektivierung der Autor-Individualität, nach strenger Distanz von Kunst und >Lebenpoesie pure< des französischen und deutschen Symbolismus bis hin zum Konzept einer »absoluten Poesie« bei Benn eine radikalisierende Nachfolge in der Moderne fand (vgl. 11.66 Kurscheidt, S. 764ff.). Insofern beendet Schiller mit gutem Grund die Darstellung frühneuzeitlicher Lyrik im vorliegenden Teilband. - Für ihn selbst stellte Goethe den unerreichbaren Gipfel der lyrischen Dichtkunst dar. Dieser hatte einen anderen, verbreiteteren Funktionstyp frühneuzeitlicher Lyrik, das Gelegenheitsgedicht, in die für die Moderne ungemein wirkungsmächtige Form des Erlebnisgedichts transformiert (Erlebnis >aus< Gelegenheiten; vgl. Bd. VI/2, S. 342ff.). Die Forschung hat Schillers Qualitäts-Urteil weitgehend übernommen. Darunter hatte zunächst seine eigene Lyrik zu leiden - auch seine klassische -, denn von Goethes stimmungs- und symbolhafter Erlebnispoesie her lasen sich die >gedankenlyrischen< >Kopfgeburten< der rhetorisch-pathetischen Versgebilde Schillers bereits als >un-echte< Lyrik (vgl. 11.66 Kur-
X
Vorwort
scheidt, S. 749ff.; vgl. dazu Kap. II 5). Und im Laufe von zwei Jahrhunderten haben Geschmackswandel sowie unterschiedliche theoretische und methodische Interessen mit dazu beigetragen, daß außer Goethe (und mit erheblichen Abstrichen im Blick auf das Frühwerk auch Schiller) kein Lyriker des Sturm und Drang eines dauerhaften Forschungsinteresses gewürdigt wurde. So ist auch ein großer Teil der Lyrik, die im vorliegenden Teilband vorgestellt wird, im literarhistorischen Kanon noch nicht aufgenommen worden - das gilt vor allem für die gewichtigen Gedichte von Lenz. Von Hölty abgesehen steht die >klopstockisierende< und patriotischeifernde Lyrik des Göttinger Hain unter >IdeologieverdachtGrenzgänger< der Avantgardebewegung vorgestellt werden, haben entweder nur ein vorübergehendes Interesse gefunden, wie die Karschin im Aufwind der Gender-Forschung oder Schubart während der Konjunktur der sozialgeschichtlichen Literaturbetrachtung - inzwischen stößt sein literarisches Werk im Unterschied zu seinem traurigen Schicksal kaum noch auf Interesse (allerdings gibt es neuerdings eine kritische Ausgabe seiner >Sämtlichen Liederepochalen< Kontext verdient. Denn es gibt problemgeschichtlich Aufschlußreiches und formvollendet Lyrisches an ihnen zu entdecken. Es ist geradezu erfrischend, daß dabei der von der Forschung gern genutzte lyrische Maßstab der Goetheschen Erlebnis- oder der Schillerschen Gedankenlyrik nicht bestimmend sein muß, zumal Autoren und Zeitgenossen sich nicht an ihnen - wohl aber in eindrucksvoller Gemeinsamkeit an Klopstock - zu orientieren vermochten (Goethes Lyrik war in der Hauptphase des Sturm und Drang weitgehend unpubliziert, Schillers Poesie noch nicht geschrieben). So kommen andere, stärker aus der Tradition vermittelte Kriterien ins Spiel, aber auf eindrucksvolle Weise zeigt sich auch, daß neben und unabhängig von Goethe eine Reihe von Autoren - Lenz, Hölty, Bürger, die Karschin und Schubart - zum Typ des Erlebnisgedichts finden, und zwar im Rückbezug auf ganz unterschiedliche Traditionen: auf rein geistliche bei Lenz und Schubart, auf Bildfelder weit-
Vorwort
XI
lieber Liebeslyrik bei Hölty oder auf eher volkstümliche Topik bei Bürger und wiederum Schubart. Offenbar lag dies im Zug der Zeit, im Trend der Autonomisierung und Individualisierung, wie er durch Aufklärung, Pietismus und Empfindsamkeit angestoßen worden ist. Und deshalb ist der Typ des Erlebnisgedichts so repräsentativ für diese Zeit und markiert gattungsgeschichtlich einen bedeutsamen Übergang von der vielgestaltigen vormodernen zur modernen Poesie. Um diese lyrische Vielfalt an der Nahtstelle zur Moderne aufzeigen zu können, wurden einige wichtige >Grenzgänger< und der >Nachzügler< Schiller aufgenommen (wobei sich auch Lenz mit seiner aus Theologie und Empfindsamkeit erwachsenden Kritik am Genie-Verständnis Goethes und Herders als Grenzgänger erweist). Solche >Grenzgänger< bieten zugleich die Möglichkeit, die Epochenkonstruktion >Sturm und Drang< auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen und in ihrer problematischen Funktion, alles nicht zur Epochendefinition >Passende< auszuschließen, zu relativieren. Dabei gehören die fünf Autoren des zweiten Teils auf unterschiedliche Weise in Distanz und Nähe zum Sturm und Drang: die Karschin als >Natur-TalentRegeln< lernen sollte und Goethe und Herder gerade durch ihr ungezügeltes Stegreif-Talent entzückte; Claudius, der sich vom neuen Paradigma des Sturm und Drang die volkstümliche Naivität als Markenzeichen des Wandsbecker Boten< zu eigen machte und der deshalb zu den genialen Höhenflügen der Stürmer und Dränger auf eine - theologisch begründete - >empfindsame< Distanz ging; Voß, der maßgeblich den >Göttinger Hain< prägte, sich dann zu einem >Feuerkopf< der Aufklärung entwickelte und dabei in facettenreichen und empfindsam-komischen Idyllen das ländliche Bürgertum seiner Zeit verklärte; Schubart, der im Feuilleton seiner >Deutschen Chronik< die neue Literatur des Sturm und Drang begeistert begrüßte und in seinem Werk - zum Teil bedingt durch die Festungshaft - ganz eigene Wege fand, um die Lyrik zum Medium individueller Selbstaussage zu formen; Schiller, dessen pathetische frühe Aufschwungslyrik noch einmal aus dem >Herzen< des Sturm und Drang gesprochen zu sein schien, die sich aber in ihren Ideen viel stärker an der Popularphilosophie der Aufklärung und an einer hermetisch-empfindsamen Liebes-Philosophie orientierte, welche auch für sein späteres Werk bestimmend blieb. So gelangt im zweiten Teilband die Lyrik der frühen Neuzeit nochmals in der Breite ihrer geistlichen und weltlichen Traditionen und in der Vielfalt ihrer Gattungen in den Blick, und es wird deutlich, wie sie neuen Formen und Aussagemodi den Boden bereitet, in sie übergeht oder sich als nicht weiter entwicklungsfähig erweist. Aus problemgeschichtlicher - im ersten Band begründeter (vgl. Bd. I, S. IXff, l Iff.) - Perspektive wird in der Ly-
XII
Vorwort
rikgeschichte mit dem Sturm und Drang der Übergang zur Moderne erreicht und vollzogen. Und wenn auch die >Makro-Epoche< >Frühe Neuzeit< erst >um 1800< endet (vgl. dazu Einleitung b), wenn auch wichtige frühneuzeitliche Traditionen bis in die Romantik hinein fortwirken (vgl. dazu IV Kemper I, S. 122ff.), so sollte doch die Lyrikgeschichte der frühen Neuzeit da enden, wo sich aus ihr heraus die entscheidende Aussageform der Lyrik der Moderne gebildet hat und diese theoretisch sowohl als »Innerlichkeit« und »Sichaussprechen des Subjekts« im Sinne des Erlebnisgedichts (vgl. II Hegel VA, S. 107; vgl. dazu Bd. I, S. 36ff.) wie auch als >autonome, formdominant verdichtete Vers-Rede< im Sinne Schillers bestimmt wird (vgl. Kap. II 5 g). Auch für diesen Teilband danke ich Marion Hiller, Sara Moschner und Mark Seidel herzlich für Literaturrecherche und -beschaffung, für die Mithilfe beim Korrekturenlesen und für die Anfertigung des Personenregisters. Monika Weiblen bin ich für die Herstellung des Manuskripts zu besonderem Dank verpflichtet. Tübingen, 15. 2. 2002
H.-G. K.
Einleitung
a) Verdichtung der Kommunikation im Übergang zur Moderne Die durch Herder mitentwickelte Geschichtsphilosophie hat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch das Bewußtsein für die Wandelbarkeit und Beschleunigung der eigenen Zeit und Gegenwart hervorgerufen (vgl. Bd. VI/2, S. 36). Die Zeit, »ehedem eine eschatologische Kategorie, wird im 18. Jahrhundert zur Pflicht irdischer Planung, noch bevor die Technik den der Beschleunigung adäquaten Erfahrungsraum vollends erschließt« (III Koselleck, S. 34). Das für die Moderne so charakteristische akzelerierte Lebenstempo deutet sich hier erstmals an (vgl. dazu jetzt auch III Rieger, S. 43ff., 193ff.). Die Geschichtswissenschaft bestätigt diese Entwicklung durch Hinweis auf eine Vielzahl von Entwicklungstendenzen, die zu der These führen, die Zeit um 1770 sei die »Sattelzeit« zur Moderne (vgl. dazu auch III Koselleck, S. 321 ff.). Und der Sturm und Drang führt diese auch durch seine eigene, neue literarische Paradigmen setzende Aktivitäten mit herbei und spiegelt sie auf vielfältige Weise (vgl. Bd. VI/2, S. Iff.). Für sein Verhältnis zur Aufklärung ist nun aber wichtig, daß auch diese ihre Hauptwirkungsphase erst etwa mit den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts erreicht. Das zeigt sich z. B. am Wandlungsprozeß ihrer Institutionalisierung. Um 1700 war die Aufklärung noch eng mit den Universitäten und Akademien verknüpft (vgl. dazu III Möller, S. 232ff., 246ff.; Saine, S. 116ff.). Erst gegen Ende der Frühaufklärung - das wird besonders bei Christian Wolff (1679-1754) und seinem Schüler Johann Christoph Gottsched (1700-1766) deutlich (vgl. III Saine, S. 123) - setzten auch die akademischen Repräsentanten der Bewegung mit System und Erfolg auf eine außeruniversitäre literarische Öffentlichkeit, die tatsächlich zu einer weiteren und ungleich wirksameren Institution der Aufklärung avancierte. Voraussetzung und Bedingung dafür war freilich eine »Verdichtung der öffentlichen Kommunikation« (III Wehler, S. 303ff.), wie sie die Entwicklung des literarischen Marktes für diese Zeit auch indiziert (vgl. dazu auch III S. J. Schmidt, S. 280ff.; Mieth, S. 270ff.). Die dadurch gegebenen Veränderungen haben die Generation der Stürmer und Dränger nachhaltig geprägt, und fast alle haben versucht, die damit gegebenen Chancen zu nutzen und sich als Schriftsteller zu etablieren und einen Namen zu machen. Die wichtigsten
2
Einleitung
dieser Entwicklungen seien daher hier skizziert (zum Problem >Mündlichkeit/Schriftlichkeit< vgl. Bd. VI/2 Einleitung; zur Aufklärung allgemein die Einleitung von Bd. V/l). 1) Während die Gesamtzahl der im 17. Jahrhundert in Deutschland gedruckten Schriften noch bei 200000 gelegen hatte, stieg sie im 18. Jahrhundert auf annähernd 500 000 (III Wehler, S. 304). Zwei Drittel davon erschienen erst nach 1760, »da in den sechziger Jahren ein unvergleichlicher Aufschwung des Verlagswesens einsetzte und zudem die Produktion kleinerer Werke Überhand nahm« (III Kiesel/Münch, S. 181). Zugleich verlagerte sich das Hauptgewicht der Buchproduktion in den protestantischen mittel- und nordostdeutschen Raum mit Leipzig, Halle, Jena, Hamburg, Dresden und Berlin an der Spitze (ebda., S. 182ff). Die Gründe dafür lagen in der Entwicklung einer protestantischen Lesekultur, in wachsender Toleranz sowie einem ausgeprägten Konfessionalismus und Zensurwesen vor allem in Süddeutschland (vgl. III Wehler, S. 306; vgl. dazu auch Nr. 3). - Eben wegen dieser geistigen Enge und Stagnation vermochten die südund westdeutschen katholischen Verleger und Buchhändler auch keine für den protestantischen Markt attraktiven Autoren und Bücher anzubieten. Mit dem Anwachsen der Produktion verschoben sich auch die sprachlichen und thematischen Relationen bei der Buchherstellung: Der Anteil des lateinischen Schrifttums ging dabei von 27 % auf knapp 4 % zurück. Während die Theologie 1740 noch fast 40 % aller auf dem Buchmarkt erscheinenden Schriften gestellt hatte, die >Schönen Künste und Wissenschaften dagegen nur knapp 4 %, veränderte sich diese Relation bis zur Jahrhundertwende entscheidend: Um 1800 war der Anteil der theologischen Literatur auf 13 % gesunken, der des schöngeistigen Schrifttums dagegen auf 21 % gestiegen (vgl. zu Einzelheiten und auch zum Folgenden III Kiesel/Münch, S. 186ff.). 2) In solchen Zahlen spiegeln sich vielfältige Veränderungen. So zunächst die Zunahme eines lesefähigen Publikums, wobei gegenüber Schätzungen auf Grund mangelnder Daten und unzuverlässiger Kriterien (soll man mühsames Buchstabieren in der Landbevölkerung schon als Lesefähigkeit einstufen? Vgl. III Wittmann, S. 174) Vorsicht geboten ist. Während danach bis 1750 wie im gesamten Zeitraum der frühen Neuzeit zuvor vermutlich nur etwa 10 % der erwachsenen Bevölkerung zu lesen vermochten, stieg die Zahl bis 1771 auf 15 % und bis zum Jahrhundertende auf 25 % (natürlich mit starken Unterschieden im Verhältnis von Stadt- und Landbevölkerung, Groß- und Kleinstadt; vgl. ebda., S. 174f.), und unter diesen Lesefähigen befanden »sich offenbar viele hunderttausend Menschen mit
Einleitung
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fest habitualisierten Lesegewohnheiten« (III Wehler, S. 303; vgl. dazu auch III Engelsing, S. 56ff.). Damit bleibt das Lesepublikum bei 25 Millionen Einwohnern immer noch klein: Mit »einer durchschnittlichen Erstauflage von 2500 Exemplaren wurde ein Buch von 0,01 % der Bevölkerung gekauft und etwa von 0,1 % gelesen« (III Kiesel/Münch, S. 160; vgl. III Engelsing, S. 53ff.). Während gerade die anspruchsvollere belletristische Literatur der Aufklärung in die klein- und unterbürgerlichen Schichten kaum Eingang fand, diese vielmehr wie in den Epochen zuvor auf Bibel, Kirchenlied und Kalender angewiesen blieben (vgl. III Wittmann, S. 172), entstanden vor allem in den Städten Leihbibliotheken, deren Bestände zwischen einigen hundert in kleinen Orten und mehreren zehntausend in größeren Städten schwankten (vgl. III Wittmann, S. 195f.), und es formierten sich ebenfalls seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mehrere hundert Lesegesellschaften (ebenfalls mit Bibliotheken) in den größeren Städten der protestantischen Territorien (mehr als 430 sind nachgewiesen; allein in Bremen existierten 1791 36 Lesevereine nebeneinander; III Wehler, S. 320; Dann; Schmitt, S. 154ff.; Wittmann, S. 190ff.). Auf Grund der nicht geringen Mitgliedsbeiträge konnten in demokratischer Abstimmung die für den einzelnen sonst unerschwinglichen Bücher, Zeitschriften, Nachschlagewerke usw. angeschafft und in eigenen Räumen zur Lektüre, aber auch - wichtiger noch - zur gemeinsamen Diskussion überlassen werden. »Unversehens problematisierten die Mitglieder dann auch Themen, die bislang dem Interpretationsmonopol der Kirche und Geheimkanzlei unterlegen hatten« (III Wehler, S. 320f.); daher darf man die Bedeutung dieser gelegentlich mehrere hundert Mitglieder umfassenden Klubs für eine kritisch-aufklärerische, politische Meinungsbildung nicht unterschätzen. Die Möglichkeit zu geselliger Verarbeitung des Gelesenen wurde gewährleistet durch relativ strenge Auswahl und Begrenzung der Mitglieder - ihre Zahl konnte zwischen »zwei Dutzend« und mehr als vierhundert schwanken - sowie durch Abschottung »nach unten«; der gesellige Charakter führte indes alsbald dazu, daß auch andere Formen von Freizeitgestaltung Einzug in diese Gesellschaften hielten und das Lesen »zur Nebensache« machten (vgl. III Wittmann, S. 191). So bevorzugten die wahren Lesefreunde mehr und mehr die Leihbibliotheken, und deren anhaltender Erfolg auch im 19. Jahrhundert »belegt die Individualisierung und zugleich Anonyrnisierung der literarischen Rezeption« (ebda., S. 194). Innerhalb der lesenden Schichten wurden die Frauen, die im Zuge marktorientierter Verlagerung mancher ursprünglicher häuslicher Tätigkeiten im 18. Jahrhundert von traditioneller Hausarbeit partiell entlastet waren, zur größten Lesegruppe, um die sich die Aufklärer - unter ihnen vor allem Geliert - mit eigenen Lektüre- und Bildungsprogrammen besonders be-
4
Einleitung
mühten (vgl. III Kiesel/Münch, S. 167ff.). Nachdem sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch - u. a. angeleitet durch Lektüreprogramme in sog. >Frauenzimmerbibliotheken< der Moralischen Wochenschriften - zum »nützlichen Lesen« angehalten worden waren (vgl. Ill Martens, S. 520ff.), schafften sie - nicht zuletzt auch durch Geliert, der mit dem >Leben der schwedischen Gräfin von G***< einen neuen empfindsamen moralisch unanstößigen Typ von Roman mit einer weiblichen Hauptfigur geschaffen hatte (vgl. zu Geliert Bd. VI/1, S. 329ff.) - mehr und mehr den Sprung in die »schöngeistige« Literatur. Einen entscheidenden Fortschritt bei der Herausbildung autonomen weiblichen Lesens brachte Klopstocks >MessiasRuhende Frau mit aufgeschlagenem Buch< (1779; vgl. Abb. l in: III Perels, S. 260) durchaus >epochalen< Symbolwert, wobei Gesichtsausdruck und Körperhaltung sowie das Buch auf dem Schoß auf pikante Lektüre schließen lassen. Die Dame ergibt sich ganz der Illusion, ist mit dem Buch allein und läßt es - im Sinne der Herausgeberanweisung von Goethes >Werther< - ihren »Freund« sein (vgl. II LjW, S. 3)! Wie die von ihnen bevorzugte Form des »geselligen Lesens« in den Häusern damals aussehen konnte, veranschaulicht die Beschreibung eines Tagesablaufs, den Luise Mejer, Gesellschafterin bei Friederike Luise von Stolberg Stolberg, der Gemahlin von Christian Graf zu Stolberg Stolberg (1748-1821), 1784 ihrem Freund Christian Boie, dem Mitbegründer des Göttinger Hains (vgl. Kap. I 2 a), schickte - und dabei ist natürlich zu berücksichtigen, daß die Gebrüder Stolberg ebenfalls zum Göttinger Hain zählten und literarisch tätig waren (vgl. Kap. 12 b, c; 4) und daß auch Friederike Luise selbst dichtete und enge Kontakte zu mehreren Autoren darunter Claudius, Herder, Klopstock und Goethe - unterhielt (vgl. 11.75 Mix, S. 216): »Um zehn Uhr wird gefrühstückt. Dann liest Stolberg ein Kapitel aus der Bibel und einen Gesang aus Klopstocks Liedern vor. Jeder geht nach seinem Zimmer. Ich lese dann in dem >SpectatorPhysiognomik< und noch einigen Büchern, die mir die Gräfin gegeben hat. Sie kommt zu mir herunter, indess Lotte übersetzt, und ich lese ihr den >Pontius Pilatus< von Lavater eine Stunde lang vor. Indessen sie ihre lateinische Stunde hat, schreibe ich ab für sie oder lese für mich, bis angerichtet ist. Nach Tisch und Kaffee liest Fritz aus den >Lebensläufen